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Cicero Kein Recht auf Randale (Vorschau)

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Nº03<br />

MÄRZ<br />

2014<br />

€ 8.50<br />

CHF 13<br />

JETZT!<br />

ZUR LEIPZIGER BUCHMESSE:<br />

UNSERE BEILAGE<br />

Literaturen<br />

Gewaltpartys in deutschen Großstädten<br />

<strong>Kein</strong> <strong>Recht</strong><br />

<strong>auf</strong> <strong>Randale</strong><br />

Österreich: 8.50 €, Benelux: 9.50 €, Italien: 9.50 €<br />

Spanien: 9.50 € , Finnland: 12.80 €<br />

03<br />

Stabwechsel<br />

Die Berliner Philharmoniker und<br />

Simon Rattles schweres Erbe<br />

Weckruf<br />

Franz Müntefering über die<br />

Rentensünden der Regierung<br />

Mütter &Töchter<br />

Das komplizierteste<br />

Verhältnis der Welt<br />

4 196392 008505


Perfekt ablesbar Tag für Tag.<br />

Die GROSSE LANGE 1 in<br />

18 Karat Weißgold.<br />

Mit ihren dezentralen, überschneidungsfreien Anzeigen und dem charakteristischen<br />

Großdatum steht die Lange 1 für beste Ablesbarkeit. Bei der<br />

neuen Grossen Lange 1 in Weißgold gilt dies auch für die Nachtstunden,<br />

denn ihre Indizes und Zeiger leuchten in der Dunkelheit. Bei der <strong>auf</strong> 200<br />

Exemplare limitierten Grossen Lange 1 „Lumen“ lässt sich erstmals auch<br />

das Großdatum im Dunkeln ablesen. Damit es auch dann noch leuchtet,<br />

wenn beim Datumswechsel um Mitternacht die neuen Ziffern erscheinen,<br />

ist ein Teil des Zifferblatts aus halbtransparentem Saphirglas gefertigt.


Perfekt ablesbar Nacht für Nacht.<br />

Die GROSSE LANGE 1 „Lumen“<br />

in Platin.<br />

Dieses lässt das unsichtbare UV-Licht passieren, wodurch sich die Leuchtmasse<br />

der Datumsscheiben auch unterhalb des Zifferblatts <strong>auf</strong>laden kann.<br />

Da der sichtbare Teil des Lichts das Glas kaum durchdringt, erscheint<br />

das Zifferblatt stark abgedunkelt. So kann das Großdatum auch am Tag<br />

kontrastreich abgelesen werden. Gleichzeitig ist es möglich, einen Blick<br />

<strong>auf</strong> die sonst im Verborgenen liegende, <strong>auf</strong>wendig perlierte Datumsplatine<br />

und <strong>auf</strong> die Mechanik des Großdatums zu werfen, das nun Tag für Tag<br />

und Nacht für Nacht betrachtet werden kann. www.lange-soehne.com


Weil wir die beste<br />

Bank für den Mittelstand<br />

bleiben wollen.<br />

Mittelstandsbank


ATTICUS<br />

N°-3<br />

NICHT LUSTIG<br />

Titelbild: Felix Gephart; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

Manche Begriffe gehen einem nach der<br />

Lektüre eines Textes nicht mehr aus<br />

dem Kopf, weil sie so treffend sind – ​oder<br />

so sperrig. Oder beides <strong>auf</strong> einmal. „Erlebnisund<br />

gewaltorientierte Jugendliche“ ​ist ein<br />

solcher Begriff aus Alexander Marguiers<br />

Titelgeschichte über Gewaltausbrüche in<br />

deutschen Großstädten. So nennt die<br />

Polizei offiziell jene Testosteron‐Touristen,<br />

die sich schwarz einkleiden und zu den<br />

Prügelpartys der Republik tingeln.<br />

Vor Weihnachten versammelten sich<br />

die Spaßschläger in Hamburg und prügelten<br />

sich mit der Polizei, angeblich zur<br />

Rettung des Kulturzentrums „Rote Flora“.<br />

In Berlin werden sie zum 1. Mai wieder<br />

einfallen, um so zum Spaß Sch<strong>auf</strong>ensterscheiben<br />

einschmeißen zu können, das<br />

Ganze verbrämt als politischer Kampf für<br />

die armen unterdrückten Arbeiter.<br />

Man hat sich an dieses Phänomen<br />

schon beinahe schleichend gewöhnt.<br />

Alle Jahre wieder die Heimsuchung der<br />

Hirnverbrannten. Dieses Magazin fühlt<br />

sich der politischen Kultur verpflichtet,<br />

und deshalb sagt <strong>Cicero</strong>: Es gibt kein <strong>Recht</strong><br />

<strong>auf</strong> <strong>Randale</strong>. Es gibt keine Legitimationsgrundlage<br />

für rechtsfreie Räume der<br />

Gewalt. Das Monopol der Gewalt liegt<br />

beim Staat und nur dort. In dieser Ausgabe<br />

geben wir daher auch den Polizisten Raum,<br />

denjenigen, die buchstäblich den Kopf<br />

hinhalten müssen für den perversen Spaß<br />

der Partyschläger ( Seite 26 ). Nicht nur<br />

nebenbei macht der oberste Interessenvertreter<br />

der Polizisten, Oliver Malchow,<br />

deutlich, wer die Party am Ende bezahlt<br />

( Seite 28 ). Frank A. Meyer, ein Freund<br />

klarer Worte, hat seinen eigenen Begriff<br />

für erlebnis- und gewaltorientierte Jugendliche.<br />

Er nennt sie: „Pack“ ( Seite 30 ).<br />

Wir bei <strong>Cicero</strong> lieben den Spaß.<br />

Aber hier verstehen wir keinen. Das ist<br />

eine Frage des Prinzips.<br />

Ums Prinzip geht es auch bei der<br />

sogenannten Rente mit 63. Wir fragten<br />

den Vater der Rente mit 67, ob er nicht<br />

seine Meinung zur Rentenpolitik der<br />

Großen Koalition <strong>auf</strong>schreiben wolle.<br />

Eines Mittwochs klingelte es dann an der<br />

Tür der Redaktion. Ein Mann mit rotem<br />

Schal um den Hals stand davor, hatte<br />

einen hellbraunen Umschlag dabei, darin<br />

ein Manuskript, <strong>auf</strong> seiner berühmten<br />

„Gabriele“ geschrieben und von Hand<br />

hie und da korrigiert. Darüber stand unterstrichen:<br />

„für CICERO, Franz Müntefering,<br />

8. 2. 14“. Ab Seite 82 können Sie nachlesen,<br />

was der frühere Vizekanzler von<br />

der Rentenpolitik seiner früheren Regierungschefin<br />

Merkel und seinen beiden<br />

Parteifreunden Sigmar Gabriel und<br />

Andrea Nahles hält. Ungefähr so viel<br />

wie wir von Gewaltpartys.<br />

Mit besten Grüßen<br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

Chefredakteur<br />

5<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


INHALT<br />

TITELTHEMA<br />

16<br />

EIN GEWALTIGER SPASS<br />

Krawall in Berlin,<br />

Hamburg, Köln: Eine Reise<br />

an die Grenzen des <strong>Recht</strong>sstaats<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

Foto: Schaube/face to face<br />

26<br />

„ALLES WAR VERBRANNT“<br />

Die Kugelbombe, der Knall,<br />

die Folgen: Ein verletzter Polizist<br />

erzählt seinen Fall<br />

Von CONSTANTIN MAGNIS<br />

28<br />

„AGGRESSIV OHNE ANLASS“<br />

Oliver Malchow, Chef der<br />

Polizeigewerkschaft,<br />

über No-go-Areas in Deutschland<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

30<br />

KEIN HIRN<br />

UNTER DEN KAPUZEN<br />

Die Schläger<br />

sind nicht links, sondern Pack<br />

Von FRANK A. MEYER<br />

7<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />

32 EIN JURIST ÜBERZIEHT<br />

Von Wulff zu Edathy: Hannovers<br />

Oberstaatsanwalt Jörg Fröhlich und<br />

seine Behörde geben kein gutes Bild ab<br />

Von ANDREAS FÖRSTER<br />

50 KANN DENN SPRUDEL<br />

SÜNDE SEIN?<br />

Die Schauspielerin Scarlett<br />

Johansson ist in die Fallstricke<br />

des Nahostkonflikts geraten<br />

Von SYLKE TEMPEL<br />

68 DER MACHTWÄCHTER<br />

Andreas Mundt leitet das<br />

Bundeskartellamt. Er findet, dass die<br />

Bahn mehr Wettbewerb verträgt<br />

Von CAROLA SONNET<br />

34 IN DER MANEGE<br />

Der neue Justizminister Heiko<br />

Maas zwischen schnuckeligem<br />

Schwalbach und biestigem Berlin<br />

Von CHRISTOPHE BRAUN<br />

36 BRUMMIS UND GEZWITSCHER<br />

Dorothee Bär von der CSU zeigt, wie<br />

Kontraste eine Politikerin stark machen<br />

Von CHRISTOPH SEILS<br />

38 EWIG UNZUFRIEDEN<br />

Einzug ins EU-Parlament? Dürfte die<br />

AfD schaffen. Ende der Querelen? Eher<br />

nicht. Anatomie einer Protestpartei<br />

Von ANDREAS THEYSSEN<br />

42 SIE WAREN ANDERS<br />

Hitler ließ seine Eltern ermorden.<br />

Die Geschichte des Sohnes Hans<br />

Coppi und was sie über den<br />

Begriff des Verrats erzählt<br />

Von GEORG LÖWISCH<br />

47 FRAU FRIED FRAGT SICH ...<br />

…ob Politiker-Liebschaften<br />

Privatsache sind<br />

Von AMELIE FRIED<br />

42<br />

Verrätersohn? Heldensohn?<br />

Sohn.<br />

52 HERRN FICOS GESPÜR<br />

FÜR MACHT<br />

Robert Fico will die Slowakei ganz<br />

beherrschen und deshalb nach dem<br />

Amt des Premiers die Präsidentschaft<br />

Von VINZENZ GREINER<br />

54 MUTTER COURAGE<br />

Chatherine Samba-Panza<br />

soll die Zentralafrikanische<br />

Republik befrieden. Sie hofft<br />

<strong>auf</strong> Hilfe aus Berlin<br />

Von DIRKE KÖPP<br />

56 GERNEKLEIN IN DER<br />

MITTE DER WELT<br />

Das Schweizer Nein zur<br />

Zuwanderung empört und zeigt<br />

zugleich die Scheinheiligkeit der EU<br />

Von ADOLF MUSCHG<br />

60 DIE RETTUNG DES VERSTANDES<br />

Ist Alzheimer zu heilen? Ein<br />

Neurologe hat sich <strong>auf</strong>gemacht,<br />

in den kolumbianischen Anden<br />

die Lösung zu finden<br />

Von CLAAS RELOTIUS<br />

60<br />

Alzheimer. Die Tochter bangt<br />

um ihre Mutter<br />

70 MEISTERIN DES EXPERIMENTS<br />

Die Forscherin Esther Duflo testet,<br />

was wirklich gegen Armut hilft.<br />

Bekommt sie den Nobelpreis?<br />

Von CHRISTINE MATTAUCH<br />

72 WER IST DER MITTELSTAND?<br />

„The Mittelstand“ – das Ausland<br />

beneidet uns um ihn, seine Lobby<br />

klagt. Was ist sein einender<br />

Geist? Eine Rundreise<br />

Von TIL KNIPPER<br />

80 „ICH POLTERE NICHT<br />

IN TALKSHOWS“<br />

Der neue Arbeitgeberpräsident Ingo<br />

Kramer im Interview über das Niveau<br />

von Löhnen und Stammtischen<br />

82 DAS IST IGNORANT!<br />

Die Rentenpolitik der Regierung<br />

ist vielleicht populistisch<br />

brauchbar, aber unehrlich<br />

Von FRANZ MÜNTEFERING<br />

72<br />

Patriarch & Söhne.<br />

Mittelstand ist vererbbar<br />

Fotos: Antje Berghäuser für <strong>Cicero</strong>, Claas Relotius für <strong>Cicero</strong>; Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein<br />

8<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


STIL<br />

SALON<br />

CICERO<br />

STANDARDS<br />

86 HAUTENGE TRADITION<br />

Annette Roeckl rettete ein altes<br />

Handwerk und erfindet Produkte<br />

für eine neue Kundschaft<br />

Von PAUL-PHILIPP HANSKE<br />

88 DER BANKER UND SEINE TASSEN<br />

Erst als Unternehmer und Retter<br />

einer Porzellan-Manufaktur wurde<br />

Jörg Woltmann glücklich<br />

Von ERWIN KOCH<br />

96 MÜTTER UND TÖCHTER<br />

Die Fotografin Julia Fullerton-<br />

Batten lässt in ihren Bildern Mütter<br />

und Töchter <strong>auf</strong>einandertreffen<br />

106 WARUM ICH TRAGE,<br />

WAS ICH TRAGE<br />

Ey, du kleine süße Praline<br />

Von BARBARA SCHÖNEBERGER<br />

96<br />

Mutter und Tochter:<br />

ein Spannungsverhältnis<br />

108 ALICE SCHWARZER<br />

WAR GESTERN<br />

Die Publizistin Birgit Kelle streitet<br />

für einen neuen Feminismus<br />

Von KATHARINA SCHMITZ<br />

110 SIE WILL DAS WAGNIS<br />

Die Schauspielerin Nina Hoss<br />

sucht Chaos an der Schaubühne<br />

Von IRENE BAZINGER<br />

112 FREMD IN DER HEIMAT<br />

Der Schriftsteller David Hwang ist der<br />

erfolgreichste Dramatiker der USA<br />

Von SEBASTIAN MOLL<br />

114 STURZFAHRT OHNE KOMPASS<br />

Die Berliner Philharmoniker brauchen<br />

einen neuen Chefdirigenten. Was<br />

die Suche über die Klassik erzählt<br />

Von AXEL BRÜGGEMANN<br />

122 MAN SIEHT NUR,<br />

WAS MAN SUCHT<br />

Max Liebermanns Atelier und die<br />

Debatte um Raubkunst und Restitution<br />

Von BEAT WYSS<br />

124 GROSSVATERS KRIEG<br />

Was aßen die Soldaten? Eine Collage<br />

aus dem Ersten Weltkrieg und<br />

eine persönliche Spurensuche<br />

Von PAUL MAAR<br />

130 HOPES WELT<br />

Mit Bach wäre das nicht passiert<br />

Von DANIEL HOPE<br />

132 BIBLIOTHEKSPORTRÄT<br />

Für den Unternehmensberater Brun-<br />

Hagen Hennerkes ist Literatur die<br />

Herzmitte aller Begeisterung<br />

Von ALEXANDER KISSLER<br />

5 ATTICUS<br />

Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

10 STADTGESPRÄCH<br />

12 FORUM<br />

14 IMPRESSUM<br />

138 POSTSCRIPTUM<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

Der Titelkünstler<br />

Die Titelillustration dieser<br />

Ausgabe zeigt einen<br />

Krawalltouristen mit<br />

loderndem Brandsatz. ​<br />

Der Stil des Berliner<br />

Künstlers Felix Gephart<br />

passt dazu: kraftvolle<br />

Farbigkeit, klare Kontraste.<br />

Gephart, 37, gestaltet<br />

regelmäßig für <strong>Cicero</strong>. ​<br />

Mal ist es Acryl <strong>auf</strong><br />

Leinwand wie diese<br />

Titelillustration, mal sind<br />

es colorierte Strichzeichnungen,<br />

die er sehr<br />

detailreich gestaltet. ​<br />

So wie bei der Bestie, die<br />

im Ressort Kapital der<br />

vorigen Ausgabe einen<br />

Bitcoin hielt, jene<br />

Inter net währung, die ​<br />

auch bei Kriminellen<br />

beliebt ist. Bevor Gephart<br />

erste Skizzen anlegt,<br />

arbeitet er sich in die<br />

<strong>Cicero</strong>-Themen ein. ​<br />

Er liest, denkt nach,<br />

sucht nach einer Idee.<br />

So entstehen seine<br />

Illustrationen, deren<br />

Kennzeichen Tiefe und<br />

Entschlossenheit sind.<br />

Fotos: Julia Fullerton-Batten, Privat<br />

136 DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />

Rom sehen und sterben<br />

Von MICHAEL TRIEGEL<br />

9<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


CICERO<br />

Stadtgespräch<br />

Ein Minister scheut fremde Kappen, ein Präsident verteidigt die deutsche<br />

Sprache, ein Wolf ist hungrig und ein Berliner macht Autofahrern Hoffnung<br />

Minister ohne Kappe:<br />

Unverwechselbar<br />

Im Namen der Muttersprache:<br />

Deutsch statt Denglish<br />

Gescheiterte Polit-Promis:<br />

Im Abklingbecken<br />

Nicht jeder, der Gerd Müller heißt,<br />

ist so bekannt wie der einstige<br />

Fußballstar gleichen Namens. Der<br />

CSU-Politiker Gerd Müller hat das<br />

schon oft in seinem Leben erfahren.<br />

Inzwischen ist er zwar Chef des Bundesentwicklungministeriums,<br />

aber<br />

so richtig bekannt ist er immer noch<br />

nicht. Während der Koalitionsklausur<br />

im brandenburgischen Meseberg hatte<br />

er für ein Interview das streng abgeschirmte<br />

Tagungsgelände verlassen.<br />

Danach hatte er große Mühe, dem Sicherheitspersonal<br />

klarzumachen, dass<br />

er wirklich der Minister Müller ist.<br />

<strong>Kein</strong> Wunder also, dass der CSU-Mann<br />

jetzt nach Unverwechselbarkeit strebt.<br />

Als man ihm beim Einzug in sein neues<br />

Ministerbüro einen Karton voller Bundeswehr-Schirmmützen<br />

seines Vorgängers<br />

Dirk Niebel zeigte, entschied<br />

der Minister, ohne zu zögern: „Die gehen<br />

alle in den Müll!“ Er will nicht<br />

verwechselt werden – und mit Niebel<br />

schon gar nicht. tz<br />

Nicht immer trägt der Bundestagspräsident<br />

den Spitznamen „Norbert<br />

jammert“ zu <strong>Recht</strong>. Nun aber war<br />

wieder ein Tag, an dem es schwerfiel,<br />

die Jeremiade zu vermeiden. Unter dem<br />

bizarren Titel „Deutsch 3.0“ wollen das<br />

Goethe-Institut, das Institut für deutsche<br />

Sprache, der Stifterverband für die<br />

Deutsche Wissenschaft und knapp 30<br />

weitere Organisationen der Muttersprache<br />

bis Jahresende einen Schub verleihen.<br />

Schirmherr ist Norbert Lammert,<br />

der schon viele solcher Schirme trägt<br />

und selber gerne geschliffen formuliert.<br />

Zum Auftakt der deutschlandweiten<br />

Veranstaltungsreihe schalt der Bundestagspräsident<br />

das „passive Verhalten<br />

der Eliten“. Diese ließen sich den „Statusverlust<br />

der deutschen Sprache als<br />

Wissenschaftssprache“ zu leicht abhandeln.<br />

Schlimm sei auch die „Evaluierung<br />

germanistischer Projekte <strong>auf</strong> Englisch“.<br />

Wo er recht hat, hat er recht, der<br />

eilige Norbert. kis<br />

Wie gut, dass es eine Welt außerhalb<br />

Deutschlands gibt. Viele gescheiterte<br />

Bundespolitiker wissen das<br />

zu schätzen und haben sich ins Ausland<br />

abgesetzt: Karl-Theodor zu Guttenberg<br />

(USA), Philipp Rösler (Weltwirtschaftsforum,<br />

Schweiz), David McAllister (Europaparlament,<br />

Straßburg), Daniel Bahr<br />

(Berater für Gesundheitspolitik, USA),<br />

Annette Schavan (Botschafterin, Vatikan).<br />

So unterschiedlich die Gründe ihres<br />

Scheiterns auch waren – allen gemeinsam<br />

war offenbar die Erkenntnis,<br />

dass es ratsam ist, das Land zu meiden,<br />

in dem die Kultur der zweiten Chance<br />

nicht sehr gepflegt wird. Wie lange aber<br />

muss einer im Abklingbecken ausharren?<br />

Wann verfliegt die toxische Wirkung<br />

der Niederlage? Grünen-Chef<br />

Cem Özdemir schaffte die Rückkehr<br />

aus dem EU-Parlament relativ schnell.<br />

Bei zu Guttenberg dauert es länger. Als<br />

der kürzlich in München <strong>auf</strong>tauchte, erklärte<br />

er vorsorglich, dies sei nicht sein<br />

„367. Comeback-Versuch“. ink<br />

Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />

10<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Blockade der Wilhelmstraße:<br />

Bald wieder freie Fahrt?<br />

Die britische Botschaft bereitet den<br />

Berlinern doppelten Verdruss. Zum<br />

einen stehen die diplomatischen Vertreter<br />

Ihrer Majestät unter dem – bislang<br />

nicht entkräfteten – Verdacht, die Immobilie<br />

im Zentrum der Stadt zu Spionagezwecken<br />

zu nutzen. Zum anderen<br />

ist wegen der Botschaft aus Sicherheitsgründen<br />

ein Teil der Wilhelmstraße mit<br />

Pollern abgeriegelt und somit für Autos<br />

gesperrt: „Wenn wir für die Briten<br />

schon eine ganze Straße dichtmachen,<br />

dann sollen sie wenigstens <strong>auf</strong>hören,<br />

unsere Telefongespräche von dort abzuhören“,<br />

lästert der Berliner Grünen-<br />

Politiker Benedikt Lux.<br />

Noch ärgerlicher aber finden vor<br />

allem die Autofahrer, dass eine der<br />

wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen<br />

der Stadt seit elf Jahren abgeklemmt<br />

ist und sie sich über Umwege quälen<br />

müssen. Zumindest dieses Übel könnte<br />

bald gelindert werden. Verkehrs- und<br />

Sicherheitspolitiker der Stadt verhandeln<br />

seit ein paar Wochen intensiv und<br />

diskret mit Spitzenbeamten der zuständigen<br />

Bundesministerien darüber, ob<br />

und wie die Totalsperrung gelockert<br />

werden könnte.<br />

Frühere Gespräche waren am Veto<br />

der Sicherheitskräfte gescheitert. Das<br />

könnte sich jetzt ändern. „Die Chancen,<br />

dass wir es diesmal schaffen, sind<br />

besser als je zuvor“, sagt der Berliner<br />

CDU-Politiker Oliver Friederici. Geprüft<br />

werde nämlich, ob man die Botschaft<br />

durch Poller in der Straßenmitte<br />

sichern und dann die gegenüber der<br />

Botschaft liegende Straßenseite als Einbahnstraße<br />

wieder öffnen kann. hp<br />

Machtkampf in Südwest:<br />

Hungrige Wölfe<br />

Baden-Württembergs Landtagspräsident<br />

Guido Wolf präsentiert sich im<br />

Internet unter www.der-wolf-im-revier.<br />

de. Als es kürzlich darum ging, dass im<br />

Südwesten der Republik bald wieder<br />

Wölfe heimisch werden könnten, versprach<br />

der CDU-Politiker umgehend,<br />

er werde für das erste Exemplar eine<br />

Patenschaft übernehmen. Kurz: Guido<br />

Wolf liebt seinen Namen.<br />

Und er ist ehrgeizig. Er würde sicher<br />

gerne 2016 für das Amt des Ministerpräsidenten<br />

kandidieren, will die<br />

Entscheidung aber, solange es geht, offenhalten.<br />

Einstweilen antichambriert<br />

er bei der CDU-Basis und belustigt Narrenzünfte<br />

mit selbst gereimten Gedichten.<br />

Wenn wir in Wolfs Namenswitzwelt<br />

einstiegen, könnten wir sagen: Der<br />

Wolf streicht hungrig um die Herde.<br />

Es gibt zwei andere, die Appetit<br />

haben und Beute machen wollen. Peter<br />

Hauk, Chef der Landtagsfraktion, und<br />

Thomas Strobl, Chef des Landesverbands.<br />

Hauk will am 8. April von seiner<br />

Fraktion wiedergewählt werden, aber<br />

er ist umstritten. Das böte Wolf die<br />

Chance, gegen ihn anzutreten und ihn,<br />

nun ja, wegzubeißen. Als Fraktionsund<br />

damit Oppositionschef könnte er<br />

Ministerpräsident Winfried Kretschmann<br />

direkt anbellen. Strobl hat intern<br />

lange vor einer Beißerei gewarnt. Das<br />

Rudel müsse vor den Kommunalwahlen<br />

Ende Mai einig sein. Er ist an einem<br />

neuen siegreichen Fraktionschef nicht<br />

interessiert. Besser es gibt weiter zwei<br />

kleine Landtagswölfe. Dann wäre er<br />

nämlich der Leitwolf im Revier. löw<br />

Aufsteiger Binninger:<br />

Listige Ausrede<br />

Der Aufstieg des Böblinger CDU-<br />

Bundestagsabgeordneten Clemens<br />

Binninger ins Amt des Vorsitzenden<br />

der Parlamentarischen Kontrollkommission<br />

war mit einem bemerkenswerten<br />

Wechsel seiner landsmannschaftlichen<br />

Identität verbunden.<br />

Nachdem ihn die Süddeutsche<br />

Zeitung irrtümlich als tüchtigen<br />

„Schwaben“ vorgestellt hatte, sah sich<br />

der CDU-Politiker zu einer persönlichen<br />

Klarstellung gezwungen. Er ist<br />

nämlich kein „Schwoob“. Wohl aber<br />

hat er seinen Wahlkreis im urschwäbischen<br />

Böblingen. Das war einst die<br />

politische Heimat der früheren CDU-<br />

Schatzmeisterin Brigitte Baumeister,<br />

die Binninger schon 2002 in einem<br />

damals bundesweit beachteten<br />

Kraftakt als Direktkandidatin verdrängt<br />

und abgelöst hatte. Da man so<br />

etwas eigentlich nur einem waschechten<br />

Schwaben zugetraut hätte, galt er<br />

seitdem als ein solcher.<br />

Zur Rede gestellt, versuchte sich<br />

der CDU-Politiker nun augenzwinkernd<br />

mit einer listigen Auskunft herauszureden:<br />

Er sei ein „südbadischer<br />

Schwabe“, behauptete er. Allerdings<br />

war diese Spezies bisher im Südwesten<br />

der Republik nicht bekannt.<br />

Tatsächlich ist Binninger in Bonndorf<br />

geboren, einem kleinen Städtchen<br />

im Zentrum des Südschwarzwalds und<br />

somit ein freisinniger, badischer Uralemanne.<br />

Seine schwäbischen Wähler<br />

scheint das nicht zu stören. Bei der<br />

letzten Bundestagswahl sammelte er<br />

sensationelle 54,3 Prozent der Erststimmen<br />

ein. tz<br />

11<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


CICERO<br />

Leserbriefe<br />

FORUM<br />

Es geht um Armutsmigration, die Herrschaft<br />

von Maschinen und um zwei Päpste<br />

Zum Thema Armutsmigration mit den Beiträgen „Das Gespenst der armen EU-Migranten“<br />

von Klaus J. Bade, „Die Arbeiter der Integration“ von Frank A. Meyer und dem Interview mit<br />

der Neuköllner Stadträtin Franziska Giffey „Da rollt was <strong>auf</strong> uns zu“, Februar 2014<br />

„Umerziehung des Volkes? Besser nicht!“<br />

Besser konnten die drei obigen Beiträge – in e i n e r Ausgabe nicht platziert<br />

werden. Da schwadroniert Herr Bade über Zahlen der Gegenwart, die keinen<br />

Anlass zur Sorge gäben. Die Kommunen sollten für Fortbildung sorgen, ansonsten<br />

ist Zuversicht angesagt. Frau Giffey, Stadträtin in Neukölln, wird schon<br />

genauer, bleibt aber korrekt vorsichtig. Herr Meyer stellt aber die Kernfrage:<br />

„Wer ist bei uns Arbeiter der Integration?“ Auf wessen Schultern liegt also<br />

die Last der Integration? Mit Geld für die Kommunen ist es nicht getan. Herr<br />

Meyer sagt es: Kulturelle, religiöse und ethnische Widersprüche lassen sich mit<br />

Geld nicht lösen …Eine große Mehrheit des Volkes will die Armutseinwanderung<br />

von Kulturen, Religionen und Ethnien eben nicht. Der Versuch einer Umerziehung<br />

des Volkes ist sehr riskant. Und kann schiefgehen. Besser nicht!<br />

Peter Wolter, Leonberg<br />

Latent fremdenfeindlich<br />

Oh <strong>Cicero</strong>! „Überfordern Armutsmigranten<br />

den Sozialstaat?“ Nein,<br />

natürlich nicht. Aber das deutsche<br />

Wesen ist von jeher obrigkeitshörig,<br />

arbeitsam und latent fremdenfeindlich.<br />

Das war schon immer so, das<br />

ist so und das wird so lange noch so<br />

bleiben, bis der letzte „Deutsche“<br />

verschwunden ist.<br />

Stefan Leicht, Radolfzell<br />

Politisch korrekt<br />

Wenn Herr Bade von „sogenannten“<br />

Armutswanderern spricht, dann<br />

mag das wohl politisch korrekt sein,<br />

aber der Wahrheit entspricht das<br />

wohl nicht. Es gibt Armutszuwanderer<br />

tatsächlich. Dem Beitrag von<br />

Frank A. Meyer kann ich nur vorbehaltlos<br />

zustimmen. Wir sollten alles<br />

Mögliche tun, damit die Südstaaten<br />

nicht ihre Sorgenkinder hierzulande<br />

entsorgen. Die EU trägt Verantwortung,<br />

dass die Länder auch<br />

ihrer Verantwortung für bessere Lebensverhältnisse<br />

gerecht werden.<br />

Alfred Keck, Landshut<br />

Mangel an Selbstreflexion<br />

Es zeugt von einem eklatanten Mangel<br />

an Selbstreflexion, dass Frank<br />

A. Meyer der Linken Borniertheit<br />

unterstellt, davon aber selbst nicht<br />

frei ist. Wenn er die „wohlbestallten<br />

Angestellten von Kirchen und<br />

Sozialbehörden“ den Krankenschwestern<br />

gegenüberstellt, zeigt<br />

sich dabei seine eigene Engstirnigkeit.<br />

Die Mitarbeiterinnen in den<br />

Eingangszonen der Jobcenter können<br />

mit oft nur 1600 Euro brutto für<br />

eine Vollzeitstelle von einem Krankenschwesterngehalt<br />

nur träumen.<br />

Doch das passt nicht ins Bild von<br />

Frank A. Meyer, für den Sozialarbeiter<br />

prinzipiell böse, weil im Zweifelsfall<br />

links sind.<br />

Tilman Weigel, Schwabach<br />

Im Elfenbeinturm<br />

Endlose Konjunktive und Hypothesen,<br />

was noch zu tun sei, schallen<br />

aus Herrn Bades Elfenbeinturm.<br />

Sollte er die Ausgangssituation<br />

seiner Forschung vernachlässigt<br />

haben, oder ignoriert er sie aus<br />

ideologischer Rücksicht? „Die Arbeiter<br />

der Integration“ und ihren<br />

Frust (F. A. Meyer) und die Tendenz<br />

einiger Staaten, ihre „Problembürger“<br />

anderen EU-Ländern <strong>auf</strong>zubürden,<br />

beschreibt Franziska Giffey<br />

(„Da rollt was <strong>auf</strong> uns zu“). Italiens<br />

Probleme sind – auch, nicht allein! –<br />

Teil dieser Politik. Sollten diese Tatsachen<br />

Herrn Bades Forschungen<br />

etwa entgangen sein?<br />

Ich widerspreche jedoch der<br />

mehrfach in diesen Artikeln geäußerten<br />

Meinung, dass die Folgen unserer<br />

(deutschen und europäischen)<br />

Politik die Bürger in das „rechte Lager“<br />

treiben wird. Stattdessen wird<br />

sich „die stumme Mehrheit“ aus<br />

Frustration über die Unfähigkeit der<br />

Regierungen noch stärker von der<br />

Wahlurne fernhalten.<br />

Dr. Volkmar v. Bruchhausen, Wiesbaden<br />

Unsinnige Wortbildung<br />

Im Wesentlichen ist der Artikel von<br />

Frank A. Meyer die notwendige<br />

Antwort <strong>auf</strong> die einseitige Darstellung<br />

von Klaus J. Bade. Bade spricht<br />

wiederholt von „sogenannter Armutswanderung“.<br />

Er suggeriert damit,<br />

dass die Armutswanderung nur<br />

ein Gespenst ist, das wir uns einbilden.<br />

Er scheut jedoch die Aussage<br />

„Es gibt keine Armutswanderung“,<br />

wohl weil er weiß, dass es fraglos<br />

eine Armutswanderung gibt.<br />

Bade spricht gerne von Kulturrassismus,<br />

es ist wohl seine Wortschöpfung.<br />

Diese Wortbildung ist<br />

nicht nur diskriminierend, sondern<br />

auch unsinnig. Diskriminierend,<br />

weil sie Kulturkritikern Rassismus<br />

unterstellt. Sprachlich unsinnig,<br />

weil es nun einmal keine kulturellen<br />

Rassen gibt.<br />

Dr. Karl-Friedrich Lammers, München<br />

12<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Für Verwaltungsmodernisierer.<br />

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Entwicklungshelfer. Privatisierer.<br />

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Mit dem Master-Stipendium der ZU.<br />

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01. September 2014<br />

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Soziologie“ und „Public Management“ als Spezialisierung und Modulen für individualisierte Forschung.<br />

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Kulturwissenschaften und in Wirtschaftswissenschaften sowie der Bewerbung unter zu.de/cicero


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Zum Beitrag „APPokalypse now“ von<br />

Lena Bergmann, Februar 2014<br />

„Flüchtlingsgespräche“<br />

Lena Bergmann fragt sich: „Hat dieses<br />

Dauer-Entertainment das Nachdenken<br />

verdrängt?“ Die Gefahr<br />

besteht sicher, ist jedoch nicht notwendigerweise<br />

Folge der Smartphone-Benutzung.<br />

Frau Bergmann<br />

schildert zutreffend, dass ein Smartphone<br />

effektiv ist, also Zeit spart.<br />

Die so eingesparte Zeit kann ja,<br />

wenn gewünscht, zum Nachdenken<br />

verwendet werden.<br />

Dem steht das Verlangen nach<br />

Entertainment entgegen, aber auch<br />

der Wunsch nach ständiger Kommunikation.<br />

Hierzu Peter Sloterdijk<br />

in seinen Notizen („Zeilen und<br />

Tage“) am 8. 10. 2008: „Es könnte<br />

sein, dass ein gut Teil der Kommunikationen<br />

zwischen Menschen nichts<br />

anderes ist als der Verkehr zwischen<br />

Leuten, die sich selber meiden, wobei<br />

sie unweigerlich <strong>auf</strong> andere Sich-<br />

Ausweichende treffen. Das ergibt<br />

Flüchtlingsgespräche ohne Ende,<br />

denn Selbstausweichler haben einander<br />

viel zu sagen.“<br />

Armgard Rosenberger, München<br />

Mehr Zeit zum Denken<br />

Sie schildern sehr schön die Effektivität<br />

der Maschine. Diese Effektivität<br />

erspart uns Zeit, sie schenkt<br />

uns also Zeit. Die Maschine verdrängt<br />

also nicht das Nachdenken,<br />

sondern sie schenkt uns frei<br />

verfügbare Zeit, die wir, wenn wir<br />

wollen, auch zum Nachdenken verwenden<br />

können.<br />

Sie sagen von der Maschine:<br />

„Sie lässt uns eine umfassende Allgemeinbildung<br />

mit den Fingerspitzen<br />

abrufen.“ Bildung ist das, was<br />

bleibt, wenn man Wissen ausklammert.<br />

Der Brockhaus und auch Wikipedia<br />

bieten Definitionen für den<br />

Begriff Bildung an, zum Beispiel<br />

die von Bernward Hoffmann: „Entfaltung<br />

und Entwicklung der geistig-seelischen<br />

Werte und Anlagen<br />

eines Menschen durch Formung<br />

und Erziehung“. Kann das die Maschine?<br />

Da habe ich Zweifel.<br />

Kurd Geerken, Dörpen<br />

14<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


CICERO<br />

Leserbriefe<br />

Missbrauch ist möglich<br />

Im Titel wird darüber geklagt, „wie<br />

uns das Smartphone versklavt“,<br />

aber Lena Bergmann zeigt in dem<br />

Artikel „APPokalypse now“, dass<br />

ein Smartphone bei sinnvollem Gebrauch<br />

nicht versklavt, sondern<br />

nützt, und nur eine unsinnige Verwendung<br />

Probleme bereitet. Vorschlag<br />

für die grüne Partei: Auf<br />

Smartphones und allen anderen<br />

Gebrauchsgegenständen den Aufdruck<br />

anbringen lassen: „Vorsicht.<br />

Missbrauch ist möglich.“<br />

Gunda Heuer, Frankfurt<br />

Karikatur: Hauck & Bauer<br />

„Ontologische Panik“<br />

Lena Bergmann freut sich über die<br />

Effektivität ihrer „Maschine“, die<br />

„unser persönlichstes Erleben“ archiviert.<br />

Nicht wenige stellen das<br />

so archivierte persönlichste Erleben<br />

ins Netz. Ich habe dies für Exhibitionismus<br />

gehalten und nicht so recht<br />

verstanden.<br />

Die wohl zutreffendere Begründung<br />

für dieses Phänomen fand ich<br />

jetzt bei Peter Sloterdijk: „Unzählige<br />

spüren, wie wenig es genügt, in<br />

der Gegenwart herumzuhängen, um<br />

‚wirklich‘, das heißt <strong>auf</strong> dokumentierte<br />

Weise, da zu sein. Sie möchten<br />

sich einen Platz <strong>auf</strong> den Bildschirmen,<br />

in der Mediasphäre, im<br />

Archiv erobern. Um jetzt zu existieren,<br />

müssen sie sich darum sorgen,<br />

dass sie nie da gewesen sein<br />

werden – manche stellen schon ihre<br />

täglichen Blutdruckwerte ins Netz …<br />

Was man für Exhibitionismus hält,<br />

ist ontologische Panik. Wir sind so<br />

schwache Kandidaten fürs wirkliche<br />

Dasein, dass uns jedes Mittel recht<br />

ist, unsere Existenz zu beweisen.“<br />

Susanne Schweer, Berlin<br />

Nicht wenige<br />

archivieren ihr<br />

persönlichstes<br />

Erleben und<br />

stellen es ins Netz<br />

Zum Beitrag „Als Josef nach der Kälte<br />

ging, Armut war ein weltlich’ Ding“ von<br />

Beat Wyss, Januar 2014<br />

Himmlische Hosen<br />

Herr Wyss schwadroniert über die<br />

„Windel Jesu, geschneidert aus Josefs<br />

Hosen“. Josef habe das Christkind<br />

mit seinem Beinkleid bedeckt,<br />

damit es nicht friert. Nun sind in<br />

Aachener Mundart „Hosen“ ( ho’se )<br />

Fußlappen, keine Beinkleider. Und<br />

„ho’se striche“ bedeutete dort noch<br />

in der Mitte des letzten Jahrhunderts<br />

„Socken bügeln“.<br />

Hans Multscher hat also nur<br />

dargestellt, was er kannte und so<br />

die (leseunkundigen) Gläubigen visualisierte<br />

biblische Geschichte<br />

nachvollziehen lassen. Josef bedeckte<br />

das Christkind mit seinem<br />

„Beinkleid“. Richtig. Im 15. Jahrhundert<br />

waren das beim Adel ( vereinzelt<br />

) Socken/Strümpfe, nicht Hosen<br />

( = Fußlappen ). Vielleicht wollte<br />

Multscher damit dem Christkind sogar<br />

etwas an Insignie und Würde geben,<br />

das es nicht hatte. Etwas Königliches.<br />

Ein Aha-Erlebnis für den<br />

einfachen Gläubigen.<br />

Dr. Walter Schmitz, Berlin<br />

Zum Interview „Die Jubler werden sich<br />

wundern“ mit Georg Gänswein,<br />

Januar 2014<br />

Doch recht unterschiedlich<br />

Zwei Punkte sind mir besonders<br />

<strong>auf</strong>gefallen: Gesten wirken im unmittelbaren<br />

Augenblick besser als<br />

Worte. Da hat Erzbischof Gänswein<br />

recht. Dies zeigt, dass Benedikt und<br />

Franziskus doch einen recht unterschiedlichen<br />

Stil an den Tag legen.<br />

Und das, obwohl immer betont wird,<br />

wie nahe sich die beiden Päpste inhaltlich<br />

stehen. Da kann man nur<br />

hoffen, dass Franziskus den guten<br />

Taten auch noch die rechten Worte<br />

folgen lassen wird.<br />

Auch mit der Einschätzung der<br />

Situation der Kirche in Deutschland,<br />

so im Fall Limburg, liegt Gänswein<br />

ganz richtig. Hier kann kein Sonderweg<br />

beschritten werden.<br />

Es gibt keine katholischen Nationalkirchen!<br />

Das müssen endlich<br />

auch einmal die deutschen Katholiken<br />

akzeptieren.<br />

Dr. Gisela Seitschek, München<br />

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />

Wünsche, Anregungen und Meinungsäußerungen<br />

senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />

15<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


TITEL<br />

<strong>Kein</strong> <strong>Recht</strong> <strong>auf</strong> <strong>Randale</strong><br />

HAMBURG 21/12/2013 Bei einer Demo zum Erhalt<br />

der „Roten Flora“ kommt es zur Straßenschlacht<br />

16<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


EIN<br />

GEWALTIGER<br />

SPASS<br />

Die linksextreme Szene rüstet <strong>auf</strong>, bei Krawallen<br />

wie jüngst in Hamburg stellt sie ihre Militanz unter<br />

Beweis. Unterstützt werden die Autonomen dabei<br />

von Jugendlichen, die einfach nur den Kick suchen.<br />

Eine Exkursion an die Grenzen des <strong>Recht</strong>sstaats<br />

Von ALEXANDER MARGUIER


TITEL<br />

<strong>Kein</strong> <strong>Recht</strong> <strong>auf</strong> <strong>Randale</strong><br />

Ein ohrenbetäubendes Gebrüll,<br />

zwischendurch immer wieder<br />

lautes Knallen und die Geräusche<br />

von splitterndem Glas.<br />

Der Lärm ist so groß, dass die<br />

Durchsagen aus dem Lautsprecherwagen<br />

der Demonstranten kaum zu verstehen<br />

sind – nur einzelne Satzfetzen wie<br />

„<strong>Recht</strong> <strong>auf</strong> Stadt“ oder „Bleiberecht für<br />

alle, wirklich alle“.<br />

Weiß behelmte Polizisten in schwarzen<br />

Schutzanzügen rennen in kleinen<br />

Gruppen entlang der Straße vor Hamburgs<br />

„Roter Flora“ <strong>auf</strong> vermummte Protestierer<br />

zu, begleitet vom Strahl eines<br />

Wasserwerfers. Ein Mann mit schwarzer<br />

Kapuze über dem Kopf schleudert<br />

einem Einsatzbeamten mit aller Kraft<br />

eine Holzlatte ans Visier. Es fliegen Flaschen<br />

und Böller, die gegnerischen Lager<br />

verharren kurz, um einen Überblick<br />

zu gewinnen. Dann rücken die Polizisten<br />

ein Stück weiter vor, aber der Geländegewinn<br />

währt unter dem Hagel von Steinen<br />

und Feuerwerkskörpern nur kurz. Plötzlich<br />

wird aus den Reihen der Randalierer<br />

eine Leuchtrakete <strong>auf</strong> die Polizei gefeuert;<br />

sie trifft einen Beamten an der<br />

Brust und prallt von dort zu Boden. Eine<br />

Gruppe von vier oder fünf Kapuzenträgern<br />

reißt ein Verkehrsschild aus der Verankerung<br />

und schleudert es in Richtung<br />

der Polizeikette.<br />

Was sich an diesem Nachmittag des<br />

21. Dezember 2013 im Schanzenviertel<br />

und in dem angrenzenden St. Pauli abspielt,<br />

ist eine Eskalation der Gewalt,<br />

wie sie die Hansestadt seit 25 Jahren<br />

nicht mehr erlebt hat. Am Ende sind<br />

171 Polizistinnen und Polizisten verletzt,<br />

22 davon schwer. Die Demonstranten<br />

sprechen hinterher von 460 Verletzten<br />

in ihren Reihen, belegen lässt<br />

sich diese Zahl nicht.<br />

Sicher ist dagegen, dass 56 Einsatzfahrzeuge<br />

der Hamburger Polizei<br />

beschädigt wurden, davon 15 bis zur<br />

Fahruntüchtigkeit. Von zerborstenen<br />

Sch<strong>auf</strong>ensterscheiben, zerstörten Autos<br />

und demolierten Gebäuden ganz zu<br />

schweigen. Das örtliche Büro der SPD<br />

an der Clemens-Schultz-Straße ist noch<br />

Wochen später nur notdürftig mit Brettern<br />

verrammelt – als sei es von seinen<br />

Bewohnern <strong>auf</strong>gegeben worden. Es<br />

wirkt wie ein Mahnmal. Oder wie eine<br />

Kapitulationserklärung.<br />

Vom Ausmaß der Brutalität bei den<br />

Hamburger Krawallen kann sich jeder<br />

selbst ein Bild machen; im Internet finden<br />

sich Video<strong>auf</strong>nahmen in Hülle und Fülle.<br />

Das Problem ist nur: Zur Erforschung der<br />

Ursachen für diesen vorweihnachtlichen<br />

Exzess helfen solche Filmschnipselchen<br />

nicht weiter. Wer in ihnen den Beleg für<br />

die harte Vorgehensweise der Staatsmacht<br />

erkennen will, wird sich genauso<br />

bestätigt sehen wie jene, die vor einer zunehmenden<br />

Militanz der linksextremen<br />

Szene warnen. Auf einschlägigen Internetplattformen<br />

wie „Indymedia“ empören<br />

sich Demo-Teilnehmer über den Polizeieinsatz,<br />

während sich andere ihrer<br />

eigenen Schlagkraft rühmen: „Bulleneinheiten<br />

wurden durch die Straßen gejagt“,<br />

heißt es dort zum Beispiel stolz.<br />

In Behördensprache klingt die Nachbetrachtung<br />

der Ereignisse aus gegnerischer<br />

Sicht naturgemäß nüchterner: „Der<br />

Gesamtverl<strong>auf</strong> des Protests am 21. 12. 13<br />

wurde von weiten Teilen der Szene als<br />

Mobilisierungserfolg bewertet, auch die<br />

meisten Einzelaktionen (Steinwürfe und<br />

Böller <strong>auf</strong> Polizisten, Sachbeschädigungen<br />

bei vielen Unternehmen und Einrichtungen)<br />

wurden nicht ernstlich kritisiert.<br />

Dass es zu massiven Ausschreitungen<br />

kam, wurde in vielen öffentlichen Stellungnahmen<br />

auch dem Verhalten der Polizei<br />

(Aufstoppen und frühzeitiges Auflösen<br />

der Demonstration) angelastet. Im<br />

Nachgang fanden sich im Internet mehrere<br />

Beiträge, deren Autoren in Gewaltfantasien<br />

schwelgten, die sich vor<br />

allem gegen die Polizei richteten.“ So<br />

steht es in einem Bericht des Hamburger<br />

Verfassungsschutzes.<br />

Wie es überhaupt so weit kommen<br />

konnte, darüber rätseln immer noch viele<br />

in der Hansestadt. Fest steht nur, dass<br />

gleichzeitig mehrere Themen hochkochten,<br />

die im Lager der Linksextremisten<br />

einen besonderen Stellenwert haben.<br />

Schon länger schwelt ein Streit über den<br />

Umgang mit Flüchtlingen aus Afrika, die<br />

über Lampedusa nach Hamburg gekommen<br />

sind und denen der Senat kein Bleiberecht<br />

einräumen will.<br />

Außerdem sollte ein b<strong>auf</strong>älliger<br />

Wohnkomplex, die sogenannten Esso-<br />

Häuser an der Reeperbahn, wegen Einsturzgefahr<br />

geräumt werden – aus Sicht<br />

der linken Szene ein weiterer Schritt zur<br />

Gentrifizierung des Viertels. Und dann<br />

kursierten auch noch Gerüchte über<br />

die bevorstehende Räumung der „Roten<br />

Flora“: Das ehemalige Theater im<br />

BERLIN 01/05/2013 Bei der „revolutionären Demo zum 1. Mai“ treten vermummte<br />

Teilnehmer die Scheibe einer Sparkassenfiliale ein<br />

18<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Fotos: Malte Christians/Picture Alliance/dpa (Seiten 16 bis 17), Thielker/Ullstein Bild<br />

Schanzenviertel ist seit 1989 besetzt und<br />

dient seither als „autonomes Zentrum“.<br />

Für die Autonomen ist die Flora ungefähr<br />

so symbolträchtig wie der Kölner Dom<br />

für rheinländische Katholiken.<br />

HAMBURG<br />

An Anlässen für eine Kraftprobe mit der<br />

Hamburger Regierung herrschte also kein<br />

Mangel. Und dass sich etwas zusammenbraute,<br />

dafür gab es deutliche Zeichen.<br />

Zum Beispiel den Angriff einer Gruppe<br />

von etwa 150 Leuten <strong>auf</strong> die berühmte<br />

Davidwache am Vorabend der Demonstration,<br />

bei der Fenster und Polizeiautos<br />

beschädigt wurden. Die Zeichen standen<br />

unverkennbar <strong>auf</strong> Sturm, doch aus dem<br />

Sturm wurde am nächsten Tag ein Orkan:<br />

Rund 7000 Menschen hatten sich zusammengefunden,<br />

um zu demonstrieren – darunter<br />

nach heutiger Erkenntnis des Verfassungsschutzes<br />

4000 Gewaltbereite.<br />

Dass solche Zahlen immer mit Vorsicht<br />

zu genießen sind, liegt <strong>auf</strong> der Hand.<br />

Ziemlich sicher ist allerdings, dass wesentlich<br />

mehr Krawallmacher <strong>auf</strong>marschiert<br />

waren, als die Hamburger Linksextremisten<br />

zu bieten haben. Unklar ist<br />

nach wie vor, woher sie alle kamen. Denn<br />

nur aus anderen Städten angereiste Gesinnungsgenossen<br />

können es nicht gewesen<br />

sein – so viele gibt das militante Reservoir<br />

an Linksradikalen kaum her.<br />

Die Polizei musste jedenfalls feststellen,<br />

dass etliche in Gewahrsam genommene<br />

Gewalttäter zuvor noch nie<br />

als politische Extremisten <strong>auf</strong>gefallen<br />

waren. Für sie existiert sogar ein offizieller<br />

Begriff: „gewalt- und erlebnisorientierte<br />

Jugendliche“. Das klingt ziemlich<br />

abstrakt. Ein Ermittler, der sich mit dieser<br />

Klientel auskennt, sagt es deutlicher:<br />

„Das sind Feierabend-Krawallos, die unter<br />

der Woche Bausparverträge in der<br />

Provinz verk<strong>auf</strong>en.“<br />

Michael Neumann, 43 Jahre alt, ist<br />

Hamburger Innensenator. Er war Zeitsoldat<br />

und hat bei der Bundeswehr studiert.<br />

Neumann pflegt bei aller Freundlichkeit<br />

ein militärisch-forsches Auftreten, das<br />

Gespräch in seinem Amtszimmer eröffnet<br />

der Sozialdemokrat mit der Anekdote,<br />

soeben habe er sich im Internet<br />

die Domainadresse www.roter-sheriff.<br />

de reserviert. Diesen Beinamen hat er<br />

sich durch sein Law-and-Order-Image<br />

verdient, jetzt kokettiert er ein bisschen<br />

„Da war eine<br />

Wut <strong>auf</strong><br />

den Staat zu<br />

spüren, die uns<br />

Polizisten als<br />

Ersatzziel mit<br />

voller Wucht<br />

getroffen hat“<br />

damit. Er gibt den Unnachgiebigen. Ob<br />

Neumann nach dem Exzess vom 21. Dezember<br />

im Dialog mit den Autonomen<br />

von der „Roten Flora“ stehe? „Man kann<br />

von mir als Innensenator nicht erwarten,<br />

dass ich mich mit Leuten an einen Tisch<br />

setze, die der Gewalt das Wort reden und<br />

Straftaten begehen.“<br />

Die Hamburger SPD-Regierung<br />

steckt wegen der „Roten Flora“ in einem<br />

Dilemma. Einerseits weiß sie, dass<br />

die Autonomen besonders in den linksliberalen<br />

Wählerschichten der Stadt durchaus<br />

Sympathisanten haben. Andererseits<br />

ging der SPD im Jahr 2001 auch deshalb<br />

die Macht verloren, weil sie in Fragen der<br />

inneren Sicherheit die Zügel hatte schleifen<br />

lassen.<br />

Und dem Innensenator ist natürlich<br />

klar, dass es bei dem Konflikt mit<br />

den „Floristen“ um weit mehr geht als<br />

um eine kommunalpolitische Angelegenheit.<br />

Nämlich um den <strong>Recht</strong>sstaat.<br />

Um die Frage, ob sich die Bürgerschaft<br />

von gewaltbereiten Demonstranten unter<br />

Druck setzen lassen darf. Neumann<br />

findet, das darf nicht sein. Er sagt: „Ich<br />

erlebe immer öfter, dass es Menschen<br />

gibt, die die kulturelle Errungenschaft<br />

des gesellschaftlichen Gewaltmonopols<br />

überhaupt nicht mehr begreifen. Das<br />

gilt nicht nur für politische Extremisten,<br />

sondern zum Beispiel auch für Teile<br />

der Fußballfan-Szene – eigentlich ganz<br />

normale Leute.“<br />

Ob sich die Autonomen von solchen<br />

Bekenntnissen beeindrucken lassen, ist<br />

die andere Frage. Sie haben am 21. Dezember<br />

die Muskeln spielen lassen und<br />

ihr Mobilisierungspotenzial unter Beweis<br />

gestellt. Dass die linksextreme<br />

Szene dabei von ideologiefernen Jugendlichen<br />

unterstützt wurde, für die<br />

das Steinewerfen <strong>auf</strong> Polizisten ein adrenalinsteigerndes<br />

Freizeitvergnügen ist,<br />

dürfte sie kaum gestört haben. Und dass<br />

die Hansestadt die „Rote Flora“ jetzt sogar<br />

von einem Immobilienunternehmer<br />

zurückk<strong>auf</strong>en will, dem sie das Gebäude<br />

2001 zu einem Spottpreis überlassen<br />

hatte, können die Autonomen durchaus<br />

als Erfolg verbuchen. Immerhin käme<br />

der Rückk<strong>auf</strong> einem Bestandsschutz für<br />

das heruntergekommene Zentrum gleich.<br />

Da soll noch einer sagen, dass sich Gewalt<br />

nicht lohnt.<br />

Anfang Februar, im großen Sitzungssaal<br />

des Hamburger Polizeipräsidiums.<br />

An die 200 Beamte haben sich versammelt,<br />

um noch einmal über die Brutalität<br />

der Dezember-Demo zu diskutieren; Innensenator<br />

Neumann ist ebenfalls anwesend.<br />

Einige Polizisten, die meisten kaum<br />

älter als Mitte zwanzig, berichten, was<br />

sie an diesem Tag erlebt haben. Von einer<br />

„verheerenden Zerstörungswut“ ist<br />

die Rede. „So eine Gewaltbereitschaft<br />

unter den Demonstranten habe ich noch<br />

nie erlebt“, berichtet einer. Der aus Autonomen<br />

bestehende „schwarze Block“<br />

habe sich ersichtlich austoben wollen.<br />

„Da war eine Wut <strong>auf</strong> den Staat zu spüren,<br />

die uns als erklärtes Ersatzziel mit<br />

voller Wucht getroffen hat.“<br />

Auch der Kriminologe Christian<br />

Pfeiffer aus Hannover ist angereist, sein<br />

Institut hat eine umfangreiche Studie<br />

über Gewalt gegen Polizisten erarbeitet.<br />

Demnach stieg die Zahl der Übergriffe<br />

allein zwischen den Jahren 2005<br />

und 2009 um 82 Prozent. Und es sei nicht<br />

davon auszugehen, dass sich an diesem<br />

Trend bis heute etwas geändert habe, sagt<br />

Pfeiffer. Die Polizisten applaudieren, sie<br />

fühlen sich verstanden. Oft passiert ihnen<br />

das nicht.<br />

Man würde ja gern einmal mit den<br />

Autonomen über ihr Verhältnis zur Gewalt<br />

reden. Aber weil diese Gruppen mit<br />

der Presse grundsätzlich nicht sprechen,<br />

ist das eben schwierig. Auch der Anwalt<br />

der „Floristen“ beantwortet keine E-<br />

Mails. Stattdessen pflegt die Szene einen<br />

regen Austausch im Internet – und das<br />

Thema Militanz spielt dort eine große<br />

Rolle. Ein Manifest mit dem Titel „Bau<br />

19<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


TITEL<br />

<strong>Kein</strong> <strong>Recht</strong> <strong>auf</strong> <strong>Randale</strong><br />

BERLIN 21/12/2012 Der Oranienplatz in<br />

Kreuzberg dient seither als Flüchtlingscamp<br />

20<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


TITEL<br />

<strong>Kein</strong> <strong>Recht</strong> <strong>auf</strong> <strong>Randale</strong><br />

was!“, erschienen im Jahr 2010, offenbart<br />

eine recht unverstellte Haltung zur<br />

Gewalt: „Permanentes Angreifen ist eine<br />

wichtige Sache, um unsere Gegner_innen<br />

klar zu benennen, zu treffen, und auch<br />

zu zeigen, dass es Möglichkeiten der Verwundbarkeit<br />

gibt. Es geht auch darum,<br />

Wut freizusetzen.“ Der „Militanzanstieg“<br />

wird zwar als „Grund zur Freude“ gefeiert,<br />

aber was Gewalt gegen Personen<br />

angeht, herrscht eine gewisse Zurückhaltung.<br />

Doch nach den Hamburger Ausschreitungen<br />

vom Dezember wird auch<br />

da der Ton rauer: „Irgendwann werden<br />

wir schießen müssen“, schrieb ein Diskutant<br />

in seinem Beitrag für das linksextreme<br />

„Indymedia“-Portal.<br />

Simone Buchholz lebt seit vielen Jahren<br />

in St. Pauli. Die Krimiautorin ist Mutter<br />

eines fünfjährigen Sohnes und steht<br />

politisch eher links. Gegen die „Rote<br />

Flora“ in ihrer Nachbarschaft hatte sie<br />

nie etwas einzuwenden, im Gegenteil.<br />

Dann kam der 21. Dezember, als „die Autonomen<br />

unser Viertel zu Klump gehauen<br />

haben“. Bevor es mit den Krawallen losging,<br />

war sie noch im Kindertheater. Auf<br />

einmal tauchten die ersten Demonstranten<br />

in ihrer Straße <strong>auf</strong>, „martialisch und<br />

böse“. Es folgte die Polizei, nach dem<br />

Eindruck von Simone Buchholz nicht<br />

minder martialisch. Wenig später spielten<br />

sich vor ihrer Haustür bürgerkriegsähnliche<br />

Szenen ab – „erklären Sie das<br />

mal einem kleinen Kind!“ Anfang Januar<br />

hat sie zwei junge Autonome angesprochen,<br />

die gerade an ihre Hauswand<br />

pinkelten. „Warum tut ihr uns das an?“,<br />

wollte sie von ihnen wissen. Deren Antwort:<br />

„Damit deine Kinder später frei<br />

sein können.“<br />

BERLIN<br />

Die Gegend rund um den Oranienplatz<br />

in Berlin-Kreuzberg ist eher bürgerlich<br />

geprägt: Gründerzeithäuser, Cafés, Restaurants,<br />

hippe Läden, demnächst soll<br />

dort ein neues Hotel entstehen – alle Zutaten<br />

zur Gentrifizierung sind vorhanden.<br />

Nur der Platz selbst fällt aus dem<br />

Rahmen. Seit anderthalb Jahren wird er<br />

von Lampedusa-Flüchtlingen besetzt gehalten,<br />

die dort in zwei Dutzend Zelten,<br />

Holzbuden oder Bretterverschlägen ausharren<br />

und gegen ihre Abschiebung protestieren.<br />

Es ist kein Geheimnis, dass sie<br />

dabei von der linksautonomen Kreuzberger<br />

Szene unterstützt werden. Und genau<br />

damit wird die Sache zu einem Politikum,<br />

das mit der Flüchtlingsproblematik<br />

KÖLN 31/03/2011 Jugendliche protestieren im Stadtteil Kalk gegen die geplante<br />

