Cicero "Lieber Diktator als schwul" (Vorschau)
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Juli 2012<br />
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Slavoj Žižek<br />
über die Knechtschaft im<br />
autoritären Kapitalismus<br />
Amelie Fried<br />
über die seltsame<br />
Fußballbegeisterung von Frauen<br />
Bill Emmott<br />
über die Tragödie des Euro<br />
Außerdem:<br />
Ein Insiderbericht<br />
aus dem Vatikan<br />
„<strong>Lieber</strong><br />
<strong>Diktator</strong><br />
<strong>als</strong> schwul“<br />
Das neue Selbstbewusstsein<br />
der Despoten gegenüber der Demokratie<br />
Österreich: 8 EUR, Benelux: 9 EUR, Italien: 9 EUR<br />
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Weltweit, egal welcher Zeitung, hat<br />
Die erste Seite<br />
Hoppe immer dieselbe Geschichte<br />
erzählt: wie sie <strong>als</strong> Ratte mit Schnurrbart und<br />
Schwanz versehen, Wurst in der Linken, Brot in<br />
der Rechten, den Marktplatz ihrer Heimatstadt<br />
Hameln betritt, um sich im Freilichttheater unter<br />
der Führung des Rattenfängers vor Touristen aus<br />
aller Welt ein Taschengeld zu verdienen. Wie sie<br />
das eben Verdiente sofort auf den Kopf haut,<br />
Blumen für ihre Mutter (»die Gastgeberkönigin«)<br />
und ein Päckchen Zigaretten für ihren Vater<br />
(»den Erbauer des ersten Kaspertheaters«) kauft,<br />
um danach mit dem verbliebenen Rest ihre vier<br />
Geschwister zu einem Ausflug ins Miramare zu<br />
überreden, eine Hamelner Eisdiele, »die sommers<br />
floriert und sich winters, wenn sich die Italiener<br />
saisonbedingt nach Süden verziehen, in einen<br />
Ausstellungsraum für Pelze verwandelt«. Bis<br />
Hoppe sich dreißig Jahre später »endlich erhebt«,<br />
um ein Schiff von Hamburg nach Hamburg zu<br />
besteigen und die Welt mit eigenen Augen zu<br />
sehen: »Ein Ausflug, nichts weiter, in ein paar<br />
Tagen bin ich zurück, sitze wieder am Tisch, der<br />
zweite Esser von rechts.« (Pigafetta,1999)<br />
Sowenig beglaubigt ist, dass Hoppe jene vielzitierte<br />
Reise um die Welt auf einem Containerfrachtschiff<br />
tatsächlich persönlich unternahm,<br />
ist bekannt, dass sie bereits <strong>als</strong> Kind mehrfach<br />
die Weltmeere befuhr. Allerdings nicht <strong>als</strong> zweiter<br />
Esser von rechts, sondern <strong>als</strong> einzige Tochter<br />
eines Patentagenten, der das deutsche Kaspertheater<br />
vermutlich niem<strong>als</strong> von innen sah.<br />
Die Hamelner Kindheit ist<br />
reine Erfindung.<br />
Georg-Büchner-Preis 2012<br />
für Felicitas Hoppe<br />
Lesen Sie weiter…<br />
336 Seiten, gebunden, € (D) 19,99<br />
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„<strong>Lieber</strong><br />
<strong>Diktator</strong><br />
<strong>als</strong> schwul“<br />
Das neue Selbstbewusstsein<br />
der Despoten gegenüber der Demokratie
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A t t i c u s | C i c e r o<br />
Von: <strong>Cicero</strong><br />
An: Atticus<br />
Datum: 28. Juni 2012<br />
Thema: <strong>Diktator</strong>en, Amelie Fried, SPD-Troika, Dieter Hallervorden<br />
Gibt es einen „Kreislauf<br />
der Verfassungen“?<br />
Titelbild: WieslaW Smetek; Illustration: Christoph Abbrederis<br />
M<br />
ehr <strong>als</strong> eine Million Menschen haben sich in den vergangenen Wochen in deutschen<br />
Kinos über Sacha Baron Cohens „<strong>Diktator</strong>“ amüsiert. Jetzt ist die Frage: Wer lacht zuletzt?<br />
Und wer lacht hier zu Recht über wen? Im Kino bringt es Cohens Kunstfigur nicht<br />
fertig, sich in einem Fernsehspot zu Frauenrechten und der Toleranz gleichgeschlechtlicher Liebe<br />
zu bekennen. In der Realität schleudert Alexander Lukaschenko dem deutschen Außenminister<br />
entgegen: „<strong>Lieber</strong> <strong>Diktator</strong> <strong>als</strong> schwul!“ Ein ungeheurer Satz. Denn erstens bestätigt der<br />
weißrussische Staatspräsident damit, ein <strong>Diktator</strong> zu sein. Zweitens diffamiert der Spruch nicht nur<br />
Guido Westerwelle. Er diffamiert unsere Staatsform. Demokratie ist schwul. Das heißt dieser Satz.<br />
Waren wir zu arglos? Spielen Fußball bei <strong>Diktator</strong>en, treffen sie beim Staatsbesuch? Die Diktatur<br />
ist auf dem Vormarsch und gesellschaftsfähig geworden, warnt der amerikanische Buchautor William<br />
J. Dobson. Seinen Weckruf an die Demokraten finden Sie ab Seite 16.<br />
Auch in der demokratischen Welt zeigen sich Erosionserscheinungen, und der Arabische<br />
Frühling wird kein Triumph der Demokratie. Möglicherweise muss man sich von der Vorstellung<br />
lösen, dass alle gesellschaftliche Entwicklung automatisch hinstrebt zur höchsten und edelsten<br />
Staatsform. Der griechische Philosoph Polybios hat in seinen „Historien“ am Beispiel Roms gezeigt,<br />
dass wir es mit einem „Kreislauf der Verfassungen“ zu tun haben – dass <strong>als</strong>o nach der Demokratie<br />
und anschließender Pöbelherrschaft die Tyrannis zurückkehren kann. Hat die Demokratie ihren<br />
Zenit überschritten? Jedenfalls hat sie gefährliche Konkurrenz bekommen. Polybios’ slowenischer<br />
Nachfahre Slavoj ŽiŽek beschreibt die Anatomie des Hybrids aus Totalitarismus und Kapitalismus<br />
(ab Seite 24).<br />
Die Texte von Dobson und Žižek bilden dieses Mal den Titelkomplex, mit dem <strong>Cicero</strong> von<br />
nun an immer das Heft eröffnen wird. Neu ist darüber hinaus die Kolumne der Buchautorin und<br />
Fernsehmoderatorin Amelie Fried. Zum Auftakt rätselt sie über die angebliche Fußballbegeisterung<br />
bei Frauen (Seite 35).<br />
Es gäbe noch einiges zu sagen: Wie es Hartmut Palmer gelungen ist, die Herren Steinmeier,<br />
Steinbrück und Gabriel zum Reden über ihre SPD-Troika zu bringen (ab Seite 36). Wie es<br />
Constantin Magnis geschafft hat, den abgetauchten Ex-Sprecher von Christian Wulff ausfindig<br />
zu machen (ab Seite 32). Wie in Dieter Hallervordens Schlosspark-Theater das Westberlin der<br />
achtziger Jahre konserviert wird (ab Seite 106). Wie Beat Wyss von nun an regelmäßig mit Legenden<br />
der Kunstgeschichte aufräumt (ab Seite 104).<br />
Aber empfehlen kann jeder. Lesen und urteilen Sie doch selbst.<br />
Mit besten Grüßen<br />
In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />
der römische Politiker und Jurist<br />
Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />
Freund Titus Pomponius Atticus<br />
sein Herz ausgeschüttet<br />
Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 3
C i c e r o | I n h a l t<br />
Titelthema<br />
16<br />
Comeback der Autokraten<br />
Despoten und <strong>Diktator</strong>en gewinnen weltweit Oberwasser<br />
von William J. Dobson<br />
24<br />
Die Diktatur der Clowns<br />
Das Virus des autoritären Kapitalismus breitet sich aus<br />
von Slavoj ŽiŽek<br />
28<br />
„Insel der Glückseligen“<br />
Auch gefestigte Demokratien sind fragil<br />
Ein Gespräch mit Bundesminister Dirk Niebel<br />
Illustration: Wieslaw Smetek<br />
4 <strong>Cicero</strong> 7.2012
I n h a l t | C i c e r o<br />
Die SPD-Troika redet Klartext,<br />
wenngleich man etwas nachhelfen muss<br />
36 62<br />
78<br />
Ihr Rohstoffreichtum stellt die<br />
Mongolei vor neue Herausforderungen<br />
Mattscheiben mailen, Handys zeigen<br />
Tatort – über das Ende des Fernsehens<br />
BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE kapital<br />
30 | Der Empörungsautomat<br />
Bernd Riexinger, der unbekannte Parteisoldat,<br />
soll <strong>als</strong> General die Linke führen<br />
Von Reinhard Mohr<br />
52 | Playboy und Erlöser<br />
Der Ex-Kricketstar Imran Khan will<br />
neuer Regierungschef in Pakistan werden<br />
Von Willi Germund<br />
74 | Marks Mom<br />
Facebook-Vize Sheryl Sandberg lächelt<br />
das Börsendesaster einfach weg<br />
Von Anna von Münchhausen<br />
32 | Phantom am See<br />
Wulffs Ex-Sprecher Olaf Glaeseker will<br />
unsichtbar bleiben – eine Spurensuche<br />
Von Constantin Magnis<br />
54 | Vive la Différence<br />
Frankreich hat nach 25 Jahren<br />
wieder eine Frauenministerin<br />
Von Sascha Lehnartz<br />
76 | Für den guten Ton<br />
Aus Ostwestfalen kommt eines der<br />
wichtigsten Accessoires der Medienwelt<br />
Von Christoph Hus<br />
35 | Frau Fried fragt sich …<br />
Sind Frauen echte Fußballfans,<br />
oder tun sie nur so?<br />
Von amelie fried<br />
56 | Athens Che Guevara<br />
Alexis Tsipras und sein Linksbündnis<br />
fordern Europa heraus<br />
Von Richard Fraunberger<br />
78 | Programmstörung Internet<br />
Wenn die Fernseher online gehen, wird<br />
jeder sein eigener Programmchef<br />
Von Max Thomas Mehr<br />
Fotos: Stephanie Pilick/DPA/Picture Alliance, Mareike Günsche; Illustrationen: Daniel Haskett, Christoph Abbrederis<br />
36 | Peers Troika – Franks Trio<br />
Steinbrück, Steinmeier und Gabriel<br />
haben die Kandidatenfrage geklärt<br />
Ein Gespräch mit dem SPD-Dreigestirn<br />
40 | Ein Sommer ohne Sonne<br />
Die Union muss ihr konservatives Profil<br />
schärfen, um Wähler zurückzugewinnen<br />
Von Wilfried Scharnagl<br />
42 | Freiheit, Ehre, Vaterland!<br />
Eine Fotoreportage über<br />
deutsche Burschenschaften<br />
Von lene münch und Sarah Maria Deckert<br />
50 | Renaissance von<br />
Recht und Ordnung<br />
Die SPD wäre gut beraten, sich wieder<br />
<strong>als</strong> bürgerliche Partei zu verstehen<br />
Von Frank A. Meyer<br />
60 | Scheine und Heilige<br />
Der Skandal im Vatikan<br />
offenbart tiefe Abgründe<br />
Von DAvid Berger<br />
62 | Reich, Reicher, Mongolei<br />
Unermessliche Bodenschätze wecken<br />
Begierden in Russland und China<br />
Von Christiane Kühl<br />
70 | Die Partei hat immer recht<br />
Wie funktioniert das<br />
politische System Chinas?<br />
Von Oliver Radtke<br />
72 | Mehr Europa braucht das Land<br />
Was folgt aus dem jüngsten Wahlerfolg<br />
von François Hollande?<br />
Von Alfred Grosser<br />
82 | „Ich muss alles kennen“<br />
Der Ufa-Chef erklärt, warum das<br />
deutsche Fernsehen doch gut ist<br />
Ein Gespräch mit Wolf Bauer<br />
86 | „Wie bei Honecker“<br />
Die Gesichter hinter der Pleite der<br />
Drogeriekette Schlecker<br />
Von oliver Mark und Karoline Kuhla<br />
90 | „Es ist wie nach Versailles“<br />
Der Ex-Chefredakteur des Economist<br />
über die Überlebenschancen des Euro<br />
Ein Gespräch mit Bill Emmott<br />
92 | Kartell ohne Absprache<br />
Ein Insider erklärt das Preissystem der<br />
Mineralölkonzerne<br />
Von Hauke Friederichs<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 5
C i c e r o | I n h a l t<br />
cicero online<br />
106<br />
Dieter Hallervorden<br />
hat sich einen<br />
Theatertraum erfüllt<br />
Aktuell:<br />
Frage des Tages<br />
Wie steht es um den Euro?<br />
Wie stehen die Piraten<br />
zum Urheberrecht? Hat<br />
die Linkspartei noch<br />
eine Zukunft? Jeden<br />
Morgen beantworten wir<br />
Ihnen Fragen zu einem<br />
aktuellen Thema.<br />
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Themen-der-zeit<br />
Salon<br />
96 | Brandenburgs Spitze<br />
Mandy Fredrich ist die Königin dieses<br />
Festspielsommers<br />
Von Eva gesine Baur<br />
98 | Gefühlsimplosionen<br />
Die zarten Zeitreisen der koreanischen<br />
Künstlerin Haegue Yang<br />
Von Birgit Sonna<br />
100 | Mit dem leben davongekommen<br />
Warum Sibylle Berg heute anders<br />
über Menschen denkt<br />
Von Daniel Schreiber<br />
104 | Man sieht nur, was man sucht<br />
Die Kapitolinische Wölfin war nicht<br />
dabei, <strong>als</strong> Rom gegründet wurde<br />
Von Beat Wyss<br />
106 | Nonstop Konsens<br />
Das ist doch nicht spießig! Dieter<br />
Hallervorden spielt Theater<br />
Von Peter Laudenbach<br />
112 | benotet<br />
Unser Musikkolumnist geht seiner<br />
Familiengeschichte auf den Grund<br />
Von Daniel Hope<br />
114 | Design und Demokratie<br />
Auch in Hotels lässt sich Geschmack<br />
nicht mit Geld kaufen<br />
Von Alexander Schimmelbusch<br />
122 | Bibliotheksporträt<br />
Zu Besuch bei Nikolaus Bachler, dem<br />
Intendanten der Bayerischen Staatsoper<br />
Von Eve gesine baur<br />
126 | Das Schwarze sind<br />
die Buchstaben<br />
Immer dieses arme Ego: über das<br />
Dilemma des Großkünstlers<br />
Von Robin Detje<br />
128 | Küchenkabinett<br />
Wer den Euro retten will, muss<br />
gemeinsam kochen lernen<br />
Von Julius Grützke und Thomas Platt<br />
130 | Die letzten 24 Stunden<br />
Warum ein Modedesigner nicht<br />
ohne Musik sterben möchte<br />
Von Michael Mich<strong>als</strong>ky<br />
Standards<br />
Atticus —<br />
Von Christoph Schwennicke — seite 3<br />
Forum — seite 8<br />
Impressum — seite 9<br />
Stadtgespräche — seite 12<br />
Postscriptum —<br />
Von Alexander Marguier — seite 132<br />
Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />
erscheint am 26. Juli 2012<br />
Debatte:<br />
Quo vadis Europa?<br />
Wie steht es um die Zukunft<br />
der Europäischen Union?<br />
Zerfällt der Euro? Ist die<br />
EU mit dem Fiskalpakt<br />
und dem ESM auf dem<br />
Weg zu einer politischen<br />
Union? Brauchen wir mehr<br />
oder weniger Europa?<br />
www.cicero.de/Dossier<br />
Meinungsstark:<br />
Unhipster<br />
Internetexperte Christian<br />
Jakubetz bloggt über die<br />
digitale Revolution und wie<br />
sie unseren Alltag verändert.<br />
www.cicero.de/blogs<br />
Interaktiv:<br />
Die cicero-online-umfrage<br />
Wir stellen Ihnen Fragen,<br />
und Sie geben uns<br />
punktgenaue Antworten.<br />
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Fotos: Julia Zimmermann, Your Photo Today; Illustration: Christoph Abbrederis<br />
6 <strong>Cicero</strong> 7.2012
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C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />
Forum<br />
Über Merkels Stehvermögen, Rürups Touren und Turners Sprüche<br />
zum Titelthema „Die Glucke<br />
der Nation“ von Christoph<br />
Schwennicke und dem Interview<br />
mit Sigmar Gabriel und Jürgen<br />
Trittin/<strong>Cicero</strong> Juni 2012<br />
DUFTnoten<br />
<strong>Lieber</strong> Christoph Schwennicke, zunächst einmal und vor allem: Viel Glück mit<br />
<strong>Cicero</strong>. Bin gespannt, welche „Duftnoten“ Sie setzen werden. Habe deshalb auch<br />
mit großem Interesse im Blatt geblättert und mit Gewinn Ihre Titelgeschichte<br />
gelesen. Aber spontan musste ich meinen Laptop aufklappen. Denn: Die, wie Sie<br />
schreiben, „Rumpelstilziade“ von Schröder bei der legendären Elefantenrunde war<br />
natürlich nicht im Jahr 2002 nach der Wahl zu bewundern, sondern in 2005 nach<br />
der vorgezogenen Bundestagswahl. Sei’s drum. Ihre Glucken-Story war gut und<br />
erhellend. Herzliche Grüße<br />
Lothar Lewien, Berlin<br />
Ihrer Meinung nach erbracht? Welche<br />
intellektuellen und Intelligenzleistungen<br />
lässt sie erkennen? Welche positiven und<br />
produktiven Prozesse hat sie im Land<br />
ins Rollen gebracht? Vielleicht finden<br />
Sie ja auch etwas Gutes daran, dass Frau<br />
Merkel einst dafür gesorgt hat, dass in<br />
die „absolut sichere“ Asse-II Atommüll<br />
eingebracht wurde … Ihr Artikel war<br />
Hofberichterstattung, mehr nicht.<br />
Michael Kostian, Hildesheim<br />
Gestanzte Antworten<br />
Tatsächlich, der <strong>Cicero</strong> ist munterer<br />
geworden, auch wenn es Interviewpartner<br />
gibt, die sehr gestanzt antworten.<br />
Ich weiß schon bei der Frage, was Jürgen<br />
Trittin antworten wird. Machen Sie<br />
so weiter, kann nur hilfreich sein, den<br />
Lesern Hintergründe auszuleuchten und<br />
sie zum Denken anzuregen.<br />
Michael Müller, Staatssekretär a. D. Berlin<br />
Toller Artikel<br />
Was für ein toller Artikel. An manchen<br />
Stellen musste ich wirklich schmunzeln.<br />
Frau Merkel ist für mich eine geniale<br />
Frau und Politikerin. Und ich hoffe<br />
wirklich, dass „wir sie noch lange haben<br />
werden“.<br />
Petra Stülzebach, Erfurt<br />
VERRÄTERISCHES STAUNEN<br />
Ich lese <strong>Cicero</strong> wirklich gern und finde<br />
die Themen, die Sie aufgreifen, immer<br />
wieder spannend und ihre Aufbereitung<br />
sehr gelungen. Bei der Lektüre<br />
Ihres Titelstücks über Angela Merkel<br />
beschleicht mich allerdings der Verdacht,<br />
dass Ihre offenkundige Bewunderung<br />
für die Dame Ihr Urteilsvermögen<br />
getrübt hat. Sie haben ja recht: Sie<br />
macht ihre Sache besser, <strong>als</strong> man es ihr<br />
zugetraut hat, aber Ihr Erstaunen darüber<br />
ist auch verräterisch: Sie sind wahrscheinlich<br />
deshalb so angetan, weil Sie<br />
sich eigentlich nicht vorstellen konnten<br />
oder mochten, dass eine Frau sich in der<br />
von Männern dominierten Politik nicht<br />
nur durchsetzen, sondern an der Spitze<br />
halten könnte.<br />
Gisela Buchenau, Hamburg<br />
Hofberichterstattung<br />
Ihr Kniefall vor der politischen Person<br />
Merkel ist nahezu unerträglich und<br />
führt den Anspruch eines intellektuellen<br />
Blattes ad absurdum. Welche<br />
politischen Leistungen hat Frau Merkel<br />
Das Machtmädchen<br />
Der Ullstein-Verlag bittet um den<br />
Hinweis, dass das Libretto zur Oper<br />
Angela nach Motiven der Biografie „Das<br />
Mädchen und die Macht. Angela Merkels<br />
demokratischer Aufbruch“ von Evelyn Roll<br />
entstanden ist. Red.<br />
zum beitrag „Bert Rürups<br />
Krumme Touren“ von Ludwig<br />
Greven/<strong>Cicero</strong> Juni 2012<br />
Struktur zerschlagen<br />
Zu dem Artikel nehme ich <strong>als</strong> langjähriger<br />
ehemaliger Mitarbeiter des<br />
DIW, der die Präsidentschaft von Prof.<br />
Zimmermann im DIW <strong>als</strong> Betriebsratsmitglied<br />
erlebt und zuletzt erlitten<br />
illustration: cornelia von seidlein<br />
8 <strong>Cicero</strong> 7.2012
I m p r e s s u m<br />
hat, wie folgt Stellung: Im DIW gab es<br />
vor Zimmermann eine über das gesetzlich<br />
notwendige Maß hinausgehende<br />
Mitbestimmung. Prof. Zimmermann hat<br />
die dezentrale Struktur zerschlagen und<br />
durch ein hierarchisches System ersetzt …<br />
Unliebsame Mitarbeiter … wurden aus<br />
dem Hause gedrängt … Die Fachabteilungen<br />
wurden so finanziell und<br />
personell ausgetrocknet … Praktikanten<br />
und Graduierte sollten die entstandenen<br />
Lücken ausfüllen. Unter solchen<br />
Bedingungen musste das DIW in der<br />
klassischen Auftragsforschung an Wettbewerbsfähigkeit<br />
verlieren … Aber erst <strong>als</strong><br />
der Landesrechnungshof Vorwürfe gegen<br />
das Finanzgebaren des DIW beziehungsweise<br />
dessen ungenügende Kontrolle<br />
erhob, schritten Bund und Land ein und<br />
machten Herrn Rürup zum Vorsitzenden<br />
des Kuratoriums. Nachdem dieses Gremium<br />
jahrelang seinen Aufsichtspflichten<br />
nicht voll nachgekommen war, sollte man<br />
jetzt nicht kritisieren, dass Herr Rürup<br />
seine Verantwortung wahrnimmt (was<br />
nicht bedeutet, dass er unzulässige Kosten<br />
abrechnen darf) und versucht, das<br />
DIW wieder auf die für ein führendes<br />
Wirtschaftsforschungsinstitut notwendigen<br />
Kernkompetenzen auszurichten.<br />
Manfred Horn, Tressenheide<br />
verleger Michael Ringier<br />
chefredakteur Christoph Schwennicke (V.i.S.d.P.)<br />
Stellvertreter des chefredakteurs<br />
Alexander Marguier<br />
Redaktion<br />
Ressortleiter Judith Hart (Weltbühne), Til Knipper<br />
(Kapital), Daniel Schreiber (Salon), Constantin Magnis<br />
(Reportagen), Christoph Seils (<strong>Cicero</strong> Online)<br />
politischer Chefkorrespondent Hartmut Palmer<br />
Assistenz der Chefredaktion Ulrike Gutewort<br />
Publizistischer Beirat Dr. Michael Naumann (Vorsitz),<br />
Heiko Gebhardt, Klaus Harpprecht, Frank A. Meyer,<br />
Jacques Pilet, Prof. Dr. Christoph Stölzl<br />
Art director Kerstin Schröer<br />
Bildredaktion Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />
Produktion Utz Zimmermann<br />
Verlag<br />
verlagsgeschäftsführung<br />
Rudolf Spindler<br />
Leitung Vertrieb u. unternehmensentwicklung<br />
Thorsten Thierhoff<br />
Redaktionsmarketing Janne Schumacher<br />
Abomarketing Mark Siegmann<br />
kommunikation André Fertich<br />
Tel.: +49 (0)30 820 82-517, Fax: -511<br />
E-Mail: presse@cicero.de<br />
grafik Franziska Daxer, Dominik Herrmann<br />
zentrale dienste Erwin Böck, Stefanie Orlamünder,<br />
Ingmar Sacher<br />
herstellung Lutz Fricke<br />
druck/litho Neef+Stumme, Wittingen<br />
nationalvertrieb DPV Network GmbH, Hamburg<br />
leserservice DPV direct GmbH, Hamburg<br />
Hotline: +49 (0)1805 77 25 77*<br />
Anzeigenleitung (verantwortlich)<br />
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Am Baumwall 11, 20459 Hamburg<br />
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30853 Langenhagen, Tel.: +49 (0)511 76334-0, Fax: -71<br />
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verkaufte auflage 83 270 (1. Quartal 2012)<br />
LAE 2011 88 000 Entscheider<br />
reichweite 450 000 Leser<br />
gründungsherausgeber Dr. Wolfram Weimer<br />
<strong>Cicero</strong> erscheint in der<br />
ringier Publishing gmbh<br />
Friedrichstraße 140, 10117 Berlin<br />
E-Mail: info@cicero.de, www.cicero.de<br />
redaktion Tel.: +49 (0)30 981 941-200, Fax: -299<br />
verlag Tel.: +49 (0)30 981 941-100, Fax: -199<br />
eine publikation der ringier gruppe<br />
illustration: Dominik Herrmann<br />
zum beitrag „Auf der Gauck-<br />
Welle“ über Sebastian Turner<br />
von Hartmut Palmer/<strong>Cicero</strong><br />
Juni 2012<br />
kluger holzkopf<br />
Der Claim „Wir können alles außer<br />
Hochdeutsch“ ist eindeutig von Turner –<br />
sehr prägnant und kreativ. Aber ich<br />
habe schon Mitte der siebziger Jahre<br />
den abgewandelten Slogan „Dahinter<br />
steckt immer ein Holzkopf“ mittels<br />
einer Unterzeile in einer Schülerzeitung<br />
verhohnepipelt. Tatsächlich stammt<br />
der Slogan aus dem Jahr 1957, <strong>als</strong>o<br />
neun Jahre, bevor Turner das Licht der<br />
Werbewelt erblickt hat. Ich würde mich<br />
sehr freuen, wenn Sie diesen Sachverhalt<br />
nachtragen.<br />
Heiner Wehn, Leonberg<br />
<strong>Cicero</strong> hat nicht behauptet, dass Turner den<br />
Slogan erfunden, sondern nur geschrieben,<br />
dass er damit viel Geld verdient hat. Red.<br />
(Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen)<br />
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7.2012 <strong>Cicero</strong> 9
Gebaut für Männer, die sich auch von den<br />
Gesetzen der Physik nicht aufhalten lassen.<br />
Grosse Fliegeruhr Ewiger Kalender TOP GUN<br />
Ref. IW502902, in Keramik mit schwarzem Softarmband<br />
Menschen können nicht fliegen. So<br />
will es die Natur. Lange schauten<br />
sie sehnsüchtig zu den Adlern hinauf,<br />
die sich mühelos in den Himmel<br />
schwangen. Dann bauten sie Flugapparate<br />
und setzten sich über physikalische Grenzen<br />
hinweg. Doch es genügte ihnen nicht,<br />
mit Adlern auf Augenhöhe zu sein. Findige<br />
Konstrukteure entwickelten immer kompliziertere<br />
Flugzeuge, die immer höher und<br />
schneller und wendiger durch die Luft<br />
schossen. An der United States Navy<br />
Fighter Weapons School, besser bekannt<br />
unter dem Namen TOP GUN, vertraut man<br />
Elite-Piloten die hochentwickeltsten Düsenjets<br />
der Welt an – komplexe Meisterwerke<br />
menschlicher Ingenieurskunst.<br />
Wie ein Maximum an Hightech in ein 48mm<br />
Gehäuse passt, beweist die Uhrenmanufaktur<br />
IWC Schaffhausen mit der neuen<br />
Grossen Fliegeruhr Ewiger Kalender<br />
TOP GUN. Das Meisterwerk der Haute<br />
Horlogerie hat alles an Bord, was den<br />
Adrenalinspiegel von Uhrenliebhabern in<br />
die Höhe treibt. Beispielsweise das IWC<br />
Kaliber 51614 mit dem effektiven Pellaton-<br />
Aufzug, der eine Gangdauer von sieben<br />
Tagen aufbaut. Das kraftvolle Werk treibt<br />
eine Vielzahl von uhrmacherischen Komplikationen<br />
an. Der ewige Kalender mit vierstelliger<br />
Jahresanzeige nebst Datums-,<br />
Tages- und Monatsanzeige berücksichtigt<br />
alle Schaltjahre des gregorianischen<br />
Kalenders bis in das Jahr 2100. Die Mondphasenanzeige<br />
bildet den Stand des Erdtrabanten<br />
für die nördliche und südliche<br />
Hemisphäre ab. Sämtliche Anzeigen sind<br />
einfach über die Krone zu bedienen und<br />
werden automatisch weitergeschaltet. Die<br />
Grosse Fliegeruhr Ewiger Kalender TOP<br />
GUN verbindet den klassischen Instrumentenlook<br />
mit dem sportlichen Design der<br />
TOP GUN Linie. Das Keramikgehäuse und<br />
die Krone aus Titan verweisen auf die innovative<br />
Technologie von IWC Schaffhausen,<br />
die diese Materialien für ihre Produkte entdeckte.<br />
Dieser Zeitmesser ist eine der aufwendigsten<br />
Fliegeruhren, die je zwischen<br />
Himmel und Erde gebaut wurden. Trotz<br />
ihres komplizierten Innenlebens ist sie absolut<br />
flugtauglich und darf selbst von TOP<br />
GUN Piloten getragen werden. Jetzt schauen<br />
selbst die Adler sehnsüchtig zu den<br />
Jets hinauf. IWC. Engineered for men.<br />
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B e r l i n e r R e p u b l i k | S t a d t g e s p r ä c h<br />
Neue Techniken schaffen neue Berufe. Ein Diplomat schwadroniert über<br />
U-Boote und Unterwäsche. Ein Chefredakteur will einen Chefbanker einstellen.<br />
Linke knausern, in Mitte gibt es Dauerstau, und „Homer“ regiert bald Europa<br />
Beruf mit Zukunft:<br />
Twitter-Assistent<br />
W<br />
ir sollten grundsätzlich viel<br />
weniger griesgrämig durch die<br />
Welt gehen, die Dinge aus einem<br />
anderen Blickwinkel sehen, positiv. Da saß<br />
zum Beispiel kürzlich in Hamburg bei der<br />
Jahrestagung des Netzwerks Recherche dieser<br />
Pirat mit dem schwarzen Cowboyhut<br />
auf dem Podium – neben einem ziemlich<br />
verzweifelt in sich versunkenen Mitdiskutanten<br />
Ulrich Wickert. Wieso, könnte man<br />
mäkeln, trägt ein Pirat einen Cowboyhut,<br />
und – mal unabhängig von dem Mann mit<br />
Hut – wieso muss Uli Wickert eigentlich<br />
auf einem Podium jeden Spinner ernst nehmen,<br />
wenn er Pirat ist?<br />
Sehen wir die Chancen. Sehen wir die<br />
neuen Beschäftigungsfelder, die sich auftun.<br />
Der Cowboypirat Bruno Kramm war nämlich<br />
mit einem „Twitter-Assistenten“ bei<br />
der Veranstaltung auf dem NDR-Gelände<br />
erschienen – jawohl: mit einem „Twitter-<br />
Assistenten“. Und <strong>als</strong> Bruno seinem Assistenten<br />
und einigen Umstehenden gestand,<br />
dass er nervös sei, weil er gleich mit Uli<br />
Wickert zu diskutieren habe, da nahm der<br />
Assistent seinen Apparat zur Hand und<br />
twitterte wahrheitsgemäß: „Bruno ist ganz<br />
aufgeregt. Da kommt Uli Wickert.“<br />
Bleibt nur noch die Frage: Warum twittert<br />
ein Twitter-Assistent in der dritten und<br />
nicht in der ersten Person? Oder haben wir<br />
da was f<strong>als</strong>ch mitbekommen? Ansonsten<br />
aber sollten wir alle nach diesem Erlebnis<br />
nicht mehr so mitleidsvoll an die vielen<br />
brotlosen Künstler denken, die nach der<br />
Machtübernahme der Piraten ihres geistigen<br />
Eigentums beraubt sind. Sie können<br />
doch in neue Branchen wechseln. Twitter-Assistent<br />
werden, zum Beispiel. swn<br />
Diplomat im fettnapf:<br />
U-Boote und U-Wäsche<br />
E<br />
igentlich war es ein netter<br />
Abend in einem Berliner Restaurant.<br />
Vor einem kleinen, ausgewählten<br />
Kreis amerikanischer und deutscher<br />
Juden, zu dem sich auch einige<br />
Vertreter der politischen Klasse aus Berlin<br />
gesellt hatten, allerdings kein Kabinettsmitglied,<br />
hielt der Ehrengast, Seine Exzellenz<br />
Yakov Hadas-Handelsman, Botschafter<br />
des Staates Israel, eine kleine<br />
Ansprache – auf Englisch. Der 54-jährige<br />
Diplomat, der erst am 9. März im Schloss<br />
Bellevue beim dam<strong>als</strong> noch amtierenden<br />
Bundespräsidenten Horst Seehofer sein<br />
Beglaubigungsschreiben abgeliefert hatte,<br />
sprach über die deutsch-israelischen Beziehungen<br />
– es war eine Rede, in der sehr<br />
oft das Schlüsselwort „Holocaust“ vorkam,<br />
auch „U‐Boote“ und „Grass“ und<br />
zum Schluss der Name „Schiesser“. Das<br />
für seine Feinripp-Unterwäsche bekannte<br />
und berüchtigte Unternehmen aus Radolfzell<br />
am Bodensee war gerade von dem<br />
Konkurrenten Delta Galil aus Tel Aviv gekauft<br />
worden, worüber sich der Botschafter<br />
sichtlich freute. „Schiesser“, sagte der<br />
Diplomat in offenkundiger Verkennung<br />
des tatsächlichen Sortiments, sei so etwas<br />
Ähnliches wie das amerikanische Reiz- und<br />
Unterwäsche-Label „Victoria’s Secret“ – ein<br />
Vergleich, der bei den anwesenden Damen<br />
illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />
12 <strong>Cicero</strong> 7.2012
B e r l i n e r R e p u b l i k | S t a d t g e s p r ä c h<br />
das erste befremdete Augenrollen hervorrief.<br />
Der „Schiesser-Deal“ fuhr er fort, sei<br />
ein schönes Beispiel dafür, dass Deutschland<br />
nach den Schrecken der Schoah für<br />
israelische Geschäftsleute doch wieder ein<br />
interessanter Markt geworden sei. Und<br />
dann schloss er seinen Vortrag mit dem Zitat<br />
eines israelischen Journalisten: „Schiesser<br />
means, we’ve got the Germans by the<br />
balls.“ Es sollte ein Scherz sein, aber niemand<br />
konnte richtig drüber lachen. Die<br />
Damen blickten zur Decke, die Herren ins<br />
Glas. Trotzdem war es eigentlich (bis dahin)<br />
ein netter Abend. hp<br />
Vom Gipfel zum Wipfel:<br />
Spitzenjob für Banker<br />
S<br />
eit Anfang Juni ist Jürgen Fitschen<br />
zusammen mit Anshu<br />
Jain Vorstandsvorsitzender der<br />
Deutschen Bank. Für einen hierzulande<br />
tätigen Banker ist dieser Posten das ultimative<br />
Ziel schlechthin, der Olymp, ein<br />
Karriere-Mount-Everest sozusagen. Sollte<br />
man meinen, es sei denn, man heißt Gabor<br />
Steingart und beobachtet die Welt<br />
von Düsseldorf aus <strong>als</strong> Chefredakteur des<br />
Handelsblatts, <strong>als</strong>o sozusagen von der Karriere-Zugspitze<br />
für Wirtschaftsjournalisten.<br />
Fitschen hielt kürzlich eine Rede bei<br />
einer Konferenz in Berlin und schilderte<br />
sehr plastisch seine jüngsten Eindrücke einer<br />
Dienstreise nach Athen. Er erzählte<br />
von immer noch sehr erfolgreichen, alten<br />
Reedern, jungen, an englischen und amerikanischen<br />
Universitäten ausgebildeten<br />
Griechen und einer irritierenden Distanz<br />
beider Gruppen zu ihrem Heimatland.<br />
Steingart, Moderator der anschließenden<br />
Diskussionsrunde, war so beeindruckt von<br />
Fitschens Schilderungen, dass er ihm spontan<br />
coram publico einen Job <strong>als</strong> Reporter<br />
beim Handelsblatt anbot. Also für den<br />
Fall, dass die Doppelspitze mit Jain nicht<br />
funktioniert, und hierarchisch unter ihm,<br />
Steingart, versteht sich. til<br />
Spendable Konservative,<br />
Knauserige Linke<br />
O<br />
b ein bundestagsabgeordneter<br />
zu den Konservativen gehört<br />
oder zu den Linken, das können<br />
Berliner Taxifahrer schon am Trinkgeld<br />
ablesen: Christdemokraten und Liberale<br />
geben großzügig, Sozialdemokraten und<br />
Grüne zurückhaltend, aber am knauserigsten<br />
sind – die Linken. Das jedenfalls hat<br />
sich unter den Chauffeuren herumgesprochen,<br />
die regelmäßig Volksvertreter durch<br />
Berlin fahren. Sie rechnen die Fahrten<br />
„auf Block“ ab – das heißt: Der Fahrgast<br />
unterschreibt, die Bundestagsverwaltung<br />
zahlt. Die Liaison zwischen Oskar Lafontaine<br />
und Sahra Wagenknecht soll übrigens<br />
durch die Indiskretion eines Chauffeurs<br />
publik geworden sein, der des Öfteren<br />
Sahra bei Oskar oder Oskar bei Sahra abholen<br />
musste. Wahrscheinlich hätte er bei<br />
etwas mehr Trinkgeld geschwiegen. hp<br />
Autos im Dauerstau –<br />
Dienstfahrräder knapp<br />
F<br />
ahrradfahren ist an sich eine<br />
wunderbare Sache. Radfahrer<br />
schonen die Umwelt, tun etwas<br />
für die eigene Gesundheit und kommen<br />
im Zentrum Berlins auf jeden Fall schneller<br />
ans Ziel <strong>als</strong> die Autofahrer. Denen nämlich<br />
hat die Bezirksverwaltung von Mitte<br />
in diesem Sommer endgültig den Krieg<br />
erklärt: Die wichtigste West-Ost-Magistrale<br />
vom Brandenburger Tor bis zur Siegessäule<br />
wurde zur Fanmeile umfunktioniert<br />
und somit für den normalen Verkehr komplett<br />
gesperrt. Gleichzeitig ist auch noch<br />
die wichtigste Nord-Süd-Verbindung, die<br />
Friedrichstraße, lahmgelegt. Der Grund:<br />
An der Ecke Unter den Linden entsteht<br />
ein neuer U-Bahnhof. Was die Grünen<br />
nicht schafften, ist der Großen Koalition<br />
im Bezirk Mitte gelungen: Wer es irgend<br />
kann, steigt vom Auto in U- und S-Bahn<br />
oder aufs Fahrrad um. Im Bundesministerium<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
und Entwicklung (BMZ), dessen Chef<br />
Dirk Niebel in jüngster Zeit wegen eines<br />
zollfrei eingeflogenen Teppichs Kontakt<br />
zur Staatsanwaltschaft Berlin aufnehmen<br />
musste, hat dies bereits zu Engpässen geführt.<br />
Die fünf Dienstfahrräder, die bis<br />
dahin meistens ungenutzt im Keller des<br />
Ministeriums standen, sind plötzlich ausgebucht.<br />
Wer eines haben will, muss sich<br />
jetzt Tage vorher anmelden. Da hilft nur<br />
eines: 20 neue Dienstfahrräder anschaffen.<br />
Ist garantiert billiger <strong>als</strong> ein neuer Dienstwagen,<br />
führt schneller ans Ziel und ist<br />
auch noch gesünder. hp<br />
Neues aus dem Élysée:<br />
Homer statt Merkozy<br />
I<br />
n einer der Talkshows, mit denen<br />
die Öffentlich-Rechtlichen<br />
kostbare Sendezeit füllen, Zuschauer<br />
nerven und Millionen sparen (die<br />
sie für Fußball und Unterhaltungsorgien<br />
brauchen), klärte uns Michel Friedman,<br />
der denkschnellste und mundfertigste der<br />
deutschen TV-Routiniers, darüber auf,<br />
dass „Merkozy“, das deutsch-französische<br />
Europaar, dank des Machtwechsels im Palais<br />
d’Élysée von den Regenten des Fantasie-Landes<br />
„Merlande“ abgelöst werde.<br />
F<strong>als</strong>ch. Im Zeichen der Griechen-Misere<br />
kamen die Protagonisten – in schöner Bescheidung,<br />
aber mit ihrer klassischen Bildung<br />
protzend – überein, künftig nur noch<br />
auf den gemeinsamen Namen „Homer“ zu<br />
hören. pp<br />
illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />
14 <strong>Cicero</strong> 7.2012
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T i t e l<br />
16 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Comeback der<br />
Autokraten<br />
<strong>Diktator</strong>en treten nicht mehr unbedingt wie<br />
Gaddafi in bizarren Uniformen auf oder <strong>als</strong><br />
brutale Schlächter wie Idi Amin. Sie pflegen<br />
heute das Image des honorigen Staatsmanns und<br />
erwecken den Anschein, <strong>als</strong> respektierten sie<br />
den Rechtsstaat. Denn moderne Alleinherrscher<br />
haben gelernt, die Demokratie mit den Methoden<br />
des 21. Jahrhunderts auszuhebeln<br />
Von William J. Dobson<br />
China: Mao Zedong opferte<br />
über sieben Millionen<br />
Menschen während der<br />
Kulturrevolution<br />
Illustration: Wieslaw Smetek; Fotos: Bildagentur-online/Tips-Scozzari, Imago<br />
P<br />
eter Ackerman sitzt in seinem<br />
weiträumigen Eckbüro<br />
am Ende der Pennsylvania Avenue.<br />
Von seinem Platz sieht er<br />
buchstäblich auf die Weltbank<br />
hinab. Der 64‐Jährige ist Geschäftsführer<br />
von Rockport Capital Incorporated,<br />
einem kleinen, exklusiven Investmenthaus.<br />
An einem kristallklaren Nachmittag<br />
im August führt er mich durch eine Power-Point-Präsentation<br />
und spricht über<br />
das Risiko-Rendite-Verhältnis. Die Folien<br />
haben allerdings nichts mit Investitionen,<br />
Dividenden und Finanzen zu tun.<br />
Es geht vielmehr um die beste Methode,<br />
einen <strong>Diktator</strong> zu stürzen.<br />
Vor 25 Jahren hätte man Ackerman<br />
kaum für jemanden gehalten, der andere<br />
darin berät, wie man die schlimmsten Regime<br />
der Welt zu Fall bringen kann. Er war<br />
viel zu beschäftigt damit, <strong>als</strong> rechte Hand<br />
von Junk-Bond-König Michael Milken an<br />
der Wall Street abzusahnen. 1988 verdiente<br />
Ackerman 165 Millionen Dollar, <strong>als</strong> er den<br />
mit 25 Milliarden Dollar fremdfinanzierten<br />
Auskauf von RJR Nabisco organisierte.<br />
Als ein Insidergeschäft aufflog, wanderte<br />
Milken ins Gefängnis. Ackerman zahlte<br />
80 Millionen Dollar Strafe und durfte rund<br />
500 Millionen behalten.<br />
Einen beträchtlichen Teil dieses Vermögens<br />
setzt Ackerman nun dazu ein, weltweit<br />
Weißrussland: Präsident<br />
Alexander Lukaschenko<br />
bekannte, er sei lieber ein<br />
<strong>Diktator</strong> <strong>als</strong> schwul<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 17
T i t e l<br />
die Tyrannei abzuschaffen. 2002 gründete<br />
er das International Center on Nonviolent<br />
Conflict, das Seminare, Workshops und<br />
Schulungen für gewaltlose Strategien zum<br />
Sturz repressiver Regime abhält. Aktivisten<br />
aus Ägypten, Iran, Russland, Venezuela,<br />
Simbabwe und Dutzenden anderen Ländern<br />
kennen Ackerman sehr gut. Einige<br />
von ihnen haben seine Büroräume in den<br />
oberen Stockwerken in Foggy Bottom, einem<br />
Stadtteil von Washington, kennengelernt.<br />
Andere haben seine Filme gesehen –<br />
vor allem „Bringing Down a Dictator“<br />
(„Wie man einen <strong>Diktator</strong> stürzt“), der<br />
zeigt, wie junge Serben im Oktober 2000<br />
Slobodan Milošević zu Fall brachten. Der<br />
Film gewann einen Peabody Award und erschien<br />
auf Arabisch, Farsi, Mandarin, Vietnamesisch<br />
und in mindestens sieben weiteren<br />
Sprachen. Die Georgier sagen, er habe<br />
sie 2003 zu ihrer Rosenrevolution inspiriert,<br />
ein friedlicher demokratischer Aufstand,<br />
der den ehemaligen kommunistischen<br />
Präsidenten Eduard Schewardnadse<br />
aus dem Amt trieb. 2006 stieg Ackerman<br />
auch in das Videospielgeschäft ein. Er finanzierte<br />
die Entwicklung von „A Force<br />
More Powerful“, ein Spiel, mit dem Aktivisten<br />
in der virtuellen Welt Strategien<br />
zum Sturz von Tyrannen trainieren können.<br />
Tausende von Kopien hat er in einige der<br />
repressivsten Staaten der Welt geschmuggelt.<br />
2010 brachte er eine neue Version des<br />
Spiels mit dem Namen „People Power“ auf<br />
den Markt. („Dieses Spiel ist das Subversivste,<br />
was ich je gemacht habe“, sagt er.<br />
„Ich habe Millionen ausgegeben, um es zu<br />
perfektionieren.“) Als ich ihn frage, warum<br />
er den Kampf gegen Tyrannen zu seiner<br />
Lebensaufgabe gemacht habe, sieht er<br />
mich an und sagt: „Ich bin doch nur im<br />
Vertriebsgeschäft. Ich bediene eine Nachfrage,<br />
das ist alles.“ Es ist ein gutes Geschäft,<br />
hätte er noch hinzufügen können.<br />
Es ist nicht leicht, heutzutage <strong>Diktator</strong><br />
zu sein. Bis vor kurzem konnte ein Autokrat,<br />
sei es ein nationalistischer „starker<br />
Mann“, ein Held der Revolution oder ein<br />
kommunistischer Apparatschik, stumpfe<br />
Waffengewalt einsetzen, um sein Volk zu<br />
knebeln. Josef Stalin schickte Millionen<br />
Landsleute in den Gulag. Mao Zedong<br />
startete eine revolutionäre Massenkampagne,<br />
die sich gegen Intellektuelle, Kapitalisten<br />
und überhaupt gegen jeden in<br />
China richtete, dem unterstellt wurde, er<br />
Syrien: Präsident Baschar al-Assad geht<br />
seit über einem Jahr mit äußerster Härte<br />
gegen seine Gegner vor – dabei starben über<br />
11 000 Menschen, darunter 5000 Kinder<br />
Venezuela: Hugo Chávez ließ die<br />
Verfassung ändern, damit er ein drittes<br />
Mal Präsident werden konnte<br />
Kuba: Raúl Castro „erbte“ Partei- und<br />
Staatsfunktionen von seinem Bruder Fidel<br />
Nordkorea: Der „Oberste Führer“ Kim Jong<br />
Un frönt wie seine Vorgänger der Gigantomanie,<br />
während nach UN-Angaben zwei<br />
Drittel der Bevölkerung an Hunger leiden<br />
sei nicht „rot“, <strong>als</strong>o kommunistisch genug.<br />
Maos „Großer Sprung nach vorn“ kostete<br />
innerhalb weniger Jahre mehr <strong>als</strong> 35 Millionen<br />
Menschen das Leben. Das Regime<br />
des ugandischen <strong>Diktator</strong>s Idi Amin ermordete<br />
nicht weniger <strong>als</strong> 500 000 Menschen.<br />
Fast zwei Millionen Kambodschaner<br />
starben innerhalb von drei Jahren auf<br />
Pol Pots Killing Fields. Im Februar 1982<br />
zerschlug Hafiz al-Assad einen Aufstand<br />
in der syrischen Stadt Hama. Nachdem sie<br />
die Stadt mit Kampfhubschraubern und<br />
schwerer Artillerie belagert hatten, gingen<br />
Assads Truppen von Haus zu Haus. Mehr<br />
<strong>als</strong> 25 000 Syrer wurden noch vor Monatsende<br />
niedergemetzelt.<br />
<strong>Diktator</strong>en sind immer noch zu großen<br />
Verbrechen fähig. Doch die Despoten<br />
von heute sehen sich größerem Widerstand<br />
ausgesetzt <strong>als</strong> früher. Mit dem Ende des<br />
Kalten Krieges verloren viele ihren wichtigsten<br />
Sponsor, ihre ökonomische Lebensader,<br />
die Sowjetunion. Das Geschäft mit<br />
der Demokratieförderung wurde beinahe<br />
über Nacht zur Hausindustrie: Ein ganzes<br />
Heer von westlichen Experten, Aktivisten<br />
und Wahlbeobachtern steht heute bereit,<br />
um Menschenrechtsverletzungen, schwere<br />
Korruption und Wahlfälschungen öffentlich<br />
zu machen. Vor 20 Jahren musste sich<br />
die Pekinger Führung nur vor den Scheinwerfern<br />
der Fernsehkameras fürchten, <strong>als</strong><br />
die Panzer auf den Tiananmen-Platz rollten.<br />
Nachdem die Chinesische Kommunistische<br />
Partei das Kriegsrecht ausgerufen<br />
hatte, zog sie CNN buchstäblich den<br />
Stecker. Doch das ist vorbei. 2006 filmte<br />
eine Expedition europäischer Bergsteiger<br />
chinesische Soldaten, die in einem Gebirgspass<br />
des Himalayas in 5800 Metern<br />
Höhe auf tibetische Mönche, Frauen und<br />
Kinder schossen. Das Massaker verbreitete<br />
sich in Windeseile auf Youtube und führte<br />
dazu, dass internationale Menschenrechtsgruppen<br />
Chinas Gewalt gegen Flüchtlinge<br />
scharf verurteilten. 2011 verwies Syrien<br />
alle ausländischen Journalisten, die über<br />
den Aufstand gegen Baschar al-Assad berichten<br />
wollten, des Landes – doch es half<br />
nichts: Täglich stellten syrische Aktivisten<br />
schockierendes Videomaterial der brutalen<br />
Repression ins Internet, auf dem zu sehen<br />
war, wie friedliche Demonstranten und Beerdigungszüge<br />
von Scharfschützen des Regimes<br />
zusammengeschossen wurden. Die<br />
<strong>Diktator</strong>en dieser Welt können heute nicht<br />
mehr darauf hoffen, dass ihre Gräueltaten<br />
Fotos: DDP Images/AP Photo (2), Corbis, Action Press/KYODO NEWS<br />
18 <strong>Cicero</strong> 7.2012
geheim bleiben. Wenn sie zuschlagen, und<br />
sei es in einem Gebirgspass im Himalaya,<br />
dann müssen sie davon ausgehen, dass alles<br />
mit einem iPhone aufgezeichnet und der<br />
ganzen Welt zugespielt wird. Der Preis der<br />
Tyrannei war noch nie so hoch.<br />
Das Blatt begann sich schon lange vor<br />
Internet und Twitter gegen die <strong>Diktator</strong>en<br />
zu wenden, sogar lange vor dem Zusammenbruch<br />
der Sowjetunion. Ihr Ärger<br />
nahm seinen Anfang im Jahr 1974 in Portugal,<br />
um genau zu sein: um 12:25 Uhr<br />
am Morgen des 25. April, <strong>als</strong> ein Lissabonner<br />
Radiosender das Lied „Grandola, Vila<br />
Morena“ spielte. Es war ein verabredetes<br />
Zeichen für Einheiten des portugiesischen<br />
Militärs, den Putsch einzuleiten. Einen Tag<br />
später hatten sie Portug<strong>als</strong> <strong>Diktator</strong>, Marcello<br />
Caetano, ins Exil getrieben. Dem Politikwissenschaftler<br />
Samuel Huntington zufolge<br />
markieren die politischen Kräfte, die<br />
an diesem Tag freigesetzt wurden, den Beginn<br />
einer weltweiten Welle der Demokratisierung,<br />
die in den folgenden Jahrzehnten<br />
reihenweise autoritäre Regime hinwegfegen<br />
und durch demokratische Regierungen ersetzen<br />
sollte.<br />
Nach Portugal kippte in Südeuropa<br />
eine ganze Reihe rechter Diktaturen. Die<br />
Militärjunten Lateinamerikas und autoritären<br />
Regime Ostasiens folgten. All das<br />
waren Erschütterungen, doch der Zusammenbruch<br />
der kommunistischen Regierungen<br />
in Osteuropa im Jahre 1989 war<br />
ein regelrechtes Erdbeben. 1974 gab es<br />
weltweit nur 41 Demokratien. 1991, <strong>als</strong><br />
die Sowjetunion zusammenbrach, war die<br />
Zahl der demokratisch regierten Länder auf<br />
76 hochgeschnellt.<br />
Bald stellte sich heraus, dass dies erst<br />
der Beginn der Boomjahre der Demokratie<br />
sein sollte. In Afrika entstand mehr <strong>als</strong><br />
ein Dutzend neuer Demokratien. Wichtige<br />
demokratische Transformationen ereigneten<br />
sich in Schlüsselländern wie Indonesien<br />
und Mexiko. 1998 unterhielten die USA<br />
in mehr <strong>als</strong> 100 Ländern Demokratieförderungsprogramme.<br />
Im Jahre 2000 fügte<br />
Serbiens Revolution der Galerie der Demokratien<br />
noch ein weiteres Land hinzu.<br />
Die „Farbrevolutionen“ – Georgien 2003,<br />
Ukraine 2004 und Kirgistan 2005 – waren<br />
ein Symbol dafür, wie sehr die Freiheit<br />
gegenüber dem Autoritarismus auf<br />
dem Vormarsch war. 2005 hatte sich die<br />
Zahl der Demokratien in der Welt mehr<br />
<strong>als</strong> verdreifacht, seit Portug<strong>als</strong> junge Offiziere<br />
besagtes Lied im Radio hörten.<br />
Doch dann änderte sich etwas. Die<br />
Welle der Demokratisierung erreichte ihren<br />
Scheitelpunkt, und die unangenehmsten<br />
Regime der Welt – ein wildes Gemisch<br />
aus <strong>Diktator</strong>en, starken Führern und autoritären<br />
Regierungen – erlebten ein Comeback.<br />
Der Grad an politischer Freiheit auf<br />
der Welt sank jährlichen Berichten des Forschungsinstituts<br />
Freedom House zufolge in<br />
den darauffolgenden fünf Jahren; es war<br />
der längste kontinuierliche Niedergang<br />
von politischen Rechten und zivilen Freiheiten,<br />
seit die Organisation diese Trends<br />
vor 40 Jahren zu messen begonnen hatte.<br />
Militärputsche stürzten demokratische Regierungen<br />
in Asien, in Lateinamerika verbreitete<br />
sich eine populistische Spielart des<br />
Autoritarismus. Selbst die noch frischen Erfolgsgeschichten<br />
in Georgien, Ukraine und<br />
Im Jahr 2010 war die<br />
Zahl der Demokratien<br />
auf ihren niedrigsten<br />
Stand seit 1995<br />
gefallen. Huntingtons<br />
„Welle“ scheint sich<br />
ausgelaufen zu haben<br />
Kirgistan begannen zu kippen. 2010 war<br />
die Zahl der Demokratien auf ihren niedrigsten<br />
Stand seit 1995 gefallen. Anders<br />
ausgedrückt: Die Prozentzahl der <strong>als</strong> „frei“<br />
bewerteten Länder war seit mehr <strong>als</strong> einem<br />
Jahrzehnt unverändert geblieben, festgefroren<br />
bei rund 46 Prozent. Huntingtons<br />
„Welle“ schien sich ausgelaufen zu haben.<br />
Das Problem ist nicht die Demokratie<br />
an sich. 2011 erinnerte der Arabische Frühling<br />
jeden daran, dass das Ideal der politischen<br />
und ökonomischen Freiheit selbst inmitten<br />
einer globalen Rezession nichts von<br />
seiner Anziehungskraft verloren hat. Überall<br />
wollen die Menschen frei sein, immer<br />
noch. Was sich aber geändert hat, ist die<br />
Natur der Diktatur. Die Tyrannen und Autokraten<br />
von heute sind weitaus raffinierter,<br />
gerissener und geschickter <strong>als</strong> früher.<br />
Unter wachsendem Druck verwandeln die<br />
klügeren unter ihnen ihr Regime nicht in<br />
einen Polizeistaat und schotten sich auch<br />
nicht von der Außenwelt ab. Sie haben<br />
stattdessen gelernt, sich anzupassen. In<br />
Dutzenden autoritären Regimen hat der<br />
Vormarsch der Demokratie zu Experimenten,<br />
Kreativität und einer neuen Listigkeit<br />
geführt. Moderne Autokraten haben ihre<br />
Techniken, Methoden und Strategien des<br />
Machterhalts erfolgreich verfeinert und so<br />
die Diktatur für das moderne Zeitalter fit<br />
gemacht.<br />
Der <strong>Diktator</strong> von heute hat begriffen,<br />
dass brutale Formen der Einschüchterung<br />
– Massenverhaftungen, Exekutionskommandos<br />
und gewaltsame Razzien – im<br />
Zeitalter der Globalisierung besser durch<br />
subtilere Formen von Zwang ersetzt werden.<br />
Anstatt die Mitglieder einer Menschenrechtsgruppe<br />
zu verhaften, hetzt der<br />
moderne Despot ihnen die Steuerfahnder<br />
oder Gesundheitsinspektoren auf den H<strong>als</strong>,<br />
wenn er eine Dissidentengruppe auflösen<br />
will. Gesetze werden dehnbar formuliert<br />
und dann wie ein Skalpell dazu eingesetzt,<br />
um gegen Gruppen vorzugehen, von denen<br />
sich Regierungen bedroht fühlen. (In<br />
Venezuela scherzte ein Aktivist, Präsident<br />
Hugo Chávez regiere nach dem Motto: Für<br />
meine Freunde alles, für meine Feinde das<br />
Gesetz.) Anstatt alle Informationskanäle<br />
zu schließen, lässt man Schlupflöcher für<br />
kleine Medien – meist Zeitungen –, die<br />
eine sehr begrenzte öffentliche Diskussion<br />
ermöglichen. Heute würzt der <strong>Diktator</strong><br />
seine Reden mit Verweisen auf Freiheit,<br />
Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit. Die<br />
Führung der Chinesischen Kommunistischen<br />
Partei beruft sich regelmäßig auf die<br />
Demokratie und erklärt sich zur gewählten<br />
Regierung des Landes. Moderne Autokraten<br />
haben begriffen, dass wichtig ist, wie etwas<br />
nach außen wirkt. Die totalitären Führer<br />
des 20. Jahrhunderts hielten „Wahlen“<br />
ab, bei denen sie absurd hohe Stimmanteile<br />
einfuhren. Die Parteivorsitzenden der<br />
Sowjetunion gewannen ihre Abstimmungen<br />
regelmäßig mit unerklärlichen 99 Prozent<br />
der Stimmen. Heute beschränken die<br />
Agenten des Kremls ihre Wahlurnenbefüllung<br />
auf 70 Prozent. Moderne <strong>Diktator</strong>en<br />
haben verstanden, dass es besser ist, scheinbar<br />
wettbewerbsreiche Wahlen zu gewinnen,<br />
<strong>als</strong> sie ganz offen zu stehlen.<br />
Wir glauben oft, autoritäre Regime seien<br />
Dinosaurier – ungeschickte, schwerfällige,<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 19
T i t e l<br />
trampelnde Riesen wie die Sowjetunion<br />
kurz vor ihrem Ende oder irgendeine instabile<br />
lateinamerikanische Bananenrepublik.<br />
Tatsächlich hat es eine Handvoll rückwärtsgewandter<br />
Diktaturen des alten Schlags geschafft,<br />
irgendwie ins 21. Jahrhundert zu<br />
rutschen. Dazu gehören die Nordkoreas,<br />
Turkmenistans und Äquatorialguineas dieser<br />
Welt. Doch sie stehen für einen veralteten<br />
Typus Diktatur. Sie geben sich keine<br />
Mühe, <strong>als</strong> etwas anderes zu erscheinen, <strong>als</strong><br />
sie sind. Doch handelt es sich nur noch um<br />
entlegene Außenposten, während andere<br />
Regime gelernt haben, sich zu entwickeln,<br />
zu wandeln, teilweise sogar zu prosperieren.<br />
Niemand will das nächste Nordkorea sein.<br />
Der Totalitarismus hat sich <strong>als</strong> Phänomen<br />
des 20. Jahrhunderts erwiesen. Er<br />
war das ehrgeizigste unter den undemokratischen<br />
Projekten, das je unternommen<br />
wurde, und er hat schlecht abgeschnitten.<br />
Man kann argumentieren, dass Nordkorea<br />
an der totalitären Methode festhält; das ist<br />
vor allem deshalb möglich, weil das Land<br />
Nuklearwaffen entwickelt und der verstorbene<br />
Kim Jong Il bereit war, sein eigenes<br />
Volk verhungern zu lassen. Moderne <strong>Diktator</strong>en<br />
agieren aber in der viel verschwommeneren<br />
Grauzone zwischen Demokratie<br />
und Autoritarismus. Sie wollen den Rückhalt<br />
ihrer Bevölkerung gewinnen, indem<br />
sie die Menschen zufriedenstellen; falls das<br />
misslingt, sind sie aber auch einverstanden<br />
damit, ihre Kritiker durch Angst und selektive<br />
Einschüchterung mundtot zu machen.<br />
„Mein Vater hat immer gesagt, dass er lieber<br />
in einer Diktatur wie der kubanischen<br />
leben würde“, erzählt Alvaro Partidas, ein<br />
venezolanischer Aktivist. „Da weiß man<br />
zumindest, dass man ins Gefängnis geht,<br />
wenn man die Regierung kritisiert. Bei uns<br />
dagegen regieren sie durch Unsicherheit.“<br />
Aus der Entfernung sehen einige der<br />
schlimmsten Autokratien der Welt beinahe<br />
demokratisch aus. Häufig ist in ihren Verfassungen<br />
eine Gewaltenteilung zwischen<br />
Exekutive, Legislative und Judikative verankert.<br />
Es mag Unterschiede geben – eine<br />
oder zwei Volkskammern, unterschiedliche<br />
Verteilung von Befugnissen –, doch viele<br />
institutionelle Merkmale von autoritären<br />
Staaten finden, zumindest auf dem Papier,<br />
ihre Entsprechung in einigen der langweiligsten<br />
Demokratien der Welt.<br />
Nehmen wir zum Beispiel Russland.<br />
Selbst <strong>als</strong> Wladimir Putin zunehmend<br />
Iran: Als Oberster Rechtsgelehrter hat<br />
Ajatollah Ali Chamenei uneingeschränkte<br />
Machtbefugnisse über alle Institutionen<br />
China: Partei- und Staatschef Hu Jintao<br />
mag wie ein gütiger Großvater<br />
wirken, Kritiker lässt er aber die ganze<br />
Härte der Staatsmacht spüren<br />
Libyen: Revolutionsführer Muammar<br />
al‐Gaddafi wurde vom eigenen Volk gestürzt<br />
Serbien: Präsident Slobodan Milošević<br />
war unter anderen für das Massaker<br />
von Srebrenica verantwortlich, wo<br />
8000 Menschen ermordet wurden<br />
autoritär regierte, verstieß er nie gegen<br />
die russische Verfassung. Er agierte an den<br />
Nahtstellen des politischen Systems und<br />
konzentrierte seine Macht durch Kanäle,<br />
denen er einen demokratischen Anstrich<br />
geben konnte. So mochten sich Kritiker<br />
zwar darüber beschweren, die 7-Prozent-<br />
Hürde, die jede Partei überwinden muss,<br />
um ins Parlament zu kommen, sei ein zynischer<br />
Kniff, mit dem Oppositionskandidaten<br />
ausgeschlossen werden sollen – tatsächlich<br />
stimmt das. Doch Putin konnte<br />
auf ganz ähnliche Regelungen in den parlamentarischen<br />
Systemen von unverwüstlich<br />
demokratischen Staaten wie Polen,<br />
Deutschland oder der Tschechischen Republik<br />
verweisen. In Venezuela schlug Hugo<br />
Chávez vor, die Direktwahl der Gouverneure<br />
durch eine präsidentielle Ernennung<br />
der Regionalregierungen zu ersetzen – auch<br />
das ein durchsichtiger Versuch, politische<br />
Macht zu konzentrieren und die Opposition<br />
auszuschalten. Gleichzeitig gibt es<br />
diese Praxis in einigen der gelassensten Demokratien<br />
der Welt, wie den baltischen<br />
Staaten Estland und Litauen. Viele dieser<br />
Maßnahmen sind für sich genommen<br />
noch kein Machtmissbrauch. Viele Merkmale<br />
eines modernen autoritären Regimes<br />
stehen nicht zwingend im Widerspruch<br />
zu denen einer gesunden Demokratie. Ein<br />
einzelnes Teilchen in der Mechanik eines<br />
