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ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE<br />

SWR2 FORUM BUCH<br />

AM 29.12.2013 (17:05 – 18:00 UHR)<br />

Redaktion/Moderation: Katharina Borchardt<br />

Mit neuen Büchern von: Tomer Gardi, Assaf Gavron,<br />

Jürgen Schefzyk u.a., Yael Hedaya, Dror Mishani, Ilan<br />

Goren, Rutu Modan<br />

Rezension:<br />

Tomer Gardi: "Stein, Papier. Eine Spurensuche in Galiläa"<br />

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke<br />

Rotpunktverlag<br />

27,50 Euro<br />

(Rezensent: Martin Grzimek)<br />

Gespräch:<br />

Assaf Gavron: "Auf fremdem Land"<br />

Aus dem Hebräischen von Barbara Linner<br />

Luchterhand Literaturverlag<br />

22,99 Euro<br />

(Moderatorin im Gespräch mit Claudia Kramatschek)<br />

Lektüretipp:<br />

"Jaffa. Tor zum Heiligen Land"<br />

Herausgegeben von Jürgen Schefzyk, Martin Peilstöcker<br />

und Aaron A. Burke<br />

Verlag Nünnerich-Admus<br />

24,90 Euro<br />

(Lektüretipp der Moderatorin)


SWR2 MANUSKRIPT<br />

Rezension:<br />

Yael Hedaya: "Alles bestens"<br />

Aus dem Hebräischen von Ruth Melcer<br />

Diogenes-Verlag<br />

12,90 Euro<br />

(Rezensentin: Stefanie Laaser)<br />

Lesung:<br />

Dror Mishani: "Vermisst"<br />

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke<br />

6 CDs<br />

Random House Audio<br />

19,99 Euro<br />

(Gelesen von Jörg Hartmann)<br />

Rezension:<br />

Ilan Goren: "Wo bist du, Motek? Ein Israeli in Berlin"<br />

Aus dem Englischen von Vanadis Buhr<br />

Graf-Verlag<br />

16,99 Euro<br />

(Rezensent: Pascal Fischer)<br />

Rezension:<br />

Rutu Modan: "Das Erbe"<br />

Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer<br />

Carlsen-Verlag<br />

24,90 Euro<br />

(Rezensent: Christian Gasser)<br />

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SWR 2 Forum Buch können Sie auch als Live-Stream<br />

hören im SWR 2<br />

Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast<br />

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SWR2 MANUSKRIPT<br />

Von Martin Grzimek<br />

Das erste Buch des knapp 40jährigen israelischen Autors<br />

Tomer Gardi trägt den lapidaren Titel „Stein, Papier“. Es<br />

enthält eine Sammlung von Essays und Geschichten,<br />

märchenhafter Prosa, einer Parabel, einer Szenenfolge<br />

und von autobiographischen Berichten über ein<br />

zentrales Thema: Über unseren Umgang mit den<br />

Zeugnissen einer problematischen Vergangenheit. Ganz<br />

konkret geht es in Gardis literarischen Reportagen und<br />

Reflexionen um das Geschichts- und<br />

Naturkundemuseum Beit Ussischkin im Kibbuz Dan in<br />

Galiläa an der Grenze zum Libanon. Timor Gardi ist dort<br />

aufgewachsen, hat als Kind zwischen den weißen<br />

Steinen der Mauern des Museums gespielt, unbefangen,<br />

selbstverständlich. Dann eines Tages, erwachsen<br />

geworden, sensibilisiert durch sein Interesse an der Politik,<br />

erfährt er wie nebenbei, dass die weißen Steine aus den<br />

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Trümmern des arabischen Dorfes Hounin stammen, das<br />

