28.02.2014 Aufrufe

68 III. Das bürgerliche Wohnhaus des 20. Jahrhunderts Die ...

68 III. Das bürgerliche Wohnhaus des 20. Jahrhunderts Die ...

68 III. Das bürgerliche Wohnhaus des 20. Jahrhunderts Die ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>68</strong><br />

<strong>III</strong>. <strong>Das</strong> <strong>bürgerliche</strong> <strong>Wohnhaus</strong> <strong>des</strong> <strong>20.</strong> <strong>Jahrhunderts</strong><br />

<strong>Die</strong> Reformarchitektur der traditionalistischen Moderne: der Bautyp im <strong>Die</strong>nst der<br />

gesellschaftlichen Homogenisierung<br />

1. Der Ausgangspunkt<br />

1.1. Überdruss am Überfluss<br />

Historische Abläufe halten sich bekanntlich nicht an die Zeitrechnung nach Jahrhunderten.<br />

Doch die Zäsur eines Jahrhundertwechsels scheint durch die Erwartungen<br />

der Menschen an ein neues Jahrhundert oftmals ihre Wahrnehmung zu schärfen,<br />

Aktivitäten zu befördern und dadurch gesellschaftliche Entwicklungen anzustoßen.<br />

Gerade um 1900 war die Möglichkeit zur kollektiven Wahrnehmung der Gegenwart<br />

durch die Fortschritte in Medien, Mobilität und Kommunikation auf einem Niveau<br />

angelangt, das auch die Nachteile der gesellschaftlichen Veränderungen infolge der<br />

Industrialisierung deutlich erkennen ließ. <strong>Die</strong> Lebensbedingungen, die mit der Technisierung,<br />

der Proletarisierung und der Verstädterung einhergingen, entwickelten<br />

sich nicht nur für die unmittelbar Betroffenen zu einem Problem der "sozialen Frage".<br />

So wuchs das Bedürfnis, den als schädlich und hässlich empfundenen Entwicklungen<br />

entgegen zu wirken. Versucht man die Motivation derjenigen Zeitgenossen<br />

zu ergründen, die ohne eigene existentielle Not skeptisch die Veränderung ihrer<br />

Umwelt verfolgten – ehemals intakte Landschafts- und Ortsbilder wurden durch unharmonisch<br />

empfundene Neubauten, moderne Verkehrswege, technische Installationen<br />

wie Stromleitungen, Werbung und kitschige Industrieprodukte beeinträchtigt<br />

–, so kann weniger von einer generellen konservativen Fortschrittsfeindlichkeit<br />

gesprochen werden 87 , als vielmehr von einem intensiv erfahrenen Überdruss am<br />

optischen Überfluss.<br />

So bildeten sich in Deutschland zwischen 1890 und 1910 zahlreiche Reformbewegungen.<br />

<strong>Die</strong> in Bezug zu Bau- und Architekturfragen stehenden Vereinigungen sind<br />

der Bund deutscher Bodenreformer (gegründet 1898), die Deutsche Gartenstadtbewegung<br />

(1902), der Deutsche Heimatschutzbund (1904) und der Deutsche Werkbund<br />

(1907). Eine wichtige Rolle kam den ab 1902 von dem Architekten und Maler<br />

Paul Schultze-Naumburg herausgegebenen "Kulturarbeiten" 88 zu. Auf bis heute<br />

anschauliche Weise stellte er Photographien von Negativ- und Positivbeispielen<br />

gegenüber, die die überladene historistische Stilarchitektur sowie schlechte Alltagsgebäude<br />

anprangern. Althergebrachte Bauten früherer Jahrhunderte werden dagegen<br />

als vorbildliche, einem natürlichen volkseigenen Stilempfinden entwachsene und


69<br />

sich harmonisch in ihr Umfeld einfügende Baukultur vermittelt.<br />

Konkreter präsentiert der Architekturband <strong>des</strong> zweiteiligen, 1908 erschienenen<br />

Werks "Um 1800" von Paul Mebes die Baukultur <strong>des</strong> deutschen Empire-Klassizismus<br />

in teils zeittypisch dekorierten, teils stark vereinfachten schmucklosen Ausformungen<br />

<strong>des</strong> Biedermeiers. 89 So erscheint hier zum ersten Mal in einem Architekturbuch<br />

ein Photo von Goethes Gartenhaus in Weimar, einer zeitlich falschen<br />

Datierung folgend, wie wir wissen. Ohne ausdrückliche Aufforderung, diese Bauten<br />

zum Vorbild für die Gegenwartsarchitektur zu nehmen, denn im Grunde handelt es<br />

sich um eine kunsthistorisch motivierte Beispielsammlung, wurde das Buch doch als<br />

Hinweis auf stilunabhängige, zeitlose Elemente der Baugestaltung verstanden, die<br />

zuletzt um 1800 in einer deutschen Bauepoche wiederaufgefunden werden konnten.<br />

Bemerkenswert ist die Beschränkung der Beispiele auf Bauten in Deutschland und<br />

die betont ungenaue Datierung auf den Zeitraum der vorhergehenden Jahrhundertwende.<br />

<strong>Die</strong>ser erscheint als vermeintlicher Zeitraum der ästhetischen Unschuld vor<br />

dem Eintritt in die wechselnden Neo-Stile <strong>des</strong> Historismus, welcher so lange von der<br />

Romanik bis zum Rokoko auf alle Stile zurückgriff, bis man jeweils erkannte, dass es<br />

sich dabei doch um keine genuin deutsche Erfindung gehandelt hatte. Wahrscheinlich<br />

sollte mit diesem Titel ein weiterer "Ismus" vermieden werden, etwa eine Initiierung<br />

von Neoklassizismus oder Neobiedermeier. Doch der Zeitbegriff für die<br />

Architektur "um 1800" wurde möglicherweise auch <strong>des</strong>halb so erfolgreich lanciert,<br />

weil er historisch negativ besetzte bzw. streitbare Epochen ausklammerte: Eine<br />

vermeintliche Zeit der politischen Unschuld, also nach 1789 und vor 1815, ein<br />

bürgerlich-bescheidener Zeitabschnitt ohne Bezugnahme zu Absolutismus, Revolution<br />

und Restauration, eine Zeit deutscher Geistesblüte und Aufklärung bei gleichzeitiger<br />

Besinnung auf die Bescheidenheit, welche sich als Folge materieller und<br />

ökonomischer Engpässe durch die verausgabenden napoleonischen Kriege erklärt.<br />

Eine Dominanz französischer kultureller Einflüsse wurde durch Vermeidung <strong>des</strong><br />

Begriffs "Empire" ausgeblendet, um die Anknüpfung zu erleichtern. <strong>Die</strong>se Epoche<br />

stellte aber auch wirklich die einzig übriggebliebene, von den Neo-Stilen noch<br />

unausgeschlachtete Möglichkeit zu einer Anknüpfung an nationale Wurzeln dar.<br />

Nachdem sich der Jugendstil zur Überwindung <strong>des</strong> Historismus der gleichen industrialisierten<br />

Baumethoden bedient hatte, diese sogar im Stahlbau triumphal steigerte<br />

und nur mit vegetabilen Formen oder geometrischen Mustern dekorierte, lag die<br />

Rückbesinnung auf Epochen und Bauaufgaben nahe, die traditionelle Baumaterialien<br />

auf ihren Herstellungs- und Verarbeitungsprozessen entsprechenden Art und


70<br />

Weise verwendet und damit einen unakademischen Formenkanon hervorgebracht<br />

hatten.<br />

Ihren Anfang nahm diese Entwicklung in England mit der auf künstlerisches Handwerk<br />

setzenden Arts-and-Crafts-Bewegung und der Gartenstadtbewegung. Ebenezer<br />

Howards programmatische Schrift "To-morrow: a Peaceful Path to Real Reform"<br />

von 1898 wurde unter dem Titel ihrer zweiten Auflage "Garden Cities of To-morrow"<br />

von 1902 berühmt und 1907 auch auf deutsch publiziert. 90 <strong>Die</strong> Fortschrittlichkeit der<br />

englischen Bauweise fand allgemeine Anerkennung. Über die Publikationen von<br />

Hermann Muthesius entwickelte sich die angelsächsische Landhaustradition vorübergehend<br />

zur regelrechten Baumode in Deutschland. Doch sie war nicht auf alle<br />

Bedürfnisse übertragbar. Folgerichtig wurde daraufhin die eigene Tradition auf die<br />

Herleitung einer Bauform <strong>des</strong> "deutschen <strong>Wohnhaus</strong>es" abgesucht und verschiedene<br />

zeitgemäße Weiterentwicklungen vorgeschlagen. 91 Verwunderlich ist allerdings<br />

das Ausbleiben paralleler Alternativuntersuchungen über andere verwertbare<br />

europäische Bautraditionen. Vergleichbar publikumswirksame Darstellungen über<br />

das französische, holländische oder skandinavische Haus wurden nie verfasst,<br />

weder in Deutschland noch in den entsprechenden Ländern. Möglicherweise ließ<br />

man sich durch die Abwandlungen der Villenarchitektur <strong>des</strong> 19. <strong>Jahrhunderts</strong><br />

abschrecken, die von Italien eben die Villa, von Frankreich nur das Adelspalais oder<br />

von der Schweiz das Chalet erwarten ließen, zumal von diesen Ländern selbst keine<br />

eigenständigen Anstöße zu einer Reformarchitektur ausgingen.<br />

1.2. Historismus<br />

Ein kurzer Abriss der <strong>Wohnhaus</strong>entwicklung im deutschen Historismus kann die<br />

Grundlagen vergegenwärtigen, die die Avantgarden von 1900 einhellig ablehnten.<br />

Erste neogotische Elemente kamen bereits in der spätbarocken und zugleich frühklassizistischen<br />

zweiten Hälfte <strong>des</strong> 18. <strong>Jahrhunderts</strong> auf. 92 Zusammen mit antikisierenden<br />

Architekturstaffagen wurden den Exotismus bedienende ägyptische,<br />

maurische oder chinesische Pavillons in Parkanlagen errichtet. Sie entspringen einer<br />

dekorativen Motivation und weisen in ihrer parallelen Verwendung verschiedener<br />

Stile doch bereits historisierende Tendenzen auf. Während die Architektur <strong>des</strong><br />

Klassizismus durch die regelhafte Anwendung antiker Bauformen charakterisiert ist,<br />

findet sich in der Alltagsarchitektur auch eine Vereinfachung auf blockhafte stereometrische<br />

Baukörper mit weitgehender Schmucklosigkeit. Solche Bauten errichteten


71<br />

– auch mit zeittypisch sehr flachen Walmdächern – die Hofbaumeister Carl von<br />

Fischer in Bayern, Nikolaus von Thouret in Württemberg, Friedrich Weinbrenner in<br />

Baden, Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorf in Sachsen-Anhalt, David Gilly in<br />

Preußen oder der Landbaumeister Christian Frederik Hansen in Hamburg, um nur<br />

die bekanntesten zu nennen. Eine Sonderrolle nimmt Karl Friedrich Schinkel ein:<br />

Einzelne seiner Berliner Bauten sind auf eine radikale Reduktion der Gesamtform<br />

und Wandgliederung zurückgeführt, wie der königliche Pavillon neben Schloss<br />

Charlottenburg, die Kaserne der Lehrescadron oder das Haus Feilner.<br />

Während dann bereits Schinkel ohne Skrupel zwischen Klassizismus, Neogotik und<br />

romanisierendem Stil hin- und herwechselte, kann Heinrich Hübschs programmatische<br />

Schrift "In welchem Style sollen wir bauen?" von 1827 mit der Infragestellung<br />

der Eignung <strong>des</strong> Klassizismus für alle Bauaufgaben und der Bevorzugung<br />

<strong>des</strong> romanisierenden Rundbogenstils schließlich als offizieller Wendepunkt angesehen<br />

werden. Hübsch stellt damit die architektonische Kardinalfrage <strong>des</strong> 19. <strong>Jahrhunderts</strong>,<br />

wenn nicht sogar diejenige der Zeit zwischen 1830 und 1950. Denn man<br />

kann auch ein Paradigma der Architektur der Moderne in der inständigen Suche<br />

eines allgemeinverbindlichen baulichen Kulturausdrucks erkennen, die teils nationale<br />

teils internationale Geltung anstrebt. 93<br />

Der Beginn <strong>des</strong> Historismus wird auf 1830/40 datiert. Mit dem Eklektizismus der<br />

Gründerzeit ab 1870 fand er seinen Höhepunkt und ebbte bis 1910/1918 ab. Ein<br />

Charakteristikum dieser Bauphase ist die stark plastische bis überladene Formendekoration<br />

bei Vorliebe für malerische Aufgliederung der Baukörper und Dachaufbauten.<br />

Reichhaltige verwinkelte Anbauten, Erker, Türmchen und Giebel prägen<br />

auch die romantisierenden Adaptationen mittelalterlicher Fachwerkbauten. In diesen<br />

Ausprägungen beherrschte der rasante Städtewachstum die öffentliche Wahrnehmung<br />

<strong>des</strong> Alltags in noch nie gekanntem Ausmaß. So wird verständlich, dass nicht<br />

ein einzelner innovativer Künstler eine Veränderung initiierte, sondern sich in weiten<br />

Kreisen <strong>des</strong> Bürgertums eine optische Ermüdung von der kleinteiligen Formenfülle<br />

und der Wunsch nach einer umfassenden Erneuerung der mit dem Historismus<br />

einhergehenden Begleitumstände bemerkbar machte. Viele andere Kritikpunkte an<br />

Städtebau und Architektur <strong>des</strong> Historismus ließen sich referieren, doch wir betonen<br />

diesen abstrahierten wahrnehmungspsychologischen Aspekt, denn auch abgesehen<br />

von sozialen Bestrebungen nach billigeren Wohnungen, funktionaleren Grundrissen<br />

und höherem technischem Standard gingen die Präferenzen aller sozialen Schichten,<br />

also auch der bis dato im historistischen Stil komfortabel lebenden wohlhabenden<br />

Eliten, nun wieder langsam hin zur relativen Vereinfachung der Formen, Klarheit


72<br />

der Gliederungssysteme und Schmucklosigkeit der Wandflächen.<br />

Erste Gegenbewegungen entwickelten sich im Jugendstil mit klaren Baukörpern und<br />

dafür reichlicher Wanddekoration sowie in der Arts & Crafts-Architektur mit kunstvoll<br />

aufgegliederten Baugruppen und dafür materialbetont nüchterner Wandgestaltung.<br />

Erst langsam bewegten sich klare Baukörper und schlichte Wände wieder aufeinander<br />

zu. <strong>Das</strong> Streben zu einer immer stärkeren Reduktion und die Suche nach einem<br />

Urtyp, sei es im traditionellen Einfachsthaus oder im Grundmodul <strong>des</strong> weißen Würfels,<br />

kann als eine der formalen Entwicklungslinien der Moderne herausgefiltert<br />

werden, während eine andere Tendenz in der Differenzierung und Dynamisierung<br />

<strong>des</strong> Grundrisses zu fließenden, offenen und flexiblen Raumstrukturen liegt, die der<br />

Klarheit der Umrisslinie genau entgegenläuft. Ebenso führt die moderne Maxime von<br />

innen nach außen zu planen zu einer Individualisierung, die im Gegensatz zum<br />

Bestreben nach Vereinfachung steht, denn die Vereinfachung tendiert immer zur<br />

Vereinheitlichung. So präsent der Walmdachhaustyp zur Goethezeit noch an den<br />

Stadt-rändern war – der Bauboom der Industrialisierung und der Gründerzeit haben<br />

diese urbanen Vorfelder vollkommen überrannt. Unser Typ spielte im Historismus<br />

keine Rolle mehr. Seine Tradition riss in Deutschland ab.<br />

Eine verhaltene Ausnahme findet sich in Frankreich. <strong>Die</strong> Grundlage für die Adaptation<br />

historischer Stile, speziell in der jeweils nationalen Ausprägung, lieferte die<br />

kunsthistorische Erforschung der eigenen Baudenkmale. Für die zur Verbreitung der<br />

Stilmerkmale einflussreiche Publikation "Palais, châteaux, hôtels et maisons de<br />

France" 94 dokumentierte Claude Sauvageot das 1615 erbaute kleine Schloss La-<br />

Ferté-sous-Jouarre kurz vor seinem Abriss 1861 als ideales Beispiel für den Stil<br />

Louis X<strong>III</strong>. In seiner auf den idealen Grundkanon von zwei Stockwerken bei drei<br />

59-60 Schloss La-Ferté-sous-Jouarre


73<br />

Fensterachsen beschränkten Typkonformität ist uns kein weiteres vergleichbar prägnantes<br />

Beispiel seiner Baugattung bekannt. <strong>Die</strong>ses und weitere Beispiele aus der<br />

vierbändigen Stichsammlung wurden jedoch offenbar nie exakt kopiert. Insbesondere<br />

die Simplizität von Aufriss und Grundriss konnten den an reichem Formenschatz<br />

interessierten, jedoch nicht zur räumlichen Beschränkung veranlassten Bauherren<br />

nicht als direktes Vorbild dienen. Seine Verarbeitung schlägt sich aber in<br />

französischen Architektur-Musterbüchern für bescheidene Kommunalbauten der<br />

Provinz nieder, etwa für Schulen und Rathäuser. 95 In Dörfern und Kleinstädten<br />

Frankreichs findet sich diese anonyme standardisierte Bauform vielfach für öffentliche,<br />

aber im historistischen Verständnis unrepräsentative Gebäude. <strong>Die</strong> Hafenmeisterei<br />

von La Rochelle dient uns zugleich als Beispiel für die Verwendung <strong>des</strong><br />

Bautyps im maritimen Kontext. 96 Ein Einfluss auf die Architektur in Deutschland fand<br />

in keiner Weise statt. Denn während für die Kunstszene kein Weg an der französischen<br />

Avantgarde in Malerei und Bildhauerei vorbeiführte, kam der welsche Erbfeind<br />

für den im Vergleich viel populistischer orientierten Bausektor offenbar nicht als<br />

kulturelles Vorbild in Betracht. 97<br />

61 Hafenmeisterei, La Rochelle<br />

1.3. Arts & Crafts<br />

Anders verhielt es sich mit Großbritannien, <strong>des</strong>sen etablierte Lebenskultur nicht zuletzt<br />

durch die viktorianische Verwandtschaft der Hohenzollern, der Welfen oder <strong>des</strong><br />

Großherzogs von Hessen wohlwollende Beachtung erfuhr. Dort bildete sich ab 1888<br />

die Arts & Crafts-Bewegung als Gegenreaktion auf den historistischen "Victorian<br />

Style". Sie konnte an die Bauarten in "Old English" und "Neo Queen Anne" anknüpfen,<br />

welche ein Konglomerat mittelalterlicher Fachwerktechnik für Landhäuser einerseits<br />

und der Backsteinbauweise <strong>des</strong> 17. <strong>Jahrhunderts</strong> für kleinere Baugattungen


74<br />

andererseits darstellten. 98 So rückte die von dem Künstler William Morris initiierte<br />

Richtung mit der traditionellen handwerklichen Ausführung von Bau, Inneneinrichtung<br />

und Gebrauchsgegenständen das Kunsthandwerk in den Vordergrund. Malerische<br />

Baugruppenaufgliederung und Dachverschränkungen wurden in formberuhigten<br />

Details ohne Stilnachahmung ausgeführt.<br />

Morris' eigenes Haus – das 1859 von Philip Webb erbaute "Red House" in Bexley<br />

Heath – veranschaulichte als einer der ersten Versuche zur Erneuerung <strong>des</strong> <strong>Wohnhaus</strong>baus<br />

<strong>des</strong>sen noch an eine abstrahierte Neogotik angelehnten Ideen. Sie<br />

wurden von Architekten wie Mackay Hugh Baillie Scott weitergeführt und fanden in<br />

den Landhäusern von Charles Francis Annesley Voysey einen Höhepunkt der Synthese<br />

von malerisch aufgegliedertem Grundriss und geradliniger Vereinfachung <strong>des</strong><br />

länglichen Hauptbaukörpers unter einem vereinheitlichenden Dach – oft einem<br />

Walmdach. 99<br />

62-63 CFA Voysey: Vodin (Surrey)<br />

63 Erdgeschoss<br />

Parallel dazu tauchten in den Werken verschiedener Architekten der doch sehr<br />

unterschiedlich motivierten Richtungen Häuser auf, die sich dem kompakten<br />

Walmdachtyp zurechnen lassen. Sie stellten jedoch unerklärliche Ausnahmeerscheinungen<br />

für den charakteristischen Baustil <strong>des</strong> jeweiligen Architekten dar,<br />

passen nicht in das Schema der Überblicksdarstellungen zur Architektur <strong>des</strong> 19.


75<br />

<strong>Jahrhunderts</strong> und werden folglich dort kaum erwähnt. Norman Shaws Stadthaus<br />

White in London (1887) zählt ebenso dazu, wie Philip Webbs Smeaton Manor in<br />

Yorkshire (1878). <strong>Die</strong> so gar nicht zur organisch gruppierten Gesamtanlage passenden<br />

Hauptfassade von Smeaton Manor mit ihren unschematisch kombinierten drei<br />

Doppelfenstern und fünf Einzelfenstern formt eine eigenwillige bildhafte Komposition<br />

im Zusammenspiel mit drei Doppelfenstergauben und drei mächtigen Kaminen.<br />

64 Philip Webb: Smeaton Manor<br />

(Yorkshire)<br />

1.4. Frank Lloyd Wright: Haus Winslow<br />

Eine ähnliche Situation ergibt sich für die zunächst stark durch viktorianische Architektur<br />

und Arts & Crafts-Bewegung beeinflusste <strong>Wohnhaus</strong>architektur in den USA.<br />

<strong>Die</strong> als zentral eingeschätzte Bedeutung Frank Lloyd Wrights für die Entwicklung der<br />

Moderne mag für die strukturelle Öffnung <strong>des</strong> Grundrisses durch ineinander übergehende<br />

Raumzonen gelten. <strong>Die</strong> äußerliche Gestalt seiner raumgreifenden "Präriehäuser"<br />

mit ihrer komplex verschränkten Baugruppenanordnung konnte in Europa<br />

jedoch keine direkte Nachfolge finden.<br />

Als Phänomen und für Wrights Werk singuläre Ausnahme erscheint mit seinem<br />

ersten eigenständig ausgeführten Bau ein Walmdachhaustyp: das Haus Winslow in<br />

River Forest/Illinois von 1899. <strong>Die</strong> Straßenfassade <strong>des</strong> dreiachsigen, ungewöhnlich<br />

breit angelegten geschlossen-monumentalen Baukörpers maskiert die rückwärtige,<br />

für Wrights folgen<strong>des</strong> Werk typische winkelförmige Aufgliederung mit Erkerausbildung,<br />

Fensterbändern und zurückgetrepptem Obergeschoss. Eigentümlich wirken<br />

die breitgelagerten Schiebefenster mit ihrer einfachen horizontalen Teilung. Während<br />

sie im Erdgeschoss herkömmlich als "Löcher in der Wand" angeordnet sind,


76<br />

65-66 Frank Loyd Wright: Haus Winslow, River Forest (Illinois)<br />

können sie im Obergeschoss als Vorstufe zu einer Öffnung der Wandfläche interpretiert<br />

werden, weil sie zwischen das hoch angesetzte Stockwerksgesims und das<br />

Dachgesims eingespannt sind und die dunkelbraune Terrakottaverkleidung diese<br />

Wandzone vollkommen vom unteren orangefarbenen Mauerverband isoliert. Sehr<br />

bildhaft zweidimensional erscheint die später niemals von Wright selbst wiederholte<br />

brillenhafte Rahmung <strong>des</strong> Eingangs im Kontrast zum risalitartigen zweistufigen Vorspringen<br />

dieses Wandfel<strong>des</strong> – eine frühzeitige Andeutung unabhängiger Wandscheiben.<br />

<strong>Die</strong> klare Geschlossenheit der Dachfläche nimmt vor 1900 eindrücklich die weitere<br />

Entwicklung <strong>des</strong> Bautyps vorweg. Durch den weiten Überstand, der das Dach über<br />

dem stark verschatteten Obergeschoss scheinbar schweben lässt, welches wiederum<br />

durch Proportion und Ornamentierung vom Erdgeschoss abgesetzt ist sowie<br />

durch die plakative Horizontalbetonung mittels farblich abgesetztem Wand-, Dachund<br />

Kamingesims, stellt das Haus Winslow eine nicht nur für ihren frühen Zeitpunkt<br />

einzigartige Interpretation <strong>des</strong> Typs dar. Sie kommt einer Präfiguration gleich, die<br />

keine unmittelbare Nachfolge findet und wegen ihrer spezifischen Ausformung auch<br />

nicht als konkretes Vorbild für die spätere Typausbildung gelten kann. Denn in Europa<br />

wird man sich an viel näher liegenden Beispielen orientieren.<br />

Auch für den Grundriss fand Wright die funktionale Übereinstimmung <strong>des</strong> Bautyps<br />

mit der gleichmäßig dreizonigen Gliederung, die sich der vollkommen unterschiedlichen<br />

Gartenseite entsprechend nach hinten stufig auflockert. Ungewöhnlich trennt<br />

der mittige Kaminblock die vordere von der hinteren Haushälfte, so dass die eingefügte<br />

Treppe sowohl vom Haupt- als auch vom Nebeneingang nur über Umwege zu


77<br />

66 Erd- und Obergeschoss<br />

erreichen ist. Ebenso unkonventionell öffnet sich die Eingangshalle über Schiebetüren<br />

als Enfilade zu Bibliothek und Wohnraum mit Po<strong>des</strong>t und Sitznische. <strong>Die</strong><br />

Querteilung <strong>des</strong> Grundrisses ist darüber hinaus partiell doppelwandig ausgeführt<br />

und birgt die Treppe und eine fensterlose Toilette. Wrights nächster Bauherr N. G.<br />

Moore machte ihm für sein Haus in Oak Park unmissverständlich klar: "Ich möchte,<br />

dass Sie es sind, der mir diese Villa entwirft, aber ich will nicht, dass es dem Haus<br />

Winslow ähnelt. Ich möchte nicht, dass die Leute mich auslachen." 100<br />

1.5. <strong>Die</strong> Gartenstadtbewegung<br />

Ein fließender Übergang führt von den formalen architektonischen Bestrebungen<br />

zum sozialen Aspekt der Reformansätze in England, nämlich dem Anstoß zu einer<br />

Erneuerung der handwerklichen Erwerbszweige und der Initiierung von Arbeitersiedlungen<br />

mit der zentralen städtebaulichen Idee der Gartenstadt. 101 <strong>Die</strong> Reformer propagierten<br />

ein alternatives Wohn- und Lebenskonzept, um den Missständen der<br />

Industrialisierung zu begegnen. Ziel war, nicht nur die qualitätslosen Produkte zu<br />

verbessern, sondern den schlechten Arbeitsbedingungen, der Proletarisierung der<br />

Arbeiterschaft durch Bodenspekulation, Mietwucher und Überbelegung in zudem<br />

schlechten Unterkünften und allgemein der Verstädterung entgegenzuwirken.<br />

Zwangsläufig rückte damit eine Bauaufgabe der ökonomischen Beschränkung in das<br />

Interesse der ambitionierten Fachwelt, die bislang ihr künstlerisches Betätigungsfeld<br />

primär im luxuriösen Landhausbau <strong>des</strong> Adels und Großbürgertums sah.<br />

Konzentrierte Raumgruppen in geschlossenen Grundrissen und der Verzicht auf<br />

Bauschmuck und aufwendige Dachkonstruktionen bescherten den zaghaften Ansatz<br />

zu einer neuen kollektiven ästhetischen Wahrnehmung. Denn selbst unter diesen<br />

Vorgaben zeigt der Siedlungsbau für schwache und mittlere Einkommen in der


78<br />

Regel das malerisch-differenzierte Bild aufgelockerter Baumassen mit Erkern,<br />

Quergiebeln und Gauben der heutigen typischen englischen Vorstädte.<br />

67 Unwin & Parker: Linell Close, Hampstead (London)<br />

<strong>Das</strong> erste Projekt der von Ebenezer Howards Schriften initiierten und 1898 gegründeten<br />

Garden City Association war die Kleinstadt Letchworth in Buckinghamshire.<br />

Nachdem dieses auf einem Bebauungsplan von Unwin & Parker basierende Projekt<br />

aus organisatorischen und finanziellen Gründen uneinheitlich und schleppend ausgeführt<br />

wurde und als gescheitert galt, orientierten sich die Architekten für die "Gartenstadt"<br />

Hampstead – einen Vorort von London – an Camillo Sittes vielbeachtetem<br />

Buch "Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen" von 1889 102 und<br />

ließen sich gezielt durch Reisen nach Nürnberg und Rothenburg ob der Tauber auf<br />

ein romantisieren<strong>des</strong> Ideal einstimmen. In der Hampstead Garden Suburb findet sich<br />

jedoch ein Areal um den Linnell Close, das wahrscheinlich zum Zweck der Vielfalt<br />

und Abwechslung vom übrigen vorherrschenden Konzept abweicht und aus<br />

strengen typisierten Bauten besteht: Unser Walmdachtyp lässt sich in dieser 1908<br />

entworfenen fünfachsigen Variante kaum vorbildlicher ermitteln. <strong>Das</strong> 1909 in England<br />

und Deutschland publizierte Buch über Hampstead zeigt eine Abbildung der<br />

Häuser von Michael Bunney und Clifford Makins in einer auf drei Seiten einheitlichen<br />

Platzbebauung. 103<br />

Eine Erklärung für all diese Häuser, die wie gesagt im Werk von Shaw und Webb,<br />

aber auch bei Baillie Scott, Voysey, Unwin und Lutyens sowie im Gesamtbild von


79<br />

Hampstead eine absolute Ausnahmeerscheinung sind, bietet sich in einer 1905 erschienenen<br />

historischen Studie, gerade von Michael Bunney als Co-Autor. 104 In ihr<br />

wird eine bescheidene ländliche <strong>Wohnhaus</strong>architektur noch ungenau als Renaissance-Stil<br />

mit gotischen konstruktiven Grundlagen bezeichnet, die zum ersten Mal<br />

1647 durch Inigo Jones beim Anbau eines Seitenflügels an das Herrenhaus Cranborne<br />

Manor in Berkshire verwirklicht worden sei. Neben diesem dreiachsigen, mit<br />

auffällig großen Obergeschossfenstern individualisierten Grundtyp werden zahlreiche<br />

Beispiele mit drei bis sechs Fensterachsen, mit bescheidenem Bauschmuck an<br />

Gesimsen und Gewänden, oder vollkommen nüchternen Fassaden als eine in England<br />

verbreitete Bauweise vorgestellt. <strong>Die</strong> mit der Rolle Schinkels für Deutschland<br />

vergleichbare Geltung von Inigo Jones als Nationalarchitekt in Großbritannien erscheint<br />

geeignet, dem Bautyp eine unanfechtbare Weihe zu verleihen.<br />

<strong>68</strong> Inigo Jones: Cranborne Manor (Berkshire) 69 Inigo Jones: Idealentwurf<br />