politischen Systems kann vielerlei bedeuten.<br />
Immerhin sind sogar einige Aspekte<br />
der amerikanischen Demokratie – etwa<br />
der Wahlausschuss oder die Federal Reserve<br />
– undemokratisch. Stattdessen sollte<br />
man sich ansehen, wie moderne autoritäre<br />
Systeme in der Praxis funktionieren. Dazu<br />
muss man ganz nah rangehen.<br />
Kaum jemand kennt sich besser aus<br />
mit Diktaturen, die sich einen neuen Anstrich<br />
geben, <strong>als</strong> Ludmilla Alexejewa. Die<br />
84-jährige Menschenrechtsaktivistin gehört<br />
zu den letzten russischen Dissidenten,<br />
deren Widerstand gegen das offizielle<br />
Moskau bis in die späten sechziger Jahre zurückreicht,<br />
die Tage des sowjetischen Parteiführers<br />
Leonid Breschnew. Selbst jetzt,<br />
gebrechlich und beim Laufen auf Hilfe<br />
angewiesen, führt Alexejewa eine Bewegung<br />
an, die für die Russen das Recht auf<br />
freie Versammlung erkämpfen will. An jenem<br />
Morgen, an dem ich in ihrer Moskauer<br />
Wohnung sitze, klingelt ihr Telefon<br />
in einem fort. („Menschenrechtsaktivisten<br />
sind momentan sehr gefragt“, sagt sie<br />
Fotos: Picture Alliance/Abaca, DDP Images/AP Photo, Picture Alliance/DPA, Ullstein Bild/Reuters<br />
20 <strong>Cicero</strong> 7.2012
lachend. „Wir sind sehr beliebt in unserem<br />
Land.“) In den Anfangsjahren ihrer Arbeit<br />
war das Risiko groß. Als Dissident in der<br />
Sowjetunion musste man darauf vorbereitet<br />
sein, „sich zu opfern oder sich eines Tages<br />
im Gefängnis wiederzufinden oder in<br />
einer Psychiatrie. Heute muss die gleiche<br />
Person davon ausgehen, dass sie entweder<br />
unschädlich gemacht oder getötet wird.“<br />
Früher hätte das Regime jemanden verhaftet,<br />
und man hätte nie mehr etwas von<br />
ihm gehört. Heute hat jemand einen Unfall<br />
oder wird Opfer eines scheinbar willkürlichen<br />
Überfalls.<br />
Die Bürger in der Sowjetunion konnten<br />
sich kaum auf das Gesetz berufen, um<br />
sich zu schützen. Für die Russen ist das<br />
heute anders. „Die russische Verfassung garantiert<br />
dieselben Rechte und Freiheiten<br />
wie alle westlichen Verfassungen“, sagt Alexejewa.<br />
„Tatsächlich wird aber nur ein einziges<br />
Recht wirklich geschützt – das Recht<br />
auszureisen, das Land zu verlassen.“ Mit<br />
der Folge, dass Menschen, die gegen das<br />
Regime sind, einfach fortgingen. Während<br />
die Diktatur im sowjetischen System auf<br />
geschlossene Grenzen setzte, baut Putins<br />
Autoritarismus auf offene Grenzen. Die<br />
Welt hat sich verändert, aber die klügeren<br />
unter den <strong>Diktator</strong>en haben sich ebenfalls<br />
weiterentwickelt. Ebenso schnell, wie sich<br />
ihre Umwelt gewandelt hat und die alten<br />
Regeln ihre Gültigkeit verloren haben,<br />
haben geschickte Regime dazugelernt und<br />
sich angepasst.<br />
Im Zentrum der Diktatur steht das unantastbare<br />
Prinzip der Machtkonzentration.<br />
Dieses Prinzip, die Kontrolle der vielen<br />
durch ein paar wenige, lässt die heutigen<br />
autoritären Regime zunehmend anachronistisch<br />
wirken. In allen Bereichen des modernen<br />
Lebens werden Hierarchien und<br />
Institutionen flacher, das Individuum gewinnt<br />
an Einfluss. Die zentralen Lehren der<br />
Diktatur kommen mit jedem Tag mehr aus<br />
der Mode. Deswegen sind in unserer Welt<br />
der uneingeschränkten Information und<br />
der offenen Grenzen autoritäre Regime bewusste,<br />
menschengemachte Projekte, die<br />
sorgfältig aufgebaut, auf Hochglanz poliert<br />
und gestützt werden müssen. Für Pariastaaten<br />
ist diese Aufgabe weniger kompliziert –<br />
sie haben sich dazu entschlossen, in der Defensive<br />
zu verharren und sich die Welt vom<br />
Leib zu halten. Sie können Jahre oder Jahrzehnte<br />
überdauern; unübersehbar ist aber,<br />
Moderne autoritäre<br />
Regime verfügen über<br />
eine genau durchdachte<br />
Architektur, die ständige<br />
Wartung erfordert.<br />
Denn auch ihre Gegner<br />
haben dazugelernt<br />
dass die Mauern, die sie zu ihrem Schutz<br />
errichtet haben, sie wie Gefängnismauern<br />
umgeben. Moderne Diktaturen, die<br />
sich dazu entschlossen haben, mit anderen<br />
zu interagieren und sich jenem Druck<br />
zu öffnen, der auch schon andere gefährdet<br />
hat, sind meist komplexer. Sie wollen<br />
Repression mit Regulierung mischen, um<br />
den größtmöglichen Nutzen aus dem globalen<br />
politischen System zu ziehen, ohne<br />
ihren eisernen Griff an der Macht lockern<br />
zu müssen. Das moderne autoritäre Regime<br />
hat eine genau durchdachte Architektur,<br />
die ständige Wartung erfordert –<br />
nicht nur wegen der abstrakten Kräfte der<br />
Moderne, sondern auch wegen jener Kräfte,<br />
die es stürzen wollen. Nicht nur die <strong>Diktator</strong>en<br />
sind geschickter geworden, auch ihre<br />
Gegner haben dazugelernt.<br />
Viel wird heute über amerikanische<br />
Demokratieförderung oder UN-Interventionen<br />
geschrieben, doch der Kampf zwischen<br />
Demokratie und Diktatur ist selten,<br />
fast nie, ein Kampf zwischen Staaten; es ist<br />
ein Wettbewerb zwischen Menschen. Staaten<br />
sind normalerweise zu schwerfällig zum<br />
Handeln, selbst wenn sie sehen, dass ein<br />
Land an der Schwelle zur Revolution steht.<br />
2011 ließen die USA ihre autokratischen<br />
Verbündeten in Tunesien und<br />
Ägypten erst im letztmöglichen Moment<br />
fallen. Wenn es um Interventionen gegen<br />
ein verhasstes Regime wie das syrische<br />
geht, zögern sie. Selbst 1989, <strong>als</strong> die Berliner<br />
Mauer fiel, sorgten sich amerikanische<br />
Diplomaten, was ihnen die neue politische<br />
Landschaft wohl bescheren würde.<br />
Sie gingen sogar so weit, ehemalige Sowjetstaaten<br />
davor zu warnen, ihre Unabhängigkeit<br />
zu erklären. Es ist nicht so, dass die<br />
Haltung der USA keine Rolle spielt. Sie ist<br />
wichtig, unter Umständen sogar entscheidend.<br />
Doch ob es uns gefällt oder nicht, es<br />
kommt eher selten vor, dass das Interesse<br />
der USA an einem demokratischen Wandel<br />
– auch an einem Wandel, der einen<br />
geächteten Autokraten stürzen könnte –<br />
nicht durch widerstreitende Interessen oder<br />
Angst vor dem Unbekannten konterkariert<br />
wird. Selten passen alle Variablen zusammen,<br />
wie es in den letzten Monaten von<br />
Muammar al-Gaddafis Libyen der Fall war,<br />
<strong>als</strong> es der internationalen Gemeinschaft gelang,<br />
gemeinsam gegen einen strauchelnden<br />
und isolierten <strong>Diktator</strong> vorzugehen,<br />
der kurz davor stand, eine schreckliche<br />
humanitäre Tragödie anzurichten.<br />
Autoritäre Regime fürchten sich nicht<br />
sonderlich vor den USA. Warum sollten<br />
sie? Auch wir sind verstrickt. Die Amerikaner<br />
gehören zu Chinas wichtigsten Handelspartnern,<br />
sie sind der größte Abnehmer<br />
venezolanischen Öls, überweisen Milliarden<br />
an Hilfszahlungen an das ägyptische<br />
Militär und werben um Russlands diplomatische<br />
Unterstützung bei einer Reihe<br />
grundlegender strategischer Fragen. Autoritäre<br />
Regierungen brauchen sich nicht<br />
über UN-Sanktionen oder Eingriffe ausländischer<br />
Menschenrechtsgruppen aufzuregen,<br />
zumal sich Letztere ja problemlos<br />
ausweisen lassen. Im Gegenteil: Die<br />
bloße Androhung einer ausländischen Intervention<br />
durch die USA, die Vereinten<br />
Nationen oder eine Institution wie den Internationalen<br />
Strafgerichtshof kann sogar<br />
nützlich sein, weil sie nationalistische Leidenschaften<br />
schürt und die Bevölkerung<br />
dazu bringt, sich geschlossen hinter das Regime<br />
zu stellen.<br />
Was <strong>Diktator</strong>en und Autokraten am<br />
meisten fürchten, ist ihr eigenes Volk. Sie<br />
wissen, dass die größte Gefahr für ihre<br />
Herrschaft im eigenen Land entsteht. Peter<br />
Ackerman hat das ebenfalls begriffen. Er<br />
glaubt nicht daran, dass eine Diktatur „reif“<br />
sein muss, um gestürzt zu werden. Aus seiner<br />
Sicht gibt es keine notwendigen Bedingungen<br />
für eine gewaltfreie Revolution.<br />
Regime, die schon kurz vor dem Aus stehen,<br />
überleben. Andere, mit deren Zusammenbruch<br />
niemand gerechnet hätte, zerfallen<br />
innerhalb weniger Tage. Es gibt keinen<br />
klaren Zusammenhang zwischen der Brutalität<br />
eines Regimes, wirtschaftlicher Not,<br />
ethnischer Zusammensetzung oder kulturellen<br />
Faktoren und der Wahrscheinlichkeit<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 21
T i t e l<br />
für eine Revolution heute, morgen oder in<br />
zehn Jahren. Es kommt einzig und allein<br />
darauf an, ob man das Spiel beherrscht. Es<br />
ist eine Frage der Geschicklichkeit – des<br />
Regimes und seiner Gegner. Die Seite, die<br />
sich am besten vorbereitet und die größte<br />
Einigkeit und Disziplin demonstriert, hat<br />
die besten Karten. Das erklärt besser <strong>als</strong><br />
alles andere, warum sich Regime vor den<br />
Menschen, in die Ackerman investiert, am<br />
meisten fürchten.<br />
Wenn sich Beobachter nur eine Seite der<br />
Medaille anschauen – die <strong>Diktator</strong>en –,<br />
sehen sie Regime, die allmächtig erscheinen.<br />
Sie konzentrieren sich auf die massiven<br />
Sicherheitsapparate, auf Einheiten<br />
der Sicherheitspolizei, Soldaten, Geheimagenten,<br />
Spitzel und bezahlte Schläger. Sie<br />
blicken auf die vom Regime kontrollierten<br />
Medien, Schlüsselindustrien, Gerichte<br />
und politischen Parteien. Vielleicht sehen<br />
sie eine Kultur der Angst, nagende Armut<br />
in großen Teilen der Bevölkerung, mit<br />
Schmiergeldern gefüllte Staatskassen, die<br />
Ausbeutung von Ölfeldern und anderen<br />
natürlichen Rohstoffen. Und natürlich ist<br />
da die Brutalität: Ein Regime, das keinerlei<br />
Hemmungen hat, seine Kritiker einzusperren,<br />
zu foltern und zu töten, lässt sich<br />
nicht einfach stürzen, so die Überzeugung.<br />
Beobachter sehen sich all diese Faktoren an,<br />
die ihnen wenig Hoffnung lassen, dass sich<br />
in nächster Zeit irgendetwas ändern wird.<br />
Wenn die Revolution dann doch kommt –<br />
auf den Philippinen, in Polen, Südkorea,<br />
Indonesien, Serbien, Tunesien oder in einem<br />
der vielen anderen Länder – tun die<br />
meisten Experten, Wissenschaftler und Politiker<br />
das Geschehen <strong>als</strong> einen Zufallstreffer<br />
ab, ein seltenes oder einzigartiges Zusammenfallen<br />
von Umständen, das sich<br />
nicht wiederholen lässt. „Kein Experte hat<br />
je eine (dieser Revolutionen) vorausgesagt“,<br />
sagt Ackerman hinter seinem Schreibtisch.<br />
„Sie haben sie immer bis zum letzten Moment<br />
geleugnet. Wenn der <strong>Diktator</strong> dann<br />
gestürzt war, haben sie gesagt: ‚Ach, der<br />
Kerl war ja sowieso ein Schwächling‘.“<br />
Das Puzzleteilchen, das ihnen fehlt,<br />
sind die Fertigkeiten und Kenntnisse derjenigen,<br />
die den <strong>Diktator</strong> stürzen wollen. Sie<br />
wissen nicht, wie Aktivisten lernen, eine<br />
Bewegung zu mobilisieren, die Legitimität<br />
eines Regimes auszuhöhlen und die Mittel<br />
der Propaganda zu beherrschen. Sie verfolgen<br />
nicht, wie demokratische Bewegungen<br />
Simbabwe: Wegen seiner Menschenrechtsverletzungen<br />
darf Präsident<br />
Robert Mugabe, außer zu Veranstaltungen<br />
der Vereinten Nationen, nicht<br />
in die Europäische Union einreisen<br />
Russland: Präsident Wladimir Putin<br />
nutzt alle Winkelzüge zum Erhalt<br />
seiner Macht – jüngst ließ er das<br />
Demonstrationsrecht drastisch verschärfen<br />
Sowjetunion: Josef Stalins Regierungszeit<br />
war geprägt von „Säuberungen“,<br />
Schau- und Geheimprozessen und<br />
verheerenden Hungersnöten<br />
Ägypten: Mithilfe des Militärs<br />
hielt Präsident Hosni Mubarak das<br />
Volk fast 30 Jahre in Schach<br />
voneinander lernen und innovative Methoden<br />
in ihren Kampf einbringen.<br />
Vor zwei Jahren wollte ich diesen<br />
Kampf aus eigener Anschauung erleben.<br />
Seine Frontlinien sind weit verstreut. Ich<br />
bin in mehrere autoritäre Staaten gereist –<br />
darunter China, Ägypten, Malaysia, Russland<br />
und Venezuela –, um mir aus der<br />
Nähe anzusehen, was für innovative Techniken<br />
und Methoden diese Regime einsetzen,<br />
um ihre Herrschaft zu zementieren.<br />
Dazu habe ich mich mit Leuten getroffen,<br />
die das Regime stützen, mit politischen Beratern,<br />
Ideologen, Intimfreunden der Herrschenden,<br />
Technokraten und Beamten.<br />
Ich habe auch die vielfältige und erstaunlich<br />
große Gruppe derer getroffen,<br />
die entschlossen sind, die raffiniertesten<br />
Diktaturen der Welt zu stürzen. Meine<br />
Recherchen haben mich zu venezolanischen<br />
Studenten, russischen Umweltaktivisten,<br />
chinesischen Anwälten, ägyptischen<br />
Bloggern, malaysischen Oppositionsführern<br />
und serbischen Revolutionären geführt.<br />
Noch überraschender war für mich,<br />
dass die Aktivisten und Demokratiebewegungen<br />
heutzutage miteinander vernetzt<br />
sind, dass sie die Arbeit der anderen studieren<br />
und Ideen austauschen. So kann es<br />
vorkommen, dass ein venezolanischer Student<br />
nach Mexico City fliegt, um sich von<br />
serbischen Aktivisten, die ihren <strong>Diktator</strong><br />
schon vor zehn Jahren losgeworden sind,<br />
beibringen zu lassen, wie man Hugo Chávez’<br />
Schwachstellen findet.<br />
Überall auf dem Globus bin ich auf<br />
diesen verborgenen Schlachtfeldern gewandelt,<br />
um herauszufinden, wie es um<br />
das Mächtegleichgewicht zwischen Diktatur<br />
und Demokratie bestellt ist. Ich war in<br />
den Cafés, in denen Aktivisten konspirative<br />
Pläne schmieden, in den Wäldern, in<br />
denen Kampagnen ausgebrütet werden, in<br />
den Slums, in denen sich allmählich die<br />
Wut entwickelt, in den Straßen, in denen<br />
die Jugend zu kämpfen beginnt, und in<br />
den Gefängnissen, in denen die Feinde der<br />
Diktatur langsam dahinsiechen. Der Konflikt<br />
hat sich in Tausende Richtungen fragmentiert:<br />
auf der einen Seite Regime, die<br />
sich rapide modernisieren und in Stellung<br />
bringen, auf der anderen Seite eine außergewöhnliche<br />
Gruppe von Einzelpersonen<br />
und Organisationen, die ihre eigene Lernkurve<br />
beschreibt. Ich habe mir angehört,<br />
auf welche Strategien beide Seiten für ihr<br />
Überleben und ihren Sieg setzen.<br />
Fotos: DDP Images/AP Photo, Picture Alliance/DPA, AKG Images, Keystone<br />
22 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Foto: Travis Daub (Autor)<br />
Während meiner Recherchen wurde<br />
das neueste Kapitel dieser Geschichte im<br />
Nahen Osten geschrieben. Bis 2011 war<br />
es die einzige Region der Welt ohne Demokratien,<br />
mit Ausnahme von Israel. Der<br />
durchschnittliche arabische Führer regierte<br />
mehr <strong>als</strong> 16 Jahre. Der Nahe Osten bildete<br />
das globale Schlusslicht nach nahezu jedem<br />
Kriterium, das man zur Messung der Freiheit<br />
der Menschen anlegen könnte. Doch<br />
wie 1974 in Portugal brach die Revolution<br />
am unwahrscheinlichsten aller Orte<br />
aus: in Tunesien, einem Land, von dem<br />
man lange gedacht hatte, es sei eines der<br />
stabilsten Regime der Region. Am 17. Dezember<br />
2010 drangsalierte die örtliche Polizei<br />
Mohammed Bouazizi, einen Obstverkäufer<br />
in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid.<br />
Gedemütigt, wütend und jenseits dessen,<br />
was er ertragen konnte, nahm sich Bouazizi<br />
in einem öffentlichen Akt der Selbstopferung<br />
das Leben. Die Welt sah zu, wie<br />
der Volksaufstand, der auf den Tod eines<br />
einzigen Mannes folgte, von einem Land<br />
auf das nächste übersprang. Nach Tunesien<br />
griff die Revolution auf Ägypten über,<br />
das politische und kulturelle Epizentrum<br />
des Nahen Ostens. Massive Proteste erfassten<br />
auch Bahrain und Jemen, Libyen versank<br />
im Chaos und schließlich in einem<br />
regelrechten Bürgerkrieg. Die Schockwellen<br />
waren bald darauf auch in Algerien,<br />
Jordanien, Oman, Saudi-Arabien und Sudan<br />
spürbar, wo Proteste und Demonstrationen<br />
in allen Größenordnungen stattfanden.<br />
Selbst <strong>als</strong> die brutale, 42‐jährige<br />
Herrschaft Gaddafis ihr gewaltsames Ende<br />
fand, brannte das Feuer in Syrien weiter,<br />
wo Assad gegen eine immer breiter werdende<br />
Bewegung ankämpft, die das Regime<br />
stürzen will, welches sein Vater errichtet<br />
hat. Ein Obstverkäufer nimmt sich<br />
das Leben, und der Nahe Osten steht in<br />
Flammen. Ist das der Beginn einer neuen<br />
Welle der Demokratisierung?<br />
Die Wahrheit ist: Es ist noch zu früh,<br />
um das zu sagen. Es hat fast 15 Jahre gedauert,<br />
bevor sich Samuel Huntington seiner<br />
Welle der Demokratisierung halbwegs<br />
sicher war, und es ist viel schwerer, eine<br />
Demokratie aufzubauen, <strong>als</strong> eine Diktatur<br />
niederzureißen, wie die Ägypter gerade<br />
schmerzhaft erfahren müssen. Der Fortschritt<br />
wird stockend sein. Autokraten, die<br />
sich an der Macht festklammern, könnten<br />
bald feststellen, dass sich ihr Griff um<br />
die Macht lockert. Doch unabhängig davon,<br />
wie schnell ein echter Wandel eintritt<br />
– das erste Opfer dieser Revolutionen<br />
ist die Überzeugung, einige Weltgegenden<br />
seien irgendwie immun gegen die Forderung<br />
nach Demokratie. Was der Arabische<br />
Frühling gezeigt hat, ist etwas, das junge<br />
Menschen, gestählte Aktivisten und lautstarke<br />
Regimekritiker schon lange wissen:<br />
dass überall auf der Welt in repressiven<br />
Staaten ein Kampf zwischen Herrschern<br />
und Beherrschten tobt, ein Kampf zwischen<br />
verfeindeten Lagern – und dass die<br />
Zukunft von Diktatur und Demokratie in<br />
der Schwebe liegt.<br />
Übersetzung: Luisa Seeling<br />
William J. Dobson<br />
ist Autor des soeben erschienenen<br />
Buches „The Dictator’s Learning<br />
Curve: Inside the Global Battle for<br />
Democracy“<br />
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T i t e l<br />
Die Diktatur der Clowns<br />
Langsam, aber sicher breitet sich das Virus des autoritären Kapitalismus über<br />
den ganzen Globus aus. Wladimir Putin und Silvio Berlusconi sind bei diesem<br />
Kulturbruch die neuen Archetypen für schamloses Regieren auf eigene Rechnung<br />
Von Slavoj žižek<br />
W<br />
enn es eine Person gibt, so Peter Sloterdijk, der<br />
man in 100 Jahren Denkmäler setzen wird, so ist<br />
dies Singapurs Ex-Premier Lee Kuan Yew, der Erfinder<br />
und Begründer des sogenannten „Kapitalismus<br />
mit asiatischen Werten“. Das Virus dieser<br />
autoritären Form des Kapitalismus<br />
ist dabei, sich langsam, aber<br />
sicher über den ganzen Globus<br />
auszubreiten. Bevor Deng Xiaoping<br />
mit seinen Reformen begann,<br />
besuchte er Singapur und<br />
pries das Land ausdrücklich <strong>als</strong><br />
Vorbild, dem China folgen solle.<br />
Dieser Wandel ist von welthistorischer<br />
Bedeutung: Bislang<br />
schien der Kapitalismus untrennbar<br />
mit der Demokratie<br />
verbunden zu sein – natürlich<br />
gab es von Zeit zu Zeit Rückfälle<br />
in die direkte Diktatur, doch<br />
nach ein bis zwei Jahrzehnten<br />
setzte sich die Demokratie wieder<br />
durch (denken wir nur an die<br />
Beispiele Südkoreas oder Chiles).<br />
Heute dagegen ist diese Verbindung<br />
zwischen Demokratie und<br />
Kapitalismus unterbrochen.<br />
Das bedeutet natürlich<br />
nicht, dass wir die Demokratie<br />
zugunsten des kapitalistischen<br />
Fortschritts aufgeben<br />
sollten – wir sollten uns jedoch<br />
den Beschränkungen der parlamentarisch-repräsentativen<br />
Demokratie stellen. Walter Lippmann, die Ikone des amerikanischen<br />
Journalismus des 20. Jahrhunderts, spielte eine Schlüsselrolle<br />
für das Selbstverständnis der US‐Demokratie. Trotz seiner<br />
fortschrittlichen politischen Haltung (er setzte sich beispielsweise<br />
für eine faire Politik gegenüber der Sowjetunion ein) vertrat er<br />
Die Machthabenden tun<br />
höflich so, <strong>als</strong> hätten sie<br />
nicht wirklich die Macht<br />
eine Theorie der öffentlichen Medien, die einen beklemmenden<br />
Wahrheitseffekt hat. Er prägte den Begriff des „manufacturing<br />
consent“, der Fabrikation von Konsens, der später durch<br />
Chomsky berühmt wurde – allerdings fasste Lippmann ihn positiv<br />
auf. In seinem Buch „Public Opinion“ aus dem Jahr 1922 („Die<br />
öffentliche Meinung“, 1964)<br />
schrieb er, dass sich eine „herrschende<br />
Klasse“ erheben und<br />
der Herausforderung stellen<br />
müsse – er sah die Öffentlichkeit<br />
wie Platon <strong>als</strong> große Bestie<br />
oder verwirrte Herde, die sich<br />
im „Chaos lokaler Meinungen“<br />
verrennt. Folglich müsse<br />
die Herde der Bürger von einer<br />
„spezialisierten Klasse“ regiert<br />
werden, „deren Interessen<br />
über die Örtlichkeit hinausreichen“<br />
– diese elitäre Klasse solle<br />
<strong>als</strong> Wissensmaschinerie fungieren<br />
und so den Hauptmangel<br />
der Demokratie umgehen: das<br />
unmögliche Ideal des „omnikompetenten<br />
Bürgers“. Das<br />
ist die Art und Weise, wie unsere<br />
Demokratien funktionieren<br />
– mit unserer Zustimmung.<br />
An Lippmanns Äußerungen ist<br />
nichts Mysteriöses, sie verweisen<br />
auf offenkundige Tatsachen; das<br />
Mysteriöse ist, dass wir darum<br />
wissen und das Spiel dennoch<br />
mitspielen. Wir tun so, „<strong>als</strong> ob“<br />
wir frei wären und uns frei entscheiden<br />
könnten und akzeptieren dabei nicht nur stillschweigend,<br />
sondern „fordern“ regelrecht, dass ein (in die Form unserer<br />
freien Rede eingeschriebenes) unsichtbares Gesetz uns diktiert,<br />
was wir tun und denken sollen. Wie Marx bereits vor langer Zeit<br />
erkannte, liegt das Geheimnis in der Form selbst.<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
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T i t e l<br />
In diesem Sinne ist in einer Demokratie jeder normale Bürger<br />
ein König – aber ein König in einer konstitutionellen Demokratie:<br />
ein König, der nur formell entscheidet und dessen Funktion darin<br />
besteht, Verordnungen zu unterzeichnen, die ihm von der ausführenden<br />
Verwaltung vorgelegt werden. Das Problem demokratischer<br />
Rituale gleicht daher dem großen Problem der konstitutionellen<br />
Monarchie: Wie lässt sich die Würde des Königs wahren? Wie<br />
kann man den Anschein aufrechterhalten, dass der König tatsächlich<br />
entscheidet, obwohl jeder weiß, dass es nicht so ist? Was wir<br />
die „Krise der Demokratie“ nennen, entsteht folglich nicht, wenn<br />
die Leute aufhören, an ihre eigene<br />
Macht zu glauben, sondern, im Gegenteil,<br />
wenn sie den Eliten nicht<br />
mehr vertrauen, die sich an ihrer<br />
Stelle auskennen und die Marschrichtung<br />
vorgeben sollen, wenn bei<br />
den Leuten die Angst aufkommt,<br />
dass „der (wahre) Thron leer ist“<br />
und die Entscheidung nun „wirklich“<br />
bei ihnen liegt. „Freie Wahlen“<br />
beinhalten demnach <strong>als</strong>o immer<br />
einen minimalen Aspekt von<br />
Höflichkeit: Die Machthabenden<br />
tun höflich so, <strong>als</strong> hätten sie nicht<br />
wirklich die Macht, und bitten uns,<br />
frei zu entscheiden, ob wir sie ihnen<br />
geben wollen.<br />
Es gibt keinen Grund, demokratische<br />
Wahlen zu verachten; es<br />
ist nur wichtig, immer wieder darauf<br />
hinzuweisen, dass sie nicht per<br />
se ein Indikator der Wahrheit sind –<br />
gewöhnlich spiegeln sie mehr oder<br />
weniger die von der hegemonialen<br />
Ideologie bestimmte Doxa wider.<br />
Sehen wir uns ein Beispiel an,<br />
das sicher nicht problematisch ist:<br />
Frankreich im Jahr 1940. Sogar<br />
Jacques Duclos, der zweite Mann<br />
in der Kommunistischen Partei Frankreichs, gab in einem vertraulichen<br />
Gespräch zu, dass, wenn dam<strong>als</strong> freie Wahlen in Frankreich<br />
abgehalten worden wären, Marschall Pétain mit 90 Prozent<br />
der Stimmen gewonnen hätte. Als de Gaulle sich in einem historischen<br />
Akt weigerte, die Kapitulation vor Deutschland anzuerkennen,<br />
und weiter Widerstand leistete, erklärte er, dass er allein,<br />
nicht das Vichy-Regime, im Namen des wahren Frankreich spreche<br />
(im Namen des „wahren“ Frankreich, nicht nur im Namen<br />
der „Mehrheit der Franzosen“!); er sprach damit eine tiefe Wahrheit<br />
aus, obwohl er keine „demokratische“ Legitimation besaß und<br />
sogar eindeutig im Widerspruch zur Mehrheit des französischen<br />
Volkes handelte. Es kann demokratische Wahlen geben, die ein<br />
Wahrheitsereignis darstellen – Wahlen, bei denen die Mehrheit<br />
plötzlich aus der skeptisch-zynischen Trägheit „erwacht“ und gegen<br />
die hegemoniale ideologische Meinung stimmt; die Tatsache,<br />
dass ein solch überraschendes Wahlergebnis eine Ausnahmeerscheinung<br />
bleibt, zeigt allerdings, dass Wahlen <strong>als</strong> solche kein Medium<br />
der Wahrheit sind.<br />
Dieses authentische Potenzial der Demokratie verliert nun<br />
mit dem Aufstieg des autoritären Kapitalismus, der immer weiter<br />
Richtung Westen vordringt – natürlich immer in Übereinstimmung<br />
mit den „Werten“ des jeweiligen Landes –, an Boden:<br />
Putins Kapitalismus mit „russischen Werten“ (brutale Machtdemonstrationen),<br />
Berlusconis Kapitalismus mit „italienischen<br />
Werten“ (lächerliche Posen) … Sowohl Putin <strong>als</strong> auch Berlusconi<br />
regier(t)en in einer Demokratie, die zunehmend zur leeren,<br />
ritualisierten Hülse ihrer selbst wird, und beide erfreu(t)en sich<br />
trotz der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Situation<br />
großer Unterstützung im Volk<br />
(über zwei Drittel der Wähler).<br />
Da nimmt es nicht wunder,<br />
dass sie auch persönlich<br />
befreundet sind. Beide neigen<br />
zu gelegentlichen „spontanen“<br />
skandalösen Ausbrüchen (die<br />
zumindest bei Putin von langer<br />
Hand geplant sind, damit sie<br />
zum russischen „Volkscharakter“<br />
passen). Hin und wieder<br />
benutzt Putin gern unflätige<br />
Ausdrücke oder stößt obszöne<br />
Drohungen aus – <strong>als</strong> ihm vor<br />
ein paar Jahren ein westlicher<br />
Journalist unangenehme Fragen<br />
über Tschetschenien stellte,<br />
raunzte Putin zurück, wenn er<br />
noch nicht beschnitten sei, so<br />
lade er ihn herzlich nach Moskau<br />
ein, wo es ausgezeichnete<br />
Chirurgen gebe …<br />
Es gibt keinen Grund, Wahlen<br />
zu verachten – ein Indikator der<br />
Wahrheit sind sie aber nicht<br />
Die Figur Berlusconi war<br />
ebenso von zentraler Bedeutung,<br />
denn das Italien unter<br />
seiner Führung stellte eine Art<br />
Versuchslabor für unsere Zukunft<br />
dar. Angesichts der Spaltung<br />
der politischen Szene in<br />
einen permissiv-liberalen Technokratismus und einen fundamentalistischen<br />
Populismus besteht seine große Leistung darin, die<br />
beiden zu vereinigen und beides gleichzeitig zu sein. Diese Kombination<br />
machte ihn – zumindest für lange Zeit – unschlagbar.<br />
Die Überreste der italienischen „Linken“ nahmen ihn resigniert<br />
<strong>als</strong> „Schicksal“ hin. Diese stumme Akzeptanz Berlusconis ist vielleicht<br />
der traurigste Aspekt seiner Regierungszeit. Sie steht gewissermaßen<br />
für eine Demokratie der kampflosen Sieger, die durch<br />
zynische Demoralisierung regieren.<br />
Was Berlusconi <strong>als</strong> politisches Phänomen so interessant macht,<br />
ist die Tatsache, dass er <strong>als</strong> der mächtigste Politiker seines Landes<br />
zunehmend schamloser agierte: Nicht nur, dass er juristische Ermittlungen<br />
über seine kriminellen Machenschaften einfach ignorierte<br />
oder politisch neutralisierte, um seine privaten Geschäftsinteressen<br />
voranzutreiben; er unterminierte auch systematisch die<br />
grundsätzliche Würde des Staatsoberhaupts. Klassischerweise basiert<br />
die Würde der Politik darauf, dass diese über das Spiel der Partikularinteressen<br />
in der bürgerlichen Gesellschaft erhaben ist: Die<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
26 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: ZVG (Autor)<br />
Politik ist der bürgerlichen Gesellschaft „entfremdet“, sie präsentiert<br />
sich <strong>als</strong> Ide<strong>als</strong>phäre des „Citoyen“ und <strong>als</strong> Gegensatz zu den<br />
egoistischen Interessenkonflikten, die die Sphäre der „Bourgeois“<br />
charakterisieren. Berlusconi hat diese Entfremdung praktisch abgeschafft:<br />
In Italien wurde die staatliche Macht direkt vom gemeinen<br />
Bourgeois ausgeübt, der sie rücksichtslos und unverhohlen<br />
<strong>als</strong> Mittel zum Schutz seiner wirtschaftlichen Interessen benutzte<br />
und die schmutzige Wäsche seiner privaten Ehekonflikte im Stil<br />
einer vulgären Realityshow vor Millionen von Menschen wusch,<br />
die an ihren Fernsehgeräten alles mitverfolgten.<br />
Bei seinen Anstößigkeiten<br />
setzte Berlusconi natürlich darauf,<br />
dass die Menschen sich<br />
mit ihm identifizieren würden,<br />
insofern er das überdimensionale<br />
mythische Bild des Durchschnittsitalieners<br />
abgab: Ich bin<br />
einer von euch, ein bisschen korrupt,<br />
habe Ärger mit dem Gesetz,<br />
kriege Probleme mit meiner<br />
Frau, weil mich andere Frauen<br />
anziehen … Sogar seine grandiose<br />
Selbstinszenierung <strong>als</strong> großer,<br />
nobler Politiker, <strong>als</strong> „il cavalliere“,<br />
glich eher dem lächerlich opernhaften<br />
Traum des armen Mannes<br />
von wahrer Größe. Doch sollten<br />
wir uns von diesem Anschein eines<br />
„normalen Menschen wie<br />
wir alle“ nicht täuschen lassen:<br />
Hinter der Clownsmaske steckte<br />
eine Staatsmacht, die mit schonungsloser<br />
Effizienz operierte.<br />
Auch wenn Berlusconi ein würdeloser<br />
Clown sein mag, sollten<br />
wir daher nicht zu sehr über ihn<br />
lachen – vielleicht spielen wir<br />
nämlich dadurch schon das entsprechende<br />
Spiel mit. Sein Lachen<br />
ähnelte eher dem obszön-irren Lachen der Gegenspieler<br />
von Filmsuperhelden wie Batman oder Spiderman – um uns ein<br />
Bild davon zu machen, wie Berlusconi regiert hat, sollten wir uns<br />
vorstellen, jemand wie der Joker aus Batman wäre an der Macht.<br />
Das Problem ist, dass die Kombination aus technokratisch-ökonomischer<br />
Verwaltung und alberner Fassade alleine nicht ausreicht:<br />
Es ist noch etwas anderes nötig, nämlich Furcht – und<br />
hier kommt Berlusconis zweiköpfiger Drache ins Spiel: Einwanderer<br />
und „Kommunisten“ (Berlusconis Sammelbezeichnung für<br />
jeden, der ihn angriff, einschließlich der rechtsliberalen britischen<br />
Wochenzeitschrift The Economist).<br />
Oriana Fallaci (die Berlusconi ansonsten eher wohlwollend<br />
gegenüberstand) schrieb einmal: „Wahre Macht braucht weder<br />
Arroganz noch einen langen Bart oder eine bellende Stimme.<br />
Wahre Macht erwürgt einen mit Seidenbändern, Charme und<br />
Intelligenz.“ Man muss dieser Aufzählung nur noch eine Portion<br />
dummer Selbstverspottung hinzufügen, dann ist man bei Berlusconi.<br />
„Kung Fu Panda“, eine Animationskomödie, die 2008 zu<br />
Wahre Macht erwürgt<br />
einen mit Seidenbändern,<br />
Charme und Intelligenz<br />
einem Kassenschlager wurde, liefert die Grundkoordinaten der<br />
Funktionsweise von Ideologie in der heutigen Zeit. Der dicke<br />
Pandabär träumt davon, ein ehrwürdiger Kung-Fu-Krieger zu<br />
werden, und <strong>als</strong> er durch einen blinden Zufall (hinter dem natürlich<br />
die Hand des Schicks<strong>als</strong> steckt) zum Helden auserwählt wird,<br />
der seine Stadt retten soll, hat er tatsächlich Erfolg. Der pseudofernöstliche<br />
Spiritualismus des Films wird allerdings permanent<br />
durch einen zynisch vulgären Allerweltshumor unterminiert.<br />
Das Überraschende ist, dass dieses ständige Sich-selbst-durchden-Kakao-Ziehen<br />
die Wirkung des fernöstlichen Spiritualismus<br />
überhaupt nicht beeinträchtigt –<br />
der Film nimmt das Ziel seiner<br />
endlosen Scherze letztlich ernst.<br />
„Kung Fu Panda“ erinnert insofern<br />
an eine berühmte Anekdote<br />
über Niels Bohr: Als sich<br />
ein Forscherkollege, der Bohr<br />
in seinem Landhaus besucht,<br />
überrascht über ein Hufeisen<br />
über dessen Tür zeigt und erklärt,<br />
er teile nicht den Aberglauben,<br />
dass dies böse Geister<br />
vertreibe und Glück bringe,<br />
kontert Bohr: „Ich glaube auch<br />
nicht daran; es hängt da, weil<br />
man mir gesagt hat, dass es auch<br />
wirkt, wenn man nicht daran<br />
glaubt!“ Auf diese Weise wirkt<br />
Ideologie heute: Kein Mensch<br />
nimmt Demokratie oder Gerechtigkeit<br />
mehr ernst, wir alle<br />
wissen um deren Korruptheit,<br />
und dennoch praktizieren wir<br />
sie, das heißt, wir demonstrieren<br />
unseren Glauben an sie, weil wir<br />
annehmen, dass sie auch wirken,<br />
wenn man nicht an sie glaubt.<br />
Deshalb war Berlusconi unser<br />
großer Kung Fu Panda. Vielleicht<br />
stößt das alte Bonmot der Marx Brothers („Dieser Mann<br />
sieht aus und benimmt sich wie ein korrupter Idiot, aber lassen<br />
Sie sich nicht täuschen – er ist ein korrupter Idiot!“) hier an seine<br />
Grenzen: Berlusconi war zwar, was er zu sein schien, aber dennoch<br />
war diese Erscheinung trügerisch.<br />
Aus dem Englischen von Frank Born<br />
Dies ist die gekürzte Fassung eines Beitrags aus dem Buch „Demokratie? Eine<br />
Debatte“, das am 13. August bei Edition Suhrkamp erscheint (14 Euro)<br />
Slavoj žižek<br />
ist Philosoph und weltweit bekannter Kapitalismuskritiker.<br />
Er wurde 1949 in Slowenien geboren und unterrichtet an<br />
der University of London<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 27
T i t e l<br />
„Insel der Glückseligen“<br />
Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel über den schwierigen Umgang mit <strong>Diktator</strong>en,<br />
den Einfluss der Chinesen in Afrika – und über die Zukunft unserer fragilen Demokratie<br />
H<br />
err Niebel, <strong>als</strong> Entwicklungsminister<br />
sind Sie viel in Ländern<br />
unterwegs, die autoritär regiert<br />
werden. Wie geht ein liberaler, demokratisch<br />
gewählter Politiker mit <strong>Diktator</strong>en<br />
um?<br />
Graduell unterschiedlich, weil es weder<br />
weiß noch schwarz gibt. Jedenfalls aber<br />
unter möglichst großer Einbeziehung der<br />
jeweiligen Zivilgesellschaft, wenn in einem<br />
Land keine rechtsstaatlichen Strukturen<br />
vorhanden sind.<br />
Gab es schon Dienstreisen, die Sie am<br />
liebsten abgebrochen hätten, weil Sie<br />
keine Lust mehr hatten, mit Despoten zu<br />
verhandeln?<br />
Es gibt nun mal die Notwendigkeit, mit<br />
Personen Gespräche zu führen, mit denen<br />
man sich privat nicht an einen Tisch<br />
setzen würde. Es ist immer wichtig zu<br />
wissen, wer einem gegenübersitzt – und<br />
wie sich die erwünschten Ziele trotzdem<br />
erreichen lassen. Überall dort, wo keine<br />
entwicklungsorientierte Politik betrieben<br />
wird und wo Menschenrechte mit Füßen<br />
getreten werden, ist eine Regierung<br />
kein Entwicklungspartner unserer Wahl.<br />
Aber zwangsläufig eben doch ein Verhandlungspartner,<br />
weil ja keine andere<br />
Regierung <strong>als</strong> diese vorhanden ist. Trotzdem<br />
kann man unter Umgehung dieser<br />
Regierung, insbesondere durch die Zusammenarbeit<br />
mit Nichtregierungsorganisationen,<br />
einiges für die Bevölkerung<br />
bewirken. Wenn allerdings der Punkt<br />
„Was mir Sorge<br />
bereitet, ist<br />
die Tatsache,<br />
dass einige<br />
Staaten glauben,<br />
Marktwirtschaft<br />
würde auch<br />
ohne Demokratie<br />
funktionieren“:<br />
Dirk Niebel<br />
in seinem<br />
Berliner Büro<br />
erreicht ist, an dem man nichts mehr bewirken<br />
kann, sollte man gehen. Das ist<br />
jedoch immer eine schwierige Abwägung,<br />
weil wir mit einem solchen Schritt auch<br />
unsere Einflussmöglichkeiten verlieren.<br />
Haben Sie in Ihrer Zeit <strong>als</strong> Entwicklungsminister<br />
schon einmal den Totalrückzug<br />
vollzogen?<br />
Das nicht, aber wir haben schon Sanktionen<br />
vorgenommen, wenn zum Beispiel<br />
wie in Malawi Presse- und Versammlungsfreiheit<br />
eingeschränkt, Homosexualität<br />
unter Strafe gestellt und das Wahlrecht<br />
eingeschränkt wurde. Inzwischen<br />
ist der damalige malawische Präsident jedoch<br />
verstorben, und seine Nachfolgerin<br />
dreht diese Fehlentwicklungen wieder zurück.<br />
Das wird honoriert, indem wir ihre<br />
Politik finanziell unterstützen.<br />
Im Moment läuft in den Kinos mit großem<br />
Erfolg Sacha Baron Cohens Film „Der <strong>Diktator</strong>“.<br />
Haben Sie ihn sich angesehen?<br />
Leider nein, ich weiß aber, dass es sich<br />
um eine Parodie auf Gaddafi handeln soll.<br />
Ich kann durchaus verstehen, dass das<br />
zum Lachen anregt, aber wir sollten nicht<br />
vergessen, dass der eigentliche Hintergrund<br />
alles andere <strong>als</strong> komisch ist.<br />
Einer Studie des amerikanischen Forschungsinstituts<br />
„Freedom House“ zufolge<br />
geht der Demokratisierungsprozess<br />
in Osteuropa und Eurasien nur sehr unbefriedigend<br />
voran: Bei zehn der 29 untersuchten<br />
Staaten stagnierte die demokratische<br />
Entwicklung, in elf Ländern ging sie<br />
sogar zurück. Warum ist die Demokratie<br />
offenbar auf dem Rückzug?<br />
Die Gegend, von der Sie sprechen, gehört<br />
nur bedingt zum Gebiet, um das<br />
sich mein Ministerium kümmert. Aber<br />
viele der Länder, von denen die Rede ist,<br />
sind traditionell von Clanstrukturen geprägt.<br />
Ich könnte mir vorstellen, dass das<br />
zu der von Ihnen genannten Entwicklung<br />
beiträgt.<br />
Wie stellen Sie <strong>als</strong> Entwicklungsminister<br />
sicher, dass das Geld der deutschen<br />
Steuerzahler auch bei der Bevölkerung<br />
Foto: Andreas Pein<br />
28 <strong>Cicero</strong> 7.2012
ankommt – und nicht in den Taschen von<br />
irgendwelchen Despoten landet?<br />
Indem wir Projektfinanzierung betreiben<br />
und nicht die sogenannte Budgethilfe,<br />
wie es früher der Fall war. Es gibt<br />
heute nur noch sieben Länder, deren allgemeine<br />
Haushalte von Deutschland finanziell<br />
unterstützt werden; in allen<br />
Fällen handelt es sich um alte Verpflichtungen,<br />
die ich <strong>als</strong> Minister von meinen<br />
Vorgängern übernommen habe. Wer dagegen<br />
konkrete Projekte finanziert, kann<br />
auch konkrete Fortschritte messen und<br />
einfordern.<br />
Sie sind ja auch Handlungsreisender in<br />
Sachen Demokratie. Wird es zunehmend<br />
schwieriger, für diese Staatsform zu<br />
werben?<br />
Nein, aber ich habe das Gefühl, dass Demokratie<br />
für manche unserer Partnerländer<br />
doch etwas sehr Ungewohntes ist. Ich<br />
reise ja oft mit deutschen Parlamentariern<br />
auch aus den Oppositionsparteien,<br />
die sich durchaus an den Gesprächen mit<br />
ausländischen Regierungen beteiligen<br />
können. Das führt dazu, dass in solchen<br />
Situationen auf deutscher Seite unterschiedliche<br />
Meinungen artikuliert werden.<br />
Wenn ich dann unsere Gesprächspartner<br />
darauf hinweise, dass die eine<br />
oder andere Meinung nicht mit jener der<br />
deutschen Bundesregierung korrespondiert,<br />
führt das mitunter zu einigem Erstaunen.<br />
Nämlich darüber, dass man unterschiedliche<br />
Ansichten haben kann,<br />
ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen.<br />
Gerade für die Menschen in vielen afrikanischen<br />
Entwicklungsländern sind nicht<br />
mehr Demokratien westlichen Typs das<br />
Vorbild, sondern autoritäre Marktwirtschaften<br />
neuen Typs wie China. Beunruhigt<br />
Sie das nicht?<br />
Da muss ich Ihrer Vorstellung von Afrika<br />
doch entschieden widersprechen.<br />
Afrika ist ein Kontinent mit 54 souveränen<br />
Staaten auf unterschiedlichem Entwicklungsniveau<br />
– von Somalia bis hin<br />
zur Republik Südafrika. In vielen dieser<br />
Länder gibt es gut funktionierende<br />
Demokratien, in denen auch die Regierungswechsel<br />
gewaltfrei und nach<br />
demokratischen Spielregeln vonstattengehen.<br />
Und was die chinesische Entwicklungszusammenarbeit<br />
angeht, ist<br />
diese für Afrika sehr hilfreich, weil da<br />
Infrastrukturmaßnahmen gestemmt werden,<br />
die wir überhaupt nicht finanzieren<br />
könnten. Zum Beispiel bauen die Chinesen<br />
im Norden von Ghana eine Eisenbahnlinie<br />
für sechs Milliarden Dollar –<br />
das entspricht einer Summe, die mein<br />
Ministerium für die ganze Welt zur Verfügung<br />
hat. In diesen Wettbewerb brauchen<br />
wir uns <strong>als</strong>o gar nicht zu begeben.<br />
Auf der anderen Seite hat die Regierung<br />
von Ghana uns darum gebeten, gemeinsam<br />
mit einem deutschen Privatunternehmen<br />
dabei zu helfen, die Transparenz<br />
bei den Geldflüssen aus der kommerziellen<br />
Öl- und Gasproduktion herzustellen.<br />
Die Ghanaer wissen unsere Expertise auf<br />
diesem Gebiet <strong>als</strong>o durchaus zu schätzen.<br />
Demokratie westlichen Typs ist <strong>als</strong>o in den<br />
meisten Ländern der Dritten Welt immer<br />
noch ein Modell mit Vorbildcharakter?<br />
Ich glaube schon, dass demokratische<br />
Strukturen auf allen Kontinenten <strong>als</strong> etwas<br />
Positives angesehen werden. Wir sollten<br />
uns allerdings nicht, wie zu Beginn<br />
des Afghanistan-Einsatzes, der Illusion<br />
hingeben, dass sich in Gesellschaften mit<br />
archaischen Stammesstrukturen einfach<br />
so die Demokratie implantieren ließe. Es<br />
wird immer einen regionalen Adaptionsmechanismus<br />
geben.<br />
Freiheit ist für Ihre Partei der zentrale<br />
Grundwert, genauso wie die Marktwirtschaft<br />
– beide galten <strong>als</strong> untrennbar und<br />
noch dazu <strong>als</strong> die Grundlage für funktionierende<br />
Demokratie. Inzwischen funktioniert<br />
Marktwirtschaft auch ganz gut ohne<br />
bürgerliche Freiheiten. Ist das das Modell<br />
der Zukunft?<br />
Was mir Sorge bereitet, ist die Tatsache,<br />
dass einige Staaten glauben, Marktwirtschaft<br />
würde tatsächlich ohne Demokratie<br />
funktionieren. Auch China hätte<br />
diesen wirtschaftlichen Erfolg ohne bürgerliche<br />
Freiheitsrechte so nicht hinbekommen.<br />
Je mehr der Wohlstand<br />
dort steigt, umso mehr wächst auch der<br />
Wunsch nach individueller Freiheit.<br />
Es gibt einige Chinesen, die würden Ihre<br />
These von wegen der bürgerlichen Freiheiten<br />
rundweg abstreiten, Menschenrechtler<br />
etwa oder Künstler wie Ai Weiwei …<br />
Ich habe ja nicht gesagt, dass die Situation<br />
in China westlichen Standards<br />
entspricht. Aber im Vergleich zu Maos<br />
Zeiten haben die chinesischen Bürgerinnen<br />
und Bürger doch ungleich mehr<br />
Freiheitsrechte. Man muss doch auch den<br />
Weg sehen, den dieses Land zurückgelegt<br />
hat.<br />
Machen Sie sich manchmal Sorgen um die<br />
Zukunft der Demokratie?<br />
Ich sorge mich grundsätzlich darum,<br />
weil Demokratie immer wieder gewonnen<br />
werden muss. Es ist wie mit der Freiheit:<br />
Wenn man sie <strong>als</strong> selbstverständlich<br />
erachtet, merkt man ihr Verschwinden<br />
erst, wenn es zu spät ist. Wir dürfen<br />
nicht vergessen, dass wir hier in Deutschland<br />
auf einer Insel der Glückseligen leben.<br />
Das wird mir immer besonders bewusst,<br />
wenn ich nach einer Reise wieder<br />
hier ankomme.<br />
Ihr Parteifreund Guido Westerwelle hat<br />
gemeinsam mit Ihnen zu einem sehr frühen<br />
Zeitpunkt des Arabischen Frühlings<br />
auf dem Tahrir-Platz in Kairo die Entwicklung<br />
in dieser Weltregion gefeiert. Haben<br />
Sie, hat der ganze Westen sich zu früh<br />
gefreut?<br />
Nein. Ich habe unmittelbar nach Beginn<br />
des Arabischen Frühlings drei Fonds auf<br />
den Weg gebracht: für Demokratieförderung,<br />
für Bildung und Berufsbildung sowie<br />
für wirtschaftliche Entwicklung, weil<br />
ich wusste, dass diese Bewegung zwei<br />
Antworten braucht, nämlich eine politische<br />
und eine ökonomische. Wir versuchen,<br />
den Demokratisierungsprozess in<br />
den betroffenen Ländern zu unterstützen,<br />
auch wenn uns klar ist, dass dieser<br />
Prozess nicht unbedingt nach westlichem<br />
Muster verlaufen wird. Denn im Endeffekt<br />
müssen alle Länder selbst entscheiden,<br />
welches für sie der richtige demokratische<br />
Weg ist. Vielleicht sollten gerade<br />
wir in Deutschland uns da ein bisschen<br />
mit Kritik zurücknehmen – immerhin<br />
handelt es sich bei CDU und CSU<br />
ja auch um christliche Parteien. Warum<br />
<strong>als</strong>o nicht auch mit einer moderaten islamischen<br />
Partei Gespräche führen? Der<br />
Prozess in den Ländern des Arabischen<br />
Frühlings ist jedenfalls noch lange nicht<br />
zu Ende. Und ja: Er könnte unseren Vorstellungen<br />
zufolge auch ein schlechtes<br />
Ende nehmen, muss er aber nicht.<br />
Das Gespräch führten Alexander Marguier<br />
und Christoph Schwennicke<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 29
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Der empörungsautomat<br />
Wenige kennen Bernd Riexinger – und die ihn kennen, reden nicht gut über den neuen Chef der Linkspartei<br />
von Reinhard Mohr<br />
D<br />
a stand er plötzlich auf der<br />
Bühne der Lokhalle in Göttingen<br />
und wusste selbst nicht, wie ihm<br />
geschah. Eine Woche zuvor hatte Bernd<br />
Riexinger, 56, noch nicht die geringste Ahnung<br />
von seinem bevorstehenden Karrieresprung.<br />
Oskar Lafontaine und Gregor Gysi,<br />
Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch –<br />
das waren die großen Antipoden des verzweifelten<br />
Machtkampfs um die Führung<br />
der krisengeschüttelten Linken. Ihn<br />
kannte kaum einer, selbst in der eigenen<br />
Partei nicht.<br />
Und dann passierte es. Als sich die<br />
Polit-Elefanten endgültig gegenseitig blockiert<br />
hatten, schlug Riexingers Stunde:<br />
Der Genosse Parteisoldat wurde General.<br />
„Hinbestellt und reingewählt“, so beschreibt<br />
ein Insider den Coup der Lafontaine-Fraktion,<br />
den Verdi-Geschäftsführer<br />
des Bezirks Stuttgart und Landessprecher<br />
in Baden-Württemberg zum zweiten Bundesvorsitzenden<br />
der Linkspartei zu küren.<br />
Zwar entsprachen die 53,5 Prozent, die er<br />
erhielt, nicht gerade dem üblichen Spitzenergebnis<br />
sozialistischer Krönungsmessen,<br />
dafür aber wurde von seinen Genossen<br />
anschließend lautstark die Internationale<br />
angestimmt und der unterlegenen Bartsch-<br />
Fraktion der Antifa-Refrain „Ihr habt den<br />
Krieg verlor’n!“ entgegengeschleudert.<br />
Nun <strong>als</strong>o soll ausgerechnet der Mann<br />
die zerstrittenen Lager einen, der selbst <strong>als</strong><br />
linker Hardliner und Freund, ja „Marionette“<br />
und „Schießbudenfigur“ Lafontaines<br />
gilt. Ein schlechtes Omen kam umgehend<br />
aus der Zollernalb: Der dortige<br />
Kreisvorstand trat geschlossen zurück.<br />
Begründung: Mit Riexinger an der Bundesspitze<br />
sehe man keine Möglichkeit mehr,<br />
die nächsten Wahlen erfolgreich zu bestehen:<br />
„Bernd Riexinger <strong>als</strong> herausgehobener<br />
Vertreter jener Mischung aus gewerkschaftlichen<br />
Dogmatikern und städtisch<br />
geprägten Demo-Linken wird Die Linke<br />
noch tiefer in die Krise treiben.“ Auch die<br />
„zum Wesen der Linken gehörende Leidensfähigkeit“<br />
habe „Grenzen“.<br />
„Streiken ist wie Fahrradfahren:<br />
Man verlernt es nicht so schnell“<br />
Bernd Riexinger<br />
Der gelernte Bankkaufmann fing bei<br />
der Leonberger Sparkasse an, wechselte<br />
aber schon mit 25 Jahren vom Bankschalter<br />
ins Büro des freigestellten Betriebsrats.<br />
1991 wurde er hauptamtlicher Sekretär der<br />
Gewerkschaft „Handel, Banken und Versicherungen“<br />
(HBV), die 2001 im Verbund<br />
der neu gegründeten Organisation<br />
Verdi aufging. Seitdem sitzt er, nun auch<br />
schon elf Jahre lang, <strong>als</strong> Verdi-Bezirkschef<br />
in Stuttgart – ein lupenreiner Gewerkschaftsfunktionär.<br />
Kürzlich bilanzierte er<br />
auf einem Kongress mit dem zumindest<br />
grammatikalisch wagh<strong>als</strong>igen Titel „Marx<br />
is’ muss“ voller Stolz die rekordverdächtige<br />
Zahl von Streiktagen in seinem Bezirk:<br />
„Streiken ist ein bisschen wie Fahrradfahren:<br />
Wenn man es erst mal erlernt hat, dann verlernt<br />
man es auch nicht so schnell wieder.“<br />
Die Stuttgarter Zeitung nennt Riexinger,<br />
der für ein Gespräch mit <strong>Cicero</strong> keine<br />
Zeit fand, einen persönlich „sehr umgänglichen<br />
Menschen, ohne die Attitüde eines<br />
selbstgerechten Besserwissers“ – doch gerade<br />
Kollegen anderer Gewerkschaften<br />
zeichnen ein sehr kritisches Bild. „Er ist<br />
ein staatsgläubiger vulgärmarxistischer Brachial-Keynesianer“,<br />
sagt ein DGB‐Kollege<br />
in Berlin, seinem „altlinken Weltbild geradezu<br />
übertreu“, politisch aber „ohne jeden<br />
Instinkt, eine strategische Niete“. Tatsächlich<br />
scheint der Staat für Riexinger ein Gegner,<br />
wenn nicht Feind zu sein, dem man<br />
möglichst viele finanzielle Zugeständnisse<br />
abpressen muss: Je mehr Stellen im öffentlichen<br />
Dienst, desto besser. Für Differenzierungen<br />
ist da kein Platz. Es gibt es nur<br />
rechts und links, oben und unten.<br />
Typisch sein Verhalten während eines<br />
Streiks im öffentlichen Dienst, von dem<br />
auch die Kitas betroffen waren: Als auch<br />
nach zehn Tagen noch kein neues Angebot<br />
der Arbeitgeber vorlag, empfahl er eine<br />
konsequente Fortsetzung. Als Druckmittel<br />
gegen die Kommunen wollte er ganz gezielt<br />
die entnervten Eltern einsetzen, ganz<br />
so, <strong>als</strong> handle es sich um Zulieferbetriebe<br />
für Automobilkonzerne.<br />
Hier wird der „Streik <strong>als</strong> Mittel zur<br />
persönlichen und politischen Profilierung<br />
missbraucht“, urteilt ein anderer Gewerkschafter,<br />
dem Riexingers „rückwärtsgewandtes<br />
Schwarz-Weiß-Denken“ suspekt<br />
ist – weder „zeitgemäß“ noch „zukunftstauglich“.<br />
Tatsächlich fühlt man sich, wenn<br />
man sich dessen Reden auf Youtube anschaut,<br />
in die Zeit der fünfziger und sechziger<br />
Jahre versetzt. Man könnte glauben, der<br />
Mann habe sich seit Jahrzehnten nicht weiterentwickelt.<br />
Zwar beteiligt er sich fleißig<br />
an allen außerparlamentarischen Protestmoden<br />
– von „Stuttgart 21“ bis „Blockupy<br />
Frankfurt“ –, aber seine eingebaute, immer<br />
etwas leiernde Empörungsautomatik wirkt<br />
altbacken, einstudiert und abgelesen. Auf<br />
unbefangene Zuhörer hat sie einen deutlich<br />
einschläfernden Effekt. Seine Wirkung<br />
auf die Partei dürfte ähnlich sein.<br />
Reinhard Mohr ist Autor<br />
und lebt in Berlin. Zuletzt<br />
erschien sein Buch „Meide deinen<br />
Nächsten – Beobachtungen<br />
eines Stadtneurotikers“<br />
Fotos: DPA/Picture Alliance, Privat (autor)<br />
30 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Wer Bernd Riexinger<br />
zuhört, fühlt sich in die<br />
fünfziger und sechziger<br />
Jahre zurückversetzt<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 31
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Phantom am see<br />
Olaf Glaeseker, einst wichtigster Berater von Christian Wulff, bleibt auch in seinem Heimatdorf unsichtbar<br />
von Constantin Magnis<br />
A<br />
ls Glaeseker schlieSSlich ging,<br />
ging er leise und grußlos. Schon<br />
Tage vor seiner Entlassung, erzählen<br />
Kollegen, habe er gewissermaßen begonnen<br />
zu verschwinden: Der sonst so joviale<br />
Zwei-Meter-Mann mit dem glänzenden<br />
Schädel schien nicht mehr ganz bei sich,<br />
igelte sich ein, beantwortete kaum noch<br />
Anrufe, wirkte grüblerisch und gereizt.<br />
Und dann war er weg. 13 Jahre lang war<br />
Olaf Glaeseker Christian Wulffs Sprecher,<br />
Spin-Doctor und engster Berater, manche<br />
sagten: sein Bauchredner. Wenn Menschen<br />
wie er, die Strippenzieher hinter den Kulissen,<br />
das politische Theater verlassen, dann<br />
meist auf Zehenspitzen, um die Illusion<br />
der Bühnendarstellung nicht zu gefährden.<br />
Dass Glaeseker im Zuge der Wulff-<br />
Affäre <strong>als</strong>o schließlich so diskret sein Amt<br />
verließ, zwei Tage vor Weihnachten, ohne<br />
Begründung, verwunderte vorerst nicht<br />
weiter. Erst <strong>als</strong> seine Mailboxansage auch<br />
Wochen später noch ein „Frohes Weihnachtsfest“<br />
wünschte, <strong>als</strong> seine Festnetznummer<br />
auf einmal nicht mehr funktionierte,<br />
er auch enge Bekannte nicht mehr<br />
zurückrief und selbst SMS unbeantwortet<br />
blieben, begann man sich zu wundern.<br />
Olaf Glaeseker, so schien es, war spurlos<br />
verschollen.<br />
Nicht, dass die Presse sich bei der Spurensuche<br />
verausgabt hätte. Zum einen<br />
schützten Glaeseker <strong>als</strong> langjährigen Vermittler<br />
informativer Gefälligkeiten die vielen<br />
Duzfreunde der Hauptstadtredaktionen,<br />
zum anderen hielt man ihn zunächst<br />
für das Bauernopfer seines Dienstherrn.<br />
Dass die Sache doch komplizierter war,<br />
wurde klar, <strong>als</strong> die Staatsanwaltschaft im<br />
Januar wegen des Verdachts auf Bestechlichkeit<br />
Razzien in Glaesekers Privaträumen<br />
in Berlin und seinem Wohnhaus in<br />
Steinhude durchführte. In Berlin wusste<br />
scheinbar niemand, wo Glaeseker steckte.<br />
Aber vielleicht hatte ja in Steinhude am<br />
Steinhuder Meer jemand eine Idee.<br />
Die Belegschaft des alten Fischerdörfchens<br />
an Nordwestdeutschlands größtem<br />
ZUR PERSON<br />
Olaf Glaeseker, geboren 1961, war<br />
seit 1999 Sprecher und engster Berater<br />
von Christian Wulff. Während<br />
dessen Privatkredit-Affäre<br />
demissionierte er am 22. Dezember<br />
2011 <strong>als</strong> Sprecher des Bundespräsidialamts.<br />
Seit Januar ermitteln<br />
Staatsanwälte, weil Glaeseker<br />
<strong>als</strong> niedersächsischer Regierungssprecher<br />
die Veranstaltungsreihe<br />
„Nord-Süd-Dialog“ „gefällig gefördert“<br />
und dafür beim Veranstalter<br />
Manfred Schmidt in dessen Feriendomizilen<br />
mehrfach unentgeltlich<br />
Urlaub gemacht haben soll.<br />
See lässt sich grob in drei Gruppen einteilen:<br />
Establishment, allen voran die Besitzer<br />
der Hotels, Bootsverleihe und Aalräuchereien<br />
am historischen Hafen. Dann die<br />
Laufkundschaft: Rentnerkolonnen, Damen<br />
mit lilastichiger Kurzhaarfrisur, Herren<br />
mit beigefarbenen Jacketts, die täglich<br />
aus den Reisebussen klettern, um über die<br />
Kuchenbuffets der Promenadencafés herzufallen.<br />
Und zuletzt die Zugezogenen, unter<br />
