„Migrationshintergrund“ und „Kultursensibilität“ - DVSG
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Titelthema<br />
<strong>„Migrationshintergr<strong>und</strong>“</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>„Kultursensibilität“</strong><br />
Alte <strong>und</strong> neue Anforderungen an die soziale Arbeit im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
Dr. Helen Baykara-Krumme<br />
Deutschland hat sich lange<br />
schwer getan mit der An er ken -<br />
nung demographischer Reali tä -<br />
ten im Hinblick auf Zu- <strong>und</strong> Einwanderung.<br />
Doch heute ist der<br />
Ansatz einer Interkulturellen<br />
Öffnung anerkannt <strong>und</strong> in aller<br />
Mun de. Seit etwa Anfang der<br />
1990er Jahre steht das Thema<br />
auf der fachpolitischen Agenda<br />
der sozialen Dienste. Der Prozess<br />
der Gestaltung <strong>und</strong> Umsetzung<br />
konkreter Maßnahmen in Bezug<br />
auf diese Herausforderung<br />
dauert bis heute an. Trotz der<br />
vielen Debatten <strong>und</strong> wichtigen<br />
politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />
Entwicklungen in den vergan ge -<br />
nen Jahren besteht weiterhin viel<br />
Handlungsbedarf. In der Versor -<br />
gungspraxis müssen existierende<br />
Zugangs- <strong>und</strong> Wirksamkeitsbar -<br />
rieren erkannt <strong>und</strong> beseitigt<br />
werden. Eine migrations- <strong>und</strong><br />
kultursensible Ausrichtung von<br />
Versorgungsangeboten kann<br />
dazu einen wichtigen <strong>und</strong> wei -<br />
ter führenden Beitrag leisten.<br />
■<br />
Interkulturelle Öffnung kann ver -<br />
stan den werden als „ein be -<br />
wusst gestalteter Prozess, der (selbst-)<br />
refle xive Lern- <strong>und</strong> Verän derungsprozes<br />
se von <strong>und</strong> zwischen un terschiedlichen<br />
Menschen, Lebensweisen <strong>und</strong><br />
Organisationsformen ermöglicht, wodurch<br />
Zugangsbarrieren <strong>und</strong> Abgren -<br />
zungsmechanismen in den zu öffnen -<br />
den Organisationen abgebaut <strong>und</strong><br />
Anerkennung <strong>und</strong> Gleichheit ermög -<br />
licht werden“ (Schröer 2011, 310). In<br />
der Sozialen Arbeit wird Interkultu ra -<br />
lität damit nicht (mehr) nur auf das<br />
Verhältnis von Deutschen <strong>und</strong> Zuge -<br />
wanderten reduziert. Es wird erweitert<br />
beispielsweise auf Unterschiede des<br />
Al ters, des Geschlechts, der Religion,<br />
der sexuellen Orientierung. Men schen<br />
sind stets an Aushandlungsprozessen<br />
zwischen unterschiedlichen kultu rel -<br />
len Orientierungen beteiligt.<br />
Nach Schröer war gute Soziale Arbeit<br />
daher schon immer „kulturelle<br />
Übersetzungsarbeit“ (Staub-Bernas -<br />
coni 1995, 303), die zwischen sozialen<br />
Klassen <strong>und</strong> Schichten, zwischen<br />
Jugend- <strong>und</strong> Erwachsenenwelten,<br />
zwischen Weib lich keits- <strong>und</strong> Männlichkeitskulturen<br />
oder auch zwischen<br />
Organisation <strong>und</strong> Lebenswelt vermit -<br />
telt <strong>und</strong> im Zuge von Einwande rung<br />
<strong>und</strong> Niederlas sung verstärkt eben<br />
(auch) die Perspektive der ethnischkulturellen<br />
Viel falt sowie der biographischen<br />
Migra tionserfahrungen<br />
in den Blick nimmt. Für die Dimension<br />
