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Antifaschistische Kultur - Die Linke

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LITERATURBERICHTE<br />

<strong>Die</strong> Geschichte kennt kein Pardon.<br />

Erinnerungen eines deutschen Historikers<br />

Kurt Pätzold, <strong>Die</strong> Geschichte kennt kein<br />

Pardon. Erinnerungen eines deutschen<br />

Historikers, edition ost, Berlin 2008.<br />

Einer vom Jahrgang 1930. Einer aus<br />

Schlesien. Aufgewachsen in einer antifaschistisch<br />

orientierten Arbeiterfamilie.<br />

Der Vater ist Mitglied der SAP.<br />

Als 1945 eine Zeitenwende beginnt,<br />

hat der aufgeweckte und vielseitig interessierte<br />

Junge, der schon über eine<br />

gute Schulbildung verfügt, so manches<br />

erlebt: die Niederwerfung Polens,<br />

den <strong>Die</strong>nst im Deutschen Jungvolk,<br />

die Flucht mit der Mutter durch halb<br />

Deutschland vor der Verheizung als Melder<br />

des Ortsgruppenführers in der späteren<br />

„Festung Breslau“. Er entgeht so<br />

der „Kampfgruppe Hitlerjugend“.<br />

Wissen die Nachgeborenen in ausreichendem<br />

Maße, was dieser Generation,<br />

diesen blutjungen Menschen, jünger als<br />

der des Werner Holt, angetan worden<br />

ist?<br />

<strong>Die</strong> Rede hier ist von dem Geschichtswissenschaftler<br />

Professor Dr. Kurt Pätzold,<br />

einst Ordinarius für deutsche Geschichte<br />

an der Humboldt-Universität<br />

zu Berlin.<br />

In der DDR gehörte er zur ersten Reihe<br />

in der historischen Wissenschaft. Auch<br />

heute noch zählt der Achtundsiebzigjährige<br />

zu den besten Faschismusforschern<br />

in Deutschland. <strong>Die</strong> neue Republik<br />

könnte sich mit ihm und anderen<br />

seiner Qualität auf wunderbare Weise<br />

schmücken. Darauf wird noch zurück zu<br />

kommen sein.<br />

Zu seinem 70. Geburtstag erschien für<br />

ihn eine Festschrift. 1<br />

Nunmehr die „Erinnerungen“ – das<br />

klingt nach Kügelgen, nach Schubert<br />

und nach viel Abendlicht. Von alldem<br />

schwingt etwas in dem Buch mit. Vor<br />

allem aber begegnet uns eine konzeptionell<br />

klug angelegte Darstellung, die<br />

fast acht Jahrzehnte eines hoch politischen<br />

Lebens umgreift. Hier schreibt<br />

einer, der stets mittendrin war, ein Engagierter,<br />

dessen Aktivität desto verständlicher<br />

wird je mehr man bereit ist,<br />

sein Leben kennenzulernen. Gleichermaßen<br />

aufwühlend beschreibt er die erlebten<br />

Ereignisse um 1945 und jene –<br />

von historisch anderer Qualität- von<br />

1989/1990.<br />

Kurt Pätzold ist nicht der erste Historiker<br />

der DDR, der manches aus seinem Le-<br />

78<br />

ben zu Papier gebracht hat. 2 Jeder, der<br />

sich diesem Anliegen stellt, steht, und<br />

die vorliegenden Autobiographien und<br />

andere Selbstzeugnisse belegen dies,<br />

vor einer schwierigen, aber nicht zu umgehenden<br />

Aufgabe: Er muss befinden,<br />

wie er das Verhältnis von Identifikation<br />

und Distanz gestaltet, von schonungsloser<br />

Kritik einerseits und von Selbstachtung<br />

vor dem eigenen Leben in diesem<br />

Land und von Beachtung von Tatsachen<br />

und Zusammenhängen, die zur Legitimierung<br />

und zur höchst differenzierten<br />

Beurteilung dieser Republik dienen. Der<br />

Historiker weiß zudem, dass es sich um<br />

den ersten historischen Anlauf in Mitteleuropa<br />

handelte, etwas völlig Neues zu<br />

schaffen. Fehleranalyse gehört zur Identifikation.<br />

Kurt Pätzold ist es vortrefflich gelungen<br />

die Waage zu finden und diese zu halten.<br />

Der Leser erfährt von den Ängsten, den<br />

Schwielen und den Irrtümern wie von<br />

Glück über Erbrachtes und Erfahrenes in<br />

einem neuen Land, DDR geheißen. Kurt<br />

