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Cicero Tugendfuror (Vorschau)

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April 2013<br />

8 EUR / 12,50 CHF<br />

www.cicero.de<br />

<strong>Tugendfuror</strong><br />

Übertreiben wir es mit der<br />

politischen Korrektheit?<br />

Kulturkampf<br />

Udo Di Fabio über die Homo-Ehe<br />

Fleischeslust<br />

Amelie Fried und ihr Widerstand<br />

gegen den Vegetarismus<br />

Ruhrbaronin<br />

Fritz Pleitgen trifft Nordrhein-Westfalens<br />

Ministerpräsidentin Hannelore Kraft<br />

Politzirkus<br />

Petra Reski erklärt Beppe Grillo<br />

Österreich: 8 EUR, Benelux: 9 EUR, Italien: 9 EUR<br />

Spanien: 9 EUR, Portugal (Cont.): 9 EUR, Finnland: 12 EUR


EINE ANLEITUNG<br />

ZUM WIDERSTAND<br />

1. Alles könnte anders sein.<br />

2. Es hängt ausschließlich von Ihnen ab,<br />

ob sich etwas verändert.<br />

3. Nehmen Sie sich deshalb ernst.<br />

4. Hören Sie auf, einverstanden zu sein.<br />

5. Leisten Sie Widerstand, sobald Sie<br />

nicht einverstanden sind.<br />

6. Sie haben jede Menge<br />

Handlungsspielräume.<br />

7. Erweitern Sie Ihre Handlungsspielräume<br />

dort, wo Sie sind und Einfl uss haben.<br />

8. Schließen Sie Bündnisse.<br />

9. Rechnen Sie mit Rückschlägen,<br />

vor allem solchen, die von Ihnen<br />

selber ausgehen.<br />

10. Sie haben keine Verantwortung<br />

für die Welt.<br />

11. Wie Ihr Widerstand aussieht, hängt<br />

von Ihren Möglichkeiten ab.<br />

12. Und von dem, was Ihnen Spaß macht.<br />

336 Seiten,<br />

gebunden,<br />

€ (D) 19,99


E L E G A N Z I N B E W E G U N G<br />

Armbanduhr Dressage aus Edelstahl,<br />

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C I C E R O | A T T I C U S<br />

Von: <strong>Cicero</strong><br />

An: Atticus<br />

Datum: 21. März 2013<br />

Thema: <strong>Tugendfuror</strong>, Di Fabio, neues Ressort<br />

Kollektives Korrektorat<br />

TITELBILD: WIESLAW SMETEK; ILLUSTRATION: CHRISTOPH ABBREDERIS<br />

D<br />

AS THEMA STAND SCHON ALS TITEL FEST, als es auch noch den Bundespräsidenten<br />

erwischte. Einen unguten „<strong>Tugendfuror</strong>“ hatte Joachim Gauck im Zusammenhang<br />

mit Rainer Brüderles Dirndl-Affäre ausgemacht und diesen Eindruck ganz offen<br />

ausgesprochen. <strong>Tugendfuror</strong> – eine sehr schöne Wortschöpfung, weil sie ausdrückt, dass es<br />

auch ein Zuviel des Guten gibt. Reflexartig reagierte das politische Korrektorat im Netz und<br />

unterstellte dem Bundespräsidenten, mit dem Furor in Wahrheit Furien gemeint und damit<br />

frauenfeindlich geredet zu haben.<br />

Zuvor hatte ein selbst ernannter Sprachrat diverse bislang unbescholtene Wörter wie<br />

„Arbeitsloser“ auf den Index gesetzt – und ein Berliner Bezirksparlament hatte einheitliche<br />

Toiletten für Männer und Frauen beschlossen, damit Transsexuelle nicht ratlos vor den beiden<br />

Türen stehen. Schließlich erwischte es den Otto-Versand, der ein T-Shirt angeboten hatte mit<br />

der Aufschrift „In Mathe bin ich Deko“ – weil ein Mädchen im Online-Katalog damit posierte,<br />

vermutete das kollektive Korrektorat abermals diskriminierendes Gedankengut dahinter. Das<br />

T-Shirt kann man nicht mehr kaufen.<br />

Könnte es sein, dass wir es in letzter Zeit ein bisschen übertreiben mit der politischen<br />

Korrektheit? Dass wir uns lächerlich machen im berechtigten Bemühen, niemanden<br />

auszugrenzen und hinter jedem unschuldigen Wort das Böse zu vermuten? <strong>Cicero</strong>-Autor<br />

REINHARD MOHR beschleicht dieses Gefühl schon länger. Seinen Einspruch gegen den „Furor des<br />

Fortschritts“ lesen Sie AB SEITE 16.<br />

Den Konservativen in der Union geht dieser gesellschaftliche Fortschritt zu weit, wenn die<br />

eingetragene Lebenspartnerschaft Homosexueller der Hetero-Ehe gleichgestellt wird. Teile der<br />

CDU fordern das, aber Angela Merkel ist nun den Gegnern der völligen Gleichstellung gefolgt –<br />

und wird sich vom Bundesverfassungsgericht demnächst eines anderen belehren lassen müssen.<br />

So urteilt jedenfalls der frühere Verfassungsrichter UDO DI FABIO, der gemeinhin dem konservativen<br />

Lager zugerechnet wird (AB SEITE 26).<br />

Ein Hinweis in eigener Sache: Von nun an gibt es noch mehr <strong>Cicero</strong> fürs Geld. Zwischen<br />

Kapital und Salon hat jetzt der Stil als neues Ressort seinen Platz. Zum Geist kommt also<br />

der Genuss. LENA BERGMANN, die sich künftig um die Themen dieses Ressorts kümmert,<br />

hat den Erfolg der britischen Serie „Downton Abbey“ zum Anlass genommen, die<br />

Faszination des Country House in England und seinen Einfluss auf Design und Literatur zu<br />

analysieren (AB SEITE 98).<br />

Stil, bitte!, wird die neue Kollegin Ausgabe für Ausgabe einfordern. Die Forderung passt ganz<br />

gut zu der ein oder anderen Debatte, die über Bundespräsidenten oder T-Shirts hereinbricht.<br />

In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />

der römische Politiker und Jurist<br />

Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />

Freund Titus Pomponius Atticus<br />

das Herz ausgeschüttet<br />

Mit besten Grüßen<br />

Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 3


SEIT 1971 ÜBERZEUGT, DASS ES<br />

KEINE GESCHMACKVOLLERE<br />

FORTBEWEGUNG GIBT.<br />

NICHTS FÜR UNENTSCHLOSSENE. SEIT 1842.


I N H A L T | C I C E R O<br />

TITELTHEMA<br />

16<br />

VOM FUROR DES FORTSCHRITTS<br />

Sprachwächter, Sexistenjäger und Toilettenrevolutionäre: Im deutschen Frühling blüht die politische Korrektheit<br />

VON REINHARD MOHR<br />

ILLUSTRATION: LISA ROCK/JUTTA FRICKE ILLUSTRATORS<br />

24<br />

„ICH BIN GEGEN VERBOTE“<br />

Die Feministin Anna-Katharina Meßmer über Furien,<br />

Sexismus und ihren Brief an Gauck<br />

VON PETRA SORGE<br />

26<br />

KULTURKAMPF UM DIE HOMO-EHE<br />

Gegen die Gleichstellungslogik kann man kaum<br />

argumentieren. Aber muss sie auch ausgereizt werden?<br />

VON UDO DI FABIO<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 5


C I C E R O | I N H A L T<br />

30 Kampf ums Essen<br />

64 Spielen mit Härte<br />

82<br />

Hotel der Zocker<br />

BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />

30 | ALLES AUF DEN TISCH<br />

Anne Markwardt ist das neue Gesicht<br />

der Verbraucherlobby Foodwatch<br />

VON GEORG LÖWISCH<br />

50 | HE SPEAKS DEUTSCH<br />

Was ist vom neuen US-Außenminister<br />

John F. Kerry zu erwarten?<br />

VON CHRISTOPH VON MARSCHALL<br />

74 | YAHOOS TIGERMAMA<br />

Ihre Aktionen spalten die USA,<br />

Marissa Mayer rettet derweil Yahoo<br />

VON CHRISTINE MATTAUCH<br />

32 | MERKELSÖHNCHEN<br />

Muslim, Einwanderersohn und trotzdem<br />

CDU-Bundesvorstand: Younes Ouaqasse<br />

VON JULIA PROSINGER<br />

52 | KARATE KANN SIE AUCH<br />

Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite<br />

überzeugt durch Kompetenz<br />

VON PAUL FLÜCKIGER<br />

76 | WIR BRAUCHEN BASS<br />

Björn Stolls Instrumente aus dem<br />

„Musicon Valley“ sind weltweit gefragt<br />

VON STEFAN LOCKE<br />

34 | DIE GEGENSPIELERIN<br />

Hannelore Kraft ist die gefährlichste<br />

Kontrahentin der Kanzlerin aus der SPD<br />

VON FRITZ PLEITGEN<br />

54 | KAFFEEKLATSCH IN AACHEN<br />

Frans Timmermans will die holländische<br />

Außenpolitik neu ausrichten<br />

VON ROB SAVELBERG<br />

78 | GELD MACHT BLIND<br />

Daniel Vasella reformierte unfreiwillig<br />

das Schweizer Aktienrecht<br />

VON PETER HOSSLI<br />

38 | SOZI SUCHT FRAU<br />

Sind Spitzenfrauen in der SPD nur die<br />

Ausnahme? Ein Besuch in Bayern<br />

VON KATRIN WILKENS<br />

56 | WAS BLEIBT, IST DAS ÖL<br />

Hugo Chávez’ Tod und das Ende der<br />

Linkspopulisten in Lateinamerika<br />

VON CARLOS WIDMANN<br />

80 | ZURÜCK NACH MAASTRICHT<br />

Rettungsschirme und Staatsfinanzierung<br />

durch die EZB verlängern die Krise nur<br />

VON WOLFGANG KADEN<br />

40 | FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… wie sie sich gegen die<br />

Vegetarier wehren soll<br />

VON AMELIE FRIED<br />

42 | MEIN WUNSCHKABINETT<br />

In der <strong>Cicero</strong>-Wahlserie: Wenn eine<br />

Schriftstellerin die Regierung besetzt<br />

VON THEA DORN<br />

44 | DAS FDP-PARADOX<br />

Was hat der Kampf für Privilegien des<br />

Mittelstands mit dem freien Markt zu tun?<br />

VON GUNNAR HINCK<br />

48 | MEIN SCHÜLER<br />

Der ehemalige Lehrer Helmut Schnitter<br />

über Philipp Röslers schlechte Späße<br />

VON CONSTANTIN MAGNIS<br />

58 | ES WAR EINMAL EIN CLOWN<br />

Beppe Grillos Wahlerfolg hat viele<br />

verunsichert. Ein Blick hinter die Fassade<br />

VON PETRA RESKI<br />

64 | KEIN FOUL!<br />

Das Calcio Storico Fiorentino ist der<br />

härteste Mannschaftssport der Welt<br />

VON MICHAEL LÖWA<br />

72 | HERZLICH WILLKOMMEN!<br />

Ein Plädoyer für die Aufnahme der<br />

Türkei in die Europäische Union<br />

VON GERHARD SCHRÖDER<br />

82 | DAS ZOCKERHAUS IM SPESSART<br />

In einem Hotel am Main lernen<br />

Börsenspekulanten ihr Handwerk<br />

VON CONSTANTIN MAGNIS<br />

88 | BERGLER GEGEN FEUDALHERREN<br />

Das Schweizer Verdikt gegen die<br />

Abzocker entlarvt den Neofeudalismus<br />

VON FRANK A. MEYER<br />

FOTOS: GÖTZ SCHLESER, MICHAEL LÖWA, BERND HARTUNG; KARIKATUR: HAUCK & BAUER<br />

6 <strong>Cicero</strong> 4.2013


I N H A L T | C I C E R O<br />

98 Das Design der Landsitze 112<br />

Frankreichs neue Denker<br />

STIL<br />

SALON<br />

90 | DIE SUPERNASE<br />

Die Chemikerin Sissel Tolaas hat<br />

6703 verschiedene Düfte in ihrem Archiv<br />

VON ULRICH CLEWING<br />

106 | DER DRACHENTÖTER<br />

Sylvester Groth zwischen Hollywood,<br />

„Tatort“ und einem neuen RAF-Film<br />

VON INGO LANGNER<br />

130 | BIBLIOTHEKSPORTRÄT<br />

Hans-Olaf Henkel mag Jazz<br />

und Thomas Mann<br />

VON ALEXANDER KISSLER<br />

92 | DER BRENNT FÜR DIE SACHE<br />

Der Kunstkenner Christoph Keller<br />

destilliert ausgezeichneten Schnaps<br />

VON ALEXANDER MARGUIER<br />

97 | WARUM ICH TRAGE, WAS ICH TRAGE<br />

Weiße Kleider erfordern einen ganz<br />

anderen Mut als Schwarz<br />

VON BIBIANA BEGLAU<br />

108 | JEDER WILL WAS<br />

Lisa Kränzler malt sehr bunt und<br />

schreibt sonderbar berührende Bücher<br />

VON OLIVER JUNGEN<br />

110 | EIN STÖRENFRIED<br />

Peter Strohschneider verwaltet als DFG-<br />

Präsident über zwei Milliarden Euro<br />

VON ALEXANDER GRAU<br />

134 | DAS SCHWARZE SIND<br />

DIE BUCHSTABEN<br />

Wie viel Berlin passt eigentlich<br />

zwischen zwei Buchdeckel?<br />

VON ROBIN DETJE<br />

136 | DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />

Sterben, ein Scheißdreck<br />

VON SIBYLLE BERG<br />

FOTOS: HIGHCLERE ENTERPRISES LLP 2013, THOMAS GOISQUE, ILLUSTRATION: CHRISTOPH ABBREDERIS<br />

98 | PRUNK UND PATINA<br />

Das Country House fasziniert über die<br />

Erfolgsserie „Downton Abbey“ hinaus<br />

VON LENA BERGMANN<br />

103 | DIE NEO-TRADITIONALISTEN<br />

Ein Londoner Paar schöpft Ideen aus<br />

dem Design englischer Landsitze<br />

104 | KÜCHENKABINETT<br />

Lauwarmes Essen ist in Restaurants<br />

heutzutage keine Schande mehr<br />

VON JULIUS GRÜTZKE UND THOMAS PLATT<br />

112 | SPALTE DAS HOLZ, LIEBE DAS LEBEN<br />

In Frankreich wächst eine neue<br />

Generation lustvoller Denker heran<br />

VON ALEXANDER PSCHERA<br />

119 | BENOTET<br />

Gibt es klassische Musik überhaupt?<br />

VON DANIEL HOPE<br />

120 | MAN SIEHT NUR, WAS MAN SUCHT<br />

Leonardos „Letztes Abendmahl“<br />

steht im Fokus vieler Künste<br />

VON BEAT WYSS<br />

122 | DILETTANTEN AUF THRONEN<br />

Im Sprechtheater herrscht der Zynismus<br />

VON IRENE BAZINGER<br />

124 | POSSE UM MARIA<br />

Ein Kölner Museum stellt beharrlich<br />

eine falsche Madonna aus<br />

VON ROLF SCHMIDT<br />

128 | WEHRLOS, ABER NICHT EHRLOS<br />

Die SPD stimmte 1933 gegen<br />

das Ermächtigungsgesetz<br />

VON PHILIPP BLOM<br />

Standards<br />

ATTICUS —<br />

Von Christoph Schwennicke — SEITE 3<br />

STADTGESPRÄCH — SEITE 8<br />

FORUM — SEITE 12<br />

IMPRESSUM — SEITE 94<br />

POSTSCRIPTUM —<br />

Von Alexander Marguier — SEITE 138<br />

Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />

erscheint am 25. April 2013<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 7


C I C E R O | S T A D T G E S P R Ä C H<br />

ILLUSTRATIONEN: CORNELIA VON SEIDLEIN<br />

STIPENDIATEN DER VILLA MASSIMO zeigen ihre Arbeiten, Steffen Bilger ist<br />

CDU-Nachwuchsstar aus Südwest, das Parlament verliert einen großen Kicker, dafür<br />

gewinnt Schavan einen Job, und Gauck gibt seinen Reden selbst den letzten Schliff<br />

VILLA MASSIMO IN BERLIN:<br />

KUNST UND KÄSE<br />

E<br />

S WAR EINER der feineren Termine<br />

der Berliner Hochkultur, eine<br />

Sause der Bell’Arte: Die Deutsche<br />

Akademie Villa Massimo lud zur Abschlussfeier<br />

in den Martin-Gropius-Bau.<br />

Ein Massimo-Stipendium in Rom ist eine<br />

hochbegehrte Auszeichnung für junge<br />

deutsche Künstler. Sie sollten an diesem<br />

Abend dem Bundespräsidenten Joachim<br />

Gauck und einem ebenso kunstbeflissenen<br />

wie ehrfürchtigen Publikum vorführen,<br />

was sie in dem vom deutschen Steuerzahler<br />

finanzierten römischen Jahr zuwege<br />

gebracht hatten.<br />

Viele allerdings verloren die Ehrfurcht<br />

bereits in dem Menschenknäuel vor der<br />

Glastür, die den Vorraum vom Veranstaltungssaal<br />

trennte. Dort nämlich ließ ein<br />

grimmiger Sicherheitsmann niemanden –<br />

außer dem ebenfalls verspäteten Akademiedirektor<br />

– passieren. Wer mit Glück<br />

doch irgendwie durch den Türspalt tröpfelte,<br />

konnte beim Blick zurück<br />

ein sich gegen die<br />

Glaswand pressendes, ineinander verhaktes<br />

und mit sich ringendes Gewimmel bestaunen,<br />

das an die Laokoon-Gruppe erinnerte.<br />

Der Blick nach vorn zum Rednerpult<br />

war nicht minder ernüchternd. Ein fleischiger<br />

Villadirektor, ein salbungsvoller<br />

Sparkassenpräsident, eine Stipendiatin, die<br />

über Pilze referierte. Fast konnte man neidisch<br />

sein auf die zwei Buben, die in der<br />

letzten Reihe umherrutschten und kleine<br />

Spielzeugmopeds über den Marmorboden<br />

schoben.<br />

Als die Funghi-Frau fertig war, servierten<br />

Köche müffelnde Käse-Lollipops und<br />

zerbröselnden Parmesan an Spießchen.<br />

Fürs Ohr gab’s auch etwas: Ein Streichquartett<br />

stimmte fast eine Viertelstunde<br />

lang die Instrumente – die 14 Minuten<br />

waren das Konzert.<br />

Und das Bundespräsidentenpaar lächelte<br />

sich durch die Ausstellungsräume.<br />

Gucken, Nicken, Händeschütteln. In den<br />

majestätischen Hallen fand sich alles, was<br />

auch in eine der vorgestellten italienischen<br />

Sieben-Quadratmeter-Wohnungen gepasst<br />

hätte: ein paar Lumpen, etwas Geschirr,<br />

ein gestrickter Uhu. Dazu ein weißes<br />

kubistisches Oval, das in der<br />

Raummitte baumelte.<br />

„Als Lampe<br />

ginge das ja noch“, befand Hermann<br />

Kleinknecht, „aber als Kunst?“ Der Bildhauer,<br />

Maler und Filmemacher, der 1976<br />

selbst einmal Akademiestipendiat war und<br />

sich nur „Handwerker“ nennt, fasste den<br />

Abend denn auch kurz und zutreffend zusammen:<br />

„Völlig aufgeblasen.“ ps<br />

CDU-STAR IN SÜDWEST:<br />

SEKT ZUR KATASTROPHE<br />

D<br />

E R ABGEOR DNET E vom<br />

Katastrophenverband bietet erst<br />

mal ein Gläschen Sekt an. Kurz<br />

nach halb eins, wir sind im Berliner Bundestagsbüro<br />

von Steffen Bilger zu Besuch.<br />

Es gibt dort zwar auch eine Kaffeemaschine,<br />

aber hey: Bilger ist gerade 34 geworden,<br />

und zum Geburtstag hat ihm ein<br />

Parteifreund eine schöne Flasche<br />

geschenkt, Weingut<br />

Beck in<br />

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Brackenheim. Bilger gehört der CDU Baden-Württemberg<br />

an, jener einst erfolgreichen<br />

Parteigliederung, die seit 2011 von<br />

einem Malheur ins nächste rasselt, von<br />

Mappus zu Turner und von Mappus zu<br />

Schavan. Leise ereignet sich dagegen der<br />

Machtzuwachs dieses jungen Mannes, der<br />

mit seinem Abiturientenlächeln und seinem<br />

manierlichen Scheitel so aussieht, wie<br />

ein linker Karikaturist einen Nachwuchsstar<br />

der Jungen Union zeichnen würde.<br />

Das ist Steffen Bilger.<br />

Während Thomas Strobl, der geplagte<br />

Vorsitzende der CDU Baden-Württemberg,<br />

über jede mappusfreie Woche heilfroh ist,<br />

kann Bilger lässig darauf verweisen, dass<br />

seine Beziehung zu Stefan Mappus bereits<br />

seit 2007 vorbei ist. Bilger, damals Nachwuchsstar<br />

der Jungen Union, führte seinerzeit<br />

mit Mappus einen Richtungsstreit<br />

um die Einführung des Führerscheins für<br />

17-Jährige. Als neulich eine SMS bekannt<br />

wurde, in der Mappus den Landesverband<br />

einen Scheißverein schimpfte, fragte Bilger<br />

in der Presse, ob Mappus eigentlich<br />

noch CDU-Mitglied bleiben müsse. So<br />

generiert er Aufmerksamkeit, aber weil er<br />

nie ein Mappus-Mann war, wirkt das nicht<br />

opportunistisch. „Es hat mich so geärgert,<br />

dass er wieder nur eine Angriffsstrategie<br />

gefahren hat“, erklärt er gut gelaunt beim<br />

Sekt in Berlin. Das alte Regime? Hatte er<br />

nichts mit zu tun.<br />

So gelang ihm in den Wirren nach der<br />

Landtagswahlpleite 2011 auch der Aufstieg<br />

zum Vorsitzenden des CDU-Bezirks Nordwürttemberg.<br />

Klingt kleinteilig, bedeutet<br />

aber Einfluss. Die CDU Nordwürttemberg<br />

zählt 22 000 Mitglieder.<br />

So viele hätten<br />

die Landesverbände<br />

von Sachsen und Sachsen-Anhalt<br />

nicht einmal dann, wenn sie ihre Mitglieder<br />

zusammenschmeißen würden. Ein<br />

Fürstentum vom liberalen Stuttgart bis ins<br />

knorrige Taubertal. Bilger, Wehrdienstverweigerer<br />

mit Deutschlandflagge im Büro,<br />

bedient sie alle. „Ich geh in jeden Ortsverband,<br />

der mich einlädt“, sagt er. 400 gibt<br />

es, fünf schafft er pro Monat, bald sind die<br />

100 voll. Und wie gesagt, er ist gerade erst<br />

34 geworden. löw<br />

KAPITÄN ÜBER BORD:<br />

KICKER FÜHRUNGSLOS<br />

D<br />

ER DEUTSCHE Bundestag wird<br />

nach der Bundestagswahl erheblich<br />

geschwächt – nicht politisch,<br />

sondern fußballerisch: Weil nämlich der<br />

CDU-Abgeordnete Klaus Josef Riegert<br />

nicht mehr dem Parlament angehören<br />

wird und somit auch nicht mehr für den<br />

FC Bundestag zum Kicken auflaufen kann.<br />

Riegert war Mannschaftskapitän seit<br />

1997, operierte in 311 Spielen<br />

als Mittelstürmer.<br />

Er schoss<br />

298 Tore und gilt als glänzender politischer<br />

Kontaktmann in Fragen der Verbands- und<br />

Sportpolitik, wo er auch weiterhin aktiv<br />

sein will. Außerdem war er dieser Tage Angela<br />

Merkel politisch sehr behilflich, weil er<br />

vorzeitig auf seinen Sitz im Entwicklungshilfeausschuss<br />

verzichtete, sodass die Kanzlerin<br />

dort Ex-Ministerin Annette Schavan,<br />

ihre Freundin, unterbringen konnte. Das<br />

wiederum wird unionsintern als Signal<br />

dafür gewertet, dass Schavan als Entwicklungshilfeministerin<br />

ins Kabinett zurückkehren<br />

könnte, falls es nach der Bundestagswahl<br />

nicht mehr zu Schwarz-Gelb<br />

reicht, sondern nur zu einer Großen Koalition<br />

mit der SPD.<br />

Großkoalitionär sind die Balltreter sowieso.<br />

Riegert rühmt den FC Bundestag<br />

als „Hort der Stabilität“, denn der Fußball<br />

führe über die Fraktionsgrenzen hinweg zu<br />

Kooperation. „Wenn man zuweilen auch<br />

nackt unter der Dusche steht, geht man tolerant<br />

miteinander um. Da sind alle gleich.“<br />

Zurzeit kicken Ballkünstler aller Parteien<br />

im FC Bundestag mit – nur die Grünen<br />

fehlen. Deren letzter Star war Joschka Fischer.<br />

Auch Wolfgang Schäuble war vor<br />

dem Attentat Stammspieler. Er spielte<br />

am liebsten wo? Na klar, auf<br />

Linksaußen. Und<br />

pflegte den


C I C E R O | S T A D T G E S P R Ä C H<br />

Verteidiger ihm gegenüber, ehe er zum<br />

Flankenlauf antrat, mit dem Ruf zu provozieren:<br />

„Na, kommscht’ mit mir mit?“<br />

So mache er auch heute noch Politik, behauptet<br />

Riegert. tz<br />

PRÄSIDENTEN-REDEN:<br />

DER CHEF FEILT SELBST<br />

S<br />

EIT SEINER WAHL am 18. März<br />

2012 hat Bundespräsident Joachim<br />

Gauck öffentlich 94 Reden<br />

gehalten. Einiges blieb haften, zum Beispiel<br />

seine Mahnung an die Banker,<br />

bei allem berechtigten<br />

Streben<br />

nach Gewinn ökologische und soziale Belange<br />

nicht aus dem Blick zu verlieren:<br />

„Schwarze Zahlen sind kein Grund, rote<br />

Linien zu überschreiten.“ Oder sein Appell,<br />

Hersteller zu boykottieren, die unter<br />

unmenschlichen Arbeitsbedingungen<br />

arbeiten lassen: „Wie lange greifen Europäer<br />

noch zu Jeans für zehn Euro, obwohl<br />

sie wissen, dass die Allerärmsten in Asien<br />

einen hohen Preis dafür zahlen, mit ihrer<br />

Gesundheit oder ihrer Menschenwürde?“<br />

Wie kommen solche erstaunlichen Sätze in<br />

eine offizielle Rede des Bundespräsidenten?<br />

Gut möglich, dass der einstige Pfarrer sie<br />

selbst erst in das Manuskript eingefügt hat,<br />

das ihm seine „Schreibstube“ – der von<br />

dem Theologen und Ökonomen<br />

Wolfgang Stierle<br />

geführte „Planungs-<br />

und Redenstab“ – regelmäßig liefern<br />

muss. Fünf Ghostwriter sitzen in<br />

diesem Stab und müssen das Material<br />

verarbeiten, das ihnen aus den Referaten<br />

des Präsidialamts zugeliefert wird – keine<br />

leichte Aufgabe, das oft sperrige Beamtendeutsch<br />

in griffige Sätze zu verwandeln.<br />

Manchmal holt sich der Präsident auch externen<br />

Rat von prominenten Philosophen,<br />

Schriftstellern oder Historikern, wenn er –<br />

wie jüngst – öffentlich über die Zukunft<br />

Europas nachdenkt. Den letzten<br />

Feinschliff aber, sagt<br />

ein Insider,<br />

ILLUSTRATION: CORNELIA VON SEIDLEIN<br />

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esorge der Präsident bei der Vorbereitung<br />

seiner öffentlichen Auftritte immer selbst. „Er<br />

hat eine feste Vorstellung von dem, was er sagen<br />

will. Aber er ist offen für Gegenargumente.<br />

Beratungsresistent ist er<br />

jedenfalls nicht.“ hp<br />

Der neue BMW Z4<br />

www.bmw.de/Z4<br />

Freude am Fahren<br />

FORDERND<br />

blickt der neue BMW Z4 nicht nur die Straße an. Auch seinen Betrachter.<br />

Und dabei ist seine Forderung eindeutig: Fahr mich!<br />

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Kraftstoffverbrauch in l/100 km (kombiniert): 9,4–6,8. CO 2 -Emission in<br />

g/km (kombiniert): 219–159. Als Basis für die Verbrauchsermittlung gilt<br />

der ECE-Fahrzyklus. Abbildung zeigt Sonderausstattungen.


C I C E R O | L E S E R B R I E F E<br />

FORUM<br />

Über Heimwerker und Journalisten, die Energiewende und die USA<br />

ZUM BEITRAG „ICH BI N SCHON AUCH<br />

MUTIG“, INTERV IEW MIT WIN FRIED<br />

K RETSCHMANN/MÄR Z 2013<br />

GRENZEN NÖTIG<br />

Es spricht für Herrn Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg,<br />

wenn er für sich den Anspruch auf eine eigene Vorstellung von Gesellschaft bewahrt<br />

und es für ihn Grenzen der Kompromissbereitschaft gibt. Auch sein Leitsatz<br />

„keine Freiheit ohne Verantwortung“ gefällt. Höchstes Ziel sei es, dass junge Menschen<br />

zum selbstständigen Denken und Handeln geführt werden. Wie aber will er<br />

diesen angestrebten Bildungserfolg ausschließlich mit der verstärkten Errichtung<br />

von Ganztagsschulen erreichen, ihn gänzlich abkoppeln von der Erziehung innerhalb<br />

der Familie?<br />

Eduard Biedermann, Hamburg<br />

wird den Sachverhalt je ändern können.<br />

Es gibt nur einen Ausweg aus der selbst<br />

verschuldeten Sackgasse: Strom importieren,<br />

und zwar im erheblichen Umfang<br />

und langfristig die Erneuerbaren ersetzend.<br />

Wir importieren Kohle, Öl und<br />

Gas. Es gibt keinen Grund, nicht auch<br />

Strom zu importieren, zumal die infrage<br />

kommenden Lieferanten politisch zuverlässiger<br />

sind als zum Beispiel bei Gas.<br />

Horst Steinmetz, Frankfurt/Main<br />

SCHRECKLICHE IGNORANZ<br />

Wenn man schon von „Lügen“ spricht,<br />

dann sollte man vermeiden, selbst einen<br />

Artikel in die Welt zu setzen, der von<br />

Halbwahrheiten, Unterstellungen und<br />

Verdrehungen der Tatsachen nur so<br />

strotzt. Die Ignoranz, die hier sichtbar<br />

wird, ist schon erschreckend … Was ist<br />

nur aus Ihrer Zeitschrift geworden?<br />

Gerhard Leuner, Halstenbek<br />

ZUM BEITRAG „DAS<br />

S CHW EIG EN DER LÄMMER“ VON<br />

F RAN K A. M E Y ER/MÄR Z 2013<br />

NUR NOCH LABERTASCHEN?<br />

Muss man davon ausgehen, dass der<br />

deutsche Journalismus so mittelmäßig<br />

ist, wie es zurzeit rüberkommt? Nur<br />

halbgebildete Labertaschen in den Talkshows!<br />

Unsäglicher Schwachsinn! Wann<br />

hört das auf? Für mich hat der Stern<br />

den Vogel abgeschossen: Die Brüderle-<br />

Geschichte war ja wohl das Allerletzte.<br />

Elisabeth Gutmann, Frankfurt/Main<br />

ZUM BEITRAG „DIE NEUE<br />

G OTTSCHALK“ VON DA N IEL HAAS/<br />

MÄR Z 2013<br />

SELTSAME WORTWAHL<br />

Schade, dass Herrn Haas bei der<br />

Beschäftigung mit der Kunstfigur<br />

„Cindy aus Marzahn“ nichts Intelligenteres<br />

eingefallen ist, als Ilka Bessin auf<br />

ihr Aussehen zu reduzieren und sie in<br />

seinem Beitrag in immer neuen Varianten<br />

zu beleidigen. Da hat sich der selbst<br />

ernannte „Kulturbürger“ als das perfekte<br />

Klischee des von ihm beschriebenen<br />

„Prekarisierten“ inszeniert. Schade auch,<br />

dass mir die <strong>Cicero</strong>-Redaktion solchen<br />

„Trash“ als „Kreativität“ verkaufen will.<br />

Dr. Stephan Voß, Senden (Westfalen)<br />

ZUM BEITRAG „LÜGEN, DASS ES<br />

KRACHT“ VON CLAUDIA KEMFERT/<br />

F EB RUAR 2013<br />

STROM IMPORTIEREN<br />

Die Fakten beweisen, eine versorgungssichere<br />

wettbewerbsfähige Stromversorgung<br />

ist mit Wind und Sonne nicht<br />

möglich … Kein politischer Beschluss<br />

LESENSWERTES BUCH<br />

Aufgrund Ihres Artikels „Die Wahrheit<br />

über die Energiewende“ habe ich mir<br />

das Buch von Frau Claudia Kemfert<br />

„Kampf um Strom“ gekauft. Dieses<br />

Buch sollten alle Politiker und sonstige<br />

Wirtschaftsfachleute lesen, die sich mit<br />

der Energiewende beschäftigen. Dr. Rösler<br />

wird es wahrscheinlich nicht lesen,<br />

da er „beratungsresistent“ ist und nur<br />

auf seine Lobbyisten hört. Der Umbau<br />

der Energielandschaft muss in einem<br />

Ministerium vereinigt sein, und das ist<br />

hier das Bundesumweltministerium mit<br />

der vollen Unterstützung der Kanzlerin.<br />

Felix Kötting, Havixbeck<br />

„UTOPIE ENERGIEWENDE“<br />

Ich habe zu jedem Ihrer Argumente ein<br />

Gegenargument gefunden. Die Schat-<br />

ILLUSTRATION: CORNELIA VON SEIDLEIN<br />

12 <strong>Cicero</strong> 4.2013


C I C E R O | L E S E R B R I E F E<br />

N ACHLESE<br />

GRÜNE TÜFTLER<br />

Spaßvögel fordern kommunale<br />

Baumärkte<br />

Baden-Württembergs Ministerpräsident<br />

Wilfried Kretschmann<br />

(hier beim Studium des <strong>Cicero</strong>)<br />

liebt Baumärkte und entspannt<br />

sich am liebsten beim häuslichen<br />

Werkeln mit Schlagbohrer, Hammer,<br />

Schraubenzieher und Zollstock.<br />

Das Bekenntnis des grünen<br />

Hobby-Handwerkers im <strong>Cicero</strong>-<br />

Interview animierte ein paar seiner<br />

Parteifreunde im Landtag,<br />

spaßeshalber einen Antrag nach<br />

den Regeln des Parlaments zu formulieren.<br />

Die Landesregierung,<br />

heißt es darin, möge berichten,<br />

„ob eine flächendeckende Versorgung<br />

baden-württembergischer<br />

Handwerker mit qualitativ hochwertigen<br />

und ökologisch-nachhaltigen<br />

Werkzeugen – beispielsweise<br />

Schlagbohrmaschinen – gewährleistet<br />

ist“, und gleichzeitig prüfen,<br />

„wie Baumärkte innerhalb der<br />

baden-württembergischen Landesgrenzen<br />

unter Verwaltung der<br />

Kommunen gestellt werden können“.<br />

Die Antragsteller regen die<br />

Einsetzung einer Enquetekommission<br />

an, die unter „Leitung des<br />

MP Kretschmann“ entsprechende<br />

Gesetzesvorlagen erarbeiten soll.<br />

Insbesondere solle geprüft werden,<br />

„inwieweit private Initiativen<br />

zum Bau und zur Bereitstellung<br />

von Nistkästen“ von Baumärkten<br />

abhängig sind. Baumärkte, heißt<br />

es in der Begründung, seien bei<br />

der „Sicherung lokal bedrohter<br />

Vogelbestände“ von „elementarer<br />

Bedeutung“. Red.<br />

tenseiten der „Utopie Energiewende“,<br />

wie die Zerstörung des Landschaftsbildes<br />

durch Windräder, der Alpentäler<br />

durch die unbedingt notwendigen<br />

Pumpspeicherkraftwerke für die volatile<br />

Energieerzeugung via Fotovoltaik und<br />

Windkraft, die Vergiftung unseres<br />

Grundwassers durch die Pestizide im<br />

Maisanbau, die Ausbeutung der unteren<br />

Gesellschaftsschichten über das EEG,<br />

übergeht Frau Kemfert ganz oder karikiert<br />

sie.<br />

Johann Wagner, München<br />

ZUM BEITRAG „FRAU FRIED<br />

FRAGT SICH“ VON AMELIE FRIED/<br />

F EB RUAR 2013<br />

ZU VIEL MISSTRAUEN<br />

Frau Fried hat den Nagel auf den Kopf<br />

getroffen! Ich komme gerade aus Florida<br />

zurück, wo ich 27 Winter von 1978 bis<br />

2005 als Snowbird gelebt habe und froh<br />

bin, die schöne Vergangenheit erlebt<br />

zu haben. Heute möchte ich dort nicht<br />

mehr leben wegen der vielen Schikanen<br />

und des Misstrauens gegenüber Fremden,<br />

die seit dem 11. 09. 2001 (Nine-Eleven)<br />

immer schlimmer geworden sind.<br />

Edith Staunau, Sylt<br />

LIEBENSWERTE NACHBARN<br />

Wir sind vor anderthalb Jahren nach<br />

Des Moines/Iowa gezogen. Wir haben<br />

hier unglaublich freundliche, hilfsbereite<br />

Amerikaner kennengelernt. Die Amerikaner<br />

lieben ihr Land, hassen staatliche<br />

Steuern und zahlen klaglos horrende<br />

Grundsteuern. Es ist unglaublich, wie<br />

viel Geld Amerikaner spenden, wie viel<br />

Zeit und Energie sie in Ehrenämter<br />

investieren, sich freiwillig einsetzen für<br />

Kranke, Obdachlose, Behinderte, Kinder,<br />

Benachteiligte, Kunst, Bildung. Ja, es gibt<br />

hier viele Dinge, die irritieren, nerven<br />

und einen erschrecken – aber so ist das<br />

wohl immer, wenn man sich in einem<br />

anderen Land aufhält. Ach, und wie war<br />

das doch gleich vor 30 Jahren in den<br />

USA, mit den Schwulen und Lesben, den<br />

Rechten von Frauen und Farbigen, der<br />

Todesstrafe, dem Umweltbewusstsein, der<br />

Kriminalität in den Innenstädten, den<br />

Armen und den Reichen?<br />

Lutz Schüppenhauer, Des Moines, USA<br />

NUR DIE HALBE WAHRHEIT<br />

Ihre Argumentation, die USA als Land<br />

der Waffennarren, religiösen Fanatiker<br />

und perversen Kapitalisten darzustellen,<br />

kann ich nicht nachvollziehen. Denn<br />

das ist schließlich höchstens die halbe<br />

Wahrheit. Die andere Seite der Medaille<br />

zeigt ein Land, das seit nunmehr vier<br />

Jahren von einem jungen afroamerikanischen<br />

Präsidenten regiert wird, der<br />

sich für die Gleichstellung von Homosexuellen<br />

einsetzt, erstmals eine bundesweite<br />

staatliche Krankenversicherung<br />

eingeführt hat, für schärfere Waffengesetze<br />

plädiert und Klimaschutz sowie<br />

Einwanderungsreform auf die politische<br />

Agenda der nächsten vier Jahre gesetzt<br />

hat. Dieses bunte, fortschrittliche und<br />

progressive Amerika lassen Sie in Ihrer<br />

Kolumne völlig außer Acht.<br />

Christian Semmler, Berlin<br />

ZUM BEITRAG „VERDERB TER<br />

GEIST“ VON LUDW I G POULLAIN/<br />

F EB RUAR 2013<br />

SELTSAME WORTWAHL<br />

Geht schon in Ordnung, dass ein „Insider“<br />

, wie Ludwig Poullain, mit spitzer<br />

Feder „Ross und Reiter“ nennt. Ob er<br />

dabei auf Vokabeln wie „artverfremdet“<br />

und „Blut und Boden“ zurückgreifen<br />

muss, um einen Banker zu charakterisieren,<br />

„nur“ (davon gehe ich mal<br />

aus) weil dieser „Ackermann“ heißt?<br />

Eine solche Wortwahl scheint mir<br />

eine Frage keines guten Geschmacks<br />

zu sein. Der Verfasser ist alt genug,<br />

um über ausreichende Kenntnisse in<br />

deutscher Geschichte zu verfügen und<br />

zu wissen, dass diese Begriffe aus jener<br />

nicht näher zu erläuternden Zeit anders<br />

konnotiert sind.<br />

Werner Kaltefleiter, Wiesbaden<br />

(Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.)<br />

ILLUSTRATION: CORNELIA VON SEIDLEIN<br />

14 <strong>Cicero</strong> 4.2013


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Künstlern und Talenten der großen Hochschulen, hat sich<br />

LUMAS ganz der Idee gewidmet, inspirierende Kunst im<br />

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LUMAS.DE


T I T E L<br />

VOM FUROR DES<br />

FORTSCHRITTS<br />

Homo-Ehe, Sexismus-Streit, ein gesäubertes Vokabular – und<br />

Einheitstoiletten als Symbol gegen die Repression: Es triumphiert die<br />

Avantgarde der progressiven Gesinnung. Wer dabei nicht mitmachen will,<br />

stellt sich ins gesellschaftliche Abseits. Nachrichten aus dem politisch<br />

korrekten deutschen Frühling<br />

VON REINHAR D MOH R<br />

16 <strong>Cicero</strong> 4.2013


4.2013 <strong>Cicero</strong> 17


T I T E L<br />

S<br />

EIT EH UND JE steht der Berliner<br />

Bezirk Kreuzberg im berechtigten<br />

Verdacht, ein quicklebendiges<br />

Laboratorium sozialer Utopien<br />

zu sein. Nirgendwo sonst<br />

wurden in den achtziger Jahren so viele<br />

Häuser besetzt, nirgendwo sonst hatte<br />

die konkrete Anarchie des Alltags so viel<br />

Auslauf, und nirgendwo sonst wurde der<br />

1. Mai, internationaler „Kampftag“ der Arbeiterklasse,<br />

derart beim Wort genommen.<br />

So war es nur konsequent, dass diese revolutionäre<br />

Tradition auch nach der politisch<br />

zunächst verschmähten Wiedervereinigung<br />

mit dem Ostberliner Bezirk Friedrichshain<br />

fortgesetzt wurde.<br />

Unter der doppelten Regentschaft<br />

des Königs von Kreuzberg, Christian<br />

Ströbele I., und seines grünen Bezirksbürgermeisters<br />

Franz Schulz geht FriedrichshainKreuzberg<br />

seinen anti imperialistischökofeministisch-multikulturellen<br />

Weg<br />

unbeirrt weiter. Die letzte Errungenschaft<br />

ist erst ein paar Wochen alt: die Unisex-Toilette.<br />

In der Drucksache Nr. DS/0550/IV<br />

der Bezirksverordnetenversammlung heißt<br />

es, dass diese neuartigen Toilettenanlagen<br />

in öffentlichen Gebäuden von Menschen<br />

benutzt werden sollen, „die sich (1) entweder<br />

keinem dieser beiden Geschlechter zuordnen<br />

können oder wollen oder aber (2)<br />

einem Geschlecht, das sichtbar nicht ihrem<br />

biologischen Geschlecht entspricht“. Spontan<br />

fallen einem hier etwa die Dschungelkämpferin<br />

Olivia Jones ein, womöglich<br />

auch Tony Marshall und Jens Riewa.<br />

Selbstverständlich belassen es die Kräfte<br />

des Fortschritts nicht bei vergleichsweise<br />

banalen Handreichungen im Zuge der unzweifelhaft<br />

komplexer gewordenen Verrichtung<br />

menschlicher Notdurft. Nein, sie liefern<br />

höhere Soziologie, Erkenntnistheorie<br />

und Metaphysik gleich mit. Die Unisex-<br />

Toilette verhindere eine tendenziell repressive<br />

„Selbstkategorisierung in das binäre<br />

Geschlechtersystem“. Originalton Drucksache<br />

DS/0550/IV: „Das kann selbst für<br />

Menschen, die sich prinzipiell zuordnen<br />

können, dazu aber nicht ständig angehalten<br />

werden möchten, angenehm sein. Sie<br />

regen außerdem dazu an, über Geschlechtertrennungen<br />

im Alltag nachzudenken.“<br />

Ein Quantensprung: die Toilette als<br />

Ort der Selbstreflexion, Ausgang aus der<br />

selbst verschuldeten Unmündigkeit. Wenn<br />

Immanuel Kant davon gewusst hätte, wäre<br />

Königsberg zum Clochemerle Preußens<br />

geworden. Der kategorische Imperativ als<br />

dringende Bedürfnisklärung: Wo pinkle<br />

ich, wer bin ich, und wenn ja, wie viele?<br />

Endlich sind reaktionär verkürzte und polemisch-chauvinistische<br />

Selbstzuschreibungen<br />

jenseits des Gender-Mainstreaming<br />

wie „Ich muss mal!“ passé. Wie lange haben<br />

wir auf diese Befreiung gewartet!<br />

„Deutschland – Land der Ideen“ lautete<br />

das Motto zur Fußballweltmeisterschaft<br />

2006. Damals wurde es von nicht<br />

wenigen belächelt. Heute sehen wir, dass<br />

es keine leere Parole war. „Völker der Welt,<br />

schaut auf diese Stadt!“, möchte man mit<br />

Ernst Reuter ausrufen. In Friedrichshain-<br />

Kreuzberg beginnt die Zukunft schon<br />

jetzt. Einen Flughafen braucht es dafür<br />

am allerwenigsten.<br />

Im Frühling 2013 aber fegt der frische<br />

Sausewind des unaufhaltsamen Fortschritts<br />

in ganz Deutschland die letzten<br />

Reste konservativ-reaktionärer Verkrustungen<br />

hinweg. Obwohl in Berlin eine Eiserne<br />

Lady regiert, die Europa unter der<br />

Knute ihres unbarmherzigen Spardiktats<br />

in Angst und Schrecken hält, übt sich die<br />

deutsche Gesellschaft derzeit in einem<br />

täglichen Wettlauf um mehr Weltoffenheit,<br />

Liberalität und progressive Gesinnung.<br />

Schon die „Sexismus“-Debatte hat<br />

gezeigt, dass nun auch die letzten Winkel<br />

frauenfeindlicher Einstellungen gnadenlos<br />

ausgeleuchtet werden, selbst in den Redaktionen<br />

der führenden Nachrichtenmagazine<br />

und Illustrierten. Der Stern etwa erwägt,<br />

will man Gerüchten glauben, die<br />

ILLUSTRATIONEN: LISA ROCK/JUTTA FRICKE ILLUSTRATORS (SEITEN 16 BIS 18)<br />

18 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Einstellung einer Frauenbeauftragten, die<br />

auch die Gestaltung allzu busenlastiger Titelbilder<br />

überwachen soll. Schließlich hat<br />

die Auseinandersetzung über Sexismus sogar<br />

den Bundespräsidenten erreicht, der gewagt<br />

hatte, das Wort vom „<strong>Tugendfuror</strong>“<br />

in den Mund zu nehmen.<br />

„Durch die Verwendung dieses Wortes“,<br />

so schrieben sieben empörte junge Frauen,<br />

darunter Protagonistinnen der #Aufschrei-<br />

Debatte, in einem offenen Brief an Joachim<br />

Gauck, „bringen Sie erniedrigende,<br />

verletzende oder traumatisierende Erlebnisse<br />

sowie das Anliegen, diese Erfahrungen<br />

sichtbar zu machen, in Verbindung mit<br />

dem Begriff Furie.“ Da das Wort verwendet<br />

werde, um die Wut der Frauen lächerlich<br />

zu machen, bediene er „jahrhundertealte<br />

Stereotype über Frauen“. Die Idee zum<br />

Brief hatte die 23-jährige Studentin Jasna<br />

Lisha Strick: „Wenn man so ein supereigenartiges<br />

Wort wie <strong>Tugendfuror</strong> liest, tut<br />

das weh und macht wütend.“<br />

Vielleicht wären Schmerz und Wut ein<br />

wenig kleiner gewesen, hätte frau zuvor mal<br />

kurz in den Duden geschaut. Womöglich<br />

wäre ihr dann der Gedanke gekommen,<br />

dass Gauck mit diesem supereigenartigen<br />

Wort vor allem die Raserei, also den Furor<br />

unserer medialen Erregungs- und Entrüstungsgesellschaft<br />

meinte, deren Talkshows<br />

sich binnen weniger Tage in eine Art virtuelles<br />

Dauertribunal hineingesteigert haben,<br />

das kaum weniger hysterisch und heuchlerisch<br />

war als die Revolutionstribunale von<br />

Fouquier-Tinville und Robespierre zwischen<br />

1793 und 1794.<br />

Doch auf derart feine Unterscheidungen<br />

kann der rasende Fortschritt keine<br />

Rücksicht nehmen. Das gilt nicht zuletzt<br />

für unsere Essgewohnheiten, die nicht<br />

bleiben können, wie sie sind. Täglicher<br />

Fleischkonsum, und sei es nur die bayerische<br />

Wurstsemmel in der Brotzeit – weg<br />

damit! Donnerstag ist „Veggie-Tag“, auch<br />

am Münchner Viktualienmarkt und in der<br />

weiß-blauen Landtagskantine. Die einzige<br />

Frage ist: Darf man „Mohrrübchen“ oder<br />

„Schwarzwurzeln“ anbieten?<br />

Völlig klar ist dagegen: Die „kleine Hexe“<br />

oder „zehn kleine Negerlein“ im Kinderbuch<br />

– das geht gar nicht. Auch der historische<br />

Begriff der „Hexenverbrennung“<br />

muss überdacht werden. Selbst die katholische<br />

Kirche hat ja ihre „Heilige Inquisition“<br />

schon in die unverfängliche „Glaubenskongregation“<br />

verwandelt. Besorgte<br />

Sozialpädagogen fordern längst die systematische<br />

Durchkämmung aller Kinderbücher<br />

nach 1918. Und was ist eigentlich mit<br />

Lukas, dem Lokomotivführer (!), der mit<br />

seiner „Emma“ (!) durch Lummerland (!)<br />

gondelt, um am Ende noch den kleinen Jim<br />

Knopf in die dampfend-stählerne (!) Männerdomäne<br />

(!) einzuführen (!)? Geht’s noch<br />

patriarchalischer? Wo bleibt das Nachdenken<br />

über den binären Geschlechter-Code?<br />

Derweil durchforsten die Säuberungskommandos<br />

der Netz-„Community“ sogar<br />

den Otto-Katalog aus Hamburg. Und<br />

siehe da, sie wurden fündig. Das Corpus<br />

delicti: Ein blaues, kurzärmeliges T-<br />

Shirt mit der Aufschrift „In Mathe bin ich<br />

Deko“. Hätte Dieter Bohlen oder Stefan<br />

Raab dringesteckt – kein Problem. Es wäre<br />

der Brüller gewesen, ein Must-have für alle<br />

starken Typen, die die Infinitesimalrechnung<br />

gehasst haben wie Kniestrümpfe und<br />

kurze Lederhosen. Leider hat der Otto-Versand<br />

ein kleines Mädchen posieren lassen,<br />

und schon brach auf Facebook und Twitter<br />

der Shitstorm los: „Reaktionär, chauvinistisch,<br />

sexistisch!“ Das üble Klischee von<br />

den mathematisch unbegabten Frauen! Ha!<br />

Dass Frauen den Slogan entworfen hatten,<br />

spielte hier keine Rolle. Provokation, Ironie?<br />

Moralisten kennen keine Ironie! Nach<br />

zwei Tagen knickte Otto ein und nahm das<br />

T-Shirt aus dem Markt. Man darf gespannt<br />

sein, wann die erste #Aufschrei-Brigade politisch<br />

unkorrekte Kabarettisten aufstöbert<br />

und an den Pranger stellt.<br />

Die Sprache ist ein Abbild der Realität,<br />

und wenn der soziale Fortschritt einmal<br />

eine Atempause einlegt, bleibt immer<br />

noch die Ächtung politisch unkorrekter<br />

Bezeichnungen, die sie falsch oder diskriminierend<br />

darstellen. So hat die Nationale<br />

Armutskonferenz jüngst 23 „soziale<br />

Unwörter“ aufgespürt, darunter sogar<br />

das moderne Attribut „alleinerziehend“.<br />

Grund: Der Begriff sage „nichts über mangelnde<br />

soziale Einbettung oder gar Erziehungsqualität“.<br />

Wir verstehen: Ein solches<br />

Wort kann man nicht einfach so allein stehen<br />

lassen. Man müsste gleich einen ganzen<br />

Aufsatz schreiben. Auch von „Arbeitslosen“<br />

soll fortan nicht mehr die Rede sein.<br />

Stattdessen muss es „Erwerbslose“ heißen,<br />

weil es „viele Arbeitsformen gibt, die kein<br />

Einkommen sichern“.<br />

Als gesellschaftliche Idealfigur erscheint<br />

hier Johannes Ponader, Noch-Geschäftsführer<br />

der Piratenpartei, der sich jeder<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 19<br />

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Thomas de Maizière<br />

steht Rede<br />

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Guttenbergs Doppelspiel<br />

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T I T E L<br />

autoritären Definition seiner hochsensiblen<br />

Identität entzieht – bis in den Privatbereich<br />

hinein, wo er sich „polyamor“, als<br />

nach allen Seiten offener Zeitgenosse auslebt.<br />

Er hat verstanden, was Judith Butler<br />

sagt: Geschlecht und Eros sind nichts als<br />

ein „soziales Konstrukt“. Wer daran arbeitet,<br />

ist also keinesfalls arbeitslos, auch wenn<br />

er von Hartz IV lebt.<br />

Zugegeben: Es ist auch wirklich nicht<br />

ganz leicht, die jeweils richtigen Worte zu<br />

finden. Nachdem etwa der gute alte „Ausländer“<br />

schon vor Jahren durch die „Person<br />

mit Migrationshintergrund“ ersetzt<br />

wurde (Kurzform: Migrant), erweist sich<br />

nun selbst diese Formulierung als diskriminierend,<br />

weil sie „häufig mit einkommensschwach,<br />

schlecht ausgebildet und<br />

kriminell in Zusammenhang gebracht“<br />

werde. Auch die Bezeichnung „Person mit<br />

Migrationshintergrund ohne eigene Migrationserfahrung“<br />

ist also nicht restlos korrekt.<br />

Sogar die Sprachsäuberer der Nationalen<br />

Armutskonferenz also wissen hier keine<br />

klinisch reine Endlösung.<br />

Immerhin ist beim Ausdruck „bildungsferne<br />

Schichten“, auch schon ein<br />

weich gespülter Neologismus aus dem<br />

Geist des Warmbadetags, guter Rat zur<br />

Hand. „Fern vom Bildungswesen“ sollen<br />

wir nun sagen. Besser noch: „vom Bildungswesen<br />

nicht Erreichte“.<br />

Rainer Brüderle hat all das noch nicht<br />

begriffen. Hätte er mit der jungen Stern-<br />

Kollegin an der Bar des Maritim-Hotels<br />

über soziale Geschlechterdifferenz,<br />

korrekte Genderpolitik und das poststrukturalistische<br />

Rhizom-Konzept von Deleuze/<br />

Guattari gesprochen, wäre ihm die Dirndl-<br />

Sache erst gar nicht in den Sinn gekommen.<br />

Aber so ist das mit alten, peinlich zurückgebliebenen<br />

Männern: Sie leben noch voll<br />

das anachronistische Programm 1.0. Und<br />

dabei ahnen sie noch nicht einmal, was<br />

ihnen in diesem Bücherfrühling prophezeit<br />

wird: Ganz schlicht „Das Ende der<br />

Männer“.<br />

Hinterwäldlerische Null-Checker<br />

sind auch jene Zeitgenossen, die das voll<br />

krasse Sprachgemisch namens „Kiezdeutsch“<br />

nicht umstandslos für eine segensreiche<br />

Erweiterung der deutschen<br />

Hochsprache halten. „Geh isch Aldi, Alter!“<br />

ist eben kein Ausdruck „reduzierter<br />

Grammatik“, wie rassistische Ignoranten<br />

behaupten, die nur Goethe und Thomas<br />

Mann gelten lassen, sondern vielmehr<br />

„eine faszinierende Entwicklung in<br />

unserer Sprache“. Das jedenfalls erklärt<br />

eine Potsdamer Professorin. Mögen Ausrufe<br />

wie „Mach isch disch Krankenhaus!“<br />

wahlweise „Schlag isch disch Urban!“ in<br />

ihrem semantischen Gehalt durchaus diskussionswürdig<br />

sein, was ihre tendenziell<br />

aggressive Botschaft betrifft, so spiegeln sie<br />

doch den signifikanten linguistischen Austausch<br />

zwischen unterschiedlichen Kulturen.<br />

German Mainstreaming ist hier das<br />

Zauberwort, die multikulturelle Angleichung<br />

der Sprechverhältnisse.<br />

Überhaupt, die faszinierende Vielfalt<br />

der Kulturen. Nachdem nun offiziell geworden<br />

ist, dass Zehntausende Roma und<br />

Sinti aus Bulgarien, Rumänien und anderen<br />

südosteuropäischen Staaten nach<br />

Deutschland einwandern, wird als Erstes<br />

der Rassismus bekämpft, der aus den Problemen<br />

resultieren könnte, die diese neue<br />

Form europäischer Armutswanderung unweigerlich<br />

mit sich bringt. Vor allem Claudia<br />

Roth, die Schmerzensfrau des grünen<br />

Gutmenschentums, tut sich dabei hervor,<br />

tatsächliche soziale Probleme zu leugnen,<br />

indem sie in einer Art moralischer Übersprungshandlung<br />

mögliche Reaktionen darauf<br />

zur einzig wahren Gefahr für Frieden<br />

und Freiheit darstellt. Auch der Migrationsforscher<br />

Klaus J. Bade ist ein Meister<br />

in der Disziplin „Flucht in die Ideologiekritik“,<br />

bei der die Konflikte einer Einwanderungsgesellschaft<br />

– und das ist die Bundesrepublik<br />

– fast ausschließlich auf das<br />

Schuldkonto der tendenziell „rassistischen“<br />

ILLUSTRATION: LISA ROCK/JUTTA FRICKE ILLUSTRATORS<br />

20 <strong>Cicero</strong> 4.2013


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Mehrheitsgesellschaft gebucht werden.<br />

Stets liegt ein deutliches, wenn auch unhörbares<br />

„Schämt euch!“ in der Luft.<br />

So kommt es, dass sogar die Berliner<br />

Staatsanwaltschaften, die sich in einem<br />

Brief an den Justizsenator über die mangelhafte<br />

personelle wie technische Ausstattung<br />

ihrer Ämter beklagten, Angst vor der eigenen<br />

Courage haben, wenn es um Tatsachen<br />

geht, die ihnen selbst vorliegen. Die Zahl<br />

der Verfahren sei stark gestiegen, schrieben<br />

sie laut Tagesspiegel. Allein der Zuzug<br />

von Menschen aus Rumänien und aus anderen<br />

Ländern Osteuropas habe zu einer<br />

„Explosion“ bei Einbrüchen und Diebstählen<br />

geführt. Aber das dürfe man ja nicht<br />

laut sagen. Wieso man das nicht darf, wenn<br />

es doch stimmt, wird leider nicht weiter<br />

ausgeführt.<br />

Eine extreme Blüte jener politischen<br />

Korrektheit, die die alte Ausländerfeindlichkeit<br />

durch eine neue Inländerfeindlichkeit<br />

kompensieren will, bot dieser Tage ein<br />

Leserblog in der taz. Nachdem Dutzende<br />

Asylbewerber seit Monaten auf dem Kreuzberger<br />

Oranienplatz campieren, um gegen<br />

das „unmenschliche“ deutsche Asylverfahren<br />

zu demonstrieren, schlug Blogger „Cometh“<br />

ein ganz neues Verfahren vor: „In<br />

den besseren Bezirken sollte jeder Berliner<br />

mit einer 3-Zi-Wohnung aufgefordert werden,<br />

einen Flüchtling aufzunehmen. Das<br />

wäre gelebte internationale Solidarität<br />

(natürlich gegen Kostenersatz vom Senat).<br />

Aber das nur, wenn unsere FreundInnen<br />

damit einverstanden sind, denn sie sind<br />

traumatisiert und Flüchtlinge und wollen<br />

vielleicht gar nicht mit ihren Unterdrückern<br />

und denjenigen, die an Waffengeschäften<br />

verdient haben, in einer Wohnung<br />

sein.“<br />

In Dahlem, Friedenau, Wilmersdorf<br />

und Charlottenburg konnte man das Aufatmen<br />

der ansässigen Sklavenhalter, Blutsauger<br />

und Waffenhändler förmlich hören.<br />

Aber letztlich geht es hier nicht um Einzelschicksale.<br />

Es geht, wie oft in Deutschland,<br />

ums Ganze, Grundsätzliche. Alles<br />

soll gut werden. Es soll überall solidarisch<br />

und gerecht zugehen, friedlich und demokratisch.<br />

Weil die Wirklichkeit aber seit<br />

Menschengedenken nicht solidarisch und<br />

gerecht ist, oft auch nicht friedlich und<br />

demokratisch, muss kräftig nachgeholfen<br />

werden.<br />

Das eine Mittel deutscher Fortschrittsfreunde<br />

ist die Verbesserung der Welt<br />

durch die Veränderung der Worte, mit<br />

denen sie beschrieben wird. Ein schlechter<br />

Schüler, gar ein „dummer Bub“, wie<br />

es früher im Frankfurter Bembel-Soziotop<br />

hieß, ist dann eben ein „vom Bildungswesen<br />

nicht Erreichter“. So muss sich das Bildungswesen<br />

ganz mächtig anstrengen, um<br />

an ihn ranzukommen. (Für die jüngeren<br />

Leser: Früher war das eher andersherum.)<br />

Sitzen bleiben soll der bildungsferne Bub<br />

aber keinesfalls mehr.<br />

Die andere, deutlich schwierigere Strategie<br />

ist die Verbesserung der Welt durch<br />

ihre systematische Veränderung. Ein äußerst<br />

anspruchsvolles Programm, an dem<br />

sich seit der Antike schon unzählige Generationen<br />

versucht haben. Wunsch und<br />

Wirklichkeit, Ideal und Realität, geraten<br />

dabei häufig durcheinander. Nicht selten<br />

wird die Wunschvorstellung mit einer bereits<br />

veränderten Wirklichkeit verwechselt.<br />

Dabei zielt der Kampf stets in eine<br />

Richtung: Jeder soll anders sein dürfen,<br />

aber auch ganz gleich – genau wie alle anderen.<br />

Auch wenn sich viele Menschen<br />

selbst diskriminieren, also von anderen<br />

ganz bewusst unterscheiden wollen – diskriminiert<br />

werden dürfen sie keinesfalls. So<br />

wird unermüdlich das Lob unserer buntindividualistischen,<br />

schrillen, multikulturellen<br />

Patchwork-Gesellschaft gesungen, in<br />

der vor allem das andere, Nonkonformistische,<br />

Subversive, Randständige und Kreative<br />

zählen. Im selben Atemzug aber verlangt<br />

man Gleichheit in allen Lebenslagen,<br />

viel mehr also als die grundgesetzlich garantierte<br />

Gleichheit jedes Bürgers vor dem<br />

Gesetz. Auch der Anarcho-Punk im besetzten<br />

Haus, der „Fuck off Deutschland!“ und<br />

„Scheißsystem!“ an die Wände sprüht, soll<br />

Anspruch auf das Ehegattensplitting haben,<br />

wenn er mit Matze und Hund Bakunin<br />

eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingeht.<br />

Alles was recht ist.<br />

Dass zum Beispiel eine strikt angewandte<br />

Frauenquote dazu führen kann,<br />

den Gleichheitsgrundsatz im konkreten<br />

Fall auszuhebeln, zeigt nur, wie im Namen<br />

des gesellschaftlichen Fortschritts manches<br />

noch gleicher sein darf als gleich. Das „Allgemeine<br />

Gleichbehandlungsgesetz“ (AGG)<br />

hat hier schon Pionierarbeit geleistet. Ein<br />

Zahnarzt, der eine technisch-medizinische<br />

Assistentin einstellen will, darf nicht verlangen,<br />

dass sie im Dienst ihr islamisches<br />

Kopftuch ablegt. Wenn er sie deshalb abweist,<br />

muss er Strafe zahlen. Es sei denn, er<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 21


