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Gute Lehrer/innen müssen Fachleute sein – aber wofür?

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Ausbildung<br />

COACTIV-STUDIE RICHTIG INTERPRETIEREN<br />

<strong>Gute</strong> <strong>Lehrer</strong>/<strong>innen</strong> <strong>müssen</strong> <strong>Fachleute</strong> <strong>sein</strong> <strong>–</strong><br />

<strong>aber</strong> <strong>wofür</strong>?<br />

Eine Expertenkommission für <strong>Lehrer</strong>bildung hat für Baden-Württemberg verschiedene Reformimpulse<br />

formuliert. Strittig ist, welche Studiendauer angemessen ist und wie Fachwissenschaft und Fachdidaktik<br />

gewichtet werden <strong>müssen</strong>. Für das Fach Mathematik geben die Ergebnisse der COACTIV-<br />

Studie dazu klare Hinweise. Timo Leuders und Stefan Krauss erläutern, was die Studie wirklich zeigt.<br />

Sybille Volkholz, Leiterin der Expertenkommission,<br />

erläuterte zur Fachlichkeit<br />

der Lehrkräfte im Tagesspiegel:<br />

„Insbesondere auch für die Förderung<br />

lernschwächerer Schüler <strong>müssen</strong> sie<br />

über gutes Fachwissen und ein besseres<br />

methodisch-fachliches Repertoire<br />

verfügen. Wer Aufgabenstellungen für<br />

ein breiteres Leistungsspektrum erarbeiten<br />

soll, Fehler von Schülern sinnvoll<br />

interpretieren und ihnen Lernwege<br />

eröffnen soll, braucht nicht nur gute<br />

pädagogische, sondern eben auch hohe<br />

Fachkompetenzen.“ Die Expertenkommission<br />

hat deshalb ein zehnsemestriges<br />

Studium für alle Lehrämter (in Nordrhein-Westfalen<br />

bereits umgesetzt) und<br />

möglichst hohe fachwissenschaftliche<br />

Ausbildungsanteile gefordert. Aber sind<br />

diese Forderungen wirklich im Einklang<br />

mit den empirischen Befunden? Macht<br />

die Fachwissenschaft wirklich die gute<br />

Lehrkraft aus? Als empirischer Beleg<br />

für die notwendige hohe Fachlichkeit<br />

im Lehramtsstudium werden meist die<br />

Befunde der COACTIV-Studie genannt.<br />

Das ist eine Ergänzungsstudie zur deutschen<br />

PISA-Untersuchung 2003/04. Der<br />

deutsche Titel lautet: „Professionswissen<br />

von Lehrkräften, kognitiv aktivierender<br />

Mathematikunterricht und die Entwicklung<br />

mathematischer Kompetenz“. In<br />

der Tat kann COACTIV Hinweise für<br />

die Gewichtung von fachwissenschaftlichen<br />

und fachdidaktischen Anteilen im<br />

Lehramtsstudium geben <strong>–</strong> dazu muss<br />

man die Ergebnisse allerdings im Detail<br />

anschauen und kritisch würdigen.<br />

Wozu kann COACTIV Auskunft geben?<br />

Die COACTIV-Studie unterscheidet<br />

Lehrkräfte von Klassen am Ende der<br />

Sekundarstufe I an gymnasialen und an<br />

nicht gymnasialen Schulformen. Dabei<br />

nimmt sie vor allem zwei Kompetenzbe-<br />

1 Aus bildung & wissenschaft 10 / 2013


Ausbildung<br />

reiche unter die Lupe: Zum einen werden<br />

die fachlichen Kompetenzen erfasst,<br />

das ist im Wesentlichen fundiertes Wissen<br />

zu schulmathematischen Inhalten<br />

vor allem der Sekundarstufe I. Wichtig<br />

zu wissen: Es wird kein Wissen zu universitären<br />

Fachinhalten erfasst. Im Fach<br />

Mathematik sind die Überschneidungen<br />

zwischen den schulischen und universitären<br />

