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SWR2 MANUSKRIPT<br />
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE<br />
SWR2 Essay<br />
Mut zur Lücke?<br />
Gedanken zur musikalischen Artikulation<br />
Von Andreas Fervers<br />
Sendung: Montag, 3. Februar 2014, 22.03 Uhr<br />
Redaktion: Lydia Jeschke<br />
Bitte beachten Sie:<br />
Das <strong>Manuskript</strong> ist ausschließlich <strong>zum</strong> persönlichen, privaten Gebrauch<br />
bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der<br />
ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.<br />
Ein Mitschnitt auf CD Ist beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50<br />
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Mut zur Lücke?<br />
Gedanken zur musikalischen Artikulation<br />
Sprecher 2:<br />
Legato heißt "gebunden". Der Bogen, der eine kleine oder größere Gruppe von Noten<br />
zusammenhält, bindet sie zusammen, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Auch das<br />
Wort Religion bedeutet ja "Bindung" des Menschen an das göttliche Gesetz, und daher ist ein<br />
legato-Vortrag vor allem für jede kultische Musik angebracht, darüber hinaus für alle<br />
gedankliche, reflektierende Musik. Wenn Melodie "strömende Kraft" ist, so ist legato ihr<br />
vollkommenster Ausdruck. Im staccato wird dieser Fluss unterbrochen: die Einzeltöne stellen<br />
sich gegen ihn, statt einer durchgezogenen Linie entsteht eine "punktierte", und der Ausdruck<br />
des staccatos ist daher "Ungebundenheit" in jedem Sinne. Da sich dem einen Begriff der<br />
Gebundenheit viele Arten der Ungebundenheit entgegenstellen lassen, so ist der<br />
Ausdrucksbereich des staccatos ungleich größer als der des legatos: Kraftgefühl, Übermut<br />
(etwa in den Scherzi von Beethoven), Humor, Leichtigkeit, Grazie, aber auch Angst, Zittern,<br />
Beben und anderes mehr kann durch staccato ausgedrückt werden. Hierbei spielen die<br />
Intervallbeziehungen eine große Rolle. Für Tonleiterschritte ist das legato der natürliche<br />
Ausdruck, für große Intervalle, die nur durch einen "Sprung", wie wir anschaulich sagen,<br />
überbrückt werden können, ist das staccato die gegebene Artikulation, für mittlere Intervalle<br />
… ist es das betonte, geringe Absetzen im Portato.<br />
Hermann Keller, Von der musikalischen Artikulation, Zeitschrift für Hausmusik 1952<br />
Sprecher 1:<br />
Wie eng bindet sich eine Artikulation an bestimmte Ausdruckscharaktere? Gibt es nahe<br />
liegende, möglicherweise sogar natürliche Zusammenhänge? Zunächst versteht man unter<br />
Artikulation in der Musik ja nur die Art und Weise, wie Töne miteinander verbunden sind,<br />
manchmal auch noch die Art der Tonbildung.<br />
Hermann Kellers Ausführungen bringen durch den unmittelbaren Bezug auf ein<br />
musikalisches Weltbild natürlich - anders als eine trockene Definition - Anschaulichkeit und<br />
Plastizität mit sich als, führen aber gerade dadurch auch zu erheblichen Verkürzungen. Schon<br />
sein Verweis auf die Religion ist symptomatisch: Er bleibt nicht bei der Übersetzung –<br />
nämlich Rückbindung; er spricht vom göttlichen Gesetz, eine Assoziation, die eine ganz<br />
erhebliche kulturelle Prägung besitzt - für einen Alttestamentariker wohl nachvollziehbar, für<br />
einen Buddhisten aber wenig verständlich. ‚Melodie‟ als strömende Kraft; ‚Legato‟ für<br />
2
kultische, reflektierende Kontexte; eine Art natürlicher Verwandtschaft gewisser<br />
Intervallfolgen mit bestimmten Artikulationen – all das mag es geben. Es bleibt aber trotzdem<br />
immer ein ungutes Gefühl zurück, der Impuls, Einspruch zu erheben: Binden sich<br />
artikulatorische Details zwangsläufig und so direkt an so klar umrissene assoziative Kontexte?<br />
Musikbsp. 1:<br />
Claudio Monteverdi: Madrigal “Hor che'l ciel e la terra” (Anfang) 1‟30“<br />
La Venexiana<br />
Glossa Music GCD 920928<br />
Sprecher 2:<br />
Der ordnende Geist setzt also beim einzelnen Ton an, das heißt, er ordnet Töne einer<br />
einheitlichen Gesamtvorstellung unter, indem er Töne aus der Idee hervorgehen läßt. Töne<br />
existieren demnach in einer ‚totalen‟ Musik als notwendige Folge des immanenten<br />
Ordnungsprinzips, das aus der Idee abgeleitet ist. Ordnungsprinzipien traditionellen<br />
Handwerks sind daraufhin zu prüfen, inwieweit sie heute noch brauchbar sind.<br />
…<br />
Es lässt sich weitgehend denken, dass die vollkommene Vorstellung einer Tonordnung in der<br />
Idee für ein Werk eine ihr allein zugeordnete Organisation der Töne (als einzelne, und<br />
untereinander) hervorruft, die nur hier und nirgendwo anders ihren Sinn erfüllt.<br />
Karlheinz Stockhausen, Situation des Handwerks, Paris 1952<br />
Sprecher 1:<br />
Wo bleiben hier Kult, Grazie und Übermut? Im gleichen Jahr wie Hermann Keller schreibt<br />
Karlheinz Stockhausen seinen Aufsatz, der den Untertitel ‚Kriterien der punktuellen Musik‟<br />
trägt. Hier lebt der Ton nicht mehr in und durch die Beziehung zu seinen direkten Nachbarn,<br />
sondern kraft des übergeordneten Ordnungsprinzips. Die Berührung der Töne untereinander<br />
entzieht sich völlig dem Fokus des Komponisten, dessen Aufmerksamkeit der Integration in<br />
die Struktur gilt. Rhythmus und Artikulation verkommen <strong>zum</strong> keimfreien, quasi<br />
ansteckungslosen Nebeneinander der Töne, Widerspruchsfreiheit ersetzt die Empfindung von<br />
