1. Deutsch -Türkisches Sozialforum Fachkräfteexkursion & Konferenz ...

1. Deutsch -Türkisches Sozialforum Fachkräfteexkursion & Konferenz ... 1. Deutsch -Türkisches Sozialforum Fachkräfteexkursion & Konferenz ...

<strong>1.</strong> <strong>Deutsch</strong> ‐<strong>Türkisches</strong> <strong>Sozialforum</strong><br />

<strong>Fachkräfteexkursion</strong> & <strong>Konferenz</strong><br />

Thema 2013: Inklusion international<br />

Istanbul 10.‐ 17.1<strong>1.</strong>2013<br />

Kurzbericht<br />

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erfolgreich beendet<br />

<strong>Deutsch</strong> ‐ <strong>Türkisches</strong> <strong>Sozialforum</strong> in Istanbul<br />

IBB plant deutsch‐türkische Fortbildungsreihe zur Inklusion international<br />

Im „<strong>Deutsch</strong>‐Türkischen Jahr der Forschung, Bildung und Innovation 2014“ wird das Internationale<br />

Bildungs‐und Begegnungswerk e. V. in Dortmund zusammen mit Partnern in der Türkei eine<br />

Fortbildungsreihe zum Thema Heilpädagogik als neues Handlungsfeld entwickeln und den nächsten<br />

Fachkräfteaustausch im Herbst 2014 in Dortmund dem Thema „Inklusion von Lernschwachen und<br />

Hochbegabten“ widmen. Zudem soll auf Grund des großen Erfolges der soeben erfolgreich<br />

durchgeführten ADHS‐Tagung eine voraussichtlich zweiwöchige Intensivschulung für Multiplikatoren<br />

zum Thema Aufmerksamkeitsdefizit‐Hyperaktivitätssyndrom konzipiert werden. „Das erste deutschtürkische<br />

<strong>Sozialforum</strong> in Istanbul am 14. November hat klar den Bedarf nach professionellen<br />

Weiterbildungen zum Themenkomplex soziale und pädagogische Arbeitsfelder aufgezeigt und wir<br />

haben mit Nichtregierungsorganisationen wie auch mit der Istanbul Handels‐Universität (ITÜ) starke<br />

Partner an unserer Seite“, schilderte Hildegard Azimi‐Boedecker, Referentin im Fachbereich Beruf<br />

international und Migration im IBB nach ihrer Rückkehr. Besonders für die Gruppe der Hochbegabten<br />

und der leicht Lernbehinderten suchen die türkischen Partner nach adäquaten Hilfsmodellen, da die<br />

meisten der bislang existierenden Einrichtungen für schwerer behinderte Menschen ausgerichtet<br />

sind.<br />

Zehn Fachkräften aus <strong>Deutsch</strong>land öffnete das IBB beim Fachkräfteaustausch 2013 die Türen zu<br />

Einrichtungen für geistig behinderte Menschen und psychisch bzw. psychiatrisch Erkrankte in<br />

Istanbul. „Diesmal haben wir Einrichtungen der Organisationen besucht, die 2012 am<br />

Fachkräfteaustausch in Nordrhein‐Westfalen teilgenommen hatten sowie Kontakte zu erstmals im<br />

Projekt beteiligten Einrichtungen aufgebaut“, schilderte Azimi‐Boedecker.<br />

So hatte der Verein elim‐elimde („Hand in Hand“) zwei Wohnungen für jeweils acht behinderte junge<br />

Frauen in einem Stadtteil auf der asiatischen Seite eröffnet. Die erste Einrichtung, das Ali Çebi<br />

Umutevi (zu <strong>Deutsch</strong>: Haus der Hoffnung) befindet sich in im asiatischen Stadtteil Ümraniye mitten in<br />

einem Neubau‐Wohngebiet. Die dort<br />

lebenden jungen Frauen sind spastisch<br />

gelähmt oder haben eine geistige<br />

Behinderung, eine Bewohnerin lebt<br />

mit dem Down‐Syndrom (Trisomie 21).<br />

Bei diesem in Istanbul sehr innovativen<br />

Projekt des „Betreuten Wohnens“<br />

sorgen zurzeit Mütter behinderter<br />

Kinder für die Bewohnerinnen. Eine<br />

Betreuerin bleibt auch jeweils über<br />

Nacht. Die jungen Frauen leben<br />

weitgehend selbständig, gehen zur<br />

Schule bzw. bereiten sich auf die Uni<br />

vor. Die Besuchergruppe aus<br />

<strong>Deutsch</strong>land staunte nicht schlecht: Die Wohngruppe war bereits 2011 in Planung und erhielt den<br />

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letzten Schliff durch die vielen Anregungen aus dem IBB ‐Fachkräfteaustausch in Dortmund 2012:<br />