Räumung eines besetzten Hauses, das sie als „Autonomes Kulturzentrum“ nutzen<br />

nur noch wenig zu tun hat. Dafür umso<br />

mehr mit der Frage, wer in dem Kiez das<br />

Sagen hat.<br />

In der Bezirksverordnetenversammlung<br />

von Friedrichshain-Kreuzberg sind<br />

die Grünen mit Abstand stärkste Partei,<br />

mit Monika Herrmann stellen sie auch<br />

die Bezirksbürgermeisterin. Die 49-Jährige<br />

ist erst seit kurzem im Amt, aber<br />

die Kreuzberger Verhältnisse kennt<br />

sie genau: eine über Jahre gewachsene<br />

Melange aus Migranten, linksliberaler<br />

Boheme, zugezogenen Besserverdienern,<br />

den Resten kleinbürgerlicher Milieus<br />

– und linksradikalen Gruppierungen,<br />

die jedes Jahr zur Demo am 1. Mai<br />

Flagge zeigen, Krawalle inklusive. Die<br />

Autonomen gehören hier gewissermaßen<br />

zum Lokalkolorit, und Kreuzbergs<br />

Grüne – innerhalb der Partei ohnehin<br />

am linken Rand stehend – betreiben dieser<br />

Szene gegenüber eine konsequente<br />

Appeasement-Politik.<br />

Von der Bezirksregierung wird die<br />

Besetzung des Oranienplatzes geduldet,<br />

Anwohnerbeschwerden und desolaten<br />

hygienischen Zuständen zum Trotz.<br />

Als im November ein Ausweichquartier<br />

für die campierenden Flüchtlinge gefunden<br />

wurde, war der Platz über Nacht<br />

von neuen Flüchtlingen belagert; in der<br />

Stadtverwaltung bestehen wenig Zweifel<br />

daran, dass dieser Nachzug maßgeblich<br />

von Autonomen organisiert wurde,<br />

um die Freifläche an der Oranienstraße<br />

als symbolischen Ort zu etablieren. Monika<br />

Herrmann nahm auch dies wohlwollend<br />

hin.<br />

Die Besetzung einer nahe gelegenen<br />

ehemaligen Schule wird von der Bezirksbürgermeisterin<br />

ebenfalls geduldet. Das<br />

leer stehende Gebäude war ursprünglich<br />

für Sozial- und Kulturprojekte vorgesehen,<br />

seit Herbst 2012 leben dort außer<br />

Flüchtlingen zunehmend auch Roma-Familien<br />

und Obdachlose. Die Kriminalität<br />

rund um die Schule hat zugenommen,<br />

Messerstechereien und Drogenhandel<br />

sind aktenkundig; die Polizei musste<br />

wegen mehrerer Fälle von Vergewaltigung<br />

ermitteln.<br />

Inzwischen finanziert der Bezirk einen<br />

privaten Sicherheitsdienst, die Kosten<br />

wegen der Besetzung gehen in die<br />

Hunderttausende. Unlängst wurde sogar<br />

ein Baugerüst errichtet, um Sozialarbeiter<br />

vor aus den Fenstern geworfenen<br />

Fotos: Laurin Schmid/Picture Alliance/dpa (Seiten 20 bis 21), Oliver Berg/Picture Alliance/dpa<br />

22<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Gegenständen zu schützen. Aus Sicht der<br />

Polizei bedeutet die besetzte Schule eine<br />

„erhöhte Gefährdungslage“, Einsätze<br />

könnten nur mit großen Mannschaften<br />

erfolgen. Sobald Beamte dort <strong>auf</strong>tauchten,<br />

sei wenige Minuten später ein Aufgebot<br />

von linksautonomen Unterstützern<br />

am Ort. Die Drohkulisse zeigt Wirkung.<br />

An einem Dienstagnachmittag im Februar<br />

sammelt ein Mittdreißiger im Hof<br />

der besetzten Schule den Müll zusammen.<br />

Für den nächsten Tag seien Hygienekontrollen<br />

angekündigt, und man<br />

wolle keinen Vorwand zur Räumung liefern,<br />

sagt er. Der Mann trägt schwarze<br />

Kleidung und eine Hipster-Brille, er bezeichnet<br />

sich selbst als „Unterstützer“.<br />

Ob es stimme, dass Nachbarn sich wegen<br />

des Lärms und des Drecks beschwert<br />

hätten? „Schon möglich.“ Ob die Autonomen<br />

etwas mit der besetzten Schule<br />

zu tun hätten? „Es gibt keine Autonomen.“<br />

Wie bitte? „Weil man in Deutschland<br />

nicht autonom leben kann, gibt es<br />

auch keine Autonomen.“ Und was ist mit<br />

den „schwarzen Blocks“ bei Demonstrationen?<br />

„Das sind militante Linke.“<br />

Feste Strukturen, so viel macht<br />

schon diese Begegnung deutlich, sind im<br />

linksradikalen Lager verpönt. Laut Verfassungsschutz<br />

zeichnen sich die Autonomen<br />

durch Gewaltbereitschaft sowie eine<br />

„Organisations- und Hierarchiefeindlichkeit“<br />

aus. Aber wenn es dr<strong>auf</strong> ankommt,<br />

ist mit ihrer Organisationskraft allemal<br />

zu rechnen. Das wissen auch die Kreuzberger<br />

Grünen.<br />

„Je länger wir<br />

warten, desto<br />

mehr glauben<br />

die Autonomen,<br />

es sei ihr Platz,<br />

den sie verteidigen<br />

müssen“<br />

Kurt Wansner, Jahrgang 1947, verkörpert<br />

das Gegenmodell zur linken<br />

Laisser-faire-Bourgeoisie. Der kleine,<br />

drahtige Mann ist gelernter Maurer und<br />

Kreisvorsitzender der CDU in Friedrichshain-Kreuzberg.<br />

Die Bezirksbürgermeisterin<br />

ist seine erklärte Gegnerin, vor einigen<br />

Wochen hat er Anzeige gegen sie<br />

erstattet. Monika Herrmann habe sich<br />

der Untreue strafbar gemacht, glaubt<br />

Wansner, weil sie den Besetzern die im<br />

öffentlichen Eigentum befindliche Schule<br />

kostenlos zur Verfügung gestellt habe.<br />

„Für die Linksextremen ist unser Bezirk<br />

ein rechtsfreier Raum, in dem sie meinen,<br />

machen zu können, was sie wollen.“<br />

Auch der Oranienplatz hätte sofort<br />

geräumt werden müssen: „Jetzt ist er<br />

für die Autonomen zum Prestigeobjekt<br />

geworden. Und je länger wir warten,<br />

desto mehr glauben sie, es sei ihr Platz,<br />

den sie verteidigen müssen.“ Wansner behauptet,<br />

es gebe „massenhaft Beschwerden“<br />

von Anwohnern und umliegenden<br />

Ladenbesitzern. „Aber es traut sich keiner,<br />

das auch öffentlich zu sagen, weil sie<br />

Angriffe durch die Autonomen fürchten.“<br />

Sein eigenes Haus wurde vor einem Dreivierteljahr<br />

mit Farbbeuteln beworfen, in<br />

einem Bekennerschreiben hieß es, das<br />

Gebäude sei „markiert“ worden. „Wie<br />

im Dritten Reich“, sagt Wansner.<br />

Die linksradikale Szene aus Kreuzberg-Friedrichshain<br />

scheint ziemlich entschlossen,<br />

bei einer Räumung des Platzes<br />

oder der Schule den Kriegszustand<br />

auszurufen. „Räumung des Camps am<br />

Oranienplatz zum Desaster machen“,<br />

lautet ein Aufruf <strong>auf</strong> „Indymedia“, der<br />

einschlägigen Kommunikationsplattform<br />

im Internet.<br />

„Es würde im Fall einer Räumung mit<br />

Sicherheit zu Gegenreaktionen kommen.<br />

Aber die Polizei hat in ähnlichen Situationen<br />

bewiesen, dass sie damit umgehen<br />

kann. Hamburger Verhältnisse befürchte<br />

ich nicht“, beschwichtigt der Berliner Innensenator<br />

Frank Henkel von der CDU.<br />

Allerdings hat die Berliner Polizei die zunehmende<br />

Gewaltbereitschaft der linksradikalen<br />

Szene in der Vergangenheit<br />

schon deutlich zu spüren bekommen:<br />

Im April wurde eine Polizeistation in<br />

Friedrichshain mit Brandsätzen beworfen;<br />

Anfang 2012 wurden Beamte bei<br />

einem Einsatz in einem besetzten Haus<br />

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TITEL<br />

<strong>Kein</strong> <strong>Recht</strong> <strong>auf</strong> <strong>Randale</strong><br />

HAMBURG 21/12/2013 Die Krawalle in der Hansestadt<br />

sind die schwersten seit 25 Jahren<br />

24<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


TITEL<br />

<strong>Kein</strong> <strong>Recht</strong> <strong>auf</strong> <strong>Randale</strong><br />

„VOM KNÖCHEL BIS ZUM GESÄSS<br />

WAR ALLES VERBRANNT“<br />

Wie ist es für einen Polizisten, ein Opfer des Krawalls zu werden?<br />

Hauptkommissar Olaf H., 51, aus Berlin hat es erlebt<br />

Die Sache mit der Kugelbombe, das war im<br />

Juni 2010, in Berlin, bei einer Großdemo<br />

gegen das Sparpaket der Regierung. Die<br />

Demo wurde von der Linken, Gewerkschaften<br />

und vielen anderen Gruppen organisiert, die<br />

meisten davon friedlich. Es waren zwar auch<br />

einige Hundert Leute aus dem sogenannten<br />

schwarzen, linksautonomen Block dabei,<br />

aber eigentlich wissen wir, wie die sich<br />

verhalten, und können uns dar<strong>auf</strong> einstellen.<br />

Ich war damals schon 30 Jahre bei der<br />

Bereitschaftspolizei, in den Achtzigern<br />

wurde mir bei einer Hausbesetzerdemo der<br />

Arm ausgekugelt, und seit 1987 war ich bei<br />

jedem 1. Mai dabei. Da kriegt man immer ein<br />

paar Schnittverletzungen oder Quetschwunden<br />

durch Steine oder Schläge ab. Das<br />

gehört dazu, man kann ja nicht immer wie<br />

ein Ritter rumrennen. Der aggressive<br />

schwarze Block damals in Berlin hat mich<br />

also nicht besonders nervös gemacht.<br />

An der Ecke Torstraße wurde es dann<br />

schlimmer, als wir an einem Balkon mit<br />

Deutschlandflagge vorbeikamen. Da flogen<br />

die ersten Böller, und der Einsatzleiter<br />

hat uns an den Aufzug geschickt, um die<br />

Autonomen Schulter an Schulter zu<br />

begleiten. Ein Lautsprecherwagen hat die<br />

Stimmung angeheizt, und plötzlich sah ich,<br />

wie weiter vorne mit Fahnenstangen und<br />

Holzlatten <strong>auf</strong> Kollegen eingeprügelt wurde,<br />

obwohl wir alle noch keine Helme<br />

<strong>auf</strong>hatten.<br />

Also habe ich mich mit meiner Gruppe<br />

an den Straßenrand zurückgezogen, um<br />

Helme <strong>auf</strong>zusetzen. Plötzlich sehe ich aus<br />

dem Augenwinkel, wie irgendetwas<br />

Qualmendes geflogen kommt. Das prallte<br />

erst von der Schulter einer Kollegin ab und<br />

fiel mir dann zwischen die Beine. Ich dachte<br />

noch: Schon wieder so eine Rauchbombe –<br />

und hab einfach nur die Luft angehalten.<br />

Dann gab es einen Schlag, und ich lag zehn<br />

Meter weiter hinten <strong>auf</strong> dem Asphalt.<br />

<strong>Kein</strong>e Ahnung, wie ich da hingekommen bin,<br />

es hatte mich einfach weggeschleudert.<br />

Ich hab mich wieder <strong>auf</strong>gerappelt und bin<br />

davongehumpelt. Die Beine taten etwas<br />

weh, aber vor lauter Adrenalin hab ich das<br />

kaum gespürt. Erst als ich meine Gruppe<br />

wieder gesammelt habe, merkte ich: Das<br />

brennt ganz schön an den Beinen. Dann sah<br />

ich, dass meine Hose zerfetzt und<br />

blutverschmiert war, obwohl unsere Anzüge<br />

extrem stabil und schnittfest sind.<br />

Ich bin trotzdem erst mal weitergel<strong>auf</strong>en<br />

und hab mich später entschuldigt, um mir<br />

kurz ein Pflaster zu holen. Als ich schließlich<br />

meine Hose <strong>auf</strong>gemacht habe, wurde mir<br />

übel: Die Wade war sieben Zentimeter weit<br />

<strong>auf</strong>gerissen und ungefähr genauso tief im<br />

Fleisch steckten Splitter. Vom Knöchel bis<br />

zum Gesäß war alles verbrannt und<br />

zer schnitten. Ich kam ins Krankenhaus und<br />

bin <strong>auf</strong> der Stelle operiert worden.<br />

Später erfuhr ich: Unter mir war eine<br />

sogenannte Kugelbombe hochgegangen,<br />

ein Feuerwerkskörper der höchsten<br />

Gefahrenstufe. Dem Auto hinter mir hat<br />

es Kotflügel und Motorhaube beschädigt,<br />

dahinter stand eine Frau mit Kind, nicht<br />

auszudenken, was hätte passieren können.<br />

Eine Kugelbombe <strong>auf</strong> Gesichtshöhe wäre<br />

tödlich gewesen.<br />

Nach vier Tagen im Krankenhaus wurde<br />

ich entlassen, zum Glück nur mit Narben<br />

und einem Knalltrauma <strong>auf</strong> dem rechten<br />

Ohr. Mein Sohn war damals fünf Jahre alt.<br />

Als ich nach zwei Monaten zum ersten<br />

Mal wieder arbeiten gegangen bin, hat er<br />

gefragt: „Tun die bösen Männer Papa heute<br />

wieder weh?“ Wegen dieser Geschichte<br />

hat mein Direktionsleiter mich sofort aus<br />

dem Schichtdienst herausgenommen und<br />

mir eine Stelle im Innendienst angeboten.<br />

Ich habe sie angenommen.<br />

Aufgezeichnet von CONSTANTIN MAGNIS<br />

Foto: Schaube/face to face (Seiten 24 bis 25), Gerrit Hahn<br />

26<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Foto: Andrej Dallmann (Autor)<br />

mit Eisenstangen traktiert; Mitte 2012<br />

kam es mitten in Kreuzberg zu einem<br />

Angriff <strong>auf</strong> einen Streifenwagen, bei dem<br />

ein brennendes bengalisches Feuer <strong>auf</strong><br />

dem Rücksitz landete. Im Juni vergangenen<br />

Jahres wurde ebenfalls in Kreuzberg<br />

ein Einsatzwagen mit einem Molotowcocktail<br />

attackiert, der eine Polizistin<br />

nur knapp verfehlte.<br />

„Es wundert mich, dass bei dieser Art<br />

von Taten noch niemand zu Tode gekommen<br />

ist“, sagt ein Mitarbeiter des Berliner<br />

Verfassungsschutzes. Die wachsennde<br />

Brutalität habe auch damit zu tun,<br />

dass es Linksautonomen immer schwerer<br />

falle, junge Leute mit einem gewissen<br />

Bildungsniveau zu rekrutieren: „Da<br />

mischen zunehmend gewöhnliche Hooligans<br />

mit.“<br />

„Wir können doch nicht zu einem Zustand<br />

kommen, wo Menschen, die besonders<br />

rabiat <strong>auf</strong>treten, gegenüber anderen<br />

bevorzugt werden“, empört sich auch der<br />

Berliner Innensenator mit Blick <strong>auf</strong> die<br />

Duldungsstarre der Kreuzberger Bezirksregierung.<br />

Allerdings hat Henkel bisher<br />

wenig daran ändern können. Um dort gegen<br />

die örtlichen Grünen durchzugreifen,<br />

bräuchte er zumindest die Einwilligung<br />

seiner sozialdemokratischen Koalitionspartner.<br />

Und die Wowereit-SPD ist derzeit<br />

mit allerlei Skandalen schon beschäftigt<br />

genug – Straßenschlachten sind so<br />

ziemlich das Letzte, was der Regierende<br />

Bürgermeister jetzt gebrauchen kann.<br />

Um Zeit zu gewinnen, wurde deshalb<br />

die Integrationssenatorin Dilek<br />

Kolat be<strong>auf</strong>tragt, wegen des Camps am<br />

Oranienplatz und der besetzten Schule<br />

zwischen den Beteiligten zu vermitteln.<br />

Viel ist bis jetzt noch nicht dabei herausgekommen.<br />

Kurt Wansner, der Kreuzberger<br />

CDU-Chef, ist ohnehin davon<br />

überzeugt, dass die Autonomen kein Interesse<br />

an einer Verhandlungslösung haben:<br />

„Ich fürchte, das läuft am Ende <strong>auf</strong><br />

einen gewaltsamen Konflikt hinaus.“<br />

KÖLN<br />

Auch in Köln lief es im Sommer des vergangenen<br />

Jahres <strong>auf</strong> einen gewaltsamen<br />

Konflikt hinaus. Mitte April 2010 hatten<br />

vornehmlich Jugendliche aus dem autonomen<br />

Spektrum die ehemalige Betriebskantine<br />

des Maschinenherstellers Klöckner-Humboldt-Deutz<br />

im Stadtteil Kalk<br />

besetzt und in ein Kulturzentrum verwandelt.<br />

Ein mit der örtlichen Sparkasse<br />

abgeschlossener Nutzungsvertrag wurde<br />

jedoch im Juni 2013 gekündigt, weil die<br />

Stadt das Gelände als Ausweichquartier<br />

wegen einer Schulsanierung benötigt.<br />

Die drohende Räumung des Zentrums<br />

brachte dessen Nutzer <strong>auf</strong> die Barrikaden.<br />

Mit allen Mitteln würde man<br />

das Gebäude verteidigen, lautete eine<br />

im Internet verbreitete Drohung. Dann<br />

wurde es ernst: Autonome beschädigten<br />

die Büros von Kölner SPD-Politikern, beschmierten<br />

deren Privathäuser und drohten<br />

unverhohlen mit Gewalt. Kölns Oberbürgermeister<br />

Jürgen Roters, SPD, sah<br />

sich gezwungen, Polizeischutz zu beantragen.<br />

In der Sache aber blieb seine Partei<br />

hart – gegen den Willen der Koalitionspartner<br />

von den Grünen.<br />

Auch Martin Börschel, SPD-Fraktionschef<br />

im Kölner Stadtrat, war vom autonomen<br />

Lager als Ziel militanter Aktionen<br />

auserkoren worden. In den Straßen<br />

rund um sein Haus hingen eines Morgens<br />

„Fahndungsplakate“, die den 41 Jahre alten<br />

Politiker als gesuchten Verbrecher<br />

stigmatisieren sollten. Im Internet gab es<br />

ebenfalls unmissverständliche Hinweise:<br />

Sei vorsichtig, wir wissen, wo du wohnst!<br />

Ihn selbst habe das nicht einmal sonderlich<br />

berührt, erzählt Börschel. „Eigentlich<br />

ist mir erst durch Reaktionen anderer<br />

bewusst geworden, dass hier ein Tabu<br />

gebrochen wurde.“<br />

Als die Autonomen dann auch noch<br />

in einem Brief öffentlich verkündeten, sie<br />

würden ihre Aktionen gegen die SPD erst<br />

einstellen, wenn die Stadt <strong>auf</strong> eine Räumung<br />

des Kulturzentrums verzichte, war<br />

das Maß endgültig voll. Börschel: „Ich<br />

habe diesen Brief nicht beantwortet. Sondern<br />

stattdessen in einer öffentlichen<br />

Ratssitzung deutlich gemacht: Wenn<br />

dieser Erpressungsversuch nicht bedingungslos<br />

zurückgenommen wird, wird<br />

die Räumung stattfinden. Das Gewaltmonopol<br />

liegt einzig und allein beim Staat.“<br />

Leicht dürfte es den Kölner Autonomen<br />

nicht gefallen sein, dieses Ultimatum<br />

zu schlucken. Nach vielen internen<br />

Diskussionen haben sie dann aber doch<br />

öffentlich erklärt, <strong>auf</strong> Gewalt zu verzichten<br />

– und so den Weg für eine Verhandlungslösung<br />

mit der Stadt frei gemacht.<br />

Mit einem leer stehenden, ehemaligen<br />

Verwaltungsgebäude ist inzwischen sogar<br />

ein Ausweichquartier gefunden worden:<br />

Bis Ende 2014 darf das autonome Kulturzentrum<br />

dort in relativ zentraler Lage am<br />

Eifelwall Quartier beziehen. Danach will<br />

die Stadt für vier weitere Jahre eine andere<br />

Liegenschaft zur Verfügung stellen.<br />

Aber auch das nur vorübergehend, damit<br />

sich in Köln erst gar kein rechtsfreier<br />

Raum <strong>auf</strong> Dauer etablieren kann. Berlin<br />

und Hamburg lassen grüßen.<br />

ALEXANDER MARGUIER<br />

ist stellvertretender Chefredakteur<br />

von <strong>Cicero</strong>. ​Er ist<br />

in Berlin auch schon bei der<br />

1.-Mai-Demo mitgel<strong>auf</strong>en<br />

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GÜTERSLOHER<br />

VERLAGSHAUS<br />

*empf. Verk<strong>auf</strong>spreis


TITEL<br />

<strong>Kein</strong> <strong>Recht</strong> <strong>auf</strong> <strong>Randale</strong><br />

„ AGGRESSIV OHNE ANLASS “<br />

Oliver Malchow, Chef der Gewerkschaft der Polizei, über steigende<br />

Gewalt gegen seine Kollegen und No-go-Areas in Deutschland<br />

Herr Malchow, bei den Hamburger Krawallen<br />

im Dezember wegen der Roten<br />

Flora wurden 120 Polizisten verletzt.<br />

Wie konnte es überhaupt so weit<br />

kommen?<br />

Oliver Malchow: Da hatte sich ja in<br />

Hamburg die Antifa-Szene aus ganz Europa<br />

versammelt. Denen ging es nicht<br />

um eine Demonstration, sondern ganz<br />

gezielt um Ausschreitungen, mit denen<br />

sie beweisen wollten, dass sie noch in<br />

der Lage sind, den öffentlichen Raum<br />

zu beherrschen.<br />

Hätte diese Situation nicht trotzdem<br />

deeskaliert werden können?<br />

Das wäre nur gegangen, wenn man<br />

vorher Kontakt zu diesen Gruppen hätte<br />

<strong>auf</strong>bauen können. Bei Demonstrationen<br />

gibt es ja die Verpflichtung der Polizei,<br />

im Vorfeld sogenannte Kooperationsgespräche<br />

mit allen Beteiligten zu führen.<br />

Aber die Szene hatte überhaupt kein Interesse<br />

an solchen Gesprächen.<br />

Das heißt, der Ausbruch von Gewalt war<br />

unvermeidbar?<br />

Das hängt davon ab, ob es in Hamburg<br />

politisch vermeidbar gewesen wäre,<br />

dass zur gleichen Zeit der Konflikt um<br />

drei Brennpunkte entflammt. Es ging<br />

ja nicht nur um die Rote Flora, sondern<br />

auch um die Räumung der b<strong>auf</strong>älligen<br />

Esso-Häuser und um Flüchtlinge. Für<br />

die linke Szene sind das alles wichtige<br />

Themen.<br />

Wenn zum Beispiel ein Haus geräumt<br />

werden soll, das schon seit vielen Jahren<br />

besetzt ist, glauben die Besetzer natürlich,<br />

im <strong>Recht</strong> zu sein. Das verschärft<br />

am Ende den Konflikt und steigert die<br />

Gewaltbereitschaft.<br />

Mehrere Erhebungen kommen zu dem<br />

Ergebnis, dass die Gewaltbereitschaft<br />

gegenüber Polizisten in den vergangenen<br />

Jahren gestiegen ist. Wie macht<br />

sich das bemerkbar?<br />

Daran, dass praktisch alle Polizistinnen<br />

und Polizisten im Dienst schon Opfer<br />

von Gewalt geworden sind. Einschüchterungsversuche<br />

und Anpöbelungen gehören<br />

ohnehin zum polizeilichen Alltag.<br />

Kollegen, die schon länger im Dienst sind,<br />

stellen fest, dass ihnen immer öfter und<br />

ohne konkreten Anlass mit Aggressivität<br />

begegnet wird. Polizisten werden auch<br />

deutlich häufiger als früher getreten, geschlagen<br />

und mit Waffen bedroht.<br />

Gibt es Milieus, die besonders aggressiv<br />

<strong>auf</strong> Polizeibeamte reagieren?<br />

Das sind naturgemäß politische Extremisten<br />

von links oder von rechts. In<br />

Stadtteilen mit hohem Migrantenanteil<br />

kann es auch vorkommen, dass plötzlich<br />

die Straße voll von aggressiven Menschen<br />

ist, nur weil Beamte etwa eine Personenkontrolle<br />

bei zwei Jugendlichen durchführen<br />

müssen. Unabhängig von ihrer<br />

Herkunft gilt zudem, dass Jugendliche<br />

zunehmend aggressiv <strong>auf</strong>treten.<br />

Existieren in Deutschland No-go-Areas<br />

für Polizisten?<br />

Es gibt zumindest Wohnbereiche, in<br />

denen die Polizei nur noch in Gruppenstärke<br />

fährt, weil es für einen Streifenwagen<br />

allein zu gefährlich wäre. Da haben<br />

sich Strukturen entwickelt, wo zumindest<br />

ein Teil der Bewohner das staatliche<br />

Gewaltmonopol nicht akzeptiert.<br />

Beispiel?<br />

Das gilt natürlich für viele der hinreichend<br />

bekannten Problemgebiete in<br />

den Großstädten. Aber auch für manche<br />

ländlichen Gegenden etwa Mecklenburg-<br />

Vorpommerns, wo <strong>Recht</strong>sextremisten in<br />

die Lücken stoßen, die staatliche oder gesellschaftliche<br />

Institutionen hinterlassen<br />

haben.<br />

Wenn Polizisten in manchen Stadtvierteln<br />

nur noch in Gruppenstärke <strong>auf</strong>treten<br />

können, heißt das doch auch, dass<br />

diese Beamte an anderer Stelle fehlen.<br />

Natürlich. Diese Leute fehlen dann<br />

in der allgemeinen Verbrechensbekämpfung<br />

oder in der Ermittlungsarbeit beispielsweise<br />

nach Wohnungseinbrüchen.<br />

Foto: Reiner Zensen/Caro Fotoagentur<br />

Die Polizisten waren demnach Leidtragende<br />

einer Politik, die das Konfliktpotenzial<br />

nicht erkannt hat?<br />

Das ist ja häufig der Fall. Aber es<br />

ist nun einmal Aufgabe der Polizei, für<br />

<strong>Recht</strong> und Ordnung zu sorgen, wenn<br />

man <strong>auf</strong> politischem Weg nicht weiterkommt.<br />

Allerdings wird für meine Kolleginnen<br />

und Kollegen eine rechtswidrige<br />

Situation umso problematischer, je länger<br />

sie von der Politik geduldet wurde.<br />

Zur Person<br />

Oliver Malchow, 50, trat mit<br />

20 Jahren in den Polizeidienst ein.<br />

Seit Mai 2013 ist er Vorsitzender<br />

der Gewerkschaft der Polizei<br />

Wie viele Ihrer Kollegen werden eigentlich<br />

durch die Absicherung von Sportereignissen<br />

gebunden?<br />

Eine sehr große Zahl. Statistisch<br />

ist es so, dass ein Drittel aller Bereitschaftspolizisten<br />

in Deutschland allein<br />

für Fußballeinsätze benötigt wird. Das<br />

entspricht nahezu 1,3 Millionen Arbeitsstunden<br />

im Jahr.<br />

Das Gespräch führte<br />

ALEXANDER MARGUIER<br />

28<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


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TITEL<br />

<strong>Kein</strong> <strong>Recht</strong> <strong>auf</strong> <strong>Randale</strong><br />

PACK<br />

Die Schläger mit den schwarzen Kapuzen halten sich für links.<br />

Dabei ist ihr Krawall gar nicht politisch – und wirkt darum politisch<br />

Von FRANK A. MEYER<br />

Wofür halten sich die randalierenden<br />

Demonstranten von<br />

Hamburg oder Berlin oder<br />

Wien oder Zürich?<br />

Sie halten sich für Linke. Sie bestehen<br />

dar<strong>auf</strong>, dass sie Widerstand leisten:<br />

gegen die Zerstörung eines Kulturzentrums;<br />

gegen die Räumung eines Flüchtlingscamps;<br />

gegen die Wiener Ballnacht<br />

von <strong>Recht</strong>sradikalen; gegen die Macht<br />

der Zürcher Bahnhofstraße.<br />

Was kann ehrenwerter sein als solcher<br />

Widerstand, denken sich die Widerständler<br />

– und zählen dar<strong>auf</strong>, dass sie als<br />

ehrenwert anerkannt werden im linken<br />

Bürgertum, wor<strong>auf</strong> dieses bereitwillig<br />

hereinfällt, geht es doch stets irgendwie<br />

ums Große, Ganze, Gute.<br />

Eine militante Macht der Straße hat<br />

sich da etabliert, schwarz uniformiert:<br />

schwarze Kapuzen über schwarzen Jacken.<br />

Schwarze Helme, schwarze Gesichtstücher.<br />

Schwarze Vermummung!<br />

Rote Gesinnung?<br />

Der Aufzug soll Furcht erregen. Erst<br />

fliegen Fäuste, dann Steine, schließlich<br />

Brandsätze. Scheiben in Scherben, Fahrzeuge<br />

in Flammen – Fanal „des kommenden<br />

Aufstands“, wie der Titel eines<br />

schwarzen Buches lautet, verfasst von einem<br />

„unsichtbaren Komitee“, das 2007<br />

Dem schwarzen<br />

Block sind die<br />

Polizisten<br />

Hassobjekt: der<br />

Mensch als<br />

Objekt, <strong>auf</strong> das<br />

man einschlägt<br />

das baldige Ende der kapitalistischen<br />

Ordnung prophezeite.<br />

Die Avantgarde der Revolte marschiert<br />

mit Vorliebe und Stolz unter dem<br />

Namen „schwarzer Block“. In Wien orchestrierte<br />

eine international kampferfahrene<br />

Genossin den schwarzen Block,<br />

getarnt durch das Pseudonym „schwarze<br />

Katze“. Ihr sarkastisches Credo: „Welches<br />

autoritäre System wurde bisher<br />

weggekuschelt?“<br />

In Zürich befand der Polizeivorsteher<br />

Richard Wolff, in der Stadtregierung<br />

Vertreter der linksalternativen Szene, der<br />

schwarze Block sei „eine interessante<br />

Ergänzung“ des politischen Lebens. Er<br />

wurde im Februar wiedergewählt.<br />

Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf<br />

Scholz, ein Sozialdemokrat, sieht’s genau<br />

umgekehrt: „Ich bin liberal, aber nicht<br />

doof“ – und befahl die Polizei in drei<br />

Stadtteile, die er als „Gefahrengebiete“<br />

systematisch kontrollieren ließ. Die Süddeutsche<br />

Zeitung ernannte den Sozialdemokraten<br />

zum „roten Sheriff“.<br />

Roter Sheriff gegen rote Randalierer.<br />

Das ist unschön.<br />

Wie rot sind eigentlich die Krawallanten,<br />

die von weither in die Städte strömen,<br />

wenn wieder mal die gerechte Sache ruft?<br />

Ihre Uniformfarbe ist Schwarz. Wie<br />

die Uniform von Mussolinis „ Camicie<br />

nere“. Oder die der „Milice française“<br />

des Nazi-Kollaborateurs Pétain im besetzten<br />

Frankreich.<br />

Ja, der Faschismus hat vorgemacht,<br />

wie das geht: Gewalt als Manifestation<br />

politischer Macht. Tief sitzen die Bilder<br />

im kollektiven Gedächtnis der europäischen<br />

Demokratien.<br />

Warum also Schwarz für die roten<br />

Schlägerkolonnen? Könnte es sein, dass<br />

da – les extrêmes se touchent – Verwandtschaft<br />

vorliegt?<br />

Kurt Schumacher, der erste SPD-<br />

Vorsitzende nach der Nazizeit, prägte<br />

den Begriff vom „roten Faschismus“;<br />

Jürgen Habermas, Meisterdenker der<br />

deutschen Demokratie, sprach von<br />

„Linksfaschismus“.<br />

Könnte es sein, dass den gewaltverliebten<br />

Kohorten nur die schwarz-weißroten<br />

Fahnen und die kahl geschorenen<br />

Schädel der Neonazis fehlen, damit wir<br />

sie erkennen?<br />

Wem’s dann immer noch nicht dämmert,<br />

der sollte den Blick <strong>auf</strong> die Opfer<br />

der Schlägertrupps richten, die Polizisten!<br />

Was sind Polizisten? „Bullen“ oder<br />

„Schweine“, wie es ihnen aus den marodierenden<br />

Reihen entgegenschallt?<br />

Polizisten sind Arbeitnehmer, häufig<br />

Gewerkschafter, nicht selten Sozialdemokraten,<br />

also Bürger mit linken Anliegen.<br />

Den schwarzen Rotten sind sie der Feind,<br />

das Hassobjekt – genau: Objekt.<br />

Der Mensch als Objekt – entmenschlicht,<br />

damit man umso gewissenloser<br />

<strong>auf</strong> ihn einschlagen kann. Was ist an einer<br />

solchen Haltung noch antifaschistisch<br />

– ein Label, mit dem man sich in<br />

diesen Kreisen ja ganz besonders gerne<br />

schmückt?<br />

<strong>Recht</strong>es Pack? Linkes Pack? Einerlei.<br />

Denn letztlich ist dieses Pack gar nicht<br />

politisch, obgleich es sich selbst politisch<br />

wähnt. Indem die Schlägertrupps den Unterschied<br />

zwischen links und rechts im<br />

Nebel der Gewalt verschwinden lassen,<br />

wirken sie destruktiv – weit über den materiellen<br />

Schaden hinaus.<br />

Und genau das ist die Gefahr: Immer<br />

wieder in der Geschichte verlieh der Gewaltrausch<br />

autoritären politischen Kräften<br />

Vorwand und Schubkraft – zur Zerstörung<br />

der Demokratie.<br />

FRANK A. MEYER<br />

ist Journalist und Gastgeber<br />

der politischen Sendung<br />

„Vis-à-vis“ in 3sat<br />

Foto: Privat<br />

30<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

„ Wir haben in einem<br />

riesigen Tempo Leute<br />

gesammelt. Darunter<br />

sind Leute, die<br />

nicht pragmatisch<br />

zusammenarbeiten,<br />

die einander nicht<br />

riechen können – und<br />

das leben sie aus “<br />

Alexander Gauland, stellvertretender Sprecher der Alternative<br />

für Deutschland, Report <strong>auf</strong> Seite 38<br />

31<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

EIN JURIST ÜBERZIEHT<br />

Nach den exzessiven Wulff-Ermittlungen sollte Jörg Fröhlich die Staatsanwaltschaft<br />

Hannover beruhigen. Doch dann kam der Fall Edathy <strong>auf</strong> den Tisch des Chefermittlers<br />

Von ANDREAS FÖRSTER<br />

Jörg Fröhlich ist nicht nur Staatsanwalt,<br />

sondern auch Marathonläufer.<br />

Redner benutzen diesen Umstand<br />

gern dafür, Elogen <strong>auf</strong> den 53 Jahre alten<br />

Juristen einen launigen Anstrich zu<br />

verleihen. So war es auch Ende Oktober<br />

vergangenen Jahres, als ihn die niedersächsische<br />

Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz<br />

in sein neues Amt als<br />

Leiter der Hannoveraner Staatsanwaltschaft<br />

einführte. Die Grünen-Politikerin<br />

hob Fröhlichs Verdienste als Richter<br />

und Staatsanwalt hervor, die ihn aus<br />

ihrer Sicht für die neue Aufgabe in der<br />

Landeshauptstadt prädestinieren. Dann<br />

kam der unvermeidliche Vergleich: „Sicher<br />

werden Sie als Marathonläufer ausreichend<br />

Ausdauervermögen mitbringen,<br />

um auch diesen neuen Weg vorbildlich zu<br />

beschreiten“, sagte die Ministerin.<br />

Wohl keiner der damals Anwesenden<br />

ahnte, dass schon eine Woche später<br />

jene dünne Akte <strong>auf</strong> Fröhlichs Schreibtisch<br />

landen sollte, die sich nun als Karrierestopper<br />

für den Aufsteiger entpuppen<br />

könnte. Es war ein Vermerk des Bundeskriminalamts<br />

über die Auswertung von<br />

insgesamt 31 Videos und Fotosets von<br />

unbekleideten Jungen, die der aus Niedersachsen<br />

stammende SPD-Bundestagsabgeordnete<br />

Sebastian Edathy Jahre zuvor<br />

bei einer kanadischen Firma bestellt<br />

hatte. Vier Monate später, am 6. Februar,<br />

eröffnete Fröhlich ein Ermittlungsverfahren<br />

gegen den bis dahin angesehenen<br />

Politiker und gab eine Woche später<br />

<strong>auf</strong> einer Pressekonferenz detailliert<br />

Auskunft über den Inhalt des Verfahrens<br />

mit dem Aktenzeichen 3714 Js 9585/14.<br />

Die Pressekonferenz hat Fröhlich<br />

nun selbst ein Aktenzeichen eingebracht.<br />

Edathys Berliner Anwalt Christian Noll<br />

reichte im Justizministerium eine Dienst<strong>auf</strong>sichtsbeschwerde<br />

seines Mandanten<br />

gegen den Chef der Staatsanwaltschaft<br />

ein. In dem elfseitigen Schreiben wird<br />

Fröhlich der Lüge und des <strong>Recht</strong>sbruchs<br />

geziehen. Das ist starker Tobak für einen<br />

bis dahin untadeligen Juristen.<br />

Der Vater von drei Kindern und passionierte<br />

Schlagzeuger hat in Münster<br />

Jura studiert. In den neunziger Jahren<br />

war er Richter am Amtsgericht Hannover,<br />

dann wurde er Staatsanwalt. Zwölf<br />

Jahre, bis 2012, war er bei der Generalstaatsanwaltschaft<br />

in Celle tätig, zuletzt<br />

als Sprecher und Vizechef der Behörde.<br />

In diesen Jahren wurde die Landespolitik<br />

<strong>auf</strong> den promovierten Juristen <strong>auf</strong>merksam.<br />

Zur Fußball-WM 2006 wählte<br />

ihn die Landesregierung als Koordinator<br />

in Sicherheitsfragen aus, er organisierte<br />

eine norddeutsche Sicherheitskonferenz<br />

und später die niedersächsischen Staatsanwaltstage.<br />

Nach einem Gastspiel an der<br />

Spitze der Staatsanwaltschaft in Verden<br />

übernahm er vor knapp fünf Monaten<br />

die Ermittlungsbehörde in Hannover, es<br />

ist die größte Niedersachsens.<br />

FRÖHLICH ERSCHIEN ALS der Richtige,<br />

um die Staatsanwaltschaft der Landeshauptstadt<br />

in ruhiges Fahrwasser zu lenken<br />

und ihr ein besseres Image zu verpassen.<br />

Die Behörde hatte sich zuvor viel<br />

Kritik wegen ihrer exzessiven Ermittlungen<br />

gegen den früheren Bundespräsidenten<br />

Christian Wulff eingehandelt. Dessen<br />

Anwälte hatten den Hannoveraner<br />

Staatsanwälten nicht ganz grundlos „Verfolgungswahn“<br />

vorgeworfen. Das mächtige<br />

graue Gebäude im Bahnhofsviertel<br />

wurde von den Medien als „Jagdbehörde“<br />

verspottet.<br />

Fröhlich sollte all das vergessen machen<br />

und sein Haus, wäre der Wulff-<br />

Prozess erst einmal vorbei, endlich aus<br />

den Negativ-Schlagzeilen holen. Dieses<br />

Ziel scheint ferner denn je, nachdem sich<br />

Fröhlich selbst in die Politaffäre Edathy<br />

hineinmanövriert hat. Zu allem Überfluss<br />

hat er nun auch noch die Dienst<strong>auf</strong>sichtsbeschwerde<br />

am Hals, die er nicht so<br />

einfach loswerden wird. Denn nicht nur<br />

Fachleute fragten sich nach dem Presse<strong>auf</strong>tritt,<br />

was den Mann bewog, sich als<br />

Ermittler in einem l<strong>auf</strong>enden Verfahren<br />

so weit aus dem Fenster zu lehnen.<br />

Selbstüberschätzung? Eitelkeit? Naivität?<br />

Es hätte gereicht, Ermittlungen gegen<br />

Edathy und die Durchsuchung von<br />

dessen Wohn- und Arbeitsräumen zu<br />

bestätigen. Fröhlich hätte sagen müssen,<br />

dass man bislang keine Belege für ein<br />

strafbares Verhalten des Beschuldigten<br />

habe und es die Unschuldsvermutung daher<br />

gebiete, den Persönlichkeitsrechten<br />

Edathys Vorrang vor dem Informationsinteresse<br />

der Öffentlichkeit einzuräumen.<br />

Nach fünf Minuten wäre die Pressekonferenz<br />

vorbei gewesen. Aber Fröhlich<br />

blieb eine Stunde länger und kostete den<br />

Auftritt vor den Kameras sichtlich aus.<br />

Er überzog. Er beschrieb, wo Edathy<br />

Fotos bestellt und wie er sie erhalten<br />

hatte, er unterstellte ihm konspiratives<br />

Verhalten und legte nahe, der Abgeordnete<br />

habe Computer und Festplatten beiseitegeschafft.<br />

Über solche Details muss<br />

ein Staatsanwalt in einer so frühen Phase<br />

der Ermittlungen, die noch nicht mal ein<br />

strafbares Verhalten des Beschuldigten<br />

zutage gefördert haben, schweigen.<br />

Fröhlichs Beteuerungen, dass seine<br />

Behörde sich der „hohen Verantwortung<br />

für den Schutz der Persönlichkeitsrechte<br />

von Herrn Edathy“ bewusst sei, klingen<br />

da wie Hohn. Der Marathonläufer Jörg<br />

Fröhlich wird mehr als Ausdauer benötigen,<br />

um diese Affäre zu überstehen.<br />

ANDREAS FÖRSTER ist freier Reporter in<br />

Berlin. Er beschäftigt sich vor allem mit<br />

Geheimdiensten, Polizei und Justiz<br />

Foto: Julian Stratenschulte/Picture Alliance/dpa<br />

32<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

IN DER MANEGE<br />

„Bei uns im Saarland ist es schnuckelig“, sagt die Mutter von Heiko Maas. Für seinen<br />

neuen Dienstort gilt das nicht gerade. Aber der neue Bundesminister der Justiz ist zäh<br />

Von CHRISTOPHE BRAUN<br />

Wäre die Politik ein Zirkus, dann<br />

wäre Sigmar Gabriel der Direktor,<br />

Gregor Gysi der Clown<br />

und Ursula von der Leyen die stärkste<br />

Frau der Welt. Heiko Maas war bisher<br />

der Kartenabreißer, einer, der nicht selbst<br />

im Rampenlicht steht, sondern am Rande<br />

des Spektakels seine Arbeit tut. Maas, 47,<br />

Jurist, zwei Kinder, galt als penibel und<br />

freundlich – der un<strong>auf</strong>fällige SPD-Chef<br />

aus dem Saarland im Eck der Republik.<br />

Jedenfalls bis vor ein paar Wochen.<br />

Seit dem 17. Dezember ist er Justizund<br />

Verbraucherschutzminister in Angela<br />

Merkels drittem Kabinett. Der Kartenabreißer<br />

steht jetzt in der Manege.<br />

Welche Nummer wird er dort vorführen?<br />

Noch kann er frei wählen.<br />

Maas stammt aus Schwalbach im<br />

Saarland. Von dort aus wirkt zuweilen<br />

schon Rheinland-Pfalz wie ein Kontinent.<br />

Berlin ist eine andere Welt. An einem<br />

milden Winterabend steht er im Schwalbacher<br />

Rathaus. Seine Eltern sind da,<br />

seine Frau, seine Cousine auch, sie arbeitet<br />

im Büro des Bürgermeisters. Die<br />

anderen kennen ihn spätestens, seit er als<br />

Student die SPD-Wahlkampfzeitung verteilt<br />

hat. Schwalbach, erklärt der Bürgermeister,<br />

sei stolz, dass „einer von ihnen<br />

bei der Angela Merkel mit am Tisch sitzt“.<br />

Die Saarländer freuen sich über Stars<br />

wie den Illusionskünstler Lafontaine<br />

oder den Geschichtenerzähler Altmaier.<br />

Aber das heißt nicht, dass die Berühmtheiten<br />

sich zu Hause <strong>auf</strong>spielen dürften.<br />

Im Gegenteil: Understatement kommt an.<br />

Als Peter Altmaier die Gemeinde voriges<br />

Jahr besuchte, ließ er sich vom Fahrer einige<br />

Hundert Meter vor dem Rathaus absetzen<br />

unter dem Vorwand, er wolle Geld<br />

abheben. Dann lief er den Rest zu Fuß.<br />

Auch Heiko Maas kennt die Bedeutung<br />

kleiner Gesten. Nachdem der Bürgermeister<br />

geendet hat, räumt er ein,<br />

dass es „schon komisch“ sei, von der eigenen<br />

Cousine als „sehr geehrter Herr<br />

Minister“ angeredet zu werden. Ins Ehrenbuch<br />

schreibt der frisch gebackene<br />

Minister: „Hier bin ich daheim.“<br />

„Wie ist es denn so in Berlin?“,<br />

möchte sein Vater wissen.<br />

Maas kneift die Augen zusammen.<br />

„Alles ein bisschen distanzierter.“<br />

Seine Mutter nickt. „Bei uns ist es<br />

halt doch schnuckelig.“<br />

Maas ist in der SPD früh <strong>auf</strong>gestiegen,<br />

gefördert von Lafontaine: Eintritt<br />

mit 23, Juso-Landeschef mit 26, zwei<br />

Jahre später im Landtag, dann Staatssekretär,<br />

schließlich, mit 31 Jahren, Minister<br />

für Umwelt und Verkehr – der seinerzeit<br />

jüngste Landesminister der Republik.<br />

Ein Jahr später flog die SPD aus<br />

der Regierung. Es folgten zwölf magere<br />

Jahre: Maas verlor eine Wahl nach der<br />

anderen, schlug sich mit der Linkspartei<br />

herum und trat schließlich 2012 als<br />

Vize-Regierungschef in eine Große Koalition<br />

unter Annegret Kramp-Karrenbauer<br />

ein. Lange schien er eine glänzende<br />

Zukunft nicht vor, sondern hinter<br />

sich zu haben. Er war derjenige, der immer<br />

kämpft und immer verliert und trotzdem<br />

immer weitermacht.<br />

Diese Erfahrung könnte ihm in Berlin<br />

helfen: Maas ist zäh. Sein Sport ist der<br />

Triathlon, jene Kombination aus L<strong>auf</strong>en,<br />

Radfahren und Schwimmen. Wer bestehen<br />

will, muss Schmerzen verkraften und<br />

Rückschläge einstecken können.<br />

Dass er nicht vorhat, ein un<strong>auf</strong>fälliges<br />

Kabinettsmitglied zu sein, hat Maas<br />

Anfang Januar klargemacht, als er erklärte,<br />

er werde das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung<br />

nicht umsetzen, ehe<br />

der Europäische Gerichtshof darüber entschieden<br />

hat. Mit der Äußerung besetzte<br />

er das Thema Bürgerrechte – ein Feld, das<br />

traditionell von Grünen und Liberalen<br />

beansprucht wird. „Als Justizminister<br />

muss Heiko Maas ein Gegengewicht sein<br />

zu den bürgerrechtsfeindlichen Tendenzen<br />

in der Union“, sagt Gerhart Baum, ein<br />

Grandseigneur der FDP und einst Bundesinnenminister.<br />

„Seine ersten öffentlichen<br />

Äußerungen haben mich hier ganz<br />

zuversichtlich gestimmt.“<br />

Inzwischen hat Maas einen Gesetzesentwurf<br />

zur Verbesserung des Adoptionsrechts<br />

homosexueller Paare vorgelegt;<br />

noch ein Thema, das in der Regierung<br />

umstritten ist. Dass er im Strafrecht die<br />

Definition von Mord und Totschlag überarbeiten<br />

will, hat er auch schon angekündigt.<br />

<strong>Kein</strong> einfaches Kunststück.<br />

Zurück nach Schwalbach. Nachdem<br />

er sich ins Ehrenbuch eingetragen<br />

hat, besucht der Minister eine SPD-Veranstaltung.<br />

Ein paar Hundert Leute sitzen<br />

in der Mehrzweckhalle vor Bier und<br />

Salzgebäck und roten Rosen. Auf der<br />

Bühne singen „De Hüütcha“. Als sie fertig<br />

sind, knöpft der Justizminister sein<br />

Sakko <strong>auf</strong> und eilt ans Rednerpult. Der<br />

Beginn der Großen Koalition sei „rumpelig“<br />

gewesen, sagt er; einen „nicht unwesentlichen<br />

Teil“ habe er selbst dazu<br />

beigetragen. Er meint das mit der Vorratsdatenspeicherung.<br />

Aber: „Die Leute<br />

wissen jetzt wenigstens, dass ich die Arbeit<br />

in der Großen Koalition <strong>auf</strong>genommen<br />

habe!“ Applaus.<br />

Es ist, als prüfe der Kartenabreißer,<br />

der in der Manege gelandet ist, wie er als<br />

Messerwerfer ankäme. Sind die Klingen<br />

spitz? Der Aufschrei, die Entrüstung und<br />

die wütenden Kommentare, die <strong>auf</strong> seine<br />

Äußerungen folgten, beweisen: Um Gummiklingen<br />

handelt es sich jedenfalls nicht.<br />

CHRISTOPHE BRAUN beeindruckte, dass<br />

die Hüütcha auch mit Peter Altmaier <strong>auf</strong><br />

der Bühne standen: Er trällerte mit ihnen<br />

den „Energiewende-Song“<br />

Foto: Werner Schüring/imagetrust<br />

34<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

BRUMMIS UND GEZWITSCHER<br />

Sie wurde schon heimliche Internetministerin genannt. Aber nun soll sich Dorothee Bär<br />

erst mal um Lkw-Fahrer kümmern. <strong>Kein</strong> Problem. Die CSU-Politikerin liebt Kontraste<br />

Von CHRISTOPH SEILS<br />

Foto: Stefan Thomas Kröger/laif<br />

Sie stahl sich davon. In Berlin wurde<br />

noch um letzte Details des Koalitionsvertrags<br />

gerungen, aber <strong>auf</strong><br />

dass Depeche-Mode-Konzert wollte Dorothee<br />

Bär nicht verzichten. Elektropop<br />

statt Mütterrente. Also half im November<br />

nur eine kleine Ausflucht, eine vorgeschobene<br />

Terminnot. Die CSU-Politikerin<br />

sang mit, klatschte, feierte mit<br />

15 000 anderen Fans. Auch wenn Dave<br />

Gahan und Martin Gore ihren Lieblingssong<br />

„Somebody“ nicht anstimmten.<br />

Zu einer konservativen Hoffnungsträgerin<br />

passt so ein Ausflug nicht so<br />

recht. Dorothee Bär weiß das. Aber sie<br />

spielt mit solchen Gegensätzen. Sie gefällt<br />

sich in der Rolle der „CSU-Piratin“, die<br />

sich für Netzneutralität und gegen Vorratsdatenspeicherung<br />

engagiert. Dann<br />

ist sie wieder wortgewaltige Kämpferin<br />

für ein traditionelles Familienbild. Mal<br />

trägt sie im Büro eine Lederjacke, mal<br />

ein biederes Kostüm. Mal reflektiert sie<br />

nachdenklich über die Frauenquote, dann<br />

wettert sie wieder gegen „sozialistische<br />

Weltverbesserer“. „Ich war als Jugendliche<br />

Fan von Campino von den Toten<br />

Hosen“, sagt sie und fügt schnell hinzu:<br />

„aber auch von Reinhard Fendrich.“<br />

Dorothee Bär hat erkannt: Die Gegensätze<br />

stärken sie. Je krasser die Kontraste,<br />

desto interessanter. Auch wenn<br />

diesmal noch verdiente Herren der Partei<br />

zum Zuge kamen, Gerd Müller als<br />

Entwicklungs- oder Christian Schmidt<br />

als Landwirtschaftsminister: Bär ist eine<br />

Antwort dar<strong>auf</strong>, wie die CSU in Zukunft<br />

aussehen könnte.<br />

Kleine Irritationen bei Parteisenioren,<br />

die sie gelegentlich als „Twittertussi“<br />

verspotten, gehören zum Spiel. Aus der<br />

Netzpolitik hat sie einen Markenkern<br />

gemacht. Betreuungsgeld kann jeder in<br />

der CSU, aber wer durchdenkt schon<br />

das Internet? Früh hat sie die politische<br />

Dimension des Netzes erkannt. Und sie<br />

zwitscherte und postete früh in den sozialen<br />

Netzwerken. Sie begriff, dass Twitter<br />

und Facebook ihrer Politik eine persönliche<br />

Note geben können, ohne dass sie<br />

dem Boulevard die Haustür öffnen muss.<br />

Wenn andere abends Bier trinken gehen,<br />

spielt sie zur Entspannung Counterstrike,<br />

Grand Theft Auto oder Quiz up.<br />

Für ihre 35 Jahre hat sie es weit gebracht.<br />

Mit 14 trat sie im fränkischen<br />

Ebelsbach in die Junge Union ein, mit 16<br />

in die CSU, mit 21 war sie bayerische Vorsitzende<br />

des Ringes Christlich‐Demokratischer<br />

Studenten. 2002 kam sie in den<br />

Bundestag, mit 24, die jüngste CSU-Abgeordnete<br />

aller Zeiten. So jung war Dorothee<br />

Bär, dass sie drei Wahlperioden lang<br />

das Küken der CSU im Bundestag blieb.<br />

ALTE MÄNNER, die verstanden haben,<br />

dass die CSU keine Männerpartei bleiben<br />

darf, bahnten ihr den Weg. Edmund<br />

Stoiber hat ihr Talent einst entdeckt,<br />

Horst Seehofer sie viele Jahre gefördert.<br />

„Wertkonservativ“ – das war ihr Ticket in<br />

die Politik. Den rechten CDU-Haudegen<br />

Norbert Geis wählte sie zu ihrem Vorbild.<br />

„Die Partei hat immer recht“, so steht<br />

es <strong>auf</strong> einer Postkarte, die an der Tür ihres<br />

Bundestagsbüros klebt. Oder vielleicht<br />

doch nicht? Bei der Vorratsdatenspeicherung<br />

und der Frauenquote war es<br />

anders. Auch bei der Frage, ob die Pille<br />

danach ohne Rezept abgegeben werden<br />

sollte, wirkt Bär nachdenklicher als die<br />

Parteilinie. Und 2017 wäre ein Bündnis<br />

mit den Grünen für sie „keine große<br />

Überraschung“ mehr. Ihre Mitarbeiter<br />

hätten gespottet, „je älter desto liberaler“,<br />

erzählt Dorothee Bär, und etwas erschrocken<br />

war sie da schon. „Ich bin lieber<br />

eine Konservative“, sagt sie.<br />

Sie hat ihre Karriere organisiert,<br />

scheinbar nebenbei Politikwissenschaft<br />

studiert und drei Kinder bekommen. In<br />

den vergangenen vier Jahren war sie stellvertretende<br />

CSU-Generalsekretärin hinter<br />

Alexander Dobrindt. Die Belobigung<br />

folgte am 17. Dezember 2013, als sie parlamentarische<br />

Staatssekretärin wurde im<br />

Bundesministerium für Verkehr und digitale<br />

Infrastruktur – wieder bei Dobrindt.<br />

Häufig ist der Job hinter dem Minister für<br />

Politiker eine Sackgasse. Bei Bär ist das<br />

anders, sie hat noch etwas vor.<br />

Weil sie sich mit der neuen Zuständigkeit<br />

des Ressorts auskennt, wurde<br />

sie bereits die heimliche Internetministerin<br />

genannt. Die Idee, alle netzpolitischen<br />

Aktivitäten der Regierung in einem<br />

Haus zu bündeln, hat etwas Bestechendes.<br />

Doch daraus wird nichts. Um die Netzpolitik<br />

rangeln gleich vier Ministerien: Innen<br />

und Justiz, Wirtschaft und Verkehr.<br />

Selbst das Bildungsministerium will bei<br />

der Digitalen Agenda mitreden.<br />

Dorothee Bär hat gleich noch einen<br />

Job bekommen, im Januar wurde sie zur<br />

Logistikbe<strong>auf</strong>tragten der Bundesregierung<br />

ernannt. Leergewicht und Nutzlast<br />

statt Bits und Bytes. Da sitzt sie nun in<br />

einem der schweren schwarzen Sessel in<br />

ihrem neuen Berliner Büro. Die Franz-<br />

Josef-Strauß-Büste im Regal wirkt etwas<br />

verloren. Aber sie schwärmt von der<br />

neuen Aufgabe, diese mache ihr „viel<br />

Spaß“, werde „völlig unterschätzt“. Ganz<br />

so, als habe sie nie etwas anderes machen<br />

wollen, als sich um Trucker und Brummis,<br />

um Stellplätze und Verkehrsleitsysteme<br />

zu kümmern, um eine Welt, die von<br />

Kerlen dominiert wird. Das schreckt sie<br />

nicht: „Das kenn ich aus der Politik nicht<br />

anders.“ Auch nicht aus der CSU.<br />

CHRISTOPH SEILS ist Ressortleiter von<br />

<strong>Cicero</strong> Online. Er twittert längst nicht so<br />

viel wie @dorobaer<br />

37<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Report<br />

EWIG<br />

UNZUFRIEDEN<br />

Die AfD dürfte im<br />

Mai erstmals in das<br />

Europaparlament<br />

einziehen. Dennoch<br />

könnte die Partei scheitern<br />

– an eben jener<br />

Unzufriedenheit, die zu<br />

ihrer Gründung führte<br />

Von ANDREAS THEYSSEN<br />

38<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Illustration: Florian Bayer<br />

