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Wirtschaftliche Elitenkulturen im neuzeitlichen China : eine ... - KOPS

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WIRTSCHAFTLICHE ELITENKULTUREN<br />

1M NEUZEITLICHEN CHINA. EINE SKIZZE<br />

Jurgen Osterhammel<br />

In <strong>eine</strong>m Band. der das Thema von <strong>Elitenkulturen</strong> ftir den europliischen und nordamerikanischen<br />

Raum vielfa.J.tig auslotet. sollte ein Hinweis darauf nicht fehlen.<br />

dass , Elite" ein Be griff von universaler Reichweite und Brauchbarkeit ist und dass<br />

dies e.benso fiir den besonderen Aspekt der <strong>Elitenkulturen</strong> gilt. Jede Elite bildet ihre<br />

eigene soziale Kosmologie, ihre spezifischen symbolischen Codes und ihre be son~<br />

deren Regeln der Distinktion und des Zugangs aus. Eliten sind ebenfalls meist,<br />

wenngleich nicht <strong>im</strong>mer, Trager <strong>eine</strong>r ,Hochk:ultur". Sie manifestieren ihren Eli tenstatus<br />

in Abgrenzung von anderen Elementen der eigenen Gesellschaft durch wertvoile<br />

Artefakte von reprasentativer Architektur bis zu Gegenstanden des tiiglichen<br />

Luxusbedarfs. Oft nutzen sie Teile ihres Reichtums zur Beschaftigung von Ktinstlem,<br />

manchmal in gro6em und plarunlilligem Stil zu miizenatischer Forderung von<br />

Kun~tprodnkt ion. )ede:r Re!luch <strong>eine</strong>s Mu1:eums orientalischer Kunst oder <strong>eine</strong>r ethnologischen<br />

Sammlung zeigt, class es Kultureliten und <strong>Elitenkulturen</strong> in diesem<br />

Sinne weit tiber Europa hinaus gegeben hat. Unter besonderen Umstlinden, etwa <strong>im</strong><br />

Mandarinat des klassischen <strong>China</strong> oder <strong>im</strong> europiiischen Bildungsbtirgertum des<br />

19. Jahrhunderts, gewannen Eliten ihre eigene ldentitat sogar hauptsachlich aus der<br />

monopolartigen Verltigung iiber prestigereiche Wissensbestande. ,,Kultur" <strong>im</strong> wertenden<br />

Sinne stand dominierend <strong>im</strong>Mittelpunkt <strong>eine</strong>r solchen Elitenkultur.<br />

Es gibt mehrere Moglichk.eiten, den Aufmerksamkeitskreis der Untersuchung<br />

von <strong>Elitenkulturen</strong> iiber Europa hinaus zu erweitem. Besonders uaheliegend ware<br />

der Vergleich hofischer Kulturen, wie essie in ganz Eurasien von Portugal bis Japan<br />

gab, auch in Afrika und <strong>im</strong> vorkolumbianischen Siidamerika. Eine zwdte Option<br />

besttinde in der Frage nach kolonialen Eliten, wie sie <strong>im</strong> Prozess der europaischen<br />

Expansion seit den Kreuzziigen entstanden. Bei ihnen handelt es sich urn die Verpflanzung<br />

europliischer Vergesellschaftungsformen und Identitatsmuster in nichteuropaische<br />

kulturelle Kontexte unter Bedingungen zumindest punktueJler europaischer<br />

militarischer trberlegenheit und politischer Dominanz. Solche Kolonialeliten<br />

stehen in <strong>eine</strong>m doppelten Bezug <strong>eine</strong>rseits zu den Eli ten des ,,Mutterlandes",<br />

denen sie entstanunen und von denen sie sich <strong>im</strong>mer in irgend<strong>eine</strong>r Weise entfernen,<br />

andererseits zu den indigenen Eliten der kolonisierten Gesellschaften. Auch<br />

hier hat sich der Vergleich als <strong>eine</strong> lohnende, wenngleich bislang selten verwendete<br />

Methode erwiesen. Bereits vor <strong>eine</strong>m halben Jahrhundert praktizierte ihn der groBe<br />

Althistoriker Sir Ronald Syme mit betrachtlichem Erlolg, als er in den Whidden<br />

Lectures des Jahres 1958 die romische Herrschaft in Spanien mit der RoUe von<br />

Eliten <strong>im</strong> spanischen ebenso wie <strong>im</strong> britischen Amerika verglich. 1 Kolonialeliten<br />

Ronald Syme, Colonial Elites: Rome, Spain and the Americas, London 1958.


196 Jiirgen Osterhammel<br />

<strong>Wirtschaftliche</strong> Blitenkulturen <strong>im</strong> <strong>neuzeitlichen</strong> <strong>China</strong> 197<br />

sind zunachst derivative Herrschaftstrager, die ihre eigene kulturelle Pragung in der<br />

neuen Umwelt reproduzieren. Die innere Kontrolldynamik von Imperien fLihrt indes<br />

baufig dazu, dass lokale Quellen von Einkommen, Selbstbewusstsein und Legit<strong>im</strong>itlit<br />

erschlossen werden, die die Voraussetzungen tlafiir schaffen, dem Steuerungsbegehren<br />

<strong>im</strong>perialer Zentren abwehrend gegeniiber zu treten.Auf diese Weise<br />

entstanden sowohl in Britisch-Nordamerika als auch in Spaniscb-Sildamerika (zu<br />

<strong>eine</strong>m weitaus geringeren MaJ3e <strong>im</strong> portugiesischen Brasilien) politisierte <strong>Elitenkulturen</strong>,<br />

die auf den schiirferen Zugriff aus Europa, wie er in den 1760er Jahren<br />

einsetzte, mit <strong>eine</strong>m eigenen Sezessionswillen reagierten. 2 Ahnliche Tendenzen zur<br />

Autonomisierung worden <strong>im</strong> 19. Jahrhundert seltener. Umso mehr trat, vor altern<br />

bei der eliropiiischen Kolonisiemng groBer Teile Asiens, die Notwendigkeit in den<br />

Vordergrund, sich mit den unterworfenen Spitzen der einhe<strong>im</strong>:ischen Gesellschaft<br />

zu arrangieren und. sowohl politische Kompromisse (,indirect rule") als auch kulturelle<br />

Gemeinsamkeiten (,Ornamentalismus") zu finden. 3 Wie das <strong>im</strong> einzelnen geschah,<br />

ist ein groBes Thema der vergleichenden Imperienforschung.<br />

Eine dritte Moglichkeit besteht darin, die innere Evolution von <strong>Elitenkulturen</strong><br />

in <strong>eine</strong>m einzigen nitht-europiii.schen Kontext zu studieren, ohne bereits die Einfllisse<br />

von Europa her von Anfang an als Voraussetzung zu betrachten. Ein solcher<br />

Versuch soll hier fiir das neuzeitliche <strong>China</strong> unternommen werden. Es kann an dieser<br />

Stelle um nicht mehr gehen als urn <strong>eine</strong> extrem knappe Problemskizze, die k<strong>eine</strong>dei<br />

An~pru~.:b auf volbti<strong>im</strong>ligt: Erfassung Jc::r verzwt:igLen Forschung erhebt uud<br />

allein dem Zweck dient, Europahistoriker auf das Potenzial <strong>eine</strong>r transeuropliischen<br />

Erweiterung des Themas hinzuweisen. <strong>China</strong> eignet sich dafiir besonders gut, weil<br />

sich langfristige Entwicklungslinien vetfolgen lassen, deren Interpretation in der<br />

Forschung freilicb sehr kontrovers diskutiert wird. Konzentriert man sich auf den<br />

Teilaspekt okonomisclzer <strong>Elitenkulturen</strong>, dann tritt die Beobachtung hinzu, dass<br />

sich heute vor unseren Augen neue <strong>Elitenkulturen</strong> dieser Art forntieren -in k<strong>eine</strong>m<br />

Land spektakullirer als in. <strong>China</strong>. Der Schwerpunkt der folgenden Problemskizze<br />

wird auf der Zeit zwischen der ,Offnung" des Landes 1842 und dem Beginn des<br />

Pazifischen Krieges 1941 liegen, also der Zeit, in der sich gesellschaftliche Entr<br />

wicklungen zumindest in den ktistennahen Regionen <strong>China</strong>s , unter den Augen des<br />

Westens" abspielten. Vorausgeschickt seien kurze Bemerkungen tiber die historischen<br />

Grundlagen. ·<br />

Die cbinesische Elitenkultur, die in den heiden Jahrhunderten vor der mongolischen<br />

Eroberung, also wabrend der Song-Dynastie (960-1279), den Hohepunkt<br />

ihrer groBriiumigen .Entfaltung erreichte, 4 war durch ein fiir vormodeme Verhhltnisse<br />

beispielloses MaB an landesweiter Integration gekennzeichnet, das vor allem<br />

mittels der friedlichen Durchsetzung verbindlicher kultureller Standards iiber das<br />