T I T E L<br />

Stets liegt ein deutliches,<br />

wenn auch unhörbares<br />

„Schämt euch!“ in der Luft<br />

ist so schlau, einen anderen, unverfänglichen<br />

Grund vorzuschieben.<br />

Nun also liefern Entscheidungen des<br />

Bundesverfassungsgerichts über die letzten<br />

rechtlichen Details einer absoluten Gleichstellung<br />

homosexueller Partnerschaften mit<br />

der bürgerlichen Ehe neuen Stoff für den<br />

großen Gleichheitsdiskurs. Unverkennbar<br />

zieht hier ein Hauch jenes „social engineering“<br />

durchs Land, jenes sozialrevolutionären<br />

Ingenieurwesens aus den zwanziger<br />

und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts,<br />

das nicht neue Maschinen bauen wollte,<br />

sondern den „neuen Menschen“. Am Reißbrett<br />

systematischer Gesellschaftsplanung<br />

wurde die allumfassende egalitäre Persönlichkeit<br />

entworfen, die sich von allen rückständigen<br />

Traditionen gelöst hat und in<br />

den großen Kollektiven der kommunistischen<br />

Lebenswirklichkeit ihre historische<br />

Erfüllung am roten Horizont der endlich<br />

befreiten Humanität findet.<br />

Zugegeben, heute geht es weniger pathetisch<br />

zu, ja geradezu putzig und bieder.<br />

Niemand will sich im Industriekombinat<br />

„Roter Oktober“ selbst verwirklichen. Doch<br />

die strenggläubige neue linke Betulichkeit,<br />

die vom Spießertum nicht immer zu unterscheiden<br />

ist (Achtung: Diskriminierung!),<br />

verlangt strikten Gehorsam, wenn<br />

es um den sozialen Fortschritt geht. Weh<br />

dem, der da nicht umstandslos und fröhlich<br />

in den Chor miteinstimmt und den<br />

Hinweis auf „neue Lebenswirklichkeiten“<br />

nicht als einziges schlagendes Argument<br />

gelten lässt! Weh dem, der über die fortschreitende<br />

Entkopplung biologischer und<br />

sozialer Realitäten samt ihren möglichen<br />

Folgen wenigstens ernsthaft reden will: Er<br />

ist ein hoffnungsloser Reaktionär, über den<br />

sich selbst Guido Westerwelle lustig macht,<br />

jener Mann, der noch vor einiger Zeit „altrömische<br />

Dekadenz“ in Deutschland beklagt<br />

hat und so selbst zu einem reaktionären<br />

Bösewicht wurde.<br />

Nein, nun müssen alle frohgemut und<br />

zukunftstrunken mitmachen beim großen<br />

Zug der Zeit; wer da fragend, gar mäkelnd<br />

zurückbleibt, den soll der Teufel, Pardon:<br />

die Teufelin holen.<br />

Das Schöne: Die Avantgarde der progressiven<br />

Gesinnung braucht keine Kritik,<br />

denn sie ist ja die Kritik in Person, auf die<br />

sie ein lebenslanges Abo hat. Wer sich also<br />

kritisch gegenüber den notorischen Gesellschaftskritikern<br />

äußert, stellt sich selbst ins<br />

Abseits. Und so triumphiert ein vermeintlich<br />

fortschrittlicher Mainstream ganz entspannt<br />

im Hier und Jetzt, gleichsam en passant.<br />

Auf echte Diskussion kann er locker<br />

verzichten.<br />

Auch der kritische Journalismus reiht<br />

sich da gern ein in die Einheitsfront. Vor allem<br />

das öffentlich-rechtliche Radio hat sich<br />

zum Vorreiter einer politischen Korrektheit<br />

gemacht, die andere Positionen nur noch<br />

als lästige Randerscheinungen wahrnimmt.<br />

„100 Prozent Quote!“, jubilierte eine Woche<br />

lang „Radio 1“ vom RBB – vom 4. bis<br />

8. März 2013 durften nur Frauen ans Mikro.<br />

Kein Wunder, dass auch eine lesbische<br />

Partnerschaft – „Mama und Mami“ –<br />

ausführlich zu Wort kam. Zwei Töchter<br />

sind der Beziehung entsprungen, für die<br />

ein passender Samenspender ausfindig gemacht<br />

wurde: die perfekte „Regenbogenfamilie“.<br />

Wer bei vier gleichgeschlechtlichen<br />

Wesen im Haus den bunten Regenbogen<br />

vermisst, dem ist wirklich nicht zu helfen.<br />

Hauptsache, der männliche Träger des<br />

„genetischen Materials“ (O-Ton Mama) hat<br />

der Adoption jeweils zugestimmt. Jetzt darf<br />

er alle paar Wochen mal vorbeischauen.<br />

„Erziehungsaufgaben hat er nicht“, stellt<br />

Mama zur Sicherheit klar. So weit kommt’s<br />

noch, dass das genetische Material über<br />

Schulprobleme seiner Kinder mitdiskutieren<br />

darf.<br />

Eine einzige kritische Frage oder skeptische<br />

Anmerkung der Moderatorin? Göttin<br />

bewahre!<br />

Nebbich.<br />

Wir freuen uns jedenfalls schon auf die<br />

Einweihung der ersten Kreuzberger Unisex-Toilette<br />

am 1. Juni, um endlich einmal<br />

wieder in Ruhe über „Geschlechtertrennungen<br />

im Alltag nachzudenken“.<br />

Wie sagte einst Karl Valentin zu Liesl<br />

Karlstadt: Es ist so einfach, und man kann<br />

sich’s doch nicht merken.<br />

R EINHAR D MOHR<br />

lebt in Berlin. Im April erscheint<br />

sein Buch „Bin ich jetzt<br />

reaktionär? Bekenntnisse eines<br />

Altlinken“<br />

ILLUSTRATION: LISA ROCK/JUTTA FRICKE ILLUSTRATORS; FOTO: RAINER JENSEN/POOL/DDP IMAGES/DAPD<br />

22 <strong>Cicero</strong> 4.2013


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T I T E L<br />

„ICH BIN GEGEN VERBOTE“<br />

Die Feministin ANNA-KAT HAR I N A M ESSMER über ihren Brief an<br />

Gauck, Furien und Furor, den Sexismus und die Medien<br />

F<br />

rau Meßmer, Sie und sechs<br />

andere Feministinnen haben<br />

Bundespräsident Joachim<br />

Gauck in einem offenen Brief angegriffen,<br />

weil er in einem Spiegel-Interview<br />

im Zusammenhang mit der Sexismus-<br />

Debatte von „<strong>Tugendfuror</strong>“ sprach. Was<br />

stört Sie so an diesem Begriff?<br />

Erstens greift das Wort „Tugend“ auf<br />

uralte Klischees zurück, wonach<br />

Frauen anständig, zurückhaltend und<br />

jungfräulich sein sollten. Zweitens<br />

hat „Furor“ den gleichen Wortstamm<br />

wie der Begriff der „Furie“, der ähnlich<br />

wie „Hysterie“ dazu verwendet<br />

wird, inhaltliche Kritik von Frauen<br />

abzuwerten.<br />

„Furor“ stammt aus dem Lateinischen –<br />

Wut, Zorn. Das Wort „Furie“ wurde im<br />

Deutschen erst im 18. Jahrhundert zum<br />

Synonym für rachsüchtige, wütende Weiber.<br />

Die semantische Verbindung zur Furie<br />

haben Sie doch erst hergestellt.<br />

Das haben Sie gut erklärt. Seit dem<br />

18. Jahrhundert gibt es diese semantische<br />

Verbindung. Und so hat der Bundespräsident<br />

eine inhaltliche Debatte zu einer<br />

wutgetriebenen umgedeutet und noch ergänzt,<br />

dass er kein flächendeckendes Problem<br />

erkennen könne.<br />

Gerade Ihre ursprüngliche Aktion lief unter<br />

dem Stichwort „Aufschrei“. Das klingt<br />

doch bereits recht wutgetrieben.<br />

Auch Sie versuchen jetzt vom eigentlichen<br />

Thema, nämlich Sexismus, abzulenken,<br />

indem Sie die Form kritisieren. Und<br />

dabei die immer gleichen Stereotype bemühen.<br />

Wer sich die vielen Blogbeiträge<br />

zu diesem Thema anschaut, wird schnell<br />

feststellen: Hier sind Frauen und Männer<br />

in einen konstruktiven Austausch<br />

miteinander getreten. Die vermeintliche<br />

Hysterie ist eine Zuschreibung. Genauso<br />

wie der Vorwurf, es ginge uns um<br />

Sprech- und Denkverbote. Das Gegenteil<br />

ist der Fall: Wir wollen eine offene Debatte<br />

darüber, wie wir ohne Sexismus zusammenleben<br />

können. Dazu muss eine<br />

Gesellschaft auch mal aushalten können,<br />

dass Menschen für ihr Verhalten und ihre<br />

Aussagen kritisiert werden.<br />

Mit Verlaub: Der Ton der Aufschrei-Bewegung<br />

war nicht immer sachlich. Yasmina<br />

Banaszczuk, eine der Unterzeichnerinnen<br />

des Briefes, beschimpft ihre Kritiker in<br />

einem Blogeintrag als „Arschlöcher“. Ist<br />

das eine angemessene Dialogform für<br />

Feministinnen?<br />

Nein, das stimmt so nicht. Frau<br />

Banaszczuk meint damit nicht diejenigen,<br />

die den offenen Brief oder uns inhaltlich<br />

kritisierten. Sie wehrt sich vielmehr gegen<br />

massive Anfeindungen.<br />

Anna-Katharina Meßmer, Soziologin, SPD-Mitglied, ist in Bayern<br />

aufgewachsen. Damals wollte sie Pfarrerin werden. Als sie begriff, dass das in<br />

der katholischen Kirche nicht möglich war, wurde sie zur Feministin<br />

Können Sie ein Beispiel nennen?<br />

Unmengen. Wir werden bei Twitter, per<br />

Mail und SMS, aber auch im persönlichen<br />

Gespräch als „Huren“, „Fotzen“<br />

und „Schlampen“ bezeichnet. Auch unter<br />

dem offenen Brief gingen Kommentare<br />

ein, die wir nicht freigeschaltet haben:<br />

Wir seien frigide, untervögelt, wir sollten<br />

die Fresse halten. Das geht bis zu Vergewaltigungsdrohungen<br />

und Stalking. Wir<br />

versuchen diese Debatte trotzdem ruhig,<br />

unaufgeregt und inhaltlich zu führen.<br />

FOTO: ANJA LEHMANN FÜR CICERO; KARIKATUR: HAUCK & BAUER<br />

24 <strong>Cicero</strong> 4.2013


In Ihrem Brief befreien Sie die Männer von<br />

einer „Kollektivschuld“, um im Satz danach<br />

festzustellen, dass Sexismus ein „kollektives<br />

Phänomen“ sei. Was denn nun?<br />

Nehmen wir ein Beispiel: Wenn sich ein<br />

Chef von 20 Mitarbeiterinnen schlecht<br />

verhält, dann sind diese im schlimmsten<br />

Fall alle vom Sexismus eines Mannes betroffen.<br />

In Bezug auf die Opfer sprechen<br />

wir von einem „kollektiven Phänomen“.<br />

Wenn ich aber nach diesem Vorfall alle<br />

Männer des Betriebs als Täter bezeichnen<br />

würde, wäre das die Unterstellung einer<br />

„Kollektivschuld“. Das ist ein maßgeblicher<br />

Unterschied.<br />

Ihre Botschaften scheinen nicht nachhaltig<br />

gewesen zu sein. Die Spiegel-Journalistin<br />

Annett Meiritz, die zuerst über<br />

sexistische Anfeindungen von Piraten<br />

berichtet hatte, nannte die Sexismus-<br />

Debatte „völlig überdreht“. Die Talkshow-<br />

Moderatorin Anne Will räumte ein: „Wir<br />

reiten Debatten manchmal tot.“<br />

Ja, die Medien waren anscheinend an einem<br />

konstruktiven Dialog nicht interessiert.<br />

Sie deckten eher das Bedürfnis<br />

nach Empörungsgenuss und den Aufgeregtheitsbedarf<br />

und haben damit den Geschlechterkampf<br />

erst geschürt, der den<br />

Aufschrei-Unterstützerinnen so oft vorgeworfen<br />

wurde.<br />

Der „Aufgeregtheitsbedarf“ ist doch auch<br />

Treibstoff Ihrer Kampagne.<br />

Das ist eine typische Art und Weise, jetzt<br />

wieder in die <strong>Tugendfuror</strong>-Richtung zu<br />

gehen – auch weil Sie gleich von Kampagne<br />

sprechen. Der Aufschrei hat Sexismus<br />

als flächendeckendes Problem sichtbar gemacht,<br />

es wurden bestehende Strukturen<br />

und Benachteiligungen kritisiert, und<br />

wir haben uns dafür das Netz zunutzegemacht.<br />

Das Spannende daran ist, dass<br />

die Debatte dort von Anfang an viel, viel<br />

weiter war. Daher auch unser Angebot an<br />

Herrn Gauck, sich mit uns über unsere ja<br />

doch verschiedenen Lebensrealitäten auszutauschen.<br />

Wir suchen den Dialog.<br />

Der Bundespräsident kritisierte die Mechanismen<br />

der Medien, die „tagelang über<br />

das Verhalten eines Politikers“ diskutierten.<br />

Sind Sie und Gauck damit nicht<br />

eigentlich einer Meinung?<br />

Absolut. Wir stimmen Herrn Gauck zu,<br />

dass in der öffentlichen Debatte häufig<br />

personalisiert statt analysiert wird. Auch<br />

die Sexismus-Debatte drehte sich immer<br />

wieder um Rainer Brüderle – und nicht<br />

etwa um die vielen Schicksale, die im<br />

Netz dokumentiert wurden.<br />

Was verlangen Sie von den Medien?<br />

Ich kritisiere, dass die Medien die Überemotionalität,<br />

die in dem Begriff „<strong>Tugendfuror</strong>“<br />

mitschwingt, fortschreiben.<br />

Die Beschimpfungen, von denen ich<br />

eben sprach, wurden zum Teil als kritische<br />

Stimmen zitiert. Das wertet die Probleme<br />

vollkommen ab und schafft ein<br />

Stammtischniveau. Man kann sogar sagen:<br />

Damit machen sich die Medien zu<br />

Komplizen der Sexisten.<br />

Was machen Feministinnen Ihrer Generation<br />

besser als die alten?<br />

Ich will mich von den Feministinnen<br />

der siebziger Jahre nicht abgrenzen – im<br />

Gegenteil.<br />

Ihre Mitunterzeichnerin Anne Wizorek,<br />

die den Hashtag #aufschrei bei Twitter<br />

anregte, sagte: „Das Problem des<br />

Feminismus in Deutschland ist, dass Alice<br />

Schwarzer über jeder Debatte schwebt.“<br />

Richtig. Und wir können doch nicht<br />

Alice Schwarzer als alleinige Vertreterin<br />

unserer Vorgängerinnen sehen.<br />

Sie belegt Platz vier des <strong>Cicero</strong>-Rankings<br />

der 500 wichtigsten deutschen Intellektuellen<br />

– und Platz eins bei den Frauen.<br />

Schön. Wir hören alle auf eine Feministin.<br />

Widersprechen Sie Alice Schwarzer?<br />

An mancher Stelle, ja. Aber – alle arbeiten<br />

sich an Frau Schwarzers Feminismus<br />

ab. Warum reden wir nicht lieber darüber,<br />

wofür wir stehen?<br />

Bitte sehr!<br />

Jüngst habe ich auf einer Veranstaltung<br />

der Friedrich-Ebert-Stiftung mit Vertreterinnen<br />

aus Indien, England und<br />

Deutschland diskutiert, wie Feminismus<br />

international aussehen könnte. Wir fordern<br />

alle Gleichberechtigung, körperliche<br />

Unversehrtheit und Selbstbestimmung.<br />

Das ist doch nichts Neues. In der Emma<br />

schrieb Alice Schwarzer: „Die zu Recht<br />

empörten jungen Frauen fangen wieder<br />

einmal bei Null an.“<br />

Ja, sie hat uns gesagt, dass das keine<br />

Kritik an uns ist, sondern ein Bedauern:<br />

„Dafür habe ich mich in den siebziger<br />

Jahren eingesetzt – und diese Frauen<br />

müssen das immer noch durchkämpfen.“<br />

Trotzdem streiten sich sogar Feministinnen<br />

darüber, was politically correct ist.<br />

Frau Schwarzer fordert das Kopftuch-<br />

Verbot – Sie nicht.<br />

Das ist ein Punkt, bei dem ich nicht ihrer<br />

Meinung bin. Ich lehne Verbote grundsätzlich<br />

ab. Sie als weiße christliche Frau<br />

weiß nichts über die Lebensrealität von<br />

Muslimas. Ich erwarte von Feministinnen<br />

schon das Gleiche, was ich vom Bundespräsidenten<br />

erwarte: die Reflexion der eigenen<br />

Position.<br />

„Slutwalk“, eine Protestgruppe, die sich<br />

gegen das Verharmlosen sexueller Belästigung<br />

wehrt, stritt über die Frage: Darf sich<br />

eine weiße Frau bei einer Demonstration<br />

schwarz anmalen, um auf die Probleme<br />

dieser Bevölkerungsgruppe hinzuweisen?<br />

Ich glaube nicht, dass wir weißen Feministinnen<br />

paternalistisch people of colour<br />

vertreten sollten.<br />

Das heißt, Sie kämpfen nur für die arrivierte,<br />

bürgerliche, weiße Frau?<br />

Nein! Aber ich muss anerkennen, dass ich<br />

eine dieser arrivierten, bürgerlichen, weißen<br />

Frauen bin. Doch wir können lernen<br />

zuzuhören und uns mit den Frauen und<br />

Feministinnen aus aller Welt solidarisch<br />

zeigen. Auch hier gilt: Nur wenn wir einander<br />

mit Respekt und auf Augenhöhe<br />

begegnen, kommen wir weiter.<br />

Das Gespräch führte Petra Sorge<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 25


T i t e l<br />

KulTURKamPF<br />

um die Homo-Ehe<br />

Wer die Gleichstellungslogik bis<br />

ins letzte Detail ausreizen will,<br />

hat Rückenwind und wird sich<br />

durchsetzen. Fragt sich nur, ob<br />

das unsere Gesellschaft nicht<br />

eher spaltet als befriedet<br />

von Udo di Fabio<br />

26 <strong>Cicero</strong> 4.2013


FOTO: GAO JING/XINHUA/GAMMA/LAIF<br />

Traumhochzeit: Bei<br />

einer Modenschau<br />

in Paris schickte<br />

Karl Lagerfeld diese<br />

beiden Bräute auf<br />

den Laufsteg, um<br />

damit ein Zeichen<br />

für die Homo-Ehe<br />

zu setzten. Ein Kind<br />

ist auch schon da<br />

W<br />

ENN EIN REPUBLIKANISCHER<br />

HAUDEGEN wie Clint Eastwood<br />

sich für die sogenannte<br />

Homo-Ehe ausspricht,<br />

ertönt auch für<br />

deutsche Konservative das Signal zum<br />

Rückzug. Nüchtern und nur ein wenig resignativ<br />

hat der ehemalige, von der Union<br />

ins Amt gewählte Präsident des Bundesverfassungsgerichts<br />

Hans-Jürgen Papier<br />

festgestellt, der Gesetzgeber habe bei der<br />

Gleichstellung keine Wahl mehr. Durch<br />

die Einführung der eingetragenen Partnerschaft<br />

im Jahre 2001 und die Billigung<br />

durch das Bundesverfassungsgericht seien<br />

die Würfel gefallen. Die Verfassung stelle<br />

zwar Ehe und Familie unter besonderen<br />

Schutz der staatlichen Ordnung, aber die<br />

Richter haben damals schon erklärt, das<br />

„Besondere“ an diesem Schutz müsse nicht<br />

darin liegen, dass andere Formen des Zusammenlebens<br />

nicht dieselbe Ausgestaltung<br />

für sich beanspruchen können. Und<br />

diesem Anspruch auf gleiche Ausgestaltung<br />

müsse auch stattgegeben werden, weil ansonsten<br />

diskriminiert würde. Das klingt etwas<br />

seltsam, aber Hans-Jürgen Papier hat<br />

recht: So denken nun mal die meisten Gerichte<br />

der westlichen Welt, und der Mainstream<br />

der Intellektuellen geht sowieso in<br />

diese Richtung.<br />

Verfassungsrechtlich scheint dieser Ansatz<br />

konsequent. Das Grundgesetz geht<br />

von der Würde des einzelnen Menschen<br />

aus, gewährleistet für jeden das Recht auf<br />

freie Entfaltung der Persönlichkeit, ganz<br />

nach seinen Vorstellungen, Plänen und<br />

Wünschen. Die sexuelle Orientierung darf<br />

weder von Staat noch Gesellschaft vorgeschrieben<br />

werden. Grenzen bestehen nur<br />

dort, wo die Rechte anderer auf dem Spiel<br />

stehen. So gesehen ist die Ehe ein historisch<br />

gewachsenes, religiös und kulturell<br />

geprägtes Institut, das besonderen Schutz<br />

verdient – aber sie ist nicht exklusiv gegen<br />

den Sinn nach gleichartigen Gemeinschaften<br />

gerichtet.<br />

Greift man hinter solche Rechtserwägungen<br />

auf den ideellen Kern der Ehe,<br />

fällt der Befund kaum anders aus. Die Ehe<br />

unterscheidet sich von bloßen Zweckgemeinschaften<br />

durch jene intime Nähe, die<br />

wir Liebe nennen, und die mit einer gemeinsamen<br />

Lebenspraxis verbunden wird,<br />

mit dem Versprechen, füreinander in guten<br />

wie in schlechten Zeiten einzustehen.<br />

Es ist kein sachlicher Grund zu erkennen,<br />

warum zwei sich liebende Frauen eine solche<br />

Bindung nicht mit entsprechenden<br />

rechtlichen Konsequenzen eingehen sollten.<br />

Es ist nicht einzusehen, warum eine<br />

solche Bindung zweier sich einander versprechender<br />

Männer nicht von der Rechtsordnung<br />

in gleicher Weise geachtet werden<br />

sollte.<br />

Diese Sichtweise entspricht der Bindungsfreundlichkeit<br />

des Grundgesetzes.<br />

Die Verfassung gewährleistet gewiss auch<br />

die ungebundene Freiheit der Menschen,<br />

schützt den, der allein sein will, aber sie<br />

fördert doch besonders jenen Freiheitsgebrauch,<br />

der auf soziale Bindung zielt.<br />

Diejenigen, die sich mit anderen zusammenschließen,<br />

um gemeinsam etwas zu gestalten,<br />

und mit wechselseitigen Pflichten<br />

Verantwortung füreinander übernehmen,<br />

geben dem Einzelnen Stärke und entlasten<br />

andere Solidarverbände. Solche übernommene<br />

Verantwortung verdient den Respekt<br />

der öffentlichen Ordnung. Denn nur<br />

aus einer freiwillig eingegangenen Bindung<br />

wächst eine staatsfreie Gesellschaft, die zwischen<br />

dem isolierten Einzelnen und einer<br />

ansonsten übermächtigen politischen Ordnung<br />

steht: Wir nennen so etwas intermediäre<br />

Kräfte.<br />

GIBT ES ÜBERHAUPT sachliche Gründe, die<br />

einer völligen Gleichbehandlung der Ehe<br />

mit gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften<br />

entgegenstehen? Will man eine<br />

Besonderheit der Ehe über den bestehenden<br />

Text des Grundgesetzes hinaus begründen,<br />

kommt man auf Kinder. Denn<br />

aus der Ehe wachsen Kinder, die dadurch<br />

entstehenden Familien sind ein originärer<br />

Schutz- und Freiheitsraum. Ehe und Familie<br />

sind kleinste, aber zugleich vielleicht<br />

auch wichtigste Einheiten einer Zivilgesellschaft,<br />

die Voraussetzung jeder gelingenden<br />

Demokratie ist. Nun weiß jeder,<br />

dass Kinder auch außerhalb von Ehen zur<br />

Welt kommen, obwohl das nicht die Regel<br />

ist, und nicht wenige Ehen gewollt<br />

oder ungewollt kinderlos bleiben, obwohl<br />

auch das nicht die Regel ist. Wenn man<br />

nach einem sachlichen Grund sucht, um<br />

einer auf Dauer angelegten, in der eheähnlichen<br />

Bindung vergleichbar gewollten<br />

gleichgeschlechtlichen Partnerschaft<br />

die Gleichstellung mit der Ehe zu verweigern,<br />

müsste man also von der Regel, vom<br />

typischen Erscheinungsbild einer Verbindung<br />

her argumentieren. Aber auch dieses<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 27


T I T E L<br />

Eis, das der konservative Rückzug betritt,<br />

ist dünn. Wer der Ehe mit ihrer Eignung<br />

und Bestimmung als Keimzelle der mit<br />

Kindern bereicherten Familie Exklusivität<br />

verleihen will, gerät dann aber in die<br />

argumentative Falle, wie er den Adoptionswunsch<br />

gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften<br />

„abwehren“ will.<br />

Steht das Kindeswohl einer solchen Adoption<br />

entgegen? Maßstab der Adoption<br />

ist nicht die Selbstverwirklichung der präsumtiven<br />

Eltern, sondern allein das Kindeswohl,<br />

sorgfältig zu prüfen in jedem<br />

Einzelfall. Doch das empirisch vermutlich<br />

belastbare Argument, Kinder von gleichgeschlechtlichen<br />

Verbindungen würden<br />

leichter Opfer von Mobbing und Diskriminierung,<br />

wirkt in etwa so überzeugend<br />

wie die abschlägige Bescheidung des Wunsches<br />

eines dunkelhäutigen Ehepaars, das<br />

ein weißhäutiges Kind adoptieren will.<br />

Hier entfaltet sich nun mal eine Logik,<br />

die ein individuelles, sozial und kommunitär<br />

weitgehend dekomponiertes Menschenbild<br />

mit universell angelegten Entfaltungsund<br />

Gleichheitsrechten durchsetzt und<br />

gegen das innerhalb des Rechts kein Traditionsargument<br />

ankommt. Traditionen müssen<br />

durch bewahrende und entwicklungsoffene<br />

Lebenspraxis lebendig gehalten werden,<br />

ihre Erosion kann von der Verfassung nicht<br />

aufgehalten werden. Causa finita est?<br />

WER SCHON KEINE eigenen überzeugenden<br />

Argumente gegen die Öffnung der Ehe für<br />

gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften<br />

findet, könnte allenfalls noch auf andere<br />

verweisen, die in anderen Kulturräumen<br />

unterwegs sind. Was etwa ist mit den<br />

in traditionellen Familienstrukturen verhafteten<br />

Einwanderern, was ist mit gläubigen<br />

Moslems, Juden oder Christen, die<br />

Anstoß nehmen an der Auflösung von Familienordnungen,<br />

die für sie durch Herkunft<br />

und Glauben garantiert sind? Wird<br />

eine Gesellschaft, die praktisch jede traditionelle<br />

Institution wie die Ehe dekonstruiert<br />

und sie womöglich auch durch Öffnung<br />

und Verallgemeinerung um ihre Kontur<br />

bringt, wirklich offener für die Integration?<br />

Oder fördert sie über kurz oder lang kulturoppositionelle<br />

Abschottungen hinter der<br />

Bühne des auf der ganzen Linie erfolgreichen<br />

politisch korrekten Schauspiels?<br />

Solche Rücksichtsargumente sind nicht<br />

wirklich durchschlagskräftig, weil diejenigen<br />

an der Spitze des Fortschritts sich von<br />

den Nachzüglern nicht gerne Wegweisungen<br />

geben lassen. Aber kulturplurale Hinweise<br />

können doch nachdenklich machen.<br />

Wenn das konservative Beharren auf einem<br />

bürgerlichen Lebensentwurf, der keineswegs<br />

andere ausgrenzt, aber seine grundlegend<br />

konstruktive Bedeutung für eine<br />

freie Gesellschaft lediglich weiter bestätigt<br />

haben will, nicht mehr artikuliert werden<br />

dürfte, wäre das gefährlich für eine freie<br />

Gesellschaft. Aus der Defensive einer in<br />

Rollenklischees verhafteten Welt heraus<br />

war es durchaus legitim, die Methode des<br />

Die Erosion<br />

von Traditionen<br />

kann durch die<br />

Verfassung nicht<br />

aufgehalten<br />

werden<br />

Mainstreamings von „Minderheitenthemen“<br />

anzuwenden. Aber das sollte nicht<br />

zu einem permanenten Kulturkampf der<br />

Eliten – unter Einschluss der Richter, die<br />

scheinbar immer nur Gleichheitsfragen<br />

entscheiden – gegen die einstmalige, aber<br />

eben noch massenhaft gelebte „Normalität“<br />

werden. Sonst droht eine gerade in<br />

ihren liberalen Grundlagen deformierte<br />

Gesellschaft.<br />

Auch in westlichen Gesellschaften gibt<br />

es viele Menschen, denen das Institut der<br />

Ehe und ihre Bestimmung, Form intimer<br />

Lebensgemeinschaft und Quelle einer<br />

neuen Familie zu sein, etwas ganz Besonderes,<br />

für religiöse Menschen sogar etwas<br />

Sakramentales ist. Diese Auffassung müssen<br />

nicht alle teilen, aber man sollte nicht<br />

so tun, als gäbe es jene Alltagsorientierung<br />

nicht mehr.<br />

WAS BEDEUTEN solche Einsichten für die<br />

praktische Politik? Wer die Gleichstellungslogik<br />

bis zum letzten Detail ausreizen will,<br />

hat Rückenwind und wird sich durchsetzen:<br />

Ehegattenzuschlag im öffentlichen<br />

Dienst auch für Lebenspartnerschaften,<br />

Ehegattensplittung, Adoptionsrecht. Eine<br />

liberal-konservative, eine bürgerliche Politik<br />

wäre nicht gut beraten, wenn sie hier<br />

symbolisch Widerstand leistete, auf Verteidigungsstellungen,<br />

die nicht zu halten sind.<br />

Auch der Versuch, die Ehe in ihrer Bedeutung<br />

allein auf die Pflege und Erziehung<br />

von Kindern zu verengen, ist nicht überzeugend.<br />

In diese Richtung geht der Vorschlag,<br />

das Ehegattensplitting abzuschaffen<br />

und durch ein Familiensplitting zu ersetzen.<br />

Die Behandlung des von den Eheleuten erzielten<br />

Einkommens als Gemeinschaftseinkommen,<br />

das durch zwei geteilt (gesplittet)<br />

wird, bekämpfen manche ideologisch im<br />

Herdprämienvokabular, weil sie angeblich<br />

nur „Alleinverdienerehen“ privilegiere. In<br />

Wirklichkeit verdienen aber kaum je beide<br />

Eheleute exakt das Gleiche, sodass die Abschaffung<br />

des Ehegattensplittings auf eine<br />

fühlbare Steuererhöhung der Verheirateten<br />

hinausliefe. Artikel 6 des Grundgesetzes<br />

will aber die Ehe gerade als Gemeinschaft,<br />

die freiwillig als Solidargemeinschaft<br />

begründet wurde, unter den besonderen<br />

Schutz stellen.<br />

Das gesamte Einkommen einer Familie<br />

mit Kindern durch die Zahl der Köpfe<br />

zu teilen, wäre ohne Zweifel genauso folgerichtig<br />

wie das Ehegattensplitting und<br />

demografisch sowieso angezeigt. Aber wo<br />

kommt das Geld her? Es besteht der Verdacht,<br />

dass die Einnahmeausfälle des Familiensplittings<br />

von kinderlosen Eheleuten<br />

bezahlt werden sollen und von denjenigen,<br />

die ihre Kinder bereits großgezogen haben,<br />

aber jetzt nicht mehr vom Familiensplitting<br />

profitieren würden. Mit einer Verfassungsvorschrift,<br />

die auch die kinderlose<br />

Ehe unter den besonderen Schutz der staatlichen<br />

Ordnung stellt, lässt sich ein solches<br />

Vorgehen nur schwer in Einklang bringen.<br />

Es wäre vielleicht doch naheliegender,<br />

der Ehe eine prinzipiell familien- und<br />

steuerrechtlich gleichgeregelte Institution<br />

an die Seite zu stellen, als sich noch weiter<br />

von einem recht eindeutigen Verfassungstext<br />

zu entfernen. Gelassenheit des bürgerlichen<br />

Lagers ist angezeigt, aber auch mehr<br />

Kritik an denjenigen, die so tun, als sei die<br />

Politik eine Bühne für den permanenten<br />

Kulturkampf gegen ein wohlfeiles Feindbild<br />

dunkler konservativer Mächte, die<br />

längst nicht mehr existieren.<br />

UDO DI FABIO<br />

ist Professor für öffentliches Recht<br />

an der Universität Bonn. Er war<br />

von 1999 bis 2011 Richter am<br />

Bundesverfassungsgericht<br />

FOTO: PRIVAT (AUTOR)<br />

28 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Ärmelschoner, Verwaltungsvorurteile:<br />

Stechuhr<br />

und 7-Stunden-Tag.<br />

Verwaltungsrealität:<br />

New E-Government Public Management,<br />

und<br />

Global Governance.<br />

Gemeinsame Bildungsförderung für Politiker.<br />

Das Master-Stipendium der ZU.<br />

Nächster<br />

Studienstart:<br />

06. September<br />

2013<br />

Bewerbungsschluss:<br />

15. April<br />

Für die Masterstudiengänge an der Zeppelin Universität. Zwei Jahre. Vollzeit. Praxistauglich<br />

durch Forschungsorientierung. Verwaltungs- und Politikwissenschaft und alles,<br />

was man wirklich braucht – für ein Management von Transformation in Verwaltung, Staat und<br />

Politik. Für Politik-, Verwaltungs- und Wirtschaftswissenschaftler und Andersdenkende.<br />

Die Zeppelin Universität ist eine private Stiftungsuniversität am Bodensee, die als Uni<br />

zwischen Wirtschaft, Kultur und Politik konsequent interdisziplinär, individualisiert und international<br />

lehrt und forscht. Weitere Informationen zu diesem Master-Studiengang wie auch<br />

zu den Master-Studiengängen in Kommunikations- und Kulturwissenschaften und in Wirtschaftswissenschaften<br />

sowie der Bewerbung unter www.zu.de/cicero


| B E R L I N E R R E P U B L I K<br />

ALLES AUF DEN TISCH<br />

Die Verbraucherlobbyistin Anne Markwardt steht für die wachsende Deutungsmacht der Organisation Foodwatch<br />

V ON G EOR G L ÖWISCH<br />

U<br />

M 13:47 UHR IM CAP-SUPERMARKT<br />

in Berlin-Karlshorst klettert Anne<br />

Markwardt in einen Einkaufswagen.<br />

Der Kameramann ruft: „Läuft“, und<br />

Tim, der Reporter von „logo!“, den Nachrichten<br />

des Kinderkanals, schiebt Markwardt<br />

durch die Regalflure, vorbei am Tee,<br />

an der Marmelade. Sie lässt die Beine aus<br />

dem Wagen baumeln. „Eine schöne Position“,<br />

ruft der Kameramann, und Tim<br />

macht Tempo, stoppt, macht Tempo, vor,<br />

zurück. Sie lächelt, sie weiß, dass hier gerade<br />

ein gutes Bild entsteht.<br />

Ein perfektes Bild, denn in dem Kika-<br />

Film über Lebensmittelkennzeichnung<br />

wird sie auf diese Weise zur Freundin des<br />

Reporters, zur Vertrauensperson, die entscheidet,<br />

worauf man beim Einkauf achten<br />

muss. Davon träumen andere Interessenvertreter<br />

in Berlin: Dass die Rollen des<br />

Reporters und der Lobbyistin ineinanderfließen.<br />

Aber für Anne Markwardt und ihre<br />

Organisation Foodwatch ist so etwas inzwischen<br />

Gewohnheit. Man kann diesen<br />

Erfolg nicht nur auf die Skandale zurückführen,<br />

auf das Pferdefleisch in der Lasagne,<br />

die falsch gekennzeichneten Eier und das<br />

verschimmelte Viehfutter. Dass Foodwatch<br />

Deutungsmacht gewinnt, hat Methode.<br />

Anne Markwardt, 31, bewarb sich vor<br />

fünf Jahren bei Foodwatch. Sie hatte in<br />

Berlin Theater- und Kulturwissenschaften<br />

studiert. Thilo Bode, einst Chef zuerst<br />

von Greenpeace Deutschland, dann Greenpeace<br />

International, hatte sich nach dem<br />

Skandal um die Rinderseuche BSE 2002<br />

eine Art NGO-Start-up zusammengebaut:<br />

„Foodwatch, die Essensretter“. Als Markwardt<br />

bei Bode im Bewerbungsgespräch<br />

saß, erzählte sie von einem Fernsehspot,<br />

dem sie misstraute. Darin pries Jörg Kachelmann<br />

bei Wind und Wetter den Joghurt<br />

Actimel an und versprach eine Stärkung<br />

der Abwehrkräfte.<br />

Anderthalb Jahre später stand Markwardt<br />

auf dem Münchner Marienplatz neben<br />

einem riesigen Actimel-Becher, den sie<br />

vor laufenden Kameras zur dreistesten Werbelüge<br />

des Jahres kürte. Markwardt sagte in<br />

die Mikrofone: „Es gibt sehr viele Verbraucher,<br />

die sich darüber ärgern, dass nicht<br />

draufsteht, was drin ist oder nicht drin ist,<br />

was draufsteht.“<br />

In dem Satz steckt die Rezeptur von<br />

Foodwatch, sie ist einfach und reduziert:<br />

Die Organisation fordert erst einmal nur<br />

Transparenz. „Alle müssen essen und deshalb<br />

Essen einkaufen“, sagt Markwardt.<br />

„Wenn sie Geld ausgeben und belogen werden,<br />

sind sie sauer.“ Bevormundung wird<br />

vermieden, denn die Verbraucher lassen<br />

sich nicht gern den Speisezettel vorschreiben.<br />

Foodwatch mobilisiert nicht gegen die<br />

Fleischproduktion wie Peta oder schwelgt<br />

im Genuss der Weißen Gehörnten Heidschnucke<br />

wie Slowfood. Die Biobewegung?<br />

„Wir lassen uns nicht vereinnahmen.“<br />

Bode hat Markwardt gelehrt, wie man<br />

Kampagnen führt. Große Marken attackieren.<br />

Akribisch vorbereiten. Aggressiv zuschlagen.<br />

Mitmachkomponenten einbauen.<br />

Nicht einlullen lassen. Prägnant formulieren,<br />

auch mal ironisch. Inzwischen hat sie<br />

„abgespeist.de“ an einen Kollegen abgegeben<br />

und eine Kinderkampagne entwickelt.<br />

„Wir wollen, dass die Unternehmen aufhören,<br />

Kinder auf die falsche Ernährung zu<br />

polen, weil ihr das die größten Profite einbringt“,<br />

sagt sie. Es geht vor allem gegen<br />

zu viel Zucker. Richtige und falsche Ernährung?<br />

Das weicht von der puren Transparenzstrategie<br />

ab. Bei Kindern ist das aber<br />

nicht so heikel. An ihnen erzieht die Gesellschaft<br />

ganz gern herum.<br />

„Das Thema Essen wächst“, sagt Anne<br />

Markwardt. Foodwatch ist auf 25 000<br />

Fördermitglieder angewachsen. Wer über<br />

5000 Euro zahlt, wird auf der Website genannt,<br />

um Transparenz herzustellen. Ab<br />

500 Euro wird geprüft, ob ein Zusammenhang<br />

zur Lebensmittelindustrie besteht.<br />

Spenden wie die des Schokoladenfabrikanten<br />

Alfred Ritter in den Anfangsjahren<br />

würden heute abgelehnt, erklärt die<br />

Verbraucherschützerin. Inzwischen hat<br />

ihre Organisation 13 Mitarbeiter. In der<br />

Woche, als der Kika-Reporter sie durch<br />

den Supermarkt schaukelt, ist sie außerdem<br />

in der „Abendschau“ des RBB und im<br />

„ARD-Morgenmagazin“ zu Gast. Es geht<br />

um den Eierskandal. Sie wirkt ruhig vor der<br />

Kamera mit ihrem geraden, klaren Blick.<br />

Sie breitet keine Vision über eine bessere<br />

Essenswelt aus, sie beschränkt sich auf<br />

eine Forderung: Alle Informationen müssen<br />

„auf den Tisch“. Im Morgenmagazin<br />

gebraucht sie die Formulierung vier Mal.<br />

So schnell ändert sich die Welt der Lebensmittel<br />

allerdings nicht. Der Danone-<br />

Konzern hat die Werbung für Actimel modifiziert<br />

und eine Champignonsuppe ihr<br />

Rezept. Doch die Behörden zögern sogar,<br />

Hersteller zu outen, die gegen Vorschriften<br />

verstoßen. Sie prüfen, beschreiten Dienstwege,<br />

erheben Gebühren. Foodwatch? Essensretter?<br />

Der Sachbearbeiter ist zu Tisch!<br />

Aber schon an Markwardts Biografie<br />

kann man sehen, wie stark sich Politisieren<br />

ums Essen in der Gesellschaft verankert.<br />

Sie kommt aus Klütz, einer Kleinstadt<br />

an der Ostsee, der Vater war Landarzt. Vor<br />

den Sommerferien gab es in ihrer Schule<br />

in Grevesmühlen einen Projekttag. Einmal<br />

protestierten sie und ihre Mitschüler<br />

gegen Gentechnik, ihre Mutter nähte ein<br />

Tomaten kostüm. Eine Aktion mitten im<br />

Mainstream der Provinz.<br />

Jetzt steht sie mit Tim vom Kika vor<br />

der Fleischtruhe. Sie zeigt – Kamera läuft –<br />

eine Packung Hackfleisch, das womöglich<br />

mit Sauerstoff behandelt ist, damit es außen<br />

rot aussieht, obwohl es innen schon<br />

grau und zäh ist. Tim nickt. Im Film wird<br />

er den Kindern erklären, dass die Politik<br />

bessere Gesetze machen muss.<br />

G EOR G L ÖWISCH<br />

ist Textchef von <strong>Cicero</strong><br />

FOTOS: GÖTZ SCHLESER FÜR CICERO, ANDREJ DALLMANN (AUTOR)<br />

30 <strong>Cicero</strong> 4.2013


„Es gibt sehr viele<br />

Verbraucher, die sich<br />

ärgern, dass nicht drin<br />

ist, was draufsteht“<br />

Anne Markwardt, Foodwatch<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 31


| B E R L I N E R R E P U B L I K<br />

MERKELSÖHNCHEN<br />

Younes Ouaqasse ist 24, Muslim und überzeugter Christdemokrat. Ein Glücksfall für die neue Union<br />

V ON J U LIA P R OSINGER<br />

I<br />

N EINEM GRAUEN GEBÄUDE spricht an<br />

diesem Tag ein Student über die<br />

Automarke Lamborghini. Fachhochschule<br />

Jena, Präsentationsübung.<br />

Lamborghini steht für Geschwindigkeit,<br />

für Coolness. Als Nächster ist Younes<br />

Ouaqasse dran. Er präsentiert die CDU.<br />

Die CDU stand nie für Geschwindigkeit,<br />

für Coolness schon gar nicht.<br />

In jüngster Zeit aber ist die Partei<br />

schneller geworden, sie hat die Wehrpflicht<br />

abgeschafft, ist aus der Atomkraft ausgestiegen,<br />

akzeptiert schwule und lesbische Lebenspartnerschaften.<br />

Beim Parteitag im<br />

Dezember 2012 hat sie Aygül Özkan und<br />

Serap Güler in den Bundesvorstand gewählt.<br />

Und Younes Ouaqasse, Sohn marokkanischer<br />

Eltern, gläubiger Muslim. Ein Referat<br />

über die CDU muss Ouaqasse nicht vorbereiten.<br />

Mitglied wurde er mit 16. Ihm gefielen<br />

die Werte der CDU, Familie, Religion.<br />

Ouaqasse fand, dass seine Lebensgeschichte<br />

da reinpasste, er sah keinen Widerspruch.<br />

Mit 18 wurde er Bundesvorsitzender der<br />

Schülerunion und damit der erste Migrant,<br />

der eine CDU-Organisation anführte.<br />

„Ich kann nicht einfach die Playtaste<br />

für meine Familienstory drücken“, sagt er,<br />

wenn man ihn nach seiner Geschichte fragt.<br />

Aus Sorge, dass ihn jemand zum Quotenmigranten<br />

macht. Dann erzählt er doch.<br />

Ouaqasse wurde 1988 in Mannheim geboren,<br />

lebte die ersten Jahre bei seiner Großmutter<br />

in Marrakesch. „Gemeinsames Essen,<br />

große Familie, es war eine schöne<br />

Zeit“, sagt er. Zurück in Deutschland, mit<br />

acht, war die Familie kleiner, dafür gab<br />

es Vergnügungsparks und Plastikroboter<br />

zum Spielen. Er musste die dritte Klasse<br />

wiederholen, übte abends mit dem Stiefvater<br />

Deutsch, kam auf die Hauptschule,<br />

schließlich auf ein Internat. Er war der Einzige<br />

mit Hip-Hop-Hosen. Die anderen trugen<br />

Polohemden. Die anderen gingen auf<br />

das Gymnasium, das zum Internat gehörte,<br />

er auf die Hauptschule auf der anderen<br />

Straßenseite. Mit einer Menge Trotz wurde<br />

aus seinem Notenschnitt von 3,7 eine 2,1<br />

und schließlich ein Fachabitur.<br />

„Unser dreigliedriges Schulsystem hat<br />

sich bewährt“, sagt Ouaqasse seither gern.<br />

Wer es nicht schaffe, der brauche mehr<br />

Zwang. In seiner Bewerbungsrede für den<br />

CDU-Bundesvorstand formulierte er das<br />

so: „Ich bin gegen ein Schulsystem, in dem<br />

Kinder erst ihren Namen tanzen können,<br />

bevor sie ihn überhaupt schreiben können.“<br />

Das gab Applaus.<br />

Mit 20 zog Ouaqasse zum Studium<br />

nach Jena an diese kleine graue Fachhochschule<br />

im Freistaat Thüringen, den er die<br />

Mitte Europas nennt. Für ihn, den deutschen<br />

Europäer mit marokkanischen Wurzeln,<br />

wie er sich sieht, gibt es kein Ost-West.<br />

Ihm fehlen überhaupt Kategorien. Ouaqasse,<br />

der Muslim, ist gegen Islamunterricht<br />

an deutschen Schulen. Er griff seine<br />

Parteikollegin Özkan an, als sie das Kruzifix<br />

in Klassenzimmern abschaffen wollte.<br />

Die doppelte Staatsbürgerschaft lehnt er<br />

ab. Er wollte sich immer voll zu Deutschland<br />

bekennen. „Ich liebe dieses wunderschöne<br />

Land.“<br />

Europas Asylpolitik? Allein die Frage<br />

findet er ideologisch. Er rollt die Augen.<br />

Ist die heutige CDU noch glaubwürdig?<br />

„Die Gesellschaft verändert sich, wir verändern<br />

uns mit – aber unser Wertegerüst<br />

bleibt dasselbe.“ Die neuen Positionen der<br />

CDU? Bei einem Auto will man doch auch<br />

die Servolenkung, sobald es die serienmäßig<br />

gibt.<br />

Wenn er politisiert, streift er gern seine<br />

Uhr ab und peitscht mit dem Armband<br />

auf den Tisch. Manchmal erwischt er damit<br />

sogar seine Gesprächspartner. Er will<br />

lieber über soziale Gerechtigkeit sprechen<br />

und über das, was er erlebt, wenn er auf Besuch<br />

in Berlin ist, durch die Stadt spaziert,<br />

sich Hochhäuser in Lichtenberg, Villen in<br />

Dahlem und Suppenküchen ansieht. Ein<br />

Interview mit Jean Ziegler, dem Globalisierungskritiker,<br />

hat ihn bewegt. „Ich bin<br />

schließlich Politiker, um die Welt ein wenig<br />

besser zu machen“, sagt er. „Aber gleichzeitig<br />

bin ich nur ein 24-jähriger Student.“<br />

Es kommt vor, dass er das vergisst.<br />

Zum Beispiel, wenn er, BWL im fünften<br />

Semester, an dem ehemaligen UN-Sonderberichterstatter,<br />

78, herumkrittelt: „Ein<br />

paar seiner Zahlen waren natürlich übertrieben.“<br />

Oder als er, damals noch Vorstand<br />

der Schülerunion, Nebengast in Maybrit<br />

Illners Talkshow sein sollte. Er lehnte ab,<br />

weil er sich nicht mit drei Fragen abspeisen<br />

lassen wollte.<br />

Fragt man Kommilitonen nach ihm,<br />

sagen einige, dass sie Ouaqasse für einen<br />

Schnösel halten. Weil er gegen den Studentenrat<br />

wettert: „Was soll der Bildungsstreik<br />

bringen? Dafür muss doch niemand Kosten<br />

für Polizeieinsätze verursachen.“ „Er<br />

macht Klientelpolitik für Reiche“, sagt Johannes<br />

Struzek, Mitglied des Studentenrats.<br />

Abends sieht man Ouaqasse selten in<br />

Jenas Studentenkneipen. Er finanziert sich<br />

sein Studium, indem er bei einer Unternehmensberatung<br />

arbeitet, fährt nach Mannheim,<br />

zu seiner Familie, nach Berlin, zum<br />

Bundesvorstand an den Tisch der Kanzlerin.<br />

Manchmal, so wie heute nach seiner<br />

Präsentation in Jena, besucht Ouaqasse die<br />

Konkurrenz. Bei Jenas Grünen geht es um<br />

Biomasse. Zu Beginn soll sich jeder vorstellen.<br />

Ein Imker, ein Schäfer, ein Waldorfschullehrer<br />

melden sich. Ouaqasse stellt<br />

sich nur als BWL-Student vor, so bleibt er<br />

in der Beobachterrolle.<br />

Ouaqasse ist mit Angela Merkel groß<br />

geworden. An Thüringens Hochschulen<br />

wirbt er neuerdings für Nachhaltigkeit,<br />

die Studenten sollen seltener aus Pappbechern<br />

trinken. Schwarz-Grün kann er<br />

sich auch vorstellen. Seine Ideologie heißt<br />

Pragmatismus.<br />

JULIA PROSINGER<br />

ist freie Reporterin in Berlin<br />

FOTOS: ANTJE BERGHÄUSER FÜR CICERO, MIKE WOLFF (AUTORIN)<br />

32 <strong>Cicero</strong> 4.2013


„Die<br />

Gesellschaft<br />

verändert<br />

sich – die CDU<br />

verändert<br />

sich mit“<br />

Younes Ouaqasse sitzt im<br />

CDU-Bundesvorstand – und<br />

hier im CDU-Logo in der<br />

Berliner Parteizentrale<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 33


| B E R L I N E R R E P U B L I K<br />

DIE GEGENSPIELERIN<br />

Hannelore Kraft ist für Angela Merkel das stärkste Gegenüber aus der SPD – auch ohne Kanzlerkandidatur<br />

V ON FRI TZ P LEIT GEN<br />

V<br />

ORBILDER? HANNELORE KRAFT schüttelt<br />

den Kopf. Mit großen Leitfiguren<br />

könne und wolle sie nicht<br />

dienen. Beobachte sie bei Politikern beispielhaftes<br />

Verhalten, dann übernehme sie<br />

das gerne. An erster Stelle nennt sie Johannes<br />

Rau. Seinen respekt- und verständnisvollen<br />

Umgang mit den Bürgern habe sie<br />

sehr geschätzt. Das Gleiche gelte für Kurt<br />

Beck. Von Peer Steinbrück habe sie gelernt,<br />

wie unterschiedliche Meinungen zu<br />

gewinnbringenden Diskussionen genutzt<br />

werden können.<br />

Steinbrück? Das demonstrative Lob<br />

überrascht. War er es nicht gewesen, der<br />

2005 Hannelore Kraft als Landesvorsitzende<br />

verhindert hat? Irrtum, kontert die<br />

Ministerpräsidentin. Ganz in ihrem Sinne<br />

habe die SPD Nordrhein-Westfalen damals<br />

eine Arbeitsteilung vorgenommen: Landesvorsitz<br />

Jochen Dieckmann, Fraktionsvorsitz<br />

Hannelore Kraft. Die Botschaft ist klar:<br />

Versuche, einen Keil zwischen sie und den<br />

SPD-Kanzlerkandidaten zu treiben, sind<br />

zwecklos.<br />

Wir sitzen im Amtszimmer der Ministerpräsidentin.<br />

Düsseldorfer Stadttor,<br />

10. Stock. Unter uns der Rhein und die eigenwillige<br />

Architektur des Hafenviertels.<br />

Bei unserem letzten längeren Zusammentreffen<br />

hatten wir noch höher gesessen. Das<br />

war im Sommer der Kulturhauptstadt Ruhr<br />

2010. Wir flogen im Hubschrauber über<br />

die A 40. Die Autobahn war für das Projekt<br />

„Still-Leben“ von Dortmund bis Duisburg<br />

gesperrt, der Luftraum ebenfalls. Plötzlich<br />

schoss ein Leichtmetallflugzeug unter uns<br />

her. Sehr knapp. Sie hatte es nicht mitbekommen.<br />

Voller Freude betrachtete sie den<br />

Andrang der Millionen unter sich auf der<br />

Autobahn.<br />

Auf den Beinahe-Zusammenstoß<br />

komme ich nicht zurück. Auch nicht auf<br />

Steinbrück. Das brächte nichts. Ihre Haltung<br />

ist klar. Sie wird den SPD-Kanzlerkandidaten<br />

mit vollem Einsatz unterstützen,<br />

aus Loyalität und auch aus Selbstschutz.<br />

Sie weiß: Falls Steinbrück aussteigen sollte,<br />

würden sich die Augen auf sie richten. Ihre<br />

Umfragewerte versetzen ihre Parteifreunde<br />

ins Träumen. Auch lang gediente Experten<br />

von Infratest Dimap geraten ins Staunen.<br />

Empathie, Emotionalität, Durchsetzungsvermögen,<br />

Führungsstärke, Kompetenz<br />

– für Wahlforscher bringt Hannelore<br />

Kraft die wichtigsten Kriterien mit, um<br />

auch für eine breite Bevölkerung über die<br />

Parteigrenzen hinweg wählbar zu sein. Und<br />

sie kann in den Augen der Wähler Koalition,<br />

meint man bei Infratest Dimap. Die<br />

Partnerschaft mit der ebenfalls selbstbewussten<br />

Sylvia Löhrmann von den Grünen<br />

scheint krisenfest zu sein. Unter der<br />

Führung der beiden Frauen wirkt die rotgrüne<br />

Zusammenarbeit in Düsseldorf harmonischer<br />

und effizienter als unter den Ministerpräsidenten<br />

Johannes Rau, Wolfgang<br />

Clement und Peer Steinbrück.<br />

Für viele SPD-Mitglieder sind das<br />

Gründe genug, jetzt schon mit Hannelore<br />

Kraft in die Wahlschlacht gegen Angela<br />

Merkel zu ziehen, zumal die Hauptthemen<br />

der Partei – Bildung und soziale<br />

Gerechtigkeit – besser auf sie als auf Peer<br />

Steinbrück passen. Aber sie sagt kategorisch<br />

Nein. Sie habe sich nicht zur Ministerpräsidentin<br />

wählen lassen, um gleich<br />

danach das nächste Amt anzustreben.<br />

Was sie angekündigt habe, wolle sie auch<br />

erledigen.<br />

„Hannelore Kraft wird nicht wie Gerhard<br />

Schröder an den Gittern des Bundeskanzleramts<br />

rütteln“, meint Sabine Scholt,<br />

stellvertretende WDR-Chefredakteurin<br />

und langjährige Beobachterin der Landespolitik.<br />

Sie glaubt nicht, dass die Mülheimerin<br />

nach Berlin gehen will; auch nicht<br />

2017, wenn die übernächste Bundestagswahl<br />

ansteht. Sie brauche die Insignien<br />

einer Kanzlerkandidatur nicht. Bundespolitischen<br />

Einfluss habe sie jetzt schon<br />

reichlich – als Chefin des größten Bundeslands<br />

und neuerdings auch noch als Koordinatorin<br />

der SPD-Länder im Bundesrat.<br />

In dieser Doppeleigenschaft sei Kraft, sagt<br />

Sabine Scholt, gegenwärtig die stärkste Gegenspielerin<br />

der Kanzlerin.<br />

Oliver Welke wollte es näher wissen. In<br />

seiner „Heute-Show“ im ZDF hat er Hannelore<br />

Kraft gefragt, ob 2017 ein Wahlkampf<br />

Mutti gegen Mutti zu erwarten sei.<br />

Peng! Die Replik kommt wie aus der Pistole<br />

geschossen. „Nein, dann ist die andere<br />

längst weg.“<br />

In einem kurzen Satz hat sie einfach<br />

so die mächtigste Frau der Welt versenkt.<br />

Als wir uns in ihrem Amtszimmer gegenübersitzen,<br />

kommt mir die Antwort bei<br />

Welke in den Sinn. Wie ist nun das Verhältnis<br />

zu der anderen? Die Ministerpräsidentin<br />

sieht sich außerstande, der Bundeskanzlerin<br />

herausragende Noten zu geben.<br />

Sie sei zögerlich, gehe zu wenig voran und<br />

lasse einen klaren Kurs vermissen; vor allem<br />

in der Innenpolitik, aber auch in Europa.<br />

Dass Hannelore Kraft so entschieden gegen<br />

Angela Merkel antritt, sieht nach Arbeitsteilung<br />

in der SPD-Führung aus. Nachdem<br />

Gabriel, Steinbrück und Steinmeier sich<br />

vergeblich an der Bundeskanzlerin abgearbeitet<br />

haben, knöpft sich nun Kraft die<br />

Spitzenfrau der Union vor.<br />

Ihr Gesicht drückt wenig Freude aus,<br />

wenn sie mit Merkel verglichen wird. Die<br />

Kanzlerin verkörpere eine andere Art von<br />

Politik, sagt sie brüsk. Mit Merkels Politikstil<br />

könne sie nichts anfangen.<br />

Dabei gibt es in den Karrieren unbestreitbare<br />

Parallelen. Beide mussten sich in<br />

Männerwelten durchsetzen. Beide stürmten<br />

im Rekordtempo nach oben.<br />

HANNELORE KRAFT GING ERST 1994 in die Politik.<br />

Sie trat in ihrer Heimatstadt Mülheim<br />

in die SPD ein. Kaum Mitglied, sah sie<br />

sich mit einem parteiinternen Papier konfrontiert,<br />

in dem gefragt wurde, was sich<br />

in der SPD ändern müsste, um nach verlorener<br />

Kommunalwahl wieder in die Erfolgsspur<br />

zu kommen. Von zehn Themenfeldern<br />

kreuzte sie acht an. Daraufhin saß<br />

FOTO: WOLFGANG WILDE/ROBA PRESS<br />

34 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Hopp! Hannelore Kraft<br />

mit ihrem Hund<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 35


| B E R L I N E R R E P U B L I K<br />

sie, wie sie erzählt, in acht Arbeitsgruppen.<br />

Es sei hart gewesen, aber ein besseres Training<br />

hätte ihr nicht passieren können. So<br />

habe sie die Partei im Schnelldurchgang<br />

von Grund auf kennenlernen können. Sie<br />

wusste so gut Bescheid, dass sie bereits ein<br />

Jahr später in den Vorstand des Unterbezirks<br />

gewählt wurde.<br />

Mit gleicher Geschwindigkeit stieg<br />

sie im Landtag auf. Als Parlamentsneuling<br />

wurde sie Ministerin, erst für Bundesund<br />

Europaangelegenheiten, dann für Wissenschaft<br />

und Forschung. Das kennzeichne<br />

Kraft, meint Theo Schumacher, langjähriger<br />

Korrespondent der NRZ in Düsseldorf.<br />

„Sie ist da, wo sie gebraucht wird. Immer<br />

zur richtigen Zeit für den richtigen Platz.“<br />

In die Politik ist sie gegangen, weil sie<br />

sich nicht mit inakzeptablen Verhältnissen<br />

abfinden wollte. Das hat sie mit Karl Marx<br />

gemeinsam. Der wollte die Welt verändern,<br />

ihr ging es erst einmal um Kitaplätze, auch<br />

um einen für ihren Sohn. Als Partei sei für<br />

sie nur die SPD infrage gekommen. Das<br />

habe mit ihrer Herkunft als Tochter eines<br />

Straßenbahnfahrers und einer Schaffnerin,<br />

aber auch mit eigenen Beobachtungen zu<br />

tun. Die SPD kümmere sich um die Nöte<br />

der Menschen, sie biete ihnen die Möglichkeit,<br />

sich über Bildung weiterzuentwickeln.<br />

Dieser Aufgabe fühle sie sich verpflichtet.<br />

„Kein Kind zurücklassen!“, habe sie deshalb<br />

zu ihrem Credo gemacht.<br />

Stolz sei sie auf ihre Partei und auf das,<br />

was sie in den 150 Jahren ihrer Existenz<br />

für die Entwicklung der Demokratie und<br />

die Lebensbedingungen der Menschen in<br />

Deutschland geleistet habe. Auf Otto Wels<br />

weist Hannelore Kraft mit Hochachtung<br />

hin. Sein Verhalten, seine Charakterfestigkeit<br />

seien Vorbild auf ewig. Der Sozialdemokrat<br />

hatte 1933 in der letzten freien<br />

Reichstagssitzung den tobenden Nazis den<br />

Satz entgegengeschleudert: „Freiheit und Leben<br />

kann man uns nehmen, die Ehre nicht!“<br />

HANNELORE KRAFT HAT KEINE PROBLEME mit<br />

der weiten Welt, spricht Englisch und Französisch,<br />

pflegt aber ihre Bodenständigkeit.<br />

Sommerurlaub macht sie mit ihrer Familie<br />

im Sauerland, der alte Freundeskreis ist ihr<br />

wichtig. Ihre direkte Art kommt an, auch<br />

außerhalb Nordrhein-Westfalens. Von Niedersachsen<br />

bis Bayern laden Parteifreunde<br />

sie als Rednerin ein. Sie verbreitet keine<br />

rhetorische Brillanz, aber Glaubwürdigkeit.<br />

Die Leute hören ihr zu. Sie wirkt, wie immer<br />

wieder zu hören ist, authentisch. Woher<br />

hat sie diese Gabe? „Ruhrgebiet!“, sagt<br />

sie nur. „Da sind die Menschen so.“ Und<br />

wie sind sie? Herbert Grönemeyer besingt<br />

sie so: schnörkellos und wetterfest, von klarer<br />

offener Natur, urverlässlich, sonnig, stur.<br />

Was macht man, um sich nicht von guten<br />

Meinungen über Kraft einlullen zu lassen?<br />

Man wendet sich an Kollegen, die sie<br />

aus der Nähe kennen und auf kritische Distanz<br />

achten. Aber auch bei ihnen kommt sie<br />

überwiegend gut weg. Sie habe an Souveränität<br />

gewonnen, wird ihr attestiert. Nachdem<br />

die Amtszeit der Minderheitsregierung<br />

noch von grünen Initiativen geprägt<br />

Das Schuldenmonster zu besiegen<br />

wird eine harte Prüfung<br />

worden sei, setze jetzt Hannelore Kraft als<br />

Chefin die Themen. Seit dem Erfolg bei der<br />

Landtagswahl 2012 ist ihre Position stark.<br />

Für Reiner Burger von der FAZ sind die<br />

39,1 Prozent, die Hannelore Kraft mit der<br />

SPD erzielte, unter den heutigen Bedingungen<br />

durchaus mit den großen Wahlerfolgen<br />

unter Johannes Rau zu vergleichen.<br />

Es sei ihr gelungen, die nach 40 Regierungsjahren<br />

und der Wahlniederlage 2005<br />

ausgelaugte SPD inhaltlich und personell<br />

wieder in Schwung zu bringen.<br />

Was macht sie über die SPD hinaus populär?<br />

Kraft habe ein Gespür für Beschwernisse<br />

entwickelt, die die Bürgerinnen und<br />

Bürger unmittelbar belasten, stellt Tobias<br />

Blasius fest. Der WAZ-Korrespondent<br />

spricht von „Straßenthemen“, wie Ärger<br />

über fehlende Kitaplätze, Streit um Kosten<br />

von Klassenfahrten und privaten Abwässerkanälen.<br />

Hier auf schnelle Lösungen<br />

zu drängen, entspreche ihrer Maxime,<br />

nahe bei den Menschen zu sein. Das bedeute<br />

nicht, dass sie den Problemen aus<br />

dem Wege gehe.<br />

Aus der Opposition ist verständlicherweise<br />

kaum Lob zu hören. Kraft kündige<br />

viel an, setze aber wenig oder nichts um.<br />

Statt gegen die Verschuldung anzugehen,<br />

kneife sie vor schmerzhaften, aber notwendigen<br />

Maßnahmen. Das Etikett „Schuldenkönigin“<br />

hat man der Ministerpräsidentin<br />

angehängt. Das Wahlvolk hat sich davon<br />

nicht beeindrucken lassen. Seit dem Erfolg<br />

von 2012 regiert Rot-Grün mit ordentlicher<br />

Mehrheit, aber nicht ganz unbedrängt.<br />

Das höchste Gericht von NRW hat gerade<br />

zum dritten Mal einen Haushalt der Regierung<br />

Kraft für verfassungswidrig erklärt.<br />

DIE ZEITEN DER HARTEN Prüfungen stehen der<br />

Regierung noch bevor, meinen die Journalisten<br />

Scholt, Blasius, Burger und Schumacher.<br />

Wie will sie das Schuldenmonster<br />

unter Kontrolle bringen und die Schuldenbremse<br />

einhalten? Durch Sparen, Mehreinnahmen,<br />

Investitionen in Bildung und<br />

generell eine vorbeugende Politik, sagt die<br />

Ministerpräsidentin. Sie hat ermitteln lassen,<br />

dass in NRW jährlich 23,6 Milliarden Euro<br />

für soziale Folgekosten ausgegeben werden,<br />

weil Kinder und Familien nicht gezielt und<br />

frühzeitig genug unterstützt werden. So blieben<br />

rund 20 Prozent der jungen Menschen<br />

ohne Schulabschluss und Ausbildung. Ihre<br />

Präventivstrategie solle Jugendlichen aus<br />

schwierigen Milieus den Aufstieg in bessere<br />

Verhältnisse ermöglichen. Dies entlaste auch<br />

die öffentlichen Haushalte von hohen „Reparaturkosten“<br />

und sei sinvoller als der stereotyp<br />

geforderte Stellenabbau.<br />

Investieren, um zu sparen, Krafts vorbeugende<br />

Politik klingt wie die Nato-Strategie<br />

„Aufrüsten, um abzurüsten“. Dieser<br />

Doktrin wird nachgesagt, das Ende des<br />

Sowjetimperiums und des Ost-West-Konflikts<br />

herbeigeführt zu haben. Aber hilft<br />

eine solche Politik gegen Verschuldung?<br />

Gesichert ist dieser Wechsel auf die Zukunft<br />

nicht. Kraft hat viel Arbeit vor sich.<br />

Da ist ein früher Wechsel nach Berlin nicht<br />

drin. 2017 wird neu entschieden. Wichtige<br />

Wahlen stehen an: im Land, im Bund und<br />

für das Amt des Bundespräsidenten / der<br />

Bundespräsidentin. Nirgends hat sie die<br />

Tür zugeschlagen. Hannelore Kraft wäre<br />

in ihrer heutigen Verfassung eine Spitzenkandidatin<br />

mit guten Siegchancen in allen<br />

drei Disziplinen.<br />

FRI TZ P LEIT GEN<br />

ist Journalist, er wurde im<br />

Rheinland geboren und ist in<br />

Westfalen aufgewachsen, er war<br />

bis 2007 WDR-Intendant<br />

FOTO: PICTURE ALLIANCE/DPA/SÜDDEUTSCHE<br />

36 <strong>Cicero</strong> 4.2013


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| B E R L I N E R R E P U B L I K | S O Z I A L D E M O K R A T I E<br />