Seyfi Bozcelik und SerapTanca hatten die<br />

Wohngruppe eingerichtet mit Unterstützung<br />

der Abgeordneten Belma Satir, die ebenfalls im<br />

Oktober 2012 Einrichtungen in Dortmund<br />

besucht hatte.<br />

„Dieses Langzeitprojekt ist mit großem<br />

Engagement an den Start gegangen, aber das<br />

Personal braucht noch zielgerichtet<br />

Fortbildungen“, berichtet die Referentin des<br />

IBB. Nach anfänglicher Skepsis und Ablehnung<br />

durch das Wohnumfeld sind beide<br />

Wohngruppen nun in der Nachbarschaft<br />

akzeptiert.<br />

Als Vergleich lernte die Reisegruppe in der psychiatrischen Einrichtung Çınar Bakım Merkezi eine<br />

geschlossene Einrichtung kennen, in der psychisch schwer erkrankte und geistig behinderte<br />

Menschen leben, die in der Regel nicht außerhalb der Einrichtung arbeitsfähig sind.<br />

Die engagierten<br />

Mitarbeiter des Zentrums verwiesen darauf, dass es noch<br />

viel zu wenig Einrichtungen dieser Art in der Türkei gebe,<br />

gemessen an der Zahl der behinderten Menschen und<br />

dass die Einstellung zur Inklusion besonders psychiatrisch<br />

Erkrankter in die Stadtviertel oft sehr negativ ist.<br />

Viele der Bewohnerinnen und Bewohner leiden unter<br />

Schizophrenie oder multiplen Erkrankungen bzw. Behinderungen<br />

und bleiben z. T. bis zum Lebensende im Wohnheim in<br />

Wohnetagen mit Doppelzimmern. Sie erhalten<br />

Beschäftigungstherapie, medizinisch‐therapeutische Versorgung<br />

und ein Freizeitprogramm.<br />

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In der Berufsförderschule Yeşilköy Özel Eğitim Merkezi in Yeşilköy‐<br />

Bakırköy besuchte die Gruppe eine Einrichtung der schulischen<br />

und beruflichen Förderung: In verschiedenen 3‐ bis 4‐jährigen<br />

Ausbildungsgängen mit bis zu vier Tagen wöchentlichem<br />

Berufspraktikum werden die zumeist geistig behinderten<br />

Schülerinnen und Schüler auf ihre Tätigkeiten zum Beispiel in der<br />

Verwaltung, aber auch im Friseur‐Handwerk vorbereitet oder<br />

gehen in schulinternen Werkstätten verschiedenen Beschäftigungen nach. So werden zum Beispiel<br />

Auftragsdruckarbeiten erledigt, u.a. für die beiden großen Fußballklubs Fenerbahce und Galatasaray.<br />

Auf dem Weg zur „sozialen Stadt“<br />

Beim Blick über die Dächer Istanbuls und in die einzelnen Stadtteile der 14 Millionen Metropole<br />

Istanbul fällt die rege Bautätigkeit auf.<br />

Neben der Instandsetzung der historischen Bestände, die überall eingerüstet werden, sind die<br />

Prestigeobjekte der Großmoscheen, die Bosporusuntertunnelung, der geplante 3. Flughafen, die<br />

Bebauung des Geziparkes und moderne Hochhauskomplexe mit sogenannten „gated communities“<br />

für Reiche und Superreiche aktuelle Diskussions‐ und Reizthemen.<br />

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Bei genauer Betrachtung fallen jedoch auch lobenswerte soziale Projekte ins Auge. So werden<br />

stadtweit die „Sosyal Tesileri“, die allen Familien preiswerte Mahlzeiten in Familienrestaurants<br />

ermöglichen, eröffnet. Einige Stadtteile sind federführend in der Einrichtung sozialer und kultureller<br />

Treffpunkte und Dienstleitungen für die ärmere Bevölkerung sowie behinderte und benachteiligte<br />

Menschen<br />

Mit der Stadtverwaltung von Baḡcılar pflegt das IBB seit dem Fachkräfteaustausch 2012 engen<br />

Kontakt. Hier hat die Kommune des mit knapp 720 0000 Einwohnern größten Stadtbezirks von<br />

Istanbul eine große Einrichtung für behinderte Menschen geschaffen, die auch dezentral in den<br />

Stadtteil hinein wirkt. Baḡcוlar ist seit 1950 mit damals 3.869 Einwohnern der am schnellsten<br />

gewachsene Stadtteil Istanbuls. Die Kommune von Baḡcılar arbeitet weitgehend autark und hat mit<br />

dem „Engelliler Sarayı“ mit angeschlossener „Behindertenakademie“ ein Leuchtturmprojekt<br />

geschaffen.<br />

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Unterstützt durch Bürgermeister Lokman Çarığıcı wollen die Mitarbeitenden des Engelliler Sarayı, des<br />

lokalen Behindertenzentrums, die “soziale Stadt“ verwirklichen. Baḡcוlar kämpft noch immer mit den<br />