der ethnischen Vielfalt geht es demnach<br />
„um die Inklusion <strong>und</strong> Inte gra -<br />
tion von Men schen mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
<strong>und</strong> den Abbau von Bar -<br />
rieren <strong>und</strong> Hindernissen bei der Nutzung<br />
gesellschaft licher Angebote durch<br />
eine inter kul turelle Orientierung <strong>und</strong><br />
Öffnung“ (Schröer 2011, 309).<br />
Frühes Interesse <strong>und</strong> große Aufmerksamkeit<br />
für das Thema gab es<br />
unter anderem in der Altenhilfe. Anfang<br />
der 2000er Jahre formulierte der<br />
Arbeitskreis „Charta für eine kultur -<br />
sensible Altenpflege“ ein Memoran -<br />
dum, das für die langfristige Si che -<br />
rung des Prozesses der Inter kul tu rel -<br />
len Öffnung auf gesamtgesellschaft li -<br />
cher Ebene warb. Formuliert wurde<br />
die Aufforderung, allen in Deutschland<br />
lebenden alten Menschen unab -<br />
hängig von ihrer sozialen, ethnischen<br />
<strong>und</strong> kulturellen Herkunft den Zugang<br />
zu den Institutionen der Altenhilfe zu<br />
ermöglichen <strong>und</strong> dort ein kul tur sen -<br />
sibles fachliches Handeln sicherzu -<br />
stellen: „Die Pluralität unserer Gesellschaft<br />
muss sich auch in ihren Diens -<br />
ten <strong>und</strong> sozialen Einrichtungen widerspiegeln<br />
<strong>und</strong> bedarf deren in ter kul -<br />
tureller Öffnung“ (Präambel). Weiter<br />
heißt es: „Es reicht nicht aus, Mi gran -<br />
tinnen <strong>und</strong> Migranten als neuen Kun -<br />
denkreis zu gewinnen <strong>und</strong> dann alle<br />
K<strong>und</strong>en gleich zu behandeln. Eine<br />
Gleichbehandlung blendet bestehen -<br />
de Unterschiede aus. Eine gleichwer -<br />
ti ge Behandlung hingegen erfordert<br />
eine bedürfnis- <strong>und</strong> biografieorien -<br />
tierte Pflegebeziehung“ (Arbeitskreis<br />
2002, 11).<br />
Dieser Ansatz ist prinzipiell auf alle<br />
anderen Altersgruppen <strong>und</strong> Lebensphasen<br />
zu übertragen. Kul tur sen si bi -<br />
li tät bedeutet hier eine Haltung, die<br />
auf merksam ist gegenüber den kul tu -<br />
rellen Prägungen <strong>und</strong> Bedürfnissen<br />
anderer Menschen. Sie beruht auf<br />
Kenntnissen <strong>und</strong> einem Verständnis<br />
anderer Kulturen <strong>und</strong> Religionen, legt<br />
das Gegenüber dabei aber nicht auf<br />
seine Kultur <strong>und</strong> Herkunft schablo -<br />
nenartig fest. Es geht dabei also we -<br />
niger um ein „Rezeptwissen“, als um<br />
6 Forum sozialarbeit + ges<strong>und</strong>heit 2/2013
Foto: annaia, photocase.com<br />
Kul tur sen si bi li tät bedeutet, gegenüber den kul tu rellen Prägungen <strong>und</strong> Bedürfnissen anderer Menschen offen <strong>und</strong> aufmerksam zu sein,<br />
statt stereotyp-<strong>und</strong> klischeehaft Halbwissen anzuwenden. Migration wird zudem als wichtiger Einschnitt im Leben eines Menschen verstanden.<br />
eine „Handlungsweise, die sich von<br />
stereotyp- <strong>und</strong> klischeehaft for ma li -<br />
siertem Wissen löst <strong>und</strong> auf Ebene<br />
des Individuums Bedürfnisse ermit -<br />
telt“ (Brzoska & Razum 2009, 159). Im<br />
Migrationskontext wird zudem der<br />
biographische Einschnitt der Mi gra -<br />
tion mit seinen vielfältigen Folgen für<br />