Dabei enthält dieses Buch noch nicht einmal den Hinweis, daß Jones seine ab 1618<br />

im Auftrag <strong>des</strong> Count of Bedford errichtete palladianische Sankt-Pauls-Kirche in<br />

London – dem Vorgängerbau der heutigen Saint Paul´s Cathedral – mit zwei<br />

Häusern in eben dem dreiachsigen Typus flankiert hatte. 105 Und weiterhin existiert<br />

ein Aufriss für ein nicht ausgeführtes <strong>Wohnhaus</strong> von 1638 in der ebenso schlichten<br />

fünfachsigen Variante mit drei Dachgauben, wie sie auch am Linnell Close in<br />

Hampstead ausgeführt wurden. 106 Weitere ähnliche Varianten für Hampstead<br />

wurden ab 1911 von Edwin Lutyens und Unwin & Parker selbst errichtet.<br />

1.6. Edwin Lutyens: The Salutation<br />

Der für die englische Landhausarchitektur überaus innovative Edwin Lutyens wurde<br />

durch seine einzigartigen individuellen und keinem kopierbaren Grundmuster folgen-


80<br />

den Landhäuser in malerischen, doch in Details geometrisierenden Baukörpern berühmt.<br />

Nur bei wenigen Häusern seines Spätwerks verfolgte er die ruhige geschlossene<br />

Bauart von Hampstead. Neben zwei Walmdachhäusern von 1906, Millmead für<br />

Gertude Jekyll und dem Gästehaus <strong>des</strong> Golfklubs in Walton Heath sowie dem 1912<br />

errichteten Ednaston Manor fällt insbesondere das 1911 realisierte Landhaus The<br />

Salutation durch seine innerhalb <strong>des</strong> Achsensystems ausgefeilt individualisierten<br />

Fassadenvarianten aus dem Gesamtwerk heraus. 107<br />

70-72 Edwin Lutyens: The Salutation, Schmalseite<br />

Ausgesprochen große Fenster und Terrassentüren mit betont kleinteiliger Sprossung<br />

instrumentieren den Ziegelbau in ausgefeilt rhythmisierten Gruppierungen. <strong>Die</strong><br />

Schmalseite führt den fünfachsigen Grundtyp vor, wobei Reliefplastik und Türverdachung<br />

die Mittelachse zu einer Vertikalen verbinden, welche das Horizontalgesims<br />

überspielt und vom breiten mittigen Kamin aufgenommen wird. <strong>Die</strong> breite Gartenfassade<br />

zeigt eine rhythmische Komposition aus fünf Erdgeschossachsen mit drei zentrierten<br />

Gartentüren bei sechs Obergeschoss- und vier Dachachsen. Reliefplastik<br />

und Sonnenuhr ergänzen die Zentrierung der Gartentüren, während die seitlichen<br />

Obergeschossfenster paarweise zusammenrücken. <strong>Die</strong> Dachgauben nehmen wieder<br />

die äußeren Achsen <strong>des</strong> Erdgeschosses auf. <strong>Die</strong> schmalen Kamine variieren<br />

das versetzte Achsenkonzert nochmals und sind zudem in ihrer Höhe auf die Diagonale<br />

der Dachneigung abgestimmt (bei der schmäleren Seitenfassade dürfte die un-


81<br />

71 Gartenseite<br />

72 Eingangsseite<br />

gewöhnliche Breite <strong>des</strong> Kamins auf den gleichen beabsichtigten Effekt zurückzuführen<br />

sein).<br />

<strong>Die</strong> Eingangsfassade sondert dagegen den dreiachsigen Grundtyp als Risalit aus<br />

und wird durch auffällig schmale Seitenfenster, ein mächtiges barockisieren<strong>des</strong> Portal<br />

mit Schweifgiebeln und eine elegant geschwungene Treppe akzentuiert. Eckquaderung,<br />

Gesimse, Türgewände und Fenster spielen ein klares Weiß gegen das Rot<br />

von Mauerwerk und Dach aus. <strong>Die</strong>se meisterliche Durchdeklination der verschiedenen<br />

Typvarianten teils mit Breitenlagerung, teils über Fensterproportionen und<br />

Achsrhythmus erzielte Vertikalausrichtung an einem einzigen Landhaus könnte<br />

durchaus von den im Buch von Field und Bunney dokumentierten Bauten angeregt<br />

worden sein. 108


82<br />

Setzt man einen Schnitt im für die Entwicklung in Deutschland entscheidenden<br />

ersten Jahrzent <strong>des</strong> neuen <strong>Jahrhunderts</strong> an, so ist festzustellen, dass für einen<br />

Englandreisenden oder sehr aufmerksam die britischen Fachpublikationen konsultierenden<br />

Architekten die Wiederentdeckung <strong>des</strong> Walmdachhauses innerhalb der Tendenzen<br />

zu einer konsequenten formalen Reduktion prinzipiell erkennbar war. So<br />

unternahm der junge Hamburger Architekt Erich Elingius 1904 eine Studienreise<br />

dorthin und dokumentierte in seinen Skizzenbüchern auch erste noch klassizisierende<br />

Ansätze zu dieser Typausbildung in Hampstead, welche sich doch erst zwischen<br />

1905 und 1909 in Theorie und Praxis deutlich herauskristallisierte. 109 Doch<br />

innerhalb <strong>des</strong> populären Bil<strong>des</strong>, das vom englischen Landhaus auf dem Kontinent<br />

verbreitet wurde, ging dieser Ansatz tatsächlich vollkommen unter. Es wäre schon<br />

ein unwahrscheinlicher Zufall, wenn einer der entscheidenden Vertreter der deutschen<br />

Reformbewegung solche Anregungen aus England aufgenommen hätte. Eher<br />

ist von einer Gleichzeitigkeit der Entwicklung auszugehen, also vom vereinzelten<br />

Auffinden ähnlicher Lösungen für gleichartige Probleme.<br />

1.7. Hermann Muthesius: Der Deutsche Werkbund und "<strong>Das</strong> englische Landhaus"<br />

Von entscheidender Bedeutung für das prägende Bild der britischen Architektur in<br />

Deutschland war das 1904/05 erschienene dreibändige Werk "<strong>Das</strong> englische Haus"<br />

von Hermann Muthesius, insbesondere der zweite Band "<strong>Das</strong> englische Landhaus".<br />

Muthesius hatte von 1896 bis 1903 als Attaché für Architektur an der deutschen Botschaft<br />

in London die Aufgabe, die demnach sogar von Regierungsseite als vorbildlich,<br />

wirtschaftsfördernd und die sozialen Verhältnisse hebend eingeschätzte englische<br />

Architektur zu erkunden und in der Heimat zu vermitteln. Darin und bereits mit<br />

der weniger bekannten Veröffentlichung "<strong>Die</strong> englische Baukunst der Gegenwart"<br />

von 1900 verbreitete er die romantisch zergliederte viktorianische und Arts & Crafts-<br />

Architektur mit ihren großbürgerlich-aristokratischen Raumprogrammen. Der eher<br />

weniger reformistische Norman Shaw galt ihm als richtungsweisend. Parallel dazu<br />

verbreitete das 1906 erschienene "Houses and Gardens" von Baillie Scott über <strong>des</strong>sen<br />

eigene Werke, 1912 auch in deutscher Ausgabe vorliegend, die Vorstellung von<br />

dieser Bauweise. <strong>Die</strong> Aufnahme dieser Vorbilder reichte bis zum 1912-17 von Paul<br />

Schultze-Naumburg für den kaiserlichen Kronprinzen erbauten Schloss Cecilienhof<br />

in Potsdam. <strong>Die</strong>ses letzte Schloss der Hohenzollern wurde ein riesiges englisches<br />

Landhaus im fachwerkreichen Old English Style. Auch Muthesius' eigene Bauten<br />

waren in ihren an die deutschen Verhältnisse angepassten Formen und Dimensionen<br />

zumeist immer noch luxuriöse Villen und Herrensitze.


83<br />

Als Geheimrat im preußischen Handelsministerium, später Professor in Berlin und<br />

Gründungsmitglied <strong>des</strong> Deutschen Werkbun<strong>des</strong> setzte sich Muthesius in weiteren<br />

Schriften für die Schaffung einer zeitgemäßen <strong>bürgerliche</strong>n Kunst ein, die sich von<br />

der Imitation aristokratischer Lebensformen emanzipieren sollte. Er propagierte die<br />

"praktische Anlage" der funktionsgerecht angeordneten Raumfolgen, eine gemütliche<br />

Breitenlagerung mit gesundem Gartenbezug, die Einrichtung aller Wohn- und<br />

Wirtschaftsräume im Erdgeschoss, niedere Räume bei höherem Luftaustausch und<br />

kennzeichnete das Ideal <strong>des</strong> "Cottage" in Gegensatz zum in Verruf geratenen Begriff<br />

der "Villa". Dagegen geißelte er den nur äußerlich modernen Jugendstil und die<br />

"prahlerischen Allüren" der deutschen Villen, deren "willkürliche Gruppierung bis zu<br />

einem Durcheinander <strong>des</strong> Aufbaus gesteigert ist, die dem geschulten Sinne<br />

Schmerz verursacht" 110 . Muthesius' eigenes Werk und dasjenige der in seinen Büchern<br />

vorgestellten deutschen Architekten zeugen vom beträchtlichen Wohlstand<br />

der maßgeblichen Bauherren und von den bautechnischen und funktionalen Neuerungen<br />

dieser Zeit. Seine gleichzeitigen Forderungen nach bescheidenen mittelständischen<br />

Maßstäben und der Suche nach einem eigenen deutschen Bauausdruck<br />

stießen eine zunächst schleppend voranschreitende Entwicklung an, die erst infolge<br />

der ökonomischen Krise während und nach dem Ersten Weltkrieg unfreiwillig eine<br />

breite Basis erhielt.<br />

Als Vorsitzender <strong>des</strong> Deutschen Werkbun<strong>des</strong> prägte Muthesius in Schriften und<br />

Vorträgen die Kulturdebatte zu Anfang <strong>des</strong> <strong>20.</strong> <strong>Jahrhunderts</strong>. Seine ab 1908 formulierten<br />

Vorstellungen zur Typisierung als Voraussetzung für einen noch zu<br />

entwickelnden Epochenstil lieferte das theoretische Fundament für die Versachlichung<br />

der Bauformen und für die Weiterbearbeitung gerade auch <strong>des</strong> Walmdachbautyps<br />

durch Reform- und Werkbundarchitekten wie Paul Schmitthenner. <strong>Die</strong><br />

Konzeption von idealen Grundtypen, die als gute kopierfähige Vorbilder für die breite<br />

Durchschnittsbautätigkeit durch gestalterisch unbegabtere Architekten dienen sollten<br />

und damit den Ansatz für eine Verbesserung in der Hebung <strong>des</strong> Gesamtniveaus der<br />

Bautätigkeit sah anstatt in der künstlerischen Spitzenleistung, hat hier ihre Keimzelle<br />

und findet sich später in der Lehre der Stuttgarter Schule wieder. Da als Voraussetzung<br />

für die früheren Epochenstile ein einheitliches kollektives Formgefühl in<br />

Wechselwirkung mit einem Gemeinschaftsgefühl der Gesellschaft gesehen wurde<br />

und Muthesius bei<strong>des</strong> als nicht mehr vorhanden konstatierte, versuchte er, den<br />

umgekehrten Weg zu initiieren. Über die formale Abstraktion zu allgemeingültigen<br />

Grundformen bei kunsthandwerklichen Erzeugnissen und Bauten der Werkbundmitglieder<br />

sowie deren Verbreitung durch nachfolgende Industrieprodukte sollte eine


84<br />

Stileinheit erzielt werden, die nach einer Gewöhnungs- und Einfühlungsphase zu<br />

einer Geschmacksbildung und Identifikation bei den Konsumenten führen sollte.<br />

Nach evolutionärer Verfeinerung würde sich daraufhin ein neuer Zeitstil einleiten. 111<br />

Einige am ungebunden individuellen Künstlertum orientierte Werkbundmitglieder<br />

waren mit dieser Schwerpunktsetzung nicht einverstanden und opponierten im<br />

berühmten Werkbundstreit von 1914 gegen Muthesius' Lenkungsvorstellungen, so<br />

dass dieser Ansatz nicht offensiv weiterverfolgt wurde, doch unterschwellig in der<br />

traditionalistischen Reformarchitektur nach 1918 weiterlebte.<br />

<strong>Die</strong> Wurzeln für die Ausformulierung der Neuen Sachlichkeit mit strengen typisierten<br />

Grundformen in industrieller Ausrichtung und mit dem impliziten Anspruch, durch<br />

offensive Vorbildwirkung einen allgemeingültigen Stil zu lancieren sind auch in diesen<br />

frühen Werkbundtheorien zu suchen.<br />

1.8. <strong>Die</strong> deutsche Reformarchitektur<br />

Vergegenwärtigt man sich nochmals die Gründungsdaten der verschiedenen Reformgesellschaften,<br />

die Erscheinungsjahre der relevanten Publikationen und die<br />

Entstehungsjahre der erwähnten Bauten, dann wird zunächst deutlich, daß vor 1900<br />

einige vorausweisende Häuser realisiert wurden, die aber von der deutschen Fachwelt<br />

kaum wahrgenommen worden sein konnten. Weiterhin zeigt sich die Konzentration<br />

der vereinzelten Initialaktivitäten auf das erste Jahrzehnt nach 1900, die eine<br />

konkrete anknüpfbare Basis von zugänglichen Bauten und Schriften ab 1908/10<br />

bieten.<br />

Vor dem Hintergrund der propagierten Bautrends der englischen Landhausarchitektur,<br />

der weiterhin dominierenden Gründerzeitarchitektur und der langsamen und<br />

ungelenken, halb historisierenden, halb jugendstiligen Formrationalisierung im Frühwerk<br />

der zukünftigen deutschen Avantgarde-Architekten (z.B. Behrens, Poelzig,<br />

Olbrich, Riemerschmid oder Fischer) überraschen schließlich doch die frühen Zeitpunkte<br />

der ersten Formulierungen <strong>des</strong> Walmdachhaustyps in Deutschland. Sie<br />

erfolgen in einer Initialphase zwischen 1900 und 1907, deren Folgeentwicklung wir<br />

in drei Wellen einteilen: eine erste von 1908 bis 1910, die zweite von 1911 bis zum<br />

Ende <strong>des</strong> Ersten Weltkriegs und schließlich eine dritte ab 1918 über die 20er Jahre<br />

bis zum "Dritten Reich". Nachfolgende Erscheinungen der 50er Jahre bilden einen<br />

Nachklang, bevor die Tradition <strong>des</strong> Bautyps erneut abreißt.


85<br />

2. <strong>Die</strong> Initialphase<br />

2.1. Josef Hoffmann: Forstamt Hohenberg<br />

Eine ähnliche präfigurative Ausnahmeerscheinung wie Wrights Haus Winslow oder<br />

Webbs Smeaton Manor stellt das Forstamt der Wittgensteinschen Forstverwaltung<br />

im niederösterreichischen Hohenberg im Werk Josef Hoffmanns dar. 112 Nach dem<br />

Umbau eines alten Bauernhauses für denselben Bauherrn Paul Wittgenstein ist<br />

dieses weitgehend typkonforme Walmdachhaus Hoffmanns erstes Gebäude, das er<br />

1900 zeitgleich mit einem benachbarten <strong>Wohnhaus</strong> für das Forstpersonal – einem<br />

vollkommen unterschiedlichen Giebelhaus – errichtet. Einige Jugendstilelemente<br />

adaptieren unseren Haustyp im Sinne der Wiener Secession.<br />

73-74 Josef Hoffmann: Forstamt Hohenberg (Niederösterreich) 74 Erdgeschoss<br />

Ein sechsflügeliges Fensterband verbindet zwei Fensterachsen im Erdgeschoss,<br />

was neben den Schornsteinen die einzige, aber doch prägende Asymmetrie darstellt<br />

und die eigentliche Amtsstube nach außen kennzeichnet. <strong>Das</strong> im Aufriss geplante<br />

Vordach mit für Hoffmanns Frühwerk typischem Dreiviertelkreisbogen wurde anders<br />

ausgeführt. Fast bis auf die Höhe der unteren Fensterstürze reicht ein grobkörniger,<br />

wellenförmig endender Verputz. Auf der orthogonalen Fassade ist damit eine sogenannte<br />

"Peitschenschlaglinie" appliziert. Über der glattverputzten Mittelzone folgt ein<br />

Ornamentband aus stilisierten Blattformen, das um die Gebäu<strong>des</strong>eiten führt, doch<br />

an der Hauptfassade bei den äußeren Fenstern endet. <strong>Die</strong> Gesimszone ziert<br />

schließlich ein schabloniertes Blütenmotiv. Alle sichtbaren Holzelemente waren<br />

ursprünglich blau gestrichen. Möglicherweise ließ sich Hoffmann durch Wrights<br />

Haus Winslow zu dieser plastisch-ornamentalen horizontalen Wandaufteilung anregen,<br />

dem auch der geradlinige weite Dachüberstand ähnelt. Hoffmann kann seine<br />

Anregungen zu diesem Bautyp ebenso aus seiner mährischen Heimat – sein Elternhaus<br />

war eine ehemalige barocke Poststation – , seiner Praktikantenzeit am Würz-


86<br />

burger Militärbauamt, wo er mit Amtsgebäuden Balthasar Neumanns in Berührung<br />

gekommen sein musste oder österreichischen Vorbildern bezogen haben. Der Typgrundriss<br />

mit zwei Längs- und drei Querzonen war ihm auf jeden Fall durch den<br />

vorhergehenden Umbau <strong>des</strong> Bauernhauses geläufig.<br />

2.2. Geometrisierung<br />

Neben der bewussten Wiederaufnahme vorindustrieller anonymer ländlicher Bauten,<br />

wie sie die englische Arts & Crafts-Bewegung vorführte, und dem vereinzelten eher<br />

instinktiven Verarbeiten zufälliger Beobachtungen, wie es bei Wright oder Hoffmann<br />

der Fall gewesen sein könnte, wurden manche Baumeister zwischen Jugendstil und<br />

Frühmoderne von einem ausdrücklichen Formwillen motiviert: dem Bestreben nach<br />

Geometrisierung. In dieser ebenso formalen wie ornamentalen Tendenz zur Vereinfachung<br />

der Formen lässt sich eine direkte Verbindungslinie zur modernen Malerei<br />

erkennen (man denke nur an die zeitgleiche geometrisierende Progression von<br />

Cézanne und Matisse über die Kubisten bis zur Abstraktion bei Hölzel, Kandinsky<br />

und den Suprematisten). Äußert sich die ornamentale Auffassung noch in den etwas<br />

verspielten Wandverzierungen im geometrisierenden Jugendstil Mackintoshs oder<br />

<strong>des</strong> frühen Otto Wagner, so kommt eine Suche nach den einfachsten Grundkörpern<br />

bei Behrens und dem Wagner-Schüler Olbrich zum Vorschein. <strong>Das</strong> Prinzip der additiven<br />

Kombination von Kuben, Kugeln, Würfeln, Tonnen und Pyramiden tritt bei<br />

Olbrichs initialem Ausstellungsgebäude der Wiener Secession (1897) deutlich vor<br />

Augen, ebenso bei seinen Wohnbauten an der Mathildenhöhe in Darmstadt (1901),<br />

dem dortigen Ausstellungsgebäude neben dem Hochzeitsturm (1905-08) oder bei<br />

Hoffmanns Brüsseler Palais Stoclet (1905-11). Wenn einer der längsrechteckigen<br />

geschichteten Baukörper ein Steildach benötigt wie beim Darmstädter Austellungsgebäude<br />

am Hochzeitsturm, kommt zwangsläufig die Trapezform <strong>des</strong> Walmdachs<br />

zum Einsatz; hier allerdings von der konventionellen Dachkonstruktion abgehoben<br />

75 Joseph Maria Olbrich: Hochzeitsturm und<br />

Ausstellungsgebäude auf der Mathildenhöhe, Darmstadt<br />

76 Peter Behrens: eigenes <strong>Wohnhaus</strong>,<br />

Mathildenhöhe


87<br />

durch einen Sockelpo<strong>des</strong>t und einen auf das Minimum verkürzten Dachfirst. Ebenso<br />

beim einzigen nicht von Olbrich entworfenen Haus der Mathildenhöhe: dem eigenen<br />

<strong>Wohnhaus</strong> <strong>des</strong> Malers und architektonischen Autodidakten Peter Behrens – 1901<br />

auch sein erstes Haus. 113<br />

Denkt man sich die risalitartigen Vorbauten mit ihren geschweiften Giebeln und diverse<br />

Erker weg, so besteht der Kernbau <strong>des</strong> weißen Hauses mit seinen Eckpilastern<br />

und Schmuckrahmungen aus grünglasiertem Klinker aus einem Würfel mit fast<br />

zeltartigem Walmdach. Der quadratische Vierfelder-Grundriss bietet durch breite Öffnungen<br />

jetzt schon bemerkenswerte fließende Übergänge zwischen den Kompartimenten.<br />

Auch weitere Gebäude zwischen 1903 und 1908 – temporäre Pavillons und<br />

Austellungshallen in Düsseldorf, Oldenburg, Köln, Mannheim, Dresden und Berlin,<br />

das <strong>Wohnhaus</strong> Obenauer in Saarbrücken und das Krematorium in Hagen – offenbaren<br />

einen ausgeprägten Hang zur stereometrischen Formgebung. 114 Würfelgebäude<br />

mit Pyramidendach repräsentieren eine regelrechte Zeittendenz, die auch<br />

Richard Riemerschmid, Paul Schultze-Naumburg und Heinrich Tessenow veranlasst,<br />

auf ihrer Suche nach Vereinfachung zunächst Zeltdächer auf ihre sachlich<br />

reduzierten Baukörper zu setzen. 115<br />

Zu dem unausgeführten Projekt einer Kirche in Hagen von 1906 plante Behrens in<br />

einem ersten Entwurf ein zweistöckiges Pfarrhaus mit Walmdach und einem formalistischen<br />

Quadratraster der Wände, in das auf allen vier Seiten je drei Fensterachsen<br />

mit ebenso quadratisch kassettierten Fenstern eingepasst sind. Der zweite<br />

Entwurf sieht vier zu fünf Achsen vor, deren hochrechteckige Fenster auf beiden<br />

Stockwerken zwischen ringsumlaufende horizontale Gesimse gespannt sind. Beide<br />

Versionen stellen einzigartige, nie realisierte Versuche dar, den Bautyp in gleichmäßigen<br />

geometrischen Rastern zu formalisieren.<br />

77 Peter Behrens: 1. Projekt Kirche und Pfarrhaus, Hagen 78 Peter Behrens: 2. Projekt, Hagen


88<br />

2.3. Peter Behrens: Haus Schroeder<br />

In direkter Folge dieser formalen Bestrebungen steht Behrens' <strong>Wohnhaus</strong> Schroeder<br />

in Hagen, <strong>des</strong>sen Baujahr 1911 nach unserer Einteilung zwar erst in die zweite Bauwelle<br />

fällt, das aber dennoch im Zusammenhang der Vorläuferentwicklung hier behandelt<br />

werden soll. Denn es synthetisiert spektakulär die Einflüsse Wrights, der<br />

Ornamentalisierung der Wiener Werkstätte, der regionalistischen Vereinfachung der<br />

Arts & Crafts-Architekten (Behrens unternahm 1903 Reisen nach England und<br />

Österreich) und Schinkels, den Behrens auch seinen künstlerischen Ahnherrn nannte<br />

116 . Leider ist dieses formal herausragend durchkomponierte Meisterwerk nicht<br />

erhalten. 117<br />

79-82 Peter Behrens: Haus Schröder, Hagen<br />

<strong>Die</strong> axialsymmetrische Hauptfassade zum Garten ist von der Wandbehandlung über<br />

die Fensterordnung bis zur ungestört glatten Dachfläche streng formalistisch in horizontale<br />

Streifen aufgeteilt. Auf der vertikalen Ausrichtung der Erdgeschossfenster<br />

und der Verandapfeiler bildet die engstehende, insbesondere durch das Angrenzen<br />

der Klappläden gleichsam fortlaufende Reihe der Obergeschossfenster mit dem in<br />

das Gesimsband integrierten Balkon einen horizontalen Kontrapunkt, der durch die


89<br />

Dachfläche mit der Diagonalen der Walmgrate von exakt 45 Grad seinen idealen<br />

Ausgleich erfährt. <strong>Die</strong> Gegensätze werden damit wie durch ein Gewicht zusammengehalten<br />

oder sind in der Abfolge ihrer Richtungsdominanten wie ein musikalischer<br />

Akkord wahrnehmbar. <strong>Das</strong> keilförmige Volumen <strong>des</strong> Daches als oberer Abschluss<br />

erfährt eine motivische Wiederholung am Boden durch die pyramidale Treppe vor<br />

der Veranda. Zugleich verbindet die Treppe aus dem gleichen Kunstsandstein wie<br />

Veranda, Fenstergewände und Gesimse das Bauwerk mit dem Gelände, so dass<br />

eine Verklammerung über den sonst zu stark vom Boden abtrennenden Bruchsteinsockel<br />

hinweg stattfindet. <strong>Die</strong> in Wrights Haus Winslow vorexerzierte horizontale<br />

Trennung eigenständiger Wandfelder steigert Behrens durch vielfältige Vor- und<br />

Rücksprünge: Vom Sockel springt das verputzte Erdgeschoss zurück, darauf nochmals<br />

stark das Stockwerksgesims, während das schieferverkleidete Obergeschoss<br />

wieder leicht hervorragt, bis das Dachgesims wieder die Ebene <strong>des</strong> Erdgeschosses<br />

einnmimmt. Auf einem wiederum weit von der Wandebene zurückgesetzten Sockel<br />

erhebt sich schließlich das Schieferdach mit einem ganz leicht ausschwingenden<br />

Dachfuß. Von großer formaler Konsequenz zeugen die feinen hellen Gesimse, die<br />

die Erdgeschossfenster und die Verandapfeiler einspannen, sowie die gleichartigen<br />

Brüstungen an Fenstern und Veranda mit ihren dunklen oberen Abdeckungen, welche<br />

wiederum auch die Pfeiler und den Balkon begrenzen und als Rahmen um die<br />

Fenstergewände führen. Auf das Gliederungssystem Schinkels verweist gerade das<br />

bauklötzchenhafte Ausdehnen der Bauglieder bis zu ihrem direkten Angrenzen an<br />

das nächste Formelement, wie zwischen den Verandapfeilern, ihrer Brüstung und<br />

dem Balkon, oder das Einspannen der Erdgeschossfenster, die ohne untere Gewändeplatte<br />

direkt auf dem Sockelgesims aufstehen.<br />

80 Rückseite 81 Peter Behrens: Häuser Cuno und Schroeder, Hagen<br />

An der unrepräsentativeren und freier gestalteten Straßenseite führt das Bruchsteinmauerwerk<br />

an einem mittigen Vorsprung mit Tonnendach und Thermenfenster für


90<br />

das Treppenhaus bis in die Dachzone, dann asymmetrisch nach links weiter bis zur<br />

Höhe <strong>des</strong> Stockwerkgesimses und schließlich um die Hausecke herum bis zur Mitte<br />

der einen Schmalseite. Alle Wirtschafts- und Verkehrsflächen sind hier im Gegensatz<br />

zu den Wohnräumen durch engstehende Fensterreihen gekennzeichnet. Ein<br />

mächtiger Kamin führt die Rustikalität <strong>des</strong> Bruchsteins in die Dachzone. Er betont<br />

die Asymmetrie dieser Seite, ist jedoch so nieder ausgeführt, daß er an der Gartenseite<br />

nicht sichtbar wird.<br />

82 Erdgeschoss<br />

Hochgradigen Formalismus leistet sich Behrens im Innenraum, wo in der Längsachse<br />

zwei Enfiladen durch Fenster und Türen gezogen sind, während in der mittigen<br />

Querachse die breite Treppe (deren zweiter Lauf nach oben um die Hälfte auf<br />

ein funktionales Maß verschmälert ist) den Weg durch eine Pfeilerreihe hindurch in<br />

den Wohnraum führt. <strong>Die</strong>se Pfeilerstellung wiederholt sich zunächst in den Fenstern,<br />

dann nochmals in der Veranda. Bis zur Gartentreppe reicht diese spiegelsymmetrische<br />

Raumanordnung und bietet für das <strong>bürgerliche</strong> Landhaus eines Zahnarztes<br />

einen linearen Bewegungsmodus von geradezu palladianischem Pathos. Dabei hat<br />

kein einziges Raumkompartiment im Erdgeschoss die gleiche Größe wie die anderen,<br />

so dass sich vom Vestibül bis zur Speisekammer eine effektvolle Abfolge individueller<br />

Raumwirkungen eingestellt haben dürfte. Allein der Wandaufbau mit<br />

Bruchstein, weißem Kunststein, Schiefer und ockerfarbenem Verputz zeugt von der<br />

außergewöhnlichen Diversifikation dieses verkannten Bauwerks. Dabei ist die Schieferverkleidung<br />

am Obergeschoss im Gegensatz zur Dachdeckung mit ihren rautenförmigen<br />

Täfelchen sogar noch aus rechteckigen Platten in horizontalen Streifen<br />

ausgeführt. Allerdings führte die schlechte Qualität <strong>des</strong> Kunststeins und die gegen<br />

die handwerklichen Regeln der Baukunst vorgenommenen Rücksprünge bei zugleich<br />

nachlässiger Bauaufsicht zu einer Durchnässung der Wände. Zusammen mit<br />

Fehlplanungen am benachbarten Haus Cuno wuchs sich dies "zu einer düsteren<br />

Saga von Mängeln aus", die Behrens jahrelange Auseinandersetzungen und starke<br />

Animositäten einbrachten. 118


91<br />

In seiner Kombination von kubisch vereinfachter Gesamterscheinung mit veruneinheitlichender<br />

rasterartiger Geometrisierung durch horizontal addierte Wandfelder<br />

und vertikal addierte Wandstreifen ist das Haus Schroeder ein absolutes Unikum. 119<br />

Dabei mag sich die Farbwirkung der Oberflächen von unten nach oben, die helle<br />

Zentrierung auf drei Mittelachsen und die helle Betonung der Gesimse und Fenstergewände<br />

ebenso auf das Haus Winslow beziehen wie die Grundrissdisposition mit<br />

den Analogien <strong>des</strong> seitlichen Eingangs, der Enfilade in der Längsachse und den<br />

ineinander übergehenden Raumsequenzen in der Querachse. Auch die scheinbar<br />

voreinandergelegten Wandscheiben finden sich dort. Doch durch das Bestreben, die<br />

Achsenkonkordanz strikt einzuhalten und übergreifende Wandflächen zu negieren,<br />

wirken die Proportionen teilweise aber auch etwas ungelenk und engatmig.<br />

2.4. Paul Schultze-Naumburg<br />

<strong>Die</strong> eigentliche konsequente Wiederaufnahme <strong>des</strong> Walmdachbautyps bei Wohnhäusern<br />

in Deutschland nach dem Historismus erfolgte durch Paul Schultze-<br />

Naumburg, dem Verfasser der "Kulturarbeiten" und ersten Vorsitzenden <strong>des</strong><br />