1948 bei den sogenannten Befreiungskriegen von<br />

israelitischen Sturmtruppen zerstört wurde. Diese<br />

Tatsache ist zwar kein Geheimnis, aber Gardi versetzt sie<br />

in tiefe Aufregung und evoziert einen Schwall von<br />

Fragen:<br />

„... warum also, wenn das Geschichts- und<br />

Naturkundemuseum aus den Steinen eines Dorfes<br />

errichtet wurde, das Hounin hieß, warum findet sich<br />

dann in diesem Museum nicht ein Hinweis auf dieses<br />

Dorf in unserer Geschichte? Warum findet sich dort nicht<br />

ein Hinweis auf die Existenz Dutzender anderer<br />

arabischer Dörfer in der Geografie der Chule-Senke?<br />

Warum hat es in der Natur und der Geschichte, die das<br />

Museum zeigen will, niemals Araber gegeben? Was hat<br />

dieses Negieren zu bedeuten? Wie arbeiten die<br />

Kodizes? Die kollektiven Narrativstatuten? Und vor allem:<br />

Wie ist dieses Negieren, die Verdrängung und<br />

Unterdrückung verbunden mit dem Negieren und der<br />

Unterdrückung der Araber heute bei uns, in diesem<br />

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SWR2 MANUSKRIPT<br />

Moment, nicht in irgend einem Krieg damals, sondern<br />

jetzt, da ich diese Worte eintippe, genau in diesem<br />

Augenblick?“<br />

Zweierlei kann man aus dieser kurzen Eingangspassage<br />

unmittelbare heraushören: Das eine ist der frische,<br />

unbefangene, fast naiv wirkende Ton, in dem Gardi<br />

seine Fragen an die Geschichte und seine Nation stellt.<br />

Zum anderen vermitteln die wenigen Zeilen einen<br />

Tabubruch im heutigen Israel: sich kritisch mit der<br />

eigenen jüngsten Vergangenheit auseinanderzusetzen.<br />

Nicht umsonst wurde daher in der israelitischen<br />

unabhängigen Presse dieses Buch als eine „seltene<br />

Perle“ der zeitgenössischen hebräischen Literatur<br />

bezeichnet, nicht von ungefähr löste es viel beachtete<br />

Diskussionen aus über das eigene politische und<br />

gesellschaftliche Selbstverständnis. Frappierend dabei<br />

ist, dass Tomer Gardi in seiner Prosa nirgends aus einem<br />

ideologischen Blickwinkel heraus argumentiert, sondern<br />

einfach nur mit offenen Augen die Institutionen seines<br />

Landes betrachtet, die die Schätze, die wertvollen wie<br />

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die ungeliebten, bewahren – er geht in die Archive. Er<br />

stöbert, bläst den Staub von den vergilbten<br />

Schreibmaschinenseiten, liest gegen den Strich und stellt<br />

immer wieder Fragen, Fragen, Fragen. Das hat etwas<br />

Belebendes und zugleich Beunruhigendes. Es geht ihm<br />

nämlich nicht darum, Skandale aufzudecken,<br />

Verbrechen neu zu beurteilen, sondern darzustellen, wie<br />

die Geschichte in den Akten konserviert worden ist: Eine<br />

klammheimliche, unscheinbar daherkommende Zensur<br />

hat die Namen der Opfer und Täter ausgeixt, Taten<br />

durch Weglassungen verschleiert oder verharmlost, sich<br />

in Befehlen und Anordnungen, die für andere Tod und<br />

Unrecht bedeuteten, in nüchtern erscheinenden<br />

Anweisungen verharmlost. So verfolgt Gardi die<br />

Vergewaltigung und den Tod von vier palästinensischen<br />

Frauen bei der Zerstörung des palästinensischen Dorfes<br />

Hounin im Jahre 1948 und kommt zu dem Resümee:<br />

Das traditionelle Verbot der Vergewaltigung einer Frau<br />

hatte seinen Ursprung darin, dass sie als Besitz des<br />

Mannes betrachtet wurde. Es ist mithin ein Verbot, das<br />

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seinen Ursprung in der Wahrung des männlichen Besitzes<br />

hatte, als Tei einer allgemeinen, patriarchalischmännlichen<br />

Ordnung. Und als die Rechte der Bewohner<br />

von Huonin außer Kraft gesetzt waren, als man ihnen (...)<br />

das Recht auf Bewegungsfreiheit, ihnen das Recht auf<br />

ihre Häuser und Felder, auf ihren Besitz genommen<br />

hatte, war die Vergewaltigung der Frauen für die<br />

Soldaten beinahe folgerichtig legitimiert.“<br />

Solche klaren Stellungnahmen zu historischen wie<br />

menschlichen Problemen sind selten in Gardis Prosa.<br />

Und auch die eben zitierte Passage über<br />

Vergewaltigung und Krieg ist eingebettet in ein Konvolut<br />

von Zitaten aus den Akten der Archive, die er für seine<br />

Recherchen besucht hat. Am eindrücklichsten ist in<br />

diesem Zusammenhang vielleicht das mit drei großen<br />

XXX überschriebene Kapitel aus der Mitte des Buches. Es<br />

geht darin um eine Operation des israelischen Militärs<br />

unter dem Namen „Schanzwerk“. Dabei wurden gegen<br />

Ende des Jahres 1948 systematisch die Häuser von<br />

Israelis durchkämmt, um so genannte „Drückeberger“<br />

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aufzuspüren, junge Männer und Frauen, die sich der<br />

Einberufung zum Militärdienst entzogen oder sich gar<br />

nicht erst gemeldet hatten. In den Akten der Archive<br />

stößt Gardi auf Dokumente, in denen die Namen der<br />

Betroffenen, die gefasst, verurteilt oder bestraft wurden,<br />

ausgeixt wurden. Protokollaussagen lesen sich dann zum<br />

Beispiel so:<br />

„XXX kenne er von Geburt an. Er sei ein Freund der<br />

Familie. Er, XXX, der Angeklagte, habe acht<br />

Geschwister. XXX XXX. Der älteste Bruder heiße XXX XXX.<br />

Zwischen dem ältesten Bruder XXX gebe es zwei<br />

Schwestern. XXX und die kleine Schwester XXX. XXX sei<br />

nach XXX geboren, erinnere er sich. Drei Jahre lägen<br />

zwischen ihnen.“<br />

Und Gardi schließt diesen Absatz mit dem Satz: „Jeder<br />

Mensch hat einen Namen.“ Dadurch bezieht er sich auf<br />

ein bekanntes hebräisches Gedicht von Zelda<br />

Schneurson Mishkovsky, das er angesichts der<br />

ausgeixten Namen immer wieder abwandelt,<br />

verstümmelt, so wie die Namen in den militärischen<br />

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Akten verstümmelt worden sind. Dem Autor muss es weh<br />