Pätzold schont sich und die Politik in seinem<br />

Land nicht. Er schreibt beispielsweise:<br />

„Ich war an dessen pejorativen<br />

Etikettierungen – Revisionismus, Opportunismus,<br />

Sozialdemokratismus – beteiligt.“<br />

(S. 121) Er verdeutlicht, dass er<br />

in mancher Auseinandersetzung gewiss<br />

nicht durch übermäßige Toleranz aufgefallen<br />

ist. Er bekennt sich zu seiner individuellen<br />

Verantwortung für Getanes und<br />

Unterlassenes, aber entschuldigt sich<br />

nicht dafür, dass es dieses Land gegeben<br />

hat und dafür, dass er sich mit all seiner<br />

Kraft eingesetzt hat, um es zu stärken<br />

und zu verbessern. Mit vorzeigbarem Erfolg<br />

und mit beklagenswerten Irrungen.<br />

Solche Darstellungen sind selten geworden.<br />

Anbiederung an die 1990 entstandene<br />

Macht ist leichter.<br />

Es ist kein verstaubt „orthodoxer“ Text<br />

entstanden. Kurt Pätzold folgt konsequent<br />

einem einfachen Prinzip: Er schildert<br />

nur das, was er selbst erlebt hat.<br />

Aber das stellt er prüfend in das politische<br />

Leben der Zeit hinein, er fragt, wie<br />

sein Verhalten und seine Lebenssituationen<br />

zu erklären sind, wie er vorwärts<br />

geführt wird und gar in die Bahnen eines<br />

Wissenschaftlers gerät.<br />

Hier schreibt ein erfahrener Historiker,<br />

der den Wert des Details ebenso<br />

kennt wie den Blick auf die internationale<br />

Großwetterlage, der die Widersprüche<br />

nicht verwischt, sondern als etwas<br />

Wichtiges begriffen hat. Er kennt feinsinnige<br />

Ironie ebenso wie die erhellende<br />

Anekdote.<br />

Es rührt an, mit welcher Genauigkeit er<br />

etwa das Schlesien seiner Kindheit beschreibt.<br />

Er schildert Menschen mit Respekt und<br />

sucht bei jenen, mit denen er im Dissens<br />

stand, Verletzungen zu vermeiden,<br />

das Problem indes benennend, ohne immer<br />

den Namen auszusprechen.<br />

Er beachtet exakt die Zelebritäten, denen<br />

er begegnet ist und ist sichtlich bemüht,<br />

keine zu vergessen.<br />

Oft gelingen ihm in kurzen Strichen präzise<br />

Charakterisierungen. Mit besonderer<br />

Zustimmung las der Rezensent, wie<br />

unser unvergessener Professor Werner<br />

Paff, Mitglied der BundesarbeitsgemeinschaftAntifaschismus/Rechtesextremismus<br />

und Autor des „Rundbriefes“,<br />

mit wenigen warmherzigen Worten vorgestellt<br />

wird.<br />

Zwei biographische Details überraschten<br />

und erfreuten den Rezensenten dermaßen,<br />

dass er sich ein Glas Rotwein<br />

eingoss:<br />

Da ist zuvörderst das Thema von Kurt<br />

Pätzolds historischer Diplomarbeit, die<br />

er 1953 in Jena einreichte und die einem<br />

historiographiegeschichtlichen Thema<br />

gewidmet war, nämlich dem wackeren<br />

Heinrich Luden. Und diese schrieb<br />

er – „etwas Besonderes“ (S. 97) – gar<br />

bei Professor Karl Griewank! Wer mit<br />

der Historiographiegeschichte wissenschaftlich<br />

startet, steht grundsätzlich<br />

unter einem guten Stern. Wer bei Griewank<br />

eingereicht hat, war geradezu prädestiniert<br />

für historisches Forschen.<br />

So reihen sich die „Erinnerungen“ auf<br />

aparte Weise auch in eine „Renaissance<br />

Griewanks nach 1990“ 3 ein.<br />

Zum Geistigen kam das Körperliche:<br />

Der Siebenundzwanzigjährige wurde<br />

zum militärischen Kurzdienst in der NVA<br />

nach Prora einberufen. Wohl jeder Soldat<br />

in der DDR kannte den Satz: „Wo wir<br />

Sand statt Kohle verbrannten – das war<br />

der Ort, den wir Prora nannten.“ Nach<br />

Prora kamen nur die Allerbesten.<br />

Kurt Pätzold hat sich als Forscher zur<br />

Geschichte des Antisemitismus unter<br />

den Bedingungen des deutschen Fa-

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