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Antifaschistische Kultur - Die Linke

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zupeitschen, das viele aktive Sozialdemokraten<br />

ins Exil drängt, sie ins Gefängnis<br />

bringt oder ihnen schlicht und einfach<br />

die Lebensgrundlage entzieht. Zwölf Jahre<br />

später setzt der Reichskanzler auf eine<br />

andere politische Taktik, hebt das Sozialistengesetz<br />

auf und versucht, die Arbeiterklasse<br />

durch die Teilhabe an bestimmten<br />

sozialen Leistungen zu befrieden.<br />

<strong>Die</strong> Sozialdemokratie selbst gerät auch<br />

in Folge dieser aus Furcht vor ihr erreichten<br />

Errungenschaften in grundlegenden<br />

politische Richtungsstreit, der<br />

zwischen Vertretern reformistischer<br />

und revolutionärer Positionen ausgetragen<br />

wird. 1912 stellt sie erstmals die<br />

stärkste Fraktion im Reichstag, ab 1914,<br />

mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges,<br />

spitzen sich jedoch die internen Richtungskämpfe<br />

dramatisch zu. Nach zunächst<br />

geschlossener Zustimmung zu<br />

den Kriegskrediten verweigert Monate<br />

später Karl Liebknecht bei der zweiten<br />

Abstimmung zu weiteren Kriegskrediten<br />

der Partei die Gefolgschaft. Schon 1916<br />

gründet sich die Spartakusgruppe um<br />

Liebknecht und Luxemburg, die in der<br />

SPD organisierte Arbeiterklasse spaltet<br />

sich darüber hinaus 1917 in einen reformistischen<br />

Flügel, die (M)SPD, und einen<br />

revolutionären Flügel, die USPD.<br />

Zu dieser Zeit ist der Krieg längst in einen<br />

Stellungskrieg übergegangen und<br />

für das Deutsche Kaiserreich nicht mehr<br />

zu gewinnen. Viele Tausende Tote auf<br />

beiden Seiten rechtfertigen nach Ansicht<br />

der Heeresleitung wenige Meter<br />

Stellungsgewinn. <strong>Die</strong> Bevölkerung hinter<br />

den Linien hungert. Der Druck auf den<br />

Kaiser, den Krieg zu beenden, wächst.<br />

Lenin führt im fernen Russland die Bolschewiki<br />

im Oktober 1917 per Revolution<br />

an die Macht, der Krieg mit Deutschland<br />

wird daraufhin im März 1918 eingestellt.<br />

<strong>Die</strong> Bolschewiki errichten die Sowjetmacht<br />

– und mit ihr die Hoffnung für<br />

das kriegsgebeutelte Europa, dass andere<br />

Länder es Russland gleich tun.<br />

In Deutschland ist es im November 1918<br />

soweit. Des Tötens, Sterbens und Hungerns<br />

müde, proben einige Matrosen<br />

der Kaiserlichen Marine den Aufstand.<br />

Er wird zum Fanal, das Kaiserreich<br />

bricht in sich zusammen. Mit dem Kieler<br />

Matrosenaufstand wird der Kaiser zum<br />

Rücktritt gezwungen. Der sozialdemokratische<br />

Vorwärts titelt am 9. November<br />

1918: „Der Kaiser dankt ab!“<br />

Und dies ist der eigentliche Ausgangspunkt<br />

der Stadtrundfahrt auf den Spuren<br />

der Novemberrevolution. Bernd<br />

Langer nimmt, nachdem er und die Teilnehmer<br />

der Geschichtstour von ihrem<br />

Gang zu den Todesplätzen von Liebknecht<br />

und Luxemburg wieder in den<br />

Lärm der Gefährte und das Gewimmel<br />

der Touristen am Großen Stern eingetaucht<br />

sind, seinen Platz im Vorderdeck<br />

des Reisebusses ein, der seine Zuhörer<br />

auf eine Zeitreise durch das revolutionäre<br />

Berlin 1918/19 fährt. Das Mikrofon<br />

krächzt, vielleicht ist es auch die kämpferische<br />

Wallung, in die die Geschichte<br />

die Zeitreisenden versetzt. Wer weiß?<br />

Langer erzählt, während der Bus sich<br />

am Reichstag entlang schlängelt, von<br />

der Ausrufung der Republik am 9. November<br />

1918 durch den Sozialdemokraten<br />

Philipp Scheidemann. Was schrie<br />

Scheidemann den Massen entgegen?<br />

„Arbeiter und Soldaten! Seid euch der<br />

geschichtlichen Bedeutung dieses Tages<br />

bewusst. Unerhörtes ist geschehen!<br />

Große und unübersehbare Arbeit steht<br />

uns bevor. Alles für das Volk, alles durch<br />

das Volk! Nichts darf geschehen, was der<br />

Arbeiterbewegung zur Unehre gereicht.<br />

Seid einig, treu und pflichtbewusst. Das<br />

Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen!<br />

Es lebe das Neue;<br />

es lebe die deutsche Republik!“<br />

Und was rief Liebknecht, nur wenige<br />

hundert Meter vom Reichstag und<br />

Scheidemann entfernt, von einem Balkon<br />

