Antifaschistische Kultur - Die Linke
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NACHRUF<br />
Zum Tode von Professor Dr. Gerhart Hass<br />
Kurz vor seinem Tode telefonierte ich mit<br />
Gerhart Hass. Nachdem er für unseren<br />
„Rundbrief“ den Abdruck des Zeitzeugenberichtes<br />
von Ernst Bittcher über die<br />
Kämpfe der letzten Kriegstage im Reichstag<br />
und in seiner Nähe vermittelt hatte,<br />
wollte er selbst zur Feder greifen.<br />
Vor allem einen mehrteiligen Beitrag<br />
über das Bild des Zweiten Weltkrieges<br />
in deutschen Schulbüchern seit der Befreiung<br />
vom Faschismus wollte er zu Papier<br />
bringen. Ihm machte Sorge, dass<br />
in nicht wenigen der heute benutzten<br />
Schulbücher wichtige Forschungsergebnisse<br />
der Geschichtswissenschaft<br />
zu dieser Thematik keinen angemessenen<br />
Eingang fänden, ja, dass mitunter<br />
weit hinter Erkenntnisse über Ursachen,<br />
Charakter und Folgen dieses Krieges zurückgefallen<br />
werde, die in früheren Zeiten<br />
in Schulbüchern der BRD durchaus<br />
anzutreffen gewesen wären. Das Telefonat<br />
dauerte länger. Wir sprachen über<br />
die in den 60er und 70er Jahren geführte<br />
Debatten zur „Kontinuitäts“-Problematik<br />
innerhalb der Historiographie der<br />
Bundesrepublik. Schließlich wurden ungefähre<br />
Abgabetermine für ein erstes<br />
Manuskript verabredet. Nach dem Krankenhausaufenthalt<br />
wollten wir uns unter<br />
vier Augen in Ruhe über das Schulbuch-<br />
und weitere Projekte austauschen. Er<br />
erklärte sich sofort bereit, mich mit seinem<br />
Rat bei den Recherchen zu den<br />
deutsch-tschechischen Beziehungen<br />
und zur Politik der Sudetendeutschen<br />
Partei in den 1930er Jahren zu unterstützen.<br />
Kurzum: ein neuer „Stammautor“<br />
des „Rundbriefs“ schien gewonnen<br />
worden zu sein. Und was für Einer!<br />
Persönlich kennen gelernt habe ich ihn<br />
erst vor wenigen Monaten. Er, der wesentlich<br />
Ältere und wissenschaftlich<br />
weit Überlegene, bot mir sofort das<br />
„Du“ an. Seine Herzlichkeit und seine<br />
Neugier für die Arbeiten seines Gesprächspartners<br />
machten ihn mir auf<br />
Anhieb sympathisch.<br />
Gerhart Hass – der Name war mir allerdings<br />
schon seit frühesten Studententagen<br />
bestens vertraut. Als junger<br />
Studiosus im von konservativen und reaktionären<br />
Mediokritäten dominierten<br />
Friedrich-Meinecke-Institut der Freien<br />
Universität Berlin sowie im Otto-Suhr-Institut<br />
der gleichen Hochschule, war ich<br />
Anfangs und Mitte der 70er Jahre einbezogen<br />
in die damals mit Leidenschaft<br />
geführten Debatten über das Wesen des<br />
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deutschen Faschismus, nicht zuletzt<br />
über das Verhältnis von Faschismus und<br />
Kapitalismus. Vieles davon war theorielastig.<br />
<strong>Die</strong> Gefahr, dass sich Debatten<br />
über Faschismustheorien verselbständigten<br />
und ihren empirischen Gegenstand<br />
aus den Augen verloren, war gelegentlich<br />
mit Händen zu greifen.<br />
Um dieser Gefahr möglichst zu entgehen,<br />
waren für mich die einschlägigen<br />
Veröffentlichungen von Gerhart Hass,<br />
den ich persönlich leider nicht kennen<br />
lernen konnte, von besonderem Wert.<br />
Ebenso wie in den Publikationen von<br />
<strong>Die</strong>trich Eichholtz, Kurt Gossweiler, Olaf<br />
Groehler, Hans Radandt oder Wolfgang<br />
Schumann, um nur sie an dieser Stelle<br />
zu nennen, wurde mit Hilfe von Quellen<br />
nachgewiesen, dass Max Horkheimers<br />
Diktum „Wer vom Kapitalismus nicht reden<br />
will, soll vom Faschismus schweigen“<br />
eine gar nicht zu überschätzende<br />
Bedeutung hat.<br />
<strong>Die</strong> in der so genannten Minol-Reihe<br />
erschienene Darstellung „Deutschland<br />
von 1939 bis 1945“ (1969), der Dokumentenband<br />