Der Schrecken der deutschen Politik sitzt heute<br />

im Oberstübchen. Der Raum im Dachgeschoss<br />

des Restaurants Alter Stadtwächter in Potsdam<br />

ist karg. Um den Tisch haben sich rund 20 Leute versammelt,<br />

in der Mehrzahl Männer, einige über 60, andere<br />

sind nur halb so alt. Eine Frau hat Sohn und Tochter<br />

mitgebracht, beide in den Zwanzigern. Auf dem<br />

Tisch: Getränke, Bierdeckel, Stimmkarten. Und die<br />

Satzung. Das Regelwerk für den Kreisverband Potsdam<br />

der Alternative für Deutschland, der sich an diesem<br />

Abend gründet.<br />

In Paragraf 11, Absatz 1, so bittet ein Teilnehmer,<br />

sei doch das Wort „Stimmberechtigte“ zu streichen.<br />

In Absatz 3 möge man bitte auch noch etwas korrigieren.<br />

Und so weiter, und so fort. Auch wenn man<br />

die Parteienlandschaft <strong>auf</strong>mischt, sind Regularien und<br />

die Details der Regularien wichtig. Wir sind schließlich<br />

in Deutschland.<br />

Die AfD hat die deutsche Politik durcheinandergebracht.<br />

Erst im Frühjahr 2013 unter der Führung<br />

des Hamburger Wirtschaftsprofessors Bernd Lucke<br />

gegründet, scheiterte sie im Herbst bei der Bundestagswahl<br />

mit 4,7 Prozent knapp an der Fünf-Prozent-<br />

Hürde. Mit ihrem europakritischen Kurs gelang es ihr<br />

nicht nur, Union und FDP Wähler wegzunehmen, sondern<br />

auch der Linkspartei. Als Reaktion hat CSU-Chef<br />

Horst Seehofer sogar den Eurokritiker Peter Gauweiler<br />

in seinen Vorstand geholt.<br />

2014 kann das Jahr werden, in dem sich die AfD<br />

im deutschen Parteiensystem etabliert. Dass sie am<br />

25. Mai ins Europaparlament einzieht, ist wahrscheinlich.<br />

Bei der Wahl gilt nur eine Drei-Prozent-Hürde,<br />

und in Umfragen kommt die Partei je nach Institut <strong>auf</strong><br />

5, 6 oder 7 Prozent. Dass der frühere Chef des Bundesverbands<br />

der Deutschen Industrie und Talkshow-Dauergast<br />

Hans-Olaf Henkel einer der Spitzenkandidaten<br />

ist, dürfte den Aufschwung beflügeln. Er sei „eine Person,<br />

die an wirtschaftlicher Erfahrung und politischer<br />

Kompetenz ihresgleichen sucht“, sagt Parteichef Lucke.<br />

Ende August sind Landtagswahlen in Sachsen,<br />

Brandenburg und Thüringen. Dort hat die AfD bei<br />

der Bundestagswahl jeweils mindestens 6 Prozent der<br />

Stimmen geholt und somit Chancen, in die Parlamente<br />

in Dresden, Potsdam und Erfurt einzuziehen.<br />

Die AfD ist ein Phänomen. Einerseits, weil sie in<br />

Deutschland ein Stück europäische Normalität herstellen<br />

könnte: Mit ihr säße eine europakritische Partei<br />

in den Parlamenten – genau wie in Frankreich, Großbritannien,<br />

den Niederlanden oder Finnland. Und die<br />

AfD ist ein Phänomen, weil sie trotz des Wählerinteresses<br />

scheitern könnte – an sich selber wie zuvor Statt-<br />

Partei, Schill-Partei oder die Piraten.<br />

Der Meinungsforscher Manfred Güllner hat die<br />

Wähler und Sympathisanten der AfD analysiert. Die<br />

überwiegende Mehrheit stammt demnach aus dem<br />

Kleinbürgertum, 70 Prozent ihrer Anhänger sind Männer,<br />

die meisten über 60 Jahre alt, gut situiert und von<br />

Verlustängsten geprägt. Überproportional viele von ihnen<br />

haben schon einmal rechte Parteien gewählt. Güllner,<br />

Chef des Instituts Forsa, sagt, dass die AfD das<br />

gleiche Wählerpotenzial anzieht wie in den achtziger<br />

und neunziger Jahren die rechtsextremen „Republikaner“.<br />

Mit ausländerfeindlichen Parolen hatten die<br />

es in viele Landtage geschafft. Heute spielt die Partei<br />

keine Rolle mehr, erhielt bei der Bundestagswahl gerade<br />

einmal 92 000 Stimmen. Doch ihr Wählerpotenzial<br />

existiert noch: Protestwähler. Das ist freilich nur<br />

ein Schlagwort. Wer genau sich in der AfD warum engagiert,<br />

lässt sich vor Ort besichtigen.<br />

Potsdam, Alter Stadtwächter. Die Kandidaten für<br />

den Kreisvorstand stellen sich vor. Da ist Thomas Jung,<br />

der später zum Kreisvorsitzenden gewählt wird. Anwalt,<br />

sonore Stimme, etwas spröde Ausstrahlung. Er<br />

gehörte dem Wirtschaftsrat der CDU an, wie er erzählt,<br />

dann war er ein Dreivierteljahr bei der rechten<br />

Splitterpartei „Die Freiheit“. „Danach suchte ich eine<br />

neue Partei“, sagt er, „liebäugelte zunächst mit den<br />

Freien Wählern und bin seit März 2013 bei der AfD.“<br />

Jung verkörpert eines der Probleme, mit denen die<br />

Partei zu kämpfen hat: mit der Abgrenzung gegenüber<br />

Radikalen. Ihr Vormann Bernd Lucke hat angeordnet,<br />

keine Ex-Mitglieder der „Freiheit“ <strong>auf</strong>zunehmen. Er<br />

fürchtet, dass die AfD in den Ruch gerät, Radikale<br />

in ihren Reihen zu haben. Dabei knöpft er sich sogar<br />

die CSU vor, um zu demonstrieren, dass seine Partei<br />

weder rechtspopulistisch noch ausländerfeindlich<br />

ist. Deren Slogan „Wer betrügt, der fliegt“, mit dem<br />

die Bayern Stimmung gegen zuwandernde Bulgaren<br />

und Rumänen machten, attestiert Lucke eine „in dieser<br />

Verkürzung <strong>auf</strong>bauschende Wirkung“.<br />

IM FALL DER PARTEI „FREIHEIT“ ist seine Sorge berechtigt.<br />

Gegründet wurde sie im Herbst 2010 von dem<br />

ehemaligen Berliner CDU-Abgeordneten René Stadtkewitz,<br />

der einen islamfeindlichen Kurs fuhr und den<br />

niederländischen <strong>Recht</strong>spopulisten Geert Wilders zu<br />

Wahlveranstaltungen einlud. Seit einem Jahr beobachtet<br />

der Verfassungsschutz den bayerischen Landesverband<br />

der „Freiheit“. Im Herbst rief Stadtkewitz seine<br />

Parteifreunde <strong>auf</strong>, alle landes- und bundespolitischen<br />

Aktivitäten zugunsten der AfD einzustellen. Lucke reagierte<br />

alarmiert. Doch selbst im Parteivorstand hat<br />

er nicht genügend Rückhalt für diese Haltung. Alexander<br />

Gauland, einer von Luckes Stellvertretern, sagt:<br />

„Wir haben zum Beispiel in Brandenburg ehemalige<br />

,Freiheit‘-Leute, mit denen ich gut zusammenarbeite.<br />

Und insgesamt sind es in der Partei so wenige, dass<br />

ich sie für ungefährlich halte.“<br />

Im Vorstand des neuen Kreisverbands Potsdam<br />

sind es schon zwei. Wilfried Rammelt stellt sich im Alten<br />

Stadtwächter vor. Er nähert sich dem Rentenalter<br />

und kandidiert für einen Beisitzerposten. Er engagiere<br />

sich, „weil ich möchte, dass meine Enkel noch ein ordentliches<br />

Land vorfinden“, erklärt er mit vor Ärger<br />

39<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Report<br />

bebender Stimme. In der Wendezeit 1989 ist er der<br />

SDP beigetreten, den DDR-Sozialdemokraten. „Als<br />

der Euro kam, war mir klar: Da läuft schon wieder<br />

etwas schief“, sagt er mit Blick <strong>auf</strong> seine Erfahrungen<br />

in der Honecker-DDR. Ein Dreivierteljahr war er Mitglied<br />

der „Freiheit“, dann kam er zur AfD.<br />

Da ist auch Lothar Wellmann, 38, Verwaltungswissenschaftler.<br />

Fast 20 Jahre lang war er in der CDU,<br />

seit einem Vierteljahr ist er bei der AfD. Er findet, dass<br />

„dieses Land es verdient, besser regiert zu werden“.<br />

Über sich selber sagt er: „Ich bin ein Renegat.“ Seine<br />

Lust an der Provokation ist unüberhörbar. Er wird zum<br />

stellvertretenden Kreisvorsitzenden gewählt.<br />

Da ist Ingelore Lichtenberg-Lippert, die für das<br />

Amt der Rechnungsprüferin kandidiert und ihren<br />

Mann mitgebracht hat, ein Fördermitglied. „Ich war<br />

Kleinunternehmerin“, sagt die ältere Dame, „habe<br />

lange CDU gewählt, bin später der FDP beigetreten.<br />

Doch nach der Aktion Schäffler bin ich wieder ausgetreten.“<br />

Wie die FDP-Führung damals mit dem liberalen<br />

Eurokritiker Frank Schäffler umging, das passte<br />

ihr nicht. Schäffler hatte die FDP 2011 fast gespalten,<br />

als er <strong>auf</strong> eigene Faust einen Mitgliederentscheid initiierte,<br />

um die deutsche Beteiligung an der Eurorettung<br />

zu stoppen. Lichtenberg-Lippert kam danach zur AfD.<br />

Sie ist stolz <strong>auf</strong> ihre niedrige Mitgliedsnummer, die 459.<br />

Die AfD ist eine Partei der Suchenden. Sie sind irgendwie<br />

unzufrieden. Mit dem Euro. Mit der Zuwanderung.<br />

Mit der Aufwertung homosexueller Lebenspartnerschaften.<br />

Mit der politischen Klasse. Sie finden, dass<br />

es zu viel Europa gibt und zu wenig Nationalstaat. Sie<br />

hätten gerne die D-Mark wieder und dass Ehe und Familie<br />

vom Staat wieder den exklusiven Stellenwert erhalten,<br />

den sie einmal hatten. Auf der Suche nach Zufriedenheit<br />

irrlichtern sie durch die Parteien.<br />

EINER DIESER SUCHENDEN ist Alexander Gauland, Luckes<br />

Stellvertreter und einer der Männer an der Parteispitze,<br />

die der AfD ein seriöses Image verleihen. Der<br />

73-Jährige war einmal Staatssekretär in Hessen, galt<br />

in der Ära Helmut Kohl als einer der liberalen Geister<br />

der CDU. Die Partei hat er mittlerweile verlassen:<br />

„Nach Merkel ist die CDU eine leere Hülle“, sagt er.<br />

Gauland ist einer der drei Autoren des AfD-Programmentwurfs<br />

für die Europawahl. „Früher habe ich<br />

mehr an Europa geglaubt“, sagt er über sich. „Heute<br />

sehe ich, dass es aber nicht funktioniert.“ Beim Verfassen<br />

des Programms hat ihn noch ein anderer Gedanke<br />

geleitet. „Für die AfD reicht der Anti-Euro-Kurs nicht<br />

mehr. Wir müssen auch <strong>auf</strong> Feldern wie Türkei-Beitritt<br />

oder Asylrecht Punkte setzen, und dabei stellt sich die<br />

Frage: Wie populistisch kann man <strong>auf</strong>treten?“ Das sei<br />

allerdings nicht einfach, da man bei diesem Ritt <strong>auf</strong><br />

der Rasierklinge leicht runterfalle.<br />

Das Prinzip Rasierklinge war nach dem Nein der<br />

Schweizer zu ihrem Zuwanderungsrecht zu beobachten.<br />

Lucke versicherte zwar, Deutschland brauche<br />

Wie viel<br />

<strong>Recht</strong>spopulismus<br />

darf es denn sein?<br />

Für die AfD ist der<br />

Wahlkampf<br />

ein Ritt <strong>auf</strong> der<br />

Rasierklinge<br />

qualifizierte Zuwanderer. Zugleich empfahl er aber<br />

auch hierzulande eine Volksabstimmung, „die eine<br />

Einwanderung in unsere Sozialsysteme wirksam unterbindet“,<br />

und wandte sich dagegen, „abfällig über<br />

die Partei zu reden, die die Volksabstimmung durchsetzt“.<br />

Gemeint war die rechtspopulistische Schweizerische<br />

Volkspartei.<br />

Auf dieser scharfen Kante reitet die AfD gen Europa.<br />

Der Euro soll durch die Zulassung kleinerer Währungsverbünde<br />

de facto abgeschafft werden. <strong>Kein</strong>e<br />

Erweiterung der EU. <strong>Kein</strong>e europäische Wirtschaftsregierung.<br />

<strong>Kein</strong>e weitere Abtretung nationaler Kompetenzen<br />

an Brüssel. Sozialhilfen für Zuwanderer aus<br />

EU-Ländern soll es nur in der Höhe geben, die sie auch<br />

in ihren Heimatländern erhalten würden.<br />

In anderen EU-Ländern haben es Parteien mit<br />

solchen Parolen längst in die Parlamente geschafft,<br />

auch ins Europaparlament. Marine Le Pen, Chefin der<br />

rechtsradikalen Front National aus Frankreich, und der<br />

niederländische <strong>Recht</strong>spopulist Geert Wilders haben<br />

eine Kooperation <strong>auf</strong> europäischer Ebene vereinbart.<br />

Doch die AfD will sich ihnen nicht anschließen. „Wir<br />

werden mit keiner Partei zusammenarbeiten, die ausländerfeindlich<br />

ist“, sagt Hans-Olaf Henkel. Im Moment<br />

gibt es keine Kooperationen. „Das kann und wird<br />

sich aber ändern“, sagt Gauland. Auch Parteichef Lucke<br />

kann sich eine Zusammenarbeit mit manchen eurokritischen<br />

Parteien aus Osteuropa vorstellen. Noch<br />

lässt er offen, welche das sein könnten.<br />

Dass es nach dem Einzug ins Europaparlament Kooperationen<br />

geben wird, davon ist auszugehen. Denn<br />

die Begründung, warum sie derzeit angeblich nicht<br />

gehen, klingt reichlich bemüht. Man müsse erst sehen,<br />

was die jeweiligen Parteien in ihren Heimatländern für<br />

eine nationale Politik betreiben, sagt Gauland. „Da gilt<br />

derzeit äußerste Vorsicht.“ Beurteilen könne man sie<br />

erst, wenn man im Europaparlament sitze.<br />

Nun ist es ziemlich gleich, ob man in Brüssel, Potsdam<br />

oder Wanne-Eickel sitzt. Allein durch Googeln<br />

lässt sich leicht herausfinden, was die anderen eurokritischen<br />

Parteien so treiben. Auch Gauland, der sich<br />

40<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Foto: Privat<br />

dem Internet komplett verweigert, hat zu etlichen Parteien<br />

eine klare Meinung. Eine Zusammenarbeit mit Le<br />

Pen und Wilders: „Ich glaube, das geht nicht.“ Le Pen:<br />

„Da war mal ein Bezug zum Antisemitismus.“ Wilders:<br />

„Hat ein Islamproblem.“ Mit den britischen Tories hingegen<br />

hält Gauland eine Zusammenarbeit für denkbar.<br />

Die stellen im Europaparlament die Hälfte der<br />

EU-kritischen konservativen Fraktion, den Rest füllen<br />

Abgeordnete der tschechischen ODS, der polnischen<br />

Kaczynski-Partei PiS und Unabhängige.<br />

So viel Zurückhaltung passt nicht jedem in der<br />

Partei. Ende vergangenen Jahres reisten die AfD-Landeschefs<br />

von Brandenburg und Sachsen-Anhalt nach<br />

Wien, trafen sich mit Vertretern des BZÖ, der Partei<br />

des verstorbenen österreichischen <strong>Recht</strong>spopulisten<br />

Jörg Haider. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz<br />

verlangten sie eine Zusammenarbeit mit der BZÖ.<br />

Der Bundesvorstand rüffelte die Aktion der zwei<br />

Landeschefs, die dar<strong>auf</strong>hin erst zurück- und dann<br />

aus der Partei austraten. „Wir sind ratlos“, sagt Gauland,<br />

als er im Alten Stadtwächter den Mitgliedern des<br />

Kreisverbands Potsdam davon berichtet. Er erntet kollektives<br />

Kopfschütteln. „Das ist ja ein Ding“, sagt einer.<br />

„Dieses Kleinklein“, stöhnt ein anderer.<br />

DABEI SIND SOLCHE QUERELEN der Normalzustand.<br />

In Nordrhein-Westfalen tobt ein Richtungsstreit. In<br />

Niedersachsen klagte der neue Landeschef, der Ex-<br />

ARD-Korrespondent Armin-Paul Hampel, über Beleidigungen<br />

und Denunziationen: „Zum Kotzen.“ Zwei<br />

Vorstandsmitglieder mussten dort wegen öffentlich bekundeter<br />

Sympathien für NS-Gedankengut abtreten.<br />

In Göttingen veruntreute der Schatzmeister 6000 Euro.<br />

Besonders turbulent geht es in Hessen zu. Erst zerlegte<br />

sich der Landesvorstand, eine Neuwahl scheiterte,<br />

weil der Parteitag nicht beschlussfähig war. Kaum war<br />

Mitte Dezember ein neuer Vorstand gewählt, stellte<br />

sich heraus, dass der Landesvorsitzende seine akademischen<br />

Titel zu Unrecht führte. Ein Parteiausschlussverfahren<br />

wurde eingeleitet, dem der falsche Professor<br />

durch Austritt zuvorkam. Der Landesschatzmeister<br />

wurde gefeuert, weil er im Zusammenhang mit kriminellen<br />

Migranten das Wort Ungeziefer benutzt hatte.<br />

Gauland hat inzwischen den Brandenburger Landesvorsitz<br />

selber übernommen. Die Querelen nerven<br />

ihn. „Wir haben in einem riesigen Tempo Leute gesammelt.<br />

Darunter sind Leute, die nicht pragmatisch zusammenarbeiten,<br />

die einander nicht riechen können –<br />

und das leben sie aus“, analysiert er. Hinzu kommt in<br />

seinen Augen ein Spannungsverhältnis zwischen Mitgliedern,<br />

die aus volkswirtschaftlichen Gründen gegen<br />

die Europolitik sind, und Protestwählern. Diese kommen<br />

vornehmlich zur AfD, weil sie Zuwanderer und<br />

gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften ablehnen.<br />

Diese beiden Gruppen – hier die Intellektuellen, dort<br />

die ehemaligen „Republikaner“-Wähler – sind schwer<br />

zusammenzubringen.<br />

So droht die Partei ausgerechnet an dem zu scheitern,<br />

was ihr so viel Zul<strong>auf</strong> brachte: der notorischen<br />

Neigung ihrer Mitglieder, unzufrieden zu sein. Gauland<br />

setzt deshalb große Hoffnungen <strong>auf</strong> die Europawahl<br />

und den Einzug in das Brüsseler Parlament.<br />

„Nach der Bundestagswahl kam eine Delle, weil sich<br />

die Leute untereinander bekriegten. Doch durch einen<br />

Sieg bei der Europawahl ist das geheilt.“<br />

Oder auch nicht. Denn im Falle eines Wahlsiegs<br />

werden noch mehr Menschen in die Partei eintreten:<br />

Unzufriedene, die sie noch heterogener machen.<br />

ANDREAS THEYSSEN, freier Autor, stieß<br />

bei der Recherche <strong>auf</strong> Bekannte: Mit AfD-<br />

Landeschef Hampel berichtete er über einen<br />

Merkel-Besuch in Indien, AfD-Vize Gauland<br />

schrieb früher wie Theyssen für Die Woche<br />

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Schumann Sinfonien Nr. 1 und 4 | Cellokonzert<br />

András Schiff | Cappella Andrea Barca | Solisten<br />

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Foto: Vern Evans<br />

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10. März 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

SIE WAREN<br />

ANDERS<br />

Von GEORG LÖWISCH<br />

Hitler machte Hans Coppi zum Waisenkind, als er noch<br />

ein Baby war. Die DDR erklärte ihn zum Heldensohn,<br />

die Bundesrepublik zum Sohn von Verrätern.<br />

Aber er wollte wissen, wer seine Eltern wirklich waren.<br />

Geschichte einer historischen Suche<br />

Dreieinhalb Wochen nach<br />

Hans Coppis Geburt wird<br />

sein Vater ermordet. Nur<br />

einmal hat er den Sohn sehen<br />

dürfen, begrüßen, bestaunen,<br />

berühren.<br />

Das Papier, in dem der Mord am Vater<br />

dokumentiert wird, ist voller Nummern<br />

und Kürzel. Geheime Kommandosache!<br />

21 Abdrucke. Reichskriegsgericht,<br />

2. Senat. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat,<br />

Feindbegünstigung und Spionage<br />

wird der Mann, der gerade eben Vater<br />

geworden ist, zum Tode verurteilt. Am<br />

19. Dezember 1942.<br />

Acht Monate nach Hans Coppis Geburt<br />

wird seine Mutter hingerichtet. Sie<br />

hat ihn im Gefängnis noch stillen dürfen.<br />

Dann wird ihr der Sohn genommen.<br />

Und dem Sohn die Mutter.<br />

Der Beschluss, der dazu führt, dass<br />

der Junge ein Waisenkind wird, ist <strong>auf</strong><br />

zwei Schreibmaschinenseiten festgehalten.<br />

Gnadensachen. 17 Verurteilte. Führerhauptquartier,<br />

21. Juli 1943: „Ehefrau<br />

Hilda Coppi, Urteil vom 20. 1. 1943, wegen<br />

Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit<br />

mit Feindbegünstigung, Spionage<br />

und Rundfunkverbrechen.“ Vor ihren<br />

Namen ist handschriftlich ein Häkchen<br />

gesetzt worden. Es stammt von Adolf<br />

Hitler, er hat das Papier selbst unterzeichnet<br />

und damit ihr Gnadengesuch<br />

abgelehnt. Systematisch hat er die Liste<br />

seiner Gegner abgehakt, Name für Name,<br />

Leben für Leben.<br />

Hans Coppi steht in seiner Wohnküche,<br />

die Sonne scheint herein. Berlin-<br />

Mitte, ein kleiner Plattenbau, sechster<br />

Stock. An der Wand hängen Gemälde,<br />

Stillleben und eine Landschaft, die Stimmung<br />

angenehm ruhig, die Farben gedeckt,<br />

die Töne gebrochen. Seine Frau<br />

ist Galeristin.<br />

Er ist ein schlaksiger Mann. Schwarze<br />

Jeans, kariertes Hemd, die Haare eher<br />

braun als grau. Er sieht etwas jünger aus<br />

als seine 71 Jahre, nicht nach dem Geburtsjahr<br />

1942, in dem er in Berlin im<br />

Gefängnis zur Welt kam. Sein Gesicht hat<br />

eine gesunde Farbe, um die Augen liegen<br />

Kränze aus Lachfältchen. Er gießt Orangensaft<br />

ein.<br />

Die Eltern gehörten zu einem Freundeskreis,<br />

den Hitlers Geheime Staatspolizei<br />

zur sogenannten Roten Kapelle<br />

zählte. Es war ein Sammelbegriff der<br />

Nazis für Widerstandsgruppen in Berlin,<br />

Brüssel und Paris, teilweise waren ihre<br />

Mitglieder befreundet, teilweise standen<br />

sie gar nicht miteinander in Verbindung.<br />

Sie verfassten Flugblätter und nahmen<br />

Kontakt mit dem kommunistischen<br />

Russland <strong>auf</strong>. Wie die Weiße Rose oder<br />

die Offiziere um Claus Schenk Graf von<br />

St<strong>auf</strong>fenberg wollten sie Hitler stürzen.<br />

Mehr als 50 Menschen, die von den Nazis<br />

als Mitglieder der Roten Kapelle verhaftet<br />

wurden, starben.<br />

Was ist ein Verräter?<br />

Hans Coppi spricht behutsam. Er ist<br />

sich seiner Sache sicher, er will nur genau<br />

sein. „Edward Snowden, Bradley Manning<br />

– da haben meine Eltern etwas ganz<br />

Ähnliches gemacht: Geheimnisse weitergegeben<br />

und Dinge angeprangert.“<br />

Was für ein Vergleich. Obama hat<br />

doch nichts mit Hitler gemein. Aber es<br />

geht Coppi ja auch gar nicht um einen<br />

direkten Vergleich, sondern um Begriffe,<br />

„Es ist keine Hornhaut<br />

gewachsen.“ – Hans Coppi<br />

im Februar 2014 in Berlin.<br />

Seine Eltern waren Gegner<br />

des Naziregimes<br />

42<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


43<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

<strong>auf</strong> die er einen besonderen Blick hat<br />

und die auch heute noch benutzt werden:<br />

Landesverräter, Kriegsverräter,<br />

Hochverräter. Wer wird wann von wem<br />

so genannt? Die Frage, was Heldentum<br />

ist und was Verrat, möchten immer und<br />

überall die Mächtigen bestimmen. Hans<br />

Coppi beschäftigen die Begriffe ein Leben<br />

lang, weil seine Eltern beides genannt<br />

wurden. In der DDR galten sie als<br />

Helden, als Verräter im Westen Deutschlands.<br />

Auch noch lange nach Kriegsende,<br />

denn der Antikommunismus beherrschte<br />

dort den Blick <strong>auf</strong> das Gestern.<br />

Und heute werden also Snowden und<br />

Manning von den USA als Verräter verfolgt.<br />

Wenn das Wort in der Gegenwart<br />

<strong>auf</strong>taucht, sucht Coppi Anknüpfungspunkte<br />

in der Vergangenheit. Er will<br />

seine Eltern und ihre Geschichte aus jedem<br />

Blickwinkel heraus betrachten und<br />

sie verstehen: als Menschen, nicht als Figuren.<br />

Er will ihnen näher kommen. Die<br />

Geschichte von Hans Coppi ist auch eine<br />

über die Suche eines Sohnes nach Vater<br />

und Mutter. Als sie starben, war es für<br />

ihn zu früh, etwas im Gedächtnis zu behalten.<br />

Seine Erinnerung beginnt später.<br />

Er wächst bei den Großeltern <strong>auf</strong>.<br />

Das Sagen hat Frieda, die Mutter seines<br />

Vaters, starke Arme, das Haar nach hinten<br />

gesteckt. Der Junge weiß vom Tod<br />

der Eltern. Die Großmutter erzählt Geschichten<br />

aus deren Leben: Dass sie alle<br />

in der Kleingartenkolonie Waldessaum<br />

wohnten, dass sie dort einen Eisladen<br />

führten, dass einmal die Katze etwas<br />

vom Essen stibitzte. „Aber der Schluss<br />

ihres Lebens hat immer die Erzählung<br />

überlagert“, sagt er heute.<br />

In der ersten Klasse fragt der Religionslehrer,<br />

wer an seinem Unterricht<br />

teilnimmt. Als Hans ablehnt, erwidert<br />

der Lehrer, er werde mal mit den Eltern<br />

sprechen. „Ich habe keine Eltern mehr“,<br />

sagt der Junge. „Meine Großeltern glauben<br />

auch nicht an Gott. Weil, wenn es<br />

einen geben würde, hätte ich meine Eltern<br />

noch.“<br />

Viele Jahrzehnte später liegt <strong>auf</strong><br />

dem Tisch in der Wohnküche im sechsten<br />

Stock eine Schwarz-Weiß-Aufnahme.<br />

Hans Coppi sieht sie sich an. Das Foto<br />

zeigt ihn in einem Garten, Lederlatzhose,<br />

die Haare gut gekämmt. Es muss der Gedenktag<br />

für die Opfer des Faschismus im<br />

September gewesen sein. Der Junge hält<br />

Links: Hans Coppi in der<br />

Kleingartenanlage<br />

Waldessaum in Berlin. Hier<br />

waren seine Eltern<br />

miteinander glücklich<br />

<strong>Recht</strong>s: Seine Eltern Hilde<br />

und Hans <strong>auf</strong> Bildern der<br />

Gestapo 1942. Die Mutter<br />

wurde mit 34 hingerichtet,<br />

der Vater mit 26 Jahren<br />

einen Blumenstrauß, im Hintergrund ist<br />

eine Gedenktafel mit den Namen seiner<br />

Eltern zu sehen. Der Nachbarsjunge<br />

reicht ihm die Hand. Als ob er ihm sein<br />

Beileid ausspricht. Hans hat sich ein wenig<br />

zur Seite gedreht. Verlegen sieht er<br />

aus, fast beschämt.<br />

Er trägt den Namen seines Vaters.<br />

Hans Coppi, der Sohn von Hilde und<br />

Hans Coppi, ihr Erbe.<br />

Sie wohnen in Ostberlin. Wenn der<br />

Junge Kirschen klaut, sagt die Großmutter:<br />

„Hans, du musst daran denken, dass<br />

deine Eltern bekannt sind.“<br />

Mit 13 stößt er <strong>auf</strong> ein ihm gewidmetes<br />

Buch. Die Journalistin Elfriede Brüning<br />

hat es 1949 veröffentlicht, es heißt:<br />

„Damit du weiterlebst“. Seine Eltern sind<br />

Helden in dem Buch, es ist ein Roman<br />

und dann wieder nicht. Denn Brüning<br />

zitiert seitenweise aus Briefen, die Hans<br />

und Hilde Coppi im Gefängnis einander<br />

und ihren Eltern schrieben, sie hat sie<br />

von der Großmutter bekommen. „Werdet,<br />

44<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Fotos: Antje Berghäuser für <strong>Cicero</strong> (Seiten 43 bis 44), Weisenborn Nachlass/AdK<br />

soweit es angeht, glücklich mit unserem<br />

Kind, das einer großen Liebe entsprossen<br />

ist“, schreibt Hilde Coppi am Tag ihrer<br />

Hinrichtung an ihre Mutter. „Diese große<br />

Liebe, die uns vereint hat, geben wir jetzt<br />

weiter an Euch, Eure Hilde.“<br />

Brüning arbeitet aber nicht nur mit<br />

den Briefen. Sie hat auch Zitate erfunden,<br />

die oft theatralisch klingen. An einer<br />

Stelle legt sie Hilde Coppi einen ungeheuerlichen<br />

Satz in den Mund: „Vielleicht<br />

werde ich das Kind eines Tages um unserer<br />

Sache willen opfern müssen.“<br />

Hans Coppi sagt heute, das Buch<br />

habe ihn damals verstört. Als er es vor<br />

zwei, drei Jahren noch einmal las, habe<br />

er sich geärgert. „Da find ich meine Mutter<br />

nicht wieder. Meine Eltern wollten<br />

weiterleben.“<br />

5. August 2013, kurz nach 17 Uhr.<br />

Hans Coppi steht vor einem Mietshaus<br />

in Berlin-Kreuzberg, <strong>auf</strong> den Tag genau<br />

70 Jahre, nachdem seine Mutter im Hinrichtungsschuppen<br />

von Plötzensee starb.<br />

In dem Mietshaus hat Ursula Götze gewohnt.<br />

Sie wurde am selben Tag ermordet,<br />

zwölf Minuten vor Hilde Coppi.<br />

Die Berliner Vereinigung der Verfolgten<br />

des Naziregimes, deren Vorsitzender<br />

Coppi ist, hat zu einer Gedenkfeier<br />

eingeladen. 50 Leute versammeln<br />

sich, eine Frau hält eine blau-weiß-rote<br />

Fahne der Vereinigung, ein Fernsehteam<br />

vom Rundfunk Berlin-Brandenburg dreht<br />

Bilder. Coppis Frau Helle ist auch da, im<br />

Vorgarten blühen gelbe Blumen.<br />

Hans Coppi steht vor einem Mikrofonständer.<br />

Er hält sein Manuskript mit<br />

beiden Händen fest. Er spricht über Ursula<br />

Götze und die anderen.<br />

Ein Mann schiebt sein Mountainbike<br />

aus dem Hauseingang, ein junges<br />

Paar mit zwei Eistüten schlendert vorbei,<br />

eine Feuerwehr rast die Yorkstraße entlang,<br />

das Martinshorn gellt. Coppi presst<br />

die Lippen zusammen. Er wartet. Irgendwann<br />

ebbt der Lärm ab. „Heute würde<br />

man die Frauen und Männer Whistleblower<br />

nennen“, sagt er ins Mikrofon. „Das<br />

war kein Landesverrat.“<br />

Die Begriffe Verräter und Whistleblower<br />

sind wie ungleiche Brüder. Der<br />

eine ist böse, der andere gut. Der eine<br />

verletzt das Vertrauen, ist illoyal, beschmutzt<br />

das eigene Nest. Der andere<br />

bläst die Trillerpfeife, schlägt Alarm, gibt<br />

Geheimnisse preis, um ein Verbrechen<br />

<strong>auf</strong>zudecken, um weitere zu verhindern.<br />

Für den Whistleblower gibt es im Deutschen<br />

kein präzises Wort.<br />

Coppi, vor dem Mietshaus, nennt den<br />

Namen Edward Snowdens, dessen Enthüllungen<br />

das Ausmaß der Überwachung<br />

durch die USA zeigen. Er fordert ein dauerhaftes,<br />

sicheres Bleiberecht für ihn.<br />

Als er fertig ist und die Lesebrille in<br />

die Brusttasche steckt, zittert seine Hand.<br />

Er müsste das nicht machen, nicht an diesem<br />

Tag. Aber er will nicht, dass andere<br />

seine Eltern und ihre Freunde erklären.<br />

Davon hat er genug.<br />

Als er in Ostberlin <strong>auf</strong>wächst, ist die<br />

Rote Kapelle im Westen Deutschlands<br />

verhasst: Ihre Mitglieder gelten als kommunistische<br />

Spione, die kriegswichtige<br />

Geheimnisse von Hitler-Deutschland<br />

an Stalins Russland gefunkt haben. Ein<br />

Krieg im Äther. Eine rote Vereinigung,<br />

an der Spitze Harro Schulze-Boysen,<br />

Oberleutnant im Luftfahrtministerium,<br />

und Arvid Harnack, Oberregierungsrat<br />

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70.<br />

Geburtstag<br />

am 7. April<br />

45<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

im Reichswirtschaftsministerium, dirigiert<br />

von Strategen in Moskau. Die<br />

Schlachten im Osten – verloren wegen<br />

feindlicher Spione im eigenen Land. Es<br />

ist eine Art neue Dolchstoßlegende.<br />

Nach dem Krieg hat Hans Coppi mit<br />

seinen Großeltern noch eine kurze Zeit in<br />

Tegel gewohnt, im Westteil Berlins. Dort<br />

wird gleich nach dem Krieg die Hatzfeldtallee<br />

in Hans‐und‐Hilde‐Coppi‐Allee<br />

umbenannt. Aber bald wird das wieder<br />

rückgängig gemacht: Nach Verrätern darf<br />

keine Straße heißen. Die Coppis ziehen<br />

in den Osten.<br />

Das Bild von den roten Verrätern<br />

entspringt den Berichten der ehemaligen<br />

Geheimpolizisten, der Staatsanwälte und<br />

Richter. Als sie noch herrschen, haben sie<br />

ein Interesse, ihren Ermittlungserfolg so<br />

groß wie möglich erscheinen zu lassen.<br />

Als der Führer besiegt ist, wollen sie sich<br />

damit rechtfertigen.<br />

Hitlers Chefankläger Manfred<br />

Roeder verbreitet im Westen seine Sicht.<br />

Er ist der Mann, der Hans und Hilde<br />

Coppi angeklagt hat. 1951 druckt der<br />

Stern eine Artikelserie über die Rote Kapelle.<br />

„Rote Agenten unter uns“, lautet<br />

der Titel. Es erscheint auch ein ausführlicher<br />

Brief Roeders an den Herausgeber<br />

Henri Nannen. Darin klagt der Täter<br />

seine Opfer noch einmal öffentlich an.<br />

Es ist die Zeit, als die Bundesrepublik<br />

<strong>auf</strong>gebaut wird, als sich noch deutsche<br />

Soldaten in sowjetischer Gefangenschaft<br />

befinden. Der Kalte Krieg hat längst begonnen.<br />

Bis zum ersten Auschwitz-Prozess<br />

wird es noch über zehn Jahre dauern.<br />

Die Justiz schont viele Verbrecher<br />

des Naziregimes, auch Ermittlungen gegen<br />

Roeder werden eingestellt.<br />

Verrat ist Verrat, ganz gleich, ob er<br />

sich gegen ein verbrecherisches Regime<br />

richtet, so geht die Logik. So argumentiert<br />

auch Roeder. Im Stern schreibt er,<br />

in den USA drohe Spionen doch auch die<br />

Todesstrafe. Alle Kulturstaaten bestraften<br />

schließlich den Verrat.<br />

„Kulturstaaten“ – er benutzt tatsächlich<br />

dieses Wort.<br />

1952 veröffentlicht Roeder eine<br />

Broschüre zur Roten Kapelle, in der er<br />

schreibt: „Wie viele Witwen und Waisen<br />

des Krieges werden die Frage stellen,<br />

wurde auch dein Liebstes Opfer des<br />

Krieges im Äther?“ Die Antwort liefert<br />

er selbst: Die deutsche Abwehr sei von<br />

„Hans, denk daran, dass<br />

deine Eltern bekannt<br />

sind.“ – Ein Nachbarsjunge<br />

überreicht Coppi (rechts) an<br />

einem Gedenktag Blumen<br />

200 000 Opfern der Spione ausgegangen.<br />

Die Schuldzuweisung gehört zum Gedankenkonstrukt<br />

des Verrats: Der Blick<br />

wird <strong>auf</strong> unschuldige Opfer gelenkt, die<br />

Motive der Verräter geraten in den Hintergrund.<br />

Es ist eine Technik, die Geheimdienste<br />

bis heute anwenden.<br />

Roeder, den Hitler vor Kriegsende<br />

zum Generalrichter befördert hatte, wird<br />

später in Glashütten im Taunus in den<br />

Gemeindevorstand gewählt. Noch bis<br />

kurz vor seinem Tod 1971 unterzeichnete<br />

er mit „Generalrichter a. D.“.<br />

Erst 2009 wird der Bundestag alle<br />

Urteile der NS-Justiz wegen Kriegsverrats<br />

<strong>auf</strong>heben. 64 Jahre nach dem Ende<br />

des Krieges werden die Menschen, die<br />

sich gegen Hitler <strong>auf</strong>lehnten, endlich<br />

doch rehabilitiert.<br />

Foto: Privat<br />

46<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

Als Hans Coppi <strong>auf</strong>wächst, hört er,<br />

dass Roeder unbehelligt im Westen lebt.<br />

Greta Kuckhoff, für die der Jurist das Todesurteil<br />

gefordert hatte, erzählt ihm davon.<br />

Ihr Mann, der Dichter Adam Kuckhoff,<br />

starb in Plötzensee ebenfalls am<br />

5. August 1943, 18 Minuten vor Hilde<br />

Coppi.<br />

Greta Kuckhoff kannte die Coppis<br />

gar nicht. „Sie hat ja meine Mutter nur<br />

einmal gesehen“, sagt der Sohn in seiner<br />

Wohnung in Berlin. „Als sie vom Alexanderplatz<br />

zur ersten Vernehmung mit<br />

dem Roeder gefahren sind.“<br />

Er spricht noch behutsamer, wenn er<br />

so etwas erzählt. Mal macht er lange Pausen,<br />

dann zieht er das Sprechtempo an,<br />

als wolle er rasch ein anderes Thema erreichen.<br />

Er wirkt, als liege ein frischer<br />

Schmerz unter einer sehr dünnen Schicht.<br />

Er weiß das. „Eine Hornhaut ist nicht gewachsen“,<br />

sagt er. „Gut, ich habe ja schon<br />

oft über sie gesprochen. Aber es berührt<br />

mich immer noch. Stärker als früher.“<br />

In den fünfziger Jahren ist Greta<br />

Kuckhoff Präsidentin der Notenbank der<br />

DDR. Sie wird Hans Coppis Vormund.<br />

Die Wochenenden mit ihr bedeuten ihm<br />

neue Horizonte, sie liest ihm Homer und<br />

Boccaccio vor. Wenn sie über Harro und<br />

Libertas Schulze-Boysen spricht, über<br />

Arvid und Mildred Harnack, über seine<br />

Eltern, dann klingt das menschlich. Dann<br />

sind sie für den Moment keine unerreichbaren<br />

Helden.<br />

Aber er ist der Heldensohn. Das System<br />

macht ihn dazu. In der DDR sind<br />

Antifaschisten Märtyrer, ihrer wird mit<br />

Fackeln gedacht, mit Fahnenappellen und<br />

flammenden Opferschalen. Als er 25 ist,<br />

schreibt Hans Coppi einen Artikel in der<br />

Jungen Welt, der <strong>auf</strong>lagenstarken Zeitung<br />

der FDJ.<br />

Er berichtet, sein Vater sei 1,96 Meter<br />

groß gewesen. „Den Langen möchte<br />

ich euch vorstellen. Es ist Hans Coppi,<br />

mein Vater.“<br />

Er schreibt, wie der Vater <strong>auf</strong> der<br />

Berliner Schulfarm Scharfenberg eine<br />

Gruppe des Kommunistischen Jugendverbands<br />

gründete, wie ihn ein Schulfreund<br />

mit Harro Schulze-Boysen bekannt<br />

machte, wie er der Funker der<br />

Widerstandsgruppe wurde.<br />

Auch der Sohn gibt den Eltern eine<br />

wichtige Rolle im Krieg. „Sie halfen<br />

der Roten Armee, sich besser <strong>auf</strong> den<br />

FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… ob Politiker-Liebschaften Privatsache sind<br />

Geht es uns irgendetwas an, wenn Bill Clinton was mit einer<br />

Praktikantin hat, Horst Seehofer seine Geliebte schwängert<br />

oder François Hollande seine Lebensgefährtin betrügt?<br />

Nein. Geht uns absolut nichts an. Interessiert uns aber brennend.<br />

Wir Menschen sind neugierig und fantasiebegabt. Meldungen dieser<br />

Art lösen Gedanken aus, gegen die wir uns nicht wehren können.<br />

So fragte ich mich im Falle Hollandes, warum ein Typ mit der Ausstrahlung<br />

eines altbackenen Baguettes solche Frauen abgreift. Erst<br />

die attraktive und kluge Ségolène Royal, dann die schöne und ebenfalls<br />

kluge Valérie Trierweiler, nun die Schauspielerin Julie Gayet,<br />

über deren Intellekt ich nichts weiß, die aber zweifellos auch sehr gut<br />

aussieht. Die Frage, was Hollande so erfolgreich bei Frauen sein lässt,<br />

erscheint plötzlich spannender als seine Meinung zum Mindestlohn.<br />

Darin liegt das Risiko, das Politiker mit erotischen Affären eingehen:<br />

Sie müssen mit einem Autoritätsverlust rechnen. So wie <strong>auf</strong>geregte<br />

Abiturienten angehalten werden, sich ihre Prüfer im Pyjama<br />

vorzustellen, stellen wir uns sexuell enthemmte Volksvertreter ohne<br />

Pyjama vor, was sie um einiges weniger beeindruckend erscheinen<br />

lässt. Ihre politischen Entscheidungen werden überlagert von der<br />

Frage, ob ein Blowjob Sex ist ( Clinton ), welchen Namen das Kind<br />

der Geliebten tragen wird ( Seehofer ) und was Hollande seiner Valérie<br />

erzählt hat, um die Motorrollerfahrten zum Stelldichein mit der<br />

Gelieb ten zu bemänteln. Kurz: Der Politiker, den eine Mehrheit für<br />

ehrlich hielt, tritt mit seiner privaten Verfehlung den Gegenbeweis<br />

an. Warum sollen wir dem haltlosen Gesellen noch trauen? Selbst<br />

wenn wir es richtig finden, Person und Position zu trennen – es fällt<br />

uns schwer.<br />

Was erotische Politiker-Eskapaden beim Wahlvolk anrichten<br />

können, durfte ich einst in Kentucky / USA beobachten: Die Gast-<br />

Großmutter ( als Einzige ihrer Familie bei den Demokraten registriert<br />

), verfiel bei der Ankündigung, Bill Clinton käme in den Ort, in<br />

Entzücken und seufzte: „Der Mann ist so sexy, für den würde ich<br />

jede Sünde begehen.“ Auf meine Frage, ob sie ihn denn auch wieder<br />

wählen würde, sagte sie empört: „Niemals!“<br />

AMELIE FRIED ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin.<br />

Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben<br />

sonst noch an Fragen <strong>auf</strong>wirft<br />

47<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

Aggressor einzustellen und den Vormarsch<br />

der Faschisten zu stoppen.“<br />

Er wiederholt in dieser Zeit, was andere<br />

über seine Eltern sagen. Er übernimmt<br />

das fremde Bild und zieht eine gerade<br />

Linie von den Kommunisteneltern<br />

zum Sozialistensohn. Natürlich wird er<br />

SED-Mitglied.<br />

In den sechziger Jahren darf er nach<br />

Westberlin zu einer Gedenkveranstaltung<br />

fahren. Er nutzt die Gelegenheit,<br />

um Harald Poelchau in Zehlendorf zu<br />

treffen, den Gefängnispfarrer, der vor<br />

der Hinrichtung für seine Eltern da war.<br />

Poelchau erinnert sich nicht an Details.<br />

Er hat so viele Menschen in den Schuppen<br />

in Plötzensee begleitet.<br />

Mit Ende zwanzig begegnet Hans<br />

Coppi Vater und Mutter im Kino. Ein<br />

Defa-Spielfilm in Starbesetzung, Premiere<br />

im Kosmos an der Karl-Marx-Allee.<br />

Der Film heißt „KLK an PTX“, das sollen<br />

die Rufzeichen gewesen sein, mit denen<br />

sich die Rote Kapelle bei ihren Agentenführern<br />

meldete. Der Funker im Film,<br />

das ist sein Vater Hans Coppi, treu und<br />

zuverlässig, Stimme und Ohr der Berliner<br />

Kommunisten. Seine Eltern küssen sich<br />

in einer verschneiten Landschaft. In der<br />

gemeinsamen Wohnung sitzt der Vater<br />

mit Kopfhörern. Er tippt die Morsetaste,<br />

unablässig, der rote Pianist in der Roten<br />

Kapelle. Sein Gerät blinkt und piept<br />

und sendet und blinkt. Die Informationen<br />

fließen nach Moskau. „Das Ausmaß<br />

ist unvorstellbar, die Wirkung ist verheerend“,<br />

sagt ein Mann von der Gestapo.<br />

In der DDR-Darstellung ist die Rote<br />

Kapelle so mächtig wie im Westen, nur<br />

nicht böse, sondern gut. Verräter und<br />

Helden. In beiden Begriffen steckt die<br />

Vorstellung, dass ein Mensch einem Land<br />

gehört, einer Regierung oder einer Sache.<br />

Mitte der achtziger Jahre ist Hans<br />

Coppi selbst Vater, er hat drei Töchter.<br />

Aus dem Außenhandel ist er in die<br />

SED-Bezirksleitung gewechselt. Er soll<br />

in Betrieben herausfinden, was die Arbeiterschaft<br />

denkt, um daraus Argumentationen<br />

abzuleiten. Doch er stellt fest,<br />

dass die Oberen gar keine Meinungen<br />

von unten hören wollen. Er hadert.<br />

Ein Freund seines Vaters spricht ihn<br />

an, Heinrich Scheel, Historiker und Vizepräsident<br />

der Akademie der Wissenschaften<br />

der DDR. Ob er nicht nachforschen<br />

will, wie das mit der Roten Kapelle<br />

Hans Coppi wuchs bei der<br />

Großmutter <strong>auf</strong>. „Werdet<br />

glücklich mit unserem<br />

Kind“, schrieb seine Mutter<br />

am Tag ihrer Ermordung<br />

im Detail war? Scheel richtet eine Forschungsstelle<br />

ein. Dort fängt Coppi an.<br />

Es ist der Beginn einer systematischen<br />

Suche nach den Spuren seiner<br />

Eltern.<br />

Er sichtet Dokumente, gleicht Daten<br />

ab, betrachtet Fotos. Die DDR geht<br />

unter, Coppi macht weiter. Er promoviert<br />

an der Technischen Universität in<br />

Westberlin mit einer biografischen Studie<br />

über den Widerstandskämpfer Harro<br />

Schulze-Boysen.<br />

Er stößt <strong>auf</strong> Widersprüche. Das<br />

Funkgerät seines Vaters soll <strong>auf</strong> eine<br />

Empfangsstation in Minsk ausgerichtet<br />

gewesen sein. Aber Minsk hatten die<br />

Deutschen schon Tage nach dem Überfall<br />

<strong>auf</strong> die Sowjetunion erobert. Er fährt<br />

nach Moskau, er sucht die Funksprüche<br />

des Vaters. Es gibt andere, aus Brüssel,<br />

aus der Schweiz, aber nicht aus Berlin.<br />

Ein Mann vom Geheimdienst in Moskau<br />

schaut für ihn nach, aber da ist nichts.<br />

Nur eine Testmeldung vom 26. Juni 1941:<br />

„Tausend Grüße allen Freunden!“<br />

Kann das stimmen? Aber warum<br />

sollten die Russen den Erfolg ihrer Verbündeten<br />

in Berlin kleinreden? Ein erfolgreiches<br />

Spionagenetz in Hitlers<br />

Hauptstadt, das wäre doch die ruhmreichere<br />

Geschichte in den Annalen des<br />

Geheimdiensts.<br />

Coppi sucht immer weiter. Er findet<br />

Fotos von Ausflügen, vom Zeltplatz,<br />

von Touren mit dem Faltboot. Er sieht<br />

ein glückliches Leben, nicht nur einen<br />

schrecklichen Tod. Endlich sind sie nicht<br />

mehr nur die Ikonen, deren Gesichter die<br />

DDR <strong>auf</strong> Briefmarken druckte.<br />

In einer Karteikarte des Naziapparats<br />

ist die Körpergröße seines Vaters<br />

vermerkt. Der Lange maß gar nicht 1,96,<br />

sondern bloß 1,86 Meter. Hans, der Vater,<br />

war nur so groß wie Hans, der Sohn.<br />

Er kommt ihm auch dadurch näher, fast<br />

<strong>auf</strong> Augenhöhe.<br />

Er recherchiert Details, veröffentlicht<br />

Studien. Seine Arbeit bringt ihn in<br />

die Gedenkstätte Deutscher Widerstand,<br />

in der die Rote Kapelle seit 1987 behandelt<br />

wird und zu einem Forschungsschwerpunkt<br />

geworden ist. Er gewinnt<br />

den Eindruck, dass seine Eltern nicht von<br />

Aufträgen aus Moskau lebten, sondern<br />

dass sie von ihren eigenen Gedanken und<br />

Gefühlen angetrieben wurden.<br />

Er findet einen Zettel, den die Widerstandsgruppe<br />

an Hauswände klebte.<br />

Die Nazis hatten in der Ausstellung „Das<br />

Sowjetparadies“ im Berliner Lustgarten<br />

den Feind verächtlich gemacht. Auf dem<br />

Klebezettel stand: „Das Nazi-Paradies –<br />

Krieg – Hunger – Lüge – Gestapo. Wie<br />

lange noch?“<br />

Nur eine Zettelaktion, aber kein Mythos,<br />

kein Gerücht. Und eine Zettelaktion<br />

gegen Hitler ist 1942 sehr viel.<br />

Das Geschichtsbild hat sich verändert.<br />

Die Verräter sind Menschen, die sich von<br />

der Mehrheit in Nazideutschland unterschieden.<br />

Sie waren anders. Hans Coppi<br />

hat Anteil an dem neuen Bild. Er spricht<br />

an Schulen und erzählt den Schülern von<br />

seinen Eltern. Er macht das gern, vor Kindern<br />

fällt es ihm leichter als sonst.<br />

Hans Coppi sitzt an seinem Küchentisch,<br />

<strong>auf</strong> dem Tisch das Foto von<br />

dem Jungen mit dem Blumenstrauß in<br />

der Hand. Wenn seine Eltern nicht mehr<br />

als Verräter verunglimpft werden, bleibt<br />

dann das Heldenbild? „Als Helden und<br />

Märtyrer waren sie mir immer sehr entrückt“,<br />

sagt er.<br />

Jetzt sind sie einfach seine Eltern geworden,<br />

Vater und Mutter.<br />

GEORG LÖWISCH ist<br />

Textchef von <strong>Cicero</strong>. Als<br />

Student in Leipzig fragte er<br />

sich am Coppi-Platz, woher<br />

der Name wohl stammt<br />

Fotos: Privat, Andrej Dallmann (Autor)<br />

48<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


WELTBÜHNE<br />

„ Wahrscheinlich<br />

verfügen wir längst<br />

über die richtigen<br />

Waffen gegen die<br />

Krankheit. Nur konnten<br />

wir sie bislang immer<br />

erst dann einsetzen,<br />

wenn es bei den<br />

Betroffenen schon viel<br />

zu spät war “<br />

Der Neurologe Francisco Lopera sucht in den Anden nach<br />

einem Heilmittel gegen Alzheimer, Seite 60<br />

49<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

KANN DENN SPRUDEL SÜNDE SEIN?<br />

Ein Hollywoodstar zwischen den Fronten des Nahostkonflikts: Weil Scarlett Johansson<br />

für die israelische Firma Sodastream warb, wurde die Hilfsorganisation Oxfam sauer<br />

Von SYLKE TEMPEL<br />

Foto: Txema Yeste/Trunk Archive<br />

Zunächst ging es nur um Flaschen.<br />

Scarlett Johansson, 29, ist, wie sie<br />

sagt, „süchtig“ nach Softdrinks.<br />

Nach jenen Erfrischungsgetränken, die in<br />

Plastikflaschen abgefüllt werden, die wiederum<br />

als riesige schwimmende Müllinseln<br />

die Weltmeere verschmutzen. Dass<br />

ihre eher unschuldige Sucht sie zwischen<br />

die Fronten des Nahostkonflikts katapultieren<br />

würde, das hätte die Schauspielerin<br />

wohl nicht für möglich gehalten.<br />

Der Reihe nach. Johansson ist jedenfalls<br />

nicht nur ein Bubble-Junkie, sondern<br />

auch ein umweltbewusster Mensch.<br />

In ihrer Familie gehört es seit jeher zum<br />

Selbstverständnis, sich für die Allgemeinheit<br />

zu engagieren. Botschafterin<br />

für die britische Hilfs- und Entwicklungsorganisation<br />

Oxfam zu werden, war daher<br />

für die amerikanische Schauspielerin<br />

mehr als nur eine Prestigefrage. Es<br />

war eine Möglichkeit, ihre Berühmtheit<br />

zu nutzen, um <strong>auf</strong> Wichtigeres als Hollywood<br />

<strong>auf</strong>merksam zu machen. Auf einer<br />

Reise als Oxfam-Botschafterin nach<br />

Somalia und Äthiopien wurde der Schauspielerin<br />

klar: Das ist keine politische,<br />

sondern eine Umweltkrise. „Ich glaube“,<br />

sagte sie damals, „dass es wichtig ist zu<br />

zeigen, wie sehr sich der Klimawandel<br />

schon <strong>auf</strong> diese Menschen auswirkt.“<br />

Sodastream ist eine umweltbewusste<br />

Firma. Sie macht Plastikflaschen überflüssig,<br />

weil sich mit ihren Geräten aus<br />

Leitungswasser Sprudelwasser herstellen<br />

lässt. Es hätte also eigentlich nicht<br />

besser kommen können: Schauspielerin,<br />

Oxfam-Botschafterin und zweifache<br />

„sexiest woman alive“ wirbt während<br />

des Superbowls – dem größten<br />

US-Sportspektakel, bei dem Millionen<br />

Zuschauer während des Footballspiels<br />

Millionen Liter Softgetränke konsumieren<br />

– lasziv am Strohhalm saugend für<br />

ein umweltfreundliches Produkt.<br />

Hätte. Wäre Sodastream nicht ein<br />

israelisches Unternehmen, das eine<br />

Produktionsstätte in der Westbank-<br />

Siedlung Maale Adumim hat. Was seit<br />

Jahren schon der Fall war, aber niemandem<br />

<strong>auf</strong>fiel, ist, seit Johansson im Januar<br />

das Werbegesicht der Firma wurde, ein<br />

Politikum. Inzwischen ist nämlich die<br />

„Boycott, Divestment and Sanctions“-<br />

Kampagne ins Rollen gekommen, die<br />

zu einem Boykott israelischer Produkte<br />

und Sanktionen gegen Israel <strong>auf</strong>ruft. Einer<br />

der vehementesten Unterstützer dieser<br />

Boykott <strong>auf</strong>rufe ist Oxfam, das 1942<br />

gegründet wurde, um den unter der deutschen<br />

Blockade leidenden griechischen<br />

Kindern zu helfen.<br />

EINE OXFAM-BOTSCHAFTERIN, die für<br />

ein in den Siedlungen hergestelltes Produkt<br />

wirbt? Unmöglich. So wies Oxfam<br />

die Schauspielerin an, ihr Engagement<br />

für Sodastream „noch einmal zu überdenken“.<br />

Hat Johansson auch. Aber mit<br />

für Oxfam unerwartetem Ergebnis: Sodastream<br />

wolle „eine Brücke zum Frieden<br />

zwischen Israel und Palästina bauen“,<br />

teilte sie in einer knappen Presseerklärung<br />

mit. Sie setze sich für eine Zwei-<br />

Staaten-Lösung ein, ebenso sei sie sich –<br />

nicht zuletzt wegen ihrer Arbeit für<br />

Oxfam – bewusst, was Kooperation bewirke.<br />

„In der Fabrik arbeiten Menschen<br />

Seite an Seite, die den gleichen Lohn erhalten<br />

und gleiche <strong>Recht</strong>e genießen.“ Im<br />

Übrigen glaube sie an einen bewussten<br />

Konsum und an Transparenz; „ich vertraue<br />

dar<strong>auf</strong>, dass der Verbraucher die für<br />

ihn richtige Entscheidung treffen wird.“<br />

So ziehe sie es vor, <strong>auf</strong> ihre Tätigkeit als<br />

Oxfam-Botschafterin zu verzichten.<br />

Nun könnte man denken, Johansson<br />

seien schnöde Werbemillionen wichtiger<br />

als ein politisches Gewissen. Oder: Ein<br />

naives Hollywood-Blondchen habe sich<br />

in den Fallstricken des Nahostkonflikts<br />

verfangen und reagiere nun pampig.<br />

Sie habe sich nie besonders für Geld<br />

interessiert, sagt Johansson. Was sich natürlich<br />

leicht sagen lässt, wenn man sehr<br />

jung und schon sehr reich ist. Politisch<br />

naiv aber ist die Tochter eines dänischen<br />

Vaters und einer amerikanischen Mutter<br />

sicherlich nicht. Sowohl die Großmutter<br />

als auch ihre Mutter haben sich ehrenamtlich<br />

in zahlreichen lokalen Ausschüssen<br />

und Stadträten in New York engagiert.<br />

Wählen zu gehen, Klein-Scarlett samt ihrer<br />

fünf Geschwister ins Wahllokal mitzunehmen<br />

und mit dem Nachwuchs über<br />

Politik zu diskutieren, gehörte zum Alltag<br />

in der Familie Johansson. „Wir haben<br />

verstanden, dass Politik wichtig ist, und<br />

wir Verantwortung tragen.“<br />

Wie ihre Eltern und ihre Großmutter,<br />

ist auch Scarlett Johansson das, was<br />

man in den USA einen „Liberal“ und in<br />

Deutschland eine „Linke“ nennt. Sie hat<br />

„mit Leidenschaft“ Wahlkampf gemacht<br />

für die Demokraten – erst für John Kerry,<br />

später auch für Barack Obama. Durch<br />

ihre Berühmtheit habe sie das Glück, die<br />

Aufmerksamkeit <strong>auf</strong> etwas zu lenken,<br />

„was ich wichtig finde. Aber ich habe den<br />

Leuten nie gesagt, was sie wählen sollen.“<br />

Scarlett Johansson ist ein seltenes<br />

Exemplar einer politisch Linken – eine<br />

ohne pädagogischen Anspruch. Eine, die<br />

glaubt, „dass eine Kampagne nicht geeignet<br />

ist, um politische Veränderungen zu<br />

bewirken“. Eine, die Aufmerksamkeit <strong>auf</strong><br />

komplexe Themen lenkt – um deren Bewertung<br />

dann jedem selbst zu überlassen.<br />

Eine, die sich nicht unter Druck setzen<br />

lässt – auch nicht von Oxfam.<br />

SYLKE TEMPEL ist Chefredakteurin der<br />

Zeitschrift Internationale Politik.<br />

Sie schätzt Politik ohne pädagogischen<br />

Anspruch<br />

51<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

HERRN FICOS GESPÜR FÜR MACHT<br />

Er regiert mit absoluter Mehrheit, seine Seilschaften reichen bis in die höchsten<br />

Justizämter. Robert Fico, Premier der Slowakei, will jetzt Staatspräsident werden<br />