des Berliner Stadtschlosses den<br />

Seinen entgegen?<br />

„Der Tag der Revolution ist gekommen.<br />

Wir haben den Frieden erzwungen. Der<br />

Friede ist in diesem Moment geschlossen.<br />

Das Alte ist nicht mehr. <strong>Die</strong> Herrschaft<br />

der Hohenzollern, die in diesem<br />

Schloss Jahrhunderte lang gewohnt haben,<br />

ist vorüber. In dieser Stunde proklamieren<br />

wir die freie sozialistische Republik<br />

Deutschland!“<br />

Zwei Ansprachen, zwei Inhalte, zwei<br />

voneinander verschiedene Ziele, die die<br />

Arbeiterklasse in den folgenden Wochen<br />

zunächst auseinander und dann gegeneinander<br />

treiben.<br />

Der Bus fährt Richtung ehemaliges Berliner<br />

Zeitungsviertel, dorthin, wo der<br />

„Vorwärts“ und andere Redaktionen beheimatet<br />

waren. Heute steht hier unter<br />

anderem das Springerhochhaus und<br />

auch die „TAZ“ wird nicht weit davon<br />

entfernt produziert. Am 8. Januar 1919<br />

jedoch haben revolutionäre Arbeiter das<br />

Viertel besetzt, das Gebäude des Vorwärts<br />

gestürmt und Barrikaden auf den<br />

Straßen errichtet. Dem voraus gingen<br />

wochenlange Taktierereien der Übergangsregierung<br />

um Friedrich Ebert –<br />

des Rates der Volksbeauftragten –, der<br />

neben den Vertretern der SPD auch Mitglieder<br />

der USDP angehörten. <strong>Die</strong> Mehrheit<br />

der Teilnehmer am Reichsrätekongress<br />

Mitte/Ende Dezember 1918 hatte<br />

sich für die Parlamentswahlen ausgesprochen<br />

und damit die radikal-revolu-<br />

tionäre Haltung der Spartakusgruppe<br />

(zu dieser Zeit bereits in Spartakusbund<br />

umbenannt) um Liebknecht und Luxemburg<br />

abgelehnt.<br />

Daraufhin gründet sich in der Neujahrsnacht<br />

1918/19 im heutigen Berliner<br />

Abgeordnetenhaus in der Niederkirchnerstraße<br />

die KPD. Zuvor hatten<br />

sich bereits die USPD-Vertreter aus der<br />

Übergangsregierung zurückgezogen,<br />

nachdem Regierungstruppen im Auftrag<br />

von Ebert versucht hatten, die politisch<br />

stark nach links tendierende Volksmarinedivision<br />

aufzulösen. Arbeiter und<br />

Soldaten sind in eine sozialdemokratische<br />

und eine revolutionär-kommunistische<br />

Strömung gespalten und stehen<br />

sich scheinbar unversöhnlich gegenüber.<br />

<strong>Die</strong> Konfrontation rückt näher und<br />

kulminiert schließlich im so genannten<br />

Spartakusaufstand, den neben der KPD<br />

und der USPD nahe stehenden Arbeitern<br />

und Soldaten unabhängige Arbeiterräte<br />

mit- und eben ins Zeitungsviertel<br />

tragen. Es dauert nicht lang, bis sie niederkartätscht<br />

werden und der Aufstand<br />

niedergeschlagen wird.<br />

Liebknecht und Luxemburg werden am<br />

15. Januar 1919 in einem Versteck in<br />

Berlin aufgegriffen, an ihre Mörder ausgeliefert<br />

und nach qualvollen Stunden<br />

der Folter im Hotel Eden in den Tiergarten<br />

verschleppt. Dorthin, wo die Fahrt<br />

auf den Spuren der Novemberrevolution<br />

an diesem herrlichen Frühlingstag begann<br />

und die Leben der beiden wohl bekanntesten<br />

deutschen Arbeiterführer –<br />

derer jedes Jahr erneut Zehntausende<br />

auf der größten regelmäßigen Demonstration<br />

Deutschlands am zweiten Januarwochenende<br />

gedenken – ihr blutiges,<br />

mörderisches Ende fanden.<br />

Bernd Langer hat diese Fahrt auf akribische<br />

Weise vorbereitet, detailgetreu begleitet,<br />

mit dem Mut, sich auch politisch<br />

zu positionieren. Gern folgt ihm der Zuhörer<br />

in eine vergangene Zeit und lernt,<br />

Berlin, diese seine Stadt, einmal mit anderen<br />

Augen zu betrachten.<br />

Was ist <strong>Kultur</strong>? Geschichtliches Erinnern<br />

zum einen und zum anderen die Sprache,<br />

so sagt man. Langers Projekt ist<br />

<strong>Kultur</strong>arbeit in ihren Grundlagen.<br />

Und welch schöneres und erhabeneres<br />

Ende hätte es am 3. Mai 2008 finden<br />

können, als den Tourbus nach Berlin-<br />

Lichtenberg zu lenken, in Richtung des<br />

Friedhofs der Sozialisten und den Teilnehmern<br />

die Gelegenheit zu geben, sich<br />

der Geschichte zu besinnen. Dort, wo<br />

sich eingebettet in das frische Grün des<br />

Frühlings die Grabstellen von Karl Liebknecht<br />

und Rosa Luxemburg befinden.<br />

Martin Schirdewan<br />

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