Vorurteilen des schlechten Wohnviertels und des rückständigen Stadtteils. „Dagegen arbeiten wir mit<br />

unseren Projekten an“, berichtete Cengiz<br />

Pacci, Leiter des Engelliler Sarayı. In der<br />

Akademie werden behinderte Menschen<br />

im Bereich Sprachen, EDV, Konditorei u.a.<br />

fortgebildet, um in den Arbeitsmarkt<br />

integriert zu werden. Die türkische<br />

Regierung will insbesondere in den<br />

Verwaltungen mehr Menschen mit<br />

Behinderungen einstellen.<br />

Eine Abteilung produziert Sportkleidung mit eigenem<br />

Emblem sowie Modeschmuck, eine andere betreibt eine<br />

Champignonzucht. Die Produkte werden vor Ort in einem<br />

Sozialkaufhaus veräußert, die jeweiligen Produzenten und<br />

Produzentinnen der Produkte werden am Erlös beteiligt.<br />

„Dieses Model haben wir uns bei unserem Besuch in<br />

Dortmund abgeschaut“, berichtete Cengiz Pacci.<br />

Begeistert zeigten sich die Besucher aus<br />

<strong>Deutsch</strong>land über Fati, das Maskottchen der<br />

Behindertenarbeit von Baḡcılar, einer<br />

Handpuppe, die von Behinderten genäht<br />

worden ist. Fati ist inzwischen in Serie<br />

gegangen und wird verkauft, soll aber auch<br />

türkeiweit als Symbolfigur für die Belange der<br />

behinderten Menschen sensibilisieren.„Fati<br />

ist uns im Stadtteil Baḡcılar an vielen Stellen begegnet und er wird sogar bald TV‐Star“, berichtete<br />

Hildegard Azimi‐Boedecker.<br />

„Die Inklusion gelingt in diesem großen, recht unabhängigen Stadtteil Baḡcılar offenbar schon<br />

verhältnismäßig gut“, erfuhr die IBB‐Referentin.<br />

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Dort gibt es sogar ein riesiges Fitnesszentrum<br />

mit Kraftraum speziell für Menschen mit<br />

Behinderungen, wo behinderte und<br />

nichtbehinderte Menschen trainieren können.<br />

„So etwas findet man in <strong>Deutsch</strong>land kaum“,<br />

bestätigte ein Berliner Teilnehmer der<br />

Expertengruppe. Nebenan befındet sich eine<br />

neue Schwimmhalle, wo auch behinderte<br />

Stadtteilbewohnerinnen, wenn auch nach<br />

Geschlechtern getrennt, ausdrücklich zum<br />

Wassersport aufgefordert werden. Gerade<br />

laufen zudem Gespräche mit bekannten Profitauchern über entsprechende Angebote.<br />

Neben Sport‐, Freizeit, ‐Kultur‐ und berufsbildenden Angeboten finden Besucher des Engelliler Saray<br />

dort auch einen kompletten Therapiebereich vor. Ergotherapie und Entspannungsräume mit<br />

Snoozleraum und Lichtstimulation runden das Angebot ab.<br />

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ADHS als kulturübergreifendes Phänomen –<br />

Das <strong>1.</strong> <strong>Deutsch</strong> –Türkische <strong>Sozialforum</strong> 14.1<strong>1.</strong>2013<br />

Thema 2013: Inklusion international – ADHS im interkulturellen Vergleich<br />

In der Behinderten‐Akademie von Baḡcııar fand im Anschluss an die Fachkräftewoche auch das<br />

eintägige <strong>Sozialforum</strong> mit über 250 Teilnehmenden zum Thema „ ADHS/ADS – Aufmerksamkeits‐<br />

Hyperaktivitätssyndrom“ statt. Dieses hatte das IBB und die Engelliler Akademisi gemeinsam<br />

vorbereitet und Experten aus beiden Ländern dazu eingeladen.<br />

Neben Prof Dr. Sabiha Paktuna (Neurologin) und Dipl. Psychologin Özlem Töker (klinische<br />

Psychologin), die von türkischer Seite gestellt wurden, brachte das IBB mit der Ärztin für Neurologie<br />

und Psychiatrie, DR. R. Hülya Bingöl Caglayan<br />

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und Michaela Kuhlmann vom Gemeinschaftskrankenhaus Witten‐Herdecke zwei Expertinnen mit, die<br />

sich im Bereich der Diagnose und Therapie von ADHS in <strong>Deutsch</strong>land bestens auskennen. Beide<br />

