68 III. Das bürgerliche Wohnhaus des 20. Jahrhunderts Die ...
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145 Ihre eindrücklichste Wirkung erzielt diese wandflächenverliebte Feingliederung bei den Häusern in geschlämmtem Ziegelmauerwerk. Die Wandoberfläche wird dabei nicht glatt verputzt, sondern behält ihre strukturelle Bewegtheit durch die sich vorwölbenden Ziegelsteine und tiefen oder vorstehenden Mörtelfugen. Als Spuren der handwerklich unregelmäßigen Ausführung stehen sie in bewusstem Gegensatz zu technisch-maschineller Glätte. Wand als Projektionsfläche für Licht- und Schattenbildung und als Kompositionsfläche für Loch und Materie wird damit als stoffliche Qualität definiert und in ihrem exponierten Einsatz als geradezu puristischer Wert vermittelt. Den Typ mit Fensterband erstellt Schmitthenner allerdings doch mit dem 1930 erfolgten Atelieranbau an seinem eigenen Stuttgarter Wohnhaus (Abb. 207). Charakteristisch ist er durch asymmetrische Gesamtkomposition und Fensterkontraktion an einem der Geschosse individualisiert. Dass Schmitthenner die Regenrohre gezielt in Reaktion auf die jeweilige Wandfläche setzt, je nachdem, ob Unregelmäßigkeit betont oder wie beim Haus Debatin gemildert werden soll (Abb. 180), wird hier als Gesetzmäßigkeit deutlich. Ein konstantes Unregelmäßigkeitsmotiv stellt die Setzung der Kamine dar. Selbst bei streng axialsymmetrischen Fassaden wird damit grundsätzlich ein Akzent gesetzt, auch wenn es auf den ersten Blick nicht auffällt, wie bei den Häusern Roser und Debatin (Abb. 172 und 182). Die ausgesprochene Sensibilität für Unregelmäßigkeiten und Asymmetrie könnte auf das Studium von Goethes Gartenhaus zurückzuführen sein. Hier ist die Bedeutung des zugemauerten Fensters an der ansonsten regelmäßigen Hauptfassade nicht zu unterschätzen. Die gemalte neuerliche Restitution dieses Fensters stellt eine grobe Verfälschung des zumindest für das 20. Jahrhundert bedeutsamen Rezeptionsstrangs dieser "Schlüsselfassade" dar. Eine weitere Bedeutungsebene von Schmitthenners Verständnis der Verarbeitung von Tradition kann in der Beobachtung der unterschiedlichen repräsentationsbedingten Behandlung von Vorder- und Rückfassade des Gartenhauses gesehen werden, wie wir es auch beim Jagdhaus Gabelbach vorgefunden haben. Schmitthenner übernimmt diesen Aspekt des unordentlichen Pragmatismus der alten Baukunst und übersetzt ihn in ein neues Ordnungssystem der willentlichen Irregularität, das er als allgemeingültigen Ausdruck seiner Gegenwart interpretiert. Je nach Aufgabe schafft er auch eine Synthese zwischen schematischer Ordnung und willkürlichem Chaos, was als gleichzeitiger dialektischer Ausdruck der Individualität des modernen Menschen und der Einfügung in einen angestrebten gesamtgesellschaftlichen Kontext lesbar ist. Damit formuliert seine Architektur einen grundlegenden pädagogischen und weltanschaulichen Anspruch.
146 Diese bewusste Störung der Ordnung könnte sogar als noch vollkommen unbeabsichtigter Vorlauf zur Theorie des Dekonstruktivismus der 90er Jahre diskutiert werden. 5.2.4. Grundrisse und Raumbildung Untersucht man, ob Schmitthenners hochgradiger Ästhetizismus der Außengestalt zu Lasten der Innenräume geht, so kann man feststellen, dass gerade die Vielfalt der Ordnungssysteme immer eine Variante bereithält, die sich auf die einzelne Erfordernis des Inneren anwenden lässt. Diese Flexibilität erklärt auch, weshalb nie alle vier Fassaden eines Hauses einem bestimmten Ordnungssystem folgen. Wieterhin kommt die beabsichtigte äußere Unregelmäßigkeit der funktionalen Setzung der Fenster entgegen. Überhaupt gibt es bei Schmitthenners Räumen nicht eine einzig richtige zum Beispiel mittige Platzierung der Fenster. Vielmehr bleibt auch hier ein gewisser Spielraum, die Fenster während der Entwurfsphase leicht zu verschieben. Wo Schmitthenner in Konflikt zwischen Fassade und vernünftiger Befensterung des Innenraums kommen könnte, bedient er sich des Tricks, an einer Raumseite eine Schrankwand einzubauen. Damit gleicht er die ansonsten vielleicht als zu unregelmäßig empfundene Raumgliederung aus, wie im Esszimmer des Hauses Köster (Abb. 204). Insbesondere Schmitthenners Grundrisse zu den Modell-Typen