das Individuum berücksichtigt <strong>und</strong><br />
insofern sowohl eine kultur- <strong>und</strong> re li -<br />
gionssensible, als auch eine migra -<br />
tionssensible soziale Arbeit <strong>und</strong> entsprechende<br />
Ausrichtung von Versor -<br />
gungsangeboten gefordert.<br />
Menschen mit Migrations -<br />
hintergr<strong>und</strong> in Deutschland<br />
Nach Zahlen des aktuellen Mi gra -<br />
tionsberichts (Statistisches B<strong>und</strong>esamt<br />
2011) leben knapp 16,0 Millionen<br />
Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
in Deutschland. Sie stammen aus den<br />
verschiedensten Ländern, die größ -<br />
ten Gruppen aus der Türkei (18,5 %)<br />
<strong>und</strong> Polen (9,2 %), sowie, fasst man<br />
sie zusammen, aus den Ländern der<br />
ehemaligen Sowjetunion (18,3%) <strong>und</strong><br />
des ehemaligen Jugoslawien (9,4 %).<br />
Nicht nur hinsichtlich der Herkunftsländer<br />
stellen sie eine sehr he te ro -<br />
gene Gruppe dar. Die Vielfalt zeigt<br />
sich weiterhin in unterschiedlichen<br />
Migrationsmotiven <strong>und</strong> -erfah rungen,<br />
Aufenthaltsdauer, Staatsangehörigkeit,<br />
rechtlichem Status, Alter bei Zuwanderung<br />
<strong>und</strong> derzeitigem Alter, Re -<br />
ligionszugehörigkeit <strong>und</strong> ethni scher<br />
Gruppenzugehörigkeit. Ein Drittel<br />
(33 %) aller Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
ist in Deutschland geboren,<br />
über die Hälfte (55 %) hat die<br />
deutsche Staatsangehörigkeit. Sie<br />
haben nicht nur unterschiedlich gute<br />
deutsche Sprachkenntnisse, sondern<br />
unterscheiden sich auch in den mitgebrachten<br />
<strong>und</strong> dann vielfach nicht<br />
anerkannten, oder in Deutschland er -<br />
worbenen Bildungsabschlüssen, in<br />
ihrer sozialen Schichtzugehörigkeit<br />
<strong>und</strong> ihrer Erwerbssituation. Diese Plu -<br />
ralität innerhalb der Gruppe der Men -<br />
schen mit Migrationshintergr<strong>und</strong> zeigt,<br />
wie wenig hilfreich pauschale Zu -<br />
schrei bungen sind bzw. wie wichtig<br />
eine differenzierte Wahrnehmung der<br />
jeweiligen Lebenssituation ist. Selbst<br />
bei gleichem Herkunftsland, Alter,<br />
Migrationsmotiv, sozialer Lage <strong>und</strong><br />
Religionszugehörigkeit kann sich die<br />
Bedeutung beispielsweise der Re li -<br />
giösität für die Krankheitswahrneh -<br />
mung <strong>und</strong> -bewältigung deutlich un -<br />
terscheiden. Außerdem gehören Mi -<br />
granten aus einem Herkunftsland kei -<br />
neswegs stets denselben ethnischen<br />
<strong>und</strong> religiösen Gruppen an (Brzoska &<br />
Razum 2009).<br />
Es wäre wünschenswert, wenn sich<br />
diese Komplexität der Merkmalsausprägungen<br />
in Studien abbilden las sen<br />
könnte. Tatsächlich steht aber ge rade<br />
die ges<strong>und</strong>heitsbezogene For schung<br />
<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsberichter stat tung, die<br />
sich differenzierter mit dem mi grationsbedingten<br />
Ges<strong>und</strong>heitsstatus be schäf -<br />
tigt, noch ganz am Anfang (Razum et<br />
al. 2008). Insge samt ist die Datenlage<br />
zur Ges<strong>und</strong>heit von Menschen mit<br />
Mi grationshintergr<strong>und</strong> in Deutschland<br />
unzureichend. Amtliche Daten<br />
differenzieren, wenn überhaupt, le -<br />