Heimatschutz- bun<strong>des</strong>. Bereits bei seinem 1904 erbauten Haus Gill in Sebnitz<br />

wandte er die weitgehend schmucklose Wandgestaltung an, allerdings noch mit<br />

Zeltdach auf quadratischem Grundriss. Einzig ein Stockwerksgesims teilt den Baukörper<br />

in der Horizontalen. <strong>Die</strong> im Erd- und Obergeschoss unterschiedlich hochrechteckigen<br />

Fenster mit Klappläden "hängen" optisch mit ihrem oberen Sturz am Stockwerks-<br />

bzw. Dachgesims. Vier gleichmäßige Fensterachsen gliedern die talseitige<br />

Hauptansicht, während die Fenster der Seitenfassade unregelmäßig verteilt sind und<br />

am Obergeschoss vereinzelt paarweise zusammenrücken.<br />

83 Paul Schultze-Naumburg: Haus Gill, Sebnitz 84 Paul Schultze-Naumburg: Pfarrhaus, Hilsbach<br />

1906 realisierte Schultze-Naumburg nun schließlich mit dem Pfarrhaus von Hilsbach


92<br />

einen fünfachsigen Walmdachtyp, als habe er einfach einen barocken Bauplan übernommen.<br />

120 Eckquaderung, Fenstergewände und ein nur an der Straßenseite verlaufen<strong>des</strong><br />

Gesims bestehen aus Werkstein, das Sockelgeschoss aus Bruchstein.<br />

<strong>Die</strong> Fensterachsen folgen dem Rhythmus 2-1-2 an den Längsseiten, während der<br />

Nebeneingang an der Schmalseite in eine eng zusammengezogene und von der<br />

Mitte abgerückte Drei-Achsen-Gruppe einbezogen ist. Dabei markiert die äußere<br />

rechte Achse dennoch die Mitte, und ein Rankgerüst umfängt exakt den befensterten<br />

Wandabschnitt. Ungewöhnlich führt die Eingangstreppe in ein offenes, in den<br />

Hauskörper eingeschnittenes Vestibül empor. <strong>Die</strong>ses wird durch ein dorisches<br />

Säulenpaar gerahmt, das lediglich den verputzten Sturz trägt. Eigentümliche Fledermausgauben,<br />

nach oben hin abgeflacht, überaus breit und niedrig, dienen der spärlichen<br />

Belichtung <strong>des</strong> Dachstuhls.<br />

85-86 Paul Schultze-Naumburg: Haus Albrecht, Swinemünde 86 Erdgeschoss<br />

<strong>Die</strong> im selben Jahr gebauten Häuser Albrecht in Swinemünde, Morgenroth in Wernigerode<br />

und Kapf in Aachen variieren den Typ, wobei das letztere mit Schieferdach,<br />

Schieferverschindelung am Obergeschoss und applizierten Festons auf spätklassizistisch-biedermeierliche<br />

Vorbilder zurückgreift. Beachtenswert ist der Grundriss <strong>des</strong><br />

Hauses Albrecht, da er auf die Bedürfnisse einer drei Generationen umfassenden<br />

Großfamilie eingeht. Neben einer der englischen "Hall" vergleichbaren Wohn-Ess-<br />

<strong>Die</strong>le mit seitlicher Erschließung, bietet das Erdgeschoss zwei separate Appartements,<br />

während weitere Wohn- und die Schlafzimmer der Familie <strong>des</strong> Bauherrn im<br />

Obergeschoss liegen. Dennoch basiert die Innenwandführung auf dem traditionellen<br />

Schema von einer Längs- und zwei Querwänden. Schultze-Naumburg führte den<br />

Typus in zahlreichen späteren Bauten parallel zu leicht klassizisierenden und barockisierenden<br />

Tendenzen weiter. Erst in einer 1926 erschienenen Beispielsammlung<br />

<strong>bürgerliche</strong>r <strong>Wohnhaus</strong>entwürfe stellte Schultze-Naumburg eine bis zu Grund-


93<br />

riss und Altan konkret auf Goethes Gartenhaus bezogene Version vor. 121<br />

2.5. Heinrich Tessenow<br />

Heinrich Tessenow, der mit dem Festspielhaus und weiteren Bauten der Gartenstadt<br />

Hellerau berühmt gewordene mecklenburgische Architekturasket 122 , zeichnete im<br />

Jahr von Schultze-Naumburgs Würfelhausdebut ein kleines zweistöckiges Haus mit<br />

Zeltdach, das wie organisch gewachsen in eine Stützmauer am Steilhang eingebunden<br />

ist. <strong>Die</strong> Radikalität dieser Etude liegt in der nun puren, vollkommen ungegliederten<br />

Wand, die nur durch die Löcher der Fenster und der Tür strukturiert ist. <strong>Die</strong><br />

quadratisch gesprossten Fenster erhalten nur durch die Klappläden einen leichten<br />

Breitenzug, der durch die Vertikaltendenz der Fensterachsen und der Läden in ein<br />

subtiles Gleichgewicht versetzt ist. Der konische, die Dachneigung aufnehmende<br />

Kamin und die die Dachhaut nur dezent aufwellende Fledermausgaube nehmen sich<br />

als kompositorische Bauteile bewusst zurück. Nur die unprätentiöse Tür setzt einen<br />

asymmetrischen Akzent. Als romantisches Bild scheint sie mit Treppenpo<strong>des</strong>t, Bank<br />

und Baum eine Motiveinheit <strong>des</strong> kontemplativ nutzbaren Außenraums zu bilden.<br />

Tessenows Zeichenstil mit leeren Flächen und dichten Strukturen aus Linien und<br />

Punkten sowie die Darstellung <strong>des</strong> wilden Wandbewuchses vermitteln eine ebenso<br />

zarte, poetische wie programmatische Architekturauffassung. Gerade in diesem Jahr<br />

1904 rückte Goethes Gartenhaus in Tessenows Blickfeld. Er besuchte es und fertigte<br />

eine Zeichnung an, in der er es bezeichnenderweise von der Schmalseite mit dem<br />

betont zur Geltung kommenden Spitzdach als Dreieck darstellte: Nur sein Obergeschoss<br />

ragt mit seinem Rankgerüst hinter der hohen Hecke hervor und ist von einer<br />

expressiven Wildnis winterlich-unbelaubter Baumkronen umgeben.<br />

87 Heinrich Tessenow: Hausentwurf 88 Heinrich Tessenow: Goethes Gartenhaus. Zeichnung<br />

Eine Variation dieses Entwurfs für ein Pfarrhaus von 1907 mit einem lisenenhaft<br />

vor die glatte Wand gesetzten Rankgerüst untermauert die Wiederentdeckung der<br />

nackten Wand. Sie ist überhaupt die Voraussetzung, Holzspaliere für Kletterpflanzen


94<br />

anzubringen. Bei einer dekorativ oder sogar plastisch gegliederten Wand wäre eine<br />

solche Verstellung natürlich kontraproduktiv. Zugleich kann aber auch die plötzlich<br />

auftretende ökologische Tendenz zur Wandbegrünung als Indiz dafür angesehen<br />

werden, dass die rohe Wand das ästhetische Empfinden <strong>des</strong> gut<strong>bürgerliche</strong>n Milieus<br />

noch provoziert und folglich gemildert werden soll. Für die durch Historismus geprägte<br />

kollektive Wahrnehmung ist die Lancierung dieses asketischen Bauausdrucks<br />

mit explizit ästhetischem Anspruch ein absolutes Novum. Der Skandal von Adolf<br />

Loos' Geschäftshaus Goldman & Salatsch gegenüber der Wiener Hofburg, das den<br />

Kaiser noch 1910 veranlasste, indigniert seine Fenster zu verhängen, ist Legende.<br />

Dementsprechend wurden die langsam in Mode kommenden Spaliere auch gezielt<br />

zur horizontalen Absetzung <strong>des</strong> Sockels oder Erdgeschosses angebracht. Mit den<br />

weißlackierten, gern vor rosafarbenen oder gelblichen Putzwänden abgesetzten<br />

Spalieren einher geht auch die Kombination mit hölzernen weißen Gartenzäunen<br />

und Eingangstoren. Selbst darüber war das an dekorative schmiedeeiserne<br />

Einfriedungen gewöhnte Bürgertum zunächst empört. 123<br />

2.6. Theodor Fischer<br />

Auch Theodor Fischer, der spätere Ahnherr der Stuttgarter Schule, baute im gleichen<br />

Zeitraum seinen ersten Walmdachhaustyp. 124 In der kleinen Arbeitersiedlung<br />

Gmindersdorf bei Reutlingen errichtete er von 1904 bis 1908 überwiegend an regionalen<br />

Bauernhausformen mit Krüppelwalmdächern und Fachwerk orientierte Mehrfamilien-Doppelwohnhäuser.<br />

<strong>Die</strong>se sind jedoch noch malerisch kombiniert mit Mansarddacherkern,<br />

Jugendstil-Schweifgiebeln und vom englischen Landhausbau<br />

entlehnten gekoppelten Dachhäusern. Zur Abwechslung, was an die Kontrastwirkung<br />

<strong>des</strong> Linnel Close in Hampstead erinnert, plaziert er nun vereinzelt schlichte<br />

längliche Walmdachdoppelhäuser dazwischen, mit strenger Achsenkonkordanz,<br />

doch unterschiedlich rhythmisierter Achsenfolge.<br />

89 Theodor Fischer: Siedlung Gmindersdorf


95<br />

90-91 Theodor Fischer: Arbeiter-Vierfamilienhaus, Gmindersdorf<br />

91 Erdgeschoss, rechtes keller- und Obergeschoss<br />

Nur über die Klappläden werden bandartige Fensterreihen erzeugt und Gruppen gebildet,<br />

die einmal die beiden Haushälften zu einer Einheit verbinden, ein andermal<br />

die Trennung hervorheben. Auf Anhieb spielt Fischer damit eloquent die formalen<br />

Themen der Zentrierung oder Rahmung in ausgewogener Verteilung aus, bedient<br />

sich der Regenrohre als Gestaltungsmittel und nutzt die Klappläden zur ausgleichenden<br />

Handhabung <strong>des</strong> Loch-Wand-Verhältnisses und zur formalen Stabilisierung der<br />

Eingangsfassaden mit ihren verschiedenen kleinen Fensterformaten der<br />

Nebenräume und Treppenhäuser. Dabei zeigen die hochformatigen Fenster mit<br />

Klappläden hier nicht durchweg Wohnräume an, sondern sind auch Treppenhaus<br />

und Badezimmern zugeordnet.<br />

Nach den gleichen formalen Gesichtspunkten baute Fischer zwischen 1905 und<br />

1907 die Landhäuser Noack und Harries in Kiel in Ziegelmauerwerk und 1909 das<br />

verputzte Landhaus Siebeck in Tübingen mit hohen, durch ihre First- und Trauflinien<br />

die Horizontale hervorhebenden Walmdächern. Doch ihre querliegenden Anbauten


96<br />

sowie zurückhaltend dekorativ plazierte Erker, Loggien, Balkone und Dachhäuschen<br />

offenbaren ein immer noch erhöhtes Ausgestaltungsbedürfnis der Zeit.<br />

2.7. Paul Bonatz<br />

Ebenfalls ab 1906 baute Paul Bonatz sein erstes eigenes <strong>Wohnhaus</strong> in Stuttgart,<br />

sein zweites <strong>Wohnhaus</strong> überhaupt. Er war zu diesem Zeitpunkt Assistent Theodor<br />

Fischers an der Hochschule in Stuttgart und wurde mit der Übernahme von Fischers<br />

Professur ab 1908 der Mitbegründer der Stuttgarter Schule. 125 <strong>Das</strong> auf schmalem<br />

Grundstück quer zum Hang stehende Haus zeigt einen geschlossenen zweistöckigen<br />

Aufbau. Jedoch nur die frei sichtbare Straßenseite präsentiert ein orthogonales<br />

dreiachsiges Ordnungssystem mit breitem weißem Holzbalkon und breiten fünfflügeligen<br />

Fenstern der im Obergeschoss liegenden Wohnräume. Über seitliche<br />

Schmuckglieder an den Fenstern verbinden sich diese mit der Balkontür zu einem<br />

horizontalen Band. <strong>Die</strong> drei quadratischen Fenster <strong>des</strong> Büroraumes bilden durch<br />

überlappende Klappläden ebenfalls einen horizontalen Verband mit eigenem Rhythmus.<br />

<strong>Die</strong> Fenster aller übrigen Fassaden sind dem unregelmäßigen Grundriss<br />

entsprechend frei verteilt, haben unterschiedliche Formate und werden durch einen<br />

Dachgiebel ergänzt.<br />

92-93 Paul Bonatz: Haus Bonatz I, Stuttgart 93 Erdgeschoss 94 Eugen Scholer: Haus Scholer I, Stuttgart<br />

Unmittelbar daneben baute Bonatz' Büropartner Friedrich Eugen Scholer etwa ein<br />

Jahr später sein eigenes, zur Straße hin ziemlich gleichartiges <strong>Wohnhaus</strong>. Runderker,<br />

Rankgerüst, Ornamentfries und Walmgaube sind die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale,<br />

die jedoch nur eine Variation <strong>des</strong> neuartigen gemeinsamen


97<br />

Baustils <strong>des</strong> Büros Bonatz und Scholer veranschaulichen. Besonders prägnant ist<br />

die Ensemblewirkung.<br />

<strong>Die</strong>se sich an einem Übergangsmoment befindlichen Häuser machen symptomatisch<br />

mehrere Tendenzen deutlich: Zum einen zeigen sie ihren Walm noch nicht von<br />

der charakteristischen Breitseite und haben den sich passend zu diesem Bautyp<br />

entwickelnden rationalen Wandaufbau noch nicht einheitlich umgesetzt. 126 Vielmehr<br />

simulieren sie an der Schauseite einen Zeltdachkubus, was durch den vorderen,<br />

direkt auf der Walmspitze sitzenden Schornstein <strong>des</strong> Hauses Bonatz bestärkt wird.<br />

Der die Breitenwirkung der Fensterreihen ausgleichende Sockel verleiht den<br />

Häusern einen deutlichen Höhenzug, was einen weiteren anstehenden Paradigmenwechsel<br />

der <strong>Wohnhaus</strong>entwicklung thematisiert: <strong>Die</strong> Villa <strong>des</strong> 19. <strong>Jahrhunderts</strong><br />

hatte eine ausgesprochene proportionale Höhentendenz, verstärkt durch die Vorliebe<br />

für hohe Räume, Turmbauteile, steile Dächer mit Firstspitzen etc. <strong>Die</strong> Wohnräume<br />

waren auf hohen Sockelgeschossen vom Erdboden abgehoben. Es bestand<br />

kein Interesse an direkten Verbindungen zum umgebenden Gartenareal. Eine<br />

wesentliche Leistung der frühen Moderne ist die von der englischen Landhausarchitektur<br />

ausgehende Breitenlagerung, die formale Hinwendung zur Horizont- und<br />

Bodenlinie und die Öffnung der ebenerdigen Wohnräume zum Garten. Genau aus<br />

diesem Grund wurde auch Wrights Haus Winslow wegen seiner unkonventionellen<br />

sockellosen Ebenerdigkeit gewürdigt. Ursächlich hängt damit der Wandel der<br />

Lebensgewohnheiten zusammen, der sich in assoziativen Oppositionen wie behaglich,<br />

natürlich und bodenständig gegen gestelzt, gekünstelt und zugeknöpft verbalisieren<br />

lässt. Hier wiederholt sich Goethes offenbar unerfüllt gebliebene Bemühung<br />

um eine bürgerlich-ungezwungene antiaristokratische Verhaltensweise. 127<br />

<strong>Das</strong> Würfelhaus mit Zeltdach stellt einen durch geometrisierende Ideale motivierten<br />

Übergang dar. Es entzieht sich noch der eindeutigen Entscheidung für breit oder<br />

hoch, sondern zentriert sich. Im weiteren Diskurs der Reformarchitekten wurde es<br />

daher mit dem Schmähbegriff "Kaffeemühle" belegt. Weil es sich einer entschiedenen<br />

Ausrichtung längs oder quer zu einer Straße oder Hanglinie entzog, befanden<br />

sie es als ungeeignet für die städtebaulichen Ziele landschaftsverträglicher verbundener<br />

Siedlungsstrukturen.<br />

<strong>Die</strong>ser erste Abschnitt unserer Einteilung, die Initialphase bis 1907, zugleich das<br />

Jahr der Gründung <strong>des</strong> Deutschen Werkbun<strong>des</strong>, von dem ab ein enger Kontakt der<br />

Gründungsmitglieder und ein gegenseitiges Verfolgen der Bauaktivitäten als sicher<br />

gelten kann, ist also gekennzeichnet durch erste Ideen zu schlichten kubischen


98<br />

Häusern und durch ein plötzliches zeitgleiches Auftreten <strong>des</strong> ausgereiften Bautyps,<br />

der barocke oder klassizistische Vorbilder aufgreift. <strong>Die</strong>ses erfolgt wohlgemerkt noch<br />

vor Erstellung <strong>des</strong> Linnel Close in Hampstead und zeigt von Beginn an eine Suche<br />

nach verhaltener Rhythmisierung und Differenzierung <strong>des</strong> Wandaufbaus anstelle<br />

stereotyper Regelmäßigkeit und Nüchternheit. Im Gegensatz zur lauten Überinstrumentierung<br />

<strong>des</strong> Historismus und Spektakularität <strong>des</strong> Jugendstils macht sich nun das<br />

Ideal einer subtilen feingliedrigen Detailgestaltung bemerkbar, die eine neue baukulturelle<br />

Aufmerksamkeit erfordernde Seherfahrung einläutet. Oft wurde das in einem<br />

zu kurz reichenden Rückblick als biedermeierlich-spieß<strong>bürgerliche</strong> Konvention angesehen.<br />

Tatsächlich verstanden sich diese Architekten und ihre Bauherren als eine<br />

die Subtilisierung der Zeichen, die Verfeinerung <strong>des</strong> Geschmacks und die Ehrlichkeit<br />

und Authentizität der Lebensformen betreibende Avantgarde.<br />

Der Bautyp ist lanciert; metaphorisch ist nun der Stein ins Wasser gefallen. In der<br />

nun folgenden ersten Welle erfolgt die Weiterentwicklung als klare Ausformulierung<br />

<strong>des</strong> Typs in unverkennbarer Anlehnung an das Minimalprogramm von Goethes<br />

Gartenhaus durch die bereits genannten Architekten der Heimatschutzbewegung.<br />

Hinzu kommen Bauten von Erich Metzendorf und die erste Bauphase der mit<br />

großem öffentlichem und publizistischem Interesse verfolgten Gartenstadt Hellerau<br />

bei Dresden, die diesen kurzen Zeitabschnitt beschließt.<br />

3. <strong>Die</strong> erste Welle 1908 - 1910<br />

3.1. Georg Metzendorf: Darmstädter Modellhaus<br />

Georg Metzendorf 128 , der ab 1910 durch die Gartenvorstadt Margarethenhöhe bei<br />

Essen für die "Margarethe-Krupp-Stiftung" bekannt wurde, errichtete 1908 ein Zweifamilienhaus<br />

im Walmdachtyp. Es ist eines der sechs Kleinwohnhäuser der "Hessischen<br />

Lan<strong>des</strong>ausstellung für freie und angewandte Kunst" auf der Mathildenhöhe in<br />

Darmstadt. Unter den bisher vorgestellten Bauten kommt es durch seine Proportionen<br />

und Fensterachsen Goethes Gartenhaus am nächsten und zeigt doch wieder<br />

einen vollkommen individualisierten Wandaufbau.<br />

Auf einem Bruchsteinsockel mit wulstigem Gesims sitzen die Erdgeschossfenster<br />

unmittelbar auf, während die oberen Fenster direkt unter dem weiten Dachüberstand<br />

hängen. An der Hauptseite und einer Schmalseite gliedern breite Lisenen die Wand<br />

in vertikale Felder, welche von den Fenstern mit Klappläden komplett in der Breite<br />

ausgefüllt werden. Auch ein Gesims unterfängt die oberen Fenster und teilt damit die<br />

Ebene der Wandfelder, ohne jedoch die Lisenen zu überspielen. An der Schmal-


99<br />

95-98 Erich metzendorf: Arbeiter-Zweifamilienhaus auf der Mathildenhöhe, Darmstadt<br />

97 Erdgeschoss 98 Obergeschoss<br />

seite ohne obere Fenster fehlt daher dieses Gesims. Auffällig überspielt ein quadratisch<br />

gerastertes Rankgerüst die leeren Wandflächen und spart die Stellen möglicher<br />

Fenster am Erdgeschoss zur Straßenseite aus, um einen regelmäßigen Rhythmus<br />

zu simulieren. An der Schmalseite dagegen teilen Rankgerüste die Flächen nur in<br />

der Wandmitte, was eine umlaufende horizontale Struktur gegen die ansonsten<br />

vertikale Dominanz der Lisenen und Fensterachsen setzt. Auf der Gartenseite fehlen<br />

die inneren Lisenen und die Rankgerüste. Dafür sind die Fenster in engerem Rhythmus<br />

zu Fenster-Klappladen-Bändern verbunden. Ein Stockwerksgesims läuft diesmal<br />

von Ecklisene zu Ecklisene durch und unterstreicht die horizontale Dominanz.<br />

<strong>Das</strong> schon geläufige Grundrissschema von zwei Längs- und drei Querzonen ist hier<br />

mit gemeinsamem Treppenhaus für eine größere Erdgeschoss- und eine kleinere<br />

Obergeschosswohnung mit einem separaten Zimmer angewendet. Besondere Aufmerksamkeit<br />

erfuhren die Sanitäreinrichtungen mit Bad, Spülküche und Klosetts zum<br />

Treppenhaus, dafür aber einer ins Wohnzimmer integrierten Küche. Vor allem die<br />

mittige und die ganze Hausbreite einnehmende Wohnküche der unteren Wohnung


100<br />

erzeugt einen großzügigen Raumeffekt im Rahmen <strong>des</strong> bescheidenen<br />

Raumprogramms. 129<br />

3.2. Gartenstadt Hellerau<br />

Von großer Bedeutung für den Siedlungsbau im Sinne Camillo Sittes ist die Gartenstadt<br />

Hellerau bei Dresden als zwar nicht erste, doch meistbeachtete Umsetzung<br />

<strong>des</strong> englischen Gartenstadtgedankens in Deutschland. 130 Durch die Beteiligung der<br />

Architekten Richard Riemerschmid, Heinrich Tessenow, Hermann Muthesius und<br />

Theodor Fischer mit deren exemplarischer Umsetzung ihrer jeweiligen Vorstellung<br />

von Reformarchitektur nimmt Hellerau auch für die <strong>Wohnhaus</strong>architektur und insbesondere<br />

für die Genese <strong>des</strong> Walmdachhaustyps eine zentrale Stellung ein. Zu einem<br />

Kulturzentrum von europäischem Rang entwickelte sich das in Tessenows<br />

Festspielhaus angesiedelte Dalcroze-Institut mit Aufführungen zu rhythmischer<br />

Gymnastik, Tanz und Musik in entsprechender Reformkleidung, die die internationale<br />

Avantgarde der Lebensreformer anzog.<br />

99 Richard Riemerschmid: Gartenstadt Hellerau, Dresden<br />

Hellerau wurde ab 1909 als baugenossenschaftliche Gartenstadt unter Förderung<br />

<strong>des</strong> Industriellen Karl Schmidt zusammen mit dem Neubau von <strong>des</strong>sen "Deutschen<br />

Werkstätten für Handwerkskunst" und der dazugehörigen Werkssiedlung erbaut. Bei<br />

den aus Baugruppen von zwei bis 18 Einheiten bestehenden Reihenhäusern <strong>des</strong><br />

Kleinhausviertels achtete Riemerschmid auf kleinstädtisch-malerische Vielfalt durch<br />

individuelle Aneinanderreihung von über 30 verschiedenen vorentwickelten und<br />

wiederholbaren Haustypen. <strong>Die</strong> Endpunkte der Baugruppen markierte er oft durch<br />

kubische Zeltdachhäuser. Am vorderen Rand der Anlage kombinierte er ein Doppel-


101<br />

haus als länglichen Walmdachtyp, ein solches mit niederem Verbindungsbau zu<br />

einem übereck stehenden Zeltdachhaus sowie dazwischen ein einzelnes Walmdachhaus<br />

mit einem in stumpfem Winkel anschließenden Zeltdachhaus. Im Unterschied<br />

zu Riemerschmids früheren Bauten in der spielerischen Vielgliedrigkeit eines<br />

versachlichten Münchner Jugendstils und der noch diese Auffassung vermittelnden<br />

Marktbebauung und Fabrikanlage in Hellerau zeigen diese wahrscheinlich für Verwaltungsangestellte<br />

der Werkstätten errichteten Häuser eine für ihre Zeit ausgeprägte<br />

Rationalität. Ihr pittoreskes Gesamtbild entsteht im Wesentlichen durch die<br />

unregelmäßige Ausrichtung der Baukörper zueinander, die dem bogigen Straßenverlauf<br />

folgt. Bei ihrer Wandgliederung variiert Riemerschmid zwischen Sohlbankgesimsen<br />

unter den Obergeschossfenstern, wodurch nur die unteren Fenster mittig<br />

in einem großzügigen Wandfeld liegen, und auf hohen bruchrauen Sandsteinsockeln<br />

aufsitzenden Erdgeschossfenstern mit am Dachgesims hängenden oberen Fenstern<br />

oder wiederum vollkommen frei in der Fläche sitzenden Segmentbogenfenstern und<br />

Rundbogentüren. Charakteristisch sind die geraden, leicht in die Wand vertieften<br />

Fensterstürze und die rhythmische, mal paarweise Gruppierung, mal durchgehende<br />

Engstellung der Fenster, so dass über die überlappenden Klappläden Fensterreihen<br />

entstehen, die am Ober- und Erdgeschoss unterschiedliche Gruppen bilden. Selbst<br />

die zentrierte Fensteranordnung <strong>des</strong> Einzelhauses ist als Gesamtheit aus der<br />

Mittelachse verrückt – eine vereinzelte Vorwegnahme der später von seinem<br />

damaligen Mitarbeiter Paul Schmitthenner systematisierten Gestaltungsweise.<br />

100-102 Richard Riemerschmid: Wohnhäuser, Hellerau


102<br />

103-107 Theodor Fischer: Haus Dohrn, Hellerau<br />

Etwas abseits <strong>des</strong> zentralen Platzes und der zeilenartigen Kleinhausbebauung errichtete<br />

der erste Vorsitzende <strong>des</strong> Werkbun<strong>des</strong> Theodor Fischer im locker bebauten<br />

und mit großzügigen Gärten angelegten Landhausquartier 1909 das Haus Dohrn als<br />

ländlich rustikale Variante von Goethes Gartenhaus bzw. von Metzendorfs Darmstädter<br />

Prototyp. Seine individuelle Eigenart erzielte Fischer durch die Bretterverschalung<br />

<strong>des</strong> Obergeschosses, der eine Holzleiste als Fensterbankgesims vorgelegt<br />

ist. Beide Elemente unterstreichen die horizontale Proportionierung <strong>des</strong> leicht breitgelagerten<br />

Baukörpers, <strong>des</strong>sen Dachhöhe nur drei Viertel der Wandhöhe und zugleich<br />

ein Drittel der Hausbreite beträgt. Auch die über zwei Fenster gezogene


103<br />

Fledermausgaube bestärkt diese Gestaltungsabsicht. Im Kontrast zur garten- und<br />

straßenseitig gelegenen Schauseite ist auf der rückwärtigen Eingangsseite ein Risalit<br />

mit Krüppelwalmdach, rundbogigem Küchen- und großem breitformatigem Atelierfenster<br />

angesetzt. Ein im Aufriss unterschlagener seitlicher Altan erweitert das<br />

Speisezimmer. Neben dem Altan weist auch der Grundriss mit seiner Lage von Eingangsflur,<br />

Treppe und den zu einem kleinen Saal miteinander verbundenen Wohnund<br />

Herrenzimmern einige Analogien zu Goethes Gartenhaus auf. In auffälliger<br />

Weise ist die Eingangsseite durch Lage und Format von Fenstern, Dachgaube,<br />

Kamin und korbbogiger Eingangstür frei gegliedert.<br />

3.3. Heinrich Tessenow: Häuserpaar im Heideweg<br />

Von 1910 bis 1914 baute Heinrich Tessenow neben einigen Einzelhäusern fünf<br />

Reihenhausgruppen In Hellerau. Mit ihren strengen hohen Giebeln ohne Dachüberstand<br />

bei bündig in der Wand sitzenden Fenstern ohne Klappläden sowie mit rein<br />

sachlicher Verteilung und nüchterner Achsenkonkordanz haben sie nach Meinung<br />

einer zeitgenössischen Kritik "den äußersten Grad der Einfachheit erreicht. Aber der<br />

puritanische Charakter dieser Häuser [...] findet nicht ganz den Beifall der Bewerber.<br />

<strong>Die</strong>se glauben hier einen gewissen Armeleutegeruch zu spüren und ziehen die sich<br />

freundlicher gebenden, aus guten Augen in die Welt blickenden Reihenhäuser<br />

Riemerschmids den kahlen Schöpfungen Tessenows vor" 131 .<br />

106-113 Heinrich Tessenow: Häuser<br />

am Heideweg, Hellerau<br />

Etwas unterhalb errichtete Tessenow 1910 im Landhausviertel zwei miteinander<br />

verbundene Walmdachhäuser nach unverkennbarem Vorbild. Auch bei ihnen trägt<br />

der verhaltene, doch zielgerichtete Einsatz vertikaler Proportionen zum nüchternen,<br />

beinahe unnahbaren Ausdruck <strong>des</strong> zwar breitgelagerten Wandkörpers, doch mit<br />

Dach insgesamt höheren als breiten Hauses bei. Ihre für diesen Bautyp beträchtlichen<br />

Raumhöhen tragen zum hohen Anteil an Wandflächen bei, wie am Abstand


104<br />

zwischen unteren und oberen Fenstern ablesbar ist. <strong>Die</strong>se Gestaltungsabsicht wird<br />

in der im Vergleich zum Baugesuch noch etwas angehobenen Trauflinie deutlich.<br />

Wesentlichen Anteil daran hat auch die mit 83 Grad beispiellos steile Neigung der<br />

Walmseiten, von denen sich die Gauben nur noch rudimentär absetzen können. <strong>Die</strong><br />

bei gleicher Sprossung etwas höheren Erdgeschossfenster und die auf gestreckte<br />