Nähe und Distanz. Für einen integralen kompositorischen Ansatz wie den des frühen<br />
Stockhausen macht eine Eigendynamik musikalischer Parameter wenig Sinn. Der Weg zur<br />
vollkommenen Organisation verbietet nicht nur solche Fremdkörper, sondern auch und<br />
allemal jegliche assoziativen Kontexte wie die, von denen Hermann Keller spricht.<br />
3
Sprecher 2:<br />
So dass man beim Anhören als Sprungbrett den ersten Klang nimmt, der vorkommt; das erste<br />
Etwas schnellt uns ins Nichts und aus diesem Nichts steigt das nächste Etwas; usw. wie ein<br />
Wechselstrom. Kein einziger Klang fürchtet die Stille, die ihn auslöscht. Aber wenn Sie ihn<br />
vermeiden, ist das schade, denn er ist dem Leben sehr ähnlich & wie das Leben ist er im<br />
wesentlichen ein Grund sich zu freuen. Sagen die Leute, manchmal, ängstlich.<br />
John Cage, 45’ für einen Sprecher. Oktober 1954<br />
Sprecher 1:<br />
Wieder Anfang der 50er Jahre. Worauf genau bezieht Cage das Bild des Wechselstroms für<br />
die Verbindung von Klang und Stille, von Etwas und Nichts? Hat das mit Artikulation zu tun?<br />
Positivistisch gesehen – und sozusagen unter einem enormen Vergrößerungsglas - ist es das<br />
gleiche Phänomen: Die Verbindung der Töne oder Klänge, ihre mögliche Trennung durch<br />
Pausen oder Stille. Aber auch dieses Verständnis lebt vom Bezug auf ein Weltbild: Cage<br />
bricht komplett mit abendländischen Vorstellungen, sein Verständnis von Musik - und damit<br />
auch von musikalischen Details wie Artikulation – ist untrennbar verbunden mit seinen<br />
philosophischen Vorstellungen, die ihre Wurzeln in der ostasiatischen Philosophie haben.<br />
Zwei Dinge sind bemerkenswert an diesen drei Texten, die fast zur gleichen Zeit verfasst<br />
wurden, aber inhaltlich einander so fern sind: Erstens, dass das Verständnis für dieses Detail<br />
– die Verbindung der Töne - bei allen nur über das Verständnis der ästhetischen, quasi<br />
ideologischen Grundorientierung funktioniert. Es stellt sich die Frage, wie weit diese<br />
Abhängigkeit notwendig ist, ob es nicht möglich ist, dem Phänomen musikimmanenter auf<br />
die Spur zu kommen.<br />
Und der zweite Punkt ist: Das Verständnis von Artikulation, ihrer musikalischen Bedeutung<br />
als klingendes, aber auch als textliches Phänomen, hat sich im Laufe der Geschichte immer<br />
wieder stark gewandelt. Vor allem in den letzten Jahrzehnten hat sich ein klares Bewusstsein<br />
für die historische Dimension des Notentextes gebildet, Staccato-Punkte und Legato-Bögen in<br />
der Partitur eines Barockkomponisten interpretiert man heute völlig selbstverständlich anders<br />
als in einer romantischen Komposition. Sinnvolle Artikulation setzt immer auch eine gewisse<br />
Kenntnis der Konventionen und Eigentümlichkeit der Schreibweisen voraus, sowohl was den<br />
einzelnen Komponisten als auch, was den historischen Kontext angeht. In diesen drei Texten<br />
kommen nun aber praktisch zeitgleich völlig unterschiedliche Auffassungen <strong>zum</strong> Tragen. Das<br />
zeigt, wie schillernd das Phänomen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Musik und<br />
4
Musikauffassungen wird; und es zeigt natürlich auch, wie wenig die Dinge sich<br />
musikhistorisch manchmal im geordneten Nacheinander entwickeln.<br />
Musikbsp. 2:<br />
Marin Marais: Fantaisie aus der Suite a-moll für Gambe und Cembalo 42”<br />
Jay Bernfeld, viola da gamba.<br />
Accord 206082<br />
Sprecher 3:<br />
Unter Artikulation in der Musik ist erstens die Art und Weise zu verstehen, wie der einzelne<br />
Ton stimmlich oder instrumental erzeugt und gebildet wird; zweitens, wie aufeinander<br />
folgende Töne ‚gelenkig‟ miteinander verbunden werden (lat. articulus, das Gelenk). Diese<br />
Verbindung kann eng oder locker, der Zeitraum zwischen den Tönen also klangerfüllt oder<br />
durch sogenanntes Absetzen stumm sein.<br />
Wikipedia, Eintrag ‚Artikulation’.<br />
Sprecher 1:<br />
‚Klangerfüllt, oder durch sogenanntes Absetzen stumm‟ - um im Bild zu bleiben könnte man<br />
sagen: Wenig gelenkig, eher etwas zu geschraubt für eine Beschreibung des<br />
Artikulationsvorganges. Mit der Ungeschicklichkeit dieser Formulierung wird hier aber -<br />
wohl eher versehentlich - eine wichtige Frage aufgeworfen: Wenn ein Ton abgesetzt wird,<br />
heißt das dann automatisch, dass der Zeitraum danach stumm, im Sinne von leer, ist? Oder<br />
können Töne, die de facto nicht verbunden sind, genauso ungebrochene Linien in der<br />
Vorstellung des Hörers entstehen lassen wie tatsächlich sich berührende Töne? Wenn man<br />
Fußspuren im Schnee betrachtet, verbindet man sie auch in Gedanken, man würde wohl kaum<br />
auf die Idee kommen, dass sie nicht zusammen gehören und nicht Resultat und Abdruck der<br />
Bewegung eines einzelnen Menschen sein könnten. Wann, und warum erlebt man eine<br />
akustisch tatsächlich hörbare Trennung von Tönen wirklich auch als solche, und wann hört<br />
man quasi darüber hinweg, denkt sich die Töne dennoch verbunden zu einer Kette<br />
zusammenhängender Klänge? Hängt das von der Distanz ab, die man zu der jeweiligen Stelle<br />
einnimmt? Von der mentalen Einstellung? Gibt es da Spielräume, die ganz unterschiedliche<br />
Sichtweisen zulassen?<br />
Sprecher 3:<br />
Ich sah das Gedicht verschoben aus dem Sagen in das Stimmliche. Ich sah das Stimmliche<br />