dig lich nach deutscher <strong>und</strong> nichtdeutscher<br />
Staatsangehörigkeit. De -<br />
2/2013 Forum sozialarbeit + ges<strong>und</strong>heit 7
Titelthema<br />
tail lierte ges<strong>und</strong>heitsbezogene In for -<br />
mationen, aufgeschlüsselt beispielsweise<br />
nach sozialen Merkmalen, nach<br />
Herkunftsländern oder nur nach Al -<br />
ters gruppen existieren kaum (Kor po -<br />
ral & Dangel 2011): Noch entspricht<br />
die Forschungstätigkeit nicht der Be -<br />
deutung dieser Menschen <strong>und</strong> ihrer<br />
Ges<strong>und</strong>heitsprobleme. Forderungen<br />
nach einer stärkeren Sichtbar machung<br />
dieser Gruppe(n) in der Ges<strong>und</strong>heitsberichtserstattung<br />
werden wiederholt<br />
formuliert (Razum & Spallek 2012, Beauftragte<br />
der B<strong>und</strong>esregierung 2012),<br />
da nur so auch die Versorgungssi tua -<br />
tion der vielfach als „schwer erreich-<br />
bar“ geltenden Menschen nachhaltig<br />
verbessert werden kann.<br />
Besonderheiten<br />
der Migrationssituation<br />
Beim Untersuchungsgegenstand Ges<strong>und</strong>heit<br />
<strong>und</strong> Migration sind nach Razum<br />
folgende Fragen relevant: (1) Gibt<br />
es Unterschiede in der Ges<strong>und</strong> heit<br />
zwi schen Menschen mit <strong>und</strong> ohne Mi -<br />
grationshintergr<strong>und</strong>? (2) Falls ja, sind<br />
solche Unterschiede vor allem ein<br />
Problem der sozialen Schichtung?<br />
Denn es ist bekannt, dass sozioökono -<br />
mische Benachteiligung krank macht,<br />
unabhängig davon, ob man ei nen Mi -<br />
grationshintergr<strong>und</strong> hat oder nicht.<br />
(3) Falls Unterschiede nicht allein mit<br />
sozioökonomischen Be ding ungen zu<br />
erklären sind, welche weiteren Fakto -<br />
ren gibt es, die bei Migranten in spezifischer<br />
Weise auf die Ges<strong>und</strong>heit wir -<br />
ken? (Razum 2010, 21)<br />
Die Ges<strong>und</strong>heit, definiert in der Ges<strong>und</strong>heitsberichterstattung<br />
als die<br />
Ab wesenheit von Krankheit, un ter -<br />
liegt vielfältigen Einflüssen, die zum<br />
Teil zu unterschiedlichen Zeitpunkten<br />
während des Lebens wirken. Zum ei -<br />
nen kann es kulturell bedingte Beson -<br />
derheiten im Ges<strong>und</strong>heitsverhal ten<br />
<strong>und</strong> in der Inanspruchnahme von Ges<strong>und</strong>heitsleistungen<br />
geben. Der kul tu -<br />
relle Hintergr<strong>und</strong> beeinflusst sowohl<br />
das Krankheitserleben <strong>und</strong> die -interpretation<br />
als auch „die Wahrneh mung<br />
der Körperanatomie <strong>und</strong> -physio lo -<br />
gie, die Ernährung, die Beziehung zum<br />
Arzt, das Krankheitsverständnis, so -<br />
wie die Schmerzrezeption <strong>und</strong> die Geschlechterdefinition“<br />
(Brzoska & Ra -<br />
zum 2009, 153). Bei Menschen, die<br />
von einem Land in ein anderes ge zo -<br />
gen sind, sind wichtige weitere Res -<br />
sourcen- <strong>und</strong> Belastungsfaktoren zu<br />
berücksichtigen. In ihrem Lebenslauf -<br />
modell zu Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong> heit<br />
unterscheiden Spallek <strong>und</strong> Razum<br />
(2008) in zeitlicher Reihenfolge (I) die<br />
Phase vor der Migration, das heißt<br />
den Einfluss der Bedingungen im Herkunftsland,<br />
(II) die Migrationsphase<br />
