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Service Das historische Stichwort Israels Vergeltungsschlag in Qibya 1953 Sie waren in Panik geflohen oder von Israel gewaltsam vertrieben worden; andere gingen freiwillig, um den vorrückenden arabischen Armeen nicht im Wege zu stehen: Hunderttausende palästinensische Araber hatten ihre Heimat verlassen, seit die Vollversammlung der Vereinten Nationen im November 1947 den Beschluss vorgelegt hatte, das Land Palästina zu teilen und dort je einen jüdischen und einen arabischen Staat zu errichten. Während die Menschen in Tel Aviv jubelten, weigerte sich die arabische Seite, das UN-Votum anzuerkennen. Schnell kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den jüdischen Untergrundorganisationen und den Arabern Palästinas, die nach der offiziellen Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 in einen offenen Krieg mündeten. Die Streitkräfte aller vier arabischen Nachbarstaaten sowie die des Irak hatten sich aufgemacht, um die Juden das Fürchten zu lehren. Binnen weniger Tage sollte es um den neuen Staat geschehen sein. Doch die Offensive scheiterte. Israel konnte den Krieg für sich entscheiden. Als die Waffen Mitte Juli 1949 schwiegen, wurden 77 Prozent des bisherigen britischen Mandatsgebietes Palästina von den israelischen Streitkräften kontrolliert. Lediglich 160 000 Palästinenser verblieben in ihrer angestammten Heimat. Der größte Teil der arabischen Bevölkerung, 750 000 Menschen, hatte das Land verlassen. Viele lebten nun in Flüchtlingslagern in Syrien und im Libanon oder hatten im ägyptisch verwalteten Gazastreifen und im von Jordanien besetzten und 1950 annektierten Westjordanland Zuflucht gefunden. Abgesehen von begrenzten Familienzusammenführungen, lehnte Israel eine massenhafte Rückkehr der Flüchtlinge ab. Die Juden wären schnell zur Minderheit im eigenen Staat geworden. 5Ariel Sharon (Mitte) als junger Offizier, 1956. In Israel nahm man zunächst an, dass die palästinensischen Araber zügig und dauerhaft in den Nachbarländern angesiedelt werden würden. Diese Annahme erwies sich allerdings als ebenso verfehlt wie die vage Hoffnung, die Waffenstillstandslinien des vergangenen Krieges könnten zur Grundlage eines künftigen Friedens werden. Aus Sicht der Araber legte der neue Grenzverlauf demütigendes Zeugnis ihrer militärischen Niederlage ab und verstärkte zugleich das Misstrauen, das sie dem jüdischen Staat und dessen ullstein bild – AP 22 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 3/2013
Aufbauleistungen entgegenbrachten. Zumindest verbal hielten sie an ihrer Absicht fest, Israel zu vernichten – und damit auch die baldige Rückkehr aller geflohenen Palästinenser zu ermöglichen. Viele Palästinenser indes versuchten, schon jetzt zu ihrem Grund und Boden zurückzukehren. Keiner der Exilanten war bereit, Flucht und Vertreibung als irreversible Kriegsfolge zu akzeptieren. Im Schutz der Dunkelheit überschritten sie die Grüne Linie zu Israel, also die faktische Außengrenze des jüdischen Staates, die 1949 im entsprechenden Farbton in den Waffenstillstandsabkommen eingezeichnet worden war. Längst gelang es nicht nur jenen Palästinensern, die zu ihren verlassenen Feldern und Verwandten zurückkehren wollten, israelisches Territorium zu betreten. Immer mehr kriminelle Banden drangen ins Grenzgebiet ein, raubten und mordeten und versetzten die jüdischen Dörfer in Angst und Schrecken. Vergebens versuchte Israel, der Grenzübergriffe Herr zu werden, obwohl seine Truppen Sprengsätze legten und »auf alles feuerten, was sich bewegte«, wie der israelische Historiker Benny Morris erklärt. 1000 Infiltranten wurden allein im Jahr 1949 getötet, darunter viele Unbewaffnete, Frauen und Kinder. Das führte nicht etwa zum Rückgang der Infiltration, sondern zur Ausweitung der Gewalt. Auch die Vergeltungsschläge, die kleine Einheiten der israelischen Infanterie im Westjordanland und im Gazastreifen durchführten, zeitigten nicht den gewünschten Erfolg. Selbst die Vororte Tel Avivs waren vor arabischen Attentätern nicht mehr sicher – auch nicht das Städtchen Yehud. In der Nacht zum 13. Oktober 1953 warf eine Gruppe arabischer Freischärler eine Handgranate in ein willkürlich gewähltes Haus und tötete eine Israelin und zwei ihrer Kinder im Schlaf. Ein halbes Dutzend Attentate ähnlichen Musters hatte es in den Vormonaten gegeben, die Zahl der Opfer, die Israel seit 1949 zu beklagen hatte, ging