anders da sein als das Sprachliche. Ich sah die Stimme etwas nicht sprechen können. Ich sah<br />
die Stimme in das Flüssige gebracht sein. Ich sah die Stimme in das Grün des Flüssigen<br />
5
gebracht sein. Ich sah die Stimme ins Unfasslichste gebracht sein. Ich sah die Stimme als<br />
liquid, geschmolzen, durchsichtig. Ich sah das Gedicht die Stimmen ins Bild des Wassers<br />
übersetzen. Ich sah die Stimmen in ihrem Ausdruck die Ufer, die Grenzen, die Definitionen,<br />
die Namen, die Sprache in Unfasslichkeit verwandeln. Ich sah die Stimmen das andere Bild<br />
zur Erscheinung bringen.<br />
Peter Waterhouse, Sprache Tod Nacht Aussen<br />
Sprecher 1:<br />
Aneinander gereihte Hauptsätze, parataktische Konstruktionen, aber auch kein ‚und‟, kein<br />
‚oder‟: Peter Waterhouse spricht hier über Paul Celans Gedicht ‚Stimmen‟, dem ersten des<br />
Bandes Sprachgitter. Die lineare Verknüpfung der einzelnen Sätze wird immer über die Stille<br />
gestiftet, so gut wie nie über Konjunktionen; gleichzeitig entsteht hier durch die große<br />
Ähnlichkeit der Sätze eine Berührungswirkung, der unablässig nahe gelegte Vergleich<br />
provoziert so etwas wie eine fortwährende Resonanz, ein immer wieder neu stattfindendes<br />
Anschlagen eines Tones. Die Themen in diesem Buch wechseln - Bäume, Regen, der<br />
Himmel, Zeitungslektüre, der Tod des Großvaters - die Beobachtung profaner<br />
Alltäglichkeiten steht neben tiefsinnigen poetologischen Reflexionen. Der serielle Duktus<br />
dagegen bleibt bis auf wenige heraus stechende Ausnahmen erhalten. Für das Leseerlebnis<br />
entsteht eine seltsame Mischung aus konstruktiv-rationalem Kalkül und meditativ-surrealer<br />
Ekstase, damit aber auch eine große Nähe zur Musik.<br />
Das Innehalten, die Zäsur wird <strong>zum</strong> integralen Bestandteil der Vergegenwärtigung der Welt.<br />
In einem durchaus musikalischen Sinn erfasst deshalb der Gehörssinn das Verhältnis der<br />
Dinge zueinander. Die starke Betonung des Satzes – musikalisch würde man sagen: der<br />
Phrase – mutet einerseits äußerst streng und konzeptuell an, andererseits hat sie aber einen<br />
sehr sinnlichen Aspekt, wie ein Lauschen auf den Atem, der der Erkenntnis innewohnt. Fast<br />
scheint es so, als setze Waterhouse dem Erleben der Welt, ihren vielschichtigen, rätselhaften<br />
Erscheinungen, die Monotonie der gereihten Hauptsätze entgegen. Angesichts so subtiler<br />
Rhythmen, wie sie die Lyrik Celans mitbringt, erscheint diese konzeptuell bedingte Setzung<br />
gleichzeitig wie ein Sicherheitsnetz und wie ein Katalysator, ein ‚gerade noch Mögliches‟ als<br />
produktive Reaktion auf den Reichtum des Hochdifferenzierten. Auch dieser sehr persönliche,<br />
sehr ehrliche Reflex auf Celans Gedicht nimmt eine seltsame Zwischenstellung ein, zwischen<br />
größter Nähe und extremem Kontrapunkt.<br />
6
Sprecher 3:<br />
Stimmen, ins Grün<br />
der Wasserfläche geritzt.<br />
Wenn der Eisvogel taucht,<br />
sirrt die Sekunde:<br />
Was zu dir stand<br />
an jedem der Ufer,<br />
es tritt<br />
gemäht in ein anderes Bild.<br />
*<br />
Stimmen vom Nesselweg her:<br />
Komm auf den Händen zu uns.<br />
Wer mit der Lampe allein ist,<br />
hat nur die Hand, draus zu lesen.<br />
*<br />
Stimmen, nachtdurchwachsen, Stränge,<br />
an die du die Glocke hängst.<br />
Wölbe dich, Welt:<br />
Wenn die Totenmuschel heranschwimmt,<br />
will es hier läuten.<br />
*<br />
Stimmen, kehlig, im Grus,<br />
darin auch Unendliches schaufelt,<br />
(herz-)<br />
schleimiges Rinnsal.<br />
Setz hier die Boote aus, Kind,<br />
die ich bemannte:<br />
7
Wenn mittschiffs die Bö sich ins Recht setzt,<br />
treten die Klammern zusammen.<br />
*<br />
Jakobsstimme:<br />
Die Tränen.<br />
Die Tränen im Bruderaug.<br />
Eine blieb hängen, wuchs.<br />
Wir wohnen darin.<br />
Atme, daß<br />
sie sich löse.<br />
*<br />
Stimmen im Innern der Arche:<br />
Es sind<br />
nur die Münder<br />
geborgen. Ihr<br />
Sinkenden, hört<br />
auch uns.<br />
*<br />
Keine<br />
Stimme - ein<br />
Spätgeräusch, stundenfremd, deinen<br />
Gedanken geschenkt, hier, endlich<br />
herbeigewacht: ein<br />
Fruchtblatt, augengroß, tief<br />
geritzt; es<br />
harzt, will nicht<br />
vernarben.<br />
Paul Celan, Stimmen<br />
8
Sprecher 1:<br />
Das Gedicht – dasjenige, auf das sich Peter Waterhouse in seinem Roman bezieht – entfaltet<br />
sein Profil auch über parallele Formulierungen und Konstruktionen: Sieben Mal hebt es an<br />
mit dem Wort ‚Stimmen‟, beim achten Mal mit ‚Keine Stimme‟; die Abschnitte des Gedichtes<br />
sind meist zweigeteilt, in eine Art initiales Bild und einen Kommentar, der darauf Bezug<br />
nimmt; viele syntaktische Konstruktionen weisen Parallelismen auf. Zwischen den beiden<br />
Texten, die sich in einem weiteren Sinn der Entwicklung eines ‚Ich‟ und den Bedingungen<br />
des Sprechens für dieses ‚Ich‟ widmen, gibt es auch inhaltliche Berührungspunkte. Ganz<br />
erhebliche Unterschiede zeigt aber die Binnenstruktur: Celans Gedicht artikuliert sich völlig<br />
anders, Vers, Atem, Satz und Gedanke gehen ein ganz anderes Verhältnis zueinander ein, das<br />
rhythmische Schwingen der Sprache und Sprachklänge entsteht quasi aus sich selbst heraus,<br />
nicht aus einer Setzung von außen.<br />
In dieser Differenz der Binnenstruktur manifestiert sich ein fundamentaler Unterschied in der<br />