Expertinnen betonten, dass es sich bei ADHS um eine neurologische, genetisch bedingte Störung<br />

handele, an der weder Eltern noch Kinder Schuld seien.<br />

Michela Kuhlmann stellte als Verhaltenstherapeutin das sehr praxisorientierte IntraActPlus‐Konzept<br />

vor, dass bei Kindern und Jugendlichen mit Lern‐ und Leistungsstörungen (z.B. mangelnde<br />

Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer, fehlende Anstrengungsbereitschaft und/oder Motivation), Lese‐<br />

Rechtschreibschwierigkeiten,<br />

Rechenschwierigkeiten, Aufmerksamkeitsstörungen<br />

(z.B. ADHS/ADS), aggressivem Verhalten, sozialen<br />

Unsicherheiten und ängstlichem Verhalten<br />

eingesetzt wird. Mit der Kombinationsmethode aus<br />

Elternarbeit, Verhaltenstraining und – da wo nötig<br />

‐ sanfter Medikamentengabe lassen sich gute<br />

Erfolge erzielen. Insbesondere das Training der<br />

Selbststeuerung von ADHS –Kindern, mit dem sich<br />

Unter‐ oder Überaktivierungszustände ausgleichen<br />

lassen, hat hier besonderes Gewicht. Frau Dr. Bingöl stellte zudem mit der A.L.A.D.I.N –Methode ein<br />

weiteres Konzept für Eltern und Lehrer vor. Beide Referentinnen gaben den Tagungsgästen erste<br />

praktische, einfach anzuwendende Tipps für den Schulalltag mit, wenngleich die richtige und<br />

konsequente Durchführung der Methoden Inhalt längerer Fortbildungen ist.<br />

Tagungsgäste waren zumeist Lehrerinnen und Lehrer und schulpsychologische Beratungslehrer, die<br />

unisono zu große Klassen und mangelnde<br />

Vorbereitung auf diese spezielle Schülergruppe<br />

beklagten. Fast alle Anwesenden konnten<br />

entsprechende Fälle benennen, insbesondere mit<br />

Jungen, die nach türkischer Erziehungsauffassung<br />

ohnehin mehr Toleranz erfahren. „Ich habe zwei<br />

solcher ADHS Schüler in meiner Klasse, die<br />

würden mich komplett allein beanspruchen, ich<br />

muss mich aber auch noch um die restlichen 38<br />

Schüler kümmern und finde keine Lösung für<br />

dieses Problem“ schilderte eine der anwesenden Lehrerinnen das offenbar Vielen bekannte Problem.<br />

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Die Lehrerinnen und Lehrer im Plenum zeigen sich zudem besorgt über die noch völlg unklaren<br />

Konsequenzen der neusten Schulreform 4+4+4 insbesondere für lernschwache und behinderte<br />

Schüler. Danach soll jetzt eine insgesamt 12 jährige Schulpflicht die bislang 8‐Jährige ablösen, zu Zeit<br />

existieren Übergangsklassen. Nun sind<br />

zwölf Jahre Schule verpflichtend, wobei<br />

das letzte Drittel eine Oberstufe sein<br />

kann, eine berufsausbildende Form oder<br />

ein "Fernstudium" mit<br />

Unterrichtsverfolgung zu Hause (Kritiker<br />

befürchten , dass insbesondere<br />

konservative Eltern Töchter dann zu<br />

Hause lassen). Unklar bleibt auch, was<br />

dies für das zarte Pflänzchen der eben<br />

erst begonnenen „Dualen Ausbildung“<br />

nach deutschem Muster bedeutet. Das<br />

Einschulungsalter wurde auf 5 Jahre herab gesetzt, eine verpflichtende Vorschulerziehung wurde<br />

jedoch nicht eingeführt. Die „Dershaneleri“, die kostenpflichtigen Vorbereitungskurse für die<br />

Zulassungsprüfung zum Studium sollen abgeschafft werden mit dem Ziel „mehr Qualität in die<br />

Klassen.“ Wenn aber wie bislang dann ohnehin nur ca. 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler die<br />

Aufnahmeprüfungen zur Universität im ersten Anlauf schaffen, bleibt offen, welche Berufsaussichten<br />

die restlichen 60 Prozent, insbesondere die Lernschwachen oder lernbehinderten Schüler haben.<br />

Als weiteres Problem auf der <strong>Konferenz</strong> wurde die fehlende berufsbegleitende Fortbildung von<br />

