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Buchtipp | Text: Michael Heß<br />

Lesen<br />

Christian Steinhagen: „Münster im Dritten Reich”<br />

Wenn charakterschwache Personen<br />

Macht bekommen, wird es gefährlich.<br />

Treffend charakterisiert der Autor Christian<br />

Steinhagen den damaligen Leiter<br />

des Münsterischen Rechtsamtes Wilhelm<br />

Sasse. Der war in seiner Funktion<br />

der oberste lokale Arisierer und<br />

meldete schon im Frühjahr 1939<br />

den vollständigen Übergang<br />

jüdischen Eigentums in “arische<br />

Hände”. Nicht nur Rechtsrat<br />

Sasse “arisierte” eifrig, sondern<br />

eine Hierarchiestufe tiefer auch<br />

Assessor Heinrich Austermann.<br />

Die Arisierungen, den Krieg und<br />

die Gefangenschaft überstanden<br />

beide unversehrt und avancierten<br />

anschließend zu Oberstadtdirektoren:<br />

Sasse in Paderborn (bis<br />

1971), Austermann in Münster (bis<br />

1973). Noch 1989 benannte die<br />

Stadt eine größere Straße nach<br />

dem Handlanger der Nazis.<br />

Es sind nur zwei Beispiele unter<br />

vielen, die in der Summe eine<br />

überaus interessante Lektüre<br />

garantieren. Mehr als 100 Verknüpfungen<br />

der Münsterischen<br />

Gesellschaft mit den Funktionseliten<br />

des Dritten Reiches zwischen<br />

Anpassung, Mitläufertum und<br />

Widerstand beschreibt der Autor detailliert.<br />

Wer wissen möchte, was das Portal<br />

der Lambertikirche mit Görings Landsitz<br />

Karinhall bei Berlin zu tun hatte, was<br />

den Zwinger so attraktiv für die Gestapo<br />

machte, wie es kam, dass der Münsteraner<br />

Kapitänleutnant Wilhem Dege als<br />

letzter deutscher Soldat kapitulierte (am<br />

4. September 1945) oder wie das prächtige<br />

neobarocke Portal am Haus Salzstraße 57<br />

durch die Bombennächte erhalten blieb,<br />

wird in den mehr als 100 Beiträgen dieses<br />

Buches fündig.<br />

Münster galt den Nazis als schwieriges<br />

Pflaster, weil katholisch geprägt<br />

und westfälisch renitent. Größen wie<br />

Hitler und Goebbels waren nur einmal<br />

als Pflichterfüllung an der Aa - was die<br />

lokalen Funktionäre wie Gauleiter Meyer,<br />

NSDAP-Kreisleiter Schmidt-Münster,<br />

Oberbürgermeister Hillebrand (er legte<br />

Aschendorff Verlag Münster 20<strong>13</strong><br />

232 Seiten | Preis 19,80 EUR.<br />

ISBN 978-3-402-<strong>13</strong>011-7<br />

nach 1945 noch eine bescheidene Sportskarriere<br />

hin und starb 1961 in Münster)<br />

oder den schmierigen Landeshauptmann<br />

Kolbow nicht weniger gefährlich macht.<br />

Erst recht gilt das für diejenigen Täter,<br />

für die Münster eine Karrierestation<br />

bildete, wie den späteren Vernichter des<br />

Warschauer Gettos Jürgen Stroop (1946<br />

hingerichtet) oder den Gestapobeamten<br />

Ludwig Hahn (untergetaucht, 19<strong>60</strong> verhaftet,<br />

zwei Prozesse 1973/75). Schließlich<br />

gibt es noch die wissenschaftlichen<br />

Mittäter wie den Eugeniker Professor<br />

Otmar von Verschuer, dessen Schuld<br />

die Debatte um die Paul-Wulf-Skulptur<br />

gründlich ausleuchtete. Wulf und auch<br />

Bischof Galen betreffend, verzichtete der<br />

Autor bei Personen, die schon vor<br />

dessen Recherchen hinreichend<br />

dokumentiert waren, auf gesonderte<br />

Beiträge. Dem Ekenntnisgewinn<br />

kommt das durchaus zugute.<br />

Auch den Opfern widmet der<br />

Autor eigene Beiträge. Wer weiß<br />

schon, dass der spätere langjährige<br />

senegalesische Präsident<br />

Leopold Sedar Senghor als französischer<br />

Kriegsgefangener am<br />

Hohen Heckenweg inhaftiert war<br />

(Münster gefiel ihm übrigens gut)?<br />

Wer kennt die Intrigen gegen den<br />

ebenso verdienten wie arglosen<br />

Direktor des Naturkundemuseums<br />

Hermann Reichling, der<br />

1948 an den Spätfolgen seiner<br />

KZ-Inhaftierung starb? Oder den<br />

Juristen Paulus von Husen, der ab<br />

1941 dem Kreisauer Kreis angehörte,<br />

1944/45 viermal nur knapp<br />

dem Tode entkam und der mit der<br />

lauen Entnazifizierung nach 1945<br />

sarkastisch abrechnete?<br />

Münsters historisch interessierte Bürgerschaft<br />

hat dem Autor sehr zu danken.<br />

Ein Punkt dürfte indessen für Diskussionen<br />

sorgen: der zeitgeistig launige<br />

Schreibstil des Autors. Den Einen wird er<br />

unzulässige Veharmlosung der Täter sein,<br />

den Anderen allerdings eine Annäherung<br />

an die braune Lokalgeschichte ermöglichen.<br />

Letztlich düfte aber der zweite<br />

Aspekt überwiegen. Christian Steinhagen<br />

arbeitet eine lange verdrängte Facette<br />

der jüngeren Lokalgeschichte informativ<br />

auf. Und mit Blick auf dem fleißigen<br />

Arisierer Heinrich Austermann dürfte die<br />

Zukunft der nach ihm benannten Straße<br />

interessieren. #<br />

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