SOZI SUCHT FRAU<br />

Die SPD hat Hannelore Kraft, Malu Dreyer und Manuela Schwesig. Aber wie stark ist die<br />

Position der Frauen in der Partei wirklich? Reise zu den Genossinnen der Bayern-SPD<br />

V ON KATRIN W ILK ENS<br />

H<br />

E RZOGENAURACH, kurz nach<br />

17 Uhr, die Halbgardinen hinter<br />

den Küchenfenstern sind<br />

mit Kranichen bestickt, das<br />

Reformhaus am Markt bietet<br />

Wollunterwäsche zum Aktionspreis, und<br />

unten im alten Rathaus kocht ein Thailänder.<br />

Oben im ersten Stock treffen sich an<br />

diesem Abend die örtlichen SPD-Frauen,<br />

sie erwarten die Landes-Generalsekretärin<br />

aus München. In einem Kamin lodern<br />

die Flammen, die Veranstaltung heißt auch<br />

Kamingespräch, der Begriff soll Exklusivität<br />

vermitteln. Und eigentlich auch Behaglichkeit,<br />

aber die Generalsekretärin verspätet<br />

sich, das Feuer entzieht<br />

dem Raum Sauerstoff. Die<br />

Stimmung wird gereizt.<br />

„Ich weiß nicht, ob’s hier<br />

nicht zu warm wird. Wir sind<br />

doch alle Frauen im besten<br />

Alter“, überlegt die stellvertretende<br />

Ortsvorsitzende<br />

Dankers laut. Die stellvertretende<br />

Kreisvorsitzende<br />

Stamm-Fibich mustert sie<br />

so, als hätte die Parteifreundin<br />

sie gerade ins Klimakterium<br />

verfrachtet. „Vielen Dank, liebe Rita,<br />

ich habe noch keine Hitzewallungen.“<br />

Reise zu den Frauen der SPD, jener<br />

Partei, die nach der erfolgreichen Hannelore<br />

Kraft in Nordrhein-Westfalen nun<br />

mit Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz eine<br />

zweite Ministerpräsidentin vorzeigen kann.<br />

Zu den Erfolgsfrauen der Partei zählt Manuela<br />

Schwesig, Sozialministerin von<br />

Mecklenburg-Vorpommern, und Andrea<br />

„Liebe Rita,<br />

ich habe<br />

noch keine<br />

Wallungen“<br />

Die SPD-<br />

Vize-Kreisvorsitzende<br />

Stamm-Fibich<br />

Nahles gibt es auch noch. Aber wie stark<br />

ist die Machtposition der Frauen in dieser<br />

Partei wirklich? Wie weiblich ist die SPD?<br />

Greifen wir uns den bayerischen Landesverband<br />

heraus, weil er als erster eine<br />

Frau an seiner Spitze hatte. Renate Schmidt<br />

übernahm den Vorsitz 1991, nachdem die<br />

SPD auf 26 Prozent gesunken war. Die<br />

Partei kennzeichnet in Bayern eine Mischung<br />

aus Pech, Selbstmitleid und Larmoyanz,<br />

seit Urzeiten regiert die CSU<br />

das Land. Daran vermochte auch Renate<br />

Schmidt nichts zu ändern, aber sie schaffte<br />

es, der Partei Hoffnung zu machen und<br />

ihre Ergebnisse zu verbessern. Es ging vorwärts.<br />

Schließlich wurde sie<br />

Bundesfamilienministerin.<br />

Inzwischen ist Schmidt<br />

raus aus der Politik. Nach ihr<br />

kamen wieder die Männer –<br />

und schlechtere Ergebnisse.<br />

Von 65 000 Mitgliedern sind<br />

20 700 Frauen: nur knapp<br />

ein Drittel. Ganz vorn ist die<br />

Partei so männlich wie vor<br />

Schmidt. Als Spitzenkandidat<br />

für die Landtagswahl im<br />

Herbst tritt der Münchner<br />

Oberbürgermeister Christian Ude an, den<br />

Parteivorsitz führt der Bundestagsabgeordnete<br />

Florian Pronold.<br />

„Frauen tun sich insgesamt immer noch<br />

schwer im politischen Alltag“, formuliert<br />

Pronold so vorsichtig wie möglich, und<br />

er klingt dabei wie ein Grundschullehrer:<br />

Die Marie tut sich immer noch ein<br />

bisschen schwer mit den Grundrechenarten.<br />

Damit seine Aussage wenigstens etwas<br />

Wahlkampfpfeffer enthält, setzt er hinzu:<br />

„Aber in der CSU sind die Schwierigkeiten<br />

noch größer.“<br />

Ganz stimmt das nicht, schon weil in<br />

diesem Wahljahr die Verbraucherministerin<br />

Ilse Aigner von Berlin in die Landespolitik<br />

zurückkehrt. Den mächtigsten Bezirksverband,<br />

die CSU Oberbayern, leitet<br />

sie schon, viele sehen sie als Nachfolgerin<br />

von Horst Seehofer, und das Ganze geht<br />

auch noch ohne Geschlechter-Gedöns-<br />

Debatte ab. Das muss die SPD wurmen.<br />

Sie hat doch schon seit 1988 die Automatik-Quote<br />

im Statut, nach der mindestens<br />

40 Prozent der Parteiämter und Abgeordnetenmandate<br />

an Frauen gehen müssen.<br />

Trotzdem muss man eine herausragende<br />

Frau in diesem Verband erst mal ausfindig<br />

machen: Cherchez la femme. Oder auf die<br />

Perspektive der Genossen übertragen: Sozi<br />

sucht Frau. Zumindest eine Frau hat die<br />

Bayern-SPD, die modern wirkt und überall<br />

einsetzbar ist: Natascha Kohnen, Generalsekretärin<br />

des Landesverbands. Pronold<br />

lobt sie am meisten dafür, dass sie „eben<br />

nicht diesen Stallgeruch der Politik hat“.<br />

Natascha Kohnen erscheint eine gute<br />

Stunde zu spät zum Kamingespräch im<br />

alten Rathaus von Herzogenaurach.<br />

Vollsperrung auf der Autobahn, sie<br />

lächelt, als wäre es das Schönste,<br />

zwei geschlagene Stunden im<br />

Wagen festzusitzen. Vielleicht<br />

ist das wirklich schöner als in<br />

der Bullenhitze des Kaminzimmers.<br />

Aber die Genossinnen sind jetzt erleichtert.<br />

Sie empfangen die Besucherin wie<br />

eine Heldin. Kohnen, 45, tritt tiefstimmig<br />

FOTOS: LUKAS BARTH/DAPD [M], HORST GALUSCHKA [M], JENS BÜTTNER [M]; COLLAGE: CICERO<br />

38 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Drei Generationen von Frauen der Bayern-SPD. Am Anfang war Renate Schmidt, die<br />

erste Vorsitzende eines SPD-Landesverbands, die Augenpartie unten links. Heute amtiert<br />

Natascha Kohnen – allerdings nur als Generalsekretärin, Augenpartie oben links. Und die<br />

nächste Frauengeneration? Vielleicht Johanna Uekermann, Augenpartie in der Mitte<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 39


F R A U F R I E D F R A G T S I C H …<br />

… wie sie sich gegen die<br />

Vegetarier wehren soll<br />

I<br />

CH ESSE GERN FLEISCH.<br />

Als Schwäbin ekle ich<br />

mich auch nicht vor Innereien,<br />

und mir ist klar, dass<br />

grobe Leberwurst sich nicht wesentlich<br />

von dem unterscheidet,<br />

was sich in den Futterdosen unseres<br />

Katers befindet. Warum alle so<br />

überrascht waren, dass in Lasagne<br />

für 1,99 Euro kein Bio-Rinderfilet<br />

drin ist, verstehe ich nicht. Dass<br />

hochwertige Lebensmittel nicht<br />

billig zu haben sind, sollte sich inzwischen<br />

herumgesprochen haben.<br />

Mein Problem ist: Ich fühle<br />

mich verfolgt. Mein vegetarisches<br />

Über-Ich heißt Hanna und<br />

ist eine Freundin von mir. Wenn<br />

wir zusammen im Restaurant sind,<br />

bestelle ich kein Fleisch, weil ich weiß, dass sie es nicht gerne sieht. Wenn jemand<br />

bei Facebook das Foto einer Schlachtplatte postet, schreibe ich nicht „Oh, lecker!“<br />

darunter, weil ich Sorge habe, sie könnte es lesen. Hanna gehört nicht zu den Vegetariern,<br />

die neben dem Würstchengrill stehend Vorträge über Massentierhaltung<br />

halten. Sie erwähnt ihre vegetarische Lebensweise nur, wenn man ihr Fleisch aufdrängen<br />

will, nicht um zu missionieren. Trotzdem macht Hanna mir ein schlechtes<br />

Gewissen, und das nehme ich ihr übel.<br />

Früher wäre es einfach gewesen. Da hätte ich Hanna als wunderliche Körnerfresserin<br />

belächelt und ungerührt weiter meine blutigen Steaks verspeist. Früher<br />

war Vegetarier-Bashing Mainstream. Heute, wo wir alle genau wissen, unter welchen<br />

Umständen unsere Steaks produziert werden, fällt es immer schwerer, die<br />

notwendige Verdrängungsleistung zu erbringen, um Fleisch noch genießen zu können.<br />

Dokumentationen über Tiertransporte und Schlachthöfe im Fernsehen sehe<br />

ich mir absichtlich nicht an – wozu gibt es Foodwatch? Ich rede mir ein, dass die<br />

teure Bio-Lende, die ich meistens kaufe, von einem Tier stammt, das glücklich auf<br />

der Wiese gegrast hat und fröhlich muhend in den Tod getrabt ist. Und ich beruhige<br />

mich damit, dass den Tieren ja auch nicht geholfen ist, wenn ich sie nicht<br />

esse – schließlich sind sie ja schon tot. Kurz: Ich möchte auf gar keinen Fall aufhören,<br />

Fleisch zu essen. Ich bestelle jetzt mal die Tageszeitung ab, sperre meine vegetarisch<br />

lebenden Freunde bei Facebook aus und boykottiere die Fernsehnachrichten.<br />

Die Ernährungsdebatte kann ruhig ohne mich stattfinden. Wer beim Essen<br />

das Wort Tierquälerei in den Mund nimmt, wird von meiner Einladungsliste gestrichen.<br />

Artikel über die Umweltbelastung durch Fleischherstellung melde ich als<br />

Spam. Und zu diesem blöden Arzt, der mir erzählen will, übermäßiger Fleischkonsum<br />

sei gesundheitsschädlich, gehe ich einfach nicht mehr hin. Wäre doch gelacht,<br />

wenn ich es nicht schaffen würde, keine Vegetarierin zu werden!<br />

A MELIE FRIED ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />

Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen aufwirft<br />

und kompetent auf, ihr Äußeres fällt hier<br />

auf, obwohl es unauffällig und geschmeidig<br />

ist. Alle der zwei Dutzend Herzogenauracherinnen<br />

integrieren wenigstens ein<br />

rotes Teil in ihre Garderobe – Mode made<br />

by Münte –, die Generalsekretärin nicht.<br />

Sie trägt Perlenohrringe, grauen Rollkragen,<br />

blonde, lange, offene Haare.<br />

Und so spricht sie auch. Emma und<br />

Alice Schwarzer, das war ihr schon früh<br />

„too much“, ihre erste Gemeinderatssitzung<br />

sei ein Graus gewesen. „Da hat man<br />

diskutiert, welche Farbe das Bushäuschen<br />

bekommen solle. Wow!, dachte ich, das ist<br />

Politik?“<br />

Vorm Kamin geht es um die Vereinbarkeit<br />

von Familie und Beruf. Die Frauen<br />

klagen. Kohnen, Mutter von zwei Kindern,<br />

bekommt Familie und Politik zusammen.<br />

Montags und dienstags arbeitet sie in München,<br />

Mittwoch bis Sonntag ist sie unterwegs,<br />

an jedem zweiten Wochenende darf<br />

sie wieder in München arbeiten. 60 Stunden<br />

kommen so locker zusammen. Wahrscheinlich<br />

viel mehr, genau festlegen will<br />

sie sich da nicht. Aber bei diesem Termin<br />

redet sie nicht von sich, sondern betont,<br />

wie aufschlussreich und interessant sie all<br />

die Berichte findet.<br />

Die Herzogenauracherinnen sind<br />

Lichtjahre von der aufstrebenden<br />

SPD-Frau entfernt, aber sie nicken, lachen<br />

und knabbern Kekse. Vielleicht bewundern<br />

die Frauen sie, gerade weil sie sich<br />

stark von ihnen unterscheidet. Aber die<br />

Unterschiedlichkeit zwischen Führungsfigur<br />

und Basis kann auch bedeuten: Von<br />

unten werden in der SPD nicht automatisch<br />

neue, erfolgreiche Frauen nach oben<br />

kommen. Erfolgsfrauen sind immer noch<br />

Ausnahmeerscheinungen.<br />

RENATE SCHMIDT hatte sogar beides: Sie<br />

stach heraus mit ihrem Führungsanspruch,<br />

und dennoch wirkt ihre Vita genossig. Mit<br />

17 schwanger, Rauswurf aus der Schule,<br />

wegen „Schande“, wie es damals hieß; leitende<br />

Systemanalytikerin bei Quelle, aber<br />

eben auch Betriebsrätin; Trägerin des Sozialistenhuts,<br />

aber auch des Ordens wider<br />

den tierischen Ernst.<br />

Kohnens Lebenslauf wirkt dagegen behütet.<br />

Abitur, naturwissenschaftliches Studium,<br />

Lektorin, zwei Jahre in Paris. Erst<br />

mit Mitte 30 in die SPD, dafür acht Jahre<br />

später schon Generalsekretärin. Auch<br />

wenn sie bestaunt wird, weil sie anders ist,<br />

40 <strong>Cicero</strong> 4.2013


www.tropen.de<br />

ILLUSTRATION: JAN RIECKHOFF; FOTO: SIMONE SCARDOVELLI<br />

bedeutet das gleichzeitig eine unausgesprochene<br />

Distanz zu den Mitgliedern, die sie<br />

zu überwinden hat. Zusätzlich zum Männerklub,<br />

der sich nur langsam öffnet.<br />

„Zu sehr testosterongesteuerte Männer<br />

hat man in der Politik satt, aber Rüschenblusen<br />

eben auch“, sagt Renate Schmidt.<br />

Wenn sie über die Anfänge ihrer Politik<br />

erzählt, meint man, sie lägen Jahrhunderte<br />

zurück, dabei sind es nur Jahrzehnte.<br />

54 Mal ist sie 1983 in einer 15-minütigen<br />

Parlamentsrede über Verteidigungspolitik<br />

unterbrochen worden – im Schnitt alle<br />

16 Sekunden. „Sie sehen besser aus, als Sie<br />

reden“, hat der damalige CSU-Kreisvorsitzende<br />

und spätere Bundesminister Michael<br />

Glos zu ihr gesagt, und weil es so ein Lacher<br />

war, gleich zweimal.<br />

Schmidt möchte keinen Extratermin<br />

machen, um über die SPD-Frauen zu reden,<br />

sondern allenfalls ein Telefonat<br />

führen. Sie will sich nur<br />

noch begrenzte Zeit mit Politik<br />

beschäftigen. Thesen hat<br />

sie allerdings schon. „Frauen<br />

und Männer sind in der Politik<br />

dann erfolgreich, wenn<br />

sie, ohne ihr Geschlecht zu<br />

verleugnen, auch Fähigkeiten<br />

praktizieren, die dem<br />

jeweils anderen zugeschrieben<br />

werden.“ Das sei zum<br />

Beispiel der „richtige Kerl“,<br />

der aber zuhören kann und<br />

teamfähig sei. Oder die mütterliche Frau,<br />

die sich durchsetzen kann. Schmidt sagt<br />

auch: „Frauen haben es in der Politik leichter<br />

als früher.“<br />

Ob das zutrifft? Vielleicht werden sie<br />

nicht mehr so häufig unterbrochen, aber<br />

schwer haben sie’s immer noch, zumindest<br />

machen sie es sich schwer, zumindest<br />

in Bayern, zumindest in der SPD. Man<br />

kann das an Johanna Uekermann sehen,<br />

Vize-Juso-Bundesvorsitzende und „junge<br />

Wilde“, so wird sie intern genannt. Sie ist<br />

ein Gesicht der ganz jungen SPD, der jungen<br />

Frau, der jungen Politik. Aber das ist<br />

ziemlich brav.<br />

25 Jahre, Studentin der Politikwissenschaften<br />

und seit zehn Jahren Mitglied<br />

der SPD. „Meine Eltern sind beide in der<br />

SPD aktive Mitglieder. Als Kind habe ich<br />

mehr Parteitage als Kindergeburtstage<br />

mitgemacht.“<br />

Wild klingt das nicht, wenn die Tochter<br />

in dieselbe Partei eintritt, in der schon Vati<br />

„Testosteron<br />

hat man<br />

satt. Aber<br />

Rüschenblusen<br />

auch“<br />

Renate Schmidt<br />

und Mutti sind. Und jung klingt es auch<br />

nicht, wenn sie sagt: „Ich finde Sach inhalte<br />

wichtiger als Provokation.“ Jeder Satz hört<br />

sich an wie in einem sorgfältig vorbereiteten<br />

Bewerbungsgespräch, da kommt nichts<br />

Unüberlegtes, Spontanes vor, man könnte<br />

auch sagen: nichts Lebendiges:<br />

„Um einen Listenplatz zu bekommen,<br />

muss man zeigen, dass einem sozialdemokratische<br />

Politik wichtiger ist als die eigene<br />

Karriere.“<br />

„Auf meinem Grabstein soll mal stehen:<br />

Ich bin wahrgenommen worden, als Person,<br />

die Ziele hatte, dafür gekämpft hat und dabei<br />

nicht eingeknickt ist.“<br />

„Um nach oben zu kommen, braucht<br />

es Ausdauer und Durchsetzungsfähigkeit.“<br />

ES GIBT BEGEGNUNGEN mit Politikern, da<br />

wünscht man sich eine heulende Petra<br />

Kelly zurück, einen „Ichwill-hier-rein“-Schröder<br />

oder einen Pflasterstein-Fischer.<br />

Weil all diese Politiker<br />

eine eigene Farbe haben,<br />

einen Stil, der ihre Politik<br />

beschreibt.<br />

Selbst Bücher, die<br />

Ueker mann nennt, um ihre<br />

Politik zu charakterisieren,<br />

sind auf ihre Art sozialdemokratischer<br />

McKinsey-Jargon:<br />

Marx, Schwarzer und …<br />

gähn … Simone de Beauvoir.<br />

Nur auf die Frage, welche Politikerin ein<br />

Vorbild ist, welcher Politiker ein modernes<br />

Männerbild in der Politik repräsentiere, da<br />

fällt der seit zehn Jahren mit 40 Wochenstunden<br />

in der SPD arbeitenden Sozialdemokratin<br />

keiner ein, gar keiner, nein, auch<br />

nicht mit Nachdenken. „Ich glaub …“ –<br />

lange Schweigepause –, „da kenn ich nicht<br />

so viele.“<br />

Sie klingt parteitaktisch, angepasst, fleißig.<br />

Uekermann erinnert eher an ein Frauenbild<br />

der fünfziger Jahre, als Frauen ihre<br />

Aufgaben zu erledigen hatten: Sachbearbeiterinnen<br />

für Sachthemen, die nicht einmal<br />

Perlenohrringe tragen dürfen. Die Emanzipation<br />

in der SPD schreitet nicht nur voran.<br />

Manchmal geht es sogar rückwärts.<br />

KATRIN W ILK ENS<br />

ist freie Journalistin in Hamburg<br />

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direkt.<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 41


| B E R L I N E R R E P U B L I K<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5 6 7<br />

Wahljahr 2013<br />

Der Countdown<br />

8 9<br />

10 11 12<br />

13 14 15 16<br />

Wen hätten Sie gern an der Macht? Bis zur Bundestagswahl lädt <strong>Cicero</strong><br />

Persönlichkeiten ein, sich die perfekte Regierung zu wünschen. Die Schriftstellerin<br />

Thea Dorn hat eine Allzeit-Wunschregierung zusammengestellt: Joseph von<br />

Eichendorff kümmert sich um das Umweltressort, Carl von Clausewitz um die Kriege.<br />

Das Kabinett für die Maiausgabe des <strong>Cicero</strong> wird Monika Maron auswählen<br />

ILLUSTRATION: JAN RIECKHOFF; FOTOS: PICTURE ALLIANCE/DPA (13), INTERFOTO, AKG IMAGES, ULLSTEIN BILD/AKG IMAGES, ZVG<br />

42 <strong>Cicero</strong> 4.2013


FOTO: KERSTIN EHMER<br />

(1) BUNDESKANZLER<br />

Friedrich II. von Preußen (1712 bis<br />

1786). Hat schon einmal ein marodes<br />

Staatswesen auf Zack gebracht.<br />

(2) CHEF DES BUNDESKANZLERAMTS<br />

Thomas Mann (1875 bis 1955).<br />

Vielleicht wäre es ihm gelungen,<br />

Friedrich die wüstesten Hasardeurspiele<br />

auszureden. Hätte in jedem Fall zu<br />

verhindern versucht, dass aus Friedrich<br />

dem Großen „Der Alte Fritz“ wird.<br />

(3) AUSWÄRTIGES<br />

Marlene Dietrich (1901 bis 1992).<br />

Preußische Kosmopolitin mit klarer<br />

Westbindung. Hat bereits in Billy Wilders’<br />

„Eine auswärtige Affäre“ brilliert.<br />

(4) INNEN<br />

Novalis (1772 bis 1801). „Nach innen geht<br />

der geheimnisvolle Weg.“ Erzromantiker,<br />

hatte trotzdem Aussicht auf eine sächsischthüringische<br />

Beamtenkarriere. Könnte<br />

dem Ressort wieder Sinn verleihen.<br />

(5) JUSTIZ<br />

Heinrich von Kleist (1777 bis<br />

1811). Zeigte in seinem „Michael<br />

Kohlhaas“, wie Gerechtigkeit geht.<br />

(6) FINANZEN<br />

Johann Georg Faust (vermutlich 1480<br />

bis 1541). Alchemist. Hat als solcher die<br />

Grundlage des Geldwesens durchschaut.<br />

(7) ARBEIT UND SOZIALES<br />

Jakob Fugger (1459 bis 1525).<br />

Unermüdlicher „Kapitalist“. Hat die<br />

älteste Armensiedlung Deutschlands<br />

gegründet – für arbeitswillige<br />

Handwerker und Tagelöhner.<br />

(8) LANDWIRTSCHAFT UND<br />

VERBRAUCHERSCHUTZ<br />

Hildegard von Bingen (1098 bis 1179).<br />

Mystikerin mit Hang zum Klostergarten.<br />

„Die Gräslein können den Acker<br />

nicht begreifen, aus dem sie sprießen.“<br />

Meinte es wenigstens wirklich so.<br />

(9) VERTEIDIGUNG<br />

Carl von Clausewitz (1780 bis<br />

1831). Wenn schon, denn schon. „In so<br />

gefährlichen Dingen, wie der Krieg eins ist,<br />

sind die Irrtümer, welche aus Gutmütigkeit<br />

entstehen, gerade die schlimmsten.“<br />

(10) FAMILIE, SENIOREN,<br />

FRAUEN UND JUGEND<br />

Hedwig Dohm (1831 bis 1919). Eine der<br />

klügsten Frauen, die es in Deutschland<br />

je gegeben hat. Fünffache Mutter.<br />

Wusste, dass die Mutter nicht immer<br />

die beste Erzieherin ihrer Kinder ist.<br />

(11) GESUNDHEIT<br />

Luis Trenker (1892 bis 1990). Nauf auf ’n<br />

Berg! (Staatsbürgerschaft ist kein Problem:<br />

Konnte sich nie recht entscheiden, ob er<br />

Österreicher, Italiener oder Deutscher ist.)<br />

(12) VERKEHR, BAU, STADTENTWICKLUNG<br />

Ludwig II. von Bayern (1845 bis 1886).<br />

Würde sich beim Bau von Flughäfen<br />

und Bahnhöfen an Walhall und<br />

Versailles orientieren. Ergäbe auch<br />

kein größeres Schlamassel.<br />

(13) UMWELT<br />

Joseph von Eichendorff (1788 bis 1857).<br />

Keiner liebte den deutschen Wald inniger.<br />

(14) BILDUNG UND FORSCHUNG<br />

Wilhelm und Alexander von Humboldt<br />

(1767 bis 1835 beziehungsweise 1769<br />

bis 1859). Damit die beiden endlich<br />

aufhören können, sich im Grab zu drehen.<br />

(15) WIRTSCHAFT UND TECHNOLOGIE<br />

Beate Uhse (1919 bis 2001). Besaß<br />

ein glückliches Händchen für beides.<br />

(16) ENTWICKLUNG<br />

Christoph Schlingensief (1960 bis 2010).<br />

Würde jedem afrikanischen Dorf<br />

ein Opernhaus gönnen.<br />

Thea Dorn, 42, schreibt<br />

Essays, Romane<br />

und Theaterstücke.<br />

Im SWR-Fernsehen<br />

moderiert sie die<br />

Büchersendung<br />

„Literatur im Foyer“.<br />

Zuletzt erschien von ihr<br />

gemeinsam mit Richard<br />

Wagner der Bestseller<br />

„Die deutsche Seele“<br />

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| B E R L I N E R R E P U B L I K | L I B E R A L E<br />

DAS FDP-PARADOX<br />

Die Chefs der FDP feiern ihre Partei gern als Wächterin der Freiheit. Aber die eigene<br />

Klientel? Darf keinesfalls den Kräften des freien Marktes überlassen werden<br />

V ON GUNNAR H INCK<br />

44 <strong>Cicero</strong> 4.2013


FOTO: MICHAEL GOTTSCHALK/DAPD<br />

Rösler, Brüderle,<br />

Lindner. Drei für<br />

die Freiheit. Und<br />

drei für die staatlich<br />

garantierten<br />

Privilegien des<br />

Mittelstands<br />

W<br />

ENN ES DARUM GEHT, die<br />

FDP als Stoßtrupp mutiger<br />

Freiheitskämpfer und konsequenter<br />

Gegner staatlicher<br />

Bevormundung darzustellen,<br />

ist auf die Parteielite Verlass. Christian<br />

Lindner, der Landesvorsitzende von Nordrhein-Westfalen,<br />

Parteichef Philipp Rösler<br />

und Fraktionschef Rainer Brüderle können<br />

auf Knopfdruck und bei jeder sich bietenden<br />

Gelegenheit über die segensreichen<br />

Kräfte der Eigenverantwortung und des<br />

freien Marktes sprechen. Lindner steht für<br />

die intellektuelle Variante, indem er gern<br />

John Stuart Mill und Karl Popper zitiert<br />

und über die liberale Ordnungslehre doziert;<br />

Rösler bemüht häufig Pathos, wenn<br />

er von der „Flamme der Freiheit“ spricht,<br />

die nicht erlöschen dürfe; und Brüderle<br />

deckt das sinnenfreudig-süddeutsche Segment<br />

ab. „Freiheit ist ein Lebensgefühl“,<br />

pflegt er zu sagen.<br />

Merkwürdig ist, dass die offizielle Rhetorik<br />

wenig mit der Binnenwelt der Partei<br />

zu tun hat. Diese wird von den Medien<br />

kaum wahrgenommen, ist aber für die<br />

Mentalität und das politische Handeln der<br />

Partei viel bestimmender. Hier, in der Tiefe<br />

der Partei, dominiert alter deutscher Mittelstand:<br />

In den Parlamenten und regionalen<br />

Vorständen sitzen mittelständische<br />

Verbandsfunktionäre, Handwerksmeister,<br />

höhere Beamte, Landwirte, lokal verankerte<br />

Unternehmer und Freiberufler, darunter<br />

viele Rechtsanwälte. Die 93 Abgeordnete<br />

starke Bundestagsfraktion spiegelt<br />

die soziale Struktur der Partei gut wider:<br />

34 Abgeordnete sind Mitarbeiter in Familienbetrieben<br />

oder Freiberufler, darunter<br />

16 Rechtsanwälte und Notare. 25 Abgeordnete<br />

haben vor ihrem Einzug in den Bundestag<br />

im öffentlichen Dienst oder in mittelständischen<br />

Berufsverbänden gearbeitet.<br />

Nur zehn Abgeordnete sind oder waren als<br />

Unternehmer oder Führungskräfte in der<br />

freien Wirtschaft tätig.<br />

Die FDP-Honoratioren aus Mittelstand<br />

und öffentlichem Dienst klatschen<br />

bei öffentlichen Reden der Parteielite stets<br />

kraftvoll mit, wenn diese wieder einmal das<br />

Allheilmittel des freien Marktes anpreisen.<br />

Was ihre eigenen Berufe angeht, sind sie dagegen<br />

froh, dass sie vor genau diesem freien<br />

Markt gut geschützt sind. Rechtsanwälte<br />

klammern sich an das Rechtsanwaltsgebührengesetz,<br />

das genau regelt, welchen Preis<br />

sie für welche Leistung verlangen können.<br />

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bei der Aufklärung der Neonazi-Morde<br />

ist kein Geheimnis mehr. Dieses<br />

Versagen hat menschliche, aber<br />

auch strukturelle Ursachen.<br />

Winfried Ridder war lange »Chefaus werter«<br />

für den Verfassungsschutz mit der<br />

Verantwortung für die Infor mationen<br />

von V-Leuten. Auf der Basis seiner<br />

Erfahrungen analysiert er die Lage<br />

und legt die Grundzüge einer neuen<br />

Sicherheitsarchitektur vor.<br />

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4.2013 <strong>Cicero</strong> 45<br />

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| B E R L I N E R R E P U B L I K | L I B E R A L E<br />

Alle paar Jahre erbitten die Standesvertreter<br />

vom Gesetzgeber eine Anhebung<br />

der Gebührensätze. Auf die konsequent<br />

marktliberale Idee, das Gesetz einfach abzuschaffen<br />

und die Anwaltstarife frei auszuhandeln,<br />

ist noch kein FDP-naher Anwaltsvertreter<br />

gekommen.<br />

ODER DIE NOTARE: Sie werden nach<br />

der Bundesnotarordnung bezahlt.<br />

Die Gebührensätze sind stark formalisiert<br />

und werden nach dem Wert<br />

der zu beglaubigenden Sache berechnet.<br />

Die individuelle Leistung<br />

und der tatsächliche Aufwand spielen<br />

keine Rolle, worüber vermutlich<br />

viele Notare froh sind. Die Einnahmen<br />

von Architekten und Steuerberatern<br />

berechnen sich ebenfalls nach<br />

festen Gebühren- und Honorarsätzen.<br />

Wenn Standesvertreter der Landwirte<br />

mit kritischen Fragen zum Sinn der<br />

milliardenschweren EU-Subventionen<br />

konfrontiert werden, führen sie<br />

routiniert die angeblich zwingenden<br />

Gründe für die Subventionen an. Es<br />

gehe, so heißt es dann, um die Versorgungssicherheit<br />

der Bevölkerung –<br />

darunter machen es Bauernvertreter<br />

nicht. Höhere Beamte, die sich Fragen<br />

zum rundum abgesicherten Status<br />

ihrer Berufsgruppe anhören müssen,<br />

antworten in der Regel mit einem<br />

Kurzvortrag über Friedrich den Großen<br />

und die „hergebrachten Grundsätze<br />

des Berufsbeamtentums“. Sie<br />

verteidigen den Beamtenstatus mit<br />

einer Verve, als ob es sich bei diesem<br />

um ein Naturrecht handelte und nicht<br />

um ein Privileg, das es mit viel Glück<br />

ins Grundgesetz schaffte.<br />

Jeder, der schon einmal zu Gast auf<br />

einem Neujahrsempfang einer örtlichen<br />

IHK war, wird den Moment kennen,<br />

in dem der Verbandsfunktionär<br />

den Blick mahnend auf den Bürgermeister<br />

richtet und zu mehr Aufträgen<br />

der Kommune auffordert, denn sonst, so<br />

heißt es unterschwellig drohend, könnten ja<br />

viele Arbeitsplätze gefährdet sein. Der Staat<br />

gilt hier als der Garant für Umsätze und<br />

Wohlstand und nicht als der gierige Schröpfer<br />

der Steuerzahler. Die alternative marktliberale<br />

Idee, sich EU-weit um Aufträge zu<br />

bemühen, spielt in diesem lokalen Milieu<br />

der Mittelständler und Gewerbetreibenden<br />

nur eine untergeordnete Rolle.<br />

Der Mittelstand<br />

erhält seine<br />

ständischen<br />

Privilegien auch<br />

mithilfe der FDP<br />

Im Jahr 2003 wollte die damalige rotgrüne<br />

Bundesregierung den Meisterzwang<br />

für die meisten Handwerksberufe abschaffen.<br />

Die FDP war die Partei, die die Liberalisierung<br />

am schärfsten bekämpfte. Rainer<br />

Brüderle trompetete damals: „Das deutsche<br />

Handwerk darf nicht zum Prügelknaben<br />

der Nation gemacht werden.“ Anders<br />

als Lindner und Rösler beherrscht er<br />

sowohl die offizielle marktliberale Rhetorik<br />

als auch die kumpelige Rolle des Interessenvertreters<br />

des Mittelstands, was ein<br />

wichtiger Grund dafür sein dürfte, dass er<br />

in der Partei gut beleumundet ist.<br />

Zeitgleich plante die rot-grüne Regierung<br />

damals, den Arzneimittelhandel zu<br />

liberalisieren. Apotheker sollten mehrere<br />

Filialen betreiben können und der Internethandel<br />

ermöglicht werden. Selbstverständlich<br />

protestierte die FDP, schließlich<br />

fürchtete sie die Konkurrenz durch Apothekenketten<br />

und europäische Internetapotheken,<br />

die den geregelten Markt und<br />

damit die Renditen ihrer Klientel kaputt<br />

machen könnten. Der Autor fragte<br />

seinerzeit den damaligen FDP-Unterhändler<br />

im Bundestag, warum seine<br />

Partei eigentlich gegen die Liberalisierung<br />

im Gesundheitssektor ist, wo<br />

sie doch sonst immer von positiven<br />

Kräften des freien Marktes spricht.<br />

Der Politiker schwieg, lächelte verlegen<br />

und murmelte dann, dass das<br />

bisherige System doch ganz gut funktioniere.<br />

Es war ein ehrlicher Moment,<br />

der den Widerspruch der Partei<br />

aufzeigte.<br />

Die schwarz-gelbe Koalition hat<br />

die Privilegien des Mittelstands bewusst<br />

erhalten. Im Koalitionsvertrag<br />

ist dieses Ziel explizit aufgeführt.<br />

Der berüchtigte Steuernachlass für<br />

Hotelbetriebe, den die FDP einforderte<br />

und schließlich auch bekam,<br />

war letztlich nicht überraschend. Er<br />

passt ins Bild.<br />

Es gehört zu den größten Paradoxien<br />

der vergangenen 25 Jahre, dass in<br />

nahezu jedem Sektor der Berufswelt<br />

das Wettbewerbsprinzip Einzug hielt,<br />

während sich ausgerechnet die sogenannten<br />

freien Berufe davor weitgehend<br />

schützen konnten. Während inzwischen<br />

jede Krankenschwester beim<br />

Verbandswechsel auf die Uhr sehen<br />

muss, um die Renditeziele ihres Krankenhauses<br />

nicht zu gefährden, konnte<br />

der alte Mittelstand seine ständischen<br />

Privilegien des 19. Jahrhunderts auch<br />

mithilfe der FDP verteidigen.<br />

DER WIDERSPRUCH DER FDP zwischen<br />

Anspruch und Wirklichkeit ist noch<br />

größer geworden, seit Guido Westerwelle<br />

als Vorsitzender das Profil der Partei<br />

auf den Wirtschaftsliberalismus reduziert<br />

hat. Eine Interessenpartei war sie schon<br />

vorher.<br />

1972 sorgte die damalige SPD/FDP-<br />

Bundesregierung für einen teuren Systembruch<br />

in der Rentenversicherung. Selbstständige,<br />

die vordem von der gesetzlichen<br />

Rente ausgeschlossen waren, konnten<br />

sich zu Discount-Preisen in das staatliche<br />

KARIKATUR: BURKHARD MOHR<br />

46 <strong>Cicero</strong> 4.2013


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FOTO: PRIVAT<br />

Rentensystem einkaufen. Ein älterer Selbstständiger<br />

musste nur vergleichsweise läppische<br />

35 000 oder 40 000 D-Mark investieren,<br />

und schon profitierte er von einem<br />

Solidarsystem, in das normale Arbeitnehmer<br />

jahrzehntelang einzahlen müssen, um<br />

eine einigermaßen auskömmliche Rente zu<br />

bekommen.<br />

Das Urteil des damaligen „Verbands<br />

Deutscher Rentenversicherungsträger“<br />

war Jahre später eindeutig: Die Reform<br />

habe „lukrative Nachrichtungsmöglichkeiten<br />

mit hoher Rendite“ ermöglicht,<br />

die Neuregelungen seien „ausgabenträchtig“.<br />

Die Reform war ein typischer Koalitionskompromiss.<br />

Die SPD wollte, dass<br />

Hausfrauen in die Rentenversicherung<br />

einsteigen konnten, die FDP bediente<br />

im Gegenzug ihre Klientel. Weil aber die<br />

durchschnittliche Hausfrau des Jahres<br />

1972 viel weniger Bargeld in die Hand<br />

nehmen konnte als der Zahnarzt von nebenan,<br />

lagen die Renditen der Selbstständigen<br />

und die damit verbundenen Kosten<br />

für die Allgemeinheit viel höher. Aus der<br />

vergessenen Rentenreform von 1972 lassen<br />

sich zwei Erkenntnisse ziehen: Dass in<br />

einer Zeit, in der alle Parteien den Staat als<br />

unerschöpfliche Geldquelle betrachteten,<br />

auch die FDP mitmachte. Und dass sich<br />

ein politisches Milieu ohne Hemmungen<br />

eines Solidarsystems bedient, wenn sich<br />

die Gelegenheit bietet und leistungslose<br />

Gewinne winken.<br />

Die Idee blamierte sich immer, wenn<br />

sie von dem Interesse unterschieden war,<br />

schrieb Karl Marx. Mit anderen Worten:<br />

Purer Idealismus bleibt hohl, solange er<br />

nicht an handfeste Interessen gekoppelt<br />

ist. Der Satz gilt aber auch andersherum:<br />

Das reine, egoistische Verfechten eigener<br />

Interessen entlarvt sich irgendwann selbst,<br />

wenn mit den Interessen keine politische<br />

Idee verbunden ist. Bei SPD und Grünen<br />

finden sich gut verdienende Hochschulprofessoren<br />

oder Architekten, die bewusst die<br />

hohen Spitzensteuersätze, die ihre Parteien<br />

vertreten, in Kauf nehmen. Persönlich ist es<br />

ein Minusgeschäft für sie, aber weil sie von<br />

der sozialen Idee der Umverteilung überzeugt<br />

sind, stehen sie dahinter. Bei CDU<br />

und CSU finden sich Mitglieder, die aufgrund<br />

ihrer christlichen Überzeugung ähnlich<br />

denken.<br />

Der FDP fehlt dagegen ein übergeordnetes<br />

Ideal, von dem die Anhänger<br />

auch dann noch überzeugt sind, wenn es<br />

sich mal negativ auf das eigene Einkommen<br />

niederschlägt. Die Partei ist Opfer<br />

eines selbst geschaffenen Paradoxes: Der<br />

individualistische, auf das rein Materielle<br />

beschränkte Freiheitsbegriff untergräbt<br />

das Freiheitsideal, das die Partei<br />

ausruft. Am Ende geht es nur noch um<br />

Egoismus und persönliche Nutzenmaximierung.<br />

Man nimmt, was man kriegen<br />

kann, und wenn dies am einfachsten<br />

durch Klientelismus und staatlichen<br />

Protektionismus zu erreichen ist, suspendiert<br />

man leichthin die hehren Ideale von<br />

Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.<br />

Am Ende findet sich der Liberalismus<br />

auf Mediamarkt-Niveau wieder: Ich<br />

bin doch nicht blöd.<br />

Die Partei steckt in einem strategischen<br />

Dilemma. Bekennt sie sich offen als Interessenpartei<br />

des Mittelstands, würde sie<br />

sich noch stärker an die Ketten dieser Klientel<br />

legen. Schlägt sie einen konsequent<br />

marktliberalen Kurs ein, liefe sie Gefahr,<br />

diese Wählerklientel zu verlieren. Die wirklichen<br />

Profiteure des freien Marktes – die<br />

Manager und Anteilseigner von börsennotierten<br />

Konzernen, international verflochtenen<br />

Unternehmen und Investmentfonds<br />

– brauchen die FDP nicht, um ihre<br />

Interessen durchzusetzen.<br />

„Der Liberalismus lässt sich heute weder<br />

als Großunternehmer-Philosophie<br />

missbrauchen noch auf eine Kleinhändler-Ideologie<br />

reduzieren.“ Das schrieb<br />

Karl-Hermann Flach, der liberale Vordenker,<br />

im Jahr 1971. Der erste Teil des Satzes<br />

stimmt heute nur teilweise, der zweite<br />

stimmt nicht mehr. Der politische Liberalismus<br />

ist derzeit auf eine Kleinhändler-<br />

Ideologie reduziert. Der legendäre FDP-<br />

Generalsekretär Flach wollte seine Partei<br />

einst „aus seiner besitzbürgerlichen Erstarrung“<br />

befreien. „Die individuellen Interessen<br />

eines sich konsolidierenden Bürgertums<br />

erhielten Vorrang vor dem liberalen<br />

Grundanliegen, nämlich Freiheit und<br />

Würde für möglichst viele Menschen zu<br />

sichern“, bilanzierte er die Geschichte des<br />

politischen Liberalismus in Deutschland.<br />

Die Beschreibung gilt exakt für die FDP<br />

im Jahr 2013.<br />

GUNNAR H INCK<br />

ist Politikwissenschaftler und<br />

freier Autor in Berlin<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 47<br />

Foto: Franziska Hüther<br />

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| B E R L I N E R R E P U B L I K | M E I N S C H Ü L E R<br />

„Rösler meinte, er sei witzig“<br />

Sprüche über Mitschüler, Witze über den Fernseher des Lehrers: H ELMUT SCHN I TTE R hat<br />

die Auftritte seine Schülers PHILIPP RÖSLER nie komisch gefunden. So ist es auch heute<br />

Die Lutherschule in Hannover war in den Neunzigern<br />

eine Hochburg des Philologenverbands, also<br />

eher konservativ, es gab sehr wenige Achtundsechziger-Lehrer.<br />

Ich hatte Philipp Rösler in der Oberstufe<br />

in Englisch. Äußerlich wirkte er unauffällig<br />

und angepasst, aufmüpfig war er nicht, und als politisch<br />

aktiv habe ich ihn auch nicht erlebt. Bei mir<br />

im Unterricht war er durchschnittlich. Er fiel aber<br />

dadurch auf, dass er gerne Sprüche über andere machte. Er meinte,<br />

er sei dadurch witzig. Aber ich hatte den Eindruck, das haben seine<br />

Mitschüler nicht unbedingt so empfunden. Ich erinnere mich an<br />

eine Situation: Wir haben in Englisch einen Roman gelesen und<br />

anschließend den Film geschaut, den es dazu gab. Es könnte „Kes“<br />

nach dem Buch „A Kestrel for a Knave“ von Barry Hines gewesen<br />

sein oder „Animal Farm“ von George Orwell, das weiß ich<br />

nicht mehr genau. Für den Film habe ich die Klasse zu mir nach<br />

Hause eingeladen. Rösler kam auch, ich habe einen kleinen Imbiss<br />

und etwas zu trinken hingestellt, und es war eigentlich alles<br />

ganz schön. Aber Rösler hat eine dumme Bemerkung über meinen<br />

Wahljahr 2013<br />

Der Countdown<br />

Fernseher gemacht. Das war so ein Grundig-Gerät,<br />

weder alt noch neu. Ein ganz normaler Fernseher.<br />

Darum lachte auch keiner.<br />

In der Presse erzählte Rösler später immer wieder<br />

die Geschichte, er hätte an der Schule deshalb<br />

keine Probleme wegen seines asiatischen Aussehens<br />

bekommen, weil die Leute dachten, er könne Karate.<br />

Darum hätten sie ihn in Ruhe gelassen. Das<br />

nehme ich ihm eigentlich übel, denn es ist ein großer Blödsinn.<br />

Die Lutherschule hatte immer schon Schüler aus ganz unterschiedlichen<br />

Familien: Aus der Unigegend kamen die Professoren- und<br />

Bürgerkinder, aber im Einzugsbereich der Schule war die Kernfabrik<br />

von Continental, also kamen beispielsweise auch Kinder aus<br />

türkischen Familien. Und es gab in den Neunzigern längst Schüler<br />

asiatischer Herkunft. Ich habe nie gehört, dass irgendjemand<br />

damit irgendein Problem gehabt hätte.<br />

In der <strong>Cicero</strong>-Serie „Mein Schüler“ zur Bundestagswahl spürt<br />

Constantin Magnis Lehrer unserer Spitzenpolitiker auf<br />

Die Lutherschule<br />

in Hannover.<br />

Hier unterrichtete<br />

Helmut Schnitter,<br />

71, von 1990 bis<br />

1992 den jungen<br />

Philipp Rösler<br />

FOTO: LUTHERSCHULE HANNOVER; GRAFIK: CICERO<br />

48 <strong>Cicero</strong> 4.2013


HAPE KERKELING<br />

Fotografiert von Martin Schoeller<br />

exklusiv für HÖRZU<br />

Einer, der<br />

zu Hause hat


| W E L T B Ü H N E<br />

HE SPEAKS DEUTSCH<br />

Man hat das Gefühl, John Kerry sei ein alter Bekannter. Doch wofür steht der US-Außenminister?<br />

V ON C H R IST OPH V ON M A R SCHALL<br />

D<br />

IE USA WENDEN SICH vom Atlantik<br />

ab und blicken nach Asien. Tatsächlich?<br />

Der neue US-Außenminister<br />

jedenfalls wirkt wie ein Dementi<br />

dieser These. John F. Kerry ist von Europas<br />

Kultur und Geschichte geprägt. Als<br />

Teenager hat er Berlin mit dem Fahrrad<br />

erkundet und die fortschreitende Teilung<br />

beobachtet. Sein Vater, ein Ex-Militär, war<br />

seit 1954 Rechtsberater der US-Mission<br />

dort. Mit elf Jahren schickten die Eltern<br />

den Sohn in ein Schweizer Internat. Sein<br />

Deutsch klingt auch heute noch passabel.<br />

Die Sommerferien verbrachten die Kerrys<br />

in der Bretagne, auf einem Anwesen der Familie<br />

seiner Mutter Rosemary Forbes. Dort<br />

ist ihm Frankreich ans Herz gewachsen.<br />

Im Rückblick mag es scheinen, als habe<br />

Kerry sich ein Leben lang auf das Amt vorbereitet,<br />

das er nun mit 69 Jahren übernommen<br />

hat – in einem Alter, in dem andere<br />

ihre Hobbys pflegen.<br />

Doch was sind die Schwerpunkte seiner<br />

späten Passion? Der Biografie nach ist<br />

es Europa. Die aktuellen Brennpunkte<br />

zwingen ihm eher den Mittleren Osten,<br />

Afrika und Asien auf. Er sagt, er wolle<br />

Lehren aus Europa auf aktuelle Konflikte<br />

anwenden und nennt die Marshall-Plan-<br />

Hilfe. Angesichts der aggressiven Töne im<br />

Inselstreit zwischen China, Japan und Korea<br />

wäre es ihm gewiss eine Beruhigung,<br />

wenn es in Asien ein Sicherheitssystem<br />

wie die Nato gäbe.<br />

Sein Leben ist reich an Überraschungen.<br />

Die Kerrys hatten wegen des Namens<br />

und der Treue zur katholischen Kirche<br />

lange als irische Amerikaner gegolten.<br />

Doch als John Forbes Kerry 2003 als neuer<br />

„JFK“ den Wahlkampf um das Weiße Haus<br />

aufnahm und Medien Parallelen zu John<br />

F. Kennedy untersuchten, der ebenfalls Senator<br />

von Massachusetts war und es zum<br />

Präsidenten geschafft hatte, förderte der<br />

Boston Globe Sensationelles zutage: Kerrys<br />

Großeltern väterlicherseits waren Juden<br />

aus Schlesien. Fritz Kohn und Ida Löwe<br />

hatten 1900 den Namen Kerry angenommen<br />

– der irische Ort war angeblich das<br />

Zufallsergebnis, als Fritz einen Stift mit verschlossenen<br />

Augen über einer Karte fallen<br />

„Es ist viel billiger, heute Diplomaten<br />

zu senden als morgen Truppen“<br />

John Kerry bei seiner Amtseinführung<br />

ließ. 1901 traten sie zum Katholizismus<br />

über, 1905 wanderten sie in die USA aus.<br />

Zwischen den Kindertagen in Berlin<br />

und dieser Enthüllung lagen Jahrzehnte einer<br />

typisch amerikanischen Karriere. Manche<br />

Etappen wie der Vietnamkrieg haben<br />

Kerrys internationale Erfahrung gestärkt,<br />

aber nicht absichtsvoll, eher als Nebenprodukt<br />

der Laufbahn im Militär einer Weltmacht.<br />

Als er 13 Jahre alt war, hatten die<br />

Eltern ihn nach Amerika zurückgeschickt,<br />

in Internate der weißen Oberschicht in<br />

Neuengland. An der Yale University erwarb<br />

er den Bachelor in Politologie und<br />

war wie George W. Bush, sein Gegner in<br />

der Wahl 2004, Mitglied der legendären<br />

studentischen Geheimgesellschaft „Skull<br />

and Bones“. 1966 trat Kerry in die Navy<br />

ein, befehligte 1968/69 in Vietnam ein<br />

Schnellboot und erhielt mehrere Orden.<br />

Zurück daheim schloss er sich dem Protest<br />

gegen den Krieg an und gewann Prominenz<br />

durch Auftritte in Kongressausschüssen.<br />

Im Kampf um das Weiße Haus<br />

wurde dies 2004 zur Last.<br />

Den Einstieg in die Politik fand Kerry<br />

nach dem Jurastudium und einigen Jahren<br />

als Staatsanwalt. 1982 wurde er Vizegouverneur<br />

von Massachusetts, seit 1984 ist er<br />

Senator dieses verlässlich progressiven Staates.<br />

Im Senat beackerte er viele Themen:<br />

Kleinbetriebe, Kommunikation, Frauenrechte,<br />

Veteranenversorgung, Luftsicherheit,<br />

dazu Außenpolitik, etwa bei der Untersuchung<br />

der Iran-Contra-Affäre. Zum<br />

Schwerpunkt wurde sie aber erst in jüngerer<br />

Zeit. 2009 rückte er an die Spitze<br />

des außenpolitischen Ausschusses im Senat,<br />

als Nachfolger Joe Bidens, der Vizepräsident<br />

wurde. Obama hat Kerry mit heiklen<br />

Missionen betraut. Er überredete Afghanistans<br />

Präsidenten Hamid Karsai 2009 zur<br />

Wiederholung der Präsidentenwahl, nachdem<br />

es im ersten Anlauf Manipulationen<br />

gegeben hatte. Kerry flog als Vermittler<br />

nach Pakistan, um die Gemüter nach tödlichen<br />

Schusswechseln mit US-Truppen<br />

im Grenzgebiet und nach dem Zugriff auf<br />

Osama bin Laden zu besänftigen.<br />

Auch als Außenminister bleibt Kerry<br />

Diener des Präsidenten und kann eigene<br />

Ambitionen nur begrenzt ausleben. Militäreinsätze<br />

betrachtet er mit Skepsis. „Es ist<br />

viel billiger, heute Diplomaten zu senden<br />

als morgen Truppen“, sagte er in seiner Antrittsrede.<br />

Er soll den Frieden in Asien retten,<br />

ein Nahostabkommen vorbereiten, mit<br />

dem sich Barack Obama schmücken will,<br />

und Irans Atomprogramm sowie Syriens<br />

Bürgerkrieg ohne Militäreinsatz stoppen.<br />

Und Europa? Kerry erliegt nicht dem<br />

Irrtum vieler Amerikaner, die Asien wegen<br />

der Wachstumsdynamik überschätzen und<br />

die EU unterschätzen. Er weiß, dass die<br />

atlantische Partnerschaft mehr amerikanische<br />

Jobs sichert als die pazifische.<br />

CHRISTOPH VON MARSCHALL<br />

ist seit 2005 USA-Korrespondent.<br />

Von ihm erschien zuletzt „Der<br />

neue Obama. Was von der zweiten<br />

Amtszeit zu erwarten ist“<br />

FOTOS: BROOKS KRAFT/CORBIS, PRIVAT (AUTOR)<br />

50 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Heute greift JFK nur noch<br />

selten zur Gitarre – vor mehr<br />

als 40 Jahren spielte er in der<br />

Rockband „The Electras“ den Bass<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 51


| W E L T B Ü H N E<br />

KARATE KANN SIE AUCH<br />

Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite überzeugt durch Standfestigkeit und Unabhängigkeit<br />

