Manuskript - Südwestrundfunk
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SÜDWESTRUNDFUNK<br />
SWR2 Wissen - <strong>Manuskript</strong>dienst<br />
„Woyzeck“ im 21. Jahrhundert<br />
Georg Büchners Drama und der moderne Mensch<br />
Autor: Michael Reitz<br />
Redaktion: Anja Brockert<br />
Regie: Maria Ohmer<br />
Sendung: Donnerstag, 17.10.2013, 8.30 Uhr, SWR 2<br />
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Bitte beachten Sie:<br />
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1
Musik: Vorschlag: Tom Waits „Blood Money“ oder Alban Berg „Woyzeck“,<br />
darüber:<br />
Zitator 1:<br />
Sehen Sie Herr Hauptmann, wer kein Geld hat. Da setz einmal einer<br />
mein‟sgleichen auf die Moral in der Welt. Man hat auch sein Fleisch und Blut.<br />
Unsereins ist doch einmal unselig in der und der anderen Welt. Ich glaub,<br />
wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen!<br />
O-Ton (1) Kurzke:<br />
Es geht um eine ganz tiefe Frage. Und es geht nicht nur um eine soziale<br />
Frage, also dass Woyzeck als armer Mann vielleicht die Möglichkeiten nicht<br />
hat, die ein wohlhabender Mensch hätte. Das ist ein Aspekt, der ihn in die<br />
Enge treibt – die materielle Armut. Aber es ist nicht der einzige.<br />
O-Ton (2) Calis:<br />
Wo könnte so eine Geschichte heute spielen? Wo hat das alte Stück von<br />
Büchner, der Woyzeck, immer noch was mit meiner Welt und meiner Zeit zu<br />
tun? Da merkt man natürlich die Qualität eines solchen Autors, der<br />
wahrscheinlich noch in 300 Jahren gelesen wird.<br />
Ansage:<br />
„Woyzeck“ im 21. Jahrhundert. Georg Büchners Drama und der moderne<br />
Mensch. Eine Sendung von Michael Reitz.<br />
Regie: Musik<br />
Sprecherin:<br />
Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ ist bis heute eines der<br />
meistgespielten Stücke an deutschsprachigen Bühnen. Es entstand 1836,<br />
wurde aber erst vierzig Jahre später zum ersten Mal veröffentlicht.<br />
Seither hat der „Woyzeck“ viele Theaterregisseure inspiriert, aber auch<br />
Filmemacher und so unterschiedliche Musiker wie Alban Berg und Tom<br />
Waits, die das Drama zu modernen Kompositionen anregte.<br />
Was aber macht den Woyzeck-Stoff auch heute, im 21. Jahrhundert, noch<br />
aktuell?<br />
O-Ton (3) Calis:<br />
Diese zwischenmenschlichen Abgründe, die zwischen Personen und<br />
Menschen ans Tageslicht kommen, bei so einem Überlebenskampf im Alltag,<br />
das hat mich sehr interessiert, wie sich das widerspiegelt in so einer<br />
Geschichte, die ich dann versucht habe heute mal einzufangen.<br />
Sprecherin:<br />
Der Bielefelder Theaterregisseur, Filmemacher und Autor Nuran David Calis<br />
hat den Woyzeck-Stoff 2013 neu verfilmt. Georg Büchner, geboren [bitte<br />
etwas abgesetzt sprechen wg. Wiederholung: vor 200 Jahren,] am 17.<br />
Oktober 1813, ist für Calis einer der emotionalsten und vielschichtigsten<br />
Schriftsteller der deutschen Literaturgeschichte.<br />
2
O-Ton (4) Calis:<br />
Der hat immer den empfindlichen Menschen versucht darzustellen im Kampf<br />
mit den Obrigkeiten, im Kampf mit der Industrialisierung, im Kampf mit dem<br />
Überlebenswillen, wie er sich darin zerreibt und verheddert. Das war<br />
natürlich eine große Gabe und eine große Kraft, dieses Empfinden zu haben<br />
und das so zu beschreiben, für den Büchner. Darin ist er natürlich sehr genial<br />