Schlankheit hin gestaltete Sprossung der Eingangstür und ihrer Klappläden verstärken<br />

diese Wirkung. <strong>Die</strong>se reduktionistische Ästhetik beschränkt sich ganz auf<br />

wenige puristische Gestaltungssignale: <strong>Die</strong> Symmetrie wird nur durch die Schornsteine<br />

gebrochen, die in der Vorzeichnung noch regelmäßig auf dem First sitzen. So<br />

steil das Dach ist, so flach gibt sich die Andeutung einer subtil ausschwingenden<br />

Verdachung über der Tür, die in der Vorzeichnung und im Baugesuch noch bis über<br />

die Klappläden reicht. Mit dieser Konzentration der feinen linearen Strukturierung auf<br />

die Eingangstür korrespondieren nur die aus Ziegeln gemauerte Terrasse und der<br />

Zugangsweg, <strong>des</strong>sen unwesentlich höhere Bordüre ebenso wie die Gesimslinie am<br />

Dach zu nichts mehr dient, als einen hauchdünnen Schatten zu werfen. Präzise<br />

kontrastiert die Struktur der kniehohen Stützmauer zur Straße aus rohen Ziegeln mit<br />

der verputzten Umfassungsmauer der Terrasse. Angesichts dieser asketischen<br />

Attitude stellen die auf den Vorpo<strong>des</strong>ten beider Häuser platzierten Putten einen<br />

geradezu frappierenden Ausdruck von Luxus dar. <strong>Das</strong>s sie ausgerechnet Füllhörner<br />

als Symbole <strong>des</strong> Überschwangs ausschütten, muss schon als ironischer, beinahe<br />

spöttischer Fingerzeig <strong>des</strong> Architekten gedeutet werden.<br />

109 Straßenseite 110 Vorzeichnung


105<br />

Weitere Details sind erwähnenswert: <strong>Die</strong> gespreizte Wirkung der nach außen gerückten<br />

seitlichen Fensterachsen der Gartenseite wird durch die Breite der teilverglasten<br />

Veranda bedingt. <strong>Die</strong>se verbirgt eines der beiden schmalen Fenster, die der<br />

Gartenseite ihre Asymmetrie bescheren. <strong>Das</strong> kaum zu bezeichnende Etwas von<br />

einer Dachgaube zur Belichtung <strong>des</strong> Treppenflurs kann als weitere formale Zuspitzung<br />

verstanden werden. Vom Grundriss über die Kamine bis zum Verbindungsgang<br />

mit gemeinsamen Zeltdachschuppen sind beide Häuser exakt spiegelbildlich angelegt.<br />

Sie unterscheiden sich nur in den voneinander abgewandten Schmalseiten, was<br />

durch das über die ganze Haustiefe verlaufende Wohnzimmer <strong>des</strong> linken Hauses<br />

motiviert ist, jedoch für die Obergeschosse keine funktionale Begründung findet. Mit<br />

zwei weiteren, sonst nirgendwo verwendeten Fenstertypen entwickelt einzig diese<br />

Schmalseite das formale Thema der Breitenlagerung.<br />

An dem dreizonigen Grundriss mit Querflur fällt der Niveausprung für WC und<br />

Speisekammer auf, der durch den darunter befindlichen nur teilversenkten einzigen<br />

Kellerraum bedingt ist. Weiterhin wird viel Raum für die getrennten Flure von Eingang<br />

und Treppenhaus verwandt, während im Gegenzug eine extrem kleine Kammer in<br />

der prominenten Mitte <strong>des</strong> Obergeschosses abgeteilt ist.<br />

112-113 Ober- und Erdgeschosse <strong>des</strong> Häuserpaars am<br />

Heideweg, Hellerau


106<br />

<strong>Die</strong> mit geringsten Mitteln erzielte individuelle Ästhetisierung <strong>des</strong> Bautyps macht<br />

diese beiden Häuser im Kontext von Tessenows minimalistischen einstöckigen<br />

Satteldachhäusern in Hellerau und der benachbarten Interpretation eines Zeltdachhauses<br />

zu einem Markstein in der architektonischen Entwicklung der frühen Moderne,<br />

ebenso wie Behrens' Haus Schroeder mit seiner aufwendigen Wandinstrumentierung<br />

einen nicht weniger bedeutsamen Gegenpol darstellt.<br />

1917 zeichnete Tessenow nochmals einen Beitrag zum Walmdachbautyp. So unwesentlich<br />

die Unterschiede sein mögen, sie veranschaulichen die akribische Aufmerksamkeit,<br />

die er der kunstvoll komponierten Variation dieses Hausthemas widmet:<br />

Beachtenswert ist der engere Achsenrhythmus mit breiteren Wandfeldern zu den<br />

Ecken, der mittige einzige Schornstein in Korrespondenz zur minimalistischen<br />

Verdachung der Eingangstür, weiterhin die schmale Backsteinrustizierung der Türwangen<br />

im Verhältnis zur Breite <strong>des</strong> Zugangsweges und der Antrittsstufen. <strong>Das</strong><br />

aufstrebende wulstige Dachgesims trennt die Wandfläche vom überhanglosen Dach.<br />

Ein quadratisch eingefasster, blumenloser Vorgarten wird durch zwei in betontem<br />

Kontrast kleinteilig gegliederte Tore mit gequaderten Pfosten und dekorativer Bekrönung<br />

mit Pyramiden und Kugeln gefasst – ein pointierter Bauschmuck, <strong>des</strong>sen<br />

Intention mit den Hellerauer Putten vergleichbar ist. Tessenows markanter pointillistischer<br />

Zeichenstil verdeutlicht seine Absicht, glatte Flächen und strukturierte Texturen<br />

gegenüberzustellen. So sind die lamellenlosen glatten Klappläden ein nicht zu<br />

unterschätzender Bestandteil dieser Variation und belegen erneut die Aufmerksamkeit,<br />

die die anspruchsvollen unter den traditionalistischen Architekten jedem<br />

kleinsten Detail widmen.<br />

114 Heinrich Tessenow: <strong>Wohnhaus</strong>entwurf


107<br />

Mit diesen Bauten von Metzendorf, Fischer und Tessenow ist der Typ in der dreiachsigen<br />

Variante in der Architekturlandschaft Deutschlands offiziell eingeführt. Ob<br />

Goethes Gartenhaus hierbei nun als Vorbild gesehen wird oder nicht, so wird doch<br />

deutlich, dass die einprägsame bildhafte Gestalt dieses Hausmotivs nicht allein<br />

durch die allgemeinen Faktoren wie Walmdach oder Dreiachsigkeit bestimmt wird,<br />

sondern dass die spezifische Ausdrucksstärke der Gesamterscheinung durch eine<br />

gewisse und von Fall zu Fall unterschiedliche individuelle Proportionierung der<br />

Details in Relation zum Ganzen erzielt wird. Fischers Haus Dohrn fällt allein durch<br />

die Begrenzung der Dachhöhe und die Zweiteilung der Wandfläche bereits ab.<br />

Wichtige Faktoren zur scheinbar urtümlichen Wirkungskraft können demnach in der<br />

Kompaktheit und in einer ausgewogenen Ausrichtung zwischen Höhe und Breite<br />

gesehen werden, die durchaus innerhalb eines gewissen Spielraums schwingen<br />

kann und vereinzelt dann doch eher einen leichten Ausschlag zur Betonung der<br />

Höhe erfährt. In den Proportionen von Wandkörper und Dach – je<strong>des</strong> für sich<br />

betrachtet – sowie ihrem Zusammenwirken zu einer Einheit findet sich die grundlegende<br />

Disposition einer formalen Dualität, die um das Formprinzip <strong>des</strong> harmonischen<br />

Zusammenfalls der Gegensätze oszilliert – der sogenannten Coincidentia<br />

Oppositorum – , ohne einen einzigen idealen Gleichklang finden zu können oder<br />

überhaupt anstreben zu wollen.<br />

Interessanterweise baute Tessenow 1911 nochmals ein Walmdachhaus in Hellerau<br />

– das Haus Gehlig im Tännichtweg –, bei dem er wie im Gegenversuch die Prinzipien<br />

seiner feinnuancierten Ordnung konterkarierte. <strong>Die</strong>smal sind Sockel, Eckrustizierung<br />

und Dachgesims in rotem Ziegelstein als Wandrahmung ausgeführt, ebenso<br />

bei drei unterschiedlichen erdgeschossigen Anbauten mit jedoch höher gemauerten<br />

Sockeln. Am Haus sind insgesamt acht verschiedene Fensterarten mit jeweils<br />

eigenen Sturzhöhen verwendet, alle drei Dachgauben sind unterschiedlich und keine<br />

der Fassaden ist symmetrisch gestaltet. Pro Fassadenseite ist eine Achsenkonkordanz<br />

eingehalten, doch im Übrigen sind die Öffnungen frei nach inneren<br />

115-116 Heinrich tessenow: Haus am Tännichtweg, Hellerau


108<br />

Erfordernissen, wenn nicht sogar auch ein wenig willkürlich verteilt. Dachhöhe und<br />

-neigung sind unprägnant gewählt. Der lieblose unbedachtsame Gestaltungseindruck<br />

ist auf der Vorzeichnung sogar noch irregulärer vorgesehen als am realisierten<br />

Bau. Eindeutig erklärbar ist dieser Versuch nicht, außer im Ausloten einer ultima<br />

ratio, einer Ästhetik <strong>des</strong> gewollt Irregulären, die einer immanenten Logik der additiven<br />

und lapidaren, also die Bedeutungsebenen der zielgerichteten Fassadenordnungen<br />

negierenden Gestaltung folgt. <strong>Die</strong>se auf sich selbst bezogenen, ebenso<br />

ironisierenden wie spielerischen Tendenzen gezielt informeller Gestaltung werden<br />

allerdings zeitgleich auch in der Wiener Schule um Adolf Loos und Josef Frank<br />

praktiziert und dürften auf dem freien Rhythmus der englischen Landhäuser aufbauen.<br />

132 So kann nicht verwundern, dass dieses Haus in keiner Weise von der<br />

Publizistik berücksichtigt wurde und somit auch keinen Widerhall in der öffentlichen<br />

oder fachlichen Wahrnehmung fand, auch nicht im diskursiven Vergleich mit den<br />

beiden Häusern am Heideweg. 133<br />

4. <strong>Die</strong> zweite Welle<br />

Eine langsame Fortführung der bis 1910 erreichten Positionen charakterisiert die<br />

Entwicklung ab 1911 bis zum Ende <strong>des</strong> Ersten Weltkriegs. Auch der Klassizismus<br />

lebt vorrübergehend wieder auf. Im Wesentlichen bleibt die Anwendung <strong>des</strong> Bautyps<br />

auf die bereits eingeführten Architekten beschränkt. Hinzu kommt nun Hermann<br />

Muthesius, der in Hellerau Landhäuser baut, welche im Gegensatz zu den für ihn<br />

typischen groß<strong>bürgerliche</strong>n Herrenhäusern eine relative Bescheidenheit formulieren.<br />

Behrens' geometrisch-klassizisierender Beitrag zu dieser Periode mit dem Haus<br />

Schroeder wurde bereits behandelt. In dieser Nachfolge kommen nun die wenig bekannten<br />

frühen Bauten von Mies van der Rohe und die große Beachtung findenden


109<br />

Landhäuser von Paul Bonatz hinzu.<br />

Während <strong>des</strong> Ersten Weltkriegs ebbt die Bauproduktion im Privathaussektor fast<br />

vollständig ab. Exakt diesen Zeitraum füllt das Lehrwerk Friedrich Ostendorfs mit<br />

einer programmatischen Einführung <strong>des</strong> Walmdachbautyps in die Architekturtheorie<br />

<strong>des</strong> <strong>20.</strong> <strong>Jahrhunderts</strong> aus. Schließlich baut der die vierte Phase bestimmende Paul<br />

Schmitthenner schon während <strong>des</strong> Krieges die Gartenstadt Staaken bei Berlin, deren<br />

Finanzierung vom Innenministerium gesichert wird, um Arbeiter der Spandauer<br />

Munitionsfabrik und Kriegsheimkehrer unterzubringen. <strong>Die</strong>se Antwort auf Hellerau<br />

wird zunächst als beispielgebend für den Siedlungsbau der Nachkriegszeit gesehen<br />

und zeigt Schmitthenners anfänglich noch unausformulierte Aufnahme <strong>des</strong> Bautyps.<br />

117 Herrmann Muthesius: Entwurf Landhausviertel, Hellerau<br />

Vergleichsweise konventionell und schematisch erweist sich der unrealisierte Entwurf<br />

einer einheitlichen Landhauskolonie aus 17 Ein- und Zweifamilienhäusern mit<br />

Walmdächern, den Muthesius 1911 für Hellerau einschließlich eines dem Linnel<br />

Close in Hampstead ähnlichen Gevierts erstellt. 134 <strong>Die</strong> schließlich ausgeführten<br />

Bauten, von ihm als "kleine Einfamilienhäuser" apostrophiert, muten mit rechteckigen,<br />

polygonalen oder halbrunden Erkern jedoch villenartig an. Sehr den englischen<br />

Vorbildern verpflichtet zieren manche Häuser auch polygonale Eckrisalite mit dazwischen<br />

in den Hauskörper eingezogenen Balkonen und Veranden, alles mit ein-


110<br />

heitlichen geradlinigen Walmdächern überspannt. Auffällige Zwerchhäuser, Dachhäuschen<br />

und Gauben mit Dreiecks- und Schweifgiebeln aus stufig abgesetzten<br />

weißgestrichenen Balkenrahmen zieren seine Bauten und dokumentieren die im<br />

Zeitvergleich zwar recht zurückhaltenden, doch immer noch deutlich visualisierten<br />

Klassenunterschiede der Bewohner der Gartenstadt.<br />

Insgesamt zeigt sich der Versuch, einerseits die Erfordernisse eines kostengünstigen,<br />

mit typisierten Bauelementen vielfach wiederholbaren Kleinhauses für untere<br />

und mittlere Einkommen zu befriedigen und andererseits in größeren Dimensionen<br />

und mit schmückenden Details die reduzierten, doch immer noch klar formulierten<br />

Repräsentationsbedürfnisse der vermögenden Bauherren zu bedienen. Repräsentation<br />

wird im Milieu der Reformarchitekten, trotz der postulierten Abkehr vom Historismus,<br />

durch einen klassizistischen Fassadenaufbau verschiedener Graduation<br />

verwirklicht. Streng formale Beispiele finden sich von 1910 mit Ostendorfs Heidelberger<br />

Haus Krehl über das 1915-17 erbaute Berliner Haus Urbig von Mies van der<br />

Rohe bis 1922/24 mit Muthesius' Berliner Haus Tuteur. 135 Strenge Axialität, Lisenen<br />

oder Pilaster, Kranzgesimse, Eingangsportiken oder Balkone zur Betonung der Mitte<br />

kennzeichnen das Gestaltungsrepertoire. Gerade Muthesius' Abkehr von der aufgegliederten<br />

ländlichen Rustikalität ist bezeichnend.<br />

4.1. Paul Bonatz: Häuser Bonatz II und Kopp<br />

Eine nur verhalten klassizisierende Architektursprache, die den Baukörper an sich<br />

deutlicher zur Wirkung kommen lässt und die Repräsentation aus dem Vordergrund<br />

nimmt, führen die ausgereiften Landhäuser von Paul Bonatz vor. Beim Haus Kopp<br />

und Bonatz' zweitem eigenen <strong>Wohnhaus</strong>, beide 1911 im rechtem Winkel zueinander<br />

auf einer nach Nordosten und Nordwesten abfallenden exponierten Hangkuppe in<br />

Stuttgart erbaut, wird die Breitenlagerung durch serielle enge Fensterabfolgen<br />

gesteigert. 136 <strong>Die</strong> sich fast berührenden Klappläden und die Rankgerüste stellen<br />

stockwerksweise Verbindungselemente dar, die durch fensterbank- und friesartige<br />

Dachgesimse unterstützt werden.<br />

118-119 Paul Bonatz: Haus Kopp, Stuttgart


111<br />

Am Haus Kopp verbinden Kapitelle die Erdgeschossfenster, so dass der Eindruck<br />

von Pilastern entsteht. <strong>Die</strong> äußeren Kapitellstücke zeigen jedoch ungeschminkt ihre<br />

zitathafte Vorblendung auf der flachen Wand. <strong>Die</strong> ungegliederte Wandfläche zwischen<br />

Ober- und Erdgeschossfenstern unterstützt somit die Horizontalbetonung zusammen<br />

mit Fries, Gesims und der suggestiven Verbindungslinie der Kapitelle. <strong>Die</strong><br />

geschlossenen Wandfelder zu den Ecken bilden einen stabilisierenden Rahmen<br />

gegen die Gefahr eines formalen Auseinanderdriftens. Ein relativ hoch angesetzter<br />

geschwungener Dachfuß bindet gerade auch das Dach in die Horizontalität mit ein.<br />

Zusammen mit den schmalen hohen Erdgeschossfenstern trägt er zum besonderen<br />

Ausdruck einer eleganten Gestelztheit bei. Eine spannungsvolle Note erzeugen die<br />

unterschiedliche Achsenzahl pro Stockwerk und ein ebensolcher Achsrhythmus an<br />

der Gartenfassade, während an der Eingangsseite die unüblich seitlich angeordneten<br />

Balkone die Aufgabe <strong>des</strong> eleganten Taktwechsels und Einrahmens übernehmen.<br />

<strong>Die</strong> ebenso langen wie schmalen Grundrisse beider Häuser verhindern die Anlage<br />

einer mittigen querliegenden Raumfolge von der Eingangshalle zum Wohnraum, so<br />

dass die traditionelle Querteilung unterbleibt. Vielmehr kann die Raumanlage als<br />

zwei gekoppelte Vier-Felder-Grundrisse gelesen werden, was eine abwechslungsreiche<br />

Folge von längs- und querorientierten Räumen ergibt. Beim Haus Kopp<br />

werden die seitlichen Räume zudem konsequent von der Schmalseite <strong>des</strong> Hauses<br />

her belichtet. Bei aller gestalterischen Komposition der Fassade hat Bonatz keine<br />

Scheu, verschiedenartige kleine Fenster der Nebenräume asymmetrisch dazwischen<br />

zu schalten. Klassizistische Bauteile beschränken sich punktuell auf den Eingangsportikus<br />

oder die Erker. <strong>Die</strong> Konsolklötzchen unter den Fensterbänken, die<br />

Spiralvoluten der Balkonkonsolen und das Wellenfries am Haus Kopp scheinen<br />

dagegen secessionistisch beeinflusst. Auffällig ist auf Fenstergewände verzichtet.<br />

Nicht einmal eine Putzrahmung vermittelt zu den unmittelbar in die Wand geschnittenen<br />

Laibungen. Eine Bogensprossung der Erdgeschossfenster in rechteckigem<br />

Rahmen nimmt motivisch die Rundbogenfenster der Dachgauben auf.<br />

120-125 Paul Bonatz: Haus Bonatz II, Stuttgart. Gartenseite 125 Eingangsseite


112<br />

121 Gartenseite 122 Wohnzimmer<br />

123-124 Ober- und Erdgeschoss<br />

ndividuell sind beim Haus Bonatz alle talseitigen Räume drei Stufen tiefer gelegt als<br />

die bergseitigen. <strong>Die</strong>se strukturelle Differenzierung in zwei Längsachsen wird räumlich<br />

durch die mit Geländern gesicherte Öffnung der Treppenhalle zum Wohnzimmer<br />

über drei großflächige Durchbrüche artikuliert. Im Unterschied zum abgebildeten<br />

Grundriss ist nicht die mittlere, sondern die linke Öffnung als Durchgang mit Stufen<br />

versehen. In der gleichen Achse <strong>des</strong> Eingangs führt die Fenstertür über vier Stufen<br />

zur Terrasse hinaus, von wo der Garten über Gelän<strong>des</strong>prünge weiter abtreppt. <strong>Die</strong><br />

Hanglage mit Blick auf den Stuttgarter Talkessel ist damit in die Gebäu<strong>des</strong>truktur<br />

aufgenommen. <strong>Die</strong>se topographische Besonderheit ist für beide Häuser bestimmend,<br />

auch für das Haus Kopp ohne Niveausprung in der Wohnebene, doch mit<br />

einer schmalen vermittelnden Terrasse vor dem etwas tiefer liegenden planierten<br />

Garten.


113<br />

<strong>Die</strong> betont gedehnte hangparallele Breitenlagerung mit identischer Wand- und Dachhöhe<br />

beim Haus Kopp oder einer doppelt so langen Firstlänge zur Wandhöhe beim<br />

Haus Bonatz, jeweils mit leicht die Steilheit betonender 55-Grad-Neigung <strong>des</strong><br />

Daches, sollte sich als ideale Anlage für die Stuttgarter Topographie mit ihren weitläufigen<br />

fast rings um das Zentrum führenden Aussichtslagen erweisen. <strong>Die</strong>se das<br />

Bauwesen der "Stuttgarter Schule" mitbestimmende Charakteristik wurde vielfach<br />

aufgenommen, denn im Gegensatz zur zentrierten hohen Anlage historistischer<br />

Villen bot sie den Bewohnern eine auf die lokalen Besonderheiten besser eingehende,<br />

viel eigenständigere Ausrichtung auf Garten und Fernblick. <strong>Die</strong> exponiert stehenden<br />

Häuser hinterließen für die entfernten Betrachter einen ebenso großzügigen wie<br />

gemütlichen Eindruck. Bonatz und Scholer hatten damit von ihren ersten, quer zum<br />

Hang stehenden eigenen Häusern von 1908, mit bereits angelegtem gleichartigem<br />

Gestaltungsrepertoire, hin zu den Häusern Bonatz II und Kopp den entscheidenden<br />

formalen Schritt zur signalhaft optimierten und konzentrierten Wirkung <strong>des</strong> Haustyps<br />

geleistet, welche von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen werden konnte.<br />

Bonatz' publikumswirksame Erfolge beim Hauptbahnhof Stuttgart, der Stadthalle<br />

Hannover, der Universitätsbibliothek Tübingen und zahlreichen anderen öffentlichen<br />

Bauten dürften die Aufmerksamkeit auch auf diese neuartigen Wohnhäuser gelenkt<br />

haben, die von den nicht so prägnanten und weniger beachteten Hanglagebauten<br />

seines Lehrers Theodor Fischer direkt vorbereitet wurden. Hinsichtlich der Öffentlichkeitswirksamkeit<br />

für die damalige Zeit dürfte auch nicht zu unterschätzen sein,<br />

daß das Häuserpaar Bonatz I und Scholer unmittelbar an der Bahnlinie Stuttgart -<br />

Zürich lag und das Häuserpaar Bonatz II und Kopp von verschiedenen Aussichtspunkten<br />

<strong>des</strong> Zentrums und der Höhenlagen aus sichtbar war.<br />

4.2. Ludwig Mies van der Rohe<br />

Regelmäßig schematisierte Walmdach-Landhäuser, nun fast ohne klassizisierenden<br />

Fassadenaufbau, baute Mies van der Rohe in Berlin mit den Häusern Perls 1910-11,<br />

Urbig 1915-17, Feldmann 1922 und Mosler 1924-26. Einen besonderen Beitrag zur<br />

reformistischen Architektur leistete er allerdings auch über die Grundrisse nicht. Aufgrund<br />

seiner Bedeutung für den prononciert avantgardistischen Anspruch von Bauhaus<br />

und Neuer Sachlichkeit können diese in älteren Biographien gern unterschlagenen<br />

Bauten dennoch als Beispiel für die Bedeutung <strong>des</strong> Bautyps in der ursprünglichen<br />

Baupraxis der später funktionalistischen und ebenso doktrinär gegen den<br />

Traditionalismus gerichteten Vordenker der Moderne dienen. <strong>Das</strong>s ausgerechnet<br />

Mies beide Richtungen eine Zeit lang parallel verfolgte, verdeutlicht die zeitgerechte


114<br />

Modernität <strong>des</strong> Walmdachbautyps sowie die Verankerung der traditionalistischen<br />

Reform im Kontext der allgemein anerkannten Moderne und relativiert die scheinbare<br />

spätere Unvereinbarkeit der Baugesinnungen.<br />

Versetzt man sich in die Perspektive der damaligen Protagonisten der Architektur-<br />

Avantgarde, dann stellt sich gerade angesichts der kurz darauf erfolgten Konfrontation<br />

der beiden modernen Strömungen die Frage, warum quasi von einem Jahr<br />

zum anderen plötzlich veraltet und reaktionär sein sollte, was bis dahin als Konsens<br />

<strong>des</strong> Fortschrittlichen galt, seine visionären Ziele noch lange nicht erreicht hatte, und<br />

dabei von einer breiten Akzeptanz getragen wurde. Und von vielen Verfechtern <strong>des</strong><br />

Neuen Bauens wussten die Insider, dass sie bis dato die gleiche nun verleugnete<br />

Bauauffassung vertreten hatten.<br />

126 Ludwig Mies van der Rohe: Haus Mosler, Berlin 127-129 Ludwig Mies van der Rohe: Haus Urbig, Berlin<br />

128 Erdgeschoss 129 Eingangsseite<br />

Ohne ausgeprägte individuelle Note bewegen sich diese Häuser von Mies van der<br />

Rohe einfach auf der Höhe ihrer Zeit und bestätigen die sachliche Nutzbarkeit <strong>des</strong><br />

Grundrisses mit zwei Längs- und drei Querzonen, auch oder gerade für die Anforderungen<br />

eines technisch modernen und komfortbewussten <strong>bürgerliche</strong>n Haushalts


115<br />

mit den zeittypischen Nebenräumen einer Garderobe, Anrichte, Ankleide, Nebentreppe<br />

oder mehreren Bädern. Auffällig verbannt Mies häufig die Küche vom Erd- in<br />

das Untergeschoss, von wo die Speisen umständlich mit einem Speiseaufzug in die<br />

Anrichte transportiert werden müssen. Der praktische Nutzwert einer ebenerdigen<br />

Verbindung zum Speisezimmer wird hier zugunsten der Nobilitierung <strong>des</strong> Hauptgeschosses<br />

aufgegeben. Auch die Enfilade der Gesellschaftsräume Herrenzimmer -<br />

Bibliothek - Musikzimmer - Speisezimmer deutet ohne Erwähnung <strong>des</strong> Begriffs<br />

"Wohnen" auf die Dominanz <strong>des</strong> repräsentativen Gästeempfangs hin. <strong>Das</strong>s diese<br />

traditionalistischen Bauten von Mies im Vergleich zu denjenigen anderer Protagonisten<br />

der Reformbewegung noch am konservativsten und konventionellsten sind,<br />

entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Keinerlei Bestrebung nach Funktionalität oder<br />

Konzentration auf das innere Gefüge lässt sich an der Befensterung von Garderobe,<br />

Waschraum und Toilette beim Haus Urbig erkennen. Ihre hohen französischen<br />

Fenster stimmen formalistisch mit denjenigen <strong>des</strong> Herrenzimmers mit äußeren<br />

Supraportareliefs überein.<br />

4.3. Friedrich Ostendorf: "Sechs Bücher vom Bauen"<br />

Seinen ersten Niederschlag in einem theoretischen Werk <strong>des</strong> <strong>20.</strong> <strong>Jahrhunderts</strong>, das<br />

eine gewisse Breitenwirkung hatte, fand die Renaissance <strong>des</strong> Walmdachhaustyps in<br />

Friedrich Ostendorfs "Sechs Bücher vom Bauen". 137 Bis zu diesem Zeitpunkt war sie<br />

eine Angelegenheit der Baupraxis gewesen, hervorgegangen aus parallel erfolgten<br />

Lösungsansätzen verschiedener Architekten als Reaktion auf gleichartige Problemstellungen.<br />

<strong>Die</strong> zuvor genannten gegenwartskritischen und retrospektiven Publikationen<br />

hatten diese Schritte mit angestoßen. Ein gemeinschaftlicher Diskurs über diese<br />

Initialbauten anhand vereinzelter Veröffentlichungen oder persönlicher Kontakte und<br />

Besichtigungen kann allerdings nicht rekonstruiert werden.<br />

Von den "Sechs Büchern" <strong>des</strong> Karlsruher Architekturprofessors und großherzoglich<br />

badischen Oberbaurats erschienen 1913-14 die ersten beiden Bände und nach<br />

Ostendorfs Soldatentod im Ersten Weltkrieg der dritte Band posthum 19<strong>20.</strong> Weitere<br />

Bände wurden nicht mehr bearbeitet. Ostendorf propagierte einen Entwurfsprozess<br />

zur Findung der "einfachsten Erscheinungsform". <strong>Die</strong>se fand er in einer allgemeingültigen<br />

Tradition, die über die Stilphasen der Vergangenheit hinweg die Grundlage<br />

für eine qualitätssichernde Baukultur gewesen sei. Um diesen verlorengegangenen<br />

unkonkreten Gestaltungscodex wieder herzustellen, geißelte er die künstlerische<br />

Originalitätssucht und empfahl die Anknüpfung an Bauformen der Alltagsarchitektur<br />

<strong>des</strong> 18. <strong>Jahrhunderts</strong>. In seinen Entwürfen führte dieses Bestreben allerdings zu


116<br />

einem schematischen trockenen Neobarock oder zu ebenso uninspiriert steifen<br />

Anklängen an den Klassizismus Friedrich Weinbrenners. Ostendorfs Entwürfe zu<br />

Walmdachhäusern dürften auch südbadische Vorbilder gehabt haben und präsentieren<br />

sich mit Segmentbogenfenstern mit Schlusssteinen, geohrten Steinrahmungen<br />

oder barock vergitterten Oberlichtfenstern. Selbst wenn sie Asymmetrien aufweisen,<br />

wirken diese hölzern. <strong>Das</strong>s nach anfänglichen kontroversen Kritiken Ostendorfs<br />

unvollständig gebliebene Ansätze der Vergessenheit anheim fielen, kann daher nicht<br />

überraschen. Ihre Bedeutung haben diese Schriften dennoch, weil sie die<br />

Aufmerksamkeit der Fachwelt auf den Walmdachtyp lenkten und Muthesius'<br />

Forderung nach Auffindung einer eigenen Baukultur konkret umsetzten, ohne dass<br />

Ostendorf ein typgerechtes Walmdachhaus je in der Praxis realisierte.<br />

130 Friedrich Ostendorf: Landhausentwurf<br />

131-133 Friedrich Ostendorf: Typstudien<br />

132 Negativbesipiele, links in Stil der Wiener Secession


117<br />

<strong>Die</strong>se grob geschnittenen Vorstellungen Ostendorfs sollten später durch Paul<br />

Schmitthenner aufgegriffen und um entscheidende Nuancen verändert, sowie von<br />

einer eloquenten Baupraxis untermauert, zu großer Akzeptanz geführt werden.<br />

Schmitthenner war wie Ostendorf ein Schüler Max Läugers in Karlsruhe und könnte<br />

Ostendorf dort auch kurz vor Beginn von <strong>des</strong>sen Lehrtätigkeit begegnet sein.<br />

Interessant ist die bei Ostendorf dogmatisch und sektiererisch formulierte, bei<br />