V ON PAU L F LÜCK IGER<br />

A<br />

LS ERSTE AMTSHANDLUNG halbierte<br />

Dalia Grybauskaite ihr eigenes<br />

Gehalt. Das war vor knapp vier<br />

Jahren, als die streitbare Finanzspezialistin<br />

aus Brüssel in ihre Heimat Litauen zurückkehrte,<br />

um Staatspräsidentin zu werden.<br />

Litauen steckte in der größten Wirtschaftskrise<br />

seit Erlangung der Unabhängigkeit<br />

von der Sowjetunion Anfang der neunziger<br />

Jahre. Die Wirtschaft schrumpfte um<br />

über 20 Prozent im Jahresschnitt. Statt wie<br />

ihre Herausforderer im Wahlkampf mit<br />

Populismus aufzutrumpfen, sprach Grybauskaite<br />

Klartext, kündigte eine schmerzhafte<br />

Sparrunde an – und gewann. Über<br />

zwei Drittel der Litauer wählten die unabhängige<br />

Kandidatin bereits in der ersten<br />

Wahlrunde. Schmutzkampagnen in dem<br />

katholischen Land, die der Singlefrau vorwarfen,<br />

eine Lesbe zu sein, nützten ihren<br />

Gegnern nichts. Was für die Wähler zählte,<br />

waren Unabhängigkeit und Sachverstand.<br />

Heute weist Litauen wieder eine der<br />

höchsten Wachstumsraten in der Europäischen<br />

Union auf, die Euro-Einführung im<br />

Jahr 2015 gilt als sicher, und Grybauskaite<br />

ist immer noch die weitaus beliebteste Politikerin<br />

in dem größten Baltenstaat.<br />

Dabei blieb sich die 56-Jährige treu wie<br />

kaum eine zweite Politikerin. Sie vermisse<br />

die Brüsseler Freiheit, auch mal in Jeans aus<br />

dem Haus zu gehen, klagte sie kurz nach<br />

Amtsantritt in einem Interview. Ihr Leben<br />

bestehe nun noch mehr nur aus „Arbeit,<br />

Arbeit und noch mal Arbeit“. Keine Klage,<br />

eher eine nüchterne Feststellung – typisch<br />

Grybauskaite.<br />

Als EU-Finanz- und Haushaltskommissarin<br />

hatte sie in Brüssel ab Herbst<br />

2004 Karriere gemacht. Die Brüsseler<br />

Korrespondenten stürzten sich gerne auf<br />

ihre undiplomatischen Auftritte. Die<br />

EU-Novizin aus dem kleinen 3,3-Millionen-Einwohner-Land<br />

wurde besonders<br />

als Haushaltskommissarin in Punkten<br />

deutlich, wo sich andere jahrelang hinter<br />

schönen Formeln versteckt hatten. Sie<br />

konnte schroff und arrogant sein, machte<br />

ätzende Witze und provozierte auch<br />

Schwergewichte.<br />

Die 1956 in Vilnius geborene Tochter<br />

einer Verkäuferin und eines Elektrikers<br />

wuchs im sowjetisch besetzten Litauen in<br />

einfachen Verhältnissen auf. Ihr Abendstudium<br />

in politischer Ökonomie in Leningrad<br />

musste sie sich selbst finanzieren –<br />

als Arbeiterin in der Pelzfabrik „Rot-Front“.<br />

Grybauskaite kennt die<br />

russische Mentalität aus<br />

Studium und Parteihochschule<br />

1983 kehrte sie nach Vilnius zurück und<br />

unterrichtete an der Parteihochschule der<br />

KPdSU. Daneben studierte sie in Moskau<br />

weiter. Grybauskaite schien unterwegs zu<br />

einer mustergültigen sowjetischen Beamtenkarriere,<br />

als Litauen 1991 die Unabhängigkeit<br />

erlangte. Noch im selben Jahr<br />

ergatterte sie einen Aufbaustudienplatz<br />

in Washington. In Litauens schwieriger<br />

Transformationsphase wusste sie die neuen<br />

Chancen zu packen und konnte sich rasch<br />

anpassen. In dem jungen Staat arbeitete sie<br />

bald im Finanz- und Außenministerium,<br />

verhandelte mit Brüssel den EU-Beitritt,<br />

war Botschafterin in den USA und wurde<br />

schließlich 2001 Finanzministerin einer sozialdemokratischen<br />

Regierung.<br />

Zwar nennt sie Winston Churchill und<br />

Margaret Thatcher als ihre politischen Vorbilder,<br />

doch sieht sich Grybauskaite bis<br />

heute eher als Beamtin denn als Politikerin.<br />

Der „Goldene Schnitt“ zwischen Haushaltsdisziplin<br />

und Wirtschaftswachstum<br />

interessiert sie mehr als Machtspiele und<br />

Parteiengezänk. Als große Pragmatikerin<br />

zeigte sich Grybauskaite auch in der Außenpolitik.<br />

Nicht unumstritten ist dabei<br />

ihr freundlicher Umgang mit dem weißrussischen<br />

Autokraten Alexander Lukaschenko.<br />

Litauen könne sich keinen „hungrigen<br />

und wütenden“ Nachbarn leisten,<br />

begründet sie ihre Kritik an Wirtschaftssanktionen.<br />

Brücken sind ihr wichtiger als<br />

Gräben – auch weil Litauen eine 600 Kilometer<br />

lange Grenze mit Weißrussland teilt.<br />

Zudem mache es keinen Sinn, das Nachbarland<br />

vollends in die Hände Russlands zu<br />

treiben, warnt Litauens Präsidentin.<br />

Grybauskaite kennt die russische Mentalität<br />

aus Studium und sowjetischer Parteihochschule.<br />

Neben Englisch und Polnisch<br />

spricht sie fließend Russisch. Das alles hilft<br />

ihr im Kontakt mit autokratischen Politikern<br />

aus dem postsowjetischen Raum.<br />

Doch sobald es um Litauens Verhältnis zu<br />

Russland geht, wird auch die Pragmatikerin<br />

zur litauischen Patriotin. Das Verhältnis<br />

zwischen Vilnius und Minsk mag sich<br />

entspannt haben, das zu Moskau ist immer<br />

noch eisig.<br />

Das gemeinsame private Interesse für<br />

asiatische Kampfsportarten hat sie bisher<br />

nicht mit dem russischen Präsidenten<br />

Wladimir Putin zusammengebracht. Vielleicht<br />

liegt es daran, dass die Litauerin ihren<br />

Schwarzen Karategürtel erst Ende der<br />

neunziger Jahre in den USA erlangte, der<br />

Russe seinen Judogürtel hingegen schon als<br />

junger Bursche im Sowjetheer. Karate sei<br />

eher eine Philosophie und Lebenseinstellung,<br />

die ihre Arbeit diszipliniere und Konflikte<br />

verhindere, erklärte Grybauskaite vor<br />

einigen Jahren. Darüber hinaus hält sich<br />

die Powerfrau ohne Familie mit Angaben<br />

über ihr Privatleben zurück.<br />

PAU L F LÜCK IGER<br />

arbeitet seit Sommer 2000<br />

als Osteuropakorrespondent in<br />

Warschau. Er ist Mitglied von<br />

weltreporter.net<br />

FOTOS: PLATON/TRUNK ARCHIVE, PRIVAT (AUTOR)<br />

52 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Dalia Grybauskaites<br />

politische Vorbilder sind<br />

Winston Churchill und<br />

Margaret Thatcher<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 53


| W E L T B Ü H N E<br />

KAFFEEKLATSCH IN AACHEN<br />

Der niederländische Chefdiplomat Frans Timmermans will die Außenpolitik seines Landes neu ausrichten<br />

V ON ROB S AV ELBER G<br />

F<br />

RANS TIMMERMANS kennt die Bundesrepublik<br />

und bewundert das<br />

Land wegen seiner politischen<br />

Kultur und Wirtschaftskraft. Jüngst hat<br />

der Sozialdemokrat und überzeugte Europäer<br />

seine Landsleute sogar dazu aufgerufen,<br />

mehr und vor allem besser Deutsch zu<br />

sprechen. Timmermans selbst spricht sieben<br />

Sprachen fließend, Deutsch ist eine davon.<br />

Dass ausgerechnet ein bekennender Europäer<br />

und Deutschland-Fan zum Außenminister<br />

der Niederlande ernannt wurde, mag<br />

manch einen überrascht haben, ist doch das<br />

Königreich unter dem Einfluss des Populisten<br />

Geert Wilders in den vergangenen Jahren<br />

immer euroskeptischer geworden.<br />

Timmermans verkörpert das genaue<br />

Gegenteil. Der 51-Jährige wuchs in Limburg<br />

an der Grenze zu Deutschland und<br />

Belgien auf. Dort, wo die Den Haager<br />

Elite ganz fern zu sein scheint. Noch immer<br />

geht der vierfache Vater, soweit es sein<br />

neuer Terminkalender zulässt, jedes Wochenende<br />

mit seiner Familie in Aachen<br />

Kaffee trinken und Kuchen essen.<br />

Als junger Beamter im Haager Außenministerium<br />

musste Timmermans am<br />

9. November 1989 nicht lange überlegen,<br />

was er tun sollte. Gemeinsam mit einigen<br />

Freunden fuhr er in seinem alten Toyota<br />

Starlet nach Ostberlin, wo sein Vater<br />

im Konsulat arbeitete. „Es war und ist<br />

das wichtigste Ereignis in meinem Leben<br />

als Politiker“, sagt er heute noch. Das Bild<br />

der geteilten Stadt mit ihren Checkpoints<br />

und den stinkenden Trabis hat sich seinem<br />

Gedächtnis eingeprägt. „Die Frauen aus<br />

Ostberlin waren alle blondiert, die Männer<br />

trugen komische Lederjacken, und alle<br />

fragten mich nach Geld für Bier.“<br />

Ein Jahr später, 1990, war der Westler<br />

wieder im Osten, bekam eine Stelle an der<br />

Botschaft in Moskau. Dort erlebte der Diplomatensohn<br />

die Krämpfe und Kämpfe um<br />

die untergehende Sowjetunion. Bei Heimweh<br />

setzte er sich einfach in seinen Wagen<br />

und fuhr quer durch Europa – durch<br />

„Holland soll sich mehr auf<br />

Europa und vor allem auf<br />

Deutschland konzentrieren“<br />

Frans Timmermans, Außenminister<br />

Weißrussland, Polen, die DDR und Westdeutschland<br />

– ohne Pause nach Hause.<br />

Heute ist es wieder so, dass er mehrere<br />

Länder am Tag besucht. Timmermans<br />

freut sich sichtbar über seinen „Traumjob“.<br />

Pflichtbewusst betont er die Kontinuität,<br />

stellt aber gleichzeitig die Weichen<br />

der niederländischen Außenpolitik neu. Es<br />

ist kein Geheimnis, dass er die traditionell<br />

angelsächsische Ausrichtung seines Landes<br />

ändern möchte. Während Regierungschef<br />

Mark Rutte Sir Winston Churchill und<br />

Ronald Reagan bewundert, schlägt Timmermans<br />

Herz schneller bei Willy Brandt<br />

und Helmut Schmidt. Daher lautet sein<br />

Rat: „Die Niederlande sollten sich mehr<br />

auf Europa und vor allem auf Deutschland<br />

konzentrieren.“<br />

Diese Aussage war gewagt angesichts<br />

der schweren Last der deutsch-holländischen<br />

Vergangenheit, die zu einem distanzierten<br />

Verhältnis zu den Deutschen<br />

geführt hatte. Timmermans weiß jedoch,<br />

dass dies für die heutige Generation<br />

keine so große Bedeutung mehr hat.<br />

Sichtbarstes Zeichen dafür: Niederländer<br />

sind die größte Touristengruppe zwischen<br />

Aachen und Zittau, sie machen inzwischen<br />

lieber Urlaub im Sauerland und<br />

tanzen in Berliner Klubs als an der Côte<br />

d’Azur.<br />

Der Blick auf die Bundesrepublik soll<br />

nicht nur richtungweisend für die Krisenpolitik<br />

in der Eurozone sein, sondern auch<br />

für die schwächelnde Wirtschaft der Niederlande.<br />

Das Land führt ein Viertel seiner<br />

Produkte nach Deutschland aus und ist eines<br />

der wohlhabendsten Staaten des Kontinents.<br />

Timmermans, der Holland wirtschaftlich<br />

als 17. Bundesland betrachtet,<br />

bleibt optimistisch. Der Enkel zweier Tagebauarbeiter<br />

ist überzeugt, dass die Haager<br />

Regierung ihre Probleme mit der Rezession,<br />

mit der Integration der Minderheiten<br />

und der stärker werdenden gesellschaftlichen<br />

Zweiteilung in Zeiten der Globalisierung<br />

lösen kann.<br />

Insbesondere zwei Bereiche der niederländischen<br />

Außenpolitik will Timmermans<br />

neu ausrichten. Im Nahostkonflikt steht<br />

der Außenminister nicht so bedingungslos<br />

an der Seite Israels wie sein Amtsvorgänger.<br />

Er versucht verstärkt, einen Ausgleich<br />

mit den Palästinensern zu erreichen.<br />

Auch will er, dass die Niederlande aufhören,<br />

sich in ihrer Außenpolitik hauptsächlich<br />

von wirtschaftlichen Erwägungen leiten zu<br />

lassen. Menschenrechte und Demokratiebestrebungen<br />

müssten wieder einen höheren<br />

Stellenwert bekommen.<br />

So zeigt sich auch heute, dass sich die<br />

internationale Politik der Niederlande, wie<br />

seit ihrer Blütezeit im 17. Jahrhundert üblich,<br />

zwischen dem Kaufmann und dem<br />

Pfarrer abspielt.<br />

ROB S AV ELBER G<br />

ist Deutschlandkorrespondent für<br />

De Telegraaf, die auflagenstärkste<br />

Zeitung der Niederlande. Er lebt<br />

seit 1998 in Berlin<br />

FOTOS: ROBIN UTRECHT/PICTURE ALLIANCE/ANP, PRIVAT (AUTOR)<br />

54 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Frans Timmermans fordert von<br />

seinen Landsleuten, mehr und<br />

besser Deutsch zu sprechen<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 55


| W E L T B Ü H N E | V E N E Z U E L A & C O<br />

WAS BLEIBT,<br />

IST DAS ÖL<br />

Nach dem Tod von Hugo Chávez steht Venezuelas<br />

„Bolivarische Revolution“ führungslos da.<br />

Und der Linkspopulismus in Lateinamerika<br />

verliert seinen dynamischen Krösus<br />

V ON C A R LOS W IDMANN<br />

D<br />

ER COMANDANTE der „Bolivarischen<br />

Revolution“ hat in Venezuelas<br />

Hauptstadt Caracas<br />

etwas Großes geschaffen: ein<br />

Pantheon für zwei. Dereinst<br />

soll Hugo Chávez hier gemeinsam mit seinem<br />

Idol Simón Bólivar verehrt werden,<br />

dem Befreier halb Südamerikas zu Beginn<br />

des 19. Jahrhundert. Dessen Gebeine hatte<br />

Chávez vorsorglich ausgraben und in den<br />

Pantheon umbetten lassen, seine eigenen<br />

Überreste werden folgen.<br />

Noch ist es aber nicht so weit. Noch<br />

sollen die Venezolaner möglichst lange am<br />

provisorisch konservierten Verblichenen<br />

Chávez vorüberdefilieren und der Welt ihre<br />

Verstörung darbieten. Mario Vargas Llosa,<br />

Literaturnobelpreisträger aus Peru, zeigt<br />

dafür wenig Verständnis. Man solle sich<br />

von den „flennenden Massen“ nicht beeindrucken<br />

lassen, schrieb er: „Das sind doch<br />

die gleichen Leute, die sich vor Schmerz<br />

und Verlassenheit krümmten beim Tod<br />

von Perón, von Franco, von Stalin, von<br />

Trujillo, und die morgen Fidel Castro das<br />

Geleit geben werden.“<br />

Nett klingt das nicht, etwas Wahres ist<br />

jedoch dran. Die politischen Erben des gescheiterten<br />

Putschisten und späteren Revolutionärs<br />

haben noch einiges vor mit dem<br />

Verstorbenen. Nicolás Maduro, der von<br />

Chávez ernannte Vizepräsident und derzeit<br />

per Verfassungsbruch amtierender Staatschef<br />

und auch Nachfolgekandidat bei der<br />

Wahl am 14. April, hat es verkündet: Hugo<br />

Chávez werde ebenso nachhaltig einbalsamiert<br />

„wie Lenin, Ho Tschi Minh und Mao<br />

Zedong“. Er hätte hinzufügen können: wie<br />

Eva Perón, Josef Stalin und der Nordkoreaner<br />

Kim Il Sung.<br />

Nur macht der ultraliberale Vargas<br />

Llosa es sich ein wenig zu leicht, wenn er<br />

die Erschütterung von Millionen Venezolanern<br />

allein ihrem naiven Erlösungshunger,<br />

ihrem Führerbedürfnis und dem schamlosen<br />

Personenkult von Chávez’<br />

„Sozialismus des 21. Jahrhunderts“<br />

zuschreibt. Die Ausstrahlung<br />

dieser „Mischung<br />

aus Hanswurst und Superman“<br />

(Vargas Llosa) reicht<br />

auch in Venezuelas Mittelstand<br />

hinein – und in breite<br />

Schichten einiger Länder Lateinamerikas.<br />

Brasiliens Präsidentin<br />

Dilma Rousseff etwa<br />

nahm mit ihrer Aussage, dieser<br />

Tod habe auf dem Kontinent eine<br />

„Leere in den Herzen“ hinterlassen, Rücksicht<br />

auf Millionen Menschen.<br />

Tatsächlich erfüllte der Comandante<br />

ein Bedürfnis: Er war die lauteste Stimme<br />

Trotz der<br />

größten<br />

Erdölreserven<br />

sind die<br />

meisten<br />

Venezolaner<br />

arm<br />

unter jenen Politikern, deren Rhetorik den<br />

Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit<br />

wirkungsvoll mit dem Ressentiment gegen<br />

die USA verknüpft. Dazu kam der schwärmerische<br />

Ernst, mit dem der<br />

wortmächtige Mestize seinen<br />

Traum von der Einheit<br />

Lateinamerikas vorzutragen<br />

wusste. Gepaart mit dem<br />

Witz und dem Redezwang<br />

eines geborenen Alleinunterhalters,<br />

machte ihn das<br />

zu einem unverwechselbaren<br />

Protagonisten der Zeitgeschichte.<br />

Selbst die Medien,<br />

die er zum Schweigen<br />

bringen wollte, werden ihn vermissen.<br />

Uruguays Präsident José Mujica nannte<br />

etwas treuherzig den anderen Grund für<br />

Chávez’ fast schon übernatürliche Ausstrahlung:<br />

„Er war der großzügigste<br />

FOTOS: PHOTOSHOT, PRIVAT (AUTOR)<br />

56 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Tränenreich nehmen die Menschen<br />

Abschied vom toten venezolanischen<br />

Staatschef Hugo Chávez<br />

Staatschef, dem ich je begegnet bin.“ Das<br />

viel gerühmte Charisma des Venezolaners<br />

hätte in der Tat nicht viel genutzt ohne<br />

die Petrodollar-Milliarden, die der karibische<br />

Krösus gezielt an Gleichgesinnte im<br />

In- und Ausland verteilte. Die Agitatoren<br />

in Bolivien, die mit Gebäudebesetzungen<br />

und Straßenblockaden gewählte Regierungen<br />

stürzten; Kolumbiens terroristische<br />

Guerrilleros, die die fast endemische<br />

Gewalt in ihrem Land auf Bürgerkriegsniveau<br />

zu verschärfen wussten; der bankrotte<br />

und korrupte Sandinist Daniel Ortega in<br />

Nicaragua, der nochmals Präsident werden<br />

konnte; radikale Gewerkschafter und Publizisten<br />

auf der ganzen Südhalbkugel. Die<br />

Scheckbuch- und Bargeld-Diplomatie von<br />

„Hurrikan Hugo“ hauchte ihnen allen Lebenskraft<br />

ein. Nur selten kam es zu peinlichen<br />

Pannen wie in Argentinien: Der große<br />

Koffer eines Chávez-Abgesandten, der auf<br />

dem Flughafen von Buenos Aires vom Zoll<br />

versehentlich geöffnet wurde, war prall gefüllt<br />

mit Dollarscheinen – für die Wahlkampfkasse<br />

der heutigen argentinischen<br />

Präsidentin Cristina Kirchner.<br />

Venezuela könnte das höchste Pro-<br />

Kopf-Einkommen der Welt haben. Zumindest<br />

hat das Land die größten Erdölreserven<br />

des Planeten: Die Reserven belaufen<br />

sich auf mehr als 297 Milliarden Barrel, in<br />

Saudi-Arabien, dem weltgrößten Ölförderer,<br />

sind es hingegen 265 Milliarden Barrel.<br />

Trotzdem sind die meisten Venezolaner<br />

weiterhin arm. Auch nach einem Jahrzehnt<br />

schwungvoller Sozialhilfe und Geldverteilung<br />

unter Chávez lebt ein Viertel der Bevölkerung<br />

– nach Drittweltstandards – unter<br />

der Armutsgrenze.<br />

Dabei hatte der sendungsbewusste Comandante<br />

auch noch unglaubliches Fortune:<br />

In den ersten zehn Jahren seiner<br />

Amtszeit ist der Weltmarktpreis für Erdöl<br />

um ein Fünffaches gestiegen – von 20 auf<br />

über 100 US-Dollar pro Barrel. Durch die<br />

Verstaatlichung der Erdölförderung ist die<br />

Produktion in Venezuela jedoch nicht gestiegen,<br />

sondern gesunken.<br />

Obwohl der wahrscheinliche Nachfolger<br />

Nicolás Maduro ein auf Kuba indoktrinierter<br />

Apparatschik ist, wird aus Havanna<br />

bedrückte Stimmung gemeldet. Es<br />

gilt dort keineswegs als gesichert, dass Venezuela<br />

es sich weiterhin leisten kann, die<br />

kubanische Wirtschaft vor dem Untergang<br />

zu bewahren. Wenn die 100 000 Barrel<br />

Erdöl ausfallen, die täglich aus der Bucht<br />

von Maracaibo nach Kuba fließen, gehen<br />

in Havanna die Lichter aus.<br />

Die Führungsrolle, die Hugo Chávez<br />

in Lateinamerika beanspruchte, war schon<br />

vor seinem Tod zweifelhaft. Unter der Präsidentin<br />

Dilma Rousseff ist Brasilien noch<br />

deutlicher als unter ihrem populären Vorgänger<br />

Lula auf Distanz zu Chávez gegangen,<br />

dem Kumpanen von Gaddafi, Assad<br />

und Ahmadinedschad. Aber nicht nur die<br />

Wirtschaftsriesen Mexiko und Brasilien<br />

standen ihm skeptisch gegenüber: Auch<br />

das Wirtschaftswunderland Chile, auch<br />

Peru und Kolumbien gehen andere Wege.<br />

Der kinderreiche katholische Bischof und<br />

Chávez-Fan Fernando Lugo ist als Präsident<br />

Paraguays vom Parlament abgesetzt<br />

worden. In Mittelamerika hat Venezuela<br />

nur das nicaraguanische Regime des Altsandinisten<br />

Ortega auf seiner Seite – mehr<br />

Belastung als Gewinn.<br />

Ein linker Populismus kann sich immerhin<br />

in Bolivien und Ecuador reformfähig<br />

halten, weil dort mit Erfolg Erdgas<br />

und Erdöl gefördert werden. Der linksrhetorischen<br />

Kleptokratie des Kirchner-Klans<br />

in Argentinien aber, wo die amtlich verschwiegene<br />

Inflation die Gelddrucker zu<br />

Höchstleistungen anspornt, stehen bittere<br />

Zeiten bevor.<br />

C A R LOS W IDMANN, geboren<br />

in Buenos Aires, war lange Zeit<br />

Korrespondent in Lateinamerika.<br />

Jüngst erschien von ihm: „Das<br />

letzte Buch über Fidel Castro“<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 57


| W E L T B Ü H N E | B E P P E G R I L L O<br />

ES WAR EINMAL<br />

EIN CLOWN<br />

Populist, Europafeind, Faschist. Das alles und noch viel mehr<br />

soll Beppe Grillo sein. Der wahre Sieger der italienischen<br />

Parlamentswahlen verstört viele. Wer ist er wirklich?<br />

V ON P E TRA RESK I<br />

58 <strong>Cicero</strong> 4.2013


4.2013 <strong>Cicero</strong> 59


| W E L T B Ü H N E | B E P P E G R I L L O<br />

V<br />

IELLEICHT HAT BEPPE GRILLO sich<br />

das auch nicht so vorgestellt.<br />

Damals, als er an einem nebligen<br />

Novembertag 2005 im Turiner<br />

Theater Valdocco stand.<br />

Zusammen mit Jungs in flusigen Pullovern,<br />

die ihren Kampf gegen den Feinstaub<br />

erklärten, und Mädchen, die mit<br />

rauchiger Stimme zu Mahnwachen vor<br />

dem Parlament und zum Kampf gegen<br />

den Bau des Tunnels für den TAV aufriefen,<br />

den Hochgeschwindigkeitszug durch<br />

das Val di Susa – eines der vielen Milliardenprojekte,<br />

die in Italien ohne Bürgerbeteiligung<br />

und in schönster Eintracht<br />

von Regierung und Opposition vorangetrieben<br />

werden. Einen Monat zuvor hatte<br />

Grillo von seinem Weblog die Idee der<br />

„Meet-ups“ lanciert: kleine, renitente Zellen,<br />

die nach nur drei Monaten bereits<br />

7000 Mitglieder zählten, in Turin fand ihr<br />

erstes nationales Treffen statt. „Sie können<br />

nicht länger so tun, als seien wir unsichtbar“,<br />

rief Grillo. In den italienischen Zeitungen<br />

las man darüber: nichts.<br />

DIE FAMILIE<br />

Heute arbeiten sich die Leitartikler sämtlicher<br />

Zeitungen an Grillo ab, wie sie es sonst<br />

nur mit Berlusconi tun, und beklagen den<br />

„Grillozentrismus“. In den Klatschblättern<br />

werden Kinderbilder von Grillo und Fotos<br />

seiner Frau beim Urlaub in Kenia veröffentlicht.<br />

Seitdem weiß man in Italien,<br />

dass seine zweite Frau Halbiranerin ist und<br />

sich überfordert fühlt, immer nur bio einkaufen<br />

zu müssen. Dank den Zeitschriften<br />

Oggi und Gente haben die Italiener erfahren,<br />

dass Beppe Grillo vier Söhne hat,<br />

65 Jahre alt ist, in Genua aufwuchs, seine<br />

Mutter eine Klavierlehrerin und sein Vater<br />

ein kleiner Metallunternehmer war; dass er<br />

in einer Villa in Genua lebt und ein Ferienhaus<br />

in der Toskana besitzt.<br />

Jetzt kampieren Journalisten Tag und<br />

Nacht vor Grillos Haus und fotografieren<br />

jeden, der sich nähert, denn die Welt<br />

fragt sich: Beppe Who? Wer ist dieser bärtige<br />

Komiker, der – scheinbar – aus dem<br />

Nichts kommend, ein Viertel der italienischen<br />

Wähler überzeugen konnte, für seine<br />

Fünf-Sterne-Bewegung zu stimmen. Eine<br />

Bewegung, die, glaubt man Berlusconis<br />

Kampfblatt Il Giornale, aus „einer Handvoll<br />

Spinner“ besteht, und die, je näher die<br />

Wahlen heranrückten, von dem Blatt zu<br />

„Globalisierungsgegnern und Gewalttätern“<br />

stilisiert wurden, die angeblich den Staatsstreich<br />

vorbereiteten.<br />

Seine<br />

Glaubwürdigkeit<br />

erlangte Beppe<br />

Grillo, weil er<br />

sich mit den<br />

Mächtigen anlegte,<br />

als es noch allen<br />

gut ging. Er war<br />

immer schon mehr<br />

als ein Komiker<br />

DIE LABEL<br />

In der italienischen Presse wurde Grillo<br />

wahlweise als Populist, Faschist, Antisemit,<br />

Putschist, Rotbrigadist, Rassist,<br />

Duce, Demagoge, Kommunist und Jakobiner<br />

geschmäht. Die Fünf Sterne sei<br />

eine „anarcho-antipolitisch-anachronistische<br />

Bewegung“, wusste Eugenio Scalfari,<br />

Herausgeber der linksdemokratischen Repubblica,<br />

und schauderte: „Hinter dem<br />

Grillismo sehe ich den Schatten des widerwärtigsten<br />

Law & Order, ich sehe dahinter<br />

die Diktatur.“ Die Unità, einstige Parteizeitung<br />

der Kommunistischen Partei Italiens,<br />

sah in der Bewegung ein Phänomen reiner<br />

Folklore, das potenziell umstürzlerische<br />

Tendenzen in sich trage: Grillo erinnere an<br />

Mussolini, Letzterer habe Schlagstöcke und<br />

Rhizinusöl eingesetzt, Grillo die Vulgarität.<br />

Der Corriere della Sera stellte fest, dass<br />

Grillo eine Person von brutaler Gier sei,<br />

die Turiner Stampa beschied, dass die Protestinitiativen<br />

der Fünf-Sterne-Bewegung<br />

so unbedeutend seien, dass sie „in einem<br />

normalen Land auf den Unterhaltungsseiten<br />

besprochen worden wären“. Kurz vor<br />

den Wahlen wusste sich Berlusconis Propagandablatt<br />

Libero nicht mehr anders zu<br />

helfen, als Beppe Grillo in „Grill Laden“<br />

umzutaufen, der Marschflugkörper nach<br />

Israel schicken wolle. Schließlich stimmte<br />

ein Viertel der Wähler für die Fünf-Sterne-<br />

Bewegung. Alle verrückt geworden? Geistesgestört?<br />

Unfähig, klar zu denken?<br />

OHNE GRILLO<br />

Fast 20 Jahre lang war der Ausgang der<br />

Wahlen in Italien so überraschend wie das<br />

Wahlergebnis der DDR-Volkskammer: Abgesehen<br />

von kurzen Unterbrechungen gewann<br />

Silvio Berlusconi. Falls er mal nicht<br />

gewann, sorgte er dafür, dass die Regierung<br />

der Linksdemokraten nicht von Dauer sein<br />

würde, indem er sich Abgeordnete kaufte.<br />

Die Linksdemokraten muckten kurz auf –<br />

um sich dann wieder in der Opposition bequem<br />

einzurichten, mit Blick auf den bösen<br />

Mann, dem bis auf einen alle privaten<br />

Fernsehsender gehören, das größte Verlagshaus,<br />

der berühmteste Fußballverein, drei<br />

Tageszeitungen, Banken und die Mafia<br />

auch, zu der er seit Jahrzehnten freundschaftliche<br />

Beziehungen pflegt. Was kann<br />

man gegen ihn schon ausrichten? Nichts!<br />

Selbst wenn sie an der Macht waren,<br />

waren die Linksdemokraten zu ermattet,<br />

um überfällige Gesetzesänderungen durchzusetzen,<br />

beispielsweise ein Gesetz zur Regelung<br />

von Interessenkonflikten – etwa<br />

zwischen Ministerpräsidentenamt und<br />

dem des größten Medienunternehmers des<br />

Landes. Oder das Wahlrecht zu reformieren,<br />

auch Porcellum, Schweinerei, genannt,<br />

weil es einer Partei, die nur auf 30 Prozent<br />

der Stimmen kommt, ermöglicht, 55 Prozent<br />

der Sitze zu erhalten. Ein Wahlrecht,<br />

bei dem keine Kandidaten zur Wahl stehen,<br />

sondern nur Parteien oder Parteibündnisse,<br />

weshalb der Wähler die Katze<br />

im Sack kaufen muss. Anstatt Gesetzesänderungen<br />

durchzusetzen, trösteten sich die<br />

Linksdemokraten damit, dass es ja auch ein<br />

paar Städte, Regionen und Banken gab, die<br />

ihnen gehörten, ein paar Großprojekte, an<br />

denen sie beteiligt waren, und dass sich das<br />

Problem Berlusconi irgendwann auf natürliche<br />

Weise erledigen würde.<br />

Und dann schaffte es eine Bewegung,<br />

die kein Geld hat, keine Fernsehsender,<br />

keine Tageszeitung, kein Verlagshaus,<br />

keine Banken, keine Fußballvereine<br />

und die überdies einen sperrigen Namen<br />

trägt – sie ist nach den fünf Leit-„Sternen“<br />

des Gründungsprogramms benannt: Wasser,<br />

Umwelt, Transport, Internet, Entwicklung<br />

–, stärkste Partei zu werden. Das kam<br />

einem Erdbeben gleich – jedenfalls für die<br />

FOTO: ALESSIO MAMO/REDUX/LAIF (SEITEN 58 BIS 59)<br />

60 <strong>Cicero</strong> 4.2013


etablierten Parteien. Nicht aber für normalsterbliche<br />

Italiener, die in einem Land<br />

leben, wo die Staatsverschuldung 120 Prozent<br />

des Bruttosozialprodukts beträgt, fast<br />

39 Prozent der jungen Italiener arbeitslos<br />

sind, die Mafia doppelt so viel Umsatz<br />

macht wie Fiat, täglich 35 Betriebe Konkurs<br />

anmelden, weshalb sich die Zahl der<br />

Selbstmorde unter kleinen und mittleren<br />

Unternehmern häuft, weil sie von den Banken<br />

keine Kredite mehr bekommen.<br />

Für Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung<br />

stimmten enttäuschte Linke und<br />

enttäuschte Berlusconi- und Lega-Wähler:<br />

Alle, die hoffen, dass sich endlich etwas<br />

ändert in einem Land, das gespalten ist.<br />

Wo auf der einen Seite wohlhabende Rentner<br />

leben, staatliche Angestellte mit üppigen<br />

Monatsgehältern, dank Parteiklüngel<br />

reich gewordene Politiker und Unternehmer,<br />

und auf der anderen Seite junge Italiener,<br />

deren einzige Gewissheit ist, nie einen<br />

festen Job zu bekommen, weil die Gewerkschaften<br />

ein rigides Arbeitsrecht verteidigen,<br />

das aus dem Jahr 1970 stammt, einer<br />

Zeit, als man unter „Globalisierung“ noch<br />

ein Synonym für Weltreise verstand.<br />

DER CLOWN<br />

Seine Glaubwürdigkeit erlangte Beppe<br />

Grillo, weil er sich mit den Mächtigen anlegte,<br />

als es noch allen gut ging. Er war<br />

immer schon mehr als ein Komiker. Er ist<br />

Politikwüterich, Umweltschützer, Moralist<br />

und Nationalheiliger in Personalunion. Silvio<br />

Berlusconi war noch nicht am politischen<br />

Horizont aufgetaucht, da war Grillo<br />

schon einer der beliebtesten italienischen<br />

Fernsehstars. Er wurde mit sämtlichen italienischen<br />

Fernsehpreisen überschüttet<br />

und hatte Einschaltquoten von 22 Millionen<br />

Zuschauern. Als er sich aber nicht<br />

mehr damit begnügte, Sitten und Gebräuche<br />

zu verspotten, sondern über die soziale<br />

und politische Wirklichkeit Italiens herzog,<br />

wurde er auf Druck des inzwischen verstorbenen<br />

Sozialistenchefs Bettino Craxi 1993<br />

vom Bildschirm verbannt. Daraufhin zog<br />

Grillo durch die großen Theater Italiens. Er<br />

wütete landauf, landab, stritt für die Meinungsfreiheit<br />

und gegen die Umweltzerstörung<br />

und Korruption, trennte auf der<br />

Bühne den Müll, jonglierte mit Zahlen<br />

und Statistiken, zerrte den Mailänder Bürgermeister<br />

auf die Bühne, zwang ihn, die<br />

Abgase eines wasserstoffbetriebenen Lieferwagens<br />

einzuatmen – und gründete 2005<br />

einen Blog, der schnell zu einem der erfolgreichsten<br />

der Welt wurde.<br />

Hier ist Grillo in seinem Element, auch<br />

weil er sich niemandem unterwerfen und<br />

sich nicht beschränken muss. Wenn es etwas<br />

gibt, das Grillo nicht kann, dann ist es,<br />

sich selbst in den Hintergrund zu stellen.<br />

Als man ihn mit dem amerikanischen Regisseur<br />

und Autor Michael Moore verglich,<br />

sagte Grillo, dass Moore ihm etwas voraushabe:<br />

sich selbst in die zweite Reihe zu stellen.<br />

„Es ist schrecklich, mich zu interviewen,<br />

ich kann nicht an mich halten und<br />

neige zu Monologen. Ich habe auch versucht,<br />

Filme zu machen, aber es geht nicht,<br />

man muss maßvoll sein und die Kontrolle<br />

behalten, und ich bin wie ein reißender<br />

Fluss.“ Jeder, der je den Versuch gemacht<br />

hat, Grillo zu interviewen, wird das bestätigen<br />

können.<br />

GRILLOS VERBÜNDETE<br />

Grillos Blog brachte ihm die Freundschaft<br />

mit Gianroberto Casaleggio ein, einem<br />

Mailänder Kommunikationsexperten, der<br />

inzwischen als Grillos Alter Ego gilt. Casaleggio<br />

sieht aus wie eine Mischung aus<br />

John Lennon und einem IT-Nerd, allerdings<br />

mit Jackett und Krawatte. Anders<br />

als Grillo, der keinen Schritt machen kann,<br />

ohne die Menschen zum Lachen zu bringen<br />

– er sieht in einem Theater ein Blumengesteck<br />

und ruft: „Und wo steht der<br />

Sarg?“ –, läuft Casaleggio stets mit Leichenbittermine<br />

durch die Welt. Er glaubt<br />

bedingungslos an das Netz, an die direkte<br />

Bürgerbeteiligung und daran, dass es möglich<br />

ist, die italienische Politik zu verändern.<br />

Ohne Casaleggio hätte es die Fünf-Sterne-<br />

Bewegung nicht gegeben, sagt Grillo. Mit<br />

ihm zusammen erarbeitet er nicht nur die<br />

Posts für seinen Blog, die Kommunikationsstrategie,<br />

die Initiativen – weshalb Casaleggio<br />

von dem einen Teil von Grillos<br />

Anhängern als Guru verehrt und von dem<br />

anderen als Diktator verdammt wird, hinter<br />

dem die CIA, die Freimaurer und die<br />

Weltfinanz vermutet werden. Niemand<br />

weiß, ob Casaleggio tatsächlich die Linie<br />

vorgibt, oder ob es so ist, wie Grillo sagt,<br />

dass sich die beiden Männer ergänzten wie<br />

Analyse und Synthese und beide stets auf<br />

die gleichen Ideen kämen: „Wir sind wie<br />

ein Ehepaar, wir telefonieren sechs Mal<br />

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| W E L T B Ü H N E | B E P P E G R I L L O<br />

am Tag, wir unterhalten uns, und so entsteht<br />

ein Stück für den Blog.“ Zu Grillos<br />

Mitstreitern gehören auch der italienische<br />

Nobelpreisträger Dario Fo sowie der Architekt<br />

Renzo Piano oder der Sänger Adriano<br />

Celentano, allesamt italienische Nationalheiligtümer.<br />

Was Grillos Feinde betrifft,<br />

so muss man nur die italienischen Zeitungen<br />

aufschlagen, da versammelt sich täglich<br />

die gesamte linke Nomenklatura zum<br />

Grillo-Bashing.<br />

SEINE SCHLACHTEN<br />

In seinem Blog führt Grillo seine im Theater<br />

und Fernsehen begonnenen Kämpfe<br />

weiter. Er startete die „Fazio-hau-ab“-Initiative<br />

gegen den in einen Bankenskandal<br />

verwickelten Chef der italienischen Nationalbank<br />

Antonio Fazio, der dafür verantwortlich<br />

war, dass viele Kleinsparer ihre<br />

Ersparnisse verloren. Grillo-Anhänger finanzierten<br />

einen Appell in der Tageszeitung<br />

Repubblica und schafften es tatsächlich,<br />

Fazio zum Rücktritt zu zwingen. Der<br />

„Raus-aus-dem-Irak“-Aufruf brachte dem<br />

Staatspräsidenten 800 000 E-Mails ein, der<br />

die Aktion allerdings mit Schweigen quittierte.<br />

Immer mehr Italiener unterstützten<br />

Grillos Initiativen, die Aktion „Sauberes<br />

Parlament“ forderte den Rücktritt<br />

vorbestrafter Parlamentarier und fand ihren<br />

Höhepunkt auf dem V-Day 2007, wobei<br />

V für Vaffanculo steht, also: Leck mich<br />

am Arsch. 50 000 Menschen versammelten<br />

sich damals in Bologna zum Protest:<br />

300 000 Italiener unterschrieben die Petition.<br />

Beim zweiten V-Day forderten Grillo<br />

und seine Anhänger die Streichung der üppigen<br />

staatlichen Subventionen, die Tageszeitungen<br />

in Italien zustehen – wenn sie<br />

sich als „parteinah“ erklären.<br />

DIE MEDIEN<br />

Dass er sich damit keine Freunde unter den<br />

Journalisten gemacht hat, war Beppe Grillo<br />

klar. Die Verbindung zu politischen Parteien<br />

und Interessengruppen der Wirtschaft<br />

ist in Italien so eng, dass dortige Zeitungen<br />

eigentlich einen Beipackzettel enthalten<br />

müssten, der über die Risiken und Nebenwirkungen<br />

der Lektüre aufklärt: Etwa, dass<br />

die Repubblica und der Espresso dem linksdemokratischen<br />

Industriellen Carlo De Benedetti<br />

gehören, Gegenspieler von Berlusconi.<br />

Dass die Wirtschaftszeitung Il sole 24<br />

Ore von dem italienischen Unternehmerverband<br />

herausgebracht wird, die Turiner<br />

Der Kommunikationsexperte Gianroberto<br />

Casaleggio ist Grillos engster Vertrauter<br />

Der italienische Nobelpreisträger Dario Fo<br />

gilt ebenso als Unterstützer Beppe Grillos …<br />

… wie der vielfach ausgezeichnete<br />

Architekt Renzo Piano und …<br />

… der Sänger, Schauspieler und<br />

Fernsehmoderator Adriano Celentano<br />

Stampa dem Fiatkonzern gehört, und Il<br />

Giornale, Il Foglio und Libero Berlusconis<br />

Hauspostillen sind. Einzig Il Fatto Quotidiano,<br />

eine Tageszeitung, die 2008 von einer<br />

Handvoll Investigativjournalisten gegründet<br />

wurde, die es leid waren, stets auf die<br />

politischen Empfindlichkeiten ihrer Herausgeber<br />

Rücksicht nehmen zu müssen,<br />

verzichtet auf die öffentlichen Gelder und<br />

leistet sich eine Berichterstattung, die nicht<br />

von Parteiinteressen gesteuert ist.<br />

Der Fatto Quotidiano ist denn auch die<br />

einzige Tageszeitung, die es schafft, ohne<br />

Schaum vor dem Mund über Beppe Grillo<br />

und seine Fünf-Sterne-Bewegung zu schreiben.<br />

Sie leistet sich auch Kritik an der Bewegung,<br />

um nicht zuletzt die Wagenburgmentalität<br />

aufzubrechen, in die sich viele<br />

Aktivisten geflüchtet haben. Hier war auch<br />

zu lesen, dass das von Grillo und seinem<br />

Alter Ego Casaleggio gepriesene Netz die<br />

Achillesferse einer Bewegung sein kann, die<br />

keine Sprecher hat, sondern Parlamentarier,<br />

die ihre Worte nicht auf die Goldwaage legen<br />

und lieber schnell mal twittern oder auf<br />

Facebook posten – was von den italienischen<br />

Zeitungen begierig aufgegriffen wird.<br />

In Copy & Paste-Manier verbreiteten<br />

sich die Grillo-Schmähungen in ganz Europa:<br />

In Deutschland erschien kaum ein Bericht<br />

über das neue politische Phänomen,<br />

ohne es umgehend als „populistisch“ und<br />

„anti-politisch“ zu ächten. Überall wurde<br />

vor dem „windigen Stimmenfänger“, dem<br />

„Politclown“ und „Radikalpopulisten“ gewarnt.<br />

Der britische Economist spielte den<br />

Ball unter dem Titel „Send in the clowns“<br />

weiter, und selbst die Franzosen rügten die<br />

Italiener: Der Korrespondent von Le Monde<br />

beschwor seine Liebe zu Italien, aber: „Dieses<br />

Mal bin ich wirklich wütend: Wollt ihr<br />

tatsächlich die Schlüssel für dieses Land in<br />

die Hand von Grillo legen?“<br />

Im Ausland kommt erschwerend hinzu,<br />

dass Grillo als Europafeind gilt. Tatsache<br />

aber ist, dass er vermutlich öfter im Europäischen<br />

Parlament gesehen wurde als<br />

Berlusconi. Drei Mal war Grillo dort auf<br />

Einladung italienischer EU-Parlamentarier<br />

zu Besuch und sprach auch die unangenehme<br />

Wahrheit aus, dass es womöglich<br />

unsinnig sei, aus Italien Milliarden nach<br />

Brüssel zu schicken, wenn diese Milliarden<br />

dann von Brüssel aus in die Taschen der italienischen<br />

Mafia umgeleitet würden. Vielleicht<br />

ist es auch nicht falsch, wenn Grillo<br />

sagt, dass sich heute niemand mehr etwas<br />

FOTOS: ANTONIO SCATTOLON/A3/CONTRASTO/LAIF, MILO SCIAKY/PICTURE ALLIANCE/DPA, ABACA DARGENT VINCENT/PICTURE ALLIANCE/DPA, VENTURELLI/GETTY IMAGES<br />

62 <strong>Cicero</strong> 4.2013


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FOTO: PAUL SCHIRNHOFER<br />

unter Europa vorstellen könne – weil Europa<br />

in Italien nur in Form von Verboten<br />

und Verordnungen auftritt. Und dass nicht<br />

der Euro das Problem in Italien sei, sondern<br />

die Zinsen aus der Staatsverschuldung,<br />

die man neu aushandeln müsse.<br />

REGIERUNGSFÄHIGKEIT<br />

Der spektakuläre Wahlsieg war für Beppe<br />

Grillo Segen und Fluch zugleich. Seine<br />

Fünf-Sterne-Bewegung war plötzlich<br />

nicht mehr eine bloße außerparlamentarische<br />

Oppositionsbewegung; viele sehen<br />

in ihr jetzt eine Art Heilsbringerin, die die<br />

Probleme von 20 Jahren schlechter Regierung<br />

lösen soll, ohne sich zuvor erproben<br />

zu können. Was wäre gewesen, wenn<br />

die Grünen vor 30 Jahren sogleich mit<br />

163 Abgeordneten in den Bundestag eingezogen<br />

wären, mitsamt ihrem Ex-General,<br />

romantischen Pazifistinnen und grenzwertigen<br />

Naturschwärmern? Hätte damals<br />

jemand daran geglaubt, dass die Grünen<br />

später für einen langsamen Wandel in der<br />

politischen Kultur und in der Gesellschaft<br />

sorgen würden?<br />

Der in Bologna lehrende Politologe<br />

Piero Ignazi sagt über Grillos Fünf-Sterne-<br />

Bewegung, dass sie weder utopisch noch<br />

populistisch sei. Vielmehr handele es sich<br />

um einen pragmatischen Protest, der von<br />

Grillo vertreten und in ein Medienspektakel<br />

umgewandelt werde. Hinter dem Protest<br />

und Grillos Show fänden sich jedoch<br />

viele gute Ideen: Was ist schlecht daran, für<br />

die Umwelt zu kämpfen, für mehr Meinungsfreiheit,<br />

für das Internet, gegen die<br />

Verschwendung öffentlicher Gelder?<br />

Wer in Italien lebt und die Skandale der<br />

vergangenen 20 Jahre nicht ganz verdrängt<br />

hat, die Herrschaft eines notorischen Lügners,<br />

der während des Wahlkampfs noch<br />

einmal zu großer Form auflief, wer noch<br />

den Überblick über die Korruptionsskandale<br />

hat und sich noch an die parteiübergreifenden<br />

Einigungsgespräche zwischen Staat<br />

und Mafia erinnert, deren Früchte bis heute<br />

geerntet werden – der empfindet es als Erleichterung,<br />

wenn mal einer wie Grillo es auf<br />

den Punkt bringt und ausruft: „Ihr lebenden<br />

Leichen, wir reißen euch den Arsch auf.“<br />

PETRA RESKI, Journalistin und<br />

Schriftstellerin, lebt seit 1991<br />

in Venedig. Zuletzt erschien ihr<br />

Buch „Von Kamen nach Corleone<br />

– Die Mafia in Deutschland“<br />

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| W E L T B Ü H N E | T O S K A N A<br />

KEIN FOUL!<br />

Erlaubt: Ein<br />

Spieler des weißen<br />

Teams schlägt<br />

dem Gegenspieler<br />

aus dem blauen<br />

Team ins Gesicht<br />

64 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Es ist das härteste<br />

Mannschaftsspiel<br />

der Welt: das Calcio<br />

Storico Fiorentino.<br />

Der Florentinische<br />

Fußball wird heute<br />

noch so gespielt<br />

wie vor 500 Jahren<br />

und hat nichts an<br />

Brutalität verloren.<br />

Michael Löwa hat<br />

das Spektakel für<br />

<strong>Cicero</strong> fotografiert<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 65


| W E L T B Ü H N E | T O S K A N A<br />

Erschöpft: Ein Spieler der<br />

„Weißen“ löscht kurz nach<br />

dem Spiel seinen Durst<br />

Ambitioniert: Ein Spieler der<br />

Seniorenmannschaft passt den<br />

Ball einem Mitspieler zu<br />

66 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Euphorisiert: Das<br />

blaue Team der<br />

Seniorenmannschaft<br />

nach dem gewonnenen<br />

Spiel mit demWappen<br />

ihres Stadtteils<br />

Enthusiasmiert: Junge Anhänger der<br />

„Blauen“ feuern ihre Mannschaft an<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 67


| W E L T B Ü H N E | T O S K A N A<br />

Einmarsch: Auf dem Platz vor<br />

der Franziskaner Kirche Santa<br />

Croce werfen Fans Blumen auf<br />

die Spieler der „Blauen“<br />

68 <strong>Cicero</strong> 4.2013


4.2013 <strong>Cicero</strong> 69


| W E L T B Ü H N E | T O S K A N A<br />

Vorbereitung: Der<br />

Mittelfeldspieler Pietro<br />

Cappelli trainiert mit dem<br />

Stürmer und Kampfsportlehrer<br />

Mario Santi Kickboxen<br />

„Dem Läufer, der mit<br />

dem Ball in der Hand<br />

das Feld durchläuft,<br />

sollen irgendwelche<br />

Kräftigen Platz<br />

schaffen, damit ihr<br />

Mann ungehindert<br />

freien Durchgang habe“<br />

Antonio Scaino, italienischer Humanist 1555<br />

70 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Alltag: Am<br />

Tag nach dem<br />

Spiel geht das<br />

normale Leben<br />

als Maler weiter<br />

E<br />

IN SPIEL AUS URALTEN ZEITEN, scheinbar ohne Regeln.<br />

Mannschaftskameraden sind Blutsbrüder, das gegnerische<br />

Team der Feind. Vier Mannschaften, vier<br />

Farben: Die Männer spielen für ihre Frauen, für Florenz und<br />

für ihr Stadtviertel. Das ist kurzgefasst der Calcio Storico<br />

Fiorentino.<br />

Bereits im Jahr 1555 beschrieb der italienische Humanist<br />

Antonio Scaino das Ballspiel so: „Dem Läufer, der mit dem Ball<br />

in der Hand das Feld durchläuft, sollen irgendwelche Kräftigen<br />

Platz schaffen, damit ihr Mann ungehindert freien Durchgang<br />

habe. Sieht er sich aber von einer großen Schar angegriffen,<br />

so soll er im Lauf nachlassen und … den Ball stoßen, und zwar<br />

wird er das schneller mit dem Stoße des Fußes als in anderer<br />

Weise können, da ein Stoß in dieser Weise sicherer ist.“<br />

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ineinander verkeilt<br />

ringen die Männer am Boden, schlagen sich mit Fäusten ins<br />

Gesicht, kämpfen um den Ball, angefeuert von den begeisterten<br />

Rufen der Zuschauer. Viele florentinische Jungen träumen davon,<br />

auch einmal auf der mit Sand aufgeschütteten Piazza Santa<br />

Croce im Herzen von Florenz für ihren Stadtteil um Ruhm und<br />

Ehre kämpfen zu dürfen.<br />

Am Namenstag des florentinischen Stadtpatrons San Giovanni<br />

(24. Juni) wird der Platz alljährlich zu einer Arena. Bis auf<br />

das gemeinsame Ziel eines Tores hat dieser Wettkampf nichts<br />

mit unserem Verständnis von Fußball zu tun. Wem die Bundesliga<br />

zu langweilig geworden ist, für den ist die Calcio Storico genau<br />

das Richtige. 27 Spieler pro Mannschaft kämpfen in einer<br />

Mischung aus Rugby, Boxen und American Football 50 Minuten<br />

lang ohne Pause und ohne Spielerwechsel um den Sieg. Vor<br />

500 Jahren waren es die Adeligen aus den einflussreichsten florentinischen<br />

Familien, die um die Ehre kämpften, heute sind es<br />

überwiegend einfache Arbeiter und Arbeitslose.<br />

Die Roten kommen aus Santa Maria Novella, die Blauen<br />

aus Santa Croce, die Weißen aus Santo Spirito und die Grünen<br />

aus San Giovanni. Das Spielfeld ist ein etwa 60 mal 30 Meter<br />

großer umzäunter Sandplatz, an dessen zwei Grundlinien sich<br />

die Tore befinden, in denen der Ball landen muss. Egal wie. Im<br />

Kampf Mann gegen Mann ist alles erlaubt bis auf Tritte gegen<br />

den Kopf und Attacken von hinten. Die Devise lautet: Kämpfen<br />

bis zum Kollaps. So verlassen die Spieler die Arena auch erst,<br />

wenn das Spiel beendet ist oder sie vorzeitig im Krankenwagen<br />

abtransportiert werden müssen. ml / jh<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 71


| W E L T B Ü H N E | K O M M E N T A R<br />

Herzlich willkommen!<br />

Die Türkei muss schleunigst in die Europäische Union<br />

aufgenommen werden – ein Plädoyer<br />

VON G E R HAR D S CHR ÖDER<br />

V<br />

O R WENIGEN W OCHEN hat der türkische Ministerpräsident<br />

Recep Tayyip Erdogan, mehr zwinkernd als drohend,<br />

angekündigt, dass sich die Türkei den „Shanghai<br />

Five“ anschließen könne. Jener Organisation, der China, Russland,<br />

Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan angehören.<br />

„Dann sagen wir der EU auf Wiedersehen“, fügte er an.<br />

Solche Reaktionen erlebe ich bei meinen Gesprächen mit Politikern,<br />

Unternehmern und Künstlern in Istanbul und Ankara immer<br />

häufiger. Sie drücken nicht nur ein neues Selbstbewusstsein,<br />

sondern vor allem eine tiefe Enttäuschung aus, die in der Türkei<br />

über die Europäische Union vorherrscht.<br />

Gerade in einer Zeit, in der die EU in einer tiefen Krise auf<br />

Partner angewiesen ist, besteht die Gefahr, dass sich mit der Türkei<br />

einer unserer engsten Verbündeten abwendet. Wirtschaftlich<br />

sehen wir bereits erste Zeichen: Der europäische Anteil am boomenden<br />

türkischen Handel ist in den vergangenen zehn Jahren<br />

von rund 60 Prozent auf 40 Prozent geschrumpft. Die EU aber<br />

braucht die Türkei, ebenso wie die Türkei eine europäische Perspektive<br />

benötigt, um den Modernisierungs- und Demokratisierungsprozess,<br />

der von Erdogan begonnen wurde, fortsetzen<br />

zu können. Ich bin sicher, dass die EU-Mitgliedschaft politisch,<br />

wirtschaftlich und kulturell für beide Seiten einen Zugewinn<br />

bringt.<br />

D IE TÜRKEI IST POLIT ISCH für uns Europäer wichtig, weil<br />

das Land an der Schnittstelle zum Nahen und Mittleren Osten<br />

liegt. Der arabische Frühling hat dazu geführt, dass Diktaturen<br />

endlich abgeschüttelt wurden, zugleich ist aber auch die Stabilität<br />

in dieser Region erschüttert. In Syrien tobt ein grausamer<br />

Bürgerkrieg. Die Weltgemeinschaft, aber vor allem wir Europäer<br />

müssen der Türkei für ihre vorbildliche Aufnahmebereitschaft<br />

von rund 200 000 Flüchtlingen, darunter vielen Christen,<br />

ILLUSTRATION: JAN RIECKHOFF<br />

72 <strong>Cicero</strong> 4.2013


FOTO: DEFODI/PICTURE ALLIANCE/DPA<br />

dankbar sein. Die Bundesregierung unterstützt die Flüchtlinge<br />

zwar mit humanitärer Hilfe. Aber das ist noch unzureichend<br />

und muss finanziell ausgebaut werden.<br />

Unser europäisches Interesse muss es sein, dass die Region<br />

sich langfristig nicht nur zu einem Raum der Freiheit, sondern<br />

auch der Stabilität entwickelt. Für diesen Prozess ist die Türkei<br />

als Regionalmacht, die zugleich Nato-Mitglied ist, der Schlüssel.<br />

Eine jüngste Umfrage hat gezeigt, dass sich die Mehrheit der<br />

Menschen in den Staaten des arabischen Frühlings eine stärkere<br />

Rolle der Türkei wünscht, weil sie das Land als Vorbild betrachtet,<br />

das Freiheit, Wohlstand und Sicherheit in einer islamisch geprägten<br />

Gesellschaft garantieren kann. Die Sicherheit Europas<br />

hängt von der Stabilität seiner Nachbarregionen ab – es geht dabei<br />

auch um den südlichen Kaukasus und die Schwarzmeerregion.<br />

Die aber können wir Europäer mit einem EU-Mitgliedstaat<br />

Türkei, der in diese Regionen ausstrahlt, leichter erreichen.<br />

Auch zu einer Entspannung des israelisch-palästinensischen<br />

Konflikts kann die Türkei beitragen, weshalb es wünschenswert<br />

ist, dass sich das Verhältnis zwischen der Türkei und Israel wieder<br />

verbessert.<br />

Es gibt für mich noch einen weiteren politischen Grund, der<br />

für einen EU-Beitritt spricht. Im globalen Wettbewerb hat nur<br />

ein vereintes Europa eine Chance zu bestehen, ein Nationalstaat<br />

alleine ist zu schwach. Selbst die großen europäischen Staaten –<br />

Großbritannien, Frankreich und Deutschland – sind global betrachtet<br />

Zwerge. Wenn Europa in der globalisierten Wirtschaft<br />

und in der multipolaren Welt auf Augenhöhe mit den USA und<br />

China bestehen will, dann müssen wir heute die richtigen Entscheidungen<br />

treffen. Wir müssen die politische Einheit Europas<br />

weiter vorantreiben; und wir brauchen starke Mitgliedsländer,<br />

wie es die aufstrebende Türkei sein wird.<br />

D AS L AND SPIELT GLOBAL eine immer größere Rolle. Es gehört<br />

schon jetzt zu den 20 größten Volkswirtschaften der<br />

Welt, und innerhalb der nächsten zwei Dekaden wird es die<br />

viertgrößte in Europa sein. Die Chance, eine solche boomende<br />

Wirtschaft vollintegriert in der EU zu haben, müssen<br />

wir nutzen. Gerade Deutschland kann und wird davon profitieren,<br />

denn wir sind der wichtigste europäische Handelspartner<br />

und der größte Investor. Auf der anderen Seite haben<br />

türkischstämmige Deutsche schon mehr als 75 000 Unternehmen<br />

mit rund 400 000 Arbeitsplätzen geschaffen. Diese<br />

Zahlen zeigen, dass wir eine erfolgreiche wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

haben. Aber sie zeigen auch, dass wir das Bild<br />

von türkischstämmigen Deutschen nicht nur über wirkliche<br />

oder vermeintliche Integrationsdefizite, sondern auch über<br />

die Erfolge definieren sollten.<br />

Diejenigen, die vor einem „Kampf der Kulturen“ warnen,<br />

sind leider immer noch nicht verstummt. Es ist ein gefährliches<br />

Zerrbild. Bedauerlicherweise ist das öffentlich existierende,<br />

auch von den Medien beeinflusste Bild vom Islam immer<br />

noch von negativen Pauschalisierungen geprägt. Eine ist die Behauptung,<br />

dass islamische Gesellschaften und Demokratie ein<br />

Widerspruch seien. Die Türkei widerlegt das. Schon jetzt ist sie<br />

mit ihrer Weltoffenheit ein Vorbild für andere islamische Staaten<br />

und Gesellschaften. Das hat auch mit dem EU-Beitrittsprozess<br />

zu tun, denn die Erfüllung der Kriterien bedeutet, Wertvorstellungen<br />

und Rechtsvorschriften zu übernehmen. In den vergangenen<br />

Jahren wurden die Freiheits- und die Minderheitenrechte<br />

gestärkt, und vor allem wurde das Verhältnis zwischen zivilen sowie<br />

militärischen Institutionen neu definiert – und zwar zugunsten<br />

der Demokratie. Noch gibt es Defizite, das Land ist noch<br />

nicht am Ziel und hat noch eine Entwicklung vor sich. Das gilt<br />

insbesondere für die Rechte der christlichen Glaubensgemeinschaften,<br />

deren Freiheit ein Maßstab für Fortschritt und Toleranz<br />

in der Türkei bleibt. Aber ein positives Zwischenfazit der<br />

bisherigen Entwicklung kann gezogen werden.<br />

Ebenso muss aber auch die Europäische Union noch Aufgaben<br />

erfüllen. Das betrifft insbesondere die leidige Zypern-Frage,<br />

bei der sich nicht nur die Türkei bewegen muss. Die Überwindung<br />

der Teilung der Insel ist nicht an der Türkei und den türkischen<br />

Zyprioten gescheitert, sondern am griechischen Teil. Dies<br />

zu berücksichtigen, hat die EU stets versprochen, aber nicht immer<br />

eingehalten.<br />

W AS WIR BR A U CHEN, ist ein eindeutiges Signal aus Brüssel<br />

und den EU-Mitgliedstaaten, dass weitere Kapitel der Beitrittsverhandlungen<br />

geöffnet werden. Die Signale aus Frankreich<br />

sind hoffnungsvoll. Es ist vollkommen klar, dass der Beitrittsprozess<br />

noch Jahre dauern und die Türkei erst beitreten wird,<br />

wenn sie alle Kriterien erfüllt. Aber ebenso klar ist, dass die sogenannte<br />

„privilegierte Partnerschaft“, die von Teilen der jetzigen<br />

Bundesregierung angeboten wird, keine Alternative ist. Im<br />

Gegenteil: Sie wird in der Türkei nicht als Angebot, sondern als<br />

Diskriminierung verstanden. In der Folge richten sich die Blicke<br />

vieler in der Türkei gen Osten. Daher muss sich die Bundesregierung<br />

von diesem irreführenden Begriff verabschieden.<br />

Es ist auch nicht sonderlich überzeugend, wenn die Bundeskanzlerin<br />

bei ihrem jüngsten Besuch in der Türkei erklärt,<br />

man solle ein weiteres Kapitel der Beitrittsverhandlungen eröffnen,<br />

zugleich aber betont, dass sie gegen den Beitritt sei. Das ist<br />

widersprüchlich.<br />

Ich bin fest davon überzeugt, dass ein EU-Beitritt ein Gewinn<br />

für beide Seiten ist: Für Europa, dessen globaler Einfluss<br />

und Wohlstand gesichert werden, und für die Türkei,<br />

deren mutiger Reformweg zu wirtschaftlicher Stärke, mehr<br />

Demokratie und Stabilität belohnt wird. Es ist daher nicht an<br />

der Zeit, dass die Türken „Auf Wiedersehen“ sagen, sondern<br />

es ist an der Zeit, dass die Europäer jetzt endlich „Herzlich<br />

willkommen“ sagen.<br />

G E R HAR D S CHR ÖDER<br />

war von 1998 bis 2005 Bundeskanzler der Bundesrepublik<br />

Deutschland. Bereits während seiner Kanzlerschaft hat<br />

er sich für die Aufnahme der Türkei in die EU eingesetzt<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 73


| K A P I T A L<br />

YAHOOS TIGERMAMA<br />

Ihre Methoden lösen nationale Debatten aus, Marissa Mayer versucht derweil ihren Internetkonzern zu retten<br />

