BT-Drs 17/12542 - DIP21 Login Seite - Deutscher Bundestag
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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – <strong>17</strong>. Wahlperiode – 99 – Drucksache <strong>17</strong>/<strong>12542</strong><br />
einen Bruchteil des Geschehens wahr und zwar innerhalb<br />
unserer eigenen geschaffenen Netzwerke. Daher ist das<br />
Phänomen der sogenannten Filter-Bubble weniger ein<br />
neues technologisches, sondern vielmehr eines, das der<br />
Begrenztheit unserer Wahrnehmung und unseren Interpretationsmöglichkeiten<br />
entspricht. Wir hören am liebsten<br />
das, was uns gefällt und reiben uns an Dingen, die<br />
dem widersprechen. Der Rest, der nicht mit unserer Wirklichkeit<br />
eng verknüpft ist, wird meistens ausgeblendet.<br />
Zerrspiegel auch deshalb, weil extrem wichtige Elemente<br />
der Kommunikation, zum Beispiel die gesamten non-verbalen<br />
Kommunikationsinhalte oder die komplette Biografie<br />
einer Person, also deren Milieu, zuweilen komplett<br />
wegfallen. Das Internet selbst ist ein gigantischer Filter<br />
unserer Kommunikation und damit unserer gesamten Gesellschaft,<br />
vorausgesetzt man betrachtet Gesellschaft als<br />
Summe interagierender Wesen. Ein Zerrspiegel eben.<br />
Das Internet als Informationsträger ist somit prädestiniert,<br />
Missverständnisse und Konflikte zu verbreiten und zu beschleunigen.<br />
Das Gesagte kann einfach nicht verkürzt so<br />
dargestellt werden, wie es wirklich gemeint war und somit<br />
kann es schon gar nicht vom Empfänger, mit seinen<br />
eigenen Filtern, so interpretiert werden, wie es der Sender<br />
ursprünglich einmal meinte. Da helfen leider auch keine<br />
Smileys. Hinzu kommt ein verdichteter, interkultureller<br />
Kommunikationsraum. Im Netz kann man theoretisch<br />
über alles und jeden kommunizieren, rein theoretisch<br />
über die eigenen Kultur- und Ländergrenzen hinaus. Der<br />
Relevanzfilter der klassischen Medien, bei denen beispielsweise<br />
das Papier die Grenzen der Kommunikation<br />
vorgab, entfällt. Das wiederum führt zu weiteren Krisen,<br />
die immer dann entstehen, wenn zwei entgegengesetzte<br />
Lebenswirklichkeiten oder Meinungen aufeinander treffen<br />
und jeder Gesprächsteilnehmer davon ausgeht, die<br />
Wahrheit zu kennen.<br />
Das Kommunikationsmodell von Paul Watzlawick geht<br />
ebenfalls von der Grundannahme aus, es gibt keine vom<br />
Menschen rational erfassbare objektive Wirklichkeit.<br />
Gleichzeitig, so Watzlawick, kann Kommunikation immer<br />
auf einer Beziehungs- und einer Inhaltsebene stattfinden,<br />
das heißt, Aussagen beinhalten auch immer eine emotionale<br />
Komponente und wirken stets wechselseitig nährend,<br />
also ein Regelkreis aus Ursache und Wirkung. So<br />
würde Watzlawick wahrscheinlich „gestörte Kommunikation“,<br />
wie sie beim sogenannten Internet-Trolling auftritt,<br />
also den verbalen Rüpeleien und Beleidigungen in Internetdebatten,<br />
stets als Wechselspiel aus zwei oder mehr<br />
Kommunikationsbeteiligten deuten. Nicht der Rüpel allein<br />
bildet gestörte Kommunikationssituationen, sondern<br />
erst das Wechselspiel aus Ursache und Wirkung, also inklusive<br />
der Reaktion aller Beteiligten auf die Provokation<br />
des Rüpels führt zu einem Kommunikationskonflikt. Provokation<br />
nährt sich in erster Linie durch Aufmerksamkeit<br />
und Empörung. Das Wissen darum befähigt gleichzeitig,<br />
auf solche empfundenen Angriffe zu reagieren, indem<br />