ihnen Olaf Glaeseker.<br />
Seine Frau Vera, Juristentochter, ebenfalls<br />
Journalistin und <strong>als</strong> Sprecherin der niedersächsischen<br />
CDU gar kurzzeitig Nachfolgerin<br />
ihres Mannes, stammt aus dem<br />
Ort. Drei Blocks vom Bungalow ihrer Eltern<br />
entfernt kaufte das Ehepaar Glaeseker<br />
sich 1999 ein eigenes Haus, Olaf war gerade<br />
<strong>als</strong> Sprecher in die Dienste des dam<strong>als</strong> noch<br />
glücklosen niedersächsischen Oppositionsführers<br />
Wulff getreten.<br />
Es ist ein einfaches, schmuckloses Gebäude:<br />
kein Hinweis auf die Residenz einer<br />
der einflussreichsten Figuren der deutschen<br />
Politik. Zum Einzug klingelt Glaeseker bei<br />
jedem Nachbar, stellt sich persönlich vor.<br />
„Ein Riese mit nettem Gesicht“, erinnert sich<br />
die Frau von gegenüber. Viel mehr haben<br />
die meisten Nachbarn auch 13 Jahre später<br />
nicht über den Zugezogenen zu sagen. Hier<br />
lieh Glaeseker sich mal ein Spaltgerät, um<br />
Holz für seinen Kamin zu machen, dort traf<br />
ihn mal einer beim Joggen, manchmal sah<br />
man ihn am Wochenende Brötchen kaufen<br />
und vor Jahren sogar beim Schützenfest.<br />
Man weiß, dass seine Lieblingsrose den<br />
harten Winter nicht überlebt hat, und dass<br />
er gelegentlich im See schwimmen geht.<br />
Ansonsten bleibt Glaeseker ein Gesicht<br />
im Auto, das am Samstag um die Kurve<br />
kam, am Sonntag wieder fuhr. Schon ein<br />
paar Straßen weiter wissen die meisten<br />
Steinhuder nicht einmal das, weder in der<br />
Orts-CDU noch im Lions Club, weder in<br />
den Sportvereinen noch den vielen Restaurants<br />
am alten Hafen. Dass er hier war,<br />
erfuhr man in Steinhude erst so wirklich,<br />
<strong>als</strong> nach der Hausdurchsuchung die TV-<br />
Teams anrückten und Glaeseker bereits <strong>als</strong><br />
abgetaucht galt.<br />
„Damit einer abtauchen kann, muss er<br />
doch erst einmal auftauchen“, sagt Ortsbürgermeister<br />
Jürgen Engelmann, runde<br />
Nase, Vollbart, Polohemd. Er kennt fast<br />
jedes Gesicht hier im Ort, aber Glaeseker,<br />
da ist er sich sicher, traf er nur einmal. Das<br />
war vor Jahren, in der Weinscheune, <strong>als</strong><br />
der Wirt sie einander vorstellte. Glaesekers<br />
Händedruck war kräftig, sein Lächeln breit,<br />
er lobte den Bürgermeister für die Stadtentwicklung,<br />
dann sah Engelmann ihn<br />
nie wieder. „Ich glaube, Glaeseker kennt<br />
hier eigentlich niemand so richtig.“ Dann<br />
fällt ihm doch einer ein. Er zückt das<br />
Telefonbuch.<br />
„Abgetaucht?“ Der gebräunte Wirt mit<br />
dem Kinnbärtchen spitzt skeptisch die Lippen.<br />
„Ich bitte Sie, Herr Glaeseker ist bis<br />
heute unser Stammkunde.“ Schon in seiner<br />
Weinscheune sei Glaeseker regelmäßig für<br />
Sherry- und Weinproben vorbeigekommen,<br />
oft mit seiner Frau, gelegentlich auch mit<br />
Christian Wulff. Zuletzt wurde Vera Glaeseker<br />
sogar Taufpatin für den hauseigenen<br />
Sekt „Steinhuder Bootschaft“.<br />
Foto: Guido Ohlenbostel/Action Press<br />
32 <strong>Cicero</strong> 7.2012
„Ich bespreche gern<br />
mit meinem Anwalt,<br />
ob es sinnvoll<br />
ist, mit Ihnen<br />
ein Hintergrundgespräch<br />
zu führen“<br />
Per Handy und SMS hält der gewiefte PR-Profi<br />
Olaf Glaeseker unliebsame Fragesteller auf Distanz<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 33
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Vor ein paar Jahren hat der Wirt Steinhude<br />
verlassen, um einige Orte weiter, auf<br />
einem Hügel mit Seeblick, ein Gourmetrestaurant<br />
zu eröffnen. Erst vor kurzem<br />
sei Glae seker wieder einmal mit Wulff zusammen<br />
dort gewesen, meint der Koch<br />
sich zu erinnern, für ein Wildmenü. An<br />
Glaesekers Besuchsfrequenz und Essgewohnheiten<br />
habe sich in den vergangenen<br />
Monaten jedenfalls nichts geändert: Noch<br />
immer habe er eine Vorliebe für mediterrane<br />
Weine, Feta Provencale und den italienischen<br />
Winzerteller, noch immer denselben,<br />
trockenen Humor. Vor einigen Jahren,<br />
erzählt der Wirt, habe Glaeseker ihm einen<br />
Spätburgunder geschenkt. Irgendwann<br />
habe er ihm dann bei einer Blindweinprobe<br />
den gleichen Wein untergejubelt, und<br />
Glaeseker habe ihn nicht wiedererkannt.<br />
Obwohl der dam<strong>als</strong> das Bouquet in den<br />
Himmel gelobt hatte. Mit Glaeseker selbst<br />
ist es ähnlich: Er war gar nicht weg. Es hat<br />
nur keiner gemerkt.<br />
Die vergangenen Tage wirkte das Haus<br />
noch verlassen. Lichter aus, Tor zu, davor<br />
die gelben Säcke. Auf einmal waren die Säcke<br />
weg und das Tor auf. Das hätte einen<br />
einstimmen können. Aber dass Glaeseker<br />
dann einfach so im Abendrot auf dem Fahrrad<br />
um die Ecke biegt, <strong>als</strong> wäre nichts gewesen,<br />
<strong>als</strong> würde nicht halb Berlin rätseln,<br />
wo er steckt, das überrumpelt einen dann<br />
doch. Die hünenhafte Gestalt in Chino-<br />
Pants, Segelschuhen und blauer Sportjacke<br />
Viele Jahre unzertrennlich: Olaf Glaeseker war nicht nur Sprecher, sondern<br />
auch engster Berater des Bundespräsidenten Christian Wulff …<br />
… mit dem er sich angeblich immer noch privat trifft, zum Beispiel in diesem<br />
Feinschmeckerlokal, ganz in der Nähe von Glaesekers Wohnort Steinhude<br />
radelt vorbei, hin und her und immer wieder<br />
um den Block. Dabei telefoniert er, lachend<br />
und offenbar gut gelaunt. Was soll<br />
man machen? Aus dem Auto springen, ihn<br />
festhalten, damit er nicht entwischt und<br />
mit ihm die Geschichte? Rufen? Hupen?<br />
Nicht, dass er vom Fahrrad fällt. Ein Überfall<br />
im Dunklen wäre ohnehin kein vielversprechender<br />
Kontaktversuch. Also ein hastig<br />
gekrakelter Zettel: Man wolle ihn nicht<br />
erschrecken, sei in Steinhude auf Recherche,<br />
hätte Fragen über die Zeit nach seinem<br />
Amt, würde morgen bitte gerne mit ihm<br />
persönlich sprechen. Inzwischen brennt<br />
Licht im Heim der Glae sekers. Der verloren<br />
Geglaubte ist wieder zu Hause. Um<br />
nicht <strong>als</strong> Unbekannter bei Nacht bis zum<br />
Briefkasten an der Haustüre herumschleichen<br />
zu müssen, klemmt man das Papier<br />
an den Scheibenwischer des babyblauen<br />
Fiats, der seit heute vor der Garage parkt.<br />
Der Weg dorthin ist lang genug. Der Kies<br />
knirscht viel zu laut auf dem Asphalt. Und<br />
schließlich springt das Alarmlicht im Hof<br />
an. Der Gedanke, im Haus gerade Panik<br />
auszulösen, löst kurz Panik aus.<br />
Am Morgen schickt Olaf Glaeseker<br />
seine erste SMS: „Vielen Dank für Ihre<br />
freundlichen Zeilen. Ich bespreche gerne mit<br />
meinem Anwalt, ob es sinnvoll ist, mit Ihnen<br />
zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Hintergrundgespräch<br />
zu führen. Ich komme dann<br />
ggf. gerne auf Sie zu. Kollegialen Gruß, Ihr<br />
Olaf Glae seker“. Kein gutes Signal für einen<br />
Reporter, der am nächsten Tag abreisen<br />
muss. Und gleichzeitig die Reaktion<br />
eines Profis wie aus dem Handbuch der<br />
Krisenkommunikation: freundlich hinhalten,<br />
bis der Sturm vorüberzieht. Eine SMS<br />
zurück über den Gartenzaun des PR-Strategen:<br />
Man wolle, nur zur Klarstellung, gar<br />
nicht über Gegenstände eines juristischen<br />
Verfahrens sprechen, lediglich über seine<br />
jetzige Situation, und wie er sie erlebe.<br />
Glaeseker wäre nicht der Mann, der aus<br />
dem staubtrockenen Osnabrücker Wulff<br />
den zeitweilig beliebtesten Politiker des<br />
Landes machte, der dafür sorgte, dass Wulff,<br />
nachdem er seine Frau verlassen hatte, für<br />
sein neues Liebesglück gefeiert, statt <strong>als</strong> Ehebrecher<br />
durchs Boulevard getrieben wurde,<br />
wenn er mit dieser Lage nicht umzugehen<br />
wüsste. „Bitte glauben Sie mir:“, textet er drei<br />
Stunden später zurück, „Ich habe großes Verständnis<br />
für Ihr Anliegen. Insbesondere, weil<br />
ich meinen Job immer in allererster Linie und<br />
mit großer Leidenschaft <strong>als</strong> ‚Dienstleister‘ für<br />
Fotos: Daniel Biskup/Laif, Michael Löwa<br />
34 <strong>Cicero</strong> 7.2012
F r a u F r i e d f r a g t s i c h . . .<br />
Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: privat<br />
meine Kolleginnen und Kollegen gelebt habe.<br />
Deswegen will ich Ihnen auch helfen. Das<br />
kann ich aber nur, wenn zwischen uns klar<br />
ist, dass Sie nicht mit mir gesprochen haben.<br />
Insofern müssten Sie das, was ich bereit bin, Ihnen<br />
hier jetzt v e r t r a u l i c h zu schreiben,<br />
meinen Freunden, Bekannten, jenen, die mich<br />
gut kennen, <strong>als</strong> Einschätzung über mich zuschreiben.“<br />
Es folgen Informationen, die in<br />
ihrer Allgemeinheit von jeder Aalverkäuferin<br />
hätten gemutmaßt werden können. „Bitte<br />
gehen Sie vertrauensvoll mit diesen Einschätzungen<br />
um“, schließt Glaeseker. „Ich verlasse<br />
mich auf Sie. Kein Zitat, alles unter 2+3.“<br />
Unter „zwei“ und unter „drei“ nennt man<br />
im politischen Berlin vertrauliche Informationen,<br />
die entweder verschleiert („wie aus Regierungskreisen<br />
verlautet“) oder überhaupt<br />
nicht verwendet werden dürfen.<br />
Neuer Kenntnisstand gleich null, und<br />
trotzdem beschleicht den Empfänger das<br />
Gefühl, nun in der Schuld des Absenders<br />
zu stehen, von ihm ablassen zu müssen.<br />
Das muss einem erst einmal gelingen.<br />
Glaeseker, dessen Erfolg zu Amtszeiten<br />
auch darin bestand, Journalisten mit ausgewählten<br />
Informationen anzufüttern und<br />
gleichzeitig zu zähmen, agiert <strong>als</strong> Spin-<br />
Doctor in eigener Sache.<br />
Der Reporter nimmt noch einen Anlauf:<br />
So einfach darf man sich nicht abwimmeln<br />
lassen. Wieder eine lange SMS an<br />
Glaeseker: Man könne seine Worte nicht<br />
Freunden oder Bekannten in den Mund legen.<br />
Das wäre eine Fälschung. Der SMS-<br />
Verkehr am Steinhuder Meer sei bereits Teil<br />
der Geschichte, ebenso wie die Umstände,<br />
unter denen er zustande kam. Ob man<br />
nicht bitte doch reden könne. Glae sekers<br />
Antwort, in 1187 getippten, verbindlichen<br />
wie freundlichen Zeichen: Nein.<br />
Am nächsten Tag scheint die Sonne,<br />
und diesmal ist der Besuch trotzig angekündigt,<br />
per SMS natürlich. Die frisch<br />
gepflanzten englischen Rosen wippen zufrieden<br />
im Wind, vom Fenstersims blickt<br />
ein weißer Porzellanhengst auf den Besucher<br />
herab. Die Türklingel verhallt im<br />
menschenleeren Haus. Das Auto ist weg.<br />
Glaeseker auch. Als wäre er nie da gewesen.<br />
Typisch.<br />
Constantin Magnis<br />
ist Reporter von <strong>Cicero</strong><br />
… ob sich Frauen wirklich<br />
für Fußball begeistern –<br />
oder nur so tun<br />
F<br />
rüher durften Männer<br />
rauchend auf dem Krankenhausflur<br />
herumgehen, statt<br />
im Kreißsaal Schwestern und Ärzte<br />
bei der Arbeit zu behindern. Sie durften<br />
einmal die Woche zum Stammtisch<br />
und am Samstag zum Fußball.<br />
Ohne Frauen.<br />
Heute müssen Männer bei<br />
Geburten dabei sein. Stammtisch ist<br />
abgeschafft. Und Fußball ohne Frauen<br />
geht auch nicht mehr. Angetan mit<br />
Trikot und Fan-Schal drängeln sich<br />
die Damen in den Stadien und beim<br />
Public Viewing und führen sich auf,<br />
<strong>als</strong> ginge es um ihr Leben. Dabei ist<br />
Fußball Männersache. Nie kann man<br />
Männer so glücklich und so unglücklich<br />
erleben wie beim Fußball. Sie schreien, schimpfen, lachen und weinen. Sie<br />
tun, was sie sonst selten tun: Sie zeigen Gefühl. Während der Ball rollt, ist alles andere<br />
unwichtig. Vor allem die Frauen. Und das stinkt denen natürlich. Da zeigen<br />
ihre Männer endlich einmal Leidenschaft – und sie sollen nicht dabei sein? Fußball<br />
ist der natürliche Feind der Frau. Und wer seinen Feind nicht besiegen kann – der<br />
versucht, ihn sich zum Verbündeten zu machen.<br />
Deshalb, meine Damen, nehme ich euch die Fußballbegeisterung nicht ab. Ihr<br />
würdet sie gern empfinden, aber sie bleibt Pose. Wie Vampire dockt ihr an der Leidenschaft<br />
der Männer an und zapft so viel davon ab, wie es geht. In den 90 Minuten<br />
eines Spiels erlebt ihr mehr Spannung <strong>als</strong> sonst in einem ganzen Jahr eures<br />
Lebens. Aber die meisten von euch haben keine Ahnung, was tatsächlich auf<br />
dem Spielfeld passiert. Ihr kommentiert die neue Frisur von Mario Gomez und<br />
den Hintern von Didier Drogba, ihr bemitleidet den armen Schweini, weil er den<br />
entscheidenden Elfmeter verschossen hat („Schau mal! Er sieht aus wie ein trauriger<br />
Welpe!“), und vielleicht rechnet ihr noch aus, wie viele Wellnessurlaube man<br />
mit der Ablösesumme von 93 Millionen Euro machen könnte, die Real Madrid für<br />
Ronaldo hingeblättert hat.<br />
An sich ist Ahnungslosigkeit in Sachen Fußball keine Schande – man kann damit<br />
sogar polnische Sportministerin werden, wie das Beispiel von Joanna Mucha<br />
zeigt. Die fragte beim Pokalfin<strong>als</strong>piel, wer denn die Mannschaften ausgewählt habe,<br />
die gegeneinander antraten. Ein andermal soll sie gefragt haben, warum einer der<br />
Spieler nur herumstehe. Es war der Torwart.<br />
Trotzdem, meine Damen. Männer haben’s doch eh schon schwer. Wir Frauen<br />
graben ihnen überall das Wasser ab. Stürmen auf der Karriereleiter voran, sind<br />
kurz davor, die Führungsetagen zu erobern und erwarten obendrein, dass sie zu<br />
Hause den Abwasch machen. Lasst den armen Kerlen wenigstens eine Sache, bei<br />
der sie vor uns sicher sind!<br />
Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />
Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen aufwirft<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 35
| B e r l i n e r R e p u b l i k | D a s D r e i g e s t i r n d e r S P D<br />
Peers Troika –<br />
Franks TRIO<br />
Wie funktioniert das eigentlich, eine<br />
Troika?, wollten wir von Peer Steinbrück,<br />
Frank‐Walter Steinmeier und Sigmar<br />
Gabriel wissen und baten um ein Gespräch.<br />
Die Herren zierten sich. Die Troika, ließen<br />
sie ausrichten, funktioniere gerade deshalb,<br />
weil keiner von ihnen darüber plaudere.<br />
<strong>Cicero</strong> ist es am Ende doch gelungen, das<br />
Geheimnis zu lüften und die drei Herren an der<br />
SPD-Spitze zum Sprechen zu bringen. Nichts<br />
wurde ihnen in den Mund gelegt, alles – außer<br />
den kursiv gedruckten Passagen – ist so<br />
gesagt worden. Ein exklusives Gespräch unter<br />
Männern über sich und ihre Dreifaltigkeit<br />
H<br />
err Steinmeier: Was bedeutet<br />
das schöne russische Wort<br />
Troika eigentlich?<br />
Frank-W. Steinmeier (lacht): Nie gehört.<br />
Als Troika bezeichnet man auf Russisch<br />
eine Bespannungsweise für Fuhrwerke<br />
oder Schlitten, in der drei Zugtiere<br />
nebeneinandergehen.<br />
Steinmeier: Wie schön, dass es Wikipedia<br />
auch in Ihre Redaktion geschafft hat.<br />
Wenn Peer Steinbrück, Sigmar Gabriel<br />
und ich <strong>als</strong> Zugpferde wahrgenommen<br />
werden, habe ich nichts dagegen.<br />
Braucht es <strong>als</strong>o, Herr Steinbrück, gleich<br />
drei, um den SPD-Karren aus dem Dreck<br />
zu ziehen?<br />
Peer Steinbrück: Wir werden über einige<br />
Steine gehen müssen. Aber das Entscheidende<br />
ist: Wir gehen zusammen.<br />
Als Trio bis zum Ende?<br />
Steinmeier: In Gelsenkirchen hat man<br />
über die Kremers-Zwillinge* gesagt: Die<br />
zwei, dat is sich’n Trio (lacht).<br />
Der ehemalige SPD-Vorsitzende Björn<br />
Engholm sieht die Sache auf Steinmeier<br />
oder Steinbrück zulaufen, Peers Troika<br />
36 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Wenn sie schreiten Seit’ an Seit’:<br />
die sozialdemokratische<br />
Kandidaten-Troika Peer<br />
Steinbrück, Sigmar<br />
Gabriel, Frank-Walter<br />
Steinmeier (von links)<br />
Foto: Stephanie Pilick/dpa/lbn [M]<br />
oder Franks Trio – das ist für ihn schon<br />
heute ein Duett. Warum, Herr Gabriel, treten<br />
Sie trotzdem immer noch zu dritt auf?<br />
Sigmar Gabriel: Wenn wir nicht zu dritt<br />
gekommen wären, hätten Sie gefragt, warum<br />
einer von uns nicht dabei ist. Dem<br />
wollten wir aus dem Weg gehen.<br />
Das heißt: Jeder von Ihnen traut sich die<br />
Kanzlerkandidatur zu?<br />
Gabriel: Jeder gewählte Ministerpräsident<br />
ist ebenfalls ein denkbarer Kandidat.<br />
Steinmeier: Wir haben über 500 000<br />
mögliche Kanzlerkandidaten in der SPD.<br />
Aber nur einer kann gegen Angela Merkel<br />
antreten, wer von Ihnen wird es denn nun?<br />
Steinbrück: Die Frage stellt sich nicht.<br />
Darüber wird der Parteivorsitzende zur<br />
gegebenen Zeit entscheiden.<br />
Steinmeier: Sie glauben doch wohl nicht<br />
im Ernst, dass ich hier jetzt eine Kandidatendebatte<br />
vom Zaun breche!<br />
2009 hat der Kanzlerkandidat Steinmeier<br />
mit 23 Prozent das schlechteste Ergebnis<br />
aller Zeiten eingefahren. Seitdem ...<br />
*) Die Zwillingsbrüder Helmut und Erwin Kremers waren beim<br />
Gelsenkirchener Fußballverein Schalke 04 von 1971 bis 1979 ein<br />
legendäres Spielerduo<br />
Steinmeier: ... ist viel passiert, politisch<br />
und privat. Solche Einschnitte können<br />
einen auch stärken.<br />
Gabriel: Ich werde in der SPD zu Person<br />
und Verfahren rechtzeitig einen Vorschlag<br />
machen.<br />
Steinbrück: Der Zeitpunkt wird kommen,<br />
wo ich mich mit zwei oder drei Führungspersönlichkeiten<br />
der SPD darüber<br />
zusammensetze.<br />
Engholm meint übrigens, ein Jahr<br />
bräuchte ein Kandidat schon, um sich<br />
warmzulaufen. Das hieße: Spätestens in<br />
diesem Herbst müsste die Entscheidung<br />
fallen.<br />
Gabriel: Ende 2012.<br />
Steinmeier: Besser wäre es allerdings, die<br />
Frage nach der Landtagswahl in Niedersachsen<br />
zu klären, <strong>als</strong>o Ende Januar oder<br />
Anfang Februar 2013.<br />
Ein vorzeitig ausgerufener Bewerber, hat<br />
der frühere Parteichef Kurt Beck seinerzeit<br />
gewarnt, werde von den Medien<br />
„zerredet, zersendet und zerschrieben“.<br />
Ist das der Grund, weswegen Sie die Entscheidung<br />
so lange hinauszögern?<br />
Steinbrück: Sie würden mich in die Eierschleifmaschine<br />
stecken. Wir haben kein<br />
Interesse daran, dass irgendeiner von uns<br />
anderthalb Jahre <strong>als</strong> Kanzlerkandidat unterwegs<br />
ist. Ihre Branche und die politischen<br />
Kontrahenten würden jeden Speer<br />
auf die Brust dieses Kandidaten werfen<br />
und ihm jedes Stöckchen hinhalten.<br />
Steinmeier: Ich war schon mal mehr <strong>als</strong><br />
ein Jahr lang Kanzlerkandidat und weiß,<br />
dass das eine lange Zeit ist. Es gibt keine<br />
Not, sie noch länger zu machen.<br />
Gabriel: Denkt immer an Schwielowsee.<br />
Das ist ein interessanter Einwand, Herr<br />
Gabriel. Am Schwielowsee trat der Parteivorsitzende<br />
Beck zurück, weil er zu lange<br />
gezögert hatte, die K-Frage zu entscheiden<br />
– und plötzlich war Steinmeier der<br />
Kandidat.<br />
Steinmeier: Für mich gilt: Wenn die<br />
Zeit reif ist, habe ich kein Problem mit<br />
schnellen Entscheidungen.<br />
Anfangs sah es ja so aus, <strong>als</strong> liefe die Kandidatur<br />
fast zwangsläufig auf Steinbrück<br />
zu. Auf dem SPD-Parteitag im Dezember<br />
schien dann Gabriel die besten Aussichten<br />
zu haben, und jetzt schreibt der Spiegel,<br />
Steinmeier habe die Nase vorn.<br />
Gabriel: Ich rate allen, diese Spekulationen<br />
heiter und gelassen zu nehmen.<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 37
| B e r l i n e r R e p u b l i k | D a s D r e i g e s t i r n d e r S P D<br />
Steinmeier: Die Regierung wird versuchen,<br />
so lange wie möglich vor sich hin<br />
zu wursteln. Wir tun gut daran, uns darauf<br />
vorzubereiten, Regierungsverantwortung<br />
zu übernehmen.<br />
Zwei ehemalige SPD-Kanzler – Gerhard<br />
Schröder und Helmut Schmidt – haben<br />
öffentlich für Steinbrück geworben. War<br />
Schröders Plädoyer hilfreich?<br />
Gabriel: Ich war ja froh, dass er (Schröder)<br />
es selber gesagt hat und nicht Herr Putin.<br />
„Wenn wir nicht zu dritt<br />
gekommen wären, hätten<br />
Sie gefragt, warum einer<br />
von uns nicht dabei ist“<br />
Sigmar Gabriel<br />
Wenn die Manegenmusik spielt, wollen<br />
die alten Zirkuspferde eben noch mal in<br />
die Manege.<br />
Aber täuscht der Eindruck, dass Sie, Herr<br />
Steinbrück, gegenüber Gabriel und Steinmeier<br />
etwas ins Hintertreffen geraten<br />
sind?<br />
Steinbrück: Ach was, ich komme im Land<br />
viel herum und stoße auf Neugier. Die<br />
Säle sind voll. Und auf die Gefahr hin,<br />
dass es eitel wirkt: Wenn ich mir die persönlichen<br />
Umfragewerte anschaue, dann<br />
habe ich mich über eine mangelnde Aufmerksamkeit<br />
nicht zu beschweren.<br />
Geht es eigentlich immer harmonisch<br />
zu, wenn Sie sich treffen, oder stimmt es,<br />
dass Sie sich manchmal auch fetzen und<br />
sogar anbrüllen. Herr Gabriel, so las man,<br />
sei bei der Frage, ob und unter welchen<br />
Bedingungen man die Regierung bei ihrem<br />
Bemühen um den europäischen Fiskalpakt<br />
unterstützen soll, für eine härtere oppositionelle<br />
Gangart eingetreten, während<br />
Herr Steinmeier davor warnte, radikale<br />
Positionen zu vertreten, die man später <strong>als</strong><br />
Regierung wieder räumen müsste.<br />
Steinmeier: Natürlich wird bei uns hart<br />
diskutiert, manchmal auch streitig. Alles<br />
andere wäre doch lebensfremd. Wir<br />
sind nicht die Linkspartei. Die SPD trägt<br />
Verantwortung auch in der Opposition,<br />
weil wir uns darauf vorbereiten zu regieren.<br />
Worauf es ankommt, ist doch, dass<br />
wir gemeinsam und kollegial mit Leidenschaft<br />
und mit Verstand an Lösungen arbeiten,<br />
die unser Land besser machen.<br />
Und das tun wir.<br />
Steinbrück: Dass es eine Meinungsverschiedenheit<br />
gegeben hat, ist erkennbar.<br />
Dies ist auch erlaubt. Die Rivalität,<br />
die daraus gemacht wird, ist völlig übertrieben.<br />
Über den Kurs der Eurorettung<br />
wird sich die Troika nicht zerlegen, das<br />
sage ich Ihnen zu.<br />
Finden Sie es eigentlich normal und<br />
demokratisch, dass einer allein darüber<br />
entscheidet, wer Kanzlerkandidat der SPD<br />
werden soll? Irgendwann muss doch auch<br />
die Partei einbezogen werden.<br />
Gabriel: Eine stumme Partei ist in der<br />
Regel auch eine dumme Partei. Wenn<br />
es am Ende mehrere gibt, die glauben,<br />
dass sie die Sozialdemokraten in<br />
den nächsten Wahlkampf führen sollen,<br />
dann werden bei uns die Mitglieder darüber<br />
entscheiden und nicht der Parteivorstand<br />
und nicht die Delegiertenkonferenz<br />
und schon gar nicht Beobachter<br />
von außen.<br />
„Sie würden mich in die<br />
Eierschleifmaschine<br />
stecken. Keiner von uns<br />
will anderthalb Jahre <strong>als</strong><br />
Kandidat unterwegs sein“<br />
Peer Steinbrück<br />
War das jetzt mit Ihnen beiden<br />
abgesprochen?<br />
Steinmeier: Ich habe nicht gewusst,<br />
dass er (Gabriel) dieses Fass aufmachen<br />
würde. Aber wenn es im Januar<br />
2013 mehrere mögliche Kanzlerkandidaten<br />
gibt, dann kann man darüber<br />
(selbstverständlich) auch in einer Urwahl<br />
abstimmen.<br />
Steinbrück: (Ich wiederhole mich: Der Vorsitzende)<br />
hat das Vorschlagsrecht. Steinmeier<br />
und ich werden uns zurückhalten.<br />
„Wir diskutieren auch<br />
streitig. Wir sind nicht<br />
die Linkspartei. Die SPD<br />
trägt Verantwortung<br />
auch in der Opposition“<br />
Frank-Walter Steinmeier<br />
Könnte es denn sein, dass aus der<br />
Troika eine Quadriga wird? Viele meinen,<br />
Hannelore Kraft wäre nach ihrem Wahlsieg<br />
in Nordrhein-Westfalen die beste<br />
Kanzlerkandidatin.<br />
Gabriel: Natürlich gehört sie mit zum<br />
Kreis der möglichen Kandidaten. Aber sie<br />
hat sich ja bekanntlich anders entschieden.<br />
Steinmeier: Es ist schon viel darüber gesagt<br />
worden, vor allem auch von Hannelore<br />
Kraft: Die will in Nordrhein-Westfalen<br />
bleiben.<br />
Sie sind <strong>als</strong> Troika nicht nur in Berlin<br />
unterwegs. Sie waren im schleswig-holsteinischen<br />
Wahlkampf und kürzlich auch<br />
gemeinsam in Paris bei François Hollande?<br />
Gabriel: Realität findet eben nicht immer<br />
nur im Bierdeckelradius rund um den<br />
Reichstag statt.<br />
Ist es nicht gefährlich, zu dritt im selben<br />
Flugzeug zu reisen?<br />
Steinmeier: Ich weiß nicht, was da durchschimmert<br />
durch diese Frage.Ich hoffe,<br />
es war nicht die Hoffnung, dass sich die<br />
Troika und die K-Frage auf diese Art und<br />
Weise erledigten.<br />
Aber wenn es nur einen Fallschirm gibt?<br />
Steinbrück: Dann werden wir das noch<br />
ein bisschen auskegeln. Der Punkt ist<br />
nur, dass du, Frank, für diesen Fallschirm<br />
schwerer bist <strong>als</strong> ich – von Sigmar ganz<br />
zu schweigen. (Alle drei lachen)<br />
Steinbrück: Damit hat sich die Frage, wer<br />
es wird, ja für alle Journalisten geklärt.<br />
Herr Steinmeier, Herr Steinbrück, Herr<br />
Gabriel: Herzlichen Dank.<br />
Die Fragen formulierte Hartmut Palmer,<br />
die Antworten fand er in Interviews und<br />
Presseartikeln der vergangenen zwei Jahre<br />
38 <strong>Cicero</strong> 7.2012
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Ein Sommer ohne Sonne<br />
Die Niederlage der CDU in Nordrhein-Westfalen ist ein Warnsignal für die ganze Union und<br />
zwingt die Bundeskanzlerin zum Umsteuern: Die Wähler erwarten Führung und Stetigkeit<br />
von Wilfried Scharnagl<br />
D<br />
ie Zahl allein markiert nur<br />
unzureichend die Tiefe des<br />
Abgrunds. Die 26,3 Prozent<br />
der Stimmen, welche die einst<br />
große und stolze Volkspartei<br />
CDU am 13. Mai 2012 in Nordrhein-<br />
Westfalen noch einfahren konnte, sind<br />
zusätzlich schreckenerregend, wenn man<br />
sie in Beziehung setzt zu einer Wahlbeteiligung<br />
von 59,6 Prozent. Im bevölkerungsreichsten<br />
deutschen Land versammelten<br />
sich kaum mehr <strong>als</strong> 15 Prozent der<br />
Wahlberechtigten hinter der Fahne der<br />
Union. Auch wenn sich – gemessen daran<br />
– die von SPD (39,1 Prozent) und Grünen<br />
(11,3 Prozent) gemeinsam bequem<br />
erreichte absolute Mehrheit auf eine Zustimmung<br />
von 30 Prozent verringert: Die<br />
CDU an Rhein und Ruhr und auch in Berlin<br />
kann darin keinen Trost finden.<br />
Ordnet man das CDU-Ergebnis von<br />
Nordrhein-Westfalen in den bisherigen Ablauf<br />
der 2009 begonnenen Landtagswahlen<br />
ein, fällt es nur von seinem Ausmaß her aus<br />
dem Rahmen. Die Verluststrecke begann in<br />
Düsseldorf schon zwei Jahre zuvor, <strong>als</strong> Jürgen<br />
Rüttgers aus dem Amt gewählt wurde<br />
und die SPD-Frau Hannelore Kraft, diese<br />
Möglichkeit eher mit zögerndem Verwundern<br />
ergreifend, eine auf das Wohlwollen<br />
der Linken angewiesene rot-grüne Koalition<br />
bilden konnte. Dabei hatte sich die Bundesregierung,<br />
aus Rücksicht auf die CDU in<br />
NRW und vor lauter Angst, mit ernsthaftem<br />
politischen Handeln vielleicht einen Wähler<br />
zu verschrecken, in einen bedrückenden<br />
Stand-by-Modus begeben. Lähmung statt<br />
Leistung – das Rezept ging nicht auf. Das<br />
Urteil von Opposition und Medien, die Regierung<br />
Merkel habe zum Auftakt der Regierungsperiode<br />
einen gründlichen Fehlstart<br />
hingelegt, konnte nicht widerlegt werden.<br />
Manchem<br />
Wechsel in<br />
Düsseldorf ist<br />
ein Wechsel<br />
in Bonn oder<br />
Berlin gefolgt<br />
Sicherlich gilt, dass Landtagswahlen<br />
auch von länderspezifischen Themen und<br />
Akzenten geprägt werden. Unbestritten<br />
aber ist auch, dass bundespolitische Einflüsse<br />
eine wichtige Rolle spielen. So gesehen<br />
müssen Bundesregierung und Bundeskanzlerin,<br />
diese zudem in ihrer Eigenschaft<br />
<strong>als</strong> Bundesvorsitzende ihrer Partei, Landtagswahlergebnisse<br />
<strong>als</strong> Spiegel auch ihres<br />
politischen Handelns sehen. Die seit der<br />
Bundestagswahl 2009 in den Ländern zu<br />
Ungunsten der CDU eingetretenen dramatischen<br />
Veränderungen – der Verlust der<br />
Regierungsmehrheit in Hamburg, Stuttgart<br />
und Kiel ist dabei besonders schmerzlich<br />
– haben auch einen bundespolitischen<br />
Absender.<br />
Dies gilt auch für die jüngste Landtagswahl<br />
in Nordrhein-Westfalen. Es wäre<br />
verfehlt und ungerecht, das krachende<br />
Scheitern der CDU allein dem Spitzenkandidaten<br />
Norbert Röttgen zuzuschreiben.<br />
Allerdings muss sich dieser ein gerüttelt<br />
Maß an Schuld an der Wahlkatastrophe<br />
seiner Partei anrechnen lassen. Eine Kandidatur<br />
unter Vorbehalt – wenn es gut geht,<br />
bleibe ich, wenn nicht, halte ich mir den<br />
Rückzug offen – empfinden die Wähler <strong>als</strong><br />
Zumutung. Horst Seehofer hat den Hinweis<br />
auf diese Praxis der Wählervertreibung<br />
mit der Erinnerung daran verbunden, dass<br />
die CDU zu Beginn des Wahlkampfs und<br />
beim Antritt von Röttgen in den Umfragen<br />
klar vor der SPD lag. Und der CSU-Chef<br />
hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass<br />
die Strategie und Positionierung eines Spitzenkandidaten,<br />
zumal im wichtigen Nordrhein-Westfalen,<br />
nicht dessen Privatsache<br />
seien, sondern im Interesse der CDU und<br />
mit Blick auf die nächste Bundestagswahl<br />
im Gesamtinteresse der Union erfolgen<br />
müssen. Bemerkenswert, wenn auch nicht<br />
überraschend: Seehofers Wertung hat, <strong>als</strong><br />
Ablenkungsmanöver geeignet, einen Strom<br />
von Krokodilstränen von mancher CDU-<br />
Seite darüber ausgelöst, wie man so mit einem<br />
Verlierer umgehen könne – während<br />
hinter verschlossenen Türen und inzwischen<br />
auch öffentlich die Analyse aus Bayern<br />
auch von der CDU und insbesondere<br />
von der NRW-CDU bestätigt wird.<br />
Eine Frage allerdings bleibt in diesem<br />
Zusammenhang: Warum hat Angela Merkel<br />
ihren Umweltminister und NRW-Landesvorsitzenden<br />
nicht in die Pflicht genommen<br />
und ihn zu einer Spitzenkandidatur<br />
„mit Leib und Seele“ angehalten? Zum einen<br />
wurde Merkel stets ein besonders gutes<br />
Verhältnis zu Röttgen nachgesagt. Zum<br />
anderen ist ihre Stellung in der CDU zu<br />
stark und unangefochten, <strong>als</strong> dass sich<br />
Röttgen ihrem Drängen hätte widersetzen<br />
können, auch für den Fall einer Niederlage<br />
sein Bleiben in Düsseldorf zuzusagen. Die<br />
Bedeutung nordrhein-westfälischer Wahlgänge<br />
für die Geschichte der Bundesrepublik<br />
Deutschland ist bekannt. Manchem<br />
Wechsel in Düsseldorf ist ein Wechsel in<br />
Bonn oder Berlin gefolgt.<br />
40 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Foto: Picture Alliance/DPA<br />
Der Verlust der Bundesratsmehrheit,<br />
verbunden mit der Blockadepolitik der<br />
SPD, macht das Regieren für die Bundeskanzlerin<br />
schwerer. Die Nervosität des vom<br />
Untergang bedrohten Koalitionspartners<br />
FDP ebenso. Wenn auch die Umfrageergebnisse<br />
von Woche zu Woche schwanken,<br />
sicher scheint, dass der Vorsprung<br />
der Union vor der SPD kleiner geworden<br />
ist. Einerseits.<br />
Andererseits: Angela Merkel genießt<br />
höchste Reputation, liegt hinter Bundespräsident<br />
Joachim Gauck, dem neuen<br />
Shooting Star der deutschen Politik, auf<br />
dem zweiten Platz. Bei der Direktwahl eines<br />
Bundeskanzlers würde sie jedes Mitglied<br />
der sozialdemokratischen Troika<br />
schlagen; das „Dreigestirn“ Gabriel, Steinmeier<br />
und Steinbrück wird auch in den eigenen<br />
Reihen mehr und mehr <strong>als</strong> verzagt<br />
und unentschlossen eingeschätzt. Aber: Es<br />
gibt keine Antwort auf die Frage, warum<br />
Ansehen und Wertschätzung, welche die<br />
Kanzlerin und Vorsitzende erfährt, sich<br />
nicht auch in deutlich besseren Umfragewerten<br />
für die Union niederschlagen.<br />
Dass dieser Gleichklang in der Zustimmung<br />
zwischen Kanzlerin und CDU nicht<br />
erreicht wird, liegt in einer Performance der<br />
Bundesregierung, die gerade von den Wählerinnen<br />
und Wählern oft <strong>als</strong> mangelhaft<br />
empfunden wird, die der schwarz-gelben<br />
Koalition 2009 zu einer klaren Mehrheit<br />
verholfen haben. Die Diskrepanz zwischen<br />
den Ankündigungen des Wahl- und Regierungsprogramms<br />
und der tatsächlichen Regierungsarbeit<br />
ist einfach zu groß und führt<br />
zum Verdruss der Stammwähler.<br />
Wichtige Programmpunkte wurden<br />
nicht oder nur unzureichend umgesetzt,<br />
andere gar, wenn auch aufgrund nicht vorhersehbarer<br />
Entwicklungen und Zwänge,<br />
in ihr Gegenteil verkehrt. So wurden, um<br />
einen zentralen Punkt herauszugreifen, die<br />
Erwartungen der arbeitenden Menschen<br />
auf eine große Steuerreform, verbunden<br />
mit deutlichen Steuersenkungen, nicht<br />
erfüllt. Die Steuereinnahmen des Staates<br />
steigen auf Rekordhöhen, und Geld ist für<br />
alles da, nur nicht für eine spürbare Entlastung<br />
der Steuerzahler.<br />
Dass SPD und Grüne geradezu in einen<br />
Steuererhöhungsrausch verfallen, ist<br />
den Wählern von Union und FDP kein<br />
Trost. Bei anderen Themen wurden, wenn<br />
auch mit beachtlichen Argumenten und<br />
unter dem Druck nicht vorhersehbarer<br />
Ereignisse, Programmankündigungen in<br />
ihr Gegenteil verkehrt. Mit dem Bekenntnis<br />
zur Wehrpflicht zog die Union in die<br />
Wahl, politische, strategische und finanzielle<br />
Zwänge führten zu ihrer Abschaffung.<br />
Mit dem Kopf trugen die Mitglieder und<br />
Wähler der Unionsparteien diese Kehrtwende<br />
mit, mit dem Herzen taten und<br />
tun sie sich schwer – zu sehr und zu lange<br />
waren Bundeswehr und Wehrpflicht ein<br />
Kernthema der Union. Oder, ein Beispiel<br />
mit besonderer Nachwirkung: Mit einem<br />
klaren Ja zur weiteren friedlichen Nutzung<br />
der Kernenergie wurde im Wahlprogramm<br />
um das Vertrauen der Menschen geworben<br />
und die Wahl gewonnen. Der von Rot-<br />
Grün beschlossene Atomausstieg wurde sogar<br />
weiter in die Zukunft verschoben. Nach<br />
Fukushima kam die Wende um 180 Grad.<br />
Vielleicht hätte es gereicht, zur rot-grünen<br />
Regelung zurückzukehren und nicht noch<br />
eins draufzusetzen. Der von der Union<br />
vollzogene dramatische Kurswechsel und<br />
Europa wird es<br />
auch nach dem<br />
Euro geben.<br />
Es ist höchste<br />
Zeit für eine<br />
Exit-Strategie<br />
die täglichen Nachrichten über Schwierigkeiten,<br />
Verzögerungen und vor allem auch<br />
Kosten der Energiewende lassen diese bisher<br />
jedenfalls in den Augen vieler Mitglieder<br />
und Anhänger der Union noch nicht<br />
zu einem Gewinnerthema werden.<br />
Unerklärlich und wenig attraktiv für<br />
Wählerinnen und Wähler sind Punkte in<br />
der Regierungspolitik, die eigentlich klar<br />
und längst entschieden sind, deretwegen<br />
aber der Öffentlichkeit quälender Streit<br />
vorgeführt wird. Hier möchte man sich<br />
den Einsatz jener unbeirrten Tatkraft wünschen,<br />
über die die Bundeskanzlerin sonst<br />
durchaus verfügt. So ist es absolut unverständlich,<br />
dass FDP-Justizministerin Sabine<br />
Leutheusser-Schnarrenberger über Monate<br />
hin ihrem Hobby der Arbeitsverweigerung<br />
bei der Vorlage eines überfälligen Gesetzes<br />
zur Vorratsdatenspeicherung nachgehen,<br />
Deutschland in Europa isolieren und Millionen<br />
Strafzahlungen heraufbeschwören<br />
kann. Wo bleibt hier die Richtlinienkompetenz<br />
der Bundeskanzlerin? Völlig unverständlich<br />
auch das monatelange Tauziehen<br />
um das von der CSU geforderte und von der<br />
Koalition längst beschlossene Betreuungsgeld<br />
für Eltern, die ihre ein- bis dreijährigen<br />
Kinder nicht in eine Kindertagesstätte<br />
schicken wollen. Dass hier lange Zeit auch<br />
Widerstand aus der Partei der Kanzlerin für<br />
überflüssige Verzögerung und für vermeidbaren<br />
öffentlichen Ärger sorgte, hat nicht<br />
nur in der CSU zu besonderer Verärgerung<br />
geführt. Ein Thema, mit dem man durch<br />
überzeugende Darstellung und Geschlossenheit<br />
hätte punkten können, wurde verspielt.<br />
Euro- und Schuldenkrise liegen <strong>als</strong> besonders<br />
verantwortungsschwere Last auf<br />
Bundesregierung und Bundeskanzlerin.<br />
Die Menschen haben Angst, sie fürchten,<br />
dass die Milliardenbürgschaften, zu denen<br />
sich Deutschland schon mit den bisherigen<br />
Rettungsschirmen verpflichtet hat, zu konkreten<br />
Milliardenzahlungen werden. Der<br />
Druck auf Deutschland wächst weiter, die<br />
Begehrlichkeit der anderen nach dem Geld<br />
der Deutschen auch. Mit ihrer Festlegung,<br />
dass Europa scheitert, wenn der Euro scheitert,<br />
und mit ihrem Beharren darauf, dass<br />
alle gegenwärtigen Mitglieder der Eurozone<br />
dies auch in Zukunft bleiben müssten,<br />
hat die Bundeskanzlerin das Druckpotenzial<br />
all jener verstärkt, die das deutsche<br />
Schiff mit ihren Forderungen bis zum Sinken<br />
belasten wollen. Europa ist mehr <strong>als</strong><br />
nur eine Währung, Europa gab es vor dem<br />
Euro, Europa wird es nach dem Euro geben.<br />
Und der Friede und Zusammenhalt in<br />
Europa waren vor dem Euro stärker. Es ist<br />
höchste Zeit für eine Exit-Strategie.<br />
Umfragen sind Momentaufnahmen.<br />
Was heute schwächelt, kann morgen stark<br />
sein. Ein Sommer ohne Sonne steht der<br />
Union bevor. Aber bis zur Bundestagswahl<br />
bleiben mehr <strong>als</strong> zwölf Monate. Noch hat<br />
die CDU/CSU, auch wegen der Schwäche<br />
der Opposition, alle Chancen. Wenn sie<br />
eingetretene Irritationen überwindet, wenn<br />
sie handelt und dadurch überzeugt.<br />
Wilfried Scharnagl<br />
war langjähriger Chefredakteur<br />
des „Bayernkurier“ und Weggefährte<br />
von Franz Josef Strauß<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 41
| B e r l i n e r R e p u b l i k | B u r s c h e n s c h a f t e n<br />
Um sich beim Fechten zu schützen, müssen<br />
Mensurbrille, Ohrenleder, Nasenblech<br />
und Kettenhemd getragen werden<br />
42 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Freiheit,<br />
Ehre,<br />
Vaterland!<br />
Momentaufnahme<br />
Burschenschaft<br />
Sie vertreten<br />
konservative<br />
Werte,<br />
duellieren<br />
sich mit<br />
scharfen Waffen und<br />
pflegen ihre ganz eigene<br />
Tradition: deutsche<br />
Burschenschaften.<br />
Doch nach einem Eklat<br />
auf dem Jahrestag in<br />
Eisenach droht die<br />
Spaltung zwischen<br />
liberalem und radikalkonservativem<br />
Lager. Die<br />
Fotografin Lene Münch<br />
hat das Verbindungsleben<br />
dokumentiert<br />
Ein einig Volk von Brüdern: Treffen des Rheinischen<br />
Rings bei der Aachener Teutonia<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 43
| B e r l i n e r R e p u b l i k | B u r s c h e n s c h a f t e n<br />
Björn Weiß von der Braunschweiger<br />
Burschenschaft Thuringia wird in den Paukwichs<br />
gepackt. Er schlägt heute seine erste scharfe Partie<br />
44 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Braunschweiger<br />
Burschenschaft<br />
Germania: Das<br />
prunkvolle<br />
Altherrenzimmer<br />
mit der<br />
Ahnenwand<br />
Auf dem<br />
Festkommers in<br />
Eisenach werden<br />
Erfahrungen<br />
ausgetauscht<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 45
| B e r l i n e r R e p u b l i k | B u r s c h e n s c h a f t e n<br />
Jahrestag der<br />
Deutschen<br />
Burschenschaften<br />
in Eisenach an<br />
der Wartburg<br />
im Juni 2012<br />
Der Fuchsmajor<br />
(links) trainiert<br />
mit einem<br />
jüngeren<br />
Mitglied das<br />
Fechten auf dem<br />
Paukboden<br />
46 <strong>Cicero</strong> 7.2012
In der<br />
Fuchsenstunde<br />
lernen<br />
Novizen die<br />
Regeln für das<br />
Verbindungsleben<br />
Burschentag:<br />
Treffen des<br />
Rheinischen<br />
Rings im<br />
Kellergewölbe<br />
des Augustiner<br />
Bräu in Eisenach<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 47
| B e r l i n e r R e p u b l i k | B u r s c h e n s c h a f t e n<br />
Braunschweiger Burschenschaft<br />
Germania: Nach ein paar Bier wird<br />
auf der hauseigenen Bar getanzt<br />
48 <strong>Cicero</strong> 7.2012
A<br />
m Rebenring, unweit der Oker,<br />
liegt das Haus mit der Nummer<br />
36. Schwarz-rot-goldene Fahnen<br />
wehen an einem Mast vor der großbürgerlichen<br />
Villa, auf dem Dach und aus den<br />
Fenstern. Am Gebäude ist eine Stiftungstafel<br />
angebracht mit einem Schriftzug aus<br />
roten Lettern: „Germania“.<br />
„In Braunschweig erleben wir keine<br />
Anfeindungen“, sagt Markus Schuchardt.<br />
Er steht im Altherrenzimmer des Germanenhauses.<br />
Der repräsentative Prunkraum<br />
ist in die Jahre gekommen; 400 kleine gerahmte<br />
Porträts „Alter Herren“ hängen<br />
an der holzvertäfelten Stirnseite des Zimmers,<br />
angefangen bei den Gründungsvätern<br />
des Bundes von 1861. Schuchardt<br />
zeigt auf ein Bild in der obersten Reihe:<br />
„Das bin ich!“<br />
Seit Beginn seiner Studienzeit gehört<br />
der Maschinenbauer der Burschenschaft<br />
an, sie ist die älteste am Ort. 23 Aktive<br />
zählt sie zurzeit und etwa 150 Alte Herren,<br />
in deren Kreis Schuchardt, 26 Jahre, in<br />
wenigen Tagen aufgenommen werden soll.<br />
„In der medialen Diskussion müssen wir<br />
derzeit viel Kraft aufwenden, um den Eindruck<br />
zu widerlegen, wir wären alle ganz<br />
schlimm. Wir vertreten konservative Positionen.<br />
Jemand, der sich auf die Straße<br />
stellt und brüllt ‚Deutschland, verrecke!‘,<br />
der wird das hier nicht mögen.“ Er lächelt<br />
ein wenig bemüht, auf seiner Stirn stehen<br />
Schweißperlen.<br />
Die Deutschen Burschenschaften (DB)<br />
waren zuletzt in die Kritik geraten, <strong>als</strong> auf<br />
dem Jahrestreffen in Eisenach im Juni ein<br />
Abwahlantrag gegen den Chefredakteur der<br />
Verbandszeitschrift, Norbert Weidner, gescheitert<br />
war. Ende 2011 hatte er den NS-<br />
Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer<br />
<strong>als</strong> Landesverräter und dessen von Hitler<br />
angeordnete Hinrichtung <strong>als</strong> „juristisch gerechtfertigt“<br />
bezeichnet. Zur Causa Weidner<br />
Stellung nehmen, sich von seiner Aussage<br />
distanzieren wollen die Germanen<br />
nicht – sie befänden sich mitten in einem<br />
schwebenden Verfahren.<br />
Aus dem Paukboden ist das markante<br />
„tick, tick, tick“ schnell aufeinanderfallender<br />
Fechtwaffen zu hören. „Hoch, bitte!<br />
Fertig! Los!“ Björn Gräfer (23) und Stefan<br />
Czyz (21) stehen einander gegenüber,<br />
sie führen die letzten Hiebe aus. Die meisten<br />
deutschen Burschenschaften sind schlagend,<br />
so auch die Germania. Der letzte<br />
Mensurtag des Niederdeutschen Waffenrings<br />
liegt schon ein paar Tage zurück, doch<br />
zwei Paukstunden pro Woche sind Pflicht.<br />
Es sei ein „bindendes Erlebnis“, so Gräfer,<br />
ein Sport wie jeder andere – nur ohne<br />
Gewinner. Als liberaler Bund lehnen sie<br />
die Wiedereinführung der Pflichtmensur<br />
ab; es sei Teil des historischen Kompromisses,<br />
jeder Burschenschaft ihre Haltung<br />
zum Fechten selbst zu überlassen.<br />
„Burschenschafter zu sein, bedeutet,<br />
eine gewisse Ehrfurcht davor zu haben,<br />
was hier seit über 150 Jahren existiert“, sagt<br />
Gräfer. Sein aschblondes Haar ist sorgfältig<br />
gescheitelt, die Trikolore seines Brustbands<br />
weist ihn <strong>als</strong> ordentlichen Burschen<br />
aus. „Ein zusammengewürfelter Bund<br />
ohne klare Linie, ohne gemeinsamen Nenner<br />
kann nie geschlossen auftreten“, ist er<br />
überzeugt. Czyz nickt zurückhaltend.<br />
„Unsere Art zu denken muss nicht<br />
überdacht werden“, behauptet Schuchardt,<br />
konservative Werte seien eben keiner<br />
Mode unterworfen. Gleichzeitig droht den<br />
Deutschen Burschenschaften jedoch die<br />
Spaltung zwischen liberalem und radikalkonservativem<br />
Lager. Bis zum Ende des<br />
Jahres wird sich zeigen, ob es dem Verband<br />
gelingt, sich gegen rechtsradikale Stömungen<br />
in den eigenen Reihen klar zu positionieren.<br />
Sarah Maria Deckert<br />
Übles Nachspiel: In der Braunschweiger Burschenschaft<br />
Germania hängt ein Bild Napoleons über dem<br />
„Papst“, einem Vomitorium, das zur Grundausstattung<br />
einer Studentenverbindung gehört<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 49
Renaissance<br />
von Recht und<br />
Ordnung<br />
Ein guter Rat an die SPD<br />
Von Frank A. Meyer<br />
I<br />
| B e r l i n e r R e p u b l i k | K o m m e n t a r<br />
m Berliner „Admir<strong>als</strong>palast“ stellte der Philosoph<br />
Richard David Precht dem SPD-Fraktionschef Frank-<br />
Walter Steinmeier folgende Frage: „Können Sie sich<br />
eine Welt vorstellen, in der die Banken keinen Gewinn machen<br />
dürfen?“ Der konnte sich so etwas partout nicht vorstellen und<br />
beschied dem vollen Saal: „Es geht doch nicht darum, ob ich<br />
mir das vorstellen kann!“<br />
Vielleicht geht es aber doch gerade darum: um das politisch<br />
Vorstellbare – um Visionen. Gesellschaftliche Visionen.<br />
Für Sozialdemokraten wäre es das Naheliegende, sind die<br />
Genossen doch mit eben diesem Ziel in die Geschichte eingetreten.<br />
Aber was für eine Gesellschaft soll es denn bitte sein?<br />
Natürlich eine andere <strong>als</strong> die real existierende, eine bessere<br />
selbstredend.<br />
Nur, wie sähe die aus? Sozialistisch kann sie nicht mehr sein.<br />
Der Traum endete <strong>als</strong> Albtraum. Wenn es aber Sozialismus nicht<br />
ist, und auch nicht dessen aufgehübschte Version des demokratischen<br />
Sozialismus – was wäre dann das Ziel?<br />
Vielleicht hilft ein Blick in die Geschichte. Die historische<br />
Leistung der Sozialdemokraten, nicht nur der deutschen, war<br />
die Modernisierung der bürgerlichen Gesellschaft, man könnte<br />
auch provokativ sagen: des Kapitalismus.<br />
Ist ein moderner Kapitalismus, ist eine moderne Demokratie,<br />
ist ein moderner Rechtsstaat denkbar ohne die Kämpfe der Genossen<br />
um Liberté, Égalité, Fraternité? Lenin glaubte, die Französische<br />
Revolution zu vollenden. Soziale Demokraten – überall<br />
in Europa – haben sie mit der bürgerlichen Gesellschaft kompatibel<br />
gemacht.<br />
Die SPD will es nicht wahrhaben, aber es ist doch wahr: Sie<br />
steht für die bürgerliche Gesellschaft. Und das bedeutet auch –<br />
die SPD ist eine durch und durch bürgerliche Partei. Weiß die<br />
Partei das?<br />
Die Naturwissenschaftlerin Angela Merkel hat sich die Formel<br />
von der „marktkonformen Demokratie“ zurechtgelegt: „Wir<br />
werden Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so<br />
zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.“<br />
Jens Weidmann, Merkels Bundesbankpräsident, verdeutlicht<br />
es so: „Die Märkte müssen weiterhin die Richterfunktion zur<br />
Disziplinierung der südeuropäischen Länder ausüben.“ Also zur<br />
Disziplinierung von Demokratien! Nur der südeuropäischen?<br />
Natürlich nicht. Der Demokratien überhaupt!<br />
Im gleichen Kontext sei noch der Politiker-Flüsterer Josef<br />
Ackermann zitiert, zehn Jahre lang Chef der Deutschen Bank:<br />
„Die Finanzmärkte sind – ungeachtet der Tatsache, dass auch sie<br />
irren können – die beste Schuldenbremse.“ Das wäre dann: die<br />
Oberhoheit der Märkte über die Budgethoheit der Parlamente.<br />
Montesquieus drei Gewalten hat sich eine vierte hinzugesellt:<br />
die Finanzwirtschaft, in Deutschland an erster Stelle die Deutsche<br />
Bank. Im Grundgesetz ist das global spekulierende Institut<br />
nicht vorgesehen. De facto aber regiert es im Kanzleramt mit.<br />
Oder, wie die Frankfurter Allgemeine schreibt: „Heute ist die<br />
internationale Kompetenz der Bank gefragt; ihre Vertreter erklären<br />
der Politik, unter anderem, die Zusammenhänge in der globalen<br />
Finanzwelt. Inwieweit die Bank daneben gesellschaftliche und<br />
allgemein politische Debatten begleitet oder sich lieber auf das eigene<br />
Gewerbe beschränken will, muss die Führung entscheiden.“<br />
Im Klartext: Die Deutsche Bank nimmt die Politik an der<br />
Hand. Und der Bürger kann froh sein, dass die gerissenen Spekulanten<br />
den ahnungslosen Politikern die Finanzwelt erklären,<br />
was ja neuerdings nichts weniger bedeutet <strong>als</strong> die Welt an sich.<br />
Haben die Bürgerinnen und Bürger Josef Ackermann oder<br />
Anshu Jain gewählt, <strong>als</strong> sie Angela Merkel wählten, <strong>als</strong> sie Gerhard<br />
Schröder wählten? Die bürgerliche Ordnung, um die sich<br />
Generationen von Demokraten, allen voran Sozialdemokraten,<br />
so große Verdienste erworben haben, gerät aus den Fugen.<br />
Daher braucht Deutschland wieder eine bürgerliche Partei!<br />
Deren Ziel muss sein: die Renaissance der Bürgermacht, die<br />
Renaissance von Recht und Ordnung. Präzis gefasst in die vier<br />
Wörter: „One man, one vote.“<br />
Alles nur Theorie? Nein, der Ernstfall. Denn die finanzökonomischen<br />
Mächte, die gegenwärtig dabei sind, Demokratien,<br />
Gesellschaften und Menschen zu ruinieren, folgen der Lehre<br />
von Friedrich August von Hayek, dem herausragenden Verfechter<br />
des alles beherrschenden Marktes, des Primats der Wirtschaft,<br />
heute: der Finanzwirtschaft. Nach seiner Lehre ist Demokratie<br />
nichts weiter <strong>als</strong> „ein durch das Erpressungs- und Korruptionssystem<br />
der Politik hervorgebrachtes System“ – „ein Wortfetisch“.<br />
Für von Hayek stellt das Prinzip „One man, one vote“ ein<br />
verfehltes Recht dar: „Es kann vernünftigerweise argumentiert<br />
werden, dass den Idealen der Demokratie besser gedient wäre,<br />
wenn alle Staatsangestellten oder alle Empfänger von öffentlichen<br />
Unterstützungen vom Wahlrecht ausgeschlossen wären.“<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
50 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Foto: privat<br />
Kein Wahlrecht <strong>als</strong>o für Beamte, kein<br />
Wahlrecht für Hartz-IV-Empfänger, kein<br />
Wahlrecht für Rentner?<br />
In der Neuen Zürcher Zeitung, vor allem<br />
in ihrem Wirtschaftsteil (eine Art Osservatore<br />
Romano der neoliberalen Kirche),<br />
wird gerade ernsthaft darüber diskutiert,<br />
ob die Demokratie nach dem Grundsatz<br />
„One man, one vote“ noch in jedem Fall<br />
akzeptabel sei.<br />
Ja, die bürgerliche Gesellschaft steht<br />
auf dem Spiel.<br />
Die Bürgerinnen und Bürger sind zu<br />
Recht aufgeregt: Was soll ihr Gang zur<br />
Wahlurne, wo doch die Ackermänner<br />
auf keiner Liste stehen? Früher schimpften<br />
verdrossene Wähler: „Die da oben<br />
machen sowieso, was sie wollen.“ Heute<br />
müsste es heißen: „Die da oben machen<br />
sowieso, was andere wollen.“<br />
Nach den Wahlen verschwinden die<br />
Politiker in der Kulisse – zum Techtelmechtel<br />
mit mächtigen Ungewählten, mit<br />
den Verursachern der Krise. Die Böcke<br />
werden zu Gärtnern berufen.<br />
So wird Politik erneut zum garstigen<br />
Lied der Deutschen.<br />
Für den verdrossenen Bürger sind die<br />
Parteien das Problem, auf keinen Fall die<br />
Lösung. Also her mit der Nichtpartei!<br />
Überall in Europa wuchern wirkungsvolle<br />
populistische Bewegungen, die sich <strong>als</strong><br />
Antiparteien in Szene setzen.<br />
Ihr Feind ist die „Classe politique“.<br />
Sie waltet in Brüssel. Sie beherrscht die<br />
EU. Die Parteiendemokratie erscheint<br />
den Populisten des Front National, der<br />
Lega Nord, der Goldenen Morgenröte,<br />
der Wahren Finnen, des Vlaams Blok <strong>als</strong><br />
„ein durch das Erpressungs- und Korruptionssystem<br />
der Politik hervorgebrachtes<br />
System“, ganz so, wie von Hayek es lehrt.<br />
Die neoliberale Rechte hat im<br />
Kampf gegen die Demokratie endlich<br />
ihren bewaffneten Arm entdeckt: die<br />
Rechtspopulisten.<br />
Gottlob gibt es sie in Deutschland<br />
nicht. Noch nicht. Die Vergangenheit<br />
hemmt die Versuchung, dem „Parteienstaat“<br />
populistisch zu Leibe zu rücken.<br />
Doch Populismus der sanften Art ist dennoch<br />
„in“, unter anderem im Gewand der<br />
pubertär-anarchistischen Piratenpartei.<br />
Ist die Netzbewegung für die Demokratie<br />
unbedenklich? Immerhin fordert<br />
sie die Aufhebung eines bürgerlichen Urrechts:<br />
des Rechts am geistigen Eigentum.<br />
Sie fordert damit die Aufhebung der Verfügung<br />
des Menschen über sein intellektuelles<br />
Selbst.<br />
Das wäre dann die Auslieferung<br />
des Individuums an Facebook und<br />
Google und wen auch immer, der sich in<br />
Zukunft des Netzes bemächtigt.<br />
Wer schützt die Bürgerinnen und<br />
Bürger vor Netzmacht und Finanzmacht?<br />
Wer schützt die bürgerliche Ordnung vor<br />
den Attacken aus dem rechtsfreien Raum?<br />
Wer stellt die bürgerliche Ordnung wieder<br />
her? Wer, wenn nicht der bürgerliche<br />
Staat mit seinen bürgerlichen Parteien?<br />
Doch Programm ist das für sie mitnichten.<br />
Relativismus ersetzt Rigorosität.<br />
Und zwar nicht nur gegenüber der<br />
schönen und neuen und vor allem profitablen<br />
Welt von Finanzwirtschaft und<br />
Netzwirtschaft. Der Relativismus der bürgerlichen<br />
Werte grassiert auch gegenüber<br />
allem, was die Aura der Migration<br />
umweht: Den edlen Fremden aus armen<br />
Welten wird gehuldigt, <strong>als</strong> verkörperten<br />
sie, ganz nach Rousseau, die unverdorbene<br />
Vergangenheit des verdorbenen<br />
westlichen Menschen.<br />
Plötzlich sind bürgerliche Rechte relativ,<br />
mit ehrfurchtsvollem Blick auf den Islam,<br />
insbesondere die Frauenrechte.<br />
Der verwunderte Bürger kann sich<br />
des Eindrucks nicht erwehren: Was er<br />
für festgefügt hielt, ist ein relativer Zustand,<br />
eine „Lebensform“, wie die Zeitschrift<br />
Berliner Republik die Staatsform<br />
Demokratie bezeichnete, die mithin den<br />
Fremden ihre „Lebensform“ belässt, selbst<br />
wenn sie das Grundgesetz ritzt, beugt,<br />
verachtet, zum Beispiel durch religiös begründete<br />
Frauenunterdrückung.<br />
Ja, es fehlt der radikale Respekt für<br />
die Rechte, die das Bürgertum über Jahrhunderte<br />
hinweg erstritten hat – auch in<br />
Deutschland, wenngleich erst 1949 und<br />
mithilfe der westlichen Sieger.<br />
Radikaler Respekt vor Recht und<br />
Ordnung bedeutet Résistance für Recht<br />
und Ordnung bedeutet Renaissance von<br />
Recht und Ordnung.<br />
Kein schlechtes Programm für eine<br />
bürgerliche Partei!<br />
Frank A. Meyer ist Journalist.<br />
Zuletzt erschien „Der lange<br />
Abschied vom Bürgertum“, ein<br />
Gespräch mit Joachim Fest und<br />
Wolf Jobst Siedler<br />
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© Foto Schmidt: Paul Ripke; Meyer, Marguier: Antje Berghäuser<br />