Schmitthenner dann taktvoll und fakultativ dargelegte These, wonach die Vermittlung<br />

vereinfachter Typen dazu beitrage, dass unbegabte Architekten in ihrer Anwendung<br />

wenigstens kein besonderes Unheil anrichten würden. Während Ostendorf in dieser<br />

stilistisch strengen Bezugnahme – bei ihm also auch eine Form von Historismus –<br />

den einzig richtigen Weg gefunden zu haben glaubte und die Möglichkeit strikt<br />

ablehnte, darüber hinaus mittels Architektur Stimmungen zu erzeugen, sollte<br />

Schmitthenner später die schematische Anwendung von Typen als sinnvolles<br />

Handwerkszeug für durchschnittlich begabte Architekten erachten, deren sinnliche<br />

Umsetzung und auch Überwindung immerhin den "wirklichen Baumeistern"<br />

vorbehalten sein würde.<br />

133-137 Friedrich Ostendorf: Typstudien in individueller Variation 136-137 Ober- und Erdgeschoss


118<br />

4.4. Paul Schmitthenner: Gartenstadt Staaken<br />

Paul Schmitthenner erlangte mit dem Bau der Gartenstadt Staaken am Stadtrand<br />

von Berlin nationale Bekanntheit. 138 In der ab 1913 geplanten und 1914-18 ausgeführten<br />

Kleinstadt errichtete er 793 Wohneinheiten. Während der ersten Bauphase<br />

von Hellerau hatte er im Büro von Riemerschmid gearbeitet und diesen Erfahrungsschatz<br />

bei seiner ersten kleinen Siedlung in Breslau noch ganz im Vokabular<br />

Riemerschmids angewandt. In Staaken setzte er systematisch die Bestrebungen<br />

<strong>des</strong> Werkbunds zur Typisierung um, indem er verschiedene seriell reproduzierbare<br />

Grundriss- und Aufrisstypen mit Variationen von Dachformen und Eingangstreppen<br />

so miteinander kombinierte, dass eine größtmögliche Vielfalt <strong>des</strong> Erscheinungsbil<strong>des</strong><br />

zum Eindruck einer nicht wild, aber planvoll gewachsenen Kleinstadt beitrug.<br />

So gestaltete er auch zahlreiche Walmdachbauten als Ein- und Mehrfamilienhäuser<br />

von zwei bis fünf Achsen, einzeln stehend oder in Gruppen, die durch einstöckige<br />

Flügel miteinander verbunden sind oder sich durch Vorsprünge aus längeren Baulinien<br />

absetzen. Während diese Bauten mit ihren wenigen Wohneinheiten pro Haus<br />

und ihrem <strong>bürgerliche</strong>n Habitus auch zur Hierarchisierung <strong>des</strong> sozialen Gefüges der<br />

Einwohnerschaft beitragen, so liegt der Haupteffekt der Einzelfallentscheidung für<br />

den Walmdachtyp in der Diversifikation der Straßenbilder. Es sollte nämlich kein<br />

organisch gewachsenes Dorfbild mit von Haus zu Haus unterschiedlichen Individuen<br />

entstehen. Vielmehr sollen homogene, ein Gemeinschaftsgefühl erzeugende<br />

Straßenbilder sich durch bestimmte Motivwiederholungen, serielle Typfolgen und<br />

gefasste oder geöffnete Raumbildungen von anderen Straßenzügen und Platzbildern<br />

klar unterscheiden, dadurch wiedererkennbar sein und zur Identifikation der<br />

Bewohner beitragen. Im Geflecht von Einheitlichkeit und Vielfalt wird bei allem<br />

Material- und Dachformenwechsel durch die unverkennbare Handschrift <strong>des</strong> Architekten<br />

die künstlerische Einheit gewahrt.<br />

138 Paul Schmitthenner: Gartenstadt Staaken, Berlin


119<br />

Besondere Aufmerksamkeit wurde Staaken zuteil, weil es durch das damalige Innenministerium<br />

finanziert wurde, das die Förderung von Typisierung und Normung<br />

als erstes großes Modellprojekt für die Siedlungen der Nachkriegszeit auch hinsichtlich<br />

der Kriegsheimkehrer betrachtete. 139 Dabei darf nicht übersehen werden,<br />

dass ungefähr im gleichen Zeitraum andere kleinere Werkssiedlungen und Gartenvorstädte<br />

realisiert wurden, die sich ebenfalls <strong>des</strong> schlichten kostengünstigen Walmdachtyps<br />

als Arbeiterhaus bedienten. Spätere Bauphasen der Essener Margarethenhöhe<br />

und die Gartenstadt Hüttenau bei Blankenstein an der Ruhr von Metzendorf<br />

sind als Beispiele zu nennen, oder das Zeppelindorf in Friedrichshafen von Bonatz<br />

neben weiteren Siedlungen im Ruhrgebiet, deren Architekten aus den Baubüros<br />

großer Konzerne anonym blieben. 140<br />

139 Paul Bonatz: Zeppelindorf, Friedrichshafen<br />

Siedlungen wie das Zeppelindorf mit durchweg eingeschossigen Walmdachhäuschen<br />

trugen in der damaligen, für das etablierte Bürgertum höchst prosperierenden<br />

Zeit <strong>des</strong> Kaiserreichs zur Gleichsetzung <strong>des</strong> Bautyps mit ärmlichem Arbeitermilieu<br />

bei. Erst nach der sozialen Umwälzung <strong>des</strong> verlorenen Krieges und der wirtschaftlichen<br />

Rezession änderte sich diese kollektive Wahrnehmung. Dennoch ist der<br />

Reformansatz zur Hebung der Wohnverhältnisse in kleinsten Einheiten mit Garten<br />

zur teilweisen Selbstversorgung deutlich. Bonatz' Individualstil äußert sich in den<br />

betont hohen Dächern, dem schweizerisch hoch angesetzten Knick <strong>des</strong> geschleppten<br />

Dachfußes mit weitem Überstand und den Dachhäuschen mit verbretterter<br />

Giebel-fläche.<br />

Am Beispiel eines Staakener Vierfamilienhauses von 1914 wird deutlich, wie<br />

Schmitthenner in seinem Frühwerk breite dreiflügelige mit hochformatigen Fenstern<br />

kombiniert. In Umkehrung von Metzendorfs Vorliebe wird ein Gurtgesims so tief


120<br />

140 Paul Schmitthenner: Arbeiter-Vierfamilienhaus, Staaken 141 Vorzeichnung<br />

angesetzt, daß die Erdgeschossfenster ebenso an ihm hängen wie die Obergeschossfenster<br />

am Dachgesims. Letzterem wird besondere gestalterische Sorgfalt<br />

gewidmet: Es schwingt in vielgliedrigem Profil aus und bildet eine formale Einheit mit<br />

Dachrinne und geschwungenem Dachfuß. Selbst die Regenrohre sind als Gestaltungsmittel<br />

eingesetzt, wie es bereits Fischer in Reutlingen vorexerzierte: Sie allein<br />

markieren die Wandfeldgrenze am Erdgeschoss. <strong>Die</strong>ser symmetrische Gliederungsrahmen<br />

bewirkt zusammen mit dem Wandbewuchs und der Platzierung der Bäume,<br />

dass Unregelmäßigkeiten, wie die höheren und kastenartig vorspringenden Erdgeschossfenster<br />

oder die leicht nach rechts versetzte Tür, welche damit dem inneren<br />

Treppenlauf etwas ausweicht, nicht auffallen. Bei aller Bildhaftigkeit wirken diese<br />

Häuser im Vergleich mit späteren Bauten Schmitthenners noch etwas steif und<br />

schematisch in der Proportionierung. <strong>Die</strong>s mag bei der dreiachsigen Variante an den<br />

großen seitlichen Wandflächen liegen, aber auch an der hohen, äußerlich dem<br />

Obergeschoss zugeschlagenen Wandfläche 141 bei niedrigeren Fenstern oder der<br />

noch niedrigeren Dachhöhe und geringeren Dachneigung als im späteren Werk. Zu<br />

gleichgerichtet ist die Kombination von liegendem Hauskörper, liegenden Fensterformen<br />

und ebensolchen Scheibenformaten. Sobald Schmitthenner die einzelnen<br />

Fensterflügel mit einer zusätzlichen vertikalen Sprosse versieht (was in der Planung<br />

vorgesehen war, aber nicht ausgeführt wurde) oder den Achsrhythmus verengt,<br />

ändert sich dieser Effekt. Dennoch sind diese Häuser als gleichwertige Variation <strong>des</strong><br />

von Fischer und Tessenow in Hellerau intonierten Themas zu verstehen.<br />

Eine Zeichnung zeigt dagegen die beabsichtigte Stimmungshaftigkeit mit Baumsetzling<br />

und Wandbewuchs. In der Darstellungsart offenbart sich eine Nähe zu Tessenow<br />

und in der Proportionierung ein deutlicher Bezug zu Goethes Gartenhaus. <strong>Die</strong><br />

Dachhöhe entspricht hier der Wandhöhe; die Regenrohre sind so platziert, dass eine


121<br />

stabilisierende Wirkung wie bei Eckpilastern entsteht. Auch der Achsrhythmus ist<br />

enger und sogar asymmetrisch ausgeführt. <strong>Die</strong> unterbrochene Linienführung<br />

suggeriert bewegte ungleichmäßige Oberflächen, die einen gewachsenen, gealterten<br />

oder traditionell handwerklich lebhaft bearbeiteten Ausdruck ohne maschinelle<br />

Perfektion anstreben. <strong>Die</strong>se Lebendigkeit wird aber in der seriellen Erstellung<br />

der Großsiedlung nicht erreicht.<br />

Wenn man Schmitthenners Position als eine Synthese der Einflüsse von Riemerschmid,<br />

der Erfahrungen von Hellerau, der Bestrebungen von Muthesius zur industriellen<br />

Bauteiltypisierung im Werkbund und Ostendorfs formaler Typisierung auf der<br />

Suche nach der einfachsten Bauform erklären kann, so kommt noch eine Reaktion<br />

auf Schultze-Naumburgs ortsgebundene Suche nach lokalen Bautraditionen und<br />

ortsspezifischen Bautypen im Sinne <strong>des</strong> Heimatschutzes hinzu: Schmitthenners<br />

Übernahme von Giebeln mit konkav ausschwingenden Seitenwangen und geradem<br />

oberem Abschluss – sogenannte holländische oder Glockengiebel – in manchen<br />

Straßenzügen und am Marktplatz von Staaken wurde unverkennbar auf das holländische<br />

Viertel im nahegelegenen Potsdam bezogen. <strong>Das</strong>s zwischen den augenfälligen<br />

Giebelreihen <strong>des</strong> Holländischen Viertels aber auch in rhythmischen Abständen<br />

und an den Ecksituationen traufständige Walmdachhäuser für die Handwerksmeister<br />

dieser Gastarbeiterkolonie stehen, blieb unberücksichtigt. 142 Ob man diese<br />

zwischen 1732 und 1742 von Jan Bouman errichteten fünfachsigen Walmdachtypen<br />

in ihrer Zeit als holländisch-palladianische Bautradition (man denke an das Mauritshuis<br />

in Den Haag) oder als moderne Bauform der europäischen Barockkultur sah, ob<br />

Schmitthenner in ihnen eine preußische Eigenart erblickte oder Bauformen seiner<br />

elsässischen Heimat oder süddeutschen Ausbildungszeit wiedererkannte, bleibt<br />

vorerst dahingestellt. In seinen zeitgleichen Siedlungen bei Brandenburg und Kassel<br />

sowie den darauffolgenden in Sindelfingen und Moers verwendete er den Walmdachtyp<br />

auf jeden Fall nicht. Bei der Siedlung Ooswinkel in Baden Baden von 1919<br />

findet sich hingegen eine den Potsdamer Walmdachbauten noch ähnlichere Hausform<br />

mit steilerer Dachneigung, 1:1-Dachhöhe und hochrechteckigen Fenstern. 143<br />

142 Paul Schmitthenner: Arbeiter-Zweifamilienhaus, Siedlung Ooswinkel, Baden-Baden


122<br />

5. <strong>Die</strong> dritte Welle<br />

5.1. <strong>Das</strong> Ziel der neuen Mitte und die Aufspaltung in Traditionalismus und<br />

Funktionalismus<br />

Paul Bonatz erinnert sich in seinen Memoiren:<br />

"Leben und Welt, wie sie bis zum Ausbruch <strong>des</strong> ersten Weltkrieges im August 1914<br />

waren, kann man einer späteren Generation nicht mehr deutlich machen. Jede Entwicklung<br />

ging steil aufwärts. Der, der arbeiten wollte, brauchte nur zuzugreifen, es gab für<br />

uns Wettbewerbe in Fülle und die ganze Welt stand offen. Mit neunundzwanzig Jahren<br />

baute ich mir mein erstes Haus; mit vierunddreißig ein sehr üppiges, mit vierundzwanzig<br />

Metern Länge – ein <strong>Die</strong>ner, zwei Mädchen, Gärtner, das Haus voller Gäste. Was schadete<br />

es, daß auf dem Haus eine dicke Hypothek von siebzigtausend Goldmark lag? <strong>Die</strong>se<br />

würde, alles das konnte man genau vorher berechnen, in fünf Jahren abbezahlt sein. Ein<br />

Zweifel an der Beständigkeit <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> und der Weiterentwicklung zum Reichtum gab es<br />

nicht. [...] Bis zum Krieg war ja alles steil bergauf gegangen, wir sahen unendliche<br />

Möglichkeiten vor uns, einige Jahre so weiter und wir hätten an den Himmel gestoßen<br />

[...]". 144<br />

Welch einschneidender Bruch in politischer, soziologischer und wirtschaftlicher<br />

Hinsicht der Erste Weltkrieg für Deutschland und Europa mit sich brachte, muss<br />

nicht näher ausgeführt werden. Auch die immanenten Initialzündungen für die<br />

folgende Entwicklung in Wissenschaft, Technologie und Kunst sind allgemein<br />

bekannt. Anhand der Erinnerungen von Bonatz kann jedoch deutlich vergegenwärtigt<br />

werden, dass bei aller Anteilnahme der reformbewegten Protagonisten an<br />

der kulturellen Erneuerung, der Einheitsstiftung der Künste und der Behebung<br />

sozialer Missstände die Kluft zwischen den Schichten sehr groß war. <strong>Die</strong> Lebensbedingungen<br />

der Arbeiterklasse wurden in den verwirklichten Projekten angehoben,<br />

doch diejenigen <strong>des</strong> Großbürgertums bewegten sich angesichts der großartigen<br />

konjunkturellen Möglichkeiten nur in formaler äußerlicher Hinsicht langsam auf eine<br />

neue Mitte hin. In der Architekturdiskussion wurde die schlossartige Villa diskreditiert,<br />

doch die reformistischen Landhäuser der Oberschicht zeugten immer noch von<br />

einem ausgeprägten, die sozialen Hierarchien bestätigenden Herrschaftsgestus.<br />

Erst der Sturz der deutschen Monarchien löschte das aristokratische Vorbild aus und<br />

die gesellschaftlichen Umwälzungen erzwangen eine relative Annäherung der<br />

Lebensformen auch infolge der Inflation der 20er Jahre und <strong>des</strong> wenigen verfügbaren<br />

Baumaterials. Zugleich bewegte sich die Arbeiterklasse aber auch durch<br />

erneute Verarmung wieder von dieser Mitte weg, was die Gesamtbilanz dieser


123<br />

imaginären Skala natürlich nicht verbesserte. Doch können aus der jeweiligen zeitaktuellen<br />

Perspektive die egalisierenden Bemühungen eines Teils der etablierten<br />

Gesellschaftsschichten an ihrer Architektur abgelesen und honoriert werden, wenngleich<br />

dieser den Wettlauf mit den Zeitum-ständen nicht "gewinnen" konnte. Sofern<br />

je<strong>des</strong> Bauvorhaben eine gewisse Zeit zur Realisierung benötigt, hinkten die am Baugeschehen<br />

Beteiligten zwangsläufig oft dem "politisch korrekten" tagesaktuellen<br />

Zeitausdruck hinterher.<br />

Doch die Reformer empfanden die Beschränkungen auch als Chance, ihre Ziele<br />

einer breiten gesellschaftlichen Basis näherzubringen, was angesichts der sich<br />

eröffnenden Perspektiven in eine idealistisch-kreative Phase mündete. "Wenn ich an<br />

die Jahre nach dem ersten Krieg zurückdenke, so habe ich die Vorstellung, nie habe<br />

das Leben so geblüht. Nach den Leidensjahren hatte alles einen Lebensdrang, der<br />

nicht aufhaltbar war [...]" 145 , resümierte Bonatz dazu, obwohl er sein luxuriöses<br />

Herrenhaus abstoßen musste. Auf die entbehrungsreiche Besinnungsphase folgte<br />

relativ rasch ein den Mythos der "goldenen 20er Jahre" begründender Wirtschaftsaufschwung<br />

bis zur Weltwirtschaftskrise ab 1929. <strong>Die</strong> Architekten der traditionalistischen<br />

und zunächt noch alleinigen Moderne konnten den Baubedarf <strong>des</strong> teils noch<br />

bzw. wieder wohlhabenden und teils neu aufgestiegenen Bürgertums und der<br />

Kommunen mit zwischenzeitlich ausgereiften Konzepten bedienen. Nach unseren<br />

heutigen Maßstäben sind die Wohn- und Landhäuser der Zwischenkriegszeit nach<br />

wie vor äußerst großzügig, doch man muss aus der enormen Bandbreite den<br />

gewichtigen Anteil an moderaten Bauten herauslesen, die einer neuen Bescheidenheit,<br />

auch einer neuen Sachlichkeit ante letteram entsprechen und damit die Bestrebung<br />

zum Ausdruck bringen, die ökonomische Schichtung der Gesellschaft zwar<br />

nicht gänzlich zu nivellieren, ihr jedoch die Extreme zu nehmen und vor allem die<br />

Klassenunterschiede nicht demonstrativ nach außen auszuspielen. Der englische<br />

Begriff <strong>des</strong> understatement trifft die erzieherische Wirkung, die von dieser Architektur<br />

ausgehen sollte, am besten: Ein distinktiver Status besteht durchaus, doch er<br />

wurde im Interesse <strong>des</strong> sozialen Friedens und der solidarischen Lebensgemeinschaft<br />

von den Privi-legierten nicht gegenüber den Minderbemittelten vorgeführt.<br />

<strong>Das</strong> Ideal der Suche nach einer ausgleichenden Mitte, also einer breiten mittelständischen<br />

Gesellschaftsbasis, entspricht bei weitem nicht so eindeutig der Vorstellung<br />

von einer hierarchisch gegliederten und sozial immobilen "Ständegesellschaft", wie<br />

sie von einzelnen Architekten wie Schultze-Naumburg zwar propagiert wurde, aber<br />

nicht als kollektive Mehrheitsideologie pauschal auf die traditionelle Avantgarde<br />

projiziert werden kann.


124<br />

Der Wunsch nach einer Stabilität gewährleistenden und die Extreme ausgleichenden<br />

Mitte ist natürlich auch das eigennützige ökonomische Interesse <strong>des</strong> mittelständischen<br />

Bürgertums. Er wurde bestärkt durch die politischen Erfahrungen der Weimarer<br />

Republik und äußerte sich in der Ablehnung revolutionärer sozialistischer<br />

Tendenzen, wie in den Jahren 1918-19, sowie <strong>des</strong> Sowjetkommunismus <strong>des</strong> ehemaligen<br />

Kriegsgegners einerseits und der Extreme <strong>des</strong> Wirtschaftskapitalismus,<br />

verkörpert durch den anderen ehemaligen Kriegsgegner USA andererseits. <strong>Das</strong><br />

hehre Wunschbild eines eigenen und moderaten "dritten Wegs" der Mitte war in der<br />

Reformbewegung, insbesondere bei den Bodenreformern, seit Beginn <strong>des</strong> <strong>Jahrhunderts</strong><br />

etabliert. Fatalerweise sollte die Begrifflichkeit eines Sozialismus in eigenständiger<br />

nationaler Ausformung durch die ebenso opportunistische wie substanzlose<br />

Propaganda <strong>des</strong> "Nationalsozialismus" vereinnahmt werden. Auch viele der humanistisch<br />

motivierten Architekten waren nicht weitsichtig und skeptisch genug, die<br />

Manipulation zu durchschauen, die das Naziregime an ihnen und mit ihnen zur<br />

Verfolgung ihrer kriminellen Ideologie vornehmen sollte.<br />

Dabei sind wohlgemerkt die Räume und die sie formenden Mauern der Häuser eines<br />

Behrens, Gropius, Mies van der Rohe, Bonatz oder Schmitthenner, wie wir sie in<br />

dieser Darstellung behandeln, im Parteienspektrum vollkommen unpolitisch. Wer<br />

wollte dem Haus Schroeder von Behrens oder den zueinander zeitgleichen Häusern<br />

Roser von Schmitthenner und Mosler von Mies eine gegen die Menschlichkeit gerichtete<br />

Zielsetzung vorwerfen? Allenfalls bestätigen sie in der wunschgerechten<br />

Bedienung etablierter Auftraggeber den Lehrsatz von Karl Marx, wonach die herrschende<br />

Kultur immer die Kultur der Herrschenden sei. Tatsache ist, dass die<br />

Architekten als Personen, unabhängig von der Architektur als ihren Objekten, nachdem<br />

sie bis etwa 1920 die gestalterischen und konstruktiven Probleme ihrer traditionellen<br />

Bauvorstellung gelöst und ein eloquentes Formenrepertoire zur Anwendung<br />

bereit hatten, sich zunehmend vom Ziel der künstlerischen Gestaltung <strong>des</strong> <strong>Wohnhaus</strong>es<br />

als individuellem privatem Lebensrahmen lösten. Einer explizit soziopolitischen<br />

Vorstellung folgend sollten die von ihnen geschaffenen Wohnformen<br />

erzieherisch auf kollektive Lebensformen hinwirken. Mit ihren Produkten wollten sie<br />

nicht mehr nur bestehende Bedürfnisse befriedigen und auf Veränderungen reagieren,<br />

sondern mit diesen Bauten Bedürfnisse wecken und die Veränderungen überhaupt<br />

erst auslösen.<br />

Unbestreitbar ist nach dem zwischenzeitlichen Forschungsstand auch, dass sich<br />

manche Funktionalisten bereitwillig in autoritären Regimen engagieren wollten, wenn<br />

man sie nur gelassen hätte. 146 Man muss jedoch nach wie vor einer unterschwellig


125<br />

verbreiteten Vorstellung begegnen, wonach die Funktionalisten durchweg die<br />

sozialere und demokratischere und die Traditionalisten die besitzstandswahrendere<br />

und autoritärere Architektur gebaut hätten. Riesige Villen mit feudalen Raumprogrammen<br />

im "Bauhaus-Design" und die Beteiligung führender Funktionalisten am<br />

NS-Wettbewerb zu einem "Haus der Arbeit" sowie die moderne Staatsarchitektur im<br />

faschistischen Italien im Vergleich zu monumentalklassizistischen Regierungsgebäuden<br />

in den USA belegen die Austauschbarkeit.<br />

Mit dieser Charakterisierung versuchen wir eine persönliche Deutung der großen<br />

Leitlinien der Entwicklung, die dem Einzelfall nicht immer gerecht werden kann. So<br />

gilt es klarzustellen, dass die individuellen Theorien und Leitsätze je<strong>des</strong> einzelnen<br />

Architekten im Rahmen dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden können, sondern<br />

nur einzelne besonders erwähnenswert erscheinende Aspekte herausgegriffen<br />

werden. Ein Grundsatz dieser Analyse ist, nicht von der inhaltlichen Theorie auszugehen,<br />

sondern von den Realia <strong>des</strong> tatsächlich gebauten Bestan<strong>des</strong>, ergänzt<br />

durch konkret geplante, wenn auch nicht verwirklichte Projekte. <strong>Die</strong> erschöpfende<br />

Darstellung der Personen der Architekten, ihrer Absichten und Äußerungen ist<br />

Aufgabe der Monographien, zumal das Gesagte und Gebaute oft nicht in Konsequenz<br />

übereinstimmen. In ihren kollektiven gesellschaftlichen Vorstellungen widersprechen<br />

die Architekten sich mit ihren Werken allzuoft selbst durch ihren gleichzeitigen<br />

Hang zum individuell-künstlerischen und unverwechselbaren Personalstil<br />

als einem sie von der Konkurrenz absetzenden Markenzeichen.<br />

5.2. Paul Schmitthenner<br />

Paul Schmitthenner erhielt Ende 1918 die letzte noch im Kaiserreich vergebene<br />

Professur für den Lehrstuhl für Baukonstruktionslehre an der Technischen Hochschule<br />

Stuttgart. Zusammen mit Paul Bonatz und wenig später dem Städtebauer<br />

Heinz Wetzel bildete er das Haupt der Stuttgarter Schule, die infolge einer Ausbildungsreform<br />

und dem charismatischen Ruf ihrer Lehrer zur tonangebenden Bauschule<br />

in Deutschland wurde. 147 Er traf hier auch auf den Kunsthistoriker und Architekten<br />

Ernst Fiechter, auf <strong>des</strong>sen Initiative es wahrscheinlich zurückging, dass<br />

Schmitthenner bereits 1919 Zweitgutachter einer von Fiechter betreuten Dissertation<br />

über einen Deutschordensbaumeister <strong>des</strong> 18. <strong>Jahrhunderts</strong>, Johann Kaspar<br />

Bagnato, wurde. 148 Der Bildteil dieser Doktorarbeit ist nicht erhalten, doch über eine<br />

jüngere Monographie ist dokumentiert, daß Bagnato ein ausgesprochener Protagonist<br />

<strong>des</strong> Walmdachbautyps war, insbesondere bei Pfarrhäusern <strong>des</strong> Deutschen<br />

Ordens im Elsass, in Südbaden und dem Bodenseeraum. 149 Zur Mitbewertung


126<br />

dieser Arbeit war der Elsässer Schmitthenner also schon aus heimatgeschichtlichem<br />

Interesse prä<strong>des</strong>tiniert. Und uns dient diese Tatsache als Beweis, dass er die spezifische<br />

Gestaltungsweise <strong>des</strong> Bautyps im 18. Jahrhundert kannte und verarbeitete.<br />

Über seine Jugendzeichnungen vermittelt sich bereits Schmitthenners intime Kenntnis<br />

der ländlichen Hausformen seiner Heimat, doch die Rezeption eines Walmdachhauses<br />

taucht in diesem Zusammenhang nicht auf. Und selbst in Staaken<br />

wandte er diese besondere Gestaltungsweise noch nicht an, obwohl er mit ihr an<br />

den Meisterhäusern <strong>des</strong> holländischen Viertels in Potsdam in Berührung gekommen<br />

sein muss. Konsequent tritt die Anwendung durchweg stehender Fensterformate bei<br />

liegenden Baukörpern erst in der Siedlung in Baden-Baden ab 1918 auf, und die<br />

freie Ausmittlung der Fenster ohne Anlehnung an Sohlbank- oder Dachgesimse<br />

erfolgt ebenfalls erst ab der Stuttgarter Zeit. Mit der Walmdachbauweise der Barockzeit<br />

setzte sich Schmitthenner auch weiterhin wissenschaftlich auseinander, wie<br />

seine wieder zusammen mit Fiechter erfolgte Betreuung einer Dissertation über<br />

Breisgauer Herrenhäuser belegt. 150<br />

5.2.1. "<strong>Das</strong> deutsche <strong>Wohnhaus</strong>"<br />

Während die ersten Häuser der Stuttgarter Schule – ab 1921 zugleich die ersten<br />

privaten Bauten, die nach dem ökonomischen Desaster der unmittelbaren Nachkriegszeit<br />

wieder realisiert werden konnten – in den generellen Bauformen und<br />

Dachausbildungen einerseits deutlich die durch Muthesius vermittelten englischen<br />

Vorbilder aufnahmen 151 , weisen die gleichzeitige Wandbehandlung durch punktuelle<br />

regelmäßige Fenstersetzung und weitere Details andererseits auf die Verarbeitung<br />

der vorindustriellen, also ebenso barocken wie frühklassizistischen ländlichen Bauweise<br />

<strong>des</strong> deutschsprachigen Raums hin. Damit entsprechen sie ansatzweise auch<br />

Muthesius' Forderung, nicht sklavisch das englische Haus zu kopieren, sondern eine<br />

eigenständige deutsche Bauart zu finden. Allerdings unterliegt die Charakteristik der<br />

in Deutschland üblichen Bauweisen <strong>des</strong> 18. und frühen 19. <strong>Jahrhunderts</strong> unverkennbar<br />

französischen Einflüssen. 152 Zeitgleich verfolgte Bonatz aber auch mit dem<br />

Haus Luz in Stuttgart seine Formensprache der Vorkriegszeit weiter und baute mit<br />

dem Haus Henkell in Berlin ein schematisch klassizisieren<strong>des</strong> Landhaus, das in<br />

einer dort wohl beliebten Analogie zu den erwähnten Häusern von Mies van der<br />

Rohe und Muthesius steht.<br />

Ab 1922-23 entwickelte Schmitthenner nun seinen Formenkanon der zweistöckigen<br />

Walmdachhäuser, die für ihn so sehr zum Markenzeichen wurden, daß sie in der<br />

Öffentlichkeit als unverwechselbare "Schmitthennerhäuser" 153 galten. In seinen


127<br />

Publikationen der 20er Jahre propagiert er die Zuwendung der Fachwelt und der<br />

öffentlichen Hand zum mittelständischen <strong>bürgerliche</strong>n <strong>Wohnhaus</strong> und empfiehlt nun<br />

erstmals auch das Studium von Goethes Gartenhaus als vorbildlichen Ausgangspunkt.<br />

154 Sein Lehrbuch von 1932, das den Untertitel "<strong>Das</strong> deutsche <strong>Wohnhaus</strong>"<br />

trägt, dokumentiert weitere alte Baubeispiele, die er in seiner Lehrtätigkeit verwendete.<br />

Neben anonymen Bauern-, Weinberg- und Pfarrhäusern, die gezielt nicht exakt<br />

seinem und damit unserem Bautyp entsprechen, kommt zu Goethes Gartenhaus<br />

noch der zweite große Vorbildbau der Stuttgarter Schule hinzu, der auch in anderen<br />

Veröffentlichungen immer wieder auftaucht: der "Pfarrhof am Weißensee" bei<br />

Füssen im Allgäu. Andere Autoren fanden weitere passende Beispiele, so das<br />

Försterhaus im westfälischen Wolbeck 155 , dabei diese Häuser immer als außergewöhnliche,<br />

frühe und seltene Einzelleistungen von ausgeprägter "deutscher"<br />

Charakteristik darstellend, ohne sie als Beispiele eines ehemals weitverbreiteten<br />

Bautyps zu erkennen oder preiszugeben. Interessanterweise fand kein Bauwerk von<br />

Bagnato Einzug in Schmitthenners Beispielpädagogik, ebensowenig wie die<br />

"holländische" Baukunst Potsdams oder elsässische Pfarrhäuser. Wahrscheinlich<br />

sollte die Vermeidung von zu ähnlichen Bauten verhindern, dass ein oberflächlicher<br />

