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Cicero "Lieber Diktator als schwul" (Vorschau)

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Juli 2012<br />

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Slavoj Žižek<br />

über die Knechtschaft im<br />

autoritären Kapitalismus<br />

Amelie Fried<br />

über die seltsame<br />

Fußballbegeisterung von Frauen<br />

Bill Emmott<br />

über die Tragödie des Euro<br />

Außerdem:<br />

Ein Insiderbericht<br />

aus dem Vatikan<br />

„<strong>Lieber</strong><br />

<strong>Diktator</strong><br />

<strong>als</strong> schwul“<br />

Das neue Selbstbewusstsein<br />

der Despoten gegenüber der Demokratie<br />

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Weltweit, egal welcher Zeitung, hat<br />

Die erste Seite<br />

Hoppe immer dieselbe Geschichte<br />

erzählt: wie sie <strong>als</strong> Ratte mit Schnurrbart und<br />

Schwanz versehen, Wurst in der Linken, Brot in<br />

der Rechten, den Marktplatz ihrer Heimatstadt<br />

Hameln betritt, um sich im Freilichttheater unter<br />

der Führung des Rattenfängers vor Touristen aus<br />

aller Welt ein Taschengeld zu verdienen. Wie sie<br />

das eben Verdiente sofort auf den Kopf haut,<br />

Blumen für ihre Mutter (»die Gastgeberkönigin«)<br />

und ein Päckchen Zigaretten für ihren Vater<br />

(»den Erbauer des ersten Kaspertheaters«) kauft,<br />

um danach mit dem verbliebenen Rest ihre vier<br />

Geschwister zu einem Ausflug ins Miramare zu<br />

überreden, eine Hamelner Eisdiele, »die sommers<br />

floriert und sich winters, wenn sich die Italiener<br />

saisonbedingt nach Süden verziehen, in einen<br />

Ausstellungsraum für Pelze verwandelt«. Bis<br />

Hoppe sich dreißig Jahre später »endlich erhebt«,<br />

um ein Schiff von Hamburg nach Hamburg zu<br />

besteigen und die Welt mit eigenen Augen zu<br />

sehen: »Ein Ausflug, nichts weiter, in ein paar<br />

Tagen bin ich zurück, sitze wieder am Tisch, der<br />

zweite Esser von rechts.« (Pigafetta,1999)<br />

Sowenig beglaubigt ist, dass Hoppe jene vielzitierte<br />

Reise um die Welt auf einem Containerfrachtschiff<br />

tatsächlich persönlich unternahm,<br />

ist bekannt, dass sie bereits <strong>als</strong> Kind mehrfach<br />

die Weltmeere befuhr. Allerdings nicht <strong>als</strong> zweiter<br />

Esser von rechts, sondern <strong>als</strong> einzige Tochter<br />

eines Patentagenten, der das deutsche Kaspertheater<br />

vermutlich niem<strong>als</strong> von innen sah.<br />

Die Hamelner Kindheit ist<br />

reine Erfindung.<br />

Georg-Büchner-Preis 2012<br />

für Felicitas Hoppe<br />

Lesen Sie weiter…<br />

336 Seiten, gebunden, € (D) 19,99<br />

Ein Buch von S. FISCHER


„<strong>Lieber</strong><br />

<strong>Diktator</strong><br />

<strong>als</strong> schwul“<br />

Das neue Selbstbewusstsein<br />

der Despoten gegenüber der Demokratie


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A t t i c u s | C i c e r o<br />

Von: <strong>Cicero</strong><br />

An: Atticus<br />

Datum: 28. Juni 2012<br />

Thema: <strong>Diktator</strong>en, Amelie Fried, SPD-Troika, Dieter Hallervorden<br />

Gibt es einen „Kreislauf<br />

der Verfassungen“?<br />

Titelbild: WieslaW Smetek; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

M<br />

ehr <strong>als</strong> eine Million Menschen haben sich in den vergangenen Wochen in deutschen<br />

Kinos über Sacha Baron Cohens „<strong>Diktator</strong>“ amüsiert. Jetzt ist die Frage: Wer lacht zuletzt?<br />

Und wer lacht hier zu Recht über wen? Im Kino bringt es Cohens Kunstfigur nicht<br />

fertig, sich in einem Fernsehspot zu Frauenrechten und der Toleranz gleichgeschlechtlicher Liebe<br />

zu bekennen. In der Realität schleudert Alexander Lukaschenko dem deutschen Außenminister<br />

entgegen: „<strong>Lieber</strong> <strong>Diktator</strong> <strong>als</strong> schwul!“ Ein ungeheurer Satz. Denn erstens bestätigt der<br />

weißrussische Staatspräsident damit, ein <strong>Diktator</strong> zu sein. Zweitens diffamiert der Spruch nicht nur<br />

Guido Westerwelle. Er diffamiert unsere Staatsform. Demokratie ist schwul. Das heißt dieser Satz.<br />

Waren wir zu arglos? Spielen Fußball bei <strong>Diktator</strong>en, treffen sie beim Staatsbesuch? Die Diktatur<br />

ist auf dem Vormarsch und gesellschaftsfähig geworden, warnt der amerikanische Buchautor William<br />

J. Dobson. Seinen Weckruf an die Demokraten finden Sie ab Seite 16.<br />

Auch in der demokratischen Welt zeigen sich Erosionserscheinungen, und der Arabische<br />

Frühling wird kein Triumph der Demokratie. Möglicherweise muss man sich von der Vorstellung<br />

lösen, dass alle gesellschaftliche Entwicklung automatisch hinstrebt zur höchsten und edelsten<br />

Staatsform. Der griechische Philosoph Polybios hat in seinen „Historien“ am Beispiel Roms gezeigt,<br />

dass wir es mit einem „Kreislauf der Verfassungen“ zu tun haben – dass <strong>als</strong>o nach der Demokratie<br />

und anschließender Pöbelherrschaft die Tyrannis zurückkehren kann. Hat die Demokratie ihren<br />

Zenit überschritten? Jedenfalls hat sie gefährliche Konkurrenz bekommen. Polybios’ slowenischer<br />

Nachfahre Slavoj ŽiŽek beschreibt die Anatomie des Hybrids aus Totalitarismus und Kapitalismus<br />

(ab Seite 24).<br />

Die Texte von Dobson und Žižek bilden dieses Mal den Titelkomplex, mit dem <strong>Cicero</strong> von<br />

nun an immer das Heft eröffnen wird. Neu ist darüber hinaus die Kolumne der Buchautorin und<br />

Fernsehmoderatorin Amelie Fried. Zum Auftakt rätselt sie über die angebliche Fußballbegeisterung<br />

bei Frauen (Seite 35).<br />

Es gäbe noch einiges zu sagen: Wie es Hartmut Palmer gelungen ist, die Herren Steinmeier,<br />

Steinbrück und Gabriel zum Reden über ihre SPD-Troika zu bringen (ab Seite 36). Wie es<br />

Constantin Magnis geschafft hat, den abgetauchten Ex-Sprecher von Christian Wulff ausfindig<br />

zu machen (ab Seite 32). Wie in Dieter Hallervordens Schlosspark-Theater das Westberlin der<br />

achtziger Jahre konserviert wird (ab Seite 106). Wie Beat Wyss von nun an regelmäßig mit Legenden<br />

der Kunstgeschichte aufräumt (ab Seite 104).<br />

Aber empfehlen kann jeder. Lesen und urteilen Sie doch selbst.<br />

Mit besten Grüßen<br />

In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />

der römische Politiker und Jurist<br />

Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />

Freund Titus Pomponius Atticus<br />

sein Herz ausgeschüttet<br />

Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 3


C i c e r o | I n h a l t<br />

Titelthema<br />

16<br />

Comeback der Autokraten<br />

Despoten und <strong>Diktator</strong>en gewinnen weltweit Oberwasser<br />

von William J. Dobson<br />

24<br />

Die Diktatur der Clowns<br />

Das Virus des autoritären Kapitalismus breitet sich aus<br />

von Slavoj ŽiŽek<br />

28<br />

„Insel der Glückseligen“<br />

Auch gefestigte Demokratien sind fragil<br />

Ein Gespräch mit Bundesminister Dirk Niebel<br />

Illustration: Wieslaw Smetek<br />

4 <strong>Cicero</strong> 7.2012


I n h a l t | C i c e r o<br />

Die SPD-Troika redet Klartext,<br />

wenngleich man etwas nachhelfen muss<br />

36 62<br />

78<br />

Ihr Rohstoffreichtum stellt die<br />

Mongolei vor neue Herausforderungen<br />

Mattscheiben mailen, Handys zeigen<br />

Tatort – über das Ende des Fernsehens<br />

BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE kapital<br />

30 | Der Empörungsautomat<br />

Bernd Riexinger, der unbekannte Parteisoldat,<br />

soll <strong>als</strong> General die Linke führen<br />

Von Reinhard Mohr<br />

52 | Playboy und Erlöser<br />

Der Ex-Kricketstar Imran Khan will<br />

neuer Regierungschef in Pakistan werden<br />

Von Willi Germund<br />

74 | Marks Mom<br />

Facebook-Vize Sheryl Sandberg lächelt<br />

das Börsendesaster einfach weg<br />

Von Anna von Münchhausen<br />

32 | Phantom am See<br />

Wulffs Ex-Sprecher Olaf Glaeseker will<br />

unsichtbar bleiben – eine Spurensuche<br />

Von Constantin Magnis<br />

54 | Vive la Différence<br />

Frankreich hat nach 25 Jahren<br />

wieder eine Frauenministerin<br />

Von Sascha Lehnartz<br />

76 | Für den guten Ton<br />

Aus Ostwestfalen kommt eines der<br />

wichtigsten Accessoires der Medienwelt<br />

Von Christoph Hus<br />

35 | Frau Fried fragt sich …<br />

Sind Frauen echte Fußballfans,<br />

oder tun sie nur so?<br />

Von amelie fried<br />

56 | Athens Che Guevara<br />

Alexis Tsipras und sein Linksbündnis<br />

fordern Europa heraus<br />

Von Richard Fraunberger<br />

78 | Programmstörung Internet<br />

Wenn die Fernseher online gehen, wird<br />

jeder sein eigener Programmchef<br />

Von Max Thomas Mehr<br />

Fotos: Stephanie Pilick/DPA/Picture Alliance, Mareike Günsche; Illustrationen: Daniel Haskett, Christoph Abbrederis<br />

36 | Peers Troika – Franks Trio<br />

Steinbrück, Steinmeier und Gabriel<br />

haben die Kandidatenfrage geklärt<br />

Ein Gespräch mit dem SPD-Dreigestirn<br />

40 | Ein Sommer ohne Sonne<br />

Die Union muss ihr konservatives Profil<br />

schärfen, um Wähler zurückzugewinnen<br />

Von Wilfried Scharnagl<br />

42 | Freiheit, Ehre, Vaterland!<br />

Eine Fotoreportage über<br />

deutsche Burschenschaften<br />

Von lene münch und Sarah Maria Deckert<br />

50 | Renaissance von<br />

Recht und Ordnung<br />

Die SPD wäre gut beraten, sich wieder<br />

<strong>als</strong> bürgerliche Partei zu verstehen<br />

Von Frank A. Meyer<br />

60 | Scheine und Heilige<br />

Der Skandal im Vatikan<br />

offenbart tiefe Abgründe<br />

Von DAvid Berger<br />

62 | Reich, Reicher, Mongolei<br />

Unermessliche Bodenschätze wecken<br />

Begierden in Russland und China<br />

Von Christiane Kühl<br />

70 | Die Partei hat immer recht<br />

Wie funktioniert das<br />

politische System Chinas?<br />

Von Oliver Radtke<br />

72 | Mehr Europa braucht das Land<br />

Was folgt aus dem jüngsten Wahlerfolg<br />

von François Hollande?<br />

Von Alfred Grosser<br />

82 | „Ich muss alles kennen“<br />

Der Ufa-Chef erklärt, warum das<br />

deutsche Fernsehen doch gut ist<br />

Ein Gespräch mit Wolf Bauer<br />

86 | „Wie bei Honecker“<br />

Die Gesichter hinter der Pleite der<br />

Drogeriekette Schlecker<br />

Von oliver Mark und Karoline Kuhla<br />

90 | „Es ist wie nach Versailles“<br />

Der Ex-Chefredakteur des Economist<br />

über die Überlebenschancen des Euro<br />

Ein Gespräch mit Bill Emmott<br />

92 | Kartell ohne Absprache<br />

Ein Insider erklärt das Preissystem der<br />

Mineralölkonzerne<br />

Von Hauke Friederichs<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 5


C i c e r o | I n h a l t<br />

cicero online<br />

106<br />

Dieter Hallervorden<br />

hat sich einen<br />

Theatertraum erfüllt<br />

Aktuell:<br />

Frage des Tages<br />

Wie steht es um den Euro?<br />

Wie stehen die Piraten<br />

zum Urheberrecht? Hat<br />

die Linkspartei noch<br />

eine Zukunft? Jeden<br />

Morgen beantworten wir<br />

Ihnen Fragen zu einem<br />

aktuellen Thema.<br />

www.cicero.de/<br />

Themen-der-zeit<br />

Salon<br />

96 | Brandenburgs Spitze<br />

Mandy Fredrich ist die Königin dieses<br />

Festspielsommers<br />

Von Eva gesine Baur<br />

98 | Gefühlsimplosionen<br />

Die zarten Zeitreisen der koreanischen<br />

Künstlerin Haegue Yang<br />

Von Birgit Sonna<br />

100 | Mit dem leben davongekommen<br />

Warum Sibylle Berg heute anders<br />

über Menschen denkt<br />

Von Daniel Schreiber<br />

104 | Man sieht nur, was man sucht<br />

Die Kapitolinische Wölfin war nicht<br />

dabei, <strong>als</strong> Rom gegründet wurde<br />

Von Beat Wyss<br />

106 | Nonstop Konsens<br />

Das ist doch nicht spießig! Dieter<br />

Hallervorden spielt Theater<br />

Von Peter Laudenbach<br />

112 | benotet<br />

Unser Musikkolumnist geht seiner<br />

Familiengeschichte auf den Grund<br />

Von Daniel Hope<br />

114 | Design und Demokratie<br />

Auch in Hotels lässt sich Geschmack<br />

nicht mit Geld kaufen<br />

Von Alexander Schimmelbusch<br />

122 | Bibliotheksporträt<br />

Zu Besuch bei Nikolaus Bachler, dem<br />

Intendanten der Bayerischen Staatsoper<br />

Von Eve gesine baur<br />

126 | Das Schwarze sind<br />

die Buchstaben<br />

Immer dieses arme Ego: über das<br />

Dilemma des Großkünstlers<br />

Von Robin Detje<br />

128 | Küchenkabinett<br />

Wer den Euro retten will, muss<br />

gemeinsam kochen lernen<br />

Von Julius Grützke und Thomas Platt<br />

130 | Die letzten 24 Stunden<br />

Warum ein Modedesigner nicht<br />

ohne Musik sterben möchte<br />

Von Michael Mich<strong>als</strong>ky<br />

Standards<br />

Atticus —<br />

Von Christoph Schwennicke — seite 3<br />

Forum — seite 8<br />

Impressum — seite 9<br />

Stadtgespräche — seite 12<br />

Postscriptum —<br />

Von Alexander Marguier — seite 132<br />

Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />

erscheint am 26. Juli 2012<br />

Debatte:<br />

Quo vadis Europa?<br />

Wie steht es um die Zukunft<br />

der Europäischen Union?<br />

Zerfällt der Euro? Ist die<br />

EU mit dem Fiskalpakt<br />

und dem ESM auf dem<br />

Weg zu einer politischen<br />

Union? Brauchen wir mehr<br />

oder weniger Europa?<br />

www.cicero.de/Dossier<br />

Meinungsstark:<br />

Unhipster<br />

Internetexperte Christian<br />

Jakubetz bloggt über die<br />

digitale Revolution und wie<br />

sie unseren Alltag verändert.<br />

www.cicero.de/blogs<br />

Interaktiv:<br />

Die cicero-online-umfrage<br />

Wir stellen Ihnen Fragen,<br />

und Sie geben uns<br />

punktgenaue Antworten.<br />

www.cicero.de<br />

Fotos: Julia Zimmermann, Your Photo Today; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

6 <strong>Cicero</strong> 7.2012


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C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />

Forum<br />

Über Merkels Stehvermögen, Rürups Touren und Turners Sprüche<br />

zum Titelthema „Die Glucke<br />

der Nation“ von Christoph<br />

Schwennicke und dem Interview<br />

mit Sigmar Gabriel und Jürgen<br />

Trittin/<strong>Cicero</strong> Juni 2012<br />

DUFTnoten<br />

<strong>Lieber</strong> Christoph Schwennicke, zunächst einmal und vor allem: Viel Glück mit<br />

<strong>Cicero</strong>. Bin gespannt, welche „Duftnoten“ Sie setzen werden. Habe deshalb auch<br />

mit großem Interesse im Blatt geblättert und mit Gewinn Ihre Titelgeschichte<br />

gelesen. Aber spontan musste ich meinen Laptop aufklappen. Denn: Die, wie Sie<br />

schreiben, „Rumpelstilziade“ von Schröder bei der legendären Elefantenrunde war<br />

natürlich nicht im Jahr 2002 nach der Wahl zu bewundern, sondern in 2005 nach<br />

der vorgezogenen Bundestagswahl. Sei’s drum. Ihre Glucken-Story war gut und<br />

erhellend. Herzliche Grüße<br />

Lothar Lewien, Berlin<br />

Ihrer Meinung nach erbracht? Welche<br />

intellektuellen und Intelligenzleistungen<br />

lässt sie erkennen? Welche positiven und<br />

produktiven Prozesse hat sie im Land<br />

ins Rollen gebracht? Vielleicht finden<br />

Sie ja auch etwas Gutes daran, dass Frau<br />

Merkel einst dafür gesorgt hat, dass in<br />

die „absolut sichere“ Asse-II Atommüll<br />

eingebracht wurde … Ihr Artikel war<br />

Hofberichterstattung, mehr nicht.<br />

Michael Kostian, Hildesheim<br />

Gestanzte Antworten<br />

Tatsächlich, der <strong>Cicero</strong> ist munterer<br />

geworden, auch wenn es Interviewpartner<br />

gibt, die sehr gestanzt antworten.<br />

Ich weiß schon bei der Frage, was Jürgen<br />

Trittin antworten wird. Machen Sie<br />

so weiter, kann nur hilfreich sein, den<br />

Lesern Hintergründe auszuleuchten und<br />

sie zum Denken anzuregen.<br />

Michael Müller, Staatssekretär a. D. Berlin<br />

Toller Artikel<br />

Was für ein toller Artikel. An manchen<br />

Stellen musste ich wirklich schmunzeln.<br />

Frau Merkel ist für mich eine geniale<br />

Frau und Politikerin. Und ich hoffe<br />

wirklich, dass „wir sie noch lange haben<br />

werden“.<br />

Petra Stülzebach, Erfurt<br />

VERRÄTERISCHES STAUNEN<br />

Ich lese <strong>Cicero</strong> wirklich gern und finde<br />

die Themen, die Sie aufgreifen, immer<br />

wieder spannend und ihre Aufbereitung<br />

sehr gelungen. Bei der Lektüre<br />

Ihres Titelstücks über Angela Merkel<br />

beschleicht mich allerdings der Verdacht,<br />

dass Ihre offenkundige Bewunderung<br />

für die Dame Ihr Urteilsvermögen<br />

getrübt hat. Sie haben ja recht: Sie<br />

macht ihre Sache besser, <strong>als</strong> man es ihr<br />

zugetraut hat, aber Ihr Erstaunen darüber<br />

ist auch verräterisch: Sie sind wahrscheinlich<br />

deshalb so angetan, weil Sie<br />

sich eigentlich nicht vorstellen konnten<br />

oder mochten, dass eine Frau sich in der<br />

von Männern dominierten Politik nicht<br />

nur durchsetzen, sondern an der Spitze<br />

halten könnte.<br />

Gisela Buchenau, Hamburg<br />

Hofberichterstattung<br />

Ihr Kniefall vor der politischen Person<br />

Merkel ist nahezu unerträglich und<br />

führt den Anspruch eines intellektuellen<br />

Blattes ad absurdum. Welche<br />

politischen Leistungen hat Frau Merkel<br />

Das Machtmädchen<br />

Der Ullstein-Verlag bittet um den<br />

Hinweis, dass das Libretto zur Oper<br />

Angela nach Motiven der Biografie „Das<br />

Mädchen und die Macht. Angela Merkels<br />

demokratischer Aufbruch“ von Evelyn Roll<br />

entstanden ist. Red.<br />

zum beitrag „Bert Rürups<br />

Krumme Touren“ von Ludwig<br />

Greven/<strong>Cicero</strong> Juni 2012<br />

Struktur zerschlagen<br />

Zu dem Artikel nehme ich <strong>als</strong> langjähriger<br />

ehemaliger Mitarbeiter des<br />

DIW, der die Präsidentschaft von Prof.<br />

Zimmermann im DIW <strong>als</strong> Betriebsratsmitglied<br />

erlebt und zuletzt erlitten<br />

illustration: cornelia von seidlein<br />

8 <strong>Cicero</strong> 7.2012


I m p r e s s u m<br />

hat, wie folgt Stellung: Im DIW gab es<br />

vor Zimmermann eine über das gesetzlich<br />

notwendige Maß hinausgehende<br />

Mitbestimmung. Prof. Zimmermann hat<br />

die dezentrale Struktur zerschlagen und<br />

durch ein hierarchisches System ersetzt …<br />

Unliebsame Mitarbeiter … wurden aus<br />

dem Hause gedrängt … Die Fachabteilungen<br />

wurden so finanziell und<br />

personell ausgetrocknet … Praktikanten<br />

und Graduierte sollten die entstandenen<br />

Lücken ausfüllen. Unter solchen<br />

Bedingungen musste das DIW in der<br />

klassischen Auftragsforschung an Wettbewerbsfähigkeit<br />

verlieren … Aber erst <strong>als</strong><br />

der Landesrechnungshof Vorwürfe gegen<br />

das Finanzgebaren des DIW beziehungsweise<br />

dessen ungenügende Kontrolle<br />

erhob, schritten Bund und Land ein und<br />

machten Herrn Rürup zum Vorsitzenden<br />

des Kuratoriums. Nachdem dieses Gremium<br />

jahrelang seinen Aufsichtspflichten<br />

nicht voll nachgekommen war, sollte man<br />

jetzt nicht kritisieren, dass Herr Rürup<br />

seine Verantwortung wahrnimmt (was<br />

nicht bedeutet, dass er unzulässige Kosten<br />

abrechnen darf) und versucht, das<br />

DIW wieder auf die für ein führendes<br />

Wirtschaftsforschungsinstitut notwendigen<br />

Kernkompetenzen auszurichten.<br />

Manfred Horn, Tressenheide<br />

verleger Michael Ringier<br />

chefredakteur Christoph Schwennicke (V.i.S.d.P.)<br />

Stellvertreter des chefredakteurs<br />

Alexander Marguier<br />

Redaktion<br />

Ressortleiter Judith Hart (Weltbühne), Til Knipper<br />

(Kapital), Daniel Schreiber (Salon), Constantin Magnis<br />

(Reportagen), Christoph Seils (<strong>Cicero</strong> Online)<br />

politischer Chefkorrespondent Hartmut Palmer<br />

Assistenz der Chefredaktion Ulrike Gutewort<br />

Publizistischer Beirat Dr. Michael Naumann (Vorsitz),<br />

Heiko Gebhardt, Klaus Harpprecht, Frank A. Meyer,<br />

Jacques Pilet, Prof. Dr. Christoph Stölzl<br />

Art director Kerstin Schröer<br />

Bildredaktion Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />

Produktion Utz Zimmermann<br />

Verlag<br />

verlagsgeschäftsführung<br />

Rudolf Spindler<br />

Leitung Vertrieb u. unternehmensentwicklung<br />

Thorsten Thierhoff<br />

Redaktionsmarketing Janne Schumacher<br />

Abomarketing Mark Siegmann<br />

kommunikation André Fertich<br />

Tel.: +49 (0)30 820 82-517, Fax: -511<br />

E-Mail: presse@cicero.de<br />

grafik Franziska Daxer, Dominik Herrmann<br />

zentrale dienste Erwin Böck, Stefanie Orlamünder,<br />

Ingmar Sacher<br />

herstellung Lutz Fricke<br />

druck/litho Neef+Stumme, Wittingen<br />

nationalvertrieb DPV Network GmbH, Hamburg<br />

leserservice DPV direct GmbH, Hamburg<br />

Hotline: +49 (0)1805 77 25 77*<br />

Anzeigenleitung (verantwortlich)<br />

Jens Kauerauf, Gruner+Jahr AG & Co KG<br />

Am Baumwall 11, 20459 Hamburg<br />

Tel.: +49 (0)40 3703-3317, Fax: -173317<br />

E-Mail: kauerauf.jens@guj.de<br />

verkaufsbüro gruner+jahr ag & co KG<br />

Verkaufsbüro Nord – Berlin: Kurfürstendamm 182<br />

10707 Berlin, Tel.: +49 (0)30 25 48 06-50, Fax: -51<br />

Verkaufsbüro Nord – Hamburg: Stubbenhuk 10<br />

20459 Hamburg, Tel.: +49 (0)40 3703-2201, Fax: -5690<br />

Verkaufsbüro Nord – Hannover: Am Pferdemarkt 9<br />

30853 Langenhagen, Tel.: +49 (0)511 76334-0, Fax: -71<br />

Verkaufsbüro West: Heinrichstraße 24<br />

40239 Düsseldorf, Tel.: +49 (0)211 61875-0<br />

Fax: +49 (0)211 61 33 95<br />

Verkaufsbüro Mitte: Insterburger Straße 16<br />

60487 Frankfurt, Tel.: +49 (0)69 79 30 07-0<br />

Fax: +49 (0)69 77 24 60<br />

Verkaufsbüro Süd-West: Leuschnerstraße 1<br />

70174 Stuttgart, Tel.: +49 (0)711 228 46-0, Fax: -33<br />

Verkaufsbüro Süd: Weihenstephaner Straße 7<br />

81673 München, Tel.: +49 (0)89 4152-252, Fax: -251<br />

anzeigenverkauf buchverlage<br />

Thomas Laschinski, Tel.: +49 (0)30 609 859-30, Fax: -33<br />

E-Mail: advertisebooks@laschinski.com<br />

anzeigenverkauf online<br />

Kerstin Börner, Tel.: +49 (0)30 981 941-121, Fax: -199<br />

E-Mail: anzeigen@cicero.de<br />

verkaufte auflage 83 270 (1. Quartal 2012)<br />

LAE 2011 88 000 Entscheider<br />

reichweite 450 000 Leser<br />

gründungsherausgeber Dr. Wolfram Weimer<br />

<strong>Cicero</strong> erscheint in der<br />

ringier Publishing gmbh<br />

Friedrichstraße 140, 10117 Berlin<br />

E-Mail: info@cicero.de, www.cicero.de<br />

redaktion Tel.: +49 (0)30 981 941-200, Fax: -299<br />

verlag Tel.: +49 (0)30 981 941-100, Fax: -199<br />

eine publikation der ringier gruppe<br />

illustration: Dominik Herrmann<br />

zum beitrag „Auf der Gauck-<br />

Welle“ über Sebastian Turner<br />

von Hartmut Palmer/<strong>Cicero</strong><br />

Juni 2012<br />

kluger holzkopf<br />

Der Claim „Wir können alles außer<br />

Hochdeutsch“ ist eindeutig von Turner –<br />

sehr prägnant und kreativ. Aber ich<br />

habe schon Mitte der siebziger Jahre<br />

den abgewandelten Slogan „Dahinter<br />

steckt immer ein Holzkopf“ mittels<br />

einer Unterzeile in einer Schülerzeitung<br />

verhohnepipelt. Tatsächlich stammt<br />

der Slogan aus dem Jahr 1957, <strong>als</strong>o<br />

neun Jahre, bevor Turner das Licht der<br />

Werbewelt erblickt hat. Ich würde mich<br />

sehr freuen, wenn Sie diesen Sachverhalt<br />

nachtragen.<br />

Heiner Wehn, Leonberg<br />

<strong>Cicero</strong> hat nicht behauptet, dass Turner den<br />

Slogan erfunden, sondern nur geschrieben,<br />

dass er damit viel Geld verdient hat. Red.<br />

(Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen)<br />

Service<br />

Liebe Leserin, lieber leser,<br />

haben Sie Fragen zum Abo oder Anregungen und Kritik zu einer<br />

<strong>Cicero</strong>-Ausgabe? Ihr <strong>Cicero</strong>-Leserservice hilft Ihnen gerne weiter.<br />

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Anregungen und Leserbriefe:<br />

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Führen von <strong>Cicero</strong> in Lesezirkeln ist nur mit Genehmigung des Verlags statthaft.<br />

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seinem Großhändler nachzubestellen. <strong>Cicero</strong> ist<br />

dann in der Regel am Folgetag erhältlich.<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 9


Gebaut für Männer, die sich auch von den<br />

Gesetzen der Physik nicht aufhalten lassen.<br />

Grosse Fliegeruhr Ewiger Kalender TOP GUN<br />

Ref. IW502902, in Keramik mit schwarzem Softarmband<br />

Menschen können nicht fliegen. So<br />

will es die Natur. Lange schauten<br />

sie sehnsüchtig zu den Adlern hinauf,<br />

die sich mühelos in den Himmel<br />

schwangen. Dann bauten sie Flugapparate<br />

und setzten sich über physikalische Grenzen<br />

hinweg. Doch es genügte ihnen nicht,<br />

mit Adlern auf Augenhöhe zu sein. Findige<br />

Konstrukteure entwickelten immer kompliziertere<br />

Flugzeuge, die immer höher und<br />

schneller und wendiger durch die Luft<br />

schossen. An der United States Navy<br />

Fighter Weapons School, besser bekannt<br />

unter dem Namen TOP GUN, vertraut man<br />

Elite-Piloten die hochentwickeltsten Düsenjets<br />

der Welt an – komplexe Meisterwerke<br />

menschlicher Ingenieurskunst.<br />

Wie ein Maximum an Hightech in ein 48mm<br />

Gehäuse passt, beweist die Uhrenmanufaktur<br />

IWC Schaffhausen mit der neuen<br />

Grossen Fliegeruhr Ewiger Kalender<br />

TOP GUN. Das Meisterwerk der Haute<br />

Horlogerie hat alles an Bord, was den<br />

Adrenalinspiegel von Uhrenliebhabern in<br />

die Höhe treibt. Beispielsweise das IWC<br />

Kaliber 51614 mit dem effektiven Pellaton-<br />

Aufzug, der eine Gangdauer von sieben<br />

Tagen aufbaut. Das kraftvolle Werk treibt<br />

eine Vielzahl von uhrmacherischen Komplikationen<br />

an. Der ewige Kalender mit vierstelliger<br />

Jahresanzeige nebst Datums-,<br />

Tages- und Monatsanzeige berücksichtigt<br />

alle Schaltjahre des gregorianischen<br />

Kalenders bis in das Jahr 2100. Die Mondphasenanzeige<br />

bildet den Stand des Erdtrabanten<br />

für die nördliche und südliche<br />

Hemisphäre ab. Sämtliche Anzeigen sind<br />

einfach über die Krone zu bedienen und<br />

werden automatisch weitergeschaltet. Die<br />

Grosse Fliegeruhr Ewiger Kalender TOP<br />

GUN verbindet den klassischen Instrumentenlook<br />

mit dem sportlichen Design der<br />

TOP GUN Linie. Das Keramikgehäuse und<br />

die Krone aus Titan verweisen auf die innovative<br />

Technologie von IWC Schaffhausen,<br />

die diese Materialien für ihre Produkte entdeckte.<br />

Dieser Zeitmesser ist eine der aufwendigsten<br />

Fliegeruhren, die je zwischen<br />

Himmel und Erde gebaut wurden. Trotz<br />

ihres komplizierten Innenlebens ist sie absolut<br />

flugtauglich und darf selbst von TOP<br />

GUN Piloten getragen werden. Jetzt schauen<br />

selbst die Adler sehnsüchtig zu den<br />

Jets hinauf. IWC. Engineered for men.<br />

IWC Schaffhausen Boutiquen: Beverly Hills | Dubai | Genf | Hongkong | Shanghai | Wien | Zürich www.iwc.com<br />

IWC Schaffhausen. Deutschland: +49 89 55 984 210. Österreich: +43 1 532 05 80 51. Schweiz: +41 52 635 63 63.


B e r l i n e r R e p u b l i k | S t a d t g e s p r ä c h<br />

Neue Techniken schaffen neue Berufe. Ein Diplomat schwadroniert über<br />

U-Boote und Unterwäsche. Ein Chefredakteur will einen Chefbanker einstellen.<br />

Linke knausern, in Mitte gibt es Dauerstau, und „Homer“ regiert bald Europa<br />

Beruf mit Zukunft:<br />

Twitter-Assistent<br />

W<br />

ir sollten grundsätzlich viel<br />

weniger griesgrämig durch die<br />

Welt gehen, die Dinge aus einem<br />

anderen Blickwinkel sehen, positiv. Da saß<br />

zum Beispiel kürzlich in Hamburg bei der<br />

Jahrestagung des Netzwerks Recherche dieser<br />

Pirat mit dem schwarzen Cowboyhut<br />

auf dem Podium – neben einem ziemlich<br />

verzweifelt in sich versunkenen Mitdiskutanten<br />

Ulrich Wickert. Wieso, könnte man<br />

mäkeln, trägt ein Pirat einen Cowboyhut,<br />

und – mal unabhängig von dem Mann mit<br />

Hut – wieso muss Uli Wickert eigentlich<br />

auf einem Podium jeden Spinner ernst nehmen,<br />

wenn er Pirat ist?<br />

Sehen wir die Chancen. Sehen wir die<br />

neuen Beschäftigungsfelder, die sich auftun.<br />

Der Cowboypirat Bruno Kramm war nämlich<br />

mit einem „Twitter-Assistenten“ bei<br />

der Veranstaltung auf dem NDR-Gelände<br />

erschienen – jawohl: mit einem „Twitter-<br />

Assistenten“. Und <strong>als</strong> Bruno seinem Assistenten<br />

und einigen Umstehenden gestand,<br />

dass er nervös sei, weil er gleich mit Uli<br />

Wickert zu diskutieren habe, da nahm der<br />

Assistent seinen Apparat zur Hand und<br />

twitterte wahrheitsgemäß: „Bruno ist ganz<br />

aufgeregt. Da kommt Uli Wickert.“<br />

Bleibt nur noch die Frage: Warum twittert<br />

ein Twitter-Assistent in der dritten und<br />

nicht in der ersten Person? Oder haben wir<br />

da was f<strong>als</strong>ch mitbekommen? Ansonsten<br />

aber sollten wir alle nach diesem Erlebnis<br />

nicht mehr so mitleidsvoll an die vielen<br />

brotlosen Künstler denken, die nach der<br />

Machtübernahme der Piraten ihres geistigen<br />

Eigentums beraubt sind. Sie können<br />

doch in neue Branchen wechseln. Twitter-Assistent<br />

werden, zum Beispiel. swn<br />

Diplomat im fettnapf:<br />

U-Boote und U-Wäsche<br />

E<br />

igentlich war es ein netter<br />

Abend in einem Berliner Restaurant.<br />

Vor einem kleinen, ausgewählten<br />

Kreis amerikanischer und deutscher<br />

Juden, zu dem sich auch einige<br />

Vertreter der politischen Klasse aus Berlin<br />

gesellt hatten, allerdings kein Kabinettsmitglied,<br />

hielt der Ehrengast, Seine Exzellenz<br />

Yakov Hadas-Handelsman, Botschafter<br />

des Staates Israel, eine kleine<br />

Ansprache – auf Englisch. Der 54-jährige<br />

Diplomat, der erst am 9. März im Schloss<br />

Bellevue beim dam<strong>als</strong> noch amtierenden<br />

Bundespräsidenten Horst Seehofer sein<br />

Beglaubigungsschreiben abgeliefert hatte,<br />

sprach über die deutsch-israelischen Beziehungen<br />

– es war eine Rede, in der sehr<br />

oft das Schlüsselwort „Holocaust“ vorkam,<br />

auch „U‐Boote“ und „Grass“ und<br />

zum Schluss der Name „Schiesser“. Das<br />

für seine Feinripp-Unterwäsche bekannte<br />

und berüchtigte Unternehmen aus Radolfzell<br />

am Bodensee war gerade von dem<br />

Konkurrenten Delta Galil aus Tel Aviv gekauft<br />

worden, worüber sich der Botschafter<br />

sichtlich freute. „Schiesser“, sagte der<br />

Diplomat in offenkundiger Verkennung<br />

des tatsächlichen Sortiments, sei so etwas<br />

Ähnliches wie das amerikanische Reiz- und<br />

Unterwäsche-Label „Victoria’s Secret“ – ein<br />

Vergleich, der bei den anwesenden Damen<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

12 <strong>Cicero</strong> 7.2012


B e r l i n e r R e p u b l i k | S t a d t g e s p r ä c h<br />

das erste befremdete Augenrollen hervorrief.<br />

Der „Schiesser-Deal“ fuhr er fort, sei<br />

ein schönes Beispiel dafür, dass Deutschland<br />

nach den Schrecken der Schoah für<br />

israelische Geschäftsleute doch wieder ein<br />

interessanter Markt geworden sei. Und<br />

dann schloss er seinen Vortrag mit dem Zitat<br />

eines israelischen Journalisten: „Schiesser<br />

means, we’ve got the Germans by the<br />

balls.“ Es sollte ein Scherz sein, aber niemand<br />

konnte richtig drüber lachen. Die<br />

Damen blickten zur Decke, die Herren ins<br />

Glas. Trotzdem war es eigentlich (bis dahin)<br />

ein netter Abend. hp<br />

Vom Gipfel zum Wipfel:<br />

Spitzenjob für Banker<br />

S<br />

eit Anfang Juni ist Jürgen Fitschen<br />

zusammen mit Anshu<br />

Jain Vorstandsvorsitzender der<br />

Deutschen Bank. Für einen hierzulande<br />

tätigen Banker ist dieser Posten das ultimative<br />

Ziel schlechthin, der Olymp, ein<br />

Karriere-Mount-Everest sozusagen. Sollte<br />

man meinen, es sei denn, man heißt Gabor<br />

Steingart und beobachtet die Welt<br />

von Düsseldorf aus <strong>als</strong> Chefredakteur des<br />

Handelsblatts, <strong>als</strong>o sozusagen von der Karriere-Zugspitze<br />

für Wirtschaftsjournalisten.<br />

Fitschen hielt kürzlich eine Rede bei<br />

einer Konferenz in Berlin und schilderte<br />

sehr plastisch seine jüngsten Eindrücke einer<br />

Dienstreise nach Athen. Er erzählte<br />

von immer noch sehr erfolgreichen, alten<br />

Reedern, jungen, an englischen und amerikanischen<br />

Universitäten ausgebildeten<br />

Griechen und einer irritierenden Distanz<br />

beider Gruppen zu ihrem Heimatland.<br />

Steingart, Moderator der anschließenden<br />

Diskussionsrunde, war so beeindruckt von<br />

Fitschens Schilderungen, dass er ihm spontan<br />

coram publico einen Job <strong>als</strong> Reporter<br />

beim Handelsblatt anbot. Also für den<br />

Fall, dass die Doppelspitze mit Jain nicht<br />

funktioniert, und hierarchisch unter ihm,<br />

Steingart, versteht sich. til<br />

Spendable Konservative,<br />

Knauserige Linke<br />

O<br />

b ein bundestagsabgeordneter<br />

zu den Konservativen gehört<br />

oder zu den Linken, das können<br />

Berliner Taxifahrer schon am Trinkgeld<br />

ablesen: Christdemokraten und Liberale<br />

geben großzügig, Sozialdemokraten und<br />

Grüne zurückhaltend, aber am knauserigsten<br />

sind – die Linken. Das jedenfalls hat<br />

sich unter den Chauffeuren herumgesprochen,<br />

die regelmäßig Volksvertreter durch<br />

Berlin fahren. Sie rechnen die Fahrten<br />

„auf Block“ ab – das heißt: Der Fahrgast<br />

unterschreibt, die Bundestagsverwaltung<br />

zahlt. Die Liaison zwischen Oskar Lafontaine<br />

und Sahra Wagenknecht soll übrigens<br />

durch die Indiskretion eines Chauffeurs<br />

publik geworden sein, der des Öfteren<br />

Sahra bei Oskar oder Oskar bei Sahra abholen<br />

musste. Wahrscheinlich hätte er bei<br />

etwas mehr Trinkgeld geschwiegen. hp<br />

Autos im Dauerstau –<br />

Dienstfahrräder knapp<br />

F<br />

ahrradfahren ist an sich eine<br />

wunderbare Sache. Radfahrer<br />

schonen die Umwelt, tun etwas<br />

für die eigene Gesundheit und kommen<br />

im Zentrum Berlins auf jeden Fall schneller<br />

ans Ziel <strong>als</strong> die Autofahrer. Denen nämlich<br />

hat die Bezirksverwaltung von Mitte<br />

in diesem Sommer endgültig den Krieg<br />

erklärt: Die wichtigste West-Ost-Magistrale<br />

vom Brandenburger Tor bis zur Siegessäule<br />

wurde zur Fanmeile umfunktioniert<br />

und somit für den normalen Verkehr komplett<br />

gesperrt. Gleichzeitig ist auch noch<br />

die wichtigste Nord-Süd-Verbindung, die<br />

Friedrichstraße, lahmgelegt. Der Grund:<br />

An der Ecke Unter den Linden entsteht<br />

ein neuer U-Bahnhof. Was die Grünen<br />

nicht schafften, ist der Großen Koalition<br />

im Bezirk Mitte gelungen: Wer es irgend<br />

kann, steigt vom Auto in U- und S-Bahn<br />

oder aufs Fahrrad um. Im Bundesministerium<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

und Entwicklung (BMZ), dessen Chef<br />

Dirk Niebel in jüngster Zeit wegen eines<br />

zollfrei eingeflogenen Teppichs Kontakt<br />

zur Staatsanwaltschaft Berlin aufnehmen<br />

musste, hat dies bereits zu Engpässen geführt.<br />

Die fünf Dienstfahrräder, die bis<br />

dahin meistens ungenutzt im Keller des<br />

Ministeriums standen, sind plötzlich ausgebucht.<br />

Wer eines haben will, muss sich<br />

jetzt Tage vorher anmelden. Da hilft nur<br />

eines: 20 neue Dienstfahrräder anschaffen.<br />

Ist garantiert billiger <strong>als</strong> ein neuer Dienstwagen,<br />

führt schneller ans Ziel und ist<br />

auch noch gesünder. hp<br />

Neues aus dem Élysée:<br />

Homer statt Merkozy<br />

I<br />

n einer der Talkshows, mit denen<br />

die Öffentlich-Rechtlichen<br />

kostbare Sendezeit füllen, Zuschauer<br />

nerven und Millionen sparen (die<br />

sie für Fußball und Unterhaltungsorgien<br />

brauchen), klärte uns Michel Friedman,<br />

der denkschnellste und mundfertigste der<br />

deutschen TV-Routiniers, darüber auf,<br />

dass „Merkozy“, das deutsch-französische<br />

Europaar, dank des Machtwechsels im Palais<br />

d’Élysée von den Regenten des Fantasie-Landes<br />

„Merlande“ abgelöst werde.<br />

F<strong>als</strong>ch. Im Zeichen der Griechen-Misere<br />

kamen die Protagonisten – in schöner Bescheidung,<br />

aber mit ihrer klassischen Bildung<br />

protzend – überein, künftig nur noch<br />

auf den gemeinsamen Namen „Homer“ zu<br />

hören. pp<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

14 <strong>Cicero</strong> 7.2012


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WENIGER SPRIT.<br />

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T i t e l<br />

16 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Comeback der<br />

Autokraten<br />

<strong>Diktator</strong>en treten nicht mehr unbedingt wie<br />

Gaddafi in bizarren Uniformen auf oder <strong>als</strong><br />

brutale Schlächter wie Idi Amin. Sie pflegen<br />

heute das Image des honorigen Staatsmanns und<br />

erwecken den Anschein, <strong>als</strong> respektierten sie<br />

den Rechtsstaat. Denn moderne Alleinherrscher<br />

haben gelernt, die Demokratie mit den Methoden<br />

des 21. Jahrhunderts auszuhebeln<br />

Von William J. Dobson<br />

China: Mao Zedong opferte<br />

über sieben Millionen<br />

Menschen während der<br />

Kulturrevolution<br />

Illustration: Wieslaw Smetek; Fotos: Bildagentur-online/Tips-Scozzari, Imago<br />