It’s never<br />
too late<br />
Der letzte große Entertainer über<br />
intelligente Satire und die Zukunft<br />
des Fernsehens<br />
Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />
<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer und<br />
Alexander Marguier, stellvertretender<br />
<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur, im Gespräch<br />
mit Harald Schmidt.<br />
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HARALD<br />
SCHMIDT<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 51
| W e l t b ü h n e<br />
Playboy und Erlöser<br />
Ein wenig Fundamentalist, ein wenig Büttel des Militärs – Imran Khan begeistert ein enttäuschtes Volk<br />
von Willi Germund<br />
E<br />
r war einer der besten „Allrounder“<br />
in der Geschichte des Kricket.<br />
Er führte Pakistan 1992 zum ersten<br />
und bisher einzigen Weltcupsieg. Imran<br />
Khan ist eine der Figuren, mit denen Veranstalter<br />
sich gerne schmücken. Umso pikierter<br />
waren die Organisatoren einer Konferenz<br />
in der indischen Hauptstadt Delhi, die den<br />
einstigen Sportstar zu einer Debatte über<br />
den Islam in der Neuzeit eingeladen hatten,<br />
<strong>als</strong> ihnen unerwartet eine Absage ins Haus<br />
flatterte. Khans Begründung: Er wolle auf<br />
der Bühne nicht mit dem ebenfalls eingeladenen<br />
Salman Rushdie gesehen werden,<br />
dem Autor der bei Moslems umstrittenen<br />
„Satanischen Verse“.<br />
„In London nannten wir ihn ,Dim Im‘“,<br />
mokierte sich Rushdie prompt über Imran<br />
Khan. Doch der „dumme Imran“, wie<br />
Rush die den 59-Jährigen bezeichnete, verscherzt<br />
sich gerne die Sympathien der Intellektuellen<br />
Südasiens, solange seine Haltung<br />
gut ankommt bei einfachen, religiös<br />
gestimmten konservativen Pakistanern.<br />
Denn Khan macht sich große Hoffnungen,<br />
bei den für Ende 2012 oder Anfang 2013<br />
anstehenden Parlamentswahlen <strong>als</strong> Sieger<br />
abzuschneiden – und, <strong>als</strong> Alternative zu<br />
den etablierten Parteien, neuer Premierminister<br />
des 180 Millionen Einwohner zählenden,<br />
von Terror und permanenter Wirtschaftskrise<br />
gebeutelten Pakistan zu werden.<br />
16 Jahre nach der Gründung seiner Partei<br />
„Tehreek e Insaf“ (Bewegung für Gerechtigkeit)<br />
kennt die Popularität des 1952<br />
in Lahore geborenen Sohnes einer Paschtunen-Familie<br />
kaum noch Grenzen. Seine<br />
Partei verspricht ein Ende der Korruption,<br />
die Liberalisierung der Wirtschaft und einen<br />
Wohlfahrtsstaat. Spötter nennen Imran<br />
Khan den „schönen Taliban“, weil er<br />
ungehemmt ultrakonservative und nationalistische<br />
Parolen von sich gibt, die auch<br />
aus dem verbalen Repertoire der radikalislamischen<br />
Milizen stammen könnten.<br />
Der britische Guardian beschrieb Khan vor<br />
einigen Jahren noch <strong>als</strong> Mann, „dessen Positionen<br />
und Allianzen seit 1996 durch die<br />
Landschaft schlitterten wie eine Rikscha<br />
im Platzregen“.<br />
In seinem Privatleben sah es nicht viel<br />
anders aus. Während seines sportlichen Aufstiegs<br />
war Imran Khan <strong>als</strong> Partykönig bekannt,<br />
der in London die Nächte in Diskotheken<br />
durchfeierte und mit der deutschen<br />
MTV-Moderatorin Kristiane Backer eine<br />
(geheim gehaltene) Liebesbeziehung hatte.<br />
Während viele seiner Koathleten eifrig dem<br />
Alkohol zusprachen, rührte Khan keinen<br />
Tropfen an, er beeindruckte vielmehr mit<br />
seinem Appetit auf Liebschaften – an einem<br />
Abend schleppte er auch schon mal mehrere<br />
Frauen in sein Quartier ab.<br />
Aus jener wilden Zeit stammt das uneheliche<br />
Kind mit einer Amerikanerin,<br />
dessen Erziehung Khan sich heute mit seiner<br />
Exfrau, der Milliardärstochter Jemima<br />
Goldsmith, teilt. Aus dieser Ehe wiederum<br />
stammen zwei Söhne, die ihren Vater mehrm<strong>als</strong><br />
im Jahr in Pakistan besuchen und sich<br />
dann auf dem Kricketplatz austoben, den<br />
Khan in seinem luxuriösen Anwesen Bani<br />
Gala in den Außenbezirken von Islamabad<br />
eingerichtet hat – zwischen den Kühen, die<br />
er sich in einem Anflug von Bodenständigkeit<br />
dort leistet.<br />
Die lebenslustige Vergangenheit ist<br />
heute kein Thema in Pakistan. In einem<br />
Land der Enttäuschungen, in dem sowohl<br />
die amtierende „Pakistan Peoples Party“<br />
(PPP) wie auch die religiös-konservative „Pakistan<br />
Muslim League“ (PML) des früheren<br />
Premierministers Nawaz Sharif alle Hoffnungen<br />
in einem schier undurchdringlichen<br />
Sumpf von Korruption und Misswirtschaft<br />
erstickten, präsentiert Imran Khan sich <strong>als</strong><br />
„Saubermann“, der noch einen großen Vorteil<br />
genießt. Teile des „Establishments“, wie<br />
die wolkige Umschreibung der Militärkaste<br />
am Indus genannt wird, propagieren den<br />
agilen und wendigen Khan <strong>als</strong> die Zukunftshoffnung<br />
des Landes.<br />
„Ich bin niemandes Welpen“, wehrt Imran<br />
Khan sich immer wieder gegen die Unterstellung,<br />
er sei der Mann des Militärs. Der<br />
Satz verklingt in den Weiten des Landes mit<br />
seinen riesigen Himalaya-Bergen, der kargen<br />
Wüste Belutschistans und an der chaotischen<br />
Grenze zu Afghanistan wie der Schrei<br />
eines einsamen Wolfes. Denn in Pakistan<br />
gilt es <strong>als</strong> Gewissheit, dass keine Partei gegen<br />
den Willen der Militärs gewinnen, der gute<br />
Wille der Offiziere aber entscheidend für einen<br />
Wahlsieg sein kann. Und die Tsunamis,<br />
wie Khan von seiner Partei organisierte Demonstrationen<br />
gegen die Nato und die vom<br />
US-Geheimdienst gelenkten Angriffe unbemannter<br />
Drohnen auf pakistanischem Territorium<br />
nennt, wären ohne heimliche Hilfe<br />
des Geheimdiensts ISI und der Sicherheitskräfte<br />
nicht möglich.<br />
Neu sind die engen Verbindungen Imran<br />
Khans zum Militär nicht. Aber er weiß<br />
bestens, wie wenig Verlass auf die Generäle<br />
ist. Schon im Jahr 2002 wollte der damalige<br />
Militärdiktator General Pervez Musharraf<br />
die Popularität des Exathleten für<br />
seine Zwecke nutzen. Khan lehnte das Angebot<br />
ab, Premierminister des <strong>Diktator</strong>s zu<br />
werden. Als Musharraf einige Jahre später<br />
den Notstand ausrief, um die Proteste gegen<br />
seine Herrschaft zu ersticken, landete<br />
auch Khan im Hausarrest.<br />
An solche Widersprüche haben sich<br />
viele Pakistaner nicht nur gewöhnt. Sie sind<br />
überzeugt, dass der Mann, der ein wenig<br />
islamischer Fundamentalist, ein bisschen<br />
Büttel der Militärs und ein wenig Gegner<br />
der Militärs ist, die Figur darstellt, die das<br />
Land braucht. Sie sehen in ihm einen politischen<br />
Außenseiter ohne Verbindungen in<br />
die Klasse der Khans, der Großgrundbesitzer,<br />
die neben den Militärs das politische<br />
Geschehen am Indus dominieren. Imran<br />
Khan ist der Hoffnungsträger in einem geschundenen<br />
Land – und doch ist mehr <strong>als</strong><br />
zweifelhaft, dass er die großen Hoffnungen<br />
erfüllen kann, die in ihn gesetzt werden.<br />
Willi Germund lebt seit<br />
2001 in Bangkok und arbeitet<br />
<strong>als</strong> Süd- und Südostasienkorrespondent.<br />
2010 veröffentlichte er<br />
das Buch „Allahs Missionare“<br />
Fotos: Action Press/Rex Features Ltd., Martin Steiner (Autor)<br />
52 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Die<br />
lebenslustige<br />
Vergangenheit<br />
Imran Khans<br />
ist heute<br />
kein Thema<br />
in Pakistan<br />
Der einstige Kricketstar<br />
und Frauenheld will<br />
Premierminister werden<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 53
| W e l t b ü h n e<br />
Vive la Différence<br />
Jung, weiblich, zugewandert – <strong>als</strong> Frauenministerin will Najat Vallaud-Belkacem neue Töne anschlagen<br />
von Sascha Lehnartz<br />
I<br />
hr erster Termin <strong>als</strong> Ministerin<br />
für Frauenrechte wurde zu einer<br />
Begegnung zweier Generationen.<br />
Najat Vallaud-Belkacem, mit 34 Jahren<br />
das jüngste Kabinettsmitglied der neuen<br />
französischen Regierung, empfing in ihren<br />
neuen Diensträumen Yvette Roudy zu<br />
einem halbstündigen Gespräch. Madame<br />
Roudy, mittlerweile 83 Jahre alt, war von<br />
1981 bis 1986 Ministerin für Frauenrechte<br />
unter François Mitterrand. Seither gab es<br />
„Heutzutage ist doch jeder<br />
Sozialist auch Feminist“<br />
Najat Vallaud-Belkacem, Frankreichs Frauenministerin<br />
das Amt nicht mehr <strong>als</strong> eigenständiges Ministerium<br />
in Frankreich. „Wir machen hier<br />
eine Art symbolische Machtübergabe“, erklärte<br />
Najat Vallaud-Belkacem mit der ihr<br />
eigenen Halbironie.<br />
Nach einer 25-jährigen Pause bekommen<br />
Frankreichs Frauen wieder ein eigenständiges<br />
Ministerium. „Es wird sicher hart<br />
werden“, mahnte Madame Roudy. „An jeder<br />
Ecke stehen Leute, die überhaupt keine<br />
Lust darauf haben, dass Frauen ihren Platz<br />
einnehmen und über ihren Körper verfügen“,<br />
sagte die 83-Jährige in einem eher<br />
traditionellen feministischen Jargon, der<br />
im Kontrast zu dem pragmatischen Ton,<br />
den Najat Vallaud-Belkacem anschlägt,<br />
leicht historisch klingt. Oder vielleicht<br />
auch nur erfahrener. Denn <strong>als</strong> die knapp<br />
50 Jahre Jüngere die optimistische These<br />
wagt, heutzutage sei doch „jeder Sozialist<br />
auch Feminist“, lächelt Yvette Roudy skeptisch<br />
milde und erwidert: „Das stimmt vielleicht<br />
nicht ganz.“<br />
Najat Vallaud-Belkacem ist zu flexibel<br />
und zu medienschlau, um sich auf eine<br />
bestimmte Art von Feminismus – oder<br />
überhaupt auf irgendeine unbewegliche<br />
politische Position festzulegen. Diese Gewandtheit<br />
ist einer der Gründe, warum die<br />
junge Frau mit dem Pagenschnitt <strong>als</strong> Sprecherin<br />
des Präsidentschaftskandidaten zu<br />
einem der Stars des Wahlkampfteams von<br />
François Hollande wurde – und nun Ministerin<br />
und Regierungssprecherin in einer<br />
Person ist. Dass die zweifache Mutter<br />
gleich drei Quoten erfüllt – jung, weiblich,<br />
zugewandert –, hat ihrer Karriere sicher<br />
nicht geschadet. Najat Vallaud-Belkacem<br />
bekennt sich dazu, lässt sich aber<br />
auf keines ihrer Identitätsmerkmale reduzieren:<br />
„Weil ich gleichzeitig eine Frau<br />
bin, jung und aus einer Zuwandererfamilie<br />
stamme, habe ich immer Schwierigkeiten<br />
gehabt herauszufinden, was denn jede einzelne<br />
dieser Besonderheiten über mich sagen<br />
soll.“ Im Grunde führe diese Mischung<br />
nur dazu, dass „man fünfmal so viel arbeitet,<br />
um zu beweisen, dass man zu Recht an<br />
seinem Platz ist“.<br />
Najat Vallaud-Belkacem wurde 1977 in<br />
Beni Chiker im marokkanischen Rif-Gebirge<br />
geboren. Als sie vier Jahre alt war, zog<br />
sie mit ihrer Familie nach Frankreich. Bis<br />
heute besitzt sie beide Staatsbürgerschaften.<br />
Sie wuchs in Abbeville und in Amiens<br />
auf, der Vater arbeitete auf dem Bau,<br />
die Mutter war Hausfrau, „streng und beschützend“.<br />
Die ältere Schwester war ihr<br />
Vorbild und Rivalin zugleich. Najat ist das<br />
zweitälteste von sieben Geschwistern. Die<br />
fleißige Schülerin schaffte die Aufnahmeprüfung<br />
für das Studium an der renommierten<br />
Fakultät der „Sciences Po“ in Paris,<br />
wo sie ein Begabtenstipendium erhielt.<br />
Der Schock über den Erfolg des rechtsextremen<br />
Kandidaten Jean-Marie Le Pen bei<br />
der Präsidentschaftswahl 2002 bewegte die<br />
Politikstudentin, sich bei den Sozialisten<br />
zu engagieren.<br />
2003 begegnet sie dem Lyoner Bürgermeister<br />
Gérard Collomb, der sie zu<br />
seiner Beraterin für Jugendfragen macht.<br />
Mit 27 Jahren wird sie jüngste Abgeordnete<br />
im Regionalrat des Départements<br />
Rhône-Alpes. Zwei Jahre später sitzt sie<br />
in einem Flugzeug neben Ségolène Royal,<br />
die dam<strong>als</strong> gerade ihre Präsidentschaftskandidatur<br />
vorbereitet. Belkacem<br />
ist karrierebewusst genug, um die Gunst<br />
des Augenblicks zu nutzen, und bietet der<br />
Kandidatin ihre Dienste an. Die erkennt<br />
das Potenzial der attraktiven und eloquenten<br />
Nachwuchskraft und macht sie zu einer<br />
ihrer Kampagnensprecherinnen. Dieselbe<br />
Rolle spielt Najat Belkacem dann<br />
fünf Jahre später für François Hollande.<br />
Diesmal mit größerem Erfolg.<br />
Seit 2005 ist sie mit ihrem Studienfreund<br />
Boris Vallaud verheiratet. Die beiden<br />
lernten sich in der Bibliothek der Sciences<br />
Po kennen, „wie einst Chirac und<br />
Bernadette“, erzählt die Nachwuchspolitikerin<br />
grinsend. Im Gegensatz zu seiner<br />
Ehefrau schaffte Vallaud danach die Aufnahmeprüfung<br />
für die Eliteverwaltungshochschule<br />
ENA. Inzwischen ist er im<br />
Ministerium für industriellen Wiederaufbau<br />
einer der Berater des Ministers<br />
Arnaud Montebourg. Das Paar hat Zwillinge<br />
– Louis und Nour. Während des<br />
Wahlkampfs bekam die Kampagnensprecherin<br />
die Vierjährigen nicht allzu oft zu<br />
Gesicht. Zur Vereinbarkeit von Familie<br />
und Beruf „werden Sie deshalb sicherlich<br />
von mir auch noch etwas hören“, kündigt<br />
Najat Vallaud-Belkacem an. Man darf davon<br />
ausgehen, dass die Positionen der französischen<br />
Ministerin etwas realitätsnäher<br />
ausfallen werden <strong>als</strong> das, was ihre deutsche<br />
Amtskollegin zu dem Thema so von<br />
sich gibt.<br />
Sascha Lehnartz<br />
ist Frankreichkorrespondent der<br />
Tageszeitung Die Welt<br />
Fotos: LIONEL BONAVENTURE/AFP/GettyImages, Privat (Autor)<br />
54 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Mit 34 Jahren ist<br />
Najat Vallaud-<br />
Belkacem das<br />
jüngste Mitglied der<br />
neuen französischen<br />
Regierung<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 55
| W e l t b ü h n e<br />
Athens CHe Guevara<br />
Am Ende ist Alexis Tsipras „nur“ Zweiter geworden. Ein perfekter Platz, um die Regierung vor sich herzutreiben<br />
von Richard Fraunberger<br />
R<br />
ücksichtslos und amoralisch<br />
nannte ihn die Tageszeitung To<br />
Vima. Er sei ein Opportunist und<br />
Populist und müsse gerade deshalb ernst genommen<br />
werden. Andere sehen in ihm den<br />
einzigen Hoffnungsträger im Trümmerfeld<br />
des alten politischen Parteiensystems. Gegensätzlicher<br />
könnten die Meinungen über<br />
Alexis Tsipras, den neuen Revolutionsführer,<br />
den Che Guevara der Griechen, nicht<br />
sein. Seit der Parlamentswahl vom 6. Mai<br />
sorgt der 38-Jährige für ein politisches Erdbeben.<br />
Syriza, das Bündnis radikaler Linker,<br />
schoss bei den Wahlen von 4 auf 17 Prozent.<br />
Wieviel Potenzial und Rückhalt Syriza<br />
bei den Griechen hat, offenbarte schließlich<br />
die Wahl vom 17. Juni: Syriza konnte<br />
noch einmal deutlich zulegen und kam auf<br />
26,9 Prozent der Stimmen. Damit wurde<br />
das Bündnis zweitstärkste Partei hinter der<br />
konservativen Nea Dimokratia. Ein kometenhafter<br />
Aufstieg für eine Partei, die bislang<br />
im Parlament vor sich hindümpelte.<br />
Sofortige Aufkündigung der Sparmaßnahmen,<br />
Neuverhandlung mit der<br />
EU‐Troika, einseitige Abschreibung eines<br />
Großteils der Schulden, Rentenerhöhungen<br />
– dies bleiben die Forderungen von<br />
Syriza. Zudem sollen Banken verstaatlicht,<br />
Militärausgaben gekürzt und eine Reichensteuer<br />
eingeführt werden. Das ist Musik in<br />
den Ohren der meisten Griechen. Zu lange<br />
dauert der wirtschaftliche Niedergang, zu<br />
sehr ist das nationale Ego angekratzt. Im<br />
Rausch des Wahlerfolgs erklärte Alexis Tsipras,<br />
lächelnd und selbstbewusst, alle bisherigen<br />
Vereinbarungen mit der Troika für<br />
null und nichtig. Der „Volkswille“ habe<br />
sich mehrheitlich gegen die „barbarische<br />
Sparpolitik“ der EU entschieden.<br />
Wer ist dieser Politiker, der über Nacht<br />
zum „gefährlichsten Mann Europas“ wurde,<br />
der die EU mit so schrillen Tönen herausforderte<br />
und auch in der Opposition keine<br />
Ruhe geben und die griechische Regierung<br />
vor sich hertreiben wird?<br />
Alexis Tsipras, 1974 in Athen geboren,<br />
ist das politische Wunschkind aller,<br />
die sich 1973 am Aufstand gegen die<br />
Junta im Athener Polytechnikum beteiligten.<br />
Der Klassenprimus begann sich schon<br />
früh für Politik zu interessieren. Schülerproteste,<br />
Schulbesetzungen, Mitglied der<br />
Kommunistischen Jugend, Proteste gegen<br />
Globalisierung und Neoliberalismus, Vorstandsmitglied<br />
des panhellenischen Studentenbunds.<br />
Das ist normal für einen jungen<br />
Mann, um den herum fast täglich irgendjemand<br />
streikt, demonstriert oder den Staat<br />
in Geiselhaft nimmt. Und es ist erstaunlich<br />
viel für einen jungen Mann, der in einem<br />
Land aufwuchs, in dem, verglichen<br />
mit den Jahrzehnten davor, das Leben sorgenfrei<br />
war und fern jeder wirtschaftlichen<br />
Not. Denn seit dem Beitritt zur EU ging<br />
es in Griechenland fast nur aufwärts. Mit<br />
der Unterstützung seines politischen Ziehvaters,<br />
Alekos Alavanos, dem ehemaligen<br />
Vorsitzenden von Synaspismos, verläuft die<br />
Politkarriere des studierten Bauingenieurs<br />
schnell und steil: Wahl in den Parteivorstand,<br />
Wahl in den Stadtrat Athens, Wahl<br />
zum Parteichef von Syriza. 2009 zieht Alexis<br />
Tsipras schließlich ins Parlament.<br />
Der jüngste Parteichef Griechenlands<br />
hat alles, was man braucht, um Wählermassen<br />
zu begeistern. Er ist charismatisch und<br />
machtgesteuert. Er ist ein begnadeter Redner<br />
und ein kühler Stratege. Bei Pressekonferenzen<br />
und in Interviews richtet er sich<br />
stets ans Volk, in dessen Namen er spricht.<br />
Syriza und das Volk sind ein und dasselbe<br />
für ihn. Das hat geradezu messianischen<br />
Charakter. In seiner Weltanschauung gibt<br />
es keine Nuancen. Er benutzt das Vokabular<br />
eines Altkommunisten. Vom Volkswillen<br />
und Volksurteil ist häufig die Rede.<br />
Spricht er über die Wirtschaft und wie man<br />
die Krise löst, fallen Sätze wie dieser: „Das<br />
Memorandum gefährdet Griechenlands<br />
Demokratie.“<br />
Alexis Tsipras zieht alle Register – Utopismus,<br />
Patriotismus, die Leidenschaft<br />
zum Widerstand. Er ist so populistisch<br />
und volksnah wie Pasok-Gründer Andreas<br />
Papandreou. Er hat eine reine Weste, sagen<br />
viele Griechen. Er sei aufrichtig, geradlinig.<br />
Er ist, was die Griechen einen Pallikari<br />
nennen, ein tapferer Junge, der sich<br />
keiner Autorität beugt. Sein vergleichsweise<br />
bescheidenes Jahreseinkommen von<br />
zuletzt 48 000 Euro und ein Wohnsitz in<br />
einem Arbeiterviertel verschaffen ihm einen<br />
zusätzlichen Sympathiebonus. Nur er,<br />
so glauben viele, könne die erstarrten politischen<br />
Verhältnisse aufmischen, sowohl<br />
in Griechenland <strong>als</strong> auch in Europa. Alexis<br />
Tsipras und das linke Bündnis Syriza<br />
sind das alte System in neuer Verpackung,<br />
behaupten andere. Er verspreche, ganz in<br />
der Tradition griechischer Politik, was nie<br />
eingelöst werden könne.<br />
Viele Griechen mögen die Art, wie er<br />
über deutsche Politik wettert, über die EU<br />
schimpft: „Wir sind keine deutsche Kolonie!“,<br />
„billige Erpressung“, „Plünderung“<br />
von Löhnen und Renten. Vor allem kennt<br />
er das anarchistische Potenzial, das in den<br />
Griechen steckt. Seine politischen Gegner<br />
werfen ihm vor, sich nie klar und deutlich<br />
von der Gewalt bei Demonstrationen distanziert<br />
zu haben. Besonders junge Wähler<br />
begeistern sich für die Parolen des coolen,<br />
ungezogenen Jungpolitikers. Auch Rentner<br />
und Staatsbedienstete setzen auf Alexis Tsipras.<br />
Sie haben nichts zu verlieren oder haben<br />
schon genug verloren – an Rente, Einkommen,<br />
Privilegien. So siegen Impulse<br />
und Instinkte über Vernunft und Pragmatismus.<br />
Doch wie Löhne, Renten, das<br />
ganze Sozi<strong>als</strong>ystem finanziert werden sollen,<br />
wenn die vorm<strong>als</strong> eingegangenen Verpflichtungen<br />
einseitig aufgekündigt werden, hat<br />
Alexis Tsipras nie konkret erklärt.<br />
Was genau will er aber? „Die Sparmaßnahmen<br />
haben das Volk in die Verelendung<br />
gestürzt“, sagt er. Zwei Rettungspakete<br />
seien bereits gescheitert. Jetzt gehe<br />
es darum, mit Ländern in derselben Lage<br />
eine Front zu schaffen gegen die „neoliberale<br />
Barbarei“. Wie die Wellen eines Tsunamis<br />
soll der Protest in andere EU-Länder<br />
überschwappen. Seine Idee: Griechenland<br />
Foto: IML/laif<br />
56 <strong>Cicero</strong> 7.2012
„Wir sind<br />
keine<br />
deutsche<br />
Kolonie“<br />
Alexis Tsipras, der Chef des<br />
Linksbündnisses Syriza, verwahrt<br />
sich gegen jede Einmischung von<br />
außen – vor allem von Deutschland<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 57
| W e l t b ü h n e<br />
bleibt im Euroland, kündigt alle Sparmaßnamen<br />
auf und verhandelt alle Konditionen<br />
neu. EU und Internationaler Währungsfonds<br />
bluffen, ist das Kalkül. Sie<br />
können gar nicht zulassen, dass Griechenland<br />
aus der Eurozone austrete. Griechenland<br />
sei ein Glied in der Kette. Zerbreche<br />
Griechenland, zerbrechen Italien und Spanien.<br />
Das Problem sei nicht Griechenland,<br />
sondern Europa, das in der Krise stecke.<br />
Tsipras Rechnung ist eine Rechnung ohne<br />
den Wirt. Das wissen auch die Griechen.<br />
Trotzdem hofft die Mehrheit, einen Weg<br />
zu finden, der irgendwo zwischen Sparen<br />
und Euroaustritt liegt. Dass nun Angela<br />
Merkel bereit ist, über ein Wachstumsprogramm<br />
zu verhandeln, verbucht Syriza <strong>als</strong><br />
Erfolg. Und mit der Wahl François Hollandes<br />
und der 100-Milliarden-Kapit<strong>als</strong>pritze<br />
für die maroden Banken Spaniens ändert<br />
sich ohnehin alles, so ein weiteres Kalkül.<br />
Nun werden Nachverhandlungen gefordert,<br />
sowohl von Syriza <strong>als</strong> auch von anderen<br />
Parteien. Wenn Spanien für die Geldhilfe<br />
kaum Auflagen erfüllen muss, warum dann<br />
wir?, lautet die Überlegung. Im neuen Mischen<br />
der Karten liegt alle Hoffnung der<br />
Griechen.<br />
Doch der smarte Politiker, vor dem<br />
die EU zittert, ist nicht der große, starke<br />
Mann, für den man ihn in Europa hält.<br />
Ihm fehlen Erfahrung, eine Lobby und die<br />
Unterstützung der größeren Parteien. Der<br />
Chef der Syriza weiß, wie wichtig der Euro<br />
für Griechenland ist. Würde seine Partei<br />
für die Wiedereinführung der Drachme<br />
stimmen, verlöre sie augenblicklich ihre<br />
Wähler. Wie groß die Angst vor einem<br />
Austritt aus der Eurozone ist, wurde vor<br />
wenigen Wochen deutlich. Rund 800 Millionen<br />
Euro wurden von griechischen Banken<br />
abgehoben und unter dem Kopfkissen<br />
versteckt oder ins Ausland transferiert.<br />
Ohne den Euro, das ist den meisten Griechen<br />
klar, drohen Chaos, Armut, der wirtschaftliche<br />
Rückfall. Daher haben sich am<br />
Ende doch noch 29,7 Prozent der Wahlberechtigten<br />
für die etablierte Nea Dimokratia<br />
entschieden.<br />
Was Syriza von allen anderen Parteien<br />
unterscheidet, ist, abgesehen vom unbedingten<br />
Willen zum Aufstand gegen die<br />
verhasste Troika, ein großer Vertrauensvorschuss.<br />
Syriza ging ohne Kontamination in<br />
die Wahl. Korruption, Nepotismus, Bereicherung,<br />
nichts dergleichen lastet ihr an.<br />
Für viele ist Syriza daher das Licht am Ende<br />
des Tunnels.<br />
Allerdings ist Syriza keine Partei im herkömmlichen<br />
Sinne. Sie ist ein loses Konglomerat<br />
aus vielen Strömungen, dessen<br />
Struktur so komplex ist wie die Chaostheorie.<br />
Gebildet wurde Syriza vor den Parlamentswahlen<br />
2004, bei denen sie sechs<br />
Sitze gewann. Initiiert wurde sie vom Synaspismos,<br />
kurz SYN, der Koalition der<br />
Linken, der sogenannten „Bewegungen“<br />
und der Ökologie. SYN wurde 1992 vom<br />
eurokommunistischen Flügel der KKE<br />
gegründet und zog vier Jahre später ins<br />
Parlament. Als weitere linke Strömungen<br />
„Der Durchschnittsgrieche will<br />
keine finanziellen Opfer erbringen“<br />
Theodoros Pangalos, ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident<br />
zu SYN hinzustießen, erweiterte sich die<br />
Wahlkoalition zu Syriza. Heute besteht sie<br />
aus Trotzkisten, Eurokommunisten, Kapitalismus-<br />
und EU-Kritikern, Globalisierungsgegnern,<br />
Antiimperialisten, Dissidenten,<br />
Bürgerinitiativen und sonstigen<br />
zersplitterten, linken Strömungen. Jede<br />
dieser Einzelgruppen ist autonom, und<br />
jede Strömung wirbt um einen Listenplatz<br />
für ihren Kandidaten. Syriza ist stark von<br />
persönlichen Rivalitäten und Differenzen<br />
zwischen den Strömungen geprägt, was<br />
sie seit den Wahlen gut überspielt. Sollte<br />
sie jedoch in realpolitische Entscheidungszwänge<br />
geraten, wird sie schnell zerbrechen.<br />
Wie keine andere Partei reflektiert Syriza<br />
die völlige Zersplitterung, die Atomisierung<br />
der griechischen Gesellschaft. Jeder<br />
hat eigene Ziele. Und wenn sie mit<br />
dem Parteichef, der Parteiführung kollidieren,<br />
dann gründet man kurzerhand eine<br />
eigene Partei. Eine ganz und gar übliche<br />
Vorgehensweise in Griechenland, wo, mit<br />
Ausnahme der Kommunisten, Parteien absolutistisch<br />
geführt werden und das Parteiprogramm<br />
auf der Weltanschauung ihres<br />
Gründers beruht.<br />
Woher rührt aber der enorme Zuspruch<br />
für Syriza? Überzeugt Alexis Tsipras so sehr?<br />
Und verarmen die Menschen wirklich? Es<br />
gehört zur Wesensart des Landes, dass stets<br />
der Lauteste, der Populistischste die größte<br />
Wählerschaft um sich schart wie ein Hirte<br />
seine Schafe. „Neuerschaffung des Staates“,<br />
lautete 2004 der Slogan der konservativen<br />
Nea Dimokratia, die mit der von<br />
Korruption zerfressenen Regierungspartei<br />
Pasok aufzuräumen versprach. Prompt erhielt<br />
sie 45 Prozent. 2009 kehrte die sozialistische<br />
Pasok mit 44 Prozent zurück an<br />
die Macht. „Es gibt Geld!“, lautete ihr Slogan.<br />
Was Alexis Tsipras verspricht, ist die<br />
Rückkehr ins alte Leben, ohne Reformen,<br />
ohne Sparen. Doch eine Neuverhandlung<br />
mit der EU-Troika ist nicht die alleinige<br />
Lösung aus der Krise. Was Griechenland<br />
zuallererst braucht, ist ein fundamentaler<br />
Kulturwandel. Keiner traut dem anderen,<br />
der Bürger nicht dem Staat, der Staat nicht<br />
dem Bürger und keine Partei der anderen.<br />
Griechenland ist kein moderner Staat.<br />
Mit einem Fuß steht es noch immer im osmanischen<br />
Mittelalter, mit dem anderen<br />
versucht es ins 21. Jahrhundert zu schreiten.<br />
Seine Verwaltungsstrukturen sind im Kern<br />
dieselben wie vor 200 Jahren. Eingekapselt<br />
wie in Bernstein, abgekoppelt von den<br />
Entwicklungen in Europa, lag Griechenland<br />
jahrhundertelang danieder. Scholastik,<br />
Renaissance, Aufklärung, alle geistigen<br />
Strömungen gingen an dem Land vorüber.<br />
Ständegesellschaft, Bürgertum, Industrialisierung,<br />
ein Parteiensystem, ein Klassenbewusstsein<br />
– nichts dergleichen existierte.<br />
Griechenlands größtes Hindernis<br />
auf dem Weg in die Gegenwart ist seine<br />
Vergangenheit.<br />
Davon abgesehen ist Griechenland<br />
pleite. Die Staatskassen sind leer. Ebenso<br />
geplündert sind die Kassen des Gesundheits-<br />
und Sozi<strong>als</strong>ystems. Die Banken hängen<br />
am Tropf der EZB. Aus Angst vor weiteren<br />
Kürzungen rollt derzeit eine Welle der<br />
Pensionierung über das Land. Wer kann,<br />
flüchtet in die Rente. 50 Prozent der staatlichen<br />
Ausgaben entfallen auf Gehälter<br />
und Renten. Damit diese ausbezahlt werden<br />
können, stoppt der Staat jeden Monat<br />
jegliche Zahlungen an seine Gläubiger und<br />
bringt somit heimische Firmen und Versicherungsträger<br />
an den Rand des Ruins.<br />
„Der Durchschnittsgrieche will keine<br />
finanziellen Opfer erbringen. Und er<br />
will nicht auf seine erworbenen Vorteile<br />
58 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Foto: Privat (Autor)<br />
verzichten“, sagt Theodoros Pangalos. Der<br />
ehemalige Minister der Pasok weiß, wovon<br />
er spricht. „Wir haben das Land verwüstet“,<br />
bekannte er 2006 in einem Interview.<br />
Alles stockt, die Privatisierung von Staatsunternehmen,<br />
der Abbau kafkaesker Vorschriften,<br />
der Aufbau eines Katasters, die<br />
Öffnung sogenannter geschlossener Berufe,<br />
zu denen Taxifahrer und Spediteure zählen.<br />
Alles soll sich ändern, ohne sich zu ändern.<br />
Das ist die Einstellung der meisten Griechen.<br />
Seit der Staat vor wenigen Jahren begonnen<br />
hat, ein Kataster aufzubauen, muss<br />
Landbesitz deklariert und versteuert werden.<br />
Ein Aufschrei ging durch das Land.<br />
„Sie nehmen uns alles weg“, sagten viele<br />
und klagten zugleich darüber, dass es an<br />
allem mangele, an funktionierenden Krankenhäusern,<br />
Spielplätzen, Schulbüchern.<br />
Das alte Parteiensystem ist nicht zusammengebrochen,<br />
weil die Menschen von<br />
Korruption und Vetternwirtschaft genug<br />
hatten oder weil sie moralisch gereift seien,<br />
wie es Alexis Tsipras ausdrückt. Sie hätten<br />
schon vor Jahrzehnten auf die Straße gehen<br />
und gegen den, von allen geduldeten,<br />
ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag, der<br />
auf Geben und Nehmen beruht, protestieren<br />
können. Das alte Parteiensystem wankt,<br />
weil die Kassen leer sind. Wenn ein Staat<br />
bankrott ist, hat er nichts mehr zu verteilen.<br />
Keine neuen Sozialleistungen, keine Stelle<br />
bei der Gemeinde für die Tochter, keine asphaltierte<br />
Straße zum Stall und keine Gelder<br />
für die eigene Tasche. Doch der Nährboden,<br />
auf dem das Klientelsystem gedeiht,<br />
ist noch immer vorhanden.<br />
Für viele Griechen stellt sich die Wirklichkeit<br />
jedoch ganz anders dar. Sie halten<br />
den Bankrott ihres Landes für eine Lüge,<br />
so wie auch Alexis Tsipras. Die EU wolle<br />
Griechenland aufkaufen. Ihre Subventionspolitik<br />
habe die heimische Industrie und<br />
die Landwirtschaft zerstört. Schuld an der<br />
Misere seien die Politiker, die EU, die Juden,<br />
die Finanzmärkte, aber niem<strong>als</strong> der<br />
Wähler. Griechenland sei das Experiment<br />
zur Umsetzung der „neoliberalen Schockpolitik“,<br />
und die Griechen seien die Versuchskaninchen,<br />
so sieht es Alexis Tsipras.<br />
„Das Experiment muss beendet werden.“<br />
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Richard Fraunberger<br />
lebt seit 2001 in Griechenland<br />
und schreibt u. a. für die NZZ.<br />
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Scheine und Heilige<br />
Der Skandal im Vatikan offenbart mehr über die<br />
dortigen Machtkämpfe, <strong>als</strong> papsttreue Medien<br />
uns glauben machen wollen: Ein ehemaliger<br />
Insider schildert seine Sicht der Dinge<br />
von david berger<br />
M<br />
an könnte fast meinen, Georg<br />
Gänswein, der engste<br />
Vertraute des Papstes, habe<br />
geahnt, welches Unheil ins<br />
Haus steht, <strong>als</strong> er im vergangenen<br />
November die dem Papst besonders<br />
ergebenen Journalisten aus Deutschland<br />
und Österreich im Vatikan zu einer<br />
Art Privatissimum um sich sammelte. Unter<br />
ihnen auch jene, die Neuigkeiten ohne<br />
Umwege über den Pressesaal des Heiligen<br />
Stuhls schon einmal direkt aus dem päpstlichen<br />
Wohnbereich erhalten. Während<br />
nämlich die eher kirchenkritischen Medien<br />
angesichts von „Vatileaks“ im Nebel<br />
stochern und verzweifelt versuchen, in den<br />
Vatikan hinein zu recherchieren, sind es vor<br />
allem die dam<strong>als</strong> Geladenen, die auf einem<br />
bestimmten Feld der deutschen Presselandschaft<br />
die Deutungshoheit über die Ereignisse<br />
fest in der Hand zu haben scheinen.<br />
Ungläubig reibt man sich die Augen ob<br />
einer Rhetorik, die an katholische Papstapologeten<br />
im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts<br />
erinnert. Da wird der Papst von<br />
seinem prominentesten journalistischen<br />
Intimus, Peter Seewald, mit Jesus selbst verglichen,<br />
verraten von Judas, der <strong>als</strong> biblischer<br />
Typus des Kammerdieners und seiner<br />
Gehilfen herhalten muss. Die Bild-Zeitung<br />
steuert die „diabolische Note“ bei, nach<br />
der der Verräter sich einfach „Maria“ genannt<br />
und immer zugeschlagen habe, während<br />
der Papst sich mit dem Privatsekretär<br />
auf seinem Spaziergang durch die vatikanischen<br />
Gärten dem Rosenkranzgebet hingab.<br />
Eine perfekte Dramaturgie aus Infamie<br />
und frommer Unschuld.<br />
Gänswein, dem italienische Medien<br />
in dem Skandal schnell die Rolle einer<br />
vatikanischen Miss Marple zugeteilt haben,<br />
wird bei Seewald zu einem zweiten<br />
heiligen Sebastian. Ihm kommt die Ehre<br />
des heldenhaften „Schilds“ für den Heiligen<br />
Vater zu, der „im Gefecht Pfeile abbekommen“<br />
muss. Auch die Welt schlägt mit<br />
einem Artikel Paul Baddes eschatologische<br />
Töne an: Herhalten muss das Gleichnis von<br />
den Winzern, die den Gesandten des Weinbergbesitzers<br />
aus Bösartigkeit töten. Auch<br />
wenn sich die Parabel aus dem Matthäus-<br />
Evangelium eigentlich auf Christus bezieht,<br />
gewinnt man nun den Eindruck, der biblische<br />
Schriftsteller habe, <strong>als</strong> er sie zu Papier<br />
brachte, eigentlich nur an „Vatileaks“ gedacht:<br />
An die Stelle der Person Jesu auf der<br />
Sachebene des Gleichnisses wird nun wieder<br />
der Papst gerückt. Die Rolle der bösen<br />
Knechte beziehungsweise des Teufels<br />
kommt konsequenterweise den Verrätern<br />
zu – unterstützt durch die „Schäbigkeit“ der<br />
indiskreten Medien, die die benediktinische<br />
Wende innerhalb der Kirche „mithilfe von<br />
Kriminellen“ vereiteln wollten. Dass die<br />
kirchenpolitische Instrumentalisierung der<br />
Judasfigur eine verhängnisvolle Tradition<br />
hat und auch die mystisch-christologische<br />
Überhöhung des Papstes unter fachtheologischem,<br />
geschweige denn ökumenischem<br />
Aspekt eine Katastrophe darstellt, betonte<br />
im Zusammenhang der gegenwärtigen Geschehnisse<br />
kürzlich erst EKD-Präsident Nikolaus<br />
Schneider. Aber all das scheint die<br />
Papstapologeten nicht zu stören. Wer die<br />
Bösen und wer die Guten in dem vatikanischen<br />
Drama sind, ist klar geworden. Und<br />
auf der dunklen Folie menschlicher Sündhaftigkeit<br />
und medialer Niedertracht kann<br />
das strahlende Weiß des päpstlichen Opferlamms<br />
umso heller strahlen.<br />
Doch all dem frommen Gesäusel zum<br />
Trotz kann man sich des Eindrucks nicht<br />
erwehren, dass es ganz so einfach dann<br />
eben doch nicht sein dürfte. Soll hier womöglich<br />
bewusst die Flucht in eine biblisch-religiöse<br />
Überhöhung angetreten<br />
werden? Soll durch das Werfen von Weihrauchgranaten<br />
von etwas abgelenkt werden,<br />
das vielleicht den eigentlichen Kern<br />
des Skand<strong>als</strong> ausmacht?<br />
Auch wenn sich Medienschelte bei<br />
Journalisten seltsam ausnimmt, liegen sie<br />
ganz auf der Linie ihres mit allen Mitteln<br />
apologisierten Papstes. Denn Benedikt<br />
selbst machte in seinen wenigen öffentlichen<br />
Äußerungen sofort die Medien<br />
für den Skandal verantwortlich. Während<br />
am Heiligen Stuhl eigentlich alles in bester<br />
Ordnung sei und er sich deshalb vorbehaltlos<br />
und voller Vertrauen hinter seine Mitarbeiter<br />
stelle, seien es „manche Medien“<br />
gewesen, die nur mit Unterstellungen arbeiteten.<br />
Ja, in den Medien zeige sich geradezu<br />
eine „Kultur der Lüge und des Bösen“,<br />
die sich „<strong>als</strong> Wahrheit und Information<br />
präsentiert“. Unter dem Schein, die Kirche<br />
und die Regierung des Vatikans reformieren<br />
zu wollen, offenbare sich in Wahrheit<br />
der „Geist der Verleumdung und Zerstörung“.<br />
In ihrer letzten Konsequenz leugne<br />
sie Gott selbst. Unglückliche Erinnerungen<br />
werden da wach an den Missbrauchsskandal,<br />
der in der öffentlichen Wahrnehmung<br />
gerade halbwegs ausgestanden war,<br />
<strong>als</strong> „Vatileaks“ zur Belastung wurde. Ganz<br />
offensichtlich nicht das Geschehene selbst,<br />
sondern die Tatsache, dass es öffentlich gemacht<br />
und zum Skandal wurde, war auch<br />
in diesem Fall das den Papst und die Kurie<br />
wirklich plagende Problem.<br />
Dass man im Vatikan auf Skandale in<br />
pawlowscher Manier mit Medienschelte reagiert,<br />
hat seine Wurzeln im Gebaren der<br />
Römischen Kurie generell. Deren Organisationstrukturen<br />
reichen in das Hochmittelalter<br />
zurück und bauen sich nach wie vor<br />
<strong>als</strong> Verwaltungsapparat einer absolutistischen<br />
Monarchie auf. Hier hat die fehlende<br />
vatikanische Transparenz ihre geschichtlichen<br />
Wurzeln, die nach Gian luigi Nuzzi<br />
überhaupt erst den Reiz der von ihm publizierten<br />
Enthüllungen schafft. Die fehlende<br />
Transparenz und Heimlichtuerei ist zudem<br />
die Bestandsgarantie für eine ganz eigene<br />
kuriale Informationspolitik. Zum einen ist<br />
man am Hofstaat des Papstes dienstlich zu<br />
absoluter Diskretion verpflichtet und hat<br />
60 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Fotos: Imago, Hans Scherhaufer (Autor)<br />
auch dort eine Aversion gegen die großen<br />
Medien, die man nicht selten <strong>als</strong> von Freimaurern,<br />
dem Weltjudentum und anderen<br />
kirchenfeindlichen Kräften unterwandert<br />
verachtet. Auf der anderen Seite weiß<br />
man um die Macht der Information, die<br />
man benötigt, um seine kirchenpolitischen<br />
und manchmal auch ganz einfach egoistischen<br />
Interessen durchzusetzen. Mit Transparenz<br />
würde so etwas natürlich nicht<br />
funktionieren.<br />
Um dieses Dilemmas Herr zu werden,<br />
streut man gezielt bestimmte Gerüchte.<br />
Nicht nur in Italien steht ein<br />
ganzes Heer williger erzkatholischer<br />
Blogger bereit, die die strategisch erwünschten<br />
Informationen über das<br />
Internet verbreiten. Ihr prominentester<br />
dürfte Andrea Tornielli mit seinem<br />
Blog Sacri Palazzi sein, der nicht<br />
selten besser informiert auftritt <strong>als</strong> der<br />
offizielle vatikanische Pressesprecher<br />
Federico Lombardi. Stolz weist man<br />
auch bei der deutschsprachigen, äußerst<br />
konservativ-katholischen Internetseite<br />
kath.net darauf hin, dass man<br />
bis in den Vatikan hinein gut vernetzt<br />
sei. Und der Leiter des Kommunikationsbüros<br />
der Diözese Linz musste<br />
zähneknirschend eingestehen, dass<br />
besagtem Internetportal ein vatikanisches<br />
Dokument auf inoffiziellem<br />
Wege zugespielt worden war, bevor<br />
es der zuständige Diözesanbischof in<br />
Händen hielt. Selbst das in Deutschland<br />
ob seiner antisemitischen Propaganda<br />
und krimineller Verleumdungskampagnen<br />
vom Verfassungsschutz<br />
beobachtete Portal kreuz.net scheint in ähnlicher<br />
Weise aus dem Vatikan heraus instrumentalisiert<br />
worden zu sein.<br />
Mit „Vatileaks“ droht nun aber ganz<br />
offensichtlich den reaktionären Kräften an<br />
der Kurie bis hin zum Umfeld des Papstes<br />
das Machtinstrument der gezielten (Des-)<br />
Information entrissen zu werden. Badde<br />
hat das richtig erkannt, <strong>als</strong> er bemerkte,<br />
die Enthüllungen schadeten der „Aura der<br />
Macht“ des Papstes. Passenderweise erinnerten<br />
sowohl Pressesprecher Lombardi<br />
wie auch Kardin<strong>als</strong>taatssekretär Tarcisio<br />
Bertone die italienische Staatsanwaltschaft<br />
nachdrücklich, ja fast drohend an die „souveränen<br />
Rechte des Heiligen Stuhls“, um<br />
so die Veröffentlichung eines Dossiers zur<br />
Vatikanbank zu verhindern, das der italienischen<br />
Staatsanwaltschaft zufällig in die<br />
„Kultur der Lüge und des Bösen“: Papst Benedikt XVI<br />
sieht eine Intrige der Medien<br />
Hände geraten war. Der heilige Schein<br />
muss, schon im Interesse des Machterhalts,<br />
um jeden Preis erhalten bleiben.<br />
Man wird nach all dem Gesagten zumindest<br />
einmal darüber spekulieren dürfen,<br />
ob sich mit den neueren Enthüllungen<br />
vielleicht nicht doch die durch die<br />
Wahl Ratzingers zum Papst ins Mark getroffene,<br />
inzwischen immer kleiner werdende<br />
liberale Gruppe in der Führungsriege<br />
des Vatikans und im Weltepiskopat<br />
in einem letzten Aufbäumen zu Wort meldet.<br />
Dass der Skandal just zu jenem Zeitpunkt<br />
den Vatikan zu erschüttern begann,<br />
<strong>als</strong> das warme Werben des Papstes um die<br />
Gunst der Piusbrüder kurz vor dem Erfolg<br />
stand, könnte darauf hinweisen. Denn<br />
immerhin bedeutet die Rehabilitation der<br />
gesamten Piusbruderschaft einen grundlegenden<br />
Paradigmenwechsel innerhalb der<br />
katholischen Kirche, der das Grundsatzprogramm<br />
des progressiv-liberalen Flügels,<br />
das Zweite Vatikanische Konzil mit seiner<br />
Öffnung der katholischen Kirche hin zur<br />
offenen Gesellschaft, endgültig ad acta legt.<br />
Sowohl die in den veröffentlichten Akten<br />
vorkommenden Personen <strong>als</strong> auch die<br />
Inhalte der veröffentlichten Dokumente,<br />
über die die eifrigen Papstapologeten mit<br />
dem Verweis „nichts Neues“ allzu schnell<br />
hinweggehen, sprechen jedenfalls für diese<br />
These. Bei den Akteuren ist es immer wieder<br />
Kardinal Bertone, der zweite Mann im Vatikan,<br />
der eine zentrale Figur darstellt. Doktrinär<br />
und gesellschaftspolitisch gehört er<br />
zu den konservativen Hardlinern in Rom.<br />
Seit vielen Jahren übernimmt er für Ratzinger<br />
die eher unangenehmen Aufgaben.<br />
Einen Zwist zwischen ihm und Benedikt<br />
zu konstruieren, ist geradezu lächerlich.<br />
Der Journalist Alan Posener<br />
hat zu Recht betont: „Wer Bertone<br />
angreift, greift das System Benedikts<br />
an.“ Dazu passt eine weitere Enthüllung,<br />
wonach der Papst Personalfragen<br />
in enger Beratschlagung mit dem<br />
Chef der konservativen kirchlichen<br />
Vereinigung „Communione e liberazione“<br />
(CL) löste. Beide waren sich<br />
darin einig, dass die Mailänder Kardinäle<br />
Carlo Maria Martini und Dionigi<br />
Tettamanzi – zufälligerweise beide<br />
in Konkurrenz zu Ratzinger über viele<br />
Jahre <strong>als</strong> mögliche Papstanwärter gehandelt<br />
– liberalen Theologen zu weiten<br />
Raum gegeben hätten.<br />
Nicht uninteressant ist schließlich<br />
die Tatsache, dass CL in engster Verbindung<br />
mit Silvio Berlusconi und<br />
dessen Forza Italia stand. Denn damit<br />
führt der Bogen wieder hin zu jenem<br />
bereits erwähnten Dossier des wegen<br />
seiner Kooperationsbereitschaft mit<br />
der italienischen Justiz entlassenen<br />
Chefs der Vatikanbank. Aus diesen<br />
Papieren geht nämlich unzweifelhaft<br />
hervor, dass der Berlusconi-Sympathisant<br />
Bertone <strong>als</strong> Chef des Aufsichtsrats<br />
der Vatikanbank dafür gesorgt hat, dass<br />
politische Freunde, aber auch hochrangige<br />
Mafiabosse über Vatikanbankkonten<br />
Geldwäsche in großem Umfang betreiben<br />
konnten. Dass diese Konten unter den<br />
fromm klingenden Namen religiöser Stiftungen<br />
eingerichtet wurden, scheint geradezu<br />
symbolhaft für den ganzen Skandal:<br />
Es geht darum, den heiligen Schein mit<br />
neuen Scheinheiligkeiten um jeden Preis<br />
zu bewahren.<br />
David Berger war Professor<br />
an der päpstlichen Thomas-<br />
Akademie und Lektor der päpstlichen<br />
Glaubenskongregation<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 61
| W e l t b ü h n e | B o d e n s c h ä t z e i m Ü b e r f l u s s<br />
Reich, Reicher,<br />
Mongolei<br />
von Christiane Kühl<br />
Wüstengold: Schon 50 Meter<br />
unter der Erdkrume stoßen die<br />
Bagger in der Südgobi auf Kohle<br />
62 <strong>Cicero</strong> 7.2012
R U S S L A N D<br />
Irkutsk<br />
Baik<strong>als</strong>ee<br />
Ulan Bator<br />
M O N G O L E I<br />
W üste Gobi<br />
Tawan ∆<br />
Tolgoi<br />
(Kohle)<br />
Oyu Tolgoi<br />
(Kupfer, Gold)<br />
∆<br />
Baotou<br />
Peking<br />
400 km<br />
C H I N A<br />
In der Wüste Gobi liegt das größte unerschlossene<br />
Kohlevorkommen der Welt. Neben Kupfer, Gold und<br />
Uran verfügt die Mongolei auch über reichlich Eisenerz,<br />
Wolfram, Silber und Seltene Erden. Das macht das Land<br />
zu einem Objekt der Begierde – besonders für seine<br />
rohstoffhungrigen Nachbarn Russland und China<br />
Foto: Mareike Günsche; Grafik: <strong>Cicero</strong><br />
R<br />
enchin Natsagdash blickt in ein<br />
schwarzes Loch. Staub steigt daraus<br />
empor, riesige Kipplaster<br />
schrauben sich auf breiten<br />
Rampen hinein und wieder heraus.<br />
Nur 15 Minuten brauchen sie für die<br />
Runde zwischen dem Loch und den zwei<br />
daneben angehäuften Halden, sagt Natsagdash.<br />
Auf der einen schütten die Kipper<br />
das überflüssig gewordene Erdreich aus.<br />
Auf der anderen stapeln sie den wertvollen<br />
Rohstoff: Kohle, die hier in der südmongolischen<br />
Wüstenregion Tawan Tolgoi<br />
schon ab 50 Meter Tiefe nutzbar ist.<br />
„Traditionelle Bergbauarbeiter brauchen wir<br />
hier nicht“, sagt Natsagdash. „Nur Fahrer.“<br />
Solche, die auch Ungetüme mit einem Reifendurchmesser<br />
von 3,50 Metern steuern<br />
können.<br />
Natsagdash ist der Manager der Grube,<br />
ein erfahrener Bergbauingenieur, seit<br />
30 Jahren im Geschäft mit dem schwarzen<br />
Gold. Aber das hier ist auch für ihn etwas<br />
Neues. Etwas Großes. Unter Tawan Tolgoi<br />
liegt das größte unerschlossene Kokskohlevorkommen<br />
der Welt. Natsagdashs Firma,<br />
der mongolische Staatskonzern Erdenes Tawan<br />
Tolgoi, hält Lizenzen für 95 Prozent<br />
der hier lagernden Kohle – und beginnt gerade<br />
erst, diese Vorräte auszubeuten. „Allein<br />
an diesem Loch können wir 50 Jahre<br />
graben“, sagt Natsagdash. 72 Meter ist es<br />
jetzt tief, 300 Meter tief soll es einmal werden<br />
und deutlich breiter. Und dann zeigt<br />
der Ingenieur auf die steinige Ebene hinter<br />
einem dünnen Zaun. „Auch dort liegt<br />
überall Kohle. Das werden wir schrittweise<br />
alles aufgraben, auf einer Fläche<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 63
| W e l t b ü h n e | B o d e n s c h ä t z e i m Ü b e r f l u s s<br />
Das staatseigene Bergbauunternehmen Erdenes Tawan Tolgoi expandiert und sucht neue Mitarbeiter: Die Jobs sind begehrt, die<br />
von 20 mal 30 Kilometern.“ Die gesamte<br />
Kohle gehe über die 250 Kilometer entfernte<br />
Grenze nach China. Um den Rohstoffhunger<br />
des südlichen Nachbarn zu stillen,<br />
werden Minenlaster und Bagger hier in<br />
den nächsten Jahren riesige Löcher in den<br />
Wüstenboden der Gobi reißen.<br />
Tawan Tolgoi und die benachbarte<br />
Kupfermine Oyu Tolgoi haben die Mongolei<br />
zu einer Nation von geostrategischer<br />
Bedeutung werden lassen. Ein Land, das<br />
zwar riesig, aber fast menschenleer ist. Weniger<br />
<strong>als</strong> drei Millionen Menschen leben<br />
dort, davon rund 700 000 <strong>als</strong> Nomaden.<br />
Oyu Tolgoi im Südosten der Mongolei gehört<br />
zu den fünf größten Kupfervorkommen<br />
der Welt. Dort finden erste Erdarbeiten<br />
statt, ab 2013 soll Kupfer abgebaut<br />
werden. Und bald auch Gold.<br />
Seit der Entdeckung dieser Riesenvorkommen<br />
wird die Mongolei zu den sieben<br />
rohstoffreichsten Ländern der Welt gezählt.<br />
Neben Kohle, Kupfer und Gold liegen<br />
auch Uran, Eisenerz, Molybdän, Wolfram,<br />
Silber, Türkis und Seltene Erden unter der<br />
Wüste Gobi. Auf diese Bodenschätze werfen<br />
ausländische Regierungen und Unternehmen<br />
begehrliche Blicke. Im Oktober<br />
2011 reiste Bundeskanzlerin Angela<br />
Merkel eigens nach Ulan Bator und unterschrieb<br />
dort eine Rohstoffpartnerschaft<br />
mit der Mongolei, die bereits deutschen<br />
Unternehmen nützt: BBM Operta bekam<br />
gemeinsam mit dem australischen Konzern<br />
Macmahon von Erdenes Tawan Tolgoi den<br />
Zuschlag für die Erdarbeiten. Siemens wird<br />
Gasturbinen für ein späteres Kraftwerk an<br />
der Mine liefern.<br />
„Traditionelle<br />
Bergbauarbeiter<br />
brauchen wir hier<br />
nicht – nur Fahrer“<br />
Renchin Natsagdash,<br />
Bergbauingenieur<br />
beim mongolischen<br />
Staatskonzern Erdenes<br />
Tawan Tolgoi<br />
Durch den Rohstoffboom stehen der<br />
Mongolei enorme Umwälzungen bevor.<br />
Getrieben vom hohen Tempo des Minenbaus<br />
muss die Regierung schnell definieren,<br />
was für ein Land die Mongolei sein soll –<br />
welche Rechte sie etwa Investoren, Arbeitern<br />
oder dem Naturschutz einräumen will.<br />
Die nötige Gesetzgebung hinkt den Entwicklungen<br />
im Rohstoffsektor hinterher.<br />
Für das Land spricht, dass es eine der<br />
wenigen Demokratien Zentralasiens ist.<br />
Doch die ist nicht perfekt: Zwei Parteien<br />
beharken einander bis aufs Blut – die Demokraten<br />
von Präsident Tsakhia Elbegdorj<br />
und die postkommunistische Volkspartei<br />
seines Vorgängers Nambaryn Enkhbayar.<br />
Letzterer steht zurzeit unter Korruptionsverdacht.<br />
Und er ist nicht der Einzige: Auf<br />
dem Korruptionsindex der Organisation<br />
Transparency International belegt die Mongolei<br />
unter 182 Staaten den wenig ruhmreichen<br />
Rang 120; bei Wahlen ist häufig<br />
von Betrug die Rede.<br />
Daher ist noch völlig unklar, wie gut<br />
das Land die aus dem Rohstoffboom entstehenden<br />
Herausforderungen in den Griff<br />
bekommen wird. Ob es etwa das Gespenst<br />
einer Rohstoffökonomie besiegen kann, da<br />
diese Form der Wirtschaft einseitig von<br />
Ressourcen abhängt und zu wenig in andere<br />
Branchen investiert. Zudem treibt das<br />
aus den Rohstoffexporten ins Land fließende<br />
Kapital leicht Inflation und Wechselkurs<br />
nach oben. Profitiert die Bevölkerung<br />
nicht vom Rohstoffboom, drohen<br />
Konflikte zwischen Arm und Reich – in<br />
einem Land, in dem nach Angaben der<br />
Weltbank noch ein Drittel der Menschen<br />
unter der Armutsgrenze leben. Und die Regierung<br />
muss die richtige Balance zwischen<br />
Bergbau und Naturschutz finden.<br />
Fotos: Mareike Günsche<br />
64 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Gehälter gut und die eigens für die Arbeiter errichteten Camps nach mongolischen Maßstäben fast schon luxuriös<br />
Wenn die Mongolei es aber richtig<br />
anstellt, ist der plötzliche Rohstoffreichtum<br />
vor allem eine Verheißung. Dank der<br />
Rohstoffe wuchs die Wirtschaft 2011 mit<br />
17 Prozent schneller <strong>als</strong> in jedem anderen<br />
Land der Welt. Prognosen sagen für die<br />
nächsten Jahre ähnliche Wachstumsraten<br />
voraus.<br />
Bataa Batkhuu ist selbstverständlich<br />
für den Bergbau. Er ist Abteilungsdirektor<br />
für Bergbau und Schwerindustrie im<br />
Ministerium für Rohstoffe und Energie;<br />
vom Schreibtisch in seinem schlichten<br />
Büro blickt er täglich auf eine riesige Bodenschatzkarte<br />
an der gegenüberliegenden<br />
Wand. Wenn Oyu Tolgoi seinen Betrieb<br />
aufnimmt, werde der Bergbau 30 Prozent<br />
zum Bruttoinlandsprodukt beitragen, sagt<br />
er. Heute sind es 22 Prozent.<br />
Aber Batkhuu kennt auch die Probleme.<br />
„Die Lizenzen für den Bergbau in den verschiedenen<br />
Territorien werden in Ulan Bator<br />
ausgestellt. Oft haben die Menschen vor<br />
Ort nichts davon, wenn die Rohstoffe dann<br />
gefördert werden“, erklärt er. Außerdem<br />
gibt es Kritik, weil das Bergbaugesetz und<br />
das Umweltgesetz miteinander in Konflikt<br />
stehen. Eine Novelle des Bergbaugesetzes<br />
steht daher ganz oben auf der Prioritätenliste<br />
des neuen, aus der Wahl am 28. Juni<br />
hervorgegangenen Parlaments. Strengere<br />
Regeln für die Lizenzvergabe seien darin<br />
ein großes Thema, daher gebe der Staat<br />
bis zur Verabschiedung der Novelle keine<br />
neuen Lizenzen mehr aus, sagt Batkhuu.<br />
Im Umlauf sind nach offiziellen Daten<br />
derzeit knapp 3700 Bergbaulizenzen, davon<br />
1200 Minenlizenzen und 2500 Erkundungslizenzen.<br />
Zu viele, findet Batkhuu.<br />
Die Kontrolle des Bergbaus vor Ort sei deshalb<br />
sehr schwer. „Den Außenstellen der<br />
Kontrollbehörden fehlen die Kapazitäten.<br />
Wir bilden im Moment Prüfer aus, doch<br />
das braucht Zeit.“<br />
Schneller beschloss die mongolische<br />
Regierung kürzlich eine schärfere Kontrolle<br />
ausländischer Investitionen. Zuvor<br />
hatte die Kohlemine SouthGobi – mehrheitlich<br />
im Besitz der kanadischen Firma<br />
Ivanhoe Mines – verkündet, 57,6 Prozent<br />
der Anteile an den chinesischen Aluminiumkonzern<br />
Chalco zu verkaufen. Nun<br />
müssen ausländische Investitionen in strategische<br />
Sektoren – Bergbau, Medien und<br />
Finanzen – von der Regierung in Ulan Bator<br />
genehmigt werden. Etwa solche wie in<br />
Oyu Tolgoi: Am dortigen Minenkonsortium<br />
hält der mongolische Staat 34 Prozent<br />
und wiederum Ivanhoe Mines 66 Prozent.<br />
Das Unternehmen gehört zu 49 Prozent<br />
dem australischen Minengiganten Rio<br />
Tinto, der das Projekt managt. Damit hat<br />
Batkhuu kein Problem. „Aber wir müssen<br />
sicherstellen, dass künftige Investitionen<br />
das nationale Interesse nicht gefährden.<br />
Früher hatten Investitionen einfach nicht<br />
diese Ausmaße.“<br />
Also Angst speziell vor China? Der<br />
Nachbarstaat und seine Menschen sind<br />
in der Mongolei nicht besonders beliebt.<br />
Batkhuu sagt nur: „Unser Nachbar China<br />
ist groß. Und auch Russland ist ein großes<br />
Land.“ Die einzigen beiden Nachbarn<br />
umschlingen die Mongolei. Russland<br />
dominierte das Land zu Sowjet zeiten<br />
politisch. China dominiert es heute wirtschaftlich.<br />
85 Prozent der mongolischen<br />
Exporte gehen nach China, neben Rohstoffen<br />
vor allem Kaschmirwolle. So ist es<br />
nur folgerichtig, dass Ulan Bator sich aktiv<br />
nach weiteren Partnern wie Deutschland<br />
umsieht.<br />
In der Vergangenheit hatte umgekehrt<br />
China lange Zeit Angst vor den Mongolen.<br />
Deretwegen bauten die Chinesen ihre<br />
Große Mauer. Über Jahrhunderte fielen<br />
Mongolenstämme immer wieder zu Raubzügen<br />
in China ein und verschwanden danach<br />
durch die Wüste Gobi. Im 13. Jahrhundert<br />
eroberten sie das gesamte Reich<br />
der Mitte und herrschten dort knapp<br />
100 Jahre. Begonnen hatte die kurze<br />
Glanzzeit der Mongolen mit dem reitenden<br />