getan haben, beim Schreiben immer wieder von dem<br />

Originalwortlaut des Gedichtes von Zelda abzukommen,<br />

es auch lautlich zu zerstückeln, um seine Verwirrung<br />

mitzuteilen darüber, wie sehr Menschen bis hinein in das<br />

Protokoll der geführten Gespräche Unrecht getan<br />

werden kann. Am Ende dieser Besprechung soll dieses<br />

wunderbare Poem noch einmal unverfälscht zur<br />

Geltung kommen. Doch vorher ist noch auf eine andere<br />

Seite dieses äußerst lesenswerten Buches hinzuweisen.<br />

Das betrifft jene Passagen, in denen der Autor auf<br />

Märchen und Beschreibungen des 19. Jahrhunderts<br />

zurückgreift, die er durch Aufenthalte in Deutschland<br />

kennengelernt haben muss, wie zum Beispiel das von<br />

Friedrich Heinrich von Hagen überlieferte Märchen<br />

„Paddegotjen“, in dem die Hauptfigur den Namen<br />

„Petersilie“ trägt. Der Autor versetzt sich auch in das<br />

Worpswede zu Beginn des 20. Jahrhunderts, um über die<br />

Trockenlegung der dortigen Sümpfe zu sinnieren. Denn<br />

dazu gibt es eine Parallele zu dem Sumpfgebiet der<br />

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Chule-Senke in Galiläa in der Nähe des Kibbuz Dan, aus<br />

dem er stammt. Man sieht, die Brücken, die Gardi<br />

spannt, sind äußerst weit und assoziativ. Hier wie dort will<br />

er den Sumpf trockenlegen, den Sumpf der Geschichte,<br />

aus dem nicht nur die Lügen und Untaten stammen,<br />

sondern auch die Märchen und ihre Ungeheuer. Markus<br />

Lemke hat nicht nur die Recherchen Gardis im eigenen<br />

Land gekonnt übersetzt. Auch die freieren, literarisch<br />

artistischen Segmente des Buches sind flüssig lesbar,<br />

wohl ganz im Sinne des Autors. Timor Gardi kann man für<br />

seinen Versuch, in dem Buch „Stein, Papier“, hinter den<br />

Leidtragenden der Kriege wieder ihre Namen ausfindig<br />

zu machen, nur beglückwünschen und ihm – nein,<br />

diesen Leidtragenden ! – möglichst viele Leser<br />

wünschen. Gewissermaßen als Einlösung des Gedichts<br />

von Zelda, dem man zuerst einmal einfach nur zuhören<br />

sollte:<br />

„Jeder Mensch hat einen Namen, der ihm von Gott<br />

gegeben wurde und den ihm sein Vater und seine<br />

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Mutter gaben. Jeder Mensch hat einen Namen, den<br />

