68 III. Das bürgerliche Wohnhaus des 20. Jahrhunderts Die ...

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121 stabilisierende Wirkung wie bei Eckpilastern entsteht. Auch der Achsrhythmus ist enger und sogar asymmetrisch ausgeführt. Die unterbrochene Linienführung suggeriert bewegte ungleichmäßige Oberflächen, die einen gewachsenen, gealterten oder traditionell handwerklich lebhaft bearbeiteten Ausdruck ohne maschinelle Perfektion anstreben. Diese Lebendigkeit wird aber in der seriellen Erstellung der Großsiedlung nicht erreicht. Wenn man Schmitthenners Position als eine Synthese der Einflüsse von Riemerschmid, der Erfahrungen von Hellerau, der Bestrebungen von Muthesius zur industriellen Bauteiltypisierung im Werkbund und Ostendorfs formaler Typisierung auf der Suche nach der einfachsten Bauform erklären kann, so kommt noch eine Reaktion auf Schultze-Naumburgs ortsgebundene Suche nach lokalen Bautraditionen und ortsspezifischen Bautypen im Sinne des Heimatschutzes hinzu: Schmitthenners Übernahme von Giebeln mit konkav ausschwingenden Seitenwangen und geradem oberem Abschluss – sogenannte holländische oder Glockengiebel – in manchen Straßenzügen und am Marktplatz von Staaken wurde unverkennbar auf das holländische Viertel im nahegelegenen Potsdam bezogen. Dass zwischen den augenfälligen Giebelreihen des Holländischen Viertels aber auch in rhythmischen Abständen und an den Ecksituationen traufständige Walmdachhäuser für die Handwerksmeister dieser Gastarbeiterkolonie stehen, blieb unberücksichtigt. 142 Ob man diese zwischen 1732 und 1742 von Jan Bouman errichteten fünfachsigen Walmdachtypen in ihrer Zeit als holländisch-palladianische Bautradition (man denke an das Mauritshuis in Den Haag) oder als moderne Bauform der europäischen Barockkultur sah, ob Schmitthenner in ihnen eine preußische Eigenart erblickte oder Bauformen seiner elsässischen Heimat oder süddeutschen Ausbildungszeit wiedererkannte, bleibt vorerst dahingestellt. In seinen zeitgleichen Siedlungen bei Brandenburg und Kassel sowie den darauffolgenden in Sindelfingen und Moers verwendete er den Walmdachtyp auf jeden Fall nicht. Bei der Siedlung Ooswinkel in Baden Baden von 1919 findet sich hingegen eine den Potsdamer Walmdachbauten noch ähnlichere Hausform mit steilerer Dachneigung, 1:1-Dachhöhe und hochrechteckigen Fenstern. 143 142 Paul Schmitthenner: Arbeiter-Zweifamilienhaus, Siedlung Ooswinkel, Baden-Baden

122 5. Die dritte Welle 5.1. Das Ziel der neuen Mitte und die Aufspaltung in Traditionalismus und Funktionalismus Paul Bonatz erinnert sich in seinen Memoiren: "Leben und Welt, wie sie bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges im August 1914 waren, kann man einer späteren Generation nicht mehr deutlich machen. Jede Entwicklung ging steil aufwärts. Der, der arbeiten wollte, brauchte nur zuzugreifen, es gab für uns Wettbewerbe in Fülle und die ganze Welt stand offen. Mit neunundzwanzig Jahren baute ich mir mein erstes Haus; mit vierunddreißig ein sehr üppiges, mit vierundzwanzig Metern Länge – ein Diener, zwei Mädchen, Gärtner, das Haus voller Gäste. Was schadete es, daß auf dem Haus eine dicke Hypothek von siebzigtausend Goldmark lag? Diese würde, alles das konnte man genau vorher berechnen, in fünf Jahren abbezahlt sein. Ein Zweifel an der Beständigkeit des Geldes und der Weiterentwicklung zum Reichtum gab es nicht. [...] Bis zum Krieg war ja alles steil bergauf gegangen, wir sahen unendliche Möglichkeiten vor uns, einige Jahre so weiter und wir hätten an den Himmel gestoßen [...]". 144 Welch einschneidender Bruch in politischer, soziologischer und wirtschaftlicher Hinsicht der Erste Weltkrieg für Deutschland und Europa mit sich brachte, muss nicht näher ausgeführt werden. Auch die immanenten Initialzündungen für die folgende Entwicklung in Wissenschaft, Technologie und Kunst sind allgemein bekannt. Anhand der Erinnerungen von Bonatz kann jedoch deutlich vergegenwärtigt werden, dass bei aller Anteilnahme der reformbewegten Protagonisten an der kulturellen Erneuerung, der Einheitsstiftung der Künste und der Behebung sozialer Missstände die Kluft zwischen den Schichten sehr groß war. Die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse wurden in den verwirklichten Projekten angehoben, doch diejenigen des Großbürgertums bewegten sich angesichts der großartigen konjunkturellen Möglichkeiten nur in formaler äußerlicher Hinsicht langsam auf eine neue Mitte hin. In der Architekturdiskussion wurde die schlossartige Villa diskreditiert, doch die reformistischen Landhäuser der Oberschicht zeugten immer noch von einem ausgeprägten, die sozialen Hierarchien bestätigenden Herrschaftsgestus. Erst der Sturz der deutschen Monarchien löschte das aristokratische Vorbild aus und die gesellschaftlichen Umwälzungen erzwangen eine relative Annäherung der Lebensformen auch infolge der Inflation der 20er Jahre und des wenigen verfügbaren Baumaterials. Zugleich bewegte sich die Arbeiterklasse aber auch durch erneute Verarmung wieder von dieser Mitte weg, was die Gesamtbilanz dieser