ästhetischen Grundorientierung: Peter Waterhouse ist der Spaziergänger – eine Assoziation,<br />
die sich durch sein ganzes Oeuvre zieht. Er erwandert sich die Welt, in ihrem ganzen<br />
Reichtum, wobei er sich mit Vorliebe den kleinen, unscheinbaren Dingen widmet und diesen<br />
– vor allem im Umgang mit Texten - umso mehr Sorgfalt angedeihen lässt. Sein Roman<br />
entfaltet sich nach und nach, Schritt für Schritt, über die klar erkennbare und benennbare<br />
Grundeinheit der einfachen Phrase.<br />
Celan dagegen geht es immer um das ‚Du‟, den Gesprächspartner. In seinem Gedicht sind<br />
solche Setzungen nicht aus<strong>zum</strong>achen, der Reichtum des Bildes und die Vielschichtigkeit des<br />
Beziehungsgeflechtes kann auf keiner erkennbaren Ebene ohne Weiteres auf so etwas wie<br />
einen Hauptnenner gebracht werden. Bei aller Rätselhaftigkeit und Vieldeutigkeit des Textes<br />
bleibt dem Leser damit auch immer eine große Freiheit: Es ist sein Ohr, das bestimmt, auf<br />
welcher Ebene, auf welcher Dimension er sich angesprochen fühlt und mit welcher Faser<br />
seines sprachlichen und emotionalen Erlebens er auf die höchst subtil sich artikulierende<br />
Stimme Celans reagiert.<br />
Musikbsp. 3:<br />
Johann Sebastian Bach: Menuett aus der Partita D-Dur für Klavier, (einblenden) ca. 45“<br />
Glenn Gould<br />
Sony Music Entertainment, 88691961142-08. CD 8, MS 6498<br />
In der Musik ist der große Gegenbegriff zur Artikulation, der oftmals im gleichen Atemzug<br />
genannt wird, der der Phrasierung. Bei beiden geht es um Verbindung und Trennung von<br />
9
Klängen. Meist wird dabei dem Begriff der Phrasierung der der sinnvollen Gliederung<br />
zugeordnet, Artikulation wird dagegen eher mit dem Bereich des Bildhaften, weniger<br />
Fassbaren assoziiert.<br />
Sprecher 2:<br />
Es gibt also (wenige Grenzfälle ausgenommen) fast stets nur eine richtige und eine oder<br />
mehrere falsche Phrasierungen, richtig im Sinne von verstandesmäßig beweisbar, also in<br />
verbindlicherem Sinn, als man, bei älterer Musik, von richtigem Tempo, richtiger Dynamik<br />
sprechen kann. Und damit habe ich nun vielleicht den Gegensatz von Phrasierung und<br />
Artikulation klar hingestellt: Artikulation ist, wo sie nicht vorgezeichnet ist, stets<br />
Auffassungssache, ist fast nie verstandesmäßig beweisbar. Phrasierung versteht sich für einen<br />
begabten Musiker von selbst, um Artikulation kann man sich leidenschaftlich streiten, und<br />
wenn einer den andern fragt: „wie phrasieren Sie dieses Thema?" so meint er immer: „wie<br />
artikulieren Sie es?“<br />
Hermann Keller, Artikulation und Phrasierung, Deutsche Tonkünstlerzeitung 1929<br />
Sprecher 1:<br />
Theoretisch scheint diese Unterscheidung zunächst verständlich. Sowohl für die Analyse als<br />
auch für die Darstellung der Musik ist es von erheblicher Bedeutung, ob es um die Frage der<br />
gedanklichen Logik geht oder um den Charakter und die Transparenz des Bildes. Für beide<br />
Bereiche ist der Aspekt von Bindung und Trennung fundamental, der musikalischsemantische<br />
Wert, der einer gliedernden Trennung zukommt, ist aber ein ganz anderer als der<br />
der Artikulation, die eher der Intensität des Striches in einer Zeichnung vergleichbar wäre.<br />
In der Praxis lassen sich diese beiden Aspekte allerdings oftmals nicht scharf gegeneinander<br />
absetzen, und der von Hermann Keller formulierten Frage „wie artikulieren Sie dieses<br />
Thema?“ gehen in Wirklichkeit die eigentlichen Fragen voraus: Welches sind die Teile des<br />
Themas, wie verhalten sie sich zueinander, welche Verbindungen sollen fundamentalen,<br />
gliedernden Charakter haben, und welche bleiben diesen quasi nachgeordnet, betreffen die<br />
Kohäsion der Linien und Klänge und den daraus möglicherweise resultierenden Charakter des<br />
Bildes. Sowohl für den Spieler als auch für den Hörer können dabei Pausen zwischen Tönen<br />
ambivalenten Charakter behalten, teils gliedernd, und teils artikulatorisch. Für die Harmonik<br />
der abendländischen Musik ist ihre Vieldeutigkeit eine unabdingbare Voraussetzung, für die<br />
Wertigkeit von Pausen gilt – wenn auch in einem etwas anderen Sinn – Ähnliches. Oftmals ist<br />
es gerade die große Kunst einer Interpretation, dass der innere Gehalt der Pausen in der<br />
Schwebe bleibt und sich nicht <strong>zum</strong> Sklaven akademischer Begrifflichkeiten macht. Hinzu<br />
10
kommt, dass Phrasierung und Artikulation sich auf vielschichtige Weise mit anderen<br />
Parametern verflechten - sowohl solchen der Komposition als auch solchen der darstellenden<br />
Gestaltung; ihre Sinnhaftigkeit entscheidet sich erst im Zusammenspiel vielfältiger Aspekte<br />
und kann in den seltensten Fällen ausschließlich aus sich heraus begründet werden.<br />
Auch hier gründet sich Hermann Kellers Darstellung wieder auf stillschweigende<br />
Voraussetzungen: Selbst wenn man seine Unterscheidung von ihrer theoretischen Systematik<br />
her akzeptiert, so macht sie doch in erster Linie Sinn für Musik, die einen deutlichen Hang zur<br />
Sprache hat. Für die Wiener Klassik, das romantische Lied, mag diese Sichtweise eine<br />
gewisse Stringenz besitzen, trotz ihres wenig praxisnahen Ansatzes. Für sehr viele Musik -<br />
Chopin, Debussy, Skrjabin, zeitgenössische oder gar außereuropäische Musik - hat sie wenig<br />
Erkenntnischarakter. In dem Moment, in dem Aspekte der Bewegung, des Raumes und des<br />