P<br />

eter Ackerman sitzt in seinem<br />

weiträumigen Eckbüro<br />

am Ende der Pennsylvania Avenue.<br />

Von seinem Platz sieht er<br />

buchstäblich auf die Weltbank<br />

hinab. Der 64‐Jährige ist Geschäftsführer<br />

von Rockport Capital Incorporated,<br />

einem kleinen, exklusiven Investmenthaus.<br />

An einem kristallklaren Nachmittag<br />

im August führt er mich durch eine Power-Point-Präsentation<br />

und spricht über<br />

das Risiko-Rendite-Verhältnis. Die Folien<br />

haben allerdings nichts mit Investitionen,<br />

Dividenden und Finanzen zu tun.<br />

Es geht vielmehr um die beste Methode,<br />

einen <strong>Diktator</strong> zu stürzen.<br />

Vor 25 Jahren hätte man Ackerman<br />

kaum für jemanden gehalten, der andere<br />

darin berät, wie man die schlimmsten Regime<br />

der Welt zu Fall bringen kann. Er war<br />

viel zu beschäftigt damit, <strong>als</strong> rechte Hand<br />

von Junk-Bond-König Michael Milken an<br />

der Wall Street abzusahnen. 1988 verdiente<br />

Ackerman 165 Millionen Dollar, <strong>als</strong> er den<br />

mit 25 Milliarden Dollar fremdfinanzierten<br />

Auskauf von RJR Nabisco organisierte.<br />

Als ein Insidergeschäft aufflog, wanderte<br />

Milken ins Gefängnis. Ackerman zahlte<br />

80 Millionen Dollar Strafe und durfte rund<br />

500 Millionen behalten.<br />

Einen beträchtlichen Teil dieses Vermögens<br />

setzt Ackerman nun dazu ein, weltweit<br />

Weißrussland: Präsident<br />

Alexander Lukaschenko<br />

bekannte, er sei lieber ein<br />

<strong>Diktator</strong> <strong>als</strong> schwul<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 17


T i t e l<br />

die Tyrannei abzuschaffen. 2002 gründete<br />

er das International Center on Nonviolent<br />

Conflict, das Seminare, Workshops und<br />

Schulungen für gewaltlose Strategien zum<br />

Sturz repressiver Regime abhält. Aktivisten<br />

aus Ägypten, Iran, Russland, Venezuela,<br />

Simbabwe und Dutzenden anderen Ländern<br />

kennen Ackerman sehr gut. Einige<br />

von ihnen haben seine Büroräume in den<br />

oberen Stockwerken in Foggy Bottom, einem<br />

Stadtteil von Washington, kennengelernt.<br />

Andere haben seine Filme gesehen –<br />

vor allem „Bringing Down a Dictator“<br />

(„Wie man einen <strong>Diktator</strong> stürzt“), der<br />

zeigt, wie junge Serben im Oktober 2000<br />

Slobodan Milošević zu Fall brachten. Der<br />

Film gewann einen Peabody Award und erschien<br />

auf Arabisch, Farsi, Mandarin, Vietnamesisch<br />

und in mindestens sieben weiteren<br />

Sprachen. Die Georgier sagen, er habe<br />

sie 2003 zu ihrer Rosenrevolution inspiriert,<br />

ein friedlicher demokratischer Aufstand,<br />

der den ehemaligen kommunistischen<br />

Präsidenten Eduard Schewardnadse<br />

aus dem Amt trieb. 2006 stieg Ackerman<br />

auch in das Videospielgeschäft ein. Er finanzierte<br />

die Entwicklung von „A Force<br />

More Powerful“, ein Spiel, mit dem Aktivisten<br />

in der virtuellen Welt Strategien<br />

zum Sturz von Tyrannen trainieren können.<br />

Tausende von Kopien hat er in einige der<br />

repressivsten Staaten der Welt geschmuggelt.<br />

2010 brachte er eine neue Version des<br />

Spiels mit dem Namen „People Power“ auf<br />

den Markt. („Dieses Spiel ist das Subversivste,<br />

was ich je gemacht habe“, sagt er.<br />

„Ich habe Millionen ausgegeben, um es zu<br />

perfektionieren.“) Als ich ihn frage, warum<br />

er den Kampf gegen Tyrannen zu seiner<br />

Lebensaufgabe gemacht habe, sieht er<br />

mich an und sagt: „Ich bin doch nur im<br />

Vertriebsgeschäft. Ich bediene eine Nachfrage,<br />

das ist alles.“ Es ist ein gutes Geschäft,<br />

hätte er noch hinzufügen können.<br />

Es ist nicht leicht, heutzutage <strong>Diktator</strong><br />

zu sein. Bis vor kurzem konnte ein Autokrat,<br />

sei es ein nationalistischer „starker<br />

Mann“, ein Held der Revolution oder ein<br />

kommunistischer Apparatschik, stumpfe<br />

Waffengewalt einsetzen, um sein Volk zu<br />

knebeln. Josef Stalin schickte Millionen<br />

Landsleute in den Gulag. Mao Zedong<br />

startete eine revolutionäre Massenkampagne,<br />

die sich gegen Intellektuelle, Kapitalisten<br />

und überhaupt gegen jeden in<br />

China richtete, dem unterstellt wurde, er<br />

Syrien: Präsident Baschar al-Assad geht<br />

seit über einem Jahr mit äußerster Härte<br />

gegen seine Gegner vor – dabei starben über<br />

11 000 Menschen, darunter 5000 Kinder<br />

Venezuela: Hugo Chávez ließ die<br />

Verfassung ändern, damit er ein drittes<br />

Mal Präsident werden konnte<br />

Kuba: Raúl Castro „erbte“ Partei- und<br />

Staatsfunktionen von seinem Bruder Fidel<br />

Nordkorea: Der „Oberste Führer“ Kim Jong<br />

Un frönt wie seine Vorgänger der Gigantomanie,<br />

während nach UN-Angaben zwei<br />

Drittel der Bevölkerung an Hunger leiden<br />

sei nicht „rot“, <strong>als</strong>o kommunistisch genug.<br />

Maos „Großer Sprung nach vorn“ kostete<br />

innerhalb weniger Jahre mehr <strong>als</strong> 35 Millionen<br />

Menschen das Leben. Das Regime<br />

des ugandischen <strong>Diktator</strong>s Idi Amin ermordete<br />

nicht weniger <strong>als</strong> 500 000 Menschen.<br />

Fast zwei Millionen Kambodschaner<br />

starben innerhalb von drei Jahren auf<br />

Pol Pots Killing Fields. Im Februar 1982<br />

zerschlug Hafiz al-Assad einen Aufstand<br />

in der syrischen Stadt Hama. Nachdem sie<br />

die Stadt mit Kampfhubschraubern und<br />

schwerer Artillerie belagert hatten, gingen<br />

Assads Truppen von Haus zu Haus. Mehr<br />

<strong>als</strong> 25 000 Syrer wurden noch vor Monatsende<br />

niedergemetzelt.<br />

<strong>Diktator</strong>en sind immer noch zu großen<br />

Verbrechen fähig. Doch die Despoten<br />

von heute sehen sich größerem Widerstand<br />

ausgesetzt <strong>als</strong> früher. Mit dem Ende des<br />

Kalten Krieges verloren viele ihren wichtigsten<br />

Sponsor, ihre ökonomische Lebensader,<br />

die Sowjetunion. Das Geschäft mit<br />

der Demokratieförderung wurde beinahe<br />

über Nacht zur Hausindustrie: Ein ganzes<br />

Heer von westlichen Experten, Aktivisten<br />

und Wahlbeobachtern steht heute bereit,<br />

um Menschenrechtsverletzungen, schwere<br />

Korruption und Wahlfälschungen öffentlich<br />

zu machen. Vor 20 Jahren musste sich<br />

die Pekinger Führung nur vor den Scheinwerfern<br />

der Fernsehkameras fürchten, <strong>als</strong><br />

die Panzer auf den Tiananmen-Platz rollten.<br />

Nachdem die Chinesische Kommunistische<br />

Partei das Kriegsrecht ausgerufen<br />

hatte, zog sie CNN buchstäblich den<br />

Stecker. Doch das ist vorbei. 2006 filmte<br />

eine Expedition europäischer Bergsteiger<br />

chinesische Soldaten, die in einem Gebirgspass<br />

des Himalayas in 5800 Metern<br />

Höhe auf tibetische Mönche, Frauen und<br />

Kinder schossen. Das Massaker verbreitete<br />

sich in Windeseile auf Youtube und führte<br />

dazu, dass internationale Menschenrechtsgruppen<br />

Chinas Gewalt gegen Flüchtlinge<br />

scharf verurteilten. 2011 verwies Syrien<br />

alle ausländischen Journalisten, die über<br />

den Aufstand gegen Baschar al-Assad berichten<br />

wollten, des Landes – doch es half<br />

nichts: Täglich stellten syrische Aktivisten<br />

schockierendes Videomaterial der brutalen<br />

Repression ins Internet, auf dem zu sehen<br />

war, wie friedliche Demonstranten und Beerdigungszüge<br />

von Scharfschützen des Regimes<br />

zusammengeschossen wurden. Die<br />

<strong>Diktator</strong>en dieser Welt können heute nicht<br />

mehr darauf hoffen, dass ihre Gräueltaten<br />

Fotos: DDP Images/AP Photo (2), Corbis, Action Press/KYODO NEWS<br />

18 <strong>Cicero</strong> 7.2012


geheim bleiben. Wenn sie zuschlagen, und<br />

sei es in einem Gebirgspass im Himalaya,<br />

dann müssen sie davon ausgehen, dass alles<br />

mit einem iPhone aufgezeichnet und der<br />

ganzen Welt zugespielt wird. Der Preis der<br />

Tyrannei war noch nie so hoch.<br />

Das Blatt begann sich schon lange vor<br />

Internet und Twitter gegen die <strong>Diktator</strong>en<br />

zu wenden, sogar lange vor dem Zusammenbruch<br />

der Sowjetunion. Ihr Ärger<br />

nahm seinen Anfang im Jahr 1974 in Portugal,<br />

um genau zu sein: um 12:25 Uhr<br />

am Morgen des 25. April, <strong>als</strong> ein Lissabonner<br />

Radiosender das Lied „Grandola, Vila<br />

Morena“ spielte. Es war ein verabredetes<br />

Zeichen für Einheiten des portugiesischen<br />

Militärs, den Putsch einzuleiten. Einen Tag<br />

später hatten sie Portug<strong>als</strong> <strong>Diktator</strong>, Marcello<br />

Caetano, ins Exil getrieben. Dem Politikwissenschaftler<br />

Samuel Huntington zufolge<br />

markieren die politischen Kräfte, die<br />

an diesem Tag freigesetzt wurden, den Beginn<br />

einer weltweiten Welle der Demokratisierung,<br />

die in den folgenden Jahrzehnten<br />

reihenweise autoritäre Regime hinwegfegen<br />

und durch demokratische Regierungen ersetzen<br />

sollte.<br />

Nach Portugal kippte in Südeuropa<br />

eine ganze Reihe rechter Diktaturen. Die<br />

Militärjunten Lateinamerikas und autoritären<br />

Regime Ostasiens folgten. All das<br />

waren Erschütterungen, doch der Zusammenbruch<br />

der kommunistischen Regierungen<br />

in Osteuropa im Jahre 1989 war<br />

ein regelrechtes Erdbeben. 1974 gab es<br />

weltweit nur 41 Demokratien. 1991, <strong>als</strong><br />

die Sowjetunion zusammenbrach, war die<br />

Zahl der demokratisch regierten Länder auf<br />

76 hochgeschnellt.<br />

Bald stellte sich heraus, dass dies erst<br />

der Beginn der Boomjahre der Demokratie<br />

sein sollte. In Afrika entstand mehr <strong>als</strong><br />

ein Dutzend neuer Demokratien. Wichtige<br />

demokratische Transformationen ereigneten<br />

sich in Schlüsselländern wie Indonesien<br />

und Mexiko. 1998 unterhielten die USA<br />

in mehr <strong>als</strong> 100 Ländern Demokratieförderungsprogramme.<br />

Im Jahre 2000 fügte<br />

Serbiens Revolution der Galerie der Demokratien<br />

noch ein weiteres Land hinzu.<br />

Die „Farbrevolutionen“ – Georgien 2003,<br />

Ukraine 2004 und Kirgistan 2005 – waren<br />

ein Symbol dafür, wie sehr die Freiheit<br />

gegenüber dem Autoritarismus auf<br />

dem Vormarsch war. 2005 hatte sich die<br />

Zahl der Demokratien in der Welt mehr<br />

<strong>als</strong> verdreifacht, seit Portug<strong>als</strong> junge Offiziere<br />

besagtes Lied im Radio hörten.<br />

Doch dann änderte sich etwas. Die<br />

Welle der Demokratisierung erreichte ihren<br />

Scheitelpunkt, und die unangenehmsten<br />

Regime der Welt – ein wildes Gemisch<br />

aus <strong>Diktator</strong>en, starken Führern und autoritären<br />

Regierungen – erlebten ein Comeback.<br />

Der Grad an politischer Freiheit auf<br />

der Welt sank jährlichen Berichten des Forschungsinstituts<br />

Freedom House zufolge in<br />

den darauffolgenden fünf Jahren; es war<br />

der längste kontinuierliche Niedergang<br />

von politischen Rechten und zivilen Freiheiten,<br />

seit die Organisation diese Trends<br />

vor 40 Jahren zu messen begonnen hatte.<br />

Militärputsche stürzten demokratische Regierungen<br />

in Asien, in Lateinamerika verbreitete<br />

sich eine populistische Spielart des<br />

Autoritarismus. Selbst die noch frischen Erfolgsgeschichten<br />

in Georgien, Ukraine und<br />

Im Jahr 2010 war die<br />

Zahl der Demokratien<br />

auf ihren niedrigsten<br />

Stand seit 1995<br />

gefallen. Huntingtons<br />

„Welle“ scheint sich<br />

ausgelaufen zu haben<br />

Kirgistan begannen zu kippen. 2010 war<br />

die Zahl der Demokratien auf ihren niedrigsten<br />

Stand seit 1995 gefallen. Anders<br />

ausgedrückt: Die Prozentzahl der <strong>als</strong> „frei“<br />

bewerteten Länder war seit mehr <strong>als</strong> einem<br />

Jahrzehnt unverändert geblieben, festgefroren<br />

bei rund 46 Prozent. Huntingtons<br />

„Welle“ schien sich ausgelaufen zu haben.<br />

Das Problem ist nicht die Demokratie<br />

an sich. 2011 erinnerte der Arabische Frühling<br />

jeden daran, dass das Ideal der politischen<br />

und ökonomischen Freiheit selbst inmitten<br />

einer globalen Rezession nichts von<br />

seiner Anziehungskraft verloren hat. Überall<br />

wollen die Menschen frei sein, immer<br />

noch. Was sich aber geändert hat, ist die<br />

Natur der Diktatur. Die Tyrannen und Autokraten<br />

von heute sind weitaus raffinierter,<br />

gerissener und geschickter <strong>als</strong> früher.<br />

Unter wachsendem Druck verwandeln die<br />

klügeren unter ihnen ihr Regime nicht in<br />

einen Polizeistaat und schotten sich auch<br />

nicht von der Außenwelt ab. Sie haben<br />

stattdessen gelernt, sich anzupassen. In<br />

Dutzenden autoritären Regimen hat der<br />

Vormarsch der Demokratie zu Experimenten,<br />

Kreativität und einer neuen Listigkeit<br />

geführt. Moderne Autokraten haben ihre<br />

Techniken, Methoden und Strategien des<br />

Machterhalts erfolgreich verfeinert und so<br />

die Diktatur für das moderne Zeitalter fit<br />

gemacht.<br />

Der <strong>Diktator</strong> von heute hat begriffen,<br />

dass brutale Formen der Einschüchterung<br />

– Massenverhaftungen, Exekutionskommandos<br />

und gewaltsame Razzien – im<br />

Zeitalter der Globalisierung besser durch<br />

subtilere Formen von Zwang ersetzt werden.<br />

Anstatt die Mitglieder einer Menschenrechtsgruppe<br />

zu verhaften, hetzt der<br />

moderne Despot ihnen die Steuerfahnder<br />

oder Gesundheitsinspektoren auf den H<strong>als</strong>,<br />

wenn er eine Dissidentengruppe auflösen<br />

will. Gesetze werden dehnbar formuliert<br />

und dann wie ein Skalpell dazu eingesetzt,<br />

um gegen Gruppen vorzugehen, von denen<br />

sich Regierungen bedroht fühlen. (In<br />

Venezuela scherzte ein Aktivist, Präsident<br />

Hugo Chávez regiere nach dem Motto: Für<br />

meine Freunde alles, für meine Feinde das<br />

Gesetz.) Anstatt alle Informationskanäle<br />

zu schließen, lässt man Schlupflöcher für<br />

kleine Medien – meist Zeitungen –, die<br />

eine sehr begrenzte öffentliche Diskussion<br />

ermöglichen. Heute würzt der <strong>Diktator</strong><br />

seine Reden mit Verweisen auf Freiheit,<br />

Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit. Die<br />

Führung der Chinesischen Kommunistischen<br />

Partei beruft sich regelmäßig auf die<br />

Demokratie und erklärt sich zur gewählten<br />

Regierung des Landes. Moderne Autokraten<br />

haben begriffen, dass wichtig ist, wie etwas<br />

nach außen wirkt. Die totalitären Führer<br />

des 20. Jahrhunderts hielten „Wahlen“<br />

ab, bei denen sie absurd hohe Stimmanteile<br />

einfuhren. Die Parteivorsitzenden der<br />

Sowjetunion gewannen ihre Abstimmungen<br />

regelmäßig mit unerklärlichen 99 Prozent<br />

der Stimmen. Heute beschränken die<br />

Agenten des Kremls ihre Wahlurnenbefüllung<br />

auf 70 Prozent. Moderne <strong>Diktator</strong>en<br />

haben verstanden, dass es besser ist, scheinbar<br />

wettbewerbsreiche Wahlen zu gewinnen,<br />

<strong>als</strong> sie ganz offen zu stehlen.<br />

Wir glauben oft, autoritäre Regime seien<br />

Dinosaurier – ungeschickte, schwerfällige,<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 19


T i t e l<br />

trampelnde Riesen wie die Sowjetunion<br />

kurz vor ihrem Ende oder irgendeine instabile<br />

lateinamerikanische Bananenrepublik.<br />

Tatsächlich hat es eine Handvoll rückwärtsgewandter<br />

Diktaturen des alten Schlags geschafft,<br />

irgendwie ins 21. Jahrhundert zu<br />

rutschen. Dazu gehören die Nordkoreas,<br />

Turkmenistans und Äquatorialguineas dieser<br />

Welt. Doch sie stehen für einen veralteten<br />

Typus Diktatur. Sie geben sich keine<br />

Mühe, <strong>als</strong> etwas anderes zu erscheinen, <strong>als</strong><br />

sie sind. Doch handelt es sich nur noch um<br />

entlegene Außenposten, während andere<br />

Regime gelernt haben, sich zu entwickeln,<br />

zu wandeln, teilweise sogar zu prosperieren.<br />

Niemand will das nächste Nordkorea sein.<br />

Der Totalitarismus hat sich <strong>als</strong> Phänomen<br />

des 20. Jahrhunderts erwiesen. Er<br />

war das ehrgeizigste unter den undemokratischen<br />

Projekten, das je unternommen<br />

wurde, und er hat schlecht abgeschnitten.<br />

Man kann argumentieren, dass Nordkorea<br />

an der totalitären Methode festhält; das ist<br />

vor allem deshalb möglich, weil das Land<br />

Nuklearwaffen entwickelt und der verstorbene<br />

Kim Jong Il bereit war, sein eigenes<br />

Volk verhungern zu lassen. Moderne <strong>Diktator</strong>en<br />

agieren aber in der viel verschwommeneren<br />

Grauzone zwischen Demokratie<br />

und Autoritarismus. Sie wollen den Rückhalt<br />

ihrer Bevölkerung gewinnen, indem<br />

sie die Menschen zufriedenstellen; falls das<br />

misslingt, sind sie aber auch einverstanden<br />

damit, ihre Kritiker durch Angst und selektive<br />

Einschüchterung mundtot zu machen.<br />

„Mein Vater hat immer gesagt, dass er lieber<br />

in einer Diktatur wie der kubanischen<br />

leben würde“, erzählt Alvaro Partidas, ein<br />

venezolanischer Aktivist. „Da weiß man<br />

zumindest, dass man ins Gefängnis geht,<br />

wenn man die Regierung kritisiert. Bei uns<br />

dagegen regieren sie durch Unsicherheit.“<br />

Aus der Entfernung sehen einige der<br />

schlimmsten Autokratien der Welt beinahe<br />

demokratisch aus. Häufig ist in ihren Verfassungen<br />

eine Gewaltenteilung zwischen<br />

Exekutive, Legislative und Judikative verankert.<br />

Es mag Unterschiede geben – eine<br />

oder zwei Volkskammern, unterschiedliche<br />

Verteilung von Befugnissen –, doch viele<br />

institutionelle Merkmale von autoritären<br />

Staaten finden, zumindest auf dem Papier,<br />

ihre Entsprechung in einigen der langweiligsten<br />

Demokratien der Welt.<br />

Nehmen wir zum Beispiel Russland.<br />

Selbst <strong>als</strong> Wladimir Putin zunehmend<br />

Iran: Als Oberster Rechtsgelehrter hat<br />

Ajatollah Ali Chamenei uneingeschränkte<br />

Machtbefugnisse über alle Institutionen<br />

China: Partei- und Staatschef Hu Jintao<br />

mag wie ein gütiger Großvater<br />

wirken, Kritiker lässt er aber die ganze<br />

Härte der Staatsmacht spüren<br />

Libyen: Revolutionsführer Muammar<br />

al‐Gaddafi wurde vom eigenen Volk gestürzt<br />

Serbien: Präsident Slobodan Milošević<br />

war unter anderen für das Massaker<br />

von Srebrenica verantwortlich, wo<br />

8000 Menschen ermordet wurden<br />

autoritär regierte, verstieß er nie gegen<br />

die russische Verfassung. Er agierte an den<br />

Nahtstellen des politischen Systems und<br />

konzentrierte seine Macht durch Kanäle,<br />

denen er einen demokratischen Anstrich<br />

geben konnte. So mochten sich Kritiker<br />

zwar darüber beschweren, die 7-Prozent-<br />

Hürde, die jede Partei überwinden muss,<br />

um ins Parlament zu kommen, sei ein zynischer<br />

Kniff, mit dem Oppositionskandidaten<br />

ausgeschlossen werden sollen – tatsächlich<br />

stimmt das. Doch Putin konnte<br />

auf ganz ähnliche Regelungen in den parlamentarischen<br />

Systemen von unverwüstlich<br />

demokratischen Staaten wie Polen,<br />

Deutschland oder der Tschechischen Republik<br />

verweisen. In Venezuela schlug Hugo<br />

Chávez vor, die Direktwahl der Gouverneure<br />

durch eine präsidentielle Ernennung<br />

der Regionalregierungen zu ersetzen – auch<br />

das ein durchsichtiger Versuch, politische<br />

Macht zu konzentrieren und die Opposition<br />

auszuschalten. Gleichzeitig gibt es<br />

diese Praxis in einigen der gelassensten Demokratien<br />

der Welt, wie den baltischen<br />

Staaten Estland und Litauen. Viele dieser<br />

Maßnahmen sind für sich genommen<br />

noch kein Machtmissbrauch. Viele Merkmale<br />

eines modernen autoritären Regimes<br />

stehen nicht zwingend im Widerspruch<br />

zu denen einer gesunden Demokratie. Ein<br />

einzelnes Teilchen in der Mechanik eines<br />

politischen Systems kann vielerlei bedeuten.<br />

Immerhin sind sogar einige Aspekte<br />

der amerikanischen Demokratie – etwa<br />

der Wahlausschuss oder die Federal Reserve<br />

– undemokratisch. Stattdessen sollte<br />

man sich ansehen, wie moderne autoritäre<br />

Systeme in der Praxis funktionieren. Dazu<br />

muss man ganz nah rangehen.<br />

Kaum jemand kennt sich besser aus<br />

mit Diktaturen, die sich einen neuen Anstrich<br />

geben, <strong>als</strong> Ludmilla Alexejewa. Die<br />

84-jährige Menschenrechtsaktivistin gehört<br />

zu den letzten russischen Dissidenten,<br />

deren Widerstand gegen das offizielle<br />

Moskau bis in die späten sechziger Jahre zurückreicht,<br />

die Tage des sowjetischen Parteiführers<br />

Leonid Breschnew. Selbst jetzt,<br />

gebrechlich und beim Laufen auf Hilfe<br />

angewiesen, führt Alexejewa eine Bewegung<br />

an, die für die Russen das Recht auf<br />

freie Versammlung erkämpfen will. An jenem<br />

Morgen, an dem ich in ihrer Moskauer<br />

Wohnung sitze, klingelt ihr Telefon<br />

in einem fort. („Menschenrechtsaktivisten<br />

sind momentan sehr gefragt“, sagt sie<br />

Fotos: Picture Alliance/Abaca, DDP Images/AP Photo, Picture Alliance/DPA, Ullstein Bild/Reuters<br />

20 <strong>Cicero</strong> 7.2012


lachend. „Wir sind sehr beliebt in unserem<br />

Land.“) In den Anfangsjahren ihrer Arbeit<br />

war das Risiko groß. Als Dissident in der<br />

Sowjetunion musste man darauf vorbereitet<br />

sein, „sich zu opfern oder sich eines Tages<br />

im Gefängnis wiederzufinden oder in<br />

einer Psychiatrie. Heute muss die gleiche<br />

Person davon ausgehen, dass sie entweder<br />

unschädlich gemacht oder getötet wird.“<br />

Früher hätte das Regime jemanden verhaftet,<br />

und man hätte nie mehr etwas von<br />

ihm gehört. Heute hat jemand einen Unfall<br />

oder wird Opfer eines scheinbar willkürlichen<br />

Überfalls.<br />

Die Bürger in der Sowjetunion konnten<br />

sich kaum auf das Gesetz berufen, um<br />

sich zu schützen. Für die Russen ist das<br />

heute anders. „Die russische Verfassung garantiert<br />

dieselben Rechte und Freiheiten<br />

wie alle westlichen Verfassungen“, sagt Alexejewa.<br />

„Tatsächlich wird aber nur ein einziges<br />

Recht wirklich geschützt – das Recht<br />

auszureisen, das Land zu verlassen.“ Mit<br />

der Folge, dass Menschen, die gegen das<br />

Regime sind, einfach fortgingen. Während<br />

die Diktatur im sowjetischen System auf<br />

geschlossene Grenzen setzte, baut Putins<br />

Autoritarismus auf offene Grenzen. Die<br />

Welt hat sich verändert, aber die klügeren<br />

unter den <strong>Diktator</strong>en haben sich ebenfalls<br />

weiterentwickelt. Ebenso schnell, wie sich<br />

ihre Umwelt gewandelt hat und die alten<br />

Regeln ihre Gültigkeit verloren haben,<br />

haben geschickte Regime dazugelernt und<br />

sich angepasst.<br />

Im Zentrum der Diktatur steht das unantastbare<br />

Prinzip der Machtkonzentration.<br />

Dieses Prinzip, die Kontrolle der vielen<br />

durch ein paar wenige, lässt die heutigen<br />

autoritären Regime zunehmend anachronistisch<br />

wirken. In allen Bereichen des modernen<br />

Lebens werden Hierarchien und<br />

Institutionen flacher, das Individuum gewinnt<br />

an Einfluss. Die zentralen Lehren der<br />

Diktatur kommen mit jedem Tag mehr aus<br />

der Mode. Deswegen sind in unserer Welt<br />

der uneingeschränkten Information und<br />

der offenen Grenzen autoritäre Regime bewusste,<br />

menschengemachte Projekte, die<br />

sorgfältig aufgebaut, auf Hochglanz poliert<br />

und gestützt werden müssen. Für Pariastaaten<br />

ist diese Aufgabe weniger kompliziert –<br />

sie haben sich dazu entschlossen, in der Defensive<br />

zu verharren und sich die Welt vom<br />

Leib zu halten. Sie können Jahre oder Jahrzehnte<br />

überdauern; unübersehbar ist aber,<br />

Moderne autoritäre<br />

Regime verfügen über<br />

eine genau durchdachte<br />

Architektur, die ständige<br />

Wartung erfordert.<br />

Denn auch ihre Gegner<br />

haben dazugelernt<br />

dass die Mauern, die sie zu ihrem Schutz<br />

errichtet haben, sie wie Gefängnismauern<br />

umgeben. Moderne Diktaturen, die<br />

sich dazu entschlossen haben, mit anderen<br />

zu interagieren und sich jenem Druck<br />

zu öffnen, der auch schon andere gefährdet<br />

hat, sind meist komplexer. Sie wollen<br />

Repression mit Regulierung mischen, um<br />

den größtmöglichen Nutzen aus dem globalen<br />

politischen System zu ziehen, ohne<br />

ihren eisernen Griff an der Macht lockern<br />

zu müssen. Das moderne autoritäre Regime<br />

hat eine genau durchdachte Architektur,<br />

die ständige Wartung erfordert –<br />

nicht nur wegen der abstrakten Kräfte der<br />

Moderne, sondern auch wegen jener Kräfte,<br />

die es stürzen wollen. Nicht nur die <strong>Diktator</strong>en<br />

sind geschickter geworden, auch ihre<br />

Gegner haben dazugelernt.<br />

Viel wird heute über amerikanische<br />

Demokratieförderung oder UN-Interventionen<br />

geschrieben, doch der Kampf zwischen<br />

Demokratie und Diktatur ist selten,<br />

fast nie, ein Kampf zwischen Staaten; es ist<br />

ein Wettbewerb zwischen Menschen. Staaten<br />

sind normalerweise zu schwerfällig zum<br />

Handeln, selbst wenn sie sehen, dass ein<br />

Land an der Schwelle zur Revolution steht.<br />

2011 ließen die USA ihre autokratischen<br />

Verbündeten in Tunesien und<br />

Ägypten erst im letztmöglichen Moment<br />

fallen. Wenn es um Interventionen gegen<br />

ein verhasstes Regime wie das syrische<br />

geht, zögern sie. Selbst 1989, <strong>als</strong> die Berliner<br />

Mauer fiel, sorgten sich amerikanische<br />

Diplomaten, was ihnen die neue politische<br />

Landschaft wohl bescheren würde.<br />

Sie gingen sogar so weit, ehemalige Sowjetstaaten<br />

davor zu warnen, ihre Unabhängigkeit<br />

zu erklären. Es ist nicht so, dass die<br />

Haltung der USA keine Rolle spielt. Sie ist<br />

wichtig, unter Umständen sogar entscheidend.<br />

Doch ob es uns gefällt oder nicht, es<br />

kommt eher selten vor, dass das Interesse<br />

der USA an einem demokratischen Wandel<br />

– auch an einem Wandel, der einen<br />

geächteten Autokraten stürzen könnte –<br />

nicht durch widerstreitende Interessen oder<br />

Angst vor dem Unbekannten konterkariert<br />

wird. Selten passen alle Variablen zusammen,<br />

wie es in den letzten Monaten von<br />

Muammar al-Gaddafis Libyen der Fall war,<br />

<strong>als</strong> es der internationalen Gemeinschaft gelang,<br />

gemeinsam gegen einen strauchelnden<br />

und isolierten <strong>Diktator</strong> vorzugehen,<br />

der kurz davor stand, eine schreckliche<br />

humanitäre Tragödie anzurichten.<br />

Autoritäre Regime fürchten sich nicht<br />

sonderlich vor den USA. Warum sollten<br />

sie? Auch wir sind verstrickt. Die Amerikaner<br />

gehören zu Chinas wichtigsten Handelspartnern,<br />

sie sind der größte Abnehmer<br />

venezolanischen Öls, überweisen Milliarden<br />

an Hilfszahlungen an das ägyptische<br />

Militär und werben um Russlands diplomatische<br />

Unterstützung bei einer Reihe<br />

grundlegender strategischer Fragen. Autoritäre<br />

Regierungen brauchen sich nicht<br />

über UN-Sanktionen oder Eingriffe ausländischer<br />

Menschenrechtsgruppen aufzuregen,<br />

zumal sich Letztere ja problemlos<br />

ausweisen lassen. Im Gegenteil: Die<br />

bloße Androhung einer ausländischen Intervention<br />

durch die USA, die Vereinten<br />

Nationen oder eine Institution wie den Internationalen<br />

Strafgerichtshof kann sogar<br />

nützlich sein, weil sie nationalistische Leidenschaften<br />

schürt und die Bevölkerung<br />

dazu bringt, sich geschlossen hinter das Regime<br />

zu stellen.<br />

Was <strong>Diktator</strong>en und Autokraten am<br />

meisten fürchten, ist ihr eigenes Volk. Sie<br />

wissen, dass die größte Gefahr für ihre<br />

Herrschaft im eigenen Land entsteht. Peter<br />

Ackerman hat das ebenfalls begriffen. Er<br />

glaubt nicht daran, dass eine Diktatur „reif“<br />

sein muss, um gestürzt zu werden. Aus seiner<br />

Sicht gibt es keine notwendigen Bedingungen<br />

für eine gewaltfreie Revolution.<br />

Regime, die schon kurz vor dem Aus stehen,<br />

überleben. Andere, mit deren Zusammenbruch<br />

niemand gerechnet hätte, zerfallen<br />

innerhalb weniger Tage. Es gibt keinen<br />

klaren Zusammenhang zwischen der Brutalität<br />

eines Regimes, wirtschaftlicher Not,<br />

ethnischer Zusammensetzung oder kulturellen<br />

Faktoren und der Wahrscheinlichkeit<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 21


T i t e l<br />

für eine Revolution heute, morgen oder in<br />

zehn Jahren. Es kommt einzig und allein<br />

darauf an, ob man das Spiel beherrscht. Es<br />

ist eine Frage der Geschicklichkeit – des<br />

Regimes und seiner Gegner. Die Seite, die<br />

sich am besten vorbereitet und die größte<br />

Einigkeit und Disziplin demonstriert, hat<br />

die besten Karten. Das erklärt besser <strong>als</strong><br />

alles andere, warum sich Regime vor den<br />

Menschen, in die Ackerman investiert, am<br />

meisten fürchten.<br />

Wenn sich Beobachter nur eine Seite der<br />

Medaille anschauen – die <strong>Diktator</strong>en –,<br />

sehen sie Regime, die allmächtig erscheinen.<br />

Sie konzentrieren sich auf die massiven<br />

Sicherheitsapparate, auf Einheiten<br />

der Sicherheitspolizei, Soldaten, Geheimagenten,<br />

Spitzel und bezahlte Schläger. Sie<br />

blicken auf die vom Regime kontrollierten<br />

Medien, Schlüsselindustrien, Gerichte<br />

und politischen Parteien. Vielleicht sehen<br />

sie eine Kultur der Angst, nagende Armut<br />

in großen Teilen der Bevölkerung, mit<br />

Schmiergeldern gefüllte Staatskassen, die<br />

Ausbeutung von Ölfeldern und anderen<br />

natürlichen Rohstoffen. Und natürlich ist<br />

da die Brutalität: Ein Regime, das keinerlei<br />

Hemmungen hat, seine Kritiker einzusperren,<br />

zu foltern und zu töten, lässt sich<br />

nicht einfach stürzen, so die Überzeugung.<br />

Beobachter sehen sich all diese Faktoren an,<br />

die ihnen wenig Hoffnung lassen, dass sich<br />

in nächster Zeit irgendetwas ändern wird.<br />

Wenn die Revolution dann doch kommt –<br />

auf den Philippinen, in Polen, Südkorea,<br />

Indonesien, Serbien, Tunesien oder in einem<br />

der vielen anderen Länder – tun die<br />

meisten Experten, Wissenschaftler und Politiker<br />

das Geschehen <strong>als</strong> einen Zufallstreffer<br />

ab, ein seltenes oder einzigartiges Zusammenfallen<br />

von Umständen, das sich<br />

nicht wiederholen lässt. „Kein Experte hat<br />

je eine (dieser Revolutionen) vorausgesagt“,<br />

sagt Ackerman hinter seinem Schreibtisch.<br />

„Sie haben sie immer bis zum letzten Moment<br />

geleugnet. Wenn der <strong>Diktator</strong> dann<br />

gestürzt war, haben sie gesagt: ‚Ach, der<br />

Kerl war ja sowieso ein Schwächling‘.“<br />

Das Puzzleteilchen, das ihnen fehlt,<br />

sind die Fertigkeiten und Kenntnisse derjenigen,<br />

die den <strong>Diktator</strong> stürzen wollen. Sie<br />

wissen nicht, wie Aktivisten lernen, eine<br />

Bewegung zu mobilisieren, die Legitimität<br />

eines Regimes auszuhöhlen und die Mittel<br />

der Propaganda zu beherrschen. Sie verfolgen<br />

nicht, wie demokratische Bewegungen<br />

Simbabwe: Wegen seiner Menschenrechtsverletzungen<br />

darf Präsident<br />

Robert Mugabe, außer zu Veranstaltungen<br />

der Vereinten Nationen, nicht<br />

in die Europäische Union einreisen<br />

Russland: Präsident Wladimir Putin<br />

nutzt alle Winkelzüge zum Erhalt<br />

seiner Macht – jüngst ließ er das<br />

Demonstrationsrecht drastisch verschärfen<br />

Sowjetunion: Josef Stalins Regierungszeit<br />

war geprägt von „Säuberungen“,<br />

Schau- und Geheimprozessen und<br />

verheerenden Hungersnöten<br />

Ägypten: Mithilfe des Militärs<br />

hielt Präsident Hosni Mubarak das<br />

Volk fast 30 Jahre in Schach<br />

voneinander lernen und innovative Methoden<br />

in ihren Kampf einbringen.<br />

Vor zwei Jahren wollte ich diesen<br />

Kampf aus eigener Anschauung erleben.<br />

Seine Frontlinien sind weit verstreut. Ich<br />

bin in mehrere autoritäre Staaten gereist –<br />

darunter China, Ägypten, Malaysia, Russland<br />

und Venezuela –, um mir aus der<br />

Nähe anzusehen, was für innovative Techniken<br />

und Methoden diese Regime einsetzen,<br />

um ihre Herrschaft zu zementieren.<br />

Dazu habe ich mich mit Leuten getroffen,<br />

die das Regime stützen, mit politischen Beratern,<br />

Ideologen, Intimfreunden der Herrschenden,<br />

Technokraten und Beamten.<br />

Ich habe auch die vielfältige und erstaunlich<br />

große Gruppe derer getroffen,<br />

die entschlossen sind, die raffiniertesten<br />

Diktaturen der Welt zu stürzen. Meine<br />

Recherchen haben mich zu venezolanischen<br />

Studenten, russischen Umweltaktivisten,<br />

chinesischen Anwälten, ägyptischen<br />

Bloggern, malaysischen Oppositionsführern<br />

und serbischen Revolutionären geführt.<br />

Noch überraschender war für mich,<br />

dass die Aktivisten und Demokratiebewegungen<br />

heutzutage miteinander vernetzt<br />

sind, dass sie die Arbeit der anderen studieren<br />

und Ideen austauschen. So kann es<br />

vorkommen, dass ein venezolanischer Student<br />

nach Mexico City fliegt, um sich von<br />

serbischen Aktivisten, die ihren <strong>Diktator</strong><br />

schon vor zehn Jahren losgeworden sind,<br />

beibringen zu lassen, wie man Hugo Chávez’<br />

Schwachstellen findet.<br />

Überall auf dem Globus bin ich auf<br />

diesen verborgenen Schlachtfeldern gewandelt,<br />

um herauszufinden, wie es um<br />

das Mächtegleichgewicht zwischen Diktatur<br />

und Demokratie bestellt ist. Ich war in<br />

den Cafés, in denen Aktivisten konspirative<br />

Pläne schmieden, in den Wäldern, in<br />

denen Kampagnen ausgebrütet werden, in<br />

den Slums, in denen sich allmählich die<br />

Wut entwickelt, in den Straßen, in denen<br />

die Jugend zu kämpfen beginnt, und in<br />

den Gefängnissen, in denen die Feinde der<br />

Diktatur langsam dahinsiechen. Der Konflikt<br />

hat sich in Tausende Richtungen fragmentiert:<br />

auf der einen Seite Regime, die<br />

sich rapide modernisieren und in Stellung<br />

bringen, auf der anderen Seite eine außergewöhnliche<br />

Gruppe von Einzelpersonen<br />

und Organisationen, die ihre eigene Lernkurve<br />

beschreibt. Ich habe mir angehört,<br />

auf welche Strategien beide Seiten für ihr<br />

Überleben und ihren Sieg setzen.<br />

Fotos: DDP Images/AP Photo, Picture Alliance/DPA, AKG Images, Keystone<br />

22 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Foto: Travis Daub (Autor)<br />