Blick den Eindruck einer austauschbaren Kopie hinterlassen würde oder Goethes<br />

Gartenhaus den Nimbus der Einzigartigkeit verlieren könnte. Als Erklärung für die<br />

rein deutschen Beispiele kann auch kaum ein Schmitthenner gelegentlich unterstellter<br />

engstirniger persönlicher Nationalismus herhalten. 156 Denn er war durch<br />

seine frankophil gefärbte elsässische Lebensart und die französische Staatsbürgerschaft<br />

seiner Frau zumin<strong>des</strong>t ansatzweise kosmopolitisch verankert.<br />

143 Pfarrhaus am Weißensee, Füssen


128<br />

144-147 Försterhaus, Wolbeck<br />

<strong>Die</strong> Auswahl der Präferenzbauten unter anderem aus Schleswig-Holstein, Thüringen<br />

oder dem Allgäu sowie die geschickte Verknüpfung mit Goethe als dem Inbegriff der<br />

deutschen Geisteskultur kann als Ergebnis einer kühlen Marktanalyse förderlicher<br />

"Verkaufsaspekte" gedeutet werden. <strong>Die</strong> eigene Reputation und die Architektur als<br />

Produkt im Klima der Zeit – angesichts der weitverbreiteten Ressentiments gegen<br />

die ehemaligen Kriegsgegner, insbesondere Frankreich – wurde mit unmissverständlich<br />

positiven Assoziationen belegt. Als Fortsetzung von Muthesius' "<strong>Das</strong><br />

englische Landhaus" wäre eine Untersuchung zum französischen Landhaus nicht<br />

unlogisch gewesen, doch das Haus <strong>des</strong> 'Erbfein<strong>des</strong>' war nicht opportun. Indem<br />

Schmitthenner den ersten Band dieser als Reihe geplanten Baugestaltung "<strong>Das</strong><br />

deutsche <strong>Wohnhaus</strong>" nannte, erfüllte er Muthesius' sachliche und nicht nationalistisch<br />

gefärbte Forderung nach eigenen Traditionen und setzt eine längere Folge von<br />

unverdächtigen Baubüchern fort, die darauf eine Antwort suchten. Doch kurz vor der<br />

Machtergreifung der Nationalsozialisten kann diese Titelwahl auch als bewusste<br />

Reaktion auf die nationalen Stimmungen und das Gefühl eines patriotischen Defizits<br />

in der Bevölkerung interpretiert werden.<br />

5.2.2. Schmitthenners Typ-Theorie<br />

Schmitthenner entwickelte eine grundlegende Baugestaltungslehre, die er sehr erfolgreich<br />

in seinem Hochschulunterricht vermittelte und in einem der meistbeachteten<br />

Architekturbücher seiner Zeit zusammenfasste: die schon erwähnte "Baugestaltung<br />

1. Folge: <strong>Das</strong> deutsche <strong>Wohnhaus</strong>". 157 <strong>Die</strong>se Abhandlung über regionale<br />

Bauweisen in natürlichen Materialien, traditionellen Konstruktionen und deren Auswirkungen<br />

auf den Aufbau und die Bearbeitung von Wand, Dach, Fenstern, Türen


129<br />

und Oberflächen, zielt auf die nicht neue, doch kaum jemals zuvor so inständig als<br />

bau–ethische Kategorie angemahnte Material- bzw. "Werkgerechtigkeit". <strong>Die</strong>se<br />

Lehre der "Baugestaltung" geht über die gestalterischen Ergebnisse der technischen<br />

"Baukonstruktion" hinaus und grenzt sich zugleich deutlich von der "Architekturgestaltung"<br />

mit zeitbedingten Stilformen oder Schmuckelementen ab. Sie bezieht sich<br />

auf alle Arten von Bauwerken, doch Schmitthenner spielte sie exemplarisch anhand<br />

von Variationen <strong>des</strong> zweistöckigen und in der Regel dreiachsigen Walmdachhauses<br />

durch. <strong>Die</strong> drei Stationen dieser regelrechten Typ-Theorie beginnen mit einzelnen<br />

Veröffentlichungen in Fachzeitschriften zwischen 1926 und 1929: zunächst ein<br />

Modellentwurf zur Propagierung <strong>des</strong> kleinen <strong>bürgerliche</strong>n <strong>Wohnhaus</strong>es. 158 Bemerkenswert<br />

daran ist die Symmetrie der Gartenseite bei gleichzeitiger Asymmetrie der<br />

Eingangsseite, was dort wegen fehlender Obergeschossfenster als Vergleichspunkten<br />

kaum auffällt. Hier herrscht die formstabilisierende Strenge zweier sich kreuzender<br />

Horizontal- und Vertikalachsen vor. <strong>Die</strong> steife, etwas sperrige Wirkung der<br />

Details an diesem noch vergleichsweise frühen Entwurf entsteht im Zusammenspiel<br />

von steiler Dachneigung, horizontaler Trennung der Geschosse durch das Rankgerüst<br />

und horizontaler Gewichtung der quadratischen Fenster durch mehr Quer- als<br />

Längssprossen. Auch bei den hochrechteckigen Fenstern dominieren dadurch die<br />

querrechteckigen Formen der einzelnen Glasscheiben. <strong>Die</strong> Höhe <strong>des</strong> Hauses<br />

entspricht exakt seiner Breite; die Wandhöhe (ohne Sockel und Gesims) entspricht<br />

der Dachhöhe.<br />

148-151 Paul Schmitthenner: Idealentwurf für ein <strong>bürgerliche</strong>s <strong>Wohnhaus</strong> 1926


130<br />

152 Paul Schmitthenner: Idealentwurf für ein <strong>bürgerliche</strong>s <strong>Wohnhaus</strong> 1928<br />

Um 1927, also dem Jahr der programmatischen Experimentalsiedlung <strong>des</strong> Werk-bun<strong>des</strong><br />

am Stuttgarter Weißenhof, entwickelte und patentierte Schmitthenner eine<br />

industriell vorfabrizierte Fachwerk-Systembauweise ("Fafa") als seinen Beitrag zur<br />

Typisierung <strong>des</strong> Bauens zwecks Zeit- und Kostenersparnis. Unserem Haustyp entspricht<br />

der Fafa-"Typ F", den er 1928 und 1929 in verschiedenen Variationen publizierte.<br />

In dieser zwischenzeitlich ausgereiften Phase der Schmitthennerschen Feinproportionierung<br />

fällt die besondere Ausgewogenheit der Gesamterscheinung bei<br />

subtilen spannungsvollen Detailkonstellationen auf. Insbesondere die niederere<br />

Dachhöhe, schwächere Dachneigung, differenziertere Fenstersprossung und Bevorzugung<br />

stehender Fensterformate tragen dazu bei, ein scheinbar vibrieren<strong>des</strong>


131<br />

Gleichgewicht zu erzeugen, das vor allem eine zu deutliche Horizontalität vermeidet.<br />

Eine Frage der individuellen Wahrnehmung bleibt, ob die engere Fensterstellung am<br />

Untergeschoss der Gartenseite besser wirkt als zuvor am Obergeschoss. Wahrscheinlich<br />

harmoniert die gedachte Diagonalachse besser im Gegenklang zur Dachneigung.<br />

Ebenso verhält es sich mit der Beschränkung auf Fensterläden am Obergeschoss<br />

statt wie zuvor am Untergeschoss.<br />

153 Paul Schmitthenner: Haus Sander, Stuttgart 154 Paul Schmitthenner: Variante <strong>des</strong> Hauses im Fafa-System<br />

<strong>Das</strong> 1927 nach diesem Typ gebaute Haus Sander in Stuttgart zeigt eine stark wandbetonte,<br />

mit reduzierter Fensterfläche konzipierte Nordseite mit einer im Gegenzug<br />

besonders plastisch ausgebildeten, die Wirkung der Hanglage steigernden Freitreppe.<br />

In der Veröffentlichung führt Schmitthenner den Gestaltungsspielraum <strong>des</strong> Typs<br />

in mehreren Varianten der Gartenseite durch, die zum Teil an min<strong>des</strong>tens fünf weiteren<br />

Häusern in Stuttgart, Tübingen und Freiburg realisiert wurden. Ohne Achsenspiel<br />

wirkt hier lediglich die Abwandlung der Fensterformate, Klappläden und Rankgerüste<br />

im Konzert mit der plastischen Wirkung von Fenstergittern, einem Altan oder<br />

einer Wandskulptur.<br />

<strong>Die</strong> zweite Station der Typtheorie besteht aus zwei Entwurfsserien in Schmitthenners<br />

Architekturbuch. Vier Zeichnungen führen den Zusammenhang von Fläche und<br />

Relief als plastische Wirkung in Licht und Schatten durch verschiedene Dachüberstände<br />

und Loch-Wand-Verhältnisse vor. <strong>Die</strong> zweite Folge aus sechs Zeichnungen<br />

zeigt die Wirkung verschiedener Materialien und ihrer Konstruktionsarten sowie die<br />

Variationsmöglichkeiten einer stilistischen Architekturgestaltung.


132<br />

155-157 Paul Schmitthenner: Typvariationen zu Fläche und Relief<br />

158-161 Paul Schmitthenner: Typvariationen zu Material und Konstruktion<br />

Konkrete Differenzierungen und Detaillierungen erfolgen in einem zwischen 1943<br />

und 1949 erstellten Bildzyklus zu einem unvollendeten Buchprojekt, das erst posthum<br />

1984 in Bearbeitung erschienen ist. 159 <strong>Die</strong>ses Buch mit dem Titel "Gebaute<br />

Form. Variationen über ein Thema" ist nicht als Rezeptbuch zur konkreten Anwendung<br />

konzipiert, sondern als bauphilosophisches Gedankenspiel, gewissermaßen<br />

als Vermächtnis von Schmitthenners Baugesinnung gedacht. Es handelt von den<br />

elementaren Grundlagen der Formfindung, indem es über Material, Konstruktion und<br />

Form hinaus Maß, Harmonie, Rhythmus, Raumwirkung, die Zusammenfügung von<br />

Baustoffen und die Relation zwischen Zweckerfüllung und sinnerfülltem Überfluss<br />

reflektiert. Zu Variationen <strong>des</strong> Typgrundrisses treten 26 Aufrisse mit Walmdächern<br />

mit der Begründung, dass diese Dachform das einzeln stehende Haus betone und<br />

sich daher zur Darstellung <strong>des</strong> Allgemeingültigen am besten eigne.<br />

162-163 Paul Schmitthenner: Typstudien, Grundrissvariation I 163 Grundrissvariation II


133<br />

164 „<strong>Das</strong> Haus mit der senkrechten Bretterverschalung“ 165 „<strong>Das</strong> Haus mit der kühlen Noblesse“<br />

166 „<strong>Das</strong> Haus mit dem freundlichen Gesicht“ 167 „<strong>Das</strong> klassizistische Haus“<br />

1<strong>68</strong> „<strong>Das</strong> funktionale Haus“ 169 „<strong>Das</strong> Haus in Spanien“


134<br />

Negativbeispiele illustrieren schlechte Lösungen. Weitere Zeichnungen spielen das<br />

Thema aber auch mit sämtlichen anderen Dachformen durch, bis hin zum Flachdach<br />

sowie einem eher als Parodie denn als ernsthafte Variation gemeinten Aufriss in der<br />

Formensprache <strong>des</strong> Funktionalismus. Sie stehen teilweise für bestimmte Stilphasen<br />

der Baugeschichte oder regional typische Hausformen, etwa für Spanien oder das<br />

Engadin. 160<br />

Ansatzweise zusammenfassen lässt sich Schmitthenners Lehrabsicht in der Wiedererweckung<br />

zeitloser und stilunabhängiger Gestaltungsgrundlagen, die nach<br />

Erlangung eines gesellschaftlich-kulturellen Konsenses der Ausgangspunkt für einen<br />

neuen Epochenstil sein könnten. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, daß der zur<br />

Stilbildung notwendige kulturelle Konsens im frühen 19. Jahrhundert noch vorhanden<br />

war, mit dem Historismus aber verloren ging und man dort wieder anknüpfen<br />

müsse, allerdings nicht am Stil <strong>des</strong> Klassizismus, sondern eben an der Alltagsarchitektur<br />

der Zeit "um 1800". Der Wunsch nach einem allgemeingültigen Bauausdruck<br />

erscheint damit als verbinden<strong>des</strong> Paradigma der Moderne, denn auch der Funktionalismus<br />

versuchte mit dem "internationalen Stil" einen kulturellen Konsens zu<br />

etablieren. Heute erkennen wir dagegen mehr und mehr die Normalität verschiedener<br />

gleichzeitiger Bauauffassungen als Phänomen, das sich weit in die Jahrhunderte<br />

zurückverfolgen lässt und unsere festgefügten Epochenbegriffe je nach Perspektive<br />

relativiert.<br />

Schmitthenner beanspruchte nie, einen eigenen Stil zu lancieren oder etwas Neues<br />

erfunden zu haben, sondern nur, die sachlichen Grundlagen für das Neue zu bereiten,<br />

auf denen eine kommende Generation aufbauen könnte. Dabei ging es ihm<br />

nicht um das Kopieren historischer Vorbilder, wie es bei Ostendorf aufscheint, sondern<br />

um das Anknüpfen an die Tradition einer allgemeinen unkonkreten Baugesinnung,<br />

der man ihre Entstehungszeit auch durchaus ansehen können soll und die<br />

sich in Einzelheiten neuer bewährter Materialien und Konstruktionen bedient, allerdings<br />

ohne diese ostentativ zur Schau zu stellen. Gestalterische Zelebration von<br />

Modernität war für ihn nur eine neue falschverstandene Mode.<br />

5.2.3. Bauten<br />

Schmitthenners eigenes bauliches Werk muss separat von seiner Typ-Theorie behandelt<br />

werden und nicht in einer argumentativ ineinandergreifenden Verkettung,<br />

denn er ging in seinem persönlichen Gestaltungsrepertoire deutlich über das hinaus,


135<br />

was er mit den Lehrbeispielen als Ausgangspunkt präsentierte. Obwohl er unterschiedliche<br />

Hausformen anwandte, nehmen die Walmdachhäuser den beherrschenden<br />

Platz in seinem Werk ein. Er bediente sich <strong>des</strong> Typs so virtuos und arrangierte<br />

ihn im Gelände mit Höfen, Brunnen, Gartenplanung und einem ins Auge fallenden<br />

Dialog der Materialien von Wänden, Dächern, Treppen, Mauern und Bodenbelägen<br />

sowie der Lebendigkeit unregelmäßiger Oberflächen durch Spuren handwerklicher<br />

Verarbeitung, dass viele Zeitgenossen seinen Häusern eine besondere poetische<br />

Aura zusprachen. Schmitthenner selbst spielte zuweilen auf eine bauliche Umsetzung<br />

von Beschreibungen aus den Werken von Gottfried Keller, Adalbert Stifter oder<br />

Joseph von Eichendorff an. 161 <strong>Die</strong> bis in die 50er Jahre hineinreichende Apostrophierung<br />

als unverkennbare "Schmitthennerhäuser" schrieb ihnen allerdings eine<br />

Einzigartigkeit zu, die diese Häuser objektiv nicht haben.<br />

Als geschlossene Werkgruppe weisen Schmitthenners Häuser allerdings ein systematisches<br />

Kaleidoskop von Gestaltungsweisen und Ordnungssystemen der<br />

Fassaden auf und damit eine innerhalb <strong>des</strong> selbstgesetzten Typkanons geradezu<br />

obsessiv durchexerzierte Vielfalt, die ihresgleichen sucht. Kaum ein anderes isoliert<br />

betrachtetes Gesamtwerk eines Architekten seiner Zeit kann mit Schmitthenners<br />

enzyklopädisch-konsequenter Durchdeklination eines einzelnen Formgedankens<br />

verglichen werden. Man müsste Gebäude verschiedenster Architekten heranziehen,<br />

um jeweils Analogien zu den im Folgenden analysierten Gestaltungsbeispielen zu<br />

ermitteln. Schmitthenners Fassadenaufbau erinnert an die akribische Formsuche<br />

eines Malers, der ein Thema um seiner selbst willen variiert, zumal wir jede der vier<br />

Seiten eines Hauskubus' einzeln betrachten können und die Breitseiten zufälligerweise<br />

meistens ein ausgeglichenes Verhältnis von Höhe zu Breite wie bei Staffeleigemälden<br />

aufweisen. Ohne Qualitätskategorien gleichsetzen zu wollen sei an die<br />

geradezu spirituelle Variation von Kompositionen erinnert wie bei Stilleben von<br />

Cézanne und Morandi oder abstrakten Kompositionen Mondrians.<br />

Um Schmitthenners konkretes Gestaltungsrepertoire darzustellen, das er nach<br />

diesen formalen Kriterien selbst nie schriftlich erläutert hat, bilden wir eine systematische<br />

Ordnung, die anhand prägnanter Beispiele aus der Zeit zwischen 1923 und<br />

1937 den idealistisch gedachten Weg vom Normalen, Regelhaften zum Besonderen,<br />

Unkonventionellen entwickelt. <strong>Die</strong>se Ordnung stimmt allerdings nicht mit einer chronologischen<br />

Reihenfolge der Bauten überein, denn Schmitthenner bedient sich von<br />

Beginn an der gesamten Bandbreite seiner Gestaltungsmodi. Er verwendet bestimmte<br />

Variationsweisen natürlich nicht zwanghaft einheitlich oder in bestimmten aufeinanderfolgenden<br />

Entwicklungsschritten, sondern je nachdem, ob sie zur gerade


136<br />

anstehenden Bauaufgabe passen und die funktionalen Bedingungen von Grundriss<br />

und Innenraum erfüllen.<br />

Der Ausgangspunkt der Fassadengestaltung ist mit der Typ-Theorie bereits vorgegeben<br />

und beinhaltet den Einsatz von Symmetrie und Achsenkonkordanz sowie die<br />

Abwandlung durch stockwerksweise Achsenkontraktion unter Beibehaltung einer<br />

symmetrischen Aufteilung. Eine unterschiedliche bildhafte Wirkung wird allein schon<br />

durch die Achsenkontraktion beider Stockwerke erzielt, indem die Fenster nicht<br />

gleichmäßig auf die Wandbreite verteilt sind, sondern sich in einem engeren Achsrhythmus<br />

zur Mitte konzentrieren und zu den Ecken hin mehr geschlossene Wandfläche<br />

diese Komposition einrahmt – eine Gestaltungsweise, die auch Fischer, Riemerschmid<br />

oder Mies van der Rohe anwenden.<br />

Ein nächster Schritt erfolgt durch den kompletten stockwerksweisen Achsrhythmusversatz.<br />

<strong>Die</strong> Haupt-Gartenseite <strong>des</strong> Hauses Roser in Stuttgart von 1926 (Abb. 174)<br />

zeigt die unterschiedlichen "Takte" der Stockwerke bei einer insgesamt pyramidalen,<br />

die Dachgaube einbeziehenden Komposition, die durch die einzige, allen Stockwerken<br />

gemeinsame Mittelachse stabilisiert wird. Es ist eine der wenigen vollkommen<br />

axialsymmetrischen Fassaden Schmitthenners.<br />

170-177 Paul Schmitthenner: Haus Roser, Stuttgart<br />

172 Eingangsseite 173 Eingangsseite mit realisierten Fenstersprossen


137<br />

174 Gartenseite 175 Ansicht von Südosten<br />

176 Westseite 177 Ostseite<br />

Als dritte Stufe einer "Dekomposition" der Norm kann die Trennung von Gebäudeund<br />

Mittelachse angesehen werden. Insbesondere bei vierachsigen Fassaden ohne<br />

Mitte liegt diese Lösung nahe, wenn nur eine Tür oder Fenstertür angebracht ist und<br />

eine einzige Dachgaube diese Eingangsachse betont. Zumin<strong>des</strong>t bei Schmitthenner-<br />

Schülern findet sich diese Variante aber auch bei regelmäßigen fünfachsigen Fassaden,<br />

die eine Mittelachse aufweisen.<br />

Ein vierter Schritt beinhaltet die Verschiebung der Mittelachse auf der Fassadenfläche.<br />

Beim Haus Roser erfolgt dies auf der Eingangsseite so dezent, dass es auf den<br />

ersten Blick nicht auffällt und nur dem aufmerksamen Betrachter einen Aha-Effekt<br />

bereitet (Abb. 172). Auf der Schmalseite <strong>des</strong> Nebeneingangs erfolgt es dagegen<br />

überaus deutlich, indem auf einer Seite bullaugige Toilettenfenster sitzen (Abb. 177).<br />

<strong>Die</strong> Eingangsseite <strong>des</strong> Hauses Debatin in Stuttgart von 1930 variiert diese Gestaltungsweise<br />

ohne Scheu vor überdeutlicher, geradezu zelebrierter Unregelmäßigkeit<br />

(Abb. 182, S. 138).


138<br />

Als nächste Spielart der Unregelmäßigkeit definieren wir die punktuelle Asymmetrie.<br />

Sie kann durch ein abweichen<strong>des</strong> Fensterformat innerhalb einer dadurch fast unmerklich<br />

gestörten Axialsymmetrie erfolgen wie bei der westlichen Schmalseite <strong>des</strong><br />

Hauses Roser (Abb. 176, Fenster unten rechts) oder in einem deutlichen Abrücken<br />

eines Fensters aus der Achse wie beim Stuttgarter Haus Köster von 1936 (Abb. 206,<br />

S. 143).<br />

178-183 Paul Schmitthenner: Haus Debatin, Suttgart. Erd.- und Obergeschoss<br />

180 Straßenseite 181 Südostseite<br />

182 Eingangsseite 183 Nordwestseite


139<br />

Kombinationen der vorherigen, einzeln aufgetretenen Abwandlungen bilden eine eigene<br />

sechste Gruppe. Sie finden sich bei der Straßenseite <strong>des</strong> Hauses Debatin, wo<br />

zur Trennung von Mittel- und Gebäudeachse noch eine Verschiebung der gesamten<br />

Fensterkomposition auf der Fassade und die Achsenkontraktion zweier Erdgeschossfenster<br />

als punktuelle Asymmetrie hinzukommen (Abb. 180). Bei der Eingangsseite<br />

<strong>des</strong> Hauses Roser kommt eine äußerst subtile punktuelle Asymmetrie lediglich<br />

in Form abweichender Fenstersprossen hinzu, nämlich zur funktional ablesbaren<br />

Unterscheidung von Wohn- und Nebenräumen wie Toilettenflur oder Keller<br />

(Abb. 173). Beim Stuttgarter Haus Zerweck beobachten wir eine stockwerksweise<br />

abweichende Achsenzahl ohne stabilisierende Mittelachse, eine Kontraktion der<br />

oberen Fenster und nochmalige Kontraktion der beiden Balkontüren, außerdem ein<br />

Spiel mit unterschiedlichen Fensterformaten, Sturzhöhen und Sprossungen im Erdgeschoss<br />

(Abb. 190, S. 141). Bestimmend ist hier die plastisch unterschiedliche Wirkung<br />

<strong>des</strong> Balkons und der in einen Kubus eingebundenen Freitreppe.<br />

Als siebte Stufe ist die lineare Ordnung auf der Fassadenfläche durch horizontale<br />

und vertikale Reihung der Fenster zu nennen, so dass die Reihen an einem Fenster<br />

aufeinandertreffen oder sich ihre gedachten Achsen kreuzen. <strong>Die</strong>ses bei dem ersten<br />

Modellentwurf zu einem <strong>bürgerliche</strong>n <strong>Wohnhaus</strong> bereits beobachtete Gliederungssystem<br />

(Abb. 149) zeigt sich an der nordwestlichen Schmalseite <strong>des</strong> Hauses Debatin<br />

mit Asymmetrie und leichten Unregelmäßigkeiten (Abb. 183). <strong>Das</strong>s die Fenstersetzung<br />

sich pragmatisch nach dem Innenraum richtet, schadet der linearen Ordnung<br />

gemäß Schmitthenners Vorstellung <strong>des</strong> scheinbar gewachsenen Ausdrucks<br />

nicht. <strong>Die</strong> ohne Nachteil für den Dachraum frei platzierbare Dachgaube setzt dafür<br />

den stabilisierenden Akzent.<br />

Eine weitere ungewöhnliche und daher nur für die nebensächlicheren Schmalseiten<br />

verwendete nunmehr achte Ordnung ist die konzentrische Verteilung der Fenster<br />

um eine geschlossene Wandmitte, wie bei der Südostseite <strong>des</strong> Hauses Debatin<br />

(Abb. 181). <strong>Die</strong> Dachgaube bleibt nun mittig und folgt nicht der Position der Fenstertür.<br />

Als dem einzigen größeren Wohnraum <strong>des</strong> Daches zugeordnet erhält diese<br />

Gaube als einzige ein größeres quadratisches Fenster. Doch zugleich bildet Schmitthenner<br />

damit eine Dreieckskomposition der quadratischen Fenster zueinander, genauso,<br />

wie die hochrechteckigen Fenster als Gegenzug die Komposition eines auf<br />

der Spitze stehenden Dreiecks formen.<br />

Als neunte Stufe zählen wir die vollkommen exzentrische Fensterverteilung wie bei<br />

der Schmalseite <strong>des</strong> Stuttgarter Hauses Raßbach von 1925 (Abb. 185). Ein nur


140<br />

184-187 Paul Schmitthenner: Haus Raßbach, Stuttgart. Straßenseite 185 Südostseite<br />

186 Erdgeschoss 187 Obergeschoss<br />

vage angedeuteter Ordnungsrhythmus entsteht lediglich durch Tür und Fenster <strong>des</strong><br />

Kellergeschosses mit geraden Stürzen und gleichmäßigen Abständen sowie über<br />

die nicht exakte, doch motivisch mittige Position <strong>des</strong> Balkons zu seinen seitlich<br />

rahmenden Fenstern.<br />

<strong>Die</strong> freie Anordnung ohne Bezug zu rhythmischen Abstandswiederholungen oder<br />

Achsen ist, wie bereits erwähnt, ein in der Arts & Crafts-Architektur wie in der Wiener<br />

Schule zu finden<strong>des</strong> Motiv der Moderne. Neben dem zuvor behandelten Hellerauer<br />

Haus von Tessenow (Abb. 115) verweisen wir hier noch auf die rückwärtige<br />

Eingangsseite <strong>des</strong> Hamburger Hauses Born von Erich Elingius aus dem Jahr 1921<br />

(Abb. 188). 162<br />

188 Erich Elingius: Haus Born, Hamburg. Eingangsseite


141<br />

Abgesehen von drei Achsenkonkordanzen zeigen die Tür <strong>des</strong> Nebeneingangs, das<br />

über das Stockwerksgesims gelegte Treppenhausfenster und das Fensterband der<br />

Dachgaube die bewusste formale Vielfalt und Grenzüberschreitung. Während die<br />

Südseite mit dem Achsrhythmus 1-3-1 vollkommen symmetrisch gehalten ist,<br />

scheint die Nordseite auf spielerische Irritation eines die repräsentative<br />

Ordentlichkeit gewohnten Publikums aus zu sein. <strong>Die</strong> Verteilung der Elemente<br />

zueinander verrät gleichwohl die Absicht einer ausgewogenen Gewichtung, was<br />

einen klaren Unterschied zu der einmaligen Absicht Tessenows formuliert, die<br />

Fenstersetzung vollkommen pragmatisch und scheinbar ohne Bedacht auf jegliche<br />

Harmonie vorzunehmen.<br />

189-190 Paul Schmitthenner: Haus Zerweck, Stuttgart 190 Gartenseite<br />

In einer zehnten Stufe kommt ein weitgehend freies System zur Anwendung, bei<br />

dem Ordnungen und Rhythmen lediglich angedeutet werden. Beim oberflächlichen<br />

Betrachten kann sich zwar der Eindruck von völliger Symmetrie einstellen. Tatsächlich<br />

stimmt hier, wie bei der Straßenseite <strong>des</strong> Stuttgarter Hauses Raßbach von 1925,<br />

fast gar nichts überein (Abb. 184). Was aus der perspektivischen Schrägsicht nicht<br />

auffällt bzw. sich lediglich als punktuelle Asymmetrie durch Aussparung einer<br />

Fensterposition entziffern lässt, offenbart bei genauer Analyse <strong>des</strong> Aufrisses, dass<br />

Schmitthenner die vermeintlichen Kenner seiner Architektur ebenso wie die Kritiker,<br />

welche konventionelle Langeweile konstatieren möchten, anscheinend hinters Licht<br />

führen will. Weder die Gauben noch die Fenster halten sich an eine Achsenkonkordanz.<br />

Eines der wenigen Häuser, die Schmitthenners Stuttgarter Professorenkollege<br />

Fiechter baute, nämlich sein bereits 1923 erstelltes eigenes <strong>Wohnhaus</strong> in Stuttgart,


142<br />

zeigt, chronologisch gesehen gleich zu Anfang <strong>des</strong> von uns nach formlogischer Reihenfolge<br />

geordneten Gestaltungssytems, diese freie von Stockwerk zu Stockwerk<br />

subtil abweichende Ordnung.<br />

191 Hans Fiechter: Haus Fiechter, Stuttgart. Straßenseite 192-198 Paul Schmitthenner: Haus Müller, Stuttgart<br />

193 Eingangsseite 194 Gartenseite<br />

195 Erdgeschoss<br />

197 Kellergeschoss


143<br />

Als elfte und letzte Stufe definieren wir die Gestaltungsweise, die Fenster auf der<br />

Fassade zu rhythmischen Gruppen zusammenzufassen, diese Gruppen aber asymmetrisch<br />

zu verteilen und auf diese unzweideutig augenfällige Weise den Sehgewohnheiten<br />

eines bei gerade diesem Bautyp harmoniegewohnten Publikums zu widersprechen.<br />

<strong>Das</strong> Stuttgarter Haus Müller von 1937 zeigt dieses Stadium, das nun<br />

auch chronologisch auf die Phase <strong>des</strong> gewissermaßen vollständig ausgebildeten<br />

Gestaltungsrepertoires der 20er Jahre folgt (Abb. 194). Ab Mitte der 30er Jahre arbeitet<br />

Schmitthenner mit stärkeren proportionalen Formkontrasten, wie sie bei den<br />

Häusern Köster und Müller zu beobachten sind, wo relativ große quadratische Fenster<br />

mit schmalen hohen Fenstern kontrastieren (Abb. 206). <strong>Die</strong> verhalten schwungvolle<br />

Eleganz der Stichbögen wird zunehmend durch Rundbögen ersetzt oder vereinzelt<br />

mit diesen kombiniert. Auch voluminöse Gewände und rustikalere Materialzusammenstellungen<br />

wie Fachwerk, mächtigere Holzbalken oder roter Sichtbackstein<br />

im Innenausbau tendieren ansatzweise zum teils betont bäuerlich-rustikalen, teils<br />

monumentalisierenden Bautrend der NS-Zeit.<br />

204-206 Paul Schmitthenner: Haus Köster, Stuttgart. Erdgeschoss 205 Straßenseite<br />

206 Gartenseite<br />

207 Paul Schmitthenner: Atelieranbau an<br />

Haus Schmitthenner, Stuttgart. Rückseite


144<br />

Wie der Bautyp auch mit großflächiger Verglasung seine Proportionalität wahren<br />

kann, führt ein unrealisierter Entwurf von Bonatz von 1925 vor (Abb. 200). 163 Charakteristische<br />

Bonatz-Merkmale zeigt das ansonsten für ihn untypische Projekt in<br />

den längsrechteckigen Scheibenformaten der Sprossenfenster und den diagonalen<br />

Bretterlagen der Balkonbrüstung.<br />

199-203 Paul Bonatz: Entwurf <strong>Wohnhaus</strong><br />

Allen Fassaden Schmitthenners gemeinsam ist das hohe Fingerspitzengefühl für<br />

Detailproportionierung. Sie vermittelt sich besonders durch die unschematisch angewandte<br />

Teilung der Fensterflächen in ihrem Kontext zu Fensterrahmung und<br />

Steingewänden, sowie in der Ausbalancierung der Fensterkomposition auf der<br />

Wandfläche, egal welche der Ordnungsarten zum Einsatz kommt. <strong>Die</strong>ser Effekt wird<br />

nur erzielt, indem Schmitthenner auf die bei anderen Architekten oft zu beobachtende<br />

horizontale oder vertikale Teilung der Wand mit Gesimsen oder Wandfeldern verzichtet.<br />

"Stehende" oder "hängende" Fenster kommen in der Regel ebenso selten<br />

vor (konstruktionsbedingte Ausnahmen sind die Häuser in sichtbarem Fachwerk) wie<br />

der formale Zusammenschluss von Fenstergruppen über die Berührung ihrer<br />

Klappläden.