„Anatomie der Aggression“<br />
(1972), die zahlreichen Beiträge in<br />
der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“,<br />
in der „Militärgeschichte“ und<br />
im „Jahrbuch für Geschichte“ (die Artikel<br />
im „Bulletin des Arbeitskreises<br />
Zweiter Weltkrieg“ waren leider nicht<br />
oder nur in Ausnahmefällen in Westberlin<br />
erreichbar), besonders der 1975 veröffentlichte<br />
erste Band der Geschichte<br />
Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, alles<br />
von Gerhart Hass geschrieben, mitverfasst<br />
bzw. unter seiner maßgeblichen<br />
Mitwirkung herausgegeben, waren für<br />
mich ein unersetzliches Handwerkszeug<br />
in der Auseinandersetzung mit bürgerlichen<br />
Historikern und Kommilitonen.<br />
In der Buchhandlung „Das Europäische<br />
Buch“ oder in der Hauptstadt der DDR<br />
wurden die genannten Bände und Periodika<br />
käuflich erworben oder es wurden<br />
Kopien seiner Aufsätzen angefertigt.<br />
Gerhart Hass, 1931 in Berlin geboren,<br />
starb am 3. Mai 2008. Zu beklagen ist<br />
nicht allein, dass ein hochkompetenter<br />
Historiker und Faschismusforscher, der<br />
seine Beiträge unmittelbar aus den Quellen<br />
erarbeitete, nicht mehr unter uns ist.<br />
Zu beklagen ist vor allem, dass wiederum<br />
ein aus der DDR stammender marxistischer<br />
Historiker verstorben ist – und er<br />
eine empfindliche Lücke hinterlässt, die<br />
nicht geschlossen werden kann. Denn der<br />
in der Geschichtswissenschaft der alten<br />
wie der neuen Bundesrepublik niemals<br />
existierende „Wissenschaftspluralismus“<br />
hat strikt darauf geachtet, dass Marxisten<br />
–welcher Couleur auch immer – die<br />
Universitätslaufbahn verschlossen blieb.<br />
So bleibt zu hoffen, dass die Publikationen<br />
von Gerhart Hass zumindest hier<br />
und da Eingang in das akademische Studium<br />
– sofern es derartiges angesichts<br />
der Fortsetzung des Schulunterrichtes<br />
in Form des „Bachelor-Machens“ noch<br />
geben sollte – finden mögen. Eines sei<br />
noch einmal festgestellt: <strong>Die</strong> durch den<br />
Tod von Professor Dr. Gerhart Hass hinterlassene<br />
Lücke wird nicht zu schließen<br />
sein. Wer dies für eine Formulierung halten<br />
sollte, die obligatorischer Bestandteil<br />
eines jeden Nachrufs sei, sollte zu den<br />
Büchern oder Aufsätzen des Verstorbenen<br />
greifen. Der Autor dieser Zeilen hat<br />
damit jedenfalls schon begonnen.<br />
Dr. Reiner Zilkenat<br />
Publikationen von Prof. Dr. Gerhart Hass<br />
(Auswahl):<br />
- Von München bis Pearl Harbor. Zur<br />
Geschichte der deutsch-amerikanischen<br />
Beziehungen 1938–1941, Akademie<br />
Verlag, Berlin 1965.<br />
- Deutschland von 1969 bis 1945, VEB<br />
Deutscher Verlag der Wissenschaften,<br />
Berlin 1969, 2. Aufl. 1975 (zusammen<br />
mit Wolfgang Bleyer, Karl Drechsler<br />
und Gerhard Förster).<br />
- Anatomie der Aggression. Neue Dokumente<br />
zu den Kriegszielen des faschistischen<br />
deutschen Imperialismus<br />
im zweiten Weltkrieg (Herausgeber,<br />
zusammen mit Wolfgang Schumann),<br />
VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften,<br />
Berlin 1972.<br />
- Deutschland im zweiten Weltkrieg.<br />
Band 1: Vorbereitung, Entfesselung<br />
und Verlauf des Krieges bis zum 22.<br />
Juni 1941, Akademie Verlag, Berlin<br />
1975 (Leiter des Autorenkollektivs).<br />
- Münchner Diktat 1938 – Komplott<br />
zum Krieg, <strong>Die</strong>tz Verlag, Berlin 1988<br />
(Schriftenreihe Geschichte).<br />
- Bankrott der Münchner Politik. <strong>Die</strong><br />
Zerschlagung der Tschechoslowakei<br />
1939, Berlin 1989, VEB Deutscher<br />
Verlag der Wissenschaften (Illustrierte<br />
historische Hefte).<br />
- 23. August 1939. Der Hitler-Stalin-<br />
Pakt. Dokumentation, <strong>Die</strong>tz Verlag,<br />
Berlin 1990.