2 Dazu die groBe Interpretation John H. Elliou, Empires of the Atlantic World: Britain and Spain<br />

in America, 1492-1830,New Haven 2006.<br />

3 Einflussreich dazu David CannaditU!, Omamentalism: How the British Saw Their Empire,<br />

London 2001.<br />

4 Dieter Kuhn, Die Song-Dynastic (960-1279). Bine neue Gesellschaft <strong>im</strong> Spiegel ihrer Kultur,<br />

Weinhe<strong>im</strong> 1987; ders., The Age of Confucian Rule: The Song Transfonnation of <strong>China</strong>, Cambridge,<br />

Mass. 2009.<br />

System der kaiserlichen Staatsprlifungen erzielt wurde. 5 lnhaltlich entsprach ihm<br />

das kulturelle Monopol des Konfuzianismus, der nicht in <strong>eine</strong>r Kirche, wohl aber in<br />

vielen anderen gesellschaftlichen Institutionen stabil verwurzelt war. Es gab in<br />

<strong>China</strong> k<strong>eine</strong> Aufgabelung der Elite in Krieger und Schreiber, auch k<strong>eine</strong> in weltliche<br />

und geistliche Funktionstrager. Aile ihre (mannlichen) Mitglieder waren von<br />

Kindheit an <strong>eine</strong>r standardisierten litetarischen Sozialisation ausgesetzt. Der kulturelle<br />

Referenzkosmos war homogen und beruhte auf der Einheitlichkeit und Allgemeinverstiindlichkeit<br />

<strong>eine</strong>r elaborierten Literatursprache. Differenzierungen waren<br />

eher regionalen Charak.ters als Folgen sozialer Abstufung und ideologischer Dissidenz.<br />

Spannungen, wie sie in dieser kulturellen Welt <strong>eine</strong>r weithin militlirfemen<br />

Gelehrtenelite selbstverstiindlich nicht feblten, ergaben sich weniger aus <strong>eine</strong>m<br />

Konfiikt gegensiitzlicher kultureller Nonnen als aus unterschiedlichen Auffassungen<br />

tiber deren Erfi.illbarkeit und a us den streng kompetitiven Verfahrensweisen der<br />

meritokratischen Selektion.<br />

Im Verlaufe <strong>eine</strong>r Epoche, die man zum·Zwecke eurozentrischer Verdeutlicbung<br />

als <strong>China</strong>s ,,:friihe Neuzeit" bezeichnen k:ann, traten innerhalb der Elite zwar<br />

k<strong>eine</strong> Spaltungen ein, wie sie in Europa zur gleichen Zeit durch die Reformation<br />

und das Autkommen stadtbi.irgerlicher, der hOfischen Welt entgegengesetzter Lebensformen<br />

wichtig wurden, doch bildeten sich neben der klassischen Literati-Kultur<br />

zwei weitere, allerdings minoritar bleibende <strong>Elitenkulturen</strong> heraus. Erstens entstanJ<br />

<strong>im</strong> ZllsarwucuhaJJ.g c.inc:s Kuuunc:aial.isi.;wug:-:.:-:.dwh~:> <strong>im</strong> 16. Jn.hrhuli.:krt,<br />

den man heute auf das Einstromen groBer Silbermengen aus Spanisch-Amerika<br />

zurtickfiihrt, 6 in den gro.Ben St!:idten <strong>eine</strong> Kaufmannskultur, die zwar auf vielf


198 Jtlrgen Osterhammel<br />

\Virtschaftliche <strong>Elitenkulturen</strong> <strong>im</strong> <strong>neuzeitlichen</strong> <strong>China</strong> 199<br />

ftachlich, <strong>im</strong> fiil.h<strong>neuzeitlichen</strong> <strong>China</strong> ein direktes Analogon zum frtihen europaischen<br />

Btirgertum finden zu wollen. Das Fehlen munizipaler Rechtsautonomie und<br />

die zwar nicht abwesende, aber doch schwacher ausgepragte staatliche Garantie<br />

privaten Eigentums, das <strong>im</strong>mer unter dem Vorbehalt des Wohlwollens kaiserlicher<br />

und bUrokratischer Patronage stand, machen wohlbekannte Unterschiede aus. 9<br />

Auch wares schwierig, Vermogen innerhalb enter Familie zu akkumulieren und<br />

Uber Generationen hinweg zu erhalten. Erne noch so wohlhabende merkantile Existenz<br />

galt letzten Endes nur als Durchgangsstadium zu <strong>eine</strong>m agrarisch fundierten<br />

Beamtenleben, dessen modellhafte Attraktion bis weit ins 19. Jahrhundert hinein<br />

erhalten blieb. Dennoch zeigt die aus Kaufmannshandbiichem erschlie.6bare Erwerbsethik<br />

chinesischer Handler viele Beriihrungspunkte mit dem gleichzeitigen<br />

Europa. 10<br />

Ein zweites neues elitenkulturelles Element trat mit der Eroberung <strong>China</strong>s<br />

durch die nordasiatischen Mandschuren auf, die 1644 zur Proklamation der Herrschaft<br />

der Qing-Dynastie tiber <strong>China</strong> fiihrte. Lange folgte die westliche <strong>China</strong>geschichtsschreibung<br />

der zeitgenossischen cbinesischen Literaten-Sicht, der zufolge<br />

die .,barbarischen" Mandschuren, die wabrend der Qing-Dynastie die politische<br />

und militiirische Machtelite stellten, durch die iiberlegene chinesische Zivilisation<br />

durchgreifend assiiniliert, also ,.sinisiert" worden seien. Heute sieht man deutlicber,<br />

dass die kleme mandschurische Minderheit ihre ethnische ldentitat zu bewahren<br />

.sudllc uuJ Jass Jie Qi.ng-Kaiser bewusst t:ine Doppdrolle al:s konfu:tianische ModeUherrscher<br />

und innerasiatische Tribaloberhaupter kultivierten.u Bis zum Ende<br />

der Mooarchie <strong>im</strong> Jahre 1911 wurden Positionen an der Staatsspitze mit Prinzen aus<br />

dem verzweigten mandschurischen Fiirsteohaus besetzt, wahrend gleichzeitig<br />

Reste emer eigenen mandschurischen Militiirorganisation, die sogenannten ,Banner",<br />

bestehen blieben. Mandschurisch blieb neben Chinesisch <strong>eine</strong> gleichberechtigte<br />

Amtsspracbe. Nach der Revolution von 1911, die von cbinesischen Massakem<br />

an Mandschus begleitet war, verschliff sich das ethnische und kulturelle Profil der<br />

mandschurischen Minderheit, die mit der Zeit ununterscheidbar in der chinesischen<br />

Umwelt aufging. Die Revolution, der 1905 bereits die Epoche machende Abschaffung<br />

des Prtifungssystems vorausgegangen war, bedeutete das Ende der heiden fiir<br />

die chinesische frtthe Neuzeit charakteristischen Elitenformationen: des konfuzianischen<br />

Mandarinats und der rnandschurischen Fremddynastie, die freilich von Anfang<br />

an auf die engste Kooperation mit der bewiihrten chinesischen Staatsbtirokratie<br />

angewiesen warP<br />

Bd.2.<br />

9 Madel<strong>eine</strong> Zelin I Jonathan Ockr> I Robert Gardella (Hrsg.), Contract and Property in Early<br />

Modem <strong>China</strong>, Stanford 2004.<br />

10 Material zumeist aus dem 18. Jahrhundert: Richard John L«frarw, Honorable merchants: Commerce<br />

and self-cultivation in late <strong>im</strong>perial <strong>China</strong>, Honululu 1997.<br />

11 Evelyn S. Rawski, The Last Emperors: A Social History of the Qing Imperial h1stitutions, Berkeley<br />

1998; Pam


200 Jiirgen Osterhammel<br />

<strong>Wirtschaftliche</strong> <strong>Elitenkulturen</strong> <strong>im</strong> <strong>neuzeitlichen</strong> <strong>China</strong> 201<br />

Dazu ist es ntitig, ins 19. Jahrhundert zuriickzukehren. Die merkantile Kultur<br />

der spaten Ming-Zeit wurde zum Teil in den Wirren der mandschurischen Eroberung<br />

wabrend der mittleren Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts in Mitleidenschaft gezogen,<br />

konnte aber wabrend des prosperierenden 18. Jahrhunderts iiberleben, ohne<br />

gesamtgesellschaftlich ihren kulturellen Einfluss weiter auszubauen. Ein Indikator<br />

dafiir ist der Niedergang der literarischen Form des Romans, des asthetischen Aquivalents<br />

der Kommerzkultur der Ming-Zeit. Kl<strong>eine</strong> Gruppen von Kaufleuten, in der<br />

