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Ein „Ökosystem“ mit Potenzial - Deutsches Ärzteblatt

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MEDIZINREPORT<br />

INTESTINALE MIKROBIOTA<br />

<strong>Ein</strong> <strong>„Ökosystem“</strong> <strong>mit</strong> <strong>Potenzial</strong><br />

Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass Mikroorganismen im<br />

Darm lokale und systemische Erkrankungen modulieren können.<br />

Studien <strong>mit</strong> großen Patientenzahlen aber fehlen noch.<br />

Mehr als 1 000 verschiedene<br />

Bakterienspezies siedeln in<br />

den Tiefen des menschlichen Dickdarms<br />

– ein eigener Mikrokosmos,<br />

der zehnmal mehr Zellen und<br />

150-mal mehr Gene in den Körper<br />

bringt als der Mensch besitzt. Lange<br />

Zeit war nicht klar, welche Funktionen<br />

die Darmbakterien haben. Heute<br />

ist ihre Bedeutung für die Gesundheit<br />

unbestritten: „Die intestinale<br />

Mikrobiota trägt zur Entwicklung<br />

und zum Erhalt des<br />

Darmimmunsystems<br />

bei, hilft bei der Abwehr<br />

von Pathogenen<br />

und Toxinen und unterstützt<br />

die Verdauung<br />

durch die Erweiterung der<br />

enzymatischen Kapazität“,<br />

sagte Prof. Dr. med. Stephan<br />

C. Bischoff, Direktor<br />

des Instituts für Ernährungsmedizin<br />

der Universität Hohenheim.<br />

ein Effekt, der etwa zehn Prozent<br />

der täglichen Energieaufnahme ausmacht“,<br />

erklärte Bischoff.<br />

Zwar stammen die meisten Erkenntnisse<br />

zu diesem Bereich aus<br />

Tierexperimenten, doch weisen<br />

auch die wenigen bislang existierenden<br />

Humanstudien in diese<br />

Richtung. Erhielten Normalgewichtige<br />

eine hochkalorische Diät, veränderte<br />

sich die Darmmikrobiota<br />

relativ schnell: Der Anteil der Firmicutes<br />

stieg, der der Bacteroidetes<br />

sank um 20 Prozent. Dies führte zu<br />

einer erhöhten Energiegewinnung<br />

und einem Kaloriengewinn von immerhin<br />

150 Kilokalorien pro Tag.<br />

Bei Adipositas ist nicht nur die<br />

Mikrobiota anders, auch die Darmbarriere<br />

ist gestört. <strong>Ein</strong>e gesunde<br />

Darmbarriere sorgt dafür, dass die<br />

Darmwand Nährstoffe und Flüssigkeit<br />

passieren lässt, Bakterien<br />

und Toxine aber abwehrt.<br />

Strukturelle Basis der<br />

Bacteroideskeime fördern die<br />

Biotin-Biosynthese<br />

Dank neuer Analysetechnologien<br />

sind die Eckdaten der Darmmikrobiota<br />

heute bekannt. <strong>Ein</strong> Großteil<br />

der bakteriellen Gene kommt in<br />

jedem menschlichen Darm vor<br />

(Kernmikrobiom). Zusätzlich gibt<br />

es einen variablen Teil, der bestimmte<br />

Enterotypen prägt. Je nach<br />

dominierender Bakteriengattung<br />

lassen sich die Menschen in drei<br />

Gruppen einteilen. Jede hat un -<br />

terschiedliche Fähigkeiten: Herrschen<br />

Keime der Gattung Bacteroides<br />

vor, ist zum Beispiel die<br />

Biotin-Biosynthese besonders effektiv.<br />

Dominiert die Gattung Prevotella,<br />

profitiert die Thiamin-<br />

Biosynthese. Und Menschen <strong>mit</strong><br />

einem großen Anteil der Gattung<br />

Ruminococcus besitzen eine Enzymmaschinerie,<br />

die zur Häm-<br />

Biosynthese beiträgt.<br />

Ruminokokken sind Darmbakterien, die sich bei einem<br />

hohen Anteil mehrfach ungesättigter Fette in der Nahrung gut<br />

vermehren. Offenbar sind die Bakterien <strong>mit</strong> einer Enzymmaschinerie<br />