selbst mit ihren psychosozialen Be -<br />
las tungen, Stress beispielsweise durch<br />
eine Trennung von der Familie <strong>und</strong><br />
der Heimat, verschiedene Migrationsursachen<br />
wie Krieg <strong>und</strong> Gewalt <strong>und</strong><br />
schließlich (III) die Situation im Zielland.<br />
Dazu zählen unmittelbar nach<br />
der Einreise Fremdheitsgefühle, die<br />
Trennung von der Familie <strong>und</strong> Heimat,<br />
Diskriminierung <strong>und</strong> Ausgrenzung,<br />
Sprach- <strong>und</strong> Verständigungsproble -<br />
me, aber auch eine evtl. bessere Ges<strong>und</strong>heitsversorgung<br />
als im Her kunfts -<br />
land, sofern diese in Anspruch ge nom -<br />
men wird <strong>und</strong> werden kann (Schle m -<br />
mer 2010). Aber auch nach einem<br />
längeren Aufenthalt <strong>und</strong> einer Nie der -<br />
lassung im Zielland können mi gra -<br />
tionsbedingte Faktoren weiterwir ken,<br />
beispielsweise durch eine schlech tere<br />
soziale Lage (Arbeit, Woh nen, Bil dung),<br />
Diskriminierung <strong>und</strong> Ausgrenzung<br />
<strong>und</strong> andauernde Sprach- <strong>und</strong> Ver -<br />
stän digungsprobleme. Eine Anpas -<br />
sung an die Lebensweisen im Zielland<br />
(beispielsweise Ernährungs- <strong>und</strong><br />
Rauchgewohnheiten) kann sich ges<strong>und</strong>heitlich<br />
negativ auswirken, wäh -<br />
rend andauernde Unterschiede in der<br />
kulturellen Lebensweise ges<strong>und</strong> heits -<br />
fördernd sein können.<br />
Insgesamt, so Razum <strong>und</strong> Spallek<br />
(2012), haben Migranten also keineswegs<br />
immer einen schlechteren Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />
als die Mehrheitsbevölkerung.<br />
Sie sind zum Zeitpunkt<br />
der Migration meist gesünder als die<br />
Allgemeinbevölkerung im Herkunftsland<br />
<strong>und</strong> im Zuzugsland, was in der<br />
Literatur klassisch als „healthy-mi -<br />
grant effect“ beschrieben wird. Dort<br />
im Zuzugsland sind sie aber oft Be -<br />
dingungen ausgesetzt, die ihre Ges<strong>und</strong>heit<br />
schädigen können, <strong>und</strong> von<br />
denen sie stärker betroffen sind als<br />
die Mehrheitsbevölkerung, wie eben<br />
primär die bei Migranten überdurchschnittlich<br />
häufige niedrigere Sozialschicht<br />
<strong>und</strong> sozioökonomische Be -<br />
nach teiligung, die mit einem höheren<br />
Erkrankungsrisiko assoziiert ist. Vorhandene<br />
Studien zeigen bei Men -<br />
schen mit Migrationshintergr<strong>und</strong> im<br />
Vergleich zur einheimischen Bevöl -<br />
kerung tendenziell höhere Ges<strong>und</strong>heitsrisiken<br />
<strong>und</strong> weisen auf einen insgesamt<br />
schlechteren objektiven <strong>und</strong><br />
subjektiven Ges<strong>und</strong>heitsstatus im gesamten<br />
Lebenszyklus hin (Razum et<br />
al. 2008). Eine Reihe von Erkrank un -<br />
gen treten häufiger in der Be völ ke -<br />
8 Forum sozialarbeit + ges<strong>und</strong>heit 2/2013
ung mit Migrationshintergr<strong>und</strong> auf,<br />
während aber andere, wie Erkran -<br />
kungen des Herz-Kreislauf-Systems,<br />
seltener sind <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitliche Ri -<br />
sikofaktoren wie Rauchen <strong>und</strong> ris kan -<br />
ter Alkoholkonsum in einigen Mi gran -<br />