Von VINZENZ GREINER<br />

Die Frage musste kommen. Robert<br />

Fico hat sie erwartet. Wie jeder<br />

der Journalisten im Raum. Wie<br />

die ganze Slowakische Republik. Verlöre<br />

er, der mächtige Premier, nicht ein gutes<br />

Stück Macht, wenn er Präsident würde?<br />

Es ist das einzige Mal, dass Fico ungehalten<br />

wird. Er lächelt, lacht beinahe seine<br />

Antwort: „Lesen Sie sich die Verfassung<br />

durch und urteilen Sie dann.“ Der Ton<br />

sagt mehr als die Worte: Darin schwingt<br />

vor allem Freude über seinen Coup, der<br />

ihn zum mächtigsten Mann machen soll,<br />

den es in der Slowakei je gegeben hat.<br />

Nach der Verfassung des Landes<br />

wird der Präsident direkt gewählt, er<br />

vertritt die Slowakei nach außen und ist<br />

Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Gesetzesvorhaben<br />

kann er nur verzögern.<br />

Das Land regieren vor allem der Premierminister<br />

und sein Kabinett – aber das<br />

reicht Fico nicht.<br />

Wer die Strategie dieses Mannes verstehen<br />

will, muss in seine Vergangenheit<br />

blicken. Im Oktober 2011 soll das slowakische<br />

Parlament der Erweiterung des<br />

Euro-Rettungsschirms zustimmen. Ficos<br />

Sozialdemokraten sind damals in der<br />

Opposition. Eigentlich hat er sich für den<br />

Rettungsschirm ausgesprochen. Als aber<br />

klar wird, dass die Regierung keine eigene<br />

Mehrheit hat, ändert Fico seine Linie<br />

und setzt sie in der Partei durch. Das<br />

Nein der Sozialdemokraten zwingt die<br />

Regierung zu Verhandlungen. Fico winkt<br />

die Erweiterung erst durch, als die Regierung<br />

ihm etwas zusagt: Neuwahlen.<br />

Im März 2012 gewinnt er die absolute<br />

Mehrheit im Parlament. Fico ist am Ziel.<br />

Sein Gespür für die Machttektonik und<br />

die Stimmung im Volk hat ihn nicht getäuscht.<br />

Es hat ihn noch nie getäuscht.<br />

Bereits zu Beginn seiner politischen<br />

L<strong>auf</strong>bahn weiß Fico seine Möglichkeiten<br />

kalt abzuwägen. Mitte der Neunziger ist<br />

er einer der Hoffnungsträger der reformierten<br />

kommunistischen Partei, ahnt<br />

aber, dass sie ihm keine Perspektiven bietet.<br />

Er gründet 1999 Smer („Richtung“),<br />

die 2005 als Smer-SD alle linken Parteien<br />

<strong>auf</strong>gesogen haben wird. Ein Jahr<br />

später schmiedet er eine Koalition mit<br />

der rechtsextremen Nationalpartei und<br />

den Nationalkonservativen. Eine Allianz,<br />

die jenseits der slowakischen Grenzen<br />

<strong>auf</strong> Kritik stößt. Die Sozialdemokraten<br />

im EU-Parlament schließen die Smer-<br />

SD aus ihrer Fraktion aus. Fico rührt<br />

das nicht. Er erkennt, dass romafeindliche<br />

Töne und Hetze gegen die ungarische<br />

Minderheit bei den Wählern größere Zustimmung<br />

finden als Europa und Freiheit.<br />

EIN IDEOLOGE IST FICO NICHT. Er erkennt<br />

nur Möglichkeiten und nutzt sie.<br />

Im Fußball brauchen Stürmer dieses Gespür<br />

für Chancen – und Durchsetzungsstärke.<br />

Der fußballbegeisterte Premier<br />

hat beides. Auf dem Platz wie in der Politik<br />

greift er an. Als Kind hat er jede<br />

freie Minute beim Bolzen verbracht.<br />

Heute sagt er: „Fußball ist der Sport eines<br />

Burschen vom Dorf.“<br />

Fico ist der Dorfjunge geblieben. In<br />

ungeschliffenem Slowakisch spricht er<br />

nicht von erfolgreichem Regieren, sondern<br />

von „gemachten Haus<strong>auf</strong>gaben“.<br />

Ständig ist er unterwegs, um Alte zu herzen,<br />

Arbeiterhände zu schütteln und, wie<br />

er sagt, „irgendwelche Grundsteine“ zu<br />

legen. Aus den schwachen ländlichen Regionen<br />

zieht er seine Stärke. Ficos Mantra<br />

von Sicherheit und paternalistischem<br />

Staat bedient die Sehnsüchte vieler Slowaken.<br />

Er versteht die kleinen Leute, er<br />

betrachtet sich als einen der Ihren – einen,<br />

der es geschafft hat.<br />

Gegen Ficos Populismus haben<br />

seine Gegner – Konservative, Intellektuelle<br />

und liberale Medien – kein Mittel<br />

gefunden. Jeder ihrer Angriffe ist am<br />

49-Jährigen abgeprallt. Zwar gibt es ein<br />

Abhörprotokoll, das den Verdacht nahelegt,<br />

Fico sei in den größten Korruptionsskandal<br />

des Landes verwickelt – beweisen<br />

konnte man ihm nichts. Auch dass<br />

Fico zwei seiner Vertrauten in Schlüsselpositionen<br />

des Staates platziert hat – den<br />

einen als Generalstaatsanwalt, den anderen<br />

als Präsidenten des Obersten Gerichtshofs<br />

–, war ganz legal. Ohnmächtig<br />

sehen Ficos Widersacher seiner jüngsten<br />

Volte zu: sein plötzliches Bekenntnis zu<br />

seiner „starken katholischen Prägung“.<br />

Scheinheilig sei das, rufen sie.<br />

Fico verachtet seine Gegner: die Eliten,<br />

die Städter. Er hat nicht vergessen,<br />

wie hart er als zweites von drei Arbeiterkindern<br />

kämpfen musste, um in Bratislava<br />

Jura studieren zu können. Bei den<br />

vermeintlich Privilegierten, denen „Tennis<br />

wichtiger als <strong>Recht</strong>“ war. Wie können<br />

ausgerechnet diese Leute es wagen,<br />

sein „starkes soziales Empfinden“ infrage<br />

zu stellen?, empört er sich. Das ist,<br />

als wäre die gegnerische Mannschaft in<br />

seinen Strafraum eingedrungen – aber er<br />

kontert und beschimpft die Gegner.<br />

Nun die Kehrtwende. Seit Wochen<br />

vermeidet Fico Konfrontationen. Nichts<br />

soll seinen wichtigsten Spielzug gefährden:<br />

Sein Zögling und Vertrauter, Innenminister<br />

Robert Kalinák, steht bereit, die<br />

Regierung in Ficos Sinne weiterzuführen.<br />

Seine Freunde hat er bereits in der Justiz<br />

postiert. Es fehlt nur noch der Einzug in<br />

den Präsidentenpalast. Wenn seine Strategie<br />

<strong>auf</strong>geht, wird er nach dem 15. März<br />

alle Gewalt in der Slowakei – formell<br />

oder informell – in den Händen halten.<br />

VINZENZ GREINER ist Volontär bei<br />

<strong>Cicero</strong>. Als er 2010 in Bratislava studierte,<br />

galt es an der Uni als schick, Robert Fico<br />

herunterzumachen<br />

Foto: Charlie BIBBY/Financial Times/REA/laif<br />

52<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

MUTTER COURAGE<br />

„Meine Kinder“, so nennt Catherine Samba-Panza die verfeindeten Lager in der Zentralafrikanischen<br />

Republik. Als Präsidentin des Übergangs soll sie den Frieden bringen<br />

Von DIRKE KÖPP<br />

Foto: Ugo Lucio Borga/Echo Photo Agency<br />

Sie wird es nicht leicht haben. Die<br />

Welt erwartet von Catherine<br />

Samba-Panza nicht weniger als<br />

ein Wunder: Binnen zwölf Monaten soll<br />

die zentralafrikanische Übergangspräsidentin<br />

ihr Land befrieden, die Menschen<br />

miteinander versöhnen und freie, demokratische<br />

Wahlen organisieren. Sie selbst<br />

wird dann nicht wieder antreten. Das geltende<br />

<strong>Recht</strong> schließt aus, dass die Übergangspräsidentin<br />

selbst kandidiert.<br />

Seit einem Putsch im März 2013<br />

herrscht in der Zentralafrikanischen Republik<br />

die pure Gewalt. Immer wieder<br />

ist von einem Religionskrieg die Rede:<br />

Christen gegen Muslime. Das ist jedoch<br />

nicht präzise.<br />

Catherine Samba-Panzas Land, das<br />

4,5 Millionen Einwohner hat und flächenmäßig<br />

doppelt so groß ist wie Deutschland,<br />

hat viele Bevölkerungsgruppen, die<br />

sich nicht nur durch ihre Religion, sondern<br />

auch kulturell und ethnisch unterscheiden.<br />

Zudem haben das Land seit der<br />

Unabhängigkeit von Frankreich 1960<br />

starke Verwerfungen geprägt – am bekanntesten<br />

ist die Zeit unter dem Diktator<br />

Jean-Bédel Bokassa, der sich 1976<br />

zum Kaiser krönen ließ.<br />

10 bis 15 Prozent der Zentralafrikaner<br />

sind Muslime, die großteils im<br />

vernachlässigten Norden leben. Vor<br />

knapp einem Jahr stürzte ein vornehmlich<br />

muslimisches Rebellenbündnis, die<br />

Seleka, den damaligen Präsidenten. Es<br />

ging nicht um Religion, sondern um die<br />

Ungleichbehandlung einer Region. Gegen<br />

Plünderungen und Gewalt formierten<br />

sich sogenannte Anti-Balaka, Gruppen,<br />

die gegen die Seleka kämpften. Es<br />

kam zu Angriffen und Gegenangriffen,<br />

Racheakten und Kriminalität. Die Milizen<br />

verloren die Kontrolle über ihre Mitglieder,<br />

oft arbeitslose junge Männer, die<br />

jenseits der bewaffneten Gruppen kaum<br />

Perspektiven haben. Mehr als eine Million<br />

Menschen sind inzwischen <strong>auf</strong> der<br />

Flucht. Die Gesellschaft ist entzweit.<br />

Catherine Samba-Panza soll es nun<br />

richten. Die hohen Erwartungen schrecken<br />

die 59-Jährige nicht. Die Mutter<br />

von drei erwachsenen Kindern war in<br />

den vergangenen Monaten Bürgermeisterin<br />

der Hauptstadt Bangui, davor arbeitete<br />

sie als Geschäftsfrau und Anwältin.<br />

Ihr Vater stammt aus Kamerun, die Mutter<br />

aus Zentralafrika. Aufgewachsen ist<br />

sie im Tschad, studiert hat sie in Frankreich.<br />

Samba-Panza ist Christin. Doch<br />

sie scheint auch von Rebellen des Seleka-<br />

Bündnisses anerkannt zu sein. Politisch<br />

gilt sie als relativ unbeschriebenes Blatt.<br />

In der Krise könnte das von Vorteil sein.<br />

SAMBA-PANZA WIRKT pragmatisch und<br />

erfrischend direkt. Sie sagt, was sie denkt.<br />

Mögliche Kritik an der neuen Übergangsregierung<br />

nahm sie vorweg, bevor Namen<br />

oder die politische Zugehörigkeit<br />

der Minister bekannt waren: „Seien wir<br />

realistisch. Wir sind hier in einem politischen<br />

Kontext, da muss man bestimmte<br />

Sensibilitäten und Strömungen beachten.<br />

Wer ausgeschlossen ist, ist frustriert und<br />

fühlt sich vielleicht bewogen, wieder zu<br />

den Waffen zu greifen.“ So war es für<br />

sie nur folgerichtig, dass in ihrem Kabinett<br />

sowohl Anhänger der Anti-Balaka<br />

als auch der Seleka sitzen.<br />

Sie wird sich aber nicht verstecken.<br />

Am Tag ihrer Wahl zur Übergangspräsidentin<br />

trug sie ein Kostüm in schreiendem<br />

Pink – schrill in der Farbe, aber sicher<br />

im Stil.<br />

Misstrauisch machte anfangs das<br />

Wissen, dass Michel Djotodia, der Putschistenführer<br />

vom März 2013, der sich<br />

zum Präsidenten machte und erst unter<br />

internationalem Druck zurücktrat, sie<br />

ins Amt der Bürgermeisterin gebracht<br />

hatte. Doch Samba-Panza erwarb sich<br />

dank ihres Rufes, unbestechlich zu sein,<br />

schnell das Ansehen der Bürger von Bangui.<br />

Auch dass sie sich als Vizepräsidentin<br />

eines Komitees um den politischen<br />

Dialog bemüht und sich für Frauenrechte<br />

eingesetzt hatte, galt als Pluspunkt.<br />

Schon am Tag ihrer Wahl appellierte<br />

die Präsidentin an die bewaffneten Gruppen.<br />

Zwar gab sie sich mütterlich, doch<br />

die Botschaft war klar: „An meine Kinder,<br />

die Anti-Balaka: Legt eure Waffen<br />

nieder, als Reaktion <strong>auf</strong> meine Wahl. Und<br />

an meine Kinder, die Seleka-Rebellen:<br />

Auch ihr sollt die Waffen niederlegen.“<br />

Ihre mütterliche Art allein wird nicht<br />

reichen, um das Land zu befrieden. Das<br />

weiß sie selbst und fordert Unterstützung:<br />

„Die Dinge sind außer Kontrolle geraten,<br />

bevor ich an die Staatsspitze gewählt<br />

wurde. Aber mit der Hilfe der internationalen<br />

Gemeinschaft werden wir Verteidigungs-<br />

und Sicherheitskräfte <strong>auf</strong>stellen,<br />

denen es gelingt, die Ordnung wiederherzustellen.“<br />

Dabei sieht sie auch Berlin<br />

in der Pflicht. „Von Deutschland erwarte<br />

ich eine bedeutende Unterstützung: im<br />

humanitären Sektor, was die Sicherheit<br />

angeht und auch finanziell.“<br />

„Maire Courage“ – Bürgermeisterin<br />

Courage – wurde sie in der frankophonen<br />

Presse bisweilen genannt, in Anspielung<br />

<strong>auf</strong> das im Französischen gleichklingende<br />

Wort für „Mutter“ (mère). Eine „Mutter<br />

Courage“ im Sinne Bertolt Brechts aber<br />

ist sie wohl nicht: Zwar hat Samba-Panza<br />

wie die „Mutter Courage“ drei Kinder<br />

und ist Geschäftsfrau. Dass sie wie die<br />

Theaterfigur mit dem Krieg Geschäfte<br />

macht, ist hoffentlich auszuschließen.<br />

DIRKE KÖPP leitet die Redaktion für das<br />

francophone Afrika bei der Deutschen<br />

Welle. Sie wünscht sich mehr Frauen an<br />

Afrikas Staatsspitzen, die nicht an der<br />

Macht festhalten<br />

55<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


GERNEKLEIN IN DER<br />

MITTE DER WELT<br />

Die Schweiz sieht<br />

sich als bedrohtes<br />

Hirtenvolk. Das Nein<br />

zur Zuwanderung<br />

führt aber auch die<br />

Scheinheiligkeit der<br />

EU vor und zwingt<br />

diese, sich endlich<br />

ehrlich zu machen<br />

Von ADOLF MUSCHG<br />

Die Schweiz ist ein Kleinstaat<br />

– was Fläche und Einwohnerzahl<br />

betrifft. Im<br />

Atlas der Globalisierung<br />

machen sie die Kennzahlen,<br />

die für Handel und Wohlstand von<br />

Belang sind, zur verschwiegenen Großmacht,<br />

deren Bruttosozialprodukt dasjenige<br />

armer Kontinente <strong>auf</strong>wiegt und ihr<br />

Schicksal mitbestimmt. Diese Inkongruenz<br />

hat interessante Folgen für das<br />

Selbstverständnis der Schweizer. Sie fühlen<br />

sich wahlweise – wozu sind sie eine<br />

direkte Demokratie! – als Volk der Hirten<br />

und als professionelle Exportnation,<br />

als Gerneklein und als Mitte der Welt,<br />

und unter allen Umständen als Sonderfall.<br />

Ganz sicher ist nur: Die Wahrnehmung<br />

der andern ist diesem Sonderfall<br />

nicht adäquat. Das gilt besonders für<br />

die Deutschen, die das übliche Nachbarschaftsverhältnis<br />

in Reinkultur darstellen:<br />

Man braucht sie am meisten, und<br />

man will ihnen am wenigsten schuldig<br />

sein. Noch in meiner Kindheit galt die<br />

Regel: Mit Nachbarn redet man über den<br />

Zaun, aber man besucht sie nicht.<br />

Zwischen Deutschen und Schweizern<br />

steht eine lange Geschichte komplizierter<br />

Gemeinsamkeit, die der kleinere<br />

Nachbar – immer wieder zum Erstaunen<br />

des größeren – einseitig verleugnet. Das<br />

56<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


WELTBÜHNE<br />

Analyse<br />

Illustration: Simon Prades<br />

fing keineswegs mit Hitler an und hörte<br />

auch nicht mit ihm <strong>auf</strong>. Dazu gehört auch<br />

der einseitige Besuch: Der Kleine erwartet<br />

ihn, immer in den Grenzen des Tourismus,<br />

aber er erwidert ihn nicht. Es<br />

ist eine neue Entwicklung, dass Busse<br />

voll Schweizer nach Nürnberg <strong>auf</strong> den<br />

Christkindlmarkt, nach Berlin oder gar<br />

an die Ostsee fahren. Der Geografielehrer<br />

ließ uns 1947 darüber abstimmen, ob<br />

wir England oder Deutschland „durchnehmen“<br />

sollten. Der Ausgang war klar:<br />

mit der Folge, dass mir die deutsche Topografie<br />

lange weniger geläufig war als<br />

die australische.<br />

Die freie Wahl des blinden Fleckes,<br />

der die Wahrnehmung ersetzt, gehört zu<br />

den Müsterchen direkter Demokratie, an<br />

denen ich schon als Unmündiger teilnehmen<br />

durfte. Doch Ja-Nein-Entscheidungen<br />

angesichts komplexer Verhältnisse<br />

pflegen schon im Ansatz kindlich zu sein.<br />

Der „Bauch“ hat das letzte Wort, und<br />

man kann nur hoffen, dass die Summe<br />

der Bäuche die Entscheidung des Einzelnen<br />

korrigiert. Oft genug stehen am Ende<br />

die Köpfe, die dazugehören, selbst ratlos<br />

vor dem Resultat, das hinten herausgekommen<br />

ist. Aber es gehört zum Komment<br />

der Demokratie, auch im Kuriosesten<br />

so etwas wie ein Orakel zu erkennen;<br />

man versteht es zwar nicht, aber gültig<br />

bleibt es <strong>auf</strong> jeden Fall.<br />

Die deutsch-schweizerische Beziehung<br />

hat sich durch einen weiteren Faktor<br />

kompliziert: den europapolitischen.<br />

Wie der Schweizer Schriftsteller Peter<br />

Bichsel schon vor Jahren festgestellt<br />

hat: Wenn die Deutschschweizer (nicht<br />

die Romands!) von „Europa“ reden, meinen<br />

sie die Deutschen. Das kam nicht von<br />

ungefähr, als das westliche Deutschland<br />

selbst seine Identität zugunsten Europas<br />

suspendiert hatte. Seit das vereinigte<br />

Deutschland zur faktischen, wenn<br />

auch immer noch widerwilligen Vormacht<br />

der Union geworden ist, gilt es erst<br />

recht. Das Stück deutscher Unbefangenheit,<br />

das seither zurückgekehrt ist, kann<br />

böser Wille leicht mit der Großmannssucht<br />

von vorgestern verwechseln. Die<br />

deutschen Nachbarn sind uns Deutschschweizern<br />

schon als Garanten unserer<br />

Identität unentbehrlich.<br />

Natürlich ist Deutschland davon,<br />

dass wir es im Geografieunterricht nicht<br />

durchnahmen, nicht weggegangen;<br />

Ja-Nein-<br />

Entscheidungen<br />

in komplexen<br />

Fragen pflegen<br />

schon im Ansatz<br />

kindlich zu sein.<br />

Der „Bauch“ hat<br />

das letzte Wort<br />

ebenso wenig geht heute „Europa“ davon<br />

weg, dass wir uns ihm nicht anschließen.<br />

Man möchte sagen: im Gegenteil. Als<br />

neuer Garant schweizerischer Identität<br />

beherrscht es geradezu den Diskurs über<br />

diese, muss allerdings, wie ein Schwarzes<br />

Loch, das uns nicht verschlingen<br />

darf, auch sorgfältig in Rechnung gestellt<br />

sein. Nähme die pragmatische Schweiz<br />

der ideologischen dieses Rechnungswesen<br />

nicht ab, existierten bald beide real<br />

nicht mehr. Nur nimmt der Pragmatismus<br />

die Rücksicht, für das Überhandnehmen<br />

der Vernunft den Notfall abzuwarten,<br />

den die ideologische Schweiz – darf<br />

man sagen: glücklicherweise? – ohnehin<br />

als Normalfall betrachtet.<br />

DIE SCHWEIZ FÜRCHTET gerne das<br />

Schlimmste, um sich zu attestieren, das<br />

Beste daraus gemacht zu haben. In der<br />

Not entdeckt sie ihre Tugend, und der<br />

vorsorglichen Angst entspricht die nachträgliche<br />

Selbstgratulation. Das stimmt<br />

zur Mentalität der Grenzbesetzung, mit<br />

welcher die Volksseele gut gefahren zu<br />

sein glaubt und darum auch so weiterfahren<br />

will, in die beängstigend offene<br />

Zukunft hinein.<br />

So spielt der andere für den Binnenhaushalt<br />

der Exportnation mit ihrer<br />

Fremdenindustrie eine zugleich ungeliebte<br />

und tragende Rolle. Die Schweiz<br />

hat mehr europapolitisch relevante<br />

Volksabstimmungen hinter sich als jedes<br />

EU-Land. Die meisten resultierten, willig<br />

oder nicht, in der Anerkennung unserer<br />

Zugehörigkeit zu Europa – mit Ausnahme<br />

der grundsätzlichen.<br />

Eine institutionelle Zugehörigkeit<br />

zum europäischen Wirtschaftsraum hat<br />

die Blocher-Partei 1992 fast im Alleingang<br />

(nicht ohne grünen Zuzug) erledigt<br />

und die Regierung zum Anzetteln eines<br />

komplizierten „bilateralen“ Vertragswerks<br />

genötigt, bei dessen Zustandekommen<br />

man, im Vertrauen <strong>auf</strong> die eigenen<br />

Trümpfe wie die Gotthard-Passage, den<br />

Goodwill der Gegenseite nicht allzu nötig<br />

zu haben glaubte.<br />

Politisch wollte die Fiktion kultiviert<br />

sein, dass die eigene Seite immer noch<br />

selbstbestimmt agiere. Dazu fanden sich<br />

denkwürdige Formulierungen wie diejenige<br />

eines Bundesrats, „man müsse beitrittsfähig<br />

sein, um nicht beitreten zu<br />

müssen“ – bei Ulbricht hieß das: den<br />

Klassenfeind überholen, ohne ihn einzuholen.<br />

Solche Finessen waren unumgänglich,<br />

nachdem die Regierung in einer<br />

unvorsichtigen Stunde ein Beitrittsgesuch<br />

in Brüssel hinterlegt hatte; danach<br />

musste sie für das Eis besorgt sein, <strong>auf</strong><br />

welches das Projekt gelegt werden wollte.<br />

Um ein Eidgenosse zu bleiben, musste der<br />

Bundesrat schwören, den verhängnisvollen<br />

Schritt nur getan zu haben, um ihn<br />

nicht wirklich tun zu müssen.<br />

Dass er davon nicht glaubwürdiger<br />

wurde, war die innenpolitische Marktchance<br />

der Nationalkonservativen, die<br />

sie weidlich nutzten: Sie bekamen den<br />

Schatten kostenlos geliefert, gegen den<br />

sie wählerwirksam boxen konnten. Der<br />

globale Unternehmer Christoph Blocher<br />

an ihrer Spitze trieb das Doppelspiel,<br />

das er Wirtschaft und Regierung<br />

<strong>auf</strong>gezwungen hatte, bei weitem pfiffiger<br />

als diese. Als besserem Patrioten<br />

(ausgesprochen) und besserem Unternehmer<br />

(unausgesprochen) hatte ihm<br />

die verachtete „Classe politique“ eine<br />

57<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


WELTBÜHNE<br />

Analyse<br />

Win-win-Situation beschert, die er am<br />

9. Februar dazu verwendete, den Regierenden<br />

auch das Verhandlungskunstwerk<br />

der „Bilateralen“ aus der Hand zu schlagen,<br />

das sie sich ohne seine Opposition<br />

hätten sparen können.<br />

EINE HAUCHDÜNNE MEHRHEIT des<br />

Stimmvolks erteilte gut demokratisch<br />

der „politischen Klasse“ und ihrer Wirtschaft<br />

– und außerdem der EU und der<br />

ganzen Welt – eine Lektion. Sie räumte<br />

<strong>auf</strong> unter denen, die unliebsame Tatsachen<br />

personifizieren und ihr Unglück, an dem<br />

wir nicht schuld sein wollen, bei uns einschleppen.<br />

Brauchen wir Fremde, die den<br />

nationalen Lebensraum unsicher machen,<br />

Züge verstopfen, Betonwüsten verbreiten,<br />

heimische Sitten verderben, kinderreiche<br />

Familien nachziehen, unsere Sozialwerke<br />

belasten? „Dichte stress“ – es ist das hässliche<br />

Gesicht der Globalisierung, zu dem<br />

man als guter Schweizer nur Nein sagen<br />

kann, darum stimmt man gegen „Masseneinwanderung“.<br />

Wer täte es nicht?<br />

Diesmal fühlt man sich in Gesellschaft<br />

der Anständigen aller Länder. Sie<br />

applaudieren denn auch in den „sozialen<br />

Medien“ und gratulieren den Schweizern,<br />

die wenigstens gefragt werden müssen,<br />

zu ihrer mutigen Entscheidung. Die<br />

Enteigneten, in ihrem Anspruch <strong>auf</strong> Heimat<br />

im eigenen Land Verhöhnten drohen,<br />

sich die Schweiz zum Muster zu nehmen.<br />

Schon bei den Europawahlen im Mai werden<br />

sie es ihren ohnmächtig Mächtigen<br />

zeigen: So geht es nicht weiter!<br />

Das dumpfe Gefühl ist ja nur zu berechtigt,<br />

dass die laut Thomas L. Friedman<br />

„flache Welt“ ihren Bewohnern Raum und<br />

Zeit stiehlt, dass sie ein Feind des Heimischen<br />

und Einheimischen ist. Da man<br />

ihrem Überhandnehmen keine Grenzen<br />

setzen kann, verlangt man, dass es wenigstens<br />

vor den eigenen Grenzen haltmache.<br />

Gerade aus der Verzweiflung an seiner<br />

Unerfüllbarkeit zieht dieser Wunsch<br />

seine Legitimation – und seine Aggressivität.<br />

Sie muss blind sein, um nicht zu sehen,<br />

dass sie selbst Teil des Problems ist,<br />

dessen Abschaffung sie verlangt – im Bild<br />

des Fremden, des anderen, den man wenigstens<br />

ausschaffen kann.<br />

Faktisch zeigt eine Abstimmung wie<br />

diejenige gegen „Masseneinwanderung“<br />

nicht nur ein fast genau in der Mitte gespaltenes<br />

Volk. Sie spaltet auch nicht nur<br />

Für die<br />

verfolgte Unschuld<br />

ist es quasi<br />

befreiend, zur<br />

verfolgenden zu<br />

werden<br />

die urbane Schweiz von der ländlichen<br />

oder die französische Schweiz von der<br />

deutschen (und italienischen) – was für<br />

den Zusammenhalt der Schweiz schon fatal<br />

genug wäre, auch wenn das die triumphierende<br />

„Volkspartei“ einstweilen<br />

nicht kümmert. Die Spaltung geht vielmehr<br />

durch jeden einzelnen Stimmbürger,<br />

und das Nein, mit dem er sie leugnet,<br />

ist eine Form von Autoaggression, denn<br />

da ist ja keiner, gerade in der hoch begünstigten<br />

Schweiz, der an der verdammten<br />

Globalisierung nicht partizipierte.<br />

Aber nur ihre Verlierer bekommen<br />

die Ungleichheit, die sie produziert, als<br />

leibhafte Entwürdigung zu spüren. Sie<br />

reagieren <strong>auf</strong> eine Bedrohung, die sie<br />

nicht verdient haben, und drohen zurück;<br />

für die verfolgte Unschuld ist es quasi befreiend,<br />

zur verfolgenden zu werden und<br />

Schuldige dingfest zu machen. Nicht nur<br />

in der Physik setzt die Kernspaltung unkontrollierbare<br />

Energie frei. In der Politik<br />

wirkt sie als polarisierende Kraft und<br />

fließt demjenigen zu, der die Spaltung in<br />

der Realität fortzusetzen weiß. Die Teilung<br />

der Welt in Schwarz und Weiß, Gut<br />

und Böse, wir und sie ist das wirksamste<br />

Verfahren, Schwäche in Stärke – oder<br />

ihre Illusion – zu transformieren. Wird<br />

die Grenze nach außen verlagert, lässt<br />

sie die eigene Grenze vergessen. Auf andere<br />

einzuschlagen, ist die beste Anästhesie<br />

in eigener Sache. Wo mein Revier<br />

<strong>auf</strong> dem Spiel steht, darf ich herzlos sein,<br />

da ist Hassen nicht nur geboten, sondern<br />

erlaubt. Der gerechte Hass ersetzt eine<br />

untragbare Realität durch eine übersichtliche.<br />

Wer diese eine Fiktion nennt, wird<br />

als Feind behandelt.<br />

NATÜRLICH SCHAFFEN FIKTIONEN ihre<br />

eigene Realität. Man kann als Schweizer<br />

eine Art melancholische Genugtuung<br />

empfinden, wenn – nach dem weltweiten<br />

Kopfschütteln über das Minarettverbot –<br />

eine schweizerische Volksabstimmung im<br />

Ausland ernst genommen wird. Bald steht<br />

der Schweiz die nächste ins Haus, welche<br />

eine noch schärfere Begrenzung der Zuwanderung<br />

verlangt, und die Geschlagenen<br />

vom 9. Februar trösten sich mit der<br />

Hoffnung, dass der Beelzebub des Neins<br />

zur „Masseneinwanderung“ wenigstens<br />

den Teufel der „Ecopop“-Initiative wirksam<br />

ausgetrieben habe. Diese nämlich<br />

stellt die Personenfreizügigkeit grundsätzlich<br />

und für alle Länder infrage. Sie<br />

steht <strong>auf</strong> dem Standpunkt, dass die weltweite<br />

Migration nicht erst ihre Zielländer<br />

belaste, sondern vor allem ihre Ursprungsgebiete.<br />

Die Armutsflüchtlinge<br />

gehörten zu jener immer noch vergleichsweise<br />

privilegierten Gruppe, die sich<br />

überhaupt bewegen könne, und gerade<br />

ihr Potenzial würde zu Hause am dringendsten<br />

benötigt. Vor Ort in ihre Entwicklung<br />

zu investieren, sei vernünftiger,<br />

billiger und ökologisch verantwortlicher,<br />

als das weltweite Ungleichgewicht durch<br />

Völkerwanderungen zu verstärken, die<br />

Armut der Ursprungsländer irreparabel<br />

zu machen und die Zielländer mit unlösbaren<br />

Integrationsproblemen zu belasten.<br />

Das ist gewiss diskutabel – und sprengt<br />

ebenso gewiss den Rahmen und die Kapazität<br />

eines einzelnen Landes. Diesmal darf<br />

man – zuversichtlich oder bedauernd – unterstellen,<br />

dass in der Schweiz keine Mehrheit<br />

dafür zu finden ist.<br />

Aber wie wäre es, wenn die Europäische<br />

Union den Stachel, den ihr die<br />

58<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Anzeige<br />

Eine elegante<br />

Sammlung<br />

Illustration: Simon Prades; Foto: Picture Alliance/dpa<br />

nationalkonservative Bedrohung ins<br />

Fleisch setzt, zur Wiederbelebung ihres<br />

eigenen Projekts verwendete? Seine<br />

friedenspolitische Grundlage bedarf<br />

dringend einer Auffrischung, wenn die<br />

jüngeren Generationen durch eigene Erfahrung<br />

erleben sollen, wovon Europa<br />

handelt, und wofür es sich eigentlich<br />

vereinigt hat. Die Anzeichen, dass die<br />

Verwaltung des Status quo nicht mehr<br />

genügt, häufen sich, und dass man mit<br />

Regulieren und Deregulieren keine Bürgerherzen<br />

gewinnt, bedarf keiner Ausführung<br />

mehr. Wachstum ins Weite und<br />

Breite ist als Raison d’être nicht ausreichend<br />

tragfähig.<br />

Dass eine im Kern egoistische und<br />

opportunistische Maxime nicht ausreicht,<br />

um die Mitgliedstaaten zusammenzuhalten,<br />

ganz im Gegenteil, belegt die Misere<br />

der PIIGS – um die Schuldnerstaaten Portugal,<br />

Italien, Irland, Griechenland und<br />

Spanien mit jener abscheulichen Kürzel<br />

zu belegen, die über ihre Gläubiger mehr<br />

aussagt als über sie. Sollte nächstens ein<br />

F wie Frankreich mitbuchstabiert werden<br />

müssen, ginge der EU mehr verloren<br />

als ein kleiner Sprachwitz: Es könnte<br />

dem Bündnis sogar sein historischer Sinn<br />

abhandenkommen.<br />

Wie, wenn es die Nord-Süd-Spaltung,<br />

die es im Lebendigsten, seiner Glaubwürdigkeit,<br />

bedroht, durch eine einvernehmliche<br />

Arbeitsteilung ersetzte, indem sich<br />

die Mitglieder nicht nur mit verschiedener<br />

Geschwindigkeit, sondern auch<br />

in verschiedene, durch ihre Geschichte<br />

vorgezeichnete Richtungen bewegten?<br />

Wenn es seine unerledigten Geschäfte<br />

in Afrika oder im Nahen Osten dort<br />

wieder <strong>auf</strong>nähme, wo sie der Kolonialismus<br />

liegen und seine Hinterbliebenen<br />

im Stich gelassen hat? Das „chinesische<br />

Afrika“ ist längst Realität: Muss sich das<br />

Engagement Europas <strong>auf</strong> punktuelle militärische<br />

Interventionen beschränken?<br />

Muss die „Mittelmeerunion“ so tot bleiben,<br />

wie sie das deutsche Veto leider gemacht<br />

hat? Könnte sie nicht bewirken<br />

helfen, dass arabische Frühlinge kommen,<br />

ohne gleich wieder zu gehen? Hat<br />

Europa im Nahen Osten nicht einen Unfrieden<br />

hinterlassen, dem es politische<br />

Nacharbeit schuldig ist?<br />

Der Ostseerat hat einen Brückenschlag<br />

über historische Klüfte angefangen,<br />

wie er vor einem halben Jahrhundert in<br />

Westeuropa gelungen ist. Hier wie dort<br />

ist die Interessengemeinschaft nicht nur<br />

ökonomisch, sondern kulturell begründet.<br />

Darum lebt sie wieder <strong>auf</strong> und beweist<br />

Zukunftsfähigkeit. Die Ukraine würde<br />

zwanglos ein europäisches Land, wenn sie<br />

nicht mehr zwischen der EU oder Russland<br />

wählen müsste. Und St. Petersburg<br />

ist nicht weniger europäisch als Venedig,<br />

so wahr Russland nicht nur ein europäisches<br />

Land ist – auch das hat es übrigens<br />

mit England und Portugal gemeinsam.<br />

Oder auch mit der Schweiz. Eine EU,<br />

die ihrerseits die Grenzen dichtmacht,<br />

hat dem gernekleinen Land nichts vorzuwerfen.<br />

Das Flüchtlingselend vor Lampedusa<br />

oder in der Ägäis wird durch einen<br />

Exzess ratlos-verschämten Mitleids<br />

nicht gelindert. Ehrlich machen könnte<br />

es sich nur durch das europäische Engagement<br />

in den Herkunftsländern des<br />

Elends, statt dieses – etwa durch eine<br />

rein egoistische Agrarpolitik – weiter<br />

zu verschulden.<br />

DIE SCHWEIZ hat mit ihrem Votum Fragen<br />

<strong>auf</strong>geworfen, die sie nicht allein<br />

beantworten kann; gerade das hat sie<br />

mit der EU gemeinsam. Auch diese benötigt<br />

einen neuen Umgang mit ihren<br />

Grenzen. Es wäre eine schöne List der<br />

Vernunft, wenn das Votum der Schweiz<br />

Anlass gäbe, dass sich die Europäische<br />

Union den Fragen, die sie nicht beantwortet,<br />

stellt.<br />

Dann führte die Union das weiter,<br />

was Jean Monnet einmal beginnen<br />

wollte: nicht mit Kohle und Stahl, sondern<br />

bei der Kultur. Kultur soll heißen:<br />

sensibler Umgang mit dem andern, denn<br />

im andern steckt immer das Beste – und<br />

das Schlimmste – von uns selbst. Darum<br />

ist der andere der verleugnete, aber zuverlässige<br />

Maßstab und Treuhänder unserer<br />

Identität. In der Fiktion, mit der<br />

das eidgenössische Stimmvolk die andern<br />

von sich fernhalten will, steckt so<br />

viel Wahres, dass es mit Abmahnung<br />

nicht getan ist. Sie wäre als Reaktion<br />

fast so kurzsichtig wie ein Glückwunsch<br />

zum schweizerischen Eigen-Sinn.<br />

ADOLF MUSCHG ist<br />

einer der renommiertesten<br />

Autoren der Schweiz. Zuletzt<br />

erschien sein Essay-Band „Im<br />

Erlebensfall“ ( C. H. Beck )<br />

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künftig per Telefon oder E-Mail über interessante Angebote des Verlags informieren.<br />

Vorstehende Einwilligung kann durch Senden einer E-Mail an abo@cicero.de oder<br />

postalisch an den <strong>Cicero</strong>-Leserservice, 20080 Hamburg, jederzeit widerrufen werden.<br />

Datum<br />

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20080 Hamburg<br />

Bestellnr.: 544103<br />

59<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


WELTBÜHNE<br />

Reportage<br />

DIE RETTUNG<br />

DES VERSTANDES<br />

Wie kann Alzheimer besiegt werden? In abgeschiedenen<br />

Bergdörfern der kolumbianischen Anden erkrankt jeder<br />

zweite Mensch an dem Hirnleiden. Dort wagt ein Neurologe<br />

ein kompliziertes, aber vielversprechendes Experiment<br />

Von CLAAS RELOTIUS<br />

60<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Laura, 16, versorgt<br />

seit einem Jahr ihre<br />

Mutter. Die ist <strong>auf</strong><br />

37 Kilo abgemagert,<br />

kann das Bett nicht<br />

verlassen. Diagnose:<br />

Alzheimer im<br />

Endstadium. Der Vater<br />

ist bereits infolge der<br />

Krankheit gestorben


WELTBÜHNE<br />

Reportage<br />

Vielleicht kann schwarzer Humor<br />

nicht schaden <strong>auf</strong> dieser<br />

Reise zu einer tödlichen<br />

Krankheit. Also lehnt sich<br />

der Neurologe Francisco<br />

Lopera vom Beifahrersitz nach hinten<br />

und erzählt einen Witz. „Sagt ein Arzt<br />

zum Patienten: Es tut mir leid, aber Sie<br />

haben Krebs und Alzheimer. Antwortet<br />

der Patient: Ich verstehe, na immerhin<br />

kein Krebs!“<br />

Seine vier Forschungsassistenten<br />

im schaukelnden Jeep ringen sich ein<br />

Schmunzeln ab. Sie sind angespannt an<br />

diesem Tag, <strong>auf</strong> den sie mehr als zehn<br />

Jahre hingearbeitet haben. Er ist der Auftakt<br />

für eine Reihe von Tests und Studien,<br />

an deren Ende sie das zu finden hoffen,<br />

was Wissenschaftler <strong>auf</strong> der ganzen Welt<br />

seit Jahrzehnten suchen – ein Mittel im<br />

Kampf gegen Alzheimer.<br />

Das Hochland von Antioquia, vier<br />

Autostunden von Kolumbiens zweitgrößter<br />

Metropole Medellín entfernt, zieren<br />

steile Berge und saftiges Grün. Echte<br />

Straßen gibt es nicht, also ruckelt der<br />

Geländewagen im Schneckentempo das<br />

2400 Meter hohe Tal hin<strong>auf</strong>, nach ganz<br />

oben, dorthin, wo die Paísa wohnen. Die<br />

weit abgeschieden von der städtischen<br />

Zivilisation lebenden Andenbauern sollen<br />

als Testpersonen dienen für Medikamente,<br />

die eines Tages Alzheimer hinauszögern<br />

oder sogar verhindern könnten.<br />

Was die Paísa für den Neurologen<br />

Francisco Lopera, 62, und sein Team der<br />

Universität von Antioquia so interessant<br />

macht: In vielen Dörfern wird jeder<br />

Zweite von ihnen schon mit Anfang 40<br />

von erblicher Demenz dahingerafft. Es<br />

ist eine besonders tragische und seltene<br />

Form der Alzheimer-Krankheit, gerade<br />

6000 Fälle sind weltweit bekannt. Allein<br />

5000 davon in den Bergen Kolumbiens,<br />

wo sich der Gendefekt, der die Krankheit<br />

auslöst, innerhalb weit verzweigter Familienclans<br />

über drei Jahrhunderte so unbemerkt<br />

verbreiten konnte, dass Experten<br />

heute von der „Paísa“-Mutation sprechen.<br />

Auf der Passhöhe lichtet sich der<br />

Morgennebel. Der Blick fällt <strong>auf</strong> endlose<br />

Täler und eine bunt bemalte Finca<br />

am Gipfel. Das Zuhause der Familie Poscero,<br />

seit Jahrzehnten im Hochland verwurzelt<br />

und seit Generationen von einem<br />

Leiden verfolgt, das die Paísa bis heute<br />

la bobera, die Torheit, nennen, weil es<br />

Inmitten der endlosen Täler von<br />

Antioquia steht die Finca der<br />

Posceros. Seit Generationen<br />

leiden die Familienmitglieder an<br />

der Krankheit, die Einheimische<br />

la bobera, die Torheit, nennen<br />

den Menschen den Verstand zu rauben<br />

scheint. Oscar Poscero, der mit leerem<br />

Blick in einem Schaukelstuhl vor dem<br />

Haus sitzen bleibt, während sein alter Vater<br />

die Forscher mit einer Umarmung begrüßt,<br />

war erst 39 und stand in der Mitte<br />

seines Lebens, als es passierte.<br />

ES BEGANN MIT KLEINEN DINGEN. An<br />

manchen Tagen vergaß er die Kühe zu<br />

melken, an anderen erinnerte er sich<br />

nicht mehr an die Namen der Bauern, mit<br />

denen er Geschäfte machte. Eines Morgens<br />

brachte er seine kleine Tochter Valeria<br />

zur Schule in das Nachbardorf und<br />

verschwand. Die Bauern fanden ihn zwei<br />

Nächte später in einem Kartoffelfeld hockend,<br />

die Arme so krampfhaft über seinem<br />

Kopf verschränkt, als würde sich darin<br />

ein schmerzhafter Kampf abspielen.<br />

Als sie Oscar wieder nach Hause fuhren,<br />

stand sein Vater Don Eligio mit bibberndem<br />

Kinn in der Tür und wusste Bescheid.<br />

Er hatte es schon bei seiner Frau<br />

sowie zwei anderen Söhnen und Töchtern<br />

erlebt. Vor Oscar waren bereits<br />

vier seiner neun Kinder bobo geworden.<br />

Sie alle sind mittlerweile tot. Nur seine<br />

74-jährige Frau Berta, die er rund um die<br />

Uhr pflegen muss, ist noch am Leben.<br />

Aus ihrer Familienlinie stammt das<br />

Gen, das, dominant vererbt, jedem zweiten<br />

Nachkommen die Krankheit bringt.<br />

Eine seltene Mutation <strong>auf</strong> Chromosom 14<br />

ist schuld, dass schon ihr Vater und Großvater<br />

an Alzheimer litten. Jetzt hat es Oscar,<br />

ihren letzten Sohn, getroffen. Wird<br />

dessen Schwester Olga, 38, das jüngste<br />

Kind Bertas und Don Eligios, die Nächste<br />

sein?<br />

Doktor Lopera, der die Familie<br />

schon seit Jahren begleitet, weiß es nicht,<br />

und wenn, dann würde er es nicht sagen.<br />

Zu wichtig ist für seine Studie, dass keine<br />

der Testpersonen Phantom-Merkmale einer<br />

Krankheit entwickelt, an der sie womöglich<br />

gar nicht leidet.<br />

Olga, langes Haar, tiefbraune Augen,<br />

ist eine von 300 noch gesunden<br />

Paísa im Alter von 30 bis 60 Jahren, die<br />

sich bereit erklärt haben, an den Versuchen<br />

teilzunehmen, und deren Körper für<br />

Lopera „medizinische Schatzkammern“<br />

sind. Der Grund: Viele von ihnen tragen<br />

das Gen in sich und werden in absehbarer<br />

Zeit erkranken. Das ist für die Betroffenen<br />

tragisch, aber es bedeutet auch:<br />

Erstmals lassen sich vorbeugende Alzheimer-Wirkstoffe<br />

an Patienten testen,<br />

lange bevor bei diesen Symptome der<br />

Demenz <strong>auf</strong>treten.<br />

Neurologen weltweit sind sich einig,<br />

dass sich hierdurch die Erfolgschancen<br />

Fotos: Claas Relotius für <strong>Cicero</strong> (Seiten 60 bis 62)<br />

62<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


um ein Vielfaches erhöhen, da bei Alzheimer<br />

die ersten Veränderungen im<br />

Gehirn bereits Jahre vor dem erkennbaren<br />

Ausbruch der Krankheit einsetzen.<br />

„Wenn wir <strong>auf</strong> diese Weise ein Mittel finden,<br />

das bei Olga und den anderen anschlägt<br />

und der Demenz vorbeugt, dann<br />

muss das gleiche Mittel mit großer Wahrscheinlichkeit<br />

auch bei der klassischen<br />

Alzheimer-Form wirken“, sagt Lopera.<br />

Ausgerechnet das schwere Schicksal<br />

der Paísa könnte der Wissenschaft zum<br />

Durchbruch verhelfen und in Zukunft<br />

Millionen Menschen <strong>auf</strong> der ganzen Welt<br />

vor der Krankheit bewahren.<br />

Doch die Tests sind nicht ohne Risiken.<br />

In den USA erlitten Teilnehmer<br />

vergleichbarer Studien bereits Nervenschäden<br />

und Hirnhautentzündungen,<br />

ihre Zeugungsfähigkeit nahm ab, einige<br />

starben. Olga will das nicht hören. „Hört<br />

<strong>auf</strong>!“, unterbricht sie Lopera, als dieser<br />

sie mit seinen Assistenten ein letztes Mal<br />

<strong>auf</strong>klären will. „Was habe ich denn davon,<br />

wenn ich lebe und irgendwann auch<br />

den Verstand verliere wie mein Bruder?“<br />

Alzheimer ist eine tückische, tragische<br />

Krankheit. Was ist es für ein Gefühl,<br />

diese ein Leben lang wie einen dunklen<br />

Fels, der jede Erinnerung und nicht zuletzt<br />

die eigene Persönlichkeit begraben<br />

wird, <strong>auf</strong> sich zurollen zu sehen?<br />

OLGA HAT SICH ENTSCHIEDEN, dagegen<br />

anzukämpfen. Während ihr Großvater<br />

unruhig vor der Finca <strong>auf</strong> und ab geht,<br />

verstauen Loperas Assistenten die Tasche<br />

mit Olgas Kleidern im Wagen. Das Team<br />

ist gekommen, um sie abzuholen und in<br />

die Stadt zu bringen. In die Uniklinik<br />

von Medellín, wo sie die nächsten Wochen<br />

bleiben und schon bald den ersten<br />

Wirkstoff bekommen wird. Crenezumab<br />

heißt das Medikament. Es wird unter die<br />

Haut gespritzt und soll die Bildung von<br />

Plaques um das Protein Beta-Amyloid im<br />

Gehirn verhindern, da diese zum langsamen<br />

Absterben der Nervenzellen führen.<br />

Experten vermuten, dass hierin der<br />

Ursprung von Alzheimer liegen könnte.<br />

„Wahrscheinlich verfügen wir längst<br />

über die richtigen Waffen gegen die<br />

Krankheit“, sagt Lopera. „Nur konnten<br />

wir sie bislang immer erst dann einsetzen,<br />

Vor 31 Jahren begann der<br />

Neurologe Francisco Lopera mit<br />

seiner Forschung. Heute sagt er:<br />

„Wahrscheinlich verfügen wir längst<br />

über die richtigen Waffen gegen<br />

die Krankheit. Nur konnten wir sie<br />

bislang immer erst dann einsetzen,<br />

wenn es bei den Betroffenen schon<br />

viel zu spät war“<br />

wenn es bei den Betroffenen schon viel<br />

zu spät war.“ Es ist kein Zufall, dass von<br />

„Waffen“ die Rede ist, wenn Lopera<br />

über Medikamente spricht. Die Suche<br />

nach einem Mittel gegen Alzheimer ist<br />

ein Kampf, über dem sein einst dunkles<br />

Haar schlohweiß wurde und der ihn<br />

schon sein ganzes Forscherleben antreibt.<br />

Er begann vor 31 Jahren.<br />

Lopera hatte gerade erst sein Studium<br />

beendet und eine Stelle als Assistenzarzt<br />

angenommen, als eine Frau aus<br />

dem Hochland mit ihrem Mann in seine<br />

Sprechstunde kam und um Hilfe bat. Der<br />

Mann war erst 50, doch verwirrt wie ein<br />

Greis. Er nässte ein, konnte <strong>auf</strong> Fragen<br />

nach seinem Namen keine Antwort geben<br />

und schien jede Kontrolle über seinen<br />

Körper verloren zu haben. Lopera<br />

wurde stutzig. Es waren alle Symptome<br />

einer Demenz vorhanden, aber wie<br />

konnte diese so früh <strong>auf</strong>treten? Als die<br />

Frau des Mannes beiläufig erwähnte, dies<br />

sei nicht der erste Fall in der Familie, und<br />

es habe in jeder Generation mehrere Verrückte<br />

gegeben, beschloss der Arzt, dem<br />

Phänomen <strong>auf</strong> den Grund zu gehen.<br />

Er fuhr in die Berge, befragte ganze<br />

Clans nach ihren Verwandten und verbrachte<br />

jeden freien Tag bei den Bauern,<br />

um ihre Hirnleistung zu testen. Die meisten<br />

Menschen, die er besuchte, wussten<br />

Foto: Todd Heisler/The New York Times/Redux/laif<br />

63<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


WELTBÜHNE<br />

Reportage<br />

nichts von einer Krankheit. Sie glaubten<br />

an einen bösen Fluch und sprachen vom<br />

„Geist von Antioquia“, der von ihren Angehörigen<br />

Besitz ergreife.<br />

Viele Bauernhöfe lagen so abgeschieden,<br />

dass Lopera sie erst nach stundenlanger<br />

Reise zu Fuß oder zu Pferd erreichte.<br />

Das hielt ihn aber genauso wenig<br />

ab wie die Kämpfer der Farc, die sich in<br />

den achtziger Jahren noch zu Tausenden<br />

im Hochland versteckten. Eines Tages<br />

entführten ihn fünf bewaffnete Guerilleros.<br />

Er fürchtete nicht um sein Leben,<br />

sondern allein um die Blutplasma-Proben<br />

und Aufzeichnungen, die er gemacht<br />

hatte. „Macht mit mir, was ihr wollt“,<br />

sagte er, „doch sorgt dafür, dass alles<br />

davon in die Stadt kommt.“<br />

Zwei Tage später, die Entführer hatten<br />

die Proben in einem Bach gekühlt,<br />

nahm einer von ihnen Lopera die Fesseln<br />

ab und sagte, er müsse unbedingt weiterarbeiten.<br />

Sein jüngerer Bruder, keine<br />

40 Jahre alt, werde vom „Geist von Antioquia“<br />

verfolgt und nur er, der Doktor,<br />

der den Geist jage, könne ihm helfen.<br />

ES DAUERTE ZEHN JAHRE, bis Lopera<br />

mit seinen Nachforschungen zu einem<br />

eindeutigen Befund kam. Was ihm half,<br />

waren die Kirchenbücher von Yarumal,<br />

einer kleinen Paísa-Gemeinde nördlich<br />

Eines Morgens brachte Oscar<br />

Poscero seine kleine Tochter<br />

Valeria zur Schule in das<br />

Nachbardorf und verschwand.<br />

Zwei Tage später fanden ihn<br />

Bauern orientierungslos und völlig<br />

verwirrt in einem Kartoffelfeld<br />

von Medellín. Im Pfarrhaus fand er eine<br />

Kiste mit Dokumenten, durch die Lopera<br />

sämtliche Geburten, Eheschließungen<br />

und Sterbefälle über Jahrhunderte bis<br />

ins Detail zurückverfolgen konnte. Beim<br />

Blick <strong>auf</strong> die Stammbäume wurde deutlich:<br />

Alle 25 Familien, in der die bobera<br />

regelmäßig <strong>auf</strong>tauchte, gingen aus Javier<br />

San Pedro Gómez und María Luisa Chavarriaga<br />

Mejía hervor, einem Paar spanischer<br />

Abstammung, das 1757 in Yarumal<br />

heiratete. Für Lopera ließ dies nur<br />

einen Schluss zu: Die Krankheit, von der<br />

er glaubte, sie sei Alzheimer, musste erblich<br />

und somit genetisch bedingt sein.<br />

Die Straße von Medellín nach Yarumal<br />

gleicht einer Spirale, die sich steil<br />

ins Hochland windet. Matasanos, „tötet<br />

Gesunde“, nennen sie die Einheimischen,<br />

weil jeden Monat Fahrzeuge durch die<br />

Begrenzungszäune krachen und ins Tal<br />

stürzen. Die Verunglückten stammen fast<br />

immer von außerhalb. Den Menschen aus<br />

Yarumal fehlt das Geld für Autos.<br />

Rund 30 000 Bauern leben hier, und<br />

die meisten sind arm. Die erbliche Alzheimer-Krankheit,<br />

die sich an keinem anderen<br />

Ort Antioquias so dicht ausbreiten<br />

konnte wie in Yarumal, hat auch ihre<br />

wirtschaftlichen Spuren hinterlassen.<br />

Kinder müssen ihre Eltern pflegen, Eltern<br />

ihre Kinder. Zeit für den Besuch einer<br />

Schule oder die Arbeit <strong>auf</strong> den Feldern<br />

bleibt wenigen. Hinzu kommt die psychische<br />

Belastung. Viele, die sich gleich<br />

um mehrere Angehörige kümmern, leiden<br />

an Depressionen, sind alkoholabhängig.<br />

Andere nehmen sich schon in jungen<br />

Jahren das Leben, um der Krankheit<br />

zuvorzukommen.<br />

Lopera sagt: „Wer 20 oder 30 wird,<br />

für den werden die Zweifel meist unerträglich.“<br />

Schon die alltägliche Vergesslichkeit<br />

werde häufig als dunkle Vorbotin<br />

der Krankheit interpretiert. Sogar Kinder<br />

und Jugendliche fragten sich: Wie viel<br />

Zeit bleibt mir noch? Wer wird mich einmal<br />

pflegen?<br />

Die 16-jährige Laura hat noch <strong>auf</strong><br />

keine dieser Fragen eine Antwort. In einer<br />

einfachen Holzhütte am Rande Yarumals<br />

lebend, muss sie vor allem sehen,<br />

wie sie ihre Familie über die Runden bekommt.<br />

Vor der Baracke verk<strong>auf</strong>t sie<br />

Foto: Claas Relotius für <strong>Cicero</strong><br />

64<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Guten Tag, Frau Ministerin. Hallo,<br />

Herr Ministerialrat. Grüß Gott,<br />

liebes Mitglied des Bundestages.<br />

Moin, Herr Hauptgeschäftsführer,<br />

und einen guten Tag, liebe Mitbürger.<br />

Wir haben etwas ganz<br />

Besonderes für Sie: Tagesspiegel<br />

Agenda. Der erste Lokalteil für die<br />

Berliner Republik – nur dienstags<br />

in der Sitzungswoche und nur im<br />

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des Bundestages erscheint am Dienstag Tagesspiegel Agenda. Wenn Sie keine Ausgabe verpassen möchten, raten wir<br />