ihm seine Statur, sein Lächeln und sein Charakter gaben.<br />

Jeder Mensch hat einen Namen, den ihm die Berge und<br />

seine Mauern gaben. Jeder Mensch hat einen Namen,<br />

den ihm die Sternzeichen und seine Nachbarn gaben.<br />

Jeder Mensch hat einen Namen, den ihm seine Sünden<br />

und seine Sehnsucht gaben. Jeder Mensch hat einen<br />

Namen, den ihm seine Feinde und seine Liebe gaben.<br />

Jeder Mensch hat einen Namen, den ihm seine Feste<br />

und seine Arbeit gaben. Jeder Mensch hat einen<br />

Namen, den ihm die Jahreszeiten und seine Blindheit<br />

gaben. Jeder Mensch hat einen Namen, den ihm das<br />

Meer und sein Tod gab. Jeder Mensch hat einen<br />

Namen.<br />

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Von Stefanie Laaser<br />

Für Maja gibt es zwei Sorten von Frauen auf der Welt –<br />

solche, um die sich jeder immer kümmern will, und<br />

solche, bei denen das nicht der Fall ist. Sich selbst zählt<br />

sie zur zweiten Sorte. Ganz im Gegenteil: Sie ist eine, die<br />

sich um die Anderen kümmert, eine Zuhörerin. Einem<br />

attraktiven BWL-Studenten mit Autopanne bietet sie<br />

zuerst das Telefon in ihrem Doktorandinnenbüro an,<br />

dann zuhause ihre Schulter, an der er sich über seine<br />

verlorene Jugendliebe ausweint, und schließlich ihr Sofa<br />

inklusive Sex. Als klar wird, dass er nicht bis zum nächsten<br />

Morgen bleiben möchte, erspart sie ihm eine peinliche<br />

Ausrede. Das Gefühl, nicht zurückgeliebt zu werden,<br />

begleitet Maja auf Schritt und Tritt und macht sie traurig.<br />

Ein Teufelskreis, wie ihre beste Freundin Nogga ihr einmal<br />

vor Augen führt:<br />

Zitat 1<br />

„Du musst ausstrahlen, dass alles bestens ist in deinem<br />

Leben, dass du glücklich bist, selbst wenn wir beide<br />

wissen, dass das nicht der Fall ist. Und erst später, im<br />

passenden Moment - erst da darfst du anfangen,<br />

deinen Katzenjammer auf den Tisch zu packen. Aber in<br />

kleinen Häppchen. Nicht alles auf einmal. Begreif das<br />

doch. Die hauen ab, weil sie merken, dass du<br />

wahnsinnig klug und wahnsinnig traurig bist. Diese<br />

Kombination aus Grips und Weltschmerz ist für Männer<br />

tödlich.“<br />

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Auf einer Purim-Party, einem jüdischen Brauch etwa<br />

vergleichbar mit unserem Karneval, lernt Maja Nathan<br />

kennen. Groß, schwer und schweigsam steht er neben<br />

ihr in der Küche, in der sich die Gäste drängen. Bei jeder<br />

Kopfbewegung bimmeln kleine Glöckchen an seiner<br />

Narrenkappe. Maja verliert sofort ihr Herz an ihn. Später<br />

fährt sie ihn nach Hause.<br />

Zitat 2<br />

Ich beobachtete Nathan aus dem Augenwinkel. Er<br />

starrte durch das Seitenfenster nach draußen. Die<br />

großen Hände ruhten auf der zerknüllten Mütze, und ich<br />

sah, dass er Schmutz unter den Fingernägeln hatte,<br />

etwas Rötlichbraunes, vielleicht Erde. Sein Anblick war<br />

irgendwie rührend, so unbeholfen und phlegmatisch<br />

und zugleich abweisend-gleichgültig. Mit derselben<br />

kindlich-unbewussten Art, wie er getanzt hatte, starrte er<br />

nach draußen, und knetete dabei geistesabwesend<br />

und schwer atmend seine Kappe. Ich fuhr bewusst<br />

langsam und vorsichtig, wie eine Försterin, die einen<br />

verirrten Bären zurück zu seiner Höhle bringt.<br />

Maja beginnt eine Affäre mit Nathan, der in einer<br />

Gärtnerei arbeitet und so gut wie nichts über sein Leben<br />

preisgibt. Immer nach Feierabend fährt sie zu ihm und<br />

verbringt mit ihm die Nacht in seiner kleinen<br />

schmuddeligen Dachwohnung, bis Nathan früh am<br />

nächsten Morgen zur Arbeit muss. Die Wochenenden<br />

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möchte er für sich haben – denn da pflegt er seit Jahren<br />

eine Fernbeziehung, wie Maja schließlich bei einem<br />

Überraschungsbesuch herausfindet. Jeden Freitag<br />

bekommt er Besuch von Sigall, die drei Stunden entfernt<br />

von Tel Aviv in einem Kibbuz lebt. Für sie räumt Nathan<br />

sogar seine Wohnung auf und stellt frisches Obst in den<br />

Kühlschrank – die junge, hübsche Sigall gehört eindeutig<br />

zu der Kategorie von Frauen, um die man sich kümmert.<br />

Maja ist tief getroffen, aber sie hat nicht den Mut,<br />

Nathans feig-bequemes Arrangement platzen zu lassen:<br />

Sie spielt Sigall gegenüber die harmlose Bekannte und<br />

schläft wochentags weiterhin mit Nathan. Beinahe<br />

wünscht sie sich ihre frühere Ahnungslosigkeit zurück.<br />

Zitat 3<br />

Seit fünf Monaten vögelten wir miteinander. Da ich in<br />

den letzten fünf Monaten relativ glücklich gewesen war,<br />

freute ich mich, dass ich nichts davon gewusst hatte.<br />

Fünf Monate war ich glücklich gewesen – wenn auch<br />

nur relativ und, wie ich inzwischen wusste, grundlos -,<br />

aber immerhin. Fünf Monate waren ein nicht zu<br />

verachtender Zeitraum.<br />

Mit einer Mischung aus traurigem Zynismus und<br />

Empathie analysiert Yael Hedaya das Gefühlsleben ihrer<br />

Figuren. Das gelingt ihr besonders gut bei Majas Eltern,<br />

einem einfachen Paar aus dem Kleinbürgertum: Der<br />

akribisch-gewissenhafte Vater hat vor der Rente in<br />

einem Steuerberaterbüro gearbeitet, die Mutter,<br />

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übergewichtig und emotional, war dort Telefonistin.<br />