Bildes wichtiger werden als das Formulieren von Themen und musikalischen Gedanken,<br />
greift Kellers Unterscheidung nicht mehr wirklich, obwohl auch hier Artikulation und<br />
Phrasierung eine genauso wichtige Rolle spielen.<br />
Ebenso wie Dichtung weist aber auch jede Musik, die man intuitiv als ‚sprachnah‟ bezeichnen<br />
würde, über ihre sprachliche Struktur hinaus. Die Imagination musikalischer Charaktere lässt<br />
sich nicht auf ihre strukturellen Aspekte reduzieren - sei es im Fall der kompositorischen<br />
Formulierung des Textes, sei es im Fall der Darstellung durch den Interpreten. Das ist der<br />
entscheidende Unterschied zwischen Grammatik, die allgemein formuliert, und Handwerk,<br />
das sich in der Ausarbeitung des Details, angesichts eines vorliegenden Materials entfaltet.<br />
Musikbeispiel 4:<br />
Franz Schubert: Winterreise Nr. 16, Letzte Hoffnung 2‟17“<br />
Christoph Prégardien, Tenor<br />
Andreas Staier, Klavier<br />
Teldec 0630-18824-2<br />
Sprecher 2:<br />
Das Gedicht handelt vom Stehenbleiben in Gedanken, das „oftmals“ stattfindet, immer dann,<br />
wenn der Blick des Wanderers auf Bäume fällt, an denen noch einzelne Blätter hängen. Es<br />
entsteht die Vorstellung einer Bewegung, die immer wieder durch meditative Momente<br />
gebremst oder unterbrochen wird.<br />
…<br />
Dass das Schicksal der Hoffnung dem Zufall des vielleicht fallenden Blattes überlassen wird,<br />
ist der Verzicht, aus der Unsicherheit, in der das Leben suspendiert ist, aus eigener Kraft<br />
herauszukommen. Daher auch der unentschiedene Wechsel von Gehen und Stehen. Die<br />
11
Gedanken des Nachdenkenden sind nicht klärend und erschließen kein Ziel, auf das hin er<br />
sich bewegen möchte. Vorwärtsgehen und Stillestehen verschwimmen beinahe ineinander.<br />
Hans-Jost Frey, Vier Veränderungen über Rhythmus<br />
Sprecher 1:<br />
Wenn die Musik so dezidiert wie hier das Verbleiben in der Schwebe ausdrückt– wie weit<br />
machen kategorische Unterscheidungen dann Sinn? Vor allem im Klavierpart schreibt<br />
Schubert alle Artikulationen peinlich genau und hoch differenziert auf, die Notation lässt an<br />
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Aber nur Hand in Hand mit dieser Vielschichtigkeit<br />
kann es gelingen, das Unentschiedene, das abwartende Zögern und eher nachdenkliche,<br />
ziellose Vorwärtsgehen angemessen darzustellen. Gerade erst der Reichtum der Artikulation<br />
ermöglicht den Schwebezustand, der die Frage nach dem Unterschied von Artikulation und<br />
Phrasierung ins allzu Didaktische verweist: Der Sinn geht mit allen Aspekten der Darstellung<br />
vollständig im Bild auf.<br />
Sprecher 3:<br />
Cinoc, der damals etwa fünfzig Jahre alt war, übte einen merkwürdigen Beruf aus. Er war,<br />
wie er selber sagte, „Wörtertöter“; er half mit, das Wörterbuch Larousse auf den neuesten<br />
Stand zu bringen. Doch während andere Redakteure auf der Suche nach neuen Wörtern und<br />
neuen Bedeutungen waren, musste er, um ihnen Platz zu schaffen, alle Wörter und alle<br />
Bedeutungen eliminieren, die veraltet waren.<br />
Als er neunzehnhundertfünfundsechzig nach dreiundfünfzig Jahren gewissenhaften Dienstes<br />
in Pension ging, hatte er Hunderte und Tausende von Werkzeugen, Techniken, Sitten und<br />
Gebräuchen, Überzeugungen, sprichwörtlichen Redensarten, Gerichte, Spiele, Spitznamen,<br />
Gewichte und Maße verschwinden lassen; er hatte Dutzende von Inseln, Hunderte von<br />
Städten und Flüssen, Tausende von Bezirkshauptorten von der Karte ausradiert; er hatte<br />
Hunderte von Kuhrassen, von Vogel-, Insekten- und Schlangenarten, etwas spezielle Fische,<br />
Spielarten von Muscheln, Pflanzen, die nicht ganz gleichwertig bzw. ähnlich waren,<br />
besondere Arten von Gemüsen und Früchten in ihre taxonomische Anonymität<br />
zurückgeschickt; er hatte ganze Scharen von Geographen, Missionaren, Entomologen,<br />
Kirchenvätern, Schriftstellern, Generälen, Göttern und Dämonen in der Versenkung<br />
verschwinden lassen.<br />
Georges Perec, Das Leben - Gebrauchsanweisung<br />
12
Sprecher 1:<br />
Lässt sich die Wirklichkeit als Text abbilden, oder wenigstens in Teilen als Text erfassen?<br />
Seit es die Schrift gibt, ist dies ein alter Traum der Menschheit, und die Entstehung der<br />
großen Enzyklopädien ist ein Versuch der möglichen Antworten auf diese Frage.<br />
Symbolhaft präsentiert die ‚Editions Larousse‟ eine Frau, die die Samen einer Pusteblume<br />
wegbläst, versehen mit dem Motto „Je sème à tout vent“ – ich säe aus in alle Winde: Das<br />
Erfassen der Welt wird weniger als katalogisierender Vorgang denn als schöpferischer<br />
gesehen.<br />
Perec konfrontiert diese gigantische geistige Unternehmung mit der seltsamen Figur des<br />
Cinoc: Seine Aufgabe ist Symbol dafür, dass auch die umfang- und detailreichste, die<br />
sorgfältigste und liebevollste Herangehensweise niemals auf die Erkenntnis wird verzichten<br />
können, dass die Leerstelle unabdingbar ist. Wichtiges wird von Unwichtigem getrennt,<br />
Veraltetes oder Unrichtiges aussortiert. Aber Cinoc begehrt auf gegen die Stigmatisierung des<br />
vermeintlich Überflüssigen, entwirft seine eigene Welt des angeblich Bedeutungslosen, das<br />
dem Verstummen überantwortet werden sollte.<br />
Sprecher 3:<br />
Cinoc las langsam, notierte sich seltene Wörter und allmählich nahm sein Plan Gestalt an und<br />