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WELTBÜHNE<br />

Reportage<br />

täglich Holzschmuck an vorbeifahrende<br />

Händler. Das Geschäft bringt wenig ein,<br />

aber es erlaubt Laura, immer zu Hause<br />

zu sein. Bei ihrem kleinen Bruder Lucos,<br />

9, der zur Schule geht. Vor allem<br />

aber bei ihrer Mutter Roselia, die seit einem<br />

Jahr das Bett nicht mehr verlassen<br />

hat und kaum mehr in der Lage ist, ein<br />

Wort zu sprechen. Wie ein ängstliches<br />

Kind, die Decke bis zum Hals hochgezogen,<br />

liegt die 40-Jährige <strong>auf</strong> einer Pritsche<br />

in der Hütte und starrt mit <strong>auf</strong>gerissenen<br />

Augen an die Wand. Ihre Mutter<br />

sei früher eine schöne und kräftige Frau<br />

gewesen, erzählt Laura. Heute wiege sie<br />

noch 37 Kilo. Die Ärzte nennen es die<br />

„dritte und letzte Phase“, Alzheimer im<br />

Endstadium.<br />

Laura, die für ihr Alter erstaunlich<br />

reif wirkt, erzählt, dass sie sich manchmal<br />

zu ihrer Mutter legt und ihr von Neuigkeiten<br />

berichtet. „Auch wenn ich weiß,<br />

dass sie niemals reagieren wird.“ Dass<br />

Kinder schon in jungen Jahren ihre Eltern<br />

verlieren, ist in Yarumal keine Ausnahme.<br />

Wenn ihre Mutter stirbt, werden<br />

Laura und ihr Bruder Vollwaisen sein.<br />

Den Vater hat ihnen die Krankheit schon<br />

genommen. Bei ihm, einem Taxifahrer,<br />

ging es ganz schnell. Mit Ende 30, sagen<br />

die Nachbarn, verfuhr er sich plötzlich<br />

immer häufiger in der Gemeinde. Ein<br />

Jahr später war er tot.<br />

Seine Gehirnmasse lagert heute<br />

im Labor der Universität von Antioquia<br />

in Medellín. Loperas Team konnte<br />

in den vergangenen 20 Jahren mehr als<br />

200 Paísa-Familien überreden, die Gehirne<br />

ihrer verstorbenen Angehörigen<br />

der Wissenschaft zu spenden. Einige werden<br />

in Formalin <strong>auf</strong>bewahrt, die meisten<br />

in meterhohen Eisschränken. Schicksale,<br />

für die Ewigkeit heruntergekühlt <strong>auf</strong> minus<br />

80 Grad Celsius und mit großer Bedeutung<br />

für die Nachwelt. Solange ein<br />

Mensch lebt, ist Alzheimer nur eine Diagnose.<br />

Echte Gewissheit lässt sich allein<br />

durch die Analyse offenliegender Hirnstrukturen<br />

erlangen.<br />

Anhand der gespendeten Organe<br />

konnte Lopera vor einigen Jahren zeigen,<br />

dass sich bei allen Verstorbenen genau<br />

jene eiweißhaltigen Plaques <strong>auf</strong> den<br />

Nervenzellen im Gehirn abgelagert hatten,<br />

die ein Jahrhundert zuvor schon<br />

Alois Alzheimer als typische Merkmale<br />

der Krankheit beschrieb. Erst damit war<br />

„Wir wollen<br />

nicht, dass die<br />

Paísa sich in<br />

ihrer Not<br />

ausgebeutet<br />

fühlen“<br />

Francisco Lopera<br />

der Beweis erbracht, dass es sich bei dem<br />

erblichen Leiden der Andenbauern um<br />

Alzheimer handelt.<br />

Seitdem ist die internationale Forschergemeinde<br />

<strong>auf</strong> die Paísa und ihre<br />

besondere genetische Veranlagung <strong>auf</strong>merksam<br />

geworden. Rund 5000 Kilometer<br />

nördlich von Antioquia, in Phoenix,<br />

Arizona, hatten Wissenschaftler des Banner<br />

Alzheimer’s Institute schon seit Jahrzehnten<br />

nach Menschen mit genetisch<br />

bedingter Demenz gesucht. Amerikas<br />

führendes Forschungslabor für Alzheimer-Prävention<br />

ist heute der wichtigste<br />

Förderer der 100 Millionen Dollar teuren<br />

Studie in Medellín.<br />

Mittels Gentests konnte Loperas<br />

Team ermitteln, wer die Mutation in<br />

sich trägt und wer nicht. 100 Teilnehmer,<br />

die Träger der Mutation sind, erhalten<br />

nun den Wirkstoff, 100 weitere<br />

mit den gleichen Erbanlagen nur ein Placebo.<br />

Hinzu kommt eine Kontrollgruppe<br />

aus 100 Paísa, die die Mutation nicht tragen,<br />

es aber nicht wissen und ebenfalls<br />

ein Placebo erhalten, um keine Rückschlüsse<br />

<strong>auf</strong> andere Familienmitglieder<br />

zuzulassen. Parallel dazu werden 150<br />

ältere Menschen in den USA, die eine<br />

erhöhte Wahrscheinlichkeit mitbringen,<br />

bald an Alzheimer zu erkranken, mit<br />

den gleichen Medikamenten behandelt.<br />

Es sei wichtig, dass die Chancen und Risiken<br />

mit Familien in den USA geteilt<br />

werden, sagt Lopera. „Wir wollen nicht,<br />

dass die Paísa sich in ihrer Not ausgebeutet<br />

fühlen.“<br />

Die Studie soll fünf Jahre lang l<strong>auf</strong>en.<br />

Die Leiter des Banner Alzheimer’s<br />

Institute hoffen schon nach zwei bis drei<br />

Jahren <strong>auf</strong> erste Ergebnisse. Es geht<br />

vor allem um die Frage, ob und inwieweit<br />

sich die Hirnleistung der Probanden<br />

im direkten Vergleich zueinander<br />

verschlechtert.<br />

Lopera ist zuversichtlich, dass einer<br />

der insgesamt 18 Wirkstoffe, die im<br />

L<strong>auf</strong>e der Studie zum Einsatz kommen<br />

könnten, den Amyloid-Befall im Gehirn<br />

der Patienten stoppen und damit auch die<br />

Krankheit hinauszögern oder gar verhindern<br />

werde. Doch was, wenn die winzigen<br />

Plaques um das Protein Beta-Amyloid<br />

überhaupt nicht die Auslöser von<br />

Alzheimer sind? „Dann wissen wir zumindest,<br />

dass wir in einer Sackgasse stecken<br />

und ganz von vorn anfangen müssen<br />

– auch das wäre in gewisser Hinsicht<br />

ein Erfolg“, sagt Lopera.<br />

Ein Sonntagnachmittag in Yarumal.<br />

Zwei Dutzend Menschen, vor allem<br />

Alte und Kinder, ziehen mit Gitarrenmusik<br />

und einem blumenverzierten Sarg<br />

durch die Straßen. Es ist die Totenfeier<br />

für eine Frau, die mit 46 Jahren der Alzheimer-Krankheit<br />

erlegen ist. Der Zug<br />

marschiert <strong>auf</strong> einen großen, hölzernen<br />

Torbogen zu, der am Ortseingang erbaut<br />

wurde. Er stammt von einem Mann, der<br />

bei allem Leid bis heute den ganzen Stolz<br />

der Menschen in Yarumal begründet. Die<br />

kleine, abgeschiedene Gemeinde hat einen<br />

85-jährigen Sohn, den die ganze Welt<br />

kennt: Der große Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger<br />

Gabriel García<br />

Márquez hat hier einen Teil seiner Jugend<br />

verbracht. Er ließ vor knapp zwei<br />

Jahren ein Heiligenkreuz und die Aufschrift<br />

„Möge der Geist von Antioquia<br />

eines Tages Heilung erfahren und für immer<br />

ruhen“ in den Bogen eingravieren.<br />

Es sollte den Menschen seiner Heimat<br />

Hoffnung geben.<br />

Danach wurde es seltsam still um<br />

den Autor. <strong>Kein</strong>e Bücher, keine Auftritte<br />

im Fernsehen, keine Interviews in Zeitungen<br />

mehr. Im Herbst 2012 brach sein<br />

Bruder das Schweigen und erklärte: Es<br />

sei Zeit für Kolumbien, sich von seinem<br />

Nationalhelden zu verabschieden – Gabriel<br />

García Márquez leide an Alzheimer.<br />

CLAAS RELOTIUS ist<br />

Reporter. Er verbrachte neun<br />

Tage im kolumbianischen<br />

Hochland, um das Leben<br />

der Paísa zu erkunden<br />

Foto: Philipp Wieland<br />

66<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


KAPITAL<br />

„ Meine Langhaarige<br />

k<strong>auf</strong>te die Tomaten – und<br />

ich die Gärtnerei “<br />

Heinz Schelwat, Unternehmer aus Trappenkamp in Schleswig-<br />

Holstein, erklärt, wie er zum Algenzüchter wurde, Seite 72<br />

67<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

DER MACHTWÄCHTER<br />

Ob Biertrinker oder Brillenträger – der Präsident des Bundeskartellamts Andreas Mundt<br />

schützt die Verbraucher. Nun nimmt er sich ein Staatsunternehmen vor: die Bahn<br />

Von CAROLA SONNET<br />

Foto: Marcus Gloger für <strong>Cicero</strong><br />

Man kennt sich, man hilft sich.<br />

Diese rheinische Weisheit ist<br />

auch dem gebürtigen Bonner<br />

Andreas Mundt geläufig. In seiner Funktion<br />

als Präsident des Bundeskartellamts<br />

stellt diese Mentalität für ihn allerdings<br />

ein Problem dar. Denn wenn sich Konkurrenten<br />

zu gut kennen und sich durch<br />

Preisabsprachen zu sehr helfen, ist der<br />

Wettbewerb in Gefahr, den Andreas<br />

Mundt schützen soll. Die von ihm geleitete,<br />

in Bonn ansässige Behörde verhängt<br />

dazu Bußgelder gegen Kartelle,<br />

kontrolliert Fusionen und schreitet ein,<br />

wenn Unternehmen ihre Marktmacht<br />

missbrauchen.<br />

Dabei wirkt Deutschlands oberster<br />

Wettbewerbshüter überhaupt nicht wie<br />

ein harter Hund. Mundt lacht sehr gerne<br />

und bezeichnet sich selbst als positiven<br />

Menschen. Wenn er erzählt, hört man<br />

aber, wie ernst er seine Aufgabe nimmt.<br />

Er kann hartnäckig sein, wenn es dar<strong>auf</strong><br />

ankommt.<br />

Aktuell sorgt Mundt für Schlagzeilen,<br />

weil er ein Missbrauchsverfahren gegen<br />

die Deutsche Bahn eingeleitet hat. Die<br />

Bundesbehörde nimmt sich nun ein Unternehmen<br />

vor, das zu 100 Prozent dem<br />

Bund gehört.<br />

„Wir wollen wissen, warum die Kunden<br />

in der Regel im Bahnhof keine Tickets<br />

der Wettbewerber k<strong>auf</strong>en können.<br />

Das gilt besonders für den Fernverkehr“,<br />

sagt er. Denn hier beherrscht die Deutsche<br />

Bahn 98 Prozent des Marktes, im<br />

Nahverkehr sind es ebenfalls über 70 Prozent.<br />

„Ohne den Zugang zum Fahrkartenverk<strong>auf</strong><br />

funktioniert der Wettbewerb<br />

<strong>auf</strong> der Schiene nicht. Denn viele Leute<br />

k<strong>auf</strong>en ihre Fahrkarten nach wie vor erst,<br />

wenn sie in den Bahnhof kommen.“<br />

Die Deutsche Bahn argumentiert,<br />

die Lufthansa müsse schließlich auch<br />

keine Tickets von Easyjet und Ryanair<br />

an ihren Schaltern verk<strong>auf</strong>en. Doch der<br />

Vergleich ist schief, weil die Lufthansa<br />

auch nicht alleinige Eigentümerin der<br />

Flughäfen ist und jede Fluggesellschaft<br />

ihre Kunden in der Schalterhalle ohne<br />

Einschränkungen bedienen kann: „Genau<br />

das funktioniert an deutschen Bahnhöfen<br />

nicht“, sagt Mundt, da die Bahn<br />

eben nicht ausreichend über den Wettbewerb<br />

reguliert werde.<br />

MUNDTS CREDO heißt daher: Wettbewerb<br />

ist der beste Verbraucherschutz.<br />

Manchmal zweifelt er daran, ob diese<br />

Botschaft in der breiten Öffentlichkeit<br />

der Konsensrepublik Deutschland schon<br />

überall angekommen ist: „Man tut hier<br />

immer so, als sei Wettbewerb nur eine<br />

Frage des survival of the fittest: Der<br />

Starke überlebt, der Schwache stirbt.<br />

Diese Ansicht habe ich nie geteilt.“ Für<br />

ihn ist Wettbewerb ein Spiel, bei dem<br />

sich die Teilnehmer gegenseitig anspornen.<br />

Und er ist der Schiedsrichter.<br />

Die Aufgabe von Mundt und seinen<br />

340 Mitarbeitern, die gesamte deutsche<br />

Wirtschaft zu kontrollieren, scheint<br />

<strong>auf</strong> den ersten Blick riesig, aber Kronzeugenregelungen<br />

und anonyme Informanten<br />

erleichtern die Arbeit der Wettbewerbshüter.<br />

Das Kartellamt arbeitet<br />

effizient und trifft für eine deutsche Behörde<br />

verhältnismäßig schnelle Entscheidungen<br />

dank flacher Hierachien.<br />

Trotz seiner Macht ist Mundt bescheiden<br />

geblieben. Seit vier Jahren steht<br />

er an der Spitze des Amtes, ernannt vom<br />

damaligen Wirtschaftsminister Rainer<br />

Brüderle. Er war der erste Präsident, der<br />

nicht direkt aus dem Wirtschaftsministerium<br />

kam, sondern sich schon vorher jahrelang<br />

als Experte im Amt profiliert hatte.<br />

Beruflich hat es der Kartellamtschef<br />

weit gebracht – geografisch eher<br />

nicht. Er hat in Bonn Jura studiert und<br />

als Referent für die FDP-Fraktion gearbeitet.<br />

Vor 14 Jahren fing er beim Kartellamt<br />

an. Mit seiner Frau und den beiden<br />

Töchtern wohnt der 53-Jährige in<br />

Bad Godesberg.<br />

In einem der schönsten Büros der<br />

Stadt, in der Villa des ehemaligen Bundespräsidialamts<br />

am Rhein, in dem schon<br />

Theodor Heuss seinen Amtsgeschäften<br />

nachging, sinniert Mundt heute über die<br />

Instrumente, die er gegen Wettbewerbsverstöße<br />

in der Hand hat. „Es wird immer<br />

Absprachen geben“, sagt er. Auch<br />

mit höheren Strafen könne man Kartelle<br />

nie ganz verhindern. „Aber mit unserer<br />

Arbeit in den vergangenen Jahren ist das<br />

Thema so nach vorne gerückt, dass viele<br />

sich das inzwischen echt gut überlegen.“<br />

Bußgelder in dreistelliger Millionenhöhe<br />

haben eine abschreckende Wirkung:<br />

Das Bier-Kartell: 106,5 Millionen<br />

Euro. Das Brillengläser-Kartell: 115 Millionen<br />

Euro. Das Kaffeeröster-Kartell:<br />

160 Millionen Euro. Die Teilnehmer<br />

dieser Hardcore-Kartelle trafen weitreichende<br />

Vereinbarungen über Preise, Gebiete,<br />

Kunden und Verk<strong>auf</strong>squoten. „Das<br />

sind die schädlichsten Formen, weil die<br />

Auswirkungen <strong>auf</strong> die Verbraucher so<br />

gravierend sind“, sagt Mundt.<br />

Der Bahn droht zwar kein Bußgeld,<br />

aber auch ein Missbrauchsverfahren<br />

kratzt am Image. An anderer Stelle profitiert<br />

das Staatsunternehmen sogar gerade<br />

von Mundts Arbeit. Das Amt hat ein<br />

Kartell von Schienenherstellern <strong>auf</strong>gedeckt.<br />

Dadurch kann die Bahn Schadenersatz<br />

von den beteiligten Unternehmen<br />

verlangen. Bei weiter Auslegung auch ein<br />

Fall von: Man kennt sich, man hilft sich.<br />

CAROLA SONNET ist ebenfalls gebürtige<br />

Bonnerin, hat als Wirtschaftsjournalistin<br />

aber auch schon außerhalb ihrer<br />

Heimatstadt gearbeitet<br />

69<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

MEISTERIN DES EXPERIMENTS<br />

Was wirkt gegen Krankheit und Armut? Esther Duflo testet das systematisch. Anfangs<br />

stieß ihre Methodik <strong>auf</strong> Widerstand. Nun wird sie für den Nobelpreis gehandelt<br />

Von CHRISTINE MATTAUCH<br />

Klein. Frau. Französin. In der von<br />

großen, meist männlichen Egos<br />

geprägten Welt der amerikanischen<br />

Ökonomen ist Esther Duflo exotisch.<br />

Zumal sie über Armut forscht – für<br />

ehrgeizige US-Jungakademiker ähnlich<br />

attraktiv wie beten.<br />

Aber Duflo hat die Außenseiterdisziplin<br />

Entwicklungsökonomie mit ihrer<br />

Arbeit revolutioniert. Bill Gates liest ihre<br />

Bücher, Weltbank-Chef Jim Yong Kim gehört<br />

zu ihren Fans – und U2-Sänger Bono<br />

gratulierte persönlich zum 10. Jubiläum<br />

des von Duflo gegründeten Poverty Action<br />

Lab am Massachussets Institute of<br />

Technology im vergangenen Dezember.<br />

Das Besondere an Duflo ist, dass sie<br />

in einem vorher von Theoretikern und<br />

Ideologen beherrschten Fach einfache<br />

Fragen stellt und mit empirischen Experimenten<br />

die Antworten liefert: Wie verbessere<br />

ich den Impfschutz in indischen<br />

Dörfern? Wie stoppe ich die Verbreitung<br />

von Malaria? Was muss ich machen, damit<br />

mehr Schüler in Kenia die Schule<br />

besuchen?<br />

Für ihre Experimente wendet Duflo<br />

eine seit Jahrzehnten in der Arzneimittelforschung<br />

bewährte Methode an, Zufallstests<br />

mit Kontrollgruppen. Sie teilt<br />

die Bevölkerung einer Region in zwei<br />

Gruppen ein, die eine bekommt die „Behandlung“<br />

– geschenkte Moskitonetze,<br />

Gratisimpfungen oder neue Schulbücher<br />

–, die Kontrollgruppe muss dafür<br />

bezahlen oder bekommt gar keine Behandlung,<br />

je nach Ausgestaltung des Versuchs.<br />

Auf diese Weise kann Duflo messen,<br />

ob Spenden und Hilfsmaßnahmen<br />

überhaupt wirken. Das ist ziemlich <strong>auf</strong>wendig<br />

und unbequem – und führt immer<br />

wieder zu überraschenden Ergebnissen.<br />

Ein Test in Kenia ergab, dass ausgerechnet<br />

Wurmkuren das beste Mittel waren,<br />

um den Schulbesuch von Kindern zu<br />

fördern – die Impfungen brachten mehr<br />

als kostenlose Schulbücher oder Zusatzlehrer.<br />

In Indien war es ein geschenktes<br />

Paket Linsen, das die Eltern dazu brachte,<br />

ihre Kinder zur Impfstation zu bringen.<br />

Bei den Moskitonetzen stellte sich heraus,<br />

dass die Gruppe, die sie gegen einen<br />

Gutschein umsonst in der Apotheke bekam,<br />

am häufigsten die Netze benutzte<br />

und außerdem bereit war, ein Jahr später<br />

weitere Netze zu k<strong>auf</strong>en. In den Kontrollgruppen,<br />

die nur einen Rabatt erhielten,<br />

besorgten sich viel weniger der Probanden<br />

überhaupt ein Netz. Mit dem Experiment<br />

war widerlegt, dass geschenkte<br />

Netze nicht benutzt würden und eine Almosenmentalität<br />

förderten.<br />

DUFLO SAGT SELBSTBEWUSST: „Wir beenden<br />

das Rätselraten über die Wirksamkeit<br />

von Hilfsmaßnahmen.“ In der Entwicklungshilfecommunity<br />

hat sie sich<br />

mit ihrer Methode anfangs allerdings<br />

nicht besonders beliebt gemacht. NGOs<br />

waren beleidigt, dass sie ihre gut gemeinten<br />

Hilfsprogramme anzweifelte und<br />

warfen ihr vor, sie mache Menschen zu<br />

Versuchskaninchen. Dabei ging es Duflo<br />

immer nur darum, knappe Mittel effizient<br />

einzusetzen – gerade in der Hilfe<br />

für die Armen. Deswegen widerspricht<br />

sie auch dem Mantra von Jeffrey Sachs,<br />

lange Zeit der Entwicklungshilfepapst<br />

von der New Yorker Columbia University,<br />

Armut lasse sich nur mit mehr Geld<br />

wirksam bekämpfen. In Vorträgen präsentiert<br />

sie dazu gerne ein Chart, das<br />

zeigt, dass das Bruttoinlandsprodukt pro<br />

Kopf in Afrika seit 50 Jahren beinahe<br />

konstant geblieben ist, obwohl die Entwicklungshilfe<br />

immer weiter steigt.<br />

Schon als Kind sah sich die Tochter<br />

einer Pariser Intellektuellenfamilie<br />

mit Armut konfrontiert: Ihre Mutter<br />

Violaine, eine Kinderärztin, half bei<br />

Projekten in der Dritten Welt. „Armut<br />

erschien mir als das größte Problem der<br />

Welt“, sagt Duflo. Als sie 1998 ans MIT<br />

kam und Abhijit Banerjees Vorlesungen<br />

über Entwicklungsökonomie hörte, war<br />

das für sie Erleuchtung und Berufung zugleich.<br />

Banerjee ist heute ihr Lebensgefährte<br />

und Mitbegründer des Poverty Action<br />

Lab, das inzwischen als weltweites<br />

Netzwerk mit fast 100 Wissenschaftlern<br />

in 54 Ländern vertreten ist.<br />

Bei der Feier zum Jubiläum des Instituts<br />

sitzt Duflo still in der ersten Reihe:<br />

schwarze Jeans, schwarzer Blazer, wie<br />

üblich kein Schmuck. Es ist ihr Tag, sie<br />

könnte strahlen und triumphieren, aber<br />

sie steht nicht gerne im Mittelpunkt, ist<br />

eher unprätentiös. Später <strong>auf</strong> der Bühne,<br />

gefragt nach ihrem größten Erfolg, antwortet<br />

sie nur: „Kaum jemand stellt noch<br />

infrage, dass unsere Methode funktioniert.“<br />

Ihre zahlreichen Auszeichnungen,<br />

wie die „John Bates Clark Medal“,<br />

die in der Zunft als Warteschleife für den<br />

Nobelpreis gilt, oder ihre Bücher, die in<br />

der französischen Heimat Bestseller sind,<br />

erwähnt die 41-Jährige gar nicht.<br />

Was sie viel mehr beschäftigt: Beim<br />

Kampf um öffentliche Mittel hat sie einen<br />

schweren Stand, weil ihre Tests mehrere<br />

Jahre dauern – zu lange für Amtsträger,<br />

die Wählern schnelle Erfolge präsentieren<br />

wollen: „Wir müssen uns <strong>auf</strong> das Timing<br />

der Politik einstellen und überlegen,<br />

wie wir trotzdem zum Zuge kommen<br />

können.“ Da hilft es, dass sie einen guten<br />

Draht zu Bill Gates hat, dem Duflos<br />

datenbasierter Ansatz von Anfang an gefiel.<br />

Schon nach dem ersten Treffen sagte<br />

er zu ihr: „Wir müssen dich fördern.“<br />

CHRISTINE MATTAUCH traf Duflo bei<br />

der Jubiläumsfeier des Poverty Action Lab<br />

in Boston<br />

Foto: Ryan Pfluger/AUGUST<br />

70<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


72<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


KAPITAL<br />

Reportage<br />

WER IST DER<br />

MITTELSTAND?<br />

Die Politik umgarnt ihn, das Ausland beneidet uns<br />

um „The Mittelstand“. Was will er? Welcher Geist<br />

eint ihn? Eine Reise vom findigen Algenzüchter<br />

in Trappenkamp über den Mainzer Schuhputzmittel-<br />

Millionär bis zum Perfektionisten am Tegernsee,<br />

der Hollywood mit Papier beliefert<br />

Von TIL KNIPPER<br />

Illustration MIRIAM MIGLIAZZI & MART KLEIN<br />

73<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


KAPITAL<br />

Reportage<br />

Die 3300 versammelten Mittelständler<br />

hängen an den<br />

Lippen von Gregor Gysi.<br />

Es ist Mitte Februar, der<br />

Bundesverband der mittelständischen<br />

Wirtschaft hat zum Neujahrsempfang<br />

geladen. Der große Saal<br />

des Berliner Maritim-Hotels ist bis <strong>auf</strong><br />

den letzten Platz gefüllt. Gregor Gysi,<br />

angekündigt als Oppositionsführer im<br />

Bundestag, steht <strong>auf</strong> der Bühne und gefällt<br />

sich. Was für eine Geschichte! Die<br />

deutsche Linke und der deutsche Mittelstand,<br />

die Klassenfeinde von gestern, die<br />

Freunde von heute. Gysi sagt: „Wenn ich<br />

Ihnen das 1990 prophezeit hätte, hätten<br />

Sie mich in die Psychiatrie einweisen lassen,<br />

und ich hätte mich wahrscheinlich<br />

nicht mal dagegen gewehrt.“<br />

Er nennt seine Partei die letzte überlebende<br />

Mittelstandspartei im Bundestag.<br />

Gelächter. Er kritisiert die Rente mit 63<br />

und fordert, dass in Zukunft auch Selbstständige<br />

und Beamte in die Rentenversicherung<br />

einzahlen sollen. Beifall. Er plädiert<br />

für eine Reform des Schulsystems,<br />

die Absenkung der Stromsteuer und eine<br />

Wirtschaftspolitik, die nicht nur die Interessen<br />

der Konzerne und ihrer Lobbyisten<br />

im Blick hat. Donnernder Applaus,<br />

der länger anhält als bei seinen<br />

Vorrednern, dem Kanzleramtschef Peter<br />

Altmaier, dem EU-Kommissar Günther<br />

Oettinger und dem Außenminister<br />

Frank-Walter Steinmeier.<br />

Auch der Gastgeber sieht zufrieden<br />

aus. Mario Ohoven ist der Präsident des<br />

Mittelstandsverbands, dunkler Anzug,<br />

Hemd mit weißem Kragen und Manschetten,<br />

das Einstecktuch farblich <strong>auf</strong><br />

die Krawatte abgestimmt. Neben ihm in<br />

der ersten Reihe sitzt seine Frau Ute, bekannt<br />

als Charitylady und Unesco-Botschafterin.<br />

Ohoven, 67, hat Bankk<strong>auf</strong>mann<br />

gelernt. Als Anlageberater für<br />

Steuersparmodelle verdiente er Millionen.<br />

Jetzt leitet er einen Verband, der<br />

nach eigenen Angaben 270 000 Unternehmer<br />

vertritt. Wenn Deutschlands<br />

Mittelständler kleine Fürsten sind, dann<br />

ist Ohoven ihr Kaiser.<br />

An diesem Tag hält er im Maritim-<br />

Hotel Hof. Die kleine Geste liegt ihm<br />

nicht so, er bevorzugt den dramatischen<br />

Auftritt, um Aufmerksamkeit zu erheischen.<br />

Befragt nach seiner Motivation,<br />

hat er einmal gesagt: „Es geht mir darum,<br />

Definition Mittelstand<br />

Der Mittelstand ist<br />

wahlweise das Rückgrat<br />

oder das Herz der<br />

deutschen Wirtschaft,<br />

eine eindeutige Definition<br />

des Begriffs gibt es aber<br />

nicht. Nach den Regeln<br />

des Instituts für Mittelstands<br />

forschung in Bonn<br />

zählen zum Mittelstand<br />

alle Unternehmen, die<br />

weniger als 500 Mitarbeiter<br />

beschäftigen und<br />

deren Umsatz unter<br />

50 Millionen Euro liegt.<br />

Auf EU-Ebene dürfen es<br />

dagegen nur 250 Mitarbeiter<br />

sein<br />

dass der Mittelstand in Deutschland die<br />

Anerkennung bekommt, die er verdient.“<br />

Wenn Ohoven das Wort ergreift und<br />

ausmalt, in welcher Gefahr der deutsche<br />

Mittelstand schwebt, klingt das etwa so<br />

alarmiert, als drohe die Erde mit einem<br />

anderen Planeten zusammenzustoßen.<br />

Schleichende Deindustrialisierung, steigende<br />

Sozialabgaben, explodierende<br />

Energiekosten. Und die Eurokrise erst:<br />

Wenn Deutschland dieses Problem einfach<br />

weiter vor sich herschiebe, ruft<br />

Ohoven in den Saal, seien alle anderen<br />

Probleme, wie der drohende Fachkräftemangel,<br />

die Nachfolgeprobleme bei Mittelständlern,<br />

die hohe Abgabenlast oder<br />

die Rentengeschenke der Bundesregierung<br />

gar nicht mehr relevant. „Bei einer<br />

drohenden Entwertung des Euro hilft nur<br />

noch beten.“<br />

Vielleicht passt Gysi so gut hierher,<br />

weil es der Linkspartei auch traditionell<br />

um Anerkennung geht und weil für sie<br />

das Glas auch eher halb leer ist.<br />

Aber kann das stimmen? Wie real bedrohlich<br />

ist die Lage des Mittelstands?<br />

Wie wenig Anerkennung wird ihm tatsächlich<br />

entgegengebracht? Was ist sein<br />

einender Geist?<br />

Die Litanei des Präsidenten Ohoven<br />

passt eigentlich gar nicht zum weltweit<br />

verbreiteten Image des „German Mittelstand“,<br />

der Begriff wird ja längst als<br />

Lehnwort <strong>auf</strong> Englisch, Französisch und<br />

Spanisch verwendet. Der deutsche Mittelstand<br />

gilt als krisenfest, anpassungsfähig,<br />

flexibel, traditionsbewusst, innovativ,<br />

lokal in der Region verwurzelt. Die<br />

Firmen sind Weltmarktführer im eigenen<br />

Segment, hochspezialisiert und international<br />

unterwegs.<br />

Spätestens seit der Finanzkrise soll<br />

der Mittelstand außerdem die bessere<br />

Form des Kapitalismus sein. Anders als<br />

die börsennotierten Großkonzerne, die<br />

quartalsweise die Gier ihrer Aktionäre<br />

bedienen müssen, denken Deutschlands<br />

inhabergeführte Familienunternehmen<br />

aus dem Mittelstand in Generationen.<br />

Wenn es sein muss, sponsern sie an ihrem<br />

Standort auch den Fußballverein<br />

oder spendieren das Spanferkel beim Fest<br />

der Freiwilligen Feuerwehr. Das ist nur<br />

ein Bruchteil der gängigen Klischees über<br />

den Mittelstand, die deswegen aber noch<br />

lange nicht falsch sein müssen.<br />

DIE BEDEUTUNG für die deutsche Wirtschaft<br />

ist groß. Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums<br />

gehören<br />

über 99 Prozent aller Unternehmen in<br />

Deutschland zum Mittelstand, zusammen<br />

erzielen sie mehr als die Hälfte der<br />

Wertschöpfung. Sie stellen 60 Prozent<br />

aller Arbeitsplätze und beschäftigen<br />

83 Prozent aller Auszubildenden.<br />

Aber Zahlen sind bei den Definitionsversuchen<br />

des Begriffs Mittelstand<br />

nicht alles: „Der Mittelstand ist viel stärker<br />

ausgeprägt durch seine Gesinnung<br />

und Haltung im gesellschaftswirtschaftlichen<br />

und politischen Prozess“, sagte<br />

1956 schon Ludwig Erhard. Da verwundert<br />

es auch nicht, dass sich selbst konzernartige<br />

Familienunternehmen wie<br />

der Maschinenbauer Trumpf aus Ditzingen,<br />

der Schraubenkönig Würth in Künzelsau<br />

oder der Dübelhersteller Fischer<br />

im schwäbischen Waldachtal trotz ihrer<br />

74<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Fotos: Silke Borek, Sea & Sun, Berlin Heart<br />

Milliardenumsätze selbst als Mittelständler<br />

bezeichnen. Aber wie passen Klagen,<br />

Klischees und Fakten dieses heterogenen,<br />

typisch deutschen Phänomens zusammen?<br />

Wer ist der Mittelstand? Eine<br />

Reise zum besseren Verständnis eines<br />

deutschen Mythos.<br />

HEINZ SCHELWAT ZÜCHTET Algen. Unter<br />

anderem. Er hat bei der Radio- und Fernsehtechnik<br />

angefangen und ist inzwischen<br />

bei der Meerestechnologie und der<br />

Solarenergie angekommen. Sea & Sun<br />

Technology heißt seine Firma in Trappenkamp<br />

nicht weit von Kiel. Zu dem, was<br />

seine Firma heute herstellt, ist er durch<br />

eine Verkettung von Zufällen oder präziser:<br />

von Gelegenheiten gelangt. Denn<br />

Schelwat ist findig, er kann sich anpassen.<br />

Wenn er ins Reden kommt und es<br />

genügend Bier gibt, folgt eine Story der<br />

nächsten. Er duzt jeden. Auf seiner Visitenkarte<br />

steht neben dem Firmennamen<br />

und seiner Handynummer nur: Heinzi.<br />

Die Kurzfassung geht so: Das Unternehmen<br />

für Meerestechnik, bei dem er<br />

angestellt war, ging 1998 pleite. „Es gab<br />

aber noch eine Million D-Mark Fördergeld<br />

von der EU für die Entwicklung einer<br />

Sonde.“ Damit könne man ja schon<br />

mal was machen, dachte er, gründete<br />

selbst ein Unternehmen und stellte drei<br />

seiner alten Kollegen ein. Für die EU-<br />

Förderung waren sie dann aber doch zu<br />

klein. „Da war die Million wieder weg“,<br />

bemerkt er lakonisch, aber er wollte wieder<br />

das Beste aus der Situation machen.<br />

Er hatte immerhin ein Unternehmen<br />

und entwickelte einfach weiter Sonden.<br />

Heute kann man mit Heinzis Geräten in<br />

mehr als 6000 Meter Tiefe Messungen<br />

vornehmen, die bis <strong>auf</strong> ein Tausendstel<br />

genau sind. Temperatur, Zusammensetzung<br />

des Wassers, Sauerstoffgehalt. Was<br />

die Sonde kann, richtet sich nach den<br />

Wünschen des Kunden.<br />

Den Verk<strong>auf</strong> von Fotovoltaik-Anlagen<br />

hatte er schon vorher begonnen:<br />

„Das habe ich nebenher gemacht, weil ich<br />

schon wusste, dass es in der alten Firma<br />

kriselt.“ Er habe damit „gute Taler“ verdient.<br />

Seit die staatliche Förderung gekürzt<br />

wurde und sich das Geschäft für<br />

ihn in Deutschland nicht mehr lohnt, verk<strong>auf</strong>t<br />

er seine Anlagen <strong>auf</strong> die Seychellen<br />

und die Malediven. Gekoppelt mit einem<br />

Konzept, das Öl- und Gaskraftwerke in<br />

Mario Ohoven<br />

Der Präsident des Bundesverbands<br />

mittelständische<br />

Wirtschaft vertritt nach<br />

eigenen Angaben die<br />

Interessen von 270 000 Mitgliedsunternehmen<br />

Heinz Schelwat<br />

Ein buntes Portfolio bietet<br />

der Inhaber von Sea & Sun<br />

Technology in Schleswig-<br />

Holstein an: Meerestechnik,<br />

Solarenergie und Algenzucht.<br />

Mit 40 Mitarbeitern erzielt er<br />

6 bis 7 Millionen Euro Umsatz<br />

Dirk Lauscher<br />

Als Geschäftsführer der<br />

Medizintechnikfirma Berlin<br />

Heart beschäftigt Lauscher<br />

200 Mitarbeiter. Der<br />

Jahresumsatz des weltweiten<br />

Monopolisten für<br />

künstliche Kinderherzen<br />

liegt bei 30 Millionen Euro<br />

den beiden Inselrepubliken komplett<br />

überflüssig macht. Energiewende made<br />

in Trappenkamp. Außerdem: „Es gibt<br />

schlimmere Orte zum Arbeiten.“<br />

Wenn Schelwat erzählt, entsteht ein<br />

eigentümlicher Gegensatz zu dem Bild<br />

der Bedrohung, das der Mittelstandspräsident<br />

Ohoven zeichnet. Aus jedem Problem<br />

macht Schelwat eine Lösung, aus<br />

jedem Rückschlag eine Idee. Heinzi jammert<br />

nie.<br />

Ach so, die Algen. Schelwat muss<br />

kurz ausholen. Seine Langhaarige, so<br />

nennt er seine Lebensgefährtin, wollte<br />

vor drei Jahren samstags Tomaten k<strong>auf</strong>en.<br />

Sie fuhren mit dem Rad zur Gärtnerei<br />

und, um die Geschichte abzukürzen:<br />

„Sie k<strong>auf</strong>te die Tomaten und ich die Gärtnerei.“<br />

Um ganz korrekt zu sein, die insolvente<br />

Gärtnerei mit ihren Gewächshäusern<br />

nebenan.<br />

Er wusste da noch nicht genau, wozu<br />

er sie brauchen würde. Ein Forscher von<br />

der Fachhochschule Flensburg fragte,<br />

ob er in einem der Gewächshäuser zu<br />

Forschungszwecken Algen anbauen<br />

könne. Heinzi sah ein Geschäftsmodell.<br />

Er stellte Biologen ein, entwickelte mit<br />

zwei anderen Unternehmern aus der Region<br />

Bioreaktoren zur Algenzucht. Seine<br />

Sonden messen das Wasser, die Energie<br />

kommt vom Dach aus seinen Solarzellen,<br />

und aus der Hae matococcus-Alge<br />

will Heinzi den Wirkstoff Astaxanthin<br />

gewinnen. Veredelt in Pillenform als<br />

Nahrungsergänzungsmittel hat ein Kilogramm<br />

Astaxanthin einen Marktwert<br />

von 100 000 Euro. „Das ist wie legales<br />

Kokain“, sagt der Chef.<br />

Von der Wirkung des Astaxanthins<br />

ist Heinz Schelwat überzeugt. Das Mittel<br />

soll vor zu starker UV-Strahlung schützen,<br />

Herzkrankheiten vorbeugen und<br />

chronische Entzündungen lindern. Mehr<br />

als 2,5 Millionen Euro hat er gemeinsam<br />

mit einem Investor in das Projekt gesteckt.<br />

Es gibt nur zwei Wettbewerber<br />

<strong>auf</strong> der Welt, einen in Israel und einen<br />

<strong>auf</strong> Hawaii, die beide ihre Algen in Meerwasser<br />

züchten. „Ich mache hier deutsches<br />

Reinheitsgebot, Algen in Trinkwasser<br />

gezüchtet“, sagt Schelwat. Er überlegt<br />

schon weiter. Ob er nicht auch Lachse in<br />

der Aquakultur züchten könne, mit deren<br />

Abwasser er die Algenlarven düngt.<br />

Oder die Tomaten der Langhaarigen.<br />

Ende der Kurzfassung.<br />

75<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


KAPITAL<br />

Reportage<br />

Wer sich in der Welt der Mittelstandspolitik<br />

in Berlin bewegt, trifft häufig<br />

<strong>auf</strong> dieselben Stichworte und noch<br />

häufiger <strong>auf</strong> Mario Ohoven. Diesmal ist<br />

es Mitte Januar, es sind noch etwa vier<br />

Wochen bis zum Empfang mit Gysi im<br />

Maritim. M. O., wie ihn seine Mitarbeiter<br />

leicht ehrfürchtig nennen, hat seinen<br />

Sitz am Leipziger Platz in Berlin. Wer<br />

ihn in seinem Büro trifft, ist ihm <strong>auf</strong> dem<br />

Weg dahin schon mehrfach begegnet. Im<br />

Flur der Verbandszentrale lächelt aus jedem<br />

Rahmen der Chef. M. O. mit Bärbel<br />

Höhn, M. O. mit Bill Clinton, M. O. mit<br />

Papst Benedikt.<br />

DER TAG DES PRÄSIDENTEN ist durchgetaktet.<br />

Es ist nicht so, dass Ohoven nur<br />

mit Berliner Politikern und Lobbyisten<br />

konferiert, seine Verbandswelt und die<br />

Betriebswelt treffen schon auch zusammen.<br />

An diesem Morgen besichtigt er<br />

im Rahmen der Reihe „Ohoven vor Ort“<br />

das Medizintechnikunternehmen „Berlin<br />

Heart“ in Steglitz. Die Ausgründung aus<br />

dem Deutschen Herzzentrum Berlin ist<br />

der einzige Hersteller weltweit, der Pumpen<br />

für herzkranke Kinder produziert.<br />

Weltweit der erste, weltweit der einzige,<br />

das ist typisch Mittelstand.<br />

Mithilfe der Pumpen können jedes<br />

Jahr etwa 300 Kinder gerettet werden.<br />

Der Geschäftsführer Dirk Lauscher zeigt<br />

den Gästen die Reinräume, wo die künstlichen<br />

Herzen produziert werden, und erklärt<br />

das Wartungssystem für die Akkus.<br />

Die sehen je nach Entwicklungsstufe aus<br />

wie mittelgroße Bürokopierer oder wie<br />

einer dieser Eink<strong>auf</strong>swagen, die ältere<br />

Damen in Steglitz <strong>auf</strong> dem Weg zum Eink<strong>auf</strong><br />

hinter sich herziehen.<br />

Ohoven will wissen, wo er helfen<br />

könnte? Fachkräfte? „Es ist nicht einfach,<br />

aber der attraktive Standort Berlin hilft“,<br />

sagt Lauscher. Energiekosten? „Die Klimaanlagen<br />

für die Reinräume verschlingen<br />

viel Strom“, antwortet der Geschäftsführer.<br />

Ein echtes Problem scheint dies in<br />

der nicht so preisempfindlichen Medizintechnikbranche<br />

aber nicht zu sein. <strong>Kein</strong><br />

Grund zur Aufregung.<br />

Ohoven muss zurück in die Zentrale,<br />

wo die Sitzung des politischen Beirats <strong>auf</strong><br />

ihn wartet. Abends steht der parlamentarische<br />

Abend des Verbands an. Dort<br />

wird er eine Studie zum neuen Energiekonzept<br />

seines Verbands vorstellen,<br />

Walter Niederstätter<br />

hat die Wiesbadener Kalle<br />

GmbH zum Weltmarktführer<br />

für Wursthüllen gemacht<br />

und den Umsatz seit 1997 <strong>auf</strong><br />

250 Millionen Euro verdoppelt.<br />

Mitarbeiterzahl: 1700<br />

Marie-Christine Ostermann<br />

hat sich mit ihrem<br />

Lebensmittelgroßhandel<br />

Rullko in Hamm <strong>auf</strong> die<br />

Belieferung von Altersheimen<br />

und Krankenhäusern<br />

spezialisiert. 150 Mitarbeiter<br />

erzielen einen Jahresumsatz<br />

von 75 Millionen Euro<br />

zusammen mit seinem Vorstandskollegen<br />

Walter Niederstätter, dem Chef der<br />

Kalle GmbH aus Wiesbaden, dem Weltmarktführer<br />

für industrielle Wursthüllen.<br />

Der, sagt Ohoven <strong>auf</strong> der Fahrt in<br />

sein Büro, habe wegen der hohen Energiekosten<br />

gerade geplante Investitionen<br />

in die USA und nach Osteuropa verlegt.<br />

Da ist sie wieder, die schleichende<br />

Deindustrialisierung.<br />

Jetzt sitzt er in seinem Büro, hinter<br />

dem Schreibtisch stehen eine Deutschland-<br />

und eine Europaflagge. Er spricht<br />

über das Unternehmertum in Deutschland<br />

und über die Nachfolgeproblematik<br />

im Mittelstand. Er macht sich große<br />

Sorgen um den Unternehmernachwuchs:<br />

„Die jungen Leute heute sind nicht mehr<br />

so standortgebunden und traditionsbewusst,<br />

die gehen dahin, wo die besten<br />

Rahmenbedingungen sind. Dagegen<br />

kommen Sie schwer an.“<br />

Die Nachfolgefrage wird seit Jahrzehnten<br />

als eines der größten Probleme<br />

des Mittelstands gesehen. Vielleicht liegt<br />

das auch daran, dass zu dem Mythos die<br />

Geschichten der großen Patriarchen<br />

beitragen.<br />

GESCHICHTEN WIE die des Schraubenkönigs<br />

Reinhold Würth. Der 78-Jährige, der<br />

aus dem väterlichen Laden einen Milliardenkonzern<br />

geformt hat, war berüchtigt<br />

für seinen Führungsstil und seine Motivationsbriefe<br />

an die Mitarbeiter des Außendiensts:<br />

„Nachdem Würth weder ein<br />

zweites Arbeitsamt noch ein Sozialinstitut<br />

ist, bitte ich um Verständnis, dass<br />

wir die Zusammenarbeit nur fortsetzen<br />

können, wenn Sie ganz kurzfristig und<br />

zackig die Zahl der selbst getätigten Aufträge<br />

pro Arbeitstag erhöhen.“<br />

Heute würde man so etwas Investitionsstau<br />

bei der Mitarbeiterführung<br />

nennen.<br />

Patriarchen, die nicht loslassen können<br />

und seit Jahrzehnten keinen Widerspruch<br />

gehört haben, können für mittelständische<br />

Unternehmen beim Übergang<br />

<strong>auf</strong> die nächste Generation zu einem Problem<br />

werden. Nach einer Studie des Instituts<br />

für Mittelstandsforschung in Bonn<br />

wird in den kommenden fünf Jahren für<br />

135 000 Unternehmen ein Nachfolger gesucht.<br />

Etwa zwei Millionen Arbeitsplätze<br />

sind davon betroffen. Ist das Erfolgsmodell<br />

Mittelstand dadurch gefährdet?<br />

Fotos: Frank Röth/F. A. Z. Foto, Frauke Schumann/Rullko<br />

76<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Anzeige<br />

Die Grenzen der<br />

Meinungsfreiheit<br />

Wie der Übergang <strong>auf</strong> die nächste<br />

Generation erfolgreich klappt, zeigt der<br />

Lebensmittelgroßhandel Rullko im westfälischen<br />

Hamm. Im Foyer des Unternehmens<br />

würden sich Ohoven und Würth<br />

wohlfühlen. In alten Ledersesseln, umgeben<br />

von riesigen Aschenbechern kann<br />

man in dem Vierziger-Jahre-Bau noch<br />

Wirtschaftswunderluft schnuppern und<br />

würde sich nicht wundern, wenn Ludwig<br />

Erhard um die Ecke käme, die Zigarre<br />

im Mund.<br />

Einen alten Patriarchen, der das Unternehmen<br />

lange Zeit per Basta-Politik<br />

geführt hat, gibt es hier auch: Carl-Dieter<br />

Ostermann. Aber seit 2006 teilt er sich<br />

die Geschäftsführung mit seiner Tochter<br />

Marie-Christine und zieht sich immer<br />

mehr aus dem Tagesgeschäft zurück.<br />

Marie-Christine Ostermann wusste<br />

schon mit 16 Jahren, dass sie das Unternehmen<br />

später in vierter Generation<br />

übernehmen wollte. „Priorität hat für<br />

mich immer, dass es dem Unternehmen<br />

gut geht“, sagt sie.<br />

Dieses Verantwortungsgefühl für<br />

die Firma und ihre Mitarbeiter ist typisch<br />

für Mittelständler. Wenn eine<br />

34-Jährige sich dazu bekennt, klingt<br />

das trotzdem ungewohnt.<br />

Ostermann weiß nicht genau, warum<br />

sie sich so früh so sicher war, dass sie<br />

den Lebensmittelgroßhandel übernehmen<br />

wird. „Mein Herz schlägt einfach<br />

für das Unternehmertum“, sagt sie. Daran<br />

haben auch die Lehre bei der Commerzbank,<br />

das BWL-Studium in St. Gallen<br />

und das Trainee-Programm bei Aldi<br />

nichts geändert. Von ihren damaligen<br />

Kommilitonen, die fast alle Investmentbanker<br />

oder Unternehmensberater werden<br />

wollten, wurde sie dafür manchmal<br />

belächelt.<br />

Die Unternehmensberater würden<br />

ihr wahrscheinlich auch empfehlen, nicht<br />

mehr jeden Morgen den eigenen Rullko-<br />

Kaffee frisch rösten zu lassen, weil die<br />

Firma damit kaum noch Geld verdient.<br />

Aber damit hat einmal alles angefangen,<br />

und Ostermann leistet sich die Pflege dieser<br />

Tradition gerne. „Die Kunden, die<br />

Mitarbeiter und mein Vater hängen daran“,<br />

sagt sie.<br />

Mit diesem Traditionsbewusstsein<br />

und ihrer Beharrlichkeit hat sich Ostermann<br />

sowohl den Respekt ihres Vaters<br />

als auch der 150 Mitarbeiter erarbeitet.<br />

Und sie hat ehrgeizige Pläne: Die Spezialisierung<br />

Rullkos <strong>auf</strong> die Belieferung<br />

von Großküchen in Seniorenheimen und<br />

Krankenhäusern will sie noch weiter vorantreiben.<br />

Aufgrund des demografischen<br />

Wandels ein wachsender Markt, meint<br />

Ostermann. Und eine Nische, die von<br />

Wettbewerbern wie der Metro nicht so<br />

zielgenau bedient wird.<br />

Außerdem hat sie bereits die Logistikprozesse<br />

neu organisiert, plant den<br />

Bau einer neuen Kühlhalle und will<br />

Rullko von einem regionalen zu einem<br />

nationalen Lieferanten ausbauen. Um die<br />

Mitarbeiter für die Veränderungen zu begeistern,<br />

setzt sie <strong>auf</strong> einen anderen Führungsstil<br />

als der Vater. „Ich kommuniziere<br />

viel, um Bedenken zu zerstreuen,<br />

wichtige Entscheidungen treffe ich zusammen<br />

mit einem Team von Führungskräften“,<br />

sagt sie. Die Nachfolge scheint<br />

geglückt in Hamm.<br />

FRIEDERIKE WELTER WUNDERT das nicht.<br />

Die Präsidentin des Instituts für Mittelstandsforschung<br />

in Bonn sagt: „Wenn die<br />

ökonomischen Voraussetzungen stimmen<br />

und man sich frühzeitig und konsequent<br />

um seine Nachfolge kümmert, gibt<br />

es selten Probleme.“ Überhaupt betrachtet<br />

sie ihr Forschungsgebiet, den Mittelstand,<br />

akademisch nüchtern. Poltern oder<br />

gar Jammern, das liegt Friederike Welter<br />

fern. Sie ist eine Art Anti-Ohoven.<br />

Die Probleme des Mittelstands sieht<br />

sie auch, aber sie sucht lieber nach Lösungen,<br />

eigentlich ein sehr unternehmerisches<br />

Vorgehen. Statt über hohe Energiekosten<br />

zu klagen, sollten Mittelständler<br />

überlegen, wie sie erneuerbare Energien<br />

in ihren Unternehmen nutzen oder sogar<br />

selbst zu Energieproduzenten werden<br />

könnten, sagt Welter: „Daraus können<br />

ganz neue Geschäftsmodelle entstehen.“<br />

Bei Werner & Mertz in Mainz ist man<br />

schon so weit. Die 2010 fertiggestellte<br />

neue Hauptverwaltung erzeugt mittels<br />

Windkraft, Fotovoltaik und geothermischer<br />

Grundwassernutzung 20 Prozent<br />

mehr Energie, als für den l<strong>auf</strong>enden Betrieb<br />

benötigt wird. „Das ist das ideale<br />

Haus für uns als nachhaltiger Nischenwertschöpfer“,<br />

sagt der geschäftsführende<br />

Gesellschafter Reinhard Schneider.<br />

Mit seinen Marken Frosch, Erdal und<br />

Tana ist er der letzte große Mittelständler<br />

im Putz- und Reinigungsmittelgeschäft.<br />

© Foto Meyer: Antje Berghäuser; © Foto Sarrazin: Tanja Schnitzler, c/o Bildschön<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer und<br />

Alexander Marguier, stellvertretender<br />

<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur, im Gespräch<br />

mit Thilo Sarrazin.<br />

Sonntag, 02. März 2014, 11 Uhr<br />

Berliner Ensemble<br />

Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />

Tickets: Telefon 030 28 40 81 55<br />

www.berliner-ensemble.de<br />

BERLINER<br />

ENSEMBLE<br />

02. MÄRZ<br />

Thilo<br />

Sarrazin<br />

Berliner<br />

Ensemble<br />

In Kooperation<br />

mit dem Berliner Ensemble<br />

77<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


KAPITAL<br />

Reportage<br />

Auf die Frage, wie er im Wettbewerb<br />

mit Henkel, Unilever und Procter<br />

& Gamble überleben kann, antwortet<br />

er spöttisch: „Wir halten uns doch ganz<br />

gut im Kampf gegen diese Garagenfirmen.<br />

Aber im Ernst: Wir sind innovativer<br />

als die Großkonzerne.“<br />

Da ist es wieder, das Stichwort der<br />

Innovationskraft des Mittelstands. Sofort<br />

kommt Schneider ins Erzählen: Als sein<br />

Unternehmen das Segment Bio-Rohrreiniger<br />

neu erfinden wollte, half Schneider<br />

die Erinnerung an seine Jugend: „Meine<br />

zwei Schwestern haben immer diese Enthaarungsmittel<br />

benutzt, was die sich <strong>auf</strong><br />

die Haut schmierten, musste ja bio sein.“<br />

Da er wusste, dass Haare der häufigste<br />

Grund für blockierte Abflüsse sind, ließ<br />

er seine Entwickler Enthaarungswirkstoffe<br />

für den neuen Rohrreiniger Rorax<br />

Bio testen. Mit Erfolg. Das neue Mittel<br />

erreichte binnen weniger Monate einen<br />

Marktanteil von mehr als 5 Prozent.<br />

„Versuchen Sie mal, so eine Idee in einem<br />

Konzern durchzusetzen, das blockt<br />

die zuständige Abteilung sofort ab, weil<br />

sonst ihre Existenz infrage gestellt wird.“<br />

Schneider muss es wissen, weil er<br />

vor dem Einstieg ins Familienunternehmen<br />

Produktmanager bei Nestlé war. Im<br />

Wettbewerb mit den Konzernen setzt er<br />

heute <strong>auf</strong> Markendehnung. Es gibt jetzt<br />

auch Raumerfrischer und Seife mit dem<br />

Frosch-Logo. „Das funktioniert, weil unsere<br />

Kunden Frosch inzwischen mit Sauberkeit<br />

und Wohlfühlen verbinden.“<br />

Andersherum funktioniert es nicht.<br />

Henkel ist mit seinem Ökoreiniger Tara<br />

kläglich gescheitert, weil die Kunden bei<br />

Nachhaltigkeitsstrategien von Großkonzernen<br />

skeptisch sind.<br />

ANFANG MÄRZ bei der Oscar-Verleihung<br />

wird die Welt wieder <strong>auf</strong> „Büttenpapier<br />

made in Gmund am Tegernsee“ gucken.<br />

Florian Kohler, Inhaber der Büttenpapierfabrik<br />

im bayerischen Gmund, produziert<br />

das goldene Papier für die Umschläge<br />

und die Karten, <strong>auf</strong> denen sich<br />

die Namen der Gewinner des Filmpreises<br />

befinden. „Das klingt jetzt vielleicht<br />

etwas frech, aber: Wir machen das beste<br />

Papier der Welt, weil wir die Ästhetik<br />

<strong>auf</strong> die Spitze treiben“, sagt der 52-Jährige<br />

bei einem Rundgang durch sein Unternehmen.<br />

„Deswegen geben wir auch<br />

keine Rabatte.“ Besser als mit diesen zwei<br />

Friederike Welter<br />

ist Präsidentin des Instituts<br />

für Mittelstandsforschung<br />

in Bonn und Professorin an<br />

der Uni Siegen. Seit 2006<br />

berät die Ökonomin das Bundeswirtschaftsministerium<br />

Reinhard Schneider<br />

ist geschäftsführender<br />

Gesellschafter bei Werner &<br />

Mertz in Mainz. Das Unternehmen,<br />

bekannt durch die<br />

Marken Frosch und Erdal,<br />

erzielt mit seinen 900 Mitarbeitern<br />

einen Umsatz von<br />

300 Millionen Euro<br />

Florian Kohler<br />

In der Büttenpapierfabrik<br />

Gmund am Tegernsee<br />

arbeiten 123 Mitarbeiter für<br />

ihn, der das Familienunternehmen<br />

in der vierten<br />

Generation führt. Zu<br />

Umsatzzahlen macht Gmund<br />

keine Angaben<br />

Sätzen lässt sich die Philosophie seines<br />

Unternehmens nicht zusammenfassen.<br />

Dabei ist Kohler keineswegs arrogant,<br />

er ist nur sehr überzeugt von dem,<br />

was er und seine 123 Mitarbeiter tun. Zu<br />

seinen Kunden gehören BMW, Champagnerhersteller,<br />

Pralinenproduzenten – drei<br />

Viertel der Ware gehen in den Export. In<br />

der Musterabteilung gibt es 100 000 verschiedene<br />

Papiere in verschiedenen Gewichtungen,<br />

Prägungen und Oberflächen.<br />

Kohler verabscheut die Begriffe<br />

Nische und Luxus. Das klingt für ihn so,<br />

als produziere er überflüssige Ware für<br />

reiche Spinner. Ihm ist es wichtig, dass<br />

sein Papier als Verpackung, als Visitenkarte<br />

oder als Geschäftsbericht den Kunden<br />

einen Mehrwert bietet. Sein Umsatz<br />

wächst jedes Jahr zweistellig.<br />

WENN ES um die Energiepreise geht,<br />

kann sich Kohler in Rage reden. „Wir<br />

haben Glück, dass wir unsere Energie<br />

per Wasserkraft selbst herstellen können,<br />

sonst wäre der Standort hier kritisch“,<br />

sagt er. Ohoven jammert nicht alleine.<br />

Aber vielleicht ist genau dies das eigentliche<br />

Geheimrezept des deutschen<br />

Mittelstands, sozusagen die Grundvoraussetzung<br />

für erfolgreiches Unternehmertum.<br />

Wer immer <strong>auf</strong> der Suche nach<br />

Ideen ist, ständig die Produktion verbessern<br />

und den Kontakt zum Kunden pflegen<br />

muss, darf nie ganz zufrieden sein.<br />

Das würde auch erklären, warum das<br />

Erfolgsmodell nicht <strong>auf</strong> andere Länder<br />

übertragbar ist: Es fehlt ihnen die notwendige<br />

deutsche Grundunzufriedenheit.<br />

Da ist es wohl kein Zufall, dass das<br />

Wort Mittelstand als soziologischer Begriff<br />

erstmals 1695 in einer Klageschrift<br />

<strong>auf</strong>tauchte, in der sich die Königlichen<br />

Erbfürstentümer und Städte des Landes<br />

Schlesien beim Königshaus darüber beschwerten,<br />

dass Klerus, Adel und Beamte<br />

von der neuen Kopfsteuer befreit seien,<br />

und diese nur „dem Mittelstande und der<br />

Armut <strong>auf</strong> dem Halse gelassen wird“.<br />

Dafür, dass die Benachteiligung<br />

durch den Staat schon so lange währt,<br />

geht es dem Mittelstand blendend.<br />

TIL KNIPPER leitet das<br />

Ressort Kapital bei <strong>Cicero</strong>. Ihn<br />

überraschte bei der Recherche,<br />

wie oft deutsche Unternehmer<br />

nach der Hilfe des Staates rufen<br />

Fotos: IFM Bonn, Werner & Mertz, Gmund, Privat (Autor)<br />

78<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Anzeige<br />

Amrai Coen, New York<br />

Ich schreibe für<br />

DIE ZEIT<br />

Wer Amrai Coen treffen möchte, der muss ihr hinterherreisen. Wir verabreden uns in New York und begegnen einer Journalistin, die<br />

ihren Beruf kritisch reflektiert. Das Reisen, erklärt sie uns, sei mit Abstand der schönste Teil ihres Jobs – das Schreiben der schwerste.<br />