V ON C H R IST INE M ATTAU CH<br />

N<br />

ACH SIEBEN MONATEN an der Spitze<br />

von Yahoo hat Marissa Mayer einen<br />

neuen Spitznamen weg: „Stalin<br />

des Silicon Valley“, schreibt die New<br />

York Times. Und warum? Per Dekret hatte<br />

sie ihren Mitarbeitern verboten, zu Hause<br />

zu arbeiten, und sie ins Büro zurückbeordert.<br />

Passender wäre vielleicht „WLAN-<br />

Lenin“ gewesen. Denn die Entscheidung<br />

fiel, nachdem Mayer die Login-Daten ihrer<br />

Heimarbeiter überprüft und festgestellt<br />

hatte, dass sich viele von ihnen eher selten<br />

im firmeneigenen Netz anmeldeten. Vertrauen<br />

ist gut, aber Kontrolle eben doch<br />

besser, wird sich die als Datenfetischistin<br />

bekannte Mayer gedacht haben.<br />

In ihrer kurzen Zeit als Yahoo-Chefin<br />

hat Mayer schon jede Menge Schlagzeilen<br />

produziert. Frauen sind rar in der<br />

Tech-Branche, und mit 37 Jahren ist sie<br />

die jüngste, die je ein IT-Unternehmen dieser<br />

Größe leitete. Einen Tag nach ihrer Ernennung<br />

gab sie bekannt, dass sie schwanger<br />

war. Ihre Babypause dauerte ganze zwei<br />

Wochen, dann ließ sie auf eigene Kosten<br />

ein Kinderzimmer in die Chefetage einbauen<br />

und bezeichnete kurze Zeit später<br />

das Kinderkriegen als „easy“.<br />

In den USA hat sie sowohl mit dieser<br />

Äußerung als auch mit dem Homeoffice-<br />

Verbot eine landesweite Debatte ausgelöst.<br />

Harte Kritik erntet Mayer vor allem<br />

von Frauen. New-York-Times-Kolumnistin<br />

Maureen Dowd und Frauenrechtlerin Joanne<br />

Bamberger werfen ihr vor, arbeitenden<br />

Müttern zu schaden, für die flexible<br />

Arbeitszeiten und Heimarbeitsplätze unverzichtbar<br />

seien. Selbst die deutsche Familienministerin<br />

Kristina Schröder fühlte<br />

sich berufen, Mayer für ihre kurze Babypause<br />

zu kritisieren.<br />

Mayer selbst kommt der Trubel um<br />

ihre Person sogar gelegen, weil die Publicity<br />

dem Konzern nützt – erstmals seit langem<br />

steigt die Zahl der Yahoo-Nutzer. Sie selbst<br />

ist es ohnehin gewohnt, im Rampenlicht<br />

zu stehen: Mayer war eine der wenigen, die<br />

ihren früheren Arbeitgeber Google nach<br />

außen vertreten durfte. Die Partys in ihrem<br />

Fünf-Millionen-Dollar-Penthouse<br />

oberhalb des Luxushotels Four Seasons in<br />

San Francisco waren legendär; ebenso die<br />

60 000 Dollar, die sie für ein Mittagessen<br />

mit Modezar Oscar de la Renta spendete.<br />

Nach außen glamourös, greift sie nach<br />

innen energisch durch, wie das unpopuläre<br />

Heimarbeitsverbot beweist. Aus der Yahoo-<br />

Zentrale heißt es dazu nur, Mayer wolle<br />

ihrer demoralisierten Mannschaft, die mit<br />

ihr den sechsten CEO in fünf Jahren erlebt,<br />

neuen Teamgeist vermitteln. „Sie mag ein<br />

darwinistisches Arbeitsumfeld, in dem sich<br />

die besten Ideen durchsetzen“, beschreibt<br />

das New York Magazine ihren Führungsstil.<br />

Um die Stimmung zu verbessern, lobt<br />

die Chefin bei jeder Gelegenheit alles, was<br />

sie bei Yahoo vorfindet, aber die Lage ist kritisch.<br />

In den Anfangsjahren des Internets<br />

war das Such- und Nachrichtenportal der<br />

Inbegriff der Onlinewelt. Doch Yahoo verliert<br />

seit Jahren Marktanteile. Der Aktienkurs,<br />

schon mal bei 110 Dollar, steht heute<br />

bei gut 20 Dollar – immerhin 30 Prozent<br />

mehr als bei Mayers Amtsantritt.<br />

„Marissa besitzt eine Qualität, die bei<br />

Yahoo Mangelware ist: Klarheit“, sagt der<br />

Sachbuchautor Ken Auletta, der zwei Jahre<br />

im Hauptquartier von Google recherchierte.<br />

Dort war sie bekannt dafür, Kollegen mit<br />

hochfliegenden Plänen zu erden – freundlich,<br />

aber unnachgiebig. Sie formulierte<br />

Leitlinien für Design und Sprache und definierte<br />

Prozesse, nach denen neue Projekte<br />

durchzuführen waren. Über 100 Produkte<br />

soll Mayer entwickelt haben. Als Informatikerin<br />

mit Stanford-Abschluss genießt sie<br />

auch den Respekt der eigenen Programmierer.<br />

Doch kann sie auch Strategie?<br />

Tech-Blogs wie „All Things Digital“<br />

halten ihr vor, keine Vision für Yahoo zu<br />

haben. Dabei hat Mayer gleich zu Anfang<br />

ein klares Statement abgegeben: Sie stattete<br />

die gesamte Belegschaft mit Smartphones<br />

aus. „Das mobile Geschäft birgt enorme<br />

Chancen für Yahoo“, sagt sie, „wir haben<br />

all die Informationen, die die Leute<br />

auf ihren Handys abrufen wollen.“ Yahoo<br />

solle die erste Anwendung werden, die sich<br />

Leute nach dem Kauf eines Smartphones<br />

herunterladen – eine Art Super-App. Wenn<br />

das keine Richtungsbestimmung ist.<br />

Gleichzeitig ist es aber auch ein Eingeständnis,<br />

dass Yahoo beim Aufstieg des<br />

mobilen Internets und der Entwicklung eigener<br />

Apps bisher tief geschlafen hat. Ob<br />

die Aufholjagd in einem hart umkämpften<br />

Markt gegen Konkurrenten wie Facebook,<br />

Google oder Apple funktioniert, ist fraglich.<br />

In der Branche gilt eine Kehrtwende<br />

bei Yahoo als schwierig bis unmöglich.<br />

Gerade deswegen hat Mayer der Wechsel<br />

zu Yahoo aber gereizt. Bei Google sah<br />

die Ex-Freundin des Firmengründers Larry<br />

Page dagegen keine weiteren Aufstiegschancen.<br />

Mayer war 1999 als 23-Jährige zu<br />

dem damals unbekannten Start-up gestoßen,<br />

als Mitarbeiter Nummer 20. Der Aufstieg<br />

der Suchmaschine machte sie reich:<br />

Ihr Vermögen wird auf 300 Millionen Dollar<br />

geschätzt.<br />

Bei Yahoo hat sie gleich zu Beginn ein<br />

loyales Team um sich versammelt. Schlüsselpositionen<br />

wurden neu besetzt, darunter<br />

die Vorstände für Finanzen, Organisation<br />

und Marketing. Viel zu verlieren hat Mayer<br />

nicht. Selbst wenn die Wende misslingt, gewinnt<br />

sie Erfahrung – der nächste Chefposten<br />

ist damit schon garantiert. Wenn<br />

sie noch mal einen haben will. Doch dass<br />

sie sich in Kürze auf die Erziehung ihres<br />

Sohnes Macallister beschränkt, kann man<br />

wohl ausschließen.<br />

C H R IST INE M ATTAU CH<br />

arbeitet als freie<br />

Wirtschaftskorrespondentin in<br />

New York<br />

FOTOS: ROBYN TWOMEY/CORBIS OUTLINE, THOMAS BAUER (AUTORIN)<br />

74 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Für ihren darwinistischen<br />

Führungsstil erntet<br />

Yahoo-Chefin Marissa<br />

Mayer häufig Kritik<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 75


| K A P I T A L<br />

WIR BRAUCHEN BASS<br />

Björn Stolls Instrumente aus dem „Musicon Valley“ sind weltweit gefragt<br />

V ON STEFAN L OCK E<br />

W<br />

ER GEIGENBAUER SAGT, denkt Stradivari,<br />

aber wer ist der Meister<br />

für Kontrabässe? „Gerade deshalb<br />

liebe ich es, sie zu bauen“, sagt Björn<br />

Stoll. „Ich habe viel mehr Freiheit, bin mit<br />

meinen Modellen nicht an eine Form gekettet<br />

und muss nicht versuchen, einen bestimmten<br />

Klang zu kopieren.“<br />

Wobei Letzteres ohnehin nicht gehe,<br />

meint Stoll. Jedes Stück Holz sei nun mal<br />

anders, Standort, Wuchs und Dichte verliehen<br />

selbst gleichen Holzarten verschiedene<br />

Eigenschaften. Deshalb könne auch<br />

der Klang zweier von ihm geschaffener<br />

Bässe zwar ähnlich, aber nie identisch sein.<br />

An vier Instrumenten bauen Stoll und<br />

seine zwei Mitarbeiter gerade, sie schleifen,<br />

feilen, sägen und schnitzen. Dicht unter<br />

der Decke der kleinen Hinterhofwerkstatt<br />

liegen Böden, Deckel und halbfertige Bassrümpfe,<br />

an den Wänden hängen Stechbeitel,<br />

Ziehklingen und Hobel in jeder Größe<br />

oder vielmehr Winzigkeit. Selbst daumenkleine<br />

Hobel führen sie mit einer Virtuosität<br />

über das Holz wie Bassisten im Konzertsaal<br />

den Bogen über ihr Instrument. Grobe,<br />

duftende Späne türmen sich am Boden,<br />

Maschinen gibt es keine, mal abgesehen<br />

von einem Bohrer und der Wärmplatte, auf<br />

der zwei Töpfe mit Knochenleim stehen.<br />

Der durch Auskochen tierischer Abfälle gewonnene<br />

Kleber lässt das Schwingungsverhalten<br />

des Holzes unverändert.<br />

Kein Schild weist auf Stolls Werkstatt<br />

hin, draußen an der Straße in Erlbach im<br />

tiefsten Südwestsachsen. „Meine Kunden<br />

finden mich auch so, häufig über Empfehlungen<br />

anderer Musiker“, sagt der 41-Jährige.<br />

Viele reisen extra aus dem Ausland an.<br />

So war es schon einmal hier im Vogtland.<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts hatten<br />

die Produkte aus dem „Musikwinkel“<br />

80 Prozent Marktanteil weltweit, die Gegend<br />

zählte zu einer der reichsten Deutschlands,<br />

und die USA unterhielten hier ein<br />

eigenes Generalkonsulat.<br />

Unter dem etwas bemühten Titel „Musicon<br />

Valley“ versucht die Region heute<br />

daran anzuknüpfen. Die Kombinate aus<br />

DDR-Zeiten sind verschwunden, stattdessen<br />

produzieren nun wieder Hunderte<br />

Familienbetriebe die Instrumente; gleich<br />

um die Ecke von Stoll gibt es zwei Geigen-,<br />

einen Gitarren- und<br />

einen Schallstückmacher für<br />

Blechbläser. Viele verkaufen<br />

den Großteil ihrer Produktion<br />

ins Ausland, Stoll<br />

selbst vor allem in die USA<br />

und nach Asien, wo Kunden<br />

auf europäische Handarbeit<br />

schwören. Sieben seiner<br />

Bässe gingen allein im<br />

vergangenen Jahr nach Japan.<br />

Nur Verbesserungsvorschläge<br />

erhält er auf seinen<br />

Reisen nach Tokio oder Yokohama<br />

selten. „Die Ehrfurcht<br />

vor unserer Arbeit ist<br />

dort riesengroß, manchmal<br />

fast zu groß“, sagt Stoll.<br />

STOLL HAT ERST vor knapp<br />

20 Jahren begonnen, Instrumente<br />

zu fertigen, sich<br />

aber schnell einen hervorragenden<br />

Ruf erworben.<br />

Seine Vorfahren stellten bereits Anfang des<br />

19. Jahrhunderts Saiten her, und sein Vater<br />

baute nicht nur im volkseigenen Betrieb,<br />

sondern auch nach Feierabend daheim<br />

Celli und Bässe, die er dann ungarischen<br />

Musikern mitgab, die sie nach Konzertreisen<br />

im Westen verkauften.<br />

„Ich kenne meinen Vater praktisch nur<br />

in der Werkstatt“, sagt Stoll. Er erwarb<br />

nach seiner Lehre auch noch den Meisterbrief<br />

und eröffnete kurze Zeit später seine<br />

eigene Werkstatt für Bässe und Celli.<br />

Seit vielen Jahren konzentriert sich<br />

Stoll jetzt aber schon auf das Geschäft mit<br />

Kontrabässen, entwickelt eigene Modelle,<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

„Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht<br />

haben? Den<br />

Mittelstand!“, sagt jetzt<br />

auch der Deutsche-<br />

Bank-Chef Anshu<br />

Jain. <strong>Cicero</strong> weiß das<br />

schon länger und stellt<br />

den Mittelstand in<br />

einer Serie vor. Die<br />

bisherigen Porträts aus<br />

der Serie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

experimentiert viel mit Material, Lack<br />

und Design. Seine Geigenbauer-Kollegen<br />

bezeichnen ihn gern als „Möbeltischler“,<br />

weil man viel Kraft braucht, um aus massivem<br />

Holz einen Bassboden herauszuschälen.<br />

Der ist wie der Hals aus Ahorn, der<br />

Deckel besteht aus Fichte und das Griffbrett<br />

aus Ebenholz, rabenschwarz<br />

und extrem hart,<br />

damit sich die Saiten nicht<br />

ins Holz graben.<br />

Zwischen zehn und<br />

30 Instrumente baut Stoll<br />

im Jahr. Gut 140 Arbeitsstunden<br />

stecken in einem<br />

Standardbass. Die Wartezeit<br />

beträgt drei Monate,<br />

der Preis 5000 Euro. Rund<br />

18 000 Euro kostet die Exklusiv-Version.<br />

„Vor allem<br />

wohlhabende Chinesen verlangen<br />

High-End, immer<br />

das Teuerste“, sagt Stoll.<br />

Neulich habe ihn ein Kunde<br />

aus China begeistert angerufen<br />

und berichtet, er schlafe<br />

nachts neben seinem Bass.<br />

Reich wird Stoll als Bassbauer<br />

nicht. Wenn er Geld<br />

übrig hat, investiert er in<br />

Holz. Gute Ware ist knapp<br />

und teuer, Bassbauer brauchen große, alte<br />

Baumstämme, derzeit bekommt er die in<br />

Bosnien und Rumänien. Aber um Reichtum<br />

geht es Stoll in seinem Beruf auch<br />

nicht. Am schönsten findet er immer wieder,<br />

zum ersten Mal den Klang eines fertigen<br />

Basses zu hören. „Wenn ich dann<br />

merke, er ist mir richtig gut gelungen, das<br />

ist für mich Selbstverwirklichung.“<br />

STEFAN L OCK E<br />

lebt als freier Journalist<br />

in Dresden<br />

FOTOS: CHRISTOPH BUSSE FÜR CICERO, PRIVAT (AUTOR)<br />

76 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Björn Stoll zwischen<br />

280 Stunden<br />

Arbeit: So lange<br />

dauert es, zwei<br />

Bässe zu fertigen<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 77


| K A P I T A L<br />

GELD MACHT BLIND<br />

Daniel Vasella wollte 58 Millionen fürs Nichtstun und reformierte so unfreiwillig das Schweizer Aktienrecht<br />

V ON P E T E R H OSSLI<br />

W<br />

ER SICH ALLES LEISTEN KANN, hat<br />

Freude an kleinen Dingen. Eine<br />

heiße Schokolade mit Sahnehäubchen<br />

stellt der Kellner auf den Tisch<br />

des Multimillionärs. „Herrlich“, schwärmt<br />

Daniel Vasella, schiebt einen Löffel Schlag<br />

in den Mund, lehnt sich zufrieden zurück.<br />

„Die erste Frage, bitte.“<br />

Dünn sind die Finger, die den Löffel<br />

halten, kantig das Gesicht, die Haut bleich.<br />

Gesund sieht er nicht aus, der 59-jährige<br />

Herrscher über das Imperium der Gesundheit.<br />

Es ist Ende Januar, im Salon eines<br />

schicken Hotels in der Alpenstadt Davos.<br />

Im Kamin lodert ein Feuer. Eben war bekannt<br />

geworden: Vasella tritt nach 17 Jahren<br />

an der Spitze des Schweizer Pharmakonzerns<br />

Novartis ab.<br />

Einer der schillerndsten Manager Europas<br />

hört auf, und einer der umstrittensten.<br />

„Große Konzerne überleben ihre Leute“,<br />

sagt er am Anfang des Gesprächs. „Sonst<br />

sind sie falsch aufgestellt.“<br />

Er hat Novartis aufgestellt, als Höhepunkt<br />

einer rasanten Karriere. Er studiert<br />

Medizin, ist mit 31 jüngster Oberarzt am<br />

Berner Inselspital. Nebenbei unterrichtet er,<br />

publiziert über das zentrale Nervensystem.<br />

Mit 35 legt er den weißen Kittel ab, will<br />

nun Manager sein. Dazu hat er die richtigen<br />

familiären Bande. Der Onkel seiner<br />

Frau ist Marc Moret, Chef beim Baseler<br />

Pharmakonzern Sandoz. Der schickt Vasella<br />

1988 für Sandoz in die USA.<br />

Wenige Jahre später ermöglicht Moret<br />

seinem Zögling den großen Coup. Vasella,<br />

gerade 42, vereint Sandoz mit dem Stadtrivalen<br />

Ciba-Geigy zu Novartis. Der kleinen<br />

Schweiz beschert er die bis dahin größte<br />

Fusion der Geschichte.<br />

Es ist eine Erfolgsgeschichte. Mit einem<br />

Mann im Mittelpunkt: Vasella.<br />

Zuerst als Konzernchef, ab 1999 zusätzlich<br />

als Präsident des Verwaltungsrats,<br />

vereint er am Rheinknie zwei Kulturen –<br />

zur Vasella-Kultur. Sogar die Fische im<br />

Teich am Hauptsitz wählt er aus. Er heimst<br />

Ehrentitel ein, behauptet, Lepra beinahe<br />

ausgerottet zu haben. Fotografen inszenieren<br />

ihn auf schweren Motorrädern, mit Lederjacke<br />

und Stoppelbart. 2012, in seinem<br />

letzten Jahr, setzt Novartis fast 57 Milliarden<br />

Dollar um. Nur der amerikanische<br />

Pfizer-Konzern verkauft mehr Pillen und<br />

Pulver.<br />

Und doch tritt Vasella nun in Schimpf<br />

und Schande ab, geht nach Amerika ins<br />

Exil. Wie niemand verkörpert der sanfte<br />

und kluge Manager den hässlichen Abzocker,<br />

angeblich getrieben von Geld und<br />

Gier. Schamlos habe er sich aus der Kasse<br />

von Novartis bedient, so lautet der Vorwurf,<br />

und umgerechnet 325 Millionen Euro kassiert.<br />

Wie viel war es wirklich? „Das weiß<br />

ich nicht, ich habe diese Rechnung nie gemacht“,<br />

sagt Vasella.<br />

Geht es ums Geld, ist er schmallippig.<br />

Was letztlich seinen Ruf zerstört. Schmach<br />

statt Ehre erntet er am 22. Februar auf der<br />

Generalversammlung, bei der er sich von<br />

Novartis verabschiedet. Tage zuvor hat<br />

ein Journalist Vasellas letzten Zahltag enthüllt:<br />

58 Millionen Euro für die Zusage,<br />

sechs Jahre nicht für die Konkurrenz zu<br />

arbeiten. 58 Millionen, um nichts zu tun.<br />

An Schweizer Stammtischen, auf Twitter,<br />

in Leitartikeln gärt es. Rechte wie Linke,<br />

Arme wie Reiche überschütten ihn mit<br />

Häme.<br />

VIELE SIND ERSTAUNT, wie stümperhaft Vasella<br />

agiert. Er hat sich die Abfindung 2010<br />

zugesichert, hält sie geheim. Als der Deal<br />

auffliegt, will er das Geld erst spenden, sagt<br />

aber nicht an wen. Zuletzt verzichtet er, gesteht<br />

Fehler ein, versäumt es jedoch, sich<br />

zu entschuldigen.<br />

Plötzlich gilt er als einer, der erst eigennützig<br />

handelt und unter Druck einknickt.<br />

Prompt folgt das Verdikt. Anfang März heißen<br />

zwei Drittel der Schweizer Stimmbürger<br />

strengere Regeln bei Managergehältern<br />

gut. Der Ärger über Vasella gab der Anti-<br />

Bonus-Initiative den entscheidenden Kick.<br />

Was tut er gegen das Abzockerimage?<br />

„Nichts“, sagt er. „Dieses Wort hat an Bedeutung<br />

verloren.“ Er spricht, als sei Geld<br />

eine schnöde Nebensache. „Mein Geld? Es<br />

ist doch interessant, wie viel andere Leute<br />

darüber reden. Bei mir nimmt es nicht so<br />

viel Platz ein.“<br />

War er sein Geld wert? „Rational gesehen,<br />

ja. Die Reaktionen auf meine Gehälter<br />

sind aber emotional.“<br />

So redet einer, der den Bezug zur Realität<br />

verloren hat. Die Gier vernebelt den<br />

Blick. Ist Geld für ihn die heimliche Sucht,<br />

für die er sich schämt? Ist aus dem maßvollen<br />

Schweizer einfach ein maßloser Amerikaner<br />

geworden?<br />

Zumindest faszinieren ihn die USA.<br />

Oft schwärmt er von der betriebswirtschaftlichen<br />

Schnellbleiche an der Harvard<br />

University. Bei Novartis macht er Englisch<br />

zur Konzernsprache, lässt die Buchhalter in<br />

Dollar rechnen, schickt die besten Forscher<br />

nach Kalifornien, New Jersey und Massachusetts.<br />

Bei Pepsico und American Express<br />

setzt er sich in die Aufsichtsräte.<br />

Im persönlichen Gespräch wirkt er neugierig,<br />

ruhig – und unbeirrt. Vielleicht wegen<br />

Schicksalsschlägen, die ihn früh treffen.<br />

Mit acht erkrankt er an tuberkulöser<br />

Hirnhautentzündung, verbringt ein Jahr im<br />

Sanatorium. Der Vater stirbt, als er 13 ist,<br />

kurz darauf die Schwester. Für Vasella waren<br />

es „Situationen, in denen man glaubt,<br />

es gehe nicht weiter – und es ging doch weiter.<br />

Das verlieh mir Zuversicht.“<br />

Zuversicht verdrängt manche Kritik.<br />

„Für mich zählt nur, was meine Kinder und<br />

meine Frau von mir denken, das ist mir<br />

wichtig.“ Er nimmt einen letzten Schluck.<br />

Jetzt ist der Kakao wohl kalt.<br />

P E T E R H OSSLI<br />

ist Autor der Schweizer Blick-<br />

Gruppe und schreibt über<br />

Wirtschaft und Politik<br />

FOTOS: LUKAS ILGNER/PICTURE ALLIANCE/DPA, STEFAN FALKE<br />

78 <strong>Cicero</strong> 4.2013


„Mein Geld? Bei mir nimmt<br />

es nicht so viel Platz ein“,<br />

behauptet Ex-Novartis-<br />

Chef Daniel Vasella<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 79


| K A P I T A L | W E N I G E R E U R O P A I S T M E H R<br />

ZURÜCK NACH MAASTRICHT<br />

Rettungsschirme, Staatsfinanzierung durch die EZB und Rufe nach mehr Europa verlängern<br />

nur die Krise. Deren Lösung liegt in der Rückbesinnung auf die Kriterien von Maastricht<br />

V ON WOLFGANG KADEN<br />

E<br />

R HAT DIE ITALIENER mit Versprechungen<br />

gelockt, die für Außenstehende<br />

wie Satire anmuteten.<br />

Silvio Berlusconi war auf einmal<br />

wieder da, und von Woche<br />

zu Woche stiegen seine Umfragewerte. Am<br />

Ende sicherte er sich im Senat eine Blockade-Mehrheit.<br />

Für Italien hätte es kaum<br />

schlimmer kommen können.<br />

Nur für Italien?<br />

Erst die Wahl des französischen Sozialisten<br />

François Hollande mit seinem realitätsblinden<br />

Programm in Frankreich, nun<br />

die Abstimmung in Italien mit der Rückkehr<br />

des Polit-Scharlatans Berlusconi und<br />

dem 25-Prozent-Erfolg des Komikers<br />

Beppe Grillo – wir mussten lernen: Wahlen<br />

in einem Land der Euro-Zone haben<br />

inzwischen den Stellenwert von Wahlen im<br />

eigenen Land.<br />

Seit die Europäer vertragswidrig das<br />

Verbot der wechselseitigen Haftung für<br />

Staatsschulden außer Kraft gesetzt haben,<br />

seit sie mit ihren Rettungspaketen und den<br />

Aktionen der Notenbank unverdrossen<br />

Beistand leisten – seither schlagen Wahlausgänge<br />

in einem Euro-Staat mit voller<br />

Wucht auf die Bürger aller anderen Länder<br />

des Währungsverbunds durch.<br />

Haben wir von diesem Europa geträumt?<br />

Einem Europa, in dem Bürger für<br />

politische Entscheidungen einstehen und<br />

zahlen müssen, auf die sie nicht den geringsten<br />

Einfluss haben? In dem einigermaßen<br />

solide wirtschaftende Länder für den<br />

Unfug haften sollen, den uninformierte,<br />

törichte oder frustrierte Wähler in Italien,<br />

Frankreich oder Griechenland anrichten?<br />

In dem das eherne Prinzip „no taxation<br />

without representation“ ausgesetzt ist?<br />

Ich war seit meiner Schulzeit ein<br />

entschiedener Anhänger der Idee eines<br />

geeinten Europas. Als Chefredakteur des<br />

Spiegels habe ich für den Euro gekämpft,<br />

nicht zuletzt gegen meinen Herausgeber<br />

Rudolf Augstein, der, argumentativ gespickt<br />

von seinem Nachbarn Karl Schiller,<br />

dem ehemaligen Wirtschafts- und Finanzminister<br />

unter Kiesinger und Brandt, gegen<br />

den Vertrag von Maastricht anschrieb.<br />

Natürlich war mir immer bewusst, dass<br />

diese Währungsunion ein Großexperiment<br />

ist. Aber ohne den Mut zu Neuem hätte es<br />

das europäische Einigungswerk nie bis zum<br />

Vertrag von Maastricht geschafft. Was sollte<br />

schon schiefgehen? Der Vertrag verpflichtete<br />

die Mitglieder der Geldgemeinschaft<br />

mit exakten Vorgaben zur Haushaltsdisziplin;<br />

die Notenbank war kraft Statut mindestens<br />

so unabhängig wie die Bundesbank;<br />

und die Unterschiede in der wirtschaftlichen<br />

Leistungsfähigkeit zwischen den Teilnehmerstaaten<br />

waren auch nicht größer als<br />

die zwischen Mecklenburg-Vorpommern<br />

und Baden-Württemberg.<br />

Ich bin nach wie vor davon überzeugt,<br />

dass dieses Konzept richtig und überfällig<br />

war. In die Krise ist die Währungsunion<br />

erst geraten, als die Politiker begannen,<br />

aus den Schulden- und Wettbewerbsproblemen<br />

einzelner Teilnehmerstaaten eine<br />

Währungskrise zu machen; als sie glaubten,<br />

Rettungsfonds für überschuldete Staaten<br />

gründen zu müssen; und als die Notenbank<br />

in die Staatsfinanzierung einstieg.<br />

Eine nie da gewesene Abfolge von Vertragsbrüchen,<br />

die Deutschland inzwischen für<br />

den abenteuerlichen Betrag von 958 Milliarden<br />

Euro haften lassen, mehr als das<br />

Dreifache des Bundeshaushalts. Zugleich<br />

wurde Deutschland auch noch zum Hassobjekt<br />

in ganz Europa.<br />

Den derzeitigen Oppositionsparteien<br />

SPD und Grüne reicht das noch nicht.<br />

KARIKATUR: BURKHARD MOHR; FOTO: PRIVAT (AUTOR)<br />

80 <strong>Cicero</strong> 4.2013


SPD-Chef Sigmar Gabriel propagiert in einem<br />

Thesenpapier, verfasst mit dem Philosophen<br />

Jürgen Habermas und etlichen anderen<br />

Denkern, als einzige Lösung für den<br />

Erhalt der Währungsunion „einen großen<br />

Integrationsschritt“ – einschließlich einer<br />

„gemeinschaftlichen Haftung für Staatsanleihen<br />

des Euroraums“, sprich: Eurobonds.<br />

Und Grünen-Spitzenkandidat Jürgen<br />

Trittin, der gern Finanzminister werden<br />

möchte, verlangt: „Mehr Europa, stärkere<br />

Institutionen und auch höhere Transfers.“<br />

Für Gabriel, Habermas & Co gibt<br />

es nur „zwei in sich stimmige Strategien<br />

zur Überwindung der aktuellen Krise: die<br />

Rückkehr zu nationalen Währungen (…)<br />

oder aber die institutionelle Absicherung<br />

einer gemeinsamen Fiskal-, Wirtschaftsund<br />

Sozialpolitik im Euroraum“.<br />

Die dritte, die naheliegendste Variante,<br />

beziehen die Rot-Grünen, wie inzwischen<br />

auch viele der Regierenden, gar<br />

nicht mehr in ihre Planspiele ein – die<br />

Rückkehr zu den Prinzipien von Maastricht.<br />

Jenen Grundsätzen, mit denen die<br />

Währungsunion Anfang der Neunziger gegründet<br />

wurde: Eigenverantwortung der<br />

Euro-Staaten für ihre nationalen Haushalte;<br />

strikte Beachtung des noch immer<br />

geltenden Rechts, dass kein Staat auf Kosten<br />

anderer Unionsmitglieder aus einer finanziellen<br />

Notlage befreit werden darf, das<br />

sogenannte Bail-out-Verbot.<br />

Die Erfahrungen der vergangenen drei<br />

Jahre haben uns nachdrücklich gelehrt,<br />

dass eine „radikale (!) Vergemeinschaftung“<br />

(Trittin) die Realität in Europa völlig verkennt.<br />

„Das Projekt der politischen Union<br />

taugt nicht als Instrument zur Bewältigung<br />

der Krise“, sagt Otmar Issing, gewiss kein<br />

Euro-Gegner: Der Wirtschaftsprofessor gehörte<br />

als Chefvolkswirt dem Direktorium<br />

der Europäischen Zentralbank an.<br />

Wir mussten zur Kenntnis nehmen,<br />

dass die Einstellungen zum Werterhalt des<br />

Geldes und zum staatlichen Schuldenmachen<br />

in Europa in hohem Maße divergieren,<br />

dass die Mentalitäten der Völker selbst<br />

nach Jahrzehnten Brüsseler Gemeinsamkeit<br />

immer noch sehr unterschiedlich sind.<br />

Bei aller Begeisterung für einen geeinten<br />

Kontinent ist unübersehbar, dass es bis<br />

heute an einer europäischen Öffentlichkeit<br />

fehlt. Und dass es „die eine europäische<br />

Identität genauso wenig gibt wie den europäischen<br />

Demos, ein europäisches Staatsvolk<br />

oder eine europäische Nation“, wie<br />

Bundespräsident Joachim Gauck in seiner<br />

Europa-Rede Ende Februar sagte.<br />

In einem Interview warnte der britische<br />

Historiker Timothy Garton Ash Europas<br />

Politiker vor utopischen Entwürfen: „Wir<br />

müssen dieses Europa mit dem Stoff bauen,<br />

den wir haben. Und dieser Stoff ist die nationale<br />

Demokratie.“ Gesamteuropäische<br />

Wahlen, in denen eine Wirtschaftsregierung<br />

oder gar der EU-Kommissionspräsident<br />

zu wählen wären, bleiben auf absehbare<br />

Zukunft unrealistisch.<br />

Das traurige Beispiel der Europäischen<br />

Zentralbank sollte uns lehren, wie wenig<br />

Verlass im Ernstfall auf gesamteuropäische<br />

Einrichtungen ist.<br />

Die EZB wurde nach dem Modell der<br />

Bundesbank konstruiert. Sie ist formal von<br />

den Regierungen unabhängig, wurde in ihrem<br />

Statut deutlicher noch als die alte Bundesbank<br />

einzig dem Erhalt des Geldwerts<br />

verpflichtet. Es ist ihr verboten, Staatshaushalte<br />

zu finanzieren. Die Mitglieder des<br />

Zentralbankrats, des obersten Entscheidungsgremiums,<br />

sollten nicht als Vertreter<br />

ihrer Herkunftsländer agieren, sondern<br />

als geldpolitische Experten.<br />

Ein, wie ich fest überzeugt war, wasserdichtes<br />

Vertragswerk. Doch inzwischen<br />

kauft die Notenbank munter Staatsanleihen<br />

auf und versorgt die Banken notleidender<br />

Länder mit Geld zum Nulltarif, das<br />

diese an die öffentlichen Kassen weiterleiten.<br />

Sie betreibt ungeniert Staatsfinanzierung,<br />

und anders als bei den Rettungsfonds<br />

hat diese Methode noch den Vorteil, dass<br />

die Zahlungen nicht von den Parlamenten<br />

der Geberländer genehmigt werden müssen.<br />

Eine Mehrheit der Nehmerländer im<br />

Zentralbankrat setzt diese Politik notorisch<br />

durch.<br />

Nichts anderes hätten wir von einem<br />

fiskalpolitisch geeinten Europa zu erwarten.<br />

Wenn dessen Institutionen handlungsfähig<br />

sein sollen, würde dort mit Mehrheit<br />

entschieden – von Politikern, die nach wie<br />

vor auf ihr heimisches Wähler klientel schielen<br />

müssten. Diese Gremien würden – was<br />

immer auch vorher an hehren Absichten<br />

unterschrieben wurde – uns dann mit demokratischen<br />

Mehrheiten den vom ehemaligen<br />

Verfassungsrichter Udo Di Fabio<br />

bereits prophezeiten „Super-Länderfinanzausgleich“<br />

oktroyieren, mit den solide<br />

haushaltenden Ländern als Geber und<br />

den reformunfähigen oder -unwilligen als<br />

Nehmern.<br />

Neue, gesamteuropäische Institutionen<br />

würden nur den Veränderungsdruck von<br />

den Ländern nehmen, die dabei sind, ihre<br />

Zahlungsfähigkeit zu verlieren. Die Südländer<br />

– Frankreich eingeschlossen, das gerade<br />

dabei ist, den letzten Rest seiner Wettbewerbsfähigkeit<br />

zu verspielen – könnten<br />

alle die Ursachen der Krise selbst überwinden,<br />

indem sie die unvermeidlichen<br />

Reformen ihrer Sozialgesetzgebung, ihres<br />

Arbeitsrechts und ihrer Bürokratien umsetzen<br />

würden, so wie es das kleine Lettland<br />

vorgemacht hat. Doch zu dieser Umkehr<br />

scheinen eine ignorante Wählerschaft und<br />

eine opportunistisch agierende politische<br />

Elite nicht fähig oder nicht willens.<br />

Gewiss, der vertragliche Rahmen der<br />

Währungsunion ist verbessert worden. Die<br />

Banken sollen zukünftig einheitlich europaweit<br />

kontrolliert werden. Fiskalunion<br />

nebst Schuldenbremse können einen zusätzlichen<br />

Druck ausüben, staatliche Einnahmen<br />

und Ausgaben im Lot zu halten.<br />

Aber ob die Paragrafen im Getöse des<br />

politischen Alltags respektiert werden, ist<br />

nach der Serie bisheriger Vertragsbrüche<br />

keineswegs gesichert.<br />

Glaubwürdig wären all die Schwüre<br />

nur, wenn die Bestrafung für Fehlverhalten<br />

automatisch folgen würde und nicht<br />

von Beschlüssen Brüsseler Räte abhängig<br />

wäre. Doch solche Automatismen konnten<br />

die Deutschen nicht durchsetzen.<br />

Die Währungsunion wird Bestand haben.<br />

Es gibt kein Zurück mehr zu nationalen<br />

Währungen. Ein Ende des Euro wäre<br />

verhängnisvoll, politisch wie ökonomisch,<br />

nicht zuletzt für Deutschland mit seinen<br />

riesigen Haftungsverpflichtungen, die inzwischen<br />

eingegangen wurden und nicht<br />

rückgängig zu machen sind.<br />

Die einzige für Deutschland stimmige<br />

Strategie in diesem Euro-Europa aber muss<br />

darin bestehen, die Politik der ständigen<br />

Hilfsaktionen, via Rettungsfonds oder über<br />

die Notenbank, also die Sozialisierung von<br />

Schulden zu beenden und zurückzukehren<br />

zu einem ehernen Grundsatz vernünftigen<br />

Wirtschaftens: der Einheit von Risiko und<br />

Haftung, wie sie in Maastricht festgeschrieben<br />

wurde.<br />

WOLFGANG KADEN<br />

war Chefredakteur beim Spiegel<br />

und beim Manager Magazin<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 81


| K A P I T A L | D E R T R A U M V O M S C H N E L L E N G E L D<br />

DAS ZOCKERHAUS<br />

50 Seminare für<br />

Spekulanten veranstaltet<br />

das Traderhotel jedes Jahr<br />

82 <strong>Cicero</strong> 4.2013


IM SPESSART<br />

Daytrader verdienen ihr Geld<br />

mit Börsenspekulationen am<br />

heimischen Computer. Wenn<br />

das nicht so richtig klappt,<br />

pilgern sie zum Seminar auf<br />

einen Berg am Main –<br />

ein Besuch im Traderhotel<br />

V ON C ONSTANT IN M AGNIS<br />

FOTO: BERND HARTUNG FÜR CICERO<br />

D<br />

ER MANN MIT DER BRILLE schwitzt.<br />

Er will nichts mehr sagen, aber<br />

jetzt schaut ihn die Gruppe so<br />

mitfühlend an, und der Mann<br />

am Podium stellt die Frage<br />

schon zum zweiten Mal:<br />

„Wie viel Verlust machen Sie am Tag?“<br />

„Fünfhundert?“, sagt der Mann<br />

schuldbewusst.<br />

„Und? Mit wie viel würden Sie sich<br />

wohlfühlen?!“<br />

Er senkt den Blick. „Hundert?“<br />

„Und so wie Sie agieren, was sind die Folgen?<br />

Na los!“<br />

„Angst?“, sagt der Mann kleinlaut, sein<br />

Tischnachbar nickt ihm Mut zu.<br />

„Angst! Genau! Was noch?“<br />

„Unsicherheit, Frust?“<br />

„Merken Sie was?!“, sagt der Mann am<br />

Podium streng. „Mit Ihrer Methode machen<br />

Sie sich unglücklich!“<br />

Der Mann schlägt die Hände aufs Pult.<br />

„Ich weiß. Darum bin ich ja hier.“<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 83


| K A P I T A L | D E R T R A U M V O M S C H N E L L E N G E L D<br />

Nein, dies ist keine Selbsthilfegruppe<br />

für Spielsüchtige. Wir befinden uns im<br />

Spessart, im Gebäude einer Lungenheilanstalt<br />

aus dem vorletzten Jahrhundert,<br />

heute ein Hotel. „Zauberberg“ nennt die<br />

Hausbroschüre diesen Ort, natürlich. Aus<br />

den großen Fenstern blickt man kilometerweit<br />

über waldige Hügel, unten im Tal<br />

liegt das Städtchen Lohr am Main. „Zockerburg“<br />

nennen dort die Leute das trutzige<br />

Haus. Denn es führt ein Doppelleben.<br />

Für die meisten Besucher bedient es den regulären<br />

Tourismusbetrieb.<br />

Doch daneben gibt es für spezielle<br />

Gäste einen eigenen Trakt, eine eigene Telefonnummer,<br />

einen eigenen Internetauftritt,<br />

mit anderem Namen. Dort heißt es:<br />

das „Traderhotel“. Bis zu 50 Seminare für<br />

Trader – also Börsenspekulanten – finden<br />

hier jährlich statt. So wie der gerade ablaufende<br />

Intensivkurs des Frankfurter Börsenveteranen<br />

Erdal Cene, der den Brillenträger<br />

soeben von seiner riskanten Handelsstrategie<br />

abgebracht hat. Die 20 Seminarteilnehmer<br />

zahlen 4760 Euro plus Übernachtung<br />

und Verpflegung, um – so verspricht Cenes<br />

Website – „dauerhaft in das Lager der<br />

Gewinner zu wechseln“.<br />

Ungestört von Euro- und Finanzmarktkrisen,<br />

in Zeiten, in denen selbst konservative<br />

Publizisten wie Frank Schirrmacher<br />

den Homo oeconomicus niederschreiben,<br />

bildet der Hügel über Lohr einen Pilgerort<br />

für die Verlockungen des Kapitalismus<br />

in seiner reinsten Form.<br />

Die allermeisten Kursteilnehmer sind<br />

sogenannte Daytrader, Händler, die Wertpapiere<br />

innerhalb eines Handelstags kaufen<br />

und wieder verkaufen, um von winzigen<br />

Kursschwankungen schnell zu profitieren.<br />

Deswegen lieben sie, anders als die konservativ<br />

langfristig denkenden Anleger, volatile<br />

Marktphasen, in denen die Kurse an<br />

der Börse im ständigen Wechsel auf- und<br />

abgehen. Ob sie mit Aktien, Rohstoffen,<br />

Devisen, Indices oder Zinsen handeln: Sie<br />

alle sind Glücksritter, die hoffen, im Abermilliarden<br />

Zahlen starken Strom der globalen<br />

Märkte Gold zu heben oder zumindest<br />

ein Paar Nuggets herauszuschürfen.<br />

Die Teilnehmer<br />

des Seminars<br />

zahlen<br />

4760 Euro, um –<br />

so verspricht<br />

es die Website –<br />

„dauerhaft in<br />

das Lager der<br />

Gewinner zu<br />

wechseln“<br />

84 <strong>Cicero</strong> 4.2013


FOTOS: BERND HARTUNG FÜR CICERO<br />

Man hatte sie sich anders vorgestellt,<br />

die Trader, die von Erfurt bis Wien, von<br />

Luzern bis Berlin in den Spessart eingeflogen<br />

sind. Ein bisschen so wie auf dem<br />

Bild, das im Seminarraum auf einer Staffelei<br />

steht. Darauf sitzt ein schneidiger junger<br />

Mann mit Scheitel, siegesgewiss lächelnd,<br />

im blauen Licht der Bildschirme,<br />

die vor ihm aufgebaut sind wie ein Altar.<br />

Hinter ihm schwebt ein brünettes Fräulein<br />

vorbei, sie wirft dem Aktienpriester einen<br />

scheuen Blick zu, ihre Brüste stehen prall<br />

nach vorne. Im „Traderhotel“ dagegen begegnen<br />

einem Rentner im Wanderschuh,<br />

Handwerker im Fleece-Pulli und Sparkassenangestellte<br />

in bunten Anoraks.<br />

In Deutschland sind nach Marktschätzungen<br />

etwa 30 000 Menschen als Daytrader<br />

aktiv, doch mehr als 75 Prozent<br />

von ihnen machen überwiegend Verluste.<br />

Wohl auch, weil die wenigsten Profis sind.<br />

Noch in den Neunzigern war diese Art des<br />

Wertpapierhandels Spezialisten vorbehalten.<br />

Transaktionskosten und schnelle, zuverlässige<br />

Internetverbindungen waren für<br />

Wie verdient man<br />

in 15 Minuten so<br />

viel wie sonst nur<br />

in einer Woche?<br />

Stefan Fröhlich<br />

steht vor den<br />

Teilnehmern des<br />

Trader-Seminars<br />

und unterrichtet<br />

Einzelkämpfer damals kaum bezahlbar,<br />

Händlerzulassungen rar. Doch inzwischen<br />

kosten selbst Aktienkäufe im sechsstelligen<br />

Bereich nur noch ein paar Euro Gebühr,<br />

Dutzende Brokerfirmen bieten Privatanlegern<br />

Handel mit kleinen Einsätzen an,<br />

und die Monopolstellung der großen Börsen<br />

ist gefallen. Jeder, der kreditwürdig ist,<br />

darf heute traden. Ob er es auch kann, ist<br />

eine andere Frage.<br />

WER ZUM SEMINAR nach Lohr anreist, hat offenbar<br />

nicht vor, diese Frage dem Zufall zu<br />

überlassen. Jede Kursminute ist hier bares<br />

Geld wert. Am Ende des Seminartages fragt<br />

Coach Erdal Cene, 42, stahlgraue Haare,<br />

hessischer Dialekt: „Wollen wir morgen zur<br />

Abwechslung mal eine halbe Stunde später<br />

anfangen, also um 8 Uhr?“ Er lächelt großzügig.<br />

Keiner lächelt zurück. „Was sollen<br />

wir mit der halben Stunde machen? Wegschmeißen?“,<br />

protestiert ein Mann. Der<br />

Rest murrt zustimmend. Cene blickt kurz<br />

resigniert, aber fragt dann noch mal erwartungsvoll:<br />

„Okay, wer kommt nachher<br />

noch für ein Glas Wein mit in die Stadt?“<br />

Die Trader blicken auf ihre Tische. Sie sind<br />

ja nicht zum Spaß hier.<br />

Immerhin sitzen einige von ihnen später<br />

noch bei einem Bier an der Hotelbar.<br />

Als sich der Autor zu ihnen setzt, wird<br />

die Runde nervös. „Keine Namen“, sagt<br />

einer, den wir deshalb nur Thomas nennen.<br />

Bei der dritten Frage zu ihrem Beruf<br />

treten sie die Flucht an. „Ich geh eine<br />

rauchen“, sagt der Erste. „Ich auch“, sagt<br />

der Zweite. Dann steht auch der Dritte auf.<br />

Thomas und sein Kollege sitzen nun alleine<br />

da. „Geld ist ein scheues Pferd“, sagt Thomas.<br />

„Bitte, setzen Sie sich woanders hin.“<br />

Kurt am Nachbartisch wischt sich den<br />

Bierschaum aus dem Schnurrbart. Er sagt:<br />

„In Deutschland über Geld zu reden, ist<br />

so wie in Amerika über Sex. Es ist unanständig.“<br />

Der pensionierte Bauingenieur<br />

hat Hände, die eigentlich zu groß für eine<br />

Computertastatur sind. Er hat sein Haus<br />

selbst gebaut, und weil die Banken ihn<br />

enttäuschten, verwaltet er jetzt auch sein<br />

Geld selber. Als Daytrader. Es flutscht noch<br />

nicht so. Sonst wäre er nicht hier, sagt er,<br />

und lacht.<br />

Wie die meisten Trader handelt Kurt<br />

von zu Hause. Um 7 Uhr steht er auf, liest<br />

Nachrichten, checkt die asiatischen Märkte.<br />

Bevor er den Rechner hochfährt, macht<br />

er Yoga. Nichts ist in diesem Geschäft so<br />

wichtig wie ein freier Kopf. Wer zu schnell<br />

oder zu spät aussteigt, weil er Angst oder<br />

Gier nicht kontrollieren kann, der scheitert.<br />

Jeder gute Trader entwickelt deshalb<br />

seine persönlichen Handelsregeln, an die<br />

er sich sklavisch hält, egal was passiert. Gegen<br />

8 Uhr, wenn die Großinvestoren schon<br />

im vorbörslichen Handel einkaufen, eine<br />

Stunde bevor die Märkte in Europa öffnen,<br />

loggt Kurt sich ein. Er wählt seinen Markt,<br />

meistens den deutschen Aktienindex Dax,<br />

entscheidet sich für eine Kontraktzahl, und<br />

ob er heute „long“ oder „short“ gehen, auf<br />

steigende oder fallende Kurse setzen will.<br />

Dann blendet er alles andere aus.<br />

Über den Bildschirm ruckelt der Dax-<br />

Kurs wie ein Gebirge, daneben fließen in<br />

rasendem Tempo Zahlenstrahlen – grün,<br />

wenn der Preis steigt, rot, wenn er fällt. Kurt<br />

sitzt dann bangend davor, als zeige sein Monitor<br />

das EKG eines Kranken, klickt mal<br />

„buy“, dann wieder „sell“. Entscheidend<br />

ist: „Beim Beuteschema bleiben. Sich nicht<br />

ablenken lassen. Frust, Verluste, und Langeweile<br />

aushalten.“ Wer mit Daytradern<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 85


| K A P I T A L | D E R T R A U M V O M S C H N E L L E N G E L D<br />

Die Daytrader<br />

lauschen den<br />

Weisheiten des<br />

Börsenveterans<br />

Erdal Cene, als sei<br />

jeder seiner Sätze<br />

bares Geld wert<br />

Das Traderhotel<br />

befindet sich in<br />

einer ehemaligen<br />

Lungenheilanstalt.<br />

Da ist der Verweis<br />

auf den Zauberberg<br />

in der Broschüre<br />

natürlich zwingend<br />

spricht, hört oft den Vergleich mit dem<br />

Feuerwehrmann: Man sitzt manchmal den<br />

halben Tag vor dem Rechner und nichts<br />

passiert. Aber wenn es brennt, muss man<br />

präsent sein und alle Aktionen schnell ausführen,<br />

ohne in Panik zu verfallen.<br />

Systematisch arbeitet Kurt seine Handelsstrategie<br />

ab, Kopf aus, Routine an.<br />

Er hält das etwa eine Stunde lang durch,<br />

dann braucht er eine Pause. Mittags isst<br />

er leicht, Fisch oder Gemüse. Spätestens<br />

um 15.30 Uhr, wenn die Börsen von Kanada<br />

bis Brasilien öffnen, knackt der Rücken.<br />

Und wenn sie um 17.30 Uhr in<br />

Deutschland schließen, kann Kurt meist<br />

kaum noch klar denken. An schlechten Tagen<br />

rackert er trotzdem weiter bis zum New<br />

Yorker Börsenschluss um 22.00 Uhr, hat<br />

ausschließlich Geld verloren und kann vor<br />

Stress nicht schlafen. An guten Tagen verdient<br />

er dafür in 15 Minuten so viel wie<br />

sonst in einer Woche.<br />

WIE VIEL STARTKAPITAL ein Daytrader mitbringen<br />

muss, ist umstritten. Thomas Vittner,<br />

selbst professioneller Spekulant und<br />

Autor des Buches „Das Trader Coaching:<br />

So werden Sie zum Gewinner“, empfiehlt<br />

seinen Lesern die sportliche Summe von<br />

500 000 Euro. Darunter sei es schwierig,<br />

da man auch hin und wieder längere Verlustserien<br />

aushalten müsse. Wer dabei mit<br />

einem kleineren Startkapital ständig Geld<br />

vom Konto nehmen müsse, dezimiere sein<br />

Kapital gleich doppelt, da der Zinseszinseffekt<br />

nicht ausreichend greifen könne.<br />

So viel Geld hat wohl kaum einer von<br />

den Kursteilnehmern in der Zockerburg<br />

zur Verfügung. Die meisten waren froh,<br />

wenn sie zu Anfang ihrer Traderkarriere<br />

ein Zehntel davon besaßen. Auch deswegen<br />

sind bei kleineren Daytradern Hebelprodukte<br />

wie die Contracts for Difference<br />

so beliebt. Mit diesen Papieren kann man<br />

von den Kursschwankungen eines Tages<br />

profitieren. Wer einen solchen Differenzkontrakt<br />

auf den Dax wählt, mit dem von<br />

den meisten Onlinebrokern angebotenen<br />

Standardhebel von hundert, setzt beim<br />

derzeitigen Daxstand von 8000 Punkten<br />

zum Beispiel 80 Euro auf steigende Kurse.<br />

Gehebelt handelt er mit 8000 Euro. Steigt<br />

der Dax an dem Tag um nur 1 Prozent,<br />

verdoppelt der Trader seinen Einsatz und<br />

gewinnt 80 Euro. Verliert der Index dagegen<br />

1 Prozent, ist der komplette Einsatz<br />

verloren.<br />

FOTOS: BERND HARTUNG FÜR CICERO, PRIVAT (AUTOR)<br />

86 <strong>Cicero</strong> 4.2013


„Traden ist nie gerecht“, sagt Stefan<br />

Fröhlich, 46, Schlabberjeans, Fahrradschuhe<br />

mit Klettverschluss. Er und seine<br />

Frau haben 2009 das „Traderhotel“ konzipiert,<br />

organisieren Ablauf der Tagungen<br />

und engagieren die Referenten. Auch weil<br />

sie wissen, wie einsam und hart das Leben<br />

eines Daytraders sein kann. Fröhlich ist seit<br />

25 Jahren an der Börse aktiv und hat zigfach<br />

erlebt, wie Händler ihre „Konten plätten“,<br />

wie es im Traderjargon heißt. Laut einer<br />

Studie der University of California dauert<br />

es bei 85 Prozent der Anfänger nur drei bis<br />

sechs Monate, bis das Konto leer ist. Mit<br />

den Schulungen im Traderhotel versucht<br />

Fröhlich, die Kursteilnehmer zumindest<br />

vor der schnellen Pleite zu bewahren.<br />

An diesem Morgen coacht er selbst<br />

neue Kursteilnehmer. Fröhlich trägt große<br />

Kopfhörer mit abstehendem Mikro, saust<br />

mit dem Mauszeiger durch das Zahlengewirr<br />

an der Wand und kichert über seine<br />

eigenen Witze. Während seiner Einführung<br />

in die Tradersoftware „Nano Trader“<br />

spricht er von „Bobl-Futures“ und „Volatilitätskomponenten“,<br />

schwärmt vom<br />

„Tradeguard Order“ und den „Aggregationen<br />

der Meta-Sentimentoren“ und warnt<br />

davor, den „Parabolic als Indikator“ zu unterschätzen.<br />

Spräche er nicht deutsch, sondern<br />

klingonisch, ein Laie wäre nicht weniger<br />

verwirrt. Doch seine Zuhörer nicken<br />

verständig, während sich die blauen Graphen<br />

an der Wand auf ihren glänzenden<br />

Stirnen und Brillengläsern spiegeln.<br />

NA KLAR, DAS HANDWERK, die Vokabeln, das<br />

alles muss gepaukt werden, sagt Michael,<br />

26, schwere Stahluhr, schwarze Haare,<br />

schwarze Kleidung. Mit der Gabel bearbeitet<br />

er das sogenannte „Trader-Menü“<br />

der Mittagskarte: Pellkartoffeln mit Hering,<br />

halbe Portion. Natürlich sei das Lernen<br />

mühsam, genau wie die Selbstdisziplin,<br />

die das Traden erfordert.<br />

Michael ist Berliner, vergangenes Jahr<br />

hat er begonnen, Seminare im Internet<br />

zu belegen und den Stoff aus der Ratgeberliteratur<br />

zu büffeln, nachts, neben seinem<br />

Beruf als Elektrotechniker. Dann hat<br />

er den Job geschmissen, um Vollzeittrader<br />

zu werden. Bis Ende des Jahres reicht sein<br />

Erspartes. Sein Traum wäre es, ganz vom<br />

täglichen Spekulieren leben zu können. Er<br />

liebt das Trading. Die Energie, die es bei<br />

ihm freisetzt, die Selbstständigkeit, die Arbeit<br />

an sich selbst und ja, auch die Chance<br />

auf das fette Geld.<br />

Nur einen Haken hat der Job für ihn.<br />

„Die Leute hassen uns“, sagt Michael. Seit<br />

der Finanzkrise ist die Stimmung gegen<br />

Spekulanten gekippt, auch andere Trader<br />

wie Erdal Cene erleben das. Zocker wie er<br />

seien schuld daran, dass Benzin und Weizenpreise<br />

steigen, Milch in die Ozeane gekippt<br />

und ganze Stämme in Afrika verhungern<br />

würden, bekommt Michael dann zu<br />

hören. Sein Vater war so enttäuscht, dass er<br />

ihn am liebsten enterbt hätte. Inzwischen<br />

sagt er nicht mehr, dass er Trader ist. Wenn<br />

heute jemand fragt, was er macht, antwortet<br />

er: „Gemüsehändler.“<br />

C ONSTANT IN M AGNIS<br />

ist Reporter bei <strong>Cicero</strong><br />

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| K A P I T A L | K O M M E N T A R<br />

Bergler gegen<br />

Feudalherren<br />

Das Schweizer Verdikt gegen die Abzocker sch0ckiert den<br />

Geldadel und seinen Klerus. Der Neofeudalismus wird entlarvt<br />

VON FRANK A . ME Y E R<br />

Z<br />

UR VOLKSABSTIMMUNG gegen exzessive Managerlöhne<br />

und Boni in der Schweiz, der sogenannten Abzockerinitiative,<br />

druckte die Süddeutsche Zeitung folgende<br />

Formulierung: „Das merkwürdige Bergvolk ist zu Wutausbrüchen<br />

fähig.“<br />

Ein Sätzchen, das in dreierlei Hinsicht zu denken gibt.<br />

Erstens erscheinen die Schweizer deutschen Journalisten<br />

gerne als drollig oder putzig, als knorrige Bergler, jedenfalls<br />

nicht als ebenbürtige Nachbarn wie Franzosen, Niederländer<br />

oder Polen – irgendwie anders, vor allem als nicht sonderlich<br />

ernst zu nehmend, exotisch.<br />

Zweitens sind die merkwürdigen Bergler zwar zu temporären<br />

Ausbrüchen fähig, nicht aber zum Weitblick über ihre schneebedeckten<br />

Gipfel hinweg, wie die Abstimmung vom 3. März ja<br />

wohl zweifelsfrei belegt.<br />

Drittens lässt sich das Schweizer Volk in seinen Willensbekundungen<br />

von unberechenbaren Gefühlen wie Wut leiten,<br />

nicht aber von kühler, sachlicher Analyse.<br />

All das schwingt in dem Sätzchen der Süddeutschen Zeitung<br />

mit. Doch was hat die Wahrnehmung deutscher Journalisten<br />

mit der Schweiz zu tun?<br />

Unter den 14 weltweit führenden Industrieländern steht die<br />

Schweiz im Rating der Hochtechnologie auf Rang eins mit ihrem<br />

Maschinenbau, darunter Textil- und Werkzeugmaschinen,<br />

Automaten und Roboter; auf Rang eins mit ihren wissenschaftlichen<br />

Präzisionsinstrumenten; auf Rang eins mit ihrer Pharmaindustrie;<br />

auf Rang zwei mit ihrer Chemieproduktion.<br />

Allein der Wert aller Exporte der Schweiz pro Jahr und Kopf<br />

der Bevölkerung beträgt nach neuesten Zahlen 40 000 Dollar.<br />

Deutschland exportiert für 18 000 Dollar pro Kopf, die USA für<br />

4200.<br />

Die Schweizer: ein Bergvolk?<br />

Elektro-, Maschinen-, Metall- und Uhrenindustrie in diesem<br />

Land geben 340 000 Menschen Arbeit, Groß- und Einzelhandel<br />

445 000 Beschäftigten, das Gesundheitswesen fast ebenso vielen,<br />

540 000.<br />

Die Schweizer: ein Bergvolk?<br />

Die Schweiz beiderseits der Autobahn zwischen Romanshorn<br />

im Osten und Genf im Westen bietet das Bild dazu: eine<br />

Landschaft, vollgestopft mit Industrie und Gewerbe, planlos zersiedelt,<br />

von Verkehrsinfrastruktur zerteilt.<br />

Die Schweiz ist eine Industrienation wie kaum eine zweite,<br />

wahrscheinlich die wettbewerbsfähigste der Welt.<br />

Und nun haben die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes –<br />

seine Wirtschaftsbürgerinnen und -bürger! – den Abzockern mit<br />

Zweidrittelmehrheit eine krachende Abfuhr erteilt.<br />

Das Düsseldorfer Handelsblatt zeigte sich erstaunt: „Mit<br />

der Annahme der sogenannten Abzockerinitiative gibt sich ausgerechnet<br />

die sonst wirtschaftsfreundliche Schweiz das wohl<br />

strengste Aktienrecht.“<br />

Auch dieses deutsche Sätzchen gibt zu denken, vor allem die<br />

Formulierung: „sonst wirtschaftsfreundliche Schweiz“.<br />

Denn das ist ja gerade die Pointe: Der wirtschaftsfreundliche<br />

Schweizer Souverän hat auch diesmal wirtschaftsfreundlich entschieden<br />

– gegen die Feinde der Wirtschaft!<br />

In den Ohren von Wirtschaftsjournalisten mag dies zunächst<br />

absurd klingen, doch es ist stringent und konsequent: Die<br />

Schweizer Stimmbürger stellen sich nicht feindlich gegen, sondern<br />

im Gegenteil schützend vor ihren heimischen Kapitalismus.<br />

Und sie exerzieren damit vor, was auch für andere Nationen die<br />

dringend nötige Gefechtsordnung beschreibt.<br />

In aller Welt hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges eine<br />

neue Kaste etabliert, in den Befehlszentralen der größten Unternehmen<br />

installiert, sich mit weiten Teilen der Politik alliiert –<br />

und die soziale Marktwirtschaft unterminiert.<br />

Erst Boni-Exzesse und Bankenkrise machten deutlich, was<br />

da die Demokratie bedroht: der Neofeudalismus eines von allen<br />

guten Geistern verlassenen, von allen gesellschaftlichen Regeln<br />

ILLUSTRATION: JAN RIECKHOFF<br />

88 <strong>Cicero</strong> 4.2013


FOTO: PRIVAT (AUTOR)<br />

befreiten Geldadels. Wobei dem erblichen Adel von anno dazumal<br />

nicht böswillig Falsches nachgesagt werden soll, bewegte er<br />

sich doch kulturell und intellektuell auf einer erheblich höheren<br />

Ebene als die Hütchenspieler des Spätkapitalismus.<br />

Ja, es geht um die Usurpation des demokratisch-kapitalistischen<br />

Systems. Die neuen Feudalherren sichern dabei nicht<br />

nur ihren Machtanspruch über Kapital- und Firmenkonglomerate.<br />

Die Beherrscher des globalen Wirtschaftsgeschehens haben,<br />

wie es sich für Feudalherren gehört, auch eine Kirche in ihren<br />

Dienst gestellt. Deren höhere Würdenträger, gewissermaßen die<br />

Bischöfe und Kardinäle, werden von universitär bestallten Groß-<br />

Ökonomen verkörpert. Die Aufgaben des niederen Klerus, also<br />

der Pfäffchen, erfüllen beflissen die Wirtschaftsjournalisten.<br />

Es herrscht emsiges Treiben in diesem neuen Machtgefüge,<br />

unter anderem ablesbar an den Kommentaren nach dem<br />

Schweizer Entscheid. Da beschwor Michael Hüther, Direktor<br />

des Instituts der deutschen Wirtschaft, gar das „Fin du Capitalisme“<br />

und forderte seine Mitprälaten auf, sich dem Untergang<br />

beherzt entgegenzustellen.<br />

Die Schweizer Abzockerinitiative ist nicht von ungefähr<br />

durch den mittelständischen Mundwasser-Hersteller Thomas<br />

Minder lanciert worden. Ein neuer Klassenkampf zeichnet sich<br />

ab: Unternehmertum gegen Nehmertum – Patrons gegen Manager.<br />

Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Klassen:<br />

Unternehmer arbeiten mit eigenem Geld, tragen persönliche<br />

Verantwortung, sind als ökonomische Elite in der Gesellschaft<br />

engagiert, traditionell in ihr verwurzelt – oft seit Generationen.<br />

Manager dagegen sind weder Unternehmer noch Arbeitnehmer,<br />

sie operieren mit fremdem Geld, bewegen sich in der Gesellschaft<br />

profitgetrieben wie Söldnerführer. Zur Rechtfertigung<br />

ihrer Gier nach Geld und Macht bedienen sie sich einer passenden<br />

Ideologie: des Marktradikalismus, einer ökonomistischen<br />

Heilsbotschaft religiösen Zuschnitts, letztlich eines ins Gegenteil<br />

gewendeten Marxismus – des Marktismus.<br />

In der Vorstellung seiner Gläubigen und deren Apostel gipfelt<br />

diese Lehre vom Nächsten, der sich jeder am besten selber<br />

sei, im Bild eines üppig gedeckten Tisches der Reichen und Superreichen,<br />

von dem doch genügend Krümel fürs gemeine Volk<br />

nach unten rieselten: ein neofeudales Abendmahl.<br />

Dem stehen in unserer neuzeitlich-aufgeklärten Gesellschaft<br />

jedoch die bürgerlichen Verhältnisse entgegen. Also gilt es für<br />

die neuen Masters of the Universe, Werte und Institutionen des<br />

Bürgertums zurückzudrängen, ja zu beseitigen – allen voran den<br />

bürgerlichen Staat mit seinen demokratischen Regeln.<br />

Denn der demokratische Staat ist das Feindbild der Marktbesessenen.<br />

Der Meisterdenker dieser Religion, Friedrich August<br />

von Hayek (1899 bis 1992), verachtet die Demokratie als „ein<br />

durch das Erpressungs- und Korruptionssystem der Politik hervorgebrachtes<br />

System“, als einen „Wortfetisch“, mehr nicht.<br />

Zu von Hayeks Dogmen gehört ferner, dass demokratische<br />

Entscheide ausschließlich von jenen zu fällen seien, die davon<br />

selbst betroffen sind. Will heißen: Nur Reiche sollen darüber<br />

befinden dürfen, wie viel Steuern Reiche an den Staat,<br />

also die Allgemeinheit, zu zahlen haben. Auch so lässt sich<br />

die Abschaffung der Demokratie bewerkstelligen. Vom Prinzip<br />

des „One Man – One Vote“ zum Wahlrecht nach Klassenzugehörigkeit.<br />

Feudalismus 2013. Von Hayek predigte dies bereits<br />

in den fünfziger Jahren, als im freien Europa noch der<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 89<br />