er beschloss, ein großes Wörterbuch der vergessenen Wörter zusammenzustellen, nicht um<br />
das Andenken an die Akkas, ein Zwergnegervolk in Zentralafrika, oder an Jean Gigoux, einen<br />
Historienmaler oder an Henri Romagnesi, einen Komponisten von Romanzen, 1781-1851,<br />
fortbestehen zu lassen, auch nicht um den Skolekobrotus, einen Tetramera- oder<br />
Vierzeherkäfer aus der Familie der Bockkäfer, eine Tribus der Cerambyni, zu verewigen,<br />
sondern um einfache Wörter zu retten, die ihm weiterhin noch etwas zu sagen hatten.<br />
Georges Perec, Das Leben - Gebrauchsanweisung<br />
Sprecher 1:<br />
Auf den großflächig exponierten Reichtum der Welt antwortet Cinoc mit dem Blick für<br />
Zwischenräume, für Nischen, in denen das angeblich Unbedeutende zu Hause ist. Er hält der<br />
schier unfassbaren Überfülle quasi ihr Negativ vor: Das Stumme beginnt zu sprechen,<br />
Verdunkeltes wird ausgeleuchtet, das Verblasste blüht auf in neuer Farbigkeit. Seine<br />
eigentliche Tätigkeit, das Eliminieren von Worten, das der ‚Unternehmung Larousse‟ Relief<br />
und Kontur verleihen soll, kehrt er um in ihr Gegenteil. Damit artikuliert er die sich vor ihm<br />
ausbreitende Wirklichkeit – die Fülle des Wissens - auf eine seltsam ähnliche Weise wie ein<br />
Zeichner. Mit der Linie hebt dieser ja auch das hervor, was eigentlich in einem dinghaften<br />
13
Sinne nicht existent ist: Die Grenze zwischen den Dingen, an der sie einander berühren.<br />
Bis ins Unermessliche könnte die Enzyklopädie Wissen anhäufen; ohne das Gefühl für das,<br />
was trotzdem noch zu sagen bleibt, für das, was schon einmal war, aber inzwischen<br />
verschwunden ist, bliebe eine solche Unternehmung eher starr und ungelenk. Die Dinge, die<br />
sind, die man sieht und erlebt, leben von und mit dem Raum zwischen ihnen, ohne den ihnen<br />
ihre innere Verbindung fehlen würde. Das Geheimnis des guten Textes ist auch das<br />
Geheimnis dessen, was er – hörbar bis ins Detail- verschweigt.<br />
Sprecher 3:<br />
Ich bin der Welt abhanden gekommen,<br />
Mit der ich sonst viele Zeit verdorben;<br />
Sie hat so lange nichts von mir vernommen,<br />
Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben!<br />
Es ist mir auch gar nichts daran gelegen,<br />
Ob sie mich für gestorben hält.<br />
Ich kann auch nichts sagen dagegen,<br />
Denn wirklich bin ich gestorben der Welt.<br />
Ich bin gestorben dem Weltgetümmel<br />
Und ruh in einem stillen Gebiet.<br />
Ich leb allein in meinem Himmel,<br />
In meinem Lieben, meinem Lied.<br />
Friedrich Rückert, Ich bin der Welt abhanden gekommen<br />
Musikbsp.5:<br />
Gustav Mahler: ‚Ich bin der Welt abhanden gekommen‟ (1. Strophe) 2‟30“<br />
Text: Friedrich Rückert<br />
Berliner Philharmoniker<br />
Leitung: Claudio Abbado<br />
Sony Classical SK 53360<br />
Sprecher 2:<br />
Abhanden. Phraseologisch festgelegtes Adverb, seit dem 14. Jahrhundert. Nur noch in der<br />
Wendung abhanden kommen. Wie zuhanden, vorhanden Zusammenrückung von ab und dem<br />
14
alten, umlautlosen Plural von Hand.<br />
Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache<br />
Sprecher 1:<br />
Plural von Hand, also: Den Händen entgleiten, oder zwischen zwei Händen zerrinnen, nicht<br />
aber: sich dem Griff einer einzelnen Hand entziehen. Bei dem Ausdruck ‚Abhanden kommen‟<br />
schwingt ein Entfernen – oder Sich-Entfernen - aus einem Dazwischen mit: Mit dem Plural<br />
vergegenwärtigt sich die Assoziation des Raumes zwischen zwei Händen. Wenn es dann nicht<br />
nur zwei, sondern viele Elemente sind, wird auch die räumliche Struktur komplexer, man<br />
braucht funktionierende Verknüpfungen, damit das System als Ganzes funktioniert: Artus, das<br />
Gelenk, Articulus, das kleine Gelenk. Artikulation bedeutet laut dem ‚Digitalen Wörterbuch<br />
der Deutschen Sprache‟: In der Musik „Abgrenzung der Töne gegeneinander‟, in der<br />
Zahnmedizin „Stellung der Zahnreihen zueinander‟.<br />
Möglicherweise ein unangenehmes Aufeinandertreffen. Kann man in der Musik, ähnlich wie<br />
in der Sprache, den Verbindungen die Härte nehmen, vielleicht wenn ein Pianist zwei Töne<br />
überlappen lässt, um eine sehr weiche, gesangliche Verbindung zu schaffen? Setzt eine<br />
gelingende Artikulation nicht ein Gefühl für Qualitäten voraus, jenseits von Abständen,<br />
Zahlen und Messbarkeit?<br />
Sprecher 2:<br />
"Das heißt Essenmarken und nicht Essensmarken", bellt der Unteroffizier den Rekruten an,<br />
"es heißt ja auch nicht Bratskartoffeln und Spiegelsei!" Diesen Spruch wiederholt er am Tag<br />
mindestens zwanzig Mal, und es bereitet ihm immer wieder Genuss, einem unbedarften<br />
Brenner eine laute Lektion in Sachen Amtsdeutsch erteilen zu können. Das gibt ihm ein<br />
Gefühl von Überlegenheit und Macht. Zum Glück kommen jedes Quartal neue<br />
Wehrpflichtige, die ihn garantiert fragen werden, ob sie bei ihm "Essensmarken" bekommen<br />
können. So wird der Unteroffizier noch viel zu bellen haben und sich immer wieder der<br />
Illusion von Überlegenheit und Macht hingeben können.<br />
Wenn ihm einer frech kommt, kann er sich auf die Dienstvorschriften berufen, denn da steht<br />
"Essenmarken". Und Vorschrift ist Vorschrift, wie jeder weiß, dagegen kann selbst ein<br />
Literaturnobelpreisträger nichts ausrichten. Außerhalb seiner Kaserne gilt diese Vorschrift<br />