Vielleicht, weil ihre Zeilen den Menschen, von denen sie berichtet, so nahekommen? Ihre Artikel sind selbst kleine Reisen und<br />

entführen uns in alle Teile der Welt – wobei die Ferne für Amrai Coen vermutlich nur der Anlass ist, um am Ende über das ganz Nahe<br />

zu schreiben: über das zutiefst Menschliche. Eigentlich treibe uns doch alle die Suche nach einem Sinn, sagt sie. Im Film verrät sie,<br />

welchem sie gerade folgt.<br />

Autoren der ZEIT im Filmporträt<br />

www.fuer-die-zeit.de


KAPITAL<br />

Interview<br />

„ICH POLTERE NICHT IN TALKSHOWS“<br />

Der neue Arbeitgeberpräsident<br />

Ingo Kramer über<br />

Rentenpolitik, die<br />

Gewerkschaften<br />

und seinen geerbten<br />

Gestaltungsdrang<br />

Herr Kramer, sind Sie seit November<br />

der mächtigste Mittelständler<br />

Deutschlands?<br />

Ingo Kramer: Nein, mein Unternehmen<br />

in Bremerhaven ist genauso groß<br />

wie vorher. Als neuer Arbeitgeberpräsident<br />

muss ich ohnehin die Interessen aller<br />

Mitglieder der BDA vertreten, also<br />

auch die der großen Konzerne, aber ich<br />

bringe natürlich den Blick des Familienunternehmers<br />

mit nach Berlin.<br />

Was ist am Mittelstand so besonders?<br />

Es gibt verschiedene Definitionen<br />

für dieses deutsche Phänomen, die sich<br />

nach Größe, Mitarbeiterzahl oder Umsatz<br />

richten. Entscheidender als solche<br />

Kennzahlen ist für mich, dass es im Mittelstand<br />

viele inhabergeführte Unternehmen<br />

gibt, die langfristig denken. Charakteristisch<br />

ist auch das Miteinander von<br />

Arbeitnehmern und Arbeitgebern in den<br />

Betrieben. Das gibt es so in anderen Ländern<br />

nicht, wo ich häufig <strong>auf</strong> den „German<br />

Mittelstand“ angesprochen werde.<br />

Stand es für Sie immer fest, dass Sie<br />

das Familienunternehmen übernehmen<br />

wollen?<br />

Nein, es gab auch keinen Druck von<br />

meinem Vater. Aber er hat mein Interesse<br />

geweckt, indem er mich ins Unternehmen<br />

mitgenommen und mir alles gezeigt<br />

hat. So mache ich es mit meinen<br />

Kindern auch. An seinem 75. Geburtstag<br />

wollte mein Vater eine Entscheidung von<br />

mir haben. Ich bin dann Anfang der achtziger<br />

Jahre als 29-Jähriger eingestiegen.<br />

Zur Person<br />

Ingo Kramer, 61, ist seit Mitte<br />

November Arbeitgeberpräsident<br />

der Bundesvereinigung<br />

Deutscher Arbeitgeberverbände<br />

als Nachfolger von Dieter Hundt.<br />

In Bremerhaven führt er die von<br />

seinem Großvater gegründete<br />

Firmengruppe J. H. K. Die<br />

260 Mitarbeiter machen einen<br />

Jahresumsatz von rund<br />

35 Millionen Euro durch die<br />

Einzelfertigung von Maschinen<br />

und Anlagen, unter anderem für<br />

die Petrochemie, die Energiewirtschaft<br />

und den Schiffbau<br />

Was wäre die Alternative gewesen?<br />

Ich habe auch mal mit einer Konzernkarriere<br />

geliebäugelt, weil Konzerne<br />

Berufseinsteigern attraktive Jobs<br />

anbieten können. Allerdings musste<br />

ich feststellen, dass mir die vielen Hierarchieebenen<br />

und der hohe Abstimmungsbedarf<br />

nicht liegen. Dafür ist bei<br />

mir die Neigung zum selbständigen Unternehmertum,<br />

wo ich Entscheidungen<br />

treffe, für die ich dann auch selbst geradestehen<br />

muss, wohl doch zu stark<br />

ausgeprägt.<br />

Foto: BDA<br />

80<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Ist die fortschreitende Globalisierung<br />

eine Gefahr für den Mittelstand?<br />

Nein, konjunkturell gesehen geht es<br />

den deutschen Unternehmen im Moment<br />

recht gut. Der Mittelstand muss sich auch<br />

<strong>auf</strong> den internationalen Märkten nicht<br />

hinter den Konzernen verstecken, weil<br />

er <strong>auf</strong>grund seiner flexiblen Strukturen<br />

viele Innovationen hervorbringt.<br />

Also ruhige Zeiten für Sie als Arbeit -<br />

geber​präsident?<br />

Nein, überhaupt nicht. Die Schwäche<br />

Europas ist weiterhin gefährlich, gerade<br />

auch für den Mittelstand, weil 70 Prozent<br />

der deutschen Exporte nach Europa gehen.<br />

Wir können nicht alle nach China<br />

ausweichen. Insofern sieht die europäische<br />

Staatsschuldenkrise aus der Sicht<br />

eines Unternehmers etwas anders aus<br />

als aus der Perspektive des Stammtischs<br />

oder der Europaskeptiker.<br />

Dann gehen wir doch auch die anderen<br />

aktuellen Themen einmal durch: Wie<br />

halten Sie es mit dem Mindestlohn?<br />

Der Mindestlohn wird die deutsche<br />

Volkswirtschaft nicht in ihren Grundfesten<br />

erschüttern. Das war ein Wahlkampfthema,<br />

aber die Wahlen liegen<br />

jetzt fast ein halbes Jahr hinter uns.<br />

Es gibt 42 Millionen Erwerbstätige in<br />

Deutschland, von denen nur rund zwei<br />

Millionen Arbeitnehmer mit einem Vollzeitjob<br />

weniger als 8,50 Euro verdienen.<br />

Es gibt nur 41 von 15 000 Tarifverträgen,<br />

bei denen in den untersten Lohngruppen<br />

weniger als 8,50 Euro bezahlt wird. Wir<br />

müssen <strong>auf</strong>hören, den Eindruck zu erwecken,<br />

dass wir ein Land von Niedriglöhnern<br />

sind. Das stimmt einfach nicht.<br />

Also können Sie mit 8,50 Euro leben.<br />

Aber warum ist das Gezeter in der Wirtschaft<br />

dann so groß?<br />

Es kommt <strong>auf</strong> die konkrete Ausgestaltung<br />

des Mindestlohns an. Wir wollen,<br />

dass Lösungen gefunden werden, die<br />

möglichst wenig Arbeitsplätze vernichten.<br />

Dafür brauchen wir Ausnahmeregelungen,<br />

nicht nur für Saisonarbeiter, sondern<br />

zum Beispiel auch für Praktikanten,<br />

Langzeitarbeitslose oder junge Leute mit<br />

geringer Qualifikation. Die Große Koalition<br />

kann kein Interesse daran haben,<br />

diesen Leuten den Eintritt in den Arbeitsmarkt<br />

zu erschweren.<br />

„Die deutsche<br />

Wirtschaft wird<br />

durch den<br />

Mindestlohn<br />

nicht in ihren<br />

Grundfesten<br />

erschüttert“<br />

Die Arbeitgeberverbände sollen demnächst<br />

zusammen mit den Gewerkschaften<br />

bestimmen, wie hoch der Mindestlohn<br />

in Zukunft ausfallen soll. Stehen Sie<br />

für solch eine Kommission zur Verfügung?<br />

Ich nehme für mich in Anspruch,<br />

kein polternder Talkshowideologe zu<br />

sein. Ich suche lieber nach Lösungen,<br />

statt <strong>auf</strong> Konfrontationskurs zu gehen.<br />

Daher wird sich die BDA bei der Mindestlohnkommission<br />

beteiligen. Es gibt in der<br />

Politik, in den Gewerkschaften und bei<br />

den Arbeitgebern genügend vernünftige<br />

Leute, die auch beim Thema Mindestlohn<br />

Lösungen finden werden, die über Talkshowniveau<br />

liegen werden. Für die Arbeit<br />

der Kommission wird es entscheidend<br />

sein, dass wir uns <strong>auf</strong> einen von<br />

beiden Seiten akzeptierten Vorsitzenden<br />

einigen, der bei einem Patt die entscheidende<br />

Stimme hat. Einen alle zwei Jahre<br />

wechselnden Vorsitz halte ich für problematisch,<br />

weil dann die jeweils andere<br />

Seite nach zwei Jahren zurücknimmt,<br />

was vorher beschlossen wurde.<br />

zurück zur alten Frühverrentungspolitik.<br />

Sie unterläuft die Anstrengungen,<br />

die Beschäftigung Älterer zu erhöhen.<br />

Welche Akzente wollen Sie in Ihrer ersten<br />

Amtszeit noch setzen?<br />

Die Politik muss das Prinzip der Tarifeinheit<br />

wiederherstellen, das durch<br />

die Änderung der <strong>Recht</strong>sprechung des<br />

Bundesarbeitsgerichts 2010 von heute<br />

<strong>auf</strong> morgen abgeschafft wurde. Wenn in<br />

einem Betrieb mehr als ein Tarifvertrag<br />

gilt, werden wir große Probleme bekommen,<br />

weil dann ständig gestreikt werden<br />

kann. In Großbritannien hat das in<br />

den siebziger Jahren zur Deindustrialisierung<br />

des Landes geführt. Das ist ein<br />

Rad, das sie nicht mehr zurückdrehen<br />

können, sobald es sich einmal in Bewegung<br />

gesetzt hat.<br />

Was muss die Politik gegen den drohenden<br />

Fachkräftemangel tun?<br />

Wir müssen uns alle für ein besseres<br />

Bildungssystem engagieren, das die<br />

Chancengleichheit erhöht. Schlechte<br />

Aufstiegschancen für Kinder aus Hartz-<br />

IV-Familien können wir uns nicht leisten.<br />

Und wir brauchen ein Einwanderungsgesetz.<br />

Wir müssen gut qualifizierten<br />

Fachkräften signalisieren, dass sie<br />

in Deutschland willkommen sind und<br />

dringend benötigt werden. Das Schüren<br />

populistischer Ressentiments und<br />

übertriebene Befürchtungen über massenhafte<br />

Zuwanderung in unsere Sozialsysteme<br />

sind ein Skandal. Deswegen<br />

habe ich mich kürzlich gemeinsam mit<br />

DGB-Chef Michael Sommer vehement<br />

dagegen ausgesprochen.<br />

Bleibt denn bei Ihrem Engagement als<br />

Arbeitgeberpräsident noch genug Zeit<br />

für das eigene Unternehmen?<br />

Ich kann Sie beruhigen, weder das<br />

Unternehmen noch die Familie leiden,<br />

weil ich andere Ämter niedergelegt<br />

habe. Im Übrigen habe ich mich schon zu<br />

Schulzeiten und als Student immer über<br />

meine eigentliche Tätigkeit hinaus engagiert.<br />

Ich bin da familiär vorbelastet. Bei<br />

uns zu Hause hieß es schon immer: „Lieber<br />

mitarbeiten als hinten in der Etappe<br />

meckern!“ Das liegt mir mehr, weil ich<br />

gerne gestalte.<br />

Was halten Sie von den Rentenplänen<br />

von Bundesarbeitsministerin Andrea<br />

Nahles?<br />

Das sehe ich sehr kritisch, weil das<br />

geplante Rentenpaket eine teure Mehrbelastung<br />

für die Beitragszahler schafft.<br />

Die Kosten von 160 Milliarden Euro bis<br />

zum Jahr 2030 liegen deutlich höher als<br />

die Entlastungen der Rente mit 67 bis dahin.<br />

Das belastet die kommenden Generationen.<br />

Die abschlagsfreie Rente mit<br />

63 ist ein Schritt in die falsche Richtung, Das Gespräch führte TIL KNIPPER<br />

81<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


KAPITAL<br />

Kommentar<br />

DAS IST IGNORANT!<br />

Von FRANZ MÜNTEFERING<br />

Die Rente mit 63 und die Lebensleistungsrente<br />

sind Irrwege. Die Große Koalition handelt populistisch<br />

statt verantwortlich<br />

82<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Foto: Benno Kraehahn/photoselection<br />

Der Sozialdemokrat Franz Müntefering,<br />

74, steht wie kein anderer deutscher<br />

Politiker für die beiden zentralen<br />

Re formwerke des vergangenen<br />

Jahrzehnts.<br />

Ohne Müntefering hätte<br />

Bundeskanzler Gerhard Schröder<br />

seine Agenda 2010 nie durchgebracht.<br />

„Münte“, der Traditionssozi, half<br />

Schröder, dem „Genossen der Bosse“,<br />

die Agenda durchzusetzen. Er tingelte<br />

durch Deutschland und erklärte der<br />

SPD-Basis, warum ausgerechnet ihre<br />

Partei Sozialabbau betreiben soll.<br />

Schröder wusste genau, warum er<br />

seinem Fraktionschef nach dessen<br />

Rede in der entscheidenden<br />

Plenarsitzung im Bundestag einen<br />

großen Blumenstrauß überreichte.<br />

Neue Konstellation, gleiche Rolle:<br />

In der ersten Großen Koalition von<br />

Angela Merkel fiel Franz Müntefering<br />

als Arbeitsminister und Vizekanzler<br />

die Aufgabe zu, die Rente mit 67<br />

durchzusetzen. Auch das zog er durch,<br />

abermals gegen den Widerstand von<br />

SPD und Gewerkschaften. In der<br />

aktuellen Rentenpolitik der Koalition<br />

und seiner früheren Widersacherin<br />

Andrea Nahles, heute Sozialministerin,<br />

sieht der frühere SPD-Vorsitzende eine<br />

Katastrophe, weil sie die Errungenschaften<br />

vergangener Jahre<br />

zurückdreht. swn<br />

<strong>Kein</strong> Zweifel: Nach diesem<br />

Wahlergebnis vom 22. September<br />

2013 ist diese Koalition<br />

<strong>auf</strong> Bundesebene sinnvoll.<br />

Sie hat auch wichtige<br />

Vorhaben vereinbart und es bleibt Anlass<br />

und Zeit, weitere wichtige Zukunftsausgaben<br />

anzugehen.<br />

Aber nicht alle Maßnahmen zum Bereich<br />

Alterssicherung und Rente, die angekündigt<br />

sind, sind nützlich, einige sind<br />

falsch. Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit<br />

der Alterssicherungssysteme entsteht<br />

mit ihnen nicht. Kann man noch<br />

<strong>auf</strong> Einsicht hoffen?<br />

Wer in die gesetzliche Rentenversicherung<br />

einzahlt, versichert sich und die<br />

anderen, die auch einzahlen. Der Staat<br />

organisiert das und hat die Langfristerfordernisse<br />

auszubalancieren.<br />

Die zentralen Parameter sind bekannt:<br />

Das Äquivalenzprinzip, das sich<br />

in Beitragsumfang und Rentenanspruch<br />

ausdrückt, kann nur gerecht sein, wenn<br />

die Rahmenbedingungen dazu passen.<br />

Die Beitragshöhe soll immer auskömmliche<br />

Rente für die jeweiligen Rentenempfänger<br />

sichern, darf aber gleichzeitig die<br />

jeweiligen Beitragszahler, also die Arbeitnehmer<br />

und Arbeitgeber nicht überfordern.<br />

Wenn die Zahlen der Beitragszahler<br />

und die der Rentenempfänger sich<br />

in ihrer Relation nachhaltig verändern,<br />

tangiert das das System erheblich. Jedes<br />

Individuum ist anders und jeder Arbeitsplatz<br />

auch.<br />

Die Formel des Erfolgs heißt: Sichere<br />

Arbeit + gute Löhne + humane Arbeitswelt<br />

+ stabiler Altenquotient = ausreichende<br />

Alterssicherung. Aber diese<br />

Formel erfüllt sich zurzeit in mancherlei<br />

Hinsicht nicht. Das muss keine Panik<br />

auslösen und auch das Beschwören eines<br />

Generationenkonflikts ist überflüssig.<br />

Aber nun dürfen nicht auch noch die<br />

Weichen falsch gestellt werden. Genau<br />

das passiert aber!<br />

Positiv ist, dass die, vor allem demografiebedingten<br />

Rentengesetze von<br />

Rot-Grün und von der 2005er Großen<br />

Koalition von dieser Koalition nicht infrage<br />

gestellt werden: Begrenzung des<br />

Beitragssatzes, Senkung des Rentenniveaus<br />

mit Interventionspflicht, verstärkter<br />

Zuschuss aus dem Steuertopf an die<br />

Rentenkasse, schrittweise Anhebung des<br />

faktischen Rentenalters und des gesetzlichen<br />

Renteneintrittsalters <strong>auf</strong> 67 Jahre<br />

bis zum Jahre 2029 und der Anspruch<br />

<strong>auf</strong> eine abschlagsfreie Rente mit 65 Jahren<br />

bei mindestens 45 Beitragsjahren. Es<br />

wäre gut, wenn das auch ausdrücklich gesagt<br />

und in der Debatte nicht vernuschelt<br />

würde. Es auszusprechen, führt an die<br />

Realitäten heran.<br />

Positiv auch: der flächendeckende<br />

gesetzliche Mindestlohn. Wichtig ist<br />

die dringliche Forderung nach gleichem<br />

Lohn für gleiche Arbeit und nach einem<br />

angemessenen Lohn für Berufe, in denen<br />

vor allem Frauen tätig sind. Beide<br />

Felder sind bisher schwere Hypotheken<br />

für die Zukunftsfähigkeit des Rentensystems.<br />

Das gilt auch für die Vereinbarkeit<br />

von Familie und Beruf generell, bei Alleinerziehenden<br />

im Besonderen. Da bewegt<br />

sich was.<br />

Aber: Die in rot-grüner Zeit geschaffene<br />

Grundsicherung, also die Aufstockung<br />

von Minirenten bis zur Höhe des<br />

Existenzminimums und Freistellung der<br />

Kinder von Zuzahlungspflichten hierzu,<br />

immerhin mit vier bis fünf Milliarden<br />

Euro jährlich aus der Steuerkasse bezahlt,<br />

soll „fortentwickelt“ werden. Die<br />

von der jetzigen Großen Koalition dafür<br />

gefundene Formel von der „Lebensleistungsrente“<br />

ist vielleicht populistisch<br />

brauchbar, aber unehrlich, denn sie ignoriert<br />

das Prinzip unseres Rentensystems.<br />

Die Rente berechnet sich nicht nach Lebensleistung,<br />

sondern nach der Beteiligung<br />

an der Rentenversicherung. Nette<br />

Formeln helfen da nicht weiter, sondern<br />

lösen letztlich Verwirrung und Enttäuschung<br />

aus. Wie soll man denn die Lebensleistung<br />

in einer umlagebasierten<br />

Versicherung bemessen?<br />

Der Dank für gesellschaftlich relevante<br />

Lebensleistung ist gut. Den Ehrenamtlichen<br />

sollten wir zum Beispiel besser<br />

danken. Und es fallen einem dazu auch<br />

Elternzeiten und Pflegezeiten ein. Aber<br />

das ist nicht die Aufgabe der Rentenversicherung.<br />

Das muss aus der Steuerkasse<br />

geleistet werden. Und wenn die das nicht<br />

hergibt, muss sie <strong>auf</strong>gefüllt werden mittels<br />

gerechter Steuerpolitik. Die Leistungen<br />

dürfen nicht zulasten der nachwachsenden<br />

Rentenversicherten abgewickelt<br />

werden, nur weil es da heute den geringsten<br />

Widerstand gibt.<br />

83<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


KAPITAL<br />

Kommentar<br />

Die Volte hin zum Maßstab Lebensleistung<br />

berührt das System im Kern: Mit<br />

dieser Ausrichtung verlieren Löhne und<br />

Beiträge weiter an Gewicht und der eingeschlagene<br />

Weg sieht sehr aus nach einem<br />

Einstieg in die allgemeine Grundrente.<br />

Ich hoffe, niemand in der Koalition<br />

will diesen Weg wirklich beschreiten.<br />

Sonst sollte man es sagen. So ist es ein<br />

Spiel mit dem Feuer.<br />

Vergleichbar fragwürdig ist die Absicht,<br />

ab 2014 für 63-Jährige mit mindestens<br />

45 Beitragsjahren (plus Sonderregelung)<br />

die abschlagsfreie Rente<br />

zu garantieren – die sie nach geltendem<br />

<strong>Recht</strong> seit 2012 mit 65 Jahren erhalten.<br />

Mit dieser neuen 63er Regelung<br />

wird eine bizarre Sonderregelung erfunden.<br />

65 ist das seit über 100 Jahren bekannte<br />

Renteneintrittsalter. Als dieses<br />

<strong>auf</strong> 67 Jahre geändert wurde, haben wir<br />

bei 65 Jahren eine Grenze gezogen für<br />

die, die früh ins Erwerbsleben eingetreten<br />

sind. Für sie blieb es bei der alten Regelung.<br />

Eine Art Vertrauensschutz.<br />

Nun soll das absolute Rentenalter<br />

für eine sehr kurze Zeitspanne <strong>auf</strong><br />

63 Jahre gesenkt werden (Allzeitrekord).<br />

Ein einziger Jahrgang erhält einen Zwei-<br />

Jahres-Vorteil, nämlich eine abschlagsfreie<br />

Rente schon im Alter von 63 Jahren<br />

statt mit 65. Dann schrumpft dieser<br />

Vorteil, parallel zum Anstieg des Rentenalters<br />

für die folgenden Geburtenjahrgänge<br />

(1952 bis 1963) Schritt für Schritt.<br />

2029 gilt das schon bestehende Gesetz<br />

des Renteneintritts mit 67 oder 65 Jahren<br />

dann für alle. Eine – freundlich gesagt<br />

– sehr vertrackte Art von Gerechtigkeit,<br />

deren Kosten überdies <strong>auf</strong> die<br />

Jungen geschoben werden.<br />

FALSCH IST DIE FIXIERUNG <strong>auf</strong> die Versicherungsjahre.<br />

Die andere Seite der<br />

Medaille, die Lebenserwartung, also<br />

die voraussichtliche Dauer der Rentenzahlung,<br />

bleibt dabei unbeachtet. Das<br />

ist ignorant. In Deutschland erhalten<br />

wir unsere Renten nicht mehr über einen<br />

Zeitraum von zehn Jahren, sondern<br />

inzwischen von 19, bald von 22 Jahren.<br />

Heute ist nicht mehr nur ein Zehntel der<br />

Bevölkerung 65 Jahre oder älter, sondern<br />

bereits 20 Prozent und bald werden<br />

es 30 Prozent sein. Mitte der sechziger<br />

Jahre wurden in Deutschland jährlich 1,2<br />

Die Illusion<br />

von der<br />

Frühverrentung<br />

darf nicht<br />

gefördert<br />

werden<br />

bis 1,3 Millionen Kinder geboren, 2012<br />

waren es weniger als 700 000. Was bedeutet<br />

das für uns heute? Welche Folgen<br />

hat das in 20 bis 30 Jahren? Macht alles<br />

nichts? Sollen wir einfach mal abwarten?<br />

Abgesehen von all dem bleibt schleierhaft,<br />

weshalb trotz der <strong>auf</strong>ziehenden<br />

Arbeits- und Fachkräfteproblematik die<br />

63-jährigen Facharbeiter, die in erster Linie<br />

von der Regel erfasst würden, geradezu<br />

hinauskomplimentiert werden aus<br />

dem Berufsleben. Die meisten von ihnen<br />

haben Wissen, Können und Engagement.<br />

So, wie es im Entwurf des Arbeitsministeriums<br />

angekündigt ist, ist das Vorhaben<br />

renten- und arbeitsmarktpolitisch<br />

ein Irrweg.<br />

Das jahrelange, erfolgreiche Bemühen,<br />

Schritt für Schritt die Mentalität<br />

zur Frühverrentung umzukehren, wird<br />

konterkariert.<br />

Auf jeden Fall sind hierzu zwei Komplexe<br />

zügig anzugehen:<br />

Bei einem Berufseinstieg mit 21 Jahren<br />

und einer Lebenserwartung von 82,<br />

bald 85 Jahren, ist es für die Kohorte<br />

zwischen 22 und 65 beziehungsweise<br />

67 Jahren schwer, Wohlstand und soziale<br />

Sicherheit für das ganze Land zu erwirtschaften.<br />

Die Anstrengung aller ist<br />

nötig. Eine Flexibilisierung des Renteneintritts<br />

durch Erwerbsminderung oder<br />

Altersteilzeit kann die individuellen Potenziale<br />

angemessener als bisher beachten,<br />

darf aber nicht die Illusion von der<br />

Frühverrentung fördern, sondern muss<br />

über 65/67 hinausweisen.<br />

Dazu gehört es, stärker als bisher Berufswechsel<br />

in einem langen Leben populär,<br />

organisierbar und finanzierbar zu<br />

machen. Weshalb sollte die letzte Berufsdekade<br />

nicht immer öfter eine mit<br />

weniger Druck und Belastung sein und<br />

der ballistischen Kurve der körperlichen<br />

Kräfte folgen. Ja, das könnte sich auch<br />

<strong>auf</strong> die Lohnhöhe auswirken. Das Senioritätsprinzip<br />

darf da kein Hindernis sein.<br />

Lebensqualität hat viele Gesichter.<br />

Wer länger aktiv bleiben kann, hat auch<br />

länger was von seinem dann höheren<br />

Rentenanspruch.<br />

Dass bei all dem betriebliche und individuelle<br />

Altersvorsorge und demografiebetonte<br />

Tarifverträge wichtig, ausb<strong>auf</strong>ähig<br />

und förderungswürdig bleiben, sei<br />

nur als Stichwort erwähnt.<br />

Endlich: Eine Rentenversicherung,<br />

die keine verbesserte Pflegeversicherung<br />

an ihrer Seite hat, kann keine ausreichende<br />

Altersversicherung sein. Das<br />

kostet auch mehr Geld, ja. Es geht um<br />

Zeit und Zeit kostet Geld. Bei Hospizund<br />

Palliativdiensten ist es gut eingesetzt.<br />

Die Pflegeversicherung ist seit<br />

Mitte der neunziger Jahre ein wichtiges<br />

Standbein der sozialen Sicherung geworden.<br />

Sie ist aber Zuschussversicherung<br />

und garantiert nicht die volle Pflegekostenerstattung,<br />

verhindert also nicht die<br />

Inanspruchnahme der Kinder-Familie für<br />

ungedeckte Pflegekosten. Wie wird diese<br />

anwachsende Problematik angegangen?<br />

Bei der Pflegereform müssen die Kommunen<br />

verantwortlich eingebunden und<br />

auch entsprechend ausgestattet sein. Die<br />

Koalition ist am Zuge.<br />

Bundeskanzler Gerhard Schröder<br />

hat seinerzeit den „Rat für Nachhaltige<br />

Entwicklung“ eingesetzt, um die Regierung<br />

beraten zu lassen. Seit 2004 gibt<br />

es auch den Parlamentarischen Beirat<br />

für nachhaltige Entwicklung, der sich<br />

im Parlament bemüht, den Debatten um<br />

Nachhaltigkeit Aufmerksamkeit und verlässlichere<br />

Strukturen zu verschaffen.<br />

Man darf gespannt sein, ob sich da zu<br />

unserem Thema etwas tut.<br />

In Sachen Ökologie ist begriffen,<br />

dass falsches Handeln heute Hochwasser<br />

und Dürre für morgen bedeutet. Im<br />

Sozialen ist das im Prinzip nicht anders.<br />

Eine Politik, die erkennbar auch hier <strong>auf</strong><br />

Zukunftsfähigkeit ausgerichtet ist, würde<br />

das Vertrauen aller Generationen in unsere<br />

soziale Sicherheit dauerhaft deutlich<br />

stabilisieren. Und das wäre gut.<br />

84<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


STIL<br />

„ Ständig kommt<br />

irgendwer und will was<br />

<strong>auf</strong> dich dr<strong>auf</strong>sprühen.<br />

Wegstehende Haare<br />

werden notfalls<br />

ausgerissen, Hauptsache,<br />

es entsteht nie der<br />

Eindruck, dass da die<br />

Natur am Wirken ist “<br />

Barbara Schöneberger in der Rubrik<br />

„Warum ich trage, was ich trage“, Seite 106<br />

85<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


STIL<br />

Porträt<br />

HAUTENGE TRADITION<br />

Wie einst ihre Ahnen stellt Annette Roeckl Handschuhe her. Sie rettet ein altes Handwerk<br />

und fasziniert damit ausgerechnet die smartphoneversessene urbane Oberschicht<br />

Von PAUL-PHILIPP HANSKE<br />

Annette Roeckl bittet den jungen<br />

Gesellen Johannes Teuscher mit<br />

mütterlichem Stolz: „Zeigen Sie<br />

doch mal, wie man einen Handschuh<br />

macht.“ Der geht ans Werk. Er braucht<br />

dazu nicht mehr als eine Schere, die<br />

scharfe Kante des 130-jährigen Eichentischs<br />

aus der alten Manufaktur, ein Lineal<br />

in französisch Zoll und seinen Fingernagel,<br />

mit dem er die Maße in das<br />

weiche, dunkle Leder ritzt. Drei bis acht<br />

Stunden wird er brauchen, bis das Musterpaar<br />

fertig ist. Dass die Firma nach 20 Jahren<br />

überhaupt wieder Handschuhmacher<br />

ausbildet, ist ein Verdienst der Unternehmertochter,<br />

die 2003 die Leitung des Familienbetriebs<br />

von ihrem Vater übernahm.<br />

Annette Roeckl verkörpert die sympathische<br />

Version von München: geerdet,<br />

freundlich und trotz aller Wohlsituiertheit<br />

nicht prahlerisch. Sie spricht ein warmes<br />

Bayerisch, das oft von einem herzlichen<br />

Lachen unterbrochen wird, sitzt<br />

entspannt und hat doch eine Körperspannung,<br />

die Ausdauer vermuten lässt. Die<br />

un<strong>auf</strong>geregte Kleidung passt zum Firmensitz<br />

des Traditionsunternehmens:<br />

ein Hochhaus aus den siebziger Jahren<br />

mit Waschbeton-Fassade.<br />

Es befindet sich südlich der Münchener<br />

Innenstadt, im Dreimühlenviertel,<br />

eine dieser Gegenden, die gerade<br />

schwer in Mode sind. Die Spielplätze<br />

sind übervoll mit Kindern und deren Eltern,<br />

die noch schnell eine Mail in ihr<br />

Smartphone tippen. In den Erdgeschossen<br />

der Gründerzeithäuser befinden sich<br />

kleine Cafés, die warmen Kuchen anbieten,<br />

und Boutiquen mit selbst genähter<br />

Kinderkleidung. Wo heute die urbane<br />

Oberschicht wuselt, führte vor 130 Jahren<br />

die südliche Staubstraße durch Äcker,<br />

Wiesen und die Auen der nahen Isar. Die<br />

Stadt war weit entfernt. So weit, dass die<br />

Roeckls davor gewarnt wurden, hier die<br />

Handschuh-Manufaktur zu errichten und<br />

gefragt wurden, wie denn bitteschön die<br />

Arbeiter hierher kommen sollten.<br />

Heute ist nicht nur der beliebte Platz,<br />

an dem sich das Unternehmen befindet,<br />

nach dem Firmengründer benannt –<br />

Roecklplatz –, sondern es befindet sich<br />

auch noch in Familienbesitz, inzwischen<br />

in der sechsten Generation.<br />

Die Urururenkelin des Gründers Jakob<br />

Roeckl erzählt die Firmengeschichte<br />

stockend, als wundere sie sich darüber,<br />

nun selbst an der Spitze zu stehen. In<br />

ihrer Jugend habe sie mit all dem nicht<br />

viel am Hut gehabt: „Das war mir zu verstaubt,<br />

zu beladen mit Tradition. Allein<br />

schon der Name wog schwer.“ In dieser<br />

Zeit hat sie aus Prinzip keine Handschuhe<br />

getragen. Straßenarbeiterin oder<br />

Goldschmiedin wollte sie damals werden.<br />

Doch dann wurde sie schwanger, mit 21.<br />

Sie blieb zunächst zu Hause bei ihrem<br />

Kind. Als sie mit 25 eine Ausbildung zur<br />

Handelsfachwirtin beginnen wollte, ging<br />

das gut im elterlichen Unternehmen, wo<br />

sie halbtags arbeiten und nachmittags bei<br />

ihrem Sohn sein konnte.<br />

IRGENDWANN GAB ES einen Moment, der<br />

sie emotional mit dem Unternehmen verband:<br />

Als sie eine Werbekampagne vorbereitete,<br />

stieß sie im Archiv <strong>auf</strong> alte Dokumente,<br />

die ihr mehr über die Motive<br />

des Gründers verrieten. „Jakob Roeckl<br />

war bayerischer Patriot. Er störte sich<br />

daran, dass alle feinen Handschuhe aus<br />

Frankreich kamen“, erzählt sie. Also<br />

nähte er selbst welche aus feinem Hirschleder<br />

und stieg bald zum königlichen Hoflieferanten<br />

<strong>auf</strong>, was Roeckl noch heute<br />

in seinem Wappen deutlich macht: Dort<br />

halten zwei Löwen eine Krone über einen<br />

Handschuh.<br />

Die Entwürfe entstehen immer<br />

noch in München, gefertigt wird im<br />

rumänischen Temeswar, ebenfalls von<br />

Hand. „Wir arbeiten technisch wie vor<br />

100 Jahren“, sagt Roeckl.<br />

Die Kunden gucken immer genauer<br />

hin: Seit der Bankenkrise erlebte das<br />

Handwerk einen ungeheuren Image-Aufschwung.<br />

Kurz nach der Lehman-Pleite<br />

warb der Luxuswarenhersteller Louis<br />

Vuitton mit Bildern von Handwerkern,<br />

inzwischen boomen die „guten, alten<br />

Dinge“. Gerade die wohlsituierten Urbanen<br />

in den Cafés unten im Viertel sind <strong>auf</strong><br />

Retro-Qualität versessen.<br />

Über Handschuhe redet Roeckl inzwischen<br />

richtig gerne: „Wie das Auge<br />

ist die Hand Ausdruck von Persönlichkeit.<br />

Der Handschuh, der wie eine zweite<br />

Haut anliegt, nimmt die Persönlichkeit<br />

<strong>auf</strong>.“ Sie weiß viel zu erzählen, über die<br />

Rolle des Handschuhs in der europäischen<br />

Kulturgeschichte vom Minnehandschuh<br />

über den Fehdehandschuh bis zum<br />

Handschuh des Königs.<br />

„Mein Vater übte übrigens keinen<br />

Druck <strong>auf</strong> uns Geschwister aus, zu übernehmen.<br />

Unbewusst gab es den natürlich<br />

schon. Nach fünf Generationen kann<br />

man nicht <strong>auf</strong>hören.“ Ihr Sohn Daniel ist<br />

25. Wird er weitermachen? Da lacht sie<br />

und sagt: „Das haben wir noch vor uns.“<br />

Dann sagt Roeckl noch einen Satz,<br />

der nach einem Kalenderspruch klingt,<br />

den sie aber begründen kann: „Tradition<br />

kann es nur geben, wenn es auch Innovation<br />

gibt.“ Für sie löst dieses Versprechen<br />

der Roeckl‐Touch ein: In das Model sind<br />

zarte Silberfäden eingewoben, die den<br />

Spielplatz-Eltern auch im Winter erlauben,<br />

ihr Smartphone mit warmer Hand<br />

zu bedienen.<br />

PAUL-PHILIPP HANSKE lebt in<br />

München und schreibt als freier Autor für<br />

verschiedene Magazine. Er schwört <strong>auf</strong><br />

seine Roeckl-Handschuhe aus Walkstoff<br />

Foto: Dirk Bruniecki für <strong>Cicero</strong><br />

86<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


STIL<br />

Reportage<br />

DER BANKER UND<br />

SEINE TASSEN<br />

Von ERWIN KOCH<br />

Fotos ACHIM HATZIUS<br />

88<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


150 Jahre gehörte die<br />

Berliner Porzellan-<br />

Manufaktur den<br />

Königen. Dann dem<br />

Staat. Und jetzt Jörg<br />

Woltmann. Der Bankier<br />

stopfte den Betrieb<br />

mit Millionen. Warum<br />

bloß? Besuch bei<br />

einem glücklichen<br />

Unternehmer<br />

Endlich führt er die Pretiose<br />

zum Mund, hält sie mit ruhigen<br />

bleichen Fingern, eine Bürotasse<br />

Kurland, blauer Fond<br />

und Goldrand, 24 Karat, geadelt<br />

mit zwei schwarzen Lettern: JW.<br />

Und Jörg Woltmann, Krawatte und<br />

Einstecktuch, schwört im Besprechungsraum<br />

seiner Königlichen Porzellan-Manufaktur<br />

Berlin GmbH: Selbst der Tee<br />

schmeckt aus unseren Tassen besser, der<br />

Kaffee sowieso.<br />

Herr Woltmann!<br />

Übertreibung sei nicht sein Fach,<br />

spricht der Mann aus glattem Gesicht,<br />

diese Haptik!, großartig!, einmalig!, maschinell<br />

kriege man den Rand einer Tasse<br />

so dünn und fein nicht hin.<br />

Das macht den Kaffee besser?<br />

Woltmann nickt.<br />

Also trinkt man im Himmel aus Tassen<br />

von KPM?<br />

„Davon gehe ich aus“, knurrt er.<br />

Und in der Hölle aus Ikea?<br />

Herr Woltmann lächelt und schweigt,<br />

blickt hinüber zu Friedrich dem Großen<br />

in Öl, Gründervater der Manufaktur,<br />

1763, 19. September.<br />

„Muss ich dar<strong>auf</strong> antworten?“<br />

Dass Jörg Franz Fritz Woltmann, geboren<br />

nach einer Nacht, die so kalt war,<br />

dass in Berlin viele Menschen erfroren,<br />

89<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


STIL<br />

Reportage<br />

8. Februar 1947, heute besitzt, was der<br />

große Fritz begann, dankt er einem Gefühl,<br />

das er furchtlos Patriotismus nennt.<br />

Es sei ihm, einem Banker aus Leidenschaft,<br />

nie ein Herzenswunsch gewesen,<br />

Eigentümer der KPM zu werden, wohl<br />

aber eine Herzenspflicht, sie vor dem Untergang<br />

zu bewahren. Gern zückt er auch<br />

den Spruch, die KPM sei keine Konservenfabrik,<br />

sondern ein Kulturgut. „Ich<br />

habe das einzige Unternehmen <strong>auf</strong> dieser<br />

Welt, das zuvor sieben Königen und<br />

Kaisern gehörte.“<br />

Wieder führt er seine Tasse zum<br />

Mund, Durchmesser 120 Millimeter,<br />

Höhe 77, Inhalt 4 Deziliter, Darjeeling<br />

mit Milch, er nippt, noch einmal, und<br />

stellt den Behälter, als wäre er aus feinstem<br />

Glas, sorgsam zurück <strong>auf</strong> den langen<br />

Tisch.<br />

„Wie war die letzte Frage?“<br />

Ihre früheste Erinnerung?<br />

Jörg Woltmann, dunkler Anzug, gestreifte<br />

Weste, legt eine Hand <strong>auf</strong> die<br />

andere.<br />

„Meine früheste Erinnerung? Na ja.<br />

Vielleicht die: Wie meine Mutter nachts<br />

an der Nähmaschine sitzt, mit Handschuhen<br />

ohne Fingerlinge, und friert.“<br />

Nur Tage vor seiner Geburt hatte sie<br />

sich scheiden lassen, allein zog sie ihre<br />

zwei Knaben <strong>auf</strong>, Frank und Jörg, der<br />

größere drei Jahre älter als der kleine.<br />

Sie nähte Röcke, Mäntel, Blusen, Damenoberbekleidung,<br />

verk<strong>auf</strong>te sie Bekannten,<br />

die ihre Ware sehr lobten und empfahlen.<br />

Schließlich, als die Bestellungen immer<br />

mehr wurden, holte sie Näherinnen<br />

in die Wohnung in Berlin-Moabit.<br />

Herr Woltmann, hätten Sie denn,<br />

wenn Meißen zu k<strong>auf</strong>en gewesen wäre,<br />

auch Meißen gek<strong>auf</strong>t?<br />

Heftig schüttelt er den Kopf. „Weder<br />

Meißen noch sonst eine andere<br />

Manufaktur.“<br />

Aber eine andere Luxusmarke?<br />

„Ich k<strong>auf</strong>te die KPM, weil ich Berliner<br />

bin, die KPM gehört zu meiner Stadt<br />

wie das Brandenburger Tor.“<br />

Am liebsten saß er in der Nähe der<br />

Mutter und schob, zufrieden mit seiner<br />

Welt, blecherne Züge über den alten Teppich.<br />

Anders als der Bruder ging Jörg<br />

nicht zum Fußball, selten zog er durch<br />

die Trümmer von Moabit, dem Kleinen<br />

gefiel die Einsamkeit – doch wenn Mama<br />

ihn bat, rannte er los, brachte Schecks<br />

Handgemaltes Blumenmuster<br />

<strong>auf</strong> einem Teller, angelehnt an<br />

historische Motive der<br />

botanischen Blumenmalerei<br />

Seinen Kaffee trinkt Woltmann<br />

besonders gerne aus der<br />

schwarzen Jubiläums-Edition des<br />

Kurland-Service (Seite 88)<br />

zur nahen Bank. Dort stand er am Schalter<br />

und wartete, staunte und wartete und<br />

rieb seine Lippen, bis der Beamte ihn rief,<br />

am glatten, vornehmen Holz.<br />

Bis vor einigen Jahren noch, sagt<br />

Jörg Woltmann im Besprechungsraum<br />

seiner Königlichen Porzellan-Manufaktur,<br />

die er, seit sie seine ist, mit 40 Millionen<br />

Euro stopfte, bis vor wenigen Jahren<br />

noch habe er im Mund ab und an den<br />

Geschmack seines ersten Schalters verspürt,<br />

seltsam und immer wieder.<br />

Herr Woltmann, Ihren Vater haben<br />

Sie nie vermisst?<br />

„Nie!“, sagt er und schweigt.<br />

90<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Manchmal stapelte er die Groschen,<br />

die er besaß, zu schlanken Türmen, er<br />

zählte sein Geld, dachte aus, was damit<br />

zu k<strong>auf</strong>en wäre, vielleicht die halbe Welt<br />

oder die Wohnung gegenüber, die einen<br />

großen Ofen besaß.<br />

Was ist ein guter Unternehmer?<br />

Woltmann, kein Schnellredner, härtet<br />

Satz nach Satz. „Jemand, der langfristig<br />

denkt. Der eine hohe soziale Kompetenz<br />

besitzt – davon gibt es immer weniger. Einer,<br />

der die Grundsätze des ordentlichen<br />

K<strong>auf</strong>manns lebt.“<br />

Die da wären? „Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit,<br />

Pflichtbewusstsein. Denn man<br />

hat <strong>auf</strong> Erden eine bestimmte Aufgabe,<br />

und die muss man ordentlich lösen, mit<br />

Anstand und mit Maß.“<br />

Das sagt ausgerechnet ein Banker!<br />

„Ach“, stöhnt Jörg Franz Fritz Woltmann<br />

im 68. Jahr seines Lebens, Vorstandsvorsitzender<br />

und Alleinaktionär der Allgemeinen<br />

Beamten Kasse Kreditbank AG,<br />

Alleingesellschafter der Königlichen Porzellan-Manufaktur<br />

Berlin GmbH, „mittlerweile<br />

habe ich mehr Respekt vor einem<br />

Unternehmer, der für eine Million<br />

Euro eine neue Maschine k<strong>auf</strong>t und<br />

nicht weiß, ob sich das am Ende wirklich<br />

lohnt, als vor einem Banker. Banker,<br />

mit Verlaub, sind nur die Vermittler zwischen<br />

Vor- und Nachsparer.“<br />

Was war das Schlimmste Ihrer Kindheit?<br />

Er schnaubt. Es gab nichts, was diesen<br />

Namen verdient. Der Bruder lieferte<br />

die Mäntel, Röcke, Blusen aus, Jörg trug<br />

die Schecks zur Bank. Einmal, allein<br />

zu Hause, öffnete er eine schwere Dose<br />

Apri kosen, verschlang drei, vier, fünf<br />

mit Lust, aß dann, um das Verbrechen<br />

zu vollenden, die ganze Dose leer – und<br />

danach, ein halbes Jahrhundert lang,<br />

keine einzige Aprikose mehr. Lustlos<br />

ging er zur Schule, gähnte sich durch<br />

den Unterricht, die Lehrer luden Jörgs<br />

Mutter vor, mahnten, warnten, hofften.<br />

Werktags befahl sie ihren Söhnen, den<br />

Tisch zu decken, das Geschirr zu waschen<br />

und zu trocknen, sonntags verbot<br />

sie es, sonntags holte die Mutter ewige<br />

Werte aus dem Schrank, Schüsseln und<br />

Teller von KPM, das berühmte Kurland-<br />

Service der Königlichen Porzellan-Manufaktur<br />

zu Berlin. „Noch ein Tässchen<br />

Kaffee?“<br />

„Übrigens, das Schlimmste meiner<br />

Kindheit war wohl, dass ich, der Kleinere,<br />

oft nur die Kleider meines großen<br />

Bruders bekam – dann aber endlich eine<br />

eigene blaue samtene Hose, genäht von<br />

meiner Mama nur für mich, Weihnachten<br />

vor einer Ewigkeit.“<br />

1957 zog die Familie nach Lichterfelde-West,<br />

die Mutter, mit ihrer Näherei<br />

zu Geld gekommen, k<strong>auf</strong>te ein Haus,<br />

Jörg wurde Gymnasiast, plagte sich<br />

durch die Fächer, war als Schüler weder<br />

gut noch schlecht, aber gern allein und<br />

anders. Er gefiel sich in Anzug und Krawatte,<br />

ging darin zur Schule, setzte sich<br />

darin zu Hause an den Tisch.<br />

Wann, Herr Woltmann, war Ihre<br />

letzte schlaflose Nacht? „Heute“, sagt er<br />

und blickt zu Friedrich. „Doch was heißt<br />

schon schlaflos?“, knurrt er jetzt, „man<br />

liegt im Bett und denkt nach, überlegt<br />

hin und her, hin und her, man entwirft,<br />

verwirft, entwirft, verwirft.“<br />

Denn selbst zu Hause, selbst im Bett,<br />

bleibe man Unternehmer, suche Mittel<br />

und Wege, im Wettbewerb zu bestehen,<br />

dieser Eifer, diese Spannung löse sich<br />

kaum je <strong>auf</strong>, sie bestimme sein Wesen,<br />

ob er dies wolle oder nicht.<br />

1965, zur Freude der Mutter, bestand<br />

Woltmann das Abitur und begann<br />

im Bankhaus Lampe eine Lehre. Vier<br />

91<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


STIL<br />

Reportage<br />

92<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


03/2014<br />

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Jahre später, 1969, schrieb er sich an der<br />

Fachhochschule für Wirtschaft ein, studierte<br />

Betriebswirtschaft, wohnte noch<br />

bei der Mutter in Lichterfelde-West und<br />

suchte Mittel, Mama nicht länger zu belasten.<br />

Also gründete er, 23 Jahre alt, mit<br />

einem Partner ein erstes Unternehmen,<br />

An- und Verk<strong>auf</strong> von Gebrauchtwagen.<br />

Jeden Morgen um sechs verließ er das<br />

Haus der Mutter, fuhr ins Geschäft, teilte<br />

die Arbeit ein, lief zur nahen Hochschule,<br />

blieb dort bis zwei Uhr nachmittags, lief<br />

zurück ins Autohaus, k<strong>auf</strong>te, verk<strong>auf</strong>te,<br />

blieb bis zum Abend, fuhr schließlich zur<br />

Mutter, krümmte sich über die Bücher.<br />

Er glaube, sagt Jörg Woltmann, als<br />

Unternehmer sei er immer mutig gewesen,<br />

aber nie leichtsinnig.<br />

Das Studium der Betriebswirtschaft<br />

durchlief er in kurzen sechs Semestern,<br />

dann war Ölkrise, die Gelegenheit so<br />

günstig, Woltmann k<strong>auf</strong>te und k<strong>auf</strong>te,<br />

war schließlich, bevor er sein Autohaus<br />

1974 verk<strong>auf</strong>te, in Berlin an vier Orten<br />

zu finden. Mit einem Teil des Geldes, das<br />

er gewann, tat er sich Gutes, Jörg Woltmann<br />

erstand ein schönes neues Automobil,<br />

eine schöne teure Uhr – und das<br />

Service Kurland der Königlichen Porzellan-Manufaktur<br />

für acht Personen,<br />

70 Teile, jenes Geschirr, das sonntags <strong>auf</strong><br />

dem Tisch der Mutter gestanden hatte.<br />

Aber das Auto ist längst kaputt, die<br />

Uhr ist weg, nur das Kurland ist noch da,<br />

so schön und edel wie ehedem.<br />

„Und das ist mein Problem. Dass,<br />

wer einmal KPM besitzt, nichts Besseres<br />

mehr besitzen kann.“<br />

1974 gründete er mit einem Partner<br />

ein neues Institut, Finanzdienstleistung<br />

und Unternehmensberatung. Die<br />

Geschäfte liefen, aus der Firma erwuchs<br />

Verschiedene Gipsformen zur<br />

Porzellan-Herstellung kann man<br />

heute in der alten Ofenhalle der<br />

Manufaktur besichtigen<br />

eine Bank, Allgemeine Beamten Kasse,<br />

Jörg Woltmann, 32 Jahre, jüngster Banker<br />

Deutschlands, besaß zwei Drittel davon.<br />

Eine Bank für Beamte?<br />

Er schließt kurz die Augen. Er und<br />

sein Partner, damals, hätten sich die<br />

Frage gestellt, wo und wie im Bankenwesen<br />

noch Geld zu verdienen sei.<br />

Wie?<br />

„Mit Privatkunden, Endverbrauchern,<br />

nicht mit Institutionen. Unsere<br />

nächste Frage war dann: Wo finden wir<br />

Privatkunden in sicheren Verhältnissen,<br />

Kunden, die uns ein geringes Risiko sind?<br />

Dort, wo die Arbeitsplätze sicher sind, im<br />

öffentlichen Dienst.“ Sie gründeten eine<br />

Bank, die sich um Beamte kümmert, deren<br />

Geld verwaltet, ihnen Kredite gibt.<br />

„Man muss sich“, sagt Jörg Woltmann,<br />

„im Leben die wichtigen Fragen<br />

stellen.“<br />

Was ist die wichtigste Frage<br />

überhaupt?<br />

„Uff“, knurrt Woltmann, „jetzt wird’s<br />

fast religiös. Muss ich dar<strong>auf</strong> antworten?“<br />

Müssen Sie nicht.<br />

„Die wichtigste Frage vielleicht, ganz<br />

banal, ist die: Ist es gut, was ich mache?<br />

Ist es richtig? Die führt leider zu meinen<br />

schlaflosen Nächten, immer wieder,<br />

entwerfen, verwerfen, entwerfen,<br />

verwerfen.“<br />

Was sagt dann Ihre Frau?<br />

Woltmann lacht <strong>auf</strong>. „Gib doch mal<br />

Ruhe!“<br />

1981 begann sie ihre Lehre bei der<br />

Allgemeinen Beamten Kasse und verliebte<br />

sich, 17 Jahre jünger, schnell in deren<br />

Besitzer, JW, es dauerte zwei Weihnachtsessen,<br />

bis der Chef entbrannte.<br />

Was ist das Beste an ihr?<br />

„Ihre Fröhlichkeit.“<br />

Was kann sie besser als Sie?<br />

„Fröhlich sein.“<br />

Was noch?<br />

„Kochen.“<br />

1985 gebar Kerstin Woltmann eine<br />

Tochter, Sandra Sophie, der Vater war<br />

bei der Geburt nicht dabei, Woltmann<br />

hatte zu tun.<br />

Bedauern Sie das?<br />

„Das Leben ist oft nicht so, wie man<br />

es gern hätte. Nun bin ich Großvater seit<br />

einigen Monaten, glücklich und stolz <strong>auf</strong><br />

meine Enkelin Florentina.“<br />

Ende 2004 las Jörg Woltmann, der<br />

sich mit dem Gedanken trug, in wenigen<br />

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93<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


STIL<br />

Reportage<br />

Jahren das Tagesgeschäft seiner Allgemeinen<br />

Beamten Kasse Kreditbank AG,<br />

die ihm mittlerweile allein gehörte, Jüngeren<br />

zu überlassen, in der Zeitung, das<br />

Land Berlin habe vor, seine Königliche<br />

Porzellan-Manufaktur, die nichts als<br />

Schulden mache, zu privatisieren. Tage<br />

später, ein Zufall, saßen zwei Herren in<br />

seinem Büro, sie seien, sagten sie, Teil<br />

eines Konsortiums, dem auch Franz<br />

Wilhelm Prinz von Preußen angehöre,<br />

Urenkel des letzten deutschen Kaisers,<br />

entschlossen, die KPM zu übernehmen,<br />

so er, Jörg Woltmann, sie finanziell begleite.<br />

Woltmann, höflich wie immer,<br />

lehnte ab, derartige Kredite entsprächen<br />

nicht dem Gebaren seiner Bank.<br />

Wieder Tage später kam ihm zu Ohren,<br />

sehr wahrscheinlich gehe die KPM,<br />

wenn das Konsortium des Prinzen nicht<br />

den Zuschlag erhalte, an chinesische<br />

Investoren.<br />

„Das wollte ich nicht!“<br />

„Die KPM gehört nach Berlin, nicht<br />

nach Peking oder Schanghai. Und also<br />

begann ich zu rechnen und kam zum<br />

Schluss, dass das Risiko, falls ich einige<br />

Sicherheiten bekäme, unter anderem die<br />

Namensrechte an der KPM, tragbar sei.“<br />

„Schließlich“, sagt Woltmann, beide<br />

Hände an der großen Tasse, „schließlich<br />

legte ich den Kredit heraus, drei Millionen<br />

Euro für den Produktionsbetrieb,<br />

fünf Millionen Betriebsmittelkredit.“<br />

Doch noch in der Nacht nach der<br />

Unterzeichnung der Verträge hätten die<br />

neuen Eigentümer der KPM sich überworfen<br />

und das Chaos angeschoben – bereits<br />

neun Monate später, im September<br />

2005, sei die Königliche Porzellan-Manufaktur<br />

vor der Insolvenz gestanden.<br />

Was nun?<br />

„Es war“, zitiert Herr Woltmann<br />

Herrn Woltmann, „nie mein Herzenswunsch,<br />

Eigentümer der KPM zu werden,<br />

aber eine Herzenspflicht, sie vor dem Untergang<br />

zu retten.“<br />

Dieses Kulturgut, Teil der Berliner<br />

Identität, das älteste produzierende Unternehmen<br />

der Stadt. Gegründet von<br />

Friedrich dem Großen, 1763. Der in seinem<br />

Betrieb die Kinderarbeit verbot, geregelte<br />

Arbeitszeiten einführte, sichere<br />

Renten. Der sich selbst der beste Kunde<br />

war und für jedes seiner 21 Schlösser<br />

ein Tafelservice bestellte, manche aus<br />

450 Teilen. Und damit den Neid des<br />

„Die KPM muss<br />

nicht die größte<br />

Manufaktur der<br />

Welt sein.<br />

Ich bin zufrieden,<br />

wenn sie die<br />

beste ist“<br />

Jörg Woltmann<br />

Adels weckte, des gehobenen Bürgertums,<br />

das sich fortan mit Figuren, Vasen,<br />

Geschirr der königlichen Manufaktur<br />

beschenkte.<br />

Gut 150 Jahre lang, bis 1918, blieb<br />

die KPM im Besitz der Könige und der<br />

Kaiser, dann war sie Eigentum des jeweiligen<br />

Staates, seit dem Zweiten Weltkrieg<br />

des Landes Berlin.<br />

Ach, klagt Jörg Woltmann über den<br />

Tisch, die jüngere Geschichte der KPM<br />

sei eine Geschichte für sich, keine erbauliche,<br />

zumal sie ein Panoptikum dessen<br />

liefere, wie ein Staat mit einem Unternehmen<br />

nicht umgehen sollte. Bis 1989<br />

sei die Manufaktur ein Eigenbetrieb des<br />

Landes Berlin gewesen, angesiedelt im<br />

Bereich Kultur, als wäre sie ein Opernhaus<br />

oder ein Theater, am Leben gehalten<br />

mit zehn Millionen aus dem Kulturhaushalt,<br />

Jahr für Jahr. 1989 habe Berlin<br />

seine Eigenbetriebe in Gesellschaften mit<br />

beschränkter Haftung umgewandelt, die<br />

hohen Verluste der KPM seien ans Licht<br />

gekommen, wor<strong>auf</strong> Berlin ratzfatz beschlossen<br />

habe, die Manufaktur zu verk<strong>auf</strong>en<br />

– und sie der Investitionsbank<br />

Berlin verk<strong>auf</strong>t habe, die, man sehe und<br />

stutze, zu 100 Prozent dem Land Berlin<br />

gehörte. Diese Investitionsbank wiederum,<br />

<strong>auf</strong>geschreckt von den roten Zahlen<br />

der Neuerwerbung, habe der KPM, um<br />

Schulden abzubauen, befohlen, ihr weites<br />

Gelände am Rand des Tiergartens zu<br />

veräußern. Folgsam habe die KPM die<br />

Immobilie der Gewerbesiedlungsgesellschaft<br />

verk<strong>auf</strong>t, die, man sehe und stutze,<br />

zu 100 Prozent dem Land Berlin gehörte.<br />

„Ein Klüngel!“, schimpft Woltmann.<br />

Die KPM war nun Mieter im vormals<br />

eigenen Haus. Und unfähig, diese Miete<br />

zu erwirtschaften. Deshalb entschied das<br />

Land Berlin, den Produktionsbetrieb der<br />

Königlichen Porzellan-Manufaktur endgültig<br />

zu privatisieren, Ende 2004 verk<strong>auf</strong>te<br />

sie ihn, ohne Gelände, jenem Konsortium<br />

des Prinzen, das sich Stunden<br />

nach dem K<strong>auf</strong> ins Gemenge kam.<br />

Woltmann, plötzlich bleich, holt tief<br />

Luft.<br />

„In den zwölf Jahren, bevor ich die<br />

KPM und ihre 170 Mitarbeiter übernahm,<br />

waren hier neun verschiedene Geschäftsführer<br />

am Werk gewesen.“<br />

Sie k<strong>auf</strong>ten dann zu welchem Preis?<br />

„13,5 Millionen Euro.“<br />

Er k<strong>auf</strong>te sie am Freitag, dem 24. Februar<br />

2006, und wies die Telefonistinnen<br />

an, sich fortan nicht mehr mit dem billigen<br />

Kürzel KPM zu melden, sondern mit<br />

dem vollen und schweren Namen: Königliche<br />

Porzellan-Manufaktur Berlin.<br />

Seine Frau tröstete er mit dem Scherz:<br />

Wenn’s nicht klappt, nennen wir die KPM<br />

Kerstins Porzellan-Manufaktur.<br />

Woltmann fuhr jetzt täglich an den<br />

Rand des Tiergartens, er richtete sich ein<br />

Büro ein, streute seine Strategie: Nur allerbeste<br />

hochpreisige Ware, kein Ramsch,<br />

keine Rabatte, keine Zweitlinien, haben<br />

wir alles nicht nötig, wir sind königlich.<br />

„Die KPM muss nicht die größte Manufaktur<br />

der Welt sein, ich bin zufrieden,<br />

wenn sie die beste ist.“<br />

94<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


<strong>Cicero</strong>-<br />

Hotel<br />

Foto: Marcel K<strong>auf</strong>mann (Autor)<br />

Ihren K<strong>auf</strong> haben Sie nie bereut?<br />

„Nie!“<br />

Und auch noch nie daran gedacht,<br />

die KPM wieder zu verk<strong>auf</strong>en?<br />

„Nie!“<br />

Die alte Ofenhalle machte er zur<br />

Verk<strong>auf</strong>sgalerie, daneben baute er ein<br />

Haus, die KPM-Welt, belebt mit einer<br />

Dauerausstellung und einem Café, Montag<br />

bis Samstag, 10 bis 18 Uhr. Er schuf<br />

Läden am Berliner Kurfürstendamm, in<br />

der Friedrichstraße, im KaDeWe und<br />

in den Hackeschen Höfen, in Potsdam,<br />

Hamburg, Köln, Schanghai, Taiwan, er<br />

tat sich zusammen mit Marken von Weltruf,<br />

Bugatti, Bottega Veneta. Zum 60. Geburtstag<br />

schenkte ihm die Belegschaft<br />

einen Woltmann in Porzellan, vielleicht<br />

40 Zentimeter hoch, heimlich hergestellt<br />

in 240 Stunden Freizeit.<br />

„Da hab ich geweint“, flüstert Jörg<br />

Woltmann.<br />

Seit acht Jahren bereits sitzt er vormittags<br />

in seiner Königlichen Porzellan-<br />

Manufaktur Berlin GmbH, die zu haben<br />

nie sein Herzenswunsch war, und wechselt<br />

kurz nach zwölf in die Allgemeine<br />

Beamten Kasse Kreditbank AG, bleibt<br />

bis sechs, bringt auch dort den Gedanken<br />

ans Porzellan nicht aus dem Kopf.<br />

„Als wär’s eine Sucht“, sagt<br />

Woltmann.<br />

Wann schreibt Ihre KPM endlich<br />

schwarze Zahlen?<br />

„Bald, schon bald!“, verspricht er<br />

und blickt zu Friedrich in Öl. Denn<br />

die Saat sei im Begriff <strong>auf</strong>zugehen, die<br />

Menschen hätten verstanden, dass es<br />

keine Blümchenmalerei sei, was man<br />

hier mache, sondern ein Luxusprodukt,<br />

ein Menschheitsgut, eines der schönsten<br />

und besten <strong>auf</strong> Erden.<br />

Er schaut <strong>auf</strong> die Uhr an seinem Arm.<br />

Herr Woltmann, mit welchen Worten,<br />

wenn es einst so weit ist, bitten Sie Sankt<br />

Petrus um Einlass ins Himmelreich?<br />

Jörg Franz Fritz Woltmann schweigt<br />

und schweigt, sein Gesicht hellt <strong>auf</strong>, wird<br />

jetzt breit und spitz, dann platzt es aus<br />

ihm: „Das neue Kurland ist da!“<br />

ERWIN KOCH, Reporter<br />

und Schriftsteller, fällt es<br />

noch schwer, die Differenz<br />

von Kaffee in einer Tasse<br />

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STIL<br />

Fotoessay<br />

MÜTTER UND<br />

TÖCHTER<br />

96<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Die herausfordernde Beziehung zwischen<br />

