28.02.2014 Aufrufe

1,60 09 | 13 - Draußen

1,60 09 | 13 - Draußen

1,60 09 | 13 - Draußen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Bericht | Text: Michael Heß | Foto: Sammlung Möllenhoff/Schlautmann<br />

Der junge Zeuge<br />

Ein junger Münsteraner Jude ist der früheste Zeuge der Shoa<br />

Nach dem Beitrag zur Erinnerungstafel<br />

an der Warendorfer Straße wollten einige<br />

Leser noch mehr über die Deportation<br />

sowie den jungen Zeitzeugen Siegfried<br />

Weinberg erfahren. ~-Redakteur<br />

Michael Heß trug weitere Details zusammen.<br />

Siegfried Weinberg (im Bild ganz links)<br />

wird im Oktober 1919 in Münster geboren.<br />

Die Eltern Lisette Weinberg, geb. Siegmann,<br />

und Josef Weinberg sind als Trödler<br />

tätig. Der junge Weinberg ist Gymnasiast<br />

und Mitglied im “Bund Deutsch-Jüdischer<br />

Jugend”. Nach dem Abitur arbeitet er<br />

anderthalb Jahre in einer Frankfurter<br />

Seifenfabrik, kehrt nach Münster zurück<br />

und wird im Sommer 1939 zur Zwangsarbeit<br />

verpflichtet. Eine ordentliche Lehre<br />

wird ihm verweigert, ein Fluchtversuch<br />

in die Niederlande am 3. September 1939<br />

scheitert ebenso wie die Emigration in<br />

die USA oder nach Großbritannien. Seine<br />

Lage ist aussichtslos.<br />

Wer die Zeitzeichen sieht, macht sich<br />

keine Hoffnungen. Die Vernichtung der<br />

europäischen Juden war erklärtes Ziel<br />

der Nazis. Schon das erste dezidiert<br />

politische Dokument Hitlers (ein Brief<br />

vom 16. September 1919 an einen Ulmer<br />

Reichswehrangehörigen) bezeichnet die<br />

Juden als “Rassentuberkulose der Völker”<br />

und fordert als letztes Ziel “unverrückbar<br />

die Entfernung der Juden überhaupt”.<br />

Zweiundzwanzig Jahre später erfahren <strong>13</strong>5<br />

Münsteraner Juden diese Gewaltphantasien<br />

am eigenen Leib. Am <strong>13</strong>. Dezember<br />

1941 bilden sie den ersten Transport<br />

zur “Judenfreimachung”, unter ihnen<br />

Siegfried Weinberg. Bis zum Juli 1942<br />

kommt es zu drei weiteren Transporten;<br />

am 31. Juli meldet Gauleiter Wagner den<br />

“Gau Westfalen-Nord” als “judenfrei”.<br />

Sogenannte “Mischlinge” sowie jüdische<br />

Ehepartner werden dann 1944 deportiert,<br />

doch gibt es über die Zielorte dieser<br />

Transporte keine Unterlagen mehr.<br />

Einen knappen Monat vor der ersten<br />

Deportation legt eine Geheimkonferenz<br />

lokaler Nazichargen am 20. November<br />

1941 die Details fest. Anwesend sind<br />

unter anderem der Oberbürgermeister,<br />

der Polizeipräsident sowie Vertreter des<br />

Fiskus. Nach den Arisierungen, der Besteuerung<br />

von Auswanderern sowie der<br />

Vermögensbeschlagnahme geflüchteter<br />

Reichsbürger will sich der Nazistaat noch<br />

am jämmerlichen Restvermögen der<br />

Opfer bereichern. Den zu Deportierenden<br />

ist in der Konsequenz die Mitnahme von<br />

Vermögenswerten aufs Strengste untersagt.<br />

Erlaubt sind lediglich 50 Reichsmark<br />

pro Kopf sowie die Eheringe. Von<br />

diesen 50 Mark sind allerdings noch die<br />

“Transportkosten” zu bezahlen. Siegfried<br />

Weinberg: “Am 11. Dezember 1941 wurden<br />

meine Schwester und ich wie auch alle<br />

anderen Juden von Beamten der Gestapo<br />

verhaftet. Wir wurden<br />

visitiert und Wertsachen<br />

wie Uhren, Schmuck usw.<br />

abgenommen, die Möbel<br />

und zurückgebliebenen<br />

Sachen beschlagnahmt<br />

sowie die Wohnung versiegelt.“<br />

Die Sammlung<br />

der Verhafteten fand im<br />

nicht mehr existenten<br />

Lokal Gertrudenhof an<br />

der Warendorfer Straße<br />

statt. Nochmals Siegfried<br />

Weinberg: “Hier fand nun<br />

eine große Gepäck- und Leibesvisitation<br />

statt. Messer, Scheren, Rasierklingen,<br />

Toilettenartikel, Lebensmittel und Wäsche<br />

wurden bis auf etwas (das Nötigste?)<br />

abgenommen.” Aber selbst das wenige<br />

Verbliebene war nicht sicher. Bei der<br />

Ankunft im lettischen Skirotawa am 16.<br />

Dezember fehlte das in einem eigenen<br />

Waggon transportierte Gepäck. Viel Zeit<br />

zum Protest hatten die Ankömmlinge<br />

nicht, denn sofort nach dem Ausladen<br />

marschierten sie ins etwa fünf Kilometer<br />

entfernte Getto. Der 17. Dezember ist der<br />

erste Arbeitstag, der Folgetag sieht den<br />

ersten Toten. Von da an war der Tod<br />

ständiger Begleiter der Insassen bis zur<br />

Auflösung des Gettos im Sommer 1944<br />

angesichts der näher rückenden Roten<br />

Armee. Während dieser Arbeiten gelingt<br />

Siegfried Weinberg im Juli 1944 die Flucht<br />

samt Versteck; die sowjetischen Befreier<br />

stecken ihn aber bis zur Ausweisung nach<br />

Münster im August 1948 in den Gulag,<br />

den er glimpflich übersteht. In dieser<br />

Zeit entsteht aus seinen Erinnerungen<br />

der sog. “Weinberg-Report” als frühestes<br />

Zeugnis der Shoa.<br />

Zu Beginn des Jahres 1933 leben in<br />

Münster etwa 710 Juden. 280 von ihnen<br />

werden in den KZ ermordet, 77 versterben<br />

eines natürlichen Todes (wobei die Grenze<br />

zum Mord fließend ist), sieben wählen<br />

den Freitod. Nur 24 jüdische Münsteraner<br />

überleben die Shoa. Noch weniger kehren<br />

1945 an die Aa zurück - unter ihnen Siegfried<br />

Weinberg, der im September 1949<br />

in die USA auswandert. Dort engagiert<br />

er sich unter anderem in der “Society of<br />

Survivors of the Riga Ghetto”, heiratet<br />

eine Amerikanerin, wird zweifacher Vater<br />

und verstirbt im September 1994. Seine<br />

Eltern Lisette und Josef Weinberg sah er<br />

nach dem <strong>13</strong>. Dezember 1941 nie wieder.<br />

Beide werden später nach Theresienstadt<br />

deportiert und erliegen 1942 bzw. 1944<br />

den Haftbedingungen. #<br />

17

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!