Nach einer langen, unbefriedigenden Ehe lassen sich<br />

die beiden im Alter von 70 Jahren scheiden. In ihrer<br />

Liebesgeschichte spiegelt sich das, was nun der Tochter<br />

widerfährt. Auch Majas Mutter wurde vom Vater nie so<br />

geliebt, wie sie es sich gewünscht hatte: Immer stand sie<br />

im Schatten von dessen erster Ehefrau, die bei einem<br />

tragischen Unfall ums Leben gekommen war. Deswegen<br />

beharrt sie auf der Scheidung, obwohl der<br />

Gesundheitszustand der beiden eindeutig dafür<br />

spräche, zusammenzubleiben.<br />

Zitat 4<br />

Meine Mutter schien die tiefere Bedeutung ihrer<br />

Scheidung nicht erfasst zu haben. Sie dachte offenbar,<br />

Scheidung sei eine Heilungsphase für die Ehe – eine<br />

Übergangsphase von einem eher farblosen zu einem<br />

spannenden Eheleben. Sie zog nicht in Betracht, dass sie<br />

sich von meinem Vater würde trennen müssen. Sie nahm<br />

an, dass er weiterhin da sein würde, auch nachdem er<br />

ihr den Scheidebrief ausgehändigt hätte, und dass der<br />

Scheidebrief, eingerahmt wie ein Diplom, in der kleinen<br />

Küche hängen würde, in der auch mein Vater stünde<br />

und missmutig bebend seine Omeletts briete.<br />

Die ideale Liebe gibt es nicht in Yael Hedayas Roman.<br />

Wenn aber Maja ihrem kleinen, schmächtigen Vater<br />

den Schal enger um den Hals bindet, um ihn vor Wind zu<br />

schützen, oder ihn in seiner demonstrativ karg<br />

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eingerichteten Wohnung besucht, in der er seit der<br />

Scheidung lebt, und mit dem Tauchsieder jede Tasse<br />

Kaffee einzeln aufbrüht - dann wird plötzlich doch eine<br />

Form von Liebe spürbar, die realer und dauerhafter ist<br />

als das romantische Gefühl, das die Hauptfiguren so<br />

schmerzhaft vermissen in ihrem Leben. Die Stärke der<br />

Autorin besteht in solchen kleinen Beschreibungen, die<br />

mitunter genau da treffen, wo es wehtut. „Alles bestens“<br />

ist ein leicht und unterhaltsam zu lesender Roman, der<br />

seinen Tiefgang aus dem melancholischen Unterton<br />

gewinnt, mit dem Hedaya letztlich die uralte Frage nach<br />

dem Glück des Menschen berührt.<br />

Von Pascal Fischer<br />

Da hatte die deutschstämmige Mutter dem kleinen Ilan<br />

ja in seiner Kindheit schöne Märchen erzählt:<br />

Kinderreime, Holzspielzeug und Zartbitterschokolade<br />

machten die deutsche Seele aus. Doch Ilan, erwachsen<br />

und frischgebackener Europakorrespondent für einen<br />

israelischen Fernsehsender, landet stattdessen in einem<br />

Berlin voller FKK-Jogger mit baumelnden Hodensäcken<br />

und Fahrkartenkontrolleuren, die aussehen wie David<br />

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Bowie. Und so muss der Erzähler viele althergebrachte<br />

Vorstellungen über Bord werfen, etwa bei Terminen bei<br />

Eisbär Knut, bei schlittschuhfahrenden Rabbis oder in<br />

Edelbordellen mit Rabatt für Rentner. Mit pointiertem<br />

Witz und in kurzen Kapiteln beschreibt Goren sein<br />

Erstaunen über ein Land, in dem Prostitution legal,<br />

Unpünktlichkeit aber undenkbar ist. Nur im Deutschen<br />

kann der Autor seine ersten Berlin-Gefühle beschreiben.<br />

GORE0001-20:05<br />

„Zwei Wörter: aufgeregt und spritzig!“ (OT frei stehend)<br />

„Both I have learned...<br />

„Beide habe ich gelernt, indem ich Fußball im Fernsehen<br />

geguckt habe.“<br />

...on TV.“<br />

Ein Berlinbuch aus israelischer Sicht ist eines, in dem auch<br />

die deutsche Sprache eine Hauptrolle bekommt. Denn<br />

bald erhält die Hauptfigur, die wie der Autor auch Ilan<br />

heißt, eine alte Kiste mit dem Nachlass seiner Großeltern;<br />

so ähnlich erging es dem Autor übrigens selbst. Nach<br />

jedem Arbeitstag setzt der Erzähler Ilan sich abends hin<br />

und blättert in den Dokumenten und Tagebüchern. Ein<br />

zweiter Handlungsstrang entsteht, der die<br />

Lebensgeschichte von Juda Hellberg erzählt, Ilans<br />

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preußisch-jüdischem Urgroßvater, der nach dem ersten<br />