Krieger Dschingis Khan. Dieser vereinigte<br />
1206 die nomadischen Stämme und<br />
eroberte mit ihnen weite Teile Eurasiens.<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 65
| W e l t b ü h n e | B o d e n s c h ä t z e i m Ü b e r f l u s s<br />
Die Hauptstadt Ulan Bator ist für viele der große Traum – dort leben mit 1,3 Millionen Menschen die Hälfte aller Mongolen. Die Zukunft<br />
Dschingis Khan verehren die Mongolen bis<br />
heute. Im Gras eines Berghangs bei Ulan<br />
Bator liegt weithin sichtbar ein Bildnis des<br />
Kriegers aus Steinen.<br />
Auch die Nomadenkultur prägt das<br />
Land immer noch stark. Präsident Elbegdorj<br />
etwa wurde <strong>als</strong> Nomadenjunge geboren.<br />
Der Staat will diese Kultur erhalten,<br />
doch das wird immer schwieriger. Das Nomadentum<br />
wird bedroht durch die Moderne,<br />
den Klimawandel – und nun auch<br />
durch die Minen.<br />
Schon wenige Kilometer südlich von<br />
Ulan Bator geht die Asphaltstraße in eine<br />
Piste über, die niemand gebaut hat. Über<br />
die Jahre haben zahllose Jeeps die Spuren<br />
ausgefahren, die immer wieder zerfasern<br />
und zusammenfinden. Jedes Auto<br />
zieht eine Staubwolke hinter sich her, die<br />
in der Ebene kilometerweit sichtbar ist.<br />
Ortschaften gibt es kaum, nur verstreute<br />
winzige Kreiszentren, Soum genannt. Verteilt<br />
über die Steppe leben Nomaden wie<br />
eh und je in ihren Jurten, runden Zelten<br />
aus dickem hellem Filz, die von einem<br />
Holzgitter stabilisiert werden. Sie lassen<br />
ihre Pferde, Ziegen, Schafe und Kamele<br />
frei grasen. Am Boden blüht es weiß, gelb<br />
oder lila. Niedrige Büsche wechseln sich ab<br />
mit hellgelbem Dünengras. Es gibt wilde<br />
Minze, wilden Rhabarber, und immer wieder<br />
streicht der Wind den süßlichen Duft<br />
„Oft haben die Leute<br />
vor Ort nichts<br />
davon, wenn die<br />
Rohstoffe gefördert<br />
werden“<br />
Bataa Batkhuu,<br />
Abteilungsdirektor<br />
für Bergbau und<br />
Schwerindustrie im<br />
Ministerium für Rohstoffe<br />
und Energie<br />
von Wermutkraut über die Ebene. Darüber<br />
wölbt sich ein stahlblauer Himmel mit<br />
weißen Wölkchen.<br />
Mit wachsender Entfernung von Ulan<br />
Bator sprießen immer weniger Halme, und<br />
immer weniger Jurten stehen an den sanften<br />
Hängen. Eine der wenigen gehört Enkhjargal,<br />
die wie viele Nomaden nur ihren<br />
Vornamen verwendet. Ihr nächster Nachbar<br />
wohne zwei bis drei Kilometer entfernt,<br />
sagt die stämmige Viehzüchterin und zeigt<br />
unbestimmt auf die nächste Hügelkette.<br />
Sie hat ihr ganzes Leben in dieser kargen<br />
Gegend verbracht, genau wie ihr Mann.<br />
Der Radius der Familie ist klein. Im<br />
Sommer ziehen sie hinaus in die Ebene,<br />
immer dorthin, wo das beste Gras wächst.<br />
Sie haben Kamele, Schafe und Ziegen. Ihre<br />
Rinder seien 2010 im letzten Zuud verendet,<br />
sagt Enkhjargal. Ein Zuud ist die<br />
schlimmste Naturkatastrophe für die Nomaden:<br />
ein zu langer, zu strenger Winter<br />
mit so viel Schnee, dass die Tiere nicht an<br />
die Pflanzen unter der Schneedecke gelangen<br />
und sterben. Alle paar Jahre kommt der<br />
Zuud, und jedes Mal wirft er Tausende Nomaden<br />
in die Armut zurück.<br />
„Staub und Trockenheit nehmen zu.<br />
Viele behaupten, das liege am Klimawandel“,<br />
sagt Enkhjargal und wiegt ihr<br />
einjähriges Töchterchen auf dem Schoß.<br />
Die 39-Jährige sitzt auf einem der Betten,<br />
die entlang der Filzwand der Jurte stehen,<br />
dekoriert mit traditionellen Wandteppichen.<br />
Noch nie musste sie im Frühjahr<br />
so lange im Winterlager auf Regen warten<br />
– bis in den Juni hinein. Dennoch sei<br />
das Leben heute besser. „Man kann sich<br />
Kleider kaufen und muss sie nicht mehr<br />
selbst nähen, und mit dem Handy können<br />
wir hier drei von vier mongolischen<br />
Netzanbietern empfangen.“ Vor der Jurte<br />
parkt ein blaues Motorrad. Eine Satellitenschüssel<br />
liefert Fernsehprogramme,<br />
eine Photovoltaikzelle den Strom; beides<br />
konnte die Familie vor vier Jahren<br />
Fotos: Mareike Günsche<br />
66 <strong>Cicero</strong> 7.2012
ihrer Kinder sieht auch Enkhjargal in der Stadt. Sie selbst kann sich nur ein Leben <strong>als</strong> Nomadin vorstellen, trotz der widrigen Natur<br />
im Rahmen eines Entwicklungsprojekts<br />
günstig kaufen.<br />
Quer durch die Steppe haben sich die<br />
Nomaden diese Dinge zugelegt. Sie machen<br />
ihr archaisches, von den Wechselfällen<br />
der Natur dominiertes Leben angenehmer<br />
und verbinden sie mit der<br />
Außenwelt – einer Welt, die vor allem für<br />
ihre Kinder attraktiv ist. Enkhjarg<strong>als</strong> ältere<br />
Tochter geht im nahen Kreiszentrum Tsogt<br />
Owoo zur Schule; die 13-Jährige trägt<br />
Jeans und einen türkisfarbenen Kapuzenpulli.<br />
Der Sohn macht in der Hauptstadt<br />
des Aimags Südgobi – eine der 22 Provinzen<br />
der Mongolei – eine Facharbeiterausbildung.<br />
„Auch wenn meine Kinder eines<br />
Tages in die Stadt ziehen sollten, bliebe ich<br />
hier. Hier gehöre ich hin“, sagt die Mutter.<br />
Die Tochter serviert schweigend salzigen<br />
Tee mit Ziegenmilch.<br />
Es ist eine exemplarische Geschichte: der<br />
Exodus der Nomadenjugend in die Sesshaftigkeit<br />
– oder in die Minen. Während Enkhjargal<br />
spricht, donnert auf der Piste draußen<br />
ein Tieflader mit Minengerät vorbei. Hinter<br />
dem nächsten Hügel entsteht eine Hochspannungsleitung<br />
ins 70 Kilometer entfernte<br />
Tawan Tolgoi. Die Masten stehen<br />
schon und warten auf die Kabel. Es sind die<br />
Vorboten einer ungewissen Zukunft: Wenn<br />
zu der wachsenden Trockenheit nun noch<br />
die Folgen der Industrialisierung kommen,<br />
was dann? Die Minen brauchen viel Wasser,<br />
und jetzt fragt man sich, woher sie es nehmen<br />
sollen, ohne den Nomaden zu schaden.<br />
Neben Stromnetzen brauchen sie asphaltierte<br />
Straßen, damit die Laster weniger<br />
Staub aufwirbeln. Doch Straßen behindern<br />
die Wanderung der Tiere.<br />
Tsogt Tsetsi, 530 Kilometer und 14 Autostunden<br />
südlich von Ulan Bator, steht allein<br />
im Zeichen der Kohle. In Sichtweite<br />
steigt schwarzer Staub aus der Kohlehalde<br />
der Firma Energy Resources auf. Das Privatunternehmen<br />
besitzt knapp 5 Prozent<br />
der Vorkommen von Tawan Tolgoi und<br />
begann schon 2009 mit dem Kohleabbau.<br />
Am Rand von Tsogt Tsetsi baut es derzeit<br />
eine Siedlung für die Mitarbeiter: Wohnblöcke<br />
für je 120 Familien, angestrichen in<br />
Knallorange oder Gelb. Überall in Tsogt<br />
Tsetsi werden kleine Backsteinhäuser gebaut,<br />
in denen Motels, Banken, Friseure<br />
oder Lokale einziehen, betrieben von einstigen<br />
Nomaden der Gegend oder Zugezogenen<br />
aus dem ganzen Land: Migranten,<br />
die Serviceleistungen für die Minenarbeiter<br />
anbieten, auf der Suche nach Glück – und<br />
vor allem nach Geld. So wie Oyunaa. Die<br />
24-Jährige ist Kellnerin im Restaurant „Erdene“<br />
an der einzigen geteerten Straße des<br />
Orts. In dem dunkel getäfelten Lokal essen<br />
viele Lastfahrer aus den Minen. Oyunaa<br />
fühlt sich hier nicht richtig zu Hause. Sie<br />
stammt aus dem fernen Altai-Gebirge im<br />
Norden des Landes. Mehrere Jahre lebte<br />
sie in Ulan Bator, wo ihr Mann <strong>als</strong> Koch<br />
arbeitete. Als das Restaurant geschlossen<br />
wurde, bekam er ein Angebot aus seinem<br />
Heimatort Tsogt Tsetsi. „Er ist jetzt Koch<br />
bei einem Subkontraktor, der Sprengarbeiten<br />
in der Mine macht. Das Gehalt ist viel<br />
besser <strong>als</strong> in Ulan Bator.“ Als Bekannte ihres<br />
Mannes das Lokal „Erdene“ eröffneten,<br />
besorgte er Oyunaa den Job <strong>als</strong> Kellnerin.<br />
Ihre Zukunft sieht sie aber woanders: „Irgendwann,<br />
wenn wir genug Geld verdient<br />
haben, möchte ich wieder weg.“<br />
Tsogt Tsetsi ist ein Ort, der Chancen<br />
auf einen bescheidenen Wohlstand birgt.<br />
Das Gehalt der Minenarbeiter halten die<br />
Firmen geheim. Aber es heißt, dass sie etwa<br />
eine Million Tugrik im Monat bekommen<br />
– gut 600 Euro und damit viel mehr<br />
<strong>als</strong> in jedem anderen Arbeiterjob.<br />
Draußen bläst der Wind Staub über die<br />
leere Hauptstraße. Kinder rasen mit dem<br />
Fahrrad umher und hinein in die Lehmgassen,<br />
in denen sesshafte Nomaden ihre<br />
Jurten aufgebaut haben. Wer in der Mongolei<br />
ein Stück Land einzäunt, darf es behalten.<br />
Solche Jurtensiedlungen stehen in<br />
den Soums, den Aimag-Zentren und auch<br />
in Ulan Bator. Aufgebaut haben sie Nomaden,<br />
die im Zuud ihre Tiere verloren haben<br />
oder einfach in die Städte wollen.<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 67
| W e l t b ü h n e | B o d e n s c h ä t z e i m Ü b e r f l u s s<br />
Die Hauptstadt ist für viele der größte<br />
Traum. Dort leben mit 1,3 Millionen rund<br />
45 Prozent aller Mongolen. Ulan Bator<br />
wächst schnell, bislang ohne jeden Masterplan.<br />
Hier laufen junge Leute in modischen<br />
Klamotten herum, wie man sie<br />
in den Metropolen Chinas oder Koreas<br />
sieht, die Straßen sind verstopft, die Luft<br />
schlecht, überall drehen sich Baukräne. Es<br />
gibt Villen für Wohlhabende, ein Louis-<br />
Vuitton-Geschäft und Irish Pubs für die<br />
Ausländer, die in den Minen arbeiten. Vom<br />
Hügel Zaisan fällt der Blick auf ein Meer<br />
von Hochhäusern, dahinter Jurtensiedlungen,<br />
die sich im Norden der Stadt die Berghänge<br />
hochschieben.<br />
Doch der Blick wird immer mehr verstellt<br />
durch neue, schicke Apartmentblocks<br />
– die dort eigentlich gar nicht<br />
stehen dürfen: Das Areal ist Naturschutzgebiet.<br />
„Die Menschen, die dort wohnen,<br />
müssten laut Gesetz zumindest eine Strafe<br />
zahlen. Doch niemand kontrolliert sie“,<br />
schimpft Olzod Boum-Yalagch. Der Reiseunternehmer<br />
ist einer der führenden Politiker<br />
der mongolischen Grünen. Kritiker<br />
wie er befürchten, dass die Rohstoffe vor<br />
allem die Reichen noch reicher machen<br />
werden. „Die etablierten Parteien setzen<br />
beim Ausbau der Infrastruktur einseitig<br />
auf Großprojekte – etwa eine zentral gesteuerte<br />
Energieversorgung. In Ulan Bator<br />
wollen sie eine U-Bahn bauen, obwohl das<br />
teuer ist und lange dauert“, sagt Boum-Yalagch<br />
in fließendem Deutsch. „Denn bei<br />
Großprojekten bekommen die Politiker am<br />
meisten ab. Jedes Jahr werden Projekte über<br />
rund vier Milliarden Dollar ausgeschrieben,<br />
und niemand weiß, wie das Geld ausgegeben<br />
wird. Es gibt so viel Korruption!“ Die<br />
Grünen favorisieren eine dezentrale Versorgung<br />
oder eine preiswerte oberirdische<br />
Light-Rail für die Hauptstadt.<br />
Boum-Yalagch versteht sich <strong>als</strong> echter<br />
Grüner. Sein Reisebüro bietet auch Öko-<br />
Urlaub zum Mithelfen an, die Touristen<br />
können beispielsweise in einem Nationalpark<br />
Wildpferde zählen. Im Wahlkampf<br />
radelten Boum und seine Mitstreiter mit<br />
dem Fahrrad durch Ulan Bator. Die Grünen<br />
sind <strong>als</strong> Ökopartei lediglich gegen den<br />
Abbau von Uran und von Seltenen Erden.<br />
Grundsätzlich haben sie nichts gegen den<br />
Bergbau – solange er verantwortungsbewusst<br />
gehandhabt wird und die Reichtümer<br />
gerecht verteilt werden, auch zwischen<br />
den Generationen: „Wir fordern, dass eine<br />
„Bei Großprojekten<br />
bekommen die Politiker<br />
am meisten<br />
ab. Es gibt so viel<br />
Korruption!“<br />
Olzod Boum-Yalagch,<br />
Reiseunternehmer und<br />
führender Grünen-Politiker<br />
Stiftung gegründet wird, in die 10 Prozent<br />
aller Einnahmen aus den Bodenschätzen<br />
fließen – ähnlich wie in Norwegen. Das<br />
Geld soll für künftige Generationen oder<br />
soziale Projekte ausgegeben werden.“<br />
Immerhin beschloss das alte Parlament<br />
ein Gesetz, wonach Einnahmen aus<br />
dem Bergbau, die eine bestimmte Summe<br />
übersteigen, in einen Sonderfonds fließen<br />
müssen. Zwei Drittel der ersten, 2011 in<br />
den Fonds geflossenen Gelder wurden in<br />
diesem Jahr an die Bürger ausgeschüttet.<br />
Die Viehzüchterin Enkhjargal etwa erhielt<br />
300 000 Tugrik, gut 180 Euro. Nächstes<br />
Jahr soll das Geld zweckgebunden verwendet<br />
werden. Außerdem winkten die Abgeordneten<br />
kurz vor den Wahlen ein neues<br />
Umweltgesetz durch, welches das Verursacherprinzip<br />
stärkt und die Umweltverträglichkeitsprüfungen<br />
strenger macht.<br />
Unklar ist noch, wie die Regierung mit<br />
illegalen Rohstoffschürfern umgehen wird,<br />
die vor allem auf der Suche nach Gold<br />
ganze Landstriche mit Bohrlöchern überzogen<br />
haben. Die Mongolen nennen sie<br />
„Ninjas“, weil sie grüne Metallschüsseln<br />
auf dem Rücken tragen und damit aussehen<br />
wie die Cartoonfiguren „Ninja Turtles“.<br />
Es gibt keine verlässlichen Zahlen, wie viele<br />
Ninjas es gibt – aber es sind wohl Tausende.<br />
Die Regierung wolle die Ninjas schrittweise<br />
legalisieren, sagt Ts. Odkhuu, der das unabhängige<br />
„Geology Mining Information<br />
Center“ leitet. Denkbar wären etwa Verträge<br />
der Ninjas mit Lokalregierungen.<br />
Ts. Odkhuu hat die kleine Organisation<br />
gegründet, um potenziellen Investoren<br />
zu helfen, Licht in den intransparenten<br />
Dschungel der Bergbaulizenzen zu bringen.<br />
„Es gibt so viele Gerüchte in dem Sektor“,<br />
sagt der 39-jährige Software-Ingenieur, der<br />
zuvor im Auftrag der Weltbank das erste<br />
elektronische Minenkataster des Landes<br />
aufgebaut hat. Mit ein paar Mitarbeitern<br />
berät er nun von seinem Zwei-Zimmer-<br />
Büro aus Investoren – vor allem jene aus<br />
dem Ausland, die oft ziemlich ratlos seien.<br />
„Die Anbieter von Erkundungslizenzen erzählen<br />
ihnen, wie toll ihr Schürfgebiet ist,<br />
in dem sie angeblich seit Jahren erfolgreich<br />
graben. Aber in Wirklichkeit haben<br />
sie dort nie irgendetwas gemacht.“ Die nötigen<br />
Dokumente seien oft gefälscht, was<br />
für Neulinge nicht erkennbar sei. Manche<br />
Lizenzen dienten allein dem Handel. „Vor<br />
allem viele Chinesen verkaufen Lizenzen<br />
untereinander immer weiter; diese Lizenzen<br />
drehen sich im Kreis, und keiner weiß<br />
mehr genau, was vor Ort eigentlich vor sich<br />
geht.“ In dem geplanten Bergbaugesetz sollen<br />
Erkundungslizenzen daher ein Verfallsdatum<br />
bekommen: Wer nicht schürft oder<br />
nichts findet, verliert nach neun Jahren die<br />
Lizenz. „Vor allem die Besitzer von Goldlizenzen<br />
gingen früher los, holten das Gold<br />
aus der Erde und ließen dann die Gegend<br />
völlig verwüstet zurück.“ Schwarze Schafe<br />
gebe es eben überall. Seine Organisation<br />
versuche Investoren klarzumachen, dass<br />
sie sich verantwortungsbewusst verhalten<br />
müssten. Insbesondere, solange es noch<br />
keine eindeutigen Gesetze gibt.<br />
In Tawan Tolgoi und Oyu Tolgoi muss<br />
die Regierung zeigen, wie entschlossen sie<br />
ihre Regeln durchsetzt. Bei Energy Resources<br />
stehen am Rand der Grube bereits ein<br />
Kraftwerk und eine Anlage zur Kohlewaschung,<br />
umhüllt von schwarzen Schwaden.<br />
Erdenes Tawan Tolgoi plane ebenfalls solche<br />
Anlagen sowie eine Kokerei, sagt Minenmanager<br />
Natsagdash. Die Mine werde<br />
künftig kein oberflächennahes Grundwasser<br />
mehr nutzen, das für Nomaden und<br />
das Ökosystem wichtig ist. Das Unternehmen<br />
baue derzeit eine Leitung zu einer tiefen<br />
Wasserschicht in 70 Kilometern Entfernung.<br />
Alles Wasser solle dann auch recycelt<br />
werden. Wirklich sauber ist Bergbau nie.<br />
Aber mit Geld und Technik lassen sich die<br />
schlimmsten Auswüchse vermeiden.<br />
Christiane Kühl<br />
lebt seit 2000 in China und<br />
erkundet von Peking aus <strong>als</strong><br />
freie Korrespondentin das<br />
Riesenland<br />
Fotos: Mareike Günsche, privat (Autorin)<br />
68 <strong>Cicero</strong> 7.2012
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| W e l t b ü h n e | C h i n a s K o m m u n i s t e n<br />
Die Partei hat immer recht<br />
Die jüngsten Skandale um hochrangige chinesische Politiker werfen ein neues Licht<br />
auf die Verknüpfungen von Partei und Staat. Wie funktioniert eigentlich das politische<br />
System der Volksrepublik China? Und welche Rolle spielt der Parteikongress im Herbst?<br />
von Oliver radtke<br />
D<br />
ie Flucht des Chongqinger<br />
Polizeichefs Wang Lijun ins<br />
amerikanische Konsulat von<br />
Chengdu, die Absetzung des<br />
Chongqinger Parteisekretärs<br />
und Polit-Shooting-Stars Bo Xilai, die Anklage<br />
wegen Mordes gegen dessen Frau Gu<br />
Kailai – drei Ereignisse dieses Frühlings, die<br />
Chinas politisches Establishment erschüttert<br />
haben wie kaum ein anderer Vorfall<br />
seit den blutig niedergeschlagenen Studentenprotesten<br />
am Tiananmen-Platz im<br />
Juni 1989.<br />
Die Brisanz liegt weniger in den einzelnen<br />
Verbrechen, sie liegt im Imageschaden<br />
für eine Partei, die auch 60 Jahre nach<br />
der Machtübernahme den alleinigen Führungsanspruch<br />
für sich erhebt. Die Kommunistische<br />
Partei Chinas fürchtet nichts<br />
mehr <strong>als</strong> offen zur Schau getragenen Dissens.<br />
Die für diesen Herbst sorgfältig geplante<br />
Machtübergabe an die „Fünfte Generation“<br />
wird nun, wenn überhaupt, nur<br />
nach harten hektischen Wochen innerparteilicher<br />
Auseinandersetzungen ordentlich<br />
über die Bühne gehen können. Der<br />
Rauswurf Bos aus dem Politbüro besiegelte<br />
nicht nur das Ende seiner politischen<br />
Karriere, er erlaubte zudem für einen Moment<br />
einen Blick hinter den Vorhang auf<br />
einen intensiv ausgetragenen Flügelkampf<br />
innerhalb der Partei.<br />
Gerüchte wechseln zurzeit täglich. Mal<br />
ist von einer Verschiebung des Parteitags<br />
um mehrere Wochen die Rede, mal heißt<br />
es, Premierminister Wen Jiabao habe bereits<br />
seinen Rücktritt angeboten. Bestätigt<br />
ist davon nichts. Die Flügelkämpfe zwischen<br />
den Reformern um Premier Wen Jiabao<br />
und nationalistischen Linken um Bo<br />
haben ein altes und heute umso drängenderes<br />
Problem offensichtlich werden lassen:<br />
das zunehmende Ungleichgewicht<br />
Durchchoreografierte Eintracht – der Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas<br />
zwischen wirtschaftlicher Entwicklung<br />
und politischer Reform.<br />
Offiziell ist die Volksrepublik China<br />
kein Ein-Parteien-Staat. Tatsächlich gibt<br />
es acht weitere Parteien, darunter die Zhi-<br />
Gong-Partei Chinas, deren Vorsitzender<br />
Wan Gang, der derzeitige Minister für<br />
Wissenschaft und Technik, der erste Nicht-<br />
KP-Minister seit den 50er Jahren ist. Unter<br />
der Führung der Kommunistischen<br />
Partei Chinas sind diese acht Parteien (neben<br />
der Zhi-Gong-Partei Chinas das Revolutionskomitee<br />
der Kuomintang Chinas,<br />
die Chinesische Demokratische Liga, die<br />
Chinesische Gesellschaft für den Demokratischen<br />
Nationalen Aufbau, die Chinesische<br />
Gesellschaft für die Förderung der<br />
Demokratie, die Chinesische Demokratische<br />
Partei der Bauern und Arbeiter, die<br />
Gesellschaft des 3. September und die Demokratische<br />
Selbstbestimmungsliga Taiwans)<br />
zu einer Einheitsfront zusammengefasst,<br />
ähnlich der Nationalen Front in<br />
der ehemaligen DDR. De facto hat aber<br />
nur die Kommunistische Partei politischen<br />
Einfluss.<br />
Die wichtigsten Institutionen der Partei<br />
sind das Zentralkomitee, das Politbüro und<br />
der Ständige Ausschuss des Politbüros. Das<br />
Zentralkomitee mit rund 200 Mitgliedern<br />
tritt ein bis zwei Mal pro Jahr zu einer Sitzung<br />
zusammen und besteht aus den Entscheidungsträgern<br />
aus Partei, Staat und Armee.<br />
Das Politbüro der Kommunistischen<br />
Partei hat zurzeit 24 Mitglieder, ein Drittel<br />
davon ehemalige oder amtierende Provinzparteisekretäre.<br />
Die Volksbefreiungsarmee<br />
ist durch zwei Generäle vertreten. Der<br />
Ständige Ausschuss des Politbüros mit heute<br />
neun Mitgliedern ist das Herzstück der<br />
Macht und setzt sich aus den wichtigsten,<br />
in Peking wohnenden Parteiführern zusammen.<br />
An der Spitze des Ständigen Ausschusses<br />
steht der Gener<strong>als</strong>ekretär der Kommunistischen<br />
Partei, seit 2002 Hu Jintao.<br />
Die Arbeit der nationalen Regierung<br />
wird vom Ministerpräsidenten des<br />
Staatsrats geleitet, aktuell Wen Jiabao, im<br />
Foto: Color China Photo/DDP Images/AP Images<br />
70 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Foto: privat (Autor)<br />
Volksmund „Onkel Wen“ genannt. Die<br />
Kandidaten für Ministerposten werden in<br />
geheimen Sitzungen von der Führungsspitze<br />
der Partei benannt, der Nationale<br />
Volkskongress stimmt der Ernennung lediglich<br />
zu. Die Entscheidungen werden in<br />
geheimen Sitzungen im Diaoyutai State<br />
Guesthouse, der ehemaligen Residenz von<br />
Maos Frau Jiang Qing im Nordwesten Pekings<br />
getroffen.<br />
Die Verknüpfung von Partei und Staat<br />
ist eng. Die Macht des 1,3-Milliarden-Volkes<br />
konzentriert sich in den Händen weniger,<br />
und das Fehlen einer Gewaltenteilung<br />
zeigt sich daran, dass zu den Mitgliedern<br />
des Ständigen Ausschusses des Politbüros<br />
neben dem Gener<strong>als</strong>ekretär der Partei jeweils<br />
auch der Staatspräsident, der Regierungschef<br />
und der Parlamentspräsident<br />
gehören. Hu Jintao vereinigt die höchsten<br />
Ämter in Staat, Partei und Armee auf<br />
sich: Er ist der Gener<strong>als</strong>ekretär der Kommunistischen<br />
Partei Chinas, der Staatspräsident<br />
der Volksrepublik China und der<br />
Vorsitzende der Zentralen Militärkommission.<br />
Angesichts dessen ist eine geordnete<br />
Übergabe der Macht an den designierten<br />
Nachfolger Xi Jinping von höchstem Interesse<br />
für Staat und Partei. Wie im Falle<br />
der Amtsübergabe von Jiang Zemin an Hu<br />
wird auch der amtierende Gener<strong>als</strong>ekretär<br />
seine Macht schrittweise abgeben, zunächst<br />
<strong>als</strong> Gener<strong>als</strong>ekretär der Kommunistischen<br />
Partei, dann <strong>als</strong> Staatspräsident und<br />
zum Schluss <strong>als</strong> Vorsitzender der Zentralen<br />
Militärkommission.<br />
Die Kommunistische Partei Chinas ist<br />
91 Jahre alt und seit mehr <strong>als</strong> sechs Jahrzehnten<br />
Regierungspartei. Vor dem Hintergrund<br />
zahlreicher politischer und wirtschaftlicher<br />
Katastrophen mag diese lange<br />
Regierungszeit überraschen. Sie erklärt sich<br />
aber vor allem durch eine wirtschaftliche<br />
Erfolgsgeschichte und außenpolitische Stabilität<br />
sowie durch den Mangel an politischen<br />
Alternativen.<br />
Das Geheimnis ihrer Effizienz liegt<br />
in der zentralistisch-leninistischen Parteistruktur:<br />
Jede Gemeinde, jeder Staatsbetrieb,<br />
jede Stadtregierung ist mit einem<br />
Parteisekretär besetzt, der die eigentliche<br />
Macht hat. Selbst auf Dorfebene gibt es<br />
eine Parteizelle mit weitreichenden Befugnissen.<br />
Ohne die Entscheidung der Partei<br />
wird keine Investition getätigt, keine<br />
Schule gebaut, keine Expo veranstaltet.<br />
Die symbiotische Beziehung zwischen<br />
Partei und Staat kommt auch in der Verwendung<br />
des Begriffspaars dang he guojia<br />
lingdaoren („Partei- und Staatsführer“, in<br />
dieser Reihenfolge) in allen offiziellen Ansprachen<br />
zum Ausdruck. Das Lenin’sche<br />
Orchester einer offiziellen Regierung wird<br />
von einem fein verästelten, vielfach im<br />
Geheimen operierenden Parteinetzwerk<br />
getragen. Nicht nur auf der Pekinger Parteihochschule<br />
und ihren rund 2800 Ausbildungsstätten,<br />
sondern auch in unzähligen<br />
study sessions am Arbeitsplatz wird eine gemeinsame<br />
Auslegung des Marxismus und<br />
Leninismus sichergestellt.<br />
Die Partei sitzt in Aufsichtsräten vermeintlich<br />
rein marktwirtschaftlich agierender<br />
Staatsbetriebe, sie ist in den wichtigsten<br />
Thinktanks vertreten, in den Entscheidungskommissionen<br />
am Gericht (shengwei), den<br />
Medien, allen offiziell anerkannten Religionen,<br />
Universitäten und NGOs. Fast alle Regierungsmitglieder<br />
besitzen einen Parteiausweis,<br />
jedoch sitzen nicht alle hochrangigen<br />
Parteimitglieder in der Regierung. Sie arbeiten<br />
stattdessen für Abteilungen der Partei,<br />
die mitunter mehr Macht haben <strong>als</strong> die einzelnen<br />
Regierungsministerien, allen voran<br />
die Abteilungen für Organisation (zuständig<br />
für Ernennungen), Propaganda (Nachrichten)<br />
und die Disziplinkontrollkommission.<br />
Wie weit die Machtbefugnisse Letzterer reichen,<br />
macht auch der Fall des abgesetzten<br />
Parteichefs von Chongqing, Bo Xilai, deutlich.<br />
Straffällig gewordene Parteikader werden<br />
zunächst von der Kontrollkommission<br />
befragt, bevor sie einem Zivilgericht überstellt<br />
werden. Die Befragung dauert, wenn<br />
nötig, monatelang, ohne dass es zu einem<br />
rechtlichen Verfahren kommt (shuanggui).<br />
Das Strafmaß wird dem Gericht übermittelt<br />
oder durch das obligatorische Parteimitglied<br />
im Richterausschuss maßgeblich<br />
mitbestimmt.<br />
Zwar tritt Hu im Ausland immer nur<br />
<strong>als</strong> Staatspräsident auf und nie <strong>als</strong> Gener<strong>als</strong>ekretär<br />
der Partei, die eigentliche Macht<br />
vertritt er jedoch durch seine Parteifunktion.<br />
Die Personalunion und jahrzehntelang<br />
hinausgeschobene politische Reformen<br />
machen die aktuelle Situation um<br />
eine geordnete Nachfolge umso heikler.<br />
Peking ist um Ordnung bemüht. Politisch<br />
wie wirtschaftlich. Und auch die Loyalität<br />
der Armee gilt nach dem Gesetz ausdrücklich<br />
der Parteiführung, nicht der Verfassung<br />
oder der Regierung, sichergestellt<br />
durch die Personalunion des Gener<strong>als</strong>ekretärs,<br />
der gleichzeitig Vorsitzender der Zentralen<br />
Militärkommission ist.<br />
Wie nervös die Machthaber sind, wie<br />
wenig Vertrauen zwischen Staat und Volk<br />
vorhanden ist, macht nicht nur das Katzund-Maus-Spiel<br />
der chinesischen Mikroblogs<br />
deutlich, das nach der Verhaftung<br />
Bo Xilais eingesetzt hat. So wurde Anfang<br />
April die Kommentarfunktion des Systems<br />
kurzerhand für drei Tage gesperrt, seit neuestem<br />
müssen sich alle User mit ihrem echten<br />
Namen registrieren, in Kürze wird ein<br />
Punktekonto eingerichtet, eine Art Flensburger<br />
Kartei für Gerüchteschreiber. Für<br />
jedes verbreitete Gerücht gibt es Punktabzug<br />
bis hin zur Sperrung des Accounts.<br />
Der Skandal um Bo Xilai hat aber noch<br />
ein gänzlich anderes Problem in den Fokus<br />
gerückt: das mangelnde Vertrauen der<br />
Kader in die eigene Regierung. Neueste<br />
Zahlen belegen, dass rund 90 Prozent aller<br />
hochrangigen Parteikader Familie im<br />
Ausland haben und über persönliche Kanäle<br />
seit Jahren milliardenschwere Vermögen<br />
verschieben. Wie steht es angesichts<br />
wöchentlich neuer Enthüllungen um das<br />
Vertrauen der „Prinzlinge“ (ambitionierter<br />
Nachwuchs der unantastbaren Parteigranden)<br />
und der restlichen Polit- und Wirtschaftselite<br />
in ihr eigenes System?<br />
Kein Wunder, dass die Hauptstadt vor<br />
jedem Parteitag und vor jeder Sitzung des<br />
Nationalen Volkskongresses einem Hochsicherheitstrakt<br />
gleicht. Zusätzliche in die<br />
Stadt beorderte Polizei- und Militäreinheiten,<br />
die ganze Straßenzüge absperren, wirken<br />
wie ein Relikt aus der Zeit nach 1989.<br />
Während der Gründungsort der Kommunistischen<br />
Partei in Schanghais Xintiandi,<br />
längst eingerahmt von den Global Playern<br />
westlicher Freizeitindustrie, zu einem musealen<br />
Happening geworden ist, zieht sich<br />
die Regierung in Peking ironiefrei hinter<br />
historisches Gemäuer neben der Verbotenen<br />
Stadt zurück. Was dort wie verhandelt<br />
wird, bleibt bis zum Parteikongress<br />
im Herbst unklar. Sicher ist nur: Die tatsächlich<br />
roten Telefone der chinesischen<br />
Macht elite werden in den nächsten Wochen<br />
häufiger klingeln <strong>als</strong> sonst.<br />
Oliver Radtke leitet das<br />
China-Programm der Robert-<br />
Bosch-Stiftung. Von ihm erschien<br />
„50 Mal Mund auf in China –<br />
was man gegessen haben muss“<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 71
| W e l t b ü h n e | K o m m e n t a r<br />
Mehr Europa<br />
braucht das Land<br />
Auf François Hollande warten die<br />
Niederungen der Realpolitik<br />
Von Alfred Grosser<br />
D<br />
IE WahlEN in Griechenland haben alles in den Schatten<br />
gestellt. Auch die Parlamentswahlen in Frankreich.<br />
Doch deren Ausgang hat nicht nur Konsequenzen<br />
für die Franzosen, sondern auch für die deutsch-französischen<br />
Beziehungen und nicht zuletzt für Europa.<br />
Noch nie sind so viele Wähler zu Hause geblieben und haben<br />
sich geweigert, für einen Kandidaten zur Assemblée nationale<br />
zu stimmen. Einer der Gründe für 43,7 Prozent Nichtwähler<br />
war der Rechtsruck der Sarkozy-Partei UMP, den sie nicht bereit<br />
waren, mit ihrer Stimme abzusegnen. Und jene, die doch zur<br />
Wahl gingen, entschieden sich für einen gemäßigten Sozialisten<br />
und nicht für einen Kandidaten der extremen Linken von Jean-<br />
Luc Mélenchon, der selbst den Einzug in die Nationalversammlung<br />
verpasste. François Hollande und sein Premier Jean-Marc<br />
Ayrault dürften erleichtert sein, und sei es nur, weil Mélenchon<br />
ein hervorragender Redner ist; man stelle sich die Linke-Bundestagsfraktion<br />
ohne Gregor Gysi vor! Hollande wird nicht länger,<br />
wie noch während der Präsidentenwahl, das Thema Europa<br />
kleinhalten müssen, aus Furcht, der antieuropäischen Demagogie<br />
Mélenchons Nahrung zu geben. Nun kann er mit einer komfortablen<br />
absoluten Mehrheit seiner Partei von 314 Sitzen – wie<br />
sie noch kein französischer Staatschef zuvor hatte – regieren.<br />
So einfach, wie es auf den ersten Blick scheint, wird das aber<br />
nicht werden. Innerhalb der breit gefächerten Fraktion der französischen<br />
Sozialisten wird es manche Spannungen und Kämpfe<br />
geben – spätestens, wenn die Europapolitik wieder auf der Tagesordnung<br />
steht und es um den Zwang zu sparen geht.<br />
Nicolas Sarkozy wurde vorgeworfen, sich groß aufzuspielen,<br />
letztendlich aber stets Angela Merkel nachzugeben. François<br />
Hollande ist ruhiger und besonnener <strong>als</strong> sein Vorgänger, und er<br />
hat klarere Ziele. Mit der SPD kommt er gut aus. Die Kontakte<br />
bestanden schon lange, und dass ihn jüngst das Dreiergespann<br />
Gabriel, Steinbrück, Steinmeier in Paris besuchte, hat damit zu<br />
tun, dass andernfalls jeder allein Punkte für die Kanzlerkandidatur<br />
gesammelt hätte. Mit der Kanzlerin verhandelt Hollande<br />
jedenfalls nicht <strong>als</strong> Sozialist oder Sozialdemokrat, sondern <strong>als</strong><br />
Staatsoberhaupt, das in der Fünften Republik die Außenpolitik<br />
bestimmt.<br />
Angela Merkel steht da, <strong>als</strong> gebe es nur eine Lösung der Finanzkrise:<br />
sparen und einschränken. Dabei muss sie an die<br />
Bundestagswahl 2013 denken und an die Millionen deutscher<br />
Wähler, die in ihrer Euroskepsis nicht länger hinnehmen wollen,<br />
dass die Bundesrepublik immer mehr Summen garantiert,<br />
die zusammengenommen bald einem deutschen Gesamthaushalt<br />
entsprechen. Das vergessen die Franzosen gerne und erliegen<br />
allzu oft der Versuchung, in Anlehnung an den Versailler<br />
Vertrag von 1919 zu glauben: „L’ Allemagne paiera“ – „Deutschland<br />
wird zahlen.“ Die Kanzlerin wiederum scheint nur langsam<br />
einzusehen, dass ein Land sich auch zu Tode sparen kann.<br />
Wie kann man Schulden abtragen, wenn man nicht mehr die<br />
Möglichkeit hat, das notwendige Geld zu erarbeiten, weil nichts<br />
mehr da ist, um zu investieren?<br />
Da kommt nun ein durch die Parlamentswahl gestärkter<br />
französischer Präsident, der nicht länger fordert, der EU‐Fiskalpakt<br />
müsse umgeschrieben werden, sondern eine Ergänzung<br />
(was inzwischen auch die Opposition in Berlin verlangt) erzwingen<br />
will. Aber wie soll diese aussehen? Von Eurobonds ist immer<br />
weniger die Rede. Hollande hat wohl eingesehen, dass die<br />
Bundesrepublik nicht alle Schulden bezahlen kann, die eine andere<br />
Regierung regelwidrig und fahrlässig macht. Jene Karikatur<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
72 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Foto: Picture Alliance (Autor)<br />
ist überholt, die Hollande in der Siegerpose eines Filmhelden<br />
zeigt mit einem flehenden Europa zu seinen Füßen: Er stellt<br />
sich vor: „Bond. Eurobond“. Wenn es nach Hollande geht, soll<br />
es besondere Europabonds geben: nicht zur Schuldentilgung,<br />
sondern für gemeinsame Investitionen. Die Summen, von denen<br />
in seinem kürzlich an alle Regierungen der Eurozone verschickten<br />
Dokument die Rede ist, sind zwar ziemlich gering,<br />
aber Hollande ist davon überzeugt, sie würden der Wirtschaft<br />
neuen Antrieb verleihen. Ein Kompromiss ist durchaus denkbar,<br />
sodass die Kanzlerin und der Präsident gemeinsam den anderen<br />
Regierungen begegnen könnten.<br />
Zeichnet sich wieder ein funktionierender deutsch-französischer<br />
Motor für Europa ab? Das wäre zu begrüßen. Voraussetzung<br />
wäre jedoch, dass Frankreich spart, Neuverschuldungen<br />
vermeidet und bestehende Schulden zurückzahlt. Die Kanzlerin<br />
hat zu Recht Zweifel an der Umsetzung einer solchen Politik,<br />
steht Hollande doch unter dem Druck, seine Wahlversprechen<br />
einlösen zu müssen. Der Präsident begegnet den Zweifeln mit<br />
dem Hinweis, dass die meisten seiner Landsleute wüssten, dass<br />
Frankreich von der Krise betroffen und nicht viel zu erwarten<br />
sei. Außer eines: mehr Gerechtigkeit. So wird es für Vorstände<br />
staatlicher Unternehmen eine Gehaltsobergrenze geben: Sie werden<br />
höchstens das 20-Fache des Mindestlohns in einem Betrieb<br />
verdienen. Auch an den Schulen in den benachteiligten Vorstädten<br />
will Hollande mehr Gerechtigkeit schaffen und etwa die Hilfen<br />
an Familien zum Schuljahresbeginn um 25 Prozent erhöhen.<br />
Bezahlt werden soll das Ganze durch eine Spitzensteuer von<br />
75 Prozent auf Einkommen von mehr <strong>als</strong> einer Million Euro.<br />
Ob das zur Finanzierung ausreichen wird, darf bezweifelt werden.<br />
Wahrscheinlicher ist, dass alle Einschränkungen hinnehmen<br />
werden müssen, was im Widerspruch zu Hollandes Wahlversprechen<br />
stünde.<br />
Die größten Herausforderungen für Frankreich wie Deutschland<br />
warten aber ganz woanders. Selbst Eurobonds wären in<br />
Berlin wohl akzeptabel, wenn es denn eine gemeinsame Kontrolle<br />
mit einer echten Bestrafung der Sünder gäbe. Das aber<br />
würde voraussetzen, dass eine gemeinsame Autorität existiert,<br />
die die nationalen Haushalte mitbestimmen darf. Die Kanzlerin<br />
hat recht, mehr Europa zu verlangen. In Frankreich aber ist das<br />
Wort „Föderalismus“ weitgehend verpönt. Wird Hollande dennoch<br />
in diese Richtung gehen können? Wenn ja, werden er und<br />
die Kanzlerin einsehen müssen, dass mit „mehr Europa“ eine<br />
Aufwertung der bestehenden Institutionen einhergehen muss,<br />
mit tatkräftigeren Männern oder Frauen an der Spitze von Kommission<br />
und Rat – und mit echter Anerkennung der Legitimität<br />
und der schon geleisteten Arbeit des Europaparlaments.<br />
Alfred Grosser<br />
versteht sich <strong>als</strong> „Mittler zwischen Franzosen und<br />
Deutschen“. Von dem deutsch-französischen Publizisten,<br />
Soziologen und Politikwissenschaftler erschien: „Wie anders<br />
ist Frankreich?“<br />
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Marks Mom<br />
Roadshow, Teil II: Nach Facebooks verpatztem Börsengang startet Sheryl Sandberg eine Charme-Offensive<br />
von Anna von Münchhausen<br />
A<br />
Ls sie ans Rednerpult tritt,<br />
ruhen tausend Augenpaare auf<br />
der Frau im blauen Etuikleid.<br />
Selbst der Wind, der eben noch in den<br />
alten Ahornbäumen neben der Freilichtbühne<br />
raschelte, hat sich gelegt. Spannung<br />
liegt in der Luft: Jetzt muss Sheryl Sandberg,<br />
die Nummer zwei bei Facebook, in<br />
ihrer Festansprache an der Harvard Business<br />
School Farbe bekennen. Wird sie eine<br />
Erklärung finden, warum der Aktienkurs<br />
seit dem umjubelten Börsengang auf unter<br />
28 Dollar gerutscht ist? Wird sie erklären,<br />
warum das soziale Netzwerk die Daten<br />
seiner Nutzer so lange speichern will,<br />
wie es das für „notwendig“ hält? Mit einem<br />
Scherz beiseitewischen, dass ihr Chef, der<br />
milliardenschwere Netzwerkgründer Mark<br />
Zuckerberg, in einem römischen Restaurant<br />
kein Trinkgeld gegeben hat, worüber<br />
gerade ganz Amerika spottet?<br />
Von wegen. Die 42‐Jährige setzt auf<br />
charmante Ablenkung. Einmal den dunklen<br />
Lockenschopf nach rechts, einmal nach<br />
links gestrudelt, ein flirtender Augenaufschlag<br />
– und dann die Überraschung: Sie<br />
klatscht einfach los.<br />
Bis in die hintersten Reihen trägt das<br />
Mikrofon das Stakkato – ihren Beifall für<br />
die „stolzen Eltern“ der 900 frisch gebackenen<br />
Master. In den folgenden 22 Minuten<br />
spricht sie <strong>als</strong> Coach und Ratgeberin zu<br />
den Absolventen und macht ihnen Beine.<br />
Eine Karriere sei nämlich keinesfalls<br />
eine Leiter, sondern eher eine Art Fitnessstudio:<br />
„Da geht es mal runter, mal hinauf,<br />
mal seitwärts. Bleibt in Bewegung und<br />
schaut euch um, wo sich etwas tut!“ Und:<br />
„Wenn euch ein Platz in einer Rakete angeboten<br />
wird, fragt nicht lange, welcher Platz<br />
für euch vorgesehen ist. Steigt ein.“<br />
Wer ist diese Frau, für die es immer<br />
nach oben ging, egal wo sie einstieg? Vom<br />
Posten der Stabschefin des US‐Finanzministers<br />
Larry Summers wechselte sie zu<br />
Google. Als ihr dort nach dem erfolgreichen<br />
Börsengang der Hechtsprung durch<br />
„Sie will sich wirklich die Hände<br />
schmutzig machen und arbeiten“<br />
Facebook-Gründer Mark Zuckerberg über Sheryl Sandberg<br />
die gläserne Decke in den Vorstand verwehrt<br />
wurde, erlag sie Zuckerbergs Werben.<br />
Bist du des Wahnsinns, fragten ihre<br />
Freunde, bei diesem Nerd anzuheuern?<br />
Rasch erkannte sie, woran es bei dem Startup<br />
hakte: an einer plausiblen Geschäftsidee<br />
und einer intelligenten Werbestrategie. Um<br />
das zu ändern, lotste sie etliche Google-<br />
Mitstreiter nach Palo Alto.<br />
Dass sie kühle Professionalität mit einer<br />
Kuvertüre von Emotionalität versieht,<br />
hat ihr den Titel „Facebook’s Mom“ eingetragen.<br />
Sie gibt die ideale Komplementärfigur<br />
zu ihrem Chef ab. Wenn es draußen<br />
um Überzeugungsarbeit geht, bleibt Zuckerberg<br />
im Hintergrund und schickt die<br />
Mama, die ihm abnimmt, wozu er weder<br />
Lust noch Talent besitzt: Marketing, Personalentwicklung<br />
und alles, was mit Politik<br />
zu tun hat. Dass Facebook bei einem Umsatz<br />
von 3,7 Milliarden Dollar 2011 einen<br />
Gewinn von einer Milliarde einstreichen<br />
konnte, ist auch ihr zu verdanken. „Das<br />
Besondere an Sheryl ist“, lobt ihr Boss,<br />
„dass sie sich wirklich die Hände schmutzig<br />
machen und arbeiten will, statt ständig<br />
im Vordergrund zu stehen.“<br />
Aber im Hintergrund hält es sie auch<br />
nie lange. Mit einer Mischung aus Genugtuung<br />
und Koketterie verweist sie darauf,<br />
dass sie im Job ständig mit Menschen umgehe,<br />
die „viel jünger und cooler sind <strong>als</strong><br />
ich“. Wenn die eine neue Anwendung testen,<br />
wird sie herangewunken: „Hey Sheryl,<br />
komm doch mal eben – wir müssen testen,<br />
wie dieses neue Facebook-Feature bei älteren<br />
Leuten ankommt …“<br />
Auch das Unternehmen hat inzwischen<br />
seine Coolness verloren. Analysten schreiben,<br />
die Nutzer verbrächten weniger Zeit<br />
auf der Seite, die Werbung habe weniger<br />
Erfolg <strong>als</strong> behauptet, und das Wachstum<br />
verlangsame sich.<br />
Unbeeindruckt davon: Sheryl Sandberg,<br />
Role Model, Außenministerin, Netzwerk-Queen.<br />
2012 hat sie noch einmal Gas<br />
gegeben. Kaum ein Tag ohne Medienauftritt:<br />
World Economic Forum in Davos.<br />
Ein Dinner für Sponsoren von Obamas<br />
Wahlkampf. Und ABC News ernannte sie<br />
gerade zu einer der „most powerful moms“.<br />
Frauen, gebt Gas, macht Karriere, lasst<br />
euch nicht entmutigen! Ihr ständiges Petitum.<br />
So häufig, dass mancher schon die<br />
Augen verdreht, wenn Sandberg darauf zu<br />
sprechen kommt. Als sie kürzlich in einem<br />
Interview erklärte: „Ich gehe abends um<br />
halb sechs nach Hause, um mit den Kindern<br />
zu Abend zu essen“, bemerkte eine<br />
Freundin: „Hättest du jemanden mit der<br />
Axt erschlagen, wäre das Echo kaum größer<br />
gewesen.“<br />
Anna von Münchhausen<br />
ist Textchefin bei der Zeit<br />
Fotos: Eric Millette, Helmut Fricke (Autorin)<br />
74 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Sheryl Sandberg,<br />
Vize-Chefin<br />
bei Facebook,<br />
versieht kühle<br />
Professionalität<br />
gerne mit etwas<br />
Emotionalität<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 75
| K a p i t a l<br />
Für den guten Ton<br />
In Ostwestfalen produziert Archibald Schulze-Cleven eines der wichtigsten Accessoires der Medienwelt<br />
von Christoph Hus<br />
D<br />
er Mitarbeiter der UEFA, der Ende<br />
Mai im ostwestfälischen Brakel<br />
anrief, hatte es eilig. Bis zum Beginn<br />
der Fußball-Europameisterschaft waren<br />
gerade mal zwei Wochen Zeit, doch<br />
der europäische Fußballverband hatte noch<br />
keinen Windschutz im Design der Meisterschaft<br />
bestellt, die Fernsehreporter beim<br />
Einsatz am Rande des Spielfelds auf ihre<br />
Mikrofone stecken müssen. Der Mittelständler<br />
Schulze-Brakel, Spezialist für die<br />
Produktion von Mikrofon-Windschützen<br />
aus Schaumstoff, sollte helfen. Und er half:<br />
In aller Eile entwarfen dessen Mitarbeiter<br />
Muster für die Uefa. Der Verband entschied<br />
sich für ein blaubeerfarbenes Modell,<br />
das das Logo der Meisterschaft ziert,<br />
und bestellte 300 Stück. „Fünf Tage vor<br />
dem Eröffnungsspiel haben wir die ersten<br />
Windschütze in Warschau angeliefert“, sagt<br />
Unternehmer Archibald Schulze-Cleven.<br />
Schon beim Eröffnungsspiel konnte er sich<br />
seine Überzieher im Fernsehen anschauen.<br />
Für Schulze-Cleven kein besonderer<br />
Anblick. Die bunten Schaumstofferzeugnisse,<br />
die das kleine Unternehmen in einem<br />
unscheinbaren Fünfziger-Jahre-Gebäude<br />
mitten in der ostwestfälischen Provinz herstellt,<br />
sind in aller Welt im Einsatz. Reporter<br />
von ARD und ZDF halten sie genauso<br />
in die Kamera wie Fernsehjournalisten der<br />
US‐Sender NBC und Fox, des indischen<br />
Kan<strong>als</strong> India TV und des Golfstaaten-Senders<br />
Star TV. Sie alle vertrauen darauf, dass<br />
der Schaumstoff aus Ostwestfalen nicht<br />
nur das Sender-Logo auf dem Bildschirm<br />
in Szene setzt, sondern auch unerwünschte<br />
Wind- und Ploppgeräusche unterdrückt.<br />
Neben großen TV‐Stationen schmücken<br />
allerlei kleinere Kunden ihre Mikrofone<br />
mit dem Schaumstoff aus Brakel, darunter<br />
Radio Vatikan und die Universität des<br />
Saarlands. „Manchmal wundere ich mich<br />
selbst ein wenig, wer alles bei uns bestellt“,<br />
sagt Unternehmer Schulze-Cleven.<br />
Der Firmenchef hat sich in seiner Marktnische<br />
einen erstklassigen Ruf erarbeitet.<br />
Seit zehn Jahren konzentriert sich Schulze-<br />
Cleven voll auf die Produktion von Mikrofon-Windschützen.<br />
Das 1949 von seinem<br />
Vater gegründete Textilunternehmen, das<br />
Parkas und Rucksäcke für die Bundeswehr<br />
produzierte, musste 2002 Insolvenz anmelden.<br />
Seither beschränkt er sich auf die<br />
Windschutz-Produktion. „Das ist ein Geschäft<br />
mit Zukunft“, sagt er. Denn weltweit<br />
bläst der Wind, und weltweit<br />
steigt die Zahl der Fernsehund<br />
Radiosender. Zuletzt<br />
wuchs der Umsatz des Unternehmens<br />
pro Jahr um 8<br />
bis 10 Prozent. Für das laufende<br />
Jahr peilt Schulze-Cleven<br />
Einnahmen von rund<br />
zwei Millionen Euro an.<br />
Rund 30 Angestellte arbeiten<br />
an den Schaumstoffteilen.<br />
Zunächst entwickeln<br />
Grafikdesigner am Bildschirm<br />
einen Vorschlag. Sobald<br />
der Kunde zugestimmt<br />
hat, beginnt die Produktion.<br />
Aus einem Schaumstoffblock<br />
schneidet eine Maschine die<br />
gewünschte Form. Kaufen<br />
kann man solche Maschinen<br />
nicht, ein Techniker des Unternehmens<br />
baut sie selbst.<br />
Im nächsten Arbeitsschritt<br />
wird der Schaumstoff gefärbt oder mit farbigen<br />
Flocken besprüht. Zehn Heimarbeiterinnen<br />
kleben die Sender-Logos auf.<br />
Die Schaumstoffüberzüge dienen einerseits<br />
Marketingzwecken der Sender, viel<br />
wichtiger ist aber ihre technische Funktion:<br />
Der offenporige Schaumstoff schluckt bei<br />
Außenaufnahmen störende Windgeräusche.<br />
Moderatoren bezeichnen die Überzieher<br />
auch gerne <strong>als</strong> Plopkiller, weil sie<br />
die explosiven p- und t-Laute herausfiltern.<br />
Die Herstellung ist kaum industrialisiert<br />
und erfordert viel Handarbeit. Das<br />
hat seinen Preis. Schulze-Cleven stellt seinen<br />
Kunden pro Windschutz zwischen<br />
MYTHOS<br />
MITTELSTAND<br />
„Was hat Deutschland,<br />
was andere nicht<br />
haben? Den<br />
Mittelstand!“, sagte<br />
kürzlich der neue<br />
Deutsche-Bank-Chef<br />
Anshu Jain. <strong>Cicero</strong><br />
weiß das schon länger<br />
und stellt besondere<br />
Mittelständler in einer<br />
Serie vor.<br />
16 und 60 Euro in Rechnung – je nach<br />
Größe, Farbe und Gestaltung. Trotzdem<br />
hat er keine Sorge, dass ihn Billigkonkurrenz<br />
etwa aus China unter Druck setzen<br />
könnte. Die kleine Stückzahl, in der Windschütze<br />
produziert werden, mache das Geschäft<br />
für viele asiatische Hersteller uninteressant.<br />
Schulze nimmt Bestellungen<br />
ab 25 Stück entgegen. „Wir wollen nicht<br />
der billigste Anbieter sein“,<br />
sagt der Unternehmer. „Wir<br />
wollen das beste Preis-Leistungs-Verhältnis<br />
bieten.“<br />
Schulze-Cleven und<br />
seine Mannschaft beraten<br />
bei der Gestaltung, wickeln<br />
auch eiligste Aufträge ab<br />
und zeigen sich bei Reklamationen<br />
kulant. Nicht immer<br />
aber ist das Unternehmen<br />
dafür verantwortlich,<br />
wenn sich das Senderlogo<br />
ablöst. „In vielen Gebäuden<br />
dürfen Reporter nicht<br />
mehr rauchen, während sie<br />
warten“, berichtet Schulze-<br />
Cleven. „Um sich abzulenken,<br />
knibbeln sie am Windschutz<br />
herum.“<br />
Der 68-Jährige kommt<br />
gut in der Welt herum. Allein<br />
in diesem Jahr war er<br />
schon in neun Ländern, hat Kunden in<br />
Dubai, Kuwait, den USA und Polen besucht.<br />
Mit dem Thema Ruhestand befasst<br />
Schulze-Cleven sich nicht so gerne. Erst<br />
will er noch die letzten weißen Flecken seiner<br />
Weltkarte tilgen. „In Südostasien, Afrika<br />
und Südamerika gibt es Länder, in die<br />
wir noch nicht liefern“, sagt er. „Das will<br />
ich noch ändern.“<br />
Christoph Hus<br />
ist freier Journalist. Als Vertreter<br />
der schreibenden Zunft kannte er<br />
westfälische Windschütze bisher<br />
nur aus dem Fernsehen<br />
Fotos: Stefan Kröger, Privat (Autor)<br />
76 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Herr über die Winde:<br />
Firmenchef Archibald<br />
Schulze-Cleven<br />
vor einer illustren<br />
Auswahl seines<br />
Firmensortiments<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 77
| K a p i t a l | D a s E n d e d e s F e r n s e h e n s<br />
Programmstörung<br />
Internet<br />
von Max Thomas Mehr<br />
78 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Internetfähige Fernseher erobern die Wohnzimmer, die<br />
Tagesschau läuft auf dem Handy, Filme werden auf dem<br />
iPad geguckt – die Medienwelt steckt mitten in einer<br />
Revolution, die unsere Öffentlichkeit strukturell verändert<br />
Illustration: Daniel Haskett<br />
A<br />
RD, ZDF, RTL, SAT.1 hier – das<br />
World Wide Web dort: In wenigen<br />
Monaten ist das Vergangenheit.<br />
Denn derzeit werden<br />
auf der ganzen Welt die letzten<br />
Zäune zwischen dem herkömmlichen Programmfernsehen<br />
und dem Internet eingerissen.<br />
Dabei verabschieden wir uns immer<br />
mehr vom linearen Fernsehprogramm. Jeder<br />
ist sein eigener Programmgestalter.<br />
Zwei Milliarden Menschen nutzen täglich<br />
Youtube, 35 Stunden an Videos werden pro<br />
Minute bei Googles Tochterunternehmen<br />
hochgeladen. Zwar wird der Fernseher<br />
nicht aus dem Wohnzimmer verschwinden,<br />
aber er wird in Zukunft selbst online<br />
gehen können – und nur noch eines von<br />
mehreren Abspielgeräten sein. Mausklick<br />
statt Fernbedienung – schon heute laden<br />
wir uns immer häufiger Filme und ganze<br />
Serien aus dem Netz. Je jünger die Nutzer,<br />
desto häufiger. Über internetfähige Smart-<br />
TVs wird bald gegoogelt und geskyped,<br />
auch Zeitungen und E-Mails lassen sich<br />
so lesen, nebenbei auf einem Split-Screen,<br />
während auf dem Hauptbild Fußball läuft.<br />
Die Öffentlich-Rechtlichen und die<br />
Privaten, das Programmfernsehen insgesamt,<br />
geraten dabei in den Sog einer Entwicklung,<br />
die Zeitungen und die Musikbranche<br />
schon seit einigen Jahren erleben:<br />
die Implosion des klassischen Medienmarkts<br />
– einhergehend mit einem rapiden<br />
Verlust lang tradierter Bedeutung. Das<br />
Zusammenwachsen von Laptop, Internet,<br />
Smartphone und Fernsehen steckt noch in<br />
den Anfängen. Aber es zeigt schon Wirkung:<br />
Fernsehen und Zeitungen lösen sich<br />
mehr und mehr vom Fernseher und dem<br />
Papier. 30 Millionen Amerikaner telefonieren<br />
nicht nur mit ihrem Smartphone, sie<br />
schauen darauf auch fern.<br />
Was in Zukunft bleibt, sind starke<br />
Marken wie hierzulande Tagesschau, Tatort<br />
oder auch Spiegel Online. Schon<br />
werden erste Serien direkt fürs Netz produziert.<br />
Das verändert die Dramaturgie des<br />
Erzählens. Zurzeit steckt die Medienwelt<br />
in einer Revolution, so radikal wie die Entwicklung<br />
der Druckerpresse von Johannes<br />
Gutenberg und die Erfindung des Films<br />
durch die Brüder Lumière zusammengenommen.<br />
Das Katz-und-Maus-Spiel, das<br />
sich dabei Künstler, Journalisten, Produzenten,<br />
Verlage, Fernsehanstalten und ihre<br />
Verbände mit Google, Facebook und Co,<br />
aber auch mit den Nutzern in der digitalen<br />
Welt liefern, ist noch der sichtbarste Ausdruck<br />
dieser Revolution. Verbissen streiten<br />
die Verlage mit den öffentlich-rechtlichen<br />
Rundfunkanstalten darüber, ob und wie<br />
lange die ihre Archive umsonst ins Netz<br />
stellen und inwieweit sie dort auch Nachrichtenartikel<br />
kostenlos verbreiten dürfen.<br />
Doch der Strukturwandel von Öffentlichkeit<br />
ist viel weitreichender, und seine<br />
Folgen sind noch unabsehbar.<br />
Rückblick: 1967. Irgendwo in der westdeutschen<br />
Provinz versammeln sich die Kinder<br />
am Sonntagnachmittag in der Dorfkneipe:<br />
Starren Blicks, manchmal mit<br />
einer Sinalco-Brause vor der Nase, sitzen<br />
sie andächtig an kleinen Tischchen<br />
und verrenken sich den H<strong>als</strong>. Fast unter<br />
der Zimmerdecke der Gaststube steht<br />
auf einer alten Glasvitrine, einem heiligen<br />
Gral gleich, der Flimmerkasten. Das<br />
Programm ist erst in jenem Sommer farbig<br />
geworden, und die Dorfjugend schaut<br />
Fury, Flipper und Lassie. Die Älteren dürfen<br />
auch noch Ben Cartwright und seinen<br />
drei Söhnen in „Bonanza“ zuschauen, wie<br />
sie für Recht und Ordnung sorgen. Vorher<br />
müssen aber die Kleinen das Gasthaus<br />
verlassen, da kennt der Wirt keine Gnade.<br />
Schließlich war die Serie ein paar Jahre<br />
zuvor noch wegen besonderer Brutalität<br />
von der ARD nach nur einer Staffel abgesetzt<br />
worden.<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 79
| K a p i t a l | D a s E n d e d e s F e r n s e h e n s<br />
In der Nicht-TV-Wirklichkeit der 60er<br />
Jahre reicht die Welt gerade mal bis zur<br />
nächsten Kreisstadt. Che Guevaras Tod im<br />
bolivianischen Dschungel, Martin Luther<br />
Kings erste öffentliche Rede, der Tod von<br />
Benno Ohnesorg in Berlin, diese Welt der<br />
Tagesschau erreicht die Dorfjugend dam<strong>als</strong><br />
noch nicht. Erst die Olympischen Spiele<br />
1968 in Mexiko bringt die Fernseher auch<br />
in die Wohnzimmer der Provinz.<br />
Die Bundesrepublik der Vor-Willy-<br />
Brandt-Zeit hatte noch viele Häutungen<br />
vor sich. Es gehört inzwischen zu den Gemeinplätzen<br />
deutscher Geschichtsschreibung,<br />
dass die Revolte der 68er Studentenbewegung<br />
die Bundesrepublik erst zu dem<br />
zivilen Land geformt hat, das es heute ist.<br />
Man könnte aber auch fragen, was Kommune<br />
1 oder Vietnam-Kongress, Woodstock<br />
oder Beatclub ohne die Spiegelung<br />
im Fernsehen in der Gesellschaft tatsächlich<br />
bewirkt hätten.<br />
Heute, knapp ein halbes Jahrhundert<br />
später, schauen die 14-Jährigen kein herkömmliches<br />
„Programm“-Fernsehen mehr.<br />
Wenn ihnen eine Serie gefällt, dann wollen<br />
sie möglichst alle Folgen und Staffeln<br />
sofort sehen. Amerikanische Fernsehserien<br />
streamen sie auf ihren Laptops, lange bevor<br />
die Staffeln von deutschen TV-Kanälen<br />
abgespielt werden, gerne auch im Original,<br />
wodurch sie nebenbei auch ihr Englisch<br />
verbessern. Die Medienkinder von heute<br />
wissen genau, wie sie Hindernisse beim<br />
Internetsehen umgehen können, und sind<br />
Experten für die Lücken des deutschen Urheberrechts.<br />
Auf den Schulhöfen tauschen<br />
sie die neuesten Web-Adressen, über die<br />
sich Serien, aktuelle Kinofilme und Musik<br />
streamen lassen. Filesharing ist für sie<br />
selbstverständliche Normalität – natürlich<br />
umsonst. Wenn sie doch mal unerlaubte<br />
Kosten verursachen, akzeptieren sie murrend<br />
das elterliche Internetverbot auf Zeit.<br />
Multitasking ist für sie beim Medienkonsum<br />
Standard. Während sie fernsehen,<br />
spielen sie gleichzeitig auf ihrem iPod<br />
Touchscreen ein Computerspiel oder ätzen<br />
mit Freunden über die letzte Lateinarbeit<br />
auf Facebook.<br />
Selbstverständlich empfinden diese<br />
Jugendlichen Acta, den vorerst gescheiterten<br />