Regel staatlich privilegiert, erlangten graBen Reichtum: die fur den AuBenhandel<br />

mit den Europaern allein zustandigen Hong-Kaufleute in Siidchina, die Salzhandler<br />

von Yangzhou und Tianjin oder die Bankiers (eigentlich Spezialisten fur weitraumigen<br />

Zaltlungsverkehr) aus der Provinz Shanxi. 17 Hinter ihnen standen, weniger<br />

sichtbar, ausgedehnte kommerzielle Netzstrukturen, die vom 18. in das 19. Jahrhundert<br />

hinein fortbestanden und sich mtiglicherweise ( dariiber ist bisher wenig<br />

bekannt) in dieser Zeit weiter diversifizierten und stabilisierten.<br />

Zeitgeniissische westliche Beobachter <strong>im</strong> 19. Jahrhundert klagten <strong>im</strong>mer wieder<br />

iiber die Undurchdringlichkeit des chinesischen Marktes, der jenseits weniger<br />

groBer Hafenstadte fiir auslandisches business verschlossen sei. Der objektive<br />

Grund dafiir lag in der Leistungsfahigkeit landesweiter Kaufmannsnetze, die in der<br />

Lage waren, nicht nur einhe<strong>im</strong>ische Produkte, sondern auch hnporte in allen Provinzen<br />

des Reiches zu vertreiben. Diese Netze waren zumeist auf landsmannschaftlicl1cr<br />

Grundlagc organ.i~icrt. 151<br />

Eiu uml Jie::::.dbt: llnmch.; lag in gau£ <strong>China</strong> in J~u<br />

Handen von Kaufleuten aus jeweils <strong>eine</strong>r best<strong>im</strong>mten Provinz. Sie unterhielten in<br />

den groBen Handelsmetropolen gemeinsame Organisationen der geschaftlichen<br />

Kooperation und der gegenseitigen Hilfe. Eine solche regionale Partikularisierung<br />

entlang von Handelsprodukten und Metiers machte die Kaufmannschaft <strong>eine</strong>rseits<br />

zu <strong>eine</strong>r integrativen Klammer des Reiches, verhinderte andererseits aber auch die<br />

Herausbildung <strong>eine</strong>r landesweiten, quasi-biirgerlichen Elitenkultur iiber regionale<br />

Loyalitaten hinweg. 1 9<br />

In der Mille des 19. Jahrhunderts kam ein neues Element hinzu: die Implantation<br />

<strong>eine</strong>r europaischen Geschaftswelt an der <strong>China</strong>kiiste. Bis zum Opiumktieg war<br />

der chinesische Mark! Auslandern physisch verschlossen. Seit etwa 1760 war- mit<br />

Ausnalune des kl<strong>eine</strong>n portugiesischen, faktisch von chinesischer Duldung abhangigen<br />

Stiltzpunkts Macau - die Ansiedlung europaischer Kaufleute nur in <strong>eine</strong>m<br />

winzigen Areal an der Hafenkante der siidchinesischen Millionenstadt Guangzhou<br />

(ftilher: Kanton) gestallet 20 Mit dem Ende des Opiumkrieges 1842 wurden auBer<br />

17 Cheong Weng Eang, The Hong Merchants of Canton: Chinese Merchants in Sino-western<br />

Trade, Richmond 1997; Man Bun Kwan, The Salt Merchants ofTianjin: State Making and Civil<br />

Society in Late Imperial <strong>China</strong>, Honolulu 2001.<br />

18 Bryna Goodman, Native Place, City, and Nation: Regional Networks and Identities in Shanghai,<br />

1853-1937, Berkeley 1995; mehrere Fallstudien in: Frederic Wakeman I Yeh Wen-hsin<br />

(Hrsg.), Shanghai Sojourners, Berkeley 1992.<br />

19 William T. Rowe, Hankow. Bd. 1: Commerce and Society in a Chinese City, 1796-1889; Bd. 2:<br />

Conflict and Community in a Chinese City, 1796-1895, Stanford 1984-89.<br />

20 Paul A. Van Dyke, The Canton Trade: Life and Enterprise on the <strong>China</strong> Coast, 1700-1845,<br />

Hong Kong 2005; Fallstudie: Robert Gardella, Harvesting Mountains: Fujian and the <strong>China</strong><br />

Tea Trade, 1757-1937, Berkeley 1994.<br />

Kanton vier weitere Hafenstadte vertraglich fur auslandische Geschaftsleute ,getiffnet",<br />

die sogenaunten Vertragshafen oder Treaty Ports, darunter als wichtigster<br />

Shanghai. 21 In den folgenden Jahrzehnten steigerte sich die Zahl dieser Treaty Ports<br />

auf urn die hundert. Erstrangige wirtschaftliche Bedeutung erlangten neben Shanghai<br />

aber nur Hankou (heute: Wuhan), in Millelchina am graBen Fluss Yangzi gelegen,<br />

sowie Tianjin in Nordchina, daneben zwei koloniale Hafenstadte: Hongkong<br />

(seit 1842 britisch) und Qingdao (1898 his 1914 deutsch), die juristisch gesehen<br />

k<strong>eine</strong> Vertragshafen waren.<br />

Die ausllindische Prasenz, darunter an erster Stelle britische und US-amerikanische<br />

Geschaftsleute, konzentrierte sich in diesen graBen Handelsmetropolen, unter<br />

denen Shanghai schon bald <strong>eine</strong> stetig ausgebaute Spitzenstellung genoss. 22 Bis<br />

zum Jahre 1898, als in der Folge von <strong>China</strong>s Niederlage <strong>im</strong> Chinesisch-Japanischen<br />

Krieg die Privilegien der Auslander weiter ausgebaut wurden, war in den Vertragshafen<br />

die Ansiedlung auslandischer Industriebetriebe nicht gestallet. Auch in der<br />

britischen Kronkolonie Hongkong, wo diese Einschrankung nicht galt, spielte his<br />

zur Jahrhundertwende die Industrie k<strong>eine</strong> nennenswerte Rolle, sieht man vom<br />

Schiffbau ab. Die sino-westlichen Kontakte waren mithin lange Zeit rein kommerzieller<br />

Natur. In den Hafenmetropolen siedelte sich <strong>eine</strong> britisch gepragte auslandische<br />

Kaufmaunsbourgeoisie an, die teilweise aus selbststandigen Unternehmern,<br />

gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend auch aus Reprasentanten groBer, zumeist<br />

von LonJuu au~ g~::.tcucrtcr Konzcrnc bcst:md. Llngc Zeit bildeten spez!3.Es-ierte<br />

<strong>China</strong>handelshauser mit <strong>eine</strong>m breiten Interessenspektrum wie zum Beispiel Jardine<br />

Matheson & Co. und John Swire & Sons den Mittelpunkt dieser Strnktur 23<br />

Jardine Matheson, <strong>eine</strong> heute <strong>im</strong>mer noch weilhin von der schollischen Griinderfamilie<br />

kontrollierte Holding mit Sitz in Bermuda und brei! diversifizierten Geschaftsinteressen,<br />

begann 1832 <strong>im</strong> Opiumhandel, den sie his 1870 schwungvoll<br />

betrieb, und wurde zur wichtigsten und politisch einflussreichsten aller britischen<br />

<strong>China</strong>firmen. Und die Swire Group, heute als Eigenti<strong>im</strong>erin der Fluggesellschaft<br />

Cathay Pacific bekannt und iiberall <strong>im</strong> pazifischen Raum vielfiiltig engagiert, fiihrt<br />

ihre Geschichte als die britische Nr. 2 in <strong>China</strong>, allerdings ohne das Opiumstigma<br />

des graBen Konkurrenten, auf das Jahr 1866 zuriick, als der legendare John Samuel<br />

Swire, auch er ein Scholle, in Shanghai in Schifffahrt und hnport-Export einstieg.<br />

Alhnahlich traten Hanken hinzu, allen voran die Hongkong and Shanghai Banking<br />

Corporation, heute <strong>eine</strong> der griiBten Hanken der Welt 24<br />

21 JUrgen Osterhammel, Shanghai, 30. Mai 1925. Die chinesische Revolution, Miinchen 1997.<br />

22 Die Standardgeschichte ist Marie-Claire Bergere, Histoire de Shanghai, Paris 2002; vgl. auch<br />

Jeffrey N. Wasserstrom, Global Shanghai, 1850-2010: A History in Fragments, London 2009;<br />

Jiirgen Osterhammel, British Business in <strong>China</strong>, 1860s-1960s, in: R.P.T. Davenport-Hines I<br />

Geoffrey Jones (Hrsg.), British Business in Asia since 1860, Cainbridge 1989, S. 189-216.<br />

23 Edward LeFevour, Western Enterprise in Late Ch'ing <strong>China</strong>: A Selective Study of Jardine,<br />

Matheson&Company's Operations, 1842-1895,Cambridge,Mass.1968; Cheong Weng Eang,<br />

Mandarins and Merchants: Jardine, Matheson & Co., a <strong>China</strong> Agency of the Early Nineteenth<br />

Century, London 1978.<br />

24 F.H.H. King, The History of the Hongkong and Shanghai Banking Corporation, 4 Bde., Cambridge<br />

1987-91.