in die Hunderte. Um den Arabern »eine Lektion zu erteilen«, sprachen sich Ministerpräsident David Ben Gurion, der amtierende Verteidigungsminister Pinchas Lavon, Generalstabschef Mordechai Makleff sowie sein leitender Operationsoffizier, Moshe Dayan, für einen Vergeltungsschlag im jordanischen Qibya aus. Israels Nachrichtendienst hatte diesen Ort wiederholt als »Terrorbasis« palästinensischer Araber ausgemacht. Mit der Mission beauftragt wurde die »Yechida 101«, eine Eliteeinheit der israelischen Armee, die im Sommer 1953 eigens für derartige Kommandounternehmen aufgestellt worden war. Ihr Befehlshaber, der spätere israelische Ministerpräsident Ariel Sharon, damals 25 Jahre alt und im Range eines Majors, hatte die 50 Mann starke Truppe zusammengestellt, einem harten Training unterworfen und für den Kampf hinter den feindlichen Linien ausgebildet. Der Auftrag der Einheit 101 war klar definiert: Begrenzte militärische Bestrafungen sollten die Freischärler sowie jene arabischen Staaten, deren Staatsgebiet ihnen als Stützpunkt diente, abschrecken, den Terror gegen Israel aktiv auszuführen bzw. passiv zu dulden. Am 14. Oktober 1953 habe das konkret bedeutet, so die Recherchen von Morris, »das Dorf anzugreifen und zeitweilig zu besetzen, Häuser zu demolieren und deren Bewohnern Schaden zuzufügen«, wobei der ursprüngliche Befehl des Generalstabes dahingehend verändert wurde, dass er nunmehr »maximale Tötung« verlangte. »Die Jordanier müssen begreifen«, notierte Sharon, »dass jüdisches Blut nicht länger ungestraft vergossen werden könne«. Bewaffnet mit über einer halben Tonne Sprengstoff und unterstützt von einer Kompanie Fallschirmjäger, machten sich Sharon und seine Soldaten auf den Weg. Sie schalteten die jordanischen Sicherheitskräfte aus und vertrieben die Einwohner Qibyas aus ihrem Dorf. Bis zum Morgengrauen des 15. Oktober legten die Truppen 45 Häuser, eine Schule sowie eine Moschee in Schutt und Asche. Als die Bewohner zurückkehrten, bot sich ihnen ein Bild des Grauens. Mehr als 40 Zivilisten waren von den israelischen Truppen regelrecht massakriert worden. Alte, Frauen und Kinder hatten sich in den Speichern und Kellern versteckt und wurden dann in den Trümmern ihrer Häuser lebendig begraben, von Gewehrsalven getötet oder offenbar gewaltsam daran gehindert, die Häuser rechtzeitig zu verlassen. Die ganze arabische Welt trug Trauer. Die Muslimbruderschaft sann auf blutige Rache, die internationale Öffentlichkeit reagierte schockiert. Auch den USA platzte der Kragen: Washington hielt die zugesagten Hilfszahlungen zurück. Am 24. November wurde der israelische Vergeltungsschlag schließlich vom UN-Sicherheitsrat verurteilt. Dennoch zeigte sich Ben Gurion zuversichtlich. Im Gespräch mit Sharon meinte er, nicht die internationale Reaktion sei entscheidend. Vielmehr komme es darauf an, wie der Vergeltungsschlag in der Region, im Nahen Osten, interpretiert werden würde. Tatsächlich verstärkte Jordanien seine Kräfte entlang der Grenze, was zumindest zeitweilig zu einem Rückgang der Palästinenserinfiltration führte; die Angriffe vom Gazastreifen aus hielten dagegen an. So reagierte Israel auch fortgesetzt mit harter Hand, wobei sich die Vergeltungsschläge nach der Tragödie von Qibya fast ausschließlich gegen feindliche militärische Einrichtungen und Truppen richteten. Solche Angriffe erforderten allerdings deutlich größere israelische Truppenstärken und mehr Waffen als bisher, stellten eine erneute Demütigung der arabischen Staaten dar und kosteten auf beiden Seiten eine steigende Zahl von Soldaten das Leben. Die arabischen Staaten forcierten daraufhin die Aufrüstung ihrer Streitkräfte, und insbesondere Ägypten betrieb eine gezielte Politik der Nadelstiche gegen Israel: Mehr und mehr palästinensische Kämpfer wurden bewaffnet und zu Anschlägen über die Grenze geschickt. Dies und die Tatsache, dass die Araber dem jüdischen Staat weiterhin das Existenzrecht verwehrten, nährten in Israel die Angst vor einer bevorstehenden »zweiten Runde«. Während der Nahe Osten auf einen neuen Waffengang zusteuerte, pochten die palästinensischen Flüchtlinge weiterhin auf ein »Recht auf Rückkehr« ins israelische Kernland. Noch heute leben viele Palästinenser in jenen Lagern, die einst als kurzfristiges Provisorium errichtet worden waren. Pedi D. Lehmann Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 3/2013 23
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