Versuch des Gesetzgebers, das Urheberrecht<br />
an die digitale Welt anzupassen, <strong>als</strong><br />
Das Urheberrecht<br />
empfinden Jugendliche <strong>als</strong><br />
Freiheitsbeschränkung<br />
Einschränkung ihrer Freiheit. Und Freiheit<br />
heißt für sie vor allem: alles sofort und alles<br />
kostenlos. Allein im vergangenen Jahr<br />
wurden in Deutschland 2288 Spielfilme<br />
illegal ins Netz gestellt, darunter elf vor<br />
dem offiziellen Kinostart. Die vor einiger<br />
Zeit dichtgemachte Filesharing-Plattform<br />
Kino.to, deren Gründer gerade zu viereinhalb<br />
Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde,<br />
soll zum Schluss auf täglich 400 000 Besucher<br />
gekommen sein.<br />
Dass pubertierende Jugendliche die<br />
Grundregeln von Markt und Öffentlichkeit<br />
nicht beherrschen und virtuelles, immaterielles<br />
Eigentum, das sich im Netz <strong>als</strong><br />
gestreamter Film oder illegal heruntergeladene<br />
Musik jeglicher Gegenständlichkeit<br />
entzieht, nicht achten, ist verständlich.<br />
Doch auch in der Welt der Erwachsenen<br />
kam es lange nur selten zur offenen Attacke<br />
gegen die neue Copy-and-Paste-Kultur<br />
im Netz. Man schämte sich geradezu,<br />
für Urheberrechtsschutz im Internet einzutreten<br />
– das Image, Freiheitsrechte einzuschränken,<br />
wollte sich gerade in der Politik<br />
keiner anheften lassen.<br />
Da bedurfte es schon eines fünf Minuten<br />
langen Wutausbruchs von Sven Regener<br />
im Bayerischen Rundfunk vor ein paar<br />
Wochen. Der Autor und Sänger der Band<br />
Element of Crime schimpfte über die Piraten<br />
und die ganze „Umsonst-Kultur“ des<br />
Internets: „Das Rumgetrampel darauf, dass<br />
wir uncool seien, wenn wir darauf beharren,<br />
dass wir diese Werke geschaffen haben,<br />
ist im Grunde nichts anderes, <strong>als</strong> dass<br />
man uns ins Gesicht pinkelt und sagt: ‚Euer<br />
Kram ist nichts wert. Wir wollen das umsonst<br />
haben.‘ Eine Gesellschaft, die so mit<br />
ihren Künstlern umgeht, ist nichts wert.“<br />
Er formulierte damit ein Unbehagen,<br />
das auch andere Urheber umtreibt, wie die<br />
51 Tatort-Autoren, die sich in einem offenen<br />
Brief über die „demagogische Suggestion“<br />
beschwerten, es gebe keinen freien<br />
Zugang zu Kunst und Kultur mehr, wenn<br />
das Urheberrecht, das Recht auf geistiges<br />
Eigentum, im digitalen Zeitalter nicht geschleift<br />
würde.<br />
Denn diese Revolution in der Mediengesellschaft<br />
hat einen Haken: Sie raubt derzeit<br />
vielen Kreativen, Autoren und Journalisten,<br />
Musikern und zunehmend auch<br />
den Filmschaffenden die Existenzgrundlage.<br />
Zwar werden ihre Arbeiten schneller<br />
und weiter verbreitet, aber mit ihrer<br />
Illustration: Daniel Haskett<br />
80 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Bezahlung hapert es. Die herkömmlichen<br />
Medien verharren in einer Schockstarre,<br />
sind ratlos, wie sie ihr Geschäft ins digitale<br />
Zeitalter hinüberretten sollen, und verwalten<br />
sich und ihre knappen Ressourcen<br />
mit immer weniger eigenem Personal. Es<br />
drängt sich der Eindruck auf: Je einfacher<br />
und billiger die Möglichkeiten geworden<br />
sind, alle Medienplattformen mit Inhalten<br />
zu bedienen, desto träger und unbeweglicher<br />
reagieren die alten Player, ob nun<br />
Verlage oder Rundfunkanstalten oder Filmproduzenten.<br />
Das große Geschäft machen<br />
vorerst Apple, Google und Facebook.<br />
Welche Auswirkungen diese Veränderungen<br />
auf die Öffentlichkeit und auf die<br />
Gesellschaft insgesamt haben, ahnen wir<br />
bisher nur.<br />
Die Arbeitsteilung jedenfalls scheint<br />
erst einmal klar: Die einen, die Schriftsteller,<br />
die Autoren, die Musiker, die Journalisten<br />
und Filmemacher, die Kreativen <strong>als</strong>o,<br />
die Geschichtenerzähler, generieren zwar<br />
weiter die Inhalte, aber sie verdienen damit<br />
immer weniger Geld. Gleichzeitig gibt es<br />
immer mehr Plattformen, über die sie ihre<br />
Inhalte veröffentlichen können.<br />
Die anderen, die „Nerds“, füllen mit<br />
den Produkten der Kreativen das Netz<br />
und verdienen dank Werbung damit das<br />
große Geld. Beruhigend an dieser Entwicklung<br />
ist nur eines: Es gibt eine natürliche<br />
Grenze. Spätestens dann, wenn jeder Inhalt<br />
aus der analogen Welt vom Internet aufgesaugt<br />
und verlinkt worden ist, sind die anderen<br />
wieder auf die Kreativen angewiesen.<br />
Denn bisher lebt die digitale Medienwelt<br />
im Wesentlichen von der Kreativität<br />
der analogen Welt. Wenn das Internet nur<br />
aus der verstümmelten Sprache von Facebook<br />
oder anderen sozialen Netzwerken<br />
und aus selbst gebastelten Youtube-Schnipseln<br />
bestehen würde, dann hätte es nicht<br />
einmal den Charme des Nachmittagsprogramms<br />
von RTL 2. Doch wer heute Fernsehen<br />
macht und nicht erkennt, dass das<br />
neue Medium Internet notwendigerweise<br />
das Programmfernsehen verändern wird,<br />
hat schon verloren.<br />
Der Gründer des Onlinekulturmagazins<br />
„Perlentaucher“, Thierry Chervel,<br />
findet es merkwürdig, dass deutsche Fernseh-<br />
und Rundfunkanstalten, aber auch<br />
die Verlage das Internet eigentlich nur <strong>als</strong><br />
Abspielstation ihres schon vorher vorhandenen<br />
Programms nutzen. Auch wundert<br />
ihn, dass die großen Absahner im Netz,<br />
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Interview<br />
„Ich muss alles kennen“<br />
Der Ufa-Chef Wolf Bauer erklärt, warum das deutsche Fernsehen doch gut<br />
ist, Youtube eigene Inhalte braucht und internetfähige Fernseher ganz neue<br />
Geschäftsmodelle ermöglichen<br />
H<br />
err Bauer, wie muss ich mir<br />
einen regulären Fernsehabend<br />
bei Ihnen zu Hause vorstellen?<br />
Haben Sie vorher im Fernsehprogramm<br />
herausgesucht, was Sie gucken wollen?<br />
Ich bin schon aus beruflichen Gründen<br />
ein Fernsehfan. Da ich abends oft nicht<br />
dazu komme, sehe ich meist zeitversetzt<br />
fern. Das habe ich mir dann vorher<br />
digital aufgezeichnet oder finde es in<br />
den Mediatheken der Sender. Die Programmvielfalt<br />
über Kabel, Pay-TV und<br />
das Internet ist inzwischen fast unüberschaubar.<br />
Ins Wochenende gehe ich häufig<br />
mit einem großen Packen DVDs.<br />
Teil meiner Aufgabe ist eben, dass ich<br />
alle Programme kennen muss. Das ist<br />
zeitaufwendig, aber ich schaue immer<br />
noch mit großem Vergnügen, auch die<br />
Angebote von neuen Programmaggregatoren<br />
wie Youtube, Netflix oder Hulu.<br />
Aber hat das Fernsehen in seiner heutigen<br />
Form überhaupt noch eine Zukunft?<br />
Alles, was ich gerade beschrieben habe,<br />
ist doch das Fernsehen in seiner heutigen<br />
Form, nämlich Bewegtbilder, die,<br />
über welche Plattformen auch immer,<br />
zum Konsumenten gelangen.<br />
Und die großen Fernsehsender mit ihren<br />
fixen Programmschemata werden trotzdem<br />
überleben?<br />
Wenn sie sich diese neue Fernsehdefinition<br />
zu eigen machen, haben sie die allerbesten<br />
Chancen. Das Beispiel USA<br />
zeigt, dass das funktioniert. Dort nutzen<br />
die großen, klassischen Broadcaster wie<br />
NBC, CBS und ABC konsequent alle<br />
Kanäle und Plattformen und haben ihre<br />
Vormachtstellung bisher verteidigt, weil<br />
sie über attraktive Inhalte und schlagkräftige<br />
Marketingmaschinen verfügen.<br />
Wolf Bauer ist Vorsitzender der<br />
Geschäftsführung der Ufa, der<br />
größten deutschen TV-Produktion.<br />
Der Jahresumsatz des Bertelsmann-<br />
Tochterunternehmens liegt bei<br />
rund 300 Millionen Euro. Zu den<br />
Produktionen der Ufa gehören unter<br />
anderem Fernsehfilme und -mehrteiler<br />
wie „Dresden“ und „Der Tunnel“, die<br />
Castingshows „DSDS“ und „X-Factor“<br />
und die Daily-Soap „GZSZ“<br />
Sie sind mir bisweilen sogar noch etwas<br />
zu mächtig. Außerdem darf man auch<br />
nicht vergessen, dass viele Zuschauer<br />
eine Vorauswahl haben wollen, <strong>als</strong>o ein<br />
Programmpaket, das unverlangt zu ihnen<br />
nach Hause kommt. Es gilt immer<br />
noch der schöne Spruch: Everybody<br />
wants to have a choice, but nobody likes<br />
to choose.<br />
Aber wer soll das bezahlen, wenn das<br />
Publikum des traditionellen Fernsehens<br />
immer älter und dadurch für Werbetreiber<br />
uninteressant wird?<br />
Das stimmt nicht. Die Gesamtnutzung<br />
TV ist 2011 noch mal gestiegen, auch<br />
bei den jüngeren Zielgruppen. Die<br />
Werbeindustrie vertraut auch weiterhin<br />
den großen Sendern, weil sie die einzigen<br />
sind, die noch ein Millionenpublikum<br />
erreichen. Die Werbewirksamkeit<br />
in sozialen Netzwerken wie Facebook<br />
wurde dagegen gerade erst wieder infrage<br />
gestellt, nach der Entscheidung<br />
von General Motors, dort überhaupt<br />
keine Werbung mehr zu schalten. Untersuchungen<br />
zeigen, dass 80 Prozent<br />
der Facebook-Nutzer die dort<br />
platzierte Werbung überhaupt nicht<br />
wahrnehmen.<br />
Was bleibt denn dann noch für die Youtubes,<br />
Googles oder Telekoms?<br />
Im Moment sind sie meist noch Ergänzungsangebote.<br />
Wer aber ein großes Publikum<br />
erreichen will, muss kollektive<br />
Erlebnisse schaffen wie exklusive, selbst<br />
produzierte Filme und Serien, Liveübertragungen<br />
von Unterhaltungsshows oder<br />
Sportereignissen, die der Zuschauer in<br />
Echtzeit erleben will.<br />
Können die neuen Anbieter das nicht?<br />
Anbieter wie Hulu und Netflix haben<br />
inzwischen realisiert, dass sie eigene<br />
attraktive Programme zeigen müssen,<br />
um die Zuschauer zu binden. Daher<br />
geben sie originäre Serien in Auftrag<br />
oder beteiligen sich an der Finanzierung<br />
größerer Projekte. Auch Youtube<br />
hat erkannt, dass die von Usern<br />
hochgeladenen „funniest home videos“<br />
kein Treiber des Geschäftsmodells sind.<br />
Deswegen starten sie eigene Channels<br />
mit professionell produzierten<br />
Foto: Werner Schuering/Imagetrust<br />
82 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Inhalten. Wir <strong>als</strong> Produzenten freuen<br />
uns natürlich über jeden dieser neuen<br />
Player im Markt.<br />
Also bekommen Sie ein paar neue Kunden<br />
und sonst bleibt alles beim Alten?<br />
Nein, die Branche befindet sich mitten<br />
in einem Paradigmenwechsel, weil gerade<br />
die jüngeren Zuschauer ganz anders<br />
fernsehen. 40 Prozent der 14- bis<br />
24-Jährigen nutzen beim Fernsehen<br />
gleichzeitig einen Second Screen, <strong>als</strong>o<br />
ein zweites Gerät, sei es ein Laptop, ein<br />
Smartphone oder einen internetfähigen<br />
Fernseher. Darüber kommunizieren<br />
sie mit Freunden live über das aktuelle<br />
Programm. Das bietet für uns und<br />
die Sender wunderbare Möglichkeiten<br />
der Programmerweiterung. Wer „Gute<br />
Zeiten, schlechte Zeiten“ sieht, kann<br />
sich dann über eine Second-Screen-App<br />
etwa Tagebücher der Protagonisten anschauen,<br />
die zukünftige Handlungsstränge<br />
andeuten. Auch neue Geschäftsmodelle<br />
sind auf diesem Wege denkbar:<br />
Wem das Hemd des Hauptdarstellers<br />
gefällt, der kann es direkt über die App<br />
bestellen.<br />
Führt das nicht zwangsläufig zu einer<br />
weiteren Verflachung des Niveaus?<br />
Das muss uns eher aus gesellschaftlicher<br />
Sicht Sorgen machen, weil es zeigt, dass<br />
die Jüngeren, sogenannten „digital natives“,<br />
durch ständiges Multitasking ihre<br />
Konzentrationsfähigkeit verlieren. Mangelnde<br />
Aufnahmebereitschaft lässt sich<br />
nur mit besonders hoher Qualität bekämpfen.<br />
Unsere Sendungen müssen<br />
noch mehr <strong>als</strong> zuvor eine Sogwirkung<br />
entfalten. Denken Sie nur an die fantastischen<br />
Serien der amerikanischen Pay-<br />
TV‐Sender wie Mad Men, The Sopranos,<br />
The Wire, die zeigen, dass sich die<br />
Qualität des Fernsehens immer weiter<br />
verbessert.<br />
Und wie steht das deutsche Fernsehen<br />
im internationalen Vergleich da?<br />
Das deutsche Fernsehangebot gehört<br />
zu den besten in der Welt. Wir<br />
haben hier viele gut gemachte Fernsehfilme<br />
und Unterhaltungsformate.<br />
Die große Vielfalt verdanken wir dabei<br />
vor allem dem dualen System von<br />
starken öffentlich-rechtlichen Sendern<br />
und kommerziell ausgerichteten<br />
Privatsendern.<br />
Aber die Qualität der angesprochenen<br />
US-Serien erreichen wir nicht.<br />
Aber wie viele erfolgreiche Pay-TV-Sender<br />
haben wir denn in Deutschland?<br />
ARD, ZDF …<br />
Nein, das ist Unsinn, das können Sie<br />
so nicht sagen. In den USA haben Pay-<br />
TV-Sender wie HBO, Showtime oder<br />
AMC irgendwann begriffen, dass sie<br />
ihre Zuschauer nur dann dauerhaft an<br />
sich binden können, wenn sie unverwechselbar<br />
sind. Das schafft man nicht,<br />
wenn man nur auf die Erstausstrahlung<br />
von Kinofilmen und auf Sport setzt.<br />
Dafür brauchen sie originäre Produktionen<br />
höchster Qualität. Die absorbieren<br />
damit doch inzwischen das gesamte<br />
Kreativpotenzial Hollywoods. Regisseure<br />
wie Martin Scorsese drehen lieber<br />
eine HBO-Serie <strong>als</strong> einen Hollywood-<br />
Film, weil sie dort viel freier arbeiten<br />
können. Ich traue Sky in Deutschland<br />
zu, einen ähnlichen Weg zu gehen. Wir<br />
entwickeln gerade neue Programmideen<br />
dafür. An talentierten Autoren, Regisseuren<br />
und Produzenten mangelt es hier<br />
jedenfalls nicht.<br />
Aber wenn die qualitativ hochwertigen<br />
Programme von Pay-TV-Sendern kommen<br />
sollen, wie lassen sich dann noch<br />
die Milliardengebühren rechtfertigen, mit<br />
denen ARD und ZDF derzeit ihr mutloses<br />
Programm zusammenschustern?<br />
Ach, das ist doch eine Legende. ARD<br />
und ZDF sind wertvolle Programmanbieter,<br />
die immer noch die Hauptauftraggeber<br />
der deutschen Produktionswirtschaft<br />
sind. Ohne sie gäbe es diese<br />
Kreativindustrie hier gar nicht. Unabhängig<br />
davon muss sich eine demokratische<br />
Gesellschaft ein öffentlich-rechtliches<br />
Rundfunk- und Fernsehsystem<br />
leisten, um die Vielfalt im Bereich Information,<br />
Bildung und Unterhaltung<br />
zu sichern. Das ist wichtig für einen gemeinsamen<br />
Diskurs – <strong>als</strong> Kitt einer modernen<br />
demokratischen Gesellschaft.<br />
Das Gespräch führte Til Knipper<br />
Facebook, Google und Co, nicht im Zentrum<br />
der öffentlichen Kritik stehen.<br />
Wenn Netzinhalte zukünftig genauso<br />
selbstverständlich wie ARD und ZDF über<br />
den häuslichen Bildschirm flimmern, allzeit<br />
abrufbereit, wird sich auch schnell die<br />
Systemfrage stellen: Warum werden die<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten<br />
angesichts der technologischen Revolution<br />
noch weiter mit acht Milliarden Euro jährlich<br />
subventioniert? Es fällt zunehmend<br />
schwer zu begründen, warum jede Sendeanstalt<br />
der ARD noch ihr eigenes Drittes<br />
Programm haben muss. Lokale Fenster<br />
kann es auch in einem einzigen überregionalen<br />
Dritten Programm geben. Thierry<br />
Chervel geht noch weiter. Er schlägt vor,<br />
auch im Netz Programme fürs Dritte zu<br />
entwickeln und mit öffentlichen Mitteln<br />
finanzieren zu lassen.<br />
In diesem Zusammenhang müsste man<br />
dann aber auch diskutieren, ob ein öffentlich-rechtlicher<br />
Informationsauftrag heute<br />
anders organisiert werden sollte <strong>als</strong> zu den<br />
Zeiten, <strong>als</strong> Sendefrequenzen rar und ihre<br />
Verteilung hochpolitisch waren, weil es die<br />
Internetwelt mit all ihren digitalen Techniken<br />
und Verbreitungsmöglichkeiten noch<br />
nicht gab. Programme <strong>als</strong> Abspielstationen<br />
für immer dieselben Kino- und TV‐Produktionen,<br />
zeitversetzt in Endlosschleifen,<br />
dann auch noch in den Dritten Programmen<br />
zweit- oder drittverwertet, sind heute<br />
überflüssig. Technisch ist es schon möglich,<br />
alle Fernsehprogramme, die in den vergangenen<br />
50 Jahren hergestellt wurden, online<br />
zu stellen, jederzeit abrufbar, für jeden.<br />
Für Kinofilme gilt das auch. Wiederholungen<br />
dürfte es angesichts dieser Entwicklung<br />
im Fernsehen eigentlich gar nicht mehr geben.<br />
Bei all diesen Planspielen bleibt immer<br />
noch die Frage der Vergütung ungeklärt:<br />
Wie soll sie erfolgen, pauschal oder<br />
abrufbezogen, <strong>als</strong> Flatrate oder pro Klick?<br />
Ufa-Chef Wolfgang Bauer (siehe auch<br />
nebenstehendes Interview) gibt sich diesbezüglich<br />
demonstrativ gelassen und zitiert<br />
eine alte Italo-Western-Weisheit: „Irgendeiner<br />
zahlt immer.“ Werbetreibende, Konsumenten<br />
durch Abos oder Pay per view<br />
führt er <strong>als</strong> Beispiele an. Die internationale<br />
Entwicklung scheint ihm recht zu geben.<br />
In Großbritannien benutzen 39 Prozent<br />
der Bevölkerung den BBC I-Player, das<br />
kostenpflichtige Video-on-demand-Portal<br />
der BBC. Dass die Google-Tochter Youtube<br />
von der Ufa Programme produzieren<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 83
| K a p i t a l | D a s E n d e d e s F e r n s e h e n s<br />
lasse, zeige doch auch, dass der Internetkonzern<br />
diesbezüglich den Wert von urheberrechtlich<br />
geschützten Programmen erkenne,<br />
sagt Bauer. Auch die Apologeten der<br />
„Alles ist umsonst“-Kultur lassen Bauer eher<br />
kalt: „Die Facebooks dieser Welt, die ihr<br />
Geld mit privaten Nutzerdaten verdienen,<br />
sind natürlich gegen die Vergütung urheberrechtlich<br />
geschützter Inhalte, weil es ihr<br />
Geschäftsmodell stört“, sagt Bauer. Wenn<br />
die Filesharer aber merkten, dass sie für<br />
ihre Filme mit dem Verlust ihrer privaten<br />
Daten zahlen, höre das auch auf, meint er.<br />
Aber was ist, wenn einer Jugend, die in sozialen<br />
Netzwerken ihr Innerstes nach außen<br />
kehrt, der Verlust der Privatheit egal ist?<br />
Die digitale Welt verändert die Öffentlichkeit<br />
insgesamt und damit auch eine der<br />
wichtigen Voraussetzungen für eine funktionierende<br />
demokratische Gesellschaft: die<br />
von Information und Teilhabe. Gilt unter<br />
den neuen Bedingungen eigentlich noch<br />
der hehre Grundsatz der Pressefreiheit, dass<br />
Vielfalt und Konkurrenz die Qualität sichern?<br />
Bringt <strong>als</strong>o die Vielfalt des Internets<br />
mehr Qualität in die Medien? Oder<br />
verkommt Öffentlichkeit durchs Netz zu<br />
immer folgenärmerem großen Palaver? In<br />
Deutschland kann man das nirgendwo so<br />
gut beobachten wie in Berlin.<br />
In der Hauptstadt verschränken sich<br />
digitale und analoge Medienwelt schon<br />
länger aufs Engste. Traditionelle Medien<br />
wie die Zeitungen und Stadtmagazine haben<br />
seit dem Mauerfall einen beispiellosen<br />
Auflagenverlust erlitten. Das Regionalprogramm<br />
des rbb, der örtlichen öffentlichrechtlichen<br />
ARD-Anstalt, hat im Reigen<br />
der Dritten Programme bei den Einschaltquoten<br />
die rote Laterne. Das wäre gar<br />
nicht so schlimm, wenn wenigstens ein regionales<br />
Programm gemacht würde, das<br />
den öffentlich-rechtlichen Informationsauftrag<br />
ins Internetzeitalter transformiert.<br />
Aber die allseits beschworenen Kreativen<br />
der Stadt sucht man vergebens im regionalen<br />
Fernsehprogramm. Das rbb-Programm<br />
bleibt erschreckend bieder. Mutige Projekte<br />
wie die 24-Stunden-Berlin-Reportage,<br />
für die 2008 das Leben der Stadt einen<br />
ganzen Tag lang gefilmt wurde, sind<br />
rare Ausnahmen.<br />
Die digitale Stadt blüht trotzdem:<br />
1,3 Millionen Berliner gehören zur aktiven<br />
Facebook-Gemeinde. Keine Stadt in<br />
Deutschland ist so vernetzt wie die Hauptstadt.<br />
Google liefert über eine Milliarde<br />
Einträge zu Berlin. Fast 350 Millionen davon<br />
führen zu Berlin-Blogs. Aber welche<br />
Rolle spielt dieses digitale Berlin in der realen<br />
Stadt? Bildet sich dadurch angesichts<br />
der schwindenden Bedeutung der traditionellen<br />
Medien eine neue Öffentlichkeit heraus?<br />
Die Themen der „digitalen Stadtöffentlichkeit“<br />
treffen meist nicht den Kern<br />
des Politischen. Von der Flughafenpleite<br />
etwa wurde sie genauso überrascht wie alle<br />
anderen.<br />
Stattdessen ist eine nervöse, fast hysterische<br />
Öffentlichkeit entstanden. Ein paar<br />
wenige reichen aus, um die gesamte Stadt<br />
und die Feuilletons im ganzen Land in Erregung<br />
zu versetzen. Als beispielsweise auf<br />
einer Brache an der Spree mitten in Kreuzberg<br />
das BMW-Guggenheim-Lab für zwei<br />
Monate ein besseres Zelt aufbauen wollte,<br />
um darin über die Zukunft der Stadt zu<br />
diskutieren, haben sich etwa zwei Dutzend<br />
Leute über das Netz dazu verabredet,<br />
dieses Projekt in Kreuzberg – möglicherweise<br />
mit Gewalt – zu verhindern. Sofort<br />
sprach der Innensenator von „linken Chaoten“,<br />
die der Stadt schaden – und alle Medien<br />
plapperten es tagelang nach. Bis in die<br />
Hauptnachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen<br />
Fernsehanstalten schaffte<br />
es die Geschichte. Die Netzinitiative einiger<br />
weniger hatte Folgen in der politischen<br />
Wirklichkeit: Die Veranstalter haben<br />
ihr Zelt jetzt in Prenzlauer Berg aufgeschlagen,<br />
in der Hoffnung, damit der Gewalt<br />
zu entgehen.<br />
Ist das funktionierende Öffentlichkeit?<br />
Niemand hat recherchiert, wer – und wie<br />
viele – wirklich stören wollten. Es ist ein<br />
Beispiel, das zeigt, wie die Netzöffentlichkeit<br />
die herkömmlichen Medien bis hin<br />
zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen verändert.<br />
Es ist ein Beispiel dafür, wie in dieser<br />
neuen digitalen Welt Maßstäbe und Bedeutungen<br />
ins Schwimmen geraten, aber<br />
auch wie „Vielfalt“ nicht automatisch Qualität<br />
sichert.<br />
Demokratie ist mehr <strong>als</strong> Mehrheitswille<br />
und Trendsetting, <strong>als</strong> Basisdemokratie<br />
plus Internet. Sie lebt von der Spannung<br />
zwischen Zivilgesellschaft und politisch<br />
Handelnden. Und sie braucht eine gesellschaftliche<br />
Öffentlichkeit, in der Interessengegensätze<br />
in der Gesellschaft dargestellt<br />
und politische Handlungsalternativen beschrieben<br />
werden.<br />
Welchen Beitrag dazu die neue digitale<br />
Medienwelt leisten kann, ist völlig offen.<br />
Journalisten und Filmemacher, Zeitungen<br />
und jetzt auch das Programmfernsehen –<br />
egal ob öffentlich-rechtlich oder privat<br />
organisiert – brauchen neue Geschäftsmodelle<br />
und Legitimationen, wenn sie<br />
überleben wollen. Vielleicht alle bald nur<br />
noch im Netz.<br />
Max Thomas Mehr ist<br />
freier Journalist. Mit seinen<br />
Kindern durchlebt und durchleidet<br />
er das Netzzeitalter<br />
Illustration: Daniel Haskett, Foto: Privat<br />
84 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Jetzt im Handel<br />
Lassen Sie sich vom Volksmund nichts erzählen:<br />
die Wahrheit über Mann und Frau.<br />
Weitere Themen<br />
Bolivien<br />
Die Rückkehr der Lynchjustiz.<br />
Iran<br />
Der Schah und sein Erbe.<br />
Hunde<br />
Wie der böse Wolf zum besten Freund wurde.<br />
www.geo.de<br />
GEO. Die Welt mit anderen Augen sehen
| K a p i t a l | D i e S c h l e c k e r - F r a u e n<br />
„Wie bei Honecker“<br />
„Ich wünsche<br />
mir einen<br />
soliden<br />
Arbeitsplatz.<br />
Es war schon<br />
die Hölle“<br />
Zehn Jahre hat Anja Reichstein (41) bei<br />
Schlecker gearbeitet:<br />
Anja Reichstein, stellvertretende Filialleiterin, in ihrem<br />
Wohnzimmer in Berlin-Charlottenburg<br />
„Ich habe die Nachricht, dass Schlecker<br />
insolvent ist, aus dem Fernsehen erfahren.<br />
Zum Glück hat mein Sohn einen Boxsack,<br />
den habe ich dann attackiert. Ich<br />
war richtig sauer: Selbst wir wussten von<br />
Läden, die keinen Umsatz bringen – das<br />
müssen die da oben doch erst recht gewusst<br />
haben! Danach habe ich abgeschaltet:<br />
einfach arbeiten, arbeiten, arbeiten.<br />
Ich war enttäuscht, dass viele Kollegen<br />
gleich abgesprungen sind. Der Rest muss<br />
die Stange halten – das ist eine Scheißsituation,<br />
machen wir uns mal nichts vor.<br />
Wenn wir unseren Laden endgültig zumachen,<br />
müssen wir uns Taschentücher<br />
mitnehmen. Und was soll ich dann zu<br />
Hause mit der ganzen Zeit? Ich bin ein<br />
Wuselmensch, ich muss was zu tun haben.<br />
Deshalb werde ich meine Prüfung<br />
zur Einzelhandelsverkäuferin nachholen<br />
und wünsche mir einen soliden Arbeitsplatz.<br />
Es war schon die Hölle.“<br />
86 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Ihre Firma ist insolvent. Ursula von der Leyen will sie zu Kita-Erzieherinnen und<br />
Altenpflegerinnen umschulen. Die Kunden kaufen ihre Toilettenartikel bald woanders. Doch wer<br />
sind eigentlich die Schlecker-Frauen, über die jetzt alle reden? Karoline Kuhla (Protokolle)<br />
und Oliver Mark (Fotos) zeigen vier Gesichter hinter der Unternehmenspleite<br />
„Wir waren<br />
eine kleine<br />
Schlecker-<br />
Familie“<br />
Cornelia Bieski (36) hat sich in ihren<br />
17 Jahren bei Schlecker immer mit<br />
ihrer Arbeit identifiziert, zuletzt <strong>als</strong><br />
Filialleiterin:<br />
Schlecker-Filialleiterin Cornelia Bieski in<br />
ihrer Wohnung in Berlin-Lichtenberg<br />
„Als vergangenes Jahr die normalen Waren<br />
wie Klopapier fehlten, wussten wir, dass<br />
etwas im Argen ist. Viele sagen heute, die<br />
da oben seien schuld. Ich denke, jeder hat<br />
seinen Teil dazu beigetragen: Herr Schlecker,<br />
die Direktoren und auch die Mitarbeiter.<br />
Teilweise war es schon erschreckend,<br />
wie manche Filialen aussahen. Ich<br />
habe die Filiale immer <strong>als</strong> meinen Laden<br />
gesehen. Sogar meine Töchter und mein<br />
Mann kamen zum Wischen, <strong>als</strong> es einen<br />
Wasserschaden gab. Wir waren eine<br />
kleine Schlecker-Familie. Wenn Schlecker<br />
doch weitermachen könnte, wäre<br />
ich <strong>als</strong> Erste wieder da. Bei den Umschulungsvorschlägen<br />
der Politik könnte mir<br />
die Hutschnur platzen. Ich gehe die Zukunft<br />
ruhig an, habe aber Angst, dass ich<br />
in einen Beruf gedrängt werde, in dem<br />
ich nicht glücklich werde.“<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 87
| K a p i t a l | D i e S c h l e c k e r - F r a u e n<br />
„Der Staat und<br />
Schlecker,<br />
die haben es<br />
versaut!“<br />
Sabrina Druschky (48) war 13 Jahre lang<br />
Schlecker-Verkäuferin:<br />
Schlecker-Verkäuferin Sabrina Druschky in<br />
ihrem Wohnzimmer in Berlin-Reinickendorf<br />
„Im Januar fragte mich ein Kunde: Was,<br />
ihr seid pleite? So habe ich davon erfahren.<br />
Der Staat und Schlecker, die haben<br />
es versaut. Nach Griechenland werden<br />
Milliarden geschickt, denen wird geholfen.<br />
Und uns? 25 000 Arbeitsplätze auf<br />
einen Schlag weg – das ist kein kleines<br />
Ding! Aber Schlecker ist machbar, wir<br />
waren der Tante-Emma-Laden. Viele<br />
Stammkunden umarmen uns jetzt traurig,<br />
wünschen alles Gute. Das hat uns<br />
ausgemacht: Die Kunden kamen mit<br />
ihrem Leben. Wo gehen sie jetzt damit<br />
hin? Aber wenigstens ist die Ungewissheit<br />
vorbei. Man hatte einfach nur Angst.<br />
Ich war der Hauptverdiener in der Familie.<br />
Jetzt heißt es Bewerbungen schreiben,<br />
das habe ich noch nie gemacht. Aber ich<br />
habe keinen Bock, arbeitslos zu sein. Ich<br />
möchte mein Leben leben, für mich, meinen<br />
Mann und unseren Sohn.“<br />
88 <strong>Cicero</strong> 7.2012
„Schlecker<br />
hat jahrelang<br />
nicht gewusst,<br />
was hier<br />
abging“<br />
Mona Frias (46) kämpft seit 2001 <strong>als</strong> Betriebsrätin<br />
für die Schlecker-Frauen:<br />
Mona Frias, Schlecker-Betriebsrätin,<br />
in ihrem Marzahner Büro<br />
„In den letzten Wochen haben wir uns<br />
auf den Ausverkauf konzentriert. Meine<br />
Mädels stehen weiter pflichtbewusst in<br />
den Filialen, da merkt man den harten<br />
Kern. Es ist ungerecht, dass die Firmenleitung<br />
Schindluder getrieben hat und<br />
wir das jetzt ausbügeln müssen und dann<br />
auf der Straße sitzen. Wenn Herr Schlecker<br />
mit seinen Mitarbeitern zusammengearbeitet<br />
hätte, würde er heute nicht da<br />
stehen, wo er steht: in der Pleite. Mit<br />
ihm war es wie zu DDR-Zeiten mit<br />
Honni: Wenn Schlecker kam, wurden<br />
die Buden aufgeräumt. Er hat jahrelang<br />
nicht gewusst, was hier abging. Ich habe<br />
bis in den Bundestag gekämpft, und der<br />
Job hat mir Spaß gemacht. Wenn Schlecker<br />
vorbei ist, kann ich den Sommer<br />
genießen und Zeit mit meiner Familie<br />
verbringen. Dann gucken wir mal, wohin<br />
die Reise geht.“<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 89
| K a p i t a l | E u r o k r i s e<br />
„Es ist wie nach<br />
Versailles“<br />
Der ehemalige Chefredakteur des Economist Bill Emmott über die Überlebenschancen<br />
des Euro, Merkels f<strong>als</strong>che Wirtschaftspolitik und sein prophetisches Talent<br />
hätte die Krise noch mal erheblich verschärft.<br />
Wir wären ein sehr instabiles Euromitglied<br />
gewesen.<br />
H<br />
err Emmott, vor zehn Jahren haben<br />
Sie in Ihrem Buch „Vision 20|21“<br />
geschrieben, der Euro berge<br />
politisch „enorme Sprengkraft“, und einige<br />
Länder könnten sich „schon im ersten<br />
Jahrzehnt des Experiments“ wieder aus<br />
der Gemeinschaftswährung verabschieden.<br />
Empfinden Sie Genugtuung, dass sich Ihre<br />
Prognose zu bewahrheiten scheint?<br />
Nein, mir wäre es lieber gewesen, wenn<br />
man dem Euro von Anfang an ein Regelwerk<br />
verpasst hätte, mit dem er die erste<br />
Krise überstehen kann. Aber die Mischung<br />
aus europäischer Solidarität und<br />
Bill Emmott<br />
war 13 Jahre<br />
Chefredakteur<br />
des Economist.<br />
Sein Buch „Good<br />
Italy, Bad Italy“<br />
ist kürzlich auf<br />
Englisch erschienen.<br />
Der gleichnamige<br />
Dokumentarfilm<br />
soll im Herbst bei<br />
den Filmfestspielen<br />
in Venedig laufen<br />
dem Beharren auf nationaler Souveränität<br />
und Verantwortung musste schiefgehen.<br />
Zumal die Regeln schon gebrochen<br />
wurden, bevor der Euro <strong>als</strong> Zahlungsmittel<br />
eingeführt wurde. Insofern war die<br />
Prognose einfach. Ich habe in demselben<br />
Buch aber auch geschrieben, die EU habe<br />
das Zeug zur Supermacht.<br />
Sind Sie <strong>als</strong> Engländer froh, dass Großbritannien<br />
nie dem Euro beigetreten ist?<br />
Das ist wahrscheinlich das Beste, was<br />
wir jem<strong>als</strong> für die Europäische Union getan<br />
haben. Die Europaskepsis der Briten<br />
Sie zitieren in Ihrem Buch Winston Churchill<br />
mit dem Satz: „Um Aussagen über<br />
die Zukunft machen zu können, muss man<br />
die Vergangenheit kennen.“ Gibt es Krisen,<br />
aus denen wir in unserer jetzigen Situation<br />
Lehren ziehen können?<br />
Ich fürchte, diese Krise ist einzigartig,<br />
weil es noch nie eine so ambitionierte<br />
Währungsunion wie den Euro gab. Eine<br />
Gemeinschaftswährung dieser Größe mit<br />
so vielen Mitgliedern, die zudem auch<br />
noch politisch und ökonomisch in etwa<br />
gleich stark sein sollten, ist schwer mit<br />
anderen vergleichbar. Es gibt aber eine<br />
gewisse Parallele zur Situation nach dem<br />
Ersten Weltkrieg. Dam<strong>als</strong> war die vorherrschende<br />
Ideologie, dass Deutschland<br />
den anderen Ländern die Kriegsschäden<br />
ersetzen muss, koste es, was es wolle. Der<br />
Ökonom John Maynard Keynes schrieb<br />
dam<strong>als</strong> in seinem Buch „Die wirtschaftlichen<br />
Folgen des Vertrags von Versailles“,<br />
dass eine solche Politik theoretisch richtig<br />
sein kann, in der Praxis aber unweigerlich<br />
katastrophale Folgen hat.<br />
Und jetzt führt Angela Merkel mit ihrer<br />
Sparpolitik Europa an den Abgrund?<br />
Wer Staatsschulden einzig <strong>als</strong> Sünden der<br />
Vergangenheit brandmarkt und dem ganzen<br />
Kontinent ein Spardiktat verordnet,<br />
der erreicht am Ende das Gegenteil von<br />
dem, was er eigentlich wollte. Wir sehen<br />
es in Griechenland, Portugal, Irland,<br />
Spanien und bald auch in Italien – diese<br />
Länder haben keine Chance, durch Sparen<br />
aus der Rezession herauszukommen,<br />
Foto: Andrea Artz<br />
90 <strong>Cicero</strong> 7.2012
sondern werden auf einer Abwärtsspirale<br />
weiter nach unten gezogen. Dass dies<br />
nicht nur wirtschaftliche, sondern auch<br />
politische und gesellschaftliche Konsequenzen<br />
haben kann, haben wir schon<br />
bei den Ausschreitungen in Griechenland<br />
gesehen.<br />
Aus den Wahlen in Griechenland sind jetzt<br />
doch wieder die Konservativen <strong>als</strong> Sieger<br />
hervorgegangen. Für wie wahrscheinlich<br />
halten Sie es, dass es den Griechen gelingt,<br />
Mitglied der Eurozone zu bleiben?<br />
Unabhängig von der genauen Zusammensetzung<br />
der griechischen Regierung<br />
gehe ich davon aus, dass die Griechen<br />
versuchen werden, die Konditionen<br />
der Rettungspakete nachzuverhandeln.<br />
Die EU kann an einigen Stellen vielleicht<br />
nachgeben, aber wenn Griechenland<br />
auch in Zukunft nicht in der Lage<br />
sein wird, die Regeln des Stabilitäts- und<br />
Wachstumspakts einzuhalten, müssen sie<br />
die Währungsunion verlassen.<br />
Für den Fall sagen viele Ökonomen ein<br />
wirtschaftliches Armageddon voraus.<br />
Niemand weiß genau, was dann passiert.<br />
Die viel größere Katastrophe wäre ein<br />
Auseinanderbrechen der gesamten Eurozone.<br />
Wenn Griechenland sich aber alleine<br />
verabschiedet, wird es für die anderen<br />
mittelfristig einfacher, das Konstrukt<br />
Euro zu managen, weil der Austritt eine<br />
disziplinierende Wirkung auf die anderen<br />
Krisenländer hätte. Im Gegenzug wären<br />
Gläubigerländer wie Deutschland dann<br />
eher bereit, über eine zeitlich und in der<br />
Höhe begrenzte Form von gemeinsamen<br />
Eurobonds nachzudenken und ihre<br />
strikte Sparpolitik zu überdenken.<br />
Der Economist, bei dem Sie 13 Jahre<br />
Chefredakteur waren, hat kürzlich auf dem<br />
Titel die Weltwirtschaft <strong>als</strong> sinkenden<br />
Tanker dargestellt, aus dem Schiffsinnern<br />
kommt eine Sprechblase mit der Frage:<br />
„Frau Merkel, können wir die Motoren jetzt<br />
mal bitte starten?“ Hängt die Weltkonjunktur<br />
wirklich von den Entscheidungen<br />
der Bundeskanzlerin ab?<br />
Der Titel trifft es recht gut. Die ganze<br />
Welt blickt im Moment auf Europa, und<br />
Deutschland ist die größte Volkswirtschaft<br />
in der EU. Europa droht in eine<br />
Depression abzurutschen. Wenn ich Merkels<br />
wirtschaftspolitischer Berater wäre,<br />
würde ich ihr raten, in Deutschland ein<br />
Konjunkturpaket aufzulegen, das Konsum<br />
und Investitionen fördert. Also Steuern<br />
senken, Ausgaben erhöhen. Deutschland<br />
kann sich das leisten, weil die<br />
Zinsen, die es an den Märkten zahlen<br />
muss, sich auf einem Rekordtief befinden.<br />
In der jetzigen Situation ist eher schädlich,<br />
dass Deutschlands Neuverschuldung<br />
nur bei 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts<br />
liegt. Das Motorenanwerfen beginnt<br />
zu Hause, und wenn sich alle Gläubigerländer<br />
anschließen, wird es seine<br />
Wirkung nicht verfehlen.<br />
Aber holt man sich mit höheren Ausgaben<br />
das Vertrauen der Märkte zurück?<br />
Die Investoren kalkulieren nur, ob diese<br />
reichen Länder ihr Geld eher zurückzahlen<br />
können, wenn Europas Konjunktur<br />
wieder anspringt oder wenn der Kontinent<br />
ähnlich wie Japan Ende der neunziger<br />
Jahre in einer langen Rezession stecken<br />
bleibt. Die Antwort diesbezüglich<br />
dürfte klar sein.<br />
Welche Rolle muss die Europäische Zentralbank<br />
bei der weiteren Krisenbekämpfung<br />
spielen?<br />
Sie muss bereit sein, auch weiterhin den<br />
Banken im Notfall große Summen an<br />
Geld zur Verfügung zu stellen und an<br />
den Staatsanleihemärkten einzugreifen.<br />
Auch wenn die Bilanzsumme der EZB<br />
inzwischen auf über drei Billionen Euro<br />
angestiegen ist, müssen wir uns über Inflationsgefahren<br />
derzeit keine Sorgen<br />
machen.<br />
Die EU-Kommission schlägt zur Stabilisierung<br />
des Finanzsektors eine Bankenunion<br />
vor, eine gemeinsame europäische Bankenaufsicht,<br />
einen europaweiten Einlagensicherungsfonds<br />
sowie die Einrichtung<br />
eines Geldtopfs für die Rekapitalisierung<br />
notleidender Banken.<br />
Wenn ich weiter Merkel beraten soll: Eine<br />
gemeinsame Bankenaufsicht ist sinnvoll,<br />
damit hätten sich Immobilienkrisen wie in<br />
Irland und Spanien wahrscheinlich verhindern<br />
lassen. Von einem gemeinsamen Einlagensicherungsfonds<br />
würde ich erst mal<br />
abraten, weil die deutschen Sparer oder<br />
die Bundesregierung damit Haftungsrisiken<br />
übernehmen, die sie nicht kontrollieren<br />
können. Sie müssten sich dabei auf die<br />
neue europäische Bankenaufsicht verlassen,<br />
von der sie noch gar nicht wissen, ob sie<br />
effektiv arbeiten wird.<br />
Aber reichen diese Maßnahmen, um die<br />
Ansteckungsgefahr für Länder wie Spanien<br />
oder Italien zu bekämpfen?<br />
Wir sprechen hier von Notfallmaßnahmen,<br />
die die Wahrscheinlichkeit erhöhen,<br />
dass der Euro überlebt. Mittelfristig müssen<br />
die betroffenen Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit<br />
erhöhen. Das geht nur über<br />
eine Liberalisierung der Märkte und die<br />
Förderung des Unternehmertums. Nehmen<br />
wir Italien: Dort werden Unternehmensgründer<br />
seit den siebziger Jahren<br />
massiv behindert. Das Land hat seine unternehmerische<br />
Dynamik verloren, weil<br />
die Gründung einer Firma, ihr Markteintritt,<br />
das Einstellen von Mitarbeitern unglaublich<br />
kompliziert sind. Hinzu kommt,<br />
dass das Rechtssystem immer schlechter<br />
funktioniert und das organisierte Verbrechen<br />
überall die Hand aufhält. Wenn Fiat<br />
in seinem Heimatland nicht in der Lage<br />
ist, wettbewerbsfähige Autos zu produzieren,<br />
gleicht das einer Anklage gegen die<br />
italienischen Gewerkschaften, das Arbeitsrecht<br />
und die gesamte wirtschaftliche Infrastruktur<br />
des Landes.<br />
Würden Subventionen in Bereichen wie<br />
erneuerbarer Energie helfen, um die Wirtschaft<br />
in den Krisenländern am Mittelmeer<br />
anzukurbeln?<br />
Abgesehen davon, dass die EU-Gesetze<br />
so etwas verbieten, bin ich ohnehin kein<br />
Fan von Subventionen. Wer seine Wettbewerbsfähigkeit<br />
verbessern will, sollte<br />
nicht auf die Förderung grüner Energie<br />
setzen, weil dadurch zunächst einmal<br />
die Energiekosten steigen. Das sollen mal<br />
lieber die Deutschen zur Wettbewerbsreife<br />
bringen, und die anderen können es<br />
dann später billiger einkaufen: Das ist die<br />
Art Transferunion, mit der beide Seiten<br />
gut leben können.<br />
Vor zehn Jahren haben Sie die Zukunft des<br />
Euros richtig prognostiziert. Wagen Sie<br />
einen erneuten Ausblick?<br />
Ich bin zu 80 Prozent sicher, dass es den<br />
Euro in zehn Jahren noch geben wird.<br />
Die Währungsunion wird dann 20 Mitglieder<br />
haben, wobei einige aktuelle Mitglieder<br />
nicht mehr dabei sein werden.<br />
Das Gespräch führte Til Knipper<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 91
| K a p i t a l | R a f f i n i e r t e s P r e i s s y s t e m<br />
Kartell ohne ABsprache<br />
Alle Jahre wieder steigen vor dem Urlaub die Benzinpreise. Ein Brancheninsider erklärt das<br />
Preissystem der Mineralölkonzerne, auf das die Politik mit blindem Aktionismus reagiert<br />
von Hauke Friederichs<br />
D<br />
er grauhaarige Mann schaut<br />
durch ein Fenster neben der<br />
Kasse dem Feierabendverkehr<br />
zu, der träge an seiner Tankstelle<br />
vorbeifließt. Sein Blick<br />
fällt auf die Preisanzeige draußen. „Die<br />
Zentrale hat die Preise immer noch nicht<br />
angepasst“, sagt er und schüttelt den Kopf.<br />
Er wirkt dabei beinahe überrascht. Der<br />
Mann ist Pächter einer Tankstelle in Hamburg,<br />
die einem der fünf großen Mineralölkonzerne<br />
in Deutschland gehört. Vor einer<br />
Stunde hat er die Preise der Konkurrenten<br />
in der Umgebung seiner Tankstelle an seine<br />
Konzernzentrale durchgegeben. Dort werden<br />
die Daten von einer Abteilung gesammelt<br />
und Benzinpreise für alle Tankstellen<br />
des Mineralölkonzerns in Deutschland<br />
festgelegt. „Das ist alles von oben gesteuert“,<br />
sagt der Tankstellenpächter. „Was<br />
Benzin und Diesel an meiner Zapfsäule<br />
kosten, entscheide nicht ich.“<br />
Was der Tankstellenpächter aus Hamburg<br />
beschreibt, funktioniert genauso in<br />
München, Köln, Berlin und Leipzig. Die<br />
Preise an den Tankstellen von Aral, Shell,<br />
Esso, Total und Jet steigen und fallen nach<br />
einem festen System. Preissprünge von bis<br />
zu 15 Cent innerhalb weniger Stunden wirken<br />
wie abgesprochen. Vor allem vor Feiertagen<br />
und Schulferien steigt der Preis für<br />
den Liter Benzin häufig kräftig an – der<br />
Ärger der in den Sommerurlaub fahrenden<br />
Autofahrer scheint auch dieses Jahr<br />
unvermeidlich.<br />
Genauso unvermeidlich wie die ebenfalls<br />
jährlich stattfindende Diskussion, was<br />
gegen den saisonalen Anstieg der Kraftstoffpreise<br />
getan werden muss. Die Rollen<br />
und Argumente sind dabei fest verteilt: Die<br />
Transparenz Fehlanzeige: Benzinpreise steigen in<br />
Deutschland mangels Wettbewerb immer weiter<br />
Foto: Picture Alliance/DPA<br />
92 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Politik klagt über die mangelnde Markttransparenz<br />
und den fehlenden Wettbewerb<br />
in der deutschen Mineralölwirtschaft.<br />
Automobilclubs wie der ADAC und Verbraucherschützer<br />
prangern die Gier von<br />
Aral, Shell, Esso und Co an. Und die gescholtenen<br />
Konzerne geben über ihre Interessenverbände<br />
der Politik die Schuld am<br />
Preisanstieg – wegen der hohen Steuern<br />
auf Benzin.<br />
Zuletzt diskutierte die Bundesrepublik<br />
vor Ostern über die Kraftstoffpreise, <strong>als</strong><br />
ein Liter Benzin mehr <strong>als</strong> 1,71 Euro kostete.<br />
Boulevardzeitungen und Talkshows<br />
machten die Preistreiberei der Ölmultis<br />
zum Thema. Minister aus Bund und Ländern<br />
versprachen, für eine Preisbremse bei<br />
den Kraftstoffen sorgen zu wollen.<br />
Bei Worten ist es bisher geblieben –<br />
wie immer, wenn der Kraftstoffmarkt in<br />
Deutschland reguliert werden sollte. Der<br />
Benzinpreis beschäftigt die deutsche Politik<br />
seit Jahrzehnten. Als der Preis pro Liter<br />
Benzin in den siebziger Jahren über eine<br />
D‐Mark stieg, wurden bereits die Klagen<br />
über die zu große Macht von Aral, Shell<br />
und den anderen Markenkonzernen laut.<br />
Passiert ist seitdem wenig, der Preis stieg<br />
weiter.<br />
Eines ist dieses Jahr neu: Bundeswirtschaftsminister<br />
Philipp Rösler (FDP) hat<br />
im Benzinpreis ein Thema entdeckt, mit<br />
dem er beim Wähler punkten will. „Den<br />
Ärger der Autofahrerinnen und Autofahrer<br />
über das Auf und Ab der Benzinpreise<br />
kann ich sehr gut nachvollziehen. Es ist<br />
für sie überhaupt nicht mehr ersichtlich,<br />
wie die Preise zustande kommen“, sagte<br />
Rösler in Berlin. Er kündigte nach Ostern<br />
an, die Mineralölkonzerne unter strenge<br />
Aufsicht stellen zu wollen. Dazu soll eine<br />
Markttransparenzstelle geschaffen werden,<br />
die die Ein- und Verkaufspreise für<br />
Benzin und Diesel erhebt und auswertet.<br />
Die Kartellbehörden könnten so Anhaltspunkte<br />
für etwaige Verstöße finden und<br />
„missbräuchliches Verhalten der großen Mineralölkonzerne<br />
leichter aufdecken und<br />
verfolgen“, behauptet Rösler. Sein Gesetzentwurf<br />
wurde im Mai vom Kabinett beschlossen.<br />
Der Bundestag muss dem Gesetz<br />
noch zustimmen. Es soll noch in diesem<br />
Jahr in Kraft treten. Die Transparenz und<br />
der Wettbewerb würden damit erhöht, verspricht<br />
Rösler. Mit dieser Meinung steht<br />
der Bundeswirtschaftsminister aber ziemlich<br />
alleine da.<br />
Die Ministerpräsidenten verschiedener<br />
Bundesländer hatten stattdessen von Rösler<br />
staatliche Eingriffe in den Kraftstoffmarkt<br />
gefordert. Von einer Preisregulierung durch<br />
Behörden wollte Rösler jedoch nichts wissen,<br />
sie verstößt gegen liberale Grundsätze<br />
und käme in der FDP nicht gut an. Rösler<br />
entschied sich für eine Kompromisslösung,<br />
die niemandem wehtut, aber auch keinem<br />
wirklich nützt. Brancheninsider und das<br />
Bundeskartellamt bezweifeln, dass die Verbraucher<br />
von Röslers Initiative profitieren.<br />
Das System der Kraftstoffpreisgestaltung<br />
habe sich über Jahre bewährt, sagt<br />
ein Mitarbeiter eines großen Mineralölkonzerns.<br />
„Es gibt keine schriftliche Abmachung<br />
zwischen den Unternehmen. Das<br />
Aral und<br />
Shell erhöhen<br />
meist <strong>als</strong> Erste,<br />
die anderen<br />
ziehen<br />
innerhalb<br />
weniger<br />
Stunden nach<br />
System ist über Jahre gewachsen, es funktioniert.<br />
Warum sollte das jemand ändern?<br />
Die großen Konzerne Aral, Shell, Esso, Jet<br />
und Total bestimmen die Preise. Keiner redet<br />
darüber.“<br />
Der Mitarbeiter bricht das Schweigen<br />
und damit auch eine eherne Branchenregel.<br />
Sein Name, Alter oder Arbeitgeber dürfen<br />
nicht genannt werden, um ihn nicht<br />
zu enttarnen. Er beschreibt das System der<br />
Preisgestaltung an den deutschen Tankstellen.<br />
Die großen fünf Mineralölkonzerne in<br />
Deutschland unterhielten Abteilungen, die<br />
das sogenannte „Pricing“ betreiben. Dort<br />
arbeiten jeweils sieben oder acht Mitarbeiter,<br />
bei denen die Informationen über<br />
die Preise der Konkurrenz zusammenlaufen.<br />
Mehrfach am Tag melden die Pächter<br />
der Tankstellen per SMS, E-Mail oder Telefon,<br />
was die anderen Mineralölkonzerne<br />
für einen Liter Kraftstoff berechnen. Für<br />
verschiedene Großregionen werde jeweils<br />
die Wettbewerbslage analysiert und per<br />
Computer ein Durchschnittswert ermittelt.<br />
Per Tastendruck ändert die Zentrale dann<br />
die regionalen Preise auf den Anzeigentafeln<br />
der Tankstellen und den Zapfsäulen.<br />
Seit Jahren hat keiner der großen Mineralölkonzerne<br />
gegen das Pricing-Modell<br />
verstoßen. Keiner der Anbieter habe Interesse<br />
daran, dauerhaft mit Dumping preisen<br />
die Konkurrenten auszustechen, sagt der<br />
Insider. Einen echten Wettbewerb gibt es<br />
nicht, auch weil die Mineralölkonzerne gemeinsam<br />
Raffinerien betreiben und sich<br />
untereinander Rohöl und Benzin verkaufen.<br />
Solange die Großen sich an das System<br />
halten, hat der Verbraucher keine echte<br />
Chance, günstiger an Benzin zu kommen.<br />
Direkte Absprachen treffen die Anbieter<br />
dabei nicht – auch damit das Bundeskartellamt<br />
keine Beweise für etwaige<br />
Verstöße bekomme. Drei Jahre lang haben<br />
die staatlichen Wettbewerbshüter die<br />
deutschen Tankstellen überwacht, dokumentiert,<br />
wie die Benzinpreise stiegen und<br />
fielen, das Angebot der Konkurrenten verglichen<br />
und doch keinen Beweis für Gesetzesverstöße<br />
gefunden. Sie konnten lediglich<br />
feststellen, dass die großen fünf ihre<br />
Preise stets nach dem gleichen Muster erhöhen<br />
und senken.<br />
„Das läuft wie in einer langjährigen Ehe,<br />
da können die Partner sich auch ohne Absprachen<br />
darauf verlassen, dass einer am<br />
nächsten Morgen das Frühstück macht.<br />
Fast immer erhöhen Aral und Shell <strong>als</strong><br />
Erste die Preise. Nach exakt drei oder fünf<br />
Stunden folgen die anderen Anbieter“,<br />
sagt Kartellamtspräsident Andreas Mundt.<br />
„Wer die Preise erhöht, geht <strong>als</strong>o kaum ein<br />
Risiko ein, dass die Kunden zum Wettbewerber<br />
wechseln.“ Es ist ein raffiniertes<br />
System des Abguckens und Nachmachens.<br />
Ändern können die Wettbewerbshüter das<br />
System nicht. Preise abzusprechen, ist verboten,<br />
den Markt zu analysieren, nicht.<br />
Darauf verweist auch der Mineralölwirtschaftsverband<br />
(MWV). Das neue<br />
Gesetz aus dem Wirtschaftsministerium<br />
lehnt der Verband ab. „Was Herr Rösler<br />
mit dem Markttransparenzstellen-Gesetz<br />
fordert, klingt nach Verzweiflungstat, zumal<br />
er selbst eingesteht, dass sich für den<br />
Verbraucher nichts ändert“, sagt Klaus Picard,<br />
Geschäftsführer des MWV. „Die Benzinpreise<br />
richten sich nicht nach Feiertagen<br />
und Urlaubsanfang, sondern nach den<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 93
| K a p i t a l | R a f f i n i e r t e s P r e i s s y s t e m<br />
Einkaufskosten, und das sind Weltmarktpreise.“<br />
Die Mitgliedsunternehmen seines<br />
Verbands, zu denen Shell, Aral, Esso, Total<br />
und Jet gehören, wollten einen freien<br />
Wettbewerb.<br />
Frei heißt aus Sicht der Lobbyisten vor<br />
allem wenig Staat. Frei ist der Benzinpreis<br />
in Deutschland allerdings keineswegs. Die<br />
freien Tankstellen legten im vergangenen<br />
Jahr Beschwerde beim Kartellamt gegen<br />
die Großen der Branche ein. Sie kaufen ihr<br />
Benzin bei den großen fünf. Die Mineralölkonzerne<br />
berechnen den Freien manchmal<br />
mehr pro Liter, <strong>als</strong> sie selber von Privatkunden<br />
an der Zapfsäule kassieren. Im April eröffnete<br />
das Kartellamt ein Verfahren gegen<br />
Aral, Shell, Esso, Total und Jet, weil diese<br />
den Marktzugang der Freien Tankstellen<br />
erschweren sollen. Von einem Oligopol auf<br />
dem Kraftstoffmarkt sprechen Mundt und<br />
Vertreter des Bundeswirtschaftsministeriums,<br />
die sonst eher zur sprachlichen Zurückhaltung<br />
neigen.<br />
Mehr <strong>als</strong> die Hälfte der rund<br />
14 700 Straßentankstellen in Deutschland<br />
gehören den großen Marken: Aral<br />
(BP), Shell, Esso (ExxonMobil), Jet (ConocoPhillips)<br />
und Total. Auch die Tankstellen<br />
an großen Supermärkten gehören meist<br />
den Marktführern, auch wenn sie unter anderen<br />
Namen firmieren. 70,5 Prozent der<br />
in Deutschland verkauften Kraftstoffe gehen<br />
auf die großen Markengesellschaften<br />
zurück, teilt das Bundeswirtschaftsministerium<br />
mit. Einer der größten Konzerne ist<br />
Shell. Das Unternehmen bestätigt, dass die<br />
Preise an den rund 2200 Shell-Stationen<br />
in Deutschland zentral aus der Preisabteilung<br />
in der Hamburger Zentrale gesteuert<br />
würden. Je intensiver der Wettbewerb,<br />
desto wahrscheinlicher sind Preisbewegungen,<br />
heißt es bei Shell. Eine Zusammenarbeit<br />
mit der Konkurrenz bei der Preisgestaltung<br />
weist Shell zurück: „Preisabsprachen<br />
sind kartellrechtlich verboten.“ Die Branche<br />
wiederholt diesen Satz wie ein Mantra.<br />
Röslers neue Markttransparenzstelle<br />
brauchen die großen fünf nicht zu fürchten.<br />
Die Lobbyisten der Mineralölwirtschaft<br />
kämpfen hinter den Berliner Kulissen<br />
dennoch gegen das „bürokratische<br />
Monster“, wie der MWV das geplante<br />
Gesetz nennt: Die neue Transparenzstelle<br />
würde zu mehr Verwaltungsaufwand und<br />
damit zu steigenden Kosten bei den Unternehmen<br />
und schließlich zu höheren Preisen<br />
führen.<br />
Aber auch beim Kartellamt steht man<br />
dem Gesetzesvorhaben sehr skeptisch gegenüber.<br />
Präsident Mundt hatte in der Vergangenheit<br />
gefordert, dass der Gesetzgeber<br />
ihm die Möglichkeiten geben müsse,<br />
für mehr Wettbewerb zu sorgen. Solange<br />
das Oligopol der Mineralölkonzerne in<br />
Deutschland bestehen bleibt, sind ihm<br />
diesbezüglich die Hände gebunden. Nun<br />
formuliert er seine Einwände gegen den<br />
Rösler-Vorstoß sehr diplomatisch. Die fehlende<br />
Transparenz, die Rösler beklagt, sei<br />
gar nicht das Problem auf dem Kraftstoffmarkt.<br />
„In diesem sehr speziellen Markt<br />
weiß jeder Anbieter stets, wie sich die Konkurrenten<br />
verhalten werden, wie sich die<br />
Preise entwickeln werden“, sagt Mundt. Er<br />
Röslers<br />
Vorschlag sorgt<br />
nur für mehr<br />
Daten, einen<br />
Einfluss auf die<br />
Benzinpreise<br />
hat er nicht<br />
bemüht sich darum, dass der Gesetzentwurf<br />
von Rösler noch abgeändert wird: „So<br />
ist die wöchentliche Lieferung von Preisdaten<br />
der Raffinerien, wie der Gesetzentwurf<br />
es vorsieht, unserer Meinung nach nicht<br />
nötig. Die Frage ist, ob der Aufwand die<br />
von uns gewonnenen Erkenntnisse deckt.“<br />
Wenn jede Tankstelle die Einkaufs- und<br />
Verkaufspreise an die Markttransparenzstelle<br />
melden muss, dürften dort täglich<br />
mehr <strong>als</strong> eine Million Datensätze auflaufen.<br />
Diesbezüglich herrscht seltene Übereinstimmung<br />
der Ansichten zwischen Kartellamt<br />
und den Mineralöllobbyisten.<br />
Zuvor waren zwei andere Modelle im<br />
Gespräch: Das österreichische Modell<br />
schreibt vor, dass Tankstellen lediglich<br />
einmal am Tag die Preise erhöhen dürfen.<br />
Die Mineralöllobby hatte diesem Modell<br />
durchaus etwas abgewinnen können, Spötter<br />
sagen sogar, sie hätte es selbst vorgeschlagen:<br />
Das Abgucken und Nachmachen<br />
der Preise der Konkurrenten wird dadurch<br />
noch einfacher, weil der Kraftstoff über einen<br />
längeren Zeitpunkt das Gleiche kostet.<br />
Zudem waren die Benzinpreise in Österreich<br />
nach der Einführung des Modells<br />
dauerhaft gestiegen.<br />
Gegen das westaustralische Modell hingegen<br />
hatten die Lobbyisten leidenschaftlich<br />
gekämpft. Die insgesamt 550 Tankstellen<br />
in Westaustralien müssen täglich<br />
ihre Preise für den kommenden Tag melden<br />
und dürfen diesen dann 24 Stunden<br />
lang nicht mehr ändern. Alle Preise werden<br />
im Internet veröffentlicht. Kunden<br />
können sich sicher sein, an der Zapfsäule<br />
den Preis vorzufinden, den sie im Internet<br />
recherchiert haben. Für die Autofahrer<br />
wird es so einfacher, die Preise der unterschiedlichen<br />
Anbieter zu vergleichen. Der<br />
MWV spricht dennoch von einem „Loser-Modell“,<br />
das sich nicht einmal in ganz<br />
Australien durchsetzen konnte und lediglich<br />
in einer unbedeutenderen Provinz angewandt<br />
werde.<br />
Kartellamtspräsident Mundt hatte sich<br />
dagegen für das australische Modell ausgesprochen.<br />
Durch die Preisfestlegung<br />
am Vortag werde das bisherige feste System<br />
der Preisangleichung aufgebrochen, da<br />
die Konkurrenten nicht mehr voneinander<br />
abschauen können, sagt Mundt. Damit<br />
konnte er sich im Wirtschaftsministerium<br />
nicht durchsetzen.<br />
Rösler entschied sich am Ende gegen<br />