202 Jiirgen Osterhammel<br />

<strong>Wirtschaftliche</strong> <strong>Elitenkulturen</strong> <strong>im</strong> <strong>neuzeitlichen</strong> <strong>China</strong> 203<br />

Womit wurde gehandelt? Seit dem 18. Jahrhundert gibt es auf westlicher Seite<br />

zahllose hiibsche Belege fiir die Hoffnungen von Europaem auf <strong>eine</strong>n schier grenzenlosen<br />

<strong>China</strong>markt. Wennjeder Chinese nur einmal <strong>im</strong> Jahr ein Schnupftuch aus<br />

den Webereien von Lancashire kaufte, sei die Zukunft der britischen Baumwollindustrie<br />

fur aile Zeiten garantiert. Diese Utopie des Massemnarktes zerschellte <strong>im</strong>mer<br />

wieder an der harten Realitat: <strong>eine</strong>rseits der konstant niedrigen Kaufkraft auf<br />

dem Lande, andererseits der Fahigkeit der Dorfbevolkerung, sich selbst zu versorgen,<br />

etwa durch die Selbstausbeutung der Familien in Spinnerei und Weberei. Nur<br />

fur ein einziges westliches Produkt hat sich vor 1949 nachhaltig ein landlicher<br />

Markt erschlieBen lassen: fur das Kerasin, also Lampenol, das Standard Oil of New<br />

Jersey schon vor der Jahrhundertwende in <strong>China</strong> eingefuhrt hatte. In der Zeit davor<br />

hatte allerdings Opium, in Britisch-Indien produziert und von britischen Handlem<br />

nach <strong>China</strong> gebracht, <strong>eine</strong> beinahe ahnlich weite Verbreitung gefunden, bis chinesische<br />

Importsubstitution diesem Handel ein Ende setzte. 25<br />

Ver!asslicher als der Massenmarkt war seit dem letzten Quartal des 19. Jahrhunderts<br />

das G~schaft mit dem Staat. Als erstes verkaufte man den chinesischen<br />

Regierungen Waffen. Dann kamen die Schienen und das rollende Inventar fiir Eisenbahnen<br />

hinzu, die iiberwiegend von Auslandem finanziert, aber von Chinesen<br />

betrieben wurden. In <strong>eine</strong>r dritten Phase, die nach dem Ersten Weltkrieg ihren Hohepunkt<br />

erreichte, modemisierten sich die groBten chinesischen Stadte durch den<br />

Import von Infrastruktur aus d.;m \Vc~h.::n: Ga:-.- uuJ YVa~~t:rvcr~orgung, Eleku·iziti:i.t,<br />

StraBenbahnen, usw. Solche Regierungsgeschafte waren Ieichter und billiger zu organisieren<br />

als ein flachiger Massenvertrieb. Auch war das Risiko geringer. Gegen<br />

betriigerische Geschaftspartner in den Provinzen vermochten Auslander wenig auszurichten<br />

(mit <strong>eine</strong>m Kanonenboot lassen sich Privatschulden schlecht eintreiben);<br />

der chinesische Staat hingegen konnte es sich schwerlich leisten, Rechnungen nicht<br />

zu bezahlen und Schnlden nicht piinktlich zu tilgen.<br />

Dies also waren die Geschafte, auf denen die Existenz der ausliindischen expatriate<br />

community in <strong>China</strong> beruhte, die zurnindest in Shanghai die Attribute <strong>eine</strong>r<br />

kolonialen Elite annahm. Seit einigen Jahren entdecken Historikerinnen und Ristoriker<br />

<strong>eine</strong> andere Facette des chinesischen Marktes: <strong>eine</strong> in den 1920er J ahren aufbliihende<br />

Konsurnkultur in den graBen Stadten, durch die sich einige Beobachter<br />

sogar zu Vergleichen mit dem New York oder Berlin derselben Epoche hinreiBen<br />

lassen. Man muss allerdings sehen, dass dieser frlihe chinesische consumerism auf<br />

die <strong>eine</strong> Metropole Shanghai beschriinkt war, in der er auch in der Gegenwart wieder<br />

s<strong>eine</strong> groBten Triumphe feiert. In Shanghai (und insbesondere <strong>im</strong> von der auslandischen<br />

Geschaftsbourgeoisie regierten International Settlement; dessen Bevolkerung<br />

zu 97 Prozent aus Chinesen hestand) entwickelten sich in der Tat binnen<br />

kurzer Zeit Elemente <strong>eine</strong>r westlichen Konsurnkultur mit chinesischem Antlitz. 26<br />

Demonstrativer Konsum wurde, was er <strong>im</strong> alten <strong>China</strong> nicht gewesen war, sozial<br />

25 Zorn graBen Komplex von Opium in <strong>China</strong> vgl. als Dberblick Zheng Yangwen, The Social Life<br />

of Opium in <strong>China</strong>, Cambridge 2005.<br />

26 Vgl. vor allem Yeh Wen-hsin, Shanghai Splendor: Economic Sent<strong>im</strong>ents and the Making of<br />

Modem <strong>China</strong>, 1843-1949, Berkeley 2007; einfUhrend dies., Shanghai Modernity: Commerce<br />

and Culture in a Republican City, in: <strong>China</strong> Quarterly 150, 1997, S. 375-94.<br />

respektabel _27 Die offentlichen Raume wurden zu Arenen modischer Selbstdarstellung,<br />

neu entstandene Kaufhauser mit <strong>eine</strong>m breiten Angebot aktuellster Errungenschaften<br />

des Westens zu vie! besuchten Tempeln des Konsums 28 Selbst der neue<br />

chinesische Nationalismus konnte ein Stiick weit darnit Ieben, denn neben denImporten<br />

gab es auch die schnell konkurrenzfahig werdenden Prodnkte von chinesischem<br />

Handwerk und einhe<strong>im</strong>ischer Industrie zu kaufen. 29 Uberall entstanden<br />

kommerzielle Mischformen, auch etwa in der nun sehr popular werdenden Werbung3o<br />

Es erwies sich schnell, dass sie fiir westliche Erzeugnisse nur dann ilu Publikum<br />

erreichte, wenn sie Elemente der chinesischen Symbolsprache einbezog,<br />

zum Beispiel vertraute graphische Elemente (z.B. Drachemnotive auf <strong>eine</strong>m Siemens-Schaltpult,<br />

ahnlich wie den modemistischen Hochhiiusem der Gegenwart<br />

geme chinesische Dacher aufgesetzt werden).' 1<br />

Der Konsummodemismus der Zwischenkriegszeit war ein singuliires Phanomen<br />

in Asien- <strong>eine</strong> spezifische Form von wirtschaftlicher Elitenkultur <strong>im</strong> Rahmen<br />

<strong>eine</strong>s von Laissez-faire-Prinzipien getragenen Semikolonialismus an der <strong>China</strong>kiiste.<br />

Nirgendwo sonst, auch nicht <strong>im</strong> eher spartanischen Tokio oder in den Kolonialmetropolen<br />

Indiens und Siidostasiens, lieB sich Ahnliches beobachten. Aber<br />

man muss die Proportionen wahren. AuBerhalb von Shanghai hat es dergleichen<br />

offenbar nicht gegeben. Und aus der Sicht aus!andischer Geschiiftsleute war die<br />

winzige chinesische Mittel- und Oberschicht Shanghais <strong>eine</strong> quantitativ wenig erheblidle<br />

unJ suL.ial (wie ilic R~voluLion balJ L.dgcn solltc) durchaus vcnv"G:ndbarc<br />

Kundschaft.<br />

Lasst sich in <strong>eine</strong>m engeren Sinne von <strong>eine</strong>r ,hybriden" sino-ausHindischen<br />

Elitenkultur in den Vertragshafen sprechen? Europiiische Firmen hatten, wie bereits<br />

bemerkt, niemals <strong>eine</strong>n urunittelbaren und unverstellten Zugang zu ihren chinesischen<br />

Kunden. Stets waren sie auf einhe<strong>im</strong>ische Mittelsmiinner angewiesen 32 Im<br />

klassischen Import-Export-Handel von den vierziger bis zu den neunziger Jahren<br />

des 19. Jahrhunderts kamen die meisten auslandischen Geschaftsleute tiber Shanghai<br />

und <strong>eine</strong> Handvoll anderer GroBstiidte nie hinaus. Die Verbindung zwischen den<br />

beiden Geschaftswelten stellte ein neuer Typus von chinesischem Kaufmann her,<br />