Während meiner Recherchen wurde<br />

das neueste Kapitel dieser Geschichte im<br />

Nahen Osten geschrieben. Bis 2011 war<br />

es die einzige Region der Welt ohne Demokratien,<br />

mit Ausnahme von Israel. Der<br />

durchschnittliche arabische Führer regierte<br />

mehr <strong>als</strong> 16 Jahre. Der Nahe Osten bildete<br />

das globale Schlusslicht nach nahezu jedem<br />

Kriterium, das man zur Messung der Freiheit<br />

der Menschen anlegen könnte. Doch<br />

wie 1974 in Portugal brach die Revolution<br />

am unwahrscheinlichsten aller Orte<br />

aus: in Tunesien, einem Land, von dem<br />

man lange gedacht hatte, es sei eines der<br />

stabilsten Regime der Region. Am 17. Dezember<br />

2010 drangsalierte die örtliche Polizei<br />

Mohammed Bouazizi, einen Obstverkäufer<br />

in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid.<br />

Gedemütigt, wütend und jenseits dessen,<br />

was er ertragen konnte, nahm sich Bouazizi<br />

in einem öffentlichen Akt der Selbstopferung<br />

das Leben. Die Welt sah zu, wie<br />

der Volksaufstand, der auf den Tod eines<br />

einzigen Mannes folgte, von einem Land<br />

auf das nächste übersprang. Nach Tunesien<br />

griff die Revolution auf Ägypten über,<br />

das politische und kulturelle Epizentrum<br />

des Nahen Ostens. Massive Proteste erfassten<br />

auch Bahrain und Jemen, Libyen versank<br />

im Chaos und schließlich in einem<br />

regelrechten Bürgerkrieg. Die Schockwellen<br />

waren bald darauf auch in Algerien,<br />

Jordanien, Oman, Saudi-Arabien und Sudan<br />

spürbar, wo Proteste und Demonstrationen<br />

in allen Größenordnungen stattfanden.<br />

Selbst <strong>als</strong> die brutale, 42‐jährige<br />

Herrschaft Gaddafis ihr gewaltsames Ende<br />

fand, brannte das Feuer in Syrien weiter,<br />

wo Assad gegen eine immer breiter werdende<br />

Bewegung ankämpft, die das Regime<br />

stürzen will, welches sein Vater errichtet<br />

hat. Ein Obstverkäufer nimmt sich<br />

das Leben, und der Nahe Osten steht in<br />

Flammen. Ist das der Beginn einer neuen<br />

Welle der Demokratisierung?<br />

Die Wahrheit ist: Es ist noch zu früh,<br />

um das zu sagen. Es hat fast 15 Jahre gedauert,<br />

bevor sich Samuel Huntington seiner<br />

Welle der Demokratisierung halbwegs<br />

sicher war, und es ist viel schwerer, eine<br />

Demokratie aufzubauen, <strong>als</strong> eine Diktatur<br />

niederzureißen, wie die Ägypter gerade<br />

schmerzhaft erfahren müssen. Der Fortschritt<br />

wird stockend sein. Autokraten, die<br />

sich an der Macht festklammern, könnten<br />

bald feststellen, dass sich ihr Griff um<br />

die Macht lockert. Doch unabhängig davon,<br />

wie schnell ein echter Wandel eintritt<br />

– das erste Opfer dieser Revolutionen<br />

ist die Überzeugung, einige Weltgegenden<br />

seien irgendwie immun gegen die Forderung<br />

nach Demokratie. Was der Arabische<br />

Frühling gezeigt hat, ist etwas, das junge<br />

Menschen, gestählte Aktivisten und lautstarke<br />

Regimekritiker schon lange wissen:<br />

dass überall auf der Welt in repressiven<br />

Staaten ein Kampf zwischen Herrschern<br />

und Beherrschten tobt, ein Kampf zwischen<br />

verfeindeten Lagern – und dass die<br />

Zukunft von Diktatur und Demokratie in<br />

der Schwebe liegt.<br />

Übersetzung: Luisa Seeling<br />

William J. Dobson<br />

ist Autor des soeben erschienenen<br />

Buches „The Dictator’s Learning<br />

Curve: Inside the Global Battle for<br />

Democracy“<br />

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T i t e l<br />

Die Diktatur der Clowns<br />

Langsam, aber sicher breitet sich das Virus des autoritären Kapitalismus über<br />

den ganzen Globus aus. Wladimir Putin und Silvio Berlusconi sind bei diesem<br />

Kulturbruch die neuen Archetypen für schamloses Regieren auf eigene Rechnung<br />

Von Slavoj žižek<br />

W<br />

enn es eine Person gibt, so Peter Sloterdijk, der<br />

man in 100 Jahren Denkmäler setzen wird, so ist<br />

dies Singapurs Ex-Premier Lee Kuan Yew, der Erfinder<br />

und Begründer des sogenannten „Kapitalismus<br />

mit asiatischen Werten“. Das Virus dieser<br />

autoritären Form des Kapitalismus<br />

ist dabei, sich langsam, aber<br />

sicher über den ganzen Globus<br />

auszubreiten. Bevor Deng Xiaoping<br />

mit seinen Reformen begann,<br />

besuchte er Singapur und<br />

pries das Land ausdrücklich <strong>als</strong><br />

Vorbild, dem China folgen solle.<br />

Dieser Wandel ist von welthistorischer<br />

Bedeutung: Bislang<br />

schien der Kapitalismus untrennbar<br />

mit der Demokratie<br />

verbunden zu sein – natürlich<br />

gab es von Zeit zu Zeit Rückfälle<br />

in die direkte Diktatur, doch<br />

nach ein bis zwei Jahrzehnten<br />

setzte sich die Demokratie wieder<br />

durch (denken wir nur an die<br />

Beispiele Südkoreas oder Chiles).<br />

Heute dagegen ist diese Verbindung<br />

zwischen Demokratie und<br />

Kapitalismus unterbrochen.<br />

Das bedeutet natürlich<br />

nicht, dass wir die Demokratie<br />

zugunsten des kapitalistischen<br />

Fortschritts aufgeben<br />

sollten – wir sollten uns jedoch<br />

den Beschränkungen der parlamentarisch-repräsentativen<br />

Demokratie stellen. Walter Lippmann, die Ikone des amerikanischen<br />

Journalismus des 20. Jahrhunderts, spielte eine Schlüsselrolle<br />

für das Selbstverständnis der US‐Demokratie. Trotz seiner<br />

fortschrittlichen politischen Haltung (er setzte sich beispielsweise<br />

für eine faire Politik gegenüber der Sowjetunion ein) vertrat er<br />

Die Machthabenden tun<br />

höflich so, <strong>als</strong> hätten sie<br />

nicht wirklich die Macht<br />

eine Theorie der öffentlichen Medien, die einen beklemmenden<br />

Wahrheitseffekt hat. Er prägte den Begriff des „manufacturing<br />

consent“, der Fabrikation von Konsens, der später durch<br />

Chomsky berühmt wurde – allerdings fasste Lippmann ihn positiv<br />

auf. In seinem Buch „Public Opinion“ aus dem Jahr 1922 („Die<br />

öffentliche Meinung“, 1964)<br />

schrieb er, dass sich eine „herrschende<br />

Klasse“ erheben und<br />

der Herausforderung stellen<br />

müsse – er sah die Öffentlichkeit<br />

wie Platon <strong>als</strong> große Bestie<br />

oder verwirrte Herde, die sich<br />

im „Chaos lokaler Meinungen“<br />

verrennt. Folglich müsse<br />

die Herde der Bürger von einer<br />

„spezialisierten Klasse“ regiert<br />

werden, „deren Interessen<br />

über die Örtlichkeit hinausreichen“<br />

– diese elitäre Klasse solle<br />

<strong>als</strong> Wissensmaschinerie fungieren<br />

und so den Hauptmangel<br />

der Demokratie umgehen: das<br />

unmögliche Ideal des „omnikompetenten<br />

Bürgers“. Das<br />

ist die Art und Weise, wie unsere<br />

Demokratien funktionieren<br />

– mit unserer Zustimmung.<br />

An Lippmanns Äußerungen ist<br />

nichts Mysteriöses, sie verweisen<br />

auf offenkundige Tatsachen; das<br />

Mysteriöse ist, dass wir darum<br />

wissen und das Spiel dennoch<br />

mitspielen. Wir tun so, „<strong>als</strong> ob“<br />

wir frei wären und uns frei entscheiden<br />

könnten und akzeptieren dabei nicht nur stillschweigend,<br />

sondern „fordern“ regelrecht, dass ein (in die Form unserer<br />

freien Rede eingeschriebenes) unsichtbares Gesetz uns diktiert,<br />

was wir tun und denken sollen. Wie Marx bereits vor langer Zeit<br />

erkannte, liegt das Geheimnis in der Form selbst.<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

24 <strong>Cicero</strong> 7.2012


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T i t e l<br />

In diesem Sinne ist in einer Demokratie jeder normale Bürger<br />

ein König – aber ein König in einer konstitutionellen Demokratie:<br />

ein König, der nur formell entscheidet und dessen Funktion darin<br />

besteht, Verordnungen zu unterzeichnen, die ihm von der ausführenden<br />

Verwaltung vorgelegt werden. Das Problem demokratischer<br />

Rituale gleicht daher dem großen Problem der konstitutionellen<br />

Monarchie: Wie lässt sich die Würde des Königs wahren? Wie<br />

kann man den Anschein aufrechterhalten, dass der König tatsächlich<br />

entscheidet, obwohl jeder weiß, dass es nicht so ist? Was wir<br />

die „Krise der Demokratie“ nennen, entsteht folglich nicht, wenn<br />

die Leute aufhören, an ihre eigene<br />

Macht zu glauben, sondern, im Gegenteil,<br />

wenn sie den Eliten nicht<br />

mehr vertrauen, die sich an ihrer<br />

Stelle auskennen und die Marschrichtung<br />

vorgeben sollen, wenn bei<br />

den Leuten die Angst aufkommt,<br />

dass „der (wahre) Thron leer ist“<br />

und die Entscheidung nun „wirklich“<br />

bei ihnen liegt. „Freie Wahlen“<br />

beinhalten demnach <strong>als</strong>o immer<br />

einen minimalen Aspekt von<br />

Höflichkeit: Die Machthabenden<br />

tun höflich so, <strong>als</strong> hätten sie nicht<br />

wirklich die Macht, und bitten uns,<br />

frei zu entscheiden, ob wir sie ihnen<br />

geben wollen.<br />

Es gibt keinen Grund, demokratische<br />

Wahlen zu verachten; es<br />

ist nur wichtig, immer wieder darauf<br />

hinzuweisen, dass sie nicht per<br />

se ein Indikator der Wahrheit sind –<br />

gewöhnlich spiegeln sie mehr oder<br />

weniger die von der hegemonialen<br />

Ideologie bestimmte Doxa wider.<br />

Sehen wir uns ein Beispiel an,<br />

das sicher nicht problematisch ist:<br />

Frankreich im Jahr 1940. Sogar<br />

Jacques Duclos, der zweite Mann<br />

in der Kommunistischen Partei Frankreichs, gab in einem vertraulichen<br />

Gespräch zu, dass, wenn dam<strong>als</strong> freie Wahlen in Frankreich<br />

abgehalten worden wären, Marschall Pétain mit 90 Prozent<br />

der Stimmen gewonnen hätte. Als de Gaulle sich in einem historischen<br />

Akt weigerte, die Kapitulation vor Deutschland anzuerkennen,<br />

und weiter Widerstand leistete, erklärte er, dass er allein,<br />

nicht das Vichy-Regime, im Namen des wahren Frankreich spreche<br />

(im Namen des „wahren“ Frankreich, nicht nur im Namen<br />

der „Mehrheit der Franzosen“!); er sprach damit eine tiefe Wahrheit<br />

aus, obwohl er keine „demokratische“ Legitimation besaß und<br />

sogar eindeutig im Widerspruch zur Mehrheit des französischen<br />

Volkes handelte. Es kann demokratische Wahlen geben, die ein<br />

Wahrheitsereignis darstellen – Wahlen, bei denen die Mehrheit<br />

plötzlich aus der skeptisch-zynischen Trägheit „erwacht“ und gegen<br />

die hegemoniale ideologische Meinung stimmt; die Tatsache,<br />

dass ein solch überraschendes Wahlergebnis eine Ausnahmeerscheinung<br />

bleibt, zeigt allerdings, dass Wahlen <strong>als</strong> solche kein Medium<br />

der Wahrheit sind.<br />

Dieses authentische Potenzial der Demokratie verliert nun<br />

mit dem Aufstieg des autoritären Kapitalismus, der immer weiter<br />

Richtung Westen vordringt – natürlich immer in Übereinstimmung<br />

mit den „Werten“ des jeweiligen Landes –, an Boden:<br />

Putins Kapitalismus mit „russischen Werten“ (brutale Machtdemonstrationen),<br />

Berlusconis Kapitalismus mit „italienischen<br />

Werten“ (lächerliche Posen) … Sowohl Putin <strong>als</strong> auch Berlusconi<br />

regier(t)en in einer Demokratie, die zunehmend zur leeren,<br />

ritualisierten Hülse ihrer selbst wird, und beide erfreu(t)en sich<br />

trotz der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Situation<br />

großer Unterstützung im Volk<br />

(über zwei Drittel der Wähler).<br />

Da nimmt es nicht wunder,<br />

dass sie auch persönlich<br />

befreundet sind. Beide neigen<br />

zu gelegentlichen „spontanen“<br />

skandalösen Ausbrüchen (die<br />

zumindest bei Putin von langer<br />

Hand geplant sind, damit sie<br />

zum russischen „Volkscharakter“<br />

passen). Hin und wieder<br />

benutzt Putin gern unflätige<br />

Ausdrücke oder stößt obszöne<br />

Drohungen aus – <strong>als</strong> ihm vor<br />

ein paar Jahren ein westlicher<br />

Journalist unangenehme Fragen<br />

über Tschetschenien stellte,<br />

raunzte Putin zurück, wenn er<br />

noch nicht beschnitten sei, so<br />

lade er ihn herzlich nach Moskau<br />

ein, wo es ausgezeichnete<br />

Chirurgen gebe …<br />

Es gibt keinen Grund, Wahlen<br />

zu verachten – ein Indikator der<br />

Wahrheit sind sie aber nicht<br />

Die Figur Berlusconi war<br />

ebenso von zentraler Bedeutung,<br />

denn das Italien unter<br />

seiner Führung stellte eine Art<br />

Versuchslabor für unsere Zukunft<br />

dar. Angesichts der Spaltung<br />

der politischen Szene in<br />

einen permissiv-liberalen Technokratismus und einen fundamentalistischen<br />

Populismus besteht seine große Leistung darin, die<br />

beiden zu vereinigen und beides gleichzeitig zu sein. Diese Kombination<br />

machte ihn – zumindest für lange Zeit – unschlagbar.<br />

Die Überreste der italienischen „Linken“ nahmen ihn resigniert<br />

<strong>als</strong> „Schicksal“ hin. Diese stumme Akzeptanz Berlusconis ist vielleicht<br />

der traurigste Aspekt seiner Regierungszeit. Sie steht gewissermaßen<br />

für eine Demokratie der kampflosen Sieger, die durch<br />

zynische Demoralisierung regieren.<br />

Was Berlusconi <strong>als</strong> politisches Phänomen so interessant macht,<br />

ist die Tatsache, dass er <strong>als</strong> der mächtigste Politiker seines Landes<br />

zunehmend schamloser agierte: Nicht nur, dass er juristische Ermittlungen<br />

über seine kriminellen Machenschaften einfach ignorierte<br />

oder politisch neutralisierte, um seine privaten Geschäftsinteressen<br />

voranzutreiben; er unterminierte auch systematisch die<br />

grundsätzliche Würde des Staatsoberhaupts. Klassischerweise basiert<br />

die Würde der Politik darauf, dass diese über das Spiel der Partikularinteressen<br />

in der bürgerlichen Gesellschaft erhaben ist: Die<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

26 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: ZVG (Autor)<br />

Politik ist der bürgerlichen Gesellschaft „entfremdet“, sie präsentiert<br />

sich <strong>als</strong> Ide<strong>als</strong>phäre des „Citoyen“ und <strong>als</strong> Gegensatz zu den<br />

egoistischen Interessenkonflikten, die die Sphäre der „Bourgeois“<br />

charakterisieren. Berlusconi hat diese Entfremdung praktisch abgeschafft:<br />

In Italien wurde die staatliche Macht direkt vom gemeinen<br />

Bourgeois ausgeübt, der sie rücksichtslos und unverhohlen<br />

<strong>als</strong> Mittel zum Schutz seiner wirtschaftlichen Interessen benutzte<br />

und die schmutzige Wäsche seiner privaten Ehekonflikte im Stil<br />

einer vulgären Realityshow vor Millionen von Menschen wusch,<br />

die an ihren Fernsehgeräten alles mitverfolgten.<br />

Bei seinen Anstößigkeiten<br />

setzte Berlusconi natürlich darauf,<br />

dass die Menschen sich<br />

mit ihm identifizieren würden,<br />

insofern er das überdimensionale<br />

mythische Bild des Durchschnittsitalieners<br />

abgab: Ich bin<br />

einer von euch, ein bisschen korrupt,<br />

habe Ärger mit dem Gesetz,<br />

kriege Probleme mit meiner<br />

Frau, weil mich andere Frauen<br />

anziehen … Sogar seine grandiose<br />

Selbstinszenierung <strong>als</strong> großer,<br />

nobler Politiker, <strong>als</strong> „il cavalliere“,<br />

glich eher dem lächerlich opernhaften<br />

Traum des armen Mannes<br />

von wahrer Größe. Doch sollten<br />

wir uns von diesem Anschein eines<br />

„normalen Menschen wie<br />

wir alle“ nicht täuschen lassen:<br />

Hinter der Clownsmaske steckte<br />

eine Staatsmacht, die mit schonungsloser<br />

Effizienz operierte.<br />

Auch wenn Berlusconi ein würdeloser<br />

Clown sein mag, sollten<br />

wir daher nicht zu sehr über ihn<br />

lachen – vielleicht spielen wir<br />

nämlich dadurch schon das entsprechende<br />

Spiel mit. Sein Lachen<br />

ähnelte eher dem obszön-irren Lachen der Gegenspieler<br />

von Filmsuperhelden wie Batman oder Spiderman – um uns ein<br />

Bild davon zu machen, wie Berlusconi regiert hat, sollten wir uns<br />

vorstellen, jemand wie der Joker aus Batman wäre an der Macht.<br />

Das Problem ist, dass die Kombination aus technokratisch-ökonomischer<br />

Verwaltung und alberner Fassade alleine nicht ausreicht:<br />

Es ist noch etwas anderes nötig, nämlich Furcht – und<br />

hier kommt Berlusconis zweiköpfiger Drache ins Spiel: Einwanderer<br />

und „Kommunisten“ (Berlusconis Sammelbezeichnung für<br />

jeden, der ihn angriff, einschließlich der rechtsliberalen britischen<br />

Wochenzeitschrift The Economist).<br />

Oriana Fallaci (die Berlusconi ansonsten eher wohlwollend<br />

gegenüberstand) schrieb einmal: „Wahre Macht braucht weder<br />

Arroganz noch einen langen Bart oder eine bellende Stimme.<br />

Wahre Macht erwürgt einen mit Seidenbändern, Charme und<br />

Intelligenz.“ Man muss dieser Aufzählung nur noch eine Portion<br />

dummer Selbstverspottung hinzufügen, dann ist man bei Berlusconi.<br />

„Kung Fu Panda“, eine Animationskomödie, die 2008 zu<br />

Wahre Macht erwürgt<br />

einen mit Seidenbändern,<br />

Charme und Intelligenz<br />

einem Kassenschlager wurde, liefert die Grundkoordinaten der<br />

Funktionsweise von Ideologie in der heutigen Zeit. Der dicke<br />

Pandabär träumt davon, ein ehrwürdiger Kung-Fu-Krieger zu<br />

werden, und <strong>als</strong> er durch einen blinden Zufall (hinter dem natürlich<br />

die Hand des Schicks<strong>als</strong> steckt) zum Helden auserwählt wird,<br />

der seine Stadt retten soll, hat er tatsächlich Erfolg. Der pseudofernöstliche<br />

Spiritualismus des Films wird allerdings permanent<br />

durch einen zynisch vulgären Allerweltshumor unterminiert.<br />

Das Überraschende ist, dass dieses ständige Sich-selbst-durchden-Kakao-Ziehen<br />

die Wirkung des fernöstlichen Spiritualismus<br />

überhaupt nicht beeinträchtigt –<br />

der Film nimmt das Ziel seiner<br />

endlosen Scherze letztlich ernst.<br />

„Kung Fu Panda“ erinnert insofern<br />

an eine berühmte Anekdote<br />

über Niels Bohr: Als sich<br />

ein Forscherkollege, der Bohr<br />

in seinem Landhaus besucht,<br />

überrascht über ein Hufeisen<br />

über dessen Tür zeigt und erklärt,<br />

er teile nicht den Aberglauben,<br />

dass dies böse Geister<br />

vertreibe und Glück bringe,<br />

kontert Bohr: „Ich glaube auch<br />

nicht daran; es hängt da, weil<br />

man mir gesagt hat, dass es auch<br />

wirkt, wenn man nicht daran<br />

glaubt!“ Auf diese Weise wirkt<br />

Ideologie heute: Kein Mensch<br />

nimmt Demokratie oder Gerechtigkeit<br />

mehr ernst, wir alle<br />

wissen um deren Korruptheit,<br />

und dennoch praktizieren wir<br />

sie, das heißt, wir demonstrieren<br />

unseren Glauben an sie, weil wir<br />

annehmen, dass sie auch wirken,<br />

wenn man nicht an sie glaubt.<br />

Deshalb war Berlusconi unser<br />

großer Kung Fu Panda. Vielleicht<br />

stößt das alte Bonmot der Marx Brothers („Dieser Mann<br />

sieht aus und benimmt sich wie ein korrupter Idiot, aber lassen<br />

Sie sich nicht täuschen – er ist ein korrupter Idiot!“) hier an seine<br />

Grenzen: Berlusconi war zwar, was er zu sein schien, aber dennoch<br />

war diese Erscheinung trügerisch.<br />

Aus dem Englischen von Frank Born<br />

Dies ist die gekürzte Fassung eines Beitrags aus dem Buch „Demokratie? Eine<br />

Debatte“, das am 13. August bei Edition Suhrkamp erscheint (14 Euro)<br />

Slavoj žižek<br />

ist Philosoph und weltweit bekannter Kapitalismuskritiker.<br />

Er wurde 1949 in Slowenien geboren und unterrichtet an<br />

der University of London<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 27


T i t e l<br />

„Insel der Glückseligen“<br />

Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel über den schwierigen Umgang mit <strong>Diktator</strong>en,<br />

den Einfluss der Chinesen in Afrika – und über die Zukunft unserer fragilen Demokratie<br />

H<br />

err Niebel, <strong>als</strong> Entwicklungsminister<br />

sind Sie viel in Ländern<br />

unterwegs, die autoritär regiert<br />

werden. Wie geht ein liberaler, demokratisch<br />

gewählter Politiker mit <strong>Diktator</strong>en<br />

um?<br />

Graduell unterschiedlich, weil es weder<br />

weiß noch schwarz gibt. Jedenfalls aber<br />

unter möglichst großer Einbeziehung der<br />

jeweiligen Zivilgesellschaft, wenn in einem<br />

Land keine rechtsstaatlichen Strukturen<br />

vorhanden sind.<br />

Gab es schon Dienstreisen, die Sie am<br />

liebsten abgebrochen hätten, weil Sie<br />

keine Lust mehr hatten, mit Despoten zu<br />

verhandeln?<br />

Es gibt nun mal die Notwendigkeit, mit<br />

Personen Gespräche zu führen, mit denen<br />

man sich privat nicht an einen Tisch<br />

setzen würde. Es ist immer wichtig zu<br />

wissen, wer einem gegenübersitzt – und<br />

wie sich die erwünschten Ziele trotzdem<br />

erreichen lassen. Überall dort, wo keine<br />

entwicklungsorientierte Politik betrieben<br />

wird und wo Menschenrechte mit Füßen<br />

getreten werden, ist eine Regierung<br />

kein Entwicklungspartner unserer Wahl.<br />

Aber zwangsläufig eben doch ein Verhandlungspartner,<br />

weil ja keine andere<br />

Regierung <strong>als</strong> diese vorhanden ist. Trotzdem<br />

kann man unter Umgehung dieser<br />

Regierung, insbesondere durch die Zusammenarbeit<br />

mit Nichtregierungsorganisationen,<br />

einiges für die Bevölkerung<br />

bewirken. Wenn allerdings der Punkt<br />

„Was mir Sorge<br />

bereitet, ist<br />

die Tatsache,<br />

dass einige<br />

Staaten glauben,<br />

Marktwirtschaft<br />

würde auch<br />

ohne Demokratie<br />

funktionieren“:<br />

Dirk Niebel<br />

in seinem<br />

Berliner Büro<br />

erreicht ist, an dem man nichts mehr bewirken<br />

kann, sollte man gehen. Das ist<br />

jedoch immer eine schwierige Abwägung,<br />

weil wir mit einem solchen Schritt auch<br />

unsere Einflussmöglichkeiten verlieren.<br />

Haben Sie in Ihrer Zeit <strong>als</strong> Entwicklungsminister<br />

schon einmal den Totalrückzug<br />

vollzogen?<br />

Das nicht, aber wir haben schon Sanktionen<br />

vorgenommen, wenn zum Beispiel<br />

wie in Malawi Presse- und Versammlungsfreiheit<br />

eingeschränkt, Homosexualität<br />

unter Strafe gestellt und das Wahlrecht<br />

eingeschränkt wurde. Inzwischen<br />

ist der damalige malawische Präsident jedoch<br />

verstorben, und seine Nachfolgerin<br />

dreht diese Fehlentwicklungen wieder zurück.<br />

Das wird honoriert, indem wir ihre<br />

Politik finanziell unterstützen.<br />

Im Moment läuft in den Kinos mit großem<br />

Erfolg Sacha Baron Cohens Film „Der <strong>Diktator</strong>“.<br />

Haben Sie ihn sich angesehen?<br />

Leider nein, ich weiß aber, dass es sich<br />

um eine Parodie auf Gaddafi handeln soll.<br />

Ich kann durchaus verstehen, dass das<br />

zum Lachen anregt, aber wir sollten nicht<br />

vergessen, dass der eigentliche Hintergrund<br />

alles andere <strong>als</strong> komisch ist.<br />

Einer Studie des amerikanischen Forschungsinstituts<br />

„Freedom House“ zufolge<br />

geht der Demokratisierungsprozess<br />

in Osteuropa und Eurasien nur sehr unbefriedigend<br />

voran: Bei zehn der 29 untersuchten<br />

Staaten stagnierte die demokratische<br />

Entwicklung, in elf Ländern ging sie<br />

sogar zurück. Warum ist die Demokratie<br />

offenbar auf dem Rückzug?<br />

Die Gegend, von der Sie sprechen, gehört<br />

nur bedingt zum Gebiet, um das<br />

sich mein Ministerium kümmert. Aber<br />

viele der Länder, von denen die Rede ist,<br />

sind traditionell von Clanstrukturen geprägt.<br />

Ich könnte mir vorstellen, dass das<br />

zu der von Ihnen genannten Entwicklung<br />

beiträgt.<br />

Wie stellen Sie <strong>als</strong> Entwicklungsminister<br />

sicher, dass das Geld der deutschen<br />

Steuerzahler auch bei der Bevölkerung<br />

Foto: Andreas Pein<br />

28 <strong>Cicero</strong> 7.2012


ankommt – und nicht in den Taschen von<br />

irgendwelchen Despoten landet?<br />

Indem wir Projektfinanzierung betreiben<br />

und nicht die sogenannte Budgethilfe,<br />

wie es früher der Fall war. Es gibt<br />

heute nur noch sieben Länder, deren allgemeine<br />

Haushalte von Deutschland finanziell<br />

unterstützt werden; in allen<br />

Fällen handelt es sich um alte Verpflichtungen,<br />

die ich <strong>als</strong> Minister von meinen<br />

Vorgängern übernommen habe. Wer dagegen<br />

konkrete Projekte finanziert, kann<br />

auch konkrete Fortschritte messen und<br />

einfordern.<br />

Sie sind ja auch Handlungsreisender in<br />

Sachen Demokratie. Wird es zunehmend<br />

schwieriger, für diese Staatsform zu<br />

werben?<br />

Nein, aber ich habe das Gefühl, dass Demokratie<br />

für manche unserer Partnerländer<br />

doch etwas sehr Ungewohntes ist. Ich<br />

reise ja oft mit deutschen Parlamentariern<br />

auch aus den Oppositionsparteien,<br />

die sich durchaus an den Gesprächen mit<br />

ausländischen Regierungen beteiligen<br />

können. Das führt dazu, dass in solchen<br />

Situationen auf deutscher Seite unterschiedliche<br />

Meinungen artikuliert werden.<br />

Wenn ich dann unsere Gesprächspartner<br />

darauf hinweise, dass die eine<br />

oder andere Meinung nicht mit jener der<br />

deutschen Bundesregierung korrespondiert,<br />

führt das mitunter zu einigem Erstaunen.<br />

Nämlich darüber, dass man unterschiedliche<br />

Ansichten haben kann,<br />

ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen.<br />

Gerade für die Menschen in vielen afrikanischen<br />

Entwicklungsländern sind nicht<br />

mehr Demokratien westlichen Typs das<br />

Vorbild, sondern autoritäre Marktwirtschaften<br />

neuen Typs wie China. Beunruhigt<br />

Sie das nicht?<br />

Da muss ich Ihrer Vorstellung von Afrika<br />

doch entschieden widersprechen.<br />

Afrika ist ein Kontinent mit 54 souveränen<br />

Staaten auf unterschiedlichem Entwicklungsniveau<br />

– von Somalia bis hin<br />

zur Republik Südafrika. In vielen dieser<br />

Länder gibt es gut funktionierende<br />

Demokratien, in denen auch die Regierungswechsel<br />

gewaltfrei und nach<br />

demokratischen Spielregeln vonstattengehen.<br />

Und was die chinesische Entwicklungszusammenarbeit<br />

angeht, ist<br />

diese für Afrika sehr hilfreich, weil da<br />

Infrastrukturmaßnahmen gestemmt werden,<br />

die wir überhaupt nicht finanzieren<br />

könnten. Zum Beispiel bauen die Chinesen<br />

im Norden von Ghana eine Eisenbahnlinie<br />

für sechs Milliarden Dollar –<br />

das entspricht einer Summe, die mein<br />

Ministerium für die ganze Welt zur Verfügung<br />

hat. In diesen Wettbewerb brauchen<br />

wir uns <strong>als</strong>o gar nicht zu begeben.<br />

Auf der anderen Seite hat die Regierung<br />

von Ghana uns darum gebeten, gemeinsam<br />

mit einem deutschen Privatunternehmen<br />

dabei zu helfen, die Transparenz<br />

bei den Geldflüssen aus der kommerziellen<br />

Öl- und Gasproduktion herzustellen.<br />

Die Ghanaer wissen unsere Expertise auf<br />

diesem Gebiet <strong>als</strong>o durchaus zu schätzen.<br />

Demokratie westlichen Typs ist <strong>als</strong>o in den<br />

meisten Ländern der Dritten Welt immer<br />

noch ein Modell mit Vorbildcharakter?<br />

Ich glaube schon, dass demokratische<br />

Strukturen auf allen Kontinenten <strong>als</strong> etwas<br />

Positives angesehen werden. Wir sollten<br />

uns allerdings nicht, wie zu Beginn<br />

des Afghanistan-Einsatzes, der Illusion<br />

hingeben, dass sich in Gesellschaften mit<br />

archaischen Stammesstrukturen einfach<br />

so die Demokratie implantieren ließe. Es<br />

wird immer einen regionalen Adaptionsmechanismus<br />

geben.<br />

Freiheit ist für Ihre Partei der zentrale<br />

Grundwert, genauso wie die Marktwirtschaft<br />

– beide galten <strong>als</strong> untrennbar und<br />

noch dazu <strong>als</strong> die Grundlage für funktionierende<br />

Demokratie. Inzwischen funktioniert<br />

Marktwirtschaft auch ganz gut ohne<br />

bürgerliche Freiheiten. Ist das das Modell<br />

der Zukunft?<br />

Was mir Sorge bereitet, ist die Tatsache,<br />

dass einige Staaten glauben, Marktwirtschaft<br />

würde tatsächlich ohne Demokratie<br />

funktionieren. Auch China hätte<br />

diesen wirtschaftlichen Erfolg ohne bürgerliche<br />

Freiheitsrechte so nicht hinbekommen.<br />

Je mehr der Wohlstand<br />

dort steigt, umso mehr wächst auch der<br />

Wunsch nach individueller Freiheit.<br />

Es gibt einige Chinesen, die würden Ihre<br />

These von wegen der bürgerlichen Freiheiten<br />

rundweg abstreiten, Menschenrechtler<br />

etwa oder Künstler wie Ai Weiwei …<br />

Ich habe ja nicht gesagt, dass die Situation<br />

in China westlichen Standards<br />

entspricht. Aber im Vergleich zu Maos<br />

Zeiten haben die chinesischen Bürgerinnen<br />

und Bürger doch ungleich mehr<br />

Freiheitsrechte. Man muss doch auch den<br />

Weg sehen, den dieses Land zurückgelegt<br />

hat.<br />

Machen Sie sich manchmal Sorgen um die<br />

Zukunft der Demokratie?<br />

Ich sorge mich grundsätzlich darum,<br />

weil Demokratie immer wieder gewonnen<br />

werden muss. Es ist wie mit der Freiheit:<br />

Wenn man sie <strong>als</strong> selbstverständlich<br />

erachtet, merkt man ihr Verschwinden<br />

erst, wenn es zu spät ist. Wir dürfen<br />

nicht vergessen, dass wir hier in Deutschland<br />

auf einer Insel der Glückseligen leben.<br />

Das wird mir immer besonders bewusst,<br />

wenn ich nach einer Reise wieder<br />

hier ankomme.<br />

Ihr Parteifreund Guido Westerwelle hat<br />

gemeinsam mit Ihnen zu einem sehr frühen<br />

Zeitpunkt des Arabischen Frühlings<br />

auf dem Tahrir-Platz in Kairo die Entwicklung<br />

in dieser Weltregion gefeiert. Haben<br />

Sie, hat der ganze Westen sich zu früh<br />

gefreut?<br />

Nein. Ich habe unmittelbar nach Beginn<br />

des Arabischen Frühlings drei Fonds auf<br />

den Weg gebracht: für Demokratieförderung,<br />

für Bildung und Berufsbildung sowie<br />

für wirtschaftliche Entwicklung, weil<br />

ich wusste, dass diese Bewegung zwei<br />

Antworten braucht, nämlich eine politische<br />

und eine ökonomische. Wir versuchen,<br />

den Demokratisierungsprozess in<br />

den betroffenen Ländern zu unterstützen,<br />

auch wenn uns klar ist, dass dieser<br />

Prozess nicht unbedingt nach westlichem<br />

Muster verlaufen wird. Denn im Endeffekt<br />

müssen alle Länder selbst entscheiden,<br />

welches für sie der richtige demokratische<br />

Weg ist. Vielleicht sollten gerade<br />

wir in Deutschland uns da ein bisschen<br />

mit Kritik zurücknehmen – immerhin<br />

handelt es sich bei CDU und CSU<br />

ja auch um christliche Parteien. Warum<br />

<strong>als</strong>o nicht auch mit einer moderaten islamischen<br />

Partei Gespräche führen? Der<br />

Prozess in den Ländern des Arabischen<br />

Frühlings ist jedenfalls noch lange nicht<br />

zu Ende. Und ja: Er könnte unseren Vorstellungen<br />

zufolge auch ein schlechtes<br />

Ende nehmen, muss er aber nicht.<br />

Das Gespräch führten Alexander Marguier<br />

und Christoph Schwennicke<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 29


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Der empörungsautomat<br />

Wenige kennen Bernd Riexinger – und die ihn kennen, reden nicht gut über den neuen Chef der Linkspartei<br />

von Reinhard Mohr<br />

D<br />

a stand er plötzlich auf der<br />

Bühne der Lokhalle in Göttingen<br />

und wusste selbst nicht, wie ihm<br />

geschah. Eine Woche zuvor hatte Bernd<br />

Riexinger, 56, noch nicht die geringste Ahnung<br />

von seinem bevorstehenden Karrieresprung.<br />

Oskar Lafontaine und Gregor Gysi,<br />

Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch –<br />

das waren die großen Antipoden des verzweifelten<br />

Machtkampfs um die Führung<br />

der krisengeschüttelten Linken. Ihn<br />

kannte kaum einer, selbst in der eigenen<br />

Partei nicht.<br />

Und dann passierte es. Als sich die<br />

Polit-Elefanten endgültig gegenseitig blockiert<br />

hatten, schlug Riexingers Stunde:<br />

Der Genosse Parteisoldat wurde General.<br />

„Hinbestellt und reingewählt“, so beschreibt<br />

ein Insider den Coup der Lafontaine-Fraktion,<br />

den Verdi-Geschäftsführer<br />

des Bezirks Stuttgart und Landessprecher<br />

in Baden-Württemberg zum zweiten Bundesvorsitzenden<br />

der Linkspartei zu küren.<br />

Zwar entsprachen die 53,5 Prozent, die er<br />

erhielt, nicht gerade dem üblichen Spitzenergebnis<br />

sozialistischer Krönungsmessen,<br />

dafür aber wurde von seinen Genossen<br />

anschließend lautstark die Internationale<br />

angestimmt und der unterlegenen Bartsch-<br />

Fraktion der Antifa-Refrain „Ihr habt den<br />

Krieg verlor’n!“ entgegengeschleudert.<br />

Nun <strong>als</strong>o soll ausgerechnet der Mann<br />

die zerstrittenen Lager einen, der selbst <strong>als</strong><br />

linker Hardliner und Freund, ja „Marionette“<br />

und „Schießbudenfigur“ Lafontaines<br />

gilt. Ein schlechtes Omen kam umgehend<br />

aus der Zollernalb: Der dortige<br />

Kreisvorstand trat geschlossen zurück.<br />

Begründung: Mit Riexinger an der Bundesspitze<br />

sehe man keine Möglichkeit mehr,<br />

die nächsten Wahlen erfolgreich zu bestehen:<br />

„Bernd Riexinger <strong>als</strong> herausgehobener<br />

Vertreter jener Mischung aus gewerkschaftlichen<br />

Dogmatikern und städtisch<br />

geprägten Demo-Linken wird Die Linke<br />

noch tiefer in die Krise treiben.“ Auch die<br />

„zum Wesen der Linken gehörende Leidensfähigkeit“<br />

habe „Grenzen“.<br />

„Streiken ist wie Fahrradfahren:<br />

Man verlernt es nicht so schnell“<br />

Bernd Riexinger<br />

Der gelernte Bankkaufmann fing bei<br />

der Leonberger Sparkasse an, wechselte<br />

aber schon mit 25 Jahren vom Bankschalter<br />

ins Büro des freigestellten Betriebsrats.<br />

1991 wurde er hauptamtlicher Sekretär der<br />

Gewerkschaft „Handel, Banken und Versicherungen“<br />

(HBV), die 2001 im Verbund<br />

der neu gegründeten Organisation<br />

Verdi aufging. Seitdem sitzt er, nun auch<br />

schon elf Jahre lang, <strong>als</strong> Verdi-Bezirkschef<br />

in Stuttgart – ein lupenreiner Gewerkschaftsfunktionär.<br />

Kürzlich bilanzierte er<br />

auf einem Kongress mit dem zumindest<br />

grammatikalisch wagh<strong>als</strong>igen Titel „Marx<br />

is’ muss“ voller Stolz die rekordverdächtige<br />

Zahl von Streiktagen in seinem Bezirk:<br />

„Streiken ist ein bisschen wie Fahrradfahren:<br />

Wenn man es erst mal erlernt hat, dann verlernt<br />

man es auch nicht so schnell wieder.“<br />

Die Stuttgarter Zeitung nennt Riexinger,<br />

der für ein Gespräch mit <strong>Cicero</strong> keine<br />

Zeit fand, einen persönlich „sehr umgänglichen<br />

Menschen, ohne die Attitüde eines<br />

selbstgerechten Besserwissers“ – doch gerade<br />

Kollegen anderer Gewerkschaften<br />

zeichnen ein sehr kritisches Bild. „Er ist<br />

ein staatsgläubiger vulgärmarxistischer Brachial-Keynesianer“,<br />

sagt ein DGB‐Kollege<br />

in Berlin, seinem „altlinken Weltbild geradezu<br />

übertreu“, politisch aber „ohne jeden<br />

Instinkt, eine strategische Niete“. Tatsächlich<br />

scheint der Staat für Riexinger ein Gegner,<br />

wenn nicht Feind zu sein, dem man<br />

möglichst viele finanzielle Zugeständnisse<br />

abpressen muss: Je mehr Stellen im öffentlichen<br />

Dienst, desto besser. Für Differenzierungen<br />

ist da kein Platz. Es gibt es nur<br />

rechts und links, oben und unten.<br />

Typisch sein Verhalten während eines<br />

Streiks im öffentlichen Dienst, von dem<br />

auch die Kitas betroffen waren: Als auch<br />

nach zehn Tagen noch kein neues Angebot<br />

der Arbeitgeber vorlag, empfahl er eine<br />

konsequente Fortsetzung. Als Druckmittel<br />

gegen die Kommunen wollte er ganz gezielt<br />

die entnervten Eltern einsetzen, ganz<br />

so, <strong>als</strong> handle es sich um Zulieferbetriebe<br />

für Automobilkonzerne.<br />

Hier wird der „Streik <strong>als</strong> Mittel zur<br />

persönlichen und politischen Profilierung<br />

missbraucht“, urteilt ein anderer Gewerkschafter,<br />

dem Riexingers „rückwärtsgewandtes<br />

Schwarz-Weiß-Denken“ suspekt<br />

ist – weder „zeitgemäß“ noch „zukunftstauglich“.<br />

Tatsächlich fühlt man sich, wenn<br />

man sich dessen Reden auf Youtube anschaut,<br />

in die Zeit der fünfziger und sechziger<br />

Jahre versetzt. Man könnte glauben, der<br />

Mann habe sich seit Jahrzehnten nicht weiterentwickelt.<br />

Zwar beteiligt er sich fleißig<br />

an allen außerparlamentarischen Protestmoden<br />

– von „Stuttgart 21“ bis „Blockupy<br />

Frankfurt“ –, aber seine eingebaute, immer<br />

etwas leiernde Empörungsautomatik wirkt<br />

altbacken, einstudiert und abgelesen. Auf<br />

unbefangene Zuhörer hat sie einen deutlich<br />

einschläfernden Effekt. Seine Wirkung<br />

auf die Partei dürfte ähnlich sein.<br />

Reinhard Mohr ist Autor<br />

und lebt in Berlin. Zuletzt<br />

erschien sein Buch „Meide deinen<br />

Nächsten – Beobachtungen<br />

eines Stadtneurotikers“<br />

Fotos: DPA/Picture Alliance, Privat (autor)<br />

30 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Wer Bernd Riexinger<br />

