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Umgang mit Heterogenität

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Arbeitsplatz Schule<br />

UMGANG MIT HETEROGENITÄT<br />

„Nicht jede Schule muss sich selbst erneuern“<br />

Die Zusammensetzung der Schülerschaft verändert sich in jeder Schulart. Auch der Unterricht wird<br />

sich ändern müssen und viele Lehrer/innen verlieren ihr gewohntes Arbeiten. Zwei Fachtagungen<br />

der GEW im Februar und März stellten Möglichkeiten vor, wie der Wandel ohne Überforderung<br />

gelingen kann.<br />

Foto: Julia Stoye<br />

Die Bücher von Klippert kamen wie sein Vortrag auf der Fachtagung des GEW-Bezirks<br />

Nordwürttemberg gut an.<br />

„Glauben Sie ja nicht, dass Ihre Stunde<br />

besser wird, je länger Sie sie planen“, sagte<br />

Heinz Klippert. „Lernen fördern – Lehrer<br />

entlasten“ war sein Thema auf der GEW-<br />

Tagung in Stuttgart und das ist bei ihm<br />

kein Widerspruch. Heinz Klippert, Lehrerfortbildner,<br />

Methodentrainer und<br />

Schulentwickler versprach den Zuhörer/<br />

innen, dass eine gute, differenzierende<br />

Doppelstunde in 15 Minuten geplant und<br />

archiviert werden kann, „und mehr Zeit<br />

haben Sie auch nicht!“<br />

Die Schüler/innen sollten mehr und die<br />

Lehrer/innen weniger arbeiten. Mindestens<br />

zwei Drittel der Unterrichtszeit sollten<br />

die Schüler/innen bestreiten. Das nütze<br />

allen: Kinder lernen besser und Lehrkräfte<br />

werden entlastet. Außerdem, meinte Klippert,<br />

sei der schülerzentrierte Unterricht<br />

besonders für sehr heterogene Klassen<br />

geeignet. „Die Schüler/innen lernen am<br />

meisten, wenn sie es jemandem erklären,<br />

der es am wenigsten versteht“, erläuterte er.<br />

Schüler/innen sollen zu Lernhelfer/innen<br />

ausgebildet werden und die Lehr/innen<br />

sollen sich zurückhalten. Lehrkräfte neigten<br />

dazu, vor allem in der Anfangsphase<br />

zu früh auf scheinbar hilflose Schülerfragen<br />

zu antworten. „Hilflosigkeit kann man<br />

auch lernen. Wir dürfen den Schüler/innen<br />

nicht das Denken abnehmen“, berichtete<br />

der Methodentrainer.<br />

Lehrer/innen bleiben trotzdem wichtig.<br />

Hier sieht Klippert seine Erkenntnisse<br />

<strong>mit</strong> der Hattie-Studie bestätigt. Lehrkräfte<br />

müssen klare Strukturen und einen<br />

transparenten Unterrichtsablauf bieten<br />

und <strong>mit</strong> Methodentraining dafür sorgen,<br />

dass Schüler/innen im Team arbeiten können.<br />

Eine Motivationsphase am Anfang<br />

des Unterrichts hält er für überflüssige<br />

Mühe und echte Lehrervorträge findet er<br />

als Inputphase besser als lehrerzentrierte<br />

Unterrichtsgespräche, in denen Lehrkräfte<br />

meist versuchen, einen Begriff aus den<br />

Schüler/innen rauszukitzeln.<br />

Viele Schüler/innen wissen<br />

nicht, wie man lernt<br />

Klippert hat Schüler/innen befragt, wie<br />

sie für Klassenarbeiten lernen. Wenig<br />

überraschend kam dabei heraus, dass sie<br />

sehr kurzfristig lernen und dabei Heftaufschriebe<br />

„angucken“. So bleibe kein Unterrichtsstoff<br />

hängen. Das Lernen lernen sei<br />

deshalb ganz wichtig. Der Methodentrainer<br />

empfiehlt hierfür ein Sockeltraining<br />

von drei bis fünf Tagen, das danach konsequent<br />

in Unterricht verzahnt werden<br />

müsse. „Schüler/innen brauchen Automatismen<br />

und Sicherheit in der Methode<br />

und sie brauchen das Gefühl, dass sie es<br />

können. Dann entsteht eine Aufwärtsbewegung“,<br />

referierte der Schulentwickler.<br />

Er glaubt, dass nur 20 Prozent der Potenziale<br />

der Schüler/innen genutzt würden.<br />

Klipperts Veröffentlichungen füllen ganze<br />

36 bildung & wissenschaft 04 / 2013


Foto: Alfred Uhing<br />

Die Fachtagung des GEW-Bezirks Nordbaden an der PH Karlsruhe war gut besucht.<br />