27 Vgl. die Fallstudien in Shennan Cochran (Hrsg.), Inventing Nanjing Road: Commercial Culture<br />

in Shanghai, 1900--1945, Ithaca 1999; von grundsatzlicher Bedeutung ist Frank Dikiitter,<br />

Exotic Commodities: Modern Objects and Everyday Life in <strong>China</strong>, London 2006.<br />

28 Wellington K.K. Chan, Selling Goods and Promoting a New Commercial Culture: The Four<br />

Premier Department Stores on Nanjing Road, 1917-1937, in: Cochran (Hrsg,), Inventing Nanjing<br />

Road, S. 19-36; auch mehrere Beitrage in: Karrie MacPherson (Hrsg.),Asian Department<br />

Stores, Honolulu 1998.<br />

29 Karl Gerth, <strong>China</strong> Made: Consumer Culture and the Creation of the Nation, Cambridge 2003.<br />

30 Sherman G. Cochran, Transnational Origins of Advertising in E'arly Twentieth-Century <strong>China</strong>,<br />

in: ders. (Hrsg.), Inventing Nanjing Road, S.19-36.<br />

31 Abbildung in Mathias Mutz, ,Ein unendlich weites Gebiet fiir die Ausdehnung unseres Geschafts".<br />

Marketingstrategien des Siemens-Konzems auf dem chinesischen Markt (1904 bis<br />

1937), in: Zeitschrift fiir Unternehmensgeschichte 51,2006, S. 93-115, bier 103.<br />

32 Dies betont, Ieicht fibertreibend, <strong>eine</strong> inzwischen klassische Studie: Rhoads Murphey, The Outsiders:<br />

The Western Experience in India and <strong>China</strong>, Ann Arbor 1977-


204 Jilrgen Osterhamroel<br />

<strong>Wirtschaftliche</strong> <strong>Elitenkulturen</strong> <strong>im</strong> nenzeitlichen <strong>China</strong> 205<br />

der damals in den Treaty Ports entstand: der Komprador (maiban). 33 Er war ein<br />

Kaufmann mit Renomroee und Kreditwfudigkeit in s<strong>eine</strong>r chinesischen Umwelt<br />

und einigermaBen brauchbaren Engliscbkenntnissen. S<strong>eine</strong> Aufgabe bestand darin,<br />

den Handel an den Schnittstellen von chinesischen und i.iberseeischen Markten abzuwickeln,<br />

fur die Zahlungsfahigkeit der chinesischen Geschii.ftspartner zu biirgen<br />

und den chinesischen Mitarbeiterstab der auslmdischen Handelsfirma zu rekrutieren<br />

und anzuleiten. Diese Kompradore waren wichtige Leute, die es oft zu gro.Bem<br />

Reichtum brachten und die nicht selten insgehe<strong>im</strong> an den ausliindischen Firmen,<br />

selbst an den gro.Bten wie Jardine Matheson, finanziell beteiligt waren.34 Geschiiftskorrespondenzen<br />

des 19. Jahrhunderts sind voll von !Gagen iiber dieAbhangigkeit<br />

der Auslander von "ihrem .. Komprador, hinter dessen Kulisscn sie nicht zu blicken<br />

vermochten.<br />

Seit den 1890er Jahren ist die Geschichte westlicber (auch amerikairischer)<br />

Markteroberung in <strong>China</strong> <strong>eine</strong> Geschichte der Zuriickdriingung der Kompradore<br />

und des Versucbs, chinesische Mitarbeiter durch Einbeziehung in <strong>eine</strong> Firmenhierarchie<br />

unmittelbarer anweisen uod kontrollieren zu konnen. Der Elitenkontakt<br />

wurde dadurch zugleich intemalisiett und hierarchisiert. Diese Versuche waren in<br />

ganz unterschiecllichem Ma.Be von Erfolg gekront. Die radikalste aller Losungen<br />

verwirklichten nur die Japaner, insbesondere die Mitsui Trading Company: die Zuri.ickddingung<br />

indigener Kooperation. 35 Mitsui, die alles Moglicbe nach <strong>China</strong> exporticrtcn<br />

und umgckchrt nach Japan au:.fi.ilirt~n . s~hafflcn :...:hun 1898 ucu Pvslcn<br />

des Kompradors ab. Sie organisierten ein nahezu landesweites System der<br />

Direktdistribution, das bis in entlegenste Filialen ausschlieBlich mit Japanem besetzt<br />

war und zur Ebene des Einzelhandels hinunter reichte. K<strong>eine</strong> andere auslandische<br />

Firma hat je die Pufferschicht der chinesiscben Mittelsmiinner so weitgehend<br />

ausgeschaltet. Etwas einfacher war die Umgebung der Kompradore bei technischen<br />

Importen. So stellte Siemens nach dem Ersten Weltk:rieg s<strong>eine</strong>n Vertrieb auf <strong>eine</strong><br />

breite Schicht junger Ingenieu:re um. Umgekehrt wie bei Mitsui handelte es sich<br />

aber um gut ausgebildete Chi.nesen, die zum Teil auch deutsche Fachkrii.fte ersetzten.36<br />

Westliche Finnen mussten sich stets in viel hoherem MaBe auf chinesische<br />

Kaufmannsnetze verlassen. Am weitesten in Richtuug Direktdistribution ging Standard<br />

OiL Auch llier wurden die relativ frei scbaltenden und waltenden Kompradore<br />

schon friih durch angestellte Chinese managers ersetzt, jedoch nicht bis hinunter<br />

auf <strong>eine</strong> so tiefe lokale Ebene wie <strong>im</strong> Falle von Mitsui. In si<strong>im</strong>tlichen anderen Branchen<br />

blieben freie chinesische Agenten fur die Geschaftsoperationen auslandischer<br />

Firmen unentbehrlicp. Gebraucbt wurden sie auch bei der Rekrutierung von Arbeitskraften<br />

filr westliche Kohlebergwerke und Werften, Zigaretten- und Baumwollfabriken.<br />

Hier bediente man sich des in <strong>China</strong> traditionell praktizierten Sys-<br />

33 lmmer noch: Hao Yen-p'ing, The Compradoc in Nineteenth-Century <strong>China</strong>: Bridge between<br />

East and West, Cambridge, Mass. 1970.<br />

34 Austuhrliche Nachweise in Hao Yen-p 'ing, The Commercial Revolution in Nineteenth-Century<br />

<strong>China</strong>: The Rise of Sino-Western Mercantile Capitalism, Berkeley 1986.<br />

35 Shernum G. Cochran, Encountering Chinese Networks: Western, Japanese, and Chinese Corporations<br />

in <strong>China</strong>, 1880-1937, Berkeley 2000.<br />

36 Mutz, ,Ein nnendlich weites Gcbiet ... ", S. 103.<br />

terns der Kontraktarbeit (baogong), bei dcr die Aufgaben <strong>eine</strong>r Personalabteilung<br />

durch outsourcing an chinesische Arbeitsvermittler tibertragen wurden. Die auslandischen<br />

Firmen hatten es direkt nur mit diesen Kontraktoren zu tun und daher so gut<br />

wie k<strong>eine</strong>n E influss auf die Anwerbung und Behandlung chinesischer Arbcits.krafte.<br />

Trotz mancher Versuche, etwa des gr()8ten indostrie1len Produzenten in <strong>China</strong>, der<br />

British-American Tobacco Corporation (BAT), diese Praxis zu umgehen, fand sich<br />

k<strong>eine</strong> Alternative. Auch chinesischc Unternehmen verlieBen sich weitgebend auf<br />

sie.<br />

Mitsuis Strategic der Expansion <strong>eine</strong>r japanisierten Unternehmenskultur wies<br />

jenseits ihrer okonomischen Logik drei ,weiche« Aspekte auf: Erstens verfiigten<br />

nu:r die Japaner dank ihrer groBe:ren kulturellen Nahe zu <strong>China</strong> tiber <strong>eine</strong> hinreichende<br />

Zahl von sprachlich trainiertem Fachpersonal. Zweitens praktizierte die<br />

Mitsui-Gesellschaft <strong>eine</strong> patemalistische Haltung gegeniiber ihren Angestellten.<br />

Sie sollten sich als gut behandelte Mitglieder der gro.Ben Firmenfamilie ftlhlen und<br />

sich mit Enthusiasmus in die Mission der Eroberung des ch:inesischen Marktes stfuzen.<br />

Drittcns wurde diese Mission in <strong>eine</strong>r Weise, tiber die westliche Konkurrenten<br />