zuhört, fühlt sich in die<br />

fünfziger und sechziger<br />

Jahre zurückversetzt<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 31


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Phantom am see<br />

Olaf Glaeseker, einst wichtigster Berater von Christian Wulff, bleibt auch in seinem Heimatdorf unsichtbar<br />

von Constantin Magnis<br />

A<br />

ls Glaeseker schlieSSlich ging,<br />

ging er leise und grußlos. Schon<br />

Tage vor seiner Entlassung, erzählen<br />

Kollegen, habe er gewissermaßen begonnen<br />

zu verschwinden: Der sonst so joviale<br />

Zwei-Meter-Mann mit dem glänzenden<br />

Schädel schien nicht mehr ganz bei sich,<br />

igelte sich ein, beantwortete kaum noch<br />

Anrufe, wirkte grüblerisch und gereizt.<br />

Und dann war er weg. 13 Jahre lang war<br />

Olaf Glaeseker Christian Wulffs Sprecher,<br />

Spin-Doctor und engster Berater, manche<br />

sagten: sein Bauchredner. Wenn Menschen<br />

wie er, die Strippenzieher hinter den Kulissen,<br />

das politische Theater verlassen, dann<br />

meist auf Zehenspitzen, um die Illusion<br />

der Bühnendarstellung nicht zu gefährden.<br />

Dass Glaeseker im Zuge der Wulff-<br />

Affäre <strong>als</strong>o schließlich so diskret sein Amt<br />

verließ, zwei Tage vor Weihnachten, ohne<br />

Begründung, verwunderte vorerst nicht<br />

weiter. Erst <strong>als</strong> seine Mailboxansage auch<br />

Wochen später noch ein „Frohes Weihnachtsfest“<br />

wünschte, <strong>als</strong> seine Festnetznummer<br />

auf einmal nicht mehr funktionierte,<br />

er auch enge Bekannte nicht mehr<br />

zurückrief und selbst SMS unbeantwortet<br />

blieben, begann man sich zu wundern.<br />

Olaf Glaeseker, so schien es, war spurlos<br />

verschollen.<br />

Nicht, dass die Presse sich bei der Spurensuche<br />

verausgabt hätte. Zum einen<br />

schützten Glaeseker <strong>als</strong> langjährigen Vermittler<br />

informativer Gefälligkeiten die vielen<br />

Duzfreunde der Hauptstadtredaktionen,<br />

zum anderen hielt man ihn zunächst<br />

für das Bauernopfer seines Dienstherrn.<br />

Dass die Sache doch komplizierter war,<br />

wurde klar, <strong>als</strong> die Staatsanwaltschaft im<br />

Januar wegen des Verdachts auf Bestechlichkeit<br />

Razzien in Glaesekers Privaträumen<br />

in Berlin und seinem Wohnhaus in<br />

Steinhude durchführte. In Berlin wusste<br />

scheinbar niemand, wo Glaeseker steckte.<br />

Aber vielleicht hatte ja in Steinhude am<br />

Steinhuder Meer jemand eine Idee.<br />

Die Belegschaft des alten Fischerdörfchens<br />

an Nordwestdeutschlands größtem<br />

ZUR PERSON<br />

Olaf Glaeseker, geboren 1961, war<br />

seit 1999 Sprecher und engster Berater<br />

von Christian Wulff. Während<br />

dessen Privatkredit-Affäre<br />

demissionierte er am 22. Dezember<br />

2011 <strong>als</strong> Sprecher des Bundespräsidialamts.<br />

Seit Januar ermitteln<br />

Staatsanwälte, weil Glaeseker<br />

<strong>als</strong> niedersächsischer Regierungssprecher<br />

die Veranstaltungsreihe<br />

„Nord-Süd-Dialog“ „gefällig gefördert“<br />

und dafür beim Veranstalter<br />

Manfred Schmidt in dessen Feriendomizilen<br />

mehrfach unentgeltlich<br />

Urlaub gemacht haben soll.<br />

See lässt sich grob in drei Gruppen einteilen:<br />

Establishment, allen voran die Besitzer<br />

der Hotels, Bootsverleihe und Aalräuchereien<br />

am historischen Hafen. Dann die<br />

Laufkundschaft: Rentnerkolonnen, Damen<br />

mit lilastichiger Kurzhaarfrisur, Herren<br />

mit beigefarbenen Jacketts, die täglich<br />

aus den Reisebussen klettern, um über die<br />

Kuchenbuffets der Promenadencafés herzufallen.<br />

Und zuletzt die Zugezogenen, unter<br />

ihnen Olaf Glaeseker.<br />

Seine Frau Vera, Juristentochter, ebenfalls<br />

Journalistin und <strong>als</strong> Sprecherin der niedersächsischen<br />

CDU gar kurzzeitig Nachfolgerin<br />

ihres Mannes, stammt aus dem<br />

Ort. Drei Blocks vom Bungalow ihrer Eltern<br />

entfernt kaufte das Ehepaar Glaeseker<br />

sich 1999 ein eigenes Haus, Olaf war gerade<br />

<strong>als</strong> Sprecher in die Dienste des dam<strong>als</strong> noch<br />

glücklosen niedersächsischen Oppositionsführers<br />

Wulff getreten.<br />

Es ist ein einfaches, schmuckloses Gebäude:<br />

kein Hinweis auf die Residenz einer<br />

der einflussreichsten Figuren der deutschen<br />

Politik. Zum Einzug klingelt Glaeseker bei<br />

jedem Nachbar, stellt sich persönlich vor.<br />

„Ein Riese mit nettem Gesicht“, erinnert sich<br />

die Frau von gegenüber. Viel mehr haben<br />

die meisten Nachbarn auch 13 Jahre später<br />

nicht über den Zugezogenen zu sagen. Hier<br />

lieh Glaeseker sich mal ein Spaltgerät, um<br />

Holz für seinen Kamin zu machen, dort traf<br />

ihn mal einer beim Joggen, manchmal sah<br />

man ihn am Wochenende Brötchen kaufen<br />

und vor Jahren sogar beim Schützenfest.<br />

Man weiß, dass seine Lieblingsrose den<br />

harten Winter nicht überlebt hat, und dass<br />

er gelegentlich im See schwimmen geht.<br />

Ansonsten bleibt Glaeseker ein Gesicht<br />

im Auto, das am Samstag um die Kurve<br />

kam, am Sonntag wieder fuhr. Schon ein<br />

paar Straßen weiter wissen die meisten<br />

Steinhuder nicht einmal das, weder in der<br />

Orts-CDU noch im Lions Club, weder in<br />

den Sportvereinen noch den vielen Restaurants<br />

am alten Hafen. Dass er hier war,<br />

erfuhr man in Steinhude erst so wirklich,<br />

<strong>als</strong> nach der Hausdurchsuchung die TV-<br />

Teams anrückten und Glaeseker bereits <strong>als</strong><br />

abgetaucht galt.<br />

„Damit einer abtauchen kann, muss er<br />

doch erst einmal auftauchen“, sagt Ortsbürgermeister<br />

Jürgen Engelmann, runde<br />

Nase, Vollbart, Polohemd. Er kennt fast<br />

jedes Gesicht hier im Ort, aber Glaeseker,<br />

da ist er sich sicher, traf er nur einmal. Das<br />

war vor Jahren, in der Weinscheune, <strong>als</strong><br />

der Wirt sie einander vorstellte. Glaesekers<br />

Händedruck war kräftig, sein Lächeln breit,<br />

er lobte den Bürgermeister für die Stadtentwicklung,<br />

dann sah Engelmann ihn<br />

nie wieder. „Ich glaube, Glaeseker kennt<br />

hier eigentlich niemand so richtig.“ Dann<br />

fällt ihm doch einer ein. Er zückt das<br />

Telefonbuch.<br />

„Abgetaucht?“ Der gebräunte Wirt mit<br />

dem Kinnbärtchen spitzt skeptisch die Lippen.<br />

„Ich bitte Sie, Herr Glaeseker ist bis<br />

heute unser Stammkunde.“ Schon in seiner<br />

Weinscheune sei Glaeseker regelmäßig für<br />

Sherry- und Weinproben vorbeigekommen,<br />

oft mit seiner Frau, gelegentlich auch mit<br />

Christian Wulff. Zuletzt wurde Vera Glaeseker<br />

sogar Taufpatin für den hauseigenen<br />

Sekt „Steinhuder Bootschaft“.<br />

Foto: Guido Ohlenbostel/Action Press<br />

32 <strong>Cicero</strong> 7.2012


„Ich bespreche gern<br />

mit meinem Anwalt,<br />

ob es sinnvoll<br />

ist, mit Ihnen<br />

ein Hintergrundgespräch<br />

zu führen“<br />

Per Handy und SMS hält der gewiefte PR-Profi<br />

Olaf Glaeseker unliebsame Fragesteller auf Distanz<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 33


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Vor ein paar Jahren hat der Wirt Steinhude<br />

verlassen, um einige Orte weiter, auf<br />

einem Hügel mit Seeblick, ein Gourmetrestaurant<br />

zu eröffnen. Erst vor kurzem<br />

sei Glae seker wieder einmal mit Wulff zusammen<br />

dort gewesen, meint der Koch<br />

sich zu erinnern, für ein Wildmenü. An<br />

Glaesekers Besuchsfrequenz und Essgewohnheiten<br />

habe sich in den vergangenen<br />

Monaten jedenfalls nichts geändert: Noch<br />

immer habe er eine Vorliebe für mediterrane<br />

Weine, Feta Provencale und den italienischen<br />

Winzerteller, noch immer denselben,<br />

trockenen Humor. Vor einigen Jahren,<br />

erzählt der Wirt, habe Glaeseker ihm einen<br />

Spätburgunder geschenkt. Irgendwann<br />

habe er ihm dann bei einer Blindweinprobe<br />

den gleichen Wein untergejubelt, und<br />

Glaeseker habe ihn nicht wiedererkannt.<br />

Obwohl der dam<strong>als</strong> das Bouquet in den<br />

Himmel gelobt hatte. Mit Glaeseker selbst<br />

ist es ähnlich: Er war gar nicht weg. Es hat<br />

nur keiner gemerkt.<br />

Die vergangenen Tage wirkte das Haus<br />

noch verlassen. Lichter aus, Tor zu, davor<br />

die gelben Säcke. Auf einmal waren die Säcke<br />

weg und das Tor auf. Das hätte einen<br />

einstimmen können. Aber dass Glaeseker<br />

dann einfach so im Abendrot auf dem Fahrrad<br />

um die Ecke biegt, <strong>als</strong> wäre nichts gewesen,<br />

<strong>als</strong> würde nicht halb Berlin rätseln,<br />

wo er steckt, das überrumpelt einen dann<br />

doch. Die hünenhafte Gestalt in Chino-<br />

Pants, Segelschuhen und blauer Sportjacke<br />

Viele Jahre unzertrennlich: Olaf Glaeseker war nicht nur Sprecher, sondern<br />

auch engster Berater des Bundespräsidenten Christian Wulff …<br />

… mit dem er sich angeblich immer noch privat trifft, zum Beispiel in diesem<br />

Feinschmeckerlokal, ganz in der Nähe von Glaesekers Wohnort Steinhude<br />

radelt vorbei, hin und her und immer wieder<br />

um den Block. Dabei telefoniert er, lachend<br />

und offenbar gut gelaunt. Was soll<br />

man machen? Aus dem Auto springen, ihn<br />

festhalten, damit er nicht entwischt und<br />

mit ihm die Geschichte? Rufen? Hupen?<br />

Nicht, dass er vom Fahrrad fällt. Ein Überfall<br />

im Dunklen wäre ohnehin kein vielversprechender<br />

Kontaktversuch. Also ein hastig<br />

gekrakelter Zettel: Man wolle ihn nicht<br />

erschrecken, sei in Steinhude auf Recherche,<br />

hätte Fragen über die Zeit nach seinem<br />

Amt, würde morgen bitte gerne mit ihm<br />

persönlich sprechen. Inzwischen brennt<br />

Licht im Heim der Glae sekers. Der verloren<br />

Geglaubte ist wieder zu Hause. Um<br />

nicht <strong>als</strong> Unbekannter bei Nacht bis zum<br />

Briefkasten an der Haustüre herumschleichen<br />

zu müssen, klemmt man das Papier<br />

an den Scheibenwischer des babyblauen<br />

Fiats, der seit heute vor der Garage parkt.<br />

Der Weg dorthin ist lang genug. Der Kies<br />

knirscht viel zu laut auf dem Asphalt. Und<br />

schließlich springt das Alarmlicht im Hof<br />

an. Der Gedanke, im Haus gerade Panik<br />

auszulösen, löst kurz Panik aus.<br />

Am Morgen schickt Olaf Glaeseker<br />

seine erste SMS: „Vielen Dank für Ihre<br />

freundlichen Zeilen. Ich bespreche gerne mit<br />

meinem Anwalt, ob es sinnvoll ist, mit Ihnen<br />

zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Hintergrundgespräch<br />

zu führen. Ich komme dann<br />

ggf. gerne auf Sie zu. Kollegialen Gruß, Ihr<br />

Olaf Glae seker“. Kein gutes Signal für einen<br />

Reporter, der am nächsten Tag abreisen<br />

muss. Und gleichzeitig die Reaktion<br />

eines Profis wie aus dem Handbuch der<br />

Krisenkommunikation: freundlich hinhalten,<br />

bis der Sturm vorüberzieht. Eine SMS<br />

zurück über den Gartenzaun des PR-Strategen:<br />

Man wolle, nur zur Klarstellung, gar<br />

nicht über Gegenstände eines juristischen<br />

Verfahrens sprechen, lediglich über seine<br />

jetzige Situation, und wie er sie erlebe.<br />

Glaeseker wäre nicht der Mann, der aus<br />

dem staubtrockenen Osnabrücker Wulff<br />

den zeitweilig beliebtesten Politiker des<br />

Landes machte, der dafür sorgte, dass Wulff,<br />

nachdem er seine Frau verlassen hatte, für<br />

sein neues Liebesglück gefeiert, statt <strong>als</strong> Ehebrecher<br />

durchs Boulevard getrieben wurde,<br />

wenn er mit dieser Lage nicht umzugehen<br />

wüsste. „Bitte glauben Sie mir:“, textet er drei<br />

Stunden später zurück, „Ich habe großes Verständnis<br />

für Ihr Anliegen. Insbesondere, weil<br />

ich meinen Job immer in allererster Linie und<br />

mit großer Leidenschaft <strong>als</strong> ‚Dienstleister‘ für<br />

Fotos: Daniel Biskup/Laif, Michael Löwa<br />

34 <strong>Cicero</strong> 7.2012


F r a u F r i e d f r a g t s i c h . . .<br />

Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: privat<br />

meine Kolleginnen und Kollegen gelebt habe.<br />

Deswegen will ich Ihnen auch helfen. Das<br />

kann ich aber nur, wenn zwischen uns klar<br />

ist, dass Sie nicht mit mir gesprochen haben.<br />

Insofern müssten Sie das, was ich bereit bin, Ihnen<br />

hier jetzt v e r t r a u l i c h zu schreiben,<br />

meinen Freunden, Bekannten, jenen, die mich<br />

gut kennen, <strong>als</strong> Einschätzung über mich zuschreiben.“<br />

Es folgen Informationen, die in<br />

ihrer Allgemeinheit von jeder Aalverkäuferin<br />

hätten gemutmaßt werden können. „Bitte<br />

gehen Sie vertrauensvoll mit diesen Einschätzungen<br />

um“, schließt Glaeseker. „Ich verlasse<br />

mich auf Sie. Kein Zitat, alles unter 2+3.“<br />

Unter „zwei“ und unter „drei“ nennt man<br />

im politischen Berlin vertrauliche Informationen,<br />

die entweder verschleiert („wie aus Regierungskreisen<br />

verlautet“) oder überhaupt<br />

nicht verwendet werden dürfen.<br />

Neuer Kenntnisstand gleich null, und<br />

trotzdem beschleicht den Empfänger das<br />

Gefühl, nun in der Schuld des Absenders<br />

zu stehen, von ihm ablassen zu müssen.<br />

Das muss einem erst einmal gelingen.<br />

Glaeseker, dessen Erfolg zu Amtszeiten<br />

auch darin bestand, Journalisten mit ausgewählten<br />

Informationen anzufüttern und<br />

gleichzeitig zu zähmen, agiert <strong>als</strong> Spin-<br />

Doctor in eigener Sache.<br />

Der Reporter nimmt noch einen Anlauf:<br />

So einfach darf man sich nicht abwimmeln<br />

lassen. Wieder eine lange SMS an<br />

Glaeseker: Man könne seine Worte nicht<br />

Freunden oder Bekannten in den Mund legen.<br />

Das wäre eine Fälschung. Der SMS-<br />

Verkehr am Steinhuder Meer sei bereits Teil<br />

der Geschichte, ebenso wie die Umstände,<br />

unter denen er zustande kam. Ob man<br />

nicht bitte doch reden könne. Glae sekers<br />

Antwort, in 1187 getippten, verbindlichen<br />

wie freundlichen Zeichen: Nein.<br />

Am nächsten Tag scheint die Sonne,<br />

und diesmal ist der Besuch trotzig angekündigt,<br />

per SMS natürlich. Die frisch<br />

gepflanzten englischen Rosen wippen zufrieden<br />

im Wind, vom Fenstersims blickt<br />

ein weißer Porzellanhengst auf den Besucher<br />

herab. Die Türklingel verhallt im<br />

menschenleeren Haus. Das Auto ist weg.<br />

Glaeseker auch. Als wäre er nie da gewesen.<br />

Typisch.<br />

Constantin Magnis<br />

ist Reporter von <strong>Cicero</strong><br />

… ob sich Frauen wirklich<br />

für Fußball begeistern –<br />

oder nur so tun<br />

F<br />

rüher durften Männer<br />

rauchend auf dem Krankenhausflur<br />

herumgehen, statt<br />

im Kreißsaal Schwestern und Ärzte<br />

bei der Arbeit zu behindern. Sie durften<br />

einmal die Woche zum Stammtisch<br />

und am Samstag zum Fußball.<br />

Ohne Frauen.<br />

Heute müssen Männer bei<br />

Geburten dabei sein. Stammtisch ist<br />

abgeschafft. Und Fußball ohne Frauen<br />

geht auch nicht mehr. Angetan mit<br />

Trikot und Fan-Schal drängeln sich<br />

die Damen in den Stadien und beim<br />

Public Viewing und führen sich auf,<br />

<strong>als</strong> ginge es um ihr Leben. Dabei ist<br />

Fußball Männersache. Nie kann man<br />

Männer so glücklich und so unglücklich<br />

erleben wie beim Fußball. Sie schreien, schimpfen, lachen und weinen. Sie<br />

tun, was sie sonst selten tun: Sie zeigen Gefühl. Während der Ball rollt, ist alles andere<br />

unwichtig. Vor allem die Frauen. Und das stinkt denen natürlich. Da zeigen<br />

ihre Männer endlich einmal Leidenschaft – und sie sollen nicht dabei sein? Fußball<br />

ist der natürliche Feind der Frau. Und wer seinen Feind nicht besiegen kann – der<br />

versucht, ihn sich zum Verbündeten zu machen.<br />

Deshalb, meine Damen, nehme ich euch die Fußballbegeisterung nicht ab. Ihr<br />

würdet sie gern empfinden, aber sie bleibt Pose. Wie Vampire dockt ihr an der Leidenschaft<br />

der Männer an und zapft so viel davon ab, wie es geht. In den 90 Minuten<br />

eines Spiels erlebt ihr mehr Spannung <strong>als</strong> sonst in einem ganzen Jahr eures<br />

Lebens. Aber die meisten von euch haben keine Ahnung, was tatsächlich auf<br />

dem Spielfeld passiert. Ihr kommentiert die neue Frisur von Mario Gomez und<br />

den Hintern von Didier Drogba, ihr bemitleidet den armen Schweini, weil er den<br />

entscheidenden Elfmeter verschossen hat („Schau mal! Er sieht aus wie ein trauriger<br />

Welpe!“), und vielleicht rechnet ihr noch aus, wie viele Wellnessurlaube man<br />

mit der Ablösesumme von 93 Millionen Euro machen könnte, die Real Madrid für<br />

Ronaldo hingeblättert hat.<br />

An sich ist Ahnungslosigkeit in Sachen Fußball keine Schande – man kann damit<br />

sogar polnische Sportministerin werden, wie das Beispiel von Joanna Mucha<br />

zeigt. Die fragte beim Pokalfin<strong>als</strong>piel, wer denn die Mannschaften ausgewählt habe,<br />

die gegeneinander antraten. Ein andermal soll sie gefragt haben, warum einer der<br />

Spieler nur herumstehe. Es war der Torwart.<br />

Trotzdem, meine Damen. Männer haben’s doch eh schon schwer. Wir Frauen<br />

graben ihnen überall das Wasser ab. Stürmen auf der Karriereleiter voran, sind<br />

kurz davor, die Führungsetagen zu erobern und erwarten obendrein, dass sie zu<br />

Hause den Abwasch machen. Lasst den armen Kerlen wenigstens eine Sache, bei<br />

der sie vor uns sicher sind!<br />

Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />

Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen aufwirft<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 35


| B e r l i n e r R e p u b l i k | D a s D r e i g e s t i r n d e r S P D<br />

Peers Troika –<br />

Franks TRIO<br />

Wie funktioniert das eigentlich, eine<br />

Troika?, wollten wir von Peer Steinbrück,<br />

Frank‐Walter Steinmeier und Sigmar<br />

Gabriel wissen und baten um ein Gespräch.<br />

Die Herren zierten sich. Die Troika, ließen<br />

sie ausrichten, funktioniere gerade deshalb,<br />

weil keiner von ihnen darüber plaudere.<br />

<strong>Cicero</strong> ist es am Ende doch gelungen, das<br />

Geheimnis zu lüften und die drei Herren an der<br />

SPD-Spitze zum Sprechen zu bringen. Nichts<br />

wurde ihnen in den Mund gelegt, alles – außer<br />

den kursiv gedruckten Passagen – ist so<br />

gesagt worden. Ein exklusives Gespräch unter<br />

Männern über sich und ihre Dreifaltigkeit<br />

H<br />

err Steinmeier: Was bedeutet<br />

das schöne russische Wort<br />

Troika eigentlich?<br />

Frank-W. Steinmeier (lacht): Nie gehört.<br />

Als Troika bezeichnet man auf Russisch<br />

eine Bespannungsweise für Fuhrwerke<br />

oder Schlitten, in der drei Zugtiere<br />

nebeneinandergehen.<br />

Steinmeier: Wie schön, dass es Wikipedia<br />

auch in Ihre Redaktion geschafft hat.<br />

Wenn Peer Steinbrück, Sigmar Gabriel<br />

und ich <strong>als</strong> Zugpferde wahrgenommen<br />

werden, habe ich nichts dagegen.<br />

Braucht es <strong>als</strong>o, Herr Steinbrück, gleich<br />

drei, um den SPD-Karren aus dem Dreck<br />

zu ziehen?<br />

Peer Steinbrück: Wir werden über einige<br />

Steine gehen müssen. Aber das Entscheidende<br />

ist: Wir gehen zusammen.<br />

Als Trio bis zum Ende?<br />

Steinmeier: In Gelsenkirchen hat man<br />

über die Kremers-Zwillinge* gesagt: Die<br />

zwei, dat is sich’n Trio (lacht).<br />

Der ehemalige SPD-Vorsitzende Björn<br />

Engholm sieht die Sache auf Steinmeier<br />

oder Steinbrück zulaufen, Peers Troika<br />

36 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Wenn sie schreiten Seit’ an Seit’:<br />

die sozialdemokratische<br />

Kandidaten-Troika Peer<br />

Steinbrück, Sigmar<br />

Gabriel, Frank-Walter<br />

Steinmeier (von links)<br />

Foto: Stephanie Pilick/dpa/lbn [M]<br />

oder Franks Trio – das ist für ihn schon<br />

heute ein Duett. Warum, Herr Gabriel, treten<br />

Sie trotzdem immer noch zu dritt auf?<br />

Sigmar Gabriel: Wenn wir nicht zu dritt<br />

gekommen wären, hätten Sie gefragt, warum<br />

einer von uns nicht dabei ist. Dem<br />

wollten wir aus dem Weg gehen.<br />

Das heißt: Jeder von Ihnen traut sich die<br />

Kanzlerkandidatur zu?<br />

Gabriel: Jeder gewählte Ministerpräsident<br />

ist ebenfalls ein denkbarer Kandidat.<br />

Steinmeier: Wir haben über 500 000<br />

mögliche Kanzlerkandidaten in der SPD.<br />

Aber nur einer kann gegen Angela Merkel<br />

antreten, wer von Ihnen wird es denn nun?<br />

Steinbrück: Die Frage stellt sich nicht.<br />

Darüber wird der Parteivorsitzende zur<br />

gegebenen Zeit entscheiden.<br />

Steinmeier: Sie glauben doch wohl nicht<br />

im Ernst, dass ich hier jetzt eine Kandidatendebatte<br />

vom Zaun breche!<br />

2009 hat der Kanzlerkandidat Steinmeier<br />

mit 23 Prozent das schlechteste Ergebnis<br />

aller Zeiten eingefahren. Seitdem ...<br />

*) Die Zwillingsbrüder Helmut und Erwin Kremers waren beim<br />

Gelsenkirchener Fußballverein Schalke 04 von 1971 bis 1979 ein<br />

legendäres Spielerduo<br />

Steinmeier: ... ist viel passiert, politisch<br />

und privat. Solche Einschnitte können<br />

einen auch stärken.<br />

Gabriel: Ich werde in der SPD zu Person<br />

und Verfahren rechtzeitig einen Vorschlag<br />

machen.<br />

Steinbrück: Der Zeitpunkt wird kommen,<br />

wo ich mich mit zwei oder drei Führungspersönlichkeiten<br />

der SPD darüber<br />

zusammensetze.<br />

Engholm meint übrigens, ein Jahr<br />

bräuchte ein Kandidat schon, um sich<br />

warmzulaufen. Das hieße: Spätestens in<br />

diesem Herbst müsste die Entscheidung<br />

fallen.<br />

Gabriel: Ende 2012.<br />

Steinmeier: Besser wäre es allerdings, die<br />

Frage nach der Landtagswahl in Niedersachsen<br />

zu klären, <strong>als</strong>o Ende Januar oder<br />

Anfang Februar 2013.<br />

Ein vorzeitig ausgerufener Bewerber, hat<br />

der frühere Parteichef Kurt Beck seinerzeit<br />

gewarnt, werde von den Medien<br />

„zerredet, zersendet und zerschrieben“.<br />

Ist das der Grund, weswegen Sie die Entscheidung<br />

so lange hinauszögern?<br />

Steinbrück: Sie würden mich in die Eierschleifmaschine<br />

stecken. Wir haben kein<br />

Interesse daran, dass irgendeiner von uns<br />

anderthalb Jahre <strong>als</strong> Kanzlerkandidat unterwegs<br />

ist. Ihre Branche und die politischen<br />

Kontrahenten würden jeden Speer<br />

auf die Brust dieses Kandidaten werfen<br />

und ihm jedes Stöckchen hinhalten.<br />

Steinmeier: Ich war schon mal mehr <strong>als</strong><br />

ein Jahr lang Kanzlerkandidat und weiß,<br />

dass das eine lange Zeit ist. Es gibt keine<br />

Not, sie noch länger zu machen.<br />

Gabriel: Denkt immer an Schwielowsee.<br />

Das ist ein interessanter Einwand, Herr<br />

Gabriel. Am Schwielowsee trat der Parteivorsitzende<br />

Beck zurück, weil er zu lange<br />

gezögert hatte, die K-Frage zu entscheiden<br />

– und plötzlich war Steinmeier der<br />

Kandidat.<br />

Steinmeier: Für mich gilt: Wenn die<br />

Zeit reif ist, habe ich kein Problem mit<br />

schnellen Entscheidungen.<br />

Anfangs sah es ja so aus, <strong>als</strong> liefe die Kandidatur<br />

fast zwangsläufig auf Steinbrück<br />

zu. Auf dem SPD-Parteitag im Dezember<br />

schien dann Gabriel die besten Aussichten<br />

zu haben, und jetzt schreibt der Spiegel,<br />

Steinmeier habe die Nase vorn.<br />

Gabriel: Ich rate allen, diese Spekulationen<br />

heiter und gelassen zu nehmen.<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 37


| B e r l i n e r R e p u b l i k | D a s D r e i g e s t i r n d e r S P D<br />

Steinmeier: Die Regierung wird versuchen,<br />

so lange wie möglich vor sich hin<br />

zu wursteln. Wir tun gut daran, uns darauf<br />

vorzubereiten, Regierungsverantwortung<br />

zu übernehmen.<br />

Zwei ehemalige SPD-Kanzler – Gerhard<br />

Schröder und Helmut Schmidt – haben<br />

öffentlich für Steinbrück geworben. War<br />

Schröders Plädoyer hilfreich?<br />

Gabriel: Ich war ja froh, dass er (Schröder)<br />

es selber gesagt hat und nicht Herr Putin.<br />

„Wenn wir nicht zu dritt<br />

gekommen wären, hätten<br />

Sie gefragt, warum einer<br />

von uns nicht dabei ist“<br />

Sigmar Gabriel<br />

Wenn die Manegenmusik spielt, wollen<br />

die alten Zirkuspferde eben noch mal in<br />

die Manege.<br />

Aber täuscht der Eindruck, dass Sie, Herr<br />

Steinbrück, gegenüber Gabriel und Steinmeier<br />

etwas ins Hintertreffen geraten<br />

sind?<br />

Steinbrück: Ach was, ich komme im Land<br />

viel herum und stoße auf Neugier. Die<br />

Säle sind voll. Und auf die Gefahr hin,<br />

dass es eitel wirkt: Wenn ich mir die persönlichen<br />

Umfragewerte anschaue, dann<br />

habe ich mich über eine mangelnde Aufmerksamkeit<br />

nicht zu beschweren.<br />

Geht es eigentlich immer harmonisch<br />

zu, wenn Sie sich treffen, oder stimmt es,<br />

dass Sie sich manchmal auch fetzen und<br />

sogar anbrüllen. Herr Gabriel, so las man,<br />

sei bei der Frage, ob und unter welchen<br />

Bedingungen man die Regierung bei ihrem<br />

Bemühen um den europäischen Fiskalpakt<br />

unterstützen soll, für eine härtere oppositionelle<br />

Gangart eingetreten, während<br />

Herr Steinmeier davor warnte, radikale<br />

Positionen zu vertreten, die man später <strong>als</strong><br />

Regierung wieder räumen müsste.<br />

Steinmeier: Natürlich wird bei uns hart<br />

diskutiert, manchmal auch streitig. Alles<br />

andere wäre doch lebensfremd. Wir<br />

sind nicht die Linkspartei. Die SPD trägt<br />

Verantwortung auch in der Opposition,<br />

weil wir uns darauf vorbereiten zu regieren.<br />

Worauf es ankommt, ist doch, dass<br />

wir gemeinsam und kollegial mit Leidenschaft<br />

und mit Verstand an Lösungen arbeiten,<br />

die unser Land besser machen.<br />

Und das tun wir.<br />

Steinbrück: Dass es eine Meinungsverschiedenheit<br />

gegeben hat, ist erkennbar.<br />

Dies ist auch erlaubt. Die Rivalität,<br />

die daraus gemacht wird, ist völlig übertrieben.<br />

Über den Kurs der Eurorettung<br />

wird sich die Troika nicht zerlegen, das<br />

sage ich Ihnen zu.<br />

Finden Sie es eigentlich normal und<br />

demokratisch, dass einer allein darüber<br />

entscheidet, wer Kanzlerkandidat der SPD<br />

werden soll? Irgendwann muss doch auch<br />

die Partei einbezogen werden.<br />

Gabriel: Eine stumme Partei ist in der<br />

Regel auch eine dumme Partei. Wenn<br />

es am Ende mehrere gibt, die glauben,<br />

dass sie die Sozialdemokraten in<br />

den nächsten Wahlkampf führen sollen,<br />

dann werden bei uns die Mitglieder darüber<br />

entscheiden und nicht der Parteivorstand<br />

und nicht die Delegiertenkonferenz<br />

und schon gar nicht Beobachter<br />

von außen.<br />

„Sie würden mich in die<br />

Eierschleifmaschine<br />

stecken. Keiner von uns<br />

will anderthalb Jahre <strong>als</strong><br />

Kandidat unterwegs sein“<br />

Peer Steinbrück<br />

War das jetzt mit Ihnen beiden<br />

abgesprochen?<br />

Steinmeier: Ich habe nicht gewusst,<br />

dass er (Gabriel) dieses Fass aufmachen<br />

würde. Aber wenn es im Januar<br />

2013 mehrere mögliche Kanzlerkandidaten<br />

gibt, dann kann man darüber<br />

(selbstverständlich) auch in einer Urwahl<br />

abstimmen.<br />

Steinbrück: (Ich wiederhole mich: Der Vorsitzende)<br />

hat das Vorschlagsrecht. Steinmeier<br />

und ich werden uns zurückhalten.<br />

„Wir diskutieren auch<br />

streitig. Wir sind nicht<br />

die Linkspartei. Die SPD<br />

trägt Verantwortung<br />

auch in der Opposition“<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Könnte es denn sein, dass aus der<br />

Troika eine Quadriga wird? Viele meinen,<br />

Hannelore Kraft wäre nach ihrem Wahlsieg<br />

in Nordrhein-Westfalen die beste<br />

Kanzlerkandidatin.<br />

Gabriel: Natürlich gehört sie mit zum<br />

Kreis der möglichen Kandidaten. Aber sie<br />

hat sich ja bekanntlich anders entschieden.<br />

Steinmeier: Es ist schon viel darüber gesagt<br />

worden, vor allem auch von Hannelore<br />

Kraft: Die will in Nordrhein-Westfalen<br />

bleiben.<br />

Sie sind <strong>als</strong> Troika nicht nur in Berlin<br />

unterwegs. Sie waren im schleswig-holsteinischen<br />

Wahlkampf und kürzlich auch<br />

gemeinsam in Paris bei François Hollande?<br />

Gabriel: Realität findet eben nicht immer<br />

nur im Bierdeckelradius rund um den<br />

Reichstag statt.<br />

Ist es nicht gefährlich, zu dritt im selben<br />

Flugzeug zu reisen?<br />

Steinmeier: Ich weiß nicht, was da durchschimmert<br />

durch diese Frage.Ich hoffe,<br />

es war nicht die Hoffnung, dass sich die<br />

Troika und die K-Frage auf diese Art und<br />

Weise erledigten.<br />

Aber wenn es nur einen Fallschirm gibt?<br />

Steinbrück: Dann werden wir das noch<br />

ein bisschen auskegeln. Der Punkt ist<br />

nur, dass du, Frank, für diesen Fallschirm<br />

schwerer bist <strong>als</strong> ich – von Sigmar ganz<br />

zu schweigen. (Alle drei lachen)<br />

Steinbrück: Damit hat sich die Frage, wer<br />

es wird, ja für alle Journalisten geklärt.<br />

Herr Steinmeier, Herr Steinbrück, Herr<br />

Gabriel: Herzlichen Dank.<br />

Die Fragen formulierte Hartmut Palmer,<br />

die Antworten fand er in Interviews und<br />

Presseartikeln der vergangenen zwei Jahre<br />

38 <strong>Cicero</strong> 7.2012


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| B e r l i n e r R e p u b l i k | U n i o n i n d e r K r i s e<br />

Ein Sommer ohne Sonne<br />

Die Niederlage der CDU in Nordrhein-Westfalen ist ein Warnsignal für die ganze Union und<br />

zwingt die Bundeskanzlerin zum Umsteuern: Die Wähler erwarten Führung und Stetigkeit<br />

von Wilfried Scharnagl<br />

D<br />

ie Zahl allein markiert nur<br />

unzureichend die Tiefe des<br />

Abgrunds. Die 26,3 Prozent<br />

der Stimmen, welche die einst<br />

große und stolze Volkspartei<br />

CDU am 13. Mai 2012 in Nordrhein-<br />

Westfalen noch einfahren konnte, sind<br />

zusätzlich schreckenerregend, wenn man<br />

sie in Beziehung setzt zu einer Wahlbeteiligung<br />

von 59,6 Prozent. Im bevölkerungsreichsten<br />

deutschen Land versammelten<br />

sich kaum mehr <strong>als</strong> 15 Prozent der<br />

Wahlberechtigten hinter der Fahne der<br />

Union. Auch wenn sich – gemessen daran<br />

– die von SPD (39,1 Prozent) und Grünen<br />

(11,3 Prozent) gemeinsam bequem<br />

erreichte absolute Mehrheit auf eine Zustimmung<br />

von 30 Prozent verringert: Die<br />

CDU an Rhein und Ruhr und auch in Berlin<br />

kann darin keinen Trost finden.<br />

Ordnet man das CDU-Ergebnis von<br />

Nordrhein-Westfalen in den bisherigen Ablauf<br />

der 2009 begonnenen Landtagswahlen<br />

ein, fällt es nur von seinem Ausmaß her aus<br />

dem Rahmen. Die Verluststrecke begann in<br />

Düsseldorf schon zwei Jahre zuvor, <strong>als</strong> Jürgen<br />

Rüttgers aus dem Amt gewählt wurde<br />

und die SPD-Frau Hannelore Kraft, diese<br />

Möglichkeit eher mit zögerndem Verwundern<br />

ergreifend, eine auf das Wohlwollen<br />

der Linken angewiesene rot-grüne Koalition<br />

bilden konnte. Dabei hatte sich die Bundesregierung,<br />

aus Rücksicht auf die CDU in<br />

NRW und vor lauter Angst, mit ernsthaftem<br />

politischen Handeln vielleicht einen Wähler<br />

zu verschrecken, in einen bedrückenden<br />

Stand-by-Modus begeben. Lähmung statt<br />

Leistung – das Rezept ging nicht auf. Das<br />

Urteil von Opposition und Medien, die Regierung<br />

Merkel habe zum Auftakt der Regierungsperiode<br />

einen gründlichen Fehlstart<br />

hingelegt, konnte nicht widerlegt werden.<br />

Manchem<br />

Wechsel in<br />

Düsseldorf ist<br />

ein Wechsel<br />

in Bonn oder<br />

Berlin gefolgt<br />

Sicherlich gilt, dass Landtagswahlen<br />

auch von länderspezifischen Themen und<br />

Akzenten geprägt werden. Unbestritten<br />

aber ist auch, dass bundespolitische Einflüsse<br />

eine wichtige Rolle spielen. So gesehen<br />

müssen Bundesregierung und Bundeskanzlerin,<br />

diese zudem in ihrer Eigenschaft<br />

<strong>als</strong> Bundesvorsitzende ihrer Partei, Landtagswahlergebnisse<br />

<strong>als</strong> Spiegel auch ihres<br />

politischen Handelns sehen. Die seit der<br />

Bundestagswahl 2009 in den Ländern zu<br />

Ungunsten der CDU eingetretenen dramatischen<br />

Veränderungen – der Verlust der<br />

Regierungsmehrheit in Hamburg, Stuttgart<br />

und Kiel ist dabei besonders schmerzlich<br />

– haben auch einen bundespolitischen<br />

Absender.<br />

Dies gilt auch für die jüngste Landtagswahl<br />

in Nordrhein-Westfalen. Es wäre<br />

verfehlt und ungerecht, das krachende<br />

Scheitern der CDU allein dem Spitzenkandidaten<br />

Norbert Röttgen zuzuschreiben.<br />

Allerdings muss sich dieser ein gerüttelt<br />

Maß an Schuld an der Wahlkatastrophe<br />

seiner Partei anrechnen lassen. Eine Kandidatur<br />

unter Vorbehalt – wenn es gut geht,<br />

bleibe ich, wenn nicht, halte ich mir den<br />

Rückzug offen – empfinden die Wähler <strong>als</strong><br />

Zumutung. Horst Seehofer hat den Hinweis<br />

auf diese Praxis der Wählervertreibung<br />

mit der Erinnerung daran verbunden, dass<br />

die CDU zu Beginn des Wahlkampfs und<br />

beim Antritt von Röttgen in den Umfragen<br />

klar vor der SPD lag. Und der CSU-Chef<br />

hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass<br />

die Strategie und Positionierung eines Spitzenkandidaten,<br />

zumal im wichtigen Nordrhein-Westfalen,<br />

nicht dessen Privatsache<br />

seien, sondern im Interesse der CDU und<br />

mit Blick auf die nächste Bundestagswahl<br />

im Gesamtinteresse der Union erfolgen<br />

müssen. Bemerkenswert, wenn auch nicht<br />

überraschend: Seehofers Wertung hat, <strong>als</strong><br />

Ablenkungsmanöver geeignet, einen Strom<br />

von Krokodilstränen von mancher CDU-<br />

Seite darüber ausgelöst, wie man so mit einem<br />

Verlierer umgehen könne – während<br />

hinter verschlossenen Türen und inzwischen<br />

auch öffentlich die Analyse aus Bayern<br />

auch von der CDU und insbesondere<br />

von der NRW-CDU bestätigt wird.<br />

Eine Frage allerdings bleibt in diesem<br />

Zusammenhang: Warum hat Angela Merkel<br />

ihren Umweltminister und NRW-Landesvorsitzenden<br />

nicht in die Pflicht genommen<br />

und ihn zu einer Spitzenkandidatur<br />

„mit Leib und Seele“ angehalten? Zum einen<br />

wurde Merkel stets ein besonders gutes<br />

Verhältnis zu Röttgen nachgesagt. Zum<br />

anderen ist ihre Stellung in der CDU zu<br />

stark und unangefochten, <strong>als</strong> dass sich<br />

Röttgen ihrem Drängen hätte widersetzen<br />

können, auch für den Fall einer Niederlage<br />

sein Bleiben in Düsseldorf zuzusagen. Die<br />

Bedeutung nordrhein-westfälischer Wahlgänge<br />

für die Geschichte der Bundesrepublik<br />

Deutschland ist bekannt. Manchem<br />

Wechsel in Düsseldorf ist ein Wechsel in<br />

Bonn oder Berlin gefolgt.<br />

40 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Foto: Picture Alliance/DPA<br />