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5. <strong>Die</strong> dritte Welle<br />

5.1. <strong>Das</strong> Ziel der neuen Mitte und die Aufspaltung in Traditionalismus und<br />

Funktionalismus<br />

Paul Bonatz erinnert sich in seinen Memoiren:<br />

"Leben und Welt, wie sie bis zum Ausbruch <strong>des</strong> ersten Weltkrieges im August 1914<br />

waren, kann man einer späteren Generation nicht mehr deutlich machen. Jede Entwicklung<br />

ging steil aufwärts. Der, der arbeiten wollte, brauchte nur zuzugreifen, es gab für<br />

uns Wettbewerbe in Fülle und die ganze Welt stand offen. Mit neunundzwanzig Jahren<br />

baute ich mir mein erstes Haus; mit vierunddreißig ein sehr üppiges, mit vierundzwanzig<br />

Metern Länge – ein <strong>Die</strong>ner, zwei Mädchen, Gärtner, das Haus voller Gäste. Was schadete<br />

es, daß auf dem Haus eine dicke Hypothek von siebzigtausend Goldmark lag? <strong>Die</strong>se<br />

würde, alles das konnte man genau vorher berechnen, in fünf Jahren abbezahlt sein. Ein<br />

Zweifel an der Beständigkeit <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> und der Weiterentwicklung zum Reichtum gab es<br />

nicht. [...] Bis zum Krieg war ja alles steil bergauf gegangen, wir sahen unendliche<br />

Möglichkeiten vor uns, einige Jahre so weiter und wir hätten an den Himmel gestoßen<br />

[...]". 144<br />

Welch einschneidender Bruch in politischer, soziologischer und wirtschaftlicher<br />

Hinsicht der Erste Weltkrieg für Deutschland und Europa mit sich brachte, muss<br />

nicht näher ausgeführt werden. Auch die immanenten Initialzündungen für die<br />

folgende Entwicklung in Wissenschaft, Technologie und Kunst sind allgemein<br />

bekannt. Anhand der Erinnerungen von Bonatz kann jedoch deutlich vergegenwärtigt<br />

werden, dass bei aller Anteilnahme der reformbewegten Protagonisten an<br />

der kulturellen Erneuerung, der Einheitsstiftung der Künste und der Behebung<br />

sozialer Missstände die Kluft zwischen den Schichten sehr groß war. <strong>Die</strong> Lebensbedingungen<br />

der Arbeiterklasse wurden in den verwirklichten Projekten angehoben,<br />

doch diejenigen <strong>des</strong> Großbürgertums bewegten sich angesichts der großartigen<br />

konjunkturellen Möglichkeiten nur in formaler äußerlicher Hinsicht langsam auf eine<br />

neue Mitte hin. In der Architekturdiskussion wurde die schlossartige Villa diskreditiert,<br />

doch die reformistischen Landhäuser der Oberschicht zeugten immer noch von<br />

einem ausgeprägten, die sozialen Hierarchien bestätigenden Herrschaftsgestus.<br />

Erst der Sturz der deutschen Monarchien löschte das aristokratische Vorbild aus und<br />

die gesellschaftlichen Umwälzungen erzwangen eine relative Annäherung der<br />

Lebensformen auch infolge der Inflation der 20er Jahre und <strong>des</strong> wenigen verfügbaren<br />

Baumaterials. Zugleich bewegte sich die Arbeiterklasse aber auch durch<br />

erneute Verarmung wieder von dieser Mitte weg, was die Gesamtbilanz dieser

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