allerdings nicht. Außerhalb seiner Kaserne sagen die meisten Menschen "Essensmarken", mit<br />
so genanntem Fugen-s, und das mit Fug und Recht. Dort herrscht Freiheit der Sprache, und<br />
Freiheit bedeutet Vielfalt und nicht selten Verunsicherung.<br />
Warum heißt es Mordsspaß, aber Mordopfer? Warum sagen wir Rindsleder, aber Rindfleisch?<br />
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Warum haben Schiffstaufe und Schiffsschraube ein Fugen-s, Schifffahrt und Schiffbruch aber<br />
nicht? Wer legt fest, ob und womit die Nahtstelle zwischen zwei zusammengeschweißten<br />
Wörtern verfugt wird?<br />
Die Antwort auf diese Fragen liegt irgendwo im Nebel der Sprachgeschichte.<br />
Spiegel-Online Kultur: Bratskartoffeln und Spiegelsei<br />
Sprecher 1:<br />
Bei allem akribischen Umgang mit musikalischen Texten und Partituren ist Artikulation<br />
immer ein sehr unmittelbarer, körperlicher Vorgang. Als solcher ist er letztlich eher die<br />
Domäne des Spielers als die des Komponisten. Die menschlichen Hände - 4 Finger, ein<br />
Daumen, 27 Knochen, 36 Gelenke, 39 Muskeln und über 17.000 Druckrezeptoren - die<br />
Hände sind es, die in der Musik sprechen, für die deutliche Aussprache sorgen, oder aber der<br />
Bogen der Streicher, Atem und Lippen der Bläser. Nicht zufällig gibt es in Gesangspartien<br />
viel weniger Artikulationsvorschriften als für Instrumente, hier ist die Sprache - und damit die<br />
Notwendigkeit klarer und verständlicher Aussprache - ohnehin gegenwärtig. Artikulation ist<br />
also zuallererst Handlungsanweisung für Instrumentalisten.<br />
Gleiche Zeichen bedeuten dabei oftmals nicht das Gleiche, und umgekehrt gilt genauso: Der<br />
Eindruck derselben Artikulation wird meist von verschiedenen Instrumenten ganz<br />
unterschiedlich herbeigeführt. Das Legato eines Streichers, der seinen Ton beliebig beleben<br />
und mit dessen Nachfolger verbinden kann, ist akustisch gesehen etwas völlig Anderes als<br />
dasjenige eines Pianisten, der immer mit dem Verklingen jeden Tones zu kämpfen hat.<br />
Betrachtet man die Artikulationsvorgänge verschiedener Instrumente quasi unter dem<br />
Vergrößerungsglas, so erkennt man schnell, dass der Text mit seinen Artikulationszeichen nur<br />
eine unvollkommene, dürre und kompromisshafte Projektion der klingenden Wirklichkeit ist.<br />
Nicht umsonst gilt die Bewunderung des Publikums dem Anschlag des Pianisten, der<br />
Leichtigkeit der Bogenführung der Streicher, der Präzision des Ansatzes und der<br />
Lebendigkeit des Atems der Bläser, nicht aber deren Staccato oder Legato. Es liegt in der<br />
Natur der Sache, dass der Notentext letztlich immer den Zugriff eines Spielers braucht, der<br />
die Zeichen in lebendigen Klang zu übertragen versteht.<br />
Sprecher 3:<br />
Ohne zu wissen, was ich tun soll, fange ich an, die ersten Wörter irgendwie auszusprechen.<br />
Jedes Wort steht mir im Weg. Wenn es bloß kein Wort mehr im Text gäbe, denke ich mir,<br />
dann könnte ich fließend vorlesen. Die Mauer der Buchstaben hindert meine Sicht. Einige<br />
Sätze enden wie abgehackt, so dass ich fast ins Loch des Punktes stürze. Kaum ist diese<br />
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Gefahr vorbei, steht schon der nächste Satz vor meinen Augen, auch er hat keine Eingangstür.<br />
Wie soll ich mit dem Satz beginnen? Die Wörter werden immer eckiger und sperriger. Bald<br />
wachsen die einzelnen Buchstaben aus ihnen heraus. Wo beginnt ein Wort? Wo endet es?<br />
Mein Mut, der aus einer einzigen Zunge besteht, schrumpft, bis er kleiner wird als ein<br />
Komma. Mit winzigen Füßen muss ich jeden Buchstaben hochklettern, ohne sehen zu können,<br />
was hinter ihm steckt. Jeder Laut ein Sturz. Die Stimme wird immer leiser, während die<br />
Schriftzeichen immer lauter werden.<br />
Yoko Tawada, Zungentanz, in: Überseezungen<br />
Sprecher 1:<br />
Es ist durchaus möglich, die Frage der Artikulation in einem Stück von anderen Mitteln der<br />
Gestaltung unabhängig zu betrachten. Es gehört zur Professionalität des Handwerks eines<br />
Interpreten, dass er verschiedene Varianten bei ansonsten unverändertem Kontext ausprobiert,<br />
um sich dem stimmigsten Bild versuchsweise und Schritt für Schritt anzunähern. Letztlich<br />
entscheidet aber das Zusammenspiel aller Faktoren darüber, welche Wahl das intendierte<br />
Klangbild am sinnfälligsten herausarbeiten kann. Tempo, Rhythmus, Betonung, Lautstärke,<br />
Spielstil, Tongebung, bestimmte Eigenschaften des Instrumentes, die Größe und<br />
Beschaffenheit des Saales, selbst die Interaktion mit dem Publikum - es gibt kaum einen<br />
Aspekt, der in der Praxis auf der Bühne die Stimmigkeit der Artikulation nicht mit<br />
beeinflussen kann. Nicht umsonst haben große Virtuosen wie Vladimir Horowitz oftmals<br />
darauf hingewiesen, dass sie ein Stück nie zweimal genau gleich spielen, ein Phänomen, das<br />
die Artikulation nicht weniger betrifft als andere Aspekte der Gestaltung. Diese<br />
Unvorhersehbarkeit macht letztlich die Lebendigkeit des Spielens aus.<br />
Die spezifische Beziehung, die die Artikulation mit anderen Parametern eingeht, hängt vom<br />
einzelnen Stück und dem Spieler bzw. dessen Interpretation ab. Nichtsdestoweniger bilden die<br />
Instrumente aber auch von sich her schon eine eigene Idiomatik aus, die mit der Art ihrer<br />