Der Verlust der Bundesratsmehrheit,<br />

verbunden mit der Blockadepolitik der<br />

SPD, macht das Regieren für die Bundeskanzlerin<br />

schwerer. Die Nervosität des vom<br />

Untergang bedrohten Koalitionspartners<br />

FDP ebenso. Wenn auch die Umfrageergebnisse<br />

von Woche zu Woche schwanken,<br />

sicher scheint, dass der Vorsprung<br />

der Union vor der SPD kleiner geworden<br />

ist. Einerseits.<br />

Andererseits: Angela Merkel genießt<br />

höchste Reputation, liegt hinter Bundespräsident<br />

Joachim Gauck, dem neuen<br />

Shooting Star der deutschen Politik, auf<br />

dem zweiten Platz. Bei der Direktwahl eines<br />

Bundeskanzlers würde sie jedes Mitglied<br />

der sozialdemokratischen Troika<br />

schlagen; das „Dreigestirn“ Gabriel, Steinmeier<br />

und Steinbrück wird auch in den eigenen<br />

Reihen mehr und mehr <strong>als</strong> verzagt<br />

und unentschlossen eingeschätzt. Aber: Es<br />

gibt keine Antwort auf die Frage, warum<br />

Ansehen und Wertschätzung, welche die<br />

Kanzlerin und Vorsitzende erfährt, sich<br />

nicht auch in deutlich besseren Umfragewerten<br />

für die Union niederschlagen.<br />

Dass dieser Gleichklang in der Zustimmung<br />

zwischen Kanzlerin und CDU nicht<br />

erreicht wird, liegt in einer Performance der<br />

Bundesregierung, die gerade von den Wählerinnen<br />

und Wählern oft <strong>als</strong> mangelhaft<br />

empfunden wird, die der schwarz-gelben<br />

Koalition 2009 zu einer klaren Mehrheit<br />

verholfen haben. Die Diskrepanz zwischen<br />

den Ankündigungen des Wahl- und Regierungsprogramms<br />

und der tatsächlichen Regierungsarbeit<br />

ist einfach zu groß und führt<br />

zum Verdruss der Stammwähler.<br />

Wichtige Programmpunkte wurden<br />

nicht oder nur unzureichend umgesetzt,<br />

andere gar, wenn auch aufgrund nicht vorhersehbarer<br />

Entwicklungen und Zwänge,<br />

in ihr Gegenteil verkehrt. So wurden, um<br />

einen zentralen Punkt herauszugreifen, die<br />

Erwartungen der arbeitenden Menschen<br />

auf eine große Steuerreform, verbunden<br />

mit deutlichen Steuersenkungen, nicht<br />

erfüllt. Die Steuereinnahmen des Staates<br />

steigen auf Rekordhöhen, und Geld ist für<br />

alles da, nur nicht für eine spürbare Entlastung<br />

der Steuerzahler.<br />

Dass SPD und Grüne geradezu in einen<br />

Steuererhöhungsrausch verfallen, ist<br />

den Wählern von Union und FDP kein<br />

Trost. Bei anderen Themen wurden, wenn<br />

auch mit beachtlichen Argumenten und<br />

unter dem Druck nicht vorhersehbarer<br />

Ereignisse, Programmankündigungen in<br />

ihr Gegenteil verkehrt. Mit dem Bekenntnis<br />

zur Wehrpflicht zog die Union in die<br />

Wahl, politische, strategische und finanzielle<br />

Zwänge führten zu ihrer Abschaffung.<br />

Mit dem Kopf trugen die Mitglieder und<br />

Wähler der Unionsparteien diese Kehrtwende<br />

mit, mit dem Herzen taten und<br />

tun sie sich schwer – zu sehr und zu lange<br />

waren Bundeswehr und Wehrpflicht ein<br />

Kernthema der Union. Oder, ein Beispiel<br />

mit besonderer Nachwirkung: Mit einem<br />

klaren Ja zur weiteren friedlichen Nutzung<br />

der Kernenergie wurde im Wahlprogramm<br />

um das Vertrauen der Menschen geworben<br />

und die Wahl gewonnen. Der von Rot-<br />

Grün beschlossene Atomausstieg wurde sogar<br />

weiter in die Zukunft verschoben. Nach<br />

Fukushima kam die Wende um 180 Grad.<br />

Vielleicht hätte es gereicht, zur rot-grünen<br />

Regelung zurückzukehren und nicht noch<br />

eins draufzusetzen. Der von der Union<br />

vollzogene dramatische Kurswechsel und<br />

Europa wird es<br />

auch nach dem<br />

Euro geben.<br />

Es ist höchste<br />

Zeit für eine<br />

Exit-Strategie<br />

die täglichen Nachrichten über Schwierigkeiten,<br />

Verzögerungen und vor allem auch<br />

Kosten der Energiewende lassen diese bisher<br />

jedenfalls in den Augen vieler Mitglieder<br />

und Anhänger der Union noch nicht<br />

zu einem Gewinnerthema werden.<br />

Unerklärlich und wenig attraktiv für<br />

Wählerinnen und Wähler sind Punkte in<br />

der Regierungspolitik, die eigentlich klar<br />

und längst entschieden sind, deretwegen<br />

aber der Öffentlichkeit quälender Streit<br />

vorgeführt wird. Hier möchte man sich<br />

den Einsatz jener unbeirrten Tatkraft wünschen,<br />

über die die Bundeskanzlerin sonst<br />

durchaus verfügt. So ist es absolut unverständlich,<br />

dass FDP-Justizministerin Sabine<br />

Leutheusser-Schnarrenberger über Monate<br />

hin ihrem Hobby der Arbeitsverweigerung<br />

bei der Vorlage eines überfälligen Gesetzes<br />

zur Vorratsdatenspeicherung nachgehen,<br />

Deutschland in Europa isolieren und Millionen<br />

Strafzahlungen heraufbeschwören<br />

kann. Wo bleibt hier die Richtlinienkompetenz<br />

der Bundeskanzlerin? Völlig unverständlich<br />

auch das monatelange Tauziehen<br />

um das von der CSU geforderte und von der<br />

Koalition längst beschlossene Betreuungsgeld<br />

für Eltern, die ihre ein- bis dreijährigen<br />

Kinder nicht in eine Kindertagesstätte<br />

schicken wollen. Dass hier lange Zeit auch<br />

Widerstand aus der Partei der Kanzlerin für<br />

überflüssige Verzögerung und für vermeidbaren<br />

öffentlichen Ärger sorgte, hat nicht<br />

nur in der CSU zu besonderer Verärgerung<br />

geführt. Ein Thema, mit dem man durch<br />

überzeugende Darstellung und Geschlossenheit<br />

hätte punkten können, wurde verspielt.<br />

Euro- und Schuldenkrise liegen <strong>als</strong> besonders<br />

verantwortungsschwere Last auf<br />

Bundesregierung und Bundeskanzlerin.<br />

Die Menschen haben Angst, sie fürchten,<br />

dass die Milliardenbürgschaften, zu denen<br />

sich Deutschland schon mit den bisherigen<br />

Rettungsschirmen verpflichtet hat, zu konkreten<br />

Milliardenzahlungen werden. Der<br />

Druck auf Deutschland wächst weiter, die<br />

Begehrlichkeit der anderen nach dem Geld<br />

der Deutschen auch. Mit ihrer Festlegung,<br />

dass Europa scheitert, wenn der Euro scheitert,<br />

und mit ihrem Beharren darauf, dass<br />

alle gegenwärtigen Mitglieder der Eurozone<br />

dies auch in Zukunft bleiben müssten,<br />

hat die Bundeskanzlerin das Druckpotenzial<br />

all jener verstärkt, die das deutsche<br />

Schiff mit ihren Forderungen bis zum Sinken<br />

belasten wollen. Europa ist mehr <strong>als</strong><br />

nur eine Währung, Europa gab es vor dem<br />

Euro, Europa wird es nach dem Euro geben.<br />

Und der Friede und Zusammenhalt in<br />

Europa waren vor dem Euro stärker. Es ist<br />

höchste Zeit für eine Exit-Strategie.<br />

Umfragen sind Momentaufnahmen.<br />

Was heute schwächelt, kann morgen stark<br />

sein. Ein Sommer ohne Sonne steht der<br />

Union bevor. Aber bis zur Bundestagswahl<br />

bleiben mehr <strong>als</strong> zwölf Monate. Noch hat<br />

die CDU/CSU, auch wegen der Schwäche<br />

der Opposition, alle Chancen. Wenn sie<br />

eingetretene Irritationen überwindet, wenn<br />

sie handelt und dadurch überzeugt.<br />

Wilfried Scharnagl<br />

war langjähriger Chefredakteur<br />

des „Bayernkurier“ und Weggefährte<br />

von Franz Josef Strauß<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 41


| B e r l i n e r R e p u b l i k | B u r s c h e n s c h a f t e n<br />

Um sich beim Fechten zu schützen, müssen<br />

Mensurbrille, Ohrenleder, Nasenblech<br />

und Kettenhemd getragen werden<br />

42 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Freiheit,<br />

Ehre,<br />

Vaterland!<br />

Momentaufnahme<br />

Burschenschaft<br />

Sie vertreten<br />

konservative<br />

Werte,<br />

duellieren<br />

sich mit<br />

scharfen Waffen und<br />

pflegen ihre ganz eigene<br />

Tradition: deutsche<br />

Burschenschaften.<br />

Doch nach einem Eklat<br />

auf dem Jahrestag in<br />

Eisenach droht die<br />

Spaltung zwischen<br />

liberalem und radikalkonservativem<br />

Lager. Die<br />

Fotografin Lene Münch<br />

hat das Verbindungsleben<br />

dokumentiert<br />

Ein einig Volk von Brüdern: Treffen des Rheinischen<br />

Rings bei der Aachener Teutonia<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 43


| B e r l i n e r R e p u b l i k | B u r s c h e n s c h a f t e n<br />

Björn Weiß von der Braunschweiger<br />

Burschenschaft Thuringia wird in den Paukwichs<br />

gepackt. Er schlägt heute seine erste scharfe Partie<br />

44 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Braunschweiger<br />

Burschenschaft<br />

Germania: Das<br />

prunkvolle<br />

Altherrenzimmer<br />

mit der<br />

Ahnenwand<br />

Auf dem<br />

Festkommers in<br />

Eisenach werden<br />

Erfahrungen<br />

ausgetauscht<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 45


| B e r l i n e r R e p u b l i k | B u r s c h e n s c h a f t e n<br />

Jahrestag der<br />

Deutschen<br />

Burschenschaften<br />

in Eisenach an<br />

der Wartburg<br />

im Juni 2012<br />

Der Fuchsmajor<br />

(links) trainiert<br />

mit einem<br />

jüngeren<br />

Mitglied das<br />

Fechten auf dem<br />

Paukboden<br />

46 <strong>Cicero</strong> 7.2012


In der<br />

Fuchsenstunde<br />

lernen<br />

Novizen die<br />

Regeln für das<br />

Verbindungsleben<br />

Burschentag:<br />

Treffen des<br />

Rheinischen<br />

Rings im<br />

Kellergewölbe<br />

des Augustiner<br />

Bräu in Eisenach<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 47


| B e r l i n e r R e p u b l i k | B u r s c h e n s c h a f t e n<br />

Braunschweiger Burschenschaft<br />

Germania: Nach ein paar Bier wird<br />

auf der hauseigenen Bar getanzt<br />

48 <strong>Cicero</strong> 7.2012


A<br />

m Rebenring, unweit der Oker,<br />

liegt das Haus mit der Nummer<br />

36. Schwarz-rot-goldene Fahnen<br />

wehen an einem Mast vor der großbürgerlichen<br />

Villa, auf dem Dach und aus den<br />

Fenstern. Am Gebäude ist eine Stiftungstafel<br />

angebracht mit einem Schriftzug aus<br />

roten Lettern: „Germania“.<br />

„In Braunschweig erleben wir keine<br />

Anfeindungen“, sagt Markus Schuchardt.<br />

Er steht im Altherrenzimmer des Germanenhauses.<br />

Der repräsentative Prunkraum<br />

ist in die Jahre gekommen; 400 kleine gerahmte<br />

Porträts „Alter Herren“ hängen<br />

an der holzvertäfelten Stirnseite des Zimmers,<br />

angefangen bei den Gründungsvätern<br />

des Bundes von 1861. Schuchardt<br />

zeigt auf ein Bild in der obersten Reihe:<br />

„Das bin ich!“<br />

Seit Beginn seiner Studienzeit gehört<br />

der Maschinenbauer der Burschenschaft<br />

an, sie ist die älteste am Ort. 23 Aktive<br />

zählt sie zurzeit und etwa 150 Alte Herren,<br />

in deren Kreis Schuchardt, 26 Jahre, in<br />

wenigen Tagen aufgenommen werden soll.<br />

„In der medialen Diskussion müssen wir<br />

derzeit viel Kraft aufwenden, um den Eindruck<br />

zu widerlegen, wir wären alle ganz<br />

schlimm. Wir vertreten konservative Positionen.<br />

Jemand, der sich auf die Straße<br />

stellt und brüllt ‚Deutschland, verrecke!‘,<br />

der wird das hier nicht mögen.“ Er lächelt<br />

ein wenig bemüht, auf seiner Stirn stehen<br />

Schweißperlen.<br />

Die Deutschen Burschenschaften (DB)<br />

waren zuletzt in die Kritik geraten, <strong>als</strong> auf<br />

dem Jahrestreffen in Eisenach im Juni ein<br />

Abwahlantrag gegen den Chefredakteur der<br />

Verbandszeitschrift, Norbert Weidner, gescheitert<br />

war. Ende 2011 hatte er den NS-<br />

Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer<br />

<strong>als</strong> Landesverräter und dessen von Hitler<br />

angeordnete Hinrichtung <strong>als</strong> „juristisch gerechtfertigt“<br />

bezeichnet. Zur Causa Weidner<br />

Stellung nehmen, sich von seiner Aussage<br />

distanzieren wollen die Germanen<br />

nicht – sie befänden sich mitten in einem<br />

schwebenden Verfahren.<br />

Aus dem Paukboden ist das markante<br />

„tick, tick, tick“ schnell aufeinanderfallender<br />

Fechtwaffen zu hören. „Hoch, bitte!<br />

Fertig! Los!“ Björn Gräfer (23) und Stefan<br />

Czyz (21) stehen einander gegenüber,<br />

sie führen die letzten Hiebe aus. Die meisten<br />

deutschen Burschenschaften sind schlagend,<br />

so auch die Germania. Der letzte<br />

Mensurtag des Niederdeutschen Waffenrings<br />

liegt schon ein paar Tage zurück, doch<br />

zwei Paukstunden pro Woche sind Pflicht.<br />

Es sei ein „bindendes Erlebnis“, so Gräfer,<br />

ein Sport wie jeder andere – nur ohne<br />

Gewinner. Als liberaler Bund lehnen sie<br />

die Wiedereinführung der Pflichtmensur<br />

ab; es sei Teil des historischen Kompromisses,<br />

jeder Burschenschaft ihre Haltung<br />

zum Fechten selbst zu überlassen.<br />

„Burschenschafter zu sein, bedeutet,<br />

eine gewisse Ehrfurcht davor zu haben,<br />

was hier seit über 150 Jahren existiert“, sagt<br />

Gräfer. Sein aschblondes Haar ist sorgfältig<br />

gescheitelt, die Trikolore seines Brustbands<br />

weist ihn <strong>als</strong> ordentlichen Burschen<br />

aus. „Ein zusammengewürfelter Bund<br />

ohne klare Linie, ohne gemeinsamen Nenner<br />

kann nie geschlossen auftreten“, ist er<br />

überzeugt. Czyz nickt zurückhaltend.<br />

„Unsere Art zu denken muss nicht<br />

überdacht werden“, behauptet Schuchardt,<br />

konservative Werte seien eben keiner<br />

Mode unterworfen. Gleichzeitig droht den<br />

Deutschen Burschenschaften jedoch die<br />

Spaltung zwischen liberalem und radikalkonservativem<br />

Lager. Bis zum Ende des<br />

Jahres wird sich zeigen, ob es dem Verband<br />

gelingt, sich gegen rechtsradikale Stömungen<br />

in den eigenen Reihen klar zu positionieren.<br />

Sarah Maria Deckert<br />

Übles Nachspiel: In der Braunschweiger Burschenschaft<br />

Germania hängt ein Bild Napoleons über dem<br />

„Papst“, einem Vomitorium, das zur Grundausstattung<br />

einer Studentenverbindung gehört<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 49


Renaissance<br />

von Recht und<br />

Ordnung<br />

Ein guter Rat an die SPD<br />

Von Frank A. Meyer<br />

I<br />

| B e r l i n e r R e p u b l i k | K o m m e n t a r<br />

m Berliner „Admir<strong>als</strong>palast“ stellte der Philosoph<br />

Richard David Precht dem SPD-Fraktionschef Frank-<br />

Walter Steinmeier folgende Frage: „Können Sie sich<br />

eine Welt vorstellen, in der die Banken keinen Gewinn machen<br />

dürfen?“ Der konnte sich so etwas partout nicht vorstellen und<br />

beschied dem vollen Saal: „Es geht doch nicht darum, ob ich<br />

mir das vorstellen kann!“<br />

Vielleicht geht es aber doch gerade darum: um das politisch<br />

Vorstellbare – um Visionen. Gesellschaftliche Visionen.<br />

Für Sozialdemokraten wäre es das Naheliegende, sind die<br />

Genossen doch mit eben diesem Ziel in die Geschichte eingetreten.<br />

Aber was für eine Gesellschaft soll es denn bitte sein?<br />

Natürlich eine andere <strong>als</strong> die real existierende, eine bessere<br />

selbstredend.<br />

Nur, wie sähe die aus? Sozialistisch kann sie nicht mehr sein.<br />

Der Traum endete <strong>als</strong> Albtraum. Wenn es aber Sozialismus nicht<br />

ist, und auch nicht dessen aufgehübschte Version des demokratischen<br />

Sozialismus – was wäre dann das Ziel?<br />

Vielleicht hilft ein Blick in die Geschichte. Die historische<br />

Leistung der Sozialdemokraten, nicht nur der deutschen, war<br />

die Modernisierung der bürgerlichen Gesellschaft, man könnte<br />

auch provokativ sagen: des Kapitalismus.<br />

Ist ein moderner Kapitalismus, ist eine moderne Demokratie,<br />

ist ein moderner Rechtsstaat denkbar ohne die Kämpfe der Genossen<br />

um Liberté, Égalité, Fraternité? Lenin glaubte, die Französische<br />

Revolution zu vollenden. Soziale Demokraten – überall<br />

in Europa – haben sie mit der bürgerlichen Gesellschaft kompatibel<br />

gemacht.<br />

Die SPD will es nicht wahrhaben, aber es ist doch wahr: Sie<br />

steht für die bürgerliche Gesellschaft. Und das bedeutet auch –<br />

die SPD ist eine durch und durch bürgerliche Partei. Weiß die<br />

Partei das?<br />

Die Naturwissenschaftlerin Angela Merkel hat sich die Formel<br />

von der „marktkonformen Demokratie“ zurechtgelegt: „Wir<br />

werden Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so<br />

zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.“<br />

Jens Weidmann, Merkels Bundesbankpräsident, verdeutlicht<br />

es so: „Die Märkte müssen weiterhin die Richterfunktion zur<br />

Disziplinierung der südeuropäischen Länder ausüben.“ Also zur<br />

Disziplinierung von Demokratien! Nur der südeuropäischen?<br />

Natürlich nicht. Der Demokratien überhaupt!<br />

Im gleichen Kontext sei noch der Politiker-Flüsterer Josef<br />

Ackermann zitiert, zehn Jahre lang Chef der Deutschen Bank:<br />

„Die Finanzmärkte sind – ungeachtet der Tatsache, dass auch sie<br />

irren können – die beste Schuldenbremse.“ Das wäre dann: die<br />

Oberhoheit der Märkte über die Budgethoheit der Parlamente.<br />

Montesquieus drei Gewalten hat sich eine vierte hinzugesellt:<br />

die Finanzwirtschaft, in Deutschland an erster Stelle die Deutsche<br />

Bank. Im Grundgesetz ist das global spekulierende Institut<br />

nicht vorgesehen. De facto aber regiert es im Kanzleramt mit.<br />

Oder, wie die Frankfurter Allgemeine schreibt: „Heute ist die<br />

internationale Kompetenz der Bank gefragt; ihre Vertreter erklären<br />

der Politik, unter anderem, die Zusammenhänge in der globalen<br />

Finanzwelt. Inwieweit die Bank daneben gesellschaftliche und<br />

allgemein politische Debatten begleitet oder sich lieber auf das eigene<br />

Gewerbe beschränken will, muss die Führung entscheiden.“<br />

Im Klartext: Die Deutsche Bank nimmt die Politik an der<br />

Hand. Und der Bürger kann froh sein, dass die gerissenen Spekulanten<br />

den ahnungslosen Politikern die Finanzwelt erklären,<br />

was ja neuerdings nichts weniger bedeutet <strong>als</strong> die Welt an sich.<br />

Haben die Bürgerinnen und Bürger Josef Ackermann oder<br />

Anshu Jain gewählt, <strong>als</strong> sie Angela Merkel wählten, <strong>als</strong> sie Gerhard<br />

Schröder wählten? Die bürgerliche Ordnung, um die sich<br />

Generationen von Demokraten, allen voran Sozialdemokraten,<br />

so große Verdienste erworben haben, gerät aus den Fugen.<br />

Daher braucht Deutschland wieder eine bürgerliche Partei!<br />

Deren Ziel muss sein: die Renaissance der Bürgermacht, die<br />

Renaissance von Recht und Ordnung. Präzis gefasst in die vier<br />

Wörter: „One man, one vote.“<br />

Alles nur Theorie? Nein, der Ernstfall. Denn die finanzökonomischen<br />

Mächte, die gegenwärtig dabei sind, Demokratien,<br />

Gesellschaften und Menschen zu ruinieren, folgen der Lehre<br />

von Friedrich August von Hayek, dem herausragenden Verfechter<br />

des alles beherrschenden Marktes, des Primats der Wirtschaft,<br />

heute: der Finanzwirtschaft. Nach seiner Lehre ist Demokratie<br />

nichts weiter <strong>als</strong> „ein durch das Erpressungs- und Korruptionssystem<br />

der Politik hervorgebrachtes System“ – „ein Wortfetisch“.<br />

Für von Hayek stellt das Prinzip „One man, one vote“ ein<br />

verfehltes Recht dar: „Es kann vernünftigerweise argumentiert<br />

werden, dass den Idealen der Demokratie besser gedient wäre,<br />

wenn alle Staatsangestellten oder alle Empfänger von öffentlichen<br />

Unterstützungen vom Wahlrecht ausgeschlossen wären.“<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

50 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Foto: privat<br />

Kein Wahlrecht <strong>als</strong>o für Beamte, kein<br />

Wahlrecht für Hartz-IV-Empfänger, kein<br />

Wahlrecht für Rentner?<br />

In der Neuen Zürcher Zeitung, vor allem<br />

in ihrem Wirtschaftsteil (eine Art Osservatore<br />

Romano der neoliberalen Kirche),<br />

wird gerade ernsthaft darüber diskutiert,<br />

ob die Demokratie nach dem Grundsatz<br />

„One man, one vote“ noch in jedem Fall<br />

akzeptabel sei.<br />

Ja, die bürgerliche Gesellschaft steht<br />

auf dem Spiel.<br />

Die Bürgerinnen und Bürger sind zu<br />

Recht aufgeregt: Was soll ihr Gang zur<br />

Wahlurne, wo doch die Ackermänner<br />

auf keiner Liste stehen? Früher schimpften<br />

verdrossene Wähler: „Die da oben<br />

machen sowieso, was sie wollen.“ Heute<br />

müsste es heißen: „Die da oben machen<br />

sowieso, was andere wollen.“<br />

Nach den Wahlen verschwinden die<br />

Politiker in der Kulisse – zum Techtelmechtel<br />

mit mächtigen Ungewählten, mit<br />

den Verursachern der Krise. Die Böcke<br />

werden zu Gärtnern berufen.<br />

So wird Politik erneut zum garstigen<br />

Lied der Deutschen.<br />

Für den verdrossenen Bürger sind die<br />

Parteien das Problem, auf keinen Fall die<br />

Lösung. Also her mit der Nichtpartei!<br />

Überall in Europa wuchern wirkungsvolle<br />

populistische Bewegungen, die sich <strong>als</strong><br />

Antiparteien in Szene setzen.<br />

Ihr Feind ist die „Classe politique“.<br />

Sie waltet in Brüssel. Sie beherrscht die<br />

EU. Die Parteiendemokratie erscheint<br />

den Populisten des Front National, der<br />

Lega Nord, der Goldenen Morgenröte,<br />

der Wahren Finnen, des Vlaams Blok <strong>als</strong><br />

„ein durch das Erpressungs- und Korruptionssystem<br />

der Politik hervorgebrachtes<br />

System“, ganz so, wie von Hayek es lehrt.<br />

Die neoliberale Rechte hat im<br />

Kampf gegen die Demokratie endlich<br />

ihren bewaffneten Arm entdeckt: die<br />

Rechtspopulisten.<br />

Gottlob gibt es sie in Deutschland<br />

nicht. Noch nicht. Die Vergangenheit<br />

hemmt die Versuchung, dem „Parteienstaat“<br />

populistisch zu Leibe zu rücken.<br />

Doch Populismus der sanften Art ist dennoch<br />

„in“, unter anderem im Gewand der<br />

pubertär-anarchistischen Piratenpartei.<br />

Ist die Netzbewegung für die Demokratie<br />

unbedenklich? Immerhin fordert<br />

sie die Aufhebung eines bürgerlichen Urrechts:<br />

des Rechts am geistigen Eigentum.<br />

Sie fordert damit die Aufhebung der Verfügung<br />

des Menschen über sein intellektuelles<br />

Selbst.<br />

Das wäre dann die Auslieferung<br />

des Individuums an Facebook und<br />

Google und wen auch immer, der sich in<br />

Zukunft des Netzes bemächtigt.<br />

Wer schützt die Bürgerinnen und<br />

Bürger vor Netzmacht und Finanzmacht?<br />

Wer schützt die bürgerliche Ordnung vor<br />

den Attacken aus dem rechtsfreien Raum?<br />

Wer stellt die bürgerliche Ordnung wieder<br />

her? Wer, wenn nicht der bürgerliche<br />

Staat mit seinen bürgerlichen Parteien?<br />

Doch Programm ist das für sie mitnichten.<br />

Relativismus ersetzt Rigorosität.<br />

Und zwar nicht nur gegenüber der<br />

schönen und neuen und vor allem profitablen<br />

Welt von Finanzwirtschaft und<br />

Netzwirtschaft. Der Relativismus der bürgerlichen<br />

Werte grassiert auch gegenüber<br />

allem, was die Aura der Migration<br />

umweht: Den edlen Fremden aus armen<br />

Welten wird gehuldigt, <strong>als</strong> verkörperten<br />

sie, ganz nach Rousseau, die unverdorbene<br />

Vergangenheit des verdorbenen<br />

westlichen Menschen.<br />

Plötzlich sind bürgerliche Rechte relativ,<br />

mit ehrfurchtsvollem Blick auf den Islam,<br />

insbesondere die Frauenrechte.<br />

Der verwunderte Bürger kann sich<br />

des Eindrucks nicht erwehren: Was er<br />

für festgefügt hielt, ist ein relativer Zustand,<br />

eine „Lebensform“, wie die Zeitschrift<br />

Berliner Republik die Staatsform<br />

Demokratie bezeichnete, die mithin den<br />

Fremden ihre „Lebensform“ belässt, selbst<br />

wenn sie das Grundgesetz ritzt, beugt,<br />

verachtet, zum Beispiel durch religiös begründete<br />

Frauenunterdrückung.<br />

Ja, es fehlt der radikale Respekt für<br />

die Rechte, die das Bürgertum über Jahrhunderte<br />

hinweg erstritten hat – auch in<br />

Deutschland, wenngleich erst 1949 und<br />

mithilfe der westlichen Sieger.<br />

Radikaler Respekt vor Recht und<br />

Ordnung bedeutet Résistance für Recht<br />

und Ordnung bedeutet Renaissance von<br />

Recht und Ordnung.<br />

Kein schlechtes Programm für eine<br />

bürgerliche Partei!<br />

Frank A. Meyer ist Journalist.<br />

Zuletzt erschien „Der lange<br />

Abschied vom Bürgertum“, ein<br />

Gespräch mit Joachim Fest und<br />

Wolf Jobst Siedler<br />

Anzeige<br />

© Foto Schmidt: Paul Ripke; Meyer, Marguier: Antje Berghäuser<br />

It’s never<br />

too late<br />

Der letzte große Entertainer über<br />

intelligente Satire und die Zukunft<br />

des Fernsehens<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer und<br />

Alexander Marguier, stellvertretender<br />

<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur, im Gespräch<br />

mit Harald Schmidt.<br />

Sonntag, 23. September 2012, 11 Uhr<br />

Berliner Ensemble,<br />

Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />

Tickets: Telefon 030 28408155<br />

www.berliner-ensemble.de<br />

BERLINER<br />

ENSEMBLE<br />

<strong>Vorschau</strong><br />

Im September<br />

Im Dezember zu<br />

Gast: Peer Steinbrück<br />

www.cicero.de/<br />

foyergespraech<br />

In Kooperation<br />

mit dem Berliner Ensemble<br />

HARALD<br />

SCHMIDT<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 51


| W e l t b ü h n e<br />

Playboy und Erlöser<br />

Ein wenig Fundamentalist, ein wenig Büttel des Militärs – Imran Khan begeistert ein enttäuschtes Volk<br />

von Willi Germund<br />

E<br />

r war einer der besten „Allrounder“<br />

in der Geschichte des Kricket.<br />

Er führte Pakistan 1992 zum ersten<br />

und bisher einzigen Weltcupsieg. Imran<br />

Khan ist eine der Figuren, mit denen Veranstalter<br />

sich gerne schmücken. Umso pikierter<br />

waren die Organisatoren einer Konferenz<br />

in der indischen Hauptstadt Delhi, die den<br />

einstigen Sportstar zu einer Debatte über<br />

den Islam in der Neuzeit eingeladen hatten,<br />

<strong>als</strong> ihnen unerwartet eine Absage ins Haus<br />

flatterte. Khans Begründung: Er wolle auf<br />

der Bühne nicht mit dem ebenfalls eingeladenen<br />

Salman Rushdie gesehen werden,<br />

dem Autor der bei Moslems umstrittenen<br />

„Satanischen Verse“.<br />

„In London nannten wir ihn ,Dim Im‘“,<br />

mokierte sich Rushdie prompt über Imran<br />

Khan. Doch der „dumme Imran“, wie<br />

Rush die den 59-Jährigen bezeichnete, verscherzt<br />

sich gerne die Sympathien der Intellektuellen<br />

Südasiens, solange seine Haltung<br />

gut ankommt bei einfachen, religiös<br />

gestimmten konservativen Pakistanern.<br />

Denn Khan macht sich große Hoffnungen,<br />

bei den für Ende 2012 oder Anfang 2013<br />

anstehenden Parlamentswahlen <strong>als</strong> Sieger<br />

abzuschneiden – und, <strong>als</strong> Alternative zu<br />

den etablierten Parteien, neuer Premierminister<br />

des 180 Millionen Einwohner zählenden,<br />

von Terror und permanenter Wirtschaftskrise<br />

gebeutelten Pakistan zu werden.<br />

16 Jahre nach der Gründung seiner Partei<br />

„Tehreek e Insaf“ (Bewegung für Gerechtigkeit)<br />

kennt die Popularität des 1952<br />

in Lahore geborenen Sohnes einer Paschtunen-Familie<br />

kaum noch Grenzen. Seine<br />

Partei verspricht ein Ende der Korruption,<br />

die Liberalisierung der Wirtschaft und einen<br />

Wohlfahrtsstaat. Spötter nennen Imran<br />

Khan den „schönen Taliban“, weil er<br />

ungehemmt ultrakonservative und nationalistische<br />

Parolen von sich gibt, die auch<br />

aus dem verbalen Repertoire der radikalislamischen<br />

Milizen stammen könnten.<br />

Der britische Guardian beschrieb Khan vor<br />

einigen Jahren noch <strong>als</strong> Mann, „dessen Positionen<br />

und Allianzen seit 1996 durch die<br />

Landschaft schlitterten wie eine Rikscha<br />

im Platzregen“.<br />

In seinem Privatleben sah es nicht viel<br />

anders aus. Während seines sportlichen Aufstiegs<br />

war Imran Khan <strong>als</strong> Partykönig bekannt,<br />

der in London die Nächte in Diskotheken<br />

durchfeierte und mit der deutschen<br />

MTV-Moderatorin Kristiane Backer eine<br />

(geheim gehaltene) Liebesbeziehung hatte.<br />

Während viele seiner Koathleten eifrig dem<br />

Alkohol zusprachen, rührte Khan keinen<br />

Tropfen an, er beeindruckte vielmehr mit<br />

seinem Appetit auf Liebschaften – an einem<br />

Abend schleppte er auch schon mal mehrere<br />

Frauen in sein Quartier ab.<br />

Aus jener wilden Zeit stammt das uneheliche<br />

Kind mit einer Amerikanerin,<br />

dessen Erziehung Khan sich heute mit seiner<br />

Exfrau, der Milliardärstochter Jemima<br />

Goldsmith, teilt. Aus dieser Ehe wiederum<br />

stammen zwei Söhne, die ihren Vater mehrm<strong>als</strong><br />

im Jahr in Pakistan besuchen und sich<br />

dann auf dem Kricketplatz austoben, den<br />

Khan in seinem luxuriösen Anwesen Bani<br />

Gala in den Außenbezirken von Islamabad<br />

eingerichtet hat – zwischen den Kühen, die<br />

er sich in einem Anflug von Bodenständigkeit<br />

dort leistet.<br />

Die lebenslustige Vergangenheit ist<br />

heute kein Thema in Pakistan. In einem<br />

Land der Enttäuschungen, in dem sowohl<br />

die amtierende „Pakistan Peoples Party“<br />

(PPP) wie auch die religiös-konservative „Pakistan<br />

Muslim League“ (PML) des früheren<br />

Premierministers Nawaz Sharif alle Hoffnungen<br />

in einem schier undurchdringlichen<br />

Sumpf von Korruption und Misswirtschaft<br />

erstickten, präsentiert Imran Khan sich <strong>als</strong><br />

„Saubermann“, der noch einen großen Vorteil<br />

genießt. Teile des „Establishments“, wie<br />

die wolkige Umschreibung der Militärkaste<br />

am Indus genannt wird, propagieren den<br />

agilen und wendigen Khan <strong>als</strong> die Zukunftshoffnung<br />

des Landes.<br />

„Ich bin niemandes Welpen“, wehrt Imran<br />

Khan sich immer wieder gegen die Unterstellung,<br />

er sei der Mann des Militärs. Der<br />

Satz verklingt in den Weiten des Landes mit<br />

seinen riesigen Himalaya-Bergen, der kargen<br />

Wüste Belutschistans und an der chaotischen<br />

Grenze zu Afghanistan wie der Schrei<br />

eines einsamen Wolfes. Denn in Pakistan<br />

gilt es <strong>als</strong> Gewissheit, dass keine Partei gegen<br />

den Willen der Militärs gewinnen, der gute<br />

Wille der Offiziere aber entscheidend für einen<br />

Wahlsieg sein kann. Und die Tsunamis,<br />

wie Khan von seiner Partei organisierte Demonstrationen<br />

gegen die Nato und die vom<br />

US-Geheimdienst gelenkten Angriffe unbemannter<br />

Drohnen auf pakistanischem Territorium<br />

nennt, wären ohne heimliche Hilfe<br />

des Geheimdiensts ISI und der Sicherheitskräfte<br />

nicht möglich.<br />

Neu sind die engen Verbindungen Imran<br />

Khans zum Militär nicht. Aber er weiß<br />

bestens, wie wenig Verlass auf die Generäle<br />

ist. Schon im Jahr 2002 wollte der damalige<br />

Militärdiktator General Pervez Musharraf<br />

die Popularität des Exathleten für<br />

seine Zwecke nutzen. Khan lehnte das Angebot<br />

ab, Premierminister des <strong>Diktator</strong>s zu<br />

werden. Als Musharraf einige Jahre später<br />

den Notstand ausrief, um die Proteste gegen<br />

seine Herrschaft zu ersticken, landete<br />

auch Khan im Hausarrest.<br />

An solche Widersprüche haben sich<br />

viele Pakistaner nicht nur gewöhnt. Sie sind<br />

überzeugt, dass der Mann, der ein wenig<br />

islamischer Fundamentalist, ein bisschen<br />

Büttel der Militärs und ein wenig Gegner<br />

der Militärs ist, die Figur darstellt, die das<br />

Land braucht. Sie sehen in ihm einen politischen<br />

Außenseiter ohne Verbindungen in<br />

die Klasse der Khans, der Großgrundbesitzer,<br />

die neben den Militärs das politische<br />

Geschehen am Indus dominieren. Imran<br />

Khan ist der Hoffnungsträger in einem geschundenen<br />

Land – und doch ist mehr <strong>als</strong><br />

zweifelhaft, dass er die großen Hoffnungen<br />

erfüllen kann, die in ihn gesetzt werden.<br />

Willi Germund lebt seit<br />

2001 in Bangkok und arbeitet<br />

<strong>als</strong> Süd- und Südostasienkorrespondent.<br />

2010 veröffentlichte er<br />

das Buch „Allahs Missionare“<br />

Fotos: Action Press/Rex Features Ltd., Martin Steiner (Autor)<br />

52 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Die<br />

lebenslustige<br />

Vergangenheit<br />

Imran Khans<br />

ist heute<br />

kein Thema<br />

in Pakistan<br />

Der einstige Kricketstar<br />

und Frauenheld will<br />

Premierminister werden<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 53


| W e l t b ü h n e<br />

Vive la Différence<br />

Jung, weiblich, zugewandert – <strong>als</strong> Frauenministerin will Najat Vallaud-Belkacem neue Töne anschlagen<br />

von Sascha Lehnartz<br />

I<br />

hr erster Termin <strong>als</strong> Ministerin<br />

für Frauenrechte wurde zu einer<br />

Begegnung zweier Generationen.<br />

Najat Vallaud-Belkacem, mit 34 Jahren<br />

das jüngste Kabinettsmitglied der neuen<br />

französischen Regierung, empfing in ihren<br />

neuen Diensträumen Yvette Roudy zu<br />

einem halbstündigen Gespräch. Madame<br />

Roudy, mittlerweile 83 Jahre alt, war von<br />

1981 bis 1986 Ministerin für Frauenrechte<br />

unter François Mitterrand. Seither gab es<br />

„Heutzutage ist doch jeder<br />

Sozialist auch Feminist“<br />

Najat Vallaud-Belkacem, Frankreichs Frauenministerin<br />

das Amt nicht mehr <strong>als</strong> eigenständiges Ministerium<br />

in Frankreich. „Wir machen hier<br />

eine Art symbolische Machtübergabe“, erklärte<br />

Najat Vallaud-Belkacem mit der ihr<br />

eigenen Halbironie.<br />

Nach einer 25-jährigen Pause bekommen<br />

Frankreichs Frauen wieder ein eigenständiges<br />

Ministerium. „Es wird sicher hart<br />

werden“, mahnte Madame Roudy. „An jeder<br />

Ecke stehen Leute, die überhaupt keine<br />

Lust darauf haben, dass Frauen ihren Platz<br />

einnehmen und über ihren Körper verfügen“,<br />

sagte die 83-Jährige in einem eher<br />

traditionellen feministischen Jargon, der<br />

im Kontrast zu dem pragmatischen Ton,<br />

den Najat Vallaud-Belkacem anschlägt,<br />

leicht historisch klingt. Oder vielleicht<br />

auch nur erfahrener. Denn <strong>als</strong> die knapp<br />

50 Jahre Jüngere die optimistische These<br />

wagt, heutzutage sei doch „jeder Sozialist<br />

auch Feminist“, lächelt Yvette Roudy skeptisch<br />

milde und erwidert: „Das stimmt vielleicht<br />

nicht ganz.“<br />

Najat Vallaud-Belkacem ist zu flexibel<br />

und zu medienschlau, um sich auf eine<br />

bestimmte Art von Feminismus – oder<br />

überhaupt auf irgendeine unbewegliche<br />

politische Position festzulegen. Diese Gewandtheit<br />

ist einer der Gründe, warum die<br />

junge Frau mit dem Pagenschnitt <strong>als</strong> Sprecherin<br />

des Präsidentschaftskandidaten zu<br />

einem der Stars des Wahlkampfteams von<br />

François Hollande wurde – und nun Ministerin<br />

und Regierungssprecherin in einer<br />

Person ist. Dass die zweifache Mutter<br />

gleich drei Quoten erfüllt – jung, weiblich,<br />

zugewandert –, hat ihrer Karriere sicher<br />

nicht geschadet. Najat Vallaud-Belkacem<br />

bekennt sich dazu, lässt sich aber<br />

auf keines ihrer Identitätsmerkmale reduzieren:<br />

„Weil ich gleichzeitig eine Frau<br />

bin, jung und aus einer Zuwandererfamilie<br />

stamme, habe ich immer Schwierigkeiten<br />

gehabt herauszufinden, was denn jede einzelne<br />

dieser Besonderheiten über mich sagen<br />

soll.“ Im Grunde führe diese Mischung<br />

nur dazu, dass „man fünfmal so viel arbeitet,<br />

um zu beweisen, dass man zu Recht an<br />

seinem Platz ist“.<br />

Najat Vallaud-Belkacem wurde 1977 in<br />

Beni Chiker im marokkanischen Rif-Gebirge<br />

geboren. Als sie vier Jahre alt war, zog<br />

sie mit ihrer Familie nach Frankreich. Bis<br />

heute besitzt sie beide Staatsbürgerschaften.<br />

Sie wuchs in Abbeville und in Amiens<br />

auf, der Vater arbeitete auf dem Bau,<br />

die Mutter war Hausfrau, „streng und beschützend“.<br />

Die ältere Schwester war ihr<br />

Vorbild und Rivalin zugleich. Najat ist das<br />

zweitälteste von sieben Geschwistern. Die<br />

fleißige Schülerin schaffte die Aufnahmeprüfung<br />

für das Studium an der renommierten<br />

Fakultät der „Sciences Po“ in Paris,<br />

wo sie ein Begabtenstipendium erhielt.<br />

Der Schock über den Erfolg des rechtsextremen<br />

Kandidaten Jean-Marie Le Pen bei<br />

der Präsidentschaftswahl 2002 bewegte die<br />

Politikstudentin, sich bei den Sozialisten<br />

zu engagieren.<br />

2003 begegnet sie dem Lyoner Bürgermeister<br />

Gérard Collomb, der sie zu<br />

seiner Beraterin für Jugendfragen macht.<br />

Mit 27 Jahren wird sie jüngste Abgeordnete<br />

im Regionalrat des Départements<br />

Rhône-Alpes. Zwei Jahre später sitzt sie<br />

in einem Flugzeug neben Ségolène Royal,<br />

die dam<strong>als</strong> gerade ihre Präsidentschaftskandidatur<br />

vorbereitet. Belkacem<br />

ist karrierebewusst genug, um die Gunst<br />

des Augenblicks zu nutzen, und bietet der<br />

Kandidatin ihre Dienste an. Die erkennt<br />

das Potenzial der attraktiven und eloquenten<br />

Nachwuchskraft und macht sie zu einer<br />

ihrer Kampagnensprecherinnen. Dieselbe<br />

Rolle spielt Najat Belkacem dann<br />

fünf Jahre später für François Hollande.<br />

Diesmal mit größerem Erfolg.<br />

Seit 2005 ist sie mit ihrem Studienfreund<br />

Boris Vallaud verheiratet. Die beiden<br />

lernten sich in der Bibliothek der Sciences<br />

Po kennen, „wie einst Chirac und<br />

Bernadette“, erzählt die Nachwuchspolitikerin<br />

grinsend. Im Gegensatz zu seiner<br />

Ehefrau schaffte Vallaud danach die Aufnahmeprüfung<br />

für die Eliteverwaltungshochschule<br />

ENA. Inzwischen ist er im<br />

Ministerium für industriellen Wiederaufbau<br />

einer der Berater des Ministers<br />

Arnaud Montebourg. Das Paar hat Zwillinge<br />

– Louis und Nour. Während des<br />

Wahlkampfs bekam die Kampagnensprecherin<br />

die Vierjährigen nicht allzu oft zu<br />

Gesicht. Zur Vereinbarkeit von Familie<br />

und Beruf „werden Sie deshalb sicherlich<br />

von mir auch noch etwas hören“, kündigt<br />

Najat Vallaud-Belkacem an. Man darf davon<br />

ausgehen, dass die Positionen der französischen<br />

Ministerin etwas realitätsnäher<br />

ausfallen werden <strong>als</strong> das, was ihre deutsche<br />

Amtskollegin zu dem Thema so von<br />

sich gibt.<br />

Sascha Lehnartz<br />

ist Frankreichkorrespondent der<br />

Tageszeitung Die Welt<br />

Fotos: LIONEL BONAVENTURE/AFP/GettyImages, Privat (Autor)<br />

54 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Mit 34 Jahren ist<br />

Najat Vallaud-<br />

Belkacem das<br />

jüngste Mitglied der<br />

neuen französischen<br />

Regierung<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 55


| W e l t b ü h n e<br />

Athens CHe Guevara<br />

Am Ende ist Alexis Tsipras „nur“ Zweiter geworden. Ein perfekter Platz, um die Regierung vor sich herzutreiben<br />