Inhalten minimal.<br />

Zum anderen werden die fachdidaktischen<br />

Kompetenzen erfasst. Das ist nicht<br />

etwa unterrichtsmethodisches Können,<br />

sondern die Fähigkeit, Schülerlösungen<br />

und Schülerfehler zu interpretieren, bei<br />

Mathematikaufgaben unterschiedliche<br />

Lösungswege zu finden, Erklärungen<br />

für mathematische Zusammenhänge auf<br />

Schülerniveau zu formulieren usw. Hier<br />

geht es also um Wissen darüber, wie<br />

Schüler/<strong>innen</strong> Mathematik lernen, welche<br />

Schwierigkeiten sie haben und wie<br />

man sie unterstützen kann (vgl. Leuders,<br />

2012)<br />

Eine spannende Frage macht den Kern<br />

der COACTIV-Studie aus: Welche Konsequenzen<br />

haben fachliche und fachdidaktische<br />

Kompetenzen? Hier werden<br />

zwei Ebenen betrachtet: Einmal die<br />

Unterrichtsqualität: Können Lehrkräfte<br />

Schüler/<strong>innen</strong> kognitiv aktivieren,<br />

also zum Denken anregen? (Daher der<br />

Titel der Studie). Wie gut fühlen sich<br />

die Schüler/<strong>innen</strong> unterstützt? Wie gut<br />

funktioniert die Klassenführung? Zum<br />

anderen geht es um die wichtigste Frage:<br />

Bei welchen Lehrkräften lernen die<br />

Schüler/<strong>innen</strong> mehr? Gemessen werden<br />

die Lernzuwächse innerhalb eines<br />

Schuljahres.<br />

Die wichtigsten Ergebnisse für die<br />

Gestaltung der <strong>Lehrer</strong>ausbildung findet<br />

man in zentralen Veröffentlichungen der<br />

Studie (siehe Literaturliste). Sie lassen<br />

sich in 5 Thesen so zusammenfassen:<br />

Fachdidaktisches Wissen hat einen signifikanten<br />

Einfluss auf die Leistungszuwächse<br />

und erklärt etwa 40 Prozent<br />

der Leistungsunterschiede am Ende<br />

der Klasse 10 (Krauss et al. 2008; Baumert<br />

&Kunter, 2011). Eine analoge Wirkung<br />

des fachlichen Wissens auf die<br />

Schülerleistung lässt sich nicht nachweisen<br />

(ebd.)<br />

Das bedeutet: Das fachdidaktische<br />

Wissen der Lehrkräfte ist entscheidender<br />

für das Schülerlernen als das fachwissenschaftliche.<br />

Wer beide Bereiche<br />

zusammenfasst, mehr Fachlichkeit fordert<br />

und daraus eine möglichst umfassende<br />

Ausbildung zum/zur Mathematiker/in<br />

folgert, hat die Ergebnisse der<br />

Studie unzulässig verbogen.<br />

Fachdidaktisches Wissen beeinflusst<br />

die Lernzuwächse allerdings nicht<br />

direkt, sondern wird vermittelt über die<br />

kognitive Aktivierung und Lernunterstützung<br />

im Unterricht. Das fachliche<br />

Wissen hat keinen Einfluss auf kognitive<br />

Aktivierung und Lernunterstützung<br />

(ebd.)<br />

Diese Aussage ist eigentlich nicht überraschend:<br />

Fachliches Wissen zu besitzen<br />

bedeutet nicht automatisch, dass man<br />

„Das fachdidaktische<br />

Wissen der Lehrkräfte ist<br />

entscheidender für das<br />

Schülerlernen als das<br />

fachwissenschaftliche.“<br />

Mittel und Wege kennt, dieses altersgemäß<br />

zu vermitteln. Nur wenn Lehrkräfte<br />

Schüler/<strong>innen</strong> zum Denken anregen<br />

und sie beim Lernen unterstützen, kann<br />

der Unterricht Wirkungen zeigen. Es<br />

konnte zwar gezeigt werden, dass Fachwissen<br />

eine mögliche Quelle für die<br />

Entstehung fachdidaktischen Wissens<br />