Lehrern bzw. pädagogischem Personal beklagt. Wer nicht in einem privaten Lehrinstitut unter<br />

kommt, kann nur auf einmalig insgesamt 400 Std. Fachfortbildung hoffen, in der es nach Aussagen<br />

einiger Teilnehmerinnen zumeist um Anpassungen und Neuheiten im Bereich der Bildungspolitik,<br />

weniger aber um pädagogische oder gar sonderpädagogische Fragestellungen gehe. „Wir benötigen<br />

gerade solche Fortbildungen wie diese Tagung öfters und regelmäßig, auch, weil so der kollegiale<br />

Austausch möglich wird“, bestätigte eine Teilnehmerin am Ende der Tagung<br />

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Bürgermeister Lokman Çarığıcı, der die <strong>Konferenz</strong> eröffnete und beendete, unterstrich die Bedeutung<br />

gerade des internationalen Austausches mit den europäischen Ländern und Städten, insbesondere<br />

mit <strong>Deutsch</strong>land für die Qualitätsentwicklung sozialer Angebote auf internationalem Standard. Er<br />

hofft auf weitere Kooperationen mit dem Dortmunder Träger IBB.<br />

Dass ADHS bei der türkischen bzw. türkischstämmigen Bevölkerung ein großes Thema ist, wurde<br />

auch beim Besuch im psychiatrischen Zentrum „Nöroterapi Uzmanı ‐ Aile Danışmanı Çocuk ve Genç<br />

Psikolojik Danışmanlık ve Psikiyatri Merkezi“ in<br />

Ataşehir auf der asiatischen Seite der Stadt deutlich:<br />

270 Kinder und Jugendliche besuchen jeden Monat<br />

die ADHS‐Sprechstunde in den Sommermonaten.<br />

„Die Hälfte der Kinder‐ und Jugendlichen kommt aus<br />

<strong>Deutsch</strong>land“, so der leitende Neurologe Dr. Bora<br />

Küçükyazıcı. „Für uns ist das ein Indiz, dass Eltern mit<br />

türkischem Migrationshintergrund eine mögliche<br />

Diagnose ADS/ADHS bei ihrem Kind wohl sehen, aber<br />

den Einrichtungen in <strong>Deutsch</strong>land gegenüber<br />

Vorbehalte haben“, so Hildegard Azimi‐Boedecker.<br />

Die klinische Psychologin und Familientherapeutin Mürvet Ülkü berichtete von den Problemen in<br />

ADHS Familien. Ein Phänomen, das möglicherweise auch eine kulturelle Komponente haben könnte,<br />

so Ülkü, sei das „overprotective syndrom“, die überbeschützende Haltung der Mütter und die Angst,<br />

Grenzen innerhalb der Erziehung zu setzen. Nach Beobachtung des Zentrums verstärke sich eher<br />

geringer ausgeprägte ADHS durch falsche Haltungen, daher sei auch die emotionale Stärkung sehr<br />

wichtig im Rahmen des Therapiekonzeptes. Häufig, so die Experten fehle es auch an Compliance, also<br />

Mitarbeit der Eltern, die nicht selten uneinsichtig seien oder die Schuld für schulisches Versagen<br />

beim Lehrer suchten. Ergänzende Medikamentenverabreichung werde hier ‐ auch eine Parallele zu<br />

<strong>Deutsch</strong>land von vielen Eltern abgelehnt, auch in schweren Fällen. Elternarbeit sei daher eine große<br />

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Herausforderung. Zudem sei die Entdeckung und Therapie von ADHS auch ein Problem sozialer<br />

Schichten: bis zu 80 Prozent der Klienten kämen nämlich aus privaten Schulen, die sich in der Regel<br />

nur Familien mit mittlerem bis höherem Verdienst leisten können. Die Mitarbeiter des Zentrums<br />

beklagten die noch flächendeckend fehlende Struktur an sozialpädagogischen Hilfen.<br />

Sozialpädagogische Familienhilfe fehle fast vollständig, oftmals würden stark auffällige Kinder der<br />

sogenannten „Kinderschutzpolizei“ oder Kinderschutzzentren übergeben. Die Anzahl der<br />

psychologischen Berater an den Schulen sei zu gering, pro 200 Lehrer sei je ein schulpsychologischer<br />

Beratungslehrer vorgesehen, in der Praxis käme nicht selten an staatlichen Schulen auf 1000 Schüler<br />

nur einen Beratungslehrer, so Dr. Bora. Die Ausbildung am Lehrstuhl für psychologische Beratung<br />