assoziiert, die zur Synthese des Häms beiträgt.<br />

„Vielleicht bewirkt dies eine bessere<br />

Sauerstofftransportkapazität“,<br />

meinte Bischoff. Während solche<br />

Überlegungen noch Spekulation<br />

sind, stehen andere Beobachtungen<br />

bereits auf festerem Boden: Man<br />

weiß, dass bestimmte Krankheiten<br />

<strong>mit</strong> einer veränderten Zusammensetzung<br />

der Mikrobiota einhergehen.<br />

Dazu gehören gastrointestinale<br />

Erkrankungen wie infektiöse Diarrhöen,<br />

Morbus Crohn, Colitis ulcerosa<br />

und das Reizdarmsyndrom,<br />

aber auch extraintestinale Krankheiten<br />

wie das metabolische Syndrom<br />

oder Adipositas.<br />

So offenbarten Sequenzierungsstudien<br />

ausgeprägte Unterschiede in<br />

der Mikrobiota bei Adipösen und<br />

Schlanken. Bei Normalgewichtigen<br />

dominiert die Gattung der Bacteroidetes,<br />

bei Adipösen die der Firmicutes.<br />

<strong>Ein</strong>e derartige Verschiebung der<br />

Hauptstämme wirkt sich un<strong>mit</strong>telbar<br />

auf den Energiestoffwechsel<br />

aus. „Das Mikrobiom von Adipösen<br />

produziert mehr Enzyme, die unverdauliche<br />

Kohlenhydrate wie Zellulose<br />

spalten können. Da<strong>mit</strong> holen<br />

sie mehr Energie aus der Nahrung –<br />

Foto: mauritius-images<br />

Darmbarriere<br />

sind die Epithelzellen der Darmwand.<br />

„Tight junctions“ verkitten<br />

die Epithelzellen <strong>mit</strong>einander und<br />

verhindern da<strong>mit</strong> den Durchtritt<br />

bakterieller Produkte, sogenannter<br />

Endotoxine. Wie es zu einer Störung<br />

der Darmbarriere kommt, ist<br />

nicht endgültig klar. Vermutlich<br />

spielen Nahrungsfaktoren eine Rolle,<br />

ebenso wie Infektionen und Toxine.<br />

Kolonisieren vermehrt pathogene<br />

Keime das Darmlumen, setzt<br />

dies eine Kaskade in Gang, die gravierende<br />

Folgen hat. Die Tight<br />

junctions werden durchlässiger für<br />

Endotoxine und lösen eine subklinische<br />

Entzündung aus. Infolge dessen<br />

setzen Immunzellen Trans<strong>mit</strong>ter<br />

frei, die das Leck in den Tight<br />

A 320 <strong>Deutsches</strong> <strong>Ärzteblatt</strong> | Jg. 110 | Heft 8 | 22. Februar 2013