Büchertische. Wie sein Vortrag sind seine<br />

Bücher sehr praxisnah und werden in<br />

vielen Schulen bereits benutzt. Allein in<br />

Rheinland-Pfalz gibt es bereits 300 Schulen,<br />

die sich nach ihm „Klippertschulen“<br />

nennen. Das Verb „klippern“ gibt es<br />

längst auch. Dahinter verbergen sich die<br />

sogenannten Lernspiralen, nach denen<br />

Doppelstunden aufgebaut sind. In verschiedenen<br />

Schülerzusammensetzungen<br />

lernen Kinder und Jugendliche in klar<br />

aufgebauten Phasen den Stoff <strong>mit</strong> drei bis<br />

fünf Anwendungen.<br />

Klipperts Konzept kommt bei vielen Teilnehmenden<br />

auf der GEW-Tagung gut<br />

an. Viele kennen seine Methoden schon,<br />

manche wenden sie bereits an. Allerdings<br />

glauben einige, dass sie den ganzen<br />

Unterrichtsstoff <strong>mit</strong> den Lernspiralen<br />

nicht schaffen würden. „Das kostet zu viel<br />

Zeit“, meinte eine Lehrerin.<br />

„Nicht jede Schule muss sich selbst erneuern“,<br />

sagte der Schulentwickler. Er arbeitet<br />

seit 20 Jahren an dem Konzept und gibt<br />

in seinen Büchern und Vorträgen allen<br />

Lehrkräften ausgereifte Tipps. Die reichen<br />

von Anregungen für Gruppenbildungen<br />

bis zur Sitzordnung im Klassenzimmer.<br />

Alles ganz praktisch.<br />

Lehrkräfte brauchen Wagemut, Offenheit<br />

und Abenteuerlust<br />

Auf der GEW-Tagung in Karlsruhe ging<br />

es ebenfalls um <strong>Heterogenität</strong> in Schule<br />

und Unterricht. Wie in Stuttgart wollten<br />

mehr Lehrkräfte kommen, als Plätze vorhanden<br />

waren. Manche nutzen die Fortbildungen<br />

als Pädagogischen Tag.<br />

Anne Ratzki, Professorin an der Universität<br />

Paderborn, benannte soziale Schieflagen<br />

in Deutschland. Drei Gruppen, referierte<br />

Ratzki, würden in Deutschland von besseren<br />

Bildungschancen ausgeschlossen und<br />

treffe die Auslese hart: Behinderte, Kinder<br />

aus Migrantenfamilien und Kinder aus<br />

sozial benachteiligten Elternhäusern. In<br />

Europa gehen durchschnittlich 85 Prozent<br />

aller behinderten Kinder in Regelschulen,<br />

in Deutschland nur 15 Prozent. Nur 9 Prozent<br />

aller Kinder <strong>mit</strong> ausländischen Wurzeln<br />

besuchen in Deutschland das Gymnasium.<br />

Diese Kinder bleiben 4- bis 5-mal<br />

häufiger sitzen und 30 Prozent haben<br />

keine Berufsausbildung. Anne Ratzki folgerte<br />

daraus: „Unser Bildungssystem sucht<br />

Leistungshomogenität, in Wirklichkeit<br />

geht es aber um soziale Homogenität.“<br />

Auch wenn viele der zuhörenden GEW-<br />

Mitglieder diese Zahlen schon einmal<br />

gehört haben, verdeutlichen sie doch, dass<br />

noch viel zu tun bleibt.<br />

Ratzki, deren Arbeitsschwerpunkt deutsche<br />

und internationale Schulentwicklung<br />