das westaustralische und gegen das österreichische<br />
Modell und setzte sein eigenes<br />
Kompromissmodell durch, das lediglich<br />
dazu führen wird, dass mehr Daten erfasst<br />
werden: Die beim Kartellamt gesammelten<br />
Informationen sollen auch nicht veröffentlicht<br />
werden. Die Preise werden durch<br />
Röslers Modell nicht sinken. Im kommenden<br />
Jahr wird Deutschland <strong>als</strong>o wieder vor<br />
Ostern und vor den Sommerferien über<br />
steigende Kraftstoffpreise diskutieren. Das<br />
Bundeskartellamt dürfte dann über noch<br />
mehr Daten verfügen, um ein raffiniertes<br />
System der Preisgestaltung unter den Mineralölkonzernen<br />
nachzuweisen – das ohne<br />
Änderung des Wettbewerbsrechts jedoch<br />
ganz legal bleiben wird.<br />
Hauke Friederichs<br />
arbeitet <strong>als</strong> freier Journalist.<br />
Hohe Benzinpreise betreffen ihn<br />
<strong>als</strong> leidenschaftlichen Bahnfahrer<br />
nur selten<br />
Foto: Hannah Schuh/Arne Mayntz<br />
94 <strong>Cicero</strong> 7.2012
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Brandenburgs Spitze<br />
Für wenige war der Weg auf die Bühne steiniger <strong>als</strong> für Mandy Fredrich, die Königin dieses Opernsommers<br />
von Eva gesine Baur<br />
N<br />
aturliebende wissen, wo der<br />
Fläming liegt, dieser verschlafen-schöne<br />
Landschaftszug in der<br />
Mark Brandenburg. Mozartliebende aus aller<br />
Welt werden es auch bald wissen wollen.<br />
Denn von dort stammt Mandy Fredrich.<br />
Und die singt Ende Juli bei den Salzburger<br />
Festspielen jene Partie, die <strong>als</strong> die größte<br />
Herausforderung der Opernliteratur gilt:<br />
die Königin der Nacht in Mozarts „Zauberflöte“.<br />
„Da heißt es alles oder nichts“, sagt<br />
die Sopranistin. Wenn sie die dreigestrichenen<br />
Fs nicht trifft, kann sie das Übrige<br />
himmlisch singen, und keiner wird sich daran<br />
erinnern. Diese kaum singbaren Spitzentöne<br />
machen aus der Partie einen Hochleistungssport,<br />
reine Nervensache.<br />
Mandy Fredrich glaubt an Yoga und<br />
Selbstsuggestion. Sie sagt nicht: Ich will das<br />
schaffen. Sie sagt: „Ich werde in der Felsenreitschule<br />
stehen und losfliegen.“ So wie sie<br />
sich jahrelang sagte: „Ich muss mein Geld<br />
nicht mit Singen verdienen, aber ich werde<br />
es.“ Diese Zuversicht hat sie bereits über<br />
viele Abgründe hinweggetragen.<br />
Als ihre Eltern in der damaligen DDR<br />
ihrer ältesten Tochter 1974 den Vornamen<br />
Mandy gaben, hatte Barry Manilow seinen<br />
gleichnamigen Welthit schon millionenmal<br />
verkauft. „I sent you away“, bedauert darin<br />
ein Liebhaber und erkennt zu spät: „But I<br />
need you today.“ Mandys Vater hatte das<br />
Lied im Programm. Der gelernte Agraringenieur<br />
war so gut wie jedes Wochenende<br />
mit seiner Band unterwegs, spielte Tanzmusik<br />
auf Hochzeiten und Schützenfesten.<br />
Mit 16 stieg seine Tochter, die Klavier<br />
und Orgel gelernt hatte, ein: <strong>als</strong> Keyboarderin,<br />
umzingelt von älteren Männern.<br />
„Von Oper wusste ich gar nichts“, sagt sie.<br />
„Und vom Singen auch nicht.“<br />
Das änderte sich, <strong>als</strong> an der städtischen<br />
Musikschule von Belzig eine Gesangspädagogin<br />
eingestellt wurde. In der Kapelle<br />
einer Rehaklinik in Belzig gab Mandy ihren<br />
ersten Auftritt <strong>als</strong> Solistin. Nicht mit<br />
Mozart, sondern mit Lloyd Webbers Song<br />
„Memory“ aus dem Musical „Cats“. „Ich<br />
bin schier gestorben vor Angst. Danach<br />
wusste ich aber, Singen ist meins.“<br />
Doch während Mandy, wie auch heute<br />
noch, im Garten ihrer Eltern Unkraut jätete<br />
oder den neuesten Rosenstock einpflanzte,<br />
lag die Hoffnung, jem<strong>als</strong> auf einer<br />
Opernbühne zu stehen, in weiter Ferne.<br />
So weit entfernt wie die Raumsonde Voyager,<br />
bestückt mit einer goldenen Platte, die<br />
anderen Planetensystemen mitteilen soll,<br />
welche Klänge die Menschheit geschaffen<br />
hat. Dort findet sich neben aserbaidschanischen<br />
Sackpfeifern und einem Blues von<br />
Louis Armstrong die zweite Arie der Königin<br />
der Nacht.<br />
Die Hoffnung rückte näher, <strong>als</strong> Mandy<br />
beim Wettbewerb „Jugend musiziert“ 2002<br />
zuerst regional in Potsdam, dann in Frankfurt<br />
an der Oder und schließlich beim Bundesausscheid<br />
in Nürnberg gewann. In der<br />
Frankfurter Jury saß Jutta Schlegel, Professorin<br />
an der Berliner Musikhochschule.<br />
Die fragte: „Wollen Sie nicht Sängerin werden?“<br />
Mandy hatte vor, zuerst einmal die<br />
Ausbildung <strong>als</strong> Mediengestalterin zu beenden.<br />
Ihr Ziel: „Mit Musik zu tun haben,<br />
aber auch Chancen auf einen Job.“ Während<br />
sie bei der Deutschen Welle ihr Geld<br />
verdiente, bereitete sie sich auf die Aufnahmeprüfung<br />
an der Musikhochschule vor.<br />
Erster Versuch: Berlin, Frühjahr 2003. Urteil<br />
der Kommission: Sie sind etwas zu alt<br />
und ihr Italienisch ist zu schlecht. Zweiter<br />
Versuch: Berlin, Sommer 2003. Urteil der<br />
Kommission: Sie sind viel zu alt, Sie werden<br />
es nicht mehr schaffen.<br />
Doch in Gesangspädagogik schaffte<br />
sie die Prüfung. Und noch viel mehr. Sie<br />
packte ihre Kurse so zusammen, dass sie<br />
in der Nachtschicht arbeiten konnte. „Ich<br />
bin durch mein Leben gerannt.“ Was sie<br />
verdiente, gab sie fürs Singen aus. Für<br />
Meisterkurse. „Die habe ich gebraucht.“<br />
Musikalisch wie seelisch, denn die Hochschule<br />
erprobte an ihr die hohe Schule der<br />
Entmutigung. Ohne Erfolg. Mandy meldete<br />
sich ein drittes Mal an zur Aufnahmeprüfung<br />
für Gesang. Und bestand, trotz einer<br />
H<strong>als</strong>entzündung. Es hieß jedoch: Sie<br />
werden bestenfalls Soubrette.<br />
Dann kam Robert Gambill <strong>als</strong> Professor<br />
an die Hochschule. „Der sagte: Du<br />
gehörst auf die Bühne, ich seh’s an deinen<br />
Augen.“ 2008 hat Gambill „die Königin<br />
aus dem Schrank geholt“, erinnert<br />
sie sich. „Ich wusste gar nicht, dass ich so<br />
hohe Töne hatte.“ Ihr gefeiertes Königinnen-Debüt<br />
gab sie in Hof. Mal nachts, mal<br />
tags schuftete sie neben dem Engagement<br />
weiter, sang im selben Jahr an der Detmolder<br />
Oper vor und wurde aufgenommen.<br />
Ihr Geld steckte sie weiterhin in sündhaft<br />
teure Meisterklassen. „Renata Scotto hat alles<br />
gelobt, was ich angeblich nicht konnte<br />
und hatte. Mein Piano und mein Timbre<br />
für Belcanto.“ Doch sie musste weiterrennen,<br />
auch auf Gesangswettbewerbe. „Nur<br />
der erste Preis zählt“, erklärte ihr die legendäre<br />
italienische Sopranistin.<br />
In der Semperoper in Dresden holte<br />
Mandy Fredrich sich 2010 einen besonders<br />
begehrten Preis in der „Competizione<br />
dell’Opera“. Mit Mozart und Belcanto.<br />
Spätestens seit diesem Zeitpunkt dürften<br />
viele gesagt haben „I sent you away. But<br />
I need you today.“ Mandy lacht darüber.<br />
„Ich habe mich nie beklagt. Ich habe immer<br />
an meine Großmutter gedacht. Wenn<br />
ich mit vier Freunden statt alleine bei ihr<br />
eingefallen bin, hat sie eben für fünf Gäste<br />
gekocht. Zur Not für einen Rotkohl, für<br />
einen Weißkohl und für einen Grünkohl.“<br />
Alles geht, zeigte die Großmutter. Die Enkelin<br />
auch. „Du darfst dir nur die Lebensfreude<br />
nicht abwürgen lassen.“<br />
Eva gesine Baur<br />
schreibt Biografien und Romane,<br />
die von Musik handeln. Zuletzt<br />
erschien ihr Buch über „Emanuel<br />
Schikaneder“ (C. H. Beck)<br />
Fotos: Götz Schleser, privat (Autorin)<br />
96 <strong>Cicero</strong> 7.2012
„Ich habe mich<br />
nie beklagt.<br />
Alles geht. Ich<br />
werde in der<br />
Felsenreitschule<br />
stehen und<br />
losfliegen“<br />
Von der Rehaklinik zur Salzburger<br />
Festspielbühne: Mandy Fredrich<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 97
| S a l o n<br />
gefühlsimplosionen<br />
Die Koreanerin Haegue Yang, Star der Documenta 13, macht Kunst aus dem Dilemma des Verlusts<br />
von Birgit Sonna<br />
M<br />
it Haegue Yang unter vier Augen<br />
ins Gespräch zu kommen, ist in<br />
etwa so schwierig, <strong>als</strong> würde man<br />
sich mit Brad Pitt heimlich vor der Premiere<br />
seines jüngsten Hollywoodfilms treffen.<br />
Konspirativ sind bei der eben eröffneten<br />
Documenta gleich mehrere Interviews anberaumt,<br />
die aber verwirrenderweise erst<br />
kurz vorher mit genauer Ortsangabe bestätigt<br />
werden. Und frühmorgens, <strong>als</strong> Haegue<br />
Yang dann bei ihrer Jalousieninstallation<br />
im Halbdunkel des Kulturbahnhofs, Kassels<br />
ehemaligem Güterbahnhof, steht, wird<br />
sie aus dem Hinterhalt von einer Journalistin<br />
aus Peru aufgespürt, die sich lauth<strong>als</strong><br />
beschwert, trotz unzähliger Anfragen nicht<br />
zu ihr vorgelassen worden zu sein.<br />
Die Südkoreanerin mit Wohnsitz in<br />
Berlin gehört zu den begehrtesten Künstlerinnen<br />
der Gegenwart. Und das zu Recht.<br />
Kaum jemand anderes ist imstande, mit<br />
eher modesten und minimalen Mitteln<br />
so berührende, wie aus der Zeit gefallene<br />
Parallelkosmen heraufzubeschwören. Aus<br />
Kleiderständern, Kabeln und Textilem,<br />
aus Ventilatoren und Glühbirnen, aus<br />
Europapaletten und Bierkisten, kurzum<br />
aus gemeinhin unbeachteten, funktionalen<br />
Alltagsmaterialien arrangiert sie<br />
leichthändig Skulpturen, <strong>als</strong> seien diese<br />
Ikebana-Gestecke.<br />
Die Aufregung um ihre Person lässt<br />
Haegue Yang relativ kalt. „Um ehrlich zu<br />
sein, für mich spielt es keine so übermäßige<br />
Rolle, hier vertreten zu sein“, sagt<br />
sie. „Ich gebe nichts auf den Hype.“ Vielmehr<br />
beschäftige sie die Frage, wie sie es<br />
schaffe, dass jemand auch einen Gewinn<br />
davon hat, ihre Arbeit zu verfolgen. Mit<br />
zwei Werken ist sie auf der Weltkunstschau<br />
präsentiert. Während wir sprechen, führt<br />
ihre Konstruktion aus Aluminiumjalousien<br />
im Hintergrund einen ziemlich spukhaften,<br />
motorisierten Tanz auf. Parallel dazu<br />
ist im Staatstheater Kassel ein von ihr nach<br />
Marguerite Duras’ Novelle „Die Krankheit<br />
Tod“ inszeniertes Monodrama zu sehen.<br />
Das beunruhigende mechanische Klicken<br />
ihrer schwarzen Jalousien will auch<br />
nicht aufhören, während die Künstlerin<br />
mit rauer Stimme davon schwärmt, wie sie<br />
„Ich gebe nichts auf den Hype.<br />
Mich interessieren eher die<br />
doppelbödigen Emotionen“<br />
Haegue Yang<br />
sich in diesen Ort der Tristesse verliebt hat,<br />
an dem wir uns befinden. Es ist, <strong>als</strong> würde<br />
man einem von Geisterhand dirigierten<br />
Schauspiel der permanenten Ver- und Enthüllung<br />
beiwohnen. Yangs gekonnt ausbalancierte<br />
Choreografie des Lichtes, das<br />
durch den Fensterschutz fällt, lädt die Atmosphäre<br />
der Verlassenheit am Bahnsteig<br />
noch weiter auf. „Wie Sie sehen, ist der<br />
Mechanismus der Jalousien eher ungelenk<br />
wie ein sehr simpler, primitiver Roboter“,<br />
sagt sie. Modernismus kann verschiedene<br />
Facetten haben, und heute kennen wir ihn<br />
vor allem in Form glattester, reinster Kultiviertheit.<br />
Aber diese Arbeit, an diesem<br />
Ort erinnert eher an den Beginn der Industrialisierung,<br />
an das ruhmreiche Kassel<br />
mit seinen Lokomotiven und großen<br />
Lastwagen.<br />
Magische Interferenzen zwischen<br />
den Kulturen und Zeiten, zwischen Öffentlichem<br />
und Privatem, zwischen West<br />
und Ost schließen sich oft durch Haegue<br />
Yangs Skulpturen auf. Nicht zuletzt ist<br />
diese Gleichzeitigkeit des Unzeitgleichen<br />
biografisch begründet. Nach dem eher lustlosen<br />
Beginn eines traditionell ausgerichteten<br />
Kunststudiums in Seoul nahm Professor<br />
Georg Herold von der Frankfurter<br />
Städelschule sie schon bei ihrer ersten Europareise<br />
unter die Fittiche. Yang konnte<br />
es anfangs selbst nicht recht glauben, ohne<br />
irgendein Hindernis quasi im Olymp der<br />
deutschen Kunstakademien gelandet zu<br />
sein. Vergleichsweise rasant erfolgte dann<br />
auch der Aufstieg in der Kunstwelt. Mit<br />
Soloausstellungen brillierte sie im New<br />
Museum in New York und am Kunsthaus<br />
Bregenz, auf der Kunstbiennale in Venedig<br />
vertrat sie 2009 ihre Heimat im Länderpavillon<br />
und schaffte damit den endgültigen<br />
Durchbruch. Der anhaltende Schwebezustand<br />
des Entfremdetseins hat sie dabei<br />
nie verlassen: „Ich bin ja relativ jung, teile<br />
aber in puncto Modernisierung <strong>als</strong> Koreanerin<br />
eher den gesellschaftlichen Erfahrungsschatz<br />
der älteren Generation hier in<br />
Europa“, sagt sie. „Mich interessieren doppelbödige<br />
Emotionen.“<br />
Dass Haegue Yang nun zum inzwischen<br />
dritten Mal die um die Unmöglichkeit<br />
der Liebe kreisende Novelle von<br />
Marguerite Duras auf die Bühne bringt, hat<br />
sicher auch mit der gefühlten Verwandtschaft<br />
zu der von Kindheit an in Indochina<br />
lebenden französischen Autorin zu<br />
tun. „Ich denke, Duras spürte, dass sie nie<br />
eine richtige Heimat hatte und dies ihre<br />
Sehnsucht ausmachte. Sie lebte mehr in<br />
dem Zustand des Dilemmas und Verlusts<br />
<strong>als</strong> in einem Erfülltsein.“ Genau diese Zustände<br />
sind es auch, für die Yang und ihre<br />
Kunst den Filter liefern, den Verstärker, mit<br />
dessen Hilfe man in der kollektiven und in<br />
der persönlichen Erinnerung verschiedene<br />
Zeitachsen entlangfahren kann. So lange,<br />
bis die Gefühle implodieren.<br />
Birgit Sonna<br />
ist Autorin und Kunstkritikerin<br />
Foto: Stefan Kröger, Privat (Autorin)<br />
98 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Die Künstlerin Haegue Yang<br />
vor ihrer Installation in Kassel<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 99
| S a l o n<br />
Mit dem Leben<br />
davongekommen<br />
Sibylle Berg, die erbarmungsloseste Schriftstellerin deutscher Sprache, nimmt die Dinge jetzt gelassen<br />
von Daniel Schreiber<br />
A<br />
uf der Dachterrasse des „Grieder<br />
les Boutiques“, dem Luxuskaufhaus<br />
an der Bahnhofstraße,<br />
schaut man auf die Kuppeln der Zürcher<br />
Altstadt, dazwischen strahlen die Alpen in<br />
beruhigendem Frühsommergrün. Anstelle<br />
von „danke“ sagt man hier „merci“ und<br />
spricht das Wort wie „mercy“ aus, den englischen<br />
Begriff für Gnade. Sibylle Berg sitzt<br />
vor einem grünen Tee, in einer schwarzen<br />
Knautschsatinjacke von Rick Owens, das<br />
erdbeerblonde Haar zu einem langen Zopf<br />
gebunden. Die zapfenförmigen Säulen, die<br />
die Terrasse begrenzen, nennt sie hartnäckig<br />
„Phalli“ oder „Eicheln“ und die handverlesenen<br />
schwulen Kellner „schöne junge<br />
Fleischhappen“. Gerade hat sie ein Theaterstück<br />
fertig geschrieben, hat deswegen Rückenschmerzen<br />
und würde gerne sterben.<br />
Und wo wir schon dabei sind: Klüger und<br />
reicher wäre sie gleich auch gern. Seit einer<br />
Woche verfolgt sie die Liveübertragung der<br />
Schachweltmeisterschaft in Moskau. „Ich<br />
glaube, diese Schachspieler regen sich nicht<br />
mehr auf“, sagt sie. Ausweichmanöver. Sie<br />
muss sich erst einmal ein Bild von ihrem<br />
Gegenüber machen. Sie lächelt.<br />
Berg ist eine der meistgelesenen Kolumnistinnen<br />
Deutschlands, eine Autorin,<br />
Reporterin und Dramatikerin, für<br />
die sich die Kollegen seit fast zwei Jahrzehnten<br />
fantasievollste Labels ausdenken.<br />
„Die Nase ist ein bisschen kleiner,<br />
aber sonst ist das Alien-Gesicht<br />
wieder ganz das alte“<br />
Berg über ihre Gesichtsrekonstruktion nach einem Autounfall<br />
Als „Designerin des Schreckens“ wurde<br />
sie bezeichnet, <strong>als</strong> „moralinsaures Monster“,<br />
„über Leichen latschende Schlampe“,<br />
„Höllenfürstin des Theaters“, „Kassandra<br />
des Klamaukzeitalters“, oder, schon etwas<br />
origineller, <strong>als</strong> „Hasspredigerin der Singlegesellschaft“.<br />
Liegt es vielleicht daran, dass<br />
Menschen, die so etwas schreiben, Bergs<br />
mittlerweile zehn erfolgreiche Romane und<br />
zwölf Theaterstücke einfach nur nicht verstehen?<br />
Dass sie die Mitleidlosigkeit ihrer<br />
literarischen Stimme verkennen und ihren<br />
Zivilisationsekel für eine zynische Attitüde<br />
halten? Dass sie sich auf die Füße<br />
getreten fühlen, wenn Berg darüber rätselt,<br />
„wie Männer es immer wieder schaffen,<br />
an die Spitze zu kommen, allein weil<br />
sie es eben wollen“? Oder daran, dass solche<br />
Leute glauben, es handle sich lediglich<br />
um eine kalkulierte Provokation, wenn sie<br />
anstelle von „Sex“ über „Geschlechtsverkehr“<br />
schreibt, ihren viel gelesenen Twitter-<br />
Account mit „Kaufe nix, ficke niemanden“<br />
übertitelt und mit leichter Hand behauptet,<br />
dass die heutzutage vermittelte Idee der<br />
Liebe nur ein „Marketinginstrument“ sei,<br />
um „Waschmittel zu verkaufen“?<br />
Es ist kein Zufall, dass es sich bei vielen<br />
von Bergs größten Kritikern um Männer<br />
handelt, die regelmäßig gerne darauf<br />
verweisen, wie seltsam ihr Gesicht auf den<br />
Autorenfotos aussieht und wie dünn sie in<br />
ihren gelegentlichen Talkshowauftritten<br />
wirkt. Berg scheint ein Weiblichkeitsbild<br />
zu verkörpern, mit dem viele nicht umgehen<br />
können.<br />
Vielleicht auch, um dieser Geschlechterfalle<br />
zu entkommen, hat sie einen Hermaphroditen<br />
zur Hauptfigur ihres Ende<br />
Juli erscheinenden Romans gemacht. Drei<br />
Jahre hat sie daran gearbeitet. Ein Wälzer,<br />
ihr bisher längstes Buch. Der Hermaphrodit<br />
heißt Toto, wurde in der DDR geboren,<br />
einem „Land, in dem alte Nation<strong>als</strong>ozialisten<br />
Kommunismus spielten“,<br />
und von seiner alkoholkranken Mutter<br />
so genannt, weil er sie an ein Hündchen<br />
erinnerte. „Das Baby sah zu wenig nach<br />
Nichts aus, <strong>als</strong> dass sie es einfach hätte<br />
ignorieren können“, heißt es im Roman.<br />
Im Heim wird Toto von einer faschistoiden<br />
Stasifunktionärin gequält und für ein<br />
bisschen frischen Spargel <strong>als</strong> Arbeitstier<br />
an eine saufende Bauernfamilie verkauft.<br />
Nachdem er es irgendwie in den Westen<br />
schafft, wird er immer mal wieder krankenhausreif<br />
geschlagen, ob in der Hippiekommune,<br />
im Obdachlosenheim, in der<br />
Bar, wo er in traurigstem F<strong>als</strong>ett singt,<br />
oder in der Fabrik, in der er kurzzeitig arbeitet.<br />
Totos große Liebe, der Investmentbanker<br />
Kasimir, lässt ihm eine radioaktive<br />
Sonde in den Magen setzen, um ihm beim<br />
langsamen Sterben zuzuschauen. Und sogar<br />
<strong>als</strong> Obdachloser im Paris-Simulakrum<br />
der Zukunft wird er noch von einer Polizistin<br />
misshandelt. „Vielen Dank für das<br />
Leben“, heißt der Roman, der Titel ist übrigens<br />
ernst gemeint. Denn Toto ist mit einer<br />
besonderen Gabe ausgestattet: Er weiß,<br />
dass der Hass, der ihm entgegengebracht<br />
wird, nicht wirklich ihm gilt. Immer wieder<br />
gelingt es ihm, sich voller Dankbarkeit<br />
den „Witz seines Aufenthalts auf diesem<br />
Foto: Katharina Lütscher<br />
100 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Sibylle Berg in<br />
Zürich, wo sie seit<br />
16 Jahren lebt<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 101
| S a l o n<br />
seltsamen durchs All eiernden Planeten“<br />
zu erschließen.<br />
„Ich habe Toto wie einen Menschen<br />
konzipiert, mit dem ich gerne die Welt<br />
aufgefüllt sehen würde“, sagt Berg. „Totos<br />
haben nicht diese Scheiße im Kopf, die<br />
so viele haben. Sie müssen nicht alles totwalzen,<br />
was nicht sie sind. Er ist ein wirklicher<br />
Außenseiter, einer, wie wir ihn alle<br />
kennen – die in der Schule verprügelt wurden,<br />
weil sie gestunken haben, schwul waren,<br />
lesbisch oder einfach anders.“<br />
Sie selbst war natürlich auch eine dieser<br />
Außenseiterinnen. Man wisse ja nie, woran<br />
das liegt, sagt sie: Ob daran, wie sie aussah.<br />
Oder an der Last, die ihr von zu Hause aufgebürdet<br />
wurde.<br />
Aufgewachsen ist die heute 50-Jährige<br />
in Weimar, jenem putzigen Kondensat<br />
deutscher Kultur und Geschichte, wo<br />
Klassik, Bauhaus und die erste demokratische<br />
Verfassung des Landes entstanden –<br />
und später ein KZ gleich vor der Haustür.<br />
Sibylle Bergs Mutter, eine alleinstehende<br />
Bibliothekarin, war Alkoholikerin.<br />
Für ein paar Jahre gab sie ihre Tochter zu<br />
einem entfernt verwandten Musikprofessoren-Ehepaar,<br />
das dem Mädchen das Lesen<br />
beibrachte und es dazu anhielt, nach klassischen<br />
Konzerten Aufsätze zu schreiben. Als<br />
sie zehn war, musste sie zurück zur Mutter.<br />
„Das Schlimmste ist, dass du Suchtkranke<br />
nicht erreichen kannst“, sagt Berg. „Sie reden<br />
nicht mit dir. Sie lassen sich nicht retten.“<br />
Weil sie Angst hatte, in ein Heim zu<br />
kommen, und ihre Mutter nicht mehr arbeiten<br />
konnte, sorgte sie dafür, dass wenigstens<br />
immer alles sauber aussah. Das bisschen<br />
Geld, das man in der DDR brauchte,<br />
verdiente sie, indem sie antiquarische Bücher<br />
aufstöberte und an Sammler verkaufte.<br />
Nach der Schule machte Sibylle Berg<br />
eine Ausbildung zur Puppenspielerin, besuchte<br />
das Weimarer Kaffeehaus, in dem<br />
die Ausreisewilligen verkehrten, und<br />
schrieb dem Staatsratsvorsitzenden Erich<br />
Honecker 1984 einen Brief, in dem sie<br />
ihm mitteilte, dass sie in die BRD ausreisen<br />
wolle. Schon am nächsten Tag wartete die<br />
Stasi vor der Haustür, die Genossin Puppenspieltheaterchefin<br />
teilte ihr mit, dass sie<br />
nicht mehr zur Arbeit kommen bräuchte.<br />
Stattdessen gab es eine Vorladung zum<br />
Verhör ins Ministerium für Inneres. Das<br />
hätte aber alles nicht viel gebracht, erzählt<br />
Berg: „Dam<strong>als</strong> konnte ich noch weniger<br />
reden <strong>als</strong> heute, nämlich gar nicht.“ Ein<br />
„Das Schlimme<br />
ist, dass du<br />
Suchtkranke<br />
nicht erreichen<br />
kannst. Sie<br />
reden nicht mit<br />
dir, lassen sich<br />
nicht retten“<br />
Berg über ihre alkoholkranke Mutter<br />
paar Monate später klappte es dann aber<br />
doch mit der Ausreise in den Westen, zunächst<br />
in ein Auffanglager nach Berlin-Marienfelde.<br />
In dieser Zeit nahm sich Sibylle<br />
Bergs Mutter das Leben. Sie hatte versucht,<br />
sich mit einem Gasherd zu ersticken. Dabei<br />
explodierte ein Großteil des Wohnhauses,<br />
in dem sie lebte.<br />
Drei Monate verbrachte Sibylle Berg<br />
an einer Akrobatenschule im Schweizer<br />
Tessin und ging danach zurück nach Berlin,<br />
wo sie in einem Wohnheim von Sozialhilfe<br />
lebte. „Und dort kam verspätet der<br />
Schock des Weggehens. Ich lag in meinem<br />
Zimmer und dachte plötzlich auch daran,<br />
mir das Leben zu nehmen. Aber ich hatte<br />
so einen klaren Moment und dachte, du<br />
warst ja nie richtig glücklich, das wäre nicht<br />
gut, dich jetzt umzubringen.“ Also zog sie<br />
nach Hamburg und arbeitete <strong>als</strong> Gärtnerin,<br />
Putzfrau, Sekretärin und Versicherungsvertreterin<br />
– im festen Willen, später wieder in<br />
die Schweiz zu ziehen. Und Sibylle Berg begann<br />
zu schreiben: „das Einzige, von dem<br />
ich dachte, dass ich es wirklich kann“.<br />
Doch dann, 1991, hätte sie sich doch<br />
noch fast umgebracht. „Das war relativ<br />
romantisch“, sagt sie. Die Grenzen waren<br />
wieder offen, und sie wollte <strong>als</strong> Gewinnerin<br />
nach Weimar zurückkehren. Sie lieh sich<br />
einen BMW Z1, diesen Achtziger-Jahre-<br />
Neureichentraum von einem Cabrio mit<br />
versenkbaren Türen, und borgte sich einen<br />
Anzug. Allerdings kam sie nur bis nach<br />
Hannover, wo sie sich beim Versuch, einem<br />
Drängler auszuweichen, gleich mehrfach<br />
auf der Autobahn überschlug.<br />
Berg zeigt auf die kaum noch sichtbaren<br />
Narben in ihrem Gesicht, das durch<br />
den Unfall komplett entstellt worden war.<br />
Sie hatte Glück im Unglück: Das Scharnier<br />
des Cabriodachs war kurz vor der Hirnhaut<br />
stecken geblieben und knapp am Sehnerv<br />
vorbeigeschrammt. 22, über zehn Jahre verteilte<br />
chirurgische Eingriffe waren nötig,<br />
um das Gesicht wieder herzustellen. Berg,<br />
die schon immer seltsam angeschaut wurde,<br />
merkte in jener Zeit, wie es sich anfühlt, so<br />
richtig angestarrt zu werden, und zwar die<br />
ganze Zeit. „Die Nase ist ein bisschen kleiner<br />
geworden“, sagt sie. „Aber sonst sieht<br />
alles so aus wie vorher, das Alien-Gesicht<br />
ist wieder ganz das alte.“<br />
Ihr erster Roman, der 1997 erschien,<br />
trug dann auch den treffenden Titel „Ein<br />
paar Leute suchen das Glück und lachen<br />
sich tot“. Tatsächlich war es bereits<br />
das dritte Buch, aber die ersten beiden<br />
mochte sie nicht; bei diesem hatte<br />
sie jedoch ein gutes Gefühl. Veröffentlichen<br />
wollte den Roman zunächst niemand,<br />
er wurde von 50 Verlagen abgelehnt.<br />
Bis ihn Reclam schließlich druckte<br />
und mehr <strong>als</strong> 100 000 Mal verkaufte. Ein<br />
Überraschungserfolg.<br />
„Glück“ war der Auftakt zu einem so<br />
bösen wie moralischen Werkreigen, in<br />
dem Berg ihre Figuren, prall gefüllt mit<br />
unerfüllbaren Sehnsüchten, in gruseligen<br />
Beziehungen lebend und mit unzulänglichen<br />
Körpern ausgestattet, durch das Fitnessstudio<br />
des real existierenden Neoliberalismus<br />
jagte und erbarmungslos scheitern<br />
ließ. Bergs Sound traf den Nerv der Zeit,<br />
bald schrieb sie Texte und Reisereportagen<br />
für Zeitschriften wie das Zeit-Magazin und<br />
Tageszeitungen wie die FAZ. Auf Spiegel<br />
Online ist seit einem Jahr jeden Samstag<br />
ihre Kolumne „Fragen Sie Frau Sibylle“ zu<br />
lesen. Im Berg-Werk, einer gloriosen Untergangsidylle,<br />
arbeitete ein Menschengeschlecht,<br />
das gern über seine Einsamkeit<br />
jammert und sich noch lieber gegenseitig<br />
quält, einsperrt und ermordet. Eine Spezies,<br />
die einander vornehmlich während teurer<br />
Asienurlaube sitzen lässt und dem bevorstehenden,<br />
vom Klimawandel beschleunigten<br />
Weltende mit ausgesprochener Ignoranz<br />
gegenübersteht.<br />
Mit fröhlicher Gewissheit verarbeitet<br />
Berg all diese Motive auch in „Vielen<br />
Dank für das Leben“. Aber wie schon im<br />
102 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Foto: Andrej Dallmann<br />
2009 erschienenen Vorgänger „Der Mann<br />
schläft“ ist zwischen den Zeilen mittlerweile<br />
ein Gleichmut zu spüren, eine Gelassenheit<br />
gewissermaßen, eine „Miniweisheit“,<br />
wie Berg das selbstironisch nennt.<br />
Heute kreiert sie Figuren wie Toto, den<br />
perfekten Menschen, wie sie glaubt: den<br />
Prototypen, der so ist, wie das Universum<br />
geplant war, bevor etwas schieflief.<br />
Erbarmungslos ist sie immer noch.<br />
Und sie weiß, dass man auch böse elegant<br />
durchs Leben kommen kann. Zwischen<br />
Rudelaggression und innerer Rettung<br />
kommt es allerhöchstens zum Remis.<br />
Aber immerhin. Außerdem ist Sibylle Berg<br />
sich heute besser im Klaren darüber, wen<br />
sie mit ihrer Arbeit erreicht. „Früher dachte<br />
ich, ich kann mit meinen Büchern etwas<br />
ändern“, sagt sie. „Ich war so beseelt von<br />
meiner Mission und dachte, ‚Wacht auf!‘,<br />
‚Haltet ein!‘, ‚Seid nicht mehr böse!‘“ Die<br />
Menschen, auf die es ihr nun ankommt,<br />
trifft sie bei Lesungen. „Ich habe den Eindruck,<br />
meine Bücher geben manchen Lesern<br />
das Gefühl, dass sie nicht alleine sind.<br />
Die sehe ich dann, die kommen dann kahl<br />
geschoren mit irgendwelchen Spangen am<br />
Ohr, Mädchen, die nicht wissen, ob sie<br />
Jungs sind und andersrum.“<br />
Vielleicht hat Sibylle Bergs neue Gelassenheit<br />
aber auch damit zu tun, dass es ihr<br />
inzwischen einfach gut geht, sie einen sicheren<br />
Abstand zwischen sich und ihre Geschichte<br />
gebracht hat. Seit 16 Jahren lebt sie<br />
in Zürich, der Stadt, in der sie schon immer<br />
wohnen wollte. Wir gehen ein wenig spazieren.<br />
Der große, postkartenblaue See mit<br />
seinen Segelbooten und den Gletschern im<br />
Hintergrund liegt nur wenige Straßen hinter<br />
dem „Grieder les Boutiques“. In diese Stadt<br />
habe sie sich verliebt, <strong>als</strong> sie zum ersten Mal<br />
in die Schweiz kam, dam<strong>als</strong> gerade aus der<br />
DDR geflüchtet. An eine Szene, die sie auf<br />
jener Irrfahrt beobachtete, muss sie immer<br />
wieder denken: Ein betrunkener Mann war<br />
auf einer Bank an einer Bushaltestelle eingeschlafen,<br />
doch anstatt ihn aufzuwecken und<br />
zu verscheuchen, legte ihm ein vorbeikommender<br />
Polizist ein Kissen unter den Kopf<br />
und deckte ihn zu. Seitdem empfindet sie<br />
die Schweiz <strong>als</strong> einen Ort, an dem ihr nichts<br />
zustoßen kann.<br />
Inzwischen hat sie auch nicht mehr das<br />
Gefühl, von allen Menschen angestarrt zu<br />
werden. Besser gesagt: Die Menschen starren<br />
immer noch, nur ist das Sibylle Berg eigentlich<br />
egal. Sogar die Liebe hat sie schließlich<br />
gefunden – nicht die verkitschte, große,<br />
sondern die wahre, die unspektakuläre und<br />
ruhige Liebe. Seit acht Jahren ist sie mit einem<br />
muskulösen Glatzkopf verheiratet, den<br />
sie in Tel Aviv, ihrer Zweitheimat, kennengelernt<br />
hat. Aber sie verbietet unter Todesandrohung,<br />
darüber zu schreiben. „Eigentlich“,<br />
sagt sie irgendwann, „wird es immer angenehmer,<br />
das Leben, und es könnte noch so<br />
weitergehen für ein paar Hundert Jahre. Aber<br />
lass uns lieber wieder über Eicheln reden.“<br />
Sibylle Bergs neuer Roman „Vielen Dank für das Leben“<br />
erscheint am 30. Juli im Hanser-Verlag, hat 400 Seiten<br />
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leitet den Salon bei <strong>Cicero</strong>. Er<br />
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Geist und Glamour“ (Aufbau-<br />
Verlag) geschrieben<br />
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Bestellnr.: 858306
Historische<br />
Gedächtnislücken<br />
Bis heute hält sich der Glaube, dass es sich bei der Kapitolinischen<br />
Wölfin um die bildgewordene Rom-Gründung handele. Doch die<br />
echte Lupa Romana wurde zuletzt in Byzanz gesehen<br />
Von Beat Wyss<br />
104 <strong>Cicero</strong> 7.2012
M a n s i e h t n u r , w a s m a n s u c h t | S a l o n |<br />
Fotos: Imago, artiamo (Autor)<br />
Die Kapitolinische Wölfin<br />
mit Romulus und Remus,<br />
Kapitolinische Museen, Rom<br />
W<br />
er kennt die Kapitolinische<br />
Wölfin nicht? Allgegenwärtig<br />
ist das Muttertier beim Säugen<br />
von Romulus und Remus im Stadtbild<br />
von Rom: an den Lieferwagen des<br />
Frischmilchvertriebs von Lazio, <strong>als</strong> Emblem<br />
an den Eimern der städtischen<br />
Müllabfuhr und an den Sch<strong>als</strong> und Tattoos<br />
der Tifosi von SR Roma. Wer der<br />
Lupa dann im Original begegnet, jenem<br />
schmächtigen Bronzetier von nur<br />
75 Zentimetern Höhe, muss einen Anflug<br />
von Enttäuschung unterdrücken.<br />
Sind die Kapitolinischen Museen nicht<br />
gerade brechend voll von Touristen, entschädigt<br />
aber ein angenehmer Schauer<br />
beim Gedanken, man stehe hier neben<br />
der bildgewordenen Rom-Gründung auf<br />
dem Hügel, wo sich einst das religiöse<br />
Machtzentrum der Ewigen Stadt befand.<br />
Doch das ist zu schön, um wahr zu sein.<br />
Das Sinnbild der Romanità hat einen<br />
Riss bekommen. Noch vor wenigen<br />
Jahren galt die Kapitolinische Wölfin unbestritten<br />
<strong>als</strong> etruskisches Werk. Zweifel<br />
tauchten auf, <strong>als</strong> die Lupa für das Jubeljahr<br />
2000 im neuen Glanz erstrahlen<br />
sollte. Die Restauratoren entdeckten,<br />
dass die Bronze nicht antik sein kann,<br />
weil es sich um ein Wachsschmelzverfahren<br />
in einem Guss handelt, eine Technik,<br />
die erst im christlichen Mittelalter<br />
aufkommt. Aus einem Guss sind auch<br />
die Kirchenglocken, deren voller, runder<br />
Klang eine nahtlose Metallform benötigt.<br />
Aber wer ist dann diese Wölfin, die<br />
uns so unverwandt und zähneble ckend<br />
entgegenblickt? Es könnte sich um<br />
das Wappentier der Grafen von Tusculum<br />
handeln, die im Hochmittelalter<br />
zu Roms führenden Patriziern gehörten.<br />
Acht Päpste stellte die Familie, die es darüber<br />
hinaus verstand, die Kurie über Mätressenwirtschaft<br />
gefügig zu halten. Dieser<br />
Typ von Nobilität war der geborene<br />
Feind republikanisch gesinnter Bürger.<br />
1191 griffen römische Bürgermilizen<br />
die Stadt Tusculum an und zerstörten<br />
sie zusammen mit der Burg der Grafen.<br />
Die Kapitolinische Wölfin, in der wir das<br />
ehrwürdige Symbol von Senat und Republik<br />
von Rom verehren, könnte <strong>als</strong>o<br />
eine Kriegstrophäe von Bürgern sein, die<br />
einen Adelssitz geplündert hatten. Dieser<br />
Sachverhalt geriet in Vergessenheit, <strong>als</strong><br />
die Bronze vor dem Papstpalast zu stehen<br />
kam. Hier herrschte ein buntes Treiben.<br />
Neben Schenken und Herbergen gab es<br />
Bordelle für die wogenden Pilgerströme.<br />
Der Spitzname einer berühmten Kurtisane<br />
– „Luparella“ – beweist, dass sich in<br />
der frühen Neuzeit der Name der Wölfin<br />
nicht ausschließlich mit staatstragenden<br />
Ideen verband.<br />
Dass die Zwillinge unter den Zitzen<br />
der Lupa aus der Renaissance stammen,<br />
hatte man schon länger gewusst. Sie entstanden<br />
im Auftrag von Papst Sixtus IV,<br />
der die Bronze im Jahr 1471 auf das Kapitol<br />
versetzen ließ. Damit bekräftigte der<br />
Pontifex, dass er nicht nur der Oberhirte<br />
über die Christen auf dem Erdkreis, sondern<br />
auch der weltliche Herrscher Roms<br />
sei.<br />
Und was geschah mit jener Bronzewölfin,<br />
von der Titus Livius, <strong>Cicero</strong><br />
und Dionysios von Halikarnass berichten?<br />
In der Tat hatte eine solche einmal<br />
in Rom gestanden, zuletzt wohl im<br />
Lupercal, jener künstlichen Grotte, die<br />
Kaiser Augustus ihr zur Weihe bauen<br />
ließ. Das Bildwerk begleitete <strong>als</strong> Palladium<br />
und Kriegstrophäe den Niedergang<br />
des Weltreichs. Zuletzt wurde die<br />
Lupa Romana in Byzanz gesehen. Nach<br />
der Plünderung Konstantinopels während<br />
des Vierten Kreuzzugs steckten<br />
die Venezianer die Bronze 1204 in den<br />
Schmelzofen, um daraus Kupfermünzen<br />
zu schlagen.<br />
Bildergeschichten wie diese lehren,<br />
dass das historische Gedächtnis viel kürzer<br />
ist <strong>als</strong> das Alter seiner visuellen Zeugen.<br />
B e at W y s s<br />
ist einer der bekanntesten<br />
Kunsthistoriker des Landes. Er<br />
lehrt in Karlsruhe<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 105
| S a l o n | P a r a l l e l w e l t e n<br />
Hat sich den Traum<br />
einer eigenen Bühne<br />
erfüllt: der 76-jährige<br />
Dieter Hallervorden<br />
in „Ich bin nicht<br />
Rappaport“<br />
106 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Nonstop<br />
Konsens<br />
In Dieter Hallervordens Schlosspark-<br />
Theater läuft ein Programm mit<br />
einem Personal, <strong>als</strong> seien die Uhren<br />
vor 30 Jahren stehen geblieben. Eine<br />
Zeitreise nach Berlin-Steglitz – und ein<br />
Protokoll einer persönlichen Wandlung<br />
Von Peter Laudenbach<br />
Foto: Julia Zimmermann<br />
D<br />
ieter Hallervorden kennt jeder,<br />
der einen Fernseher hat. Didi,<br />
die Palim!-Palim!-Knallcharge<br />
mit dem etwas gröberen Humorverständnis,<br />
gehört zur eher tristen Popkultur der<br />
alten Bundesrepublik. Er steht in einer<br />
Reihe mit Heino, Dieter Thomas Heck<br />
und Derrick – lauter alte Bekannte aus<br />
der Spießerhölle des deutschen Unterhaltungsfernsehens.<br />
Die Exkursion in<br />
das kleine Theater, das Hallervorden seit<br />
drei Jahren im Südwesten Berlins betreibt,<br />
tritt man dann auch bei aller Liebe und<br />
dem festen Vorsatz, fair, neugierig und<br />
unvoreingenommen hinzuschauen, mit<br />
durchaus gemischten Gefühlen an. Hallervorden<br />
steht für eine Welt, mit der ich<br />
nie etwas zu tun haben wollte, eine Welt<br />
der schlecht sitzenden Herrenanzüge, der<br />
gebügelten Häkeldeckchen und überraschungsfreien<br />
Biografien. Eine Welt<br />
der Blondinenwitze, Zimmerpflanzen,<br />
Golf-Fahrer und der Angestellten, die<br />
spätestens ab 11 Uhr stoisch mit einem<br />
aufgeräumten „Mahlzeit!“ grüßen. Ich<br />
weiß, dass das ungerecht ist. Ich weiß<br />
aber auch, dass ich vor dieser bundesrepublikanischen<br />
Tristesse irgendwann ins<br />
Theater, in die Kunst und ins Nachtleben<br />
geflohen bin.<br />
Schon die Fahrt ins kleinbürgerliche<br />
Steglitz hat etwas von einer Zeitreise. Je<br />
näher man Hallervordens Schlosspark-<br />
Theater kommt, desto mehr sieht Berlin<br />
aus wie Bielefeld oder Hildesheim:<br />
Auf den Einkaufsstraßen wechseln sich<br />
„Blume 2000“- und „Fielmann“-Filialen<br />
ab, in den Seitenstraßen ist es so ruhig<br />
und beschaulich, <strong>als</strong> würden die Leute, die<br />
hier wohnen, ihr Leben lang nichts anderes<br />
tun <strong>als</strong> arbeiten, fernsehen, Steuern<br />
zahlen und schlafen. Nur ab und zu sorgt<br />
ein Asia-Laden oder ein einsames Grafitto<br />
(„Bullen raus“) für das Gefühl, noch im<br />
vertraut abgeranzten Berlin zu sein.<br />
Das Theaterfoyer und seine Gäste halten<br />
dann auch, was die Anreise versprach:<br />
Männer mit Herrenhandtaschen, Damen<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 107
| S a l o n | P a r a l l e l w e l t e n<br />
01<br />
02<br />
04 05<br />
mit fest betonierter Dauerwelle und ein<br />
Altersdurchschnitt, bei dem ich mich mit<br />
meinen 48 Jahren wieder unverschämt<br />
jung fühlen darf. Seltsam, dass es das alles<br />
noch gibt: ein Berlin ohne ausländische<br />
Touristen und Junkies, ohne Mitte-<br />
Hipster und Lederschwule. Das Berlin<br />
der gebügelten Hemden, C & A-Anzüge<br />
und Beamtenlaufbahnen.<br />
Zwei Damen, beide deutlich über 50,<br />
eher korpulent und bestens gelaunt, haben<br />
es sich in der fünften Reihe auf ihren<br />
Plätzen gemütlich gemacht. Der Sekt<br />
für die Pause ist bestellt, der Tratsch aus<br />
dem Büro ist ausgetauscht, die Vorstellung<br />
kann beginnen. Gegeben wird<br />
heute Neil Simons Komödie „Ein seltsames<br />
Paar“, deren Humor schon in der<br />
Verfilmung mit Walter Matthau und<br />
Jack Lemmon etwas angeschwiemelt<br />
roch. Der Film ist von 1968 und sieht<br />
aus, <strong>als</strong> hätte man noch 1950, <strong>als</strong> hätte<br />
es Woodstock, die Beatles und den Summer<br />
of Love nie gegeben. Genauso die Inszenierung<br />
im Schlosspark-Theater. Man<br />
könnte sagen: ein klarer Fall von der andernorts<br />
oft so schmerzlich vermissten<br />
Werktreue. Die beiden Damen im Parkett<br />
freuen sich schon „auf den Hunold,<br />
der war in ‚Neues vom Bülowbogen‘ immer<br />
so sympathisch“. Rainer Hunold ist<br />
ein Schauspieler, der mit seinem Pausbackengesicht<br />
vor allem Gemütlichkeit ausstrahlt.<br />
Die öffentlich-rechtlichen Serien,<br />
in denen er mit der Zuverlässigkeit eines<br />
deutschen Schäferhunds durch schlecht<br />
ausgeleuchtete Dekorationen stapft, heißen<br />
„Ein Fall für zwei“ oder „Der Staatsanwalt“.<br />
Das Land, das man dort sieht,<br />
ist ein Vorabenddeutschland der sedierten<br />
Konflikte, das mit der Wirklichkeit<br />
etwa so viel zu tun hat wie ein Fassbinder-Film<br />
mit Kukident-Werbung.<br />
Vielleicht ist es kein Wunder, dass die<br />
beiden Damen in der fünften Reihe des<br />
Schlosspark-Theaters Hunold so sympathisch<br />
finden. In seinem beschaulichen<br />
Vorabenddeutschland würden sie vermutlich<br />
auch gerne leben. Und weil der<br />
Schauspieler für sie zur Fernsehfamilie<br />
gehört, kommentieren sie anschließend<br />
entspannt wie auf der heimischen<br />
Wohnzimmercoach das Bühnengeschehen.<br />
Theater wird hier zur Fortsetzung<br />
Fotos: Julia Zimmermann<br />
108 <strong>Cicero</strong> 7.2012
03<br />
06 07<br />
Berlin in Bernstein<br />
Fotos: Julia Zimmermann<br />
des Fernsehens mit anderen Mitteln.<br />
Als im Lauf des Stückes ein putzwütiger<br />
Felix, gespielt von Hunold, seinem<br />
chaotischen Mitbewohner Oscar in der<br />
Zweck-WG der zwei geschiedenen Männer<br />
häusliche Ordnung beibringen will,<br />
kommentieren die Zuschauerinnen in der<br />
fünften Reihe das wohlig mit einem tief<br />
empfundenen Hausfrauen-Seufzer: „Geht<br />
doch.“ Ein Abend fast wie im richtigen<br />
Fernsehen, nur besser, weil man live dabei<br />
ist. Beim Rausgehen in der Pause sagt<br />
die eine zur anderen: „Was zu Hause ganz<br />
normal ist, wird hier zur Komödie.“ Hier<br />
haben sich definitiv ein Theater und ein<br />
Publikum gefunden.<br />
Ein paar Tage nach der Aufführung<br />
des „Seltsamen Paares“ steht der Prinzipal<br />
nach einer Vorstellung seines Erfolgsstücks<br />
„Ich bin nicht Rappaport“ selbst<br />
auf der kleinen Guckkastenbühne, strahlt<br />
gerührt ins Publikum und freut sich über<br />
den Applaus. Didi Hallervorden sieht aus<br />
wie jemand, der das alles sehr genießt: sein<br />
kleines, schön herausgeputztes Theaterchen,<br />
den Beifall und den etwas sentimentalen<br />
eigenen Auftritt, weit entfernt von<br />
den alten Knallchargen-Klischees. Am<br />
meisten freut er sich vielleicht darüber,<br />
dass er sich selbst mit diesem Theater ein<br />
schönes Geschenk gemacht hat. Und der<br />
Besucher aus Kreuzberg sieht an diesem<br />
Abend auf seiner Exkursion im vermeintlichen<br />
Spießeruniversum eine Vorstellung,<br />
die es jederzeit mit den üppig mit jährlich<br />
gut zehn Millionen Euro subventionierten<br />
Blutbäder im Heiner-Müller-<br />
Gedächtnisstil sind hier nicht zu<br />
befürchten: Autogramme und<br />
Plakate historischer Inszenierungen<br />
am Schlosspark-Theater (Bilder<br />
1 und 5). Die Renovierung des Hauses<br />
aus dem 19. Jahrhundert kostete<br />
1,2 Millionen Euro, im vergangenen<br />
Jahr musste Hallervorden noch einmal<br />
600 000 Euro nachschießen (2 und 7).<br />
Ein Theater und ein Publikum<br />
haben sich gefunden (3, 4 und 6)<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 109
| S a l o n | P a r a l l e l w e l t e n<br />
Inszenierungen von Claus Peymann am<br />
Berliner Ensemble aufnehmen kann –<br />
und das, obwohl sich Peymann bekanntlich<br />
für den Gröraz hält, den größten Regisseur<br />
aller Zeiten.<br />
Mit seinem Schlosspark-Theater hat<br />
sich Hallervorden von dem in ewigen<br />
Wiederholungsschleifen laufenden Palim!-<br />
Palim!-Fernseh-Didi emanzipiert. In den<br />
vergangenen drei Jahren konnte er sich<br />
ein treues Stammpublikum erspielen.<br />
Als er sich von der Berliner Kulturpolitik<br />
irgendwann etwas zu lieblos behandelt<br />
sah, hat er in einem Brief an den zuständigen<br />
Kulturstaatssekretär Schmitz<br />
einfach eine lange Liste der Prominenten<br />
aufgezählt, die hier schon auf der Bühne<br />
standen, von Hannelore Hoger bis Max<br />
Goldt, von Wolfgang Niedecken und<br />
Harry Rowohlt bis Joachim Fuchsberger.<br />
Finanziell ist das Privattheater für<br />
den Hausherrn nicht ohne Risiko. Allein<br />
die Renovierung des vom Vormieter, dem<br />
Musical-Konzern „Stage“, arg heruntergewirtschafteten<br />
Gebäudes kostete Hallervorden<br />
1,2 Millionen Euro. Im Gegenzug<br />
stellt ihm das Land Berlin den klassizistischen<br />
Theaterbau aus dem 19. Jahrhundert,<br />
einst das kleine Haus des vor zwei<br />
Jahrzehnten abgewickelten Schiller-Theaters,<br />
mietfrei zur Verfügung. Ob er seine<br />
in den Zuschauerraum und die Bühnentechnik<br />
verbaute Million irgendwann wiedersieht,<br />
scheint Hallervorden im Augenblick<br />
nicht besonders zu interessieren. In<br />
der ersten Spielzeit musste er noch einmal<br />
600 000 Euro nachschießen. Seit dieser<br />
Spielzeit bekommt er vom Land Berlin<br />
bescheidene 230 000 Euro Subventionen.<br />
Hallervorden sitzt im nüchternen Besprechungszimmer<br />
des Theaters, ein auf<br />
nicht unsympathisch altmodische Weise<br />
höflicher Mann, dem man seine 76 Jahre<br />
nicht ansieht. Als das Wasserglas des Reporters<br />
leer ist, steht der Gastgeber mitten<br />
im Gespräch auf, geht umständlich<br />
um den Tisch herum und fragt: „Darf<br />
ich nachschenken? Mit oder ohne Kohlensäure?“<br />
Dazu passt sein Hang, sich etwas<br />
gewunden auszudrücken: „Wenn man<br />
von Geiz und Gewinnsucht getrieben ist,<br />
sollte man tunlichst kein Theater aufmachen.<br />
Ich glaube schon sagen zu dürfen,<br />
dass ich dieses Theater wirklich uneigennützig<br />
führe. Ich bekomme für alles, was<br />
ich hier mache, keinen Cent Gage. Dieses<br />
Theater ist für mich wirklich eine<br />
„Hier hat auch schon Heinz<br />
Rudolf Kunze gespielt, das ist<br />
doch nicht spießig!“<br />
Dieter Hallervorden über das Schlosspark-Theater<br />
Alte Möbel und alte Autos werden liebevoller behandelt <strong>als</strong> alte<br />
Menschen: Schlussapplaus für Hallervordens „Rappaport“<br />
Herzensangelegenheit.“ Wie er so dasitzt<br />
mit seinem zerknautschten Gesicht und<br />
dem verwustelten Resthaar, dem karierten<br />
Hemd und den beiden Brillen vor sich<br />
auf dem Tisch, eine zum Lesen, eine für<br />
die Fernsicht, glaubt man ihm das sofort.<br />
Der Mann erfüllt sich mit den Didi-Millionen<br />
aus seinen Fernsehquatsch-Jahrzehnten<br />
einen alten Theatertraum. Er<br />
wirkt wie ein großer Junge, der sich über<br />
sein schön restauriertes Schatzkästlein<br />
mit den 473 Plätzen und inzwischen gut<br />
100 000 Zuschauern im Jahr freut.<br />
Weil Hallervorden in aller Bescheidenheit<br />
an die großen Tage des Schlosspark-Theaters<br />
anknüpfen will, hat er alte<br />
Theaterplakate ins Foyer gehängt. So erfährt<br />
man, dass am 27. April 1966, einem<br />
Mittwoch, das heute vergessene Stück<br />
„Freunde und Feinde“ eines gewissen Arkady<br />
Leokum mit Martin Held, Curt<br />
Bois und Ilja Richter zu sehen war. Gut<br />
46 Jahre später tritt Ilja Richter wieder<br />
hier auf, diesmal <strong>als</strong> Theo-Lingen-Double.<br />
Daneben hängen, mit Foto und liebevoll<br />
gerahmt, Stücke aus Hallervordens privater<br />
Autografen-Sammlung, Unterschriften<br />
von Elizabeth Taylor, Zarah Leander,<br />
Hildegard Knef und Heinz Rühmann. Einerseits:<br />
piefig. So stellt sich Klein-Didi<br />
die große Theaterwelt vor: Knef, Rühmann<br />
und ich. Andererseits: rührend.<br />
Foto: Julia Zimmermann<br />
110 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Foto: Harry Schnitger<br />
Das alles funktioniert natürlich nur,<br />
weil in jeder Inszenierung mindestens ein<br />
halbwegs prominentes Fernsehgesicht auftaucht,<br />
am besten eines wie das von Rainer<br />
Hunold oder Robert Atzorn („Unser<br />
Lehrer Doktor Specht“) – Gesichter, die<br />
das ältere Publikum schon seit Jahrzehnten<br />
kennt. Hallervorden will, dass sich<br />
die prominenten Kollegen an seinem<br />
Haus wohlfühlen. Das ist wichtig, schon<br />
weil seine Theatergagen keine Chance haben,<br />
mit Fernsehhonoraren zu konkurrieren.<br />
Robert Atzorn zum Beispiel wohnt,<br />
wenn er hier auftritt, mit seiner Frau immer<br />
gerne in der Theaterwohnung direkt<br />
über der Probebühne. „Wenn ich Anfragen<br />
mache“, sagt Hallervorden, „muss<br />
ich das so persönlich halten, dass sich ein<br />
Harry Rowohlt oder eine Erika Pluhar gemeint<br />
fühlt. Bei einer Frau wie Senta Berger<br />
habe ich bestimmt ein Jahr geworben.“<br />
„Hallervorden hat nichts Patriarchalisches“,<br />
erzählt Rainer Hunold. „Irgendwann<br />
bei der Probe kommt er, sagt Hallo,<br />
hat einen Tee in der Hand, packt eine<br />
Butterstulle aus, sitzt da, schaut zu und<br />
amüsiert sich. Wenn ihm etwas nicht gefällt,<br />
kann er sehr detailliert kritisieren.<br />
Ich habe ihn bei Proben, nicht zu unserem<br />
Stück, schon mit Tränen im Gesicht<br />
im Zuschauerraum sitzen sehen. Er<br />
liebt das hier.“ Hunold kommt auf über<br />
100 Drehtage im Jahr. Hätte er, statt in<br />
Steglitz Theater zu spielen, vor der Kamera<br />
gestanden, hätte er in der Zeit entschieden<br />
mehr verdient. Ein Hauch von Schmiere<br />
ist nicht zu übersehen, aber Hallervordens<br />
Strategie scheint aufzugehen.<br />
Nicht nur das Szene-Berlin und<br />
Steglitz, auch das Schlosspark-Theater und<br />
die im Feuilleton abgefeierten Staatstheater<br />
scheinen unterschiedliche Planeten<br />
zu bewohnen. Das Großfeuilleton schaut<br />
so gut wie nie in Steglitz vorbei. Auch<br />
beim Publikum, den Stücken, den Spielund<br />
Erzählweisen gibt es in den beiden<br />
Hemisphären kaum Überschneidungen.<br />
Beim Berliner Theatertreffen, der jährlichen<br />
Hitparade der Branche, konnte man<br />
im Mai wieder sehen, was an den großen<br />
Bühnen derzeit so en vogue ist: Von<br />
Selbstmord und Folter („Gesäubert“ von<br />
Sarah Kane aus den Münchner Kammerspielen),<br />
über Völkermord („Hate Radio“<br />
von Milo Rau im Berliner HAU) bis zum<br />
„Chor der Kapitalisten“ in René Polleschs<br />
„Kill your Darlings“ an der Volksbühne<br />
reichte das Themenspektrum. Regietheater,<br />
Blutbäder im Heiner-Müller-Gedächtnis-Stil<br />
oder Sexualkalauer aus Elfriede<br />
Jelineks Textproduktion sind auf<br />
der Bühne des Schlosspark-Theaters nicht<br />
zu befürchten.<br />
Nicht nur, weil die Broadway-Uraufführung<br />
von Herb Gardners Erfolgsstück<br />
„Ich bin nicht Rappaport“ ein gutes Vierteljahrhundert<br />
zurückliegt und Neil Simons<br />
„Seltsames Paar“ schon über ein<br />
halbes Jahrhundert auf dem Buckel hat,<br />
wirkt Hallervordens Theater wie seltsam<br />
aus der Zeit gefallen. Auch die erst vor<br />
sieben Jahren in Paris uraufgeführte Affären-„Achterbahn“<br />
des Franzosen Eric Assous<br />
mit ihrem virilen Manager auf Frauenfang<br />
und der jungen Blondine, die es<br />
zu später Stunde „noch auf einen Drink“<br />
in seine mit Designermöbeln vollgestellte<br />
Wohnung verschlagen hat, kommt aus einer<br />
merkwürdig vorgestrigen Welt voller<br />
Klischees der gröberen Sorte. Im Gegensatz<br />
dazu entwickelt Hallervordens durchaus<br />
sozialkritischer „Rappaport“, in dem<br />
zwei vereinsamte und verarmte Rentner<br />
auf einer New Yorker Parkbank über ihr<br />
Leben räsonieren, ein nicht unsympathisches<br />
Sentiment frei von Peinlichkeit. Die<br />
Szene, in der Hallervorden in seiner Rolle<br />
<strong>als</strong> alter Grantler Nat darüber klagt, dass<br />
alte Möbel und alte Autos weit liebevoller<br />
<strong>als</strong> alte Menschen behandelt werden,<br />
erntet in jeder Vorstellung Szenenapplaus.<br />
Dass ausgerechnet diese nette Inszenierung<br />
dem Schlosspark-Theater jede<br />
Menge Aufregung eingebracht hat, gehört<br />
zu den Treppenwitzen der politischen<br />
Korrektheit: Weil Hallervordens Partner,<br />
der angesehene Theaterschauspieler Joachim<br />
Bliese, einen Schwarzen spielt und<br />
entsprechend geschminkt ist, witterten<br />
aufgeregte Aktivisten einen Fall von Rassismus<br />
und bescherten dem völlig überraschten<br />
Hallervorden via Internet einen<br />
veritablen Shit-Storm. Die kleine Steglitzer<br />
Schlosspark-Gemütlichkeit schien da<br />
ganz kurz mit der etwas raueren, komplizierten<br />
Welt da draußen zu kollidieren.<br />
Doch das ist inzwischen auch schon<br />
wieder fast vergessen. Insgesamt ist die<br />
Welt in Steglitz immer noch beruhigend<br />
übersichtlich und wohlgeordnet.<br />
Selbst wenn es mal Ärger gibt, bleibt<br />
die Atmosphäre anheimelnd. Euro- und<br />
Wirtschaftskrise, die NSU-Morde, die<br />
Hysterie deregulierter Finanzmärkte,<br />
durchdrehende Salafisten, Berliner Gentrifizierungsängste,<br />
Hartz-IV-Zumutungen,<br />
Inflationspanik, Fukushima und<br />
andere Katastrophen hinterlassen hier offenbar<br />
keine größeren Spuren im eigenen<br />
Lebensgefühl. Einerseits ist das natürlich<br />
ignorant und dumpfbackig. Andererseits<br />
sorgt genau diese offenbar durch nichts zu<br />
erschütternde Behäbigkeit für die beruhigende<br />
Normalität und das einigermaßen<br />
störungsfreie Funktionieren dieses Landes.<br />
Es sind diese grauen Normalbürger,<br />
die für den deutschen Wohlstand sorgen,<br />
dafür, dass das Szene- und Kulturvolk in<br />
Kreuzberg und Berlin-Mitte es sich gut<br />
gehen lässt, <strong>als</strong>o Leute wie ich.<br />
Didi Hallervordens Antwort auf die<br />
Frage, was er Snobs wie mir antworten<br />
würde, die das alles sehr altmodisch und<br />
spießig finden, ist so selbstbewusst wie<br />
komisch: „Ich muss auch leichtere Kost<br />
bringen, um Publikum ins Haus zu holen“,<br />
sagt er. „Hier hat auch schon Heinz<br />
Rudolf Kunze gespielt, das ist doch nicht<br />
spießig!“ Wer Heinz Rudolf Kunze, diesen<br />
singenden Bausparvertrag, für unspießig<br />
hält, hat sich definitiv von übertriebenem<br />
Hippness-Ehrgeiz verabschiedet.<br />
Kein Wunder, dass Robert Atzorn mit seinem<br />
Repertoire von zweieinhalb Gesichtsausdrücken<br />
hier <strong>als</strong> Edelmime durchgeht.<br />
Von Berlin-Mitte aus betrachtet, wo in<br />
den Galerien Schockbilder von Jonathan<br />
Meese und Martin Eder hängen, in den<br />
Cafés die digitale Boheme an ihren Apps<br />
bastelt, die Frage nach dem politisch korrekten<br />
Sneaker Sinnkrisen auslösen kann<br />
und die Volksbühne mal wieder Avantgarde-Krach<br />
mit Kapitalismus-Kritik-<br />
Soße spielt, wirkt das alles wie ein skurriles<br />
Paralleluniversum. Aber vielleicht ist<br />
das ja auch genau andersherum. Je länger<br />
man in Steglitz ist, desto ferner rückt<br />
das hippe Berlin. Und die Behauptung<br />
der Tourismus-Werber, Berlin sei ja so verrückt<br />
und bunt, kommt einem hier schon<br />
nach ein paar Tagen einigermaßen gaga<br />
vor. Vielleicht ist ja auch das aufgekratzt<br />
hippe Trendstreber-Berlin das wahre, absolut<br />
skurrile Paralleluniversum.<br />
Peter Laudenbach<br />
ist einer der bekanntesten<br />
Theaterkritiker des Landes. Er<br />
lebt in Berlin<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 111
| S a l o n | B e n o t e t<br />
Die Musik hinter<br />
den Fassaden<br />
Auch wenn man eine Vergangenheit nur aus<br />
Erzählungen kennt, spürt man sie am eigenen<br />
Leib. Vor allem, wenn sie die eigene Familiengeschichte<br />
betrifft. So geht es auch unserem<br />
Kolumnisten, immer wenn er in Berlin spielt<br />
Von Daniel Hope<br />
A<br />
nfang Juni spielte ich im Konzerthaus Berlin das „War<br />
Concerto“, ein Auftragswerk des Komponisten Bechara<br />