ist, eine direkte Wirkung von Fachwissen<br />

auf die Unterrichtsqualität oder den<br />

Lernzuwachs von Schüler/<strong>innen</strong> konnte<br />

jedoch <strong>–</strong> im Gegensatz zum fachdidaktischen<br />

Wissen <strong>–</strong> nicht nachgewiesen<br />

werden.<br />

Lehrkräfte der nicht-gymnasialen<br />

Schulformen haben ein signifikant<br />

geringeres fachliches Wissen (Brunner<br />

et al. 2006).<br />

Auf den ersten Blick klingt das logisch:<br />

Wer weniger Mathematik studiert, wird<br />

auch später als <strong>Lehrer</strong>/in weniger fachliches<br />

Wissen haben. Allerdings muss<br />

man fragen: Wieso wird aus dem höheren<br />

universitären Wissen, das gymnasiale<br />

Lehrkräfte zweifelsohne erwerben,<br />

mehr Wissen über Schulmathematik?<br />

Fällt es ihnen leichter, sich dieses Wissen<br />

selbst anzueignen? Erinnern sie<br />

sich an die eigene Schulzeit? Oder kann<br />

man das Schulwissen doch irgendwie<br />

aus dem universitären Wissen ableiten?<br />

Diese Fragen kann die COACTIV-Studie<br />

nicht beantworten und auch andere<br />

Forschungsansätze haben dazu noch<br />

keine überzeugenden Befunde.<br />

Lehrkräfte der nicht-gymnasialen<br />

Schulformen haben bei vergleichbarem<br />

Fachwissen ein höheres fachdidaktisches<br />

Wissen (ebd.)<br />

Das ist etwas komplizierter: Gymnasiale<br />

Lehrkräfte haben weit weniger Fachdidaktik<br />

im Studium gelernt. Dennoch<br />

schneiden sie bei COACTIV zunächst<br />

besser ab. Möglicherweise, weil die<br />

fachdidaktischen Tests bei COACTIV<br />

zum Teil durch mathematisches Wissen<br />

lösbar sind. Wenn man nur Lehrkräfte<br />

vergleicht, die gleiches fachliches<br />

Wissen haben, dann besitzen die nichtgymnasialen<br />

Lehrkäfte mehr fachdidaktisches<br />

Wissen (Brunner et al., 2006).<br />

Das ist wiederum ganz im Einklang mit<br />

der didaktisch-pädagogischen Ausrichtung<br />

dieser Studiengänge. Man kann<br />

es <strong>aber</strong> auch so interpretieren: Fachdidaktisches<br />

Wissen ist zu einem nicht<br />

unerheblichem Teil vom Fachwissen<br />

mitbestimmt. Ohne Fachwissen kann<br />

fachdidaktisches Wissen nicht aufgebaut<br />

werden. Das sagt <strong>aber</strong> nicht aus,<br />

wie viel Fachwissen hierfür nötig ist.<br />

Weiterhin ist festzuhalten, dass mit der<br />

COACTIV-Studie keine Schlussfolgerungen<br />

über die Bedeutung von universitärem<br />

mathematischem Wissen für<br />

das Lernen getroffen werden können. In<br />

der COACTIV-Studie wurde das Fachwissen<br />

vielmehr als vertieftes Hintergrundwissen<br />

zum Stoff des Schulcurriculums<br />

gefasst. Somit lässt sich lediglich<br />

folgern, dass dieses vertiefte Hintergrundwissen<br />

(Fachwissen) eine mögliche<br />

Quelle für fachdidaktisches Wissen<br />

ist. Über das rein universitäre Fachwissen,<br />

das weit über den Schulstoff hinausgeht,<br />

können auf der Grundlage der<br />

COACTIV-Studie keine vergleichbaren<br />

Schlussfolgerungen gezogen werden.<br />

Begeisterung für das Unterrichten hat<br />

einen Einfluss auf die von Schüler/<br />

<strong>innen</strong> wahrgenommene Unterrichtsqualität,<br />

die Begeisterung für das Fach<br />

hat keinen nachweisbaren Einfluss<br />

(Kunter et al. 2008, 2011).<br />