gewesen.<br />
Sprecherin:<br />
Im Zentrum des Stücks steht Johann Franz Woyzeck, ein einfacher Soldat.<br />
Mit seiner Freundin Marie hat er ein Kind, aber er kann sie nicht heiraten,<br />
weil er zu wenig Geld hat. Um ein paar Groschen für seine Familie zu<br />
verdienen, stellt sich Woyzeck einem zwielichtigen Mediziner als<br />
Versuchsobjekt für eine ominöse Erbsendiät zur Verfügung. Marie aber<br />
betrügt ihn mit einem Tambourmajor, und Woyzecks Hauptmann verhöhnt<br />
ihn geradezu mit Reden über die rechte Tugend. Von seiner gesamten<br />
Umwelt gehänselt und zum Idioten erklärt, ersticht Woyzeck seine Freundin.<br />
O-Ton (5) Kurzke:<br />
Das ist eine der brandaktuellen Fragen, dass man heute in unserer<br />
Gesellschaft breitflächig das Gefühl hat, die Guten, die Ehrlichen sind die<br />
Dummen.<br />
Sprecherin:<br />
Der Mainzer Germanist Hermann Kurzke hat 2013 eine umfangreiche<br />
Biographie über Georg Büchner veröffentlicht.<br />
O-Ton (6) Kurzke:<br />
Und oben an der Spitze, wo die Gewinner sitzen, da spielt eigentlich das<br />
Gutsein und die Moralität überhaupt keine Rolle, sondern nur die Virtuosität<br />
des Schwindelns, dass man das möglichst so geschickt macht, dass einem<br />
keiner auf die Schliche kommt, und dass man am besten nach außen noch<br />
eine weiße Weste hat.<br />
Sprecherin:<br />
Doch wie kam Georg Büchner überhaupt auf den Woyzeck- Stoff? Hermann<br />
Kurzke gibt einen ersten Hinweis:<br />
O-Ton (7) Kurzke:<br />
Es gab einen historischen Woyzeck, der 1824 in Leipzig öffentlich<br />
hingerichtet wurde vor tausenden von Zuschauern. Büchners Vater war Arzt<br />
und zwar auch psychiatrisch tätiger Arzt. Und zu diesem Fall gab es ein<br />
gerichtspsychiatrisches Gutachten, das in einer medizinischen<br />
Fachzeitschrift erschien, die im Hause Büchner vorhanden war, so dass<br />
Georg Büchner schon frühzeitig den ganzen Fall mitgekriegt hat.<br />
Sprecherin:<br />
3
1831 beginnt Georg Büchner selbst ein Studium der Medizin in Straßburg,<br />
zwei Jahre später wechselt er nach Gießen. Doch schon bald bringt er die<br />
Obrigkeit gegen sich auf:<br />
Zitator 2:<br />
Steckbrief: Der hierunter signalisierte Georg Büchner, Student der Medizin<br />
aus Darmstadt, hat sich der gerichtlichen Untersuchung seiner indizierten<br />
Teilnahme an staatsverräterischen Handlungen durch die Entfernung aus<br />
dem Vaterlande entzogen. Man ersucht deshalb die öffentlichen Behörden,<br />
denselben festzunehmen und wohlverwahrt an die unterzeichnete Stelle<br />
abliefern zu lassen. Darmstadt, den 13. Juni 1835.<br />
Sprecherin:<br />
Wer hier von den Polizeibehörden eines autoritären Staates – dem<br />
Großherzogtum Hessen – gesucht wird, ist nicht nur Medizinstudent.<br />
Sondern auch, obwohl gerade mal 21 Jahre alt, ein politischer Schriftsteller.<br />
Er hat unter dem Titel „Der hessische Landbote“ eine Flugschrift drucken und<br />
heimlich verteilen lassen, die dem staatlichen Gewaltapparat so gefährlich<br />
erscheint, dass er ihren Autor in Haft nehmen will. „Friede den Hütten, Krieg<br />
den Palästen“, das ist in diesem Text unter anderem zu lesen. Mehrere Male<br />
verhört und vorgeladen, wird Georg Büchner der Boden zu heiß. Er flieht<br />
zurück in das liberale Straßburg, um dort sein Studium zuende zu bringen.<br />