(ehemals Pädagogik) dauere vier Jahre und sei gemessen an anderen Berufen auf Grund der<br />

belastenden Arbeitssituation nicht sehr attraktiv.<br />

Beim Besuch im neurologischen Zentrum stellten<br />

die Fachkräfte aus <strong>Deutsch</strong>land fest: Hinsichtlich<br />

der Diagnose‐ und Therapieverfahren von ADHS<br />

gibt es keine wesentlichen Unterschiede, allerdings<br />

arbeitet die Türkei weitgehend nach USamerikanischem<br />

Muster. Auch in Istanbul wird mit<br />

Neurofeedback (in Zusammenarbeit mit der<br />

Universität Tübingen), mit Verhaltenstherapie,<br />

medikamentöser Einstellung und seit Mitte 2013<br />

mit einem neuartigen Gehirnwellen‐Messverfahren<br />

u. a. gestützt auf Erkenntnisse der American Academy of Pediatrics gearbeitet. Den Vorbehalten<br />

türkischer Eltern gegenüber Einrichtungen in <strong>Deutsch</strong>land wollen die Fachkräfte künftig stärker auf<br />

den Grund gehen. Gemeinsam mit Bağcılar will das IBB die Möglichkeit prüfen, eine Intensiv‐<br />

Fortbildung zum Thema ADHS für Multiplikatoren mit Aufenthalt in <strong>Deutsch</strong>land und der Türkei zu<br />

entwickeln. Thema wird auch die intensive Einbeziehung der türkischen Eltern sein.<br />

„Denn diese sind für langfristige Mitarbeit schwer zu gewinnen“, wusste auch der Leiter der privaten<br />

Therapieeinrichtung für Autisten “algi“, Selim Parlak<br />

zu berichten. Dieses Phänomen trifft also nicht nur<br />

Sozialarbeiter, Lehrer und Therapeuten in<br />

<strong>Deutsch</strong>land, auch in der Türkei erreichen<br />

Therapeuten und Lehrer die Eltern oft nicht, die<br />

Verantwortung wird lieber an die Professionellen<br />

abgegeben. „algi“ arbeitet mit Autisten,<br />

Aspergerautisten, geistig behinderten und<br />

entwicklungsverzögerten Kindern und auch hier tritt<br />

das Phänomen ADHS als Komorbidität auf.<br />

Frühförderung sei ausgesprochen wichtig, so Parlak, allerdings erreichten über 9‐jährige Kinder die<br />

Angebote oft nicht mehr. Durch sehr intensive Arbeit im Rahmen des ABA Konzeptes (dies ist die<br />

verhaltenstherapeutisch orientierte Methode der Applied Behavior Analysis, die in <strong>Deutsch</strong>land<br />

zunächst als zu konditionierend aber in jüngster Zeit wieder als Option diskutiert wird) seien sehr<br />

schnelle (oftmals innerhalb von 4 Monaten) und gute Erfolge zu erzielen, insbesondere auch bei<br />

Kindern mit „Atypischem Autismus“. Wie alle anderen Kollegen beklagte auch Parlak, dass die<br />

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staatlich finanzierten 10 Therapiestunden pro Monat insbesondere bei schweren Fällen viel zu wenig<br />

seien. Um echte Inklusion zu erreichen seien zudem drei Punkte wichtig:<br />

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<strong>1.</strong> Das Recht der Behinderten für sich selbst zu sprechen.<br />

2. Die Installation von „Schattenlehrern“ also 2. Förderlehrern in den Klassen.<br />

3. Die Akzeptanz der Behinderung durch die Eltern.<br />

Ergänzend fügte Adem Kuyumcu hinzu: „In der Türkei werden schätzungsweise 80 Prozent der<br />

Frauen, die behinderte Kinder zur Welt bringen von ihren Ehemännern verlassen, daher ist Mütterund<br />

Väterbildung ein weiterer wichtiger Punkt.“ Auf die Frage, wie denn Zugang zu betroffenen<br />

Familien gefunden werden könne, antwortete Parlak: „Man muss sie in ihrer gewohnten Art<br />

ansprechen, manchmal mache ich das bei religiösen Familien sogar mit Hadithen (rel. Aussprüchen<br />

des Propheten). Aber die Motivation der Eltern ist tatsächlich sehr gering“. Die deutsche<br />

Expertengruppe stellte einhellig fest, dass diese Erkenntnisse zwar traurig seien, aber auch eine<br />

gewissen Entlastung für die Arbeit mit türkischen Eltern in <strong>Deutsch</strong>land bedeute, denn offenbar sind<br />

die Probleme mit Akzeptanz von Behinderung und Kooperation der Familien mit Fachkräften und<br />

Hilfsdiensten in beiden Ländern gleich.<br />

Professionelles Know‐ How entwickeln – eine Zukunftsaufgabe<br />

„Auf unserer Exkursion durch die verschiedenen Einrichtungen, aber auch beim deutsch‐türkischen<br />

<strong>Sozialforum</strong> zog es sich aber immer wieder wie ein roter Faden durch alle Diskussionen: Sowohl<br />