Müttern und Töchtern ist ein Lebensthema der<br />

Fotografin Julia Fullerton-Batten. Zum internationalen<br />

Frauentag zeigen wir einen Teil ihrer<br />

Serie „Mothers and Daughters“ und fragen die<br />

Künstlerin nach ihrer Inspiration


Vorhergehende Seiten – zum Bild<br />

The Divorce sagt die Fotografin:<br />

„Ich erinnere mich gut an das Gespräch,<br />

in dem meine Mutter mir<br />

ihre Trennung von meinem Vater<br />

mitteilte. Sie machte mir Mut. Sie<br />

selbst hatte zu diesem Zeitpunkt<br />

eine Affäre, zu der sie auch stand.<br />

Daher ihre Stärke“<br />

The Rehearsal „Meine Mutter<br />

zwang mich zum Klavierspiel, auch<br />

zu Auftritten. War es nur Machtdemonstration?<br />

Von der sie eigentlich<br />

selbst gelangweilt war?“<br />

98<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Memories „Irgendwann saß ich mit<br />

meiner Mutter über alten Familienalben.<br />

Sie hatte endlich ihr eigenes<br />

Leben, in Wien, mit einem anderen<br />

Mann. Wir lebten bei unserem Vater.<br />

Als wir die Bilder sahen, wussten<br />

wir beide, dass es früher besser<br />

gewesen war. Auch wenn wir es<br />

nicht aussprachen. Sie hatte verloren,<br />

nicht gewonnen, obwohl sie<br />

jetzt freier war“


Alabaster Doll „Meine Mutter hat<br />

uns Kleider genäht und teilweise,<br />

wie hier, ihre eigenen Kleider für<br />

uns umgenäht. Für mich hat es sich<br />

angefühlt, als wollte sie mir mit den<br />

Kleidern ihre Identität überstülpen.<br />

Eine Identität aus einer anderen<br />

Zeit, mit der falschen Farbe“<br />

102<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Pretty New Thing „Mutter und<br />

Tochter in den Toilettenräumen eines<br />

Theaters. Für die Mutter ist ein<br />

Theaterbesuch ein seltener Ausflug<br />

aus der häuslichen Welt. Hier spiegeln<br />

sich Unsicherheiten, die beide<br />

zu überspielen versuchen, die Mutter<br />

eingeschüchtert von der erwachenden<br />

Sexualität und Schönheit<br />

ihrer Tochter“<br />

The Wedding Day „Meine Mutter<br />

musste heiraten, da sie schwanger<br />

war. Viel zu jung, obwohl sie meinen<br />

Vater kaum kannte. Dies wiederholte<br />

sich bei meiner Schwester.<br />

Diese Szene zeigt einen Augenblick,<br />

in dem sich Mutter und Tochter<br />

nahe sind und vertrauen. Die Mutter<br />

leidet mit der Tochter, an deren<br />

Hochzeitstag es diesen Moment des<br />

Innehaltens gibt. Beide sind von der<br />

eigenen Machtlosigkeit gelähmt“<br />

Frauen sind komplexe Wesen. Das wird ihnen sogar<br />

manchmal zum Verhängnis“, sagt die Fotografin<br />

Julia Fullerton-Batten. Besonders innerhalb der<br />

eigenen Familie würde dies deutlich, innerhalb der<br />

eigenen vier Wände, wo sich das wechselhafte, hochemotionale<br />

Verhältnis zwischen Mutter und Tochter<br />

über Jahre hinweg manifestiert.<br />

Dort, wo man einander am stärksten ausgeliefert<br />

ist, entstehen Szenen, die zwischen Idealisierung und<br />

Verachtung schwanken, zwischen Abhängigkeit und<br />

Befreiung, zwischen gegenseitiger Stärkung und oft<br />

ein Leben lang erinnerter Kränkung. Im Idealfall steht<br />

man sich am Ende dieses gemeinsamen Leidenswegs,<br />

der seinen expressiven Höhepunkt meist in der töchterlichen<br />

Pubertät findet, als geliebte Komplizin wie<br />

auch empathische Kritikerin gegenüber. Wenn alles<br />

gut läuft, werden aus Projektionsflächen allmählich<br />

Individuen.<br />

Julia Fullerton-Batten, 40, und ihrer eigenen Mutter,<br />

68, ist dies geglückt. In „Mothers and Daughters“,<br />

der bisher persönlichsten Arbeit der Fotografin, hat sie<br />

<strong>auf</strong> 20 Bildern „Stationen“ arrangiert, die das ambivalente<br />

Mutter-Tochter-Verhältnis chronologisch dokumentieren:<br />

vom Säugling über die sexuell Erwachende<br />

in der Pubertät, deren Mutter sie skeptisch-neidischstolz<br />

begutachtet, bis hin zur müden Greisin, die sich<br />

im inzwischen gütigen Blick ihrer erwachsenen Tochter<br />

spiegelt.<br />

Fullerton-Battens Protagonistinnen, die auch jenseits<br />

der inszenierten Realität <strong>auf</strong> den Bildern Mütter<br />

und Töchter sind, wurden im eigenen Zuhause fotografiert.<br />

Wie sie zueinander ausgerichtet sind, welche<br />

Emotionen ihre Gesichter prägen, wie auch Kleidung<br />

und die Dekoration legte Fullerton-Batten dagegen akribisch<br />

fest. Die einzelnen Motive dokumentieren tiefe<br />

persönliche Erinnerungen, Schlüsselmomente ihrer eigenen<br />

Biografie. Fullerton-Batten wurde in Bremen<br />

geboren, wuchs in der Nähe von Frankfurt und nach<br />

der Trennung der Eltern in den Vereinigten Staaten<br />

<strong>auf</strong>. Inzwischen lebt sie in London.<br />

Das Artifizielle der Bilder, das kontrastierende<br />

Licht und die reduzierten Farbspektren verbreiten ein<br />

ominös durchscheinendes Unbehagen, während die Interaktionen<br />

von Müttern und Töchtern, gefangen im<br />

Hier und Jetzt, beinahe klaustrophobische Zustände<br />

erzeugen. Wer hat die Kontrolle? Wer ist die Stärkere?<br />

Als fragil und volatil kann man den Gemütszustand der<br />

Frauen lesen, auch als stolz und überlegen – wenn die<br />

Mutter scheinbar verschwindet, auch wenn der Körper<br />

noch da ist.<br />

Derzeit zeigt die Ausstellung „Staged Reality“ im<br />

Stockholmer Fotomuseum Fotografiska fünf umfangreiche<br />

Serien der Fotografin, unter anderem „Mothers<br />

and Daughters“. Sie läuft bis zum 4. Mai.<br />

LENA BERGMANN<br />

Third Time around „Eine Frau und ihr<br />

drittes Kind. Alles von vorne. Sie ist<br />

gelangweilt von ihrer Rolle als Hausfrau<br />

und Mutter. Für das Kind ist sie<br />

der Fels in der Brandung. Sie selbst<br />

würde mit ihren hohen Schuhen lieber<br />

Teil einer anderen Welt sein“<br />

105<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


STIL<br />

Kleiderordnung<br />

Foto: Thomas Kierok für <strong>Cicero</strong><br />

BARBARA SCHÖNEBERGER<br />

Ich bin ja diese Superfrau. Zumindest<br />

denkt man das von mir. Doch gerade<br />

beim Thema Kleidung fühle ich mich<br />

kein Stückchen so. Dieses ewige Suchen<br />

und Finden von Dingen, die einem passen<br />

oder stehen, empfinde ich als ständigen<br />

Kampf. 20 Jahre habe ich gebraucht,<br />

um zu sagen: Das ist es jetzt. Ich mache<br />

keine Experimente mehr.<br />

Als ich zu studieren anfing, habe ich<br />

Schwarz getragen. Das habe ich zehn<br />

Jahre lang so beibehalten. Ich fand einfach,<br />

dass das die sachlichste Möglichkeit<br />

ist, mich zu präsentieren. Auf den ersten<br />

Blick wollte ich nicht wie dieses Mädchen<br />

wirken mit dem blonden Wallehaar, dem<br />

großen Busen, so lieblich. Ich sah so unsachlich<br />

aus. Es ist nicht so, dass ich mich<br />

nicht ernst genommen gefühlt hätte. Niemand<br />

kam zu mir und hat gesagt, ey, du<br />

kleine süße Praline … Aber genauso habe<br />

ich mich gefühlt. Das Schwarz war also<br />

vielmehr ein vorauseilender Gehorsam.<br />

Eine vorbeugende Maßnahme.<br />

Beim Fernsehen sollte dann plötzlich<br />

alles bunt sein, pink, türkis, gelb,<br />

am besten noch mit Blümchen dr<strong>auf</strong>. Das<br />

macht etwas völlig anderes aus dir. Ich<br />

kam mir vor wie ein Bonbon. Mein Körper<br />

braucht eine klare Linie. Das habe<br />

ich jetzt verstanden. Ich habe auch <strong>auf</strong>gehört,<br />

meinen Busen wegdenken zu wollen.<br />

Ich kann ja gar nicht anders, als mich<br />

mit ihm einigermaßen zu arrangieren.<br />

Manchmal erschrecke ich schon, wenn<br />

ich Fotos von mir sehe. An diese riesige<br />

Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung<br />

kann ich mich nur schwer<br />

gewöhnen.<br />

Heute trage ich im Grunde immer<br />

das Gleiche. An mir kann sich kein Fashionberater<br />

mehr abarbeiten. Und was<br />

habe ich schon Stylisten verschlissen …<br />

Barbara Schöneberger, 40,<br />

ist Fernsehmoderatorin,<br />

Schauspielerin und Sängerin.<br />

Im Mai geht sie mit ihrem<br />

neuen Album <strong>auf</strong> Konzertreise<br />

Am liebsten ja schwarze Rollkragenpullover.<br />

Damit kann einem keiner was. Und<br />

das finde ich gut.<br />

Gutes Aussehen bedeutet für mich<br />

Natürlichkeit, die ich im Fernsehen zunehmend<br />

vermisse. Manchmal habe ich<br />

das Gefühl, dass man uns zu Sch<strong>auf</strong>ensterpuppen<br />

machen will. Ständig kommt<br />

irgendwer und will was <strong>auf</strong> dich dr<strong>auf</strong>sprühen.<br />

Wegstehende Haare werden<br />

notfalls ausgerissen, Hauptsache, es entsteht<br />

nie der Eindruck, dass da die Natur<br />

am Wirken ist. Deswegen bin ich immer<br />

froh, wenn mir Menschen begegnen, die<br />

selbst gemacht aussehen.<br />

Privat mache ich modisch keine<br />

großen Sprünge. Zu Hause l<strong>auf</strong>e ich supergammelig<br />

rum. Ich brauche diesen<br />

Kontrast. Je älter ich werde, desto konservativer<br />

werde ich. Und das ist okay für<br />

mich, da es letztlich der Bequemlichkeit<br />

Rechnung trägt. Wenn ich mit den Kindern<br />

unterwegs bin, kann ich nicht ständig<br />

in Stöckelschuhen durch die Gegend<br />

rennen. Das mache ich nicht mehr. Das<br />

ist es mir nicht wert.<br />

Aufgezeichnet von SARAH MARIA DECKERT<br />

106<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


SALON<br />

„ Das Private<br />

ist nicht politisch “<br />

Die Publizistin Birgit Kelle über die Chancen eines neuen Feminismus und<br />

die Einmischung des Staates in Familienangelegenheiten, Seite 108


SALON<br />

Porträt<br />

ALICE SCHWARZER WAR GESTERN<br />

Kinder, Küche, keine Krippe: Die Publizistin Birgit Kelle verkörpert einen neuen<br />

Feminismus, der von den alten Frontstellungen der Geschlechter nichts wissen will<br />

Von KATHARINA SCHMITZ<br />

Im Hauptberuf Mutter – ist das noch<br />

rückständig oder schon wieder modern?<br />

Birgit Kelle jedenfalls hat morgens<br />

um zehn die Frühschicht bereits<br />

hinter sich. Die vier Kinder im Alter<br />

zwischen fünf und 14 Jahren sind versorgt,<br />

das Haus nahe der niederländischen<br />

Grenze, wo sie mit der Familie<br />

wohnt, hat sie nach dem Frühstück verlassen.<br />

Ländlich ist es dort, man ist umgeben<br />

von Schafen und hat „die Illusion,<br />

dass die Kinder sicher <strong>auf</strong>wachsen“. Sagt<br />

Birgit Kelle, als wir uns in Köln treffen.<br />

Sofort fällt die kräftige Stimme <strong>auf</strong>, die<br />

rasch in einen Talkshow-Modus gerät.<br />

Um den Kindern gerecht zu werden, arbeitet<br />

die freie Journalistin oft abends<br />

und am Wochenende, immer zu Hause.<br />

Birgit Kelle ist Vorsitzende von „Frau<br />

2000plus“, eines eingetragenen Vereins,<br />

der laut Selbstdarstellung für ein „neues<br />

Frauenbild jenseits der alten feministischen<br />

Vorstellung“ kämpft. Insbesondere<br />

sollen „Frausein und Mutterrolle“, anders<br />

als im bisherigen, im Alice-Schwarzer-Feminismus,<br />

nicht als Gegensatz verstanden<br />

werden. Das neue Rollenmodell<br />

ist nicht die kinderlose, männerskeptische<br />

Karrieristin, sondern die Frau, die<br />

frei wählt. Und sich nicht von anderen<br />

Frauen als unselbständig beschimpfen<br />

lassen will, wenn sie sich für ein Leben<br />

als Hausfrau und Mutter entscheidet.<br />

Kelle benötigt selbst morgens um zehn<br />

nur ein Stichwort, um in Fahrt zu kommen.<br />

Die „Herdprämie“, zum Beispiel. Es sei<br />

skandalös, dass in Deutschland arbeitende<br />

Eltern Subventionen erhielten, die traditionelle<br />

Familie aber diskriminiert werde.<br />

Dabei gebe es sehr viele Eltern, die das Alleinverdienermodell<br />

lebten – aus Überzeugung.<br />

„Der Krippenplatz ist die teuerste<br />

Art, Kinder großzuziehen. Das ist doch paradox!“<br />

Auf schlimmste Weise neoliberal<br />

sei es, gebildete Mütter, die ihre Kinder<br />

erziehen und sie nicht vom Staat betreuen<br />

lassen, als „vergeudetes Potenzial“ zu diffamieren.<br />

„Das macht mich alles wahnsinnig!“,<br />

ruft Kelle. Von der Frauenquote hält<br />

sie auch nichts.<br />

Ihren Furor kompensierte Kelle mit<br />

einem Sachbuch unter dem Titel „Dann<br />

mach doch die Bluse zu“. Der Klappenteil<br />

zeigt die 39-jährige Autorin in leicht<br />

lasziver Pose. Das Buch verk<strong>auf</strong>t sich<br />

gut. Sogar die taz äußerte sich lobend.<br />

Ihr gleichnamiger Online-Kommentar<br />

zur Sexismus-Debatte wurde im Netz<br />

der Renner. Das Magazin Werben und<br />

Verk<strong>auf</strong>en kürte ihn zum Social-Media-<br />

Phänomen des Jahres 2013.<br />

BIRGIT KELLES MARKENKERN sind Plädoyers<br />

für Kinder und Familie im Stakkato.<br />

Bei Youtube sind eindrückliche Beispiele<br />

zu sehen, etwa aus „Maybrit Illner“, wo<br />

sie zu Beginn ihrer Karriere als Wutmutter<br />

einen Auftritt hatte. Familienministerin<br />

Kristina Schröder fehlten die<br />

Worte, Cem Özdemir schaute nachdenklich.<br />

Unlängst kreuzte sie die Klingen mit<br />

der stellvertretenden Vorsitzenden von<br />

Femen Deutschland. Bei „Menschen bei<br />

Maischberger“ warf sie sich für die traditionelle<br />

Ehe in die Bresche und kritisierte<br />

den baden-württembergischen Bildungsplan<br />

zugunsten „sexueller Vielfalt“,<br />

der Toleranz mit Akzeptanz verwechsle.<br />

Ihr Mann, Journalist wie sie, hält ihr den<br />

Rücken frei, „selbstverständlich“.<br />

Sie provoziert einen Satz, den bisher<br />

Eva Hermann, Christa Müller, Thilo<br />

Sarrazin abonniert hatten: Endlich sagt<br />

es mal eine(r)! Ihre Ansichten versteckt<br />

sie nicht, hat eine Kolumne bei The European,<br />

schreibt für Focus, Die Welt und<br />

das konservative Portal Freie Welt. Ja,<br />

sie hält nichts von der gleichgeschlechtlichen<br />

Ehe. Findet es problematisch, dass<br />

Schwangerschaftsabbrüche Normalität<br />

in Deutschland sind. Nennt die Idee<br />

„perfide“, Abtreibung als „so genanntes<br />

Frauenrecht“ <strong>auf</strong> europäischer Ebene<br />

einzuführen.<br />

Im Gespräch wehrt sie sich: „Nein.<br />

Ich bin nicht konservativ, ich bin liberal.“<br />

Der Staat mische sich zu sehr ein.<br />

Es gehe ihr um die Freiheit, selbst entscheiden<br />

zu dürfen, wie man sein Leben<br />

gestaltet. „Das Private ist nicht politisch“,<br />

sagt sie und leitet zum Feminismus über.<br />

Spricht von einer Diktatur und lässt die<br />

Gender-Fraktion wissen, sie brauche<br />

keine Gleichstellungsbe<strong>auf</strong>tragte für<br />

ihre Ehe, „Frau Schwesig geht es nichts<br />

an, wer bei uns den Müll runterträgt“.<br />

Könnte sie sich ein politisches Amt vorstellen?<br />

Anfragen gab es. Die CDU-Wählerin<br />

und CSU-Sympathisantin, die vom<br />

evangelischen Glauben zum Katholizismus<br />

konvertierte, winkt ab. „Als Publizistin<br />

kann ich schreiben, was ich will.“<br />

Birgit Kelle hat Jura studiert, dann<br />

abgebrochen und mit Anfang zwanzig<br />

beim Badischen Verlag in Freiburg volontiert,<br />

wo sie ihren Mann kennenlernte.<br />

Sie wurde schwanger.<br />

Plötzlich galt das Mädchen, das mit<br />

neun Jahren aus dem rumänischen Siebenbürgen<br />

nach Deutschland kam, immer<br />

eine große Klappe hatte und sich<br />

qua Geschlecht nie benachteiligt gefühlt<br />

hatte, im Kreis der <strong>auf</strong>stiegsorientierten<br />

Kolleginnen als bemitleidenswert. Weil<br />

sie Mutter wurde und die nächsten Jahre<br />

mit Erziehung beschäftigt war. „Ich bin<br />

ja ein Doppelopfer: Frau und Migrationshintergrund!“,<br />

sagt sie und lacht kräftig.<br />

Dann muss sie los. Die Jüngste hat sich<br />

heute Nudeln ohne Sauce gewünscht.<br />

KATHARINA SCHMITZ lebt mit ihrer<br />

Familie in Berlin. Die beiden Söhne essen<br />

anders als im Hause Kelle lieber Nudeln<br />

mit Sauce<br />

Foto: Henning Ross für <strong>Cicero</strong><br />

108<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

SIE WILL DAS WAGNIS<br />

Mit Nina Hoss kommt dem Deutschen Theater in Berlin der letzte Glanz abhanden.<br />

Die Schauspielerin ist zur Schaubühne gegangen, weil sie neues Chaos sucht<br />

Von IRENE BAZINGER<br />

Foto: Mark Mattingly<br />

Als sie bei den Salzburger Festspielen<br />

2005 und 2006 in das rote<br />

Kleid der Buhlschaft schlüpfte,<br />

Jedermanns Geliebte, wurde Nina Hoss<br />

die „Coolschaft“ genannt. So kann’s gehen,<br />

wenn man als Schauspielerin nicht<br />

nur sein Gesicht den Figuren zu leihen<br />

versteht, sondern auch noch einen eigenen<br />

Kopf hat.<br />

Trotzdem ist cool jener Begriff, der<br />

einem im Gespräch mit Nina Hoss am<br />

wenigsten in den Sinn kommt. Dass sie<br />

zu den gefragten Schauspielerinnen des<br />

Landes zählt, ausgezeichnet mit Grimme-<br />

Preis, Deutschem Filmpreis, dem Silbernen<br />

Bären der Berlinale 2007 als beste<br />

Darstellerin in „Yella“ und dem Gertrud-<br />

Eysoldt-Ring für ihre Interpretation von<br />

Euripides’ „Medea“ am Deutschen Theater<br />

Berlin, merkt man ihr nicht an. Sie<br />

wirkt unkompliziert.<br />

Nina Hoss lebt gern in Berlin, auch<br />

weil man sie dort in Ruhe lässt. Sie ist seit<br />

Jahren mit dem walisischen Musikproduzenten<br />

Alex Silva liiert. Sie scheut das<br />

Licht der Öffentlichkeit lieber, als sich in<br />

ihm zu sonnen. In der Auswahl ihrer Rollen<br />

ist sie anspruchsvoll und geschmackssicher.<br />

Kommerz? Fernsehunterhaltung?<br />

Promipartys? Nicht ihr Fall: „Wozu soll<br />

ich <strong>auf</strong> tausend Hochzeiten tanzen, wenn<br />

ich dort gar nichts zu tun habe?“<br />

Bei ihren Figuren sucht sie Wagnis<br />

und Entgrenzung, Unschärfen und Abgründe.<br />

Zu beobachten ist dies etwa in<br />

den fünf Filmen, die sie seit 2001 mit<br />

Christian Petzold gedreht hat. In ihrer<br />

ersten gemeinsamen Produktion, „Toter<br />

Mann“, entpuppte sich die von ihr gespielte<br />

un<strong>auf</strong>fällige Leyla nach und nach<br />

als schwer verletzte Rachegöttin. Zuletzt<br />

realisierten die beiden „Barbara“ über<br />

eine ausreisewillige DDR-Ärztin. Petzold<br />

bekam dafür 2012 bei der Berlinale den<br />

Silbernen Bären. Mit Thomas Arslan zog<br />

es Nina Hoss acht Wochen ins abgelegene<br />

Kanada, wo sie für seinen Auswandererfilm<br />

„Gold“ reiten lernte und dann als<br />

Frau, mit der man Pferde stehlen kann,<br />

hoch zu Ross zu neuen Ufern <strong>auf</strong>brach.<br />

Dass es Zeit für einen Aufbruch auch<br />

in anderer Hinsicht ist, gestand sie sich<br />

nach 13 Jahren am Deutschen Theater<br />

ein, wo sie Inszenierungen von Michael<br />

Thalheimer, Barbara Frey, Stephan Kimmig<br />

und Stefan Pucher geprägt hatte. Seit<br />

dieser Spielzeit ist sie an der Schaubühne<br />

am Kurfürstendamm engagiert: „Dieser<br />

Wechsel hatte hauptsächlich mit den<br />

Möglichkeiten für meine eigene Entwicklung<br />

zu tun, nichts mit den zwei Häusern.<br />

Ich brauche einfach neue Einflüsse, neue<br />

Risiken und eine produktive Verunsicherung,<br />

die mich wach hält. Ich habe Lust<br />

<strong>auf</strong> Chaos!“<br />

WECHSELNDE ARBEITSVERHÄLTNISSE<br />

sind an jedem Theater üblich, obwohl<br />

Ulrich Khuon, der zunehmend glücklose<br />

Intendant des Deutschen Theaters, Nina<br />

Hoss gern weiterbeschäftigt hätte, wie er<br />

offen zugab. Sie war neben Ulrich Matthes<br />

der einzige Star in seinem zwar großen,<br />

aber wenig prominenten Ensemble.<br />

Dem Traditionshaus ist der künstlerische<br />

wie intellektuelle Glanz abhandengekommen.<br />

Nach und nach verabschieden<br />

sich auch die überragenden Schauspieler,<br />

weil sie an anderen Berliner Bühnen<br />

oder bei Film und Fernsehen sich besser<br />

<strong>auf</strong>gehoben fühlen. <strong>Kein</strong> Wunder, wirken<br />

doch sowohl die Spielpläne wie die<br />

Regisseure des Deutschen Theaters unplausibel,<br />

beliebig, schlicht nicht hauptstädtisch<br />

genug.<br />

Dass man sich hingegen an der<br />

Schaubühne unter Intendant Thomas<br />

Ostermeier intensiv mit gesellschaftlichen<br />

Entwicklungen auseinandersetzt,<br />

hat Nina Hoss sehr interessiert. Denn<br />

sie ist nicht bloß eine mündige Künstlerin,<br />

sondern eine ebensolche Staatsbürgerin.<br />

So schickten die Grünen die<br />

Tochter der Schauspielerin Heidemarie<br />

Rohweder und des Grünen-Mitbegründers<br />

und Daimler-Betriebsrats<br />

Willi Hoss 2004 und 2010 als Mitglied<br />

der Bundesversammlung zur Wahl des<br />

Bundespräsidenten.<br />

All diese Erfahrungen hat sie nun<br />

für ihr Debüt an der Schaubühne genutzt.<br />

Ihre Bankiersgattin Regina Giddens<br />

in Lillian Hellmans „Die kleinen<br />

Füchse“ ist eine unzufriedene Lady, die<br />

sich aus der amerikanischen Südstaatenprovinz<br />

in das liberale New York retten<br />

will. Als sie die Gelegenheit wittert, nutzt<br />

sie wie ihre männlichen Konkurrenten<br />

alle Tricks und Tücken.<br />

Tallulah Bankhead verkörperte die<br />

eiskalte Kämpferin einst bei der Ur<strong>auf</strong>führung<br />

am Broadway 1939, wo das<br />

Stück über 400 Mal lief, Bette Davis später<br />

im Kino. Für Nina Hoss ist diese einerseits<br />

unterdrückte, andererseits privilegierte,<br />

schließlich skrupellose Frau<br />

weder nur gut noch nur böse, vielmehr<br />

von dem Gefühl beherrscht, dass ihr das<br />

Leben etwas schuldet. Ihre subtile Darstellung<br />

dieser listig taktierenden Regina,<br />

die am Ende die versammelte Männerwelt<br />

in die Knie zwingt, gefiel Publikum<br />

wie Kritik.<br />

Sie hatte es damit wieder geschafft,<br />

keine klaren Festlegungen zu zeigen,<br />

sondern Widersprüche, „weil unser ganzes<br />

Dasein so widersprüchlich ist“. Deshalb<br />

sind die Figuren der Nina Hoss komplex<br />

und kaum zu fassen, bleiben freilich<br />

umso stärker im Gedächtnis haften.<br />

IRENE BAZINGER ist Theaterkritikerin<br />

und verfolgt das Spiel der Nina Hoss nicht<br />

nur <strong>auf</strong> der Bühne, sondern auch in ihren<br />

Filmen mit Leidenschaft<br />

111<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

FREMD IN DER HEIMAT<br />

Der Schriftsteller David Henry Hwang zählt zu den wichtigsten Dramatikern der<br />

Vereinigten Staaten. Trotz aller Erfolge erfährt er die Grenzen der Integration<br />

Von SEBASTIAN MOLL<br />

Das zweite Stockwerk des Signature<br />

Theatre ist zum Bersten gefüllt<br />

an diesem Donnerstagnachmittag.<br />

Studenten sitzen an Tischen,<br />

trinken Kaffee und nutzen den hohen<br />

Raum an der 42. Straße, um Seminararbeiten<br />

zu schreiben. Ein Hauch von<br />

Mensa weht durch die von Frank Gehry<br />

gestaltete Halle, die sich am Abend dann<br />

in das Foyer einer der bedeutendsten dramatischen<br />

Bühnen New Yorks verwandeln<br />

wird. Mitten unter den jungen Menschen<br />

sitzt David Henry Hwang in Jeans<br />

und Sneakers und saugt einen Erdbeermilchshake<br />

durch einen Strohhalm. Verrieten<br />

die silbernen Haarsträhnen nicht<br />

seine 55 Jahre, fiele Hwang nicht weiter<br />

<strong>auf</strong>.<br />

Es ist typisch für den sinoamerikanischen<br />

Bühnenschriftsteller, sich so einzufügen.<br />

Er fällt nicht gerne <strong>auf</strong>. Dabei<br />

ist er hier gewissermaßen der Hausherr.<br />

Für ein Jahr hat das Theater seine Bühne<br />

an Hwang abgetreten, er darf nach Herzenslust<br />

proben, produzieren und <strong>auf</strong>führen.<br />

Es ist eine der höchsten Ehrungen im<br />

amerikanischen Theater, zu seinen Vorgängern<br />

am Signature gehören Arthur<br />

Miller, Edward Albee und Sam Shepard.<br />

Hwang ist einer der bedeutendsten<br />

amerikanischen Bühnenschriftsteller der<br />

Gegenwart. Vor 25 Jahren eroberte der<br />

Sohn eines Einwanderers aus Schanghai<br />

mit „M Butterfly“ den Broadway. Das<br />

Stück soll 30 Millionen Dollar eingespielt<br />

haben und wurde von David Cronenberg<br />

mit Jeremy Irons und Barbara<br />

Sukowa verfilmt. Wenn das amerikanische<br />

Feuilleton von Hwang spricht, dann<br />

spricht es jedoch trotz beeindruckender<br />

Erfolge nie von einem großen amerikanischen<br />

Dramatiker. Immer muss Hwang<br />

den Zusatz des „asiatisch-amerikanischen“<br />

Künstlers ertragen, obwohl er in<br />

Kalifornien <strong>auf</strong>gewachsen ist und seine<br />

Mandarin-Kenntnisse bestenfalls rudimentär<br />

sind.<br />

Daran, dass Hwang im Bewusstsein<br />

der US-Öffentlichkeit die Stimme der asiatischen<br />

Minderheit und das Gesicht der<br />

asiatisch-amerikanischen Literatur ist, ist<br />

er freilich nicht unschuldig. Seit er Ende<br />

der siebziger Jahre vor Kommilitonen<br />

sein erstes Stück „FOB“ über neu angekommene<br />

Einwanderer <strong>auf</strong>führte, kreisen<br />

seine Stücke darum, was es bedeutet,<br />

ein asiatisch-stämmiger Amerikaner<br />

zu sein. „Ich glaube, das Mysterium der<br />

Identität ist nicht da, um entschlüsselt zu<br />

werden“, sagt er. Nicht zuletzt deshalb<br />

geht er das Thema selten direkt an. Seine<br />

Stücke bewegen sich fast immer <strong>auf</strong> der<br />

Metaebene. Sie drehen sich darum, wie<br />

Identitäten konstruiert werden, anstatt<br />

Identitäten direkt zu erforschen. „Mich<br />

interessiert es, wie man zwischen Vorurteilen<br />

und Klischees ein authentisches<br />

Selbst finden kann.“<br />

DAMIT STÖSST HWANG <strong>auf</strong> das Kernproblem<br />

der asiatisch-stämmigen Minderheit<br />

in den USA – der am schnellsten<br />

wachsenden Gruppe der Einwanderernation.<br />

„Wir sind die ewigen Fremden, auch<br />

wenn wir hier <strong>auf</strong>gewachsen sind. Das<br />

Einfachste für die meisten von uns ist es,<br />

sich in das zu fügen, was von uns erwartet<br />

wird“, sagt er. So, wie etwa in die<br />

Rolle des Un<strong>auf</strong>fälligen, in der Hwang<br />

sich am wohlsten fühlt.<br />

Seine künstlerische Strategie, die bedrängenden<br />

ethnischen Klischees zu entkräften,<br />

ist es, sie zu dekonstruieren, da<br />

ist Hwang ganz Kind der achtziger Jahre,<br />

als Debatten um Multikulturalismus und<br />

französische Theorie das intellektuelle<br />

Klima bestimmten. „Ich will zeigen, wie<br />

nutzlos in unserer Welt Kategorien von<br />

Rasse und Ethnizität sind, wenn es um<br />

die Beurteilung von Menschen geht.“<br />

Deshalb zeigt er in seinen Stücken, wie<br />

diese Kategorien scheitern.<br />

In „M Butterfly“ etwa glaubt der<br />

französische Diplomat René Gallimard,<br />

sich in eine unterwürfige chinesische<br />

Frau zu verlieben. Am Ende des Stückes<br />

stellt diese sich jedoch als männlicher<br />

Spion heraus: „Ich habe eine Lüge<br />

geliebt“, sagt ein völlig zerstörter Gallimard,<br />

ehe er sich umbringt.<br />

Sein jüngster Broadway-Erfolg,<br />

„Chinglish“, weidet sich an den Verhandlungen<br />

zwischen einem amerikanischen<br />

Geschäftsmann und einem chinesischen<br />

Provinzpolitiker, bei denen sprachliche<br />

und kulturelle Übersetzungsfehler zu<br />

immer wilderen Verflechtungen führen.<br />

Wie schon bei „M Butterfly“ kippen diese<br />

Fehlübersetzungen vom Komischen ins<br />

Tragische, als es um die Liebe geht. Die<br />

Liebe als Schlachtfeld der größten und<br />

folgenreichsten Missverständnisse im Leben<br />

– dieses Thema lässt Hwang ebenso<br />

wenig los. Gewiss liefert ihm dazu seine<br />

17 Jahre währende Ehe mit der amerikanischen<br />

Schauspielerin Kathryn Layng<br />

reichlich Stoff.<br />

Sein derzeitiges Projekt, ein Tanzund<br />

Musikstück über Bruce Lee, feierte<br />

Anfang Februar 2014 im Signature Premiere.<br />

Warum Bruce Lee? „Er hat das<br />

Bild des asiatischen Mannes grundlegend<br />

geändert. Er hat ihm Eier gegeben.“<br />

Das Foyer des Signature Theaters hat<br />

sich geleert. Hwangs Milchshake ist ausgetrunken,<br />

er entsorgt den leeren Becher<br />

und verabschiedet sich höflich. Dann entschwindet<br />

er in die anonyme Menschenmasse,<br />

die sich die 42. Straße hinunter in<br />

Richtung Times Square wälzt.<br />

SEBASTIAN MOLL lebt seit 15 Jahren in<br />

New York. Wie Hwang fasziniert es ihn,<br />

wie in diesem Schmelztiegel Identitäten<br />

konstruiert werden<br />

Foto: Kai Nedden für <strong>Cicero</strong><br />

112<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


SALON<br />

Report<br />

STURZFAHRT<br />

OHNE<br />

KOMPASS<br />

Von AXEL BRÜGGEMANN<br />

Illustrationen ANDREA VENTURA<br />

In vier Jahren verlässt Sir Simon Rattle die Berliner<br />

Philharmoniker. Bis 2015 will das Orchester seinen<br />

Nachfolger bestimmen. Die Wahl wird zeigen, welche<br />

gesellschaftliche Bedeutung klassische Musik in der<br />

Spätmoderne noch haben kann<br />

114<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


SALON<br />

Report<br />

Jetzt haben sie Zeit. Sehr viel Zeit. Und die wollen<br />

die Berliner Philharmoniker nutzen. Die 128 Musiker<br />

sind Weltklasse, wenn sie in ihren Konzerten<br />

zu einem großen, wogenden Ganzen verschmelzen.<br />

Dann verstehen sie sich blind. Doch wenn die Musik<br />

verklingt, sind sie wieder 128 eigensinnige Köpfe. Einige<br />

widmen ihr Leben bedingungslos dem Orchester, andere<br />

haben sich ein zusätzliches Standbein <strong>auf</strong>gebaut: Sie<br />

arbeiten als Professoren, verfolgen ihre Solokarrieren oder<br />

finden Abwechslung in kammermusikalischen Ensembles.<br />

Innerhalb der Berliner Philharmoniker gibt es unterschiedliche<br />

Vorstellungen über die eigene Arbeit. Die einen leiden<br />

unter dem Verlust ihres alten Klanges, dieses düsteren,<br />

romantischen Berliner Sounds. Die anderen wollen noch<br />

mehr Öffnung, mehr Fortschritt, mehr Alte Musik, mehr<br />

Ur<strong>auf</strong>führungen und mehr jüngere Künstler.<br />

Einige haben <strong>auf</strong>geatmet, als Simon Rattle ankündigte,<br />

das Orchester 2018 zu verlassen, für andere wird es ein<br />

schwerer Abschied. Öffentlich beschwören die Berliner Einheit,<br />

aber hinter den Kulissen wird um Macht gerungen, um<br />

die Zukunft des Ensembles, das längst nicht mehr das beste<br />

der Welt ist, sondern nur noch eines der fünf oder sechs<br />

globalen Spitzenorchester. Bis 2015 wollen die Musiker einen<br />

neuen Dirigenten finden. Bis dahin haben sie sich Stillschweigen<br />

<strong>auf</strong>erlegt. Eine Orchesterversammlung soll das<br />

Procedere der Wahl festlegen, dann will man die Sache für<br />

eine Weile zu den Akten legen, Gastdirigenten prüfen und<br />

irgendwann in die inhaltliche Diskussion eintreten, sagt<br />

Orchestervorstand Peter Riegelbauer. Hört sich ausgeruht<br />

und harmonisch an. Ist es aber nicht.<br />

Die Philharmoniker teilen sich in Traditionalisten, von<br />

denen manche schon unter Vorgänger Claudio Abbado dienten,<br />

und jene Fraktion, die von Simon Rattle ins Ensemble<br />

Im Zeitalter der<br />

Globalisierung<br />

dominiert der<br />

polierte Sound<br />

aus den USA<br />

geholt wurde. Die einen kennen noch die alte Arbeit am typischen<br />

Philharmoniker-Klang, die anderen sind wegen des<br />

Aufbruchs gekommen – sie wollen an komplett neuen Ufern<br />

musizieren. Schon als Simon Rattle 1999 gewählt wurde,<br />

war das Orchester gespalten. Ein hauchdünner Vorsprung<br />

habe den Ausschlag gegeben, erzählen Musiker. Rattle<br />

zwang das Orchester später mit den Mitteln eines Machtpolitikers<br />

zum Nibelungenschwur: Noch vor Abl<strong>auf</strong> seiner<br />

Verhandlungsfrist bat er sie 2008 um Bestätigung. Eine Abwahl<br />

wäre ein Affront gewesen. Der Vertrag wurde dann<br />

offiziell bis 2018 verlängert.<br />

Die Frage um den Kurs des bekanntesten deutschen Orchesters<br />

ist auch eine Frage der klassischen Musik an sich:<br />

Was macht ein Orchester im 21. Jahrhundert aus? Wie positioniert<br />

es sich in der Klassik-Krise? Welche Traditionen<br />

bewahrt es, welche wirft es über Bord? Wie sollen Beethoven,<br />

Brahms und Bruckner klingen? Wie gehen Ensembles<br />

mit der Diversifizierung der Musik um: mit historisch informierter<br />

Aufführungspraxis, Gegenwartsmusik und Repertoireerweiterung?<br />

Wollen sie Experten <strong>auf</strong> einem Feld<br />

sein oder alle musikalischen Felder gleichzeitig bedienen?<br />

Sir Simon Rattle hat sich für Letzteres entschieden. Seine<br />

Auffassung eines modernen Orchesters ist die des Allrounders.<br />

Die Philharmoniker haben von der Barockmusik <strong>auf</strong><br />

historischen Instrumenten bis zu Ur<strong>auf</strong>führungen alles im<br />

Repertoire. Sie verstehen sich nicht nur als traditioneller<br />

Klangkörper, sondern auch als pädagogische Institution und<br />

als Technikpionier im Internetzeitalter.<br />

Nun nimmt der Chef den Hut. Vielleicht auch, weil er<br />

spürt, dass sein Kurs nicht mehr mehrheitsfähig ist. „Man<br />

muss sich als Dirigent daran gewöhnen“, sagt Rattles Kollege<br />

Daniel Barenboim, „dass mindestens die Hälfte eines<br />

Orchesters gegen den Dirigenten ist. Wer das nicht aushält,<br />

ist fehl am Platz.“ Das ist bei den Berliner Philharmonikern<br />

ebenso wie in allen anderen Orchestern. Aber als einer der<br />

wenigen Klangkörper halten die Berliner ihre Zukunft selbst<br />

in der Hand. Das Orchester wählt per Abstimmung sein eigenes<br />

Oberhaupt – die Mehrheit setzt sich durch.<br />

Die Berliner Philharmoniker sind so etwas wie der Vatikan<br />

der klassischen Musik. Regelmäßig treffen die Musiker<br />

sich zum Konklave und küren den besten Dirigenten<br />

zum Tonpapst seiner Zeit. Der Klang der Berliner Philharmoniker<br />

ist eine Weltanschauung. Das Orchester spielt den<br />

Soundtrack des weltpolitischen Zeitgeists, stets nach dem<br />

Motto: „Sag mir, wie die Berliner klingen, und ich sage dir,<br />

wie sich unsere Zeit anhört.“ Wer Nachfolger von Simon<br />

Rattle wird, ist also auch eine Entscheidung über die Zukunft<br />

der klassischen Musik weit über Berlin hinaus.<br />

Wilhelm Furtwängler manövrierte das Orchester mit<br />

viel Pathos und einigen Schlingerkurven durch das Dritte<br />

Reich und den Wieder<strong>auf</strong>bau Deutschlands. Herbert von<br />

Karajan etablierte einen <strong>auf</strong> Hochglanz polierten Wirtschaftswunder-Sound.<br />

Pünktlich zum Fall der Mauer kam<br />

der jüngst verstorbene Italiener Claudio Abbado und öffnete<br />

das Orchester neuen Welten: Junge Musiker wurden<br />

verpflichtet, Ur<strong>auf</strong>führungen einstudiert. Nebenbei wurde<br />

am Update des dunklen, großen Orchesterklangs gebastelt.<br />

116<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Das Konklave von 1999 war zerstritten gewesen: Altmeister<br />

Daniel Barenboim oder Jungstar Simon Rattle? Die<br />

Stimmung war gereizt, die Klangkardinäle waren uneinig.<br />

Am Ende fiel die Wahl <strong>auf</strong> den wilden Neudenker. Ein Signal<br />

an die internationale Orchesterlandschaft: Die Tradition<br />

hatte ausgedient, das Neue sollte eine Chance bekommen!<br />

Rattle hatte sich zuvor in der Arbeiterstadt Birmingham<br />

einen Namen gemacht. Durch Charisma, mutige Programme,<br />

präzise Arbeit und erzieherische Mitmachprogramme<br />

für das Publikum stellte er die Musik als aktive<br />

gesellschaftliche Kraft unter Beweis. Er war der Musikdemokrat,<br />

der mit der Machtmusik alter Maestri <strong>auf</strong>räumte.<br />

Er überwand in Berlin den musikmilitärischen Habitus eines<br />

Herbert von Karajan. Als die beiden einmal miteinander<br />

telefonierten und über Mozart-Interpretationen aneinandergerieten,<br />

kam Karajan dem Briten vor wie „General<br />

Patton oder irgend ein anderer knurriger Soldat“.<br />

Auch bei seinen Pressekonferenzen wehte ein neuer<br />

Wind. Rattle biss gern in einen Apfel, legte seine Stirn in<br />

Sorgenfalten, lächelte und zeigte sich als furchtloser Erneuerer.<br />

Der Sir schien der richtige Mann zu sein, ein Orchester<br />

in einer Stadt umzubauen, in der gerade jede Straßenkreuzung<br />

<strong>auf</strong>gerissen wurde. Er erweiterte die deutschtümelnde<br />

Klangzone der Philharmoniker, indem er das Kernrepertoire<br />

mit Alter Musik und klingender Avantgarde durchmischte.<br />

Damals war das modern. Besonders die historisch<br />

informierte Aufführungspraxis war bis dahin bei Experten<br />

und ihren eigenen, hoch spezialisierten Klangkörpern<br />

zu Hause. Nikolaus Harnoncourt feierte Erfolge mit seinem<br />

Concentus Musicus, René Jacobs mit der Schola Cantorum<br />

Basiliensis und Roger Norrington mit der Camerata<br />

Salzburg. Simon Rattle wollte den Beweis antreten, dass<br />

auch ein großer philharmonischer Dampfer den innovativen<br />

Geist des Alten verkörpern kann.<br />

Gleichzeitig läutete er die Postmoderne ein, holte<br />

seine Musiker sogar aus Venezuela und lud britische Gegenwartskomponisten<br />

ein. Sein Ziel war es, die Philharmonie<br />

nicht nur der Welt, sondern auch der Nachbarschaft zu<br />

öffnen. Sein Musiktempel sollte ein offenes Haus werden.<br />

Mit Lunch-Konzerten wurden Angestellte aus den Bürotempeln<br />

am Potsdamer Platz gelockt, mit Jugendprojekten die<br />

Dönerbuden-Besitzer und ihre Kinder aus Kreuzberg. Wer<br />

Rattle fragte, wo all das enden würde, bekam zur Antwort:<br />

„Das weiß ich nicht. Schließlich sind die spannendsten Wege<br />

jene, bei denen man das Ziel nicht kennt.“ Bis heute bedient<br />

er dieses Bild gebetsmühlenhaft – über die konkrete<br />

Entwicklung des Klanges, über die musikästhetische Ausrichtung,<br />

die Rolle der Klassik in unserer Zeit redet er ungern.<br />

Auch dem <strong>Cicero</strong> gegenüber will er sich diesen Fragen<br />

nicht stellen.<br />

Dabei sind sie längst überfällig. Die Globalisierung<br />

macht vor dem Klang von Orchestern nicht halt. Musiker<br />

werden nur noch selten an einem Ort ausgebildet. Es gehört<br />

zum internationalen Orchesteralltag, dass Japaner in<br />

New York von russischen Lehrern unterrichtet werden, um<br />

dann unter einem englischen Dirigenten in einem deutschen<br />

Orchester zu spielen. Lange Zeit war der Gleichklang der<br />

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Bildnachweise: Matthias von Gunten, Chris Janik, Valeria Heintges, Nicolas Aebi, Gunter Glücklich, Zlil Landesmann, Jerzy Pirecki, Susanne Schleyer, Milena Schlösser<br />

LEIPZIG LIEST 2014:<br />

JÜDISCHE<br />

LEBENSWELTEN<br />

Im Ariowitsch-Haus, Hinrichsenstr. 14 / 04105 Leipzig<br />

Veranstalter: Der Club Bertelsmann, <strong>Cicero</strong> – Magazin<br />

für politische Kultur und Stanford University<br />

DONNERSTAG, 13. MÄRZ 2014<br />

16:00 Bettina Spoeri: Konzert für die<br />

Unerschrockenen. Braumüller Verlag<br />

17:00 Abraham Jehoschua: Spanische<br />

Barmherzigkeit. Suhrkamp<br />

18:00 Thomas Medicus: Heimat.<br />

Rowohlt Berlin<br />

19:00 Thomas Meyer: Wolkenbruchs<br />

wunderliche Reise. Diogenes<br />

20:00 Benjamin Stein: Das Alphabet<br />

des Rabbi Löw. Verbrecher Verlag<br />

Moderation: Alexander Kissler, <strong>Cicero</strong><br />

21:00 Eliyah Havemann: Wie werde ich<br />

Jude? Und wenn ja, warum? Ludwig<br />

Moderation: Alexander Kissler, <strong>Cicero</strong><br />

FREITAG, 14. MÄRZ 2014<br />

16:00 Marita Kijowska: Das Leben<br />

des Jan Karski. C.H.Beck<br />

17:00 Michael Guggenheimer:<br />

Tel Aviv. Edition clandestin<br />

18:00 Katja Petrowskaja:<br />

Vielleicht Esther. Suhrkamp<br />

Moderation: Alexander Kissler, <strong>Cicero</strong><br />

19:00 Urs Faes: Sommer in<br />

Brandenburg. Suhrkamp<br />

20:00 Kathrin Gerlof: Das ist eine<br />

Geschichte. Aufbau<br />

21:00 Grigori Kanowitsch: Ewiger<br />

Sabbat. Die Andere Bibliothek<br />

SAMSTAG, 15. MÄRZ 2014<br />

16:00 Marianne Brentzel:<br />

Mir kann doch nichts geschehen.<br />

Edition Ebersbach<br />

17:00 Hannah Dübgen: Strom. dtv<br />

18:00 Yuval Noah Harari:<br />

Eine kurze Geschichte der<br />

Menschheit. DVA<br />

19:00 Jutta Ditfurth: Der Baron, die<br />

Juden und die Nazis.<br />

Hoffmann + Campe<br />

20:00 Andreas Altmann:<br />

Verdammtes Land. Piper


SALON<br />

Report<br />

Ensembles <strong>auf</strong> die USA beschränkt. Die amerikanischen Orchester<br />

hatten nur eine kurze Tradition und waren Einwanderungsensembles:<br />

Statt sich um einen traditionellen Sound<br />

zu kümmern, strebten sie Perfektion und Schönklang an.<br />

Sie engagierten in allen Instrumentengruppen Virtuosen.<br />

So entstand der polierte US-Sound. Dieses Klangideal hat<br />

inzwischen auch die europäischen Traditionsorchester erreicht.<br />

Auch sie entfernen sich immer weiter von ihren einstigen<br />

Musikdirektoren wie Richard Strauss, Gustav Mahler<br />

oder – im Falle der Berliner Philharmoniker – Wilhelm<br />

Furtwängler und internationalisieren ihre Musiksprache, indem<br />

sie weltweit Musiker eink<strong>auf</strong>en und Dirigenten ohne<br />

Bezug zur eigenen Klangtradition engagieren.<br />

Auch deshalb dürfte Kent Nagano an der Bayerischen<br />

Staatsoper gescheitert sein. Seine bewusst neutönenden Dirigate<br />

hatten nur wenig mit dem Klang seiner Vorgänger,<br />

mit Hans von Bülow, Richard Strauss, Bruno Walter, Hans<br />

Knappertsbusch, Ferenc Fricsay oder Wolfgang Sawallisch<br />

zu tun. Nagano wird nun nach Hamburg ziehen, wo seine<br />

Vorgängerin Simone Young daran gescheitert ist, das philharmonische<br />

Erbe von Eugen Jochum, Joseph Keilberth,<br />

Wolfgang Sawallisch, Christoph von Dohnányi und Gerd<br />

Albrecht zu übernehmen. Auch dass der globetrottende Jet-<br />

Set-Maestro Valery Gergiev nun bei den Münchner Philharmonikern<br />

in die Fußstapfen von Felix Weingartner, Sergiu<br />

Celibidache und Christian Thielemann treten wird, ist ein<br />

Zeichen, dass die Traditionsensembles bereit sind, ihren lokalen,<br />

historischen Klang gegen einen internationalisierten<br />

Sound einzutauschen.<br />

Hinzu kommt die Mode, sogenannte Shootingstars zu<br />

großen Ensembles zu holen, um sie experimentieren zu<br />

lassen: Der 35-jährige Andris Nelsons, einer der Favoriten<br />

der Rattle-Nachfolge, wird nach Houston gehen, der<br />

Simon Rattle hat<br />

den Klang der<br />

Philharmoniker<br />

grundlegend<br />

verändert<br />

38-jährige Daniel Harding ist beim Schwedischen Radiosinfonieorchester<br />

gelandet, der 37-jährige Vasily Petrenko<br />

bei den Oslo Philharmonics, der 36-jährige Andrés Orozco-<br />

Estrada wird vom Tonkünstler-Orchester Niederösterreich<br />

zum Houston Symphony Orchestra und zum hr-Sinfonieorchester<br />

gehen. Mit der alten Ochsentour durch Opernorchester<br />

und Stadttheater haben sie nichts am Hut. Sie beginnen<br />

ihre Karrieren jung und <strong>auf</strong> internationalem Parkett.<br />

In seinen zwölf Jahren seit 2002 hat Rattle den Klang<br />

des Orchesters grundlegend verändert. Der Weg der Philharmoniker<br />

ist verschlungener geworden, die Seitenwege<br />

wurden zu Hauptwegen ausgebaut, ein konkretes Ziel ist<br />

nicht in Sicht. Aber wie kein anderer Dirigent hat er die gesellschaftliche<br />

Kraft der Musik unter Beweis gestellt. Ein<br />

Orchester ist für ihn nicht nur Klangkörper, sondern soziale<br />

Einheit und Teil einer sich wandelnden Welt. Heute<br />

sind die Markenzeichen der Philharmoniker ihre Education-Programme<br />

und die Digital Concert Hall. Mit Filmen<br />

wie „Rhythm is it“ und der Übertragung von Konzerten<br />

ins Internet und in die Kinos sind sie zu Vorreitern für viele<br />

deutsche Orchester geworden.<br />

ALL DAS DIENT bei genauem Hinsehen eher der Orchester-<br />

PR als den Beteiligten: Was aus den Kindern von „Rhythm<br />

is it“ geworden ist, wissen wir nicht, ebenso wenig lässt sich<br />

der Erfolg der pädagogischen Programme messen. Kreuzberg<br />

und Neukölln gehören gewiss noch immer nicht zum<br />

Abo-Publikum. Sicher ist, dass die „Digital Concert Hall“<br />

bis heute nur durch millionenschwere Subventionen der<br />

Deutschen Bank überlebt und dass Kino-Übertragungen<br />

aus der Met in New York weitaus erfolgreicher sind als die<br />

der Berliner Philharmoniker. Dennoch sind gerade <strong>auf</strong> dem<br />

multimedialen Feld die Hauptstädter Pioniere. Dass Medienpartner<br />

Sony nun eine Berlin-Phil-App <strong>auf</strong> jeden Smart-TV<br />

vorinstalliert, könnte ein entscheidender Zukunftsvorteil<br />

sein, wenn es darum geht, den Konzertsaal in die Wohnzimmer<br />

zu bringen. Die Begleitmusik dieser multimedialen<br />

Ausrichtung besteht übrigens darin, dass Rattles Plattenfirma<br />

EMI mit den Berlinern kaum noch ein großer Erfolgsschlager<br />

gelungen ist. Die CD, Herbert von Karajans Domäne,<br />

wurde von Simon Rattle vernachlässigt.<br />

Die Musiker wissen, dass ein modernes Orchester nicht<br />

im 19. Jahrhundert stehen bleiben kann. Aber sie merken<br />

auch, dass andere Ensembles längst ihren Platz eingenommen<br />

haben, wenn es um die Exegese von Beethoven,<br />

Brahms, Bruckner und Mahler geht. Heute bestechen die<br />

Berliner Philharmoniker durch eine Aufführung der Matthäus-Passion.<br />

Die deutsche Musiktradition hingegen wird<br />

andernorts besser gepflegt.<br />

Der Autor dieser Zeilen regte vor zehn Jahren eine Debatte<br />

über den „Deutschen Klang“ an. Damals galt es als<br />

Affront, die Arbeit in Berlin und den Verlust der musikalischen<br />

Tradition zu hinterfragen. Heute scheint es Allgemeingut,<br />

dass Rattle nicht viel an diesem Klang liegt, der<br />

sich durch Erdigkeit, philosophische Schwere, Schwelgerei<br />

und Dunkelheit auszeichnet. Rattle hielt diesen Sound für<br />

unzeitgemäß und tauschte ihn gegen ein internationales,<br />

118<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


SALON<br />

Report<br />

lichteres, sachlicheres Spiel ein. Das war eine bewusste Entscheidung<br />

der Berliner, mit der sie sich neues Repertoire erarbeitet<br />

haben. Zuletzt war es im Silvesterkonzert mit Lang<br />

Lang zu hören: die perfekte Technik ist noch immer existent,<br />

aber unter Rattle ist das Epische dem Rhythmus zum Opfer<br />

gefallen, das Grüblerische dem Effekt. Mit ihrem neuen<br />

Ton haben die Berliner eher unfreiwillig eine Marktlücke<br />

für andere Ensembles geöffnet, die sich besser um die sogenannte<br />

deutsche Tradition gekümmert und sie zu ihrem<br />

Markenzeichen gemacht haben: Daniel Barenboim hat mit<br />

seiner Staatskapelle Berlin, also in direkter Nachbarschaft,<br />

einen satten, bombastischen, dunklen Klang geformt. Christian<br />

Thielemann setzt mit der Staatskapelle Dresden <strong>auf</strong> ein<br />

Orchester, das sich durch die eingeschränkte Reisefreiheit<br />

in der DDR einen Sound der sechziger und siebziger Jahre<br />

bewahrt hat. Beide Ensembles widersetzen sich der musikalischen<br />

Globalisierung – und sind damit sehr erfolgreich.<br />

Vielleicht haben die Berliner dieses Phänomen unterschätzt.<br />

Im internationalen Vergleich schneiden das Concertgebouw-Orchester<br />

in Amsterdam und das Symphonieorchester<br />

des Bayerischen Rundfunks, beide unter Mariss Jansons,<br />

und die Wiener Philharmoniker, seit Jahren ohne Chef am<br />

Pult, in Kritiker-Rankings oft besser ab als die Berliner<br />

Philharmoniker. Diese setzen derweil gern auch <strong>auf</strong> medial<br />

leicht verk<strong>auf</strong>bare Showprogramme mit Tasten-Clown<br />

Lang Lang oder suchen die Nähe zum venezolanischen Medienliebling<br />

Gustavo Dudamel. Die einstigen Gralshüter<br />

der Klassik flirten mit den Prinzipien des Pop. Ihre Position<br />

als Vatikan des Klanges haben die Berliner Philharmoniker<br />

unter Papst Simon verloren. Ein Fakt, der einige Musiker<br />

nicht ruhen lässt.<br />

Dabei sind die Orchestermitglieder an diesem Trend<br />

zum Teil selber schuld. Die Berliner Philharmoniker spielen<br />

zwar nicht mehr wie vor zehn Jahren, haben sich aber<br />

die Attitüde des goldenen Zeitalters der Klassik bewahrt.<br />

Früher profitierte davon Herbert von Karajan persönlich,<br />

jetzt wollen die Musiker selber mitverdienen. Der Umgang<br />

mit Konzertvermarktung, Fernsehrechten und Gagen wird<br />

von ihnen selbst organisiert. Seit Simon Rattle die Berliner<br />

übernommen hat, scheint dem Orchester das schnelle Geld<br />

oft wichtiger zu sein als die eigene Tradition.<br />

DIE BERLINER FORDERTEN NEUE VERTRÄGE für die Übertragung<br />

des Silvesterkonzerts vom ZDF und scheiterten mit<br />

ihren Vorstellungen. Man wanderte zur ARD ab, die ihre<br />

eigenen öffentlich-rechtlichen Orchester links liegen ließ<br />

und Millionen für die Berliner ausgab. Das ZDF engagierte<br />

Christian Thielemann und die Staatskapelle Dresden, die<br />

im direkten Vergleich quotentechnisch besser abschneiden.<br />

Ähnlich unverfroren gingen die Philharmoniker mit ihrem<br />

Gastspiel bei den von Herbert von Karajan gegründeten<br />

Osterfestspielen in Salzburg und mit dessen überrumpelten<br />

Intendanten Peter Alward um. Kurzfristig entschied sich<br />

der Vorstand, nach Baden-Baden umzusiedeln, wo mehr<br />

Geld lockte. Salzburg engagierte dar<strong>auf</strong>hin ebenfalls Thielemann<br />

und die Staatskapelle, die in den Feuilletons für ihren<br />

„Parsifal“ und Bruckner Lob erhielten, während Rattles<br />

Schnelles<br />

Geld ist dem<br />

Orchester<br />

wichtiger als<br />

die eigene<br />

Tradition<br />

„Zauberflöte“ in Baden-Baden als bestenfalls solide Klangarbeit<br />

bewertet wurde.<br />

2011 sagten die Berliner ein hoch dotiertes Gastspiel<br />

in Abu Dhabi zu, obwohl Dubais Polizeichef Dahi Khalfan<br />

Tamim damit drohte, Israelis bei der Einreise zu erkennen<br />

und zu liquidieren. Damals spielten fünf Musiker mit israelischem<br />

Pass im Orchester, ihnen wurde die Reise vom Orchestervorstand<br />

freigestellt. Konzertmeister Guy Braunstein<br />

blieb zu Hause, andere fuhren mit und sollen sich<br />

während der Reise nur im Hotelzimmer <strong>auf</strong>gehalten haben.<br />

Dass ein Orchester, das sich immer wieder seiner nationalsozialistischen<br />

Vergangenheit stellen will, <strong>auf</strong> einen solchen<br />

Deal mit der arabischen Regierung eingelassen hat, erklärt<br />

Intendant Martin Hoffmann so: „Das ist ein sehr sensibles<br />

Thema. Was wir vereinbart haben, muss unter dem Siegel<br />

der Verschwiegenheit stehen – wir haben uns <strong>auf</strong> Heimlichkeit<br />

geeinigt.“ Eine Einigung, die nicht von allen Orchestermitgliedern<br />

gutgeheißen wurde. Das Geld der Scheichs<br />

war am Ende wichtiger.<br />

Die Fälle zeigen, dass die Berliner Philharmoniker unter<br />

Simon Rattle eben auch ein Intendanten-Problem hatten:<br />

Drei Chefs haben seine Amtszeit begleitet. Der Musikmanager<br />

Franz Xaver Ohnesorg bereitete dem Dirigenten ein<br />

öffentlichkeitswirksames Entree, bevor er <strong>auf</strong> Druck des<br />

Orchesters geschasst wurde. Mit Pamela Rosenberg holten<br />

sich die Berliner dann eine eher unscheinbare Frau, und<br />

inzwischen agiert Ex-Sat1-Mann Martin Hoffmann als Intendant.<br />

Seine Stärke liegt nicht in der musikalischen Ausrichtung<br />

des Ensembles, sondern in dessen multimedialer<br />

Vermarktung. Simon Rattle, der Machtmusiker, hat es stets<br />

vermieden, sich einen Berater an die Seite zu holen, der seinen<br />

Weg ins Irgendwo infrage hätte stellen können.<br />

120<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


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Illustrationen: Andrea Ventura/2 agenten (Seiten 114 bis 119); Foto: Privat<br />