ten gruppen seltener vorkommen. Im<br />
Bereich der Prävention bestehen zum<br />
Teil Defizite, beispielsweise bei den<br />
Früherkennungsuntersuchungen bei<br />
Kindern <strong>und</strong> beim Impfstatus (Beauftragte<br />
der B<strong>und</strong>esregierung 2012, 153).<br />
Als eine „relative Benachteiligung“<br />
gegenüber Menschen der Mehrheitsgesellschaft<br />
gelten nach Razum <strong>und</strong><br />
Spallek (2012) die Qualität der ges<strong>und</strong>heitlichen<br />
Versorgung <strong>und</strong> mög -<br />
liche Probleme bei Zugangs- <strong>und</strong> Nutzungsmöglichkeiten<br />
sowie der Ergebnisqualität.<br />
Dies ist tendenziell eher<br />
schwer zu messen <strong>und</strong> nachzu we i -<br />
sen. Allerdings konnte zum Beispiel<br />
gezeigt werden, dass Migrantinnen<br />
bestimmter Herkunftsgruppen nach<br />
einer Patientenaufklärung im Kran -<br />
kenhaus mangelhafter informiert wa -<br />
ren als Frauen deutscher Herkunft<br />
(Borde 2010). Auf Zugangs- <strong>und</strong> Wirksamkeitsbarrieren<br />
in der Reha-Me di -<br />
zin macht eine andere Studie aufmerksam.<br />
Reha-Maßnahmen wurden<br />
Foto: artie*<br />
Studien gehen der Frage nach, warum Migranten ges<strong>und</strong>heitlich oft schlechter versorgt sind.<br />
von ausländischen Staatsan ge hö ri -<br />
gen demnach seltener in Anspruch<br />
genommen, <strong>und</strong> nach einer abgeschlossenen<br />
Reha war der Erfolg bei<br />
Menschen ausländischer Staatsan ge -<br />
hörigkeit signifikant geringer, selbst<br />
bei statistischer Kontrolle aller Un ter -<br />
schiede in anderen Merkmalen (Brzos -<br />
ka et al. 2010).<br />
Verschiedene Ursachen werden genannt.<br />
Eingeschränkte sprachliche<br />
Kommunikationsmöglichkeiten sind<br />
sowohl bei der Anamnese, bei den<br />
Informationen <strong>und</strong> Anleitungen zu<br />
The rapien, als auch den Angeboten<br />
insgesamt relevant, aber nur bei Mi -<br />
granten mit geringen Deutschkenntnissen.<br />
Kulturelle Unterschiede kön -<br />
nen ebenfalls bedeutsam sein, beispielsweise<br />
gemeinsames Schwim -<br />
men in der Reha, das in einigen Kultu -<br />
ren oft nicht akzeptiert ist, spezifische<br />
Essensbedürfnisse, auf die nicht ein -<br />
gegangen wird, <strong>und</strong> daher Akzeptanzprobleme<br />
provozieren. Nicht alle Angebote<br />
sind für alle Patienten glei -<br />
cher maßen geeignet (Razum 2010).<br />
Qualitative Interviews zeigen zudem<br />
eine nicht immer migranten- <strong>und</strong> kul -<br />
tursensible Einstellung beim Perso -<br />
nal. Razum zitiert Mitarbeiter von Re -<br />
hakliniken wie folgt: „Ja, im Gr<strong>und</strong>e<br />
würde ich am liebsten nichts anders<br />
(als bei den Deutschen) machen, weil<br />
ich finde schon auch, dass die (Mi -<br />
granten) eine gewisse Bringpflicht<br />
ha ben, sich zu integrieren.“ Oder:<br />
„Ich würde eigentlich eher dafür plä -<br />
dieren, dass man versucht, mit den<br />
Leuten so deutsch wie möglich umzugehen.“<br />
Er resümiert: „Hier werden<br />
Hindernisse für eine erfolgreiche Re -<br />
habilitation erkennbar, die nicht in der<br />
Person der Rehabilitanden zu suchen<br />
sind, sondern in der Struktur der Ein -<br />
richtungen liegen“ (Razum 2012, 26).<br />
Borde berichtet, dass Migranten<br />
„sprach los“ bleiben: „Wenn du kein<br />