Diese Flucht markiert jedoch auch eine Bruchlinie in der künstlerischen<br />
Entwicklung Georg Büchners. Denn den politischen Agitationsschriftsteller<br />
Georg Büchner gibt es von nun an nicht mehr. „Dantons Tod“, sein erstes<br />
Theaterstück, ist ein Abgesang auf revolutionäres Engagement. Zwar wird<br />
Büchner von der obersten Zensurbehörde zusammen mit Autoren wie<br />
Heinrich Heine oder Karl Gutzkow auf den Index gesetzt und verboten, doch<br />
an seine Eltern schreibt er:<br />
Zitator 1:<br />
Nur ein völliges Misskennen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse konnte<br />
die Leute glauben machen, dass durch die Tagesliteratur eine völlige<br />
Umgestaltung unseres religiösen und gesellschaftlichen Lebens möglich sei.<br />
Sprecherin:<br />
Georg Büchner resigniert nicht. Vielmehr wird er zum Realisten, der die<br />
Verhältnisse in Deutschland - Pressezensur, Polizeiwillkür, fehlende<br />
Versammlungsfreiheit - als so übermächtig empfindet, dass ein offener<br />
Kampf gegen sie aussichtslos scheint. Dazu ein Bürgertum, das sich mit dem<br />
Adel arrangiert hat und seine Ruhe will. In diesem Szenario wird Georg<br />
Büchner zu einem psychologischen Schriftsteller, der sich nicht mehr fragt,<br />
wie die Verhältnisse zu ändern sind, sondern was sie in dem einzelnen<br />
Menschen anrichten und wie sie ihn zum Opfer werden lassen. Im Zuge<br />
dieser literarischen Neuorientierung entstehen die psychologische Erzählung<br />
„Lenz“ und die romantische Komödie „Leonce und Lena“. Bereits in dem<br />
Lenz-Stoff deutet sich ein Thema an, das Georg Büchner in seinem<br />
Dramenfragment „Woyzeck“ ausgiebiger behandelt: das Irrewerden des<br />
Menschen in einer Welt, in der die Schwächeren drangsaliert und zur<br />
4
Ausschussware erklärt werden, rechtlos und ohne Möglichkeit sich zu<br />
wehren, ihrer Würde beraubt.<br />
Genau diese Konstellation interessierte auch den Filmemacher Nuran David<br />
Calis. Er verlegte das Geschehen des „Woyzeck“ in den Berliner Wedding<br />
unserer Tage:<br />
O-Ton (8) Calis:<br />
Mir ging es darum, einen totalen Verlierer in seinem Leben zu zeigen, dem<br />
es an jeglicher Sensibilität in seinem Umfeld für ihn einfach fehlt, weil alle<br />
irgendwo irgendwie mit dem Überleben beschäftigt sind. Und dann kommt<br />
der schwächste, der nachdenklichste, der verwundbarste Mensch – und<br />
verliert da drin.<br />
Musik:<br />
Sprecherin:<br />
Der Reichtum unserer Industriegesellschaften – täglich ist er sichtbar. Bei<br />
einem Gang durch die glitzernden Innenstädte und allgegenwärtigen<br />
Shopping Malls, die zum hemmungslosen Konsum verführen.<br />
Doch die Schattenseiten des Neoliberalismus – Armut, Verelendung und<br />
Gewalt - sind nicht allzu weit entfernt, an den Peripherien unserer<br />
Großstädte. Das jedenfalls will Nuran David Calis in seiner Woyzeck-<br />
Verfilmung deutlich machen.<br />
Musik:<br />
Sprecherin:<br />
Der Film ist keine leichte Kost. Woyzeck lebt in dem Kleinkriminalität wie<br />
Bandentum und Prostitution zum Alltag gehören. Die Stimmung des Films ist<br />
düster, Woyzecks und Maries Wohnung eine Bruchbude. Ihre Kleidung ist<br />
abgerissen, die Gesichter ständig müde. Alkohol und Drogen haben die<br />
Menschen des Viertels hässlich gemacht.<br />
