PDF der deutschen Version - Deutsches Archäologisches Institut
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Unbekannte Größe<br />
Die Linse ist eine <strong>der</strong><br />
ältesten Kulturpflanzen <strong>der</strong><br />
Menschheitsgeschichte<br />
PANORAMA<br />
PANORAMA<br />
Zarte Pflanze mit gefie<strong>der</strong>ten Blättern auf anspruchslosem Boden: die Linse.<br />
Fotos: Neef<br />
Eine Bäuerin in Yeha in Äthiopien bei<br />
<strong>der</strong> Ernte. Linsen haben schwache<br />
Wurzeln und lassen sich daher leicht<br />
aus dem Boden ziehen.<br />
In Ain Gazhal fanden<br />
die Archäobotaniker<br />
riesige Mengen 10.000<br />
Jahre alter Linsen.<br />
Allein das ist schon ein<br />
Zeichen, dass es sich<br />
um Kultursorten und<br />
nicht um Wildarten<br />
handelte.<br />
Die Linse ist eine zarte Pflanze mit gefie<strong>der</strong>ten<br />
Blättern, bläulichweißen Blüten<br />
und schwachen Wurzeln. Linsen sind anspruchslos<br />
und gedeihen auf unterschiedlichen<br />
Böden, nur saure Böden und schwere<br />
Tonböden mögen sie nicht. Die meisten<br />
Kulturformen haben graubraune Samen –<br />
geschält sehen sie rötlich aus – , aber es<br />
gibt mit schwarzen, grünen und gelben<br />
Früchten auch farbenfrohere Formen.<br />
Wie alle Hülsenfrüchte sind Linsen enorm<br />
nahrhaft und gesund. In <strong>der</strong> Kombination<br />
mit Getreide können sie ohne weiteres<br />
Fleisch ersetzen, da sie alle wichtigen Aminosäuren<br />
mitbringen. Obwohl von den römischen<br />
Eliten wenig geschätzt und sogar<br />
biblisch geschmäht als Ausdruck für ein<br />
schlechtes Geschäft, ist ein „Linsengericht“<br />
also alles an<strong>der</strong>e als ein billiges Ausweichmanöver.<br />
Aber das ist noch nicht alles, was die kleinen<br />
runden Früchte können. „Linsen gehören<br />
zu den ältesten Kulturpflanzen <strong>der</strong><br />
Menschheit überhaupt“, erklärt Rein<strong>der</strong><br />
Neef, leiten<strong>der</strong> Archäobotaniker am Deutschen<br />
Archäologischen <strong>Institut</strong>. Die ältesten<br />
Funde stammen aus dem östlichen<br />
Mittelmeerraum. Über Süd-Ost-Europa kamen<br />
sie bis nach Mitteleuropa. „Wir haben<br />
sogar bronzezeitliche Linsenfunde aus<br />
Mecklenburg-Vorpommern“, sagt Neef.<br />
Aber mittlerweile ist <strong>der</strong> Linsenanbau in<br />
Mitteleuropa völlig erloschen. Heute liegen<br />
die wichtigsten Anbaulän<strong>der</strong> <strong>der</strong> Linse<br />
traditionell in eher südlichen Regionen,<br />
zum Beispiel in Äthiopien, in <strong>der</strong> Türkei, im<br />
Iran, in Nordafrika und in Teilen Süd- und<br />
Westasiens.<br />
10.000 J A HRE<br />
Ain Ghazal ist eine Siedlung in <strong>der</strong> Nähe<br />
von Amman in Jordanien. Sie war ungefähr<br />
von 7500 v. Chr. bis 5000 v. Chr. bewohnt<br />
und gehört zu den ältesten Fundplätzen<br />
Ackerbau betreiben<strong>der</strong> Gesellschaften.<br />
„Akeramisches Neolithikum“ nennen die<br />
Archäologen diese Zeit. Mit 15 Hektar Ausdehnung<br />
war Ain Ghazal zudem zeitweise<br />
eine sehr große Siedlung, sie gehört zu den<br />
größten prähistorischen Siedlungen des<br />
Vor<strong>der</strong>en Orients überhaupt. Schon in den<br />
90er-Jahren fand Rein<strong>der</strong> Neef hier Linsen.<br />
Im ersten Moment drängt sich <strong>der</strong> Gedanke<br />
auf, dass es sich um wilde Formen gehandelt<br />
haben müsse. „Wir fanden Linsen<br />
in Massen – weit über 200.000 Stück“, erzählt<br />
Neef. Und allein das, erklärt <strong>der</strong> Archäobotaniker,<br />
ist schon ein Zeichen dafür,<br />
dass es sich um Kultursorten handelt. „Es<br />
handelte sich auch nicht um erste Experimente<br />
<strong>der</strong> Kultivierung, son<strong>der</strong>n um ausgereifte<br />
Zuchtsorten“, sagt Neef. Das gilt<br />
für die Linsen wie auch die an<strong>der</strong>en Kulturpflanzen,<br />
die man in Ain Ghazal fand. „Normalerweise<br />
sitzen bei Getreide o<strong>der</strong> bei<br />
Hülsenfrüchten die Körner ganz locker, damit<br />