ist, schaut auf andere Länder, die<br />

auf Chancengleichheit setzen und gute<br />

Leistungen haben. Länder wie Norwegen,<br />

Schweden, Kanada oder Südtirol hätten<br />

verantwortungsvolle Systeme. Als Kennzeichen<br />

zählte sie unter anderem auf:<br />

Längeres gemeinsames Lernen, kein Kind<br />

kann abgegeben werden, kein Sitzenbleiben,<br />

keine Nachhilfe, Noten erst in höheren<br />

Klassen. Die langjährige Schulleiterin<br />

der Gesamtschule Köln-Holweide plädierte<br />

für eine andere Schulkultur. Dazu<br />

brauche es bei Lehrkräften Wagemut,<br />

Offenheit und Abenteuerlust. An die Politik<br />

gerichtet sagte sie: „Man muss auch die<br />

Lehrkräfte <strong>mit</strong>nehmen und sie <strong>mit</strong> Rat<br />

und Ressourcen unterstützen“.<br />

Nicht alles, was Achim Albrecht auf der<br />

GEW-Tagung sagte, dürfte den Lehrer/innen<br />

gefallen haben. Albrecht war<br />

16 Jahre lang pädagogischer Leiter der<br />

Offenen Schule Kassel-Waldau und ist<br />

ein leidenschaftlicher Befürworter von<br />

Gemeinschaftsschulen. Zunächst wollte<br />

er kollektive Berufsirrtümer von Lehrer/-<br />

innen ausräumen. Beispielsweise werde<br />

gegen arbeitsteilige Unterrichtsvorbereitung<br />

gerne eingewendet: „Niemand kann<br />

meinen Unterricht besser vorbereiten als<br />

ich selbst. Leider habe ich keine Zeit, das<br />

gründlich zu machen.“ Albrecht empfiehlt<br />

den Lehrkräften Modellschulen<br />

anzuschauen, da<strong>mit</strong> sie einen Beweis hätten,<br />

dass sie nicht als Einzelkämpfer arbeiten<br />

müssten. „Sonst denkt man, das geht<br />

nicht.“<br />

Der Schulberater hat auch eine Erklärung<br />

dafür, warum trotz besserem Wissen,<br />

Frontalunterricht immer noch so häufig<br />

vorkomme: „Die Angst vor Kontrollverlust,<br />

wenn Schüler/innen unterschiedliche<br />

Sachen bearbeiten, ist stärker als das<br />

Wissen, dass bei Frontalunterricht die<br />

Hälfte nichts <strong>mit</strong>bekommt.“ Wichtig ist<br />

dem Lehrer im „Unruhestand“ auch, dass<br />

Ganztagsschulen nicht als Ballast empfunden<br />

werden. Die Halbtagsschule hält er<br />

für eine Kommunikations-Behinderungs-<br />

Anstalt. „Wann soll dort ein Kind darüber<br />

reden, dass sein Kaninchen gestorben ist?<br />

Das ist für das Kind wichtiger als Binomische<br />

Formeln“, erklärte der Pädagoge.<br />

„Nicht Schüler/innen haben ein Problem<br />

<strong>mit</strong> Ganztagsschulen, sondern Lehrer/<br />

innen“. Doch eine gute Ganztagsschule<br />

verschaffe allen mehr Zeit und sorge für<br />

gute Beziehungen. Dann würden Lehrer/<br />

innen die Erfahrung machen, dass ihre<br />

Arbeit leichter und besser werde.<br />

Maria Jeggle<br />

b&w-Redakteurin<br />

bildung & wissenschaft 04 / 2013<br />

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