Calis„ Woyzeck schuftet in den Berliner U-Bahn-Schächten als Müllmann. Er<br />
soll verhindern, dass die Ratten in die Bahnhöfe eindringen. Damit seine<br />
Freundin Marie, mit der er einen Sohn hat, nicht auf den Strich geht, nimmt<br />
er zusätzliche Jobs an: als Hilfsarbeiter in einem orientalischen Restaurant,<br />
dessen Besitzer die moderne Variante des Hauptmanns darstellt. Und er<br />
stellt sich als medizinisches Versuchskaninchen für einen deutschen Arzt zur<br />
Verfügung, der ein leistungssteigerndes Medikament an ihm erprobt. Das<br />
macht Woyzeck impotent und bringt ihn an den Rand des körperlichen und<br />
seelischen Zusammenbruchs.<br />
Nuran David Calis benutzt für Woyzecks Passagen fast ausschließlich<br />
Büchners ursprünglichen Text – ein Kunstgriff, der zeigt, wie zeitlos die<br />
Äußerungen eines Menschen sind, der an der Welt langsam irre wird. Und<br />
dessen wirre Reden selbst den eigenen Freunden Angst machen:<br />
Regie: Musik, darüber:<br />
Zitator 1:<br />
5
Hörst du‟s Andres? Hörst du‟s geht! Neben uns, unter uns. Fort, die Erde<br />
schwankt unter unseren Sohlen. Die Freimaurer! Wie sie wühlen! Bist du ein<br />
Maulwurf, sind deine Ohren voller Sand? Hörst du das fürchterliche Getös<br />
am Himmel. Über der Stadt. Alles Glut. Sieh nicht hinter dich. Wie es<br />
herauffliegt, und alles darunter. Still, ganz still, wie der Tod.<br />
Sprecherin:<br />
Die Katastrophe nimmt ihren Lauf, als der Pate des Viertels – ein smarter<br />
Zuhälter, in dessen Auftrag der Arzt mit Woyzeck die medizinischen<br />
Experimente durchführt – Marie verführt.<br />
Im Unterschied zu Georg Büchners Original gelingt es dem Film-Woyzeck<br />
zwar, sich zu wehren: er prügelt den Arzt und den Restaurantbesitzer<br />
krankenhausreif. Doch er selbst wird von Maries neuem Liebhaber übel<br />
zugerichtet. Am Ende des Films sehen wir Woyzeck mit einem blutigen<br />
Messer.<br />
O-Ton (9) Calis:<br />
Ich wollte jemanden zeigen, der in einer Minderheit die Minderheit noch mal<br />
ist (…) Mir ging es gar nicht um die äußeren oberflächlichen Erscheinungen<br />
des Mitmenschen, sondern wirklich um den Wertekompass einer<br />
Gesellschaft (…) Wie gehen die Außenseiter innerhalb ihrer Strukturen<br />
miteinander um? Und da war es mir wichtig beim Woyzeck zu zeigen: Okay,<br />
ich schaffe ein prekäres Umfeld, mit deren Gesetzmäßigkeiten und erzähle<br />
eine Abwärtsspirale an einem Ort, wo ein totaler Werteverlust stattgefunden<br />
hat, um zu zeigen, vielleicht der Rest der Bevölkerung, die an diese Werte<br />
glaubt, dass man diese Werte erhalten müsste und auch soweit tragen muss,<br />
dass sie auch an unseren Peripherien ankommen und man sich nicht auf<br />
einen Elfenbeinturm der Genügsamkeit zurückzieht.<br />
Regie: Musik, darüber:<br />
Zitator 1:<br />
Und wenn man kalt ist, so friert man nicht mehr.<br />
Sprecherin:<br />
So formuliert Woyzeck das Dilemma eines Menschen, der nicht so kalt und<br />
grausam sein will, wie es die gesellschaftliche Realität erfordert. Man müsste<br />
sich anpassen an die Eiseskälte der menschlichen Beziehungen, für deren<br />
Verrohung man genaugenommen niemanden verantwortlich machen kann.<br />
Wem diese Anpassung misslingt, der bleibt auf der Strecke. Erst recht, wenn<br />
der einzige emotionale Halt dem Glamour und der Scheinwelt in Gestalt<br />