Rheinische Kapitalismus als sozial gerechtes Demokratiemodell<br />

triumphierte.<br />

Heute liest man derlei Putschisten-Fantasien beispielsweise in<br />

der Neuen Zürcher Zeitung. Das Stammblatt der Schweizer Wirtschaft,<br />

ein Osservatore Romano für Neoliberale, belehrte eben gerade<br />

seine Leser, dass Mehrheiten nicht einfach Mehrheiten seien,<br />

sondern sich nach den Folgekosten eines Volksentscheids richten<br />

müssten: „Je höher diese Kosten sind, desto höher sollte die<br />

Hürde für die Annahme solcher Vorlagen sein. Die sinnvolle erforderliche<br />

Ja-Quote kann also auch bei 60 oder 70 Prozent liegen.“<br />

Weiter dozierte die NZZ: „Eine Ausweitung der Staatsaufgaben<br />

und Staatsausgaben ist bei den heutigen riesigen Staatsquoten<br />

im Grunde eine zu ernste Sache, als dass man sie einfach so locker<br />

mit einer einfachen Mehrheit genehmigen kann.“<br />

Man darf das auch so lesen: Schluss jetzt mit dem demokratischen<br />

Firlefanz!<br />

Einst hat das Bürgertum mit Demokratie und Kapitalismus<br />

die Feudalherren samt Klerus zum Teufel gejagt. Eine historische<br />

Leistung. Sie führte zur erfolgreichsten Gesellschaftsordnung<br />

der Geschichte.<br />

Wie gesichert ist sie? So lange, wie es Bergvölker gibt.<br />

FRANK A . ME Y E R<br />

ist Journalist und Gastgeber der politischen<br />

Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />

»Ein herausragendes Buch«<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />

»Vogelsangs fabelhaftes<br />

Werk ist jedem ans Herz zu<br />

legen. Ein großer Wurf«<br />

Die Zeit<br />

»Ein neues deutschsprachiges<br />

Standardwerk«<br />

Neue Zürcher Zeitung<br />

»Vogelsangs Werk trägt dazu<br />

bei, die heutige Politik der<br />

ostasiatischen Weltmacht<br />

besser einschätzen zu<br />

können« Falter<br />

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| S T I L<br />

DIE SUPERNASE<br />

Sissel Tolaas archiviert und kreiert Gerüche. Sie changiert damit zwischen Chemie und Kunst<br />

V ON UL R ICH CLEWING<br />

D<br />

ER APPARAT, dem Sissel Tolaas<br />

so viel verdankt, sieht aus wie<br />

eine Mischung aus Staubsauger<br />

und Geigerzähler. Damit hat sie etwas gesammelt,<br />

von dem man nicht dachte, das<br />

man es überhaupt sammeln kann: Gerüche.<br />

Eine Enzyklopädie der Düfte, von<br />

den wohlriechenden bis zu jenen, für die<br />

sich sonst keiner interessiert, außer vielleicht<br />

Mitarbeiter des Gesundheitsamts.<br />

Das Aroma von Brandmauern und Bürgersteigen,<br />

von Parkanlagen, U-Bahnhöfen<br />

und Pissecken. Nichts, was man landläufig<br />

als angenehm beschreiben würde – aber<br />

da hätte man aus Sissel Tolaas’ Sicht bereits<br />

den ersten Fehler gemacht.<br />

Ein Mietshaus in Berlin-Wilmersdorf,<br />

gediegene Innenstadtlage, die Wohnung<br />

liegt im dritten Stock. Eine schlanke, groß<br />

gewachsene Frau Mitte vierzig öffnet die<br />

Tür, die hellblonden Haare zu einem jugendlich<br />

franseligen Pagenkopf geschnitten.<br />

Sissel Tolaas, in Norwegen geboren,<br />

hat nicht nur Chemie studiert, sondern<br />

auch Bildende Kunst, in Oslo, Moskau,<br />

Warschau und in Oxford. So ungewöhnlich<br />

wie die Liste ihrer Studienorte liest sich<br />

auch ihr beruflicher Werdegang. Mal ist sie<br />

Künstlerin, mal Wissenschaftlerin. Sie hat<br />

für Sportschuhfabrikanten gearbeitet und<br />

für die Nasa, sie hält Vorträge an den renommiertesten<br />

Universitäten der USA und<br />

veranstaltet Aktionen in Museen wie dem<br />

Moma in New York, dem SF Moma in San<br />

Francisco und dem Hamburger Bahnhof in<br />

Berlin. In ihrem Lebenslauf nennt sie sich<br />

einen professional In-Betweener.<br />

Auf den ersten Blick ist an der Altbauwohnung,<br />

in der sie lebt, nichts Besonderes<br />

zu entdecken. Wäre dort nicht dieses<br />

Eckzimmer, in dem ungefähr 2500 kleine<br />

Fläschchen mit Duftproben stehen. „Was<br />

Sie hier sehen, ist nur ein kleiner Teil meines<br />

Archivs. Der Rest befindet sich im<br />

Lager. Es hat mich sieben Jahre gekostet,<br />

es zusammenzutragen“, sagt Tolaas.<br />

6703 Düfte diverser Herkünfte: Damit<br />

hätte sie das Zeug, die Welt zu verändern.<br />

Oder zumindest die Menschen, mit ihren<br />

Angewohnheiten, Klischees und Vorurteilen.<br />

Denn was wir riechen, hält Tolaas<br />

zum großen Teil für willkürliche Konditionierung.<br />

Der Geruch von Schweiß, so<br />

wird einem von Klein auf eingetrichtert,<br />

ist schlecht, der von Rosen gut. Dass beide<br />

ihrer Meinung nach sehr nahe beieinander<br />

liegen – für diese Erkenntnis ist in unserer<br />

deodorierten, sterilisierten Gegenwart<br />

kein Platz.<br />

Früher hat sie Gerüche „analog“ aufgelesen:<br />

mit einem Schwamm. Doch seit sie<br />

den Vakuumsauger zur Verfügung hat, geht<br />

alles viel einfacher. Der Apparat saugt Luft<br />

an. In der Luft befinden sich Moleküle. Die<br />

Proben werden vakuumverpackt und nach<br />

New York geflogen, wo einer der Marktführer,<br />

die International Flavors and Fragrance<br />

Inc., ihre chemische Zusammensetzung<br />

analysiert. Diejenigen Moleküle, die<br />

in der Luftprobe am häufigsten vorkommen,<br />

sind auch jene, welche den Geruch<br />

an dem Ort, an dem die Probe genommen<br />

wurde, am stärksten prägen. Anhand dieser<br />

Auswertungen kann Tolaas dann damit<br />

beginnen, den spezifischen Duft künstlich<br />

zu replizieren.<br />

Wahrscheinlich gehen Parfümhersteller<br />

ähnlich vor, doch an dem Punkt wird die<br />

Norwegerin grundsätzlich. „Mit Parfüms<br />

hat meine Arbeit wenig zu tun“, sagt sie<br />

und wechselt, obwohl schon seit Anfang<br />

der neunziger Jahre in Berlin, vor Aufregung<br />

ins Englische. „Der Geruchssinn ist<br />

eine fundamentale Empfindung des Menschen.<br />

Er löst sofort Emotionen aus. Dabei<br />

dürfte es interessant sein zu erfahren,<br />

dass man neutral geboren wird. Die Fähigkeiten,<br />

Düfte zu unterscheiden, bilden<br />

sich erst nach und nach heraus.“ Ob sie<br />

als gefällig oder störend wahrgenommen<br />

werden, hängt vom Kulturkreis ab. Vor<br />

allem aber von der Situation, in der man<br />

das erste Mal mit ihnen konfrontiert wird.<br />

„Diesen Moment“, sagt Tolaas, „vergessen<br />

Sie Ihr Leben lang nicht.“ Eine Erkenntnis,<br />

die auch Marketing-Experten nutzen:<br />

Den penetranten Duft einiger Filialen des<br />

Kleidungsherstellers Abercrombie & Fitch<br />

riecht man bereits aus zehn Metern Entfernung,<br />

bevor man die Produkte sieht.<br />

Die Nase kann dem Menschen Gefahr<br />

signalisieren, Freude oder Trauer wecken,<br />

dem Gedächtnis helfen oder die<br />

Seele heilen. Sissel Tolaas weiß von Untersuchungen,<br />

bei denen man Schülern<br />

abstrakte, das heißt synthetische, bis dahin<br />

noch nicht gerochene Düfte unter die<br />

Nase hielt, während sie lernten. Bei erneuter<br />

Verabreichung konnten die Probanden<br />

das Gelernte deutlich besser referieren als<br />

jene ohne Duft-Stimulation. Umgekehrt<br />

kann man mit geduldigem Training aber<br />

auch erreichen, dass ein Mensch die einmal<br />

mit einem Geruch verbundene Situation<br />

wieder aus seinem Gedächtnis löscht.<br />

Diese Erkenntnis könnte sich für die Behandlung<br />

von Trauma-Patienten, die mit<br />

einem bestimmten Geruch ein schreckliches<br />

Erlebnis verbinden, noch als wertvoll<br />

herausstellen.<br />

Als vergangenen Dezember in Dresden<br />

Daniel Libeskinds Neubau für das Militärhistorische<br />

Museum eröffnet wurde, erhielt<br />

sie den Auftrag, das Odeur eines Schlachtfelds<br />

des Ersten Weltkriegs nachzustellen.<br />

Das Resultat überzeugte. Bald stellte die<br />

Museumsleitung geeignete Gefäße auf –<br />

zu viele Besucher mussten sich übergeben.<br />

Sissel Tolaas’ hat eine 15 Jahre alte<br />

Tochter – was sagt die zur Tätigkeit ihrer<br />

Mutter? „Sie findet es okay. Und sie hat<br />

eine außerordentlich liberale Nase.“<br />

U L R ICH CLEWING<br />

ist freier Autor und lebt in Berlin<br />

FOTOS: JULIA ZIMMERMANN FÜR CICERO, OHLENBOSTEL/VERVOORDT (AUTOR)<br />

90 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Brandmauern,<br />

Trottoire, Pissecken.<br />

Alle jene Gerüche hat<br />

Sissel Tolaas in ihrer<br />

Duft-Bibliothek<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 91


| S T I L<br />

DER BRENNT FÜR DIE SACHE<br />

Keine Schnapsidee: Wie aus dem Kunstbuch-Verleger Christoph Keller ein Meister an der Kupferdestille wurde<br />

V ON A LEXANDER M A R G U IER<br />

B<br />

IS NACH EIGELT INGEN findet sich<br />

das Navigationssystem prima zurecht.<br />

Sogar der wenige Kilometer<br />

entfernt liegende Ortsteil Münchhöf bereitet<br />

keine Probleme, obwohl die Straße<br />

dorthin manchmal an einen Feldweg erinnert.<br />

Dann aber hilft auch der Satellit<br />

nicht weiter, und wer nicht zufällig an dem<br />

weißen Hinweisschild zur Stählemühle vorbeifährt,<br />

kann sich einfach noch ein bisschen<br />

an der sanften Hügellandschaft des<br />

Hegaus erfreuen, die einen halben Tagesmarsch<br />

gen Osten an den Bodensee grenzt.<br />

Es ist einer dieser Orte, an denen die süddeutsche<br />

Provinz noch ganz bei sich ist,<br />

fast unberührt von den ästhetischen Zumutungen<br />

des schnellen Konsums: Landgasthöfe<br />

statt Burger King, Dorfläden statt<br />

Einkaufszentren. Und Streuobstwiesen, die<br />

ganz gemächlich dem Diktat flächenintensiver<br />

Landwirtschaft trotzen.<br />

In dieser Gegend, die man idyllisch<br />

nennen könnte, wenn der Begriff nicht<br />

so überstrapaziert wäre, fanden Christoph<br />

Keller und Christiane Schoeller vor<br />

neun Jahren ihre neue Heimat. Für sich<br />

selbst und ihre beiden kleinen Kinder, denen<br />

sie eine Jugend im Frankfurter Großstadtdschungel<br />

ersparen wollten. In der<br />

hessischen Bankenmetropole hatte Keller<br />

bis dahin einen Kunstverlag geführt, der<br />

von einem ambitionierten Wohnzimmerprojekt<br />

bald zur veritablen Branchengröße<br />

gewachsen war; noch heute trauern Liebhaber<br />

jenen Zeiten hinterher, als Keller mit<br />

„Revolver Books“ einige der anspruchsvollsten<br />

Bände für zeitgenössische Kunst publizierte.<br />

Alles lange her.<br />

Äpfel sind nicht gleich Äpfel: In<br />

der Stählemühle kommt es auf<br />

Herkunft, Sorte und Reifegrad an<br />

Dem Wegweiser zur Stählemühle folgend,<br />

geht es neben einem kleinen Bachlauf<br />

den Abhang hinunter auf ein Gehöft<br />

zu, dessen Mittelpunkt ein sorgsam renoviertes<br />

Bauwerk bildet. In ihm drehte sich<br />

einst der Mühlstein, mittlerweile dient es<br />

nur noch als Wohnhaus. Von der einen<br />

Steinwurf entfernten Schafsweide kommt<br />

ein Mann dahergelaufen, der ganz und<br />

gar dem Idealbild des Hinterwäldlers entspricht:<br />

grüne Cord-Latzhose, Fellweste<br />

und Filzmütze, das Gesicht rot gefärbt –<br />

zumindest jene Stellen, die nicht vom verwegenen<br />

Vollbart überwuchert sind. Diese<br />

rustikale Gesamterscheinung ist keineswegs<br />

ein angeheuerter Landarbeiter, es<br />

handelt sich um den Hausherrn persönlich.<br />

Christoph Keller hat sich auch äußerlich<br />

ganz und gar auf seine pastorale Umgebung<br />

eingelassen; wer ihm begegnet, käme wohl<br />

als Letztes auf die Idee, dass es sich um einen<br />

zugezogenen ehemaligen Kunstverleger<br />

handelt. Diese erstaunliche Mimikry<br />

hat allerdings auch mit dem Perfektionismus<br />

des 44-Jährigen zu tun: Wenn Keller<br />

etwas macht, dann macht er es richtig. So,<br />

wie die Sache mit dem Schnaps.<br />

Deswegen ist es auch kein Zufall, dass<br />

der Bibliomane heute zur Weltelite der<br />

Schnapsbrenner zählt. Er hatte es nur nicht<br />

geplant. Als ein paar Tage nach dem Einzug<br />

der Familie eine Abordnung der örtlichen<br />

Zollbehörde in der Stählemühle auftauchte<br />

und wissen wollte, wie die neuen<br />

Hausherren mit dem Brennrecht verfahren<br />

würden, dachte Keller, die Rede sei von einer<br />

Art Lizenz zum Verbrennen von Holz<br />

unter freiem Himmel. Tatsächlich aber<br />

handelte es sich um die in Süddeutschland<br />

gepflegte Tradition, nach der Obstbauern<br />

immer noch einen Teil ihrer Ernte in Alkohol<br />

verwandeln dürfen, wenn ihnen einst<br />

die Erlaubnis dafür erteilt wurde – und sei<br />

es noch so lange her. Dieses „Brennrecht“<br />

bezieht sich allerdings nicht auf bestimmte<br />

Personen, sondern auf den jeweiligen Betrieb.<br />

Und erlischt, falls es dort nicht mehr<br />

ausgeübt wird. Also stand Christoph Keller<br />

vor der Wahl, Schnaps zu produzieren,<br />

obwohl er nicht die geringste Ahnung davon<br />

hatte. Oder für immer auf diese Möglichkeit<br />

zu verzichten. Er entschied sich für<br />

Ersteres.<br />

DIE VORBESITZER, sagt Keller, hätten wohl<br />

vor allem Korn gebrannt. Was durchaus<br />

naheliegt, weil in der Stählemühle jahrhundertelang<br />

Getreide gemahlen wurde<br />

und der Grundstoff somit im Wortsinn<br />

vor der Haustür lag. Dass es sich dabei<br />

um edle Spirituosen gehandelt hat, kann<br />

man ausschließen; wahrscheinlich entstand<br />

hier früher einfach nur scharfes Feuerwasser,<br />

mit dem sich die Bauern in der<br />

Umgebung den Rachen putzen konnten.<br />

Zwar hatte Christoph Keller bis zu seiner<br />

Zwangsverpflichtung an die Destille nicht<br />

einmal als Konsument größere Erfahrung<br />

in Sachen Schnaps gesammelt. Aber eines<br />

wusste der gebürtige Schwabe von Anfang<br />

an: Er würde sich nur mit dem Besten<br />

zufriedengeben.<br />

„In meinem früheren Verlegerberuf<br />

habe ich gelernt, strukturiert zu denken“,<br />

erzählt Keller, „und das kam mir sehr zugute.“<br />

Mit stapelweise Fachliteratur arbeitete<br />

er sich in das Thema ein, experimentierte<br />

herum – und hatte im Jahr 2006<br />

endlich seinen ersten Schnaps aus Kirschen<br />

und Mirabellen in Flaschen gefüllt. Jeweils<br />

eine davon reichte der Autodidakt bei der<br />

„Destillata“ ein, einer Art Olympiade von<br />

Brennern aus aller Welt, die jedes Jahr in<br />

Österreich ausgetragen wird. Und siehe da:<br />

FOTO: BERND KAMMERER<br />

92 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Nach eigenen Plänen<br />

gebaut: Christoph Keller<br />

an seiner Brennanlage<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 93


I M P R E S S U M<br />

VERLEGER Michael Ringier<br />

CHEFREDAKTEUR Christoph Schwennicke<br />

STELLVERTRETER DES CHEFREDAKTEURS<br />

Alexander Marguier<br />

REDAKTION<br />

TEXTCHEF Georg Löwisch<br />

RESSORTLEITER Lena Bergmann (Stil), Judith Hart<br />

(Weltbühne), Dr. Alexander Kissler (Salon), Til Knipper (Kapital)<br />

Constantin Magnis (Reportagen), Christoph Seils (<strong>Cicero</strong> Online)<br />

POLITISCHER CHEFKORRESPONDENT Hartmut Palmer<br />

ASSISTENZ DER CHEFREDAKTION Ulrike Gutewort<br />

REDAKTIONSASSISTENZ Monika de Roche<br />

PUBLIZISTISCHER BEIRAT Heiko Gebhardt,<br />

Klaus Harpprecht, Frank A. Meyer, Jacques Pilet,<br />

Prof. Dr. Christoph Stölzl<br />

ART DIRECTOR Kerstin Schröer<br />

BILDREDAKTION Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />

PRODUKTION Utz Zimmermann<br />

VERLAG<br />

GESCHÄFTSFÜHRUNG<br />

Rudolf Spindler<br />

VERTRIEB UND UNTERNEHMENSENTWICKLUNG<br />

Thorsten Thierhoff<br />

REDAKTIONSMARKETING Janne Schumacher<br />

ABOMARKETING Mark Siegmann<br />

NATIONALVERTRIEB/LESERSERVICE<br />

DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH<br />

Düsternstraße 1–3, 20355 Hamburg<br />

ANZEIGEN-DISPOSITION Erwin Böck<br />

HERSTELLUNG Lutz Fricke<br />

GRAFIK Franziska Daxer, Dominik Herrmann<br />

DRUCK/LITHO NEEF+STUMME, premium printing GmbH<br />

& Co.KG, Schillerstraße 2, 29378 Wittingen Holger<br />

Mahnke, Tel.: +49 (0)5831 23-161<br />

cicero@neef-stumme.de<br />

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V.i.S.d.P.: Christoph Schwennicke<br />

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Falls Sie <strong>Cicero</strong> bei Ihrem Pressehändler<br />

nicht erhalten sollten, bitten Sie ihn, <strong>Cicero</strong> bei<br />

seinem Großhändler nachzubestellen. <strong>Cicero</strong> ist<br />

dann in der Regel am Folgetag erhältlich.<br />

Beide Schnäpse gewannen auf Anhieb die<br />

Silbermedaille. Damit war Christoph Kellers<br />

Ehrgeiz erst recht angefacht.<br />

Als Quereinsteiger, sagt er, hinterfrage<br />

man jeden einzelnen Schritt im Produktionsprozess.<br />

Wo andere nach alter Väter<br />

Sitte ihre Wässerchen brennen, existierten<br />

für Keller keine Selbstverständlichkeiten.<br />

Und mit unverstelltem Blick machte<br />

er sich ans Werk – ungefähr wie ein Naturwissenschaftler,<br />

der ohne Vorkenntnis<br />

und ohne Rezept einen Kuchen backen<br />

soll. Kein Wunder also, dass ihm die<br />

alte Destille schon bald nicht mehr genügte.<br />

Vor drei Jahren wurde in der Stählemühle<br />

eine neue Brennanlage angeliefert;<br />

konstruiert von der renommierten Kupferschmiede<br />

Arnold Holstein am Bodensee<br />

nach Plänen von – wie sollte es anders<br />

sein – Christoph Keller. Dabei sei das<br />

Werkzeug eigentlich gar nicht so wichtig:<br />

„95 Prozent der Qualität liegen im Obst.“<br />

Womit wir bei einem Thema wären, über<br />

das Keller wahrscheinlich stundenlang mit<br />

der Leidenschaft eines Konvertiten erzählen<br />

könnte.<br />

Man soll Äpfel bekanntlich nicht mit<br />

Birnen vergleichen (warum eigentlich<br />

nicht?), aber man sollte auch nicht alle Äpfel<br />

in die gleiche Tonne schmeißen. In der<br />

Stählemühle zählt nämlich der feine Unterschied<br />

– etwa zwischen „Rheinischem<br />

Bohnapfel vom Schuhmacherhof“, „Bavendorfer<br />

Hauxapfel“ oder „Hegauer Gewürzluiken“,<br />

der jeder für sich über sein<br />

eigenes typisches Aroma verfügt. Und die<br />

deswegen auch eigenständige Brände ergeben.<br />

So kommt es, dass Kellers Sortiment<br />

rund 180 verschiedene Positionen umfasst;<br />

allein in der Kategorie „Mostbirnen/Streuobstbirnen“<br />

gibt es in der aktuellen Edition<br />

elf verschiedene Schnäpse, angefangen<br />

bei der „Großen Linzgauer Rommelter aus<br />

Unteruhldingen“ für 65 Euro je halber Liter<br />

bis hin zur „Wahl’schen Schnapsbirne<br />

im Kastanienfass“ zum nicht ganz alltäglichen<br />

Preis von 145 Euro für die Halbliterflasche.<br />

Diese (ähnlich wie bei Spitzenweinen)<br />

konsequente Differenzierung<br />

nach Sorte, Lage und Jahrgang wird natürlich<br />

nur dann dem Charakter der Frucht<br />

gerecht, wenn diese im optimalen Reifegrad<br />

verarbeitet wird: „Baumfallend“ lautet<br />

der Fachbegriff, will sagen: schön reif,<br />

aber noch am Ast hängend. „Kein Zucker,<br />

keine fragwürdigen Aromastoffe – nur die<br />

reine Frucht darf ins Glas!“, lautet eine<br />

94 <strong>Cicero</strong> 4.2013


FOTO: ANDREJ DALLMANN<br />

der vielen Qualitätsmaximen von Christoph<br />

Keller. Quitten werden bei ihm vor<br />

der Weiterverarbeitung sogar einzeln von<br />

Hand gereinigt, Birnen manuell entstielt,<br />

„um den Früchten ihre Essenz, das innerste<br />

geschmackliche Wesen zu entlocken“.<br />

Eigenen Obstanbau betreibt Keller<br />

nicht; er und seine Frau Christiane Schoeller<br />

sind auch so schon mindestens zwölf<br />

Stunden am Tag mit Arbeit ausgelastet.<br />

Umso wichtiger war es, Streuobstwiesenbesitzer<br />

zu finden, die den Qualitätsansprüchen<br />

der Stählemühle genügen; anfangs<br />

wurden sie per Zeitungsanzeige<br />

gesucht. Inzwischen kann Keller sich auf<br />

ein solides Netzwerk an Lieferanten verlassen<br />

– die meisten in der Region, einige<br />

(etwa für lothringische Mirabellen)<br />

sogar im Ausland. Am liebsten sind ihm<br />

aber wild wachsende Früchte, Hegauer<br />

Waldhimbeeren zum Beispiel, oder wilde<br />

Brombeeren aus dem Böhmerwald. Und<br />

natürlich Wildpflaumen, „mein Steckenpferd“.<br />

Im Sommer kann man Christoph<br />

Keller auf einem Motorroller durch die<br />

Landschaft fahren sehen, auf der Suche<br />

nach aussichtsreichen Sträuchern, Büschen<br />

und Bäumen. Die notiert er dann<br />

auf einer Landkarte und schickt Atilla,<br />

den rumänischen Erntehelfer, wieder hin,<br />

wenn die Zeit reif ist.<br />

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<strong>Cicero</strong> finden Sie auch in<br />

diesen exklusiven Hotels<br />

Hotel Schloss Neuhardenberg<br />

Schinkelplatz · 15320 Neuhardenberg · Tel: +49 (0)33476 600-0<br />

www.schlossneuhardenberg.de · hotel@schlossneuhardenberg.de<br />

»Unsere Wellness heißt Kultur. Auf Schloss Neuhardenberg<br />

trifft zurückhaltend-elegante Hotelkultur auf außergewöhnliche<br />

Denkzwischenfälle und herausragende Künstlerpersönlichkeiten.<br />

Gäste erleben in Schloss und Park genau<br />

das, was <strong>Cicero</strong> auszeichnet: Zuhören, Nachdenken und<br />

die Gelassenheit des Verstehenkönnens.«<br />

BERND KAUFFMANN, GENERALBEVOLLMÄCHTIGTER<br />

EIN MÜHSAMES GESCHÄFT, bei dem je nach<br />

Sorte mitunter nur ein paar wenige Flaschen<br />

gebrannt werden können. „Hundert<br />

Kilo Holunder ergeben am Ende<br />

zwei Liter Alkohol, und dafür muss man<br />

eine Woche lang arbeiten.“ Wollte er<br />

seine Schnäpse in größerem Stil herstellen,<br />

ginge das womöglich auf Kosten der<br />

Qualität – für Keller indiskutabel. Als Perfektionist<br />

tut er sich ohnehin schwer damit,<br />

Arbeit zu delegieren (das ging ihm<br />

schon als Verleger so). Aber noch hat er<br />

Spaß daran. Und wenn eines Tages Routine<br />

einkehren sollte und die tägliche Herausforderung<br />

fehlt? Dann, sagt Christoph<br />

Keller, würde er wahrscheinlich noch einmal<br />

etwas ganz Neues beginnen. Was auch<br />

immer das sein könnte – eine halbe Sache<br />

ganz bestimmt nicht.<br />

Diese ausgewählten Hotels bieten <strong>Cicero</strong> als besonderen Service:<br />

Bad Doberan-Heiligendamm: Grand Hotel Heiligendamm · Bad Pyrmont: Steigenberger Hotel · Baden-Baden:<br />

Brenners Park-Hotel & Spa · Baiersbronn: Hotel Traube Tonbach · Bergisch Gladbach: Grandhotel Schloss<br />

Bensberg, Schlosshotel Lerbach · Berlin: Hôtel Concorde Berlin, Brandenburger Hof, Grand Hotel Esplanade,<br />

InterContinental Berlin, Kempinski Hotel Bristol, Hotel Maritim, The Mandala Hotel, Savoy Berlin, The Regent<br />

Berlin, The Ritz-Carlton Hotel · Binz/Rügen: Cerês Hotel · Dresden: Hotel Taschenbergpalais Kempinski · Celle:<br />

Fürstenhof Celle · Düsseldorf: InterContinental Düsseldorf, Hotel Nikko · Eisenach: Hotel auf der Wartburg<br />

Essen: Schlosshotel Hugenpoet · Ettlingen: Hotel-Restaurant Erbprinz · Frankfurt a. M.: Steigenberger Frankfurter<br />

Hof, Kempinski Hotel Gravenbruch · Hamburg: Crowne Plaza Hamburg, Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten,<br />

Hotel Atlantic Kempinski, InterContinental Hamburg, Madison Hotel Hamburg, Panorama Harburg, Renaissance<br />

Hamburg Hotel, Strandhotel Blankenese · Hannover: Crowne Plaza Hannover · Hinterzarten: Parkhotel<br />

Adler · Jena: Steigenberger Esplanade · Keitum/Sylt: Hotel Benen-Diken-Hof · Köln: Excelsior Hotel Ernst<br />

Königswinter: Steigenberger Grand Hotel Petersberg · Konstanz: Steigenberger Inselhotel · Magdeburg: Herrenkrug<br />

Parkhotel, Hotel Ratswaage · Mainz: Atrium Hotel Mainz, Hyatt Regency Mainz · München: King’s Hotel<br />

First Class, Le Méridien, Hotel München Palace · Neuhardenberg: Hotel Schloss Neuhardenberg · Nürnberg:<br />

Le Méridien · Potsdam: Hotel am Jägertor · Rottach-Egern: Park-Hotel Egerner Höfe, Hotel Bachmair am See,<br />

Seehotel Überfahrt · Stuttgart: Hotel am Schlossgarten, Le Méridien · Wiesbaden: Nassauer Hof · ITALIEN Tirol<br />

bei Meran: Hotel Castel · ÖSTERREICH Lienz: Grandhotel Lienz · Wien: Das Triest · PORTUGAL Albufeira:<br />

Vila Joya · SCHWEIZ Interlaken: Victoria Jungfrau Grand Hotel & Spa · Lugano: Splendide Royale · Luzern:<br />

Palace Luzern · St. Moritz: Kulm Hotel, Suvretta House · Weggis: Post Hotel Weggis<br />

A LEXANDER M A R G U IER<br />

ist stellvertretender<br />

Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

Möchten auch Sie zu diesem<br />

exklusiven Kreis gehören?<br />

Bitte sprechen Sie uns an:<br />

E-Mail: hotelservice@cicero.de


Wer das neue NEON-Heft kauft,<br />

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K L E I D E R O R D N U N G | S T I L |<br />

Warum ich trage, was ich trage<br />

BIBIANA BEGLAU<br />

FOTO: STEPHANIE FÜSSENICH FÜR CICERO<br />

E<br />

IN ERNST ZU NEHMENDES Kleidungsstück.<br />

Das nicht aus der Zeit fällt.<br />

Tragbar zu jedem formellen Anlass,<br />

auch wenn ich die Stadt wechsle – das<br />

wollte ich immer. Der nachtblaue Hosenanzug<br />

von Kostas Murkudis hat viel erlebt.<br />

Zur Eröffnungsfeier der Berlinale<br />

habe ich ihn auch schon getragen. Mir gefällt,<br />

dass man sich damit nicht einreiht,<br />

in die vermeintlichen Vorgaben von roten<br />

Teppichen. Das hat damit zu tun, dass er<br />

zunächst wie ein Kleid aussieht. Bis man<br />

einen Schritt macht. Er hat etwas Organisches.<br />

Anders sexy als Dekolleté, nacktes<br />

Bein oder der tiefe Rückenausschnitt. Bewegen<br />

kann man sich darin gut. Man kann<br />

aber auch einfach darin stehen, dann hat<br />

der Anzug etwas Statuenhaftes.<br />

Drei Jahre, nachdem ich den Anzug gekauft<br />

habe, habe ich Kostas Murkudis zufällig<br />

getroffen, mich vorgestellt und für<br />

dieses tolle Kleidungsstück bedankt.<br />

Mode interessiert mich als Ausdruck<br />

von Kultur. Aber ich gehe nicht ständig<br />

einkaufen. Wenn eine Arbeit beendet ist,<br />

leiste ich mir mal ein Teil. In einer Vogue-<br />

Strecke hat man sich irgendwann mal ganz<br />

auf Weiß spezialisiert. Weiß erfordert einen<br />

ganz anderen Mut als Schwarz. Wenn mich<br />

etwas dazu anregt, so über Mode nachzudenken,<br />

dann erfreue ich mich daran.<br />

Auf der Bühne interessieren mich<br />

meine Kostüme extrem. Die Kostüme für<br />

meine Rolle der Petra von Kant habe ich<br />

mit entworfen. Borderline mit einer Hässlichkeit<br />

gedacht – das schießt in eine avantgardistische<br />

Richtung. Bauchweg-Gürtel,<br />

die eigentlich nicht sexy sind, übereinander<br />

gezogen. Ich vertrete in den Kostümen<br />

ja das gesprochene Wort, und wenn ich<br />

spüre, dass der Körper zusammengeschnürt<br />

ist, verändert das auch die Sprachkraft.<br />

Sexuelle Reize durch Mode? Enge Röcke,<br />

hoch geschnitten, mit offenen Blusen<br />

und Brillen? Da drehe ich durch. Dazu<br />

Mega-High-Heel-Waffen-Stilettos – und<br />

bitte meine Herren! Ich kann nicht sagen,<br />

dass mich diese Wirkung von Mode<br />

nicht fasziniert. Billige Reize, selbst wenn<br />

die schlecht gemacht sind, finde ich irre.<br />

Aufgezeichnet von Lena Bergmann<br />

BIBIANA BEGLAU<br />

Die Schauspielerin probt derzeit unter<br />

anderem am Münchner Residenztheater<br />

„Zement“ von Heiner Müller (Premiere<br />

am 5. Mai). Sie spielte die Hauptrolle<br />

in „Zappelphilipp“. Der Spielfilm<br />

ist für den Grimme-Preis nominiert<br />

(Verleihung am 12. April)<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 97


| S T I L | I N T E R I E U R<br />

Prunk und Patina<br />

98 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Die Welt vom Sofa aus<br />

betrachtet: Die Existenz<br />

der Familie Crawley,<br />

hier in einem der<br />

Drawing Rooms, ist nur<br />

scheinbar komfortabel<br />

Das Country House ist den Briten ein Nationalheiligtum.<br />

Seine Faszination wirkt in Mode, Literatur und Fernsehen<br />

V ON L ENA B E R GMANN<br />

FOTO: © 2010 UNIVERSAL STUDIOS (SZENENBILD AUS DER 1. STAFFEL DER SERIE DOWNTON ABBEY)<br />

IMMER WENN Her Ladyship, die Countess<br />

of Grantham, wieder einmal seufzend<br />

in eines ihrer Sofas sinkt, ist das<br />

Familienimage in Gefahr. Und alles,<br />

was das Ansehen des Crawley-<br />

Clans beschädigen könnte, setzt zwangsläufig<br />

auch das Hauptquartier der Familie<br />

aufs Spiel, den schlossartigen Landsitz, die<br />

Downton Abbey. Das Gebäude ist eine kulturelle<br />

Oase im Norden Yorkshires, inklusive<br />

Bibliothek, Musikzimmer und Ahnengalerie.<br />

In diesen Mauern manifestiert sich<br />

alles, was die Countess Cora Crawley und<br />

ihre Familie ausmacht: Bildung, Wohlstand,<br />

Einfluss und ein halbwegs ehrwürdiger<br />

Stammbaum. Der Wohnsitz verkörpert<br />

die verfeinerte Lebensart während der<br />

tumultuösen frühen Jahre des 20. Jahrhunderts.<br />

Dieses Universum für folgende Generationen<br />

zu sichern und dabei auch noch<br />

die Etikette zu wahren, sieht Her Ladyship,<br />

die Heldin der britischen Fernsehserie<br />

„Dowton Abbey“, als ihre Lebensaufgabe.<br />

Die Serie des Drehbuchautors Julian<br />

Fellowes ist mehrfach ausgezeichnet worden<br />

und wurde in über 100 Länder verkauft.<br />

In Deutschland lief die erste Staffel<br />

um Weihnachten im ZDF, die zweite<br />

gibt es auf Deutsch schon auf DVD. Der<br />

Erfolg rührt von den pikanten, britischtrockenen<br />

Dialogen her und von den sich<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 99


| S T I L | I N T E R I E U R<br />

Englands Landsitze wurden<br />

auch Power Houses genannt.<br />

Hier pflegte der Hausherr sein<br />

gesellschaftliches Standing<br />

Highclere Castle, südwestlich von London, wurde zwischen 1839 und 1842 vom<br />

Westminster-Abbey-Architekten Charles Barry im neugotischen Stil umgebaut. Gerade<br />

wurde hier die von Fans sehnsüchtig erwartete vierte Staffel von „Downton Abbey“ gedreht<br />

Die Möblierung des Salons stammt von 1862. Das Haus befindet sich noch in Privatbesitz.<br />

Ab Ostern können die Räume wieder besichtigt werden (www.highclerecastle.com)<br />

episodenübergreifend komplex entwickelnden<br />

Charakteren. Doch der wichtigste<br />

Faktor ist die Faszination, die vom<br />

Schauplatz der Serie ausgeht. Das britische<br />

Country House wird auch außerhalb Englands<br />

als romantisches Ideal wahrgenommen.<br />

Zu seiner Gattung zählen größenunabhängig<br />

alle Manors, Halls und Castles.<br />

Es sind Sehnsuchtsorte, weil dort die Rituale<br />

über Jahrhunderte bestehen und der<br />

Möblierung immer wieder Elemente hinzugefügt<br />

werden, ohne die ehrwürdige<br />

Grundstruktur zu zerstören.<br />

Der dramaturgische Reiz von „Downton<br />

Abbey“ besteht darin, dass diese<br />

große Kontinuität immer wieder verteidigt<br />

werden muss. Stets im tadellosen Outfit,<br />

bemühen sich Cora Crawley und ihre<br />

Familie, die Traditionen ihrer Klasse aufrechtzuerhalten.<br />

So gilt es, da kein Sohn<br />

vorhanden ist, einen männlichen Erben<br />

zu rekrutieren. Doch der erste Kandidat<br />

verschwindet bereits zum Auftakt<br />

mit der Titanic, während der nächste von<br />

der stolzen Erstgeborenen vergrault wird.<br />

Später muss verhindert werden, dass die<br />

jüngste Tochter mit dem Chauffeur durchbrennt<br />

– nach Feierabend ist der ein irischer<br />

Unabhängigkeitskämpfer.<br />

IMMER WIEDER STEHT sich die Familie selbst<br />

im Weg: Die Großmutter beispielsweise<br />

boykottiert jegliche Modernisierungsmaßnahmen.<br />

Elektrisches Licht? Telefon?<br />

Nur für Neureiche. Die Cousine erzwingt,<br />

dass die prachtvollen Gesellschaftsräume<br />

während des Ersten Weltkriegs zum Sanatorium<br />

für Verwundete umfunktioniert<br />

werden. Leider stören die Ping-Pong spielenden<br />

Soldaten in der Bibliothek erheblich<br />

bei der Lektüre. Noch dazu verteilt die<br />

mittlere Tochter den Bücherfundus an die<br />

Bettlägerigen. Der Hausherr selbst muss<br />

erkennen, dass er, wenn er mal ehrlich ist,<br />

von Agrarpolitik keine Ahnung und sein<br />

Land über Jahre hinweg schlecht bewirtschaftet<br />

hat. Das Vermögen der amerikanischen<br />

Ehefrau hat er auf eine einzige Aktie<br />

gesetzt – es war die falsche. Und die Dienerschaft!<br />

Zwischen Breakfast, Fuchsjagd<br />

und High Tea wirkt sie auf die Herrschaften<br />

ebenso intrigant wie moralisierend. Es<br />

ist demnach nicht nur optisch ein Genuss,<br />

die Crawleys vom bescheideneren heimischen<br />

Sofa aus (am besten im Jogginganzug!)<br />

bei ihrem Kampf um das Wahren der<br />

Form zu beobachten.<br />

FOTOS: HIGHCLERE ENTERPRISES LLP 2013 (2)<br />

100 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Genug Platz für Kunst und Antiquitäten: Die Long Gallery von Knole am Stadtrand von Sevenoaks in Kent (www.nationaltrust.com)<br />

FOTO: ANDREAS VON EINSIEDEL/NATIONAL TRUST IMAGES<br />

Das Ideal des Country House wird<br />

immer wieder in Literatur, Mode und Inneneinrichtung<br />

aufgenommen. Das Imperium<br />

von Ralph Lauren beispielsweise<br />

(Polo!) wäre ohne das Country House gar<br />

nicht denkbar. Was wäre die britische Literatur<br />

ohne diesen Kultort? Dazu passt,<br />

was der Schriftsteller Evelyn Waugh über<br />

den edwardianischen Glamour von Highclere<br />

Castle gesagt hat, den Drehort der Serie,<br />

in dem alle Räume bis auf den Dienstbotentrakt<br />

so erhalten sind, wie auf dem<br />

Bildschirm zu sehen: Ein besonders stilsicher<br />

inszeniertes Fest nannte Waugh „very<br />

Highclere“.<br />

Doch die zivilisierte Zerstreuung war<br />

nur eine Facette des aristokratischen Landlebens<br />

– nicht umsonst nannte man die<br />

Landsitze auch Power Houses, Symbole der<br />

Macht. An den Besitz von Land waren Einfluss<br />

und politische Ämter gebunden, viele<br />

Hausherren waren Mitglieder des Parlaments.<br />

Auch auf lokaler Ebene funktionierten<br />

die Landsitze oft wie kompakte Königreiche.<br />

Dabei waren die Eigentümer nicht<br />

etwa Farmer, Gott bewahre. Ihr Besitz verlieh<br />

ihnen vielmehr das Recht, die männlichen<br />

Bewohner und Pächter ihrer Ländereien<br />

in ihrem Namen zum Krieg oder<br />

später zur Wahl zu verpflichten, während<br />

die Pacht den Unterhalt des Landsitzes sicherte<br />

– und diverse Feste, Jagden und Einladungen<br />

finanzierte, mit denen der Hausherr<br />

sein politisches und gesellschaftliches<br />

Standing pflegte.<br />

Wie viele Anwesen seiner Kategorie befindet<br />

sich auch das in Hampshire – nicht<br />

wie in der Serie in Yorkshire – gelegene<br />

Highclere Castle in Familienbesitz, und<br />

zwar in der achten Generation. Das Landhaus<br />

als Drehort zu vermieten, ist keine<br />

besonders traditionelle, aber doch eine effektive<br />

Art, das Haus wohlbehalten in die<br />

neunte Generation weiterzureichen. Highclere<br />

ist auch Museum, die Besucherzahlen<br />

steigen. Darüber hinaus hat die Hausherrin<br />

Lady Fiona Carnarvon gerade ein Buch<br />

über das rauschende Gesellschaftsleben ihrer<br />

Vorfahrin Lady Alminia veröffentlicht,<br />

inklusive Grundrissen und Familienrezepten.<br />

Für die Rettung der architektonischen<br />

Schätze setzen sich allerdings auch Institutionen<br />

ein, allen voran der National Trust,<br />

der zahlreiche Country Houses verwaltet<br />

und der Öffentlichkeit zugänglich macht.<br />

Finanziert wird deren Erhaltung durch<br />

Spenden und Eintrittsgelder.<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 101


| S T I L | I N T E R I E U R<br />

Nur herein! Der National<br />

Trust hat die Türen von über<br />

300 Landsitzen geöffnet<br />

Kedleston Hall gehört heute zu den beeindruckendsten Gebäuden des National<br />

Trust. Architekt Robert Adams gilt als Vater des britischen Neo-Klassizismus<br />

Die imposanteren Landsitze sind meist<br />

vom Einfluss der „Grand Tour“ geprägt, einer<br />

Studienreise des heranreifenden Gentleman<br />

auf den Kontinent. Dort verlustierte<br />

sich dieser und eignete sich einen kulturellen<br />

Schliff an, beispielsweise indem er römische<br />

und griechische Baudenkmäler besichtigte.<br />

Viele der jungen Herren kamen<br />

mit Kunst und Antiquitäten beladen zurück<br />

in die Heimat, sodass einige Landsitze<br />

mit faszinierenden Sammlungen aufwarten<br />

können. Im 18. Jahrhundert begeisterten<br />

sich nicht wenige von ihnen als Amateur-Architekten<br />

so sehr für die Baukunst,<br />

dass sie ihre Landhäuser selbst entwarfen<br />

oder sich zumindest stark in die Planung<br />

involvierten.<br />

IN DEN INTERIEURS fasziniert der englische<br />

Eklektizismus: vom elegant-verspielten Dekor<br />

des 18. Jahrhunderts mit femininen<br />

Rokoko-Details und fernöstlichen Tapeten<br />

bis zum exotisch geprägten Look der<br />

viktorianischen Zeit, als Japonismus und<br />

Indien-Importe, stark gemusterte Teppiche<br />

und elaborierte Vorhänge die Zimmer<br />

schmückten, bevor die Arts-and-Crafts-Bewegung<br />

wieder heimische Handwerkstechniken<br />

und eine schlichtere Formensprache<br />

zelebrierte. Aufgrund der vielen Umbauarbeiten,<br />

die neuen Moden oder technischen<br />

Errungenschaften geschuldet waren, ist es<br />

heute kaum möglich, die Häuser einer stilistischen<br />

Phase zuzuordnen.<br />

Genau dieser Stilmix aus über Generationen<br />

angesammelten Möbeln, Kunstwerken<br />

und Büchern ergibt den in der Innenausstattung<br />

vielkopierten British Country<br />

Style. Auch das scheinbare Paradox zwischen<br />

aristokratischer Opulenz und selbstbewusstem<br />

Understatement hat viel mit Patina<br />

zu tun, mit der Gemütlichkeit in die<br />

Jahre gekommener Polstermöbel und exzentrischen<br />

Kombinationen von Mustern<br />

und Farben in altehrwürdigen Räumen.<br />

Die Formel klingt einfach, aber eine gekonnte<br />

Umsetzung ist schwierig. Wenn wir<br />

ehrlich sind: Ein solches Interieur sollte<br />

man besser erben.<br />

FOTOS: DENNIS GILBERT/NATIONAL TRUST IMAGES, ANDREAS VON EINSIEDEL/NATIONAL TRUST IMAGES, PRIVAT (AUTORIN)<br />

In der Bibliothek von The Vyne in Hampshire ist das Holz von Bücherregalen,<br />

Deckenverkleidung und Bilderrahmen aufeinander abgestimmt (www.nationaltrust.com)<br />

LENA BER GMANN<br />

ist bei <strong>Cicero</strong> zuständig für das<br />

Ressort Stil<br />

102 <strong>Cicero</strong> 4.2013


I N T E R I E U R | S T I L |<br />

Die Neo-Traditionalisten<br />

Ein Londoner Paar schöpft aus Englands Stilgeschichte<br />

Flights of FancyTable Lamp<br />

Hackney Empire Buttoned Back Sofa<br />

FOTOS: HOUSE OF HACKNEY<br />

J<br />

AVVY M. ROYLE UND SEINER PARTNERIN Frieda Gormley ist es ernst mit<br />

der Opulenz, wie ihr Showroom zeigt – ihr eigenes kleines Wohnhaus<br />

im inzwischen sehr angesagten Londoner Stadtteil Hackney.<br />

Nach diesem ist ihre Firma „House of Hackney“ auch benannt. Sie gehören zu<br />

einer Gruppe junger Designer, die für die Zukunft Englands stehen und dabei<br />

aus der Mottenkiste schöpfen. Als Inspiration dienen alte englische Landsitze,<br />

sie arbeiten mit kleinen handwerklichen Unternehmen, die über das ganze<br />

Land verteilt sind. Jedem Raum in ihrem Häuschen ist ein Muster gewidmet,<br />

das sich über Wände, Fenster und Möbel ausbreitet. „Flights of Fancy“ etwa<br />

sieht aus der Entfernung aus wie ein florales Motiv, bei näherer Betrachtung<br />

entlarvt es sich als ein Fest für exotische Tiere, die auf Schlingpflanzen sitzen<br />

und trinken, rauchen, musizieren – was man eben so machte im alten England.<br />

Die Formen sind eindeutig traditionell, die Farben und Muster heutig.<br />

Die neue Opulenz in der Inneneinrichtung hat auch mit der Krise von 2008<br />

zu tun: Wenn es auf den Märkten ungemütlich wird, tut zu Hause Rückbesinnung<br />

auf Bewährtes gut. Der Effekt, den auch Firmen nutzen: Uns hat es ewig<br />

gegeben, uns wird es auch noch ewig geben.<br />

Queen Bee Dressing Screen<br />

Dalston Rose High Tea Pot<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 103


| S T I L | K Ü C H E N K A B I N E T T<br />

„Lau“ ist das<br />

neue „heiß“<br />

Weniger Feuer, mehr Geschmack?<br />

Lauwarmes Essen gilt nicht mehr<br />

als Fauxpas<br />

VON JULIU S GRÜ TZKE U ND THOMAS P LATT<br />

N<br />

ICHT NUR POLITIKER verbrennen sich die Zunge – zumindest<br />

jedem Kind ist es schon einmal passiert, als es<br />

sich aus Ungeduld und Gier über eine verlockende Speise<br />

hergemacht hat, die gerade aus der Küche kam. Spätestens auf<br />

diese Weise haben wir alle gelernt, dass die Küche ein Gefahrenherd<br />

ist, von dem eine Faszination ausgeht. Die Verbindung von<br />

Feuer und Leidenschaft ist nicht nur ein poetischer Topos, sondern<br />

eine selbstverständliche Voraussetzung guten Speisens. Seit<br />

jeher assoziiert man die dampfenden Töpfe über dem domestizierten<br />

Feuer und die Gerüche, die von ihnen ausgehen, mit Geborgenheit<br />

und Genuss. Nicht zuletzt deshalb bildet die Küche in<br />

vielen Familien das Zentrum der Wohnung. Ein wenig von diesem<br />

heimatlichen Gefühl wollen auch manche Gourmetrestaurants<br />

wecken, wenn sie Küchenpartys veranstalten, bei denen die<br />

Gäste die Speisen am Ort ihrer Entstehung zu sich nehmen. Wer<br />

allerdings erwartet, dass es dort immer noch heiß hergeht, hat die<br />

Zeichen der jüngeren Zeit nicht erkannt. Kochend heiß wird in<br />

der Hochgastronomie kaum mehr etwas serviert. Was auch immer<br />

als Hauptgericht auf der Karte steht – eine Variation vom Lamm,<br />

eine Entenbrust oder eine Seezunge –, am Tisch erscheint es lauwarm.<br />

Dafür gibt es zunächst technische Gründe: Kleine Portionen<br />

kühlen naturgemäß rasch aus. Früher behalf man sich mit gewärmten<br />

Tellern und Cloches, metallenen Hauben, unter denen<br />

die Speisen an den Tisch gebracht und von einem Trupp Kellnern<br />

gleichzeitig fortgenommen wurden. Dieser Theatereffekt ist nach<br />

Personalkürzungen nicht mehr möglich. Weil bei den aus vielen<br />

Teilen bestehenden kulinarischen Kreationen einzelne Komponenten<br />

wie Estragoneis, Espuma von Parmesan oder Kalbskopfsülze<br />

keine Hitze vertragen, verbietet sich auch ein Vorwärmen<br />

des Porzellans. So ist die vormals oft gehörte Warnung des Kellners<br />

vor dem heißen Teller inzwischen eine Seltenheit.<br />

Auch bei Gerichten, die eigentlich nach Temperatur verlangen,<br />

ist die Hitze verloren gegangen. Die Brühe, die ja bereits im<br />

Namen quasi Blasen schlägt, kommt immer öfter lediglich zimmerwarm<br />

an den Platz, weil so der wertvolle Geschmack der Essenz<br />

besser gewürdigt werden kann.<br />

Selbst ein Instrument, das die Temperatur bewahren sollte, ist<br />

zum Werkzeug des Lauen geworden. Am sogenannten Pass – dem<br />

Ort der Übergabe der Teller von der Küche an das Servierpersonal<br />

– sind Wärmelampen installiert, um längere Aufenthaltszeiten<br />

zu überbrücken. Das nutzen die Köche, um ihre immer aufwendigeren<br />

Dekorationen anzubringen, und kalkulieren die Leistung<br />

der Infrarotstrahlung in die Garzeit ein. Damit schwindet die Bedeutung<br />

des Herdes als zentraler Ort der Zubereitung. Auch innerhalb<br />

der Küche verliert er immer mehr Aufgaben an Spezialgeräte<br />

wie Mixer mit Thermostat oder Wellenbäder, die vakuumiertes<br />

Fleisch im Sous-vide-Verfahren aufnehmen – all das natürlich bei<br />

Temperaturen weit unter dem Siedepunkt. Das Feuer spielt nurmehr<br />

auf Grillfesten eine Rolle.<br />

Man kann es als Abschied vom industriellen Zeitalter mit seinen<br />

Hochöfen und Stahlschmelzen deuten: Die Küche hört auf,<br />

eine Schmiede zu sein, und ähnelt heute eher den staubfreien Reinräumen<br />

der Chipfertigung. Viele mögen das Verschwinden des<br />

Handwerklichen und Bodenständigen bedauern und dem schweren<br />

Kochgeschirr hinterhertrauern, doch der sanftere Umgang mit<br />

den Lebensmitteln öffnet ein vollkommen neues Ausdrucksspektrum,<br />

ganz abgesehen davon, dass die Möglichkeiten des Misslingens<br />

im Niedertemperaturverfahren verringert werden. Natürlich<br />

gehen dabei Schlüsselreize verloren. Röstaromen zum Beispiel sind<br />

eigentlich ohne Feuer nicht zu haben. Aber dafür gibt es Techniken<br />

– der Geschmack von Rauch und Asche, der momentan en<br />

vogue ist, wird häufig nachträglich beigefügt. Und auch die heimelige<br />

Hitze, die so viele Kindheitserinnerungen weckt, lässt sich<br />

chemisch substituieren – mit der Schärfe von Chili kann man sich<br />

auch weiterhin den Mund verbrennen.<br />

JULIU S GRÜ TZKE und THOMAS P LATT<br />

sind Autoren und Gastronomiekritiker.<br />

Beide leben in Berlin<br />

ILLUSTRATION: THOMAS KUHLENBECK/JUTTA FRICKE ILLUSTRATORS; FOTO: ANTJE BERGHÄUSER<br />

104 <strong>Cicero</strong> 4.2013


SCHÄFCHEN ZÄHLEN<br />

FÜR MÄNNER:<br />

LINKE KEULE,<br />

RECHTE KEULE,<br />

HAXEN, KRONE,<br />

RIPPEN, SCHULTER ...<br />

KÖSTLICHE LAMMREZEPTE. AB SEITE 36.<br />

MÄNNER KOCHEN ANDERS


| S A L O N<br />

DER DRACHENTÖTER<br />

Sylvester Groth ist unter den Schauspielern der bekannteste Unbekannte. Nun spielt er in einem RAF-Film<br />