Tonerzeugung zusammenhängt und jeweils ein eigenes Mischungsverhältnis der Parameter<br />
untereinander nahelegt.<br />
Beim Klavier besteht die unmittelbarste Bindung vielleicht an die Dynamik, die hier schon im<br />
Einzelton gegeben ist. Ein Pianist hat nur zwei Möglichkeiten diesen zu beeinflussen - und bei<br />
beiden hat er dafür nur Bruchteile von Sekunden: Am Beginn des Tones über die Dynamik<br />
und die Geschwindigkeit des Anschlages, an seinem Ende über das, was am Klavier die<br />
Artikulation ausmacht, nämlich Zeitpunkt und Art der Wegnahme des Tones. Während des<br />
Verklingens ist eine direkte Einflussnahme nicht mehr möglich, es sei denn durch Hinzu-<br />
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oder Wegtreten anderer akustischer Ereignisse. Artikulation als Verbindung der Töne<br />
untereinander ist am Klavier also quasi die andere Seite der Dynamik, mit der sie im<br />
permanenten Wechselspiel verbunden ist. Vielleicht ist es nicht nur der Erkenntnis<br />
geschuldet, dass Tasteninstrumente in der Barockmusik praktisch keine Möglichkeit der<br />
dynamischen Gestaltung hatten, wenn ein Pianist wie Glenn Gould die Lautstärke deutlich auf<br />
Mittelwerte beschränkt, wenn er Bach spielt: Erst die Reduktion der dynamischen Bandbreite<br />
bringt den Reichtum seiner Artikulation voll zur Entfaltung.<br />
Streichinstrumente und Bläser sind in der Gestaltung des Tones viel flexibler, da er<br />
durchgängig veränderbar ist. Dadurch entfällt hier die direkte Abhängigkeit der Artikulation<br />
von der Dynamik, die Tongebung als Ganze mit Klangfarbe und dynamischer Entwicklung<br />
geht das jeweils besondere Verhältnis zur Artikulation ein. Diese Bindung integriert die<br />
Artikulation hier in einen viel vielschichtigeren Vorgang, der dem Malen ähnlich ist, beim<br />
Klavier dominiert dagegen die Kontur und damit eher die Nähe zur Zeichnung.<br />
Musikbsp.6:<br />
Edgar Varèse: Octandre Beginn Blende (evtl. kürzer), ca. 1‟10”<br />
Ensemble InterContemporain<br />
Leitung: Pierre Boulez<br />
Sony Classical SMK 45844<br />
Sprecher 1:<br />
Die historische Entwicklung der abendländischen Musik hat nicht nur die Auflösung der<br />
Tonalität mit sich gebracht, die Balance zwischen den musikalischen Parametern hat auch ein<br />
anderes Gesicht angenommen: Hierarchien haben sich aufgelöst, prinzipiell setzt jedes Stück<br />
seine Gewichte individuell, je nach Bedarf und Vorliebe des Komponisten. Mit der<br />
Bedeutungsverschiebung im Verhältnis der Parameter zueinander hat sich die Idiomatik der<br />
Instrumente zwar nicht aufgelöst, aber erheblich erweitert. Neue Spieltechniken, veränderte<br />
und erweiterte Tonerzeugung, komplexere Rhythmik berühren sich mit der Artikulation in<br />
einem ganz anderen Sinn als in der klassischen Instrumentalbehandlung.<br />
Trotzdem beruht Instrumentalspiel aber wie eh und je auf instrumentalen Vorgaben, anders<br />
als die elektronische Musik, die mit jedem Stück quasi beim Nullpunkt beginnt, es sei denn,<br />
sie nutzt Aufnahmen oder schon vorher bestehendes Tonmaterial. Rhythmus, Farbe,<br />
Intensität, Artikulation – wenn es beliebt, untersteht jedes Klangereignis, jeder Nachhall, jede<br />
Raumcharakteristik bis in die mikroskopischsten Verästelungen dem Diktat der Hüllkurve.<br />
ADSR, Abkürzung für Attack, Decay, Sustain, Release - also Anstieg, Abfall, Halten,<br />
Freigeben - regelt und moduliert alles, was klingt, in jeder beliebigen Größenordnung und<br />
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Dimension der Musik. Mit der Digitalisierung löst Artikulation sich auf in binäre Codes, wie<br />
alle anderen traditionellen Parameter. Vor allem die Option, am instrumentalen Nullpunkt zu<br />
beginnen, macht den artifiziellen und fiktionalen Charakter der synthetischen elektronischen<br />
Musik aus.<br />
Es ist kaum vorstellbar, dass sich die Artikulation in all ihren Feinheiten so hätte entwickeln<br />
können, wenn nicht - sozusagen auf der anderen Seite der Kommunikation - das menschliche<br />
Ohr fähig wäre, diesen hoch differenzierten Vorgängen zu folgen und sie entsprechend zu<br />
interpretieren. Wir können minimale Verschiebungen im Hörpanorama wahrnehmen, in einer<br />
günstigen Lage über 300 verschiedene Stärkegrade eines Tones unterscheiden. Die Nähe<br />
eines Geräusches erkennen wir über den Anteil an tiefen Frequenzen, deshalb erscheint uns<br />
ein Flüstern im Film sehr nah, wenn diese verstärkt sind. Und wir können am Geräusch des<br />
Ausgießens von Kaffe unterscheiden, ob er heiß oder kalt ist. Was von der Natur wohl<br />
gedacht ist als Überlebensstrategie, ist in der Musik Voraussetzung für das Verstehen.<br />
Genauso wenig wie die Geräusche des Alltags werden die Feinheiten der Differenzierung<br />
eines guten Instrumentalisten wohl bewusst wahrgenommen; unbewusst werden sie aber als<br />
Ausdruckswerte erlebt und in emotionale Qualitäten übersetzt. Viel mehr als gemeinhin<br />
angenommen ist Artikulation also nicht nur eine Sache des Spielers, sondern auch eine des<br />
mit vollziehenden Hörers - wenn er sich denn in diesen musikalischen Mikrokosmos begeben<br />
will und die Bedingungen es ihm erlauben.<br />
Musikbsp. 7:<br />
Helmut Lachenmann: Zwei Gefühle (Dauer nach Bedarf) ca. 1‟15“<br />
Klangforum Wien<br />
Leitung: Hans Zender.<br />
Accord 204852<br />
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