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Antifaschistische Kultur - Die Linke

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habe, in einer europaweit grassierenden<br />

Wahnidee – die die „zerstörerischste<br />

Wahnidee war, die Europa je hatte, nämlich<br />

die von ethnisch homogenen Nationalstaaten,<br />

so dass diese nicht mehr<br />

in der Lage waren, mit anderen <strong>Kultur</strong>en<br />

und anderen Ethnien zusammenzuleben“.<br />

Der Nationalismus, der dieser<br />

Wahnidee zugrunde liege, habe seinen<br />

Ursprung in zwei Ereignissen: Das erste<br />

sei die Französische Revolution, die<br />

„die politisch ungebildeten Völker“ zum<br />

„Subjekt von Geschichte gemacht“ habe.<br />

Als „dunkle Kehrseite“ davon seien<br />

„Populismus und Nationalismus“ aufgeblüht<br />

und hätten zu dem zweiten Ereignis<br />

geführt: dem „Auseinanderbrechen<br />

der früheren europäischen Großreiche,<br />

die alle multikulturelle, multiethnische<br />

Großreiche und im Kleinen Vorbilder<br />

dieses Europas der vielen Völker<br />

und der vielen Sprachen gewesen“ seien.<br />

„Aus diesen zusammenbrechenden<br />

Großreichen und mit diesem Geist von<br />

Populismus und radikalem Nationalismus“<br />

sei die oben genannte „Wahnidee“<br />

aufgekommen.<br />

Hatte Vollmer noch nie gehört, dass mit<br />

der Französischen Revolution ein Konzept<br />

der Nation aufkam, das die Zugehörigkeit<br />

zu einer Nation nicht von<br />

der ethnischen Abstammung abhängig<br />

machte? Wollte Vollmer wirklich das Osmanische<br />

Reich und das Habsburgerreich<br />

zu Vorbildern des heutigen Europa<br />

erklären? Wollte sie als Quelle der<br />

„zerstörerischsten Wahnidee“ wirklich<br />

das Unabhängigkeitsstreben der Völker<br />

auf dem Balkan, der Tschechen, Slowaken<br />

und Polen denunzieren? Wollte sie<br />

wirklich behaupten, der Holocaust und<br />

die Ausrottungspläne der Nazis bezüglich<br />

der slawischen Völker („Generalplan<br />

Ost“) beruhten auf derselben Motivation<br />

wie die Nachkriegsordnung, die die<br />

Antihitlerkoalition in Jalta und Potsdam<br />

beschloss?<br />

Ob sie es wollte oder nicht – nach ihrer<br />

Logik wäre die Umsiedelung der Deutschen<br />

nicht die Konsequenz der Kriegs-<br />

und Vernichtungspolitik des deutschen<br />

Faschismus mit dem Ziel der Errichtung<br />

eines deutschen Kolonialreiches im Osten,<br />

sondern Folge eines Wahns, der –<br />

beginnend mit den Ideen der Französischen<br />

Revolution von 1789 – im 19.<br />

und 20. Jahrhundert ganz Europa befallen<br />

habe. Der Holocaust und die „Vertreibung“<br />

wären dann nur zwei Manifestationen<br />

derselben Krankheit. Das Bild<br />

eines „Jahrhunderts der Vertreibungen“<br />

entsteht, in dem der deutsche Faschismus<br />

seinen Ursprung nicht in spezifisch<br />

deutschen Gegebenheiten hat, sondern<br />

nur eine – wenngleich die krasses-<br />

te – Ausprägung eines allgemeinen europäischen<br />

Irrwegs ist, dessen größte<br />

Opfergruppe wiederum die Deutschen<br />

darstellen.<br />

So muss man wohl auch die folgenden<br />

Sätze von Markus Meckel verstehen:<br />

„Gerade die Geschichte der Vertreibungen<br />

ist ein Teil der europäischen<br />

Geschichte und als singuläres Ereignis<br />

überhaupt nicht zu verstehen.“<br />

Norbert Lammert (CDU), von Anfang an<br />

ein eifriger Streiter für das BdV-Projekt,<br />

nahm diesen Faden auf und sprach in<br />

seiner Schlussrede am 16. Mai 2002 von<br />

„dramatischen Verirrungen der deutschen<br />

und europäischen Geschichte im<br />

letzten Jahrhundert“ und davon, dass<br />

das Zentrum „ein Stachel im Fleisch der<br />

Stadt, des Landes und dieses Europas<br />

sein (werde), das sich diese Verirrungen<br />

gemeinsam geleistet hat“.<br />

Der „neue Ansatz“ in der Presse<br />

Seit dieser Bundestagsdebatte zum Thema<br />

„Zentrum gegen Vertreibungen“ sind<br />

mehr als sechs Jahre vergangen. <strong>Die</strong><br />

These vom „europäischen Irrweg“ ist<br />

in dieser Zeit zum Gemeinplatz geworden,<br />

ebenso die Charakterisierung des<br />

20. Jahrhunderts als „Jahrhundert der<br />

Vertreibungen“. Mit der Vokabel „Nationalismus“<br />

lässt sich scheinbar alles erklären;<br />

grundverschiedene Dinge – z. B.<br />