<strong>Deutsch</strong>land als auch die Türkei sind mitten in der Inklusionsdebatte. Auch in der Türkei soll, wenn es<br />

nach den Gesetzgebern geht, im schulischen und gesellschaftlichen Bereich Inklusion schnellst<br />

möglich erreicht werden. Die Bereitschaft zur Inklusion ist vorhanden, das Engagement ist groß, doch<br />

häufig fehlt einfach das professionelle Know‐how“, resümiert Hildegard Azimi‐Boedecker.<br />

Von Adem Kuyumcu, einem Aktivisten aus der Arbeit mit behinderten Menschen, konnte die Gruppe<br />

praktische Beweise erfahren.<br />

Adem Kuyumcu berät Einrichtungen der<br />

Behindertenhilfe sehr kritisch und engagiert. Er<br />

selbst hat Erfahrungen mit Behinderung in<br />

seiner Familie und ist auf einem Auge<br />

erblindet. Er deckt Unzulänglichkeiten auf und<br />

fordert Nachbesserung. Trotz des Gesetzes zur<br />

Stadtplanung und zum Umbau aller<br />

öffentlichen Einrichtungen in<br />

behindertengerechte Gebäude dauert dieser<br />

Prozess noch an. In vielen U‐Bahnstationen der größeren Städte sind inzwischen Eingänge und<br />

Aufzüge für Rollstuhlfahrer eingebaut, die meisten großen Ampelkreuzungen wurden mit Tast‐ und<br />

Hörsignalen ausgestattet und auch die öffentlichen Gebäude sind häufig schon umgerüstet.<br />

Andernorts ist jedoch im Straßenbild oft noch ein trauriger Anblick fest zustellen: zugeparkte<br />

Behindertenparkplätze, hohe Bürgersteige, z. T. noch aus der antiken Zeit in der Altstadt,<br />

verschlossene WC etc.


Kuyumcu hat in einer Aktion mit einer Gruppe behinderter Rollstuhlfahrer die berühmte<br />

Geschäftszeile auf der Istiklal Caddesi abgefahren und auf behindertengerechte Eingänge überprüft.<br />

Das Resultat: Nicht ein einziger Laden erfüllte die Kriterien. Die Einstellung innerhalb der<br />

Bevölkerung, so Kuyumcu, müsse sich noch gewaltig ändern. Es gehe nicht nur darum, behinderte<br />

Menschen zu schützen und zu bemitleiden, sondern ihnen zu ihren Rechten zu verhelfen und ihre<br />

Fähigkeiten zu erkennen. Kuyumcu gehört zu denjenigen, die den behinderten Menschen der Türkei<br />

eine Stimme verleihen.<br />

_______________________________<br />

Exkurs:<br />

Nach dem Census 2002 liegt der Anteil behinderter Menschen an der Bevölkerung bei ca. 12,25 ‐12,9 % und<br />

absolut bei ca. 8,5 Millionen.<br />

Die Türkei hat relativ frühzeitig die UN Konvention der Rechte von Personen mit Behinderungen am 30. März<br />

2007 unterzeichnet und sich verpflichtet, die Belange behinderter Menschen zu berücksichtigen. Nach einer<br />

Diskussion im Parlament wurde sie am 28. September 2008 ratifiziert. Die neue Familienministerin Fatma Şahin,<br />

Verkehrsminister Binali Yıldırım und Gesundheitsminister Recep Akdağ sind in die Verwirklichung der<br />

Behindertenrechte regierungsseits involviert. Im Juli 2005 wurde das Gesetz 5378 verabschiedet, mit dem<br />

bestehende Verordnungen geändert und der Begriff „behindert“ definiert wurden. Einige Beispiele: Nach der<br />

Verordnung vom 30. Mai 2006 „Korumalı Işyeri –Status“müssen nun Arbeitsplätze behindertengerecht<br />

eingerichtet und anteilig Behinderte beschäftigt werden. (Allerdings besteht auch hier die Möglichkeit einer<br />

Ausgleichsabgabe wie in <strong>Deutsch</strong>land so dass etwa 78 % der Behinderten nicht arbeiten).1997 wurde eine<br />

Dienstordnung in Kraft gesetzt mit wichtigen Veränderungen in Richtung Umsetzung der integrativen<br />

Erziehung. Das Behindertengleichstellungsgesetz wurde am 0<strong>1.</strong> Juli 2005 in Kraft gesetzt mit dem Ziel der<br />

Verbesserung aller Leistungen für behinderte Menschen. Ein monatliches Pflege‐ bzw. Betreuungsgeld abhängig<br />

vom Grad der Behinderung ab 40% wurde zum Regelanspruch bei stationärer oder häuslicher Unterbringung.<br />