sie auf die Erde fallen können“, beschreibt<br />
Neef die Eigenschaften <strong>der</strong> Wildarten.<br />
„Schließlich will die Pflanze sich<br />
vermehren.“ Das aber ist eine höchst unpraktische<br />
Eigenschaft, wenn man die Absicht<br />
hat, ein Nahrungsmittel daraus zu<br />
machen. Also haben die Menschen durch<br />
Selektion Sorten mit einer festen Ährenachse<br />
o<strong>der</strong> Schote gezüchtet.<br />
Ob und wie Menschen wilde o<strong>der</strong> kultivierte<br />
Pflanzen verwendeten, können die<br />
Archäobotaniker anhand botanischer<br />
Makroreste o<strong>der</strong> Pollen ermitteln. Diese<br />
Untersuchungen liefern verlässliche Indikatoren<br />
darüber, wie Menschen in prähistorischer<br />
Zeit natürliche Ressourcen nutzten,<br />
Kulturpflanzen und Landwirtschaft<br />
entwickelten und schließlich auch Handelswege<br />
etablierten.<br />
Hülsenfrüchte setzten den Domestikationsversuchen<br />
von Menschen wenig Wi<strong>der</strong>stand<br />
entgegen. Sie lassen sich schnell in<br />
Zuchtsorten verwandeln, was nicht nur<br />
botanisch interessant ist, son<strong>der</strong>n auch<br />
Schlüsse zulässt über die Lebensweise <strong>der</strong><br />
Menschen, die zu den ersten Ackerbauern<br />
gezählt werden müssen. In einer großen<br />
Siedlung lebten relativ viele Menschen, die<br />
alle ernährt werden mussten. Hülsenfrüch-<br />
te lassen sich gut lagern, und sie sind ausgesprochen<br />
nahrhaft. Linsen sind zwar etwas<br />
mühsam zu gewinnen, da die Schoten<br />
nicht mehr als ein, zwei o<strong>der</strong> drei Körner<br />
enthalten, aber sie lassen sich leicht ernten<br />
– die Pflanzen werden einfach aus <strong>der</strong> Erde<br />
gezogen. Das Grün gibt eiweißreiches<br />
Stroh fürs Vieh, und in <strong>der</strong> Wurzel sitzt ein<br />
Bakterium, das dafür sorgt, dass die Pflanze<br />
Stickstoff aus <strong>der</strong> Luft in den Boden einträgt<br />
– ein natürlicher Dünger.<br />
Wie die Linsen – ebenso wie Getreide kann<br />
man Hülsenfrüchte nicht roh essen – vor<br />
10.000 Jahren zubereitet wurden, wird<br />
wohl immer ein Rätsel bleiben. „Im präkeramischen<br />
Neolithikum gab es zum Kochen<br />
we<strong>der</strong> metallene noch keramische<br />
Gefäße“, sagt Neef. „Holz- o<strong>der</strong> Steingefäße<br />
sind ungeeignet. Was bleibt, sind Glutöfen,<br />
offene Feuerstellen o<strong>der</strong> heiße Steine als<br />
‚Backplatten’.“ Eine Alternative wäre das<br />
Tauchsie<strong>der</strong>prinzip, bei dem Wasser, Gemüse,<br />
Fleisch und Fett in Le<strong>der</strong>beutel gefüllt<br />
wurde, und <strong>der</strong>en Inhalt mit zugefügten<br />
heißen Steinen gegart wurde. „Was wir<br />
aber wissen, ist, dass auch nach fast 10.000<br />
Jahren die biologischen Funde eine Rekonstruktion<br />
<strong>der</strong> Lebensgrundlage und <strong>der</strong><br />
Umwelt <strong>der</strong> Menschen ermöglichen“, erklärt<br />
Rein<strong>der</strong> Neef.<br />
Im nächsten Jahr wird <strong>der</strong> Archäobotaniker<br />
wie<strong>der</strong> Proben nehmen in Ain Ghazal.<br />
Und auch danach wird man nur vermuten<br />
können, wie die Bewohner <strong>der</strong> frühen<br />
Siedlung ihre Linsen gegessen haben.<br />
Marcus Gavius Apicius, ein ausgewiesener<br />
römischer Feinschmecker aus dem ersten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t n. Chr., <strong>der</strong> Plinius dem Älteren<br />
gar als luxusbesessener Prasser galt,<br />
verschmähte die kleinen Hülsenfrüchte<br />
keineswegs. In seinem Kochbuch „De re coquinaria“<br />
(„Über die Kochkunst“) nennt er<br />
Rezepte, die zwar ziemlich raffiniert, aber<br />
immerhin „Linsengerichte“ sind. Dazu<br />
passt <strong>der</strong> botanische Name <strong>der</strong> gemeinen<br />
Linse ausgezeichnet: Lens culinaris. <br />
Drs. Rein<strong>der</strong> Neef leitet das Archäobotanische<br />
Labor im Naturwissenschaftlichen<br />
Referat des DAI.<br />
68 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT<br />
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 69