el Khoury. Mit dem Violinkonzert will der libanesische<br />
Komponist ein Zeichen gegen Gewalt und Zerstörung setzen.<br />
Dafür untermalt er seine Erinnerungen aus dem vom Bürgerkrieg<br />
erschütterten Libanon der siebziger Jahre mit einer Art<br />
Klagelied. El Khoury hat das Konzert mir gewidmet und darin,<br />
für mich überraschend, auch das Thema der Vertreibung musikalisch<br />
verarbeitet – ein wesentlicher Bestandteil meiner Berliner<br />
Familiengeschichte.<br />
Berlin und ich – das ist eine Geschichte voller Geister und<br />
nostalgischer Erinnerungen. Es fing schon in London an, <strong>als</strong> ich<br />
ein Kind war und unsere deutsche Oma uns von „ihrem“ Berlin<br />
vorschwärmte, dem Berlin der Weimarer Republik. Von ihrer<br />
Villa in Dahlem erzählte sie, von Fahrradtouren am Wannsee, von<br />
Picknicks mit der kaiserlichen Familie oder von der Einsegnung<br />
ihres Bruders. Am liebsten erinnerte sie sich daran, wie die Wagen<br />
neben dem Rasenplatz hielten, auf dem ein spanischer Brunnen<br />
stand. Wie die Gäste ausstiegen, plaudernd auf dem Kiesweg<br />
an der Terrasse entlang gingen und das Haus durch die Verandatür<br />
betraten. Die letzten Anweisungen an die Bediensteten, alles<br />
so feierlich. Ansprachen zu Beginn, nicht zu förmlich, aber unabdingbar.<br />
Und erst danach wurde zu Tisch gebeten: Forelle in<br />
Gelee, Kalbsrücken mit Gemüse und <strong>als</strong> Dessert Herzogintorte.<br />
Dazu ein Zeltinger Schlossberg aus dem Jahre 1917.<br />
Eines Tages, lange nach ihrem Tod, stand ich tatsächlich vor<br />
ihrer Villa in Dahlem. Noch immer war da die Terrasse, der Garten,<br />
der Rasen, genauso wie sie es mir dam<strong>als</strong> erzählt hatte. Ich<br />
konnte förmlich sehen, wie mein Urgroßvater Wilhelm Valentin<br />
auf der Terrasse saß, eine Zigarre rauchte und in den Garten hinunterschaute.<br />
In diesen Fantasiebildern schwelgend, nahm ich<br />
meine Kamera, um ein Bild vom Haus zu machen. Da öffnete<br />
sich ein Fenster und eine ältere Dame blickte heraus. Bevor ich<br />
auch nur freundlich lächeln konnte, schrie sie: „Verschwinden<br />
Sie!“ Ich versuchte, sie zu beruhigen, ihr zu erklären, dass ich<br />
nichts weiter wolle, <strong>als</strong> ein Foto von dem Haus zu machen, wo<br />
einst meine Familie lebte.<br />
„Familie? Sie meinen die Familie Valentin?“, rief die Dame<br />
irritiert.<br />
„Ja“, sagte ich hoffnungsfroh. „Kennen Sie die Familie?“, wagte<br />
ich zu fragen. Überhaupt war ich überrascht, dass sie sich, nach<br />
über 60 Jahren, noch an den Namen erinnerte.<br />
Jetzt kreischte sie fast: „NEIN! Aber die Geschichte des Hauses<br />
kenne ich.“<br />
Diese Geschichte war der Teil, den unsere Oma bei all unseren<br />
Gutenachtgeschichten ausgelassen hatte: die Enteignung des Hauses,<br />
durchgeführt von Albert Speer und Joachim von Ribbentrop<br />
höchstpersönlich. Nach der Flucht meiner Familie hatte zwischen<br />
1936 und 1939 die jüdische Kaliski-Schule provisorisch ihr Quartier<br />
in der Villa bezogen, zu ihren Schülern gehörten der spätere<br />
Filmemacher Mike Nichols und Michael Blumenthal, heute Direktor<br />
des Jüdischen Museums in Berlin. Nach der Zwangsschließung<br />
der Schule installierten die Nazis im Haus meiner Oma eine<br />
zentrale Dechiffrierstation, die kriegswichtige Botschaften entschlüsselte.<br />
Das Auswärtige Amt ist heute noch Eigentümer der<br />
Villa Im Dol 2-6.<br />
Seit ich von dieser Geschichte durch diesen unschönen Vorfall<br />
zufällig erfahren habe, begegne ich meiner Familie an vielen<br />
weiteren Ecken Berlins wieder. An der Familiengruft, auf dem<br />
Luisenfriedhof, im Grunewald, auf dem Hof der ehemaligen Familienfabrik<br />
in der Großbeerenstraße 71 in Kreuzberg, in der<br />
St. Annen-Kirche in Dahlem. Aber was mich an der Hauptstadt<br />
am meisten fasziniert, ist die unendliche Geschichte, die hinter<br />
so vielen ihrer Bauten steckt. Deshalb habe ich mich vor Jahren<br />
konsequent entschlossen, viele davon zu bespielen: den Reichstag,<br />
das Finanzministerium, die Mendelssohn-Remise, Tempelhof.<br />
Denn dort Musik zu machen, umzingelt von all den Geschehnissen<br />
und Gespenstern, befreit mich von einer Vergangenheit, die<br />
ich nicht erlebt habe, aber trotzdem noch spüre. Und <strong>als</strong> ich vor<br />
dem gesamten Bundestag stand und Maurice Ravels „Kaddisch“<br />
meinen beiden Berliner Urgroßvätern widmete, spürte ich mehr<br />
denn je, dass in Berlin Musik und Geschichte Hand in Hand gehen.<br />
So wie neulich in dem „War Concerto“.<br />
Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband<br />
„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch „Toi,<br />
Toi, Toi – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt) und die<br />
CD „The Romantic Violinist“. Er lebt in Wien<br />
illustration: anja stiehler/jutta fricke illustrators<br />
112 <strong>Cicero</strong> 7.2012
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114 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Radikale Abkehr vom<br />
Minimalismus: Das<br />
New Yorker Gramercy<br />
Park Hotel, das eine<br />
neue Ära der Opulenz<br />
einleitete, hat Maler<br />
und Regisseur Julian<br />
Schnabel eingerichtet –<br />
Gramercy Park<br />
Hotel, NewYork City,<br />
eröffnet 2006, Hotelier<br />
Ian Schrager<br />
Design und<br />
Demokratie<br />
Die Zukunft der Boutique-Hotels liegt in einer<br />
Exklusivität, die nicht auf Geld, sondern auf<br />
Geschmack basiert – womit die Branche zu ihren<br />
Wurzeln zurückkehrt<br />
von alexander schimmelbusch<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 115
W<br />
er Anfang der Achtziger<br />
Jahre auf der<br />
Suche nach einem<br />
Hotel war, in dem<br />
man trotz weißem<br />
Armani-Anzug mit<br />
überdimensionierten<br />
Schulterpolstern<br />
nicht sofort <strong>als</strong> Lude abgestempelt wird,<br />
betrieb reine Zeitverschwendung. Wer ein<br />
Hotel suchte, in dem einem <strong>als</strong> Kellnerinnen<br />
jobbende Models zwar immer die f<strong>als</strong>chen<br />
Drinks bringen, in ihren knappen<br />
schwarzen Uniformen aber so richtig gut<br />
Studio 54, das keine drei Jahre existierte,<br />
ist wohl immer noch der berühmteste<br />
Nachtclub in der Geschichte der Menschheit.<br />
Über der Tanzfläche hing sinnigerweise<br />
eine Skulptur vom Mann im Mond,<br />
der jedes Mal, wenn er sich seinen mechanischen<br />
Kokslöffel an die Nase führte, in<br />
grellem Neonlicht erstrahlte. Ebenso penibel,<br />
wie Rubell an der Tür den Gästemix kuratierte,<br />
steuerte Schrager drinnen mithilfe<br />
von Architekten, Künstlern, Floristen und<br />
Lichtdesignern die Atmosphäre. Zwar feierte<br />
sich eine Brigade aus Celebrities Nacht<br />
für Nacht die Falten ins Gesicht, aber der<br />
Z i m m e r f r e i | S a l o n |<br />
<strong>als</strong> visueller Leitfaden durch das gesamte<br />
Interieur zieht: von den Bettüberwürfen<br />
über die Teppichleisten bis hin zu den Robert-Mapplethorpe-Fotografien.<br />
Es entstand<br />
eine schummrige Oase von karger<br />
Eleganz, in der Putman neben Nichtfarben<br />
nur Beige und Grau tolerierte – und<br />
in deren Lobby sich neben Models, Malern<br />
und Dealern von Anfang an auch wieder<br />
etliche Prominente amüsierten. „Auf<br />
Celebrities kann man natürlich kein seriöses<br />
Geschäft aufbauen“, sinnierte Schrager<br />
später einmal, „aber sie können auch<br />
nicht schaden.“<br />
FotoS: Design Hotels, Joshua Lutz/Redux/Laif (Seiten 114 bis 115), Andrée Putman/Studio Putman, Hotel Michelberger<br />
aussehen, war aufgeschmissen. Wer ein<br />
Hotel suchte, dessen Design den popkulturellen<br />
Augenblick atmete, konnte das<br />
vergessen.<br />
Das galt auch für Manhattan. Unter<br />
dem Einfluss eines aus dem Ruder laufenden<br />
Nachtlebens war New York City Ende<br />
der siebziger Jahre immer libertärer und<br />
progressiver geworden, was sich allerdings<br />
nicht in der Hotelindustrie der Stadt niedergeschlagen<br />
hatte. Dass es dort tatsächlich<br />
kein einziges Hotel gab, das auf ihn anregend<br />
wirkte, wurde dem späteren Hotelmagier<br />
Ian Schrager schon 1979 klar – ein Jahr,<br />
in dem er viel Zeit zum Nachdenken hatte:<br />
Mit seinem Partner Steve Rubell saß er dam<strong>als</strong><br />
eine Freiheitsstrafe wegen Steuerhinterziehung<br />
ab, nachdem die Polizei im Studio<br />
54, dem Nachtclub der beiden, ganze<br />
Müllsäcke voller Bargeld entdeckt hatte.<br />
Morgans Hotel, New York City, eröffnet 1984<br />
legendäre Status des Clubs ist auch darauf<br />
zurückzuführen, dass sich noch nie zuvor<br />
jemand so viel Mühe mit dem Interieur gegeben<br />
hatte.<br />
Das erste Hotel des Paares, das „Morgans“,<br />
verfolgte dann auch denselben Ansatz.<br />
Schrager und Rubell brachten Design<br />
in eine Branche, die in dieser Hinsicht<br />
weitgehend brachlag. Und das mit wenig<br />
Kapital – denn es war nicht so, dass Investoren<br />
den designaffinen Knastbrüdern die<br />
Türen einrannten. Bei der Immobilie handelte<br />
es sich um ein heruntergekommenes<br />
Männerwohnheim in unattraktiver Lage.<br />
Und „das Budget war lächerlich“, erinnert<br />
sich Morgans-Designerin Andrée Putman,<br />
die die beiden im Studio 54 über Yves Saint<br />
Laurent kennengelernt hatte. „Für die Bäder<br />
beispielsweise mussten wir die billigsten<br />
Kacheln nehmen, und die gab es, neben<br />
Pink, nur in Schwarz und Weiß.“<br />
So kam jener heute ikonische Schachbrett-Look<br />
eher zufällig zustande, der sich<br />
Michelberger Hotel, Berlin, eröffnet 2009<br />
Die Revolution der globalen Hotelindustrie<br />
hatte begonnen. Schrager und Rubell<br />
verkauften nicht eine Übernachtung,<br />
sondern eine Auszeit vom Alltag, eine überspitzte<br />
Form kompromissloser Gegenwart.<br />
„Es war klar, dass wir nicht nur in einer<br />
spezialisierten Nische agierten“, so Schrager,<br />
„das Mainstreampotenzial war sichtbar.<br />
Aber wir machten etwas Neues und Originelles,<br />
indem wir ein Erlebnis entwarfen –<br />
und nicht nur einen Platz zum Schlafen.“<br />
Nach dem Aids-Tod Rubells folgte eine<br />
Serie von acht Hotels unter der Ägide von<br />
Schrager und Philippe Starck, deren Designsprache,<br />
ein strenger und mit surrealistischem<br />
Humor aufgelockerter Minimalismus,<br />
ihren Höhepunkt 2000 im Londoner<br />
„Sanderson Hotel“ fand. Für die Branche<br />
war dieser Stil so prägend, dass heute weltweit<br />
in nahezu jeder größeren Stadt eines<br />
Industrie- oder Schwellenlandes ein Hotel<br />
zu finden ist, das ihn auf oberflächliche<br />
Weise nachplappert: weißer Lack,<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 117
| S a l o n | Z i m m e r f r e i<br />
Plexiglas, Edelstahl, buntes Licht und undichte<br />
Duschen mitten in winzigen Zimmern.<br />
Nicht zu vergessen: der Techno in<br />
der Lobby, die dubiose Sushi-Tapas-Fusionsküche,<br />
die schwarzen Samurai-Uniformen<br />
und asymmetrischen Frisuren des<br />
eingebildeten, aber miserabel ausgebildeten<br />
Serviceperson<strong>als</strong>.<br />
Die Lawine an derivativem Design, die<br />
er losgetreten hat, lässt Schrager heute erschaudern:<br />
„Ich fühle mich langsam, <strong>als</strong><br />
hätten wir Frankensteins Monster erschaffen.“<br />
Für ihn ist das Design eher eine sekundäre<br />
Komponente, die erst durch ihre<br />
kulturelle Verankerung eine Daseinsberechtigung<br />
erfährt: „Es ist wie bei einem<br />
Film. Zuerst brauchen wir das Drehbuch,<br />
die Spezialeffekte kommen später. Wenn<br />
wir uns <strong>als</strong>o mit Designern und Architekten<br />
treffen, dann reden wir nicht über Farben,<br />
sondern über den gesellschaftlichen<br />
Kontext. Wie gut verstehen wir das Unbewusste<br />
unserer Kunden? Worauf werden sie<br />
reagieren? Was fehlt ihnen?“<br />
Allerdings war Schrager auch relativ<br />
schnell ernst zu nehmende Konkurrenz<br />
erwachsen – in Form einer Handvoll<br />
gleichermaßen besessener Perfektionisten,<br />
die an ihre Hotelprojekte wie an Gesamtkunstwerke<br />
herangehen. Adrian Zecha<br />
von „Amanresorts“ beispielsweise, dessen<br />
paradiesähnliche Entspannungsoasen das<br />
genaue Gegenteil eines Nightlife-lastigen<br />
Schrager-Hotels darstellen, nämlich den<br />
idealen Ort zum meditativen Auskatern.<br />
Oder André Balazs, der <strong>als</strong> Wiedergänger<br />
Schragers gilt und mit dem Chateau Marmont<br />
1990 einen legendären Sündenpfuhl<br />
des alten Hollywood übernahm und behutsam<br />
modernisierte.<br />
Das Besondere an den Hotels von Balazs<br />
besteht darin, dass er sie auf ihre lokale<br />
Verankerung zurückführt: „Es sollte<br />
keinerlei Unklarheit darüber herrschen,<br />
ob man in London oder New York ist, in<br />
Soho oder an der Wall Street. Schon immer<br />
haben wir nicht nur darüber nachgedacht,<br />
in welcher Stadt und in welchem<br />
Viertel sich unsere Hotels befinden, sondern<br />
sogar, in welchem Gebäude.“ Eine<br />
deutlichere Absage an generisches Design<br />
lässt sich kaum formulieren.<br />
Schragers eigene Antwort auf die Flut<br />
an Design-Generika kam 2006 in Form<br />
einer radikalen Abkehr vom Minimalismus,<br />
die sich im heute schon klassischen<br />
„Gramercy Park Hotel“ manifestierte, für<br />
dessen Gestaltung er keinen Designer,<br />
sondern den Maler und Regisseur Julian<br />
Schnabel engagierte. Vom Schachbrettmuster<br />
einiger Böden und Teilen der Bäder<br />
abgesehen, gibt es im ganzen Hotel keine<br />
einzige weiße Fläche. Stattdessen gelang<br />
Schnabel mit einer Palette aus staubigem<br />
Pink, mattem Taubenblau und besänftigendem<br />
Jade ein bravouröser Spagat zwischen<br />
Exzentrik und Eleganz.<br />
In der Opulenz aus Stuck, Farbe,<br />
Bronze, Holz und Samt lassen sich einige<br />
Vorläufer erahnen – das Pariser Hotel „Costes“<br />
beispielsweise, oder auch das Londoner<br />
„Blakes“ von Anouska Hempel. Das<br />
Fotos: Sanderson Hotels<br />
118 <strong>Cicero</strong> 7.2012
„Erst brauchen wir das Drehbuch,<br />
die Spezialeffekte kommen später“<br />
Hotelier Ian Schrager, The Sanderson, London, eröffnet 2000<br />
Traditionelle des Interieurs scheint optisch<br />
auf eine mondän-verruchte Vergangenheit<br />
zu verweisen, auf die achtziger Jahre, die<br />
ja auch Julian Schnabel hervorgebracht haben,<br />
und auf die Aktien- und Kunstmarktboomphase,<br />
in der man sich 2006 befand.<br />
Dass nach der Wirtschaftskrise von<br />
2008 eher Bedarf an Übernachtungsmöglichkeiten<br />
in anderen Kategorien bestand,<br />
ist keine Überraschung. Als innovativster<br />
Bereich der Hotelbranche gilt heute deshalb<br />
jener „cheap chic“, dem Schrager bereits<br />
im Jahr 2000 mit seinem New Yorker<br />
„Hudson Hotel“ ein Denkmal setzte. Die<br />
kreative Führerschaft in diesem verfeinerten<br />
Budget-Segment lag in den Nullerjahren<br />
bei Balazs mit seiner Marke „The Standard“.<br />
Heute liegt sie bei den „Ace Hotels“<br />
des ehemaligen Partypromoters und Turnschuhdesigners<br />
Alex Calderwood, die ihre<br />
Hipness nicht aus Celebrities und Nightlife<br />
beziehen, sondern eher aus der zeitgenössischen<br />
Sphäre von Social Media, Rockmusik<br />
und Grafikdesign.<br />
In den Zimmern des New Yorker<br />
„Ace“-Flaggschiffs findet man Plattenspieler,<br />
Vinyl und Wände, die mit historischen<br />
Ausgaben der New York Times tapeziert<br />
sind. Diese zeitgenössische Nostalgie<br />
verbindet Calderwood spöttisch mit Elementen<br />
des aktuellen Brooklyner Hipstergestus’,<br />
etwa der Edel-Trailerpark-Gastronomie.<br />
In der Lobby, die die Atmosphäre<br />
einer historischen Bahnhofshalle hat, gibt<br />
es einen Coffeeshop und eine Bar. Zwischen<br />
den Säulen, Bibliothekstischen und<br />
Sofas sind ausgestopfte Biber und Waschbären<br />
aufgestellt. Der Snack aus knuspriger<br />
Schweineschwarte lässt sich dort mit einem<br />
Dosenbier der Redneck-Marke „Porkslap“<br />
hinunterspülen.<br />
Allerdings fallen die „Standard“-Hotels<br />
inzwischen genauso wenig in die Budget-<br />
Kategorie wie jene der Marke „Ace“. Insbesondere<br />
im Falle von Balazs, der sein<br />
nächstes „Standard“ angeblich in Berlin<br />
eröffnen wird, könnte man diese Entwicklung<br />
<strong>als</strong> „Miu-Miu-Effekt“ bezeichnen:<br />
Miu Miu, von Prada <strong>als</strong> günstigere Zweitmarke<br />
eingeführt, war schon nach ein paar<br />
Jahren auf dem einstigen Preisniveau der<br />
Prada-Kollektion angekommen, die ihrerseits<br />
eine Kategorie höhergerückt war.<br />
Eine ähnliche Inflation ist auch im Falle<br />
des Berliner „Soho House“ zu beobachten,<br />
dessen Zimmerpreise sich vom moderaten<br />
Niveau der Eröffnungszeit in Regionen begeben<br />
haben, die das Haus trotz Krawattenverbots<br />
eher für Frankfurter Banker interessant<br />
machen.<br />
Der Tatsache, dass Status im heutigen<br />
Berlin, wie Anfang der achtziger Jahre in<br />
New York, nur wenig mit Geld zu tun hat,<br />
trägt derzeit eher das „Michelberger“ mit<br />
seinem geschmackssicher improvisierten<br />
WG-Stil Rechnung, gelegen in einem Fabrikgebäude<br />
neben der Oberbaumbrücke.<br />
Wenn dieses Hotel ein Berliner wäre, dann<br />
wäre es der unrasierte Typ von nebenan,<br />
der in der Musikbranche arbeitet und sich<br />
am Sonntagnachmittag die Zeitungen in<br />
einem alten Paisley-Morgenmantel holt.<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 119
| S a l o n | Z i m m e r f r e i<br />
„Die Stadt wirkt wie ein Magnet auf viele<br />
Menschen“, so definieren die Michelberger-Macher<br />
den Berliner Augenblick, „weil<br />
sie ihnen die Freiheit lässt, in Ruhe ihre<br />
Nische zu finden, ohne von kommerziellen<br />
Überlegungen behelligt zu werden.“<br />
Das untere Ende des Budget-Spektrums<br />
dagegen besetzt in Deutschland die<br />
rapide wachsende „Motel One“-Kette, deren<br />
Produkt einen erfreulichen neuen Basisstandard<br />
darstellt. Dabei ist dessen für<br />
seine Preiskategorie erstaunliche Attraktivität<br />
nicht etwa auf das mittelmäßige, aber<br />
nicht weiter anstößige Design zurückzu-<br />
konkurrieren sollen. Andererseits hat er<br />
im Oktober mit dem „Public“ in Chicago<br />
das erste Hotel einer neuen Budget-Kette<br />
eröffnet.<br />
Mit dem „Public“, das Schrager ohne<br />
Designer einfach selbst entworfen hat,<br />
möchte er seine Art von kuratierter Hotelerfahrung<br />
kompromisslos zugänglich<br />
machen, „ganz ähnlich, wie Andy Warhol<br />
das mit Kunst gemacht hat“. In der Lobby<br />
und den Zimmern zeigt sich ein gereifter,<br />
schlichter Chic, benutzerfreundlich und<br />
komfortabel. Und so steht auch sein neuestes<br />
Projekt für eine Rückkehr zu den Anfän-<br />
Ace Hotel,<br />
New York<br />
City, eröffnet<br />
2010,<br />
Hotelier Alex<br />
Calderwood<br />
das „Lloyd Hotel“ in Amsterdam bereits<br />
seit 2004 praktiziert. Dort kann sich der<br />
Investmentbanker an einer jungen und<br />
kreativen Barszene erfreuen, in die man<br />
ihn anderswo gar nicht hineinließe und<br />
aus der er sich bei Bedarf in seine riesige<br />
Fünf-Sterne-Suite zurückziehen kann,<br />
während die prekäre, aber bezaubernde<br />
Tänzerin sich nach einer langen Nacht in<br />
die bequeme Koje ihres charmanten, aber<br />
winzigen Kämmerchens legt.<br />
Auf die Spitze getrieben hat dieses<br />
Prinzip der Hotelier Claus Sendlinger mit<br />
seinem Pop-Up-Resort am Strand von Tu-<br />
Fotos: ACE Hotel, Deidre Schoo/NYT/Redux/Laif, Christoph Seyferth/Rob‘t Hart Photography/Loyd Hotel, Privat (Autor)<br />
führen, sondern darauf, was man in den<br />
„Motel One“-Häusern eben nicht vorfindet:<br />
die deprimierende Vertreter-Tristesse,<br />
wie sie in Ketten dieser Kategorie – Übernachtungen<br />
ab 49 Euro – sonst üblich ist.<br />
„Motel One“ passt hervorragend in das<br />
Schema der Konzentration geschmacksbürgerlichen<br />
Konsumverhaltens auf entweder<br />
ganz einfach oder ganz edel: T-Shirts<br />
von H&M, aber Schuhe von Tod’s, Flüge<br />
mit Easyjet, aber ein Trolley von Bottega<br />
Veneta – eine Melange aus High-End-Luxus<br />
und sehr günstigen, perfektionierten<br />
Standard-Massenprodukten. Mit dieser<br />
Entwicklung ist derzeit auch Ian Schrager<br />
befasst, der den klassischen Drei- bis Vier-<br />
Sterne-Boutique-Hotel-Bereich <strong>als</strong> „völlig<br />
überfüllt“ bezeichnet: „Die wirklichen<br />
Chancen liegen heute oberhalb und unterhalb<br />
dieser Kategorie.“ Folglich plant<br />
Schrager einerseits eine diskrete Kollektion<br />
von kleinen Superluxus-Stadthotels,<br />
die mit den klassischen Grand-Hotels<br />
gen – zu jener durchmischten, demokratischen<br />
Exklusivität des „Morgans“ nämlich,<br />
„die nicht auf Reichtum, sondern auf Sensibilität<br />
und Stil basierte“. Besondere Aufmerksamkeit<br />
hat Schrager dem Service gewidmet,<br />
der auf das Wesentliche reduziert<br />
wurde – denn wer braucht heute bitte noch<br />
ein Business Center? Sein Service-Konzept<br />
vergleicht er mit dem Einkaufserlebnis im<br />
Apple-Store: „Da bekommt man genau das,<br />
was man dort braucht, und sonst nichts.“<br />
Schrager gesteht, dass er von Trader Joe’s<br />
besessen ist, dem amerikanischen Edel-<br />
Aldi: „Dort kaufen Reiche und Arme gleichermaßen<br />
ein. Es gefällt mir, dass sie einen<br />
spezifischen Blickwinkel haben und keine<br />
große Auswahl.“<br />
Noch besser in die Gegenwart passt –<br />
auch <strong>als</strong> schönes Zeichen gegen die viel<br />
diskutierte Spaltung der Gesellschaft – das<br />
immer populärer werdende Konzept einer<br />
starken Spreizung verschiedener Zimmerkategorien<br />
unter einem Dach, wie sie etwa<br />
lum in Mexiko: Im „Papaya Playa“ hatte<br />
man die Auswahl zwischen einer kleinen<br />
Hütte im Palmenwald für 40 Dollar<br />
die Nacht – oder einer großzügigen Casita<br />
auf einem Felsen mit spektakulärer<br />
Meerblickterrasse. Anfang Mai schloss er<br />
die Anlage einfach nach nur fünf Monaten<br />
und lässt sie während der Sommermonate<br />
<strong>als</strong> improvisiertes Resort auf Mykonos<br />
wieder auferstehen.Dort kann man<br />
nun ohne schlechtes Gewissen (man unterstützt<br />
ja den bankrotten Bündnispartner)<br />
auf der Bruchlinie der Europäischen<br />
Union Party machen. Und dass auch dieses<br />
Resort bald wieder verschwindet, hat<br />
den Vorteil, dass es gut altern wird – verklärt,<br />
in der Erinnerung.<br />
Alexander<br />
Schimmelbusch<br />
arbeitete <strong>als</strong> Investmentbanker<br />
und lebt nun <strong>als</strong> freier Journalist<br />
und Buchautor in Berlin<br />
120 <strong>Cicero</strong> 7.2012
Lloyd Hotel, Amsterdam,<br />
eröffnet 2004<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 121
| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />
Die Wiedergefundene<br />
Zeit<br />
Warum manche Bücher wie lange Liebesbeziehungen<br />
sein können: Zu Besuch bei Nikolaus Bachler, dem<br />
Intendanten der Bayerischen Staatsoper<br />
Von Eva gesine Baur<br />
W<br />
o er meistens zu finden ist, lässt sich einfach beantworten:<br />
unterwegs. „Winnie, the Pooh“ war<br />
das erste Buch in seinem Leben, und das hat abgefärbt.<br />
Nikolaus Bachler, Intendant der Bayerischen<br />
Staatsoper, nennt es „eine Poesie der Wanderschaft“.<br />
„Wo bist du gerade?“, heißt die erste Frage, wenn ihn sein<br />
Freund Luc Bondy anruft. Bondy möchte dann aber nicht erfahren:<br />
am Flughafen John F. Kennedy. Oder: bei einer Besprechung<br />
im Café Margot. Sondern an welcher Stelle in „Sodom und Gomorrha“<br />
oder „Im Schatten junger Mädchenblüte“. Bondy hilft<br />
diese Ortsangabe weiter. Er selbst ist genauso zu Hause in den sieben<br />
Bänden von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.<br />
Für viele Leser ist Marcel Prousts zentrales Werk Bildungsballast,<br />
den man im Regal abstellt und aus dem man eine Passage<br />
kennt: die, wo Madeleines in den Lindenblütentee getaucht werden.<br />
Für Bachler ist dieses Werk ein konkurrenzloses Lehrbuch.<br />
„Was Leben ist, habe ich über Proust gelernt.“<br />
Die Ausbildung fing an, <strong>als</strong> Bachler Gymnasiast in Judenburg<br />
war und nach Lesestoff suchte. Seine Schwester las Karl May. „Verlogen,<br />
konstruiert und gähnend langweilig“, fand er. Spannend<br />
fand er ein Foto von Proust, auf das er gestoßen war. Darauf<br />
spazierte der Schriftsteller in voller Montur mit Stock und Hut<br />
am Meer den Sandstrand entlang. Was war das für einer? Vom<br />
Deutschlehrer kam nichts. „Für den war Brecht des Teufels und<br />
die deutschsprachige Literatur mit Weinheber beendet.“ Eine örtliche<br />
Buchhandlung beschaffte Bachler die Einstiegsdroge, „Unterwegs<br />
zu Swann“. Sie machte den angehenden Schauspieler süchtig.<br />
„Keiner hat genauer <strong>als</strong> Proust Menschen beobachtet. Ihre Bewegungen,<br />
ihr Seelenleben, was zwischen ihnen geschieht. Wenn bei<br />
Proust die Mutter eine Treppe hinuntergeht und er damit die Bedeutung<br />
des Wegs klarmacht, das berührt mich, wenn ich es zum zehnten<br />
Mal lese, wie beim ersten Mal. Nur anders.“ Was sich in seiner<br />
Empfindung von Lektüre zu Lektüre verändert, kann Bachler nachvollziehen.<br />
„Ich zeichne in meine Bücher rein, unterstreiche, kritzle<br />
Kommentare an den Rand.“ Lesend taucht er so auch in die eigene<br />
Vergangenheit ein, wenn erneut eines seiner Kultbücher drankommt.<br />
Foto: Gerald von Foris<br />
122 <strong>Cicero</strong> 7.2012
„Ich bin kein<br />
Büchersammler,<br />
ich bin ein<br />
Bücherleser“:<br />
Nikolaus Bachler<br />
in seiner Wohnung<br />
in München<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 123
| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />
„Was Leben ist, habe ich über Proust gelernt“, sagt Nikolaus Bachler. Einen der sieben<br />
Bände von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ hat er deswegen immer dabei<br />
Dazu gehört auch F. Scott Fitzgeralds unvollendet gebliebener<br />
Roman „Der letzte Taikun“, für ihn ein amerikanischer „King<br />
Lear“. Oder „Die Dämonen“ von Fjodor Dostojewski. Das wiederholte<br />
Lesen ein- und desselben Buches wirkt widersprüchlich<br />
bei einem Mann, der vor Energie vibriert und erklärt: „Ich lebe<br />
nicht in der Vergangenheit.“ Den Widerspruch löst Bachler grinsend<br />
auf. „Für mich ist das wie in einer Liebesbeziehung: Die<br />
kurzen Beziehungen sind immer gleich. Da wiederholen sich die<br />
bekannten Abläufe. Nur in langjährigen Beziehungen kann sich<br />
etwas ganz Neues ereignen. Nur die bringen einen selbst weiter.“<br />
Dass er zu seinen Büchern ein intimes Verhältnis hat, sieht<br />
man den Büchern an. „Ich bin kein Büchersammler, ich bin ein<br />
Bücherleser. Und zwar kein bibliophiler“, sagt er beim Anzünden<br />
der nächsten Zigarette. Dafür ein ausdauernder. „Im Beruf bin ich<br />
extrem ungeduldig, beim Lesen das Gegenteil.“ Sein Vater, Transportunternehmer,<br />
stöhnte dam<strong>als</strong> bei einem mehrstündigen Probeaufenthalt<br />
in Swanns Welt: „Mein Gott, die sitzen ja noch immer<br />
an demselben Tisch.“ Genau das, was den Vater langweilte,<br />
bannt seinen Sohn bis heute.<br />
Seine eigentliche Bibliothek befindet sich in seinem Haus in<br />
Aussee, in der heimischen Steiermark. In einem großen Raum füllt<br />
sie alle vier Wände vom Boden bis zur Decke. Die beiden Wanderbibliotheken<br />
in München und Berlin haben wesentlich weniger<br />
Umfang, aber dasselbe Ordnungsprinzip: gar keines. „Manchmal<br />
denke ich, alphabetisch zu sortieren, wäre ganz gut. Aber es<br />
bleibt dann beim Vorsatz und beim Suchen.“ Zu Bachlers Umgang<br />
mit Büchern passt es, dass er sie in München teilweise in einem<br />
alten Werkzeugschrank einquartiert hat, den er aus Kapstadt<br />
mitgebracht hat. „Ich liebe Taschenbücher“, sagt Bachler. „Weil<br />
für mich Bücher keine Fetische sind. Ich gehe aktiv mit ihnen um.<br />
Und die nehmen mir nichts übel.“ Es stehen zwar ein paar Klassikerausgaben<br />
in goldgeprägten Leinen- und Ledereinbänden im<br />
Regal, aber die nimmt er selten in die Hand. Dass Goethe in einer<br />
alten, vergilbten dtv-Ausgabe zu finden ist, zeigt: Er wird benutzt.<br />
Angesichts mangelnder Ordnungsliebe ist es hilfreich, dass<br />
es einige Sorten Bücher gibt, die Bachler nicht ausstehen kann.<br />
Auf Platz eins seiner schwarzen Liste: Autobiografien. „Wenn sich<br />
da ein 18-jähriger Fußballer zwischen zwei Buchdeckeln wichtig<br />
macht, ist das gedrucktes Facebook.“ Eine Ausnahme allerdings<br />
fällt ihm sofort ein: „Da geht ein Mensch“, die Erinnerungen des<br />
jüdischen Schauspielers Alexander Granach. Die literarische Welt<br />
des Jüdischen betritt er sowieso gern, die Tradition des Talmud<br />
fasziniert ihn, die fortwährende Deutung der Thora und die des<br />
Lebens. Und das Leben erhält für Bachler erst durch das Lesen Bedeutung.<br />
„Hätte ich Kinder, ich würde sie zum Lesen zwingen. Gehen<br />
lerne ich auch nur, indem ich gehe. Die Lust am Lesen kommt<br />
beim Lesen.“ Kurze Pause. „Ich halte viel von Zwang“, lacht er.<br />
Einige Bücher besitzt er <strong>als</strong> Erinnerungshilfen. Eigentlich hat<br />
er sie im Kopf. Das sind die mit Lyrik, vor allem von Friedrich<br />
Hölderlin, Heinrich Heine und Rainer Maria Rilke. „Lyrik ist abstrakter.<br />
Ein Geruch, ein Gefühl.“ Gegenwelten der langen Romane,<br />
wo die Lektüre, wie er sagt, „ein Besuch bei Geistesverwandten<br />
ist“. Vor allem Hölderlins Diotima-Gedichte haben es ihm angetan.<br />
„Herrliche, durch die mein Geist / von des Lebens Angst genesen“,<br />
heißt es dort. Bachler mag das Wort tolerant nicht. Er redet<br />
von angstfrei und fragt die Buh-Schreier nach einer Aufführung<br />
auch schon mal, wovor sie sich gefürchtet haben.<br />
Er lehnt sich zurück, pafft und sagt zwischen zwei Zügen so<br />
beiläufig, <strong>als</strong> rede er vom Wetter: „Wolle die Wandlung. O sei für<br />
die Flamme begeistert, drin sich ein Ding dir entzieht, das mit<br />
Verwandlungen prunkt.“ Bachler wirkt offen, leicht zugänglich<br />
ist er nicht. Wer sich den Zugang zu ihm erschließen will, findet<br />
in den ersten Zeilen von Rilkes „XII. Sonett an Orpheus“ zwei<br />
Schlüssel: die Begriffe der Wandlung und des Sich-Entziehens.<br />
15 Jahre lang besaß Bachler ein Haus in Kolumbien. „Dort“,<br />
sagt er, „bin ich in die ‚Hundert Jahre Einsamkeit‘ von Márquez<br />
hineingekippt. In die Schönheit und Gefährlichkeit dieses Landes,<br />
wo das Übersinnliche wichtiger ist <strong>als</strong> das Konkrete.“ Nimmt er<br />
heute erneut Gabriel García Márquez aus dem Regal, denkt er an<br />
Einladungen in Südamerika. „Da begann immer sofort einer mit<br />
Tischerücken, Kaffeesatzlesen, Handlesen.“ Er lächelt undurchschaubar.<br />
„Auch das ist Lesen: Erfahrenwollen.“<br />
Literatur wandelt sich im Leser. Auch dadurch, dass er erlebt,<br />
wo sie entstanden ist. Festhalten sei dabei absolut hinderlich, findet<br />
Bachler. Zum Sammler prädestiniert ihn das nicht gerade. „Dass Bücher<br />
verleihen Bücher verschenken heißt, habe ich ins Unbewusste<br />
versenkt.“ Dort liegt auch die Lust, sich der Gesellschaft zu entziehen.<br />
„Das Gerede, in meinem Beruf könne sich das keiner leisten,<br />
habe ich schon in Wien widerlegt.“ Proust entzog sich im Schlafzimmer,<br />
schreibend. Bachler entzieht sich im Schlafzimmer, lesend.<br />
Eva gesine Baur<br />
schreibt Biografien und Romane, die von Musik handeln.<br />
Zuletzt erschien ihr Buch über „Emanuel Schikaneder“<br />
(C. H. Beck)<br />
Fotos: Gerald von Foris, Privat (Autorin)<br />
124 <strong>Cicero</strong> 7.2012
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| S a l o n | D a s S c h w a r z e s i n d d i e B u c h s t a b e n<br />
Immer dieses arme Ego<br />
Der bürgerliche Großkünstler ist einer, der leidet und<br />
dafür geliebt werden will. Über August Strindberg, Thomas<br />
Kapielski, Zachary Mason und die Frage, ob wir dem<br />
19. Jahrhundert entkommen können<br />
Die Bücherkolumne von Robin Detje<br />
I<br />
ch! Ich! Ich!, ruft der bürgerliche<br />
GroSSkünstler und behauptet,<br />
dass er uns alle in sich trägt.<br />
Mein Wahn, sagt er, ist eure Welt. Wenn<br />
ich Ich! Ich! Ich! rufe, meine ich: Euch!<br />
Euch! Euch! Ihr müsst euch nur in mir finden.<br />
Dabei viel Spaß.<br />
150 oder 200 Jahre lang hat dieses Spiel<br />
wunderbar funktioniert: Der bürgerliche<br />
Großkünstler war immer auch der rebellische<br />
Bürgerschreck. Der Star gab sich immer<br />
auch <strong>als</strong> geächteter Außenseiter. Der<br />
Kranke wurde zum Arzt, und das Abfallprodukt<br />
seiner wundersamen Verwandlung<br />
war Schönheit. Das Werk diente <strong>als</strong><br />
Zeugnis eines titanenhaften Ringens mit<br />
übermächtigen Kräften des Bösen (vorzugsweise<br />
des engen, provinziellen Bösen,<br />
aus dem die Großkünstlerseele ausbrechen<br />
musste), und in alle Richtungen spritzte<br />
der Schweiß. Strindberg zum Beispiel,<br />
August, vor 100 Jahren in Stockholm gestorben.<br />
Ein Musterbeispiel dieser Gattung.<br />
Manche glauben, hinter seiner Genialität<br />
habe sich, zumindest phasenweise,<br />
nichts anderes verborgen <strong>als</strong> ein Hang zur<br />
Psychose. Sie halten das Genietum für eine<br />
sozialisierte Spielart der Geisteskrankheit.<br />
Strindbergs erster literarischer Erfolg,<br />
der Roman „Das rote Zimmer“, erschien<br />
1879 und liegt jetzt in einer schönen neuen<br />
Übersetzung vor. (August Strindberg: „Das<br />
rote Zimmer“, Roman, übersetzt von Renate<br />
Bleibtreu; Manesse, Zürich 2012; 576 Seiten,<br />
24,95 Euro) Strindbergs Satire war<br />
ein Generalangriff auf die bürgerliche Gesellschaft<br />
seiner Zeit. Der Held heißt Arvid<br />
Falk und sucht die Wahrheit. Strindberg<br />
jagt ihn durch eine Geisterbahn<br />
voller korrupter Politiker und Kaufleute<br />
und lebensmüder Künstler. Wahrheit begegnet<br />
ihm nirgends, dafür viel zynische<br />
Geschäftemacherei. Dem Autor gelingt<br />
die große Zirkusnummer: in alle Richtungen<br />
Weltekel zu versprühen und dafür von<br />
der Welt geliebt zu werden. Seinem Helden<br />
gönnt er am Ende eine zahme bürgerliche<br />
Existenz <strong>als</strong> Zuflucht, mit ein wenig<br />
Künstlertum, aber hinter der Fassade<br />
brodelt der Hass. Man liest das Buch und<br />
findet all diese Gestalten viel zu leicht im<br />
wirklichen Leben der Gegenwart wieder.<br />
Wir sind noch immer so. Wir stecken im<br />
19. Jahrhundert fest.<br />
In dem Band „Notizen eines Zweiflers“<br />
dürfen wir dem Genie in die Suppenküche<br />
gucken. (August Strindberg: „Notizen<br />
eines Zweiflers“, herausgegeben und übersetzt<br />
von Renate Bleibtreu; Berenberg, Berlin<br />
2011; 320 Seiten, 25 Euro) Da liegen alle<br />
Zutaten ausgebreitet, da wird experimentiert,<br />
skizziert und wieder verworfen. Da<br />
sehen wir den Dichter, der sich auch mit<br />
illustration: cornelia von seidlein<br />
126 <strong>Cicero</strong> 7.2012
foto: Loredana Fritsch<br />
Anzeige<br />
der Malerei, der Fotografie und Alchemie<br />
beschäftigt hat, wie er nachts eine Bromsilberplatte<br />
unter die Sterne legt, um zu sehen,<br />
ob der Mond Spuren darauf hinterlässt.<br />
Alles ist verzaubert, in allem wohnt<br />
ein Geist, der beschworen werden muss.<br />
Strindberg zeigt sich in diesen Notizen aus<br />
dem Nachlass sehr nackt und verletzlich –<br />
ein berührender Anblick.<br />
***<br />
Das Prosawerk des bildenden Künstlers<br />
und zeitweiligen Kunstprofessors Thomas<br />
Kapielski ist das Gegenteil von titanischem<br />
Ringen. Es verkörpert eher ewiges Murkeln<br />
auf höchstem Niveau, berlinerisches<br />
Räsonnemang. Kapielski ist der Welt nicht<br />
freundlicher gesonnen <strong>als</strong> Strindberg, er erwartet<br />
nur nicht mehr, der eigenen Widerborstigkeit<br />
Glück, Glanz und Ruhm abgewinnen<br />
zu können. Noch immer ruft da<br />
etwas Ich! Ich! Ich!, aber dieses Ich zürnt<br />
nicht mehr, es hat sich ruhig gestellt mit<br />
Gerstensaft. Kunst und Leben sind ein langer<br />
ruhiger Suff. Das muss man aussitzen,<br />
auch <strong>als</strong> Leser, Band für Band. Die Bücher<br />
erscheinen mal bei Merve, mal bei Suhrkamp;<br />
ein paar Bände sind unter dem Rubrum<br />
„Gottesbeweise“ herausgekommen,<br />
und die meisten sind geschmückt mit<br />
Knipsereien des Autors, die Leere abbilden.<br />
Das alles summiert sich zu einem einzigen<br />
endlosen Redefluss. Aber der neue Band<br />
(Thomas Kapielski: „Neue sezessionistische<br />
Heizkörperverkleidungen“; Edition Suhrkamp,<br />
Berlin 2012; 214 Seiten, 14 Euro)<br />
kennt plötzlich ein Ende. Der Autor zittert<br />
vor dem Tod. Dröhnender Glockenklang,<br />
übergroße Sprachkitschkanonen<br />
werden aufgefahren, aparte grammatische<br />
Blumengirlanden gewunden, dazwischen<br />
dann auch immer mal wieder Stammtisch.<br />
Ein schwächeres Kapitel in einem<br />
großen Werk, das Kleinlichkeit genialisch<br />
zur Kunst erhebt. („Glück Glanz Ruhm“<br />
und „Ich Ich Ich“ sind übrigens Buchtitel<br />
des klein-großen Robert Gernhardt. Muss<br />
man lesen.)<br />
***<br />
Zachary Masons ganz und gar erstaunliche<br />
Sammlung von Prosastücken, die mit<br />
dem Odysseus-Mythos spielen, bilden ein<br />
Werk von geradezu zenbuddhistischer Ich-<br />
Losigkeit. (Zachary Mason: „Die verlorenen<br />
Bücher der Odyssee“, Roman, übersetzt<br />
von Martina Tichy; Suhrkamp, Berlin 2012;<br />
230 Seiten, 22,95 Euro) Viele Autoren haben<br />
sich an Homer abgearbeitet, weil sie<br />
sich beweisen wollten. Mason spielt. Er<br />
schreibt so, wie man <strong>als</strong> Autor guter Kinderbücher<br />
schreibt: Die Fantasie selbst ist der<br />
Held. Als Kind darf man beim Lesen nämlich<br />
noch mitmachen. Erst <strong>als</strong> Erwachsener<br />
soll man dann vor den Anstrengungen der<br />
Großdichter strammstehen und ihre Leistungsschau<br />
abnehmen: Ich! Ich! Ich!<br />
Zachary Mason schenkt uns die Heimkehr<br />
des Odysseus in immer neuen Varianten.<br />
Er schenkt uns einen Odysseus, der<br />
sich einen Achilles <strong>als</strong> Golem baut und ihn<br />
dann <strong>als</strong> trojanisches Pferd aus Lehm in die<br />
belagerte Stadt einschleust. Einen Odysseus<br />
<strong>als</strong> hinterlistigen Schwächling, der sich aus<br />
seiner Schmach zum Sänger seines eigenen<br />
Mythos erhebt, sehr erfolgreich natürlich.<br />
Er malt uns aus, wie es wäre, wenn der Tod<br />
selbst Helena entführt hätte. Wenn Troja<br />
eine Stadt im Totenreich wäre und Odysseus<br />
sich umbringen müsste, um hineinzugelangen.<br />
Seine Geschichten sind mal<br />
kurz, mal lang. Manchmal entfernen sie<br />
sich weit vom Original, manchmal bleiben<br />
sie dicht bei Homer. Immer entstammen<br />
sie einem mit leichter Hand hingetuschten<br />
Paralleluniversum: So könnte es<br />
auch gewesen sein. Oder so. Oder so. Wer<br />
ist der Erzähler dieser Geschichten, wer ist<br />
ihr Gott? Das wissen die Götter. Mason<br />
behauptet jedenfalls nie, es zu wissen oder<br />
auch nur wissen zu wollen.<br />
Das Buch ist das Debüt eines 38-jährigen<br />
Computerfachmanns aus dem Silicon<br />
Valley. Der New York Times hat er offenbart:<br />
„Also, die romantische Vorstellung,<br />
Poesie käme aus diesem tiefen, unsagbaren<br />
Ur-Zeugs, ist ja ganz hübsch, aber ich halte<br />
sie im Kern für f<strong>als</strong>ch. Ich glaube, Seele und<br />
Verstand sind sagbar, und ein Herz lässt<br />
sich wahrscheinlich ergründen.“ Weg mit<br />
den Fesseln des romantischen Denkens!<br />
Der deutsche Verlag möchte seinen Autor<br />
in die Tradition der Postmoderne stellen.<br />
Dabei ist er viel eher der erste Vertreter<br />
einer postgenialischen Literatur, in der<br />
Autor und Leser gleichberechtigt miteinander<br />
spielen. Vielleicht können wir dem<br />
19. Jahrhundert doch noch entkommen.<br />
Robin Detje<br />
lebt <strong>als</strong> Autor und Übersetzer<br />
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7.2012 <strong>Cicero</strong> 127
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K ü c h e n k a b i n e t t | S a l o n |<br />
illustration: Thomas Kuhlenbeck/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser<br />
Paella mit Matjes<br />
Wo bleibt die Küchenunion? Jedes<br />
Imperium braucht eine Leibspeise, die<br />
für ein gemeinsames Lebensgefühl steht.<br />
Rom hatte sein Garum, Österreich-Ungarn<br />
den Kaiserschmarrn. Wer den Euro retten<br />
will, sollte sich auf ein gemeinsames<br />
Rezept verständigen können<br />
Von Thomas Platt und Julius Grützke<br />
J<br />
edes Imperium hat seine Leibspeisen. Nur mit einem gemeinsamen<br />
Lebensgefühl, das sich auch in der Küche<br />
ausprägt, lässt sich die Arbeitsteilung eines Großreichs<br />
rechtfertigen. Das Römische Reich hat nicht nur mit Arenen und<br />
Thermen noch in den abgelegensten Siedlungen den Lifestyle der<br />
Hauptstadt verbreitet, sondern auch an Herd und Tafel einen lateinischen<br />
Geschmack durchgesetzt. Garum, eine fermentierte<br />
Fischsauce, salzte und würzte die Speisen zwischen Cornwall und<br />
Tigris und stiftete eine kulinarische Identität, die aus Barbaren<br />
Bürgersleute machte. Mit dem Zerfall des Imperiums verschwand<br />
das durchdringende Gewürz von der Speisekarte, und der Zusammenhalt<br />
ging auch in der Küche verloren. Etwas Ähnliches wie<br />
Garum entdeckten Europäer erst tausend Jahre später in Südostasien<br />
wieder, wo die Fischsauce noch heute Verwendung findet.<br />
Die Europäische Union <strong>als</strong> Nachfolger des Römischen Reiches<br />
kann nicht mit einer verbindenden Gemeinsamkeit in der<br />
Küche aufwarten. Aber vielleicht ist das auch zunächst einmal<br />
gar nicht gewollt. Die Gemeinschaft hat keine starke Hauptstadt,<br />
von der aus eine Elite einen führenden Stil etablieren und propagieren<br />
könnte. Brüssel vereint zwar viele Sternerestaurants auf<br />
engem Raum, aber eine Signalwirkung geht von diesen Lokalen<br />
nicht aus. Die letzten Küchenrevolutionen wurden eher am Rand<br />
der Union angezettelt, in Katalonien und Kopenhagen. Die Küche<br />
der Europäischen Gemeinschaft fußt weiterhin auf regionalen<br />
und nationalen Überlieferungen, die auf ihre Unterschiedlichkeiten<br />
bedacht sind. Um Ursprungsbezeichnungen und Originalrezepturen<br />
werden erbitterte Kämpfe geführt. Eine gemeinsame europäische<br />
Küche liegt ferner denn je.<br />
Wer allerdings glaubt, dass eine solche Zusammenführung<br />
von vornherein undenkbar und ohnehin nicht wünschenswert<br />
sei, sollte den Blick auf ein anderes, ebenfalls untergegangenes<br />
Imperium richten, das zumindest in Kochbüchern überlebt hat:<br />
die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie. Vom Gulasch<br />
bis zum Kaiserschmarrn hat sich da aus dem Besten der beteiligten<br />
Völker eine Melange ergeben, die mehr ist <strong>als</strong> die Summe<br />
ihrer Teile. Und kulinarische Konvergenz braucht noch nicht<br />
einmal ein absolutistisches Königshaus. Die vor allem in Kalifornien<br />
herausgebildete Fusionsküche des Pacific Rim etwa<br />
vereinte die Anrainer des Pazifik und definierte gleichsam ihren<br />
Wirtschaftsraum, lange bevor Handelsabkommen ihn kodifizieren<br />
konnten.<br />
Auf dem alten Kontinent hingegen existieren die Speisetraditionen<br />
nebeneinander her und machen das gemeinsame europäische<br />
Haus zu einem Apartmentkomplex, in dem höchstens im<br />
Treppenaufgang die Abluft aus den Kochnischen einen Vorgeschmack<br />
auf zukünftige Gemeinsamkeiten erahnen lässt. Bis jetzt<br />
sind nicht einmal bilaterale Menüs in Sicht. Welches Restaurant<br />
würde auf das Konzept irisch-italienischer Küche setzen? Kein<br />
Gastronom käme auf die Idee, Zaziki mit Foie Gras zu servieren<br />
oder Paella mit Matjes. Die Verschmelzung der Traditionen und<br />
Rezepte ist offensichtlich kein Teil der Lebenswirklichkeit unserer<br />
Union. Waren und Ideen werden getauscht und gehandelt, aber<br />
nicht gemeinsam fortentwickelt. Auf ein gemeinsames Rezept verständigen<br />
kann man sich so nicht.<br />
Womöglich fehlt es an einem Gründungsmythos, wie ihn zum<br />
Beispiel die amerikanische Küche mit Thanksgiving und seinem<br />
typischen Truthahn hat. Die fantasievolle Geschichte der ersten<br />
Siedler, die von den Ureinwohnern durch den Winter gebracht<br />
wurden und sich mit einem Festessen bedankten, erzählt von der<br />
Überwindung größter Not und gegenseitiger Hilfsbereitschaft. So<br />
etwas sollte doch auch bei uns möglich sein: Was wäre zum Beispiel,<br />
wenn in größter Krise, über einer Pizza in später Nacht, der<br />
Euro gerettet würde? Das Fest zur Erinnerung daran könnte dann<br />
in jedem Land begangen werden, mit einem je eigenen Belag auf<br />
dem Hefefladen der Gemeinsamkeit.<br />
Julius Grützke und Thomas Platt<br />
sind Autoren und Gastronomiekritiker.<br />
Beide leben in Berlin<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 129
130 <strong>Cicero</strong> 7.2012
D i e l e t z t e n 2 4 S t u n d e n | S a l o n |<br />
„Bloß nicht heulen!“<br />
Warum der Modedesigner Michael Mich<strong>als</strong>ky<br />
Musik zum Sterben braucht<br />
Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz<br />
I<br />
ch war schon bei zwei Wahrsagern,<br />
und beide haben gesagt,<br />
ich werde erst irgendwann zwischen<br />
87 und 90 sterben. Jetzt bin ich 45,<br />
ich habe <strong>als</strong>o noch Zeit. Aber trotzdem.<br />
An meinem letzten Tag würde ich<br />
relativ früh aufstehen, so zwischen sieben<br />
und acht, das mache ich sowieso,<br />
und daran würde ich auch nichts ändern.<br />
Normalerweise bin ich so ein Typ,<br />
der schnell für zehn Minuten unter die<br />
Dusche springt, und dann Klamotten an<br />
und weg. Aber an dem Tag würde ich baden,<br />
mich pflegen und mich besonders<br />
schön anziehen. Ich würde auch mal wieder<br />
einen Conditioner benutzen. An meinem<br />
letzten Tag will ich „bombe“ aussehen:<br />
meine Lieblingssneakers, meine<br />
Lieblingsjeans, weiße Socken, ein schwarzes<br />
T-Shirt, alles von mir selbst designt.<br />
Dabei und auch für den Rest des Tages<br />
wird Musik <strong>als</strong> Soundtrack im Hintergrund<br />
laufen. Auf der Playlist, die<br />
ich schon vorher vorbereitet habe, sind<br />
alle meine Lieblingslieder von Madonna,<br />
Diana Ross und Pet Shop Boys drauf,<br />
viel Dancemusic, alles sehr uplifting, viel<br />
Elektronisches, ein bisschen chillig. Nonstop.<br />
Wenn ich abends sterbe, soll die<br />
Musik immer noch laufen.<br />
Dann würde ich mich mit meinen<br />
fünf engsten Freunden zum Breakfast<br />
treffen. Ich bereue nichts, muss nichts<br />
bereinigen, ich will nur mit ihnen reden.<br />
Als 12-Jähriger las Michael<br />
Mich<strong>als</strong>ky im Stern eine Reportage<br />
über Karl Lagerfeld und wusste, er<br />
wollte Modedesigner sein. Heute ist<br />
er auf dem besten Weg, genauso<br />
bekannt zu werden wie sein Vorbild.<br />
Nach vielen Jahren <strong>als</strong> Chefdesigner<br />
von Levi’s und später Adidas gründete<br />
er 2006 in Berlin sein eigenes<br />
Label, das für diskreten Luxus mit<br />
Streetwear-Einflüssen steht<br />
Wir würden irgendwohin gehen, wo man<br />
Eggs Benedict bekommt, das ist mein absolutes<br />
Lieblingsessen. Alle Leute sind<br />
eingeweiht und dürfen mich nur treffen,<br />
wenn sie nicht heulen – das müssen<br />
sie garantieren. Außerdem müssen<br />
sie schwören, dass sie einmal im Jahr ein<br />
Fest für mich machen, bei dem es richtig<br />
kracht. Zu dem alle kommen, die ich<br />
kenne. Eine fette Gedächtnisparty in einer<br />
tollen Location, wo nur meine Lieblings-DJs<br />
auflegen. Alle müssten in Weiß<br />
kommen. Geweint werden darf auch dort<br />
nicht.<br />
Danach gehe ich noch mal ins Büro,<br />
um zu checken, was dort los ist. Ich muss<br />
mich von den Leuten da verabschieden<br />
und noch ein paar Anweisungen für die<br />
neue Kollektion geben, damit das auch in<br />
meinem Interesse weitergeht.<br />
Nach einem ausführlichen Spaziergang<br />
über die Museumsinsel, durch das<br />
Regierungsviertel und Kreuzberg wären<br />
auch meine wichtigsten Freunde aus<br />
London eingeflogen, wo ich lange gelebt<br />
habe. Mit ihnen würde ich High Tea<br />
nehmen, wie in England. Im Adlon oder<br />
im Ritz Carlton, so richtig mit Earl Grey<br />
und Cucumber Sandwiches, Scones und<br />
Clotted Cream.<br />
Schließlich gehe ich nach Hause und<br />
ziehe ein cooles Partyoutfit an, denn ich<br />
werde alle meine Freunde und alle Leute,<br />
die mir wichtig sind, inklusive Family,<br />
zu einem lustigen Fest zu mir nach Hause<br />
in Mitte eingeladen haben. Da gibt es<br />
viel zu trinken, auch etwas zu essen, alles<br />
querbeet: Ruinart-Champagner, Spezi, einen<br />
leckeren Robert-Weil-Wein, Kinderschokolade<br />
und Gummibärchen, deftige<br />
fränkische Küche, tolle italienische Sachen<br />
und japanisches Essen. Ich würde mich da<br />
nicht sinnlos betrinken. Ich möchte Quality<br />
Time mit meinen Leuten haben, Social<br />
Time. Das Leben genießen. Ich liebe<br />
ja Menschen, ich liebe soziale Kontakte.<br />
Ich möchte mich daran freuen können,<br />
dass ich ein so schönes Leben hatte.<br />
Das Fest geht so lange, bis meine letzten<br />
Sekunden anstehen. Ich möchte nicht<br />
leiden, sondern wegtreten, wenn es am<br />
lustigsten ist. Zack. Bums. Wie vom Blitz<br />
getroffen. Mit einem Lächeln auf den<br />
Lippen.<br />
7.2012 <strong>Cicero</strong> 131
C i c e r o | P o s t S c r i p t u m<br />
Weniger Ehrlichkeit wagen<br />
Von Alexander Marguier<br />
M<br />
al ehrlich, diese Offenheit, die neuerdings überall zelebriert<br />
wird – mein Ding ist das nicht. Vor ein paar Jahren<br />
war ich mal bei der Paartherapie, <strong>als</strong> es in der Beziehung<br />
nicht besonders gut lief. Am Anfang der Sitzung hieß es,<br />
die Beteiligten sollten jetzt bitte ohne Scham und f<strong>als</strong>che Zurückhaltung<br />
darüber reden, was ihnen am jeweils anderen auf<br />
die Nerven geht. Das Ganze endete in einem ziemlichen Desaster:<br />
Man hatte Dinge gesagt, die man aus gutem Grund am<br />
liebsten für sich behalten hätte – und Sachen über sich selbst erfahren,<br />
die auch nicht besonders schmeichelhaft klangen. Was<br />
dazu führte, dass die Therapie schon nach der ersten Stunde<br />
endgültig gescheitert war: Zwei Singles verließen die Praxis, die<br />
sie kurz zuvor noch <strong>als</strong> Partner betreten hatten. Der Nächste,<br />
bitte!<br />
Warum sollte aber in der großen Politik eine Methode funktionieren,<br />
die schon im kleinsten privaten Kreis zu derart üblen<br />
Verwerfungen führt? Denken Sie nur an Horst Seehofers extemporierten<br />
Auftritt im „Heute-Journal“, <strong>als</strong> er dem ohnehin<br />
reichlich zerzausten Norbert Röttgen noch einmal öffentlich den<br />
Kopf wusch („Sie können das alles senden“): Bereits am nächsten<br />
Tag war die Scheidung vollzogen, und der Umweltminister<br />
konnte die Bruchstücke seiner hoffnungsvollen Karriere vor<br />
der zugeschlagenen Kabinettstür einsammeln. Bürgerliche Umgangsformen<br />
sehen jedenfalls anders aus, und dass das Sorgerecht<br />
für Röttgens Ressort ausgerechnet einem alten Freund übertragen<br />
wurde, macht die Sache nur noch schlimmer. Nun lautet ja<br />
der Vorwurf, Röttgen habe das hässliche Drama selbst heraufbeschworen,<br />
weil er im Wahlkampf sämtliche Fragen nach seiner<br />
weiteren Lebensplanung unter den Teppich kehren wollte.<br />
Ich halte das für Quatsch. Oder glauben Sie ernsthaft, die explizite<br />
Androhung, nach einer Niederlage <strong>als</strong> Oppositionsführer in<br />
Düsseldorf zu bleiben, hätte ihm in NRW auch nur eine Stimme<br />
mehr eingebracht? Eben. Klartext wird einfach überbewertet.<br />
Besonders rätselhaft erscheint mir, warum ausgerechnet Journalisten<br />
ständig darüber klagen, dass Politiker immer noch viel<br />
zu selten deutliche Worte fänden. Immerhin lebt ja die ganze<br />
Branche davon, justement die undeutlichen Worte so lange hin<br />
und her zu interpretieren, bis die Kommentarspalten gefüllt und<br />
die Berichte mit in allerlei „Hintergrundgesprächen“ gewonnenen<br />
Informationen aufgeschrieben sind. Wenn stattdessen Klartext<br />
zur lingua franca des politischen Betriebs würde, könnte<br />
kein Hauptstadtkorrespondent mehr davon träumen, die alleinige<br />
Deutungshoheit über das Regierungshandeln zu besitzen,<br />
und lieb gewonnene Formulierungen („wie aus dem Umfeld der<br />
Kanzlerin verlautete“ etc.) gehörten der Vergangenheit an. Diesen<br />
Kulturbruch kann niemand ernsthaft wollen, erst recht nicht<br />
in meinem Gewerbe.<br />
Aber auch <strong>als</strong> Bürger dieses Landes möchte ich doch sehr darum<br />
bitten, vor einer allzu deutlichen Ansprache seitens der Exekutive<br />
verschont zu bleiben. Stellen Sie sich nur einmal vor,<br />
Angela Merkel würde plötzlich in den Gregor-Gysi-Duktus verfallen<br />
und uns auf einem Parteitag darüber in Kenntnis setzen,<br />
dass die CDU sich gerade „selbst zerstöre“. Da würde einem<br />
doch angst und bange! Überhaupt ist Gysis Göttinger Wutrede<br />
der beste Beweis dafür, wie kontraproduktiv Ehrlichkeit sein<br />
kann. Horst Seehofer, zum Beispiel, wäre doch niem<strong>als</strong> bayerischer<br />
Ministerpräsident geworden mit einem Satz wie „Es ist<br />
besser, sich fair zu trennen, <strong>als</strong> weiterhin unfair, mit Hass, mit<br />
Tricksereien, mit üblem Nachtreten eine in jeder Hinsicht verkorkste<br />
Ehe zu führen“? Bei dem hieß es dam<strong>als</strong> aus gegebenem<br />
Anlass in eigener Sache lediglich „Die Familie Seehofer bleibt<br />
zusammen.“ Hätte Röttgens Missgeschick nicht so ähnlich aus<br />
der Welt geschafft werden können, irgendwie nach dem Motto<br />
„Der Norbert gehört weiterhin zur Familie“? Stattdessen: Klartext,<br />
Türenknallen, Tränen und Zähneklappern. Wenigstens verweigerte<br />
sich die Kanzlerin dem unguten Trend zur Aufrichtigkeit<br />
und rief ihrem geschassten Minister ein versöhnliches „Ich<br />
danke Norbert Röttgen für sein großes klimapolitisches Engagement“<br />
hinterher. Für „Lass uns Freunde bleiben!“ hat es dann<br />
leider nicht mehr ganz gereicht.<br />
Alexander Marguier<br />
ist stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />
Illustration: Christoph Abbrederis; Foto: Antje Berghäuser<br />
132 <strong>Cicero</strong> 7.2012
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