man sie beispielsweise nicht als persönlichen Angriff<br />
deutet, also aktiv umdeutet.<br />
Wenn man sich bewusst ist, dass Kommunikation stets<br />
ein Regelkreis aus Ursache und Wirkung bildet – ein<br />
Kreis kennt keinen Anfang und kein Ende – dann muss<br />
man im Umkehrschluss auch immer das eigene Kommunikationsverhalten<br />
überdenken, wenn man selbst den Anspruch<br />
auf einen höflichen, wertschätzenden Umgang mit<br />
seinem Mitmenschen hat. Ich könnte mich arg täuschen,<br />
aber ich bin davon überzeugt, dass ein Großteil der Menschen<br />
sich nach Respekt und Wertschätzung der eigenen<br />
Person sehnt. Der Schlüssel liegt meines Erachtens also<br />
in der Entschlüsselung von Kommunikation und dem Erkennen<br />
von teils unbeabsichtigten Missverständnissen.<br />
2. Wertschätzung ist wirkmächtiger als Bestrafung<br />
Eines der interessantesten Phänomene gestörter Kommunikation<br />
ist dessen Überstrahlungseffekt, der sogenannte<br />
Halo-Effekt. Alles, was extrem laut und schrill ist, anstößt<br />
oder provoziert, lockt auch den letzten geduldigen<br />
Menschen aus der Reserve und erzeugt am Ende im Netzwerk<br />
eine gewaltige Empörungskaskade. Damit rückt<br />
auch immer die Ethik und Ästhetik von Kommunikation<br />
in den Vordergrund. Um im Wettkampf der Ideen und<br />
Meinungen noch Schritt halten zu können, steht man immer<br />
wieder innerhalb der Aufmerksamkeitsökonomie vor<br />
der Versuchung, diese Art der lauten, schnellen und zum<br />
Teil verletzenden Kommunikation zu übernehmen. Sie ist<br />
einfach und wirkungsvoll und ihr Effekt zum Teil verheerend.<br />
Denn bei all den Knalleffekten, bei all dem Lärm<br />
gehen natürlich auch die leisen, vernünftigen, freundlichen,<br />
gefühlsbetont sensiblen Töne in der Massenwahrnehmung<br />
völlig unter. Überraschenderweise wirken sie in<br />
kleinen, direkten Kommunikationssituationen angenehm<br />
und einfach nur „normal“. Wenn ein Kind im Supermarkt<br />
schreit, weil es an dem Quengelwarenregal nicht seinen<br />
Willen bekommt, steht der gesamte Supermarkt für einige<br />
Sekunden still und ist in diesem Moment ganz auf das<br />
Kind fokussiert. So etwa kann man sich auch die sich<br />
leicht selbst verstärkende Schreierei im Internet vorstellen.<br />
Jedoch sollte man sich nicht von diesem lautstarken Einzelverhalten<br />
täuschen lassen und jetzt von einem brüllenden<br />
Kind auf alle Kinder schließen. Der Großteil des<br />
Umgangstons im Internet hat trotz zahlreicher Meinungsverschiedenheiten<br />
und schützendem Deckmantel der Anonymität<br />
einen überaus herzlichen und sozialen Ton. Ja,<br />
ganz richtig gelesen, Anonymität allein führt nicht automatisch<br />
zu einem nicht-sozialen Verhalten. Meine Empfehlung<br />
wäre also, zu versuchen, den Fokus von gestörter<br />
Kommunikation auf gelungene Kommunikation zu lenken,<br />
indem man ganz einfach die im Verborgenen<br />
schlummernde, wertschätzende Kommunikation stärker<br />
in den Mittelpunkt rückt. Alle Systeme, die diese Art der<br />
Kommunikation sichtbar leben, sollten somit auch stärker<br />
nach außen hin sichtbar belohnt werden. Es gibt so viele<br />
Film-, Funk- und Fernsehpreise, warum nicht auch mal<br />
einen Preis für vorbildliche Kommunikation initiieren?<br />
3. Bildung und Metakommunikation<br />
Der Bologna-Prozess und die Verkürzung der Schulzeiten,<br />
als konträres Sinnbild zum Humboldt’schen Bildungsideal,<br />
sorgen unter anderem dafür, dass sich Bil-