Das Orchester ist, was die multimediale Präsenz betrifft,<br />

bestens positioniert. Wenn Simon Rattle nun, ähnlich<br />

wie Papst Benedikt XVI., das Heiligtum freiwillig verlässt,<br />

muss es wieder um den Inhalt gehen. Die jungen Kräfte im<br />

Berliner Klang-Vatikan setzen <strong>auf</strong> die Fortsetzung der Erneuerung,<br />

etwa durch den venezolanischen Dirigenten Gustavo<br />

Dudamel oder durch Andris Nelsons. Traditionalisten<br />

hoffen eher <strong>auf</strong> Christian Thielemann, dessen Faible für<br />

Wagner, Brahms, Beethoven, Bruckner und seinen schwelgerischen<br />

Klang sich mit der alten Berliner Tradition deckt.<br />

Selbst Daniel Barenboim könnte als Interimslösung noch<br />

einmal ins Gespräch kommen, ebenso wie die eher konventionelle<br />

Lösung mit dem Leipziger Gewandhaus-Chef Riccardo<br />

Chailly. Sicher ist: Mit ihrer Wahl setzen die Berliner<br />

auch ein Zeichen für die internationale Orchesterkultur.<br />

Als sie Sir Simon kürten, hatten sie nur wenig Zeit.<br />

Das Verhältnis mit Claudio Abbado war zerrüttet, der Italiener<br />

hatte die Proben vernachlässigt und fand im Ensemble<br />

keine Rückendeckung für seine intellektuelle Haltung.<br />

Damals erschien Rattle wie ein großes Versprechen, das bis<br />

heute nur teilweise eingelöst wurde. Seinen eigenen Rücktritt<br />

gab Rattle in einer Zeit bekannt, da die Stimmung gegen<br />

ihn umschlug. Die Berliner Philharmoniker haben nun<br />

genügend Zeit, über ihre Zukunft nachzudenken und müssen<br />

ihren Frust nicht am Chef auslassen.<br />

Nach Abbados Rücktritt dauerte es nicht lange, bis er<br />

nach Berlin zurückkehrte. Er wurde zum unangefochtenen<br />

Lieblingsgast der Philharmoniker. Vielleicht auch deshalb,<br />

weil viele große Dirigenten sich mit der Administration<br />

und Organisation großer philharmonischer Tanker nicht<br />

mehr <strong>auf</strong>halten wollen. Sie stellen die Frage, ob Philharmonische<br />

Orchester überhaupt zeitgemäß sind. Sind kleine,<br />

selbst verwaltete Ensembles wie die Kammerphilharmonie<br />

Bremen nicht viel flexibler und darum die besseren Task<br />

Forces der Klassik? Abbado verzichtete <strong>auf</strong> jeden Fall dar<strong>auf</strong>,<br />

noch einmal ein ähnliches Engagement wie in Berlin<br />

anzunehmen. Nikolaus Harnoncourt hat kein großes philharmonisches<br />

Orchester je übernommen. Simon Rattle versuchte<br />

es immerhin.<br />

Er ist seit 34 Jahren ununterbrochen Chef von Orchestern.<br />

Gut möglich, dass er seine Freiheit demnächst genießen<br />

will, sich wieder mehr der Oper zuwendet, seine Arbeit<br />

mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment intensiviert<br />

– und sicherlich regelmäßig als Gast nach Berlin zurückkehrt.<br />

Dann kann er sich, ganz unbeschwert von administrativen<br />

Aufgaben, besser um das kümmern, was er<br />

bislang vernachlässigt hat: um musikalische Visionen. Die<br />

Positionierung des Berliner Klanges in einer Welt, die sich<br />

längst schon wieder weitergedreht hat, in der das Alte und<br />

die Tradition wieder modern geworden sind, muss dann jemand<br />

anderes vornehmen.<br />

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AXEL BRÜGGEMANN ist Musikkritiker, Moderator<br />

und Buchautor ( „Das Leben des Richard Wagner“ ).<br />

Vor zehn Jahren stieß er die Debatte über den<br />

„Deutschen Klang“ an. Die Berliner Philharmoniker<br />

hat er weltweit <strong>auf</strong> zahlreichen Konzerten erlebt<br />

Besuchen Sie uns <strong>auf</strong> der<br />

13. – 16. März 2014<br />

Halle 4.0 - Stand C 214


SALON<br />

Man sieht nur, was man sucht<br />

Deutsche KULTUR, deutsches GLAS,<br />

wie leicht bricht das Von BEAT WYSS<br />

Das Berliner Atelier Max Liebermanns zeigt den<br />

Künstler als Meister der Vergänglichkeit – und<br />

führt zur Debatte um Raubkunst und Restitution<br />

122<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Fotos: Sebastian Stadler/Kunstmuseum St.Gallen/Ernst Schürpf-Stiftung (erworben 1951), Peter Rigaud (Autor)<br />

Im Herbst 1902 malt Max Liebermann<br />

die Kunstsammlung im Atelier<br />

seines Hauses am Pariser Platz<br />

zu Berlin. Das Interieur gibt Zeugnis<br />

bürgerlichen Wohlstands und familiärer<br />

Harmonie. Auf dem Sofa sitzen,<br />

vertieft in ihre Lektüre, Gattin Martha<br />

Liebermann-Marckwald und Tochter Käthe.<br />

Verdeckt von einem Bilderrahmen<br />

im Vordergrund links, da, im Spiegel,<br />

blitzt der Maler im weißen Kittel <strong>auf</strong>.<br />

Eine stille, konzentrierte Stimmung ist<br />

eingefangen zusammen mit dem milchigen<br />

Tageslicht, das vom verglasten Tonnengewölbe<br />

herunterrieselt.<br />

Die formlose Zweckmäßigkeit eines<br />

Ateliers mit Schausammlung macht eine<br />

raffinierte kunsthistorische Referenz. Im<br />

Sommer 1902 hatten die Liebermanns in<br />

der römischen Galleria Doria Pamphilj<br />

das Porträt des Papstes Innozenz X. von<br />

Diego Velázquez bewundert. Wohl ein<br />

Öldruck des Brustbilds, Souvenir von der<br />

Reise, hängt über den sitzenden Frauen.<br />

Velázquez rechnet zu den großen Meistern<br />

des Barocks, der damals, zur Jahrhundertwende,<br />

wiederentdeckt wurde.<br />

Liebermann inszeniert sich als Velázquez’<br />

Nachfahre, der die Malerei virtuos<br />

in Szene setzte und sie zugleich als eitlen<br />

Schein entzauberte. Im Sinne der Vanitas<br />

rückt der Künstler den Arbeitstisch<br />

vor unsere Augen: Wir sollen sie sehen,<br />

die Skizzenblätter, den Farbkasten, zerdrückte<br />

Tuben und die Flasche mit dem<br />

streng riechenden Verdünner, schnöden<br />

Stoff, aus dem die lichten Träume der Malerei<br />

gemacht sind. Unter den Utensilien<br />

zieht sich ein großer Teppich – wie loses<br />

Farbgewölk aus Rot und Blau.<br />

Es handelt sich um jenen Teppich, der<br />

in der Beschlagnahmeliste der Gestapo<br />

vom Sommer 1943 als „Smyrna-Teppich,<br />

Max Liebermann, „Atelier des<br />

Künstlers am Brandenburger Tor in<br />

Berlin 1902“, Öl <strong>auf</strong> Leinwand<br />

ca. 4 x 5,10m“ <strong>auf</strong> 4000 Reichsmark geschätzt<br />

wurde. Damit wechseln wir das<br />

Thema so abrupt, wie es der jüdischen<br />

Familie Schicksal wurde. Nachzulesen<br />

sind die Fakten in der neuen Monografie<br />

„Max Liebermann. Die Kunstsammlung“,<br />

herausgegeben von Bärbel Hedinger,<br />

Michael Diers und Jürgen Müller.<br />

Als nach dem Wahlsieg der NSDAP<br />

im Januar 1933 rund 25 000 Anhänger<br />

der Bewegung durchs Brandenburger<br />

Tor zogen, hallten die Parolen ungefiltert<br />

durch das einfach verglaste Atelier. „Ick<br />

kann jar nich so ville fressen, wie ick kotzen<br />

möchte“, war Liebermanns viel zitierter<br />

Kommentar zur Machtergreifung.<br />

Der Ehrenbürger der Stadt starb,<br />

vom offiziellen Berlin ignoriert, am 8. Februar<br />

1935. Tochter Käthe und ihrem<br />

Mann, Kurt Riezler, gelang die Flucht<br />

nach New York. Mutter Marthas Entschluss<br />

auszuwandern kam zu spät. Ihr<br />

wurde ein „Heimeink<strong>auf</strong>svertrag“ <strong>auf</strong>gezwungen,<br />

der sie verpflichtete, sich in<br />

Theresienstadt einzuk<strong>auf</strong>en. Die Umnutzung<br />

der böhmischen Garnisonsstadt zur<br />

„Mustersiedlung“ für prominente Juden<br />

wurde 1942 anlässlich der Wannseekonferenz<br />

in der Villa Marnier beschlossen,<br />

sechs Gehminuten entfernt vom Sommerhaus<br />

der Familie Liebermann, beide<br />

Gebäude von Paul Baumgarten entworfen.<br />

Die Witwe musste ihr Haus am<br />

Wannsee an die Deutsche Reichspost verk<strong>auf</strong>en.<br />

Am 10. März 1943 entzog sich<br />

die 84-Jährige der Deportation mithilfe<br />

einer Überdosis Veronal.<br />

14 Kunstwerke von Manet, Degas,<br />

Cézanne, Daumier, Renoir und Monet<br />

hatte Liebermann vor dem Zugriff der<br />

Nazis retten können, indem er sie dem<br />

Kunsthaus Zürich in Verwahrung gab.<br />

Ein großer Rest ist verschollen, wie der<br />

Smyrna-Teppich, der wohl in Gestapokreisen<br />

versilbert wurde.<br />

Die neue Monografie hat ein detailliertes<br />

Verzeichnis der Liebermann’schen<br />

Kunstsammlung angelegt. Der Nachweis<br />

von Provenienz, der Besitzerfolge<br />

eines Werkes, gehört zum Kerngeschäft<br />

Zum Autor<br />

BEAT WYSS<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt Kunstwissenschaft<br />

und Medienphilosophie an der<br />

Staatlichen Hochschule für<br />

Gestaltung in Karlsruhe und<br />

schreibt jeden Monat in <strong>Cicero</strong><br />

über ein Bild und dessen<br />

Geschichte<br />

der Kunsthistorik. Der Provenienzforschung<br />

ist mit der Restitutionsforschung<br />

aber Konkurrenz erwachsen. Bei beiden<br />

Forschungsinteressen steht außer Frage,<br />

dass geschädigten Vorbesitzern Genugtuung<br />

widerfahren muss – zu lange ist das<br />

Thema in Deutschland verdrängt worden.<br />

Mit der Restitutionsforschung tritt<br />

neben die Geschädigten und die Nutznießer<br />

mutmaßlicher Enteignung eine<br />

dritte Partei: Anwälte, die mit spekulativen<br />

Methoden, einer Art juristischem<br />

fracking, an der Wiedergutmachung mitverdienen<br />

wollen. Sie verschleiern ihre<br />

finanziellen Interessen, indem sie das<br />

schlechte Gewissen der Deutschen in Regress<br />

nehmen. Ob dieses Gewinnstreben<br />

angesichts der Opfer ethisch vertretbar<br />

ist, wage ich zu bezweifeln.<br />

123<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


SALON<br />

Collage<br />

GROSSVATERS KRIEG<br />

Von PAUL MAAR<br />

Geschossen wurde, gelitten und gestorben. Was aber aßen die<br />

Soldaten? Eine Collage aus der Zeit des Ersten Weltkriegs – und<br />

eine persönliche Spurensuche in der eigenen Familie<br />

Foto: Picture Alliance/dpa/ZB [M]<br />

124<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Mein neuer Großvater zog<br />

beim Gehen das rechte<br />

Bein etwas nach. Er<br />

schnappte, wie man im<br />

Fränkischen sagt. Weiter<br />

nördlich hätte man es als Hinken bezeichnet.<br />

Ich hatte ihn erst richtig kennengelernt,<br />

als ich fünf Jahre alt war,<br />

gegen Ende des Zweiten Weltkriegs.<br />

Zwei Jahre nach dem frühen Tod<br />

meiner Mutter hatte nämlich mein Vater<br />

wieder geheiratet. Kurz dar<strong>auf</strong> war<br />

er zum Militär einberufen worden, und<br />

meine neue Mutter zog mit mir zurück zu<br />

ihren Eltern in ein fränkisches Dorf. Ihr<br />

Vater arbeitete dort als Büttnermeister.<br />

Ich saß gerne bei ihm in der Werkstatt,<br />

in der es angenehm nach Harz und<br />

frischem Holz roch. Und ich fragte ihn<br />

aus. Schließlich wollte ich alles über ihn<br />

wissen: „Opa, warum gehst du so?“ Ich<br />

demonstrierte es, indem ich übertrieben<br />

hinkend durch die Werkstatt trabte.<br />

„So stark, wie du es vormachst,<br />

schnappe ich nicht!“, sagte er lachend.<br />

„Ich gehe so, weil ich einen Schuss in die<br />

Hüfte gekriegt habe.“ „Wer hat <strong>auf</strong> dich<br />

geschossen?“ „Irgendein Franzose.“ Er<br />

schien nicht empört zu sein. „Der hat<br />

nur seine Pflicht getan. Wie die Unsrigen.“<br />

Ein Franzose, dessen Pflicht es war,<br />

meinem Opa in die Hüfte zu schießen?<br />

Er spürte mein Staunen und fügte<br />

hinzu: „Es war im Krieg.“ Das steigerte<br />

meine Zweifel. Mein Vater war damals<br />

gerade im Krieg. Er war Marinesoldat<br />

im fernen Cherbourg. Großvater trug<br />

keine Uniform und war auch nicht <strong>auf</strong><br />

Heimaturlaub. „Es gab schon mal einen<br />

Krieg, anno vierzehn-achtzehn“, erklärte<br />

er mir. „Da ist es passiert.“ Von diesem<br />

Krieg hatte ich noch nie gehört.<br />

„Gegen wen haben wir da gekämpft?“,<br />

fragte ich. „Gegen die Gleichen wie jetzt:<br />

Franzosen, Russen, Engländer und Amerikaner.“<br />

„Wer hat gewonnen?“, wollte<br />

ich wissen. „Die anderen“, antwortete<br />

er, wandte sich abrupt der Hobelbank zu.<br />

Unsere Unterhaltung war damit beendet.<br />

Hungrig an der Ostfront:<br />

Deutsche Soldaten 1915 bei einer<br />

Frühstückspause<br />

Viel später, als ich mir unser Gespräch<br />

in Erinnerung rief, begriff ich,<br />

dass er sich bremsen musste, um nicht<br />

hinzuzufügen: „Und genau so wird es<br />

auch diesmal ausgehen!“<br />

Eine Aussage wie diese war damals<br />

lebensgefährlich. Er musste ja befürchten,<br />

dass ein kleiner Junge unbefangen<br />

ausplaudern könnte, was sein Opa da geäußert<br />

hatte.<br />

Jahrzehnte später sprachen wir noch<br />

einmal von Großvaters Krieg. In den<br />

sechziger Jahren kehrte ich – inzwischen<br />

Kunststudent – wieder einmal ins Dorf<br />

zurück. Ein gemeinsamer Bekannter<br />

war gestorben, und ich begleitete meine<br />

Großeltern zum kleinen Friedhof. Nach<br />

der Beerdigung, Großmutter war schon<br />

nach Hause gegangen, blieb Großvater<br />

vor einem Denkmal nahe der Friedhofsmauer<br />

stehen. Eine steinerne Stele von<br />

viereckigem Grundriss, die oben in einer<br />

stumpfen Pyramide endete.<br />

An drei ihrer Seiten waren gusseiserne<br />

Tafeln befestigt. Auf der einen<br />

stand in goldbronzierten Lettern: „Zum<br />

Gedenken an die Gefallenen des Krieges<br />

1914-1918“. Als man diese Tafel angebracht<br />

hatte, sprach man noch nicht<br />

vom „Ersten Weltkrieg“. Man konnte<br />

damals nicht ahnen, dass ein nicht minder<br />

schrecklicher folgen würde.<br />

„Da hätte auch mein Name stehen<br />

können“, sagte Großvater. „Ich hatte<br />

mehr Glück als diese hier.“ Auf den beiden<br />

anderen Tafeln gedachte man der<br />

„Gefallenen des Zweiten Weltkriegs“.<br />

Großvater ging langsam um die Stele<br />

herum. „Eine Seite ist noch frei“, sagte<br />

er. „Geb’s Gott, dass sie nie beschriftet<br />

werden muss.“<br />

Auf dem Heimweg vom Friedhof erzählte<br />

er zum ersten Mal ausführlich<br />

von seinen Kriegserlebnissen. Vom Grabenkrieg,<br />

wo man monatelang um zwei<br />

Meter Bodengewinn gekämpft hatte.<br />

Vom Giftgas. Einige aus seiner Kompanie,<br />

die es nicht geschafft hatten, sich<br />

rechtzeitig die Gasmaske überzustülpen,<br />

waren für immer erblindet. Man konnte<br />

die Situation nur aushalten, wenn man<br />

mit dem Leben abgeschlossen hatte und<br />

nichts mehr erwartete als vielleicht ein<br />

letztes warmes Essen. Das war das letzte<br />

Mal, dass er von seinen Kriegserlebnissen<br />

erzählte.<br />

Wenige Jahre später, nach seinem<br />

Tod, sah ich Großvater bei der Leichenwäsche<br />

zum ersten Mal nackt. Die trichterförmige<br />

Narbe an seiner Hüfte war<br />

deutlich zu erkennen. Damals nahm ich<br />

mir vor, seiner Lebensgeschichte nachzugehen.<br />

Dazu gehörte auch, dass ich alles<br />

über „seinen Krieg“, über den Ersten<br />

Weltkrieg, erfahren wollte. Ich las „Im<br />

Westen nichts Neues“, und ich war erschüttert<br />

über die Radikalität, mit der<br />

Stanley Kubrick in seinem Film „Wege<br />

zum Ruhm“ den Grabenkrieg inszeniert<br />

hatte.<br />

Durch den bevorstehenden 100. Jahrestag<br />

des Kriegsbeginns und die Veröffentlichungen<br />

darüber fühlte ich mich<br />

meinem Großvater neu verbunden. Ich<br />

begann, Dutzende von im Internet, etwa<br />

im „Archiv der Zeitzeugen“, dokumentierten<br />

Tagebüchern, Kriegsbriefen und<br />

Feldpostkarten zu lesen. Dabei fiel mir<br />

<strong>auf</strong>: Das eigentliche Kriegsgeschehen<br />

wurde ganz sachlich, geradezu stoisch<br />

festgehalten. Man nahm es fast unkommentiert<br />

zur Kenntnis.<br />

Ganz anders dagegen die nie fehlenden<br />

Schilderungen der täglichen Mahlzeit.<br />

Da wurde ausführlich, geradezu<br />

herzlich, mit großer Zuneigung von den<br />

Essensportionen erzählt, von heimlich<br />

<strong>auf</strong>gegessenen Notrationen, von wohlschmeckenden<br />

Suppen und von warmem<br />

Kaffee.<br />

Das hat mich bewogen, eine Collage<br />

zu verfassen, bei der Notate über<br />

das Kampfgeschehen konfrontiert werden<br />

mit Niederschriften, die das Essen<br />

betreffen. Dabei folgte ich der Chronologie<br />

des Krieges. Vom optimistischen Aufbruch<br />

1914 mit Reis, Fleisch und feiner<br />

Soße, bis hin zur resignierten Erkenntnis,<br />

dass der Krieg nicht zu gewinnen sei,<br />

und der entsprechenden Klage über den<br />

Schweinefraß, der ausgerechnet an Kaisers<br />

Geburtstag verabreicht worden sei.<br />

125<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


SALON<br />

Collage<br />

UNSER TÄGLICH BROT<br />

Ein leiser Pfiff des Führers ließ uns<br />

halten. Er schien etwas entdeckt zu haben<br />

und wies mit der Hand nach halb<br />

rechts, wo nach seiner Fantasie ein russischer<br />

Doppelposten stehen sollte. Alles<br />

legte nach der angegebenen Richtung<br />

hin an, und er kommandierte „Feuer“.<br />

Gleich dar<strong>auf</strong> ging die Hölle los. Der<br />

Russe gab, in der Annahme, ein deutscher<br />

Angriff stände bevor, ein lebhaftes<br />

Schnellfeuer ab.<br />

Das Essen bestand aus Klöpsen mit<br />

Nudeln und Sauce und war sehr schmackhaft<br />

zubereitet.<br />

Der Angstschweiß trat mir <strong>auf</strong> die<br />

Stirn, und ich hielt mein Ende für gekommen.<br />

Ich flog mehr als ich ging in<br />

ein Granatloch, während der Essenkübel<br />

in weitem Bogen über mich hinwegflog.<br />

Das Unglück wollte, dass der Trichter mit<br />

Stacheldraht gefüllt war, mir die Hände<br />

<strong>auf</strong>riss und die Kleidung zerfetzte.<br />

Es wurde Essen ( Kohlsuppe )<br />

verabfolgt.<br />

Das Kämpfen und das Essen.<br />

Der Kinderbuchautor Paul Maar hat Zitate aus<br />

Tagebüchern und Briefen von Soldaten collagiert<br />

Es kam Nachricht, dass am Abend<br />

der Transport abgehen sollte. Eine<br />

gehobene, ja freudige Stimmung lagerte<br />

<strong>auf</strong> dem ganzen Bilde. Ein unbeschreiblicher<br />

Reiz ging von dem Ganzen<br />

aus, man sieht sich vielleicht zuletzt, man<br />

könnte sich auch eventuell wiedersehen.<br />

Das ist Schicksal.<br />

Der Abend rückte heran, es war<br />

längst dunkel. Ein kräftiges, aus Reis und<br />

viel Rindfleisch bestehendes Abschiedsessen<br />

stärkte noch den Transport.<br />

Wie lähmte uns aber der Schreck die<br />

Glieder, als gegen zehn Uhr am Morgen<br />

des folgenden Tages mit unheimlichem<br />

Zischen und Heulen das schwere Geschoss<br />

einer Mörserbatterie in die hinter<br />

Westfront mit Kaffee: Offiziere<br />

am gedeckten Tisch in einem<br />

Unterstand, ebenfalls 1915<br />

uns zwischen Landstraße und Anhöhe<br />

befindliche Schlucht einschlug. Einige<br />

Tote und Verwundete waren die Opfer,<br />

während wir angenommen hatten, uns<br />

noch in ziemlicher Entfernung von der<br />

Front zu befinden.<br />

Einem jeden von uns wurde von einer<br />

Schwester des Roten Kreuzes eine<br />

ganze geräucherte Wurst und ein Trinkbecher<br />

Kaffee ausgehändigt. Mit dankbaren<br />

Blicken wurde die Delikatesse dem<br />

Magen einverleibt.<br />

Einen Augenblick war ich starr vor<br />

Schreck und nahm an, es sei ein Blindgänger,<br />

als aber an derselben Stelle ein<br />

weißlicher Dunst <strong>auf</strong>stieg, schrie ich aus<br />

Leibeskräften „Gas“, um meine Kameraden<br />

zu warnen, und stülpte mit der größten<br />

Behändigkeit die eigene Maske, welche<br />

laut Befehl stets gebrauchsfertig am<br />

Knopf des Waffenrockes befestigt war,<br />

über den Kopf.<br />

Die Verpflegung ließ nichts zu wünschen<br />

übrig und war sehr reichlich. Infolge<br />

reichlicher Zufuhren von Schweinefleisch<br />

aus der rumänischen Offensive.<br />

Unter großen Anstrengungen gelang<br />

es mir, die erste Linie zurückzuschlagen,<br />

doch ehe wir einige Zeit gewannen<br />

zum Atemschöpfen, näherte sich schon<br />

die zweite. Der Anführer musste wohl<br />

das Kommando zum Vormarsch gegeben<br />

haben, denn deutlich unterschieden<br />

wir die angstverzerrten Gesichter der<br />

Franzmänner. Sei es, dass dem Befehl<br />

nicht Folge geleistet wurde, oder es gab<br />

einen anderen Grund, den ich nie erfahren<br />

habe, kurz: der Anführer wandte sich<br />

um und erschoss zwei seiner Landsleute.<br />

Doch nicht lange sollte sich der energische<br />

Offizier seiner Tat freuen, kurze Zeit<br />

danach sehen wir ihn von den Kugeln<br />

Foto: SZ Photo [M]<br />

126<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


seiner eigenen Leute zusammensinken.<br />

Es schien, als ob alle <strong>auf</strong> den Tod des Führers<br />

gewartet hätten, kaum sah man ihn<br />

fallen, so stürzte die ganze Horde, die<br />

Gewehre fortwerfend, mit erhobenen Armen<br />

<strong>auf</strong> unsere Stellung zu.<br />

Des nächsten Morgens erhielt man<br />

einen Becher Fleischbrühe und ein Stückchen<br />

Brot zum Frühstück, ein warmes<br />

Mittagessen und Kaffee am Nachmittag.<br />

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<strong>Cicero</strong> Probe lesen<br />

<strong>Cicero</strong><br />

zur Probe<br />

An der Linken, etwa acht Meter hohen,<br />

steil emporschießenden Wand der<br />

Schlucht hatten die Artilleristen sich<br />

in dem leichten gelben Sand notdürftig<br />

eingebaut und erzählten mit noch schreckensbleichen<br />

Gesichtern, dass am selben<br />

Tag eine Batterie einen Volltreffer<br />

erhalten hatte, welcher sämtliche Geschütze<br />

und Bedienungen zerriss und<br />

eine der schweren Haubitzen 100 Meter<br />

weit ins Feld schleuderte. Lange hielt ich<br />

mich nicht an dem grausigen Ort <strong>auf</strong>. Aus<br />

einem Dickicht zur Linken strömte ein<br />

pestilenzartiger Geruch, der vollkommen<br />

jegliche Atmung unmöglich machte,<br />

war es Mensch, war es Tier …?<br />

Die Büchsenwurst war eine Art falscher<br />

Hahn, die man gleich <strong>auf</strong>essen<br />

musste, da sie sich nicht bis zum anderen<br />

Tage hielt.<br />

Die Feldlazarette hatten alle Hände<br />

voll zu tun und immer weiter wurden namentlich<br />

Leichtverwundete nach hinten<br />

abgeschoben, um den Schwerverletzten<br />

Platz zu machen. Am Marktplatz eines<br />

Dorfes saß einer an beiden Händen verwundet<br />

und wimmerte wie ein kleines<br />

Kind.<br />

Vor dem Haupteingang zum Bahnhof<br />

dampften drei riesige Kessel mit Essen.<br />

Ich hatte anfangs die Meinung, es<br />

wurde hier Teer zur Ausfüllung des Straßenpflasters<br />

gekocht. Nebenbei gesagt<br />

hatte übrigens dieses Mittagessen noch<br />

den angenehmsten Geschmack von sämtlichen<br />

bisher in diesem Lande eingenommenen<br />

Speisen.<br />

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20080 Hamburg, jederzeit widerrufen werden.<br />

Allerhand Kriegsgerät lag umher,<br />

und an den <strong>auf</strong>gepflanzten noch mit Blut<br />

bedeckten Bajonetten war zu erkennen,<br />

dass erst ganz kürzlich ein Nahkampf<br />

stattgefunden hatte.<br />

Der Mittag kam heran, aber von der<br />

Gulaschkanone war keine Spur zu<br />

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SALON<br />

Collage<br />

entdecken. Erst gegen drei Uhr ertönte<br />

der heiß ersehnte Ruf „Essen holen“.<br />

Zu unserem Leidwesen fiel die ausgeteilte<br />

Portion noch schmaler aus als wie<br />

gewöhnlich, sodass die eine Stunde später<br />

verabreichte Brotportion nebst Fettigkeiten<br />

restlos daran glauben musste.<br />

Große feindliche Fliegergeschwader<br />

hatten die Anmarschstraße unsicher gemacht,<br />

ganze Kolonnen vernichtet, tote<br />

Pferde und zerstörte Wagen lagen rechts<br />

und links von der Straße, Erstere verursachten<br />

eine erstickende Luft.<br />

Man wollte uns mit Maissuppe füttern.<br />

Das war einem Kameraden aus Köln<br />

denn doch zu viel. Seine feine Nase entdeckte<br />

bald, dass in dem Schuppen, an<br />

welchem wir Aufstellung genommen hatten,<br />

unzählige Speckseiten hingen.<br />

Seit wir in Stellung sind, hat unser<br />

Regiment schon viel Verluste gehabt, von<br />

meiner Kompagnie sind allein acht Mann<br />

an einem Tag weggekommen, tot, verwundet<br />

und verschüttet.<br />

Noch nie war mir der Gedanke gekommen,<br />

die sogenannte eiserne Portion,<br />

welche nur in allerhöchster Not <strong>auf</strong><br />

Befehl angebrochen werden durfte, zu<br />

verzehren. Nun zögerte ich nicht lange<br />

und holte das kostbare Kleinod aus dem<br />

Brotbeutel hervor und hatte einen vollen<br />

Genuss. Selten hat mir eine Mahlzeit so<br />

herrlich gemundet wie diese unerlaubte<br />

und strafbare.<br />

Als wir nach vorne kamen, sahen<br />

wir, was der Amerikaner geleistet hatte.<br />

Alles, was sich in der ersten Linie befand<br />

und nicht rechtzeitig nach hinten konnte,<br />

war erstochen und mit dem Kolben niedergeschlagen.<br />

16 Mann und ein Leutnant<br />

von den Minenwerfern, die gerade<br />

schliefen, waren sämtlich von den Amerikanern<br />

erstochen, sie haben keine Gefangenen<br />

gemacht.<br />

Einige Kameraden hatten sich das<br />

Mehl, welches seitens des Regiments<br />

zwecks Absendung an die Angehörigen<br />

in der Heimat verteilt wurde, an<br />

die eigene Adresse senden lassen und<br />

Die Sau ist tot: Eine deutsche<br />

Soldatenkompanie bereitet Ende<br />

1915 ein Festmahl vor<br />

schmorten und backten nun am Schützengrabenofen,<br />

was das Zeug halten<br />

konnte.<br />

Die gewaltige Kanonade war verstummt.<br />

Dafür feuerten die Franzosen<br />

Gasgranaten. Dieses leichte Zischen,<br />

die schwachen Detonationen, der betäubende<br />

Geruch machte einen halb wahnsinnig.<br />

Stunde um Stunde hörte man<br />

nur dieses entsetzliche leise Pfeifen. Ich<br />

brauchte die Gasmaske.<br />

Verpflegung gab es auch jetzt noch<br />

nicht, sodass die Rindfleischportion vom<br />

eisernen Bestand daran glauben musste.<br />

Das Gelände, das wir durchquerten,<br />

war bedeckt mit Leichen, Pferdekadavern,<br />

Munition und allerhand Ausrüstungsgegenständen.<br />

Allem Anschein<br />

nach waren die Engländer fluchtartig<br />

zurückgegangen, denn sonst hätten sie<br />

doch wenigstens die gefallenen Kameraden<br />

mitgenommen.<br />

Bald hatten wir entdeckt, dass <strong>auf</strong><br />

nicht weit entferntem Acker Kartoffeln<br />

gepflanzt waren, die wir uns nach Bedarf<br />

wieder aus dem Erdreich herausholten.<br />

Auf diese Weise bereiteten wir<br />

uns am Abend Bratkartoffeln, etwas<br />

junges Gemüse machte die Sache noch<br />

schmackhafter.<br />

Fotos: Picture Alliance/dpa/ZB [M], Jörg Schwalfenberg/Oetinger (AUTOR)<br />

Unwillkürlich kam über uns das Gefühl<br />

des Verlassenseins, allein <strong>auf</strong> weiter<br />

Flur, was sich von der Zeit an auch immer<br />

mehr stärkte, zumal wir die immer<br />

drückender werdende Überlegenheit der<br />

Feinde an Material und Truppen von Tag<br />

zu Tag mehr und mehr erkennen mussten.<br />

Hier tauchte bei der Mehrzahl der<br />

Truppen erstmals das Gefühl <strong>auf</strong>, dass<br />

der Krieg für uns verloren sei, denn der<br />

Mangel an Reserven war deutlich fühlbar<br />

und das Munitionsmaterial und so weiter<br />

wurde immer mangelhafter.<br />

Ende Januar, sogar am Geburtstag<br />

des Kaisers!, gab es Sauerkohl ohne<br />

Fleisch und Kartoffeln! Es war ein regelrechtes<br />

Schweinefutter, welches uns da<br />

verabfolgt wurde.<br />

PAUL MAAR ist Kinder- und<br />

Jugendbuchautor. Er erfand<br />

das „Sams“ ebenso wie „Herrn<br />

Bello“, „Die Opodeldoks“ und<br />

den Träumer „Lippel“<br />

128<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


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SALON<br />

Hopes Welt<br />

MIT BACH WÄRE DAS NICHT PASSIERT<br />

Wie ich einmal im Badezimmer an Mendelssohn scheiterte<br />

und mich dennoch in eine Melodie verliebte<br />

Von DANIEL HOPE<br />

Bei meinem letzten Stopp in Berlin besuchte<br />

ich Mendelssohn. Der große Komponist<br />

liegt <strong>auf</strong> dem Friedhof am Halleschen Tor<br />

in Kreuzberg. Im Gegensatz zu anderen opulenten<br />

Denkstätten ist dieser Ort trist und umkreist<br />

von Wohnhäusern, die <strong>auf</strong> Legenden herunterschauen,<br />

ohne es zu ahnen.<br />

Felix Mendelssohn Bartholdys himmlische<br />

Musik fasziniert mich nicht weniger als sein<br />

ungeheures Arbeits- und Reisepensum. In Berlin<br />

wuchs er <strong>auf</strong>, Düsseldorf bot ihm die erste<br />

Anstel lung, in Frankfurt am Main fand er seine<br />

Frau, Leipzig mit dem Gewandhaus wurde neben<br />

London die wichtigste Wirkungsstätte. Ende<br />

zwanzig – da er schon lange komponierte und als<br />

Pianist Aufsehen erregte, da er Goethe in<br />

Erstaunen versetzt hatte, von Cherubini in Paris<br />

als außergewöhnliche Begabung erkannt worden<br />

war – schrieb er sein Violinkonzert.<br />

Meine erste Begegnung mit dem Konzert<br />

war nicht einfach. Mit acht Jahren vertraute ich<br />

meinem Zimmergenossen Ikki im Musikinternat<br />

in England an, dass ich lieber als alles andere<br />

dieses Werk spielen würde. Yehudi Menuhin hatte<br />

mit sieben Beethovens Violinkonzert gespielt, ​<br />

ich würde Mendelssohn meistern – dachte ich<br />

mir. Ich musste nur einen Ort finden, wo ich<br />

unentdeckt üben konnte. Meine Lehrer würden<br />

nicht einverstanden sein, wenn ich ein Stück<br />

spielte, das viel zu schwierig für mich war.<br />

Das Badezimmer <strong>auf</strong> dem Gang schien mir<br />

ideal. Ich kam kaum über ein paar Takte hinaus.<br />

Es muss geklungen haben, als strangulierte<br />

jemand mehrere Katzen gleichzeitig. Aber es war<br />

ein Akt der Befreiung, ich fühlte mich wie ein<br />

Vollblutmusiker.<br />

Ich war durchdrungen von dieser wunderbaren<br />

e‐Moll-Melodie am Anfang des Konzerts, ​<br />

als ich plötzlich erstarrte. Es hatte laut geklopft.<br />

„Würdest du bitte die Tür öffnen“, hörte ich die<br />

Hausmutter mit ihrem strengen irischen Akzent.<br />

„Was um alles in der Welt fällt dir ein?“, fuhr sie<br />

mich an. Sie zerrte mich am Ohr und schnappte<br />

sich gleichzeitig meinen Notenständer, den ich in<br />

die Badewanne gestellt hatte. Draußen hatten<br />

sich schon meine Mitschüler feixend versammelt.<br />

Einige Tage später wurde ich zum Musikdirektor<br />

gerufen und war erstaunt, meine Eltern<br />

dort vorzufinden. „Mr. und Mrs. Hope“, begann<br />

der Direktor, „ich habe Sie aus London hierhergeholt,<br />

weil ich Ihnen leider mitteilen muss, dass<br />

Ihr Sohn ohne Erlaubnis das Mendelssohn-Konzert<br />

geübt hat. Er wurde ertappt – im Badezimmer.<br />

Bach soll er üben, nicht Mendelssohn!“ ​Wie sagte<br />

einst Mendelssohn: „Es wird so viel über Musik<br />

gesprochen und so wenig gesagt. Ich glaube<br />

überhaupt, die Worte reichen nicht hinzu, und<br />

fände ich, dass sie hinreichten, würde ich am<br />

Ende keine Musik mehr machen.“<br />

Zwei Wochen später verließ ich das Internat<br />

und wechselte meinen Geigenlehrer. Das erste<br />

Stück, das ich mit dem neuen Lehrer erarbeitete,<br />

war das Violinkonzert von Mendelssohn. Seitdem<br />

ist dieses Meisterwerk mein ständiger<br />

Begleiter. Außer im Badezimmer.<br />

DANIEL HOPE ist Violinist von Weltrang und<br />

schreibt jeden Monat im <strong>Cicero</strong>. Sein Memoirenband<br />

„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt<br />

erschienen sein Buch „Toi, toi, toi! – Pannen und<br />

Katastrophen in der Musik“ ( Rowohlt ) und<br />

die CD „The Romantic Violinist“. Er lebt in Wien<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

130<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Marta Hentschel, taz-Leserin, Berlin, Geschäftsführerin einer Modefirma<br />

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SALON<br />

Bibliotheksporträt<br />

LASST VIELE<br />

BRUNNEN FLIESSEN<br />

Für den Unternehmensberater und Gründer der<br />

„Stiftung Familienunternehmen“, Brun-Hagen Hennerkes,<br />

ist Literatur die Herzmitte aller Begeisterung<br />

Von ALEXANDER KISSLER<br />

Krambambuli! Wie bitte? Krambambuli, der Hund! Mein Gesicht wird<br />

zu einem Fragezeichen. Noch ehe ich etwas sagen kann, ist Brun-Hagen<br />

Hennerkes <strong>auf</strong>gesprungen, hat das Wohnzimmer in seinem Stuttgarter Eigenheim<br />

verlassen, das eine Villa zu nennen nicht schwerfällt. Es liegt oberhalb<br />

des Talkessels, in Degerloch. Der Hausherr ruft mir aus der Bibliothek<br />

munter zu: Er habe die Geschichte von Krambambuli seinen Enkeln<br />

geschenkt. So ergriffen seien diese gewesen, dass sie weinten. Ach, es ist<br />

eine herrliche Erzählung!<br />

So wird es mir noch viele Male ergehen an diesem verregneten Vormittag.<br />

Brun-Hagen Hennerkes, Anwalt, Unternehmensberater, Gründer der<br />

„Stiftung Familienunternehmen“, Professor Doktor Doktor honoris causa,<br />

hat auch in seinem 75. Lebensjahr die Lebendigkeit eines Kobolds und die<br />

Heiterkeit eines Jünglings. Liegt es an den Büchern, die er liest oder sich<br />

vorlesen lässt?<br />

Gerade waren es die 15 CDs von Joseph Roths „Radetzkymarsch“,<br />

eine Wiederbegegnung nach der Erstlektüre vor zehn Jahren. Von Joseph<br />

Roth kam Hennerkes fast zwangsläufig zu Soma Morgenstern. Er springt<br />

<strong>auf</strong> und holt die Lebensbeschreibung des Freundes von Roth aus der Bibliothek.<br />

„Funken im Abgrund“ heißt das einst von Marcel Reich-Ranicki<br />

lebhaft empfohlene Buch. Schon oft verschenkte er es weiter. Von Soma<br />

wiederum ist der Weg nicht weit zu Selma, ist es nur ein phonetischer und<br />

gedanklicher Sprung, ein winziger Buchstabentausch, um bei der ersten<br />

weiblichen Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf zu landen. Brun-<br />

Hagen Hennerkes eilt ein drittes Mal ins Lesezimmer nebenan. „Die Lichtflamme“,<br />

„Gösta Berling“ – nie gehört?<br />

Da ist also, erläutert mir der im Reden zunehmend selbst entflammte<br />

Hausherr, dieser Ritter, der mit Gottfried von Bouillon Jerusalem erobert.<br />

Als Zeichen seiner Abkehr vom Lotterleben entzündet er dort eine Kerze<br />

am Altar und verspricht, die „Lichtflamme“ zur Muttergottes nach Florenz<br />

zu bringen. Nie möge sie verlöschen, „und was soll ich Ihnen sagen?<br />

Es klappt! Eine der schönsten Novellen von Lagerlöf“. Höchstens „Gösta<br />

133<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Berling“ vermag ihr das Wasser zu reichen, die Geschichte eines prunksüchtigen<br />

evangelischen Pfarrers, zwischen Traum und Realität changierend.<br />

Ein Vierteljahrhundert ist es her, dass er sie erstmals las, eine Läuterungsgeschichte<br />

auch sie. Jedes Jahr liest er sie <strong>auf</strong>s Neue.<br />

Hennerkes besuchte ebenso die Region des Geschehens, Värmland in<br />

Schweden, wie später das Galizien des Joseph Roth. Ein ums andere Mal<br />

lockten ihn Bücher hinaus in die Welt, wurde Kunst zur Landkarte des Lebens.<br />

Gibt es einen größeren Vertrauensbeweis für Literatur, als sich ihr<br />

leibhaft auszusetzen? Dass es nordische Regionen sind, in die es ihn lesend<br />

zieht, sei Zufall, „ich bin kein systematischer Leser“. Als Kind habe er sich<br />

begeistert für den katholischen Jugendschriftsteller Nonni Svensson aus Island.<br />

Später war er begeistert von Max Tau, 1951 Friedenspreisträger des<br />

deutschen Buchhandels, der für die norwegische Literatur focht.<br />

Der Knabe Brun-Hagen, Zahnarztsohn, geboren „<strong>auf</strong> der Durchreise“<br />

im sächsischen Siebenlehn, <strong>auf</strong>gewachsen in Westfalen, war so begeisterungsfähig,<br />

begeisterungsselig wie heute. Begeisterung ist das Zentralwort<br />

unseres Gesprächs, „begeistert bin ich auch bei der Arbeit für die Stiftung“.<br />

Begeistert habe ihn unlängst Hans Pleschinskis Thomas-Mann-Roman „Königsallee“.<br />

Die Lesung von Manns „Zauberberg“ hörte er schon viermal,<br />

selbst „Joseph und seine Brüder“, hochkomplex und sehr, sehr lang, zweimal.<br />

Energisch trommelt er mit den Fingerkuppen <strong>auf</strong> ein Buch über einen<br />

anderen Dichtertitan. Es enthält die Vorlesungen Hermann Grimms zu Goethe<br />

von 1870. Faszinierend sei das Geflecht der Personen, das Grimm enthülle,<br />

„und diese Sprache: einfach herrlich“. Grimm schrieb „‚Noch dies,<br />

Spinoza anlangend.‘ Über diese Formulierung habe ich mich sehr gefreut.<br />

‚Noch dies‘ …“ Brun-Hagen Hennerkes blickt <strong>auf</strong>, strahlt, schaut in das Buch.<br />

Die Liebe zur Literatur begann im Elternhaus und wuchs in der Schule.<br />

Acht Jahre am Gymnasium Marianum in Warburg, während denen er als<br />

externer Internatsschüler am Erzbischöflichen Konvikt wohnte, prägten<br />

ihn. „Unser Direktor sprach fließend Latein und Griechisch. Wir mussten<br />

viel auswendig lernen, auch Tacitus.“ Flugs zitiert er aus „Dreizehnlinden“<br />

von Friedrich Wilhelm Weber: „Wonnig ist’s, in Frühlingstagen / nach dem<br />

Wanderstab zu greifen / und, den Blumenstrauß am Hute, / Gottes Garten zu<br />

durchstreifen“ – und bricht ab, „ist ein bisschen kitschig“. Auch über den<br />

„Knaben im Moor“ der Annette von Droste-Hülshoff ging die Zeit hinweg:<br />

„O schaurig ist’s übers Moor zu gehn, / Wenn es wimmelt vom Heiderauche“.<br />

1960 folgte das Abitur.<br />

Vor diesem gymnasialen Hintergrund war das Studium der alten Sprachen<br />

folgerichtig. Doch nach zwei Semestern in Saarbrücken wechselte er<br />

zur Jurisprudenz. „Ich war einfach nicht gut genug.“ Nach sieben weiteren<br />

Semestern in Hamburg und Freiburg gelang ihm das Examen, die rechtswissenschaftliche<br />

Dissertation folgte 1966 <strong>auf</strong> dem Fuß. Über eine Annonce<br />

der „Wirtschaftsvereinigung Eisen und Stahl“ verschlug es ihn nach Düsseldorf<br />

zu Mannesmann. Er wurde in jungen Jahren Assistent des Generaldirektors<br />

Egon Overbeck. Die Liebe zu den Büchern hatte sich ausgezahlt.<br />

134<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014<br />

Foto: Andy Ridder für <strong>Cicero</strong>


Teil des Bewerbungsverfahrens war nämlich eine freie Rede zu einem vorgegebenen<br />

Thema gewesen. „Das kannte ich aus dem Griechisch-Unterricht.<br />

Ich ging streng nach dem Muster These – Antithese – Synthese vor.“<br />

Sosehr er auch die Zeit danach in der Stuttgarter Sozietät Carl Böttchers<br />

genoss, die Familienunternehmen beriet, so leidenschaftlich er diese<br />

Arbeit fortsetzte, als er 1981 alleiniger Seniorpartner wurde und die Kanzlei<br />

umbenannte, so zehrend es auch war, knapp 100 Aufsichtsräten anzugehören<br />

und in dieser Funktion Unternehmen zum Börsengang zu verhelfen,<br />

darunter Hugo Boss, Bijou Brigitte und Edding, so stolz er <strong>auf</strong> seine<br />

Stiftung sein mag und <strong>auf</strong> sein Standardwerk von 2004 über „die Familie<br />

und ihr Unternehmen“, das er gerade überarbeitet, aber auch <strong>auf</strong> die Mitherausgeberschaft<br />

des prominent besetzten, 600 Seiten starken Sammelbands<br />

„Wertewandel mitgestalten: Gut handeln in Gesellschaft und Wirtschaft“<br />

aus dem Jahr 2012: Literatur ist die Herzmitte aller Begeisterung.<br />

Darum liest er mit frühlingsfrischer Stimme Hugo von Hofmannsthals<br />

Liebesgedicht „Die beiden“, „denn beide bebten sie so sehr, / dass keine<br />

Hand die andre fand. / Und dunkler Wein am Boden rollte.“ Darum beschäftigte<br />

er sich einst, als einem seiner beiden Söhne diese Abitur<strong>auf</strong>gabe<br />

gestellt worden war, zwei Wochen lang mit Peter Huchels „An taube Ohren<br />

der Geschlechter“, kontaktierte auch die Witwe des Dichters. Er entnimmt<br />

die Parabel demselben Gedichtband, der nun schon <strong>auf</strong> dem Tisch<br />

liegt, ihm lieb und teuer. „Siebzehn Tage und Nächte brannte Troja, das<br />

wusste ich nicht. Hören Sie: ‚Es war ein Land mit hundert Brunnen. / Nehmt<br />

für zwei Wochen Wasser mit. / Der Weg ist leer, der Baum verbrannt. / Die<br />

Öde saugt den Atem aus‘.“ Darum auch beginnt sein Buch über die Familienunternehmen<br />

mit einer philologischen Exkursion. Familienunternehmer<br />

wüssten sich oft „immer noch in der Pflicht“. Dieser Begriff sei zu Unrecht<br />

verpönt, denn die Herkunftsgeschichte lehre: „Ob Pflicht nun in römischstoischer<br />

Tradition als Officium verstanden wurde, in christlicher Überlieferung<br />

als Gehorsam gegenüber den Geboten Gottes oder im Zuge der Aufklärung<br />

als Bindung an das Vernunftgesetz – stets wurde sie als Ordnung<br />

und Gesetz begriffen, die es den Menschen erst ermöglichen, Freiheit zu<br />

verwirklichen.“ Freiheiten, heißt das, brauchen Pflichten.<br />

Beim letzten Blick zurück in das Stuttgarter Wohnzimmer und die ebenfalls<br />

holzgetäfelte Bibliothek im alpenländischen Stil drückt er mir „Krambambuli“<br />

in die Hand. Wenige Seiten umfasst die traurige Geschichte eines<br />

treuen Hundes. Sie stammt von Marie von Ebner-Eschenbach und beginnt<br />

so: „Vorliebe empfindet der Mensch für allerlei Gegenstände. Liebe, die<br />

echte, unvergängliche, die lernt er – wenn überhaupt – nur einmal kennen.“<br />

Draußen regnet es stark. „Krambambuli“ ruht in meiner Tasche. Es ist<br />

keine Läuterungsgeschichte. Der Lebensgang des begeisterten Lesers Brun-<br />

Hagen Hennerkes zeigt: Nicht der Mensch sucht sich seine Bücher aus. Die<br />

Bücher suchen sich ihre Menschen.<br />

ALEXANDER KISSLER leitet den Salon und genoss sein Germanistikstudium<br />

135<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


SALON<br />

Die letzten 24 Stunden<br />

Rom sehen und<br />

sterben, Goethe<br />

<strong>auf</strong> den Lippen,<br />

Dionysos im Sinn<br />

MICHAEL<br />

TRIEGEL<br />

Michael Triegel<br />

Der 1968 in Erfurt geborene<br />

Maler gilt als würdiger<br />

Nachfahre der Meister der<br />

Spätrenaissance. Sein Porträt<br />

von Papst Benedikt XVI. sorgte<br />

2012 für Furore<br />

Als Maler habe ich das große<br />

Privileg, durch meine Arbeit<br />

über die Schrecknisse<br />

des Todes nachdenken zu<br />

können. Ich versuche, mit<br />

dem Motiv der Kreuzigung Jesu oder<br />

durch die Darstellung der Todesqualen<br />

unterschiedlicher christlicher, aber auch<br />

antiker Märtyrer dem Tod jenen Sinn abzuringen,<br />

den er für mich selbst, weil ich<br />

kein Christ bin, nicht hat. Aber naturgemäß<br />

ist all das zum Scheitern verurteilt.<br />

Eine andere Methode, den Tod zu<br />

bannen, ist es, das Grauen so darzustellen,<br />

dass es etwas Apotropäisches<br />

bekommt. Oder noch eine andere, den<br />

Tod durch die Darstellung von Figuren<br />

zu überwinden, die gerade im Sterben<br />

auch physisch ungeheuer schön sein sollen.<br />

Bei all dem ist mir völlig klar, dass<br />

dadurch die Tatsache, sterben zu müssen,<br />

nicht <strong>auf</strong>gehoben werden kann.<br />

Was die Frage nach meinen eigenen<br />

letzten 24 Stunden angeht, so möchte<br />

ich zu Protokoll geben, dass dieser Frage<br />

etwas zutiefst Eitles innewohnt. Sie beruht<br />

<strong>auf</strong> der Annahme, man hätte, ganz<br />

selbstbestimmt, auch das eigene Sterben<br />

noch im Griff. Dem ist vermutlich nicht<br />

so. Und ich bin mir nicht sicher, ob man<br />

das bedauern sollte.<br />

Wie also sterben wollen? Möchte<br />

ich, dass mich wie bei Hofmannsthal<br />

der schöne stille Gott Hermes als Psychopompos<br />

in die Unterwelt geleitet? Oder<br />

soll ein Verkündigungsengel kommen,<br />

der mir eine große Sanduhr als Sinnbild<br />

dafür hinstellt, dass mein Leben nun un<strong>auf</strong>haltsam<br />

verrinnt?<br />

Meine immer etwas vorlaute Ratio<br />

sagt mir jedoch: Vermutlich kommt eine<br />

ganz andere weiße Figur. Ein Arzt, der<br />

mir mitteilt, dass mir am Ende meiner<br />

Krankheit nicht mehr viel Zeit bleibe. Ich<br />

hoffe, er wird mir als Meister seines Faches<br />

dann so viel Morphium geben, dass<br />

mir große Schmerzen erspart bleiben.<br />

Sollte es aber tatsächlich so sein,<br />

dass ich in meinen letzten 24 Stunden<br />

im Vollbesitz meiner Kräfte wäre,<br />

dann würde ich einen Flug nach Rom<br />

buchen und mich zusammen mit Frau<br />

und Tochter noch einmal im Pantheon<br />

vor Raffaels Grab stellen, noch einmal<br />

in Sant’Agostino Caravaggios „Madonna<br />

der Pilger“ anschauen, um dann nach einem<br />

Gang zur Cestius-Pyramide dort mit<br />

Goethe sagen zu können: „Dulde mich,<br />

Jupiter, hier, und Hermes führe mich später,<br />

Cestius’ Mal vorbei, leise zum Orkus<br />

hinab.“ All das wäre natürlich schön.<br />

Aber auch viel zu pathetisch. Sosehr ich<br />

Pathos als Kunstmittel schätze, im eigenen<br />

Leben neige ich nicht dazu.<br />

Dennoch wäre es freundlich, wenn<br />

der Tod im Frühling käme, gegen Abend,<br />

und mir noch Zeit ließe, mit den Worten<br />

eines Alten <strong>auf</strong> den Lippen, „Untergehend<br />

sogar ist’s immer dieselbige<br />

Sonne“, zu sterben. Vielleicht habe ich<br />

vorher noch die Kraft, mich hinzusetzen<br />

und ein Selbstporträt zu zeichnen. Um so<br />

für mich zu untersuchen, wie nicht nur<br />

das hypothetische, sondern das konkrete<br />

Wissen um den nahen Tod sich <strong>auf</strong> meinem<br />

Gesicht niederschlägt. Das wäre<br />

dann wohl der klassische Malertod.<br />

Von allen Mythen ist mir der Ariadne-Mythos<br />

beinahe der liebste. Darin<br />

sehnt sich die von Theseus verlassene<br />

Ariadne nach dem Tod. Sie erwartet Hermes<br />

als erlösenden Seelenführer. Doch<br />

als ein Gott kommt und Ariadne sich<br />

prompt in ihn verliebt, muss sie schließlich<br />

feststellen, dass er nicht der erhoffte<br />

Hermes ist, sondern Dionysos. Also das<br />

absolute Gegenteil. Denn Dionysos verkörpert<br />

die Entgrenzung, das Leben.<br />

In diesem Sinne durch den und im Tod<br />

verwandelt zu werden: Das wäre für<br />

mich eine wunderbare Hoffnung. Aber<br />

schmerzfrei zu sterben, wäre wohl mein<br />

größter Wunsch.<br />

Aufgezeichnet von INGO LANGNER<br />

136<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


Foto: Christoph Busse für <strong>Cicero</strong><br />

137<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


POSTSCRIPTUM<br />

N°-3<br />

SARRAZIN<br />

Thilo Sarrazin hat ein neues Buch geschrieben,<br />

weil er sich geärgert hat.<br />

Diesmal gewissermaßen in eigener Sache,<br />

denn den ehemaligen Berliner Finanzsenator<br />

wurmt es offensichtlich immer noch<br />

ganz gewaltig, dass insbesondere<br />

„Deutschland schafft sich ab“ von vielen<br />

Medien kritisiert wurde ( was, nebenbei<br />

gesagt, den außergewöhnlichen Erfolg<br />

dieses Werkes überhaupt erst ermöglicht<br />

haben dürfte ). Kurzum: Sarrazin sieht sich<br />

als Opfer einer medialen Diffamierungskampagne<br />

– oder, um seine eigene, titelgebende<br />

Wortwahl zu gebrauchen, als Opfer<br />

eines „neuen Tugendterrors“.<br />

Wer sind diese neuartigen Tugendterroristen?<br />

Das sind vor allem jene, die ihre<br />

Macht dazu missbrauchen, um Sarrazin<br />

fertigzumachen, indem sie – mit welchen<br />

Argumenten auch immer – Kritik an seinen<br />

Thesen üben. Also Journalisten. Ihnen<br />

wirft Thilo Sarrazin vor, seine Schriften<br />

entweder nicht gelesen oder nicht verstanden<br />

oder absichtlich missverstanden zu<br />

haben. „Ich glaube, dass aktuell eine<br />

herrschsüchtige, ideologisierte Medienklasse<br />

ganz informell und ohne großen<br />

Plan zusammenwirkt mit einer opportunistischen<br />

und geistig recht wenig profilierten<br />

Politikerklasse“, heißt es in seinem Buch.<br />

Das ist aus zwei Gründen bemerkenswert.<br />

Erstens macht sich Sarrazin mit einem<br />

solchen Satz eine Methode zu eigen, die er<br />

ausgerechnet seinen Gegnern stets vorhält,<br />

nämlich das Fällen von empirisch nicht<br />

unterfütterten Pauschalurteilen. Und<br />

zweitens zitiert er ständig irgendwelche<br />

Passagen aus Zeitungen und Magazinen,<br />

die genau das bestätigen, was Sarrazin<br />

denkt. Ein Medienkomplott stellt man sich<br />

wahrlich anders vor, aber egal.<br />

Wichtiger ist die Frage, warum die<br />

Tugendterroristen in den Medien einen<br />

solch unbändigen Hass gegen Thilo<br />

Sarrazin hegen. Ganz einfach: Weil sie<br />

alle politisch links der Mitte stehen und<br />

als Linke dem Kult der Gleichmacherei<br />

frönen. Dies wiederum aus Neid: „90 ​<br />

Prozent der Medienberichte über Ungerechtig<br />

keiten der Einkommens- und<br />

Vermögensverteilung oder das Fehlverhalten<br />

sogenannter Reicher sind Ausfluss<br />

von Neid“, schreibt Sarrazin allen Ernstes.<br />

Dass diese Zahl der blanke Unfug ist,<br />

liegt <strong>auf</strong> der Hand, denn wie will man so<br />

etwas je messen? Damit schürt Sarrazin<br />

vielmehr den Verdacht, es mit der Empirie<br />

auch sonst nicht allzu genau zu nehmen.<br />

Er dekonstruiert sich also selbst.<br />

„Der neue Tugendterror“ will Ressentiments<br />

entlarven, doch dies gelingt vor<br />

allem in Bezug <strong>auf</strong> den Autor selbst. Vielleicht<br />

war das in dem Fall unvermeidlich.<br />

Schade ist es trotzdem.<br />

ALEXANDER MARGUIER<br />

ist stellvertretender Chefredakteur<br />

von <strong>Cicero</strong><br />

DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 27. MÄRZ<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

138<br />

<strong>Cicero</strong> – 3. 2014


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