145<br />

Ihre eindrücklichste Wirkung erzielt diese wandflächenverliebte Feingliederung bei<br />

den Häusern in geschlämmtem Ziegelmauerwerk. <strong>Die</strong> Wandoberfläche wird dabei<br />

nicht glatt verputzt, sondern behält ihre strukturelle Bewegtheit durch die sich vorwölbenden<br />

Ziegelsteine und tiefen oder vorstehenden Mörtelfugen. Als Spuren der<br />

handwerklich unregelmäßigen Ausführung stehen sie in bewusstem Gegensatz zu<br />

technisch-maschineller Glätte. Wand als Projektionsfläche für Licht- und Schattenbildung<br />

und als Kompositionsfläche für Loch und Materie wird damit als stoffliche Qualität<br />

definiert und in ihrem exponierten Einsatz als geradezu puristischer Wert vermittelt.<br />

Den Typ mit Fensterband erstellt Schmitthenner allerdings doch mit dem 1930 erfolgten<br />

Atelieranbau an seinem eigenen Stuttgarter <strong>Wohnhaus</strong> (Abb. 207). Charakteristisch<br />

ist er durch asymmetrische Gesamtkomposition und Fensterkontraktion an<br />

einem der Geschosse individualisiert. <strong>Das</strong>s Schmitthenner die Regenrohre gezielt in<br />

Reaktion auf die jeweilige Wandfläche setzt, je nachdem, ob Unregelmäßigkeit betont<br />

oder wie beim Haus Debatin gemildert werden soll (Abb. 180), wird hier als Gesetzmäßigkeit<br />

deutlich. Ein konstantes Unregelmäßigkeitsmotiv stellt die Setzung<br />

der Kamine dar. Selbst bei streng axialsymmetrischen Fassaden wird damit grundsätzlich<br />

ein Akzent gesetzt, auch wenn es auf den ersten Blick nicht auffällt, wie bei<br />

den Häusern Roser und Debatin (Abb. 172 und 182).<br />

<strong>Die</strong> ausgesprochene Sensibilität für Unregelmäßigkeiten und Asymmetrie könnte auf<br />

das Studium von Goethes Gartenhaus zurückzuführen sein. Hier ist die Bedeutung<br />

<strong>des</strong> zugemauerten Fensters an der ansonsten regelmäßigen Hauptfassade nicht zu<br />

unterschätzen. <strong>Die</strong> gemalte neuerliche Restitution dieses Fensters stellt eine grobe<br />

Verfälschung <strong>des</strong> zumin<strong>des</strong>t für das <strong>20.</strong> Jahrhundert bedeutsamen Rezeptionsstrangs<br />

dieser "Schlüsselfassade" dar. Eine weitere Bedeutungsebene von Schmitthenners<br />

Verständnis der Verarbeitung von Tradition kann in der Beobachtung der<br />

unterschiedlichen repräsentationsbedingten Behandlung von Vorder- und Rückfassade<br />

<strong>des</strong> Gartenhauses gesehen werden, wie wir es auch beim Jagdhaus Gabelbach<br />

vorgefunden haben. Schmitthenner übernimmt diesen Aspekt <strong>des</strong> unordentlichen<br />

Pragmatismus der alten Baukunst und übersetzt ihn in ein neues Ordnungssystem<br />

der willentlichen Irregularität, das er als allgemeingültigen Ausdruck seiner<br />

Gegenwart interpretiert. Je nach Aufgabe schafft er auch eine Synthese zwischen<br />

schematischer Ordnung und willkürlichem Chaos, was als gleichzeitiger dialektischer<br />

Ausdruck der Individualität <strong>des</strong> modernen Menschen und der Einfügung in einen<br />

angestrebten gesamtgesellschaftlichen Kontext lesbar ist. Damit formuliert seine<br />

Architektur einen grundlegenden pädagogischen und weltanschaulichen Anspruch.


146<br />

<strong>Die</strong>se bewusste Störung der Ordnung könnte sogar als noch vollkommen<br />

unbeabsichtigter Vorlauf zur Theorie <strong>des</strong> Dekonstruktivismus der 90er Jahre diskutiert<br />

werden.<br />

5.2.4. Grundrisse und Raumbildung<br />

Untersucht man, ob Schmitthenners hochgradiger Ästhetizismus der Außengestalt<br />

zu Lasten der Innenräume geht, so kann man feststellen, dass gerade die Vielfalt<br />

der Ordnungssysteme immer eine Variante bereithält, die sich auf die einzelne Erfordernis<br />

<strong>des</strong> Inneren anwenden lässt. <strong>Die</strong>se Flexibilität erklärt auch, weshalb nie<br />

alle vier Fassaden eines Hauses einem bestimmten Ordnungssystem folgen. Wieterhin<br />

kommt die beabsichtigte äußere Unregelmäßigkeit der funktionalen Setzung der<br />

Fenster entgegen. Überhaupt gibt es bei Schmitthenners Räumen nicht eine einzig<br />

richtige zum Beispiel mittige Platzierung der Fenster. Vielmehr bleibt auch hier ein<br />

gewisser Spielraum, die Fenster während der Entwurfsphase leicht zu verschieben.<br />

Wo Schmitthenner in Konflikt zwischen Fassade und vernünftiger Befensterung <strong>des</strong><br />

Innenraums kommen könnte, bedient er sich <strong>des</strong> Tricks, an einer Raumseite eine<br />

Schrankwand einzubauen. Damit gleicht er die ansonsten vielleicht als zu<br />

unregelmäßig empfundene Raumgliederung aus, wie im Esszimmer <strong>des</strong> Hauses<br />

Köster (Abb. 204).<br />

Insbesondere Schmitthenners Grundrisse zu den Modell-Typen zeigen, wie die<br />

Struktur der tragenden Wände auf dem traditionellen Schema von einer Längs- und<br />

zwei Querwänden aufbaut. Bei den ausgeführten Bauten ist die individuelle Anpassung<br />

durch Fortlassung oder Verschiebung einzelner Wände dann soweit geführt,<br />

dass als feste Konstante nur noch eine Längsteilung erkennbar bleibt, oder die<br />

Räume U-förmig um eine zentrale Eingangshalle herum liegen, wie beim Haus Roser<br />

(Abb. 170). <strong>Die</strong> Funktionalität dieser Anordnung wird deutlich, wenn man sich<br />

gerade bei Haus Roser vergegenwärtigt, wie die Räume je nach ihrer Nutzung im<br />

normalen Tagesablauf dem Sonnenstand folgen: Schlafzimmer, Ankleide, Bad,<br />

Küche und Kinderspielzimmer haben Morgensonne; Kinder-, Ess- und Damenzimmer<br />

erhalten Mittagssonne, und das nach der Heimkehr <strong>des</strong> Hausherrn von der Arbeit<br />

genützte Wohnzimmer liegt zur Abendsonne. <strong>Das</strong> lärmige Kinderzimmer und<br />

das Wohnzimmer sind möglichst weit voneinander entfernt, wobei die Kinder von der<br />

Küche aus direkt beaufsichtigt werden können. Zur Wegführung der Außenanlagen<br />

schreibt Schmitthenner: "Der Bäckerbursche zweigt aus Instinkt und natürlicher<br />

Faulheit schon vorher links ab und geht zum Nebeneingang der Ostseite, während<br />

der Mann mit der schweren Weinkiste sicher die vier Stufen hinuntergeht, die ihn


147<br />

gleich zum Kellergang führen." 164<br />

Zwei weitere Vorlieben finden sich gelegentlich immer wieder in Schmitthenners<br />

Abwandlung <strong>des</strong> Typgrundrisses: erstens die Einrichtung wenigstens eines Großzügigkeit<br />

und Weite vermittelnden Raumes, zu <strong>des</strong>sen Gunsten andere Räume sehr<br />

klein konzipiert werden. <strong>Die</strong>ser Hauptraum kann auch die gesamte Hausbreite einnehmen<br />

wie in der "Grundriss-Variation II" (Abb. 163) oder ausgeführt beim Haus<br />

Müller (Abb. 197). <strong>Die</strong> zweite Vorliebe ist die in rechtwinklig zueinander liegenden<br />

längsrechteckigen Räumen erfolgende wechselnde Licht-, Blick- und Bewegungsführung.<br />

Sie wird in der "Grundriss-Variation I" (Abb. 162) mit seitlich verlagertem<br />

Treppenhaus deutlich sowie in der Treppenlage <strong>des</strong> Hauses Köster (Abb. 204) oder<br />

der Raumfolge Vorraum-Halle-Flur <strong>des</strong> Hauses Raßbach (Abb. 187). Abwechselnde<br />

intensiv wahrnehmbare Raumeindrücke werden also bei aller räumlichen Beschränktheit<br />

<strong>des</strong> kleinen Typ-Grundrisses durch verschiedene Raumgrößen, Lichteinfälle<br />

und gezielten Wechsel der Helligkeitsstufen erreicht, letzteres zumin<strong>des</strong>t, wo<br />

Verkehrsflächen eine geringere Ausleuchtung zulassen. <strong>Die</strong>se Konzeption steht natürlich<br />

in diametralem Gegensatz zum alles durchflutenden Licht-Luft-Sonne-Ideal<br />

der funktionalistischen Moderne.<br />

Wie mit den Fassaden, so spielt Schmitthenner mit den Variationsmöglichkeiten der<br />

Grundrisse. Weil das Gelände keinen separaten Garagenbau zuließ, wurde ausgerechnet<br />

beim vornehmen Haus Raßbach mit seinem distinguierten Raumprogramm<br />

die Wagenhalle mitten in das Wohngeschoss integriert (Abb. 187). Beim bescheiden<br />

dimensionierten Haus Müller mit extremer Steillage öffnet sich die hangseitig im<br />

Obergeschoss liegende Eingangshalle zweistöckig zu einer Flurgalerie in den Dachraum<br />

(Abb. 198). Und während sich die Treppe nach oben hinter einer Wand verbirgt,<br />

führt die Haupttreppe ins Untergeschoss zu einem Wohnraum über die<br />

gesamte Hausbreite. Durch die Dachgaube über der Eingangstür fällt das Licht<br />

somit durch drei offen ineinander übergehende Etagen.<br />

Schmitthenners gezielte Raumbildungen erstrecken sich auch auf den Gartenbereich.<br />

Wohn-, Garagenhaus und Grundstücksmauern sind oft so arrangiert, dass sie<br />

über Verbindungsmauern mit Tordurchgängen klar definierte Außenraumkompartimente<br />

abgrenzen (Abb. 178 und 189). Niveau-Unterschiede der verschiedenen Hofund<br />

Gartenbereiche verstärken die Differenzierung mit Stützmauern und Verbindungstreppen.<br />

Nutzungsbestimmungen der verschiedenen Gartenbereiche und<br />

unterschiedliche Bodenbeläge der Höfe verstärken die sensitive Erfahrungswelt. So<br />

stark Innenräume untereinander verbunden sind und Gartenbereiche ineinander


148<br />

übergehen sowie über Terrassen und Parterres vielfach miteinander verknüpft sind,<br />

so deutlich sind sie in orthogonale Raumandeutungen gefasst, um ein undifferenziertes<br />

Zerfließen zu verhindern (Abb. 180-181). <strong>Die</strong>ses komplexe System von Raumbildungen<br />

bedingt zur Vermeidung undurchschaubarer Kompliziertheit eine einfache<br />

geschlossene Hausform. Schmitthenner hat nach Bedarf viele andersartige Häuser<br />

gebaut, doch seine Gestaltungsabsichten kommen bei den kubisch geschlossenen<br />

Walmdachhäusern tatsächlich am besten zum Ausdruck.<br />

Eine entscheidende gesellschaftliche Dimension verbindet sich mit Schmitthenners<br />

Häusern: Bauherren verschiedenster Schichten werden auf den gleichen <strong>bürgerliche</strong>n<br />

Haustyp eingeschworen. Vom Hausmeister einer Schule bis zum Industriellen<br />

oder Bankier wird ein gesamtgesellschaftlicher Konsens hergestellt, der den "Armeleutegeruch"<br />

der Hellerauer Bauten oder <strong>des</strong> Zeppelindorfs in Friedrichshafen überwindet.<br />

Ein ausdrückliches Anliegen Schmitthenners ist die Erziehung zur Bescheidenheit<br />

und dazu, nicht mehr scheinen zu wollen, als es dem Sein entspricht. In<br />

seinem Lehrbuch lehnt er bei der Beschreibung seiner gebauten Häuser wiederholt<br />

das Ansinnen nach Repräsentation ab 165 und betont mehrfach, keine "Villen" zu<br />

bauen, sondern "deutsche Landhäuser" 166 . <strong>Die</strong> Begriffe mit denen er seine humanistische<br />

Bauabsicht charakterisiert sind dagegen "Bodenständigkeit", "Bürgersinn",<br />

"Behaglichkeit", "heitere Liebenswürdigkeit", "Gastlichkeit", "Unaufdringlichkeit",<br />

"Zurückhaltung" und allenfalls "kühle Vornehmheit".<br />

5.3. Stuttgarter Schule<br />

Schmitthenners Person und Werk stellen in der Geschichte <strong>des</strong> Walmdachhauses in<br />

der Moderne ein Phänomen dar, welches angesichts der uns nun geläufigen Vorgeschichte<br />

<strong>des</strong> Bautyps aus der Hand anderer Architekten mit einer selektiven<br />

Wahrnehmung der Öffentlichkeit und von Teilen der Fachwelt erklärt werden muss.<br />

Schmitthenner setzte konsequenter auf diese bildhafte Hausform als alle ihre anderen<br />

Protagonisten und unterlegte sie mit einer systematischen gestaltungstheoretischen<br />

Basis. <strong>Die</strong> Gefahr eines im Ideal der Vereinheitlichung liegenden trockenen<br />

Schematismus, die die anderen Protagonisten möglicherweise wieder vom Bautyp<br />

abbrachte, umging er durch einen kreativen Einsatz individueller Bestandteile und<br />

durch die Fähigkeit zur spontanen improvisatorischen Anpassung an die jeweiligen<br />

Eigenheiten der Aufgabe und der Bauherren, welche sich in diesem Schöpfungsprozess<br />

wiederfanden. <strong>Die</strong>s war sogar fester Bestandteil der Entwurfsmethode.<br />

Im Verweis auf Goethes Gartenhaus belegte er den Bautyp, wie gesagt, öffentlichkeitswirksam<br />

mit positiven Werten: deutsche Geisteskultur, nationale Tradition und


149<br />

<strong>bürgerliche</strong> Liberalität. Mit dieser geschickten Argumentation machte er das Walmdachhaus<br />

nicht nur zu seinem Markenzeichen, sondern begründete in der Folgewirkung<br />

der Stuttgarter Schule eine äußerst erfolgreiche Baumode im Privathaussektor<br />

und Siedlungsbau. 167<br />

<strong>Die</strong>ser Erfolg wäre jedoch nicht so nachhaltig ausgefallen, wenn die reformierten<br />

Ausbildungsmethoden der Stuttgarter Schule sich nicht gleichzeitig auf eine, auf die<br />

realistischen bautechnischen Möglichkeiten der Zeit zugeschnittene handwerkliche<br />

Qualität konzentriert hätten. <strong>Die</strong> programmatische Anwendung natürlicher Materialien<br />

entsprach einem noch unausgesprochenen Bedürfnis nach ökologischem<br />

Bauen, das sich in vielen Reformbestrebungen der Zeit entwickelte, wie in der<br />

Anthro-posophie oder in Tendenzen der Bekleidungsmode. Mit dem Begriff der<br />

Werkgerechtigkeit<br />

verband sich die Bauphilosophie einer den besonderen wesenhaften<br />

Eigenschaften der Materialien entsprechenden Anwendung und Verarbeitung. Deren<br />

charakteristische Erscheinung wurde nicht hinter Verkleidungen oder Verputz versteckt,<br />

sondern als Mittel der Gestaltung zur Geltung gebracht. Sichtbare Oberflächenstruktur<br />

<strong>des</strong> Mauerwerks, sichtbares Dachgebälk oder offene ertastbare Holzmaßerung<br />

wurden zur Ausdruckssteigerung schulmäßig vorgeführt und zwangen die<br />

beteiligten Handwerker zur gewissenhaften Ausführung, weil jeder Pfusch offensichtlich<br />

gewesen wäre. <strong>Die</strong>se Bauten hatten und haben bis heute den Ruf ausgesprochener<br />

bautechnischer Qualität und Haltbarkeit.<br />

5.4. Bautyp und Funktionalismus<br />

Während ein Buchtitel den "Sieg <strong>des</strong> Neuen Baustils" 1<strong>68</strong> deklamierte und die zeitgenössische<br />

Publizistik teilweise, die baugeschichtliche Literatur über das <strong>20.</strong> Jahrhundert<br />

sogar überwiegend die Dominanz der "weißen" Moderne der Neuen Sachlichkeit<br />

vermittelt, zeigt die Realität <strong>des</strong> Baugeschehens der Weimarer Republik<br />

unbestreitbar den quantitativen Erfolg der traditionalistischen Moderne. 169 Daher<br />

entwickelte sich auch eine als "Kulturkampf" empfundene Polarisierung zwischen<br />

manchen Anhängern der beiden Modernen. In der Bestrebung um Erfolg und<br />

Marktanteile bediente sich die im offensiven dynamischen Selbstverständnis verankerte<br />

"neue" Moderne, insbesondere um das Bauhaus, der modernsten, aber<br />

auch aggressiven Methoden der Medienpräsenz in Form, Typographie, Wortwahl,<br />

Publikation, Plakatierung, Vortragstätigkeit und publikumswirksamen Demonstrationsausstellungen.<br />

Ihre Bauweise war auffällig, "laut", unangepasst, technisch<br />

risikofreudig, formal experimentell und wollte mit allen Traditionen schrittweiser


150<br />

kultureller Fortentwicklung brechen. Sie spielte bekanntermaßen mit Maschinenästhetik<br />

und Dampfermotiven und visualisierte die Dynamik der geschwindigkeitsverliebten<br />

Großstadt.<br />

Wir skizzieren diese durchaus verkürzte Charakterisierung, um zu verdeutlichen,<br />

dass aus der Perspektive der evolutionären Veränderungsabsicht der Traditionalisten<br />

diese revolutionäre Verdrängungsstrategie der Funktionalisten als Kampfansage<br />

an ihre ethischen Grundwerte und Überzeugungen verstanden werden<br />

konnte. So gab Schmitthenner auch sukzessive die ihm eigene Art <strong>des</strong> "stillen<br />

Webens und Wachsens" 170 auf und ging in der ersten Auflage seiner "Baugestaltung"<br />

von 1932 zu harschen verbalen Attacken auf das Neue Bauen über, die er bei<br />

den späteren Auflagen wieder herausnahm. Doch der aggressive Ton ging zu<br />

Lasten beider Lager, denn auch oder gerade die im linken politischen Spektrum<br />

positionierten Wortführer <strong>des</strong> Funktionalismus entwarfen kein solch demokratischliberales<br />

Weltbild, das die traditionalistische Architektur auch für die Zukunft neben<br />

sich paritätisch dulden wollte. <strong>Das</strong> beweisen schon die Bauausstellungen, die fast<br />

immer unter Ausschluss der jeweiligen anderen Richtung organisiert wurden. Hier<br />

wurde deutlich die Absicht formuliert, die vermeintlich rückständige Architektur<br />

vollständig zu überwinden. Der Totalitätsanspruch <strong>des</strong> internationalen Stils stellte die<br />

Verdrängung aller regionalen Eigenheiten in Aussicht.<br />

Natürlich kann es im Rahmen dieser Arbeit nicht darum gehen, Entwicklung und<br />

Hintergründe der funktionalistischen Architektur neu aufzurollen oder den Konflikt zu<br />

erklären, weshalb die traditionalistische Architektur mit der NS-Staatsbaukunst konform<br />

ging oder teilweise auch nur in ihren Sog geriet. Hierzu wurde bereits viel erforscht;<br />

vieles bleibt auch noch zu klären. 171 Dennoch behandeln wir einzelne<br />

Aspekte, sofern sie die Geschichte <strong>des</strong> Walmdachhauses berühren. Denn es hat für<br />

den Traditionalismus einen vergleichbaren paradigmatischen Stellenwert der reduzierten<br />

Grundform wie der Würfelkubus für den Funktionalismus. Und beide fanden<br />

in Stuttgart einen Brennpunkt der Auseinandersetzung in der Konfrontation zwischen<br />

Stuttgarter Schule, insbesondere Bonatz und Schmitthenner, und der Werkbundausstellung<br />

von 1927, der Stuttgarter Weißenhofsiedlung, ihrerseits verkörpert durch<br />

eine Reihe von Architekten, die sich noch kurz zuvor durch mehr oder weniger bedeutende<br />

Beiträge zum Walmdachhaus profiliert hatten: Ludwig Mies van der Rohe,<br />

Peter Behrens, Walter Gropius sowie der Bonatz-Schüler Richard Döcker. Auch der<br />

damalige Lehrer am Bauhaus und spätere Direktor Hannes Meyer hatte 1919-21 mit<br />

der Siedlung Freidorf bei Basel das Vorbild Staakens verarbeitet.


151<br />

Aus der Perspektive der traditionalistischen Kritiker <strong>des</strong> Funktionalismus machte<br />

sich diese neue Moderne zunächst <strong>des</strong>halb lächerlich und keiner ernsthaften Auseinandersetzung<br />

würdig, weil sie eine Reihe von konventionellen Wohnhäusern<br />

hervorgebracht hatte, die sich einfach dadurch auszeichneten, kein Dach zu haben.<br />

<strong>Das</strong>s sich der Streit auf eine Dachfrage zuspitzte, ist also auch zum Teil auf das<br />

latente äußerliche Stilwollen <strong>des</strong> Funktionalismus zurückzuführen. 172 So waren auch<br />

auf der Weißenhofsiedlung einzelne Häuser in konventioneller Technik ausgeführt<br />

worden, die nach außen den Schein neuer Konstruktionen vorspiegelten, wie dies<br />

schon bei Erich Mendelsohns Einsteinturm in Potsdam der Fall war. Ansonsten konnte<br />

Schmitthenner nach dem Stand der damaligen technischen Möglichkeiten über<br />

die "Neue Sachlichkeit" spotten: "Es ist unsachlich Wohnhäuser aus Stahlplatten<br />

und Glas zu bauen, um sie dann mit allem möglichen Aufwand gegen Schall, Wärme<br />

und Kälte zu isolieren." 173<br />

5.5. Walter Gropius: Häuser Sommerfeld und Otte<br />

Der Beitrag von Walter Gropius zum Walmdachhaus im <strong>20.</strong> Jahrhundert ist wiederum<br />

ein durchaus programmatischer Bau. Denn das Haus Sommerfeld in Berlin-<br />

Steglitz von 1920-21 war ein Auftrag eines erklärten Bauhaus-Mäzens an das private<br />

Architekturbüro <strong>des</strong> Bauhausdirektors und wurde zugleich zur ersten Gemeinschaftsarbeit<br />

<strong>des</strong> Dessauer Bauhauses, <strong>des</strong>sen Werkstätten Glasfenster, Schnitzhandwerk,<br />

Metallarbeiten, Möbel und Teppiche beisteuerten. Gropius verwirklichte<br />

erstmals seine "Idee, der ich über lange Jahre nachlaufe: Vereinigung aller Künste<br />

am Bau" 174 . <strong>Das</strong>s es sich um ein vollständig aus Holz gebautes Blockhaus handelt,<br />

liegt nicht nur daran, dass der Sägewerksbesitzer Sommerfeld gerade ein altes<br />

Kriegsschiff gekauft und zerlegt hatte. Gropius propagierte damals Holz als den modernen<br />

Baustoff der Gegenwart schlechthin. 175 Darüber hinaus ist das Haus ein vielzitiertes<br />

Manifest der expressionistischen Architektur, das in Publikationen allerdings<br />

meist von der stärker mit diagonalen Elementen versehenen Eingangsseite und aus<br />

einer das hohe Walmdach kaschierenden Froschperspektive abgebildet wird. Berühmtheit<br />

hat auch der expressiv verfremdete Aufriss auf der Einladungskarte zum<br />

Richtfest erlangt.<br />

<strong>Die</strong> Gartenseite <strong>des</strong> auf einem Bruchsteinsockel errichteten und von ebensolchen<br />

Terrassenmauern umgebenen Blockhauses aus horizontal geschichteten Holzbohlen<br />

und an den Ecken verzahnten überstehenden Balkenköpfen zeigt zwei Stockwerke<br />

mit drei Fensterachsen. <strong>Die</strong> begrenzte Balkenlänge bestimmt die Gliederung<br />

in drei Wandflächen. Der Konstruktionsart entsprechend kragt das Obergeschoss


152<br />

208-209 Walter Gropius: Haus Sommerfeld, Berlin. Gartenseite 209 Einladungskarte zum Richtfest. Eingangsseite<br />

leicht vor. Dem teilweise eingezogenen Balkon läuft der leichte Vorsprung der Dachtraufe<br />

entgegen. <strong>Das</strong> schiefergedeckte Walmdach wurde der expressionistisch-kristallinen<br />

Zersplitterungsästhetik gemäß am First aufgekantet und mit einem Mittelgrat<br />

versehen, welcher zu einer pagodenhaft aufgeschwungenen Dachgaube hinabführt.<br />

<strong>Die</strong> streng axialsymmetrische Fassade zeichnet sich durch mittige große dreiflügelige<br />

Terrassen- und Balkonfenstertüren aus, die im Erdgeschoss durch breite<br />

vierflügelige Fenster flankiert werden und im Obergeschoss mit hochrechteckigen<br />

Fenstern einen sich motivisch verjüngenden Gegenakzent erhalten. Horizontale und<br />

vertikale Gliederungsstruktur sind in einen überzeugenden Rhythmus gebracht.<br />

Zusammen mit dem Materialwechsel von hellem Kalkstein über dunkles Holz zu<br />

grauglänzendem Schiefer kann darin die Verarbeitung von Behrens' Hagener<br />

Häusern erkannt werden – Gropius war Bauleiter <strong>des</strong> Hauses Cuno. Gropius' Vorliebe<br />

für Frank Lloyd Wright lässt auch an das Haus Winslow mit seinem weiten<br />

Dachüberstand denken und erklärt vielleicht die Extravaganz der pagodenhaften<br />

Dachumformung. Nicht zuletzt ein artistischer Innenausbau in Teakholz, mit<br />

abstrakt-skulpturalem Treppengeländer und fischgrätartig vertäfelter polygonaler<br />

Treppenhalle machten das nicht erhaltene Haus Sommerfeld zu einem bizarren<br />

Markstein in der Baugeschichte <strong>des</strong> <strong>20.</strong> <strong>Jahrhunderts</strong>.<br />

Eine weitere folgenlos gebliebene Spielart, den Walmdachbautyp an eine ebenso<br />

exzentrische wie kurzzeitige Baumode zu adaptieren, stellt Gropius' Haus Otte in<br />

Berlin-Zehlendorf, ebenfalls von 1920-21, dar. 176 Obwohl es auf L-förmigem Grundriss<br />

zum Garten hin den Eindruck von zwei in sich nochmals aufgegliederten Baukörpern<br />

macht, erscheint seine Eingangsseite als die kubistische Variante der Eingangsseite<br />

<strong>des</strong> Hauses Sommerfeld. Nur die diagonal ansetzende Hofmauer und


153<br />

210 Walter Gropius: Haus Otte, Berlin<br />

die ungleichen Schornsteine brechen die strenge axialsymmetrische Fassade, die<br />

durch die breiten, schräg zulaufenden Gesimsbänder in Korrespondenz zur flachen<br />

Neigung <strong>des</strong> Vordachs als Wiederholung zum geradlinigen Umriss <strong>des</strong> Hauptdachs<br />

bereits in sich stark dynamisiert ist. Dazu kommt die überaus wuchtige Massivität<br />

der in der plastischen Massenverteilung meisterlich skulpierten Wandgliederung:<br />

Alle Öffnungen konzentrieren sich auf den tiefen Einschnitt der Mittelachse, welche<br />

durch die flankierenden Wandfeldvorsprünge nochmals stärker von den seitlichen<br />

Mauerflächen abgesetzt ist. <strong>Die</strong> Baumassen <strong>des</strong> Vorbaus wiederholen effektvoll das<br />

gleiche Relief, aber nun in leicht horizontal gelagerten Volumen. <strong>Die</strong> beiden Mauervorsprünge<br />

an der Vortreppe bilden die plastische Antwort auf die "Negativform" der<br />

beiden die Eingangstür flankierenden Fenster, die wiederum von den Kaminen motivisch<br />

wiederholt wird. <strong>Die</strong> spannungsvoll-elegante Teilung <strong>des</strong> übergroßen Treppenhausfensters<br />

steht in prägnantem Kontrast zu den geschlossenen Mauerflächen, findet<br />

jedoch keine formale Entsprechung in der Dachgaube. Ihre Trapezform ergänzt<br />

dafür das schlüssige kubistische Formenvokabular.<br />

5.6. "Walmdachhäuser" ohne Dach<br />

<strong>Das</strong>s auf die expressionistische und kubistische Stileskapade unmittelbar die ersten<br />

weißen glatten Kuben <strong>des</strong> Funktionalismus folgten, mag die Skepsis erklären, die<br />

die Kritiker dieser vermeintlich weiteren kurzzeitigen Stilmode zunächst entgegenbrachten.<br />

Zwischen 1923 und 1925 errichtete Behrens das erste Haus im internationalen<br />

Stil in England, das programmatisch "New Ways" benannte Haus Basset-<br />

Lowke in Northampton. 177<br />

In seinen Proportionen, seinem eingeschnittenen Balkon über vorgelagerter Terrasse<br />

und den vierflügeligen Fenstern erscheint die Gartenfassade <strong>des</strong> U-förmigen<br />

Baus einfach als eine rationalistische Umwandlung von Gropius' Haus Sommerfeld.