<strong>im</strong>mer wieder klagten, offen und insgehe<strong>im</strong> von der japanischen Regierong unterstiltzt.<br />

AJ.s es Mitsui schon <strong>im</strong> ersten Jahrzehnt des 20. Jabrhunderts gelang, die<br />

amerikanischen Rivalen aus der Mandscburei zu verdrangen, wurde dies in Japan<br />

als gro6e patriotische Tat gefeiert.<br />

Nichts in ilu(!r pr i vilcgit:rten rt!..:hllid.Jcn Pv,..ilion (•on dcr ubrigc i1S Dc~t;ch<br />

land ausgenommen war, da es durch den Ersten Weltkrieg s<strong>eine</strong> Rechte aus den<br />

, Ungleichen Vertriigen" verloren batte) hii.tte die ausUindischen Firmen prinzipiell<br />

daran gehindert, tiefer in die cbinesische Geschliftswelt einzudringen. Die tatsachlichen<br />

Widerstande waren zu groB. Eine langfristig sinnvolle Strategic ware es gewesen,<br />

sich durch <strong>eine</strong> gezielte Kullurpolitik, etwa durch breit streuende Angebote<br />

des Fremdsprachenunterrichts, Sympathie und Loyalitat unter der chincsischen<br />

Elite zu schaffen. So hli.tte ein Reservoir entstehen konnen, aus dem sich chinesische<br />

Mitarbeiter hatten anwerben lassen. Diese Strategie haben aber allein Japaner<br />

und Amerikaner verfolgt, die Europaer nur in sehr bescheidenem MaBe. 37<br />

Hinter diesen konkreten Umstlinden der gebremsten MarkterschlieSung steht<br />

ein allgem <strong>eine</strong>res Problem, das beute in dcr Forschung intensiv diskutiert wird,<br />

besonders in der ostasiatischen Unternehmensgeschichte. 38 Nach <strong>eine</strong>m sehr einfachen<br />

Modell sind westliche Firmen <strong>im</strong> 20. Jahrbundert vertikal in Hierarchien<br />

37 See Heng Teow,Japan's Cultural Policy toward <strong>China</strong>, 19 18-1931, Cambridge, Mass. 1999.<br />

38 Themcn.hcft 31:3-4, 1998, der Zeitschrift .,Chinese Smdies in History"; Lai Chi-Kong, Chinese<br />

Business History: Its Development, Present. Siluation, and Future Direction, in: Franco Amatori<br />

1 Geoffrey Jones (Hrsg.), Busine.~ History Around the World, Cambridge 2003, S . 298-<br />

316; 7<strong>im</strong> Wright, ,The Spiritual Heritage ofChlnese Capitalism": Recent Trend~ in !he Historiography<br />

of Chinese Enterprise Management, in: Jonathan Unger (Hrsg.), Using the Past ~o<br />

Serve the Present: Historiography and Politics in Contemporary <strong>China</strong>,Armonlc l 993. Wicbtig<br />

bleibt die Pionierarbeit WeUingron K.K. Clzan, The Organizational Structure of the Traditional<br />

Chinese Fum and Its ~dem Refonn, in : Business History Review 46, 1982, S. 218-35; sowie<br />

zu den Urspriingen modemer Untemcbmeosformen: ders., Merchants, Mandarins, and Modern<br />

Enterprise in Late Ch'ing <strong>China</strong>., Cambridge, Mass. 1 {}17. Ftlr den weitcren Rahmen vgl. Tuncthy<br />

Brook, Capitalism and the Writing of Modem History in <strong>China</strong>, in: ders. I Gregory Blue


206 Jiirgen Osterbammel<br />

<strong>Wirtschaftliche</strong> Elitenkulluren <strong>im</strong> <strong>neuzeitlichen</strong> <strong>China</strong> 207<br />

strukturiert, wiihrend fur <strong>China</strong> eher horizontale Netzwerke charakteristisch seien.<br />

In den Kategorien <strong>eine</strong>r solchen dichotomischen Denkweise wird dann dariiber spekuliert,<br />

ob sich in der langfristigen Tendenz Hierarchien gegeniiber Netzwerken<br />

durchgesetzt, sie also absorbiert und aufgezehrt batten, oder ob, <strong>im</strong> Gegenteil,<br />

Netzwerke <strong>eine</strong> prinzipiell gleich Ieisnmgsfahige, in Asien seit Jahrhunderten bewahrte<br />

Form wirtschaftlicher Organisation seien, die dem Angriff der Hierarchien<br />

mi.ihelos standhielten.39<br />

Der historische Befund ftir die Zeit zwischen 1842 und der Beendigung der<br />

europliischen Prlisenz in <strong>China</strong> nach dem Beginn des Pazifischen Krieges <strong>im</strong> Dezember<br />

1941 ist nicht eindeutig und liegt irgendwo in der Mitte zwischen diesen<br />

beiden Extremen. Mit Sicherbeit ist die Expansion modemer westlicher Formen der<br />

Untemehmensorganisation in <strong>China</strong> (wie auch in Japan oder Indien) an die ziem­<br />

Iich widerstlindige Grenze <strong>eine</strong>r komplexen indigenen Geschll.ftskultur geraten.<br />

Netzwerke, die auf Familienbanden, auf religiosen Gemeinsamkeiten oder (in<br />

<strong>China</strong> besonders wichtig), auf der Solidaritat der Herkunft aus derselben Stadt oder<br />

Provinz beruhten, waren in vormoderner Zeit iiberaus leistungsfahig und kollllten<br />

sich durch Anpassung diese Leistungsfahigkeit in der Modeme erhalten. Sie wurden<br />

<strong>im</strong> 20. Jahrhundert vielfach fiber die Grenzen <strong>China</strong>s hinaus in den ost- und<br />

siidostasiatischen Raum ausgeweitet. Es kann also k<strong>eine</strong> Rede davon sein, class sie<br />

von <strong>eine</strong>m iiberlegenen Westen wegrationalisiert worden wliren. Auf der anderen<br />

Sei.te :;ulltc man sokhc: Nct..:werkc awr uid1t idcalisicrcn, i.hrc :;trukturdlcal Sehwachen<br />

iibersehen und sie pauschal zu <strong>eine</strong>r .,typisch asiatischen" Organisationsfonn<br />

hochstilisieren. Die Kunst untemehmerischen Designs lag. auf westlicher ebenso<br />

wie auf chinesischer Seite, viel.mehr in der pr.:tgmatischen Opt<strong>im</strong>ierung der Verbindung<br />

zwischen Hierarchie und Netzwerk.<br />

Es ist allerdings erstaunlich, wie zilll sich das Familienprinzip gegenuber jeder<br />

managerial revolution hielt. Die Aktiengesellschaft und die Unternebmensfiihrung<br />

durch angestellte Manager verbreiteten sich in <strong>China</strong> sehr langsam. Personal capitalism<br />

blieb dominant, und der ehrgeizigste Versuch <strong>eine</strong>s chinesischen GroBindustrie11en,<br />

s<strong>eine</strong> eigene Familie aus dem Untemebmen hinaus zu peosionieren, scheiterte<br />

am Ende. 40 Mit diesen personalistischen Tendenzen mussten westliche Finnen<br />

stets rechnen. Ob darauf das eingangige Etiken ,,konfuzianischer Kapitalismus"<br />

passt, ist ein anderes Thema.<br />

Wenn man von <strong>China</strong> spricht; denkt man <strong>im</strong> Allgem<strong>eine</strong>n nur an das Festland.<br />

Ftir die Geschichte des Kontakts zwischen <strong>eine</strong>r westlicben und <strong>eine</strong>r chinesischen<br />

(Hrsg.), <strong>China</strong> and Historical Capilalism: Genealogies of Sinological Knowledge, Cambridge<br />

1999, s. 110-157.<br />

39 Kompliziertere Modelle konnen hier Ieider nicht diskutiert werden. Vgl. etwa S. Gordon Redding,<br />

The Spirit of Chinese Capitalism, Berlin 1990; Richard Whitley, Business Systems in<br />

East Asia: Finns, Markets and Societies, London 1992 (der auch innerasiatische Unterschiede<br />

lhematisiert); Gary G. Hamilton (Hrsg.), Asian Business Networks, Berlin 1996. Der weitere<br />

Konlex.t der Debatte ist de.rjenige der .,Spielarten des Kapitalismus", vgl. Richard Whitky,<br />

Divergent Capilalisms: The Social Structuring and Change of Business Systems, Oxford 1999;<br />

Stewart Clegg IS. Gordon Redding (Hrsg.), Capitalism in Contrasting Cultures, Berlin 1990;<br />

Bob Hanclce (Hrsg.), Debaling Varieties of Capitalism: A Reader, Oxford 2009.<br />