das Unabhängigkeitsstreben kolonialisierter<br />

Völker und die Welteroberungsgelüste<br />

imperialistischer Herrschercliquen<br />

– werden in einen Topf geworfen.<br />

<strong>Die</strong> Frage, welche spezifischen Ziele<br />

die führenden Vertreter des deutschen<br />

Imperialismus, die Thyssen und Krupp,<br />

Siemens und IG Farben, verfolgten, als<br />

sie die Nazi-Bewegung bereits vor 1933<br />

finanzierten und schon damals Hitlers<br />

Politik gut hießen, hat da keinen Platz<br />

mehr. Auch die Frage nach spezifischen<br />

Voraussetzungen in der deutschen Gesellschaft<br />

– die Frage nach Obrigkeitsdenken,<br />

militaristischen Traditionen und<br />

brutalisierenden Sozialisationsstrukturen<br />

– braucht nicht mehr gestellt zu<br />

werden.<br />

Wer Beispiele für die Verbreitung des<br />

neuen „europäischen Ansatzes“ sucht,<br />

braucht nicht in ausgeprägt konservativen<br />

Zeitungen wie der „Frankfurter Allgemeinen<br />

Zeitung“ oder der „Welt“ zu<br />

blättern. In der „Süddeutschen Zeitung“<br />

vom 24. Juli 2003 beispielsweise schrieb<br />

Götz Aly unter der Überschrift „Europas<br />

Selbstzerstörung – Zum geplanten<br />

‚Zentrum gegen Vertreibung‘“: „Notwendig<br />

wäre es, die Verbindungslinien zwischen<br />

Holocaust und Vertreibung offen<br />

zu legen.“ In den Vernichtungslagern<br />

hätten „Deutsche die äußerste Form<br />

einer europäischen Politik der Dissimilierung<br />

der ethnisch, also rassisch begründeten<br />

Diskriminierung, Zwangsenteignung<br />

und Deportation“ verwirklicht.<br />

„Doch gehört die Ermordung der europäischen<br />

Juden mitten in die skizzierte<br />

historische Konstellation ethnokratischer<br />

Politik hinein“, behauptet der<br />

Autor. Auch das Potsdamer Abkommen<br />

erklärt Aly als „Produkt derselben europäischen<br />

Denkschule“, und die „Vertreibung<br />

von mehr als zwölf Millionen Deutschen<br />

aus Ostmitteleuropa“ gehört für<br />

ihn unterschiedslos „zu den Massenverbrechen<br />

des 20. Jahrhunderts“. Der<br />

<strong>Kultur</strong>wissenschaftler Andreas F. Kelletat<br />

hat für derartige Konstruktionen die<br />

Bezeichnung „Holocaustisierung des<br />

Flucht-und-Vertreibungsdiskurses“ geprägt.<br />

13 Entscheidend vorangetrieben<br />

wurde diese auch durch den US-amerikanischen<br />

Historiker Norman F. Naimark<br />

mit seinem Buch „Flammender<br />

Hass. Ethnische Säuberungen im 20.<br />

Jahrhundert“ (deutsche Ausgabe 2004)<br />

und seinen Aufsatz „<strong>Die</strong> Killing Fields<br />

des Ostens und Europas geteilte Erinnerung“<br />

14 .<br />

Ein aktuelleres Beispiel findet sich in<br />

Folge 5 des Bildungskanons der Hamburger<br />

Wochenzeitung „<strong>Die</strong> Zeit“ unter<br />

dem Stichwort „Nationalismus“: Nach<br />

der Schilderung eines antigriechischen<br />

Pogroms, der 1955, während der Amtszeit<br />

des türkischen Ministerpräsidenten<br />

Adnan Menderes, in Istanbul verübt<br />

wurde, fährt der Autor Michael Thumann<br />

fort: „Im internationalen Vergleich war<br />

Adnan Menderes freilich einer der kleinen<br />

Täter. Wenige Jahre vor ihm hatten<br />

europäische Regierungschefs und Diktatoren<br />

in großem Stil den Vielvölkerkontinent<br />

Europa umgepflügt, Millionen Menschen<br />

entwurzelt, deportiert, ermordet<br />

oder in Todesfabriken vergast. Vor allem<br />

die Deutschen unter Hitler haben<br />

der Welt das bis heute unübertroffene<br />

Schreckbild eines entfesselten Nationalismus<br />

geliefert. Dagegen benutzte der<br />

Georgier und Kommunist Josef Stalin<br />

den russischen Nationalismus, um ganze<br />

Völker umzusiedeln und auszurotten.<br />

Der Brite Winston Churchill stimmte auf<br />

den Kriegskonferenzen bis 1945 der erzwungenen<br />

Umsiedelung von Millionen<br />

Polen und Deutschen zu. Der Tscheche<br />

Edvard Benes verwirklichte nach der<br />

Rückkehr aus dem Exil nach Prag seinen<br />

lange gehegten Plan der Vertreibung<br />

der Sudetendeutschen.“ 15 Sätze voller<br />

Geschichtsklitterungen. Nur zwei seien<br />

herausgegriffen: Es waren eben nicht<br />

„europäische Regierungschefs und Diktatoren“,<br />

die Millionen Menschen in Todesfabriken<br />

vergasten – es war, wenn<br />

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