eines feschen Zuhälter-Tambourmajors erliegt. Denn das Drama ist auch ein<br />
Stück über die Korrumpierbarkeit der Liebe und des Eros. Maries<br />
Seitensprung bedeutet – sowohl in Büchners Original als auch im Film – weit<br />
mehr als den entschuldbaren Fehltritt einer lebenshungrigen jungen Frau. Er<br />
wird zu einem Indikator dafür, dass der schöne Schein moralische Skrupel<br />
vergessen machen kann. Woyzeck wird schmerzlich bewusst, dass selbst<br />
Marie bestechlich ist. Dadurch wird sie für ihn zur Verräterin:<br />
6
Zitator 1:<br />
Immer zu, immer zu. Dreht euch, wälzt euch. Warum bläst Gott nicht die<br />
Sonn aus, das alles in Unzucht sich übereinander wälzt, Mann und Weib,<br />
Mensch und Vieh. Tut‟s am hellen Tag, tut‟s einem auf den Händen, wie die<br />
Mücken. – Weib. Das Weib ist heiß, heiß! Immer zu, immer zu.<br />
Regie: Musik<br />
Sprecherin:<br />
Georg Büchner schrieb bis kurz vor seinem Tod am „Woyzeck“. Er starb<br />
1837 im Alter von gerade einmal 23 Jahren an Typhus. Das Stück blieb ein<br />
Fragment und liegt uns wie ein zersplitterter Spiegel vor. Von einigen Szenen<br />
gibt es drei oder vier Fassungen, die Figuren haben je nach Stadium des<br />
Schreibprozesses unterschiedliche Namen. Unklar ist auch, ob Georg<br />
Büchner den grausamen Ausgang – Woyzecks Mord an Marie – vielleicht<br />
geändert hätte.<br />
Trotzdem gibt es in der deutschen Literatur kaum ein Drama, das bis heute<br />
so intensiv diskutiert wird. Und von dem es heißt, es beschreibe zum ersten<br />
Mal den ökonomischen Vernutzungsprozess des modernen Menschen, der<br />
zur Ware wird, dessen Rechte und Würde nicht mehr zählen.<br />
Georg Büchner versuchte sich als Autor einer Welt zu nähern, die auch ihn<br />
selbst immer nervöser und zu einem rastlos Suchenden werden ließ, meint<br />
Biograf Hermann Kurzke:<br />
O-Ton (10) Kurzke:<br />
Wir haben hier einen Menschen, der mit 23 Jahren vier Stücke geschrieben<br />
hat, die heute zur Weltliteratur zählen, und wo es ein ganz großes Rätsel ist,<br />
woher hatte der Mann das? Woher hatte er die Weltkenntnis? (…) Ich habe<br />
versucht, sein Leben zu deuten als eines, wo einer in eine Enge getrieben<br />
wird, die am Schluss nur noch den Ausweg der poetischsten Produktion<br />
lässt, weil eine Psyche so unter Druck gerät, dass sie produktiv wird und<br />
produktiv werden muss. Aber man bleibt letzten Endes, nach allen<br />
Erklärungen, doch mit einem Staunen zurück und kann es letzten Endes<br />
nicht berechnen.<br />
Musik:<br />
Zitator 1:<br />
Warum ist der Mensch? Von was hätte der Landmann, der Schuster, der Arzt<br />
leben sollen, wenn Gott den Menschen nicht geschaffen hätte?<br />
Musik:<br />
Sprecherin:<br />
„Woyzeck“ lässt sich als Sozialdrama lesen, aber auch als Psychogramm<br />
eines langsam durchdrehenden Underdogs. Oder als beißende Satire auf die<br />
medizinische Forschung, die nicht die geringsten Skrupel hat, sich ihre<br />
Probanden aus der Reihe der Unterprivilegierten zu holen.<br />
7
O-Ton (11) Kurzke:<br />
Die Medizin war damals in einer Phase, in der man alles Mögliche<br />
ausprobiert hat und die Menschen letzten Endes ziemlich technisch als eine<br />
raffinierte Maschine beschrieben hat. Dass ein Mensch einfach zum Objekt<br />
der Medizin wird, das gehört mit zu den brandaktuellen Teilen des Woyzeck.<br />