V ON INGO LANGNER<br />

S<br />

EIN GRÖSSTER WUNSCH blieb unerfüllt:<br />

Sylvester Groth würde gerne<br />

in einem Stummfilm mitspielen.<br />

Er liebt das Genre wie kein zweites. Hat<br />

er am Ende vergebens vorgesprochen für<br />

„The Artist“, das sensationell erfolgreiche<br />

Leinwandereignis des französischen Regisseurs<br />

Michel Hazanavicius vom Aufstieg<br />

und Fall zweier Hollywoodstars um 1930?<br />

Groth kennt die zwischen Zweifel und<br />

Übermut changierende Atmosphäre eines<br />

Castings genau. Er war Theodor Storms<br />

„Schimmelreiter“, ist Dauergast im „Tatort“,<br />

lag für Joseph Vilsmaier vor „Stalingrad“<br />

und gab als Aufklärer Oswalt Kolle sein<br />

„Leben für Liebe und Sex“. Er spielte neben<br />

Henry Hübchen den überforderten Regisseur<br />

Telleck in Andreas Dresens wunderbarer<br />

Komödie „Whisky mit Wodka“ und<br />

stellte gleich zweimal Hitlers Propagandaminister<br />

Joseph Goebbels dar. Erst 2007<br />

an der Seite Helge Schneiders, ehe er zwei<br />

Jahre später in Quentin Tarantinos „Inglourious<br />

Basterds“ zu einer international<br />

beachteten Schauspielergröße wurde. Doch<br />

weil er am Talkshowgetingel nicht interessiert<br />

ist, blieb Sylvester Groth hierzulande<br />

einer der bekanntesten Unbekannten.<br />

Die Geschichte aber vom gescheiterten<br />

Casting für „The Artist“ gibt es nicht.<br />

„Das ist doch kein Stummfilm!“, faucht er<br />

geradezu. „Da ist bloß die Tonspur rausgefallen.<br />

Der zum ewigen Grinsen verurteilte<br />

Hauptdarsteller ist eine einzige Katastrophe!“<br />

Groth meint Jean Dujardin, der<br />

für seine Rolle in „The Artist“ den Oscar<br />

für die beste männliche Hauptrolle bekam.<br />

Groth begeistert sich hingegen für<br />

F. W. Mur naus Stummfilm „Der letzte<br />

Mann“ von 1924 mit Emil Jannings als altgedientem<br />

Hotelportier, „ein Geniestreich“.<br />

Die Geschichte werde „fast ohne Zwischentitel<br />

ganz allein aus den Schauspielern erzählt.<br />

Ihre Gesichter und Gesten ersetzen<br />

das gesprochene Wort. Zu dieser Konzentration<br />

auf den Darsteller müssten wir in<br />

Deutschland wieder kommen. Wir Schauspieler<br />

wollen nicht bloß zu Handlangern<br />

einer im Übrigen leider oft sehr klapprigen<br />

Dramaturgie degradiert werden.“<br />

Die harsche Kritik an „The Artist“ deutet<br />

an, dass Sylvester Groth vielleicht nicht<br />

von ungefähr daheim eine Ikone des drachentötenden<br />

Sankt Georg in Ehren hält.<br />

Das Fabeltier schmückt auch das Stadtwappen<br />

des sachsen-anhaltinischen Dörfchens<br />

Jerichow, wo Groth am 31. März 1958 das<br />

Licht einer Welt erblickt, die damals noch<br />

in zwei weltanschaulich konkurrierende<br />

Blöcke geteilt war.<br />

Als Bürger im realsozialistischen Teil<br />

Deutschlands darf Groth erst über den<br />

Umweg einer Elektrikerlehre die Staatliche<br />

Schauspielschule Berlin absolvieren.<br />

Reüssiert dann aber rasant, spielt viel und<br />

groß in Dresden und am Berliner Deutschen<br />

Theater. Er wird 1982 von Frank<br />

Beyer entdeckt, der ihm die Hauptrolle<br />

in seinem Film „Der Aufenthalt“ anvertraut.<br />

Dadurch wird er auch für bundesdeutsche<br />

Regisseure so interessant, dass Johannes<br />

Schaaf ihn 1984 für seinen „Nathan<br />

der Weise“ bei den Salzburger Festspielen<br />

als „jungen Tempelherrn“ möchte.<br />

Brav kehrt Sylvester Groth danach in<br />

die Heimat zurück. Als er bei der Wiederaufnahme<br />

des „Nathan“ 1985 merkt, dass<br />

ihm die Stasi niemals erlauben wird, eine<br />

von Schaaf neu angebotene Rolle im Kinderfilm<br />

„Momo“ anzunehmen, entschließt<br />

sich Groth, im Westen zu bleiben. Er wird<br />

bei diesem gewagten Schritt vom „Momo“-<br />

Produzenten Horst Wendlandt mit einer,<br />

so Groth, „Mordsgage“ bezahlt, die ihm<br />

den ersten Schritt ins Offene erleichtert.<br />

Seine Theaterregisseure heißen nun Peter<br />

Stein, Luc Bondy, Klaus Michael Grüber,<br />

Peter Zadek, Claus Peymann, Robert<br />

Wilson und Frank Castorf. Im Januar<br />

2010 wird er für seine „Outstanding Performance“<br />

in „Inglourious Basterds“ von<br />

der Screen Actors Guild ausgezeichnet.<br />

Von Tarantino schwärmt er: „Der arbeitet<br />

schon beim Casting richtig mit dir. Beim<br />

Dreh animiert er dich wahnsinnig. Da geht<br />

es allein ums Künstlerische und um nichts<br />

anderes. Das ist die Differenz zu Deutschland.<br />

Tarantino ist gleichzeitig ganz naiv<br />

und hochgebildet. Er will immer das Beste.<br />

Und treibt alles auf die Spitze.“<br />

Keineswegs nebenbei hat sich Groth<br />

eine Karriere als Sprecher für Hörspiele<br />

und Hörbücher aufgebaut. Die Arbeit am<br />

Mikrofon liegt ihm am Herzen. Bei großen<br />

Einsätzen zieht er ein Kostüm an. Für seine<br />

Rolle als Kara Ben Nemsi in Karl Mays gesamtem<br />

Orientzyklus hat er sich wüstengerecht<br />

eingekleidet. „Ich wusste, da muss<br />

ich vier Wochen Studioarbeit durchhalten.<br />

Das Kostüm hat mir dabei sehr geholfen.“<br />

Für die 1486 Minuten lange Neuübersetzung<br />

von Fjodor M. Dostojewskis „Verbrechen<br />

und Strafe“ hat Groth sich ein Raskolnikow-Outfit<br />

schneidern lassen. Mit<br />

Hose, Stiefel, Mantel, Mütze verwandelte<br />

er sich vor dem Mikrofon in einen Russen –<br />

Metamorphose ist ihm alles.<br />

Darum ist es nur auf den ersten Blick<br />

verwunderlich, mit welcher Freude am heiteren<br />

Zynismus er den geläuterten RAF-<br />

Sympathisanten Henner in „Das Wochenende“<br />

gibt. In der Verfilmung des Romans<br />

von Bernhard Schlink ist Groth der dem<br />

Leben zugewandte Konterpart zum verbitterten<br />

Überzeugungstäter Jens (Sebastian<br />

Koch). „Du bist Pop“, sagt er einmal zu diesem,<br />

und in seiner angerauten Stimme, seinem<br />

forcierten Bubenblick und der schlaksigen<br />

Körperrede schwingt mit, was ihn über<br />

die vielen Rollenwechsel hinaus kennzeichnet:<br />

die Freude am Spiel, das nicht Routine,<br />

nicht Kalkül werden darf.<br />

INGO L ANGNER<br />

ist Filmemacher, Autor<br />

und Publizist<br />

FOTOS: MATHIAS BOTHOR/PHOTOSELECTION, CHRISTOPH LERCH (AUTOR)<br />

106 <strong>Cicero</strong> 4.2013


„Wir Schauspieler<br />

wollen nicht bloß<br />

Handlanger sein“<br />

Sylvester Groth<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 107


| S A L O N<br />

JEDER WILL WAS<br />

Lisa Kränzler schreibt und malt nach dem Lustprinzip. Ein Atelierbesuch zwischen Bahngleisen<br />

V ON O LIV E R JUNGEN<br />

A<br />

UF DEM BODEN liegt ein bunt geflecktes<br />

Papier, sechs Quadratmeter<br />

groß, ein gutes Drittel des Ateliers<br />

beanspruchend. Der Banause könnte<br />

eine Unterlage aus einer Autolackiererei<br />

vermuten. Und die Urheberin würde das<br />

vielleicht nicht einmal übel nehmen, denn<br />

nichts läge Lisa Kränzler ferner als die auratische<br />

Überhöhung des einzelnen Bildes. Es<br />

komme auf den Prozess an, sagt sie, auf das<br />

Fühlen und Arbeiten, die Komponenten<br />

seien austauschbar. Eine Fabrik nennt sie<br />

ihr Atelier. Sechs Tage die Woche von 9 bis<br />

18 Uhr verschwindet sie in dem von Künstlern<br />

und Autonomen besiedelten Gebäude<br />

zwischen den Freiburger Bahngleisen und<br />

möchte nicht gestört werden, nicht einmal<br />

vom Postboten, der auf sensible Künstlerseelen<br />

freilich keine Rücksicht nimmt.<br />

Überhaupt: diese vermaledeite Außenwelt.<br />

Dringe in alles ein. „Ich kann Menschen<br />

einfach nicht leiden. Jeder will was.<br />

Stets hofft man, es könnte etwas passieren,<br />

eine Lebendigkeit entstehen. Aber es läuft<br />

immer auf Enttäuschung hinaus. Oder?“<br />

Die lächelnd angehängte Frage wirft den<br />

misanthropischen Gestus über den Haufen.<br />

Das ist nicht nur kokett, sondern charmant<br />

frech, schließlich ist man gerade samt Fotograf<br />

und einem Haufen idiotischer Journalistenfragen<br />

in ihr Atelier eingedrungen.<br />

Sofort wird klar: Lisa Kränzler, geboren<br />

1983 in Ravensburg, gehört zu den Komplizierten.<br />

Zu schlau, zu schnell, zu uneitel<br />

für das abgeklärte Frage-Antwort-Spiel.<br />

Sie ist diejenige, auf die man zwischen all<br />

den Künstler-Darstellern zu treffen hofft.<br />

Fragen nach dem autobiografischen<br />

Gehalt ihrer Werke liegen so nahe, wie sie<br />

überflüssig sind: „Woran sind nicht die Eltern<br />

schuld? Die vergiften alles.“ Privates<br />

gibt Lisa Kränzler nicht preis. Bis vor einem<br />

Jahr kannte man sie nur im Umfeld<br />

der Staatlichen Akademie der Bildenden<br />

Künste Karlsruhe, wo sie von 2005 an Malerei<br />

studierte und 2010 ihren Abschluss<br />

machte. Im anschließenden Meisterschülerjahr<br />

schrieb sie den Debütroman „Export<br />

A“, in dem eine Sechzehnjährige<br />

während des Austauschjahrs in Kanada verzweifelt<br />

nach dem Leben greift, das ihr immer<br />

mehr entgleitet. Selten wohl wurde ein<br />

Coming-of-Age-Roman mit Erbsünden-<br />

Verdammnis kurzgeschlossen. Der Mord<br />

am Ende mochte grell anmuten, aber der<br />

Stil ließ aufhorchen: sprachmächtig, authentisch,<br />

souverän. Hier spielte jemand<br />

mit Klischees pubertärer Radikalität, ohne<br />

auf sie hereinzufallen.<br />

Es folgte soeben der Roman „Nachhinein“<br />

über das Scheitern der Freundschaft<br />

zweier ungleicher „Blutsschwestern“, missbraucht<br />

und arm die eine, reich und überheblich<br />

die andere. Wieder geht es um<br />

Isolation und um die Einsicht, dass nicht<br />

einmal die Sexualität ihr Vereinigungsversprechen<br />

hält. Grausamkeit aus Selbstsucht<br />

ist das Leitmotiv. Das sei nicht pessimistisch,<br />

sondern realistisch: „Das, was man<br />

am meisten hasst oder liebt oder fürchtet,<br />

damit bleibt man immer allein. Eigentlich<br />

kann man nicht kommunizieren.“ Für einen<br />

Auszug aus „Nachhinein“ erhielt Lisa<br />

Kränzler den 3sat-Preis beim Klagenfurter<br />

Bachmann-Wettbewerb. Der Roman selbst<br />

wurde für den bedeutenden Preis der Leipziger<br />

Buchmesse nominiert.<br />

Damit ist Lisa Kränzler in Rekordzeit<br />

im Literaturbetrieb angekommen, zu<br />

Recht, denn eine ganz eigene Stimme verschafft<br />

sich hier Gehör. Ihre präzisen Visualisierungen<br />

faszinieren, obwohl darin<br />

oft eisige Kälte herrscht: „Fahles Licht sickert<br />

ins Zimmer, mischt sich wie Deckweiß<br />

in Möbel-, Boden- und Wandfarbe,<br />

hellt auf und kühlt ab. Bläuliche Schatten<br />

erinnern an bibbernde Lippen.“ Dass<br />

sich diese „Kopfbilder“ mitunter zu Gebirgen<br />

auftürmen, ist der Autorin natürlich<br />

nicht entgangen. Sie kehrt die Kritik<br />

um: „Und wenn es noch viel mehr wären?<br />

Der Plot ginge verloren. Ich stelle mir das<br />

ähnlich vor wie den Übergang zur abstrakten<br />

Malerei.“<br />

Im Atelier sieht man, wie eng Schreiben<br />

und Malen für Lisa Kränzler zusammenhängen.<br />

Unvermischt treffen etwa auf<br />

dem bunt gefleckten Bild Industrielacke<br />

aufeinander, bilden scharfe Kanten aus.<br />

Unheimliche Lust bereite es ihr, das Gelb<br />

hart auf das Rot treffen zu sehen: „Jede<br />

der Farben behauptet sich, beides ist ganz<br />

da, kein Wischiwaschi. Man kann auch ein<br />

braunes Ölbild malen, aber dazu habe ich<br />

gar keine Lust.“ Das ist die beste Kurzfassung<br />

ihrer Kontrast-Poetologie.<br />

Dann gibt es die wild mit Textmarker<br />

und Strichen bearbeiteten Din-A4-Seiten,<br />

den Anfang von Wittgensteins „Tractatus“<br />

etwa. Getippt sind diese „Kunsttexte“ – wie<br />

die Romane – auf der mitten im Gerümpel<br />

thronenden „Brother AX 110“. Lisa Kränzler<br />

schwört auf das Reale des Schreibmaschinenanschlags<br />

gegenüber dem digital<br />

Imaginären. Überhaupt ist sie eine Apologetin<br />

der Körperlichkeit. Sie unterläuft<br />

das Berechenbare der „erschreckend wenig<br />

subversiven Gegenwartskunst“ mit<br />

dem Lustprinzip.<br />

Sie habe, erzählt sie, einmal eine Riesenschreibmaschine<br />

konstruieren wollen,<br />

bei der man von Taste zu Taste springt. Mit<br />

genau diesem körperlichen Elan schreibt<br />

sie Romane. Das nächste Manuskript –<br />

wieder in Mädchenperspektive – ist abgeschlossen.<br />

Für den folgenden Satz würde<br />

der Banause natürlich hochkant aus dem<br />

Atelier fliegen: Alles Bildkünstlerische von<br />

Wittgenstein bis Industrielack war bei ihr<br />

vielleicht nur Vorbereitung und findet eine<br />

Vollendung in der Literatur. Es ist der eine<br />

Schritt von der Fabrik ins Offene.<br />

OLIV E R JUNGEN<br />

ist freier Autor und<br />

Literaturkritiker<br />

FOTOS: BASILE BORNAND FÜR CICERO, PRIVAT (AUTOR)<br />

108 <strong>Cicero</strong> 4.2013


„Ich kann<br />

Menschen<br />

einfach nicht<br />

leiden. Es<br />

läuft doch<br />

immer<br />

auf eine<br />

Enttäuschung<br />

hinaus“<br />

Lisa Kränzler<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 109


| S A L O N<br />

EIN STÖRENFRIED<br />

Als Chef der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist Peter Strohschneider Herr über Milliarden Euro<br />

V ON A LEXANDER GRAU<br />

E<br />

RKENNTNIS SEI NICHTS ANDERES<br />

als „die Störung der gegebenen<br />

Ordnungen des Wissens“. Der hier<br />

so barrikadenstürmerisch spricht, ist kein<br />

Anarchist, sondern seit Beginn des Jahres<br />

Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />

und damit Herr über knapp<br />

2,7 Milliarden Euro, die Bund und Länder<br />

jährlich in den Haushalt der größten<br />

deutschen Organisation zur Forschungsförderung<br />

einzahlen. Peter Strohschneider,<br />

Professor für Germanistik des Mittelalters,<br />

hat als Forscher selbst dazu beigetragen,<br />

Ordnungen des Wissens zu stören. Nun<br />

ist er Präsident einer Organisation, deren<br />

Aufgabe es ist, diese Störungen möglichst<br />

effektiv zu organisieren.<br />

Die Mittel dazu sind beachtlich:<br />

Anno 2011 förderte die DFG insgesamt<br />

32 584 Forschungsvorhaben, davon<br />

15 301 Einzelprojekte, die sich allein auf<br />

eine Summe von 954,9 Millionen Euro<br />

summierten. Im selben Jahr finanzierte die<br />

DFG 259 sogenannte Sonderforschungsbereiche,<br />

in denen etwa 6000 Wissenschaftler<br />

und Wissenschaftlerinnen arbeiten.<br />

Hinzu kommen die verschiedenen<br />

Forschungsprogramme, die Forschungszentren<br />

und 43 Exzellenzcluster im Rahmen<br />

der Exzellenzinitiative. Das Verstörungspotenzial,<br />

das in diesen Zahlen<br />

schlummert, ist erheblich.<br />

Strohschneider sitzt entspannt, die<br />

Beine übereinandergeschlagen, in seinem<br />

ehemaligen Büro in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.<br />

Mit seiner<br />

Krawatte, die unter einem V-Ausschnitt<br />

hervorlugt, dem Tweed-Jackett und der<br />

Hornbrille würde er wesentlich besser in<br />

die neugotische Kulisse eines Colleges in<br />

Cambridge oder Oxford passen als in die<br />

Trostlosigkeit eines bundesrepublikanischen<br />

Nutzbaus. Seinen Kopf in die linke Hand<br />

gestützt, fasst er seine Überlegungen zusammen:<br />

„Wissenschaft ist systematisch darauf<br />

angelegt, sich selbst zu überholen.“<br />

Als der heutige DFG-Präsident 1975<br />

sein Studium in München aufnahm,<br />

konnte er sich auch eine Tätigkeit im<br />

Kulturmanagement vorstellen. Zu diesem<br />

Zweck begann er ein Doppelstudium,<br />

Germanistik und Rechtswissenschaften.<br />

Mit den Juristen habe er jedoch soziokulturell<br />

gefremdelt. „Da drüben“, seine<br />

rechte Hand deutet in Richtung der juristischen<br />

Fakultät, „waren die Leute mit<br />

den hirschbraunen Aufschlägen am Revers<br />

und den farbigen Bändchen, und hier waren<br />

die Leute, die hatten lange Haare wie<br />

ich und Jeans an.“<br />

So blieb die Germanistik übrig. Dass<br />

er Mediävist wurde, verdankt sich eher<br />

dem Zufall – ebenso wie das Engagement<br />

in der Wissenschaftspolitik: „Meinen ersten<br />

Lehrstuhl hatte ich 1992 in Dresden,<br />

da musste alles von Beginn an aufgebaut<br />

werden. Da gab es keine für die Literaturwissenschaft<br />

geeignete Bibliothek, keine<br />

Studienordnung, kein Hochschulgesetz.<br />

Es gab auch kein Telefon – dafür aber die<br />

Reste einer Abhöranlage.“ Aus dieser Situation<br />

heraus begann Strohschneider Hochschulpolitik<br />

zu machen, zunächst in seiner<br />

Hochschule, dann auf Landesebene. Strohschneider<br />

war als Kuratoriumsvorsitzender<br />

maßgeblich am Neubau der allein architektonisch<br />

sensationellen Sächsischen Landesbibliothek<br />

beteiligt.<br />

Der neue DFG-Präsident hält es für<br />

einen Irrtum zu meinen, ein erfolgreicher<br />

Wissenschaftsmanager könne als Manager<br />

in der Wirtschaft arbeiten. „Im Wissenschaftssystem“,<br />

sagt Strohschneider, „müssen<br />

die Strukturen so gebaut sein, dass der<br />

produktive Irrtum kein Fehler ist, dass es<br />

nicht nur die Beschleunigung von Erkenntnissuche<br />

gibt, sondern auch analytische Abstandnahme,<br />

Momente der Muße und Versenkung.“<br />

In solchen Momenten begreift<br />

man, dass es gerade die Überkomplexität<br />

des Wissenschaftssystems ist, die Strohschneider<br />

reizt und die ihn zugleich mit<br />

Vorsicht in die Zukunft schauen lässt: „Ich<br />

bin mir nicht sicher, ob wir nicht vielleicht<br />

in einer Phase sind, in der sich das, was wir<br />

seit 200 Jahren als moderne Wissenschaft<br />

definieren – also eine disziplinär verfasste,<br />

methodisch organisierte Form der Welterkenntnis<br />

– in einen offenen Horizont hinein<br />

transformiert, den ich nicht kenne.“ Je<br />

mehr die Wissenschaft zu einer Sache des<br />

Alltags werde und je mehr sich moderne<br />

Gesellschaften in Wissenschaftsgesellschaften<br />

verwandelten, desto schwieriger werde<br />

es, Wissenschaft überhaupt von Nichtwissenschaft<br />

und Wissenschaft von Pseudowissenschaft<br />

zu unterscheiden.<br />

„Als Mediävist“, ergänzt Strohschneider,<br />

„beobachte ich ja Formen der Rationalität<br />

in ihrer historischen Kontingenz.“ Allerdings<br />

sei dieses historische Bewusstsein<br />

selbst ein historisches Phänomen. „Nicht<br />

auszuschließen, dass es in 50 Jahren dieses<br />

historische Bewusstsein gar nicht mehr<br />

gibt, oder nur noch in irgendwelchen alteuropäischen<br />

Restbeständen.“<br />

Strohschneider strahlt kühle Vernünftigkeit<br />

aus. Darum klingen solche Sätze<br />

beinahe bedrohlich. Stehen wir am Ende<br />

vor einer Epoche der Gegenaufklärung, in<br />

der eine geschichtslos gewordene Vernunft<br />

nur noch zur Beschäftigung mit den Erfordernissen<br />

der jeweiligen Gegenwart taugen<br />

wird? Droht etwa ein neuer Irrationalismus?<br />

Wie mag die Universität in 50 Jahren<br />

aussehen? Strohschneider meidet die<br />

Prophetie: „Ich kann nur sagen, was ich<br />

mir als Universität wünsche: einen freien<br />

Raum der leidenschaftlichen Welterkenntnis.“<br />

Seine Stimme klingt dabei sehr viel<br />

nüchterner und leiser, als es seine Worte<br />

vermuten lassen.<br />

ALEXANDER GRAU<br />

ist Kultur- und<br />

Wissenschaftsjournalist<br />

FOTOS: MARCUS GLOGER FÜR CICERO, PRIVAT (AUTOR)<br />

110 <strong>Cicero</strong> 4.2013


„Wissenschaft<br />

braucht auch<br />

Muße und<br />

Versenkung“<br />

Peter Strohschneider<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 111


| S A L O N | F R A N K R E I C H S N E U E D E N K E R<br />

SPALTE DAS HOLZ,<br />

LIEBE DAS LEBEN<br />

Im deutsch-französischen Jahr 2013 bildet sich bei unseren Nachbarn ein neuer Typus<br />

des Intellektuellen heraus: reisefreudig, wendig, radikal. Die Denkerstube hat ausgedient<br />

V ON A LEXANDER P SCHER A<br />

112 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Der Philosoph<br />

Sylvain Tesson<br />

umrundete<br />

die Welt auf<br />

einem Fahrrad.<br />

Nun lebte er<br />

ein halbes Jahr<br />

am Baikalsee<br />

FOTO: THOMAS GOISQUE<br />

W<br />

ENN FRANKREICH sich heute<br />

auf das Jahr 410 besinnt,<br />

dann verheißt das nichts<br />

Gutes. Denn 410 ist eine<br />

symbolische Zahl, eine Zahl<br />

der Dekadenz. Damals ging die abendländische<br />

Kultur zum ersten Mal unter. Im<br />

Jahr 410 wurde Rom von Alarichs Westgoten<br />

überrannt. 1602 Jahre später, im<br />

Herbst 2012, erhält ein schmaler Roman,<br />

der exakt diesen Untergang in die europäische<br />

Gegenwart überträgt, den begehrten<br />

Prix Goncourt, den wichtigsten Literaturpreis<br />

Frankreichs. Ist das ein Symbol? Sieht<br />

man linksrheinisch eine neue Apokalypse<br />

am Horizont?<br />

„Le sermon sur la chute de Rome“, die<br />

„Predigt auf den Untergang Roms“, soeben<br />

auf Deutsch im Züricher Verlag Secession<br />

erschienen, ist das sechste Werk des 1968<br />

geborenen Philosophielehrers Jérôme Ferrari.<br />

Er war bis dato nur Eingeweihten bekannt.<br />

Sein schmaler Roman ist kein süffiges<br />

Historienfresko, eher ein metaphernreicher<br />

Textwurm voller Anspielungen auf die neuere<br />

Geschichte des Landes. Ferraris Rom<br />

liegt auf dem heutigen Korsika. Die schlimmen<br />

Vandalen tragen dort Goldkettchen<br />

ums Handgelenk, haben tätowierte Oberarme,<br />

fahren fette Pick-ups und trinken<br />

viel zu viel Pastis. Dem korsischen Prekariat<br />

stellt der Autor zwei Philosophiestudenten<br />

gegenüber, die für sich beschließen, nun<br />

genug gedacht zu haben. Sie haben genug<br />

von den Pariser Intellektuellen, von abgehobenen<br />

Theorien über die Liebe und von endlosen<br />

Diskussionen über die beste aller möglichen<br />

Welten. Sie wollen die Dinge nicht<br />

nur denken, sondern tun. Sie wollen dem<br />

Leben die Hand schütteln und der Liebe in<br />

die Augen schauen.<br />

Also übernehmen die beiden eine heruntergewirtschaftete<br />

Kneipe in einem korsischen<br />

Bergdorf. Das, merken sie bald, ist<br />

keine gute Idee. Im Nirgendwo bröckelt<br />

die Zivilisation. Hier beginnt die décadence.<br />

Das Erste, was die beiden lernen,<br />

ist, wie man Jungschweine bei lebendigem<br />

Leib kastriert, wie man Hoden am Lagerfeuer<br />

grillt und sie genüsslich verspeist.<br />

Die zweite Lektion ist auch nicht viel angenehmer:<br />

Trage immer eine großkalibrige<br />

Schusswaffe im Gürtel.<br />

Die Bar wird zum Mittelpunkt des<br />

Dorfes und der Region. Neues Leben beginnt.<br />

Es brodelt und kocht in der korsischen<br />

Hitze. Schon bald brechen alte<br />

Konflikte auf: Es geht um weibliche Körper,<br />

um männliche Hormone, um die französische<br />

Kolonialgeschichte, den Algerienkrieg,<br />

die Résistance, sogar um den Ersten<br />

Weltkrieg. Die Weltgeschichte ergießt sich<br />

über den Tresen wie eine umgekippte Flasche<br />

Anis-Schnaps.<br />

Ferrari hat nicht umsonst Philosophie<br />

studiert. Seine Schilderung einer heutigen<br />

Zeitenwende greift auf große philosophische<br />

Ideen zurück. Er schreibt sich in den<br />

Untergang des französischen Abendlands<br />

auf einem prominenten Umweg ein: über<br />

Augustinus. Dieser war im bösen Jahr 410<br />

Bischof von Hippo im heutigen Algerien.<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 113


| S A L O N | F R A N K R E I C H S N E U E D E N K E R<br />

Aus dieser Zeit sind Tausende von Predigten<br />

erhalten. Und eben auch eine vom<br />

Dezember 410, in der er seine Gemeinde<br />

angesichts der gotischen Katastrophe im<br />

fernen Rom an die Zeitlichkeit des Irdischen<br />

gemahnt.<br />

Ferrari benutzt den augustinischen<br />

Subtext geschickt, um vom Untergang der<br />

großen und der kleinen Welt heute zu erzählen.<br />

Den sechs ersten Kapiteln stellt er<br />

Zitate aus der Untergangspredigt des Kirchenvaters<br />

voran. Im siebten und letzten<br />

Kapitel gipfelt das Buch in einer epischen<br />

Vergegenwärtigung der augustinischen Predigt<br />

über den Untergang Roms und verdichtet<br />

sich schließlich in dem Moment,<br />

als Augustinus von der Welt Abschied<br />

nimmt, ohne das Rätsel des Lebens, jenes<br />

undurchdringliche Mysterium, gelöst<br />

zu haben.<br />

„Die Welten“, schreibt Ferrari, „vergehen<br />

in Wahrheit eine nach der anderen,<br />

von Finsternis zu Finsternis, und gut<br />

möglich, dass ihre Abfolge nichts bedeutet.<br />

Diese unerträgliche Hypothese brennt<br />

Augustinus in der Seele, und er stößt, Ruhender<br />

im Kreis seiner Brüder, einen Seufzer<br />

aus, und er strengt sich an, zum Herrn<br />

zu blicken, sieht aber nur das merkwürdig<br />

tränenfeuchte Lächeln, das ihm einst<br />

die Arglosigkeit einer unbekannten jungen<br />

Frau geschenkt hatte, um vor ihm das Ende<br />

„Die Welten vergehen in<br />

Wahrheit eine nach der<br />

anderen, und gut möglich, dass<br />

ihre Abfolge nichts bedeutet“<br />

Der Philosophielehrer Jérôme Ferrari gewann den wichtigsten<br />

Literaturpreis Frankreichs – mit einer lakonischen Parabel<br />

auf die Zivilisationsmüdigkeit des 21. Jahrhunderts<br />

zu bezeugen, und zugleich die Ursprünge,<br />

denn dies ist eine einzige und sich gleichbleibende<br />

Bezeugung.“<br />

Ferraris Tonfall ist elegisch-distanziert.<br />

Wie Augustinus damals über das ferne<br />

Rom, so predigt Ferrari, der auf Korsika,<br />

in Algerien und zurzeit in den Arabischen<br />

Emiraten unterrichtet, aus räumlicher Distanz<br />

über den kulturellen Untergang seiner<br />

eigenen Grande Nation: über ihre<br />

Zivilisationsmüdigkeit, ihren Verlust an<br />

Orientierung, ihre Verrohung, über die<br />

Vergänglichkeit der großen französischen<br />

Leitmotive – das Glück, die Liebe und das<br />

Leben. Ferarris Text bezieht politisch keine<br />

Position. Fingerzeige auf reale gesellschaftliche<br />

Konflikte wie Immigration und Islamismus<br />

sucht man vergebens. Wer die modernen<br />

Goten wirklich sind, die Frankreich<br />

belagern, das verschweigt der Autor.<br />

Beim Globetrotter-Philosophen Sylvain<br />

Tesson, der den zweitwichtigsten Literaturpreis<br />

Frankreichs gewann, den Prix<br />

Medicis, schaut das ganz anders aus. Hier<br />

herrscht Klartext. Tesson, enfant terrible<br />

der französischen Reiseschriftsteller, ist<br />

der Sohn eines der bekanntesten Pariser<br />

Journalisten. Sein Vater Philippe gründete<br />

1974 den Quotidien de Paris und war bald<br />

der Nestor der französischen Theaterkritik.<br />

Dem Sohn wurde das Pariser Intellektuellenmilieu<br />

zu eng. Nach dem Besuch einer<br />

Privatschule umrundete er mit dem Fahrrad<br />

die Welt, marschierte 5000 Kilometer<br />

durch das Himalaya-Massiv und wenig<br />

später noch mal so viel durch die zentralasiatische<br />

Steppe. Seitdem zieht er schreibend,<br />

trinkend, lesend durch die Welt.<br />

Irgendwann schwor er sich, vor seinem<br />

40. Geburtstag als Einsiedler in Sibirien zu<br />

leben. So bezog er für sechs Monate die<br />

winzige Hütte eines Wetterbeobachters am<br />

Baikalsee, reichlich ausgerüstet mit Wodka,<br />

Zigarillos und einer Angel. Aus dem anachoretischen<br />

Selbstversuch ist ein zu Recht<br />

preisgekröntes Buch geworden: „Dans les<br />

Forêts de Sibérie“, „In den Wäldern Sibiriens“.<br />

Es soll auf Deutsch Anfang 2014 im<br />

Knaus-Verlag erscheinen.<br />

Sylvain Tesson ist der frierende Bruder<br />

Jérôme Ferraris. Sein Korsika liegt mitten<br />

in Sibirien. Dort, wo sich jeder leise Anflug<br />

von Kultur gegen die unerbittliche Macht<br />

des Wirklichen durchsetzen muss: „Nach<br />

der bitteren Kälte ruft das ‚Plopp‘ eines aus<br />

der Wodkaflasche springenden Korkens neben<br />

einem Ofen unendlich mehr Genuss<br />

FOTOS: JACQUES DEMARTHON/AFP/GETTY IMAGES, THOMAS GOISQUE<br />

114 <strong>Cicero</strong> 4.2013


„… das ‚Plopp‘<br />

eines aus der<br />

Wodkaflasche<br />

springenden<br />

Korkens neben<br />

dem Ofen ruft<br />

mehr Genuss<br />

hervor …“<br />

Zwischen Holz und Poesie, Lektüre und Eisloch:<br />

Sylvain Tesson erprobt die Alltagstauglichkeit<br />

von Literatur in der Wildnis<br />

XXXX<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 115


| S A L O N | F R A N K R E I C H S N E U E D E N K E R<br />

Hadjadj ist der Typus des<br />

nervösen Intellektuellen,<br />

der nah dran sein will am<br />

pulsierenden Leben<br />

Hochdekoriert: Der Publizist Fabrice Hadjadj, den der<br />

Philosoph Alain Finkielkraut fördert, verbindet in amüsanten<br />

Gedankenspielen Fußball, Gott und Monica Bellucci<br />

hervor als ein herrschaftlicher Tag in einem<br />

Palazzo am Canal Grande.“<br />

In einem solchen Moment verpuffen<br />

2000 Jahre abendländischer Kulturgeschichte<br />

im eisigen Nebel der Taiga. Solche<br />

Momente gibt es bei Tesson reichlich.<br />

Das ist keine intellektuelle Attitüde, kein<br />

Pariser Renegatentum. Tesson weiß, wovon<br />

er spricht. Er hat sich das alles nicht<br />

in einer Mansarde in Montmartre ausgedacht,<br />

sondern erlebt. Er beneidet sie wirklich,<br />

jene einfachen Russen, deren Blick auf<br />

die konkreten Dinge durch keine Lektüre,<br />

durch keine große Idee verstellt ist. Sechs<br />

Monate am Baikalsee werden so zu einer<br />

Zeitreise, an deren Ende die Erkenntnis<br />

steht, „dass das Leben nur das sein sollte:<br />

die Hommage des Erwachsenen an seine<br />

Kindheitsträume“. Wer wollte ihm da<br />

widersprechen?<br />

Tesson nimmt das wilde Denken, das in<br />

Frankreich seit Claude Lévi-Strauss Tradition<br />

hat, wörtlich. Er möchte wissen, was<br />

passiert, wenn ein Intellektueller, der zugleich<br />

die Statur und die Haartracht eines<br />

russischen Trappers hat, ein halbes Jahr im<br />

Niemandsland lebt und sich geistige Nahrung<br />

von jenen Autoren holt, die immer<br />

wieder den Rückzug in die Natur besungen<br />

haben. Er erprobt eine ganze Bibliothek, die<br />

er in einer Kiste in die Einöde geschleppt<br />

hat, an der harten sibirischen Wirklichkeit.<br />

Seine Frage lautet: Hält das Denken und<br />

Schreiben eines Rousseau, eines Diderot,<br />

eines Conrad, eines Jünger, eines Thoreau<br />

der Einsamkeit, arktischen Temperaturen<br />

von minus 40 Grad und teuflischen Mückenschwärmen<br />

stand? Oder zerbröselt es<br />

wie morsches Holz unter dem Fußabdruck<br />

der Wirklichkeit?<br />

Das ist die Versuchsanordnung. Ihr Ergebnis:<br />

Über die Einsamkeit des Waldgangs<br />

zu schreiben, ist eine Sache. Den Rückzug in<br />

den Wald zu leben, eine ganz andere. Welches<br />

Buch Tesson auch zur Hand nimmt<br />

(am Ende werden es 70 sein), seine Lektüreeindrücke<br />

werden von der Kraft der Natur<br />

sofort eingeholt und überlagert. Das Singen<br />

und Krachen der Eisplatten spaltet die<br />

subtilsten Gedanken. Ätherische Wolkenbilder<br />

dämpfen die schärfsten Antithesen ein.<br />

Die Poesie des Unterholzes überschreibt allen<br />

Sprachzauber. Zuletzt lacht eine leibhaftige<br />

Robbe, die ihr melancholisches Antlitz<br />

aus einem Eisloch steckt, über die ganze<br />

Eitelkeit der idealistischen Welt.<br />

In der Dreyfus-Affäre hat Frankreich –<br />

genauer: Georges Clemenceau – die Figur<br />

des „Intellektuellen“ erfunden, der gesellschaftliche<br />

Vorgänge analysiert und diskursiv<br />

beeinflusst. 100 Jahre haben Intellektuelle<br />

von Zola über Sartre bis Bernard-Henri<br />

Lévy die Wirklichkeit ihren Ideen untergeordnet<br />

und damit die französische Politik<br />

beeinflusst. Jetzt scheint es, als kehrten<br />

die ersten französischen Intellektuellen<br />

ins Leben zurück. Ferraris preisgekrönter<br />

korsischer Canto ist hierfür ebenso Signal<br />

wie Tessons sibirische Aphoristik. Wenn<br />

es bei Tessson am Ende heißt: „L’homme<br />

ne se refait pas“, „Der Mensch ändert sich<br />

nicht“, dann ist das französische Raisonnement<br />

tatsächlich wieder vor der Aufklärung<br />

angekommen.<br />

Der Publizist Fabrice Hadjadj, 41 Jahre<br />

alt, würde dieser Aussage widersprechen.<br />

Hadjadj bezeichnet sich als „Juden mit<br />

arabischem Namen und katholischer<br />

Konfession“. Früher kollaborierte er mit<br />

Houellebecq, schrieb nihilistische Traktate,<br />

verehrte Nietzsche. Dann erkrankte<br />

sein Vater, und Hadjadj hatte in der Pariser<br />

Kirche Saint-Séverin ein Bekehrungserlebnis.<br />

Er konvertierte zum Katholizismus.<br />

Heute arbeitet er als viel beachteter Publizist<br />

und Philosoph. Bekannt wurde er 2005<br />

mit einem preisgekrönten Langessay über<br />

FOTOS: ALAIN ELORZA/CIRIC, PRIVAT (AUTOR)<br />

116 <strong>Cicero</strong> 4.2013


die Kunst des Sterbens, „Réussir sa mort“.<br />

Hadjadj, zu dessen Förderern Alain Finkielkraut<br />

gehört, leitet seit 2012 das renommierte<br />

philosophische Institut Philanthropos<br />

im schweizerischen Fribourg.<br />

Hadjadj kehrt die Frage nach dem<br />

Verhältnis von Wirklichkeit und Idealismus<br />

um. Er betrachtet das Denken durch<br />

die Brille der Realität. Dabei kommt es zu<br />

überraschenden Gedankensprüngen. Die<br />

Wirklichkeit ist paradox. Hadjadj fragt:<br />

Wie muss eine Idee ausschauen, damit sie<br />

bis zur Realität durchdringen kann? Wie<br />

muss man argumentieren, damit man verstanden<br />

wird in einer oberflächlichen Welt?<br />

Diese Frage ist links- wie rechtsrheinisch<br />

aktuell. Daher ist Hadjadjs letztem<br />

Buch, dem amüsanten Essay „Comment<br />

parler de Dieu aujourd’hui?“, „Wie kann<br />

man heute über Gott reden?“, eine deutsche<br />

Übersetzung zu wünschen. Hadjadj<br />

findet eine Sprache, die dem Leben abgeschaut<br />

ist und die dennoch über dieses<br />

Leben hinausweist. Seine Rhetorik ist irgendwo<br />

zwischen den Absurditäten eines<br />

Groucho Marx und den präzisen Thesen<br />

eines Robert Spaemann verortet.<br />

Der schelmische Ansatz zeigt sich schon<br />

daran, dass Hadjadj seinem Buch den Untertitel<br />

„Anti-manuel d’évangélisation“,<br />

„Anti-Handbuch des Apostolats“ gibt.<br />

Hadjadj geht es nicht um Dogmen. Er<br />

wechselt permanent den Standpunkt, um<br />

das, was er über Gott, Glaube, Welt sagen<br />

will, straßentauglich zu machen. Er<br />

ist der Typus des nervösen Intellektuellen,<br />

der nah dran sein will am pulsierenden<br />

Leben. Man muss nicht Christ sein, um<br />

seine humorvollen Ausführungen mit Gewinn<br />

zu lesen.<br />

Realitätsgesättigt, wendig, konkret:<br />

Sieht so der intellektuelle Diskurs von morgen<br />

aus? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.<br />

Jedenfalls zeigt Hadjadj, wie man in einem<br />

Atemzug über den letzten Sieg von Real<br />

Madrid, die betörende Schönheit von Monica<br />

Bellucci und die Erhabenheit Gottes<br />

reden kann, ohne sich dabei lächerlich zu<br />

machen. Und das ist immerhin ein Etappensieg<br />

auf dem Weg der Intellektuellen<br />

zurück ins Leben.<br />

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B E N O T E T | S A L O N |<br />

ILLUSTRATION: ANJA STIEHLER/JUTTA FRICKE ILLUSTRATORS<br />

Was heißt denn<br />

hier Klassik?<br />

Musik sprengt alle Schubladen und kommt<br />

doch nicht ohne diese aus<br />

VON D ANIEL H OPE<br />

E<br />

S WAR EINE DIESER VERANSTALTUNGEN, auf denen Plattenfirmen<br />

ihre Neuerscheinungen zu präsentieren pflegen.<br />

Kostproben aus der Musik, Künstlerinterview und Gespräch<br />

mit dem Publikum. Ins Liverpooler Planetarium waren<br />

überwiegend ältere Herrschaften gekommen. Deshalb fielen mir<br />

zwei Mädchen auf, die sich nach der Veranstaltung etwas abseits<br />

hielten und mich dabei anlächelten. Vielleicht hatten sie sich nur<br />

verlaufen, den Eindruck von eingefleischten Klassikliebhabern<br />

machten sie jedenfalls nicht. Damit, dass ich auf sie zuging, hatten<br />

sie anscheinend nicht gerechnet. Verlegenes Lächeln, sie wussten<br />

nicht recht, was sie sagen sollten. Dann machte eine doch<br />

den Anfang. Na ja, meinte sie, ich hätte ja ganz schön Dampf gemacht<br />

mit meiner Geige, und diese Klassik habe einen ordentlichen<br />

Drive, das müsse sie schon zugeben. Aber irgendwie nicht<br />

unsere Musik, sagte die andere. Im Grunde tote Hose, Musik von<br />

gestern, nicht der Sound von heute. Ich sei doch selber noch kein<br />

alter Mann, wieso ich mich trotzdem so viel mit alter Musik abgebe.<br />

Ob ich nicht viel lieber Aktuelles anstatt „Klassik“ spielen<br />

würde. Ob ich eigene Songs schreibe. Und ob ich vielleicht Lust<br />

auf einen Kaffee hätte. So kamen wir auf diesen seltsamen Ausdruck<br />

„klassische Musik“ zu sprechen.<br />

Während dieser durchaus charmanten Begegnung musste ich<br />

an ein anderes, ungewöhnliches Zusammentreffen denken. In<br />

Norddeutschland hatte ich das Violinkonzert von Mendelssohn<br />

gespielt. Hinterher stand ich ziemlich verschwitzt an einem Tisch<br />

im Foyer, um Autogramme zu schreiben. Da wollte ein junger<br />

Mann von mir wissen, ob das, was ich gerade gespielt hatte, überhaupt<br />

klassische Musik sei. Ich sah ihn fassungslos an. Etwas umständlich<br />

holte er aus. Zum bestandenen Abitur hätten ihm seine<br />

Eltern ein Klassikabonnement geschenkt, aber über die Programmauswahl<br />

sei er verwirrt. „Neben Sinfonien von Haydn, Mozart und<br />

Beethoven, bei denen es sich ja wohl eindeutig um Klassik handle,<br />

sind Stücke von Bach und Strawinski gespielt worden. Und heute<br />

Abend Mendelssohn, der doch schon zur Romantik gehört, soweit<br />

ich weiß“, sagte er. Jetzt verstand ich.<br />

Zum Zweck der besseren Übersichtlichkeit wird in Musikbüchern<br />

die viele Jahrhunderte lange Geschichte der Musik in<br />

verschiedene Epochen eingeteilt, vom Mittelalter bis in die Gegenwart.<br />

Je nachdem, wann die einzelnen Komponisten gelebt<br />

haben, werden sie einem dieser Zeitabschnitte zugeordnet. Bach<br />

also wandert in die Schublade mit der Aufschrift „Barock“, Mozart<br />

in die „Klassik“ und Mendelssohn in die „Romantik“. So<br />

kompetent diese Gliederung zweifellos auch sein mag, hat sie<br />

auch ihre Schwächen. Schließlich waren die Komponisten Individuen,<br />

jeder hatte neben den Gemeinsamkeiten auch seine<br />

persönlichen Eigenarten. War zum Beispiel Franz Schubert, der<br />

ein Jahr nach Beethoven gestorben ist, tatsächlich schon ein<br />

Romantiker oder doch noch ein Klassiker? Sieht man andererseits<br />

bei Beethoven nicht in vieler Hinsicht schon romantische<br />

Züge? Hört man dagegen bei Mendelssohn nicht oft eine sehr<br />

klassische Struktur?<br />

Zurück zu den jungen Damen in Liverpool, denen ich mühsam<br />

versuchte zu erklären, dass man erst die gesamte Musikvielfalt<br />

hören und erleben sollte, bevor man sie unter einem Begriff<br />

wie „Klassik“ ablehnt. Ich musste jedoch zugeben, dass ich es mir<br />

ebenfalls längst angewöhnt habe, einheitlich nur noch von „klassischer<br />

Musik“ zu sprechen. Korrekt ist es, streng genommen, nicht.<br />

Der Sammelbegriff, „Classical Music“, der anscheinend erstmals<br />

1863 im „Oxford Dictionary“ aufgetaucht ist und der sich längst<br />

überall auf der Welt eingebürgert hat, hängt vermutlich eher mit<br />

den großen Veränderungen in der Musikwelt Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

zusammen. Damals begann die Zeit der Unterhaltungsmusik<br />

und des Jazz, gegen die sich die Musik, die im Konzertsaal<br />

und in der Oper gespielt wurde, behaupten und abgrenzen<br />

musste. Der Strom der Musik hatte sich geteilt. Welche Namen<br />

sollte man den beiden Flussarmen geben? Wichtig wurde diese<br />

Frage vor allem für die gerade geborene Schallplattenindustrie, die<br />

ihrer Kundschaft die Orientierung und damit die Kaufentscheidung<br />

erleichtern wollte. Dass sie die Kreationen der leichten Muse<br />

unter der Rubrik „populäre Musik“ oder kurz „Popmusik“ laufen<br />

ließ, verstand sich angesichts des Millionenpublikums, das dafür<br />

empfänglich war, von selbst.<br />

Das interessierte die beiden Mädels in Liverpool allerdings<br />

herzlich wenig. Also gab ich mich geschlagen und ging mit ihnen<br />

doch lieber Kaffee trinken. Klassisch versteht sich …<br />

D ANIEL H OPE ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband<br />

„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch<br />

„Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt)<br />

und die CD „Spheres“ (Deutsche Grammophon). Er lebt in Wien<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 119


| S A L O N | M A N S I E H T N U R , W A S M A N S U C H T<br />

Ein Judas, viele<br />

Opportunisten<br />

Das „Letzte Abendmahl“ aus dem<br />

Mailänder Dominikanerkloster<br />

verbindet nicht nur Leonardo da Vinci<br />

und Andy Warhol<br />

VON B EAT WYSS<br />

O<br />

S T E R N, ZEIT DER B ESINNU NG,<br />

wollen wir mit Andy Warhol<br />

beginnen. Dessen Idee, sich<br />

mit Leonardos „Letztem Abendmahl“<br />

auseinanderzusetzen, geht auf den Balletttänzer<br />

und Galeristen Alexandre Iolas<br />

zurück. Der Zeitpunkt war gut gewählt.<br />

Die Restaurierung des Wandbilds im Refektorium<br />

des Mailänder Dominikanerklosters<br />

Santa Maria delle Grazie währte<br />

damals – 1986 – schon acht Jahre und<br />

sollte noch fast doppelt so lange dauern:<br />

Zeit für etwas Publicity um ein bedrohtes<br />

Kunstdenkmal. 1969 hatte Ted<br />

Spiegel diesen matt kolorierten, prekären<br />

Schatten von Geniestreich im Auftrag<br />

von National Geographic fotografiert.<br />

Warhol schien die Aufnahme ungeeignet,<br />

da sie den ruinösen Zustand des Originals<br />

schonungslos dokumentierte. Er<br />

wählte für den Siebdruck einen anonymen<br />

Kupferstich aus dem 19. Jahrhundert.<br />

Als Fest zur Überbrückung zwischen<br />

High und Low im Geist von Pop<br />

und Postmoderne wurde die Schau im<br />

Palazzo Stelline am 22. Januar 1987 eröffnet.<br />

Frucht der virtuellen Begegnung<br />

zwischen einer toten und einer lebenden<br />

Künstlerlegende bilden 100 Siebdrucke<br />

aus Warhols Factory nach Motiven von<br />

Leonardos Wandbild, die meisten heute<br />

in Privatbesitz.<br />

Es sollte Warhols letzter Auftritt sein.<br />

Einen Monat später starb der Künstler<br />

überraschend in New York. Das „Letzte<br />

Abendmahl“ sei das letzte Wort des Königs<br />

von Pop-Art, betont die Warhol-<br />

Hagiografie und versäumt nicht hervorzuheben,<br />

dass der Sohn polnischer<br />

Einwanderer als gläubiger Katholik gelebt<br />

habe. Auch Leonardo ist versöhnt mit<br />

Gott gestorben, nachdem er in der Osternacht<br />

1519 sein Testament geschrieben<br />

hatte. Glauben wir Giorgio Vasari, seinem<br />

ersten Biografen, starb das gefeierte<br />

Genie, nachdem es seine Sünden gebeichtet<br />

hatte, in den Armen von Franz I.<br />

Nun waren aber die französischen Könige<br />

Kriegsgegner von Ludovico Sforza,<br />

dem Auftraggeber des „Letzten Abendmahls“.<br />

Was war passiert? Wollte Leonardo<br />

seinen Mailänder Dienstherrn<br />

nicht sogar mit einer Reiterstatue ehren?<br />

Das Projekt kam nicht zustande, weil Il<br />

Moro, wie Sforza auch genannt wurde, alles<br />

Erz der Lombardei requirierte zum<br />

Kanonengießen: gegen die Franzosen.<br />

Der französische König Ludwig XII. marschierte<br />

1499 in Mailand ein und vertrieb<br />

den Herzog. Es kam zum Stellungskrieg<br />

FOTOS: TED SPIEGEL/CORBIS, ARTIAMO (AUTOR)<br />

120 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Am 1. September 1969 fotografierte Ted Spiegel Leonardos „Letztes Abendmahl“, um den schlechten<br />

Zustand des Freskos zu dokumentieren. Erst 1999 wurde die Restaurierung abgeschlossen<br />

in Novara mit einem fatalen Handicap:<br />

Beide Kriegsgegner waren durch Schweizer<br />

Söldnertruppen verstärkt. Damit die<br />

Eidgenossen nicht gezwungen wären, sich<br />

gegenseitig abzuschlachten, stimmte Ludwig<br />

XII. dem freien Abzug der Schweizer<br />

zu unter der Bedingung, dass Il Moro<br />

ausgeliefert werde. Die Schweizer in Mailänder<br />

Diensten griffen zur Kriegslist<br />

und verkleideten ihren Herrn als Söldner.<br />

Beim Auszug aus der belagerten Stadt am<br />

10. April 1500 durch eine Gasse von Eidgenossen<br />

auf der Seite der französischen<br />

Belagerer wurde Sforza aber von einem<br />

Urner Kriegsknecht verraten.<br />

200 Kronen waren sein Lohn, der<br />

fünffache Sold eines Jahres. Damit sei<br />

vom Zeitgeschehen zum „Letzten Abendmahl“<br />

ein ikonografischer Bogen geschlagen.<br />

Judas hatte für den Verrat an Jesus<br />

30 Silberlinge bekommen; Leonardo malt<br />

ihn als dritten Jünger links von Jesus, zurückgelehnt,<br />

den Geldbeutel in der Faust.<br />

Hinter ihm sitzt der impulsive Petrus und<br />

macht mit seiner ausgestreckten Linken<br />

am Hals von Johannes vor, wie er dem<br />

Verräter des Heilands an die Gurgel ginge.<br />

Verbirgt sich hinter jenem anmutig weiblichen<br />

Lieblingsjünger die angebliche Geliebte<br />

von Jesus, Maria Magdalena? Dan<br />

Brown machte diesen Verdacht im „Da<br />

Vinci Code“ populär.<br />

Ludwig XII., ein großer Leonardo-<br />

Sammler, wollte das „Letzte Abendmahl“<br />

dann als Beutekunst nach Frankreich<br />

schaffen, ließ aber vom Vorhaben ab, da<br />

der Transport samt Refektoriumsmauer<br />

zu kostspielig geworden wäre. Ludovico<br />

Sforza, der Auftraggeber des Wandbilds,<br />

starb acht Jahre später im Gefängnis von<br />

Loches an der Loire. Leonardo verschied<br />

erst 1519 im Schloss Clos Lucé bei Amboise,<br />

das ihm der junge König Franz I.<br />

zusammen mit einer ansehnlichen Ehrenpension<br />

überlassen hatte.<br />

Leonardo war kein Judas, er war ein<br />

normaler Opportunist, der auf der Seite<br />

der Sieger steht. Für die Künstler gilt:<br />

Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Die<br />

Gesellschaft nimmt es ihnen nicht übel<br />

und gedenkt ihrer in unschuldig lustigen<br />

Anekdoten, wie sie seit Plinius überliefert<br />

sind.<br />

B EAT WYS S<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt in Karlsruhe<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 121


| S A L O N | K R I S E D E S R E G I E T H E A T E R S<br />

DILETTANTEN AUF THRONEN<br />

Schamlos und ungebildet, banal, überheblich und ordinär: Das Sprechtheater liegt darnieder.<br />

Es ist höchste Zeit, dass es wieder zu einer Kathedrale des Besonderen wird<br />

V ON IRENE BAZ INGER<br />

W<br />

ILLIAM SHAKESPEARES „Coriolanus“<br />

ist ein Stück, das<br />

nicht oft aufgeführt wird –<br />

vielleicht, weil der Titelheld<br />

ein ziemlich arroganter<br />

Schnösel ist, der zwar alle Schlachten<br />

und Kriege gewinnt, aber das Volk, zu<br />

dessen Wohle er dies zu machen behauptet,<br />

grenzenlos verachtet. Er hält es für<br />

dumm, faul und bequem. Wenn man dieses<br />

Werk inszeniert, sollte man wissen, warum.<br />

Im Deutschen Theater Berlin kam<br />

es vor Weihnachten 2012 heraus, und der<br />

Regisseur, dessen Namen zu nennen hier<br />

zu viel der Ehre wäre, hatte offenbar weder<br />

Lust auf dieses Drama noch Interesse<br />

an der Thematik. Er hat es einfach – verspielt<br />

(und die bedauernswerten Darsteller<br />

in den Untiefen seiner Nicht-Einfälle<br />

scheitern lassen). Nun wollen wir allerdings<br />

nicht vergessen, dass von den damaligen<br />

Schauspielern ebendieses Deutschen<br />

Theaters im Jahr 1989 die große Demonstration<br />

organisiert wurde, die am 4. November<br />

auf dem Alexanderplatz stattfand<br />

und im Zuge derer die Angst der Bürger<br />

vor ihrer Regierung endgültig verschwand.<br />

Wenige Tage danach fiel die Berliner Mauer.<br />

Sagen wir es so: Im Theater ist – vom<br />

gewaltigen Blödsinn bis zur intellektuellen<br />

Emphase – alles möglich. Seine gesellschaftliche<br />

Relevanz erweist sich, wie in anderen<br />

Bereichen des öffentlichen Lebens<br />

auch, in der Qualität seiner Hervorbringungen.<br />

Wenn gelangweilte, ungebildete,<br />

überhebliche Regisseure mit schlecht gewaschenen<br />

Fingern an Texten herumfummeln,<br />

Nicht nur bei Frank Castorf ist das subventionierte Sprechtheater zur Bedürfnisanstalt<br />

verkommen: Szene aus „Kasimir und Karoline“ am Münchner Residenztheater<br />

die sie gar nicht interessieren und die sie<br />

deshalb auf ihr banales geistiges wie emotionales<br />

Niveau herunterbrechen, ist das<br />

Theater daran nicht schuld. Es kann nichts<br />

für einen künstlerischen Horizont, der sich<br />

zwischen „Sesamstraße“ und Facebook bewegt<br />

– und das nicht als Mangel empfindet,<br />

sondern sich damit „voll im Trend“ fühlt.<br />

Es kann auch nichts für Stückfassungen,<br />

die mit den Originalen kaum noch etwas<br />

zu tun haben, dafür mit Fremdtexten,<br />

Filmeinblendungen und Musiktiteln aus<br />

der gerade bevorzugten Playlist des jeweiligen<br />

Regisseurs zugeknallt sind. Oder wenn<br />

diese unsäglichen Spielvögte ihrem Ensemble<br />

nichts anderes abverlangen, als baldigst<br />

Hemd und Hose auszuziehen, mit blankem<br />

Hintern durch den Kartoffelsalat zu robben<br />

oder erst mal in irgendeine Ecke zu kotzen,<br />

per Videokamera riesig auf die Bühnenrückwand<br />

übertragen. Die Ekeldebatte<br />

über das Unwesen des „Regietheaters“ ist<br />

FOTOS: PETER KNEFFEL/PICTURE ALLIANCE/DPA/LBY, MAX LAUTENSCHLÄGER (AUTORIN)<br />

122 <strong>Cicero</strong> 4.2013


inzwischen wieder abgeflaut, aber nicht das,<br />

was sie ausgelöst hatte: dreiste Eingriffe<br />

in Stücke, Verletzungen von Sinnzusammenhängen,<br />

kalkulierte Schweinigeleien,<br />

um möglichst auffällig in die Feuilletons<br />

zu gelangen.<br />

Neben diesem rein äußerlichen Versuch<br />

von „Épater le bourgeois“ (ohne mal<br />

darüber nachzudenken, wer heute solch<br />

ein Bourgeois sein könnte, den man brüskieren<br />

will, und ob man nicht froh sein<br />

sollte, wenn er seine Eintrittskarte, sein<br />

Abonnement bezahlt) gibt es freilich die<br />

innere Auszehrung, die man höflicherweise<br />

als Blässe des Gedankens, ebenso als<br />

Dämlichkeit und Präpotenz bezeichnen<br />

könnte – wenn da nämlich Texte zerschlagen<br />

werden und das blindwütige Massaker<br />

als „Dekonstruktion“ verhübscht wird, um<br />

zu verschleiern, dass die Texte in Wahrheit<br />

einfach nicht kapiert wurden.<br />

Was in den Kunstmetropolen<br />

wie Berlin, Hamburg,<br />

München oder Wien<br />

mit viel Aufwand unter speziellen<br />

Umständen eventuell<br />

irgendwie und dank hervorragender<br />

Schauspieler durchrutschen<br />

kann, wird auf den<br />

kleineren Bühnen normalerweise<br />

zum Desaster. Eine Inszenierung<br />

„à la Frank Castorf“,<br />

„à la Armin Petras“, „à<br />

la Jürgen Gosch“ in der Provinz<br />

kann verheerend sein,<br />

denn sie senkt maßgeblich nicht nur das<br />

Niveau des regionalen Theaters, sondern<br />

verdirbt überdies die Perspektive des Publikums:<br />

Die einen bleiben weg, weil sie<br />

sich nicht für doof verkaufen lassen wollen<br />

und unterfordert fühlen, die anderen glauben,<br />

es müsste immer und alles so sein –<br />

und steigen aus, wenn sie an einem nächsten<br />

Theaterabend ein bisschen inhaltlich<br />

wie formal gefordert und vielleicht auch<br />

im vollen Ernst angesprochen werden. So<br />

treffen sich Produzenten und Rezipienten<br />

oft auf dem kleinsten gemeinsamen Niveau:<br />

Die einen führen vor, was sie sich –<br />

„Geht doch!“ – in Fernsehformaten abgeschaut<br />

haben, die anderen, die nicht mehr<br />

zu begreifen, zu beobachten, zu dechiffrieren<br />

gelernt haben, nehmen das gerne an –<br />

„Danke, Anke!“<br />

Und nachdem die Regisseure das anspruchsvolle<br />

Publikum aus dem Theater<br />

gejagt und mit ihren Eskapaden sämtliche<br />

Unbegabte<br />

Regisseure<br />

wie Christoph<br />

Schlingensief<br />

sind oder<br />

waren oft<br />

blendend im<br />

Geschäft<br />

Stücke, Figuren, Konflikte und den Respekt<br />

vor einem Text zerstört haben, rennen<br />

sie ins Kino, heulen bei einem Hollywood-<br />

Schinken, in dem es all das noch gibt – eine<br />

Geschichte, Dialoge, Figuren, dazu große<br />

Gefühle, kluge Gedanken, berührende Probleme.<br />

Ich kriege akute Hassschübe, wenn<br />

mir Theaterleute erzählen, um wie viel lieber<br />

sie Filme sehen als Theater. Kein Wunder,<br />

haben sie es doch selbst in Bausch und<br />

Bogen ruiniert!<br />

BEI INKOMPETENZ werden Politiker durchaus<br />

abgewählt, Fußballer kommen auf die<br />

Ersatzbank, aber im Theater sind unbegabte<br />

Regisseure – ich sage bloß Christoph<br />

Schlingensief! – oft blendend im Geschäft.<br />

Zu erklären ist das höchstens dadurch, dass<br />

sie mit ihren wohlkalkulierten Sujets –<br />

„Kühnen ’94 – Bring mir den Kopf von<br />

Adolf Hitler“ heißt es einmal<br />

bei Schlingensief – und mit<br />

ihrem schamlosen Bühnenbohei<br />

eine riesige Medienresonanz<br />

auslösen und so<br />

einerseits soziale Relevanz<br />

simulieren, andererseits für<br />

nicht minder mediengeile<br />

Intendanten zu Quotenbringern<br />

werden: Besser ein Verriss<br />

als nicht beachtet.<br />

Obwohl sie es gar nicht<br />

müssten, da sie ökonomisch<br />

im Prinzip unabhängig sind,<br />

tun Intendanten oft so, als<br />

hätten sie sich der viel beschworenen<br />

Quote, die uns das Fernsehen eingebrockt<br />

hat, zu unterwerfen. Warum setzen sie auf<br />

Quantität statt auf Qualität? Vielleicht,<br />

weil sie oft besser rechnen als schauen können<br />

und nackte Zahlen sich leichter rechtfertigen<br />

lassen als künstlerische Risiken<br />

und kreative Herausforderungen – für die<br />

sie indes eigentlich ihre Subventionen erhalten.<br />

Wo ist ein Intendant mit Mut zum<br />

Abenteuer, zur eigenen Meinung, zur intellektuellen<br />

Widerspenstigkeit? Wo ist einer<br />

mit einem eigenen Kopf und mit eigenen<br />

Gedanken? Ich kenne nicht alle, aber ich<br />

sehe keinen.<br />

Ja, ja, ja, ich weiß, Intendanten haben<br />

es im Allgemeinen schwer und müssen sich<br />

mit vernagelten Politikern und diversen finanziellen,<br />

innerbetrieblichen und sonstigen<br />

lästigen Hindernissen herumschlagen.<br />

Allerdings sind sie auch diejenigen, die entscheiden<br />

können – und müssen. Und die<br />

nicht a priori dazu gezwungen sind, immer<br />

das Gleiche zu veranstalten.<br />

Macht uns nicht dümmer, als ihr seid<br />

und wir sind! Lasst uns die Theater wieder<br />

als Kathedralen des Besonderen erleben!<br />

Rettet sie aus den handelsüblichen<br />

Komfortzonen! Man müsste die Quoten-<br />

Häscher von den Bühnen treiben, die Heimeligkeit<br />

aus den Foyers und die Selbstzufriedenheit<br />

aus den Sälen: Denn erst<br />

wenn wir in einer Aufführung vergessen,<br />

dass wir Hunger und Durst haben, unbequem<br />

sitzen und den letzten Bus versäumen<br />

werden, ist sie gelungen und hat uns<br />

mehr geschenkt als all die konsumorientierte<br />

Gemütlichkeit.<br />

Das Problem an der Debatte, die<br />

schlechtes Theater, dusselige Regisseure<br />

und unfähige Intendanten auslösen, ist<br />

freilich: Wenn es in einer Saison ein paar<br />

schlechte Filme gibt, zweifelt niemand an<br />

der Existenzberechtigung des Kinos. Nach<br />

einem schlechten Bücherherbst ruft niemand<br />

das Ende der Literatur aus. Ja, selbst<br />

wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft<br />

gegen Schweden 4:4 „verliert“, wird<br />

höchstens ein neuer Trainer eingefordert,<br />

aber nicht die Abschaffung des Fußballs<br />

verlangt.<br />

Als Theaterkritikerin gefragt, ob das<br />

Theater eine soziale Relevanz hat, möchte<br />

ich am liebsten freiheraus „Warum nicht?“<br />

erwidern. Sage ich jedoch Ja, müsste ich erklären,<br />

warum ich mich oft ärgere, wenn<br />

eine Aufführung zu Ende ist und wieder<br />

rundherum belanglos war. Sage ich Nein,<br />

müssten mir ein paar gute Gründe einfallen,<br />

warum das Theater trotzdem häufig<br />

so tut, als ob: Als ob es der Gesellschaft<br />

einen Spiegel vorhielte, als ob es die richtigen<br />

Fragen zu stellen wüsste, wie man<br />

gerechter, freier, schöner leben könnte, als<br />

ob es unter Umständen – die Form ist die<br />

Botschaft – sogar ein paar Antworten bereit<br />

hätte. Das Theater ist natürlich nicht<br />

trefflicher als die Gesellschaft, die es hervorbringt.<br />

Warum erwarten wir aber genau<br />

das von ihm? Ganz einfach: Weil wir<br />

es brauchen.<br />

IRENE BAZINGER<br />

ist Theaterkritikerin<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 123


Prächtig ist ihr<br />

Gewand, huldvoll<br />

ihr Blick: Auch eine<br />

Abguss-Madonna<br />

kann Charme<br />

haben, selbst wenn<br />

sie aus Gips ist<br />

124 <strong>Cicero</strong> 4.2013


K Ö L N E R M A D O N N E N S T R E I T | S A L O N |<br />

POSSE UM MARIA<br />

Das Kölner Museum Schnütgen präsentiert seit 2009 eine falsche Madonna.<br />

Nun tritt der zuständige Kulturdezernent ab, ohne für Aufklärung gesorgt zu haben<br />