154<br />

Nur die glatte weiße Wand, das Flachdach und die schmalen Profile der schwarzen<br />

Stahlfenster charakterisieren diese ansonsten konventionelle Ansicht mit Axialsymmetrie,<br />

handwerklich gemauerter bogenförmiger Gartentreppe und skurrilen Details<br />

wie den Schmuckzargen der Dachkante und dem angedeuteten Klötzchenfries als<br />

Kapitellersatz für die stufig abgetreppten Wandpfeilerzonen zu beiden Seiten <strong>des</strong><br />

Balkons.<br />

211 Peter Behrens: Haus Basset-Lowke, Northampton 212 Gustav Lüdecke: Kpfarbeiterhaus, Dresden<br />

213 Bauernhaus, Lanzarote, Canarische Inseln 214 Richard Döcker: Entwurf für eine Stuttgarter Hangbebauung<br />

Nicht nur hinsichtlich seiner Hauptfassade, sondern tatsächlich als Gesamtbau stellt<br />

das "Kopfarbeiterhaus" von Gustav Lüdecke auf der Dresdner Jahresschau "Wohnung<br />

und Siedlung" von 1925 eine Variation unseres Bautyps im Gewand <strong>des</strong> Funktionalismus<br />

dar. 178 Da Lüdecke in den 20er Jahren die Gartenstadt Hellerau erweiterte,<br />

wird die Bezugnahme zu den dortigen Häusern von Fischer, Tessenow und<br />

damit zu Goethes Gartenhaus offensichtlich. <strong>Die</strong> konzeptionelle Widmung als Haus<br />

eines Intellektuellen bestätigt diese Zuordnung. Vermutlich verfolgten die renommierten,<br />

an Hellerau beteiligten Werkbundmitglieder diese Bauaustellung aufmerksam.<br />

Leider ist bislang nicht recherchiert, welche Kommentare ihnen zur Originalität<br />

dieses Modellprojekts einfielen. Immerhin nahm El Lissitzky voller Begeisterung


155<br />

sofort Kontakt zu Lüdecke auf. 179 Trotz der vielzitierten Assoziationen von Bonatz<br />

zur Weißenhofsiedlung als "Vorstadt Jerusalems" und von Schmitthenner als "italienisches<br />

Bergnest" wollen wir diesem Kopfarbeiterhaus ein traditionelles Landarbeiterhaus<br />

aus Tiagua auf der Kanareninsel Lanzarote gegenüberstellen, ohne uns<br />

nun dem Vorwurf der Polemik auszusetzen. Denn die Zuweisung von Analogien zur<br />

Herleitung von Ursprüngen ist schließlich eine auf alle Objekte angewandte wertfreie<br />

Methode dieser Arbeit. <strong>Das</strong> Kopfarbeiterhaus wurde als Skelettbau mit Stahlgitterstäben<br />

und Hohlsteinausmauerung ausgeführt. Der auf dem Dach zurückgesetzte<br />

Aufbau ist der Ausgang zur begehbaren Dachterrasse, die mit Stoffvorhängen<br />

ringsum verhüllt werden kann. Bemerkenswert unpraktisch erscheinen die gleichmäßig<br />

gesprossten Kippfenster, deren unteres Drittel fest eingebaut ist.<br />

Dennoch amüsant ist der Vergleich mit dem lanzarotenischen Bauernhaus mit<br />

seinen geradezu schmitthennerischen Proportionen und Fensterformatwechseln.<br />

Zudem reagieren minimal vorstehende horizontale Verdachungen nur über den<br />

seitlichen Obergeschossfenstern als Reliefkontrast auf das prägnante quadratische<br />

"Loch" der kleinen Loggia mit Holzbrüstung.<br />

Ähnliche konventionelle Haustypen – nur eben ohne Dach – realisierte Ernst May als<br />

Doppelreihenhäuser in der Siedlung Praunheim in Frankfurt a. M. 1927-29, und<br />

Richard Döcker entwarf 1922 eine Gruppe quasi enthaupteter Schmitthennerhäuser<br />

mit konventionellen Grundrissen, Sprossen, Klappläden und Mittelbalkonen als Terrassenanlage<br />

für die Stuttgarter Hänge. 180<br />

Bemerkenswerterweise nahm Schmitthenner diese Hauskonzeption gerade nicht als<br />

ironische Variante <strong>des</strong> funktionalistischen Hauses in seine Typenreihe "Gebaute<br />

Form" auf. Denn das hätte man ihm wohl als billige Polemik ausgelegt. Er wandelte<br />

den Typ mit Dachsprüngen, ungelenk übereck geführten Fenstern und Fensterbändern<br />

nach funktionalistischen Maßstäben ab (Abb. 1<strong>68</strong>).<br />

Hier offenbart sich, dass die aus heutiger Perpektive lächerliche Kleinigkeit der<br />

"Dachfrage" als paradigmatische Zuspitzung der damaligen Auseinandersetzung<br />

nicht nur eine reaktionäre Verkennung der wesentlichen Bauinhalte durch die konservativen<br />

Gegner <strong>des</strong> Neuen Bauens war, sondern auch ihren Ausgangspunkt in<br />

der durchaus unsachlichen Vorgehensweise mancher früher pseudo-funktionalistischen<br />

Baulösung hatte, bei der Modernität im Wesentlichen durch simple Fortlassung<br />

<strong>des</strong> Daches signalisiert wurde. Es zeigt aber auch, dass unser Untersuchungsgegenstand<br />

auch noch eine typrelevante Bedeutungsebene hat, wenn er – in seine<br />

Einzelteile dekonstruiert – nur als Haustyp ohne das determinierende Dach in Er-


156<br />

scheinung tritt. In der Umkehrung gilt dies theoretisch also auch für das isolierte<br />

Dach ohne Hauskörper. Und genau diese Position besetzt eine Karikatur von Adolf<br />

Loos, der aus Anlass <strong>des</strong> Dächerstreits das Haus auf das Walmdach beschränkte<br />

und es nach dem Klischee <strong>bürgerliche</strong>r Gemütlichkeit mit Vorgartenbaum und Ruhebänkchen<br />

ausstaffierte. Als Reaktion auf das bautechnisch damals sicher gerechtfertigte<br />

Argument, ein konventionelles Dach sei trotz seines Bauaufwands immer<br />

noch billiger als die Verstärkungs- und Isolierungsmaßnahmen eines Flachdachs<br />

mitsamt seiner Folgekosten durch die häufige Überwachung und Ausbesserung<br />

schrieb Loos ironisch: "Aber ist denn das wirklich billig? Wer würde beim bau eines<br />

einstöckigen hauses mit dem dach beginnen? Es kommt doch so billig! <strong>Das</strong> habe ich<br />

aber noch nie gesehen, daß ein haus so ausgesehen hat:" 181 (es folgt die Zeichnung).<br />

Unbeabsichtigt antizipierte Loos damit aber genau die einfachste "billigste"<br />

Urform <strong>des</strong> Hauses: das walmartig zusammengefügte Zelthaus, wie es für die Urgeschichte<br />

angenommen wird. Es stimmt allerdings, dass Loos ein solches Haus nie<br />

gesehen haben konnte.<br />

215 Adolf Loos: Hauskarikatur<br />

5.7. Nachfolger<br />

Zieht man eine Bilanz <strong>des</strong> kommunalen Wohnungs- und Siedlungsbaus während der<br />

Weimarer Republik, wie es das Überblickswerk von Albert Gut 182 repräsentativer<br />

vermittelt als die Beachtung avantgardistischer Bauten in den zeitgenössischen<br />

Fachzeitschriften, dann wird der Erfolg der traditionalistischen Architektur offensichtlich.<br />

<strong>Die</strong> Stuttgarter Schule war tatsächlich die führende Bauschule, und ihre Absolventen<br />

eroberten auch die Bauämter. <strong>Die</strong> in den 20er und 30er Jahren angelegten<br />

Stadtviertel, insbesondere die Einfamilienhausquartiere, sind quer durch Deutschland<br />

und bis heute von Walmdachbauten geprägt. Während aber "die Stuttgarter"<br />

regionaltypische individuelle Komponenten einplanten und damit eine spezifische


157<br />

Charakteristik erreichten, gibt es auch zahllose Ergebnisse der bis zum Überdruss<br />

schematischen Anpassung und Nachahmung durch Architekten, die nur das gängige<br />

Vorbild übernahmen oder die frühe Entwicklung <strong>des</strong> Bautyps aufgriffen. <strong>Die</strong> ehedem<br />

besondere Erscheinung wurde zum Gemeinplatz.<br />

In den 20er Jahren traten besonders noch Theodor Merrill in Köln und Otto Rudolf<br />

Salvisberg in Berlin mit Spezialisierung auf typentsprechende Landhäuser auf.<br />

Erwähnenswert für ihre individuelle Gestaltung sind noch ein <strong>Wohnhaus</strong> in Velbert<br />

vom Schmitthenner-Schüler Paul Flieter 183 und ein Landhaus am Ammersee von<br />

Roderich Fick 184 , beide um 1929.<br />

Flieter pointiert am Obergeschoss der Gartenseite die Horizontale und setzt zum<br />

Kontrast darunter nur eine einsame Fenstertür in die ansonsten geschlossene<br />

Wand. Der Grundriss ist eine effektvolle Abwandlung von Schmitthenners Haus Roser.<br />

Der schmale Hallenflur mit räumlich abgesonderter Garderobe und Treppe erzielt<br />

im Verbund mit den jeweils nur von einer Seite befensterten Wohnräumen und<br />

einer für jeden Raum eigenständigen Fenstersetzung eine präzise Abwechslung der<br />

Lichtführung. Durch die Lage der Türen ergeben sich bevorzugt Bewegungsrichtungen<br />

mit frontalem Außenblick. Ungewöhnlich endet die Treppe mittig in der oberen<br />

Halle. Allen Hausseiten sind unterschiedlich gestaltete Außentreppe zugeordnet.<br />

216-218 Paul Flieter: Haus Flieter, Velbert 217 Obergeschoss 218 Erdgeschoss<br />

219-220 Roderich Fick: Haus am Ammersee 220 Erdgeschoss


158<br />

Ficks Haus fällt durch die asymmetrische Eingangsseite auf, deren Öffnungen ungewöhnliche<br />

diagonale Kompositionsachsen bilden. Markant sind das hochformatige<br />

Treppenhausfenster und die Betonung der Wandflächen im Verbund mit den Begrenzungsmauern.<br />

Interessant wirkt die strenge Zweibündigkeit <strong>des</strong> länglichen und sehr<br />

schmalen Grundrisses. Wohn- und Funktionsräume sind konsequent auf ihre<br />

jeweilige Hausseite konzentriert, so dass eine ungewöhnliche Enfilade vom Vorplatz<br />

über <strong>Die</strong>le, Vorraum, Küche und Windfang ensteht.<br />

Der Einsatz geschlossener und glatt verputzter Wandflächen als ästhetische Qualität<br />

ist beiden Häusern gemein. In Gegenposition zum absoluten Paradigma der Öffnung<br />

der Wand bei der funktionalistischen Moderne scheint hier eine gezielte und Bedeutung<br />

signalisierende Schließung der Wand durch kompositionelle Konzentration der<br />

Fenster und Türen auf bestimmte Kernbereiche erfolgt zu sein. Damit einher geht ein<br />

Abrücken von der gleichmäßigen Befensterung der Fassade. Einerseits bestätigt sich<br />

damit die Tendenz, die Fassadenfläche als klare konstruktiv-gestalterische Einheit<br />

aufzufassen und nicht mehr, wie zu Beginn der Entwicklung, die Fläche in Teilbereiche<br />

zu zergliedern. Und andererseits übersteigt sie sogar die schmitthennersche<br />

Dimension, die Wandfläche als Feld gestalterischer Qualität zu behandeln.<br />

Eine analoge dialektische Auseinandersetzung mit den gleichen formalen Themen<br />

bewegt auch die konstruktivistische Moderne: Einerseits in der Zergliederung der<br />

Bauteile in voneinander isolierte Wände und Öffnungen, wie an Mies van der Rohes<br />

Barcelona-Pavillon, und andererseits in der Vereinheitlichung der Baukörper, für die<br />

die Vielzahl der weißverputzten Hauskuben steht.<br />

5.8. Nationalsozialismus<br />

Ein fester Bestandteil der Rezeption <strong>des</strong> Walmdachhauses, sofern er in der Architekturgeschichtsschreibung<br />

zum <strong>20.</strong> Jahrhundert auftaucht, ist seine Verbindung mit der<br />

Architektur während <strong>des</strong> Nationalsozialismus. Schmitthenner galt lange Zeit als der<br />

"Nazi-Architekt par excellence" 185 . Gleichwohl wird dieses Urteil in neueren Untersuchungen<br />

relativiert und revidiert. 186<br />

Tatsächlich engagierte sich Schmitthenner ab 1932 für die Nationalsozialistische Partei,<br />

hielt Vorträge im "Kampfbund für Deutsche Kultur" und publizierte Schriften, in<br />

denen sein integrativer, gemütlich-erzählerischer Stil plötzlich in teilweise dogmatische<br />

und diffamierende Polemik umschlug. 187 Anläßlich <strong>des</strong> Goethejahres 1932<br />

fanden das Weimarer Gartenhaus und im Vergleich Schmitthenners Wohnhäuser so<br />

viel Erwähnung, dass der Eindruck eines anerkannten zukünftigen Baustils entstand.


159<br />

Obwohl Schmitthenner autoritären Strukturen der Berufs- und Gesellschaftsordnung<br />

das Wort redete und seine ebenso antikapitalistische wie antimarxistische Einstellung<br />

verbreitete, außerdem zugunsten handwerklicher Berufsfelder gegen die Industrialisierung<br />

der Bauwirtschaft argumentierte, die Werte von Nation und Volkstum hervorhob<br />

und dem Führer huldigte, war er kein überzeugter "Nazi". <strong>Die</strong> Mitgliedschaft in<br />

der NSDAP ab 1933 betrachtete er als Formsache, um mit seinem Einfluss seinen<br />

architektonisch-gesellschaftlichen Überzeugungen zum Durchbruch zu verhelfen und<br />

die anfangs noch nicht festgelegte kulturelle Ausrichtung der Partei auf seine Ziele<br />

einschwenken zu lassen. <strong>Die</strong> Versuche anderer Architekten, den Nationalsozialismus<br />

wie den Faschismus in Italien als moderne Bewegung zu begreifen und den<br />

Nationalsozialistens funktionalistische Staatsarchitektur anzubieten sind bekannt. Am<br />

gewichtigsten und zutreffendsten zur Einschätzung dieses Architekten "im Sog <strong>des</strong><br />

Nationalsozialismus" 188 ist vielleicht das Urteil seines stärksten Gegners und<br />

"Intimfein<strong>des</strong>" Richard Döcker, der 1932 über Schmitthenner schrieb: "macht in nazi<br />

und hofft die deutsche Kunst zu retten" 189 .<br />

Doch bereits ab 1934 geriet Schmitthenner in Gegenposition zur staatlichen Kulturpolitik.<br />

190 <strong>Die</strong> vornehme Bescheidenheit seiner Häuser passte nicht zur imperialistischen<br />

neoklassizistischen Staatsbaukunst <strong>des</strong> "Dritten Reiches", nicht zur technizistischen<br />

Fortschrittlichkeit der Industrieanlagen, nicht zum einschüchternden Bombast<br />

der Kasernen und auch nicht wirklich zur bieder-uniformen Rustikalität der SS-<br />

Siedlungen. Im privaten <strong>Wohnhaus</strong>bau wurde er wohl geduldet, aber nicht mehr als<br />

vorbildlich herausgestellt und erhielt keine öffentlichen Aufträge mehr. Keiner der bekannteren<br />

NS-Größen wohnte in einem "deutschen <strong>Wohnhaus</strong>" nach schmitthennerschem<br />

Vorbild. Bezeichnend sind Adolf Hitlers Obersalzberg-Chalet, Hermann Görings<br />

fiktional-germanisches Karinhall oder Speers neobarocke und germano-römische<br />

Planungen für seinen eigenen Herrensitz. 191 Schmitthenners unmissverständliche<br />

Opposition zu Speers Staatsbau-Monumentalismus mit seiner Publikation "<strong>Das</strong><br />

sanfte Gesetz in der Baukunst" von 1943 wurde im Jahr darauf prompt aus dem<br />

Kreis um den Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt durch "<strong>Das</strong> harte<br />

Gesetz in der Baukunst" gekontert. 192 Während Schmitthenner von 1933 bis 1937<br />

noch drei Walmdachhäuser baute – danach bis zum Wiederaufbau keine mehr –,<br />

blieb der Bautyp bei privaten Bauherren weiterhin beliebt. 193 Der offiziellen Ideologie<br />

der gleichgeschalteten und hierarchisch strukturierten Volksgemeinschaft von<br />

Parteigenossen passte die selbstbewusste Individualität, die den Häusern bei aller<br />

Typisierung innewohnt jedoch nicht ins Konzept.


160<br />

Kennzeichnend erscheint eine Baufibel von 1940, in der zwar die Liste der bekannten<br />

historischen Beispiele von Goethes Gartenhaus und dem Pfarrhaus am<br />

Weißensee, erweitert durch das Jagdhaus von Wolbeck, als Herleitung einer deutschen<br />

Tradition dient. 194 Ihr eigentliches Anliegen ist jedoch die Bekämpfung von<br />

langweilig proportionierten und mit schlechten modischen Details ausgeführten<br />

Walm- und Zeltdachhäusern. Der weitverbreitete Schmähbegriff für diese kubischen<br />

Einzelhäuser auf schmalen Parzellen, die etwas zu hoch sind, zu dicht beeinanderstehen,<br />

folglich ungünstig befenstert sind und keine klare Ausrichtung nach Giebeloder<br />

Traufseite eingehen, lautet "Kaffeemühlen". Als Gegenmodell werden durchweg<br />

Giebelhäuser in siedlungshafter Reihung oder Reihenhäuser in einem homogenen<br />

städtebaulichen Verband propagiert. <strong>Die</strong>s war jedoch nicht gegen Schmitthenner<br />

gemünzt, der sich selbst in seiner Propagandaschrift "<strong>Die</strong> Baukunst im<br />

neuen Reich" gegen das schlechte Epigonentum verwahrte, gegen "jene schauerlichen<br />

Dachgebilde, mit denen allein schon heute unfähige Architekten ihre deutsche<br />

Baugesinnung beweisen und in überheblicher Anmaßung das beste Gebäude mit<br />

flachem Dach als Baubolschewismus abtun möchten." 195 In der Praxis <strong>des</strong> nationalsozialistischen<br />

Wohnungsbaus trat eine annähernd großzügige Landhausbauweise<br />

allenfalls als Führer- und Kommandantenhäuser für Eliteschulen und Kasernen auf.<br />

Auch eine Reihe von ländlichen Postämtern wurde in Bayern im Walmdachtyp durch<br />

lokale Postdirektionen bereits vor 1933 errichtet. 196 <strong>Die</strong> Autobahn-Straßenmeisterei<br />

Alsfeld von 1938-41 von Bonatz steht im gleichen Zusammenhang amtlicher Bauaufgaben.<br />

197<br />

221-223 „Kaffeemühlen“ als negativbeispiele nach Wolf


161<br />

Interessanterweise findet der Bautyp in England in den 20er und 30er Jahren<br />

ebenfalls große Verbreitung als <strong>Wohnhaus</strong>, wohlgemerkt ohne eine vergleichbare<br />

Polarisierung der Architekten oder politisch-ideologische Förderung wie in<br />

Deutschland. 198<br />

224-225 Hennel & James: <strong>Wohnhaus</strong> in England 225 Erdgeschoss<br />

6. Nachkriegszeit<br />

<strong>Das</strong> Jahr 1945 läutete einen Bruch der Weiterentwicklung der traditionalistischen<br />

Moderne ein, das Kriegsende an sich setzte ihn jedoch noch nicht um. Denn bis<br />

Mitte der 50er Jahre bestanden beide Strömungen der Moderne erneut nebenei-nander.<br />

199 <strong>Die</strong> konstruktiven Merkmale und der Bauausdruck der traditionalistischen<br />

Architektur bedienten die Materialknappheit und psychologischen Bedürfnisse eines<br />

Großteils der deutschen Bevölkerung nach unauffälligem Rückzug in die private Geborgenheit<br />

auf ideale Weise. Teilweise ist sogar ein konservativerer Zug und eine<br />

Tendenz zum repräsentationstrachtenden Neobarock gerade bei neureichen Bauherren<br />

zu beobachten, der die ursprüngliche Zielsetzung der Reformarchitekten<br />

konterkariert. <strong>Die</strong> Entscheidung über Art und Weise <strong>des</strong> Wiederaufbaus brachte den<br />

argumentativ nach wie vor unentschiedenen Kardinalkonflikt der beiden Modernen<br />

wieder zutage und fiel von Stadt zu Stadt unterschiedlich aus. So wurde München<br />

unter traditionalistischen Vorzeichen wiederaufgebaut, Hannover jedoch nach den<br />

Grundsätzen der Charta von Athen, und anlässlich Schmitthenners unrealisierter<br />

Aufbauplanung für Mainz trafen wieder beide Lager in altgewohnter Opposition<br />

aufeinander. 200<br />

Entscheidend für die Entwicklung der modernen Architektur der Nachkriegszeit war<br />

die Reorganisation der Hochschulen und die damit einhergehende Rehabilitation der


162<br />

vormals verfemten Funktionalisten sowie die Entfernung der durch ihre Aktivität während<br />

der NS-Zeit pauschal disqualifizierten Traditionalisten. Auch hier war das als<br />

"der Fall Schmitthenner" 201 in die Nachkriegsgeschichte eingegangene, erst mit Hilfe<br />

der US-Militärregierung durchsetzbare Lehrverbot eines der zeichensetzenden<br />

Ereignisse. <strong>Die</strong> neue Architektengeneration wurde auf ein striktes Modernitätsgebot<br />

eingeschworen und bekam "Schmitthennerhäuser" allenfalls als reaktionäre, heimattümelnde,<br />

eklektizistische und unfunktionale Negativbeispiele vermittelt. 202 <strong>Die</strong><br />

gleichzeitige Ablehnung aller städtebaulichen und ökologischen Prinzipien der traditionalistischen<br />

Moderne in besonderer Konkretisierung der Stuttgarter Schule hat<br />

das architektonische Spektrum im Nachkriegsdeutschland nicht nur eingeschränkt,<br />

sondern manche Fehlentwicklung begünstigt, bis "die Unwirtlichkeit unserer<br />

Städte" 203 diagnostiziert wurde. <strong>Die</strong> Anmahnung eines "sanften Gesetzes" und menschlichen<br />

Maßstabs hätte auch angesichts <strong>des</strong> Betonbrutalismus der 60er und 70er<br />

Jahre ihre Berechtigung gefunden. Aus dem gleichen Manko heraus erfuhr der dörfliche<br />

und kleinstädtische Wohnbau durch Fertighausfirmen und schlechte Baumarktversatzstücke<br />

eine unsägliche Trivialisierung traditioneller Hausformen. <strong>Die</strong><br />

ästhetische Misere <strong>des</strong> Fertighausmarkts ist nicht ein Erbe der traditionalistischen<br />

Architektur, sondern eine Folge <strong>des</strong> Abbruchs ihrer Gestaltungs- und Qualitätslehre.<br />

7. Ausblick: Herzog & de Meuron: Haus Fröhlich<br />

Ihren vorläufigen zeitlichen Abschluss findet die "Geschichte <strong>des</strong> Walmdachhauses"<br />

doch mit einem Blick in die Zukunft: Im Kontext der wieder natürliche Materialien,<br />

traditionelle Konstruktionsarten sowie tradierte und moderne Formen zu einem zeitgemäßen<br />

Konzept vereinigenden Bauschulen in Vorarlberg und der deutschsprachigen<br />

Schweiz entstand 1995 der unrealisierte Entwurf für das Stuttgarter <strong>Wohnhaus</strong><br />

<strong>des</strong> Kunstsammlers Josef Fröhlich durch die Basler Architekten Jacques Herzog und<br />

Pierre de Meuron. 204<br />

<strong>Das</strong> als kubischer Solitär geplante Walmdachhaus sieht eine Betonkonstruktion mit<br />

einer alle Teile inklusive Dach vereinheitlichenden Holzverschalung vor. Gemäß der<br />

Vorliebe, suggestive Hausmonolithe minimalistisch aus einem einzigen Material herauszuarbeiten<br />

und kostengünstige Standardmaterialien aus dem laufenden Industrieangebot<br />

zu verwenden oder aus ökologischen Gesichtspunkten altes Material<br />

wiederzuverwenden, war eine Schale aus den dicken Eichenbohlen ehemaliger<br />

Eisenbahngleise vorgesehen. In strenger konzeptioneller Konsequenz sind innere<br />

Struktur, äußere Form, Hülle und Öffnungen als zunächst unabhängige Teile aufgefasst<br />

und miteinander addiert. So steht die Fassadenhöhe unabhängig zur inneren


163<br />

226-234 Herzog & de Meuron: Entwurf Haus Fröhlich, Stuttgart<br />

Stockwerksfolge, wodurch ein Geschoss über die Trauflinie hinaufragt. Ebenso überspannen<br />

die raumhohen Fenster einige innere Zwischenwände und überlagern am<br />

dritten Geschoss mehrfach die Kante zwischen senkrechter Wand und schräger<br />

Dachfläche. Sie sind rahmenlos in den Betonkern eingefügt und durch einen Spalt<br />

plastisch von den Öffnungen der Holzhülle abgesetzt. Ihre graphisch-rhythmische<br />

Verteilung scheint damit eher den Formgesetzen eines abstrakten Gemäl<strong>des</strong> zu


164<br />

folgen als der inneren Funktionalität. In pointierter Spannung setzen einige der Fenster<br />

exakt an der Wandecke an, ohne jedoch Übereckfenster zu bilden, wie sie in der<br />

funktionalistischen Moderne gebräuchlich waren. Auch die Eingangstür unterscheidet<br />

sich im Modell äußerlich nicht von den Fensterflächen.<br />

Ungewöhnlich ist der im Prinzip konventionell strukturierte Grundriss durch die<br />

ganz außen an der Schmalseite über die gesamte Haustiefe geführte Eingangszone<br />

mit Treppenlauf, von der aus ein Mittelflur die Räume der unabhängigen<br />

Wohnungen erschließt. Besondere fließende Raumwirkungen, eine Galerie über<br />

zwei Etagen oder ähnliche Großzügigkeiten bestehen nicht. Da Herzog und de<br />

Meuron stark von Joseph Beuys geprägt wurden und Ende der 70er Jahre sogar<br />

mit ihm gemeinsam eine Kunstaktion durchführten, drängen sich Bezüge zur Naturphilosophie<br />

<strong>des</strong> Werdens und Vergehens gemäß der an Heraklit angelehnten<br />

Fluxustheorie auf. Beuys thematisierte damit unter anderem die zyklischen Regenerationsprozesse<br />

energiespeichernder Materialien. <strong>Das</strong> neben einem uralten<br />

Eichenhain geplante Haus stellt folglich über die ölgetränkten Eisenbahnschwellen<br />

eine dritte Stufe der Materialkonsistenz dar, nämlich als Wärmespeicher für die<br />

Bewohner, bevor ein natürlicher langfristiger Zerfallsprozess die in den Eichenbalken<br />

gespeicherte Sonnenenergie als prozessuales Ergebnis der Photosynthese<br />

wieder in den natürlichen Kreislauf zurückführt. Sonne, Baum, Eisenbahn, Haus... –<br />

ein suggestiver Bedeutungszusammenhang zwischen Mensch und Technik, Natur<br />

und Umwelt ensteht. <strong>Die</strong> hölzerne Hülle bildet zugleich den mystischen Schrein als<br />

Aufbewahrungsort der Sammlung von Kunst nach 1945 und assoziiert in Form und<br />

Material eine hölzerne Schmuckschatulle oder einen mittelalterlichen Reliquienschrein.<br />

So wird auch auf die durch Beuys oft verwendeten frühchristlichen<br />

Symbole angespielt, mit denen er Verstan<strong>des</strong>welt und Intuition gegenüberstellte.<br />

<strong>Das</strong> Haus imaginiert also auch die Ebene eines Ideenspeichers für den in seinen<br />

Mauern enthaltenen universalen Gedankenschatz der durch ihre konzeptionellen<br />

Werke repräsentierten Künstler.<br />

Als Eingangspavillon zum Museum Schaulager in Basel realisierten Herzog & de<br />

Meuron 2003 ein Satteldachhaus, <strong>des</strong>sen Schmalseiten so schräg zulaufen, dass<br />

von der Hauptansicht der Eindruck eines Walmdachhauses entsteht. Seine über<br />

Wand und Dach hinweg einheitliche, künstlich aufgerauhte Betonoberfläche verstrahlt<br />

durch Verwendung <strong>des</strong> Erdaushubs der Baustelle eine erdig-urtümliche<br />

Anmutung. Auch Bottega + Ehrhardt bauten 2001 ein viel beachtetes <strong>Wohnhaus</strong> in<br />

Ludwigsburg, das zur Eingangsseite einen auf Po<strong>des</strong>ten balancierenden Walmdachbau<br />

als Betonmonolith darstellt.


165<br />

235 Bottega + Ehrhardt: Haus in Ludwigsburg<br />

Fern jeglicher bewusster Bezugnahme zur Architekturgeschichte knüpft die erneute<br />

Verwendung <strong>des</strong> Walmdachtyps durch Herzog & de Meuron und andere an die<br />

kubisch-prismatische Formmystik <strong>des</strong> zwischen Urhaus und Idealform oszillierenden<br />

und eine Vielzahl unausgesprochener Bedeutungsebenen implizierenden Baukörpers<br />

an. Doch das Konzept-Walmdach aus Beton mit Holzbohlenverschalung<br />

widerspricht jeder Werkgerechtigkeit und bauethischen Form-Funktions-Ehrlichkeit.<br />

Es erscheint als Verhöhnung der Prinzipien der Moderne, sowohl der traditionalistischen<br />

als auch der funktionalistischen Moderne, und stellt die bisherige Wertigkeit<br />

von Sein und Schein in Frage. Nur ein metaphorisches Gedankenspiel bleibt, ob<br />

das Haus von Nikolaus und Goethe vielleicht in dieser poststrukturalistischen Umkehrung<br />

auch dasjenige gewesen wäre, das sich Joseph Beuys gebaut hätte.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!