Daran hat sich im Grunde genommen nichts geändert. Das ist noch heute so.<br />
Zitator 2:<br />
Woyzeck! Was soll er tun, Erbsen essen, dann Hammelfleisch essen, sein<br />
Gewehr putzen, das weiß er alles und dazwischen die fixen Ideen, die<br />
Vermengung, das ist brav Woyzeck, er bekommt einen Groschen Zulage die<br />
Woche. Meine neue Theorie, kühn, ewig jugendlich. Woyzeck, ich werde<br />
unsterblich. Zeig er seinen Puls!<br />
Musik:<br />
O-Ton (12) Kurzke:<br />
Es geht um eine ganz tiefe Frage. Und es geht nicht nur um eine soziale<br />
Frage, also dass Woyzeck als armer Mann vielleicht die Möglichkeiten nicht<br />
hat, die ein wohlhabender Mensch hätte. Das ist ein Aspekt, der ihn in die<br />
Enge treibt – die materielle Armut. Aber es ist nicht der einzige.<br />
Musik:<br />
Zitator 1:<br />
Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.<br />
O-Ton (13) Kurzke:<br />
Schon diese grundsätzliche Frage, ob Menschen überhaupt ihrer<br />
Handlungen mächtig sind. Und Woyzeck ist ja eigentlich ein guter Mensch.<br />
Er ist ein moralisch guter Mensch, ein gutmütiger Mensch auch, der seine<br />
Geliebte und ihr gemeinsames Kind versorgen will und der überhaupt nicht<br />
der Typus eines Verbrechers ist, und trotzdem in dieses Verbrechen<br />
hineingerät.<br />
Sprecherin:<br />
Woyzeck ist kein Handelnder, sondern ein Behandelter – sagte einmal der<br />
Literaturkritiker Alfred Kerr. Sein Spielraum ist extrem eng, das einzige was<br />
er besitzt, ist die Liebe zu seiner Marie. Selbst sein Körper gehört ihm nicht<br />
mehr und sein Geist wird malträtiert von den zynischen Predigten seiner<br />
Vorgesetzten, die ihm die Wichtigkeit der Moral nahebringen sollen. Woyzeck<br />
reagiert mit der hilflosen Radikalität eines Menschen, der seine Haut zu<br />
Markte tragen muss.<br />
Zitator 1:<br />
Wenn die Welt so finster wird, dass man mit den Händen an ihr herumtappen<br />
muss, dass man meint, sie verrinnt wie Spinnweb„. Sehen Sie, wir gemeinen<br />
Leut, das hat keine Tugend. Aber wenn ich ein Herr wär und hätte ein Hut<br />
8
und eine Uhr und könnt vornehm reden – ich wollt schon tugendhaft sein. Es<br />
muss was Schöns sein um die Tugend.<br />
Sprecherin:<br />
Georg Büchner stellt auch die Frage: Wie sieht es aus mit dem Versprechen<br />
der Aufklärung, das Individuum sei autonom und selbst in Ketten noch frei?<br />
Seine schonungslose Illusionslosigkeit ist jedoch nicht nur eine<br />
Schreckenserzählung aus vergangenen Tagen, findet Hermann Kurzke.<br />
O-Ton (14) Kurzke:<br />
Das ist natürlich heute der Fall bei vielen jungen Menschen. Etwa das riesige<br />
Problem der Jugendarbeitslosigkeit – junge Menschen, die keinerlei<br />
Perspektive vor sich sehen, die weder eine soziale, eine<br />
Aufstiegsperspektive haben, aber auch keine Sinnperspektive, die nicht<br />
wissen, wozu sind wir auf Erden und wo könnten wir es noch versuchen?<br />
Sondern die auf irgendeine Weise eigentlich ziellos und perspektivlos in<br />
unserer Gesellschaft herumstehen. Dass unter solchen Umständen kein<br />
sinnvolles Verhalten entsteht, sondern eben auch ein selbstdestruktives<br />
Verhalten und Andere destruierendes Verhalten, dafür haben wir ja auch in<br />
unserer Gesellschaft genügend Beispiele.<br />
Sprecherin:<br />
Georg Büchner hat mit „Woyzeck“ den Beginn einer Entwicklung<br />
