Dorfgeschichten
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
„HomeOffice“ mit Hindernissen<br />
Eine gute Sache am Anwaltsberuf ist die<br />
Flexibilität. Die terminlichen Fixpunkte<br />
sind die Gerichtstermine und die Besprechungen<br />
mit den Mandanten. Ansonsten<br />
kann man sich die Arbeitszeit so einteilen,<br />
dass sie mit der Familie gut vereinbar ist. So<br />
gibt es auch abends, wenn alle Kinder im Bett<br />
sind, noch zweieinhalb Stunden, in denen ich<br />
mir die Zeit nehme, weiterzuarbeiten. Je<br />
mehr Flexibilität, desto mehr Disziplin<br />
braucht man aber auch und kleine<br />
Nachlässigkeiten werden sofort bestraft…<br />
oder: „kleine Strafen schickt der Herrgott<br />
sofort“.<br />
zwar nachgestellt, aber ganz genau so war`s!<br />
Freitags ist mein „HomeOffice“Tag, wie<br />
man Neudeutsch sagt. Gleich nach dem<br />
Schülerlotsendienst gehe ich an den Schreibtisch<br />
zuhause in Uttenreuth, statt nach<br />
Nürnberg zu fahren. Es ist Anfang November,<br />
draußen leichter Schneefall, alles weiß überzuckert,<br />
4° Minus, Wintermorgenstimmung.<br />
Das Haus ist ganz still, die Kinder sind in der<br />
Schule. Bequeme Kleidung, Jeans, TShirt,<br />
barfuß, ein Tee eine herrliche Arbeitsatmosphäre<br />
um die komplizierteren Fälle aus<br />
der Woche aufzuarbeiten und in Ruhe zu<br />
durchdenken. Es ist 08:07 Uhr. Bis das Teewasser<br />
kocht noch ein kurzer Blick in die<br />
Zeitung. Schuhe und Jacke brauche ich für<br />
die paar Schritte zum Briefkasten nicht.<br />
Dachte ich.<br />
Wenn ich nicht vor ein paar Wochen<br />
einen Türschließer an der Haustür<br />
montiert hätte. Mit einem sanften<br />
„...Dschuggg…“ gleitet sie ins Schloss,<br />
während ich am Briefkasten stehe, barfuß in<br />
der dünnen Schneeschicht, kurzärmelig, die<br />
Erlanger Nachrichten in der Hand. Kein<br />
Nachbar ist zu Hause, das Auto zu, kein<br />
Fenster gekippt, kein Handy. “Erfroren<br />
mitten in Uttenreuth” muss ich schmunzelnd<br />
denken. Drinnen beschlägt das Küchenfenster,<br />
mein Teewasser kocht. Ich wusste gar<br />
nicht, dass Schnee so kalt ist, denke ich.<br />
Da fällt mir ein: unsere Freunde im Dorf<br />
haben einen Ersatzschlüssel. Aber so,<br />
wie ich hier stehe, kann ich unmöglich ins<br />
Dorf laufen oder radeln viel zu kalt, viel zu<br />
weit. In der Garage finde ich weder Arbeitsmantel<br />
noch Arbeitsschuhe, alles ist im Haus.<br />
Das einzige, was mich wärmen könnte, sind<br />
die alten Lappen aus einer Holzkiste, die wir<br />
zum Fahrradreparieren hernehmen. Ich<br />
wickle mir also die bunten Stofffetzen um die<br />
Füße, verschnüre sie mit dem roten Maurerfaden,<br />
den ich zum Glück auch noch finde.<br />
Ziemlich unförmige Pakete werden das. Sie<br />
erinnern stark an Ötzis Baumrindenschuhe,<br />
nur bunter. Jetzt noch zwei gelbe Säcke um<br />
die Füße und los! Dass ich einmal so durchs<br />
Dorf radle, hätte ich mir vorher nicht<br />
träumen lassen.<br />
Mein Freund Hannes ist zum Glück zuhause<br />
und hat auch den Schlüssel. Er<br />
findet, ich sehe eher aus wie der Mitarbeiter<br />
eines Atomkraftwerks. Wir lachen gemeinsam,<br />
ich bedanke mich und mache auf dem<br />
Absatz kehrt. Als ich dann<br />
um halb Neun meine erste<br />
Akte am Schreibtisch<br />
aufschlage, schmeckt der<br />
Tee noch besser als sonst.<br />
Frederic Ruth<br />
Seite 21