40 Cochran, Encountering Chinese Networks, S. 175.<br />

Gescbaftskultur ist es aber unerllisstich, den Blick auch auf die Auslandschinesen<br />

zu richten, also diejenigen, die nicbt der Jurisdiktion des chinesischen Staates unterlagen.<br />

Die Chinesen in Hongkong, in Thailand, in Niederllindisch-Indonesien, in<br />

Singapur und Britisch-Malaya sowie in den <strong>China</strong>towns der USA bildeten <strong>eine</strong><br />

gro6e Sphiire transnationaler Solidaritat, und sie unterhielten zumeist auch enge<br />

Beziehungen zu ihren Herkunftsorten <strong>im</strong> eigentlichen <strong>China</strong>. Manche Kaufmannsdynastie<br />

war in diesen Gegenden erfolgreich tiitig, und manch groBes Vermogen<br />

kam zusammen, das spater auf dem Festland investiert wurde. Es gab solche Hille<br />

urn 1900, und es gibt sie selbstverstiindlich auch heute. So etwas wie <strong>eine</strong> chinesische<br />

Geschiiftsbourgeoisie entstand vor 1937 nicht in Beijing oder in anderen<br />

binnenliindischen Zentren, sondem an der marit<strong>im</strong>en Peripherie von Greater <strong>China</strong>:<br />

<strong>im</strong> britischen Hongkong, <strong>im</strong> niederllindiscben Java oder dem amerikanischen Hawaii<br />

- und selbstverstiindlich <strong>im</strong> exterritorialen International Settlement zu Shanghai.41<br />

Zwischen diesen Punkten wurden auch Handelsnetze gefiochten, zu denen<br />

westliche Ausllinder k<strong>eine</strong>n Zugang batten und die mit ausUindischen Firmen konkurrierten<br />

. 42<br />

Was bedeutet all dies nun fiir ejne ooch zu schreibende Geschichte der Elitenkultur<br />

<strong>im</strong> <strong>China</strong> des 19. und insbesondere des 20. Jahrhunderts? In Shanghai und<br />

einigen anderen groBen Vertragshafen entstand <strong>im</strong> 19. Jahrhundert <strong>eine</strong> symbiotisch<br />

miteinander verfiochtene sino-westliche Geschaftswelt, deren charakteristis.:bcr<br />

Au:>druck dcr Sozlaltypus des Kompradors war. Aus Kompr::tdorgcsch~ften,<br />

tiber die wir nur in Einzel.fallen genau unterrichtet sind, entstanden zuweilen groBe<br />

Vermogen, auch wenn bis zum Ende der Dynastie und selbst noch wahrend der<br />

Republikzeit der Zugang zur Staatsmacht und deren Besteuerungs- und Korruptionschancen<br />

<strong>eine</strong> mindestens ebenso wichtige Quelle der Bereicherung gewesen<br />

sein dtirfte. Die fun.ktionale Ergiinzung von westlichem Business und indigener Geschliftswelt<br />

ftihrte allerdings nicht zu <strong>eine</strong>r ,,kosmopolitischen" Versohnung der<br />

kulturellen Gegensatze. Die Kompradore waren marginal men, aus der Sicht der<br />

fortbestehenden konfuzianischen Elitenk:ultur bloBe Neureiche ohne Verankerung<br />

in der Tradition, wiihrend umgekehrt die westlichen Geschliftsleute kaum Interesse<br />

an der chinesischen Kultur zeigten und die Kompradore, mit denen sie tliglich zu<br />

tun batten, nicht als deren authentische Reprilsentanten betrachteten. Aus chinesischer<br />

Perspektive wiederum waren die Kaufleute k<strong>eine</strong> besonders attraktiven Vertreter<br />

des sonst vielfach bewunderten Westens. Oberhaupt zeicbnete sich das kulturelle<br />

Leben unter den expatriate communities an der <strong>China</strong>kuste durch ein kleinbiir-<br />

41 Oberblick: Philip A. Kuhn, Chinese Among Others: Emigration in Modem T<strong>im</strong>es, Lanham,<br />

Md. 2008; <strong>eine</strong> regional breit angelegte Orientierung tiber die Geschichre auslandschlnesischer<br />

Unlemehmen findet sich bei Rajeswary Ampalavanar Brown (Hrsg.), Chinese Business Enterprise<br />

in Asia, London 1995. Zur heutigen Situation vgl. Gary G Hamilton, Cosmopolitan Capitalists:<br />

Hong Kong and the Chinese Diaspora al the End of the Twentielh Century, Seattle<br />

1999; Rajeswary Ampalawmar Brown, Chinese Big Business and the Weallh of Asian Nations,<br />

Basingstoke 2000.<br />

42 Shennan G. Cochran, Intra-Asian Marketing: Aw Boon-haw's Commercial Network, 1910-<br />

1937, in: Shinya Sugiyanw I Linda Grove (Hrsg.), Commercial Networks in Modem Asia,<br />

Richmond200l,S.171-81.


208 Jtirgen Osterhammel<br />

<strong>Wirtschaftliche</strong> Elitenlmlturen <strong>im</strong> <strong>neuzeitlichen</strong> <strong>China</strong> 209<br />

gerlicbes und konservatives Banausentum aus. 4 3 Dass man sich vielfach in der<br />

praktiscben, aber deutlich reduzierten Sprache des Pidgin-Englisch verstiindigte,<br />

unterstreicht die Distanz sowohl zur chinesischen wie zur westlichen Hochkultur<br />

die in der Zwischenzone der Vertragsbafen vorherrschte. Die viel wichtigere~<br />

Agenten .kulturellen Transfers waren die Mission are und ihre chinesischen Schuler<br />

insbesondere in den groBen und oftmals auf hohem Nivcau arbeitenden M issions~<br />

universitaten und medizinischen HochschuJen des frtihen 20. Jahrhunderts. Dane­<br />

~n spielten c~ines_ische returned students, die in den USA, Japan und Europa studiert<br />

batten, eme unmer groJ3ere Rolle. Das Mischmilieu der Treaty Ports verschwand<br />

mit dem <strong>im</strong> Dezember 1941 beginnenden Pazifischen Krieg. Wiihrend des<br />

Krieges wurden die rechtlichen Privilegien der Auslander, vor allem die Extraterritorialit:at,<br />

aufgehoben; nach dem Krieg versuchte niemand, sie wieder herzustellen.<br />

t:Jur in Hongkong iiberlebten Rud<strong>im</strong>ente. In der Volksrepublik <strong>China</strong> war die westhebe<br />

Geschaftsprasenz amEnde des Jahres 1952 vollk:ommen verschwunden; der<br />

westliche Kapitalismus war in dem neuen sozialistischen Staat radikal aetilgt worden.44<br />

Spate~ tens 1958 gab es auch k<strong>eine</strong>rlei chinesisches Privateigent~m , an den<br />

Produktionsmitteln" mehr.<br />

Wichtiger fur die Folgezeit war <strong>eine</strong> Entwicklung, die <strong>im</strong> zweiten Jahrzehnt des<br />

20_. Jahrhunderts einsetzte: das Aufkommen <strong>eine</strong>r kommerzieUen Mittelschicht jenselts<br />

des Kompradorentums. Ihr wichtigstes Element war <strong>eine</strong> chinesische Unterne~erschaft.<br />

die sich in fiinf Rereichen besonders erfolgrcich bct!itigtc: dcr Rccderel,<br />

dem Bankenwesen, der Leichtindustrie (Baumwolle, Zementfabriken, Miihlen,<br />

verarbeitete Agrarexporte, Tabak, Streichholzer, usw.), dem groBbetrieblichen<br />

Ei.nzelhandel (Warenhauser) und dem Presse- und Verlagswesen.45 Mit diesem<br />

Aufbliihen modern organ.isierter, den westlichen und japanischen Finnen oft konkurrenzfabig<br />

entgegentretender Geschaftszweige war die Verbreitung entsprechender<br />

Berufsrollen verbunden: des Managers, des Bankiers oder des aufWirtschaftsdinge<br />

spezialisierten An waits, der gleicherma£en das chinesische wie das westJiche<br />

Recht iiberblicken musste. 46<br />

43 D~. betont besonders R~bert A. Bickers, Shanghailanders: The Formation and Identity of the<br />

Bnush SettlerCommunuy in Shanghai,1842-1937,in: Pa.~t & Present 159, 1998,S. l 6l-211;<br />

ders., Britain in <strong>China</strong>: Community, Culture and Colonia.lism 1900-1949, Manchester 1999.<br />

44 Beverley Hooper, C hina Stands Up: Ending the Western Presence, 194&-1950, Sydney 1986.<br />

45 Ji Zluwjin,A History of Modem Shanghai Banking: The Rise and Decline of <strong>China</strong>'s Fmance<br />

Capitalism, Annonk. 2003; Cheng Linsun, Banking in Modem <strong>China</strong>: Entrepreneurs, Profes-<br />