von Richard Fraunberger<br />

R<br />

ücksichtslos und amoralisch<br />

nannte ihn die Tageszeitung To<br />

Vima. Er sei ein Opportunist und<br />

Populist und müsse gerade deshalb ernst genommen<br />

werden. Andere sehen in ihm den<br />

einzigen Hoffnungsträger im Trümmerfeld<br />

des alten politischen Parteiensystems. Gegensätzlicher<br />

könnten die Meinungen über<br />

Alexis Tsipras, den neuen Revolutionsführer,<br />

den Che Guevara der Griechen, nicht<br />

sein. Seit der Parlamentswahl vom 6. Mai<br />

sorgt der 38-Jährige für ein politisches Erdbeben.<br />

Syriza, das Bündnis radikaler Linker,<br />

schoss bei den Wahlen von 4 auf 17 Prozent.<br />

Wieviel Potenzial und Rückhalt Syriza<br />

bei den Griechen hat, offenbarte schließlich<br />

die Wahl vom 17. Juni: Syriza konnte<br />

noch einmal deutlich zulegen und kam auf<br />

26,9 Prozent der Stimmen. Damit wurde<br />

das Bündnis zweitstärkste Partei hinter der<br />

konservativen Nea Dimokratia. Ein kometenhafter<br />

Aufstieg für eine Partei, die bislang<br />

im Parlament vor sich hindümpelte.<br />

Sofortige Aufkündigung der Sparmaßnahmen,<br />

Neuverhandlung mit der<br />

EU‐Troika, einseitige Abschreibung eines<br />

Großteils der Schulden, Rentenerhöhungen<br />

– dies bleiben die Forderungen von<br />

Syriza. Zudem sollen Banken verstaatlicht,<br />

Militärausgaben gekürzt und eine Reichensteuer<br />

eingeführt werden. Das ist Musik in<br />

den Ohren der meisten Griechen. Zu lange<br />

dauert der wirtschaftliche Niedergang, zu<br />

sehr ist das nationale Ego angekratzt. Im<br />

Rausch des Wahlerfolgs erklärte Alexis Tsipras,<br />

lächelnd und selbstbewusst, alle bisherigen<br />

Vereinbarungen mit der Troika für<br />

null und nichtig. Der „Volkswille“ habe<br />

sich mehrheitlich gegen die „barbarische<br />

Sparpolitik“ der EU entschieden.<br />

Wer ist dieser Politiker, der über Nacht<br />

zum „gefährlichsten Mann Europas“ wurde,<br />

der die EU mit so schrillen Tönen herausforderte<br />

und auch in der Opposition keine<br />

Ruhe geben und die griechische Regierung<br />

vor sich hertreiben wird?<br />

Alexis Tsipras, 1974 in Athen geboren,<br />

ist das politische Wunschkind aller,<br />

die sich 1973 am Aufstand gegen die<br />

Junta im Athener Polytechnikum beteiligten.<br />

Der Klassenprimus begann sich schon<br />

früh für Politik zu interessieren. Schülerproteste,<br />

Schulbesetzungen, Mitglied der<br />

Kommunistischen Jugend, Proteste gegen<br />

Globalisierung und Neoliberalismus, Vorstandsmitglied<br />

des panhellenischen Studentenbunds.<br />

Das ist normal für einen jungen<br />

Mann, um den herum fast täglich irgendjemand<br />

streikt, demonstriert oder den Staat<br />

in Geiselhaft nimmt. Und es ist erstaunlich<br />

viel für einen jungen Mann, der in einem<br />

Land aufwuchs, in dem, verglichen<br />

mit den Jahrzehnten davor, das Leben sorgenfrei<br />

war und fern jeder wirtschaftlichen<br />

Not. Denn seit dem Beitritt zur EU ging<br />

es in Griechenland fast nur aufwärts. Mit<br />

der Unterstützung seines politischen Ziehvaters,<br />

Alekos Alavanos, dem ehemaligen<br />

Vorsitzenden von Synaspismos, verläuft die<br />

Politkarriere des studierten Bauingenieurs<br />

schnell und steil: Wahl in den Parteivorstand,<br />

Wahl in den Stadtrat Athens, Wahl<br />

zum Parteichef von Syriza. 2009 zieht Alexis<br />

Tsipras schließlich ins Parlament.<br />

Der jüngste Parteichef Griechenlands<br />

hat alles, was man braucht, um Wählermassen<br />

zu begeistern. Er ist charismatisch und<br />

machtgesteuert. Er ist ein begnadeter Redner<br />

und ein kühler Stratege. Bei Pressekonferenzen<br />

und in Interviews richtet er sich<br />

stets ans Volk, in dessen Namen er spricht.<br />

Syriza und das Volk sind ein und dasselbe<br />

für ihn. Das hat geradezu messianischen<br />

Charakter. In seiner Weltanschauung gibt<br />

es keine Nuancen. Er benutzt das Vokabular<br />

eines Altkommunisten. Vom Volkswillen<br />

und Volksurteil ist häufig die Rede.<br />

Spricht er über die Wirtschaft und wie man<br />

die Krise löst, fallen Sätze wie dieser: „Das<br />

Memorandum gefährdet Griechenlands<br />

Demokratie.“<br />

Alexis Tsipras zieht alle Register – Utopismus,<br />

Patriotismus, die Leidenschaft<br />

zum Widerstand. Er ist so populistisch<br />

und volksnah wie Pasok-Gründer Andreas<br />

Papandreou. Er hat eine reine Weste, sagen<br />

viele Griechen. Er sei aufrichtig, geradlinig.<br />

Er ist, was die Griechen einen Pallikari<br />

nennen, ein tapferer Junge, der sich<br />

keiner Autorität beugt. Sein vergleichsweise<br />

bescheidenes Jahreseinkommen von<br />

zuletzt 48 000 Euro und ein Wohnsitz in<br />

einem Arbeiterviertel verschaffen ihm einen<br />

zusätzlichen Sympathiebonus. Nur er,<br />

so glauben viele, könne die erstarrten politischen<br />

Verhältnisse aufmischen, sowohl<br />

in Griechenland <strong>als</strong> auch in Europa. Alexis<br />

Tsipras und das linke Bündnis Syriza<br />

sind das alte System in neuer Verpackung,<br />

behaupten andere. Er verspreche, ganz in<br />

der Tradition griechischer Politik, was nie<br />

eingelöst werden könne.<br />

Viele Griechen mögen die Art, wie er<br />

über deutsche Politik wettert, über die EU<br />

schimpft: „Wir sind keine deutsche Kolonie!“,<br />

„billige Erpressung“, „Plünderung“<br />

von Löhnen und Renten. Vor allem kennt<br />

er das anarchistische Potenzial, das in den<br />

Griechen steckt. Seine politischen Gegner<br />

werfen ihm vor, sich nie klar und deutlich<br />

von der Gewalt bei Demonstrationen distanziert<br />

zu haben. Besonders junge Wähler<br />

begeistern sich für die Parolen des coolen,<br />

ungezogenen Jungpolitikers. Auch Rentner<br />

und Staatsbedienstete setzen auf Alexis Tsipras.<br />

Sie haben nichts zu verlieren oder haben<br />

schon genug verloren – an Rente, Einkommen,<br />

Privilegien. So siegen Impulse<br />

und Instinkte über Vernunft und Pragmatismus.<br />

Doch wie Löhne, Renten, das<br />

ganze Sozi<strong>als</strong>ystem finanziert werden sollen,<br />

wenn die vorm<strong>als</strong> eingegangenen Verpflichtungen<br />

einseitig aufgekündigt werden, hat<br />

Alexis Tsipras nie konkret erklärt.<br />

Was genau will er aber? „Die Sparmaßnahmen<br />

haben das Volk in die Verelendung<br />

gestürzt“, sagt er. Zwei Rettungspakete<br />

seien bereits gescheitert. Jetzt gehe<br />

es darum, mit Ländern in derselben Lage<br />

eine Front zu schaffen gegen die „neoliberale<br />

Barbarei“. Wie die Wellen eines Tsunamis<br />

soll der Protest in andere EU-Länder<br />

überschwappen. Seine Idee: Griechenland<br />

Foto: IML/laif<br />

56 <strong>Cicero</strong> 7.2012


„Wir sind<br />

keine<br />

deutsche<br />

Kolonie“<br />

Alexis Tsipras, der Chef des<br />

Linksbündnisses Syriza, verwahrt<br />

sich gegen jede Einmischung von<br />

außen – vor allem von Deutschland<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 57


| W e l t b ü h n e<br />

bleibt im Euroland, kündigt alle Sparmaßnamen<br />

auf und verhandelt alle Konditionen<br />

neu. EU und Internationaler Währungsfonds<br />

bluffen, ist das Kalkül. Sie<br />

können gar nicht zulassen, dass Griechenland<br />

aus der Eurozone austrete. Griechenland<br />

sei ein Glied in der Kette. Zerbreche<br />

Griechenland, zerbrechen Italien und Spanien.<br />

Das Problem sei nicht Griechenland,<br />

sondern Europa, das in der Krise stecke.<br />

Tsipras Rechnung ist eine Rechnung ohne<br />

den Wirt. Das wissen auch die Griechen.<br />

Trotzdem hofft die Mehrheit, einen Weg<br />

zu finden, der irgendwo zwischen Sparen<br />

und Euroaustritt liegt. Dass nun Angela<br />

Merkel bereit ist, über ein Wachstumsprogramm<br />

zu verhandeln, verbucht Syriza <strong>als</strong><br />

Erfolg. Und mit der Wahl François Hollandes<br />

und der 100-Milliarden-Kapit<strong>als</strong>pritze<br />

für die maroden Banken Spaniens ändert<br />

sich ohnehin alles, so ein weiteres Kalkül.<br />

Nun werden Nachverhandlungen gefordert,<br />

sowohl von Syriza <strong>als</strong> auch von anderen<br />

Parteien. Wenn Spanien für die Geldhilfe<br />

kaum Auflagen erfüllen muss, warum dann<br />

wir?, lautet die Überlegung. Im neuen Mischen<br />

der Karten liegt alle Hoffnung der<br />

Griechen.<br />

Doch der smarte Politiker, vor dem<br />

die EU zittert, ist nicht der große, starke<br />

Mann, für den man ihn in Europa hält.<br />

Ihm fehlen Erfahrung, eine Lobby und die<br />

Unterstützung der größeren Parteien. Der<br />

Chef der Syriza weiß, wie wichtig der Euro<br />

für Griechenland ist. Würde seine Partei<br />

für die Wiedereinführung der Drachme<br />

stimmen, verlöre sie augenblicklich ihre<br />

Wähler. Wie groß die Angst vor einem<br />

Austritt aus der Eurozone ist, wurde vor<br />

wenigen Wochen deutlich. Rund 800 Millionen<br />

Euro wurden von griechischen Banken<br />

abgehoben und unter dem Kopfkissen<br />

versteckt oder ins Ausland transferiert.<br />

Ohne den Euro, das ist den meisten Griechen<br />

klar, drohen Chaos, Armut, der wirtschaftliche<br />

Rückfall. Daher haben sich am<br />

Ende doch noch 29,7 Prozent der Wahlberechtigten<br />

für die etablierte Nea Dimokratia<br />

entschieden.<br />

Was Syriza von allen anderen Parteien<br />

unterscheidet, ist, abgesehen vom unbedingten<br />

Willen zum Aufstand gegen die<br />

verhasste Troika, ein großer Vertrauensvorschuss.<br />

Syriza ging ohne Kontamination in<br />

die Wahl. Korruption, Nepotismus, Bereicherung,<br />

nichts dergleichen lastet ihr an.<br />

Für viele ist Syriza daher das Licht am Ende<br />

des Tunnels.<br />

Allerdings ist Syriza keine Partei im herkömmlichen<br />

Sinne. Sie ist ein loses Konglomerat<br />

aus vielen Strömungen, dessen<br />

Struktur so komplex ist wie die Chaostheorie.<br />

Gebildet wurde Syriza vor den Parlamentswahlen<br />

2004, bei denen sie sechs<br />

Sitze gewann. Initiiert wurde sie vom Synaspismos,<br />

kurz SYN, der Koalition der<br />

Linken, der sogenannten „Bewegungen“<br />

und der Ökologie. SYN wurde 1992 vom<br />

eurokommunistischen Flügel der KKE<br />

gegründet und zog vier Jahre später ins<br />

Parlament. Als weitere linke Strömungen<br />

„Der Durchschnittsgrieche will<br />

keine finanziellen Opfer erbringen“<br />

Theodoros Pangalos, ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident<br />

zu SYN hinzustießen, erweiterte sich die<br />

Wahlkoalition zu Syriza. Heute besteht sie<br />

aus Trotzkisten, Eurokommunisten, Kapitalismus-<br />

und EU-Kritikern, Globalisierungsgegnern,<br />

Antiimperialisten, Dissidenten,<br />

Bürgerinitiativen und sonstigen<br />

zersplitterten, linken Strömungen. Jede<br />

dieser Einzelgruppen ist autonom, und<br />

jede Strömung wirbt um einen Listenplatz<br />

für ihren Kandidaten. Syriza ist stark von<br />

persönlichen Rivalitäten und Differenzen<br />

zwischen den Strömungen geprägt, was<br />

sie seit den Wahlen gut überspielt. Sollte<br />

sie jedoch in realpolitische Entscheidungszwänge<br />

geraten, wird sie schnell zerbrechen.<br />

Wie keine andere Partei reflektiert Syriza<br />

die völlige Zersplitterung, die Atomisierung<br />

der griechischen Gesellschaft. Jeder<br />

hat eigene Ziele. Und wenn sie mit<br />

dem Parteichef, der Parteiführung kollidieren,<br />

dann gründet man kurzerhand eine<br />

eigene Partei. Eine ganz und gar übliche<br />

Vorgehensweise in Griechenland, wo, mit<br />

Ausnahme der Kommunisten, Parteien absolutistisch<br />

geführt werden und das Parteiprogramm<br />

auf der Weltanschauung ihres<br />

Gründers beruht.<br />

Woher rührt aber der enorme Zuspruch<br />

für Syriza? Überzeugt Alexis Tsipras so sehr?<br />

Und verarmen die Menschen wirklich? Es<br />

gehört zur Wesensart des Landes, dass stets<br />

der Lauteste, der Populistischste die größte<br />

Wählerschaft um sich schart wie ein Hirte<br />

seine Schafe. „Neuerschaffung des Staates“,<br />

lautete 2004 der Slogan der konservativen<br />

Nea Dimokratia, die mit der von<br />

Korruption zerfressenen Regierungspartei<br />

Pasok aufzuräumen versprach. Prompt erhielt<br />

sie 45 Prozent. 2009 kehrte die sozialistische<br />

Pasok mit 44 Prozent zurück an<br />

die Macht. „Es gibt Geld!“, lautete ihr Slogan.<br />

Was Alexis Tsipras verspricht, ist die<br />

Rückkehr ins alte Leben, ohne Reformen,<br />

ohne Sparen. Doch eine Neuverhandlung<br />

mit der EU-Troika ist nicht die alleinige<br />

Lösung aus der Krise. Was Griechenland<br />

zuallererst braucht, ist ein fundamentaler<br />

Kulturwandel. Keiner traut dem anderen,<br />

der Bürger nicht dem Staat, der Staat nicht<br />

dem Bürger und keine Partei der anderen.<br />

Griechenland ist kein moderner Staat.<br />

Mit einem Fuß steht es noch immer im osmanischen<br />

Mittelalter, mit dem anderen<br />

versucht es ins 21. Jahrhundert zu schreiten.<br />

Seine Verwaltungsstrukturen sind im Kern<br />

dieselben wie vor 200 Jahren. Eingekapselt<br />

wie in Bernstein, abgekoppelt von den<br />

Entwicklungen in Europa, lag Griechenland<br />

jahrhundertelang danieder. Scholastik,<br />

Renaissance, Aufklärung, alle geistigen<br />

Strömungen gingen an dem Land vorüber.<br />

Ständegesellschaft, Bürgertum, Industrialisierung,<br />

ein Parteiensystem, ein Klassenbewusstsein<br />

– nichts dergleichen existierte.<br />

Griechenlands größtes Hindernis<br />

auf dem Weg in die Gegenwart ist seine<br />

Vergangenheit.<br />

Davon abgesehen ist Griechenland<br />

pleite. Die Staatskassen sind leer. Ebenso<br />

geplündert sind die Kassen des Gesundheits-<br />

und Sozi<strong>als</strong>ystems. Die Banken hängen<br />

am Tropf der EZB. Aus Angst vor weiteren<br />

Kürzungen rollt derzeit eine Welle der<br />

Pensionierung über das Land. Wer kann,<br />

flüchtet in die Rente. 50 Prozent der staatlichen<br />

Ausgaben entfallen auf Gehälter<br />

und Renten. Damit diese ausbezahlt werden<br />

können, stoppt der Staat jeden Monat<br />

jegliche Zahlungen an seine Gläubiger und<br />

bringt somit heimische Firmen und Versicherungsträger<br />

an den Rand des Ruins.<br />

„Der Durchschnittsgrieche will keine<br />

finanziellen Opfer erbringen. Und er<br />

will nicht auf seine erworbenen Vorteile<br />

58 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Foto: Privat (Autor)<br />

verzichten“, sagt Theodoros Pangalos. Der<br />

ehemalige Minister der Pasok weiß, wovon<br />

er spricht. „Wir haben das Land verwüstet“,<br />

bekannte er 2006 in einem Interview.<br />

Alles stockt, die Privatisierung von Staatsunternehmen,<br />

der Abbau kafkaesker Vorschriften,<br />

der Aufbau eines Katasters, die<br />

Öffnung sogenannter geschlossener Berufe,<br />

zu denen Taxifahrer und Spediteure zählen.<br />

Alles soll sich ändern, ohne sich zu ändern.<br />

Das ist die Einstellung der meisten Griechen.<br />

Seit der Staat vor wenigen Jahren begonnen<br />

hat, ein Kataster aufzubauen, muss<br />

Landbesitz deklariert und versteuert werden.<br />

Ein Aufschrei ging durch das Land.<br />

„Sie nehmen uns alles weg“, sagten viele<br />

und klagten zugleich darüber, dass es an<br />

allem mangele, an funktionierenden Krankenhäusern,<br />

Spielplätzen, Schulbüchern.<br />

Das alte Parteiensystem ist nicht zusammengebrochen,<br />

weil die Menschen von<br />

Korruption und Vetternwirtschaft genug<br />

hatten oder weil sie moralisch gereift seien,<br />

wie es Alexis Tsipras ausdrückt. Sie hätten<br />

schon vor Jahrzehnten auf die Straße gehen<br />

und gegen den, von allen geduldeten,<br />

ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag, der<br />

auf Geben und Nehmen beruht, protestieren<br />

können. Das alte Parteiensystem wankt,<br />

weil die Kassen leer sind. Wenn ein Staat<br />

bankrott ist, hat er nichts mehr zu verteilen.<br />

Keine neuen Sozialleistungen, keine Stelle<br />

bei der Gemeinde für die Tochter, keine asphaltierte<br />

Straße zum Stall und keine Gelder<br />

für die eigene Tasche. Doch der Nährboden,<br />

auf dem das Klientelsystem gedeiht,<br />

ist noch immer vorhanden.<br />

Für viele Griechen stellt sich die Wirklichkeit<br />

jedoch ganz anders dar. Sie halten<br />

den Bankrott ihres Landes für eine Lüge,<br />

so wie auch Alexis Tsipras. Die EU wolle<br />

Griechenland aufkaufen. Ihre Subventionspolitik<br />

habe die heimische Industrie und<br />

die Landwirtschaft zerstört. Schuld an der<br />

Misere seien die Politiker, die EU, die Juden,<br />

die Finanzmärkte, aber niem<strong>als</strong> der<br />

Wähler. Griechenland sei das Experiment<br />

zur Umsetzung der „neoliberalen Schockpolitik“,<br />

und die Griechen seien die Versuchskaninchen,<br />

so sieht es Alexis Tsipras.<br />

„Das Experiment muss beendet werden.“<br />

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Richard Fraunberger<br />

lebt seit 2001 in Griechenland<br />

und schreibt u. a. für die NZZ.<br />

Von ihm erschien „Jedes Dorf ein<br />

Königreich: Griechische Kontraste“<br />

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| W e l t b ü h n e | v a t i l e a k s<br />

Scheine und Heilige<br />

Der Skandal im Vatikan offenbart mehr über die<br />

dortigen Machtkämpfe, <strong>als</strong> papsttreue Medien<br />

uns glauben machen wollen: Ein ehemaliger<br />

Insider schildert seine Sicht der Dinge<br />

von david berger<br />

M<br />

an könnte fast meinen, Georg<br />

Gänswein, der engste<br />

Vertraute des Papstes, habe<br />

geahnt, welches Unheil ins<br />

Haus steht, <strong>als</strong> er im vergangenen<br />

November die dem Papst besonders<br />

ergebenen Journalisten aus Deutschland<br />

und Österreich im Vatikan zu einer<br />

Art Privatissimum um sich sammelte. Unter<br />

ihnen auch jene, die Neuigkeiten ohne<br />

Umwege über den Pressesaal des Heiligen<br />

Stuhls schon einmal direkt aus dem päpstlichen<br />

Wohnbereich erhalten. Während<br />

nämlich die eher kirchenkritischen Medien<br />

angesichts von „Vatileaks“ im Nebel<br />

stochern und verzweifelt versuchen, in den<br />

Vatikan hinein zu recherchieren, sind es vor<br />

allem die dam<strong>als</strong> Geladenen, die auf einem<br />

bestimmten Feld der deutschen Presselandschaft<br />

die Deutungshoheit über die Ereignisse<br />

fest in der Hand zu haben scheinen.<br />

Ungläubig reibt man sich die Augen ob<br />

einer Rhetorik, die an katholische Papstapologeten<br />

im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts<br />

erinnert. Da wird der Papst von<br />

seinem prominentesten journalistischen<br />

Intimus, Peter Seewald, mit Jesus selbst verglichen,<br />

verraten von Judas, der <strong>als</strong> biblischer<br />

Typus des Kammerdieners und seiner<br />

Gehilfen herhalten muss. Die Bild-Zeitung<br />

steuert die „diabolische Note“ bei, nach<br />

der der Verräter sich einfach „Maria“ genannt<br />

und immer zugeschlagen habe, während<br />

der Papst sich mit dem Privatsekretär<br />

auf seinem Spaziergang durch die vatikanischen<br />

Gärten dem Rosenkranzgebet hingab.<br />

Eine perfekte Dramaturgie aus Infamie<br />

und frommer Unschuld.<br />

Gänswein, dem italienische Medien<br />

in dem Skandal schnell die Rolle einer<br />

vatikanischen Miss Marple zugeteilt haben,<br />

wird bei Seewald zu einem zweiten<br />

heiligen Sebastian. Ihm kommt die Ehre<br />

des heldenhaften „Schilds“ für den Heiligen<br />

Vater zu, der „im Gefecht Pfeile abbekommen“<br />

muss. Auch die Welt schlägt mit<br />

einem Artikel Paul Baddes eschatologische<br />

Töne an: Herhalten muss das Gleichnis von<br />

den Winzern, die den Gesandten des Weinbergbesitzers<br />

aus Bösartigkeit töten. Auch<br />

wenn sich die Parabel aus dem Matthäus-<br />

Evangelium eigentlich auf Christus bezieht,<br />

gewinnt man nun den Eindruck, der biblische<br />

Schriftsteller habe, <strong>als</strong> er sie zu Papier<br />

brachte, eigentlich nur an „Vatileaks“ gedacht:<br />

An die Stelle der Person Jesu auf der<br />

Sachebene des Gleichnisses wird nun wieder<br />

der Papst gerückt. Die Rolle der bösen<br />

Knechte beziehungsweise des Teufels<br />

kommt konsequenterweise den Verrätern<br />

zu – unterstützt durch die „Schäbigkeit“ der<br />

indiskreten Medien, die die benediktinische<br />

Wende innerhalb der Kirche „mithilfe von<br />

Kriminellen“ vereiteln wollten. Dass die<br />

kirchenpolitische Instrumentalisierung der<br />

Judasfigur eine verhängnisvolle Tradition<br />

hat und auch die mystisch-christologische<br />

Überhöhung des Papstes unter fachtheologischem,<br />

geschweige denn ökumenischem<br />

Aspekt eine Katastrophe darstellt, betonte<br />

im Zusammenhang der gegenwärtigen Geschehnisse<br />

kürzlich erst EKD-Präsident Nikolaus<br />

Schneider. Aber all das scheint die<br />

Papstapologeten nicht zu stören. Wer die<br />

Bösen und wer die Guten in dem vatikanischen<br />

Drama sind, ist klar geworden. Und<br />

auf der dunklen Folie menschlicher Sündhaftigkeit<br />

und medialer Niedertracht kann<br />

das strahlende Weiß des päpstlichen Opferlamms<br />

umso heller strahlen.<br />

Doch all dem frommen Gesäusel zum<br />

Trotz kann man sich des Eindrucks nicht<br />

erwehren, dass es ganz so einfach dann<br />

eben doch nicht sein dürfte. Soll hier womöglich<br />

bewusst die Flucht in eine biblisch-religiöse<br />

Überhöhung angetreten<br />

werden? Soll durch das Werfen von Weihrauchgranaten<br />

von etwas abgelenkt werden,<br />

das vielleicht den eigentlichen Kern<br />

des Skand<strong>als</strong> ausmacht?<br />

Auch wenn sich Medienschelte bei<br />

Journalisten seltsam ausnimmt, liegen sie<br />

ganz auf der Linie ihres mit allen Mitteln<br />

apologisierten Papstes. Denn Benedikt<br />

selbst machte in seinen wenigen öffentlichen<br />

Äußerungen sofort die Medien<br />

für den Skandal verantwortlich. Während<br />

am Heiligen Stuhl eigentlich alles in bester<br />

Ordnung sei und er sich deshalb vorbehaltlos<br />

und voller Vertrauen hinter seine Mitarbeiter<br />

stelle, seien es „manche Medien“<br />

gewesen, die nur mit Unterstellungen arbeiteten.<br />

Ja, in den Medien zeige sich geradezu<br />

eine „Kultur der Lüge und des Bösen“,<br />

die sich „<strong>als</strong> Wahrheit und Information<br />

präsentiert“. Unter dem Schein, die Kirche<br />

und die Regierung des Vatikans reformieren<br />

zu wollen, offenbare sich in Wahrheit<br />

der „Geist der Verleumdung und Zerstörung“.<br />

In ihrer letzten Konsequenz leugne<br />

sie Gott selbst. Unglückliche Erinnerungen<br />

werden da wach an den Missbrauchsskandal,<br />

der in der öffentlichen Wahrnehmung<br />

gerade halbwegs ausgestanden war,<br />

<strong>als</strong> „Vatileaks“ zur Belastung wurde. Ganz<br />

offensichtlich nicht das Geschehene selbst,<br />

sondern die Tatsache, dass es öffentlich gemacht<br />

und zum Skandal wurde, war auch<br />

in diesem Fall das den Papst und die Kurie<br />

wirklich plagende Problem.<br />

Dass man im Vatikan auf Skandale in<br />

pawlowscher Manier mit Medienschelte reagiert,<br />

hat seine Wurzeln im Gebaren der<br />

Römischen Kurie generell. Deren Organisationstrukturen<br />

reichen in das Hochmittelalter<br />

zurück und bauen sich nach wie vor<br />

<strong>als</strong> Verwaltungsapparat einer absolutistischen<br />

Monarchie auf. Hier hat die fehlende<br />

vatikanische Transparenz ihre geschichtlichen<br />

Wurzeln, die nach Gian luigi Nuzzi<br />

überhaupt erst den Reiz der von ihm publizierten<br />

Enthüllungen schafft. Die fehlende<br />

Transparenz und Heimlichtuerei ist zudem<br />

die Bestandsgarantie für eine ganz eigene<br />

kuriale Informationspolitik. Zum einen ist<br />

man am Hofstaat des Papstes dienstlich zu<br />

absoluter Diskretion verpflichtet und hat<br />

60 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Fotos: Imago, Hans Scherhaufer (Autor)<br />

auch dort eine Aversion gegen die großen<br />

Medien, die man nicht selten <strong>als</strong> von Freimaurern,<br />

dem Weltjudentum und anderen<br />

kirchenfeindlichen Kräften unterwandert<br />

verachtet. Auf der anderen Seite weiß<br />

man um die Macht der Information, die<br />

man benötigt, um seine kirchenpolitischen<br />

und manchmal auch ganz einfach egoistischen<br />

Interessen durchzusetzen. Mit Transparenz<br />

würde so etwas natürlich nicht<br />

funktionieren.<br />

Um dieses Dilemmas Herr zu werden,<br />

streut man gezielt bestimmte Gerüchte.<br />

Nicht nur in Italien steht ein<br />

ganzes Heer williger erzkatholischer<br />

Blogger bereit, die die strategisch erwünschten<br />

Informationen über das<br />

Internet verbreiten. Ihr prominentester<br />

dürfte Andrea Tornielli mit seinem<br />

Blog Sacri Palazzi sein, der nicht<br />

selten besser informiert auftritt <strong>als</strong> der<br />

offizielle vatikanische Pressesprecher<br />

Federico Lombardi. Stolz weist man<br />

auch bei der deutschsprachigen, äußerst<br />

konservativ-katholischen Internetseite<br />

kath.net darauf hin, dass man<br />

bis in den Vatikan hinein gut vernetzt<br />

sei. Und der Leiter des Kommunikationsbüros<br />

der Diözese Linz musste<br />

zähneknirschend eingestehen, dass<br />

besagtem Internetportal ein vatikanisches<br />

Dokument auf inoffiziellem<br />

Wege zugespielt worden war, bevor<br />

es der zuständige Diözesanbischof in<br />

Händen hielt. Selbst das in Deutschland<br />

ob seiner antisemitischen Propaganda<br />

und krimineller Verleumdungskampagnen<br />

vom Verfassungsschutz<br />

beobachtete Portal kreuz.net scheint in ähnlicher<br />

Weise aus dem Vatikan heraus instrumentalisiert<br />

worden zu sein.<br />

Mit „Vatileaks“ droht nun aber ganz<br />

offensichtlich den reaktionären Kräften an<br />

der Kurie bis hin zum Umfeld des Papstes<br />

das Machtinstrument der gezielten (Des-)<br />

Information entrissen zu werden. Badde<br />

hat das richtig erkannt, <strong>als</strong> er bemerkte,<br />

die Enthüllungen schadeten der „Aura der<br />

Macht“ des Papstes. Passenderweise erinnerten<br />

sowohl Pressesprecher Lombardi<br />

wie auch Kardin<strong>als</strong>taatssekretär Tarcisio<br />

Bertone die italienische Staatsanwaltschaft<br />

nachdrücklich, ja fast drohend an die „souveränen<br />

Rechte des Heiligen Stuhls“, um<br />

so die Veröffentlichung eines Dossiers zur<br />

Vatikanbank zu verhindern, das der italienischen<br />

Staatsanwaltschaft zufällig in die<br />

„Kultur der Lüge und des Bösen“: Papst Benedikt XVI<br />

sieht eine Intrige der Medien<br />

Hände geraten war. Der heilige Schein<br />

muss, schon im Interesse des Machterhalts,<br />

um jeden Preis erhalten bleiben.<br />

Man wird nach all dem Gesagten zumindest<br />

einmal darüber spekulieren dürfen,<br />

ob sich mit den neueren Enthüllungen<br />

vielleicht nicht doch die durch die<br />

Wahl Ratzingers zum Papst ins Mark getroffene,<br />

inzwischen immer kleiner werdende<br />

liberale Gruppe in der Führungsriege<br />

des Vatikans und im Weltepiskopat<br />

in einem letzten Aufbäumen zu Wort meldet.<br />

Dass der Skandal just zu jenem Zeitpunkt<br />

den Vatikan zu erschüttern begann,<br />

<strong>als</strong> das warme Werben des Papstes um die<br />

Gunst der Piusbrüder kurz vor dem Erfolg<br />

stand, könnte darauf hinweisen. Denn<br />

immerhin bedeutet die Rehabilitation der<br />

gesamten Piusbruderschaft einen grundlegenden<br />

Paradigmenwechsel innerhalb der<br />

katholischen Kirche, der das Grundsatzprogramm<br />

des progressiv-liberalen Flügels,<br />

das Zweite Vatikanische Konzil mit seiner<br />

Öffnung der katholischen Kirche hin zur<br />

offenen Gesellschaft, endgültig ad acta legt.<br />

Sowohl die in den veröffentlichten Akten<br />

vorkommenden Personen <strong>als</strong> auch die<br />

Inhalte der veröffentlichten Dokumente,<br />

über die die eifrigen Papstapologeten mit<br />

dem Verweis „nichts Neues“ allzu schnell<br />

hinweggehen, sprechen jedenfalls für diese<br />

These. Bei den Akteuren ist es immer wieder<br />

Kardinal Bertone, der zweite Mann im Vatikan,<br />

der eine zentrale Figur darstellt. Doktrinär<br />

und gesellschaftspolitisch gehört er<br />

zu den konservativen Hardlinern in Rom.<br />

Seit vielen Jahren übernimmt er für Ratzinger<br />

die eher unangenehmen Aufgaben.<br />

Einen Zwist zwischen ihm und Benedikt<br />

zu konstruieren, ist geradezu lächerlich.<br />

Der Journalist Alan Posener<br />

hat zu Recht betont: „Wer Bertone<br />

angreift, greift das System Benedikts<br />

an.“ Dazu passt eine weitere Enthüllung,<br />

wonach der Papst Personalfragen<br />

in enger Beratschlagung mit dem<br />

Chef der konservativen kirchlichen<br />

Vereinigung „Communione e liberazione“<br />

(CL) löste. Beide waren sich<br />

darin einig, dass die Mailänder Kardinäle<br />

Carlo Maria Martini und Dionigi<br />

Tettamanzi – zufälligerweise beide<br />

in Konkurrenz zu Ratzinger über viele<br />

Jahre <strong>als</strong> mögliche Papstanwärter gehandelt<br />

– liberalen Theologen zu weiten<br />

Raum gegeben hätten.<br />

Nicht uninteressant ist schließlich<br />

die Tatsache, dass CL in engster Verbindung<br />

mit Silvio Berlusconi und<br />

dessen Forza Italia stand. Denn damit<br />

führt der Bogen wieder hin zu jenem<br />

bereits erwähnten Dossier des wegen<br />

seiner Kooperationsbereitschaft mit<br />

der italienischen Justiz entlassenen<br />

Chefs der Vatikanbank. Aus diesen<br />

Papieren geht nämlich unzweifelhaft<br />

hervor, dass der Berlusconi-Sympathisant<br />

Bertone <strong>als</strong> Chef des Aufsichtsrats<br />

der Vatikanbank dafür gesorgt hat, dass<br />

politische Freunde, aber auch hochrangige<br />

Mafiabosse über Vatikanbankkonten<br />

Geldwäsche in großem Umfang betreiben<br />

konnten. Dass diese Konten unter den<br />

fromm klingenden Namen religiöser Stiftungen<br />

eingerichtet wurden, scheint geradezu<br />

symbolhaft für den ganzen Skandal:<br />

Es geht darum, den heiligen Schein mit<br />

neuen Scheinheiligkeiten um jeden Preis<br />

zu bewahren.<br />

David Berger war Professor<br />

an der päpstlichen Thomas-<br />

Akademie und Lektor der päpstlichen<br />

Glaubenskongregation<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 61


| W e l t b ü h n e | B o d e n s c h ä t z e i m Ü b e r f l u s s<br />

Reich, Reicher,<br />

Mongolei<br />

von Christiane Kühl<br />

Wüstengold: Schon 50 Meter<br />

unter der Erdkrume stoßen die<br />

Bagger in der Südgobi auf Kohle<br />

62 <strong>Cicero</strong> 7.2012


R U S S L A N D<br />

Irkutsk<br />

Baik<strong>als</strong>ee<br />

Ulan Bator<br />

M O N G O L E I<br />

W üste Gobi<br />

Tawan ∆<br />

Tolgoi<br />

(Kohle)<br />

Oyu Tolgoi<br />

(Kupfer, Gold)<br />

∆<br />

Baotou<br />

Peking<br />

400 km<br />

C H I N A<br />

In der Wüste Gobi liegt das größte unerschlossene<br />

Kohlevorkommen der Welt. Neben Kupfer, Gold und<br />

Uran verfügt die Mongolei auch über reichlich Eisenerz,<br />

Wolfram, Silber und Seltene Erden. Das macht das Land<br />

zu einem Objekt der Begierde – besonders für seine<br />

rohstoffhungrigen Nachbarn Russland und China<br />

Foto: Mareike Günsche; Grafik: <strong>Cicero</strong><br />

R<br />

enchin Natsagdash blickt in ein<br />

schwarzes Loch. Staub steigt daraus<br />

empor, riesige Kipplaster<br />

schrauben sich auf breiten<br />

Rampen hinein und wieder heraus.<br />

Nur 15 Minuten brauchen sie für die<br />

Runde zwischen dem Loch und den zwei<br />

daneben angehäuften Halden, sagt Natsagdash.<br />

Auf der einen schütten die Kipper<br />

das überflüssig gewordene Erdreich aus.<br />

Auf der anderen stapeln sie den wertvollen<br />

Rohstoff: Kohle, die hier in der südmongolischen<br />

Wüstenregion Tawan Tolgoi<br />

schon ab 50 Meter Tiefe nutzbar ist.<br />

„Traditionelle Bergbauarbeiter brauchen wir<br />

hier nicht“, sagt Natsagdash. „Nur Fahrer.“<br />

Solche, die auch Ungetüme mit einem Reifendurchmesser<br />

von 3,50 Metern steuern<br />

können.<br />

Natsagdash ist der Manager der Grube,<br />

ein erfahrener Bergbauingenieur, seit<br />

30 Jahren im Geschäft mit dem schwarzen<br />

Gold. Aber das hier ist auch für ihn etwas<br />

Neues. Etwas Großes. Unter Tawan Tolgoi<br />

liegt das größte unerschlossene Kokskohlevorkommen<br />

der Welt. Natsagdashs Firma,<br />

der mongolische Staatskonzern Erdenes Tawan<br />

Tolgoi, hält Lizenzen für 95 Prozent<br />

der hier lagernden Kohle – und beginnt gerade<br />

erst, diese Vorräte auszubeuten. „Allein<br />

an diesem Loch können wir 50 Jahre<br />

graben“, sagt Natsagdash. 72 Meter ist es<br />

jetzt tief, 300 Meter tief soll es einmal werden<br />

und deutlich breiter. Und dann zeigt<br />

der Ingenieur auf die steinige Ebene hinter<br />

einem dünnen Zaun. „Auch dort liegt<br />

überall Kohle. Das werden wir schrittweise<br />

alles aufgraben, auf einer Fläche<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 63