Bis 2012 sollte die Stadtplanung behindertengerecht ausgerichtet werden.<br />

______________________________________<br />

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In einer Diskussionsrunde des IBB mit Vertretern des Vereins<br />

„elim‐ elimde“ und mit dem Rektorat der Ticaret Üniversiti ITÜ<br />

(der renommierten Handels‐Universität zu Istanbul) konnte<br />

dieses Ergebnis der Fachkräftebegegnung 2013 vorgestellt und<br />

diskutiert werden. Der Rektor der Handelsuniversität (ITÜ)<br />

hatte eilends eine Sitzung der Fakultätsleiter und Leiterinnen<br />

zusammen gerufen.<br />

Elemente der Sonderpädagogik bzw. Heilerziehungspflege, so<br />

der Wunsch der Praktiker von elim‐elimde, sollten in künftige<br />

Ausbildungswege integriert werden. Durch die genannte<br />

Verlängerung der Schulpflicht auf 12 Jahre wäre auch eine<br />

Integration der Fachinhalte in die Saḡlik Yüksek Okulu, einer Art<br />

Berufsfachschule für Gesundheitsberufe eine Option für<br />

Erstausbildung. Das System der Hochschul‐ und Fachhochschulstudiengänge bzw. Fachschulgänge in<br />

der Türkei mit unzähligen Privateinrichtungen ist nahezu undurchschaubar für externe Beobachter.<br />

Allerdings, so Dr. Aydin, Direktor des Forschungscenters Frau und Familie an der ITÜ (Istanbul Ticaret<br />

Üniversiti) "fehlt das Studienfach Sozialpädagogik, insbesondere mit Sonderausrichtungen, das ist<br />

wirklich eine Lücke im Bildungssystem hier und es gibt wirklich großen Bedarf “.Die Türkei kennt


ausschließlich die Ausbildung auf der universitären Ebene an der staatlichen Hacettepe‐Universität in<br />

Ankara seit 1967 und seit 2002 an einer privaten Universität in Baskent mit den Abschlüssen MA und<br />

PFD. „Das Studium ist zudem eher sozialarbeiterisch ausgerichtet und für die hier genannten<br />

Zielgruppen weniger geeignet“ so Dr. Aydin.<br />

Die Beobachtung der<br />

deutschen Delegation, dass<br />

sich in sozialen<br />

Einrichtungen zumeist<br />

theoretisch ausgebildete<br />

Soziologen und viele<br />

Psychologen finden,<br />

bestätigte auch Professor<br />

Gökhan Malkoc, Präsident<br />

der türkischen Psychologen<br />

Assoziation. „Insbesondere<br />

die Soziologen sind hier ja<br />

eigentlich berufsfremd,<br />

leider wurde die allgemeine<br />

Erziehungswissenschaft als<br />

Studienfach in den 80er<br />

Jahren abgeschafft zugunsten einer auf das Lehramt zugeschnittenen erziehungswissen‐ schaftlichen<br />

Ausrichtung“, so Prof. Malkoc. “Kurzfristig werden wir die Implementierung bzw. die Einrichtung des<br />

Studienfaches Sozialpädagogik mit Zusatzrichtungen nicht erreichen können, obwohl dies das<br />

Fernziel sein müsste“ so auch Prof. Dr. Ramazan Abacı, Soziologieprofessor der Universität, „daher<br />

könnten Zertifikatskurse o.ä. als Zwischenlösungen eine Idee sein.“ Da an der Handelsuniversität in<br />

den Fachbereichen Soziologie und Psychologie einige der renommiertesten Professoren des Landes<br />

arbeiten, soll im nächsten Schritt geprüft werden, ob hier angedockt werden kann. „Wir wollen im<br />

kommenden Jahr gemeinsam zunächst ein Curriculum für Zertifikatskurse als berufsbegleitende<br />

Fortbildungen entwickeln“, so Hildegard Azimi‐Boedecker. Ein Ziel der kommenden Jahre wird dann<br />

sein, den Beruf des Heilerziehungspflegers als nichtakademischen Beruf auch in der Türkei zu<br />

implementieren. Gemeinsam wird weiter überlegt, ob dies auch Thema der Panels auf kommenden<br />

<strong>Konferenz</strong>en, wie der „conference for counselling and education" im Mai 2014 in Istanbul und/oder<br />

beim geplanten 2. deutsch ‐ türkischen <strong>Sozialforum</strong> 2014/15 in Dortmund sein können. Vereinbart<br />

wurde, dass ein Ideenpapier des IBB zu Beginn des Jahres 2014 an die türkischen Stellen zur<br />

Überprüfung gesendet wird. Ein Anfang ist also gemacht.<br />

Bericht: Hildegard Azimi‐Boedecker © Fotos: Azimi, DR. Kappe 11/2013<br />

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