Weltkrieg in Berlin Ingenieurswissenschaften studierte.<br />

Bald wühlt sich der Held durch alte Arztberichte und<br />

unliebsame Familien-Wahrheiten, nimmt Wörter wie<br />

„einzelpsychodynamisch“ (stammt das Wort aus einem<br />

der historischen Dokumente?) auseinander wie<br />

Legobausteine, denn wie Lego funktioniert die deutsche<br />

Sprache, findet er.<br />

GORE0001-01:09<br />

„As a child, I was....<br />

„Vom Deutschen war ich schon als Kind fasziniert, ich<br />

war ja umgeben von Worten und Sätzen, die meine<br />

Mutter benutzte. Aber als Junge lehnte ich später die<br />

deutsche Sprache ab. Es war ja für einen 8jährigen<br />

Jungen in Jerusalem in den 80er Jahren nicht gerade<br />

schick, deutsche Kinderreime zu rezitieren. Doch als ich<br />

nach Berlin reiste, kam alles wieder an die Oberfläche.<br />

Viele Ausländer würden sagen, die deutsche Sprache<br />

habe etwas Hartes. Aber egal, ob in Boulevard-<br />

Zeitungen, Literatur oder Dichtung...mich berührte und<br />

bewegte das Deutsche!“<br />

...touched me deep.“<br />

Dass das im Buch zu spüren ist, gleicht einem Wunder:<br />

Ilan Goren sagt, er träumte seine Geschichte auf<br />

Hebräisch, schrieb alles auf Englisch auf und sein<br />

deutscher Verlag ließ schließlich alles ins Deutsche<br />

übertragen.<br />

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GORE0001-16:18<br />

„It is a great...<br />

„Lektor und Übersetzer haben großartige Arbeit<br />

geleistet, weil ich meine Stimme wiedererkenne, wenn<br />

ich meine Texte auf Deutsch lese. Unglaublich, wo es<br />

doch so eine große Distanz zwischen den drei Sprachen<br />

und Kulturen gibt! Jemand sagte mal, das erste Opfer<br />

von Übersetzung sei der Humor. Ich hoffe aber, dass<br />

mein Buch trotzdem noch ein bisschen lustig geblieben<br />

ist....“<br />

...a little bit funny still.“<br />

Allerdings muss man oft laut lachen und Vanadis Buhr für<br />

die freche, wiewohl nicht aufgesetzt wirkende<br />

Übersetzung danken. Ilan Goren mokiert sich gerne über<br />

Deutschland. Den Bundesadler im Parlament vergleicht<br />

er mit einem gestopften Hähnchen, und in den<br />

Deutschkursen für Zuwanderer gibt es nur Texte über<br />

strebsame Gastarbeiter zu lesen, bis selbst ein Teilnehmer<br />

entnervt flüstert, eigentlich habe „der Sarrazin“ doch<br />

recht. Sogar vor Israelis und Juden macht Gorens Witz<br />

nicht halt: Da lässt er im Heimatdorf des Urgroßvaters<br />

eine Orgie von Kabbalisten stattfinden und attestiert<br />

jedem heutigen Israeli ein besonderes Areal im Gehirn:<br />

den iranischen Bedrohungskortex. Er hoffe, sagt Ilan<br />

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Goren, dass er politisch inkorrekter sei als die Deutschen,<br />

denn sonst würde niemand sein Buch lesen.<br />

GORE0001-09:28<br />

„Most Germans will, when they hear you are from Israel...<br />

„Mit den meisten Deutschen ist es so: Wenn sie hören,<br />

dass du aus Israel kommst, lassen sie dich fast alles<br />

sagen oder tun. Sie sind fast darauf konditioniert. Ich<br />

aber finde, dass die Israelis gegenüber den Deutschen<br />

nicht komplett unschuldig sind. Und zwar in dem Sinn,<br />

dass einige von uns immer dieselbe Währung benutzen.<br />

Das H-Wort, ich schätze, Sie wissen, was ich meine. Das<br />

wird natürlich immer den Kern der Beziehungen<br />

zwischen den beiden Ländern ausmachen. Aber es<br />

kann doch nicht das Einzige sein! Man sollte das nicht<br />

überreizen. Man kann quasi nicht ständig dieselbe<br />

Kreditkarte benutzen, denn irgendwann hat man keinen<br />

Kredit mehr. Ich finde, man muss zuallererst sehr tief und<br />

ehrlich in die eigene Seele und Gesellschaft blicken,<br />

bevor man andere kritisiert. Also habe ich im Buch<br />

versucht, jedem ein bisschen ironisch, zynisch oder<br />

kritisch gegenüberzutreten. “<br />

...ironical, cynical and critical towards everyone.“<br />

Wenn man Deutsche, Juden und Israelis denn einander<br />

überhaupt so gegenüberstellen kann. Ilan Goren selbst<br />

will sich nicht als Repräsentant einer soundsovielten<br />

Generation nach dem Holocaust sehen, sondern<br />

vielmehr als ein bisschen Israeli, ein bisschen<br />

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aschkenasischer Jude, ein Viertel Deutscher und ein<br />