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Das staatseigene Bergbauunternehmen Erdenes Tawan Tolgoi expandiert und sucht neue Mitarbeiter: Die Jobs sind begehrt, die<br />

von 20 mal 30 Kilometern.“ Die gesamte<br />

Kohle gehe über die 250 Kilometer entfernte<br />

Grenze nach China. Um den Rohstoffhunger<br />

des südlichen Nachbarn zu stillen,<br />

werden Minenlaster und Bagger hier in<br />

den nächsten Jahren riesige Löcher in den<br />

Wüstenboden der Gobi reißen.<br />

Tawan Tolgoi und die benachbarte<br />

Kupfermine Oyu Tolgoi haben die Mongolei<br />

zu einer Nation von geostrategischer<br />

Bedeutung werden lassen. Ein Land, das<br />

zwar riesig, aber fast menschenleer ist. Weniger<br />

<strong>als</strong> drei Millionen Menschen leben<br />

dort, davon rund 700 000 <strong>als</strong> Nomaden.<br />

Oyu Tolgoi im Südosten der Mongolei gehört<br />

zu den fünf größten Kupfervorkommen<br />

der Welt. Dort finden erste Erdarbeiten<br />

statt, ab 2013 soll Kupfer abgebaut<br />

werden. Und bald auch Gold.<br />

Seit der Entdeckung dieser Riesenvorkommen<br />

wird die Mongolei zu den sieben<br />

rohstoffreichsten Ländern der Welt gezählt.<br />

Neben Kohle, Kupfer und Gold liegen<br />

auch Uran, Eisenerz, Molybdän, Wolfram,<br />

Silber, Türkis und Seltene Erden unter der<br />

Wüste Gobi. Auf diese Bodenschätze werfen<br />

ausländische Regierungen und Unternehmen<br />

begehrliche Blicke. Im Oktober<br />

2011 reiste Bundeskanzlerin Angela<br />

Merkel eigens nach Ulan Bator und unterschrieb<br />

dort eine Rohstoffpartnerschaft<br />

mit der Mongolei, die bereits deutschen<br />

Unternehmen nützt: BBM Operta bekam<br />

gemeinsam mit dem australischen Konzern<br />

Macmahon von Erdenes Tawan Tolgoi den<br />

Zuschlag für die Erdarbeiten. Siemens wird<br />

Gasturbinen für ein späteres Kraftwerk an<br />

der Mine liefern.<br />

„Traditionelle<br />

Bergbauarbeiter<br />

brauchen wir hier<br />

nicht – nur Fahrer“<br />

Renchin Natsagdash,<br />

Bergbauingenieur<br />

beim mongolischen<br />

Staatskonzern Erdenes<br />

Tawan Tolgoi<br />

Durch den Rohstoffboom stehen der<br />

Mongolei enorme Umwälzungen bevor.<br />

Getrieben vom hohen Tempo des Minenbaus<br />

muss die Regierung schnell definieren,<br />

was für ein Land die Mongolei sein soll –<br />

welche Rechte sie etwa Investoren, Arbeitern<br />

oder dem Naturschutz einräumen will.<br />

Die nötige Gesetzgebung hinkt den Entwicklungen<br />

im Rohstoffsektor hinterher.<br />

Für das Land spricht, dass es eine der<br />

wenigen Demokratien Zentralasiens ist.<br />

Doch die ist nicht perfekt: Zwei Parteien<br />

beharken einander bis aufs Blut – die Demokraten<br />

von Präsident Tsakhia Elbegdorj<br />

und die postkommunistische Volkspartei<br />

seines Vorgängers Nambaryn Enkhbayar.<br />

Letzterer steht zurzeit unter Korruptionsverdacht.<br />

Und er ist nicht der Einzige: Auf<br />

dem Korruptionsindex der Organisation<br />

Transparency International belegt die Mongolei<br />

unter 182 Staaten den wenig ruhmreichen<br />

Rang 120; bei Wahlen ist häufig<br />

von Betrug die Rede.<br />

Daher ist noch völlig unklar, wie gut<br />

das Land die aus dem Rohstoffboom entstehenden<br />

Herausforderungen in den Griff<br />

bekommen wird. Ob es etwa das Gespenst<br />

einer Rohstoffökonomie besiegen kann, da<br />

diese Form der Wirtschaft einseitig von<br />

Ressourcen abhängt und zu wenig in andere<br />

Branchen investiert. Zudem treibt das<br />

aus den Rohstoffexporten ins Land fließende<br />

Kapital leicht Inflation und Wechselkurs<br />

nach oben. Profitiert die Bevölkerung<br />

nicht vom Rohstoffboom, drohen<br />

Konflikte zwischen Arm und Reich – in<br />

einem Land, in dem nach Angaben der<br />

Weltbank noch ein Drittel der Menschen<br />

unter der Armutsgrenze leben. Und die Regierung<br />

muss die richtige Balance zwischen<br />

Bergbau und Naturschutz finden.<br />

Fotos: Mareike Günsche<br />

64 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Gehälter gut und die eigens für die Arbeiter errichteten Camps nach mongolischen Maßstäben fast schon luxuriös<br />

Wenn die Mongolei es aber richtig<br />

anstellt, ist der plötzliche Rohstoffreichtum<br />

vor allem eine Verheißung. Dank der<br />

Rohstoffe wuchs die Wirtschaft 2011 mit<br />

17 Prozent schneller <strong>als</strong> in jedem anderen<br />

Land der Welt. Prognosen sagen für die<br />

nächsten Jahre ähnliche Wachstumsraten<br />

voraus.<br />

Bataa Batkhuu ist selbstverständlich<br />

für den Bergbau. Er ist Abteilungsdirektor<br />

für Bergbau und Schwerindustrie im<br />

Ministerium für Rohstoffe und Energie;<br />

vom Schreibtisch in seinem schlichten<br />

Büro blickt er täglich auf eine riesige Bodenschatzkarte<br />

an der gegenüberliegenden<br />

Wand. Wenn Oyu Tolgoi seinen Betrieb<br />

aufnimmt, werde der Bergbau 30 Prozent<br />

zum Bruttoinlandsprodukt beitragen, sagt<br />

er. Heute sind es 22 Prozent.<br />

Aber Batkhuu kennt auch die Probleme.<br />

„Die Lizenzen für den Bergbau in den verschiedenen<br />

Territorien werden in Ulan Bator<br />

ausgestellt. Oft haben die Menschen vor<br />

Ort nichts davon, wenn die Rohstoffe dann<br />

gefördert werden“, erklärt er. Außerdem<br />

gibt es Kritik, weil das Bergbaugesetz und<br />

das Umweltgesetz miteinander in Konflikt<br />

stehen. Eine Novelle des Bergbaugesetzes<br />

steht daher ganz oben auf der Prioritätenliste<br />

des neuen, aus der Wahl am 28. Juni<br />

hervorgegangenen Parlaments. Strengere<br />

Regeln für die Lizenzvergabe seien darin<br />

ein großes Thema, daher gebe der Staat<br />

bis zur Verabschiedung der Novelle keine<br />

neuen Lizenzen mehr aus, sagt Batkhuu.<br />

Im Umlauf sind nach offiziellen Daten<br />

derzeit knapp 3700 Bergbaulizenzen, davon<br />

1200 Minenlizenzen und 2500 Erkundungslizenzen.<br />

Zu viele, findet Batkhuu.<br />

Die Kontrolle des Bergbaus vor Ort sei deshalb<br />

sehr schwer. „Den Außenstellen der<br />

Kontrollbehörden fehlen die Kapazitäten.<br />

Wir bilden im Moment Prüfer aus, doch<br />

das braucht Zeit.“<br />

Schneller beschloss die mongolische<br />

Regierung kürzlich eine schärfere Kontrolle<br />

ausländischer Investitionen. Zuvor<br />

hatte die Kohlemine SouthGobi – mehrheitlich<br />

im Besitz der kanadischen Firma<br />

Ivanhoe Mines – verkündet, 57,6 Prozent<br />

der Anteile an den chinesischen Aluminiumkonzern<br />

Chalco zu verkaufen. Nun<br />

müssen ausländische Investitionen in strategische<br />

Sektoren – Bergbau, Medien und<br />

Finanzen – von der Regierung in Ulan Bator<br />

genehmigt werden. Etwa solche wie in<br />

Oyu Tolgoi: Am dortigen Minenkonsortium<br />

hält der mongolische Staat 34 Prozent<br />

und wiederum Ivanhoe Mines 66 Prozent.<br />

Das Unternehmen gehört zu 49 Prozent<br />

dem australischen Minengiganten Rio<br />

Tinto, der das Projekt managt. Damit hat<br />

Batkhuu kein Problem. „Aber wir müssen<br />

sicherstellen, dass künftige Investitionen<br />

das nationale Interesse nicht gefährden.<br />

Früher hatten Investitionen einfach nicht<br />

diese Ausmaße.“<br />

Also Angst speziell vor China? Der<br />

Nachbarstaat und seine Menschen sind<br />

in der Mongolei nicht besonders beliebt.<br />

Batkhuu sagt nur: „Unser Nachbar China<br />

ist groß. Und auch Russland ist ein großes<br />

Land.“ Die einzigen beiden Nachbarn<br />

umschlingen die Mongolei. Russland<br />

dominierte das Land zu Sowjet zeiten<br />

politisch. China dominiert es heute wirtschaftlich.<br />

85 Prozent der mongolischen<br />

Exporte gehen nach China, neben Rohstoffen<br />

vor allem Kaschmirwolle. So ist es<br />

nur folgerichtig, dass Ulan Bator sich aktiv<br />

nach weiteren Partnern wie Deutschland<br />

umsieht.<br />

In der Vergangenheit hatte umgekehrt<br />

China lange Zeit Angst vor den Mongolen.<br />

Deretwegen bauten die Chinesen ihre<br />

Große Mauer. Über Jahrhunderte fielen<br />

Mongolenstämme immer wieder zu Raubzügen<br />

in China ein und verschwanden danach<br />

durch die Wüste Gobi. Im 13. Jahrhundert<br />

eroberten sie das gesamte Reich<br />

der Mitte und herrschten dort knapp<br />

100 Jahre. Begonnen hatte die kurze<br />

Glanzzeit der Mongolen mit dem reitenden<br />

Krieger Dschingis Khan. Dieser vereinigte<br />

1206 die nomadischen Stämme und<br />

eroberte mit ihnen weite Teile Eurasiens.<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 65


| W e l t b ü h n e | B o d e n s c h ä t z e i m Ü b e r f l u s s<br />

Die Hauptstadt Ulan Bator ist für viele der große Traum – dort leben mit 1,3 Millionen Menschen die Hälfte aller Mongolen. Die Zukunft<br />

Dschingis Khan verehren die Mongolen bis<br />

heute. Im Gras eines Berghangs bei Ulan<br />

Bator liegt weithin sichtbar ein Bildnis des<br />

Kriegers aus Steinen.<br />

Auch die Nomadenkultur prägt das<br />

Land immer noch stark. Präsident Elbegdorj<br />

etwa wurde <strong>als</strong> Nomadenjunge geboren.<br />

Der Staat will diese Kultur erhalten,<br />

doch das wird immer schwieriger. Das Nomadentum<br />

wird bedroht durch die Moderne,<br />

den Klimawandel – und nun auch<br />

durch die Minen.<br />

Schon wenige Kilometer südlich von<br />

Ulan Bator geht die Asphaltstraße in eine<br />

Piste über, die niemand gebaut hat. Über<br />

die Jahre haben zahllose Jeeps die Spuren<br />

ausgefahren, die immer wieder zerfasern<br />

und zusammenfinden. Jedes Auto<br />

zieht eine Staubwolke hinter sich her, die<br />

in der Ebene kilometerweit sichtbar ist.<br />

Ortschaften gibt es kaum, nur verstreute<br />

winzige Kreiszentren, Soum genannt. Verteilt<br />

über die Steppe leben Nomaden wie<br />

eh und je in ihren Jurten, runden Zelten<br />

aus dickem hellem Filz, die von einem<br />

Holzgitter stabilisiert werden. Sie lassen<br />

ihre Pferde, Ziegen, Schafe und Kamele<br />

frei grasen. Am Boden blüht es weiß, gelb<br />

oder lila. Niedrige Büsche wechseln sich ab<br />

mit hellgelbem Dünengras. Es gibt wilde<br />

Minze, wilden Rhabarber, und immer wieder<br />

streicht der Wind den süßlichen Duft<br />

„Oft haben die Leute<br />

vor Ort nichts<br />

davon, wenn die<br />

Rohstoffe gefördert<br />

werden“<br />

Bataa Batkhuu,<br />

Abteilungsdirektor<br />

für Bergbau und<br />

Schwerindustrie im<br />

Ministerium für Rohstoffe<br />

und Energie<br />

von Wermutkraut über die Ebene. Darüber<br />

wölbt sich ein stahlblauer Himmel mit<br />

weißen Wölkchen.<br />

Mit wachsender Entfernung von Ulan<br />

Bator sprießen immer weniger Halme, und<br />

immer weniger Jurten stehen an den sanften<br />

Hängen. Eine der wenigen gehört Enkhjargal,<br />

die wie viele Nomaden nur ihren<br />

Vornamen verwendet. Ihr nächster Nachbar<br />

wohne zwei bis drei Kilometer entfernt,<br />

sagt die stämmige Viehzüchterin und zeigt<br />

unbestimmt auf die nächste Hügelkette.<br />

Sie hat ihr ganzes Leben in dieser kargen<br />

Gegend verbracht, genau wie ihr Mann.<br />

Der Radius der Familie ist klein. Im<br />

Sommer ziehen sie hinaus in die Ebene,<br />

immer dorthin, wo das beste Gras wächst.<br />

Sie haben Kamele, Schafe und Ziegen. Ihre<br />

Rinder seien 2010 im letzten Zuud verendet,<br />

sagt Enkhjargal. Ein Zuud ist die<br />

schlimmste Naturkatastrophe für die Nomaden:<br />

ein zu langer, zu strenger Winter<br />

mit so viel Schnee, dass die Tiere nicht an<br />

die Pflanzen unter der Schneedecke gelangen<br />

und sterben. Alle paar Jahre kommt der<br />

Zuud, und jedes Mal wirft er Tausende Nomaden<br />

in die Armut zurück.<br />

„Staub und Trockenheit nehmen zu.<br />

Viele behaupten, das liege am Klimawandel“,<br />

sagt Enkhjargal und wiegt ihr<br />

einjähriges Töchterchen auf dem Schoß.<br />

Die 39-Jährige sitzt auf einem der Betten,<br />

die entlang der Filzwand der Jurte stehen,<br />

dekoriert mit traditionellen Wandteppichen.<br />

Noch nie musste sie im Frühjahr<br />

so lange im Winterlager auf Regen warten<br />

– bis in den Juni hinein. Dennoch sei<br />

das Leben heute besser. „Man kann sich<br />

Kleider kaufen und muss sie nicht mehr<br />

selbst nähen, und mit dem Handy können<br />

wir hier drei von vier mongolischen<br />

Netzanbietern empfangen.“ Vor der Jurte<br />

parkt ein blaues Motorrad. Eine Satellitenschüssel<br />

liefert Fernsehprogramme,<br />

eine Photovoltaikzelle den Strom; beides<br />

konnte die Familie vor vier Jahren<br />

Fotos: Mareike Günsche<br />

66 <strong>Cicero</strong> 7.2012


ihrer Kinder sieht auch Enkhjargal in der Stadt. Sie selbst kann sich nur ein Leben <strong>als</strong> Nomadin vorstellen, trotz der widrigen Natur<br />

im Rahmen eines Entwicklungsprojekts<br />

günstig kaufen.<br />

Quer durch die Steppe haben sich die<br />

Nomaden diese Dinge zugelegt. Sie machen<br />

ihr archaisches, von den Wechselfällen<br />

der Natur dominiertes Leben angenehmer<br />

und verbinden sie mit der<br />

Außenwelt – einer Welt, die vor allem für<br />

ihre Kinder attraktiv ist. Enkhjarg<strong>als</strong> ältere<br />

Tochter geht im nahen Kreiszentrum Tsogt<br />

Owoo zur Schule; die 13-Jährige trägt<br />

Jeans und einen türkisfarbenen Kapuzenpulli.<br />

Der Sohn macht in der Hauptstadt<br />

des Aimags Südgobi – eine der 22 Provinzen<br />

der Mongolei – eine Facharbeiterausbildung.<br />

„Auch wenn meine Kinder eines<br />

Tages in die Stadt ziehen sollten, bliebe ich<br />

hier. Hier gehöre ich hin“, sagt die Mutter.<br />

Die Tochter serviert schweigend salzigen<br />

Tee mit Ziegenmilch.<br />

Es ist eine exemplarische Geschichte: der<br />

Exodus der Nomadenjugend in die Sesshaftigkeit<br />

– oder in die Minen. Während Enkhjargal<br />

spricht, donnert auf der Piste draußen<br />

ein Tieflader mit Minengerät vorbei. Hinter<br />

dem nächsten Hügel entsteht eine Hochspannungsleitung<br />

ins 70 Kilometer entfernte<br />

Tawan Tolgoi. Die Masten stehen<br />

schon und warten auf die Kabel. Es sind die<br />

Vorboten einer ungewissen Zukunft: Wenn<br />

zu der wachsenden Trockenheit nun noch<br />

die Folgen der Industrialisierung kommen,<br />

was dann? Die Minen brauchen viel Wasser,<br />

und jetzt fragt man sich, woher sie es nehmen<br />

sollen, ohne den Nomaden zu schaden.<br />

Neben Stromnetzen brauchen sie asphaltierte<br />

Straßen, damit die Laster weniger<br />

Staub aufwirbeln. Doch Straßen behindern<br />

die Wanderung der Tiere.<br />

Tsogt Tsetsi, 530 Kilometer und 14 Autostunden<br />

südlich von Ulan Bator, steht allein<br />

im Zeichen der Kohle. In Sichtweite<br />

steigt schwarzer Staub aus der Kohlehalde<br />

der Firma Energy Resources auf. Das Privatunternehmen<br />

besitzt knapp 5 Prozent<br />

der Vorkommen von Tawan Tolgoi und<br />

begann schon 2009 mit dem Kohleabbau.<br />

Am Rand von Tsogt Tsetsi baut es derzeit<br />

eine Siedlung für die Mitarbeiter: Wohnblöcke<br />

für je 120 Familien, angestrichen in<br />

Knallorange oder Gelb. Überall in Tsogt<br />

Tsetsi werden kleine Backsteinhäuser gebaut,<br />

in denen Motels, Banken, Friseure<br />

oder Lokale einziehen, betrieben von einstigen<br />

Nomaden der Gegend oder Zugezogenen<br />

aus dem ganzen Land: Migranten,<br />

die Serviceleistungen für die Minenarbeiter<br />

anbieten, auf der Suche nach Glück – und<br />

vor allem nach Geld. So wie Oyunaa. Die<br />

24-Jährige ist Kellnerin im Restaurant „Erdene“<br />

an der einzigen geteerten Straße des<br />

Orts. In dem dunkel getäfelten Lokal essen<br />

viele Lastfahrer aus den Minen. Oyunaa<br />

fühlt sich hier nicht richtig zu Hause. Sie<br />

stammt aus dem fernen Altai-Gebirge im<br />

Norden des Landes. Mehrere Jahre lebte<br />

sie in Ulan Bator, wo ihr Mann <strong>als</strong> Koch<br />

arbeitete. Als das Restaurant geschlossen<br />

wurde, bekam er ein Angebot aus seinem<br />

Heimatort Tsogt Tsetsi. „Er ist jetzt Koch<br />

bei einem Subkontraktor, der Sprengarbeiten<br />

in der Mine macht. Das Gehalt ist viel<br />

besser <strong>als</strong> in Ulan Bator.“ Als Bekannte ihres<br />

Mannes das Lokal „Erdene“ eröffneten,<br />

besorgte er Oyunaa den Job <strong>als</strong> Kellnerin.<br />

Ihre Zukunft sieht sie aber woanders: „Irgendwann,<br />

wenn wir genug Geld verdient<br />

haben, möchte ich wieder weg.“<br />

Tsogt Tsetsi ist ein Ort, der Chancen<br />

auf einen bescheidenen Wohlstand birgt.<br />

Das Gehalt der Minenarbeiter halten die<br />

Firmen geheim. Aber es heißt, dass sie etwa<br />

eine Million Tugrik im Monat bekommen<br />

– gut 600 Euro und damit viel mehr<br />

<strong>als</strong> in jedem anderen Arbeiterjob.<br />

Draußen bläst der Wind Staub über die<br />

leere Hauptstraße. Kinder rasen mit dem<br />

Fahrrad umher und hinein in die Lehmgassen,<br />

in denen sesshafte Nomaden ihre<br />

Jurten aufgebaut haben. Wer in der Mongolei<br />

ein Stück Land einzäunt, darf es behalten.<br />

Solche Jurtensiedlungen stehen in<br />

den Soums, den Aimag-Zentren und auch<br />

in Ulan Bator. Aufgebaut haben sie Nomaden,<br />

die im Zuud ihre Tiere verloren haben<br />

oder einfach in die Städte wollen.<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 67


| W e l t b ü h n e | B o d e n s c h ä t z e i m Ü b e r f l u s s<br />

Die Hauptstadt ist für viele der größte<br />

Traum. Dort leben mit 1,3 Millionen rund<br />

45 Prozent aller Mongolen. Ulan Bator<br />

wächst schnell, bislang ohne jeden Masterplan.<br />

Hier laufen junge Leute in modischen<br />

Klamotten herum, wie man sie<br />

in den Metropolen Chinas oder Koreas<br />

sieht, die Straßen sind verstopft, die Luft<br />

schlecht, überall drehen sich Baukräne. Es<br />

gibt Villen für Wohlhabende, ein Louis-<br />

Vuitton-Geschäft und Irish Pubs für die<br />

Ausländer, die in den Minen arbeiten. Vom<br />

Hügel Zaisan fällt der Blick auf ein Meer<br />

von Hochhäusern, dahinter Jurtensiedlungen,<br />

die sich im Norden der Stadt die Berghänge<br />

hochschieben.<br />

Doch der Blick wird immer mehr verstellt<br />

durch neue, schicke Apartmentblocks<br />

– die dort eigentlich gar nicht<br />

stehen dürfen: Das Areal ist Naturschutzgebiet.<br />

„Die Menschen, die dort wohnen,<br />

müssten laut Gesetz zumindest eine Strafe<br />

zahlen. Doch niemand kontrolliert sie“,<br />

schimpft Olzod Boum-Yalagch. Der Reiseunternehmer<br />

ist einer der führenden Politiker<br />

der mongolischen Grünen. Kritiker<br />

wie er befürchten, dass die Rohstoffe vor<br />

allem die Reichen noch reicher machen<br />

werden. „Die etablierten Parteien setzen<br />

beim Ausbau der Infrastruktur einseitig<br />

auf Großprojekte – etwa eine zentral gesteuerte<br />

Energieversorgung. In Ulan Bator<br />

wollen sie eine U-Bahn bauen, obwohl das<br />

teuer ist und lange dauert“, sagt Boum-Yalagch<br />

in fließendem Deutsch. „Denn bei<br />

Großprojekten bekommen die Politiker am<br />

meisten ab. Jedes Jahr werden Projekte über<br />

rund vier Milliarden Dollar ausgeschrieben,<br />

und niemand weiß, wie das Geld ausgegeben<br />

wird. Es gibt so viel Korruption!“ Die<br />

Grünen favorisieren eine dezentrale Versorgung<br />

oder eine preiswerte oberirdische<br />

Light-Rail für die Hauptstadt.<br />

Boum-Yalagch versteht sich <strong>als</strong> echter<br />

Grüner. Sein Reisebüro bietet auch Öko-<br />

Urlaub zum Mithelfen an, die Touristen<br />

können beispielsweise in einem Nationalpark<br />

Wildpferde zählen. Im Wahlkampf<br />

radelten Boum und seine Mitstreiter mit<br />

dem Fahrrad durch Ulan Bator. Die Grünen<br />

sind <strong>als</strong> Ökopartei lediglich gegen den<br />

Abbau von Uran und von Seltenen Erden.<br />

Grundsätzlich haben sie nichts gegen den<br />

Bergbau – solange er verantwortungsbewusst<br />

gehandhabt wird und die Reichtümer<br />

gerecht verteilt werden, auch zwischen<br />

den Generationen: „Wir fordern, dass eine<br />

„Bei Großprojekten<br />

bekommen die Politiker<br />

am meisten<br />

ab. Es gibt so viel<br />

Korruption!“<br />

Olzod Boum-Yalagch,<br />

Reiseunternehmer und<br />

führender Grünen-Politiker<br />

Stiftung gegründet wird, in die 10 Prozent<br />

aller Einnahmen aus den Bodenschätzen<br />

fließen – ähnlich wie in Norwegen. Das<br />

Geld soll für künftige Generationen oder<br />

soziale Projekte ausgegeben werden.“<br />

Immerhin beschloss das alte Parlament<br />

ein Gesetz, wonach Einnahmen aus<br />

dem Bergbau, die eine bestimmte Summe<br />

übersteigen, in einen Sonderfonds fließen<br />

müssen. Zwei Drittel der ersten, 2011 in<br />

den Fonds geflossenen Gelder wurden in<br />

diesem Jahr an die Bürger ausgeschüttet.<br />

Die Viehzüchterin Enkhjargal etwa erhielt<br />

300 000 Tugrik, gut 180 Euro. Nächstes<br />

Jahr soll das Geld zweckgebunden verwendet<br />

werden. Außerdem winkten die Abgeordneten<br />

kurz vor den Wahlen ein neues<br />

Umweltgesetz durch, welches das Verursacherprinzip<br />

stärkt und die Umweltverträglichkeitsprüfungen<br />

strenger macht.<br />

Unklar ist noch, wie die Regierung mit<br />

illegalen Rohstoffschürfern umgehen wird,<br />

die vor allem auf der Suche nach Gold<br />

ganze Landstriche mit Bohrlöchern überzogen<br />

haben. Die Mongolen nennen sie<br />

„Ninjas“, weil sie grüne Metallschüsseln<br />

auf dem Rücken tragen und damit aussehen<br />

wie die Cartoonfiguren „Ninja Turtles“.<br />

Es gibt keine verlässlichen Zahlen, wie viele<br />

Ninjas es gibt – aber es sind wohl Tausende.<br />

Die Regierung wolle die Ninjas schrittweise<br />

legalisieren, sagt Ts. Odkhuu, der das unabhängige<br />

„Geology Mining Information<br />

Center“ leitet. Denkbar wären etwa Verträge<br />

der Ninjas mit Lokalregierungen.<br />

Ts. Odkhuu hat die kleine Organisation<br />

gegründet, um potenziellen Investoren<br />

zu helfen, Licht in den intransparenten<br />

Dschungel der Bergbaulizenzen zu bringen.<br />

„Es gibt so viele Gerüchte in dem Sektor“,<br />

sagt der 39-jährige Software-Ingenieur, der<br />

zuvor im Auftrag der Weltbank das erste<br />

elektronische Minenkataster des Landes<br />

aufgebaut hat. Mit ein paar Mitarbeitern<br />

berät er nun von seinem Zwei-Zimmer-<br />

Büro aus Investoren – vor allem jene aus<br />

dem Ausland, die oft ziemlich ratlos seien.<br />

„Die Anbieter von Erkundungslizenzen erzählen<br />

ihnen, wie toll ihr Schürfgebiet ist,<br />

in dem sie angeblich seit Jahren erfolgreich<br />

graben. Aber in Wirklichkeit haben<br />

sie dort nie irgendetwas gemacht.“ Die nötigen<br />

Dokumente seien oft gefälscht, was<br />

für Neulinge nicht erkennbar sei. Manche<br />

Lizenzen dienten allein dem Handel. „Vor<br />

allem viele Chinesen verkaufen Lizenzen<br />

untereinander immer weiter; diese Lizenzen<br />

drehen sich im Kreis, und keiner weiß<br />

mehr genau, was vor Ort eigentlich vor sich<br />

geht.“ In dem geplanten Bergbaugesetz sollen<br />

Erkundungslizenzen daher ein Verfallsdatum<br />

bekommen: Wer nicht schürft oder<br />

nichts findet, verliert nach neun Jahren die<br />

Lizenz. „Vor allem die Besitzer von Goldlizenzen<br />

gingen früher los, holten das Gold<br />

aus der Erde und ließen dann die Gegend<br />

völlig verwüstet zurück.“ Schwarze Schafe<br />

gebe es eben überall. Seine Organisation<br />

versuche Investoren klarzumachen, dass<br />

sie sich verantwortungsbewusst verhalten<br />

müssten. Insbesondere, solange es noch<br />

keine eindeutigen Gesetze gibt.<br />

In Tawan Tolgoi und Oyu Tolgoi muss<br />

die Regierung zeigen, wie entschlossen sie<br />

ihre Regeln durchsetzt. Bei Energy Resources<br />

stehen am Rand der Grube bereits ein<br />

Kraftwerk und eine Anlage zur Kohlewaschung,<br />

umhüllt von schwarzen Schwaden.<br />

Erdenes Tawan Tolgoi plane ebenfalls solche<br />

Anlagen sowie eine Kokerei, sagt Minenmanager<br />

Natsagdash. Die Mine werde<br />

künftig kein oberflächennahes Grundwasser<br />

mehr nutzen, das für Nomaden und<br />

das Ökosystem wichtig ist. Das Unternehmen<br />

baue derzeit eine Leitung zu einer tiefen<br />

Wasserschicht in 70 Kilometern Entfernung.<br />

Alles Wasser solle dann auch recycelt<br />

werden. Wirklich sauber ist Bergbau nie.<br />

Aber mit Geld und Technik lassen sich die<br />

schlimmsten Auswüchse vermeiden.<br />

Christiane Kühl<br />

lebt seit 2000 in China und<br />

erkundet von Peking aus <strong>als</strong><br />

freie Korrespondentin das<br />

Riesenland<br />

Fotos: Mareike Günsche, privat (Autorin)<br />

68 <strong>Cicero</strong> 7.2012


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| W e l t b ü h n e | C h i n a s K o m m u n i s t e n<br />

Die Partei hat immer recht<br />

Die jüngsten Skandale um hochrangige chinesische Politiker werfen ein neues Licht<br />

auf die Verknüpfungen von Partei und Staat. Wie funktioniert eigentlich das politische<br />

System der Volksrepublik China? Und welche Rolle spielt der Parteikongress im Herbst?<br />

von Oliver radtke<br />

D<br />

ie Flucht des Chongqinger<br />

Polizeichefs Wang Lijun ins<br />

amerikanische Konsulat von<br />

Chengdu, die Absetzung des<br />

Chongqinger Parteisekretärs<br />

und Polit-Shooting-Stars Bo Xilai, die Anklage<br />

wegen Mordes gegen dessen Frau Gu<br />

Kailai – drei Ereignisse dieses Frühlings, die<br />

Chinas politisches Establishment erschüttert<br />

haben wie kaum ein anderer Vorfall<br />

seit den blutig niedergeschlagenen Studentenprotesten<br />

am Tiananmen-Platz im<br />

Juni 1989.<br />

Die Brisanz liegt weniger in den einzelnen<br />

Verbrechen, sie liegt im Imageschaden<br />

für eine Partei, die auch 60 Jahre nach<br />

der Machtübernahme den alleinigen Führungsanspruch<br />

für sich erhebt. Die Kommunistische<br />

Partei Chinas fürchtet nichts<br />

mehr <strong>als</strong> offen zur Schau getragenen Dissens.<br />

Die für diesen Herbst sorgfältig geplante<br />

Machtübergabe an die „Fünfte Generation“<br />

wird nun, wenn überhaupt, nur<br />

nach harten hektischen Wochen innerparteilicher<br />

Auseinandersetzungen ordentlich<br />

über die Bühne gehen können. Der<br />

Rauswurf Bos aus dem Politbüro besiegelte<br />

nicht nur das Ende seiner politischen<br />

Karriere, er erlaubte zudem für einen Moment<br />

einen Blick hinter den Vorhang auf<br />

einen intensiv ausgetragenen Flügelkampf<br />

innerhalb der Partei.<br />

Gerüchte wechseln zurzeit täglich. Mal<br />

ist von einer Verschiebung des Parteitags<br />

um mehrere Wochen die Rede, mal heißt<br />

es, Premierminister Wen Jiabao habe bereits<br />

seinen Rücktritt angeboten. Bestätigt<br />

ist davon nichts. Die Flügelkämpfe zwischen<br />

den Reformern um Premier Wen Jiabao<br />

und nationalistischen Linken um Bo<br />

haben ein altes und heute umso drängenderes<br />

Problem offensichtlich werden lassen:<br />

das zunehmende Ungleichgewicht<br />

Durchchoreografierte Eintracht – der Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas<br />

zwischen wirtschaftlicher Entwicklung<br />

und politischer Reform.<br />

Offiziell ist die Volksrepublik China<br />

kein Ein-Parteien-Staat. Tatsächlich gibt<br />

es acht weitere Parteien, darunter die Zhi-<br />

Gong-Partei Chinas, deren Vorsitzender<br />

Wan Gang, der derzeitige Minister für<br />

Wissenschaft und Technik, der erste Nicht-<br />

KP-Minister seit den 50er Jahren ist. Unter<br />

der Führung der Kommunistischen<br />

Partei Chinas sind diese acht Parteien (neben<br />

der Zhi-Gong-Partei Chinas das Revolutionskomitee<br />

der Kuomintang Chinas,<br />

die Chinesische Demokratische Liga, die<br />

Chinesische Gesellschaft für den Demokratischen<br />

Nationalen Aufbau, die Chinesische<br />

Gesellschaft für die Förderung der<br />

Demokratie, die Chinesische Demokratische<br />

Partei der Bauern und Arbeiter, die<br />

Gesellschaft des 3. September und die Demokratische<br />

Selbstbestimmungsliga Taiwans)<br />

zu einer Einheitsfront zusammengefasst,<br />

ähnlich der Nationalen Front in<br />

der ehemaligen DDR. De facto hat aber<br />

nur die Kommunistische Partei politischen<br />

Einfluss.<br />

Die wichtigsten Institutionen der Partei<br />

sind das Zentralkomitee, das Politbüro und<br />

der Ständige Ausschuss des Politbüros. Das<br />

Zentralkomitee mit rund 200 Mitgliedern<br />

tritt ein bis zwei Mal pro Jahr zu einer Sitzung<br />

zusammen und besteht aus den Entscheidungsträgern<br />

aus Partei, Staat und Armee.<br />

Das Politbüro der Kommunistischen<br />

Partei hat zurzeit 24 Mitglieder, ein Drittel<br />

davon ehemalige oder amtierende Provinzparteisekretäre.<br />

Die Volksbefreiungsarmee<br />

ist durch zwei Generäle vertreten. Der<br />

Ständige Ausschuss des Politbüros mit heute<br />

neun Mitgliedern ist das Herzstück der<br />

Macht und setzt sich aus den wichtigsten,<br />

in Peking wohnenden Parteiführern zusammen.<br />

An der Spitze des Ständigen Ausschusses<br />

steht der Gener<strong>als</strong>ekretär der Kommunistischen<br />

Partei, seit 2002 Hu Jintao.<br />

Die Arbeit der nationalen Regierung<br />

wird vom Ministerpräsidenten des<br />

Staatsrats geleitet, aktuell Wen Jiabao, im<br />

Foto: Color China Photo/DDP Images/AP Images<br />

70 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Foto: privat (Autor)<br />

Volksmund „Onkel Wen“ genannt. Die<br />

Kandidaten für Ministerposten werden in<br />

geheimen Sitzungen von der Führungsspitze<br />

der Partei benannt, der Nationale<br />

Volkskongress stimmt der Ernennung lediglich<br />

zu. Die Entscheidungen werden in<br />

geheimen Sitzungen im Diaoyutai State<br />

Guesthouse, der ehemaligen Residenz von<br />

Maos Frau Jiang Qing im Nordwesten Pekings<br />

getroffen.<br />

Die Verknüpfung von Partei und Staat<br />

ist eng. Die Macht des 1,3-Milliarden-Volkes<br />

konzentriert sich in den Händen weniger,<br />

und das Fehlen einer Gewaltenteilung<br />

zeigt sich daran, dass zu den Mitgliedern<br />

des Ständigen Ausschusses des Politbüros<br />

neben dem Gener<strong>als</strong>ekretär der Partei jeweils<br />

auch der Staatspräsident, der Regierungschef<br />

und der Parlamentspräsident<br />

gehören. Hu Jintao vereinigt die höchsten<br />

Ämter in Staat, Partei und Armee auf<br />

sich: Er ist der Gener<strong>als</strong>ekretär der Kommunistischen<br />

Partei Chinas, der Staatspräsident<br />

der Volksrepublik China und der<br />

Vorsitzende der Zentralen Militärkommission.<br />

Angesichts dessen ist eine geordnete<br />

Übergabe der Macht an den designierten<br />

Nachfolger Xi Jinping von höchstem Interesse<br />

für Staat und Partei. Wie im Falle<br />

der Amtsübergabe von Jiang Zemin an Hu<br />

wird auch der amtierende Gener<strong>als</strong>ekretär<br />

seine Macht schrittweise abgeben, zunächst<br />

<strong>als</strong> Gener<strong>als</strong>ekretär der Kommunistischen<br />

Partei, dann <strong>als</strong> Staatspräsident und<br />

zum Schluss <strong>als</strong> Vorsitzender der Zentralen<br />

Militärkommission.<br />

Die Kommunistische Partei Chinas ist<br />

91 Jahre alt und seit mehr <strong>als</strong> sechs Jahrzehnten<br />

Regierungspartei. Vor dem Hintergrund<br />

zahlreicher politischer und wirtschaftlicher<br />

Katastrophen mag diese lange<br />

Regierungszeit überraschen. Sie erklärt sich<br />

aber vor allem durch eine wirtschaftliche<br />

Erfolgsgeschichte und außenpolitische Stabilität<br />

sowie durch den Mangel an politischen<br />

Alternativen.<br />

Das Geheimnis ihrer Effizienz liegt<br />

in der zentralistisch-leninistischen Parteistruktur:<br />

Jede Gemeinde, jeder Staatsbetrieb,<br />

jede Stadtregierung ist mit einem<br />

Parteisekretär besetzt, der die eigentliche<br />

Macht hat. Selbst auf Dorfebene gibt es<br />

eine Parteizelle mit weitreichenden Befugnissen.<br />

Ohne die Entscheidung der Partei<br />

wird keine Investition getätigt, keine<br />

Schule gebaut, keine Expo veranstaltet.<br />

Die symbiotische Beziehung zwischen<br />

Partei und Staat kommt auch in der Verwendung<br />

des Begriffspaars dang he guojia<br />

lingdaoren („Partei- und Staatsführer“, in<br />

dieser Reihenfolge) in allen offiziellen Ansprachen<br />

zum Ausdruck. Das Lenin’sche<br />

Orchester einer offiziellen Regierung wird<br />

von einem fein verästelten, vielfach im<br />

Geheimen operierenden Parteinetzwerk<br />

getragen. Nicht nur auf der Pekinger Parteihochschule<br />

und ihren rund 2800 Ausbildungsstätten,<br />

sondern auch in unzähligen<br />

study sessions am Arbeitsplatz wird eine gemeinsame<br />

Auslegung des Marxismus und<br />

Leninismus sichergestellt.<br />

Die Partei sitzt in Aufsichtsräten vermeintlich<br />

rein marktwirtschaftlich agierender<br />

Staatsbetriebe, sie ist in den wichtigsten<br />

Thinktanks vertreten, in den Entscheidungskommissionen<br />

am Gericht (shengwei), den<br />

Medien, allen offiziell anerkannten Religionen,<br />

Universitäten und NGOs. Fast alle Regierungsmitglieder<br />

besitzen einen Parteiausweis,<br />

jedoch sitzen nicht alle hochrangigen<br />

Parteimitglieder in der Regierung. Sie arbeiten<br />

stattdessen für Abteilungen der Partei,<br />

die mitunter mehr Macht haben <strong>als</strong> die einzelnen<br />

Regierungsministerien, allen voran<br />

die Abteilungen für Organisation (zuständig<br />

für Ernennungen), Propaganda (Nachrichten)<br />

und die Disziplinkontrollkommission.<br />

Wie weit die Machtbefugnisse Letzterer reichen,<br />

macht auch der Fall des abgesetzten<br />

Parteichefs von Chongqing, Bo Xilai, deutlich.<br />

Straffällig gewordene Parteikader werden<br />

zunächst von der Kontrollkommission<br />

befragt, bevor sie einem Zivilgericht überstellt<br />

werden. Die Befragung dauert, wenn<br />

nötig, monatelang, ohne dass es zu einem<br />

rechtlichen Verfahren kommt (shuanggui).<br />

Das Strafmaß wird dem Gericht übermittelt<br />

oder durch das obligatorische Parteimitglied<br />

im Richterausschuss maßgeblich<br />

mitbestimmt.<br />

Zwar tritt Hu im Ausland immer nur<br />

<strong>als</strong> Staatspräsident auf und nie <strong>als</strong> Gener<strong>als</strong>ekretär<br />

der Partei, die eigentliche Macht<br />

vertritt er jedoch durch seine Parteifunktion.<br />

Die Personalunion und jahrzehntelang<br />

hinausgeschobene politische Reformen<br />

machen die aktuelle Situation um<br />

eine geordnete Nachfolge umso heikler.<br />

Peking ist um Ordnung bemüht. Politisch<br />

wie wirtschaftlich. Und auch die Loyalität<br />

der Armee gilt nach dem Gesetz ausdrücklich<br />

der Parteiführung, nicht der Verfassung<br />

oder der Regierung, sichergestellt<br />

durch die Personalunion des Gener<strong>als</strong>ekretärs,<br />

der gleichzeitig Vorsitzender der Zentralen<br />

Militärkommission ist.<br />

Wie nervös die Machthaber sind, wie<br />

wenig Vertrauen zwischen Staat und Volk<br />

vorhanden ist, macht nicht nur das Katzund-Maus-Spiel<br />

der chinesischen Mikroblogs<br />

deutlich, das nach der Verhaftung<br />

Bo Xilais eingesetzt hat. So wurde Anfang<br />

April die Kommentarfunktion des Systems<br />

kurzerhand für drei Tage gesperrt, seit neuestem<br />

müssen sich alle User mit ihrem echten<br />

Namen registrieren, in Kürze wird ein<br />

Punktekonto eingerichtet, eine Art Flensburger<br />

Kartei für Gerüchteschreiber. Für<br />

jedes verbreitete Gerücht gibt es Punktabzug<br />

bis hin zur Sperrung des Accounts.<br />

Der Skandal um Bo Xilai hat aber noch<br />

ein gänzlich anderes Problem in den Fokus<br />

gerückt: das mangelnde Vertrauen der<br />

Kader in die eigene Regierung. Neueste<br />

Zahlen belegen, dass rund 90 Prozent aller<br />

hochrangigen Parteikader Familie im<br />

Ausland haben und über persönliche Kanäle<br />

seit Jahren milliardenschwere Vermögen<br />

verschieben. Wie steht es angesichts<br />

wöchentlich neuer Enthüllungen um das<br />

Vertrauen der „Prinzlinge“ (ambitionierter<br />

Nachwuchs der unantastbaren Parteigranden)<br />

und der restlichen Polit- und Wirtschaftselite<br />

in ihr eigenes System?<br />

Kein Wunder, dass die Hauptstadt vor<br />

jedem Parteitag und vor jeder Sitzung des<br />

Nationalen Volkskongresses einem Hochsicherheitstrakt<br />

gleicht. Zusätzliche in die<br />

Stadt beorderte Polizei- und Militäreinheiten,<br />

die ganze Straßenzüge absperren, wirken<br />

wie ein Relikt aus der Zeit nach 1989.<br />

Während der Gründungsort der Kommunistischen<br />

Partei in Schanghais Xintiandi,<br />

längst eingerahmt von den Global Playern<br />

westlicher Freizeitindustrie, zu einem musealen<br />

Happening geworden ist, zieht sich<br />

die Regierung in Peking ironiefrei hinter<br />

historisches Gemäuer neben der Verbotenen<br />

Stadt zurück. Was dort wie verhandelt<br />

wird, bleibt bis zum Parteikongress<br />

im Herbst unklar. Sicher ist nur: Die tatsächlich<br />

roten Telefone der chinesischen<br />

Macht elite werden in den nächsten Wochen<br />

häufiger klingeln <strong>als</strong> sonst.<br />

Oliver Radtke leitet das<br />

China-Programm der Robert-<br />

Bosch-Stiftung. Von ihm erschien<br />

„50 Mal Mund auf in China –<br />

was man gegessen haben muss“<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 71


| W e l t b ü h n e | K o m m e n t a r<br />

Mehr Europa<br />

braucht das Land<br />

Auf François Hollande warten die<br />

Niederungen der Realpolitik<br />

Von Alfred Grosser<br />

D<br />

IE WahlEN in Griechenland haben alles in den Schatten<br />

gestellt. Auch die Parlamentswahlen in Frankreich.<br />

Doch deren Ausgang hat nicht nur Konsequenzen<br />

für die Franzosen, sondern auch für die deutsch-französischen<br />

Beziehungen und nicht zuletzt für Europa.<br />

Noch nie sind so viele Wähler zu Hause geblieben und haben<br />

sich geweigert, für einen Kandidaten zur Assemblée nationale<br />

zu stimmen. Einer der Gründe für 43,7 Prozent Nichtwähler<br />

war der Rechtsruck der Sarkozy-Partei UMP, den sie nicht bereit<br />

waren, mit ihrer Stimme abzusegnen. Und jene, die doch zur<br />

Wahl gingen, entschieden sich für einen gemäßigten Sozialisten<br />

und nicht für einen Kandidaten der extremen Linken von Jean-<br />

Luc Mélenchon, der selbst den Einzug in die Nationalversammlung<br />

verpasste. François Hollande und sein Premier Jean-Marc<br />

Ayrault dürften erleichtert sein, und sei es nur, weil Mélenchon<br />

ein hervorragender Redner ist; man stelle sich die Linke-Bundestagsfraktion<br />

ohne Gregor Gysi vor! Hollande wird nicht länger,<br />

wie noch während der Präsidentenwahl, das Thema Europa<br />

kleinhalten müssen, aus Furcht, der antieuropäischen Demagogie<br />

Mélenchons Nahrung zu geben. Nun kann er mit einer komfortablen<br />

absoluten Mehrheit seiner Partei von 314 Sitzen – wie<br />

sie noch kein französischer Staatschef zuvor hatte – regieren.<br />

So einfach, wie es auf den ersten Blick scheint, wird das aber<br />

nicht werden. Innerhalb der breit gefächerten Fraktion der französischen<br />

Sozialisten wird es manche Spannungen und Kämpfe<br />

geben – spätestens, wenn die Europapolitik wieder auf der Tagesordnung<br />

steht und es um den Zwang zu sparen geht.<br />

Nicolas Sarkozy wurde vorgeworfen, sich groß aufzuspielen,<br />

letztendlich aber stets Angela Merkel nachzugeben. François<br />

Hollande ist ruhiger und besonnener <strong>als</strong> sein Vorgänger, und er<br />

hat klarere Ziele. Mit der SPD kommt er gut aus. Die Kontakte<br />

bestanden schon lange, und dass ihn jüngst das Dreiergespann<br />

Gabriel, Steinbrück, Steinmeier in Paris besuchte, hat damit zu<br />

tun, dass andernfalls jeder allein Punkte für die Kanzlerkandidatur<br />

gesammelt hätte. Mit der Kanzlerin verhandelt Hollande<br />

jedenfalls nicht <strong>als</strong> Sozialist oder Sozialdemokrat, sondern <strong>als</strong><br />