MEDIZINREPORT<br />

junctions weiter vergrößern. Die<br />

Konsequenzen beschränken sich<br />

nicht auf eine Entzündung im<br />

Darmbereich, sondern führen auch<br />

zu vermehrter Fetteinlagerung, einer<br />

Fettleber und gestörten Insulinsensitivität.<br />

Durch diese Prozesse ebnet<br />

eine gestörte Darmbarriere der Entstehung<br />

von Adipositas, Bluthochdruck,<br />

einer Fettstoffwechselstörung<br />

und Insulinresistenz den Weg,<br />

also dem metabolischen Syndrom.<br />

Die Effekte von Probiotika<br />

sind dosisabhängig<br />

Theoretisch ist der <strong>Ein</strong>satz von sogenannten<br />

Probiotika bei Adipositas<br />

denkbar, um die Zusammen -<br />

setzung und da<strong>mit</strong> auch die Funk -<br />

tion der Darmmikrobiota gezielt<br />

zu beeinflussen. Probiotika sind<br />

laut Definition der Weltgesundheitsorganisation<br />

lebende Mikroorganismen,<br />

die einen positiven Gesundheitseffekt<br />

haben, wenn sie in<br />

genügender Menge zugeführt werden.<br />

Ihre Effekte sind dosisab -<br />

hängig und stammspezifisch. Meistens<br />

kommen Bifidobakterien oder<br />

Lakto bazillen zum <strong>Ein</strong>satz. Sie fördern<br />

und stabilisieren eine gesunde<br />

Darmflora und haben sich bei vier<br />

Indikationen etabliert: zur Präven -<br />

tion antibiotikaassoziierter Diar -<br />

rhöen und nekrotisierender Enterokolitis<br />

und zur Therapie der akuten<br />

Gastroenteritis und des Reizdarmsyndroms.<br />

Das Reizdarmsyndrom ist eine<br />

funktionelle Krankheit, die <strong>mit</strong> einer<br />

Prävalenz von zehn bis 25 Prozent<br />

vorkommt und Frauen dreimal<br />

so häufig wie Männer trifft. Charakteristische<br />

Symptome sind krampfartige<br />

Bauchschmerzen, Diarrhö<br />

oder Obstipation, Blähungen und<br />

eine vorübergehende Zunahme des<br />

Bauchumfangs. Die Pathophysiologie<br />

ist nicht im Detail geklärt.<br />

Es zeichnet sich aber ab, dass eine<br />

veränderte Darmmikrobiota eine<br />

Schlüsselrolle spielt, die einem<br />

chronischen Entzündungsprozess<br />

den Weg ebnet. Probiotika können<br />

diesen Prozess offenbar modulieren.<br />

2001 wurden sie erstmals in<br />

den klinischen Leitlinien (Eur J<br />

Gastroenterol Hepatol 2001; 13:<br />

933–9) einer Gruppe europäischer<br />

Ärzte erwähnt – <strong>mit</strong> dem vorsichtigen<br />

Hinweis auf Studien, die posi -<br />

tive Effekte bei den Reizdarmsym -<br />

ptomen Blähbauch und Schmerz<br />

gezeigt haben. „Für eine Empfehlung<br />

fehlten allerdings noch weitere<br />

Studien“, sagte Prof. Dr. med. Heiner<br />

Krammer, Praxis für Gastro -<br />

enterologie und Ernährungsmedizin<br />

am End- und Dickdarmzentrum<br />

Mannheim. In den folgenden Jahren<br />

wurden viele Arbeiten <strong>mit</strong> spezifischen<br />

probiotischen Stämmen<br />

und deren klinischen Nutzen für die<br />

Therapie des Reizdarmsyndroms<br />

veröffentlicht. Da<strong>mit</strong> stieg der Stellenwert<br />

der Probiotika.<br />

Die Leitlinie des National Institute<br />

for Health and Clinical Excellence<br />

von 2008 empfahl, probiotische<br />

Lebens<strong>mit</strong>tel in den Speiseplan<br />

zu integrieren, war aber noch<br />

nicht in der Lage, konkrete probiotische<br />

Stämme oder Produkte zu<br />

nennen. Diese Lücke schloss die<br />

aktuelle S3-Leitlinie, die 2011 von<br />

der Deutschen Gesellschaft für<br />

Verdauungs- und Stoffwechselerkrankungen<br />

und der Deutschen Gesellschaft<br />

für Neurogastroentero -<br />

logie und Motilität veröffentlicht<br />

wurde. Sie empfiehlt sechs konkrete<br />

Probiotikastämme (www.dgvs.<br />

de/media/Leitlinie_Reizdarm_2011.<br />