Achtel Berliner. In diese Richtung weist auch der zweite<br />

Handlungsstrang in seinem Buch „Wo bist Du, Motek?“:<br />

Die Fotos, Briefe und Dokumente, die der erstaunte Held<br />

der alten Truhe entnimmt, bringen die<br />

Familiengeschichte durcheinander, wie sie bislang<br />

immer erzählt wurde: Die Urgroßmutter war eigentlich<br />

keine geborene Jüdin, sondern eine zum Judentum<br />

konvertierte Lutheranerin; und der Urgroßvater kein<br />

deutscher Preuße, sondern ein Ostjude aus Polen, der<br />

krampfhaft vom „Juda“ zum „Joachim“ werden wollte.<br />

Beide scheiterten damit, ihre Vergangenheit komplett zu<br />

überschreiben.<br />

GORE0001-15:07<br />

„This thing, it doesn't work!...<br />

„Das funktioniert einfach nicht. Meine Großeltern haben<br />

sehr angestrengt versucht, etwas Perfektes zu sein, fast<br />

eine Karikatur. Sie sind damit gescheitert. Meine<br />

Generation hat versucht, offener und flexibler zu sein, zu<br />

verstehen und anzunehmen, dass es verschiedene<br />

Identitäten gibt, die interagieren, wachsen und<br />

voneinander etwas empfangen können. Anders geht es<br />

gar nicht. Darin liegt der Schlüssel für die Zukunft von<br />

Deutschen und Israelis, denn wir sind einfach<br />

miteinander verbunden. Wir müssen uns weniger um die<br />

Klischees und diese Identitäts-Schlagworte kümmern,<br />

denn so funktioniert das nicht, zumindest nicht bei mir.“<br />

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...at least not for me.”<br />

„Schokolade ist dicker als Blut“ lautet Juda Hellbergs<br />

leitmotivisches Bonmot, mit dem er Wahlidentität über<br />

Herkunftsidentität setzt. Auch, wenn er scheitert....es<br />

bleibt ein wunderschönes Motto für die<br />

Wahlverwandtschaften einer multikulturellen<br />

Gesellschaft, ja, vielleicht sogar der deutsch-israelischen<br />

Beziehungen? Bevor Ilan Gorens alter ego nach einem<br />

Jahr wieder nach Israel zurückkehrt, erlebt dieser Held<br />

an der Oberfläche viel Grelles und kommt darunter zu<br />

einem sehr weisen Verständnis von Identität.<br />

Von Christian Gasser<br />

Regina Segal reist mit ihrer Enkelin Mika nach Warschau.<br />

Sie möchte die Wohnung, die ihre<br />

Eltern auf der Flucht vor den Nazis<br />

überstürzt aufgeben mussten,<br />

zurückfordern und ihrer Enkelin<br />

überschreiben. Eine reine Formalität,<br />

versichert sie Mika.<br />

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Im Hotel fällt der alten Frau ein<br />

Telefonbuch in die Hand, sie schlägt<br />

es neugierig auf und macht eine<br />

verstörende Entdeckung – die sie<br />

aber für sich behält. Plötzlich will sie<br />

von der Wohnung nichts mehr hören,<br />

und dieser Sinneswandel verwirrt die<br />

Enkelin.<br />

Von da an mutiert die juristische<br />

Lappalie zum verzwickten Drama, da<br />

jede Figur in "Das Erbe" heimlich ihre<br />

eigenen Ziele verfolgt. Während die<br />

resolute alte Dame sich auf die Suche<br />

nach ihrer Vergangenheit macht, lässt<br />

sich Mika auf eine Affäre mit dem<br />

Comiczeichner Tomasz ein, der sein<br />

Geld mit Getto-Touren für jüdische<br />

Pilger verdient. Und stets schwirrt auch<br />

ein angeblicher Freund der Familie mit<br />

einem ungesunden Interesse für die<br />

Wohnung herum.<br />

Rutu Modan, eine meisterhafte<br />

Erzählerin, verrät uns – aber auch<br />

ihren Figuren – immer nur so viel wie<br />

nötig, legt falsche Fährten aus und<br />

überrascht uns bis zum Schluss mit<br />

unerwarteten Wendungen.<br />

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Die 1966 geborene Rutu Modan ist<br />

eine israelische Comicautorin mit<br />

polnischen Wurzeln: Ihre Grosseltern<br />

väterlicher- und mütterlicherseits<br />

verliessen Polen noch rechtzeitig in<br />

Richtung Palästina, die einen bereits<br />

1934, die anderen 1940.<br />

Rutu Modan wurde in den<br />

Neunzigerjahren bekannt als Teil des<br />

Autorenkollektivs Actus aus Tel Aviv<br />

und landete 2008 mit ihrem ersten<br />

Comic-Roman "Blutspuren" einen<br />

internationalen Erfolg. In "Blutspuren"<br />

erzählte sie eine Liebesgeschichte vor<br />

dem Hintergrund des israelischpalästinensischen<br />

Konflikts, ohne<br />

diesen aber je direkt anzusprechen.<br />

Das ist in "Das Erbe" nicht anders: Das<br />

eigentliche Thema ist abwesend –<br />

und genau deshalb umso präsenter.<br />

Natürlich umkreist "Das Erbe" das<br />

grosse jüdisch-polnische Thema, den<br />

Holocaust, und seine bis in die<br />

Gegenwart reichende Wirkung – er ist<br />

schliesslich der Auslöser dieser Reise<br />

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nach Warschau. Rutu Modan und ihre<br />