V ON ROLF S CHMIDT<br />

FOTOS: REINER DIECKHOFF, HERMANN J. KNIPPERTZ/DDP IMAGES/DAPD<br />

D<br />

I E A N T WER PENER Onze-Lieve-<br />

Vrouwe-Kathedraal ist eine<br />

Schatzkammer: Neben monumentalen<br />

Gemälden des Lokalhelden<br />

Peter Paul Rubens sind<br />

eine Überfülle von Bildern, Skulpturen<br />

in Holz und Stein, Farbfenstern, Wandund<br />

Deckenmalereien, eine kostbar geschnitzte<br />

Kanzel, Beichtstühle und aufwendige<br />

Grabmäler zu bestaunen.<br />

Es ist eine Kunst, in der das Wuchtige<br />

dominiert. Doch es gibt eine stille Ausnahme.<br />

Sie steht am Rand des linken Seitenschiffs<br />

und misst vom Scheitel bis zur<br />

Sohle gerade mal 132 Zentimeter. Eine<br />

marmorne Mutter Gottes mit dem Jesuskind.<br />

Damit man sie nicht übersieht, macht<br />

draußen, im Fenster des Kirchen-Shops, ein<br />

riesiges Plakat auf die Statue aufmerksam.<br />

Die Antwerpener wissen, was sie an ihrer<br />

zarten Madonna haben. Als die japanische<br />

Stadt Kobe 1995 von einem Erdbeben<br />

heimgesucht wurde, schenkten die Bürger<br />

der Schelde-Metropole den Japanern eine<br />

Kopie „zur Erinnerung an die Opfer“.<br />

Laut Robert Didier handelt es sich<br />

um „eine der schönsten Madonnen des<br />

14. Jahrhunderts“. Die ungezwungen-elegante<br />

Gottesmutter, der ihr Söhnchen spielerisch<br />

ins Gesicht langt, hat es dem Belgier<br />

angetan. Didier ist führende Autorität für<br />

die Werke der spätmittelalterlichen „maasländischen<br />

Schule“, zu deren Höhepunkten<br />

die Liebe Frau von Antwerpen zählt.<br />

Bis heute dient sie als Vorbild für zahlreiche<br />

Kopien. Im „Atelier de Moulage“, der königlichen<br />

Abgusswerkstatt zu Brüssel, kann<br />

jedermann für 1380 Euro eine Nachfertigung<br />

erwerben. Noch in jüngster Zeit haben<br />

sich zwei Liebhaber aus Deutschland<br />

in Brüssel Repliken gießen lassen.<br />

Abgesehen von den modernen Abgüssen<br />

kennt der Kunsthistoriker Didier eine<br />

Reihe Duplikate, die entstanden sind, nachdem<br />

die Antwerpener Schönheit 1864 auf<br />

einer Ausstellung in Mechelen Furore gemacht<br />

hatte. Nachbildungen stehen unter<br />

anderem im neugotischen Schloss Loppem<br />

bei Brügge, im südbelgischen Trappistenkloster<br />

Orval, in der Brüsseler Vorort-Kirche<br />

St. Paul, im Hôtel Adornes in Brügge,<br />

in Sankt Petersburg und Paris. Und im Kölner<br />

Schnütgen-Museum – das freilich die<br />

Abstammung seiner Marienkopie nicht<br />

wahrhaben will. Denn das Haus, das sich<br />

einer der kostbarsten Sammlungen mittelalterlicher<br />

Kunst rühmt, hat ein Vielfaches<br />

dessen gezahlt, was die Brüsseler Moulage-<br />

Werkstatt verlangt. Im Dezember 2008 ersteigerte<br />

Schnütgen beim Münchner Auktionshaus<br />

Hampel eine Nachbildung der<br />

Antwerpener Maria für 100 000 Euro plus<br />

26 000 Euro Aufgeld inklusive Mehrwertsteuer.<br />

Für eine „bedeutende französische<br />

Steinmadonna des 14./15. Jahrhunderts“<br />

(Auktionskatalog) war das ein Schnäppchen.<br />

Für ein neuzeitliches Doppel war es<br />

abenteuerlich.<br />

Dass die Kölner eine Kopie eingekauft<br />

haben, steht nicht nur für Didier außer<br />

Zweifel. Der Doyen der deutschen Madonnen-Forschung,<br />

der Berliner Robert<br />

Suckale, hat die Hampel-Figur in Augenschein<br />

genommen. Er ist sich sicher: „Es<br />

Ende Mai endet die achtjährige Amtszeit des<br />

Kölner Kulturdezernenten Georg Quander.<br />

Der ehemalige Opernintendant hält den<br />

teuren Ankauf für echt. Ein Kolloquium<br />

zur Klärung der strittigen Frage wurde<br />

angekündigt, fand aber nicht statt<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 125


| S A L O N | K Ö L N E R M A D O N N E N S T R E I T<br />

handelt sich um einen der Abgüsse, die<br />

man nach 1864 nach der Antwerpener<br />

Marmormadonna gegossen hat. Sie war<br />

nicht als Fälschung geplant, dazu ist sie<br />

erst durch den Handel geworden.“ Zwar<br />

hatten die mittelalterlichen Produzenten<br />

von Sakralkunst keine Bedenken, beliebte<br />

Heiligenfiguren oder -bilder zu serialisieren.<br />

Doch das Resultat war jeweils eine Ähnlichkeit;<br />

keine „dreidimensionale Fotokopie“.<br />

Verwechslung oder gar Fälschung waren<br />

nicht beabsichtigt.<br />

„Bei den monumentalen Skulpturen<br />

dieser Epoche sind keine zwei identischen<br />

Exemplare bekannt“, sagt Suckale.<br />

Auch der Kölner Kunsthistoriker und<br />

frühere Schnütgen-Mitarbeiter Reiner<br />

Dieckhoff, Verfasser eines Buches über<br />

„Kölner Madonnen“, schreibt: „Übereinstimmung<br />

(…) heißt nicht Kopie. Es gibt<br />

in dieser Zeit keine Statue, die bis ins Detail<br />

eine andere kopiert – immer springen<br />

Unterschiede ins Auge.“ Anschaffung und<br />

Aufstellung der Statue im Schnütgen-Museum<br />

seien daher „ein fortwährender Skandal.<br />

Da sind 130 000 Euro Steuergelder<br />

verbraten worden.“<br />

Trotzdem haben das Schnütgen-Museum<br />

und das Kulturdezernat der Stadt<br />

keinen Versuch unternommen, den Deal<br />

rückgängig zu machen. Gestützt auf Materialgutachten,<br />

beharrt man auf der Echtheit<br />

der kölschen Marie – bis hin zu Spekulationen,<br />

sie sei älter als die Antwerpener<br />

Madonna, ja womöglich deren Vorlage.<br />

Wer beide Exemplare gesehen hat – die<br />

fein konturierte Antwerpener Marmor-<br />

Dame und ihr grobes Kölner Gegenstück<br />

–, wird das ausschließen.<br />

DIE ZWEIFEL an der Hampel-Madonna<br />

waren schon vor der Versteigerung aufgetaucht.<br />

Didier machte das Auktionshaus<br />

auf die Antwerpener Skulptur aufmerksam.<br />

Ohne Resonanz. Dieckhoff übermittelte<br />

die Vorbehalte – nach dem Ankauf,<br />

aber vor Ablauf der Rücktrittsfrist – vertraulich<br />

dem Kölner Kulturdezernenten<br />

Georg Quander. Auch das führte zu nichts.<br />

Stolz lud die Stadt im Mai 2009 zum Pressetermin<br />

ein und kündigte die Madonna<br />

mit der unverändert falschen Zuschreibung<br />

à la Hampel an, als „bedeutende französische<br />

Madonna aus feinem Kalksandstein“.<br />

Didier intervenierte nun bei der Schnütgen-Direktorin<br />

Hiltrud Westermann-<br />

Angerhausen, monierte die fehlerhafte<br />

Der Kenner sieht es: Die Antwerpener<br />

Madonna hat eine bis zum Boden<br />

reichende, intakte Faltenpartie<br />

Ein aktueller Abguss hingegen erfasst<br />

wesentliche Details des gefälteten Saumrands<br />

nicht und wirkt dadurch gröber<br />

Die Madonna im Museum Schnütgen<br />

wiederum weist dieselbe Vergröberung auf wie<br />

der Abguss und hat einen zusätzlichen Sockel<br />

Zuschreibung, verwies auf die zahlreichen<br />

Kopien der Antwerpener Madonna. Die<br />

Hampel-Maria sei vor der Münchener Auktion<br />

bereits in London und Paris angeboten,<br />

mangels nachweisbarer Echtheit aber nicht<br />

an den Mann gebracht worden. Schließlich<br />

erinnert Didier daran, dass Schnütgen selbst<br />

1972 eine große Ausstellung „Rhein – Maas“<br />

ausgerichtet habe, auf der die Antwerpener<br />

Skulptur zu sehen war. „Ich finde es ganz<br />

merkwürdig, dass die Schnütgen-Leute ihre<br />

eigenen Kataloge nicht angeschaut haben“,<br />

sagt der alte Herr heute. „Ich habe zu Frau<br />

Westermann-Angerhausen gesagt: Ihr habt<br />

doch das Original selbst ausgestellt!“<br />

Die Lokalpresse berichtet über den<br />

Verdacht. Das Museum bleibt ungerührt:<br />

Natürlich kenne man die Antwerpener<br />

Madonna. Materialanalysen hätten aber<br />

ergeben, dass die Figur aus natürlichem<br />

Stein geschlagen sei und nicht abgegossen.<br />

Die Kritik sei entkräftet. In einem<br />

Schreiben an die Grünen-Stadträtin Barbara<br />

Moritz mokiert sich Kulturdezernent<br />

Georg Quander im September 2009 über<br />

„unhaltbare Fälschungsbehauptungen“ und<br />

verfügt ein Ende der Debatte: „Wir können<br />

und wollen auch angesichts der bevorstehenden<br />

wichtigen Aufgaben unsere<br />

Zeit nicht weiter mit einer solchen Auseinandersetzung<br />

vergeuden.“<br />

Als der FAZ-Journalist Andreas Rossmann<br />

im Juni 2011 ausführlich über die<br />

„falsche Marie von Köln“ berichtet, schrecken<br />

die Verantwortlichen noch einmal<br />

hoch. Binnen Jahresfrist werde man ein<br />

wissenschaftliches Kolloquium abhalten,<br />

das letzte Klarheit schaffen werde. Auf<br />

dieses Großreinemachen wartete die Öffentlichkeit<br />

vergebens. Im vergangenen<br />

September teilte Georg Quander auf eine<br />

FDP-Anfrage mit, „das Verhältnis der Kölner<br />

Figur zu einer Reihe ähnlicher Madonnen“<br />

bleibe „interessant“, doch könne das<br />

Museum „2012 leider kein Kolloquium zu<br />

dieser Spezialfrage ausrichten“.<br />

Die Vorgeschichte der Kölner Madonna<br />

liegt im Dunkeln. Zwar hat Georg<br />

Quander versichert, in den städtischen<br />

Museen werde „zur Kontrolle der Echtheit<br />

von Kunstobjekten (...) die Provenienz des<br />

jeweiligen Werkes als wichtiger Faktor einbezogen“.<br />

Bis heute hat Schnütgen aber lediglich<br />

mitgeteilt, die Skulptur habe sich<br />

„mehr als 40 Jahre in europäischem Privatbesitz“<br />

befunden – für die Frage nach der<br />

Echtheit eine Null-Information. Das Haus<br />

Hampel mag sich unter Hinweis auf den<br />

Datenschutz nicht dazu äußern, in wessen<br />

Auftrag es die Statue seinerzeit versteigerte.<br />

DIE AUSSAGEKRAFT der Analysen, auf die<br />

sich das Museum stützt, ist begrenzt. Zwar<br />

kommen die Expertisen – teils an der Kölner<br />

Fachhochschule, teils in New York erstellt<br />

– anhand von Materialproben aus<br />

dem Sockel in der Tat zum Schluss, dass die<br />

Kölner Maria aus Naturstein bestehe. Indes<br />

könne man weder die Entstehungszeit<br />

FOTOS: RHEINISCHES BILDARCHIV, REINER DIECKHOFF, KATALOG HAMPEL<br />

126 <strong>Cicero</strong> 4.2013


FOTO: PRIVAT (AUTOR)<br />

Eine Replik der<br />

„Lieben Frau<br />

von Antwerpen“<br />

kostet 1380 Euro.<br />

Die Kölner<br />

zahlten fast das<br />

Hundertfache<br />

und beharren<br />

auf der<br />

Echtheit – trotz<br />

aller Zweifel<br />

noch den Herkunftsort angeben. Die Altersbestimmung<br />

sei „technisch leider nicht<br />

möglich“, erklärt das Museum. „Eine Herstellung<br />

der Kölner Madonna muss prinzipiell<br />

ebenso gut zeitgleich wie später oder<br />

eben auch früher anzunehmen sein als die<br />

Antwerpener Figur.“<br />

Didier ist wenig beeindruckt: „Die<br />

Stein analysen sind verwirrend – Qualm in<br />

wissenschaftlicher Form.“ Außerdem heiße<br />

„Naturstein“ noch lange nicht „echt“. Kopien<br />

lassen sich nicht nur per Abguss aus<br />

Gips oder – mitunter schwer nachweisbarem<br />

– Kunststein herstellen, sondern auch<br />

mit dem sogenannten Punktierverfahren<br />

aus Naturstein. So entstehen etwa von Michelangelos<br />

David immer wieder Repliken<br />

aus demselben Material wie das Original:<br />

Carrara-Marmor. Nach Ansicht von Robert<br />

Didier wäre die Kölner Figur dann<br />

noch nicht einmal eine direkte Kopie der<br />

Antwerpener Madonna, sondern abhängig<br />

von einem der Brüsseler Abgüsse.<br />

Die kunsthistorische Evidenz ist eindeutig.<br />

Da ist beispielsweise der „Knubbel“<br />

unter dem rechten Fuß der Kölner<br />

Muttergottes. Sie steht auf einem unförmigen<br />

Materialklumpen, in den Kerben<br />

geritzt wurden, offenbar ein Versuch, eine<br />

Problemstelle der Gussform zu kaschieren.<br />

In Antwerpen steht die Gottesmutter<br />

auf einer fein gefältelten Gewandschlaufe,<br />

die zu ihrer vornehmen Erscheinung passt.<br />

Die Form in der Brüsseler Abgusswerkstatt<br />

weist hingegen an dieser Stelle ebenfalls<br />

eine Vereinfachung auf.<br />

Die echte Antwerpener Madonna hält<br />

in der rechten Hand einen Stiel mit einer<br />

Öffnung, die mit einer Masse verfüllt<br />

ist. Dort wurde ursprünglich eine Blume<br />

aus Metall oder Holz hineingesteckt. An<br />

der Hampel-Madonna ist der Stengel-Abschluss<br />

völlig verschliffen. Wie die vormalige<br />

Schnütgen-Direktorin Westermann-<br />

Angerhausen zutreffend feststellte: „Ein<br />

Abguss verrät sich immer.“ Das zielte auf<br />

Gussnähte ab – die sich freilich vollständig<br />

entfernen lassen. Aber so genau wollten<br />

die Kölner es gar nicht wissen. Wie sich<br />

ihre Maria zu den Gussformen der Brüsseler<br />

Moulage-Werkstatt verhält, scheint den<br />

Schnütgen-Kunsthistorikern keine Recherche<br />

vor Ort wert gewesen zu sein. Die Mitarbeiter<br />

des Atélier de Moulage können<br />

sich nicht an Besuch aus Köln erinnern.<br />

So treibt die peinliche Geschichte<br />

nicht auf die versprochene große Aufklärung<br />

zu, sondern auf ein Verdämmern<br />

durch abnehmende öffentliche Aufmerksamkeit.<br />

Westermann-Angerhausen hat das<br />

Schnütgen-Museum unterdessen verlassen,<br />

ebenso wie ihre seinerzeit federführenden<br />

wissenschaftlichen Mitarbeiter Dagmar<br />

Täube und Niklas Gliesmann. Der neue<br />

Schnütgen-Direktor Moritz Woelk kennt<br />

sich mit Fälschungen aus: Am Hessischen<br />

Landesmuseum in Darmstadt gelang ihm<br />

der Nachweis, dass eine vermeintlich aus<br />

dem 14. Jahrhundert stammende Skulptur<br />

in Wahrheit ein halbes Jahrtausend später<br />

aus Zement hergestellt worden war. Hinsichtlich<br />

der falschen Marie will er indes<br />

nichts weiter unternehmen.<br />

Georg Quanders Amtszeit endet im<br />

Mai. Dann droht aus dem Fehlgriff endgültig<br />

ein Dauerzustand zu werden. „So<br />

weit darf es nicht kommen“, sagt der Kölner<br />

Kunsthistoriker und Fälschungsexperte<br />

Hans Ost. Um Schaden von der Stadt abzuwenden,<br />

dürfe Quander nichts unversucht<br />

lassen, die fatale Anschaffung rückgängig<br />

zu machen.<br />

ROLF S CHMIDT<br />

ist Autor aus Köln. Er beschäftigt<br />

sich seit mehr als zwei Jahrzehnten<br />

unter anderem mit belgischen<br />

Themen<br />

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Scheitert Europa<br />

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<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur, im Gespräch<br />

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Daniel<br />

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4.2013 <strong>Cicero</strong> 127


| S A L O N | 1 9 3 3 – U N T E R W E G S I N D I E D I K T A T U R<br />

WEHRLOS,<br />

ABER NICHT EHRLOS<br />

Vor 80 Jahren besiegelte das Ermächtigungsgesetz das Ende der Weimarer Republik.<br />

Allein die SPD hatte versucht, sich dagegenzustemmen. Dritte Folge einer Serie<br />

V ON P HILIPP B LOM<br />

A<br />

LS OTTO WELS sich am 23. März<br />

1933 in der Berliner Kroll-<br />

Oper erhob, um eine Rede zu<br />

halten, wurde er zum letzten<br />

Helden der sterbenden Weimarer<br />

Republik. Nach dem Reichstagsbrand<br />

war die Kroll-Oper zum provisorischen<br />

Parlament umfunktioniert worden, und<br />

hier fand die Debatte über das Ermächtigungsgesetz<br />

statt. Vielleicht ist „Debatte“<br />

das falsche Wort. Denn viele Kommunisten<br />

waren der Verhaftungswelle nach dem<br />

Reichstagsbrand zum Opfer gefallen, und<br />

so blieben die Bänke der KPD leer. Außer<br />

der SPD hatte keine der anwesenden Parteien<br />

die Absicht, gegen das Gesetz zu stimmen.<br />

Der ehemalige Tapezierergeselle und<br />

spätere Fraktionsvorsitzende Wels war der<br />

Einzige, der es angesichts der im Saal postierten<br />

bewaffneten SA-Männer wagte, gegen<br />

das Gesetz zu sprechen.<br />

Das Protokoll der Sitzung verzeichnet<br />

jeden Zwischenruf und jeden Lacher<br />

(aus den Reihen der NSDAP) während<br />

der Rede, der wichtigsten in Wels’ Leben.<br />

Da er das Gesetz nicht verhindern konnte,<br />

blieb ihm nichts anderes übrig, als den ehemaligen<br />

SPD-Reichskanzler Gustav Bauer<br />

zu zitieren, der 1919 bei der Debatte um<br />

die Unterzeichnung des Vertrags von Versailles<br />

im Reichstag gerufen hatte: „Wir<br />

sind wehrlos, wehrlos ist aber nicht ehrlos.<br />

Gewiss, die Gegner wollen uns an die<br />

Ehre, daran ist kein Zweifel, aber dass dieser<br />

Versuch der Ehrabschneidung einmal<br />

auf die Urheber selbst zurückfallen wird,<br />

1933<br />

Als Deutschland die<br />

Demokratie verlor<br />

dass es nicht unsere Ehre ist, die bei dieser<br />

Welttragödie zugrunde geht, das ist mein<br />

Glaube, bis zum letzten Atemzug.“<br />

Damals hatte das besiegte und gedemütigte<br />

Deutsche Reich seine Alleinschuld<br />

am Krieg unterschreiben müssen.<br />

Bauer aber spielte auch auf die Dolchstoßlegende<br />

an, die Behauptung der rechten<br />

Parteien, die damalige SPD-Regierung<br />

wäre der siegreichen deutschen Armee<br />

durch ein Friedensangebot<br />

Anno<br />

an die Alliierten in den Rücken<br />

gefallen und habe das<br />

Vaterland verraten. Eine Legende,<br />

die wie keine andere<br />

das demokratische Klima<br />

der Weimarer Republik vergiftet<br />

hatte.<br />

Jetzt musste die SPD zusehen,<br />

wie dem Parlament die letzten demokratischen<br />

Befugnisse aus der Hand genommen<br />

wurden. Der Protest war rein symbolisch,<br />

aber nicht weniger wichtig. Wehrlos,<br />

aber nicht ehrlos.<br />

Das „Gesetz zur Behebung der Not<br />

von Volk und Reich“ vom 24. März 1933<br />

war nicht das erste Ermächtigungsgesetz<br />

der Weimarer Republik, aber es sollte ihr<br />

letztes sein. Elf frühere Ermächtigungsgesetze<br />

hatten der Regierung zwischen 1914<br />

und 1927 mehr oder weniger verfassungskonform<br />

zusätzliche Vollmachten und<br />

Handlungsfreiheit gegeben. 1933 hatte<br />

die NSDAP mit 288 Sitzen und in Abwesenheit<br />

der KPD, deren Abgeordnete verhaftet<br />

oder untergetaucht waren, ohnehin<br />

eine absolute Mehrheit im Reichstag und<br />

brauchte keine Notverordnungen, um regieren<br />

zu können. Das Gesetz war aber der<br />

entscheidende Schritt, um die Demokratie<br />

endgültig auszuhebeln. Es erlaubte der<br />

Regierung Hitler, direkt und ohne Konsultation<br />

des Parlaments Gesetze zu verabschieden<br />

und internationale Abkommen<br />

zu treffen. Der Reichstag wurde zur<br />

Propaganda kulisse für Brandreden<br />

gegen die postulierten Feinde<br />

von Volk und Vaterland.<br />

Otto Wels, ein eher<br />

schmächtiger Mann mit hoher<br />

Stirn und intensiven Augen,<br />

sprach nicht besonders<br />

mitreißend an diesem Tag. Er<br />

war kein großer Redner, und seine<br />

Rhetorik und seine Stimme, die in<br />

historischen Aufnahmen noch immer zu<br />

hören ist, wirken bemüht und manchmal<br />

bühnenhaft überzogen – die Worte eines<br />

redlichen Mannes, nicht eines großen Demagogen.<br />

Wels verteidigt seine Partei etwas<br />

bemüht und folgt ganz der offiziellen Linie.<br />

Er hat hörbar Angst. Nur einmal hebt<br />

sich seine Stimme, aus gegebenem Anlass,<br />

zu echter emotionaler Intensität: „Freiheit<br />

und Leben kann man uns nehmen,<br />

die Ehre nicht!“, sagt er. Die Bedrohung ist<br />

für ihn sehr konkret. Anfangs herrscht fast<br />

völlige Stille im Saal, dann kommt zögerlich<br />

sozialdemokratischer Applaus, dann,<br />

langsam, überwiegt das Lachen der Nationalsozialisten.<br />

Am Ende der Rede bricht<br />

ein Tumult aus.<br />

128 <strong>Cicero</strong> 4.2013


Nur einer erhob seine Stimme gegen Hitler: Otto Wels’ Rede gegen das Ermächtigungsgesetz wurde zum Schwanengesang der<br />

deutschen Demokratie. Nur wenige Monate später flüchtete der SPD-Abgeordnete ins französisch besetzte Saarland<br />

FOTOS: KEYSTONE, PETER RIGAUD (AUTOR); GRAFIK: CICERO<br />

Dann kommt Adolf Hitler. Hitler, der<br />

große Redner, siegesgewiss und erregt. Er<br />

beginnt leise und langsam, greift die SPD<br />

an und steigert sich dann in eine hysterische<br />

Wut hinein, die von seinen Abgeordneten<br />

und den SA-Männern enthusiastisch<br />

beklatscht wird. Er klagt an, brüllt, skandiert<br />

und wird von aufbrausendem Applaus<br />

und gellenden Bravorufen begleitet.<br />

Es ist eine große Darbietung. Am Ende stehen<br />

nur noch Ausrufe und kaum verschleierte<br />

Drohungen.<br />

„Sie, meine Herren, sind nicht mehr benötigt!“,<br />

ruft der Reichskanzler den sozialdemokratischen<br />

Abgeordneten zu. Und:<br />

„Sie meinen, dass Ihr Stern wieder aufgehen<br />

könnte! Meine Herren, der Stern Deutschland<br />

wird aufgehen und Ihrer wird sinken.“<br />

Zum Abschluss seiner wütenden Tirade erteilt<br />

Hitler Wels und dessen Parteifreunden,<br />

die gegen das Ermächtigungsgesetz stimmen<br />

wollen, eine letzte Abfuhr: „Ich will auch gar<br />

nicht, dass Sie dafür stimmen! Deutschland<br />

soll frei werden, aber nicht durch Sie!“<br />

Hitlers Triumph war vollkommen. Mit<br />

dem mit großer Mehrheit angenommenen<br />

Gesetz hatte er sich nicht nur die ganze<br />

Macht im Staat gesichert, sondern auch<br />

den Anschein der Legalität gewahrt. Das<br />

war wichtig, denn er brauchte die deutsche<br />

Beamtenschaft, um regieren zu können.<br />

Und viele konservative Beamte hätten einem<br />

Regime ohne gesetzliche Grundlange<br />

wohl nur widerwillig gedient.<br />

Für Otto Wels bedeutete seine mutige<br />

Stellungnahme das Ende seiner parlamentarischen<br />

Karriere. Im Mai 1933 flüchtete<br />

er ins französisch besetzte Saarland, um der<br />

Verhaftung zu entgehen, im August wurde<br />

ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt.<br />

Vom Podium aus hatte er sich dagegen<br />

gewandt, politische Gegner als vogelfrei<br />

zu behandeln. Jetzt war er es selbst. Er<br />

arbeitete weiterhin aus dem Exil für seine<br />

Partei, zuerst in Prag, dann, nach 1938, in<br />

Paris. Dort starb er im Jahr darauf, im Alter<br />

von 66 Jahren. Deutschland hat er nicht<br />

wiedergesehen.<br />

Die zögerliche Rede, die Wels am<br />

23. März 1933 in der Kroll-Oper gehalten<br />

hatte, wurde zum Schwanengesang der<br />

deutschen Demokratie. Der Schauplatz<br />

der letzten parlamentarischen Konfrontation<br />

wurde während des Krieges durch<br />

Bomben und Straßenkämpfe schwer beschädigt.<br />

In der Nachkriegszeit wurden<br />

im Garten neben der Ruine Tanztees und<br />

populäre Konzerte veranstaltet. 1957 riss<br />

man das Gebäude ganz ab. Heute ist an<br />

seiner Stelle eine Rasenfläche vor dem<br />

Bundeskanzleramt.<br />

Wir werden den Weg in die Diktatur von<br />

1933 weiterhin nachzeichnen. In der nächsten<br />

Ausgabe wenden wir uns der Bücherverbrennung<br />

zu.<br />

P HILIPP B LOM ist Historiker<br />

und Autor. Seine Bücher „Der<br />

taumelnde Kontinent“ und<br />

„Böse Philosophen“ wurden<br />

mehrfach ausgezeichnet<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 129


| S A L O N | B I B L I O T H E K S P O R T R Ä T<br />

ZWISCHEN WEST<br />

UND OST UND JAZZ<br />

130 <strong>Cicero</strong> 4.2013


FOTO: CHRISTOPH MICHAELIS FÜR CICERO<br />

Bücher, die Hans-Olaf Henkel wichtig<br />

sind, atmen den Geist ferner Länder und<br />

der Freiheit: Besuch in einem Zuhause,<br />

aus dem alles Enge verbannt ist<br />

VON ALEXANDER KISSLER<br />

Chinesische Kunst<br />

hat es Hans-Olaf<br />

Henkel angetan.<br />

Mehrfach besuchte<br />

er schon den<br />

Künstler Ai Weiwei<br />

E<br />

R MAG KEINE ROMANE. Ein Bücherwurm war er nie. Nichts<br />

findet er alberner als Menschen, die sich in ihrer Bibliothek<br />

fotografieren lassen: Das sind die Voraussetzungen<br />

für ein Bibliotheksporträt mit Hans-Olaf Henkel.<br />

Der Gastgeber teilt sie dem Gast gleich zu Beginn mit.<br />

Müssen wir es demnach ein Wunder nennen oder zumindest<br />

einen offensiv eingestandenen Selbstwiderspruch, dass der langjährige<br />

Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie<br />

in ein Gespräch über Bücher einwilligt? Dass er die Tür zu seiner<br />

zweigeschossigen Wohnung über den Dächern von Berlin öffnet,<br />

um sich vor einer Bücherwand ablichten zu lassen, ausgerechnet<br />

einer Bücherwand? Dem oberflächlichen Betrachter könnte noch<br />

manch andere Zutat zur öffentlichen Person Henkel als Widerspruch<br />

erscheinen. Wie passt die Mitgliedschaft bei Amnesty International<br />

zusammen mit dem Image des Marktradikalen? Woher<br />

kommt die Leidenschaft für Jazz in einem Leben, das sich ganz<br />

der Rendite verschrieben zu haben scheint?<br />

Über den Dächern von Berlin hält eine Mao-Jacke Wacht.<br />

Sie ist aus Stein, kein Körper steckt in ihr, wohl aber teilt sie gebieterisch<br />

die Terrasse in einen vorderen, zu den Wohnräumen<br />

weisenden, und einen hinteren, zum Gästetrakt führenden Bereich.<br />

Asiatisch mutet auch die kühle Eleganz in den Zimmern<br />

an, die vollendete Aufgeräumtheit. Kein Barock ist hier, kaum<br />

Abendland. Helle Farben dominieren, unterbrochen von dunkel<br />

lackierten Hölzern. Chinesische Kunst interessiert Henkel.<br />

Ganze Regale füllen die entsprechenden Bildbände. Vor ihnen<br />

gibt er der Kamera gerne, was sie begehrt, das Bild eines Menschen<br />

mit Büchern.<br />

Spät brach diese Liebe aus. Vor rund acht Jahren saß Henkel<br />

zu Tisch bei einem befreundeten Schweizer Unternehmer, einem<br />

Sammler chinesischer Kunst. „Für mich“, sagt er, „war das eine<br />

gewisse Erleuchtung.“ Sein Nebenmann damals hieß Ai Weiwei.<br />

Es wurde der Beginn eines ganz neuen Blicks auf Hans-Olaf Henkels<br />

Lebensthema, die Freiheit.<br />

Im April 2011 zählte er zu den Initiatoren des „Berliner Appells“<br />

unter dem Motto: „Lasst Ai Weiwei frei!“ Gemeinsam mit<br />

Leuten von Amnesty International demonstrierte er vor dem Brandenburger<br />

Tor. Das Ziel wurde erreicht. Die chinesische Regierung<br />

entließ den regimekritischen Künstler aus dem Gefängnis. Angela<br />

Merkel hatte sich das Anliegen zu eigen gemacht. Die Kanzlerin,<br />

sagt Henkel, „trägt die Menschenrechte im Herzen und nicht nur,<br />

wie die Grünen, auf der Zunge.“ Sollte Ai Weiwei weiterhin untersagt<br />

bleiben, seine Gastdozentur an der Berliner Akademie der<br />

Künste wahrzunehmen, würde sich Henkel an einer weiteren Initiative<br />

zugunsten des Verfolgten beteiligen.<br />

Was in Bildbände mündete, begann als Bildergeschichte: Henkels<br />

Suche nach Freiheit. Dem Hamburger Knaben, dessen Vater<br />

im Krieg gefallen war, erschlossen einst Micky Maus und Donald<br />

Duck fremde Welten, dann waren es die Cowboy erzählungen<br />

um Tom Prox oder Billy Jenkins – Groschenhefte, „Schmutz und<br />

Schund“, sagte die kunstbeflissene Mutter, in deren Wohnung<br />

Händel erklang, immer Händel, Freudenklänge des Barock. Vor ihnen<br />

büxte er aus in die wilden Weiten des Jazz. Die ältere Schwester<br />

führte den 14-Jährigen heran. Weil im Kreise der Jazzfreunde<br />

fast nur Abiturienten sich befanden, während er, der insgesamt elf<br />

Schulwechsel über sich ergehen lassen musste, mit Mittlerer Reife<br />

abschloss, las er einmal doch einen klassischen Roman. Robert<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 131


| S A L O N | B I B L I O T H E K S P O R T R Ä T<br />

Eine Kostbarkeit, nicht nur des Alters wegen: In der Rede, die Thomas Mann 1939 in Stockholm halten sollte, fand Hans-Olaf Henkel eine<br />

klare Darlegung, warum Freiheit und Gleichheit einander widersprechen. In China ereignet sich derzeit die traurige Probe aufs Exempel<br />

Musils „Mann ohne Eigenschaften“ bezwang er ganz. „Ja, wir waren<br />

damals eine anspruchsvolle Gesellschaft, und ich wollte natürlich<br />

mithalten.“<br />

Heute steuert Hans-Olaf Henkel eine Jazz-Kolumne zum libertären<br />

Monatsmagazin Eigentümlich frei bei, während seine Radiosendung<br />

mit einschlägiger Musik noch immer im Internet wiederholt<br />

wird. Ein Buch über Jazz ist die aktuelle Lieblingslektüre.<br />

Wie einst auf den Rücken imaginärer Pferde gibt auch im Ozean<br />

der improvisierten Töne die Freiheit den Horizont ab. Jenseits von<br />

Deutschland, lernen wir, muss es besser um diese bestellt sein. Das<br />

Jazz-Buch stammt von Tad Hershorn und erzählt die Geschichte<br />

des Impresarios Norman Granz, der nicht nur Ella Fitzgeralds persönlicher<br />

Manager war. Granz stellte auch jene Gruppe zusammen,<br />

die der 16-jährige Hans-Olaf Henkel 1956 bei seinem ersten<br />

Jazz-Konzert erlebte, in der Hamburger Ernst-Merck-Halle,<br />

mit Ray Brown, Herb Ellis, Illinois Jacquet, Ella Fitzgerald. Und<br />

Granz war auch, erfuhr Henkel durch „The Man Who Used Jazz<br />

For Justice“, „einer der großen Vorbereiter der Rassenintegration<br />

in der amerikanischen Musik“.<br />

HIN ZU UNBEKANNTEN GESTADEN WEIST ein weiteres Lieblingsbuch,<br />

„1000 Places to See Before You Die“ von Patricia Schultz. „Etwa<br />

200 davon, schätze ich, habe ich schon gesehen.“ Reisen zählen<br />

zur Hauptbeschäftigung eines jeden BDI-Präsidenten, erst recht<br />

eines vielgefragten Buchautors. Als Henkel das Buch durchblättert,<br />

deuten große Markierungen mit Bleistift auf die jeweilige<br />

Visite: Costa Smeralda und die Insel La Digue, Seychellen, dann<br />

Singapur mit den legendären Garküchen und dem ebenso legendären<br />

Singapore Sling im „Raffles Hotel“, wo der Cocktail erfunden<br />

wurde. „Na ja“, bricht er die erinnernde Lektüre ab, „alle<br />

1000 Orte schaffe ich bestimmt nicht.“<br />

„Die Macht der Freiheit“ sind die Lebenserinnerungen überschrieben.<br />

Eine antiquarische Kostbarkeit lieferte das theoretische<br />

Grundgerüst. Hans-Olaf Henkel greift in sachlicher Andacht nach<br />

diesen Seiten. „Ich habe nirgends so klar und schön und knapp<br />

den Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit erklärt bekommen<br />

wie in diesem Buch. Hierzulande darf man ja kaum noch sagen,<br />

dass Freiheit und Gleichheit Gegensätze sind.“ Er richtet den<br />

Blick auf ein Bändchen mit dem Titel „Das Problem der Freiheit“<br />

von Thomas Mann, erschienen 1939 in Stockholm.<br />

Die Rede, die Thomas Mann aufgrund des Ausbruchs des<br />

Weltkriegs nicht halten konnte, enthält einen für Henkel zentralen<br />

Satz: „Der Gegensatz von Demokratie und Sozialismus ist der<br />

von Freiheit und Gleichheit.“ Zufrieden blickt er auf vom leicht<br />

vergilbten Papier. Was Thomas Mann wusste, erklärt er, gerate in<br />

Vergessenheit. „Sie finden heute kaum einen Diskurs über Freiheit<br />

oder Gleichheit. Wir reden nur von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit.<br />

Dabei hat schon Friedrich August von Hayek darauf hingewiesen,<br />

dass soziale Gerechtigkeit eine Tautologie ist. Gerechtigkeit<br />

kann nur in Gemeinschaft zur Frage werden, sie ist immer<br />

ein soziales Phänomen.“ Ergo sieht Henkel hier wieder jene „Gutmenschen“<br />

am Werk, die „soziale Gerechtigkeit“ sagen und eine<br />

unmenschliche Gleichheit meinen. Auf Kuba, sagt er, sah er mit<br />

eigenen Augen die „Gleichheit der Misere“. Seine Unterstützung<br />

für die Euro-kritische Partei „Alternative für Deutschland“ verdankt<br />

sich wohl auch dem Impuls, die Freiheitsrechte des Individuums<br />

ins Politische zu übersetzen.<br />

Thomas Mann schrieb ferner: „Es ist die Forderung und das<br />

Statut der Menschenrechte (…), worin beide Prinzipien, das individualistische<br />

und das soziale, Freiheit und Gleichheit sich vereinigen<br />

und einander wechselseitig rechtfertigen.“<br />

Hans-Olaf Henkel greift zum kleinsten der Bücher, die er<br />

für den Gast ausgebreitet hat. „Mit diesem Buch“, sagt er mit allem<br />

Pathos, dessen ein Hanseate fähig ist, „mit diesem Buch in<br />

der Hand muss man durch Russland genauso laufen wie durch<br />

den Iran, durch China und durch Saudi-Arabien.“ Das fragliche<br />

Buch, ein Büchlein, steht dem Gast sehr nah vor Augen. Es enthält<br />

die Welt, wie sie sein müsste, damit sie ein guter Ort wäre.<br />

Es ist ein utopisches Büchlein. Es ist die „Allgemeine Erklärung<br />

der Menschenrechte“.<br />

A LEXANDER KISSLER<br />

leitet den Salon. Von ihm erschien soeben: „Papst<br />

im Widerspruch. Benedikt XVI. und seine<br />

Kirche 2005-2013“ (Pattloch-Verlag)<br />

FOTOS: CHRISTOPH MICHAELIS FÜR CICERO, ANDREJ DALLMANN (AUTOR)<br />

132 <strong>Cicero</strong> 4.2013


WELT.DE/DIGITAL<br />

Die Welt gehört denen,<br />

die mutig genug sind,<br />

sie zu verändern.


| S A L O N | D A S S C H W A R Z E S I N D D I E B U C H S T A B E N<br />

Diese geilen Außenklos!<br />

Drei Autoren versuchen sich an Berlin. Einer erzählt die wahre<br />

Geschichte. Einer kriecht ganz hinein. Und einer lässt es in Ruhe<br />

D IE B ÜCHERKOLU MNE V ON ROBIN D E TJE<br />

B<br />

ERLIN WEINT, und David Bowie<br />

ist schuld. Er hat eine neue<br />

CD veröffentlicht (David Bowie:<br />

„The Next Day“; CD, Sony Music 2013, 17-<br />

22 Euro), ein schönes ruhiges Alterswerk.<br />

In einer sogenannten Vorauskopplung war<br />

der Song „Where are we now“ zu hören, in<br />

dem Bowie sich mit viel Gefühl an seine<br />

Zeit im Westberlin der achtziger Jahre erinnert.<br />

Da kamen ganz Berlin vor Rührung<br />

die Tränen. Er liebt uns noch! Wir<br />

sind wieder wer! Oder waren mal wer – wenigstens<br />

das.<br />

Berlin ist eine offene Wunde. Die ewige<br />

Frontstadt leidet. Mit der Gegenwart ist<br />

nicht viel los, die alternative Vergangenheit<br />

entschwindet ihr. Das Tacheles, ein<br />

Zentrum für Pseudokunst, gegen das man<br />

in Berlin nichts sagen durfte, wurde geräumt.<br />

Die East-Side-Gallery soll abgerissen<br />

werden, um Platz für Luxusapartments<br />

zu schaffen (stimmt nicht, trotzdem überall<br />

Protest). Sasha Waltz, die wichtige Choreografin,<br />

hat mit dem Weggang gedroht, will<br />

ein eigenes Haus. Mit der Alternativszene<br />

hat sie ästhetisch nichts zu tun, aber mehr<br />

Vergangenheitsentzug kann hier niemand<br />

ertragen. Alle müssen bleiben!<br />

Berlin versteckt sich vor der Zukunft<br />

und klammert sich ans coole Gestern.<br />

Wolfgang Müllers Abhandlung „Subkultur<br />

Westberlin 1979-1989“ soll schon vor der<br />

offiziellen Buchpremiere in die dritte Auflage<br />

gegangen sein. (Wolfgang Müller: „Subkultur<br />

Westberlin 1979-1989 – Freizeit“;<br />

Philo Fine Arts, Hamburg 2013; 579 Seiten,<br />

24 Euro.) Ein irrer Wälzer! Das Personenregister<br />

lässt niemanden aus. Bei Müller<br />

steht Bowie 1977 als guter Nachbar Wache<br />

vor dem „Anderen Ufer“, einem Schwulenlokal<br />

in der Hauptstraße, dem die Fenster<br />

eingeworfen wurden, und wartet mit den<br />

Kellnern auf den heterosexuellen Glasermeister.<br />

Heroes! Das Buch steckt voller genialer<br />

Miniaturen dieser Art. 1983 meldet<br />

der deutsch-ägyptische Künstler Armin<br />

Ibrahim Golz eine Performance als politische<br />

Demonstration an. Mit einem Lastwagen<br />

fährt Golz über den Ku’damm. Auf<br />

der Ladefläche sieht man auf einer Leinwand<br />

seine Super-8-Filme, zu lauter Musik.<br />

Im Demonstrationszug dahinter: Matthias<br />

Roeingh, später bekannt als Dr. Motte.<br />

„Sechs Jahre später wird Dr. Motte auf dem<br />

gleichen Streckenabschnitt die erste Loveparade<br />

veranstalten – ebenfalls angemeldet<br />

als politische Demonstration.“<br />

Als Geschichtsschreiber will Müller vor<br />

allem den Künstlern gerecht werden, die<br />

ILLUSTRATION: CORNELIA VON SEIDLEIN<br />

134 <strong>Cicero</strong> 4.2013


FOTO: LOREDANA FRITSCH<br />

Anzeige<br />

den umschwärmten Stars der Szene das<br />

Material geliefert haben und zu Unrecht<br />

weiterhungern mussten und vergessen worden<br />

sind. Eine überraschend große Rolle<br />

spielt dabei eine Avantgardeband namens<br />

„Die Tödliche Doris“, deren Gründung<br />

durch einen gewissen Wolfgang Müller auf<br />

Seite 21 beschrieben wird. Die „Tödliche<br />

Doris“ war eine fabelhafte, hochgenialische<br />

Künstlergruppe, die viel Lorbeer verdient –<br />

hier erscheint sie als Kristallisationspunkt<br />

der gesamten Berliner Subkultur.<br />

Viele alte Rechnungen werden beglichen.<br />

Manchmal ist Wolfgang Müller ein<br />

Meister der klugen Kleinlichkeiten. Trotzdem<br />

bleibt es eine Großtat zu dokumentieren,<br />

was er zusammentrug. 1983 singt<br />

das Musikkollektiv „Mekanik Destrüktiw<br />

Komandöh“ ihr Lied „Kreuzberg ist<br />

so wundervoll“: KREUZBERG IST SO<br />

WUNDERVOLL / DIESE GEILEN<br />

AUSSENKLOOHS / DIESE GRAUEN<br />

BETONSILOOS / WENN ICH DURCH<br />

DIE STRASSEN GEH / UND DIE BE-<br />

SÄTZTEN HÄUSER SEEH … / UND<br />

DIE LEUTE AUS DEM BESETZTEN<br />

HAUS / WINKEN MIR ZUM FENSTER<br />

RAUS. Ein Text, den man nicht mehr missen<br />

möchte. Und was die Kleinlichkeiten<br />

angeht: Glauben wir wirklich, Lou Reed<br />

würde in New York netter über Bowie reden,<br />

als Müller über seine Konkurrenten<br />

und Mittäter von damals schreibt?<br />

***<br />

Wolfgang Müller ist ein Kreuzberger aus<br />

Wolfsburg. Immer sind es die Jungs aus<br />

Westdeutschland, die nach Berlin kommen<br />

und sich aus ihrer Kleinstadtsozialisation<br />

dort ihre Großstadt bauen. David Wagner,<br />

Mitte-Berliner aus Andernach, hat schon<br />

im Jahr 2011 seine gesammelten Berlin-<br />

Geschichten veröffentlicht. (David Wagner:<br />

„Welche Farbe hat Berlin“; Verbrecher-<br />

Verlag, Berlin 2011; 215 Seiten, 14 Euro.)<br />

Das ist das merkwürdigste Berlin-Buch, das<br />

man sich denken kann. Die Welt, die hier<br />

entsteht, ist unleugbar schön und entwickelt<br />

einen ganz eigenen Sog. Alles Berlinerische<br />

marschiert verlässlich auf, von<br />

der Currywurst bis zum Opa am Rollator,<br />

und wird dann in eine Sprach- und Gedankenwelt<br />

von höchst aparter Verfeinerung<br />

überführt. Das Ganze schwingt sich<br />

zu einem emphatischen, geradezu symphonischen<br />

Finale auf: „Wir schwimmen, wir<br />

tasten uns durch die Falten der Stadt …<br />

wir treiben durch Berlin.“ Bei Wagner regiert<br />

der staunende Blick eines Flaneurs,<br />

der noch auf dem letzten Telefonverteilerkasten<br />

Spiegelflächen für die eigene Sensibilität<br />

sucht. Hier ist Berlin keine Metropole<br />

mehr, die einen zwingt, sich zu ihr zu<br />

verhalten, hier macht ein Autor die Stadt<br />

seinem Blick untertan und will restlos in<br />

ihr aufgehen: „Ich bin ein rotes Blutkörperchen,<br />

die Stadt ist mein Körper.“ Eben ist<br />

übrigens „Leben“ erschienen, David Wagners<br />

fiktionalisierter Bericht von einer Lebertransplantation<br />

mit Nahtoderfahrung.<br />

(David Wagner: „Leben“; Rowohlt, Reinbek<br />

2013; 288 Seiten, 19,95 Euro.) Jetzt geht<br />

es ganz um den Körper des Erzählers – eines<br />

Erzählers, der auch hier manchmal gebieterisch<br />

Aufmerksamkeit für seine Wahrnehmung<br />

verlangt.<br />

***<br />

Klaus Bittermann, ein Kreuzberger aus<br />

Kulmbach und großer Kleinverleger („Edition<br />

Tiamat“) hat auch Sensibilität, glaubt<br />

aber nicht wirklich, dass sie in Berlin viel<br />

bringt. Seine Kreuzberger Szenen strahlen<br />

Sensibilitäts-Defätismus aus. Die Texte<br />

sind frei von Raffinesse, sie führen Gesten<br />

eines achselzuckenden posthysterischen<br />

Aufgebens vor: Kann man nichts machen!<br />

(Klaus Bittermann: „Möbel zu Hause, aber<br />

kein Geld für Alkohol: Kreuzberger Szenen“;<br />

Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2013;<br />

164 Seiten, 8,99 Euro.) Junger Türke verprügelt<br />

Freundin im Schwimmbad – Security<br />

rettet sie – das Mädchen ruft: „Hey, ihr<br />

Schweine, lasst meinen Freund los!“ Kann<br />

man nichts machen. „Hamse was gegen<br />

Schwuletten?“, will der Mann im Straßencafé<br />

unvermittelt wissen. Das nervt. Kann<br />

man aber nichts machen.<br />

Hier will die Hauptstadt in Ruhe gelassen<br />

werden. Wenn du nicht zu viel von<br />

Berlin verlangst, nicht zu viel Ruhm und<br />

Sensibilitäts-Spiegelung erwartest, lässt<br />

die Stadt dich auch in Ruhe. Das ist das<br />

Schöne an Bittermanns Berlin: Es sitzt einfach<br />

neben dir im Schrebergarten auf der<br />

Bank, zischt ein Bier mit dir und macht<br />

keine großen Worte. In Bittermanns Personenregister<br />

kommt Bowie nicht vor.<br />

ROBIN D E TJE<br />

lebt als Autor, Übersetzer und<br />

Performancekünstler in Berlin<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 135<br />

253 S., 10 Ktn. Geb. € 19,95<br />

ISBN 978-3-406-64664-5<br />

„Kermani ist, bei aller literarischen<br />

Bildung, ein poetischer<br />

Kopf. Das zeichnet ihn aus<br />

– und verschafft uns faszinierende<br />

Einblicke.“<br />

Literaturen<br />

544 S., 12 Abb., 1 Kte. Geb. € 24,95<br />

ISBN 978-3-406-64522-8<br />

„Meisterhaft erzählt – mit<br />

Überraschungseffekten, die<br />

vom Autor eines Kriminalromans<br />

stammen könnten.“<br />

Rudolf Neumaier, SZ<br />

C.H.BECK<br />

WWW.CHBECK.DE


136 <strong>Cicero</strong> 4.2013


D I E L E T Z T E N 2 4 S T U N D E N | S A L O N |<br />

Sterben, ein Scheißdreck<br />

Die Autorin Sibylle Berg verbringt ihre letzten 24 Stunden im<br />

Tessin, in einem Waldstück über Tegna, von der Sonne beschienen,<br />

und ärgert sich noch einmal tüchtig über sich selbst<br />

FOTO: PETER PEITSCH/PEITSCHPHOTO.COM [M]<br />

I<br />

CH WEISS NICHT, was das ist, Tod.<br />

Ich war noch nicht tot. Wie alle,<br />

die noch nicht gestorben sind,<br />

habe ich nur eine Idee. Meine ist, dass der<br />

Tod sich vielleicht so anfühlt wie die Zeit<br />

vor der Geburt. Also nichts ist da. Ein absolutes,<br />

allgleiches Nichts.<br />

Wenn wir nicht selbstbestimmt sterben<br />

können – was ja immer noch keine<br />

Option ist, es aber unbedingt sein<br />

müsste –, ist die Idee des letzten Tages<br />

ein Quatsch. Ich bin absolut und uneingeschränkt<br />

für das Recht, selbstbestimmt<br />

zu sterben und die dazu nötigen Mittel in<br />

der Apotheke erwerben zu können.<br />

Dann möchte ich gerne im Tessin<br />

sterben, in einem Waldstück über Tegna,<br />

ein wenig von der Sonne beschienen und<br />

zusammen mit meinem geliebten Menschen.<br />

Musik ist mir nicht wichtig, es<br />

sollte nur bitte nicht regnen. Aber wenn<br />

ich es mir aussuchen kann – und ich bin<br />

mir sicher, Sie können mir den Wunsch<br />

erfüllen –, möchte ich vielleicht eher gar<br />

nicht sterben und miterleben, was mit<br />

der Welt weiter passiert. Vielleicht wird<br />

es einmal eine völlige Gleichberechtigung<br />

aller Geschlechter geben? Vielleicht werden<br />

großartige Dinge erfunden, die Menschen<br />

500 Jahre alt werden lassen (dann<br />

würde das Anhäufen von Milliarden<br />

Vor S ibylle B erg braucht man<br />

keine Angst zu haben. Zumindest<br />

behauptet sie das von sich<br />

selbst. Die in Weimar geborene<br />

Erfolgsautorin lebt heute in Zürich<br />

und schreibt Romane, Theaterstücke,<br />

Essays und Kolumnen. Gerade<br />

ist sie mit Regiearbeiten in<br />

den USA beschäftigt.<br />

www.cicero.de/24stunden<br />

endlich sinnvoll und nicht obszön sein).<br />

Ach, Sterben ist ein Scheißdreck.<br />

Es gibt nichts, was noch ein letztes<br />

Mal gemacht, gedacht oder ausgesprochen<br />

werden müsste. Was man bis<br />

zum Ende nicht gemacht, gedacht oder<br />

ausgesprochen hat, ist dann auch nicht<br />

mehr wichtig. Wem sollte ich auch etwas<br />

beichten? Und das Entschuldigen für<br />

Unachtsamkeiten erledige ich ebenfalls<br />

lieber jetzt.<br />

Die absolut unangenehme Idee der<br />

Vergänglichkeit versuche ich immer mit<br />

einzubeziehen. In jeder Sekunde, bei allem,<br />

was ich tue. Es gelingt nicht immer.<br />

Vorbereiten kann man sich auf so<br />

was schlecht, vielleicht bei einer langen<br />

Krankheit, aber da fehlt mir die Erfahrung.<br />

Einmal hatte ich einen Unfall mit<br />

klinischem Tod. Sagt man das so? Das<br />

kam völlig unerwartet und war nicht besonders<br />

schrecklich.<br />

Ab und zu habe ich Eitelkeitsattacken,<br />

ärgere mich über angebliche Missachtung<br />

und sehe mir doch dabei zu und<br />

finde mich lächerlich. Im Allgemeinen<br />

versuche ich aber, mich immer mit Güte<br />

zu behandeln. Einer muss das ja erledigen.<br />

Ich bin sehr nachsichtig mit mir. Ich<br />

habe ein sehr schönes, sehr angenehmes<br />

Leben. Ich habe viel Glück gehabt, mit<br />

dem Ort meiner Geburt und mit meiner<br />

Gesundheit. Den Rest habe ich selber zu<br />

verantworten.<br />

Die Menschen verbessern zu wollen,<br />

war eine irrsinnige Arroganz, die meiner<br />

Jugend geschuldet war. Wer bin ich, jemanden<br />

erziehen zu können? Ich ärgere<br />

mich immer noch über nicht zu Ende<br />

Gedachtes, über Arroganz, Dummheit,<br />

über Religionen und deren Sexismus.<br />

Ich ärgere mich über das Elend, das wir<br />

uns selbst bereiten, und über mich, dass<br />

mich das alles ärgert. Darüber ärgere ich<br />

mich auch.<br />

Aufgezeichnet von Sarah-Maria Deckert<br />

4.2013 <strong>Cicero</strong> 137


C I C E R O | P O S T S C R I P T U M<br />

Widerstand<br />

VON A LEXANDER M A R G U IER<br />

H<br />

EUTE SCHON DAGEGEN GEWESEN? Wenn nicht, wird<br />

es jetzt aber höchste Zeit! Es gibt schließlich immer<br />

und überall etwas, wogegen es sich lohnt zu protestieren:<br />

Atomkraft oder die Energiewende, Fleischkonsum oder<br />

Vegetarismus, Autoverkehr oder Geschwindigkeitsbegrenzungen,<br />

Sexismus oder Prüderie. Gemessen an den Empörungswellen,<br />

die inzwischen im Wochenrhythmus durch unser Land rollen,<br />

muss früher wirklich alles besser gewesen sein. Beziehungsweise<br />

umgekehrt, denn die Tatsache, dass immer mehr Menschen<br />

ihr Wort erheben und ihre Unzufriedenheit mit den bestehenden<br />

Verhältnissen artikulieren, ist ja eigentlich ein Fortschritt:<br />

Anstatt in stiller Anerkennung der eigenen Machtlosigkeit<br />

irgendwelche sinnlosen Hobbys zu pflegen, steigt der moderne<br />

Bürger schnell mal auf die Barrikaden. Ich finde es prinzipiell<br />

begrüßenswert, wenn erwachsene Männer, die sich vor 20 Jahren<br />

vielleicht noch ihre Zeit mit Modelleisenbahnen im Keller<br />

vertrieben hätten, heute rausgehen auf die Straße, um beispielsweise<br />

gegen veritable Bahnhofsprojekte zu demonstrieren.<br />

Für Frauen gilt das natürlich ganz genauso, weshalb sie aufpassen<br />

müssen, nicht schon wieder von Anfang an ins Hintertreffen<br />

zu geraten: Einer Studie des Göttinger Politologen Franz<br />

Walter zufolge ist der typische Wutbürger nämlich männlich,<br />

Mitte vierzig bis Mitte sechzig, wohlsituiert und akademisch<br />

gebildet. Was wiederum, so Walter, demokratiegefährdend sei,<br />

weil die gesellschaftlichen Debatten neueren Datums von eben<br />

dieser spezifischen Schicht dominiert würden. Wahrscheinlich<br />

brauchen wir bald eine Wutbürger-Quote, um diesen Tendenzen<br />

Einhalt zu gebieten. Der ubiquitäre Aufschrei darf keine<br />

Veranstaltung für besserverdienende Männer im fortgeschrittenen<br />

Alter bleiben; er ist vielmehr eine gesamtgesellschaftliche<br />

Angelegenheit. Sonst gerät die Sache aus dem Lot.<br />

Ich möchte daher an alle Bewohner dieses Landes, insbesondere<br />

auch an jüngere Nichtakademikerinnen, appellieren,<br />

Widerstand zu leisten. Dass es nicht immer ganz einfach<br />

ist, die innere Trägheit zu überwinden, weiß ich aus eigener Erfahrung:<br />

Meine letzte Teilnahme an einer Demonstration liegt<br />

mittlerweile mehr als zwei Dekaden zurück – damals ging es um<br />

den Golfkrieg. Und es ist wahrlich nicht so, dass ich mich seither<br />

über nichts anderes mehr geärgert hätte!<br />

Die gute Nachricht: Für notorische Widerstandsmuffel wie<br />

mich gibt es inzwischen allerlei Ratgeberliteratur. Allein schon<br />

der Verkaufserfolg von Stéphane Hessels „Empört Euch!“-Brevier<br />

hat deutlich gezeigt, wie groß hierzulande der Nachholbedarf<br />

an innerer Aufwallung ist. Wer es etwas ausführlicher haben<br />

möchte, dem sei das soeben erschienene Buch „Selbst denken“<br />

des Sozialpsychologen Harald Welzer empfohlen, es trägt den<br />

verheißungsvollen Untertitel „Eine Anleitung zum Widerstand“.<br />

Sollten Ihnen die 290 Seiten dann aber doch als zu voluminös<br />

erscheinen (George Bernard Shaw kam für sein „Handbuch des<br />

Revolutionärs“ mit weniger als der Hälfte an Umfang aus), weil<br />

Sie die Zeit lieber zum Selbstdenken nutzen wollen, dann werfen<br />

Sie zumindest einen kurzen Blick auf „12 Regeln für erfolgreichen<br />

Widerstand“, die Harald Welzer am Ende seines Werkes<br />

aufgelistet hat. Regel Nummer vier zum Beispiel lautet: „Hören<br />

Sie auf, einverstanden zu sein“, woraus sich ganz umstandslos<br />

Regel Nummer fünf ergibt: „Leisten Sie Widerstand, sobald Sie<br />

nicht einverstanden sind.“<br />

Wenn ich als rechtschaffener Wutbürger dieses Landes nun<br />

aber auch noch Widerstand leisten soll gegen Dinge, mit denen<br />

ich eigentlich einverstanden bin (und da kommt von Rechtsstaat<br />

bis Rechtsverkehr immer noch erstaunlich viel zusammen),<br />

wird das dann mit dem Protest aller gegen alles am Ende nicht<br />

ein bisschen arg unübersichtlich?<br />

Vielleicht könnte es sich ja manchmal sogar lohnen, dem permanenten<br />

Widerstandsdruck ganz souverän zu widerstehen.<br />

A LEXANDER M A R G U IER<br />

ist stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

ILLUSTRATION: CHRISTOPH ABBREDERIS; FOTO: ANDREJ DALLMANN<br />

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MANCHMAL<br />

MUSS ES EBEN<br />

MUMM SEIN.<br />

Das Sushi-Taxi auf den Aussichtsturm<br />

bestellen. Statt eines Blind Dates<br />

gleich einen Blind Ball veranstalten.<br />

Den roten Teppich auf dem Spielfeld<br />

ausrollen. Warum einen Tisch reservie -<br />

ren, wenn es da draußen noch so viel<br />

zu entdecken gibt? Manchmal muss<br />

es eben Mumm sein.

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