Aus bildung & wissenschaft 10 / 2013<br />

2


Ausbildung<br />

Das entkräftet ein häufiges Argument:<br />

Das Wichtigste für gute <strong>Lehrer</strong>/<strong>innen</strong><br />

sei die Begeisterung für das Fach. Die<br />

Empirie spricht eine andere Sprache:<br />

Das wichtigste für gute <strong>Lehrer</strong>kräfte ist<br />

die Freude daran, das Fach zu vermitteln!<br />

Also die Freude an dem, was man<br />

in der Fachdidaktik lernt.<br />

Bei der Interpretation der COACTIV-<br />

Studie darf nicht außer Acht gelassen<br />

werden, dass sich die Studie auf das<br />

Fach Mathematik bezieht. Die Beziehung<br />

zwischen der universitären Disziplin<br />

und dem Schulfach ist hier eine<br />

besondere, die sich nicht einfach auf<br />

eine Fremdsprache oder eine Gesellschaftswissenschaft<br />

übertragen lässt.<br />

Es gibt allerdings auch eine bemerkenswerte<br />

Studie zum Vergleich von<br />

Physikstudiengängen (Riese & Reinhold,<br />

2012): Hier werden die Lehrkräfte<br />

nur bis zum Ende des Studiums<br />

befragt. Studierende aus gymnasialen<br />

Studiengängen haben entsprechend der<br />

umfangreichen Studienanteile und der<br />

größeren Selektion größere fachliche<br />

Wissenszuwächse. Hingegen verzeichnen<br />

Haupt- und Realschulstudiengänge<br />

größere Zuwächse im fachdidaktischen<br />

Wissen. Die Studie untersucht getrennt<br />

die Haupt- und Realschulstudiengänge<br />

an Pädagogischen Hochschulen, die im<br />

Gegensatz zu den universitären Hauptund<br />

Realschullehrer/<strong>innen</strong> (außerhalb<br />

Baden-Württembergs) eher ein eigenes,<br />

auf sie zugeschnittenes Studium durchlaufen.<br />

Sie haben bei einem ansonsten<br />

ähnlichen Studium mehr Zuwächse im<br />

fachlichen Wissen und schneiden im<br />

fachdidaktischen Wissen sogar besser<br />

ab als die Gymnasialstudierenden.<br />

Konsequenzen für die Reform der<br />

<strong>Lehrer</strong>bildung<br />

Welche Konsequenzen lassen sich<strong>–</strong> mit<br />

aller Vorsicht <strong>–</strong> aus der COACTIV-Studie<br />

ziehen? Die wohl wichtigsten Ergebnisse<br />

deuten auf die Bedeutung der fachdidaktischen<br />

Aspekte: Leitbild muss<br />

ein Mathematiklehrer <strong>sein</strong>, der weiß,<br />

wie Schüler/<strong>innen</strong> Mathematik lernen,<br />

und nicht ein <strong>Lehrer</strong>, der ausschließlich<br />

ein guter Mathematiker ist. Wichtigstes<br />

Unterrichtsmerkmal ist dabei die kognitive<br />

Aktivierung, also z.B. die Auswahl<br />

guter Aufgaben und die schülergemäße<br />

Erklärung und nicht primär die fachliche<br />

Begeisterung. Vor allem darf „Fachlichkeit“<br />

nicht pauschal auf das universitäre<br />

Wissen verkürzt werden, das im fachwissenschaftlichen<br />

Studium erworben wird.<br />

Man darf <strong>aber</strong> das Kind nicht mit dem<br />

Bade ausschütten: Das alles bedeutet<br />

nicht, dass mathematisches Wissen auf<br />

universitärem Niveau oder Begeisterung<br />

für das Fach überflüssig wäre. Ein fachwissenschaftlich<br />

fundiertes Studium ist<br />

eine notwendige Voraussetzung für den<br />

Aufbau fachdidaktischer Kompetenzen<br />

<strong>–</strong> es ist <strong>aber</strong> nicht unbedingt der bedeutsamste<br />