zeigen, wie die Struktur der tragenden Wände auf dem traditionellen Schema von einer Längs- und zwei Querwänden aufbaut. Bei den ausgeführten Bauten ist die individuelle Anpassung durch Fortlassung oder Verschiebung einzelner Wände dann soweit geführt, dass als feste Konstante nur noch eine Längsteilung erkennbar bleibt, oder die Räume U-förmig um eine zentrale Eingangshalle herum liegen, wie beim Haus Roser (Abb. 170). Die Funktionalität dieser Anordnung wird deutlich, wenn man sich gerade bei Haus Roser vergegenwärtigt, wie die Räume je nach ihrer Nutzung im normalen Tagesablauf dem Sonnenstand folgen: Schlafzimmer, Ankleide, Bad, Küche und Kinderspielzimmer haben Morgensonne; Kinder-, Ess- und Damenzimmer erhalten Mittagssonne, und das nach der Heimkehr des Hausherrn von der Arbeit genützte Wohnzimmer liegt zur Abendsonne. Das lärmige Kinderzimmer und das Wohnzimmer sind möglichst weit voneinander entfernt, wobei die Kinder von der Küche aus direkt beaufsichtigt werden können. Zur Wegführung der Außenanlagen schreibt Schmitthenner: "Der Bäckerbursche zweigt aus Instinkt und natürlicher Faulheit schon vorher links ab und geht zum Nebeneingang der Ostseite, während der Mann mit der schweren Weinkiste sicher die vier Stufen hinuntergeht, die ihn
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- Seite 29 und 30: 96 sowie zurückhaltend dekorativ p
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<strong>Die</strong>se bewusste Störung der Ordnung könnte sogar als noch vollkommen<br />
unbeabsichtigter Vorlauf zur Theorie <strong>des</strong> Dekonstruktivismus der 90er Jahre diskutiert<br />
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Untersucht man, ob Schmitthenners hochgradiger Ästhetizismus der Außengestalt<br />
zu Lasten der Innenräume geht, so kann man feststellen, dass gerade die Vielfalt<br />
der Ordnungssysteme immer eine Variante bereithält, die sich auf die einzelne Erfordernis<br />
<strong>des</strong> Inneren anwenden lässt. <strong>Die</strong>se Flexibilität erklärt auch, weshalb nie<br />
alle vier Fassaden eines Hauses einem bestimmten Ordnungssystem folgen. Wieterhin<br />
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Fenster entgegen. Überhaupt gibt es bei Schmitthenners Räumen nicht eine einzig<br />
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Wo Schmitthenner in Konflikt zwischen Fassade und vernünftiger Befensterung <strong>des</strong><br />
Innenraums kommen könnte, bedient er sich <strong>des</strong> Tricks, an einer Raumseite eine<br />
Schrankwand einzubauen. Damit gleicht er die ansonsten vielleicht als zu<br />
unregelmäßig empfundene Raumgliederung aus, wie im Esszimmer <strong>des</strong> Hauses<br />
Köster (Abb. 204).<br />
Insbesondere Schmitthenners Grundrisse zu den Modell-Typen zeigen, wie die<br />
Struktur der tragenden Wände auf dem traditionellen Schema von einer Längs- und<br />
zwei Querwänden aufbaut. Bei den ausgeführten Bauten ist die individuelle Anpassung<br />
durch Fortlassung oder Verschiebung einzelner Wände dann soweit geführt,<br />
dass als feste Konstante nur noch eine Längsteilung erkennbar bleibt, oder die<br />
Räume U-förmig um eine zentrale Eingangshalle herum liegen, wie beim Haus Roser<br />
(Abb. 170). <strong>Die</strong> Funktionalität dieser Anordnung wird deutlich, wenn man sich<br />
gerade bei Haus Roser vergegenwärtigt, wie die Räume je nach ihrer Nutzung im<br />
normalen Tagesablauf dem Sonnenstand folgen: Schlafzimmer, Ankleide, Bad,<br />
Küche und Kinderspielzimmer haben Morgensonne; Kinder-, Ess- und Damenzimmer<br />
erhalten Mittagssonne, und das nach der Heimkehr <strong>des</strong> Hausherrn von der Arbeit<br />
genützte Wohnzimmer liegt zur Abendsonne. <strong>Das</strong> lärmige Kinderzimmer und<br />
das Wohnzimmer sind möglichst weit voneinander entfernt, wobei die Kinder von der<br />
Küche aus direkt beaufsichtigt werden können. Zur Wegführung der Außenanlagen<br />
schreibt Schmitthenner: "Der Bäckerbursche zweigt aus Instinkt und natürlicher<br />
Faulheit schon vorher links ab und geht zum Nebeneingang der Ostseite, während<br />
der Mann mit der schweren Weinkiste sicher die vier Stufen hinuntergeht, die ihn