Figuren sprechen die<br />

Judenvernichtung jedoch nie direkt<br />

an – ausser in satirischen Spitzen<br />

gegen den jüdischen Holocaust-<br />

Gedenk-Tourismus.<br />

Im Flugzeug beispielsweise sitzt eine<br />

Horde lärmiger Schulkinder, die von<br />

ihrem Lehrer an die Stätte des<br />

Grauens gekarrt werden: "Montag<br />

Treblinka, Dienstag Majdanek,<br />

inklusive Gaskammern…", beschreibt<br />

der Lehrer Regina die Reiseroute.<br />

"Majdanek steckt Auschwitz in die<br />

Tasche. Ist viel grausiger."<br />

Sehr zum Leidwesen des Lehrers ist<br />

Regina keine Überlebende. Sie wurde<br />

noch rechtzeitig wegen einer von den<br />

Eltern unerwünschten<br />

Schwangerschaft nach Palästina<br />

abgeschoben. Aber sie ist doch ein<br />

Opfer des Holocausts: Ihren Eltern<br />

gelang die Flucht nicht mehr, und mit<br />

den Eltern starb auch ihre polnische<br />

Vergangenheit und die Verbindung<br />

zu ihrer grossen Liebe.<br />

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Im Titel "Das Erbe" spiegelt sich die<br />

Komplexität von Modans Geschichte:<br />

Zum einen verweist er auf die<br />

materielle Erbschaft, die Wohnung,<br />

die im Lauf der Geschichte jedoch<br />

immer unwichtiger wird. Dafür tritt<br />

Reginas individuelles Erbe, die<br />

Schwangerschaft, die sie ihr Leben<br />

lang belastete, immer deutlicher in<br />

den Vordergrund. Und über all das<br />

wirft das kollektive historische Erbe,<br />

der Holocaust, seinen Schatten selbst<br />

auf das Leben junger Jüdinnen und<br />

Juden, wie Mika.<br />

Rutu Modans Verdienst ist es, rund um<br />

diese drei Bedeutungsebenen des<br />

Titels ein halbes Dutzend sehr<br />

glaubhaft gezeichnete Menschen mit<br />

Ecken und Macken mit- und<br />

gegeneinander antreten zu lassen.<br />

Aus ihren kleinen Konflikten und<br />

Geheimnissen, aus ihrer Sturheit und<br />

ihren irrationalen Entschlüssen baut<br />

Modan eine kriminalistisch<br />

verschachtelte, tragisch grundierte<br />

Komödie, in der sich die grosse<br />

Geschichte nur beiläufig zu spiegeln<br />

scheint.<br />

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In einem ähnlichen Spannungsfeld<br />

zwischen Zeigen und Vertuschen<br />

bewegt sich auch Modans<br />

Bildsprache. Modan ist geschult an<br />

der klassischen frankobelgischen<br />

Tradition eines Hergé, ihr Strich ist klar,<br />

sauber und subtil. Der Kontrast<br />

zwischen den tiefenscharfen Bildern<br />

und den Unklarheiten, dem<br />

Ungesagten und Verdrängten, lässt<br />

die leere Stelle im Mittelpunkt der<br />

Geschichte, den Holocaust, immer<br />

klarer hervortreten. Ein Beispiel dafür<br />

sind, auf einer der letzten Seiten und<br />

ebenfalls ganz beiläufig ins Bild<br />

gesetzt, die Schülerinnen und Schüler<br />

auf dem Rückflug: Nicht mehr<br />

übermütig und lärmig, sondern still,<br />

bedrückt, mit Tränen im Gesicht,<br />

erschüttert vom Grauen, mit dem sie<br />

in Polen konfrontiert wurden.<br />

Die raffinierte Verknüpfung von Humor<br />

und Tragödie, von Klarheit und<br />

Verdrängung, von Gegenwart und<br />

Vergangenheit macht aus "Das Erbe"<br />

eine sehr vielschichtige überaus<br />

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spannende und unterhaltsame, aber<br />

auch zutiefst bewegende Erzählung,<br />

deren Fäden sinnigerweise an<br />

Allerseelen, dem Tag der Toten, auf<br />

dem jüdischen Friedhof von Warschau<br />

zusammenlaufen.<br />

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