Reformhebel.<br />

Wer eine Reform des Lehramtsstudiums<br />

Mathematik angeht, sollte sich überlegen,<br />

wie man die fachdidaktischen<br />

Anteile stärken kann, <strong>aber</strong> auch wie<br />

man den Berufsbezug der fachlichen<br />

Anteile ausbauen kann. Ein Ringen nur<br />

um den Umfang der Fachlichkeit oder<br />

um die jeweiligen Anteile greift zudem<br />

zu kurz, wenn die spezifischen Profile<br />

nicht beachtet werden. In Baden-Württemberg<br />

sieht das zurzeit so aus:<br />

Für eine Lehrbefähigung am Gymnasium<br />

(Sekundarstufe I und II) benötigt<br />

man derzeit (standortspezifisch etwas<br />

variierend):<br />

• 94 Creditpoints (CP): fachwissenschaftliche<br />

Studien in Inhaltsbereichen,<br />

die sich auf die Inhalte der Sek. II beziehen<br />

(Analysis, Lineare Algebra, Stochastik),<br />

nur sehr geringe Anteile, die Inhalte<br />

der Sek. I thematisieren,<br />

• ca. 7 CP (standortspezifisch): fachdidaktische<br />

Fragen der Umsetzung in der<br />

gymnasialen Oberstufe,<br />

• ca. 3 CP (standortspezifisch): fachdidaktische<br />

Fragen zu Themengebieten<br />

der Sek. I (Zahlbereiche, Algebra, Geometrie,<br />

Stochastik).<br />

Diese Studienstruktur trägt besonders<br />

der Befähigung für die Lehre in der<br />

gymnasialen Oberstufe und der Vorbereitung<br />

darauf Rechnung.<br />

Für die Lehrbefähigung in der Sek. I an<br />

Werkrealschulen und Realschulen <strong>müssen</strong><br />

derzeit 69 CP in fachdidaktischen<br />

und fachwissenschaftlichen Studien<br />

erworben werden, die sich gemäß der<br />

Kompetenzen etwa so aufteilen (standortspezifisch<br />

variierend):<br />

3 Aus bildung & wissenschaft 10 / 2013


Fotos : imago<br />

Ausbildung<br />

Zur Fachdidaktik gehört die Fähigkeit,<br />

Schülerlösungen und -fehler zu interpretieren,<br />

bei Aufgaben unterschiedliche<br />

Lösungen zu finden oder Erklärungen<br />

auf Schülerniveau zu formulieren.<br />

• ca. 35 CP: fachwissenschaftliche Studien<br />

in Inhaltsbereichen, die sich auf die<br />

Inhalte der Sek. I beziehen (Funktionen,<br />

Stochastik, Geometrie, Zahlbereiche)<br />

sowie einige darüber hinausgehende<br />

fachwissenschaftliche Vertiefungen, die<br />

keinen Bezug zu den Inhalten der Sek. I<br />

haben (z.B. diskrete Mathematik),<br />

• ca. 35 CP: fachdidaktische Fragen der<br />

Umsetzung in der Sek. I (Didaktik der<br />

Algebra, der Funktionen, der Geometrie,<br />

besondere Lernhürden, Didaktik des Problemlösens,<br />

Beweisens und Modellierens<br />

für Schüler der Klassen 5-10).<br />

Diese Studienstruktur trägt besonders<br />

dem Unterrichten in der Sekundarstufe<br />

I und den besonderen Herausforderungen<br />

des Faches Mathematik für Lernende<br />

dieser Altersstufe Rechnung. In diesen<br />

Bereichen gibt es umfassende empirische<br />

Forschung über das fachliche Lernen<br />

und viele wissenschaftlich abgesicherte<br />

Erkenntnisse, die von forschenden Fachdidaktiker/<strong>innen</strong><br />

untersucht und in der<br />

Lehre weitervermittelt werden (z.B. in<br />

Kompendien wie Lester, 2007).<br />

Die Expertenkommission schlägt vor,<br />

die Lehrämter zusammenzulegen. Dies<br />

würde vor allem zu einer Reduktion<br />

der Fachdidaktik im Lehramt für die<br />

Sek. I von 35 CP auf 10 bis 15 CP führen.<br />

Das kann angesichts der Bedeutung<br />

der Fachdidaktik für das Schülerlernen<br />