SIOnals and the Development of Chinese Banks, 1897- 1937, Cambridge, Mass. 2003; Evan<br />

Erlanson, Domestic Banks in P..conomic Development: Marketing Networks and FiurulciaJ<br />

Technologies in Prewar <strong>China</strong>, in: Twentieth-Century <strong>China</strong> 24, 1998, S. 67-118; Chao Kcmg,<br />

The Developmeut of Co non Textile Production in <strong>China</strong>, Cambridge, Mass. 1977; Christopher<br />

A. Reed, Gutenberg in Shanghai: Chinese Print Capitalism, t876-1937, Honolulu 2004; Sherman<br />

G. Cochran , Big Business in <strong>China</strong>: Sino-Foreign Rivalry in the Cigarette Industry, 1890-<br />

1930, ~ambndge , Mass. 1980; ders., Three Roads into Shanghai's Market: Japanese, Western,<br />

and Chlllese Companies in the Match Trade, 1895-1937, in: Wakeman/~h (Hrsg.), Shanghai<br />

Sojoumers,S. 35-75.<br />

46 Xu Xiaojun, Chinese Professionals and the Republican State: The Rise of Professional Associations<br />

in Shanghai, 19l:Z...l937, Cambridge 2001; ders., Between State and Society, Between<br />

Die hobe Zeit dieser Entwicklung ticgt zwischen etwa 1915 und 1937, <strong>eine</strong><br />

Periode, die man , das goldene Zeitalter dcr chinesischen Bourgeoisie" genannt<br />

hat.47 Das Anfangsdatum ist nicht leicht aufs Jabr genau zu best<strong>im</strong>men. Vieles<br />

spricht auch dafiir, 1904, als das erste chinesische Untemehmensgeset-z. (gongsifa)<br />

erlassen wurde und damit erstmals Kapitalgese11schaften <strong>eine</strong> juristische Regelung<br />

etfuhren, als Wendepunkt zu deuten. Die Bedeutung dieser Neuregelung kann nicht<br />

tiberschlitzt werden, denn erst durcb sie wurde ein altes Problem grundsatzlich losbar:<br />

wie sich Kapital von (anonymen) Fremden anziehen und damit die Unternehmensfinanzierung<br />

auf <strong>eine</strong> breitere Basis als die der ingroaps von Verwandten und<br />

Co-Provinzlem stelleo lie8. 48 Das Enddatum ist durch den Beginn der japanischen<br />

Invasion Clrinas, die samtliche der groBen Treaty Ports erfasste, eindeutiger marlciert.<br />

Einige chinesische Geschaftsleute konnten tatig bleiben, aber unter stark eingeschriinkten<br />

Bedingungen und der Notweodigkeit zu weitgehender Anpassung an<br />

die Besatzungsmacht.'~9 Auf der Flucht vor den Japanem wurden Vennogen unbekannten<br />

AusmaBes nach Hongkong, teilweise wohl auch nacb Stidostasien und in<br />

die USA, transferiert. Eine zweite Fluchtwelle von , Kapitalisten" begann, als sich<br />

wlihrend des Btirgerkrieges (1946-49) der Sieg der Kommunisten abzeichnete. Vermogen,<br />

die unter der Herrschaft von Jiang Kaisheks Guomindang auf dem Festland<br />

(1927- 1948/49) in staatsnahen Bereicben (von Kritikern ,btirokratischer Kapitalismus"<br />

genannt) angehliuft worden waren, wanderten mit der entmachteten Staatspartci<br />

:1uf die Inscl Taiwan.<br />

In den chinesischen Vertragshafen der zwanziger und dreiBiger Jahre entstand<br />

k<strong>eine</strong> homogene Elitenkultur, die derjenigen des konfuzianischen , allen" <strong>China</strong><br />

entsprochen hatte. Klar ist aber, dass insbesondere in Shanghai Teile der stadtiscben<br />

Bevolkerung das Programm <strong>eine</strong>r westlichen Modeme mit chinesiscbem Antlitz ftir<br />

sich enlwickelten und realisierten, etwa auf den Gebieten der Untemehmcnsorganisation<br />

und der Konsumkultur. Nebeo dem weiteren Ausbau des 1904 begriindeten<br />

Wirtschaftsrechts (<strong>eine</strong>m Prozess, der bis heute andauert) begannen in dieser Zeit<br />

zum Beispiel die Einflihrung wissenschaftlicher Buchhaltungs- und Bilanzierungsmethoden,<br />

die Modemisierung des einhe<strong>im</strong>ischen Banlcwesens, das nun erstmals<br />

umfangrcichc Industrie- und Infrastrukturfinanzierungen zu schuJtem <strong>im</strong>stande<br />

war, und die institutionelle Festigung des Borsenwesens. Damals wurdenjene kapitalistischen<br />

Einrichtungen und Praktiken bcgriindet, die <strong>im</strong> nacbmaoistischen <strong>China</strong><br />

weitbin neu ,erfunden" werden mussten. Fiir die Entfaltung und Festigung <strong>eine</strong>r<br />

wirtschaftsbiirgerlichen Elitenkultur war allerdings die Zeit zu kurz.<br />

Professionalism and Politics: Tite Sbanghui Bar Association in Republican <strong>China</strong>, 1.912-1937,<br />

in: Twentieth Century <strong>China</strong> 24, 1998, S. 1- 29.<br />

47 Marie-Claire Bergere, L'age d'or deJa bourgeoisie chinoise 1911-1937, Paris 1986 (diese<br />

groBe Expertin diagnostiziert das Verwelken dieser BlOtezeit <strong>im</strong> Grunde schon 1927 mit dem<br />

Machtantritt der Guomindang); vgl. auch dies., Capitalisme et capitalistes en Chine, Paris<br />

2007.<br />

48 David Faure, <strong>China</strong> and Capitalism. A History of Business Enterprise in Modem <strong>China</strong>, Hongkong<br />

2006, S. 43, 46.<br />

49 Parks M. Coble, Chinese Capitalists in Japan·s New Order. The Occupied Lower Yangzi,<br />

1937- 1945. Berkeley 2003.


210 Jiirgen Osterhammel<br />

Wenn heute von ,multiplen Modernen" die Rede ist, wird mit Recht irnmer<br />

wieder auf das Shanghai jener Zeit verwiesen. Die personalen Riickbindungen an<br />

diese Epoche sind aus heutiger Sicht allerdings eher diirftig. Krieg, Biirgerktieg und<br />

revolutionare Machteroberung zerstiirten die meisten der damaligen Neubildungen.<br />

Nur wenige der groBen privatwirtschaftlichen Vermogen wurden wenigstens teilweise<br />

gerettet und in der nachmaoistischen Reformperiode (seit 1978) wieder aktiviert;<br />

auch manche untemehmerische Erfahrung wurde biographisch konserviert.<br />

Wenn dies geschah, dann auf dem Umweg tiber das Ausland, denn <strong>im</strong> sozialistischen<br />

<strong>China</strong> fehlten die Institutionen zur Thesaurierung und Investition von chinesischem-<br />

und selbstverstiindlich auch ausliindischem, damals als ,<strong>im</strong>perialistisch"<br />

attackiertem - Privatkapital; ebenso wurden biirgerliche Denkweisen und Lebensformen<br />

rabiat unterdriickt. Von den literarisch vielfach dokumentierten Erfahrungen<br />

der Vorkriegszeit, gewissermaBen dem Mythos Shanghai, blieb vor allem die<br />

Erinnerung an <strong>eine</strong> Zeit der Offnung und des Exper<strong>im</strong>ents, die zweifellos auf <strong>eine</strong>n<br />

sehr kl<strong>eine</strong>n Teil der Bev6lkerung der Metropole beschriinkt war. Der heutige Wille<br />

zur Hypermodernitat, des sen ehrgeizigstes Ziel es ist, New York durch Shanghai als<br />

globalen Trendsetter des 21. Jahrhnnderts zu ersetzen, kuiipft an jene zwanziger<br />

Jahre an, in denen neben der Elite <strong>eine</strong>r erwerbstiichtigen und konsurnfreudigen<br />

Geschaftsbourgeoisie auchjene Gegenelite entstand, die dieser einstweilen den Garaus<br />

machen sollte: die intellektuelle Kadertruppe der Kommunistischen Partei.<br />

Was an dieser explizitcn Ziticrung von Shanghais ,Erstcr ~1odcrnc" Mythos ist,<br />

was Ankniipfung an dokumentierbare Reali tat, ware ein anderes Problem. Die Genealogie<br />

der heutigen chinesischen middle class bleibt noch zu schreiben: <strong>eine</strong> riesige<br />

Herausforderung an Sozialgeschichte und Soziologie.

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