beschrieben, die heute ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Soziale<br />
Kälte, Vereinsamung und Elend zeichneten sich bereits im ersten Drittel des<br />
19. Jahrhunderts mit der beginnenden Industrialisierung ab und verschärften<br />
sich massiv. Nuran David Calis meint, Georg Büchner habe diese<br />
Entwicklung vorausgeahnt. Und auch instinktiv gespürt, dass sich im Zuge<br />
der Industrialisierung das gesamte Wertesystem grundlegend ändert. Für<br />
das Individuum stehen ab jetzt wirtschaftlicher Erfolg, nach vorne kommen,<br />
Rücksichtslosigkeit im Vordergrund.<br />
Und er hat eine Frage aufgeworfen, die auch in unserer globalisierten Welt<br />
brisant ist: was geschieht eigentlich mit denjenigen, die bei diesem<br />
Rattenrennen von vorneherein die schlechtesten Ausgangsbedingungen<br />
haben? Menschen in unterentwickelten Ländern etwa, die unter<br />
Bedingungen, wie sie in Europa bereits im 19. Jahrhundert verboten waren,<br />
in Bangladesch oder Vietnam unsere T-Shirts zusammennähen. Kinder und<br />
Jugendliche ohne Perspektive, in sozialen Brennpunkten in Köln, Berlin oder<br />
anderswo.<br />
Für den Büchner-Biographen Hermann Kurzke stellt das Dramenfragment<br />
„Woyzeck“ die erste Strophe eines bitteren Abgesangs auf die<br />
Glücksversprechen der Moderne dar.<br />
O-Ton (15) Kurzke:<br />
Wenn man die Erfahrung macht, 30 % sind auf die Sonnenseite gefallen und<br />
70 % auf die Schattenseite – davon haben vielleicht ein paar eine Chance in<br />
der Mitte –, aber das untere Drittel hat einfach keine Chance. Und diese<br />
Erfahrung, denke ich, macht dieses untere Drittel, dass sie sich eigentlich<br />
anstrengen können wie sie wollen, und es eigentlich kein Heraus gibt.<br />
9
Sprecherin:<br />
Woyzeck – das ist auch der verzweifelte Versuch eines Menschen, in einer<br />
Welt glücklich zu werden, die aus den Fugen gerät und deren Regeln sich<br />
immer mehr am reinen Überlebenskampf orientieren. Der Filmemacher<br />
Nuran David Calis ist als Kind türkisch-armenischer Einwanderer in Bielefeld-<br />
Baumheide aufgewachsen, einem verelendeten Stadtteil mit vielen<br />
Migranten. Für ihn ist Georg Büchners Stück ein Musterbeispiel für die<br />
Fragmentierung des Individuums, seine Wurzellosigkeit, die ihn nicht zu sich<br />
selbst kommen lässt.<br />
O-Ton (16) Calis:<br />
Die alle leben in einem Raum, in dem keiner mehr an den legalen Weg des<br />
Aufstiegs glaubt. Da braucht man sich nur diese ganzen DSDS-Shows und<br />
die ganzen anderen Formate anschauen, die im Moment total boomen, in<br />
dem jeder Jugendliche denkt, dass er auf diesem Weg eine bessere<br />
Aufstiegschance hat als wenn er Abitur machen würde. Und das gibt mir<br />
natürlich zu denken. Auch bezüglich meiner Prägung, als ich Jugendlicher<br />
war und aufgewachsen bin in den prekären Verhältnissen, auch an einer<br />
Peripherie, war es für uns einfacher, Drogen zu verkaufen als in die Schule<br />
zu gehen und Geld zu machen.<br />
Musik:<br />
Sprecherin:<br />
„Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“ – schreibt Georg Büchner.<br />
Und artikuliert damit die Beziehungslosigkeit des Menschen zu sich und<br />
seinen Handlungen. Der Woyzeck des 21. Jahrhunderts in Nuran David<br />
Calis„ Film kann sich diese Frage gar nicht mehr stellen. Rücksichtslosigkeit<br />