Staatsoberhaupt, das in der Fünften Republik die Außenpolitik<br />

bestimmt.<br />

Angela Merkel steht da, <strong>als</strong> gebe es nur eine Lösung der Finanzkrise:<br />

sparen und einschränken. Dabei muss sie an die<br />

Bundestagswahl 2013 denken und an die Millionen deutscher<br />

Wähler, die in ihrer Euroskepsis nicht länger hinnehmen wollen,<br />

dass die Bundesrepublik immer mehr Summen garantiert,<br />

die zusammengenommen bald einem deutschen Gesamthaushalt<br />

entsprechen. Das vergessen die Franzosen gerne und erliegen<br />

allzu oft der Versuchung, in Anlehnung an den Versailler<br />

Vertrag von 1919 zu glauben: „L’ Allemagne paiera“ – „Deutschland<br />

wird zahlen.“ Die Kanzlerin wiederum scheint nur langsam<br />

einzusehen, dass ein Land sich auch zu Tode sparen kann.<br />

Wie kann man Schulden abtragen, wenn man nicht mehr die<br />

Möglichkeit hat, das notwendige Geld zu erarbeiten, weil nichts<br />

mehr da ist, um zu investieren?<br />

Da kommt nun ein durch die Parlamentswahl gestärkter<br />

französischer Präsident, der nicht länger fordert, der EU‐Fiskalpakt<br />

müsse umgeschrieben werden, sondern eine Ergänzung<br />

(was inzwischen auch die Opposition in Berlin verlangt) erzwingen<br />

will. Aber wie soll diese aussehen? Von Eurobonds ist immer<br />

weniger die Rede. Hollande hat wohl eingesehen, dass die<br />

Bundesrepublik nicht alle Schulden bezahlen kann, die eine andere<br />

Regierung regelwidrig und fahrlässig macht. Jene Karikatur<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

72 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Foto: Picture Alliance (Autor)<br />

ist überholt, die Hollande in der Siegerpose eines Filmhelden<br />

zeigt mit einem flehenden Europa zu seinen Füßen: Er stellt<br />

sich vor: „Bond. Eurobond“. Wenn es nach Hollande geht, soll<br />

es besondere Europabonds geben: nicht zur Schuldentilgung,<br />

sondern für gemeinsame Investitionen. Die Summen, von denen<br />

in seinem kürzlich an alle Regierungen der Eurozone verschickten<br />

Dokument die Rede ist, sind zwar ziemlich gering,<br />

aber Hollande ist davon überzeugt, sie würden der Wirtschaft<br />

neuen Antrieb verleihen. Ein Kompromiss ist durchaus denkbar,<br />

sodass die Kanzlerin und der Präsident gemeinsam den anderen<br />

Regierungen begegnen könnten.<br />

Zeichnet sich wieder ein funktionierender deutsch-französischer<br />

Motor für Europa ab? Das wäre zu begrüßen. Voraussetzung<br />

wäre jedoch, dass Frankreich spart, Neuverschuldungen<br />

vermeidet und bestehende Schulden zurückzahlt. Die Kanzlerin<br />

hat zu Recht Zweifel an der Umsetzung einer solchen Politik,<br />

steht Hollande doch unter dem Druck, seine Wahlversprechen<br />

einlösen zu müssen. Der Präsident begegnet den Zweifeln mit<br />

dem Hinweis, dass die meisten seiner Landsleute wüssten, dass<br />

Frankreich von der Krise betroffen und nicht viel zu erwarten<br />

sei. Außer eines: mehr Gerechtigkeit. So wird es für Vorstände<br />

staatlicher Unternehmen eine Gehaltsobergrenze geben: Sie werden<br />

höchstens das 20-Fache des Mindestlohns in einem Betrieb<br />

verdienen. Auch an den Schulen in den benachteiligten Vorstädten<br />

will Hollande mehr Gerechtigkeit schaffen und etwa die Hilfen<br />

an Familien zum Schuljahresbeginn um 25 Prozent erhöhen.<br />

Bezahlt werden soll das Ganze durch eine Spitzensteuer von<br />

75 Prozent auf Einkommen von mehr <strong>als</strong> einer Million Euro.<br />

Ob das zur Finanzierung ausreichen wird, darf bezweifelt werden.<br />

Wahrscheinlicher ist, dass alle Einschränkungen hinnehmen<br />

werden müssen, was im Widerspruch zu Hollandes Wahlversprechen<br />

stünde.<br />

Die größten Herausforderungen für Frankreich wie Deutschland<br />

warten aber ganz woanders. Selbst Eurobonds wären in<br />

Berlin wohl akzeptabel, wenn es denn eine gemeinsame Kontrolle<br />

mit einer echten Bestrafung der Sünder gäbe. Das aber<br />

würde voraussetzen, dass eine gemeinsame Autorität existiert,<br />

die die nationalen Haushalte mitbestimmen darf. Die Kanzlerin<br />

hat recht, mehr Europa zu verlangen. In Frankreich aber ist das<br />

Wort „Föderalismus“ weitgehend verpönt. Wird Hollande dennoch<br />

in diese Richtung gehen können? Wenn ja, werden er und<br />

die Kanzlerin einsehen müssen, dass mit „mehr Europa“ eine<br />

Aufwertung der bestehenden Institutionen einhergehen muss,<br />

mit tatkräftigeren Männern oder Frauen an der Spitze von Kommission<br />

und Rat – und mit echter Anerkennung der Legitimität<br />

und der schon geleisteten Arbeit des Europaparlaments.<br />

Alfred Grosser<br />

versteht sich <strong>als</strong> „Mittler zwischen Franzosen und<br />

Deutschen“. Von dem deutsch-französischen Publizisten,<br />

Soziologen und Politikwissenschaftler erschien: „Wie anders<br />

ist Frankreich?“<br />

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| K a p i t a l<br />

Marks Mom<br />

Roadshow, Teil II: Nach Facebooks verpatztem Börsengang startet Sheryl Sandberg eine Charme-Offensive<br />

von Anna von Münchhausen<br />

A<br />

Ls sie ans Rednerpult tritt,<br />

ruhen tausend Augenpaare auf<br />

der Frau im blauen Etuikleid.<br />

Selbst der Wind, der eben noch in den<br />

alten Ahornbäumen neben der Freilichtbühne<br />

raschelte, hat sich gelegt. Spannung<br />

liegt in der Luft: Jetzt muss Sheryl Sandberg,<br />

die Nummer zwei bei Facebook, in<br />

ihrer Festansprache an der Harvard Business<br />

School Farbe bekennen. Wird sie eine<br />

Erklärung finden, warum der Aktienkurs<br />

seit dem umjubelten Börsengang auf unter<br />

28 Dollar gerutscht ist? Wird sie erklären,<br />

warum das soziale Netzwerk die Daten<br />

seiner Nutzer so lange speichern will,<br />

wie es das für „notwendig“ hält? Mit einem<br />

Scherz beiseitewischen, dass ihr Chef, der<br />

milliardenschwere Netzwerkgründer Mark<br />

Zuckerberg, in einem römischen Restaurant<br />

kein Trinkgeld gegeben hat, worüber<br />

gerade ganz Amerika spottet?<br />

Von wegen. Die 42‐Jährige setzt auf<br />

charmante Ablenkung. Einmal den dunklen<br />

Lockenschopf nach rechts, einmal nach<br />

links gestrudelt, ein flirtender Augenaufschlag<br />

– und dann die Überraschung: Sie<br />

klatscht einfach los.<br />

Bis in die hintersten Reihen trägt das<br />

Mikrofon das Stakkato – ihren Beifall für<br />

die „stolzen Eltern“ der 900 frisch gebackenen<br />

Master. In den folgenden 22 Minuten<br />

spricht sie <strong>als</strong> Coach und Ratgeberin zu<br />

den Absolventen und macht ihnen Beine.<br />

Eine Karriere sei nämlich keinesfalls<br />

eine Leiter, sondern eher eine Art Fitnessstudio:<br />

„Da geht es mal runter, mal hinauf,<br />

mal seitwärts. Bleibt in Bewegung und<br />

schaut euch um, wo sich etwas tut!“ Und:<br />

„Wenn euch ein Platz in einer Rakete angeboten<br />

wird, fragt nicht lange, welcher Platz<br />

für euch vorgesehen ist. Steigt ein.“<br />

Wer ist diese Frau, für die es immer<br />

nach oben ging, egal wo sie einstieg? Vom<br />

Posten der Stabschefin des US‐Finanzministers<br />

Larry Summers wechselte sie zu<br />

Google. Als ihr dort nach dem erfolgreichen<br />

Börsengang der Hechtsprung durch<br />

„Sie will sich wirklich die Hände<br />

schmutzig machen und arbeiten“<br />

Facebook-Gründer Mark Zuckerberg über Sheryl Sandberg<br />

die gläserne Decke in den Vorstand verwehrt<br />

wurde, erlag sie Zuckerbergs Werben.<br />

Bist du des Wahnsinns, fragten ihre<br />

Freunde, bei diesem Nerd anzuheuern?<br />

Rasch erkannte sie, woran es bei dem Startup<br />

hakte: an einer plausiblen Geschäftsidee<br />

und einer intelligenten Werbestrategie. Um<br />

das zu ändern, lotste sie etliche Google-<br />

Mitstreiter nach Palo Alto.<br />

Dass sie kühle Professionalität mit einer<br />

Kuvertüre von Emotionalität versieht,<br />

hat ihr den Titel „Facebook’s Mom“ eingetragen.<br />

Sie gibt die ideale Komplementärfigur<br />

zu ihrem Chef ab. Wenn es draußen<br />

um Überzeugungsarbeit geht, bleibt Zuckerberg<br />

im Hintergrund und schickt die<br />

Mama, die ihm abnimmt, wozu er weder<br />

Lust noch Talent besitzt: Marketing, Personalentwicklung<br />

und alles, was mit Politik<br />

zu tun hat. Dass Facebook bei einem Umsatz<br />

von 3,7 Milliarden Dollar 2011 einen<br />

Gewinn von einer Milliarde einstreichen<br />

konnte, ist auch ihr zu verdanken. „Das<br />

Besondere an Sheryl ist“, lobt ihr Boss,<br />

„dass sie sich wirklich die Hände schmutzig<br />

machen und arbeiten will, statt ständig<br />

im Vordergrund zu stehen.“<br />

Aber im Hintergrund hält es sie auch<br />

nie lange. Mit einer Mischung aus Genugtuung<br />

und Koketterie verweist sie darauf,<br />

dass sie im Job ständig mit Menschen umgehe,<br />

die „viel jünger und cooler sind <strong>als</strong><br />

ich“. Wenn die eine neue Anwendung testen,<br />

wird sie herangewunken: „Hey Sheryl,<br />

komm doch mal eben – wir müssen testen,<br />

wie dieses neue Facebook-Feature bei älteren<br />

Leuten ankommt …“<br />

Auch das Unternehmen hat inzwischen<br />

seine Coolness verloren. Analysten schreiben,<br />

die Nutzer verbrächten weniger Zeit<br />

auf der Seite, die Werbung habe weniger<br />

Erfolg <strong>als</strong> behauptet, und das Wachstum<br />

verlangsame sich.<br />

Unbeeindruckt davon: Sheryl Sandberg,<br />

Role Model, Außenministerin, Netzwerk-Queen.<br />

2012 hat sie noch einmal Gas<br />

gegeben. Kaum ein Tag ohne Medienauftritt:<br />

World Economic Forum in Davos.<br />

Ein Dinner für Sponsoren von Obamas<br />

Wahlkampf. Und ABC News ernannte sie<br />

gerade zu einer der „most powerful moms“.<br />

Frauen, gebt Gas, macht Karriere, lasst<br />

euch nicht entmutigen! Ihr ständiges Petitum.<br />

So häufig, dass mancher schon die<br />

Augen verdreht, wenn Sandberg darauf zu<br />

sprechen kommt. Als sie kürzlich in einem<br />

Interview erklärte: „Ich gehe abends um<br />

halb sechs nach Hause, um mit den Kindern<br />

zu Abend zu essen“, bemerkte eine<br />

Freundin: „Hättest du jemanden mit der<br />

Axt erschlagen, wäre das Echo kaum größer<br />

gewesen.“<br />

Anna von Münchhausen<br />

ist Textchefin bei der Zeit<br />

Fotos: Eric Millette, Helmut Fricke (Autorin)<br />

74 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Sheryl Sandberg,<br />

Vize-Chefin<br />

bei Facebook,<br />

versieht kühle<br />

Professionalität<br />

gerne mit etwas<br />

Emotionalität<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 75


| K a p i t a l<br />

Für den guten Ton<br />

In Ostwestfalen produziert Archibald Schulze-Cleven eines der wichtigsten Accessoires der Medienwelt<br />

von Christoph Hus<br />

D<br />

er Mitarbeiter der UEFA, der Ende<br />

Mai im ostwestfälischen Brakel<br />

anrief, hatte es eilig. Bis zum Beginn<br />

der Fußball-Europameisterschaft waren<br />

gerade mal zwei Wochen Zeit, doch<br />

der europäische Fußballverband hatte noch<br />

keinen Windschutz im Design der Meisterschaft<br />

bestellt, die Fernsehreporter beim<br />

Einsatz am Rande des Spielfelds auf ihre<br />

Mikrofone stecken müssen. Der Mittelständler<br />

Schulze-Brakel, Spezialist für die<br />

Produktion von Mikrofon-Windschützen<br />

aus Schaumstoff, sollte helfen. Und er half:<br />

In aller Eile entwarfen dessen Mitarbeiter<br />

Muster für die Uefa. Der Verband entschied<br />

sich für ein blaubeerfarbenes Modell,<br />

das das Logo der Meisterschaft ziert,<br />

und bestellte 300 Stück. „Fünf Tage vor<br />

dem Eröffnungsspiel haben wir die ersten<br />

Windschütze in Warschau angeliefert“, sagt<br />

Unternehmer Archibald Schulze-Cleven.<br />

Schon beim Eröffnungsspiel konnte er sich<br />

seine Überzieher im Fernsehen anschauen.<br />

Für Schulze-Cleven kein besonderer<br />

Anblick. Die bunten Schaumstofferzeugnisse,<br />

die das kleine Unternehmen in einem<br />

unscheinbaren Fünfziger-Jahre-Gebäude<br />

mitten in der ostwestfälischen Provinz herstellt,<br />

sind in aller Welt im Einsatz. Reporter<br />

von ARD und ZDF halten sie genauso<br />

in die Kamera wie Fernsehjournalisten der<br />

US‐Sender NBC und Fox, des indischen<br />

Kan<strong>als</strong> India TV und des Golfstaaten-Senders<br />

Star TV. Sie alle vertrauen darauf, dass<br />

der Schaumstoff aus Ostwestfalen nicht<br />

nur das Sender-Logo auf dem Bildschirm<br />

in Szene setzt, sondern auch unerwünschte<br />

Wind- und Ploppgeräusche unterdrückt.<br />

Neben großen TV‐Stationen schmücken<br />

allerlei kleinere Kunden ihre Mikrofone<br />

mit dem Schaumstoff aus Brakel, darunter<br />

Radio Vatikan und die Universität des<br />

Saarlands. „Manchmal wundere ich mich<br />

selbst ein wenig, wer alles bei uns bestellt“,<br />

sagt Unternehmer Schulze-Cleven.<br />

Der Firmenchef hat sich in seiner Marktnische<br />

einen erstklassigen Ruf erarbeitet.<br />

Seit zehn Jahren konzentriert sich Schulze-<br />

Cleven voll auf die Produktion von Mikrofon-Windschützen.<br />

Das 1949 von seinem<br />

Vater gegründete Textilunternehmen, das<br />

Parkas und Rucksäcke für die Bundeswehr<br />

produzierte, musste 2002 Insolvenz anmelden.<br />

Seither beschränkt er sich auf die<br />

Windschutz-Produktion. „Das ist ein Geschäft<br />

mit Zukunft“, sagt er. Denn weltweit<br />

bläst der Wind, und weltweit<br />

steigt die Zahl der Fernsehund<br />

Radiosender. Zuletzt<br />

wuchs der Umsatz des Unternehmens<br />

pro Jahr um 8<br />

bis 10 Prozent. Für das laufende<br />

Jahr peilt Schulze-Cleven<br />

Einnahmen von rund<br />

zwei Millionen Euro an.<br />

Rund 30 Angestellte arbeiten<br />

an den Schaumstoffteilen.<br />

Zunächst entwickeln<br />

Grafikdesigner am Bildschirm<br />

einen Vorschlag. Sobald<br />

der Kunde zugestimmt<br />

hat, beginnt die Produktion.<br />

Aus einem Schaumstoffblock<br />

schneidet eine Maschine die<br />

gewünschte Form. Kaufen<br />

kann man solche Maschinen<br />

nicht, ein Techniker des Unternehmens<br />

baut sie selbst.<br />

Im nächsten Arbeitsschritt<br />

wird der Schaumstoff gefärbt oder mit farbigen<br />

Flocken besprüht. Zehn Heimarbeiterinnen<br />

kleben die Sender-Logos auf.<br />

Die Schaumstoffüberzüge dienen einerseits<br />

Marketingzwecken der Sender, viel<br />

wichtiger ist aber ihre technische Funktion:<br />

Der offenporige Schaumstoff schluckt bei<br />

Außenaufnahmen störende Windgeräusche.<br />

Moderatoren bezeichnen die Überzieher<br />

auch gerne <strong>als</strong> Plopkiller, weil sie<br />

die explosiven p- und t-Laute herausfiltern.<br />

Die Herstellung ist kaum industrialisiert<br />

und erfordert viel Handarbeit. Das<br />

hat seinen Preis. Schulze-Cleven stellt seinen<br />

Kunden pro Windschutz zwischen<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

„Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht<br />

haben? Den<br />

Mittelstand!“, sagte<br />

kürzlich der neue<br />

Deutsche-Bank-Chef<br />

Anshu Jain. <strong>Cicero</strong><br />

weiß das schon länger<br />

und stellt besondere<br />

Mittelständler in einer<br />

Serie vor.<br />

16 und 60 Euro in Rechnung – je nach<br />

Größe, Farbe und Gestaltung. Trotzdem<br />

hat er keine Sorge, dass ihn Billigkonkurrenz<br />

etwa aus China unter Druck setzen<br />

könnte. Die kleine Stückzahl, in der Windschütze<br />

produziert werden, mache das Geschäft<br />

für viele asiatische Hersteller uninteressant.<br />

Schulze nimmt Bestellungen<br />

ab 25 Stück entgegen. „Wir wollen nicht<br />

der billigste Anbieter sein“,<br />

sagt der Unternehmer. „Wir<br />

wollen das beste Preis-Leistungs-Verhältnis<br />

bieten.“<br />

Schulze-Cleven und<br />

seine Mannschaft beraten<br />

bei der Gestaltung, wickeln<br />

auch eiligste Aufträge ab<br />

und zeigen sich bei Reklamationen<br />

kulant. Nicht immer<br />

aber ist das Unternehmen<br />

dafür verantwortlich,<br />

wenn sich das Senderlogo<br />

ablöst. „In vielen Gebäuden<br />

dürfen Reporter nicht<br />

mehr rauchen, während sie<br />

warten“, berichtet Schulze-<br />

Cleven. „Um sich abzulenken,<br />

knibbeln sie am Windschutz<br />

herum.“<br />

Der 68-Jährige kommt<br />

gut in der Welt herum. Allein<br />

in diesem Jahr war er<br />

schon in neun Ländern, hat Kunden in<br />

Dubai, Kuwait, den USA und Polen besucht.<br />

Mit dem Thema Ruhestand befasst<br />

Schulze-Cleven sich nicht so gerne. Erst<br />

will er noch die letzten weißen Flecken seiner<br />

Weltkarte tilgen. „In Südostasien, Afrika<br />

und Südamerika gibt es Länder, in die<br />

wir noch nicht liefern“, sagt er. „Das will<br />

ich noch ändern.“<br />

Christoph Hus<br />

ist freier Journalist. Als Vertreter<br />

der schreibenden Zunft kannte er<br />

westfälische Windschütze bisher<br />

nur aus dem Fernsehen<br />

Fotos: Stefan Kröger, Privat (Autor)<br />

76 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Herr über die Winde:<br />

Firmenchef Archibald<br />

Schulze-Cleven<br />

vor einer illustren<br />

Auswahl seines<br />

Firmensortiments<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 77


| K a p i t a l | D a s E n d e d e s F e r n s e h e n s<br />

Programmstörung<br />

Internet<br />

von Max Thomas Mehr<br />

78 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Internetfähige Fernseher erobern die Wohnzimmer, die<br />

Tagesschau läuft auf dem Handy, Filme werden auf dem<br />

iPad geguckt – die Medienwelt steckt mitten in einer<br />

Revolution, die unsere Öffentlichkeit strukturell verändert<br />

Illustration: Daniel Haskett<br />

A<br />

RD, ZDF, RTL, SAT.1 hier – das<br />

World Wide Web dort: In wenigen<br />

Monaten ist das Vergangenheit.<br />

Denn derzeit werden<br />

auf der ganzen Welt die letzten<br />

Zäune zwischen dem herkömmlichen Programmfernsehen<br />

und dem Internet eingerissen.<br />

Dabei verabschieden wir uns immer<br />

mehr vom linearen Fernsehprogramm. Jeder<br />

ist sein eigener Programmgestalter.<br />

Zwei Milliarden Menschen nutzen täglich<br />

Youtube, 35 Stunden an Videos werden pro<br />

Minute bei Googles Tochterunternehmen<br />

hochgeladen. Zwar wird der Fernseher<br />

nicht aus dem Wohnzimmer verschwinden,<br />

aber er wird in Zukunft selbst online<br />

gehen können – und nur noch eines von<br />

mehreren Abspielgeräten sein. Mausklick<br />

statt Fernbedienung – schon heute laden<br />

wir uns immer häufiger Filme und ganze<br />

Serien aus dem Netz. Je jünger die Nutzer,<br />

desto häufiger. Über internetfähige Smart-<br />

TVs wird bald gegoogelt und geskyped,<br />

auch Zeitungen und E-Mails lassen sich<br />

so lesen, nebenbei auf einem Split-Screen,<br />

während auf dem Hauptbild Fußball läuft.<br />

Die Öffentlich-Rechtlichen und die<br />

Privaten, das Programmfernsehen insgesamt,<br />

geraten dabei in den Sog einer Entwicklung,<br />

die Zeitungen und die Musikbranche<br />

schon seit einigen Jahren erleben:<br />

die Implosion des klassischen Medienmarkts<br />

– einhergehend mit einem rapiden<br />

Verlust lang tradierter Bedeutung. Das<br />

Zusammenwachsen von Laptop, Internet,<br />

Smartphone und Fernsehen steckt noch in<br />

den Anfängen. Aber es zeigt schon Wirkung:<br />

Fernsehen und Zeitungen lösen sich<br />

mehr und mehr vom Fernseher und dem<br />

Papier. 30 Millionen Amerikaner telefonieren<br />

nicht nur mit ihrem Smartphone, sie<br />

schauen darauf auch fern.<br />

Was in Zukunft bleibt, sind starke<br />

Marken wie hierzulande Tagesschau, Tatort<br />

oder auch Spiegel Online. Schon<br />

werden erste Serien direkt fürs Netz produziert.<br />

Das verändert die Dramaturgie des<br />

Erzählens. Zurzeit steckt die Medienwelt<br />

in einer Revolution, so radikal wie die Entwicklung<br />

der Druckerpresse von Johannes<br />

Gutenberg und die Erfindung des Films<br />

durch die Brüder Lumière zusammengenommen.<br />

Das Katz-und-Maus-Spiel, das<br />

sich dabei Künstler, Journalisten, Produzenten,<br />

Verlage, Fernsehanstalten und ihre<br />

Verbände mit Google, Facebook und Co,<br />

aber auch mit den Nutzern in der digitalen<br />

Welt liefern, ist noch der sichtbarste Ausdruck<br />

dieser Revolution. Verbissen streiten<br />

die Verlage mit den öffentlich-rechtlichen<br />

Rundfunkanstalten darüber, ob und wie<br />

lange die ihre Archive umsonst ins Netz<br />

stellen und inwieweit sie dort auch Nachrichtenartikel<br />

kostenlos verbreiten dürfen.<br />

Doch der Strukturwandel von Öffentlichkeit<br />

ist viel weitreichender, und seine<br />

Folgen sind noch unabsehbar.<br />

Rückblick: 1967. Irgendwo in der westdeutschen<br />

Provinz versammeln sich die Kinder<br />

am Sonntagnachmittag in der Dorfkneipe:<br />

Starren Blicks, manchmal mit<br />

einer Sinalco-Brause vor der Nase, sitzen<br />

sie andächtig an kleinen Tischchen<br />

und verrenken sich den H<strong>als</strong>. Fast unter<br />

der Zimmerdecke der Gaststube steht<br />

auf einer alten Glasvitrine, einem heiligen<br />

Gral gleich, der Flimmerkasten. Das<br />

Programm ist erst in jenem Sommer farbig<br />

geworden, und die Dorfjugend schaut<br />

Fury, Flipper und Lassie. Die Älteren dürfen<br />

auch noch Ben Cartwright und seinen<br />

drei Söhnen in „Bonanza“ zuschauen, wie<br />

sie für Recht und Ordnung sorgen. Vorher<br />

müssen aber die Kleinen das Gasthaus<br />

verlassen, da kennt der Wirt keine Gnade.<br />

Schließlich war die Serie ein paar Jahre<br />

zuvor noch wegen besonderer Brutalität<br />

von der ARD nach nur einer Staffel abgesetzt<br />

worden.<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 79


| K a p i t a l | D a s E n d e d e s F e r n s e h e n s<br />

In der Nicht-TV-Wirklichkeit der 60er<br />

Jahre reicht die Welt gerade mal bis zur<br />

nächsten Kreisstadt. Che Guevaras Tod im<br />

bolivianischen Dschungel, Martin Luther<br />

Kings erste öffentliche Rede, der Tod von<br />

Benno Ohnesorg in Berlin, diese Welt der<br />

Tagesschau erreicht die Dorfjugend dam<strong>als</strong><br />

noch nicht. Erst die Olympischen Spiele<br />

1968 in Mexiko bringt die Fernseher auch<br />

in die Wohnzimmer der Provinz.<br />

Die Bundesrepublik der Vor-Willy-<br />

Brandt-Zeit hatte noch viele Häutungen<br />

vor sich. Es gehört inzwischen zu den Gemeinplätzen<br />

deutscher Geschichtsschreibung,<br />

dass die Revolte der 68er Studentenbewegung<br />

die Bundesrepublik erst zu dem<br />

zivilen Land geformt hat, das es heute ist.<br />

Man könnte aber auch fragen, was Kommune<br />

1 oder Vietnam-Kongress, Woodstock<br />

oder Beatclub ohne die Spiegelung<br />

im Fernsehen in der Gesellschaft tatsächlich<br />

bewirkt hätten.<br />

Heute, knapp ein halbes Jahrhundert<br />

später, schauen die 14-Jährigen kein herkömmliches<br />

„Programm“-Fernsehen mehr.<br />

Wenn ihnen eine Serie gefällt, dann wollen<br />

sie möglichst alle Folgen und Staffeln<br />

sofort sehen. Amerikanische Fernsehserien<br />

streamen sie auf ihren Laptops, lange bevor<br />

die Staffeln von deutschen TV-Kanälen<br />

abgespielt werden, gerne auch im Original,<br />

wodurch sie nebenbei auch ihr Englisch<br />

verbessern. Die Medienkinder von heute<br />

wissen genau, wie sie Hindernisse beim<br />

Internetsehen umgehen können, und sind<br />

Experten für die Lücken des deutschen Urheberrechts.<br />

Auf den Schulhöfen tauschen<br />

sie die neuesten Web-Adressen, über die<br />

sich Serien, aktuelle Kinofilme und Musik<br />

streamen lassen. Filesharing ist für sie<br />

selbstverständliche Normalität – natürlich<br />

umsonst. Wenn sie doch mal unerlaubte<br />

Kosten verursachen, akzeptieren sie murrend<br />

das elterliche Internetverbot auf Zeit.<br />

Multitasking ist für sie beim Medienkonsum<br />

Standard. Während sie fernsehen,<br />

spielen sie gleichzeitig auf ihrem iPod<br />

Touchscreen ein Computerspiel oder ätzen<br />

mit Freunden über die letzte Lateinarbeit<br />

auf Facebook.<br />

Selbstverständlich empfinden diese<br />

Jugendlichen Acta, den vorerst gescheiterten<br />

Versuch des Gesetzgebers, das Urheberrecht<br />

an die digitale Welt anzupassen, <strong>als</strong><br />

Das Urheberrecht<br />

empfinden Jugendliche <strong>als</strong><br />

Freiheitsbeschränkung<br />

Einschränkung ihrer Freiheit. Und Freiheit<br />

heißt für sie vor allem: alles sofort und alles<br />

kostenlos. Allein im vergangenen Jahr<br />

wurden in Deutschland 2288 Spielfilme<br />

illegal ins Netz gestellt, darunter elf vor<br />

dem offiziellen Kinostart. Die vor einiger<br />

Zeit dichtgemachte Filesharing-Plattform<br />

Kino.‌to, deren Gründer gerade zu viereinhalb<br />

Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde,<br />

soll zum Schluss auf täglich 400 000 Besucher<br />

gekommen sein.<br />

Dass pubertierende Jugendliche die<br />

Grundregeln von Markt und Öffentlichkeit<br />

nicht beherrschen und virtuelles, immaterielles<br />

Eigentum, das sich im Netz <strong>als</strong><br />

gestreamter Film oder illegal heruntergeladene<br />

Musik jeglicher Gegenständlichkeit<br />

entzieht, nicht achten, ist verständlich.<br />

Doch auch in der Welt der Erwachsenen<br />

kam es lange nur selten zur offenen Attacke<br />

gegen die neue Copy-and-Paste-Kultur<br />

im Netz. Man schämte sich geradezu,<br />

für Urheberrechtsschutz im Internet einzutreten<br />

– das Image, Freiheitsrechte einzuschränken,<br />

wollte sich gerade in der Politik<br />

keiner anheften lassen.<br />

Da bedurfte es schon eines fünf Minuten<br />

langen Wutausbruchs von Sven Regener<br />

im Bayerischen Rundfunk vor ein paar<br />

Wochen. Der Autor und Sänger der Band<br />

Element of Crime schimpfte über die Piraten<br />

und die ganze „Umsonst-Kultur“ des<br />

Internets: „Das Rumgetrampel darauf, dass<br />

wir uncool seien, wenn wir darauf beharren,<br />

dass wir diese Werke geschaffen haben,<br />

ist im Grunde nichts anderes, <strong>als</strong> dass<br />

man uns ins Gesicht pinkelt und sagt: ‚Euer<br />

Kram ist nichts wert. Wir wollen das umsonst<br />

haben.‘ Eine Gesellschaft, die so mit<br />

ihren Künstlern umgeht, ist nichts wert.“<br />

Er formulierte damit ein Unbehagen,<br />

das auch andere Urheber umtreibt, wie die<br />

51 Tatort-Autoren, die sich in einem offenen<br />

Brief über die „demagogische Suggestion“<br />

beschwerten, es gebe keinen freien<br />

Zugang zu Kunst und Kultur mehr, wenn<br />

das Urheberrecht, das Recht auf geistiges<br />

Eigentum, im digitalen Zeitalter nicht geschleift<br />

würde.<br />

Denn diese Revolution in der Mediengesellschaft<br />

hat einen Haken: Sie raubt derzeit<br />

vielen Kreativen, Autoren und Journalisten,<br />

Musikern und zunehmend auch<br />

den Filmschaffenden die Existenzgrundlage.<br />

Zwar werden ihre Arbeiten schneller<br />

und weiter verbreitet, aber mit ihrer<br />

Illustration: Daniel Haskett<br />

80 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Bezahlung hapert es. Die herkömmlichen<br />

Medien verharren in einer Schockstarre,<br />

sind ratlos, wie sie ihr Geschäft ins digitale<br />

Zeitalter hinüberretten sollen, und verwalten<br />

sich und ihre knappen Ressourcen<br />

mit immer weniger eigenem Personal. Es<br />

drängt sich der Eindruck auf: Je einfacher<br />

und billiger die Möglichkeiten geworden<br />

sind, alle Medienplattformen mit Inhalten<br />

zu bedienen, desto träger und unbeweglicher<br />

reagieren die alten Player, ob nun<br />

Verlage oder Rundfunkanstalten oder Filmproduzenten.<br />

Das große Geschäft machen<br />

vorerst Apple, Google und Facebook.<br />

Welche Auswirkungen diese Veränderungen<br />

auf die Öffentlichkeit und auf die<br />

Gesellschaft insgesamt haben, ahnen wir<br />

bisher nur.<br />

Die Arbeitsteilung jedenfalls scheint<br />

erst einmal klar: Die einen, die Schriftsteller,<br />

die Autoren, die Musiker, die Journalisten<br />

und Filmemacher, die Kreativen <strong>als</strong>o,<br />

die Geschichtenerzähler, generieren zwar<br />

weiter die Inhalte, aber sie verdienen damit<br />

immer weniger Geld. Gleichzeitig gibt es<br />

immer mehr Plattformen, über die sie ihre<br />

Inhalte veröffentlichen können.<br />

Die anderen, die „Nerds“, füllen mit<br />

den Produkten der Kreativen das Netz<br />

und verdienen dank Werbung damit das<br />

große Geld. Beruhigend an dieser Entwicklung<br />

ist nur eines: Es gibt eine natürliche<br />

Grenze. Spätestens dann, wenn jeder Inhalt<br />

aus der analogen Welt vom Internet aufgesaugt<br />

und verlinkt worden ist, sind die anderen<br />

wieder auf die Kreativen angewiesen.<br />

Denn bisher lebt die digitale Medienwelt<br />

im Wesentlichen von der Kreativität<br />

der analogen Welt. Wenn das Internet nur<br />

aus der verstümmelten Sprache von Facebook<br />

oder anderen sozialen Netzwerken<br />

und aus selbst gebastelten Youtube-Schnipseln<br />

bestehen würde, dann hätte es nicht<br />

einmal den Charme des Nachmittagsprogramms<br />

von RTL 2. Doch wer heute Fernsehen<br />

macht und nicht erkennt, dass das<br />

neue Medium Internet notwendigerweise<br />

das Programmfernsehen verändern wird,<br />

hat schon verloren.<br />

Der Gründer des Onlinekulturmagazins<br />

„Perlentaucher“, Thierry Chervel,<br />

findet es merkwürdig, dass deutsche Fernseh-<br />

und Rundfunkanstalten, aber auch<br />

die Verlage das Internet eigentlich nur <strong>als</strong><br />

Abspielstation ihres schon vorher vorhandenen<br />

Programms nutzen. Auch wundert<br />

ihn, dass die großen Absahner im Netz,<br />

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Interview<br />

„Ich muss alles kennen“<br />

Der Ufa-Chef Wolf Bauer erklärt, warum das deutsche Fernsehen doch gut<br />

ist, Youtube eigene Inhalte braucht und internetfähige Fernseher ganz neue<br />

Geschäftsmodelle ermöglichen<br />

H<br />

err Bauer, wie muss ich mir<br />

einen regulären Fernsehabend<br />

bei Ihnen zu Hause vorstellen?<br />

Haben Sie vorher im Fernsehprogramm<br />

herausgesucht, was Sie gucken wollen?<br />

Ich bin schon aus beruflichen Gründen<br />

ein Fernsehfan. Da ich abends oft nicht<br />

dazu komme, sehe ich meist zeitversetzt<br />

fern. Das habe ich mir dann vorher<br />

digital aufgezeichnet oder finde es in<br />

den Mediatheken der Sender. Die Programmvielfalt<br />

über Kabel, Pay-TV und<br />

das Internet ist inzwischen fast unüberschaubar.<br />

Ins Wochenende gehe ich häufig<br />

mit einem großen Packen DVDs.<br />

Teil meiner Aufgabe ist eben, dass ich<br />

alle Programme kennen muss. Das ist<br />

zeitaufwendig, aber ich schaue immer<br />

noch mit großem Vergnügen, auch die<br />

Angebote von neuen Programmaggregatoren<br />

wie Youtube, Netflix oder Hulu.<br />

Aber hat das Fernsehen in seiner heutigen<br />

Form überhaupt noch eine Zukunft?<br />

Alles, was ich gerade beschrieben habe,<br />

ist doch das Fernsehen in seiner heutigen<br />

Form, nämlich Bewegtbilder, die,<br />

über welche Plattformen auch immer,<br />

zum Konsumenten gelangen.<br />

Und die großen Fernsehsender mit ihren<br />

fixen Programmschemata werden trotzdem<br />

überleben?<br />

Wenn sie sich diese neue Fernsehdefinition<br />

zu eigen machen, haben sie die allerbesten<br />

Chancen. Das Beispiel USA<br />

zeigt, dass das funktioniert. Dort nutzen<br />

die großen, klassischen Broadcaster wie<br />

NBC, CBS und ABC konsequent alle<br />

Kanäle und Plattformen und haben ihre<br />

Vormachtstellung bisher verteidigt, weil<br />

sie über attraktive Inhalte und schlagkräftige<br />

Marketingmaschinen verfügen.<br />

Wolf Bauer ist Vorsitzender der<br />

Geschäftsführung der Ufa, der<br />

größten deutschen TV-Produktion.<br />

Der Jahresumsatz des Bertelsmann-<br />

Tochterunternehmens liegt bei<br />

rund 300 Millionen Euro. Zu den<br />

Produktionen der Ufa gehören unter<br />

anderem Fernsehfilme und -mehrteiler<br />

wie „Dresden“ und „Der Tunnel“, die<br />

Castingshows „DSDS“ und „X-Factor“<br />

und die Daily-Soap „GZSZ“<br />

Sie sind mir bisweilen sogar noch etwas<br />

zu mächtig. Außerdem darf man auch<br />

nicht vergessen, dass viele Zuschauer<br />

eine Vorauswahl haben wollen, <strong>als</strong>o ein<br />

Programmpaket, das unverlangt zu ihnen<br />

nach Hause kommt. Es gilt immer<br />

noch der schöne Spruch: Everybody<br />

wants to have a choice, but nobody likes<br />

to choose.<br />

Aber wer soll das bezahlen, wenn das<br />

Publikum des traditionellen Fernsehens<br />

immer älter und dadurch für Werbetreiber<br />

uninteressant wird?<br />

Das stimmt nicht. Die Gesamtnutzung<br />

TV ist 2011 noch mal gestiegen, auch<br />

bei den jüngeren Zielgruppen. Die<br />

Werbeindustrie vertraut auch weiterhin<br />

den großen Sendern, weil sie die einzigen<br />

sind, die noch ein Millionenpublikum<br />

erreichen. Die Werbewirksamkeit<br />

in sozialen Netzwerken wie Facebook<br />

wurde dagegen gerade erst wieder infrage<br />

gestellt, nach der Entscheidung<br />

von General Motors, dort überhaupt<br />

keine Werbung mehr zu schalten. Untersuchungen<br />

zeigen, dass 80 Prozent<br />

der Facebook-Nutzer die dort<br />

platzierte Werbung überhaupt nicht<br />

wahrnehmen.<br />

Was bleibt denn dann noch für die Youtubes,<br />

Googles oder Telekoms?<br />

Im Moment sind sie meist noch Ergänzungsangebote.<br />

Wer aber ein großes Publikum