nicht gewünscht <strong>sein</strong>. Die fachlichen<br />

Anteile des Studiums, die sich auf die<br />

Sekundarstufe I beziehen, würden von<br />

35 CP auf 3 CP reduziert. Die immer<br />

wieder beschworene „Fachwissenschaft<br />

auf Gymnasialniveau“ muss für Realschul-<br />

oder Werkrealschullehrer/<strong>innen</strong><br />

<strong>aber</strong> nicht notwendigerweise einen<br />

Gewinn bedeuten, denn vor allem das<br />

vertiefte Wissen zu den Inhalten der<br />

Schulmathematik übersetzt sich ja, wie<br />

die Forschungsresultate zeigen, in fachdidaktische<br />

Kompetenzen. Wenn das<br />

vermittelte Wissen dazu noch an der<br />

Oberstufe orientiert ist und inhaltlich so<br />

weit von der Sekundarstufe I entfernt ist<br />

wie zurzeit, wird allenfalls eine stärkere<br />

Selektion einsetzen, nicht unbedingt<br />

<strong>aber</strong> auch eine bessere Qualifikation von<br />

Lehrkräften für die Sek. I.<br />

Viel eher wäre eine „Erhöhung der Fachlichkeit“<br />

im Einklang mit den Befunden<br />

der COACTIV-Studie, wenn man für das<br />

gymnasiale Lehramt eine Anhebung der<br />

Fachdidaktik auf 30 bis 40 CP vorsähe.<br />

Für das bisherige Lehramt der Sek. I, das<br />

nach 8 Semestern abgeschlossen ist und<br />

das umfassende fachdidaktische Studienanteile<br />

enthält, ist allerdings eine bessere<br />

Fachlichkeit durchaus wünschenswert,<br />

Fachwissenschaftliche Kompetenzen werden<br />

im Einklang mit dem Expertengutachten<br />

und mit den Forschungserkenntnissen<br />

als notwendige Bedingung für<br />

Unterrichtsqualität angesehen. Sie sind<br />

die Vorbedingung für den Erwerb fachdidaktischer<br />

Kompetenzen und deren<br />

Entfaltung im Unterricht <strong>–</strong> auch dies ein<br />

deutliches Resultat der COACTIV-Studie.<br />

Fachwissenschaftliche Kompetenzen<br />

sind <strong>aber</strong> nicht hinreichend für das fachdidaktische<br />

Handeln im Unterricht. Ein<br />

fundiertes universitäres Wissen befähigt<br />

Lehrkräfte nicht von sich aus, im Unterricht<br />

mit Lernprozessen geeignet umzugehen.<br />

Es entsteht eher träges Wissen.<br />

Seit vielen Jahren ist bekannt, dass sich<br />

Studierende der gymnasialen Lehrämter<br />

zwar als fachlich gut ausgebildet fühlen,<br />

<strong>aber</strong> bekennen, die Inhalte der universitären<br />

Ausbildung in ihrer Praxis zum allergrößten<br />

Teil nicht anwenden zu können.<br />

Die Überwindung dieser „doppelten Diskontinuität“<br />

in der Mathematiklehrerbildung<br />

ist seit langem ein zentrales Thema<br />

für Reformprojekte und Gegenstand vieler<br />

Bemühungen aller Universitäten (vgl.<br />

Ableitinger&Prediger, 2012)<br />

Was bisher über die Sekundarstufen gesagt<br />

wurde, gilt ebenfalls für Grundschullehrkräfte.<br />

Diese standen zwar nicht im Fokus<br />

der COACTIV-Studie, <strong>aber</strong> auch hier gab<br />

es in den letzten Jahren viele empirische<br />

Untersuchungen. TEDS-M (Teacher Education<br />

and Development Study: Learning<br />

toTeachMathematics, Blömeke, Kaiser &<br />

Lehmann, 2010) ist eine internationale<br />

Vergleichsstudie über die fachlichen und<br />

didaktischen Kompetenzen in Mathematik,<br />

an der etwa 20 000 angehende Mathematiklehrer/<strong>innen</strong><br />

aus 16 Ländern im<br />

letzten Jahr ihrer Ausbildung teilgenommen<br />

haben. Hier finden sich alle Varianten,<br />

vom verpflichtenden grundschulbezogenen<br />