pdf, S. 264, Tab. 5.1) und setzt diese<br />

in Bezug zu dem vorherrschenden<br />

Symptom des Reizdarmsyndroms.<br />

Versuch <strong>mit</strong> Probiotika ist bei<br />

Laktoseintoleranz sinnvoll<br />

Möglicherweise verbessern Probiotika<br />

auch die Verträglichkeit von<br />

Laktose und lindern da<strong>mit</strong> die<br />

Symptome bei Laktoseintoleranz –<br />

ein Effekt, der angesichts von zwölf<br />

Millionen laktoseintoleranten Patienten<br />

allein in Deutschland bedeutsam<br />

wäre.<br />

Die Wirkung von Probiotika<br />

hängt zum einen davon ab, an welcher<br />

Stelle im Darm die bakterielle<br />

Betagalaktosidase freigesetzt wird.<br />

Das Enzym ist für die Spaltung des<br />

Milchzuckers zuständig. Ideal ist<br />

die Freisetzung im <strong>mit</strong>tleren Je -<br />

junum, denn dies entspricht der<br />

Situation beim Stoffwechselgesunden.<br />

Zum anderen ist der Aktivi -<br />

tätsgrad der Betagalaktosidase in<br />

dem verwendeten Probiotikum entscheidend.<br />

In einer Pilotstudie <strong>mit</strong> elf Laktoseintoleranzpatienten<br />

war der<br />

Symptom-Score nach zweiwöchiger<br />

<strong>Ein</strong>nahme von Probiotika vermindert.<br />

Zu diesem Ergebnis kam<br />

auch eine etwas größere Studie <strong>mit</strong><br />

60 Patienten; bei 35 Prozent normalisierte<br />

sich der H 2<br />

-Atemtest nach<br />

zehn Tagen. <strong>Ein</strong> systematischer Review<br />

von zehn randomisierten kontrollierten<br />

Studien (J Fam Pract<br />

2005; 54: 613–20) folgert, dass<br />

einzelne probiotische Stämme in<br />

bestimmten Konzentrationen die<br />

Symptome einer Laktoseintoleranz<br />

lindern könnten. Die Autoren empfehlen<br />

einen Therapieversuch <strong>mit</strong><br />

Probiotika bei Laktoseintoleranz.<br />

„Obwohl die Ergebnisse der vorliegenden<br />

Studien nicht eindeutig<br />

sind, sollten Patienten <strong>mit</strong> Laktoseintoleranz<br />

durchaus ausprobieren,<br />

ob Probiotika die Symptome bessern“,<br />

sagte die Bonner Ökotrophologin<br />

Dr. Maike Groeneveld. Die<br />

Praktikerin empfiehlt ihren Patienten,<br />

in der Aufbauphase probiotische<br />

Lebens<strong>mit</strong>tel ohne Laktose<br />

oder <strong>mit</strong> niedrigem Laktosegehalt<br />

in den Speiseplan einzubauen. Dabei<br />

sollten sie <strong>mit</strong> kleinen Portionen<br />

zu den Mahlzeiten beginnen.<br />

<strong>Ein</strong> weiterer potenzieller <strong>Ein</strong>satzbereich<br />

für Probiotika sind chronische<br />

funktionelle Bauchschmerzen<br />

bei Kindern. Wie effektiv der Ansatz<br />

ist, das Ökosystem im Darm<br />

<strong>mit</strong>tels einer probiotischen Therapie<br />

wieder ins Lot zu bringen, untersuchte<br />

Prof. Dr. med. Jobst Henker,<br />

Kinderzentrum Dresden-Friedrichstadt,<br />

in einer Studie an 78 Kindern.<br />

Die Hälfte wurde <strong>mit</strong> Escherichia<br />

coli Nissle (Mutaflor) behandelt,<br />

die andere Hälfte nicht.<br />

Bei der Wiedervorstellung nach<br />

(in der Regel) acht Wochen wiesen<br />

56 Prozent der Verumgruppe eine<br />

Besserung auf versus 37 Prozent<br />

der Kontrollgruppe. „Offenbar hat<br />

E. coli Nissle bei einigen Kindern<br />

<strong>mit</strong> funktionellen Bauchschmerzen<br />

eine günstige Wirkung. Doch die<br />

Fallzahl war zu klein, um ein endgültiges<br />

Urteil zu treffen“, resümierte<br />

Henker.<br />

▄<br />

Dipl.-Oecotroph. Dorothee Hahne<br />

Quelle: Yakult-Kolloqium „Probiotika in Praxis und<br />

Forschung, in Bonn<br />

<strong>Deutsches</strong> <strong>Ärzteblatt</strong> | Jg. 110 | Heft 8 | 22. Februar 2013 A 321

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