und Gewalt sind keine Ausnahme mehr, sondern Mittel im täglichen<br />
Überlebenskampf. In den sozialen Brennpunkten, den sogenannten<br />
Problemvierteln, wo sich kein Polizist mehr hintraut und die Menschen sich<br />
selbst überlassen bleiben, tritt dies unmaskiert an die Oberfläche.<br />
Schonungslos zeigt dies Nuran David Calis„ Woyzeck – Film.<br />
O-Ton (17) Calis:<br />
Die Gewalt in dem Film ist ein Handwerkszeug (…) Wenn du in diesem<br />
Wertesystem drin bist, dann ist das ein notwendiges Handwerkszeug, um zu<br />
überleben, diese Gewalt anzusetzen. Das ist genauso wie der Banker in<br />
Frankfurt, der ein Handwerkszeug hat ihn Logarithmen, damit seinen Gewinn<br />
zu maximieren (…) Das ist natürlich das Erschreckende und das Barbarische<br />
in diesen Peripherien, dass das so funktioniert. Und wenn einer diese Gewalt<br />
nicht aufbringen kann, also fast in dschungelhafter Umgebung, geht er an<br />
dieser Welt dann auch zugrunde. Und das versuche ich zu beschreiben.<br />
Sprecherin:<br />
Die Gesellschaft hat den Wertekanon ausgehöhlt, jeder versucht nur noch<br />
sich selbst zu retten. Und wer versucht, auch an seine Mitmenschen zu<br />
denken, wird desillusioniert.<br />
10
Doch weder Georg Büchners Schauspiel noch Nuran David Calis„ Film sind<br />
nur als Sozialdrama angelegt. Es geht auch um Leidenschaft und Vitalität,<br />
um männliche Konkurrenz, Status und die Macht des schönen Seins.<br />
Büchner wollte zeigen, dass die eigentliche Katastrophe des beginnenden<br />
Kapitalismus nicht nur in der ökonomischen Verelendung der Massen<br />
besteht. Ihm geht es auch darum, die Hilflosigkeit eines Menschen<br />
darzustellen, der emsig versucht in einer Welt zurechtzukommen, deren<br />
Drehbuch beständig umgeschrieben wird.<br />
Am Ende von Georg Büchners Stück bleibt Woyzeck nur noch eine<br />
minimalistische Bestandsaufnahme seiner selbst, mehr als seine<br />
biographischen Daten ist von ihm nicht übriggeblieben.<br />
Zitator 1:<br />
Friedrich Johann Franz Woyzeck, geschworener Füsilier im zweiten<br />
Regiment, zweites Bataillon, vierte Kompanie, geboren Mariä Verkündigung<br />
ich bin heut den 20. Juli alt dreißig Jahre sieben Monate und zwölf Tage.<br />
Musik:<br />
Sprecherin:<br />
Georg Büchners “Woyzeck” – ein Stück der Resignation, nicht nur des<br />
Scheiterns eines Einzelnen, sondern des ganzen Projekts der Humanität?<br />
Fest steht: Der Arzt Georg Büchner machte sich über den Zustand des<br />
Gesellschaftskörpers nichts vor. Trotzdem sah er Chancen, den<br />
Krankheitsherd des Konkurrenzkampfes einzudämmen. Selbst in seinem<br />
dunkelsten Stück, dem „Woyzeck“ finden sich immer noch Passagen, die das<br />
Recht des Menschen auf Glück hochhalten. Sich eine bessere Welt<br />
zumindest vorstellen zu können und die Hoffnung nicht aufzugeben – das ist<br />
die Botschaft, die auch heute noch – zweihundert Jahre nach Georg<br />
Büchners Geburt – in seinem Dramenfragment „Woyzeck“ steckt.<br />
Zitator 1:<br />
Es ist viel möglich. Der Mensch! Es ist viel möglich.<br />
* * * * *<br />
Literaturangaben:<br />
Sämtliche Werke und Briefe<br />
Von Georg Büchner<br />
Reclam Bibliothek 2012<br />
Hermann Kurzke<br />
Georg Büchner<br />
Geschichte eines Genies<br />
C.H. Beck Verlag<br />
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