Deutsch kannst, nehmen sie dich gar<br />
nicht wahr.“ oder „Sie hat gut erklärt,<br />
aber ich habe nichts verstanden.“<br />
oder „Die Ärzte halten uns vor, dass<br />
wir kein Deutsch können, deshalb<br />
sagen wir lieber nichts <strong>und</strong> bleiben<br />
sprachlos“ (Borde 2010, 46). Aber<br />
auch die Ärzte sind mit der Situation<br />
unzu frieden, wegen der Schwierigkeiten<br />
der sprachlichen Kommu nikation,<br />
weil sie sich im Alltag mit un be -<br />
frie digenden Arrangements abfinden<br />
müssen, <strong>und</strong> es für Patientenorien tie -<br />
rung „kei ne wirkliche Anerkennung“<br />
gibt (ebd., 47). In der Konsequenz ist zu<br />
resümieren, dass „das eigentlich ega -<br />
litäre deutsche Ges<strong>und</strong>heitssys tem …<br />
es also nicht in allen Fällen (ver mag),<br />
ges<strong>und</strong>heitliche Nachteile für Mi gran -<br />
tinnen <strong>und</strong> Migranten zu vermeiden“<br />
(Razum & Spallek 2012, 172).<br />
Anforderungen an<br />
das Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
Das Ziel, allen Menschen die not wen -<br />
dige medizinische Hilfe, pfle ge rische<br />
<strong>und</strong> psychosoziale Versorgung zuteilwerden<br />
zu las sen, setzt voraus, dass<br />
die Versor gungsstrukturen vorbe rei -<br />
tet sind auf die vielfältigen <strong>und</strong> unter -<br />
schiedlichen Voraussetzungen, die<br />
die Menschen mitbringen. Sowohl so -<br />
zioökono mi schen <strong>und</strong> bildungsbe -<br />
zogenen als auch ethnischen wie kul -<br />
turellen <strong>und</strong> religiösen Differenzen ist<br />
in der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung ge recht<br />
zu wer den. Denn unterschied liche Bil -<br />
dungsvoraussetzungen, Deutsch kennt -<br />
nisse, religiöse Zuge hö rigkeiten oder<br />
kul turelle Herkünfte mögen eine Erklä -<br />
rung für Unterschiede im Infor ma -<br />
2/2013 Forum sozialarbeit + ges<strong>und</strong>heit 9
Titelthema<br />
tions- <strong>und</strong> Aufklärungsgrad, in der Teilnahme<br />
an Prävention, an der Wirk sam -<br />
keit von Maßnahmen sein – aber keine<br />
Rechtfertigung (Borde 2010, 49). Und<br />
längst nicht alle Schwie rig keiten <strong>und</strong><br />
Missverständnisse, die im Ges<strong>und</strong> -<br />
heits alltag auftreten kön nen, sind spe -<br />
zifisch für Migrantinnen <strong>und</strong> Migran -<br />
ten, vielmehr kommen mi grationsspezifische<br />
Faktoren zu anderen, sozioökonomischen<br />
Barrieren hinzu.<br />
In der Versorgungspraxis müssen<br />
existierende Zugangs- <strong>und</strong> Wirksamkeitsbarrieren<br />
erkannt <strong>und</strong> beseitigt<br />
werden. Eine migrations- <strong>und</strong> kul tur -<br />
sen sible Ausrichtung von Versor gungs -<br />
angeboten kann dazu einen wich tigen<br />
<strong>und</strong> weiterführenden Bei trag leisten.<br />
Dazu zählen unterstützende <strong>und</strong> aufsuchende<br />
Versorgungsstrukturen, die<br />
die Menschen dort abholen, wo sie<br />
Literatur<br />
sind, ebenso wie eine bedürfnisorien -<br />
tierte Umgestaltung der Angebote.<br />
Dabei gilt: „Eine ausreichende Kenntnis<br />
von Vorstellungen, Werten <strong>und</strong><br />
Einstellungen von Patienten auf Sei -<br />
ten der Leistungserbringer ist eine essentielle<br />
Voraussetzung für eine ko -<br />