Mathematikstudium bis zum<br />

„mathematikfreien“ Studium für Grund-,<br />

Haupt- und Realschule. Das erstere bringt<br />

zukünftige Grundschullehrkräfte her-<br />

Aus bildung & wissenschaft 10 / 2013<br />

4


Ausbildung<br />

vor, die im internationalen Vergleich<br />

sehr gut dastehen. Das Gegenteil gilt für<br />

Absolvent/<strong>innen</strong> einer Ausbildung ohne<br />

mathematische und mathematikdidaktische<br />

Studieninhalte. Nach Aussage der<br />

Studie sind sie mehrheitlich nicht in der<br />

Lage, Lehrstrategien für spezifische Lernprozesse<br />

abzuwägen und Lösungsansätze<br />

und Fehlvorstellungen von Kindern zu<br />

interpretieren. Ihre fachliche und fachdidaktische<br />

Kompetenz dürfte nicht ausreichen,<br />

einen anregenden und erfolgreichen<br />

Mathematikunterricht zu geben.<br />

Hier haben einige Bundesländer bereits<br />

gegengesteuert. NRW beispielsweise, wo<br />

jede Grundschullehrkraft 10 Semester<br />

und verpflichtend 55 CP in Mathematik<br />

(und noch einmal so viel in Deutsch) studiert.<br />

Es wäre kurzsichtig, wenn Baden-<br />

Württemberg hinter dieser Entwicklung<br />

zurückbliebe und weiterhin Grundschullehrkräfte<br />

nur mit einem sogenannten<br />

Kompetenzbereich (20 CP) in Mathematik<br />

ausbilden würde.<br />

Welche Chancen hat die Reform?<br />

Wir haben bislang eine wichtige Dimension<br />

nicht berücksichtigt: Die konkreten<br />

politischen und strukturellen Rahmenbedingungen.<br />

Hierzu gehört die wahrlich<br />

nicht einfache Aufgabe der Universität,<br />

die Ausbildung von Lehrkräften<br />

und von wissenschaftlichem Nachwuchs<br />

mit den gegebenen strukturellen und<br />

personellen Ressourcen in Einklang zu<br />

bringen. Im Bestreben um eine angemessene<br />

Balance zwischen Forschungsund<br />

Berufsorientierung werden noch<br />

viele kleine Schritte zu gehen <strong>sein</strong>.<br />

Die vorstehenden Überlegungen beziehen<br />

sich auf das Fach Mathematik. Die<br />

Situation in anderen Fächern kann sich<br />

anders darstellen: Daher sollten die<br />

Vorgaben für die fachlichen Anteile<br />

der Lehramtsstudiengängen künftig so<br />

offen <strong>sein</strong>, dass die Umsetzungsmodelle<br />

flexibel gestaltet werden können und<br />

entwicklungs- und damit zukunftsfähig<br />

sind.<br />

Die Universitäten und Pädagogischen<br />

Hochschulen in Baden-Württemberg<br />

sind bereits große Schritte aufeinander<br />

zu, ja sogar schon gemeinsam gegangen.<br />

Das gibt Anlass zur Hoffnung, dass sich<br />

die nächsten Jahre die <strong>Lehrer</strong>bildung<br />

merklich weiterentwickeln wird. Dazu<br />

gehört allerdings auch, dass diese Bestrebungen<br />

nicht von Anfang an finanzpolitisch<br />

ausgebremst werden.<br />

Timo Leuders ist Professor<br />

für Mathematik und<br />

ihre Didaktik am Institut<br />

für Mathematische Bildung<br />

(IMBF) an der PH<br />

Freiburg.<br />

Stefan Krauss ist Professor<br />

für Didaktik der<br />

Mathematik an der Uni<br />

Regensburg. Er gehört<br />

zur Forschergruppe der<br />

COACTIV-Studie.<br />

Literatur<br />

• Ableitinger, Christoph; Kramer,<br />

Jürg & Prediger, Susanne (2013) (Hrsg.):<br />

Zur doppelten Diskontinuität in der Gymnasiallehrerbildung<br />

- Ansätze zu Verknüpfungen<br />

der fachinhaltlichen Ausbildung mit schulischen<br />

Vorerfahrungen und Erfordernissen.<br />