operative Beziehungen zwischen bei -<br />
den Akteuren <strong>und</strong> mit entscheidend<br />
für eine erfolgreiche Krankheitsbe -<br />
wäl tigung“ (Brzoska & Razum 2009,<br />
159). Diese Sensibilität, das Wissen,<br />
die Offenheit, die Achtung <strong>und</strong> der<br />
Respekt gelten allen Menschen. Es<br />
geht also um die Vermeidung von Dis -<br />
kriminierung als Schlechterstel lung<br />
von Personen aufgr<strong>und</strong> ihres Geschlechts,<br />
ihrer Herkunft, etc., ohne<br />
dass „Gleichbehandlung“ oder „Gleich -<br />
heit“ (Razum & Spallek 2012) hier<br />
unbedingt das Maß für Gerechtigkeit<br />
wären. Im erwähnten Memorandum<br />
des Arbeitskreises für eine kul tur sen -<br />
sible Altenhilfe wurde dies so auf den<br />
Punkt gebracht: „Interkulturelle Öffnung<br />
stellt sich der Herausforderung,<br />
alle gleichwertig zu behandeln <strong>und</strong><br />
Differenz wahrzunehmen, ohne den<br />
Einzelnen darauf festzulegen“ (2002,<br />
20). Wie die Gesellschaft insgesamt<br />
steht auch das Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
wei terhin vor der Herausforderung,<br />
zeitgemäße Antworten auf die Be dar -<br />
fe <strong>und</strong> Bedürfnisse einer zunehmend<br />
diversen Bevölkerung zu finden.<br />
■ Dr. Helen Baykara-Krumme ist<br />
Diplom-Soziologin <strong>und</strong><br />
Wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
am Institut für Soziologie der<br />
Technischen Universität Chemnitz,<br />
6 helen.baykara@<br />
soziologie.tu-chemnitz.de<br />
Arbeitskreis „Charta für eine kul tur sen -<br />
sible Altenpflege“/Kuratorium Deutsche<br />
Altershilfe (2002): Für eine kultursen sib -<br />
le Altenpflege. Eine Handreichung. Köln.<br />
Beauftragte der B<strong>und</strong>esregierung für die<br />
Belange der Ausländer (Hrsg.) (1994):<br />
Empfehlungen zur interkulturellen Öffnung<br />
sozialer Dienste. Bonn.<br />
Beauftragte der B<strong>und</strong>esregierung für<br />
Mi gra tion, Flüchtlinge <strong>und</strong> Integration<br />
(2012): 9. Bericht der Beauftragten der<br />
B<strong>und</strong>esregierung für Migration, Flüchtlinge<br />
<strong>und</strong> Integration über die Lage<br />
der Ausländerinnen <strong>und</strong> Ausländer in<br />
Deutschland. Berlin.<br />
Borde, T. (2010): Frauenges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />
Migration: Bedürfnisse – Versor gungs -<br />
realität – Perspektiven. In: Deut scher<br />
Ethikrat (Hrsg.): Migration <strong>und</strong> Ge -<br />
s<strong>und</strong>heit. Kulturelle Vielfalt als He raus -<br />
forderung für die medizinische Versorgung.<br />
Berlin, S. 41–52.<br />
Brzoska, P./Razum, O. (2009): Krank -<br />
heits bewältigung bei Menschen mit Mi -<br />
grationshintergr<strong>und</strong> im Kontext von Kul -<br />
tur <strong>und</strong> Religion. In: Zeitschrift für Me di -<br />
zinische Psychologie 3–4, S. 151–161.<br />
Brzoska, P./Voigtlän der, S./Spallek, J./<br />
Razum, O. (2010): Utili zation and effec -<br />
tiveness of medical re habilitation in fo -<br />
reign nationals re si ding in Ger many. In:<br />
European Journal of Epi de mio lo gy 25,<br />
S.651–660.<br />
Korporal, J./Dangel, B. (2011): Ges<strong>und</strong>heit<br />
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10 Forum sozialarbeit + ges<strong>und</strong>heit 2/2013