Wiesbaden: Springer.<br />

• Blömeke, S., Kaiser, G. & Lehmann,<br />

R. (Hrsg.) (2010), TEDS-M 2008 -<br />

Professionelle Kompetenz und Lerngelegenheiten<br />

angehender Primarstufenlehrkräfte<br />

im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann.<br />

• Brunner, M., Kunter, M., Krauss,<br />

S., Baumert, J., Blum, W., Dubberke,<br />

T., Jordan, A., Klusmann, U., Tsai, Y.-M.<br />

&Neubrand, M. (2006).<br />

Welche Zusammenhänge bestehen zwischen<br />

dem fachspezifischen Professionswissen von<br />

Mathematiklehrkräften und ihrer Ausbildung<br />

sowie beruflichen Fortbildung?<br />

Zeitschrift für Erziehungswissenschaft,<br />

S. 521-544.<br />

• Baumert, J., &Kunter, M. (2011).<br />

Das mathematikspezifische Wissen von Lehrkräften,<br />

kognitive Aktivierung im Unterricht<br />

und Lernfortschritte von Schüler<strong>innen</strong> und<br />

Schülern. In M. Kunter, J. Baumert, W. Blum,<br />

U. Klusmann, S. Krauss & M. Neubrand (Eds.),<br />

Professionelle Kompetenz von Lehrkräften:<br />

Ergebnisse des Forschungsprogramms COAC-<br />

TIV (pp. 163-192). Münster: Waxmann.<br />

• Krauss, S., Brunner, M., Kunter, M.,<br />

Baumert, J., Blum, W., Neubrand, M. &<br />

Jordan, A. (2008).<br />

Pedagogical content knowledge and content<br />

knowledge of secondary mathematics<br />

teachers.Journal of Educational Psychology,<br />

100(3), 716-725.<br />

• Krauss, S., Neubrand, M., Blum,<br />

W., Baumert, J., Brunner, M., Kunter, M. &<br />

Jordan, A. (2008).<br />

Die Untersuchung des professionellen Wissens<br />

deutscher Mathematik-<strong>Lehrer</strong><strong>innen</strong><br />

und -<strong>Lehrer</strong> im Rahmen der COACTIV-Studie.<br />

Journal für Mathematikdidaktik (JMD),<br />

29(3/4), 223-258.<br />

• Kunter, M., Tsai, Y.-M., Klusmann,<br />

U., Brunner, M., Krauss, S., & Baumert, J.<br />

(2008).<br />

Students‘ and mathematics teachers‘ perceptions<br />

of teacher enthusiasm and instruction.<br />

Learning andInstruction, 18, 468-482.<br />

• Kunter, M. (2011). Motivation als Teil der<br />

professionellen Kompetenz - Forschungsbefunde<br />

zum Enthusiasmus von Lehrkräften. In<br />

M. Kunter, J. Baumert, W. Blum, U. Klusmann,<br />

S. Krauss & M. Neubrand (Hrsg.), Professionel<br />

le Kompetenz von Lehrkräften - Ergebnisse<br />

des Forschungsprogramms COACTIV (S. 259<strong>–</strong><br />

275). Münster: Waxmann.<br />

• Lester, F. K. J. (Ed.) (2007).<br />

Second handbook of research on mathematics<br />

teaching and learning.Charlotte: Information<br />

Age.<br />

• Leuders, T. (2012).<br />

Mathematiklehrerbildung in Deutschland <strong>–</strong><br />

Konzepte und Modelle am Beispiel Baden-<br />

Württemberg. In C. Cramer, K.-P. Horn & F.<br />

Schweitzer (Eds.), <strong>Lehrer</strong>ausbildung in Baden-<br />

Württemberg. Historische Entwicklungslinien<br />

und aktuelle Herausforderungen. J. Jena: IKS<br />

Garamond.<br />

• Leuders, T. (2012).<br />

Mathematiker + x = Mathematiklehrer?<br />

Bildung und Wissenschaft 6/2012. 20-24<br />

• Riese, J. & Reinhold, P. (2012).<br />

Die professionelle Kompetenz angehender<br />

Physiklehrkräfte in verschiedenen Ausbildungsformen.<br />

Empirische Hinweise für eine<br />

Verbesserung des Lehramtsstudiums. In Zeitschrift<br />

für Erziehungswissenschaft, S. 111-143.<br />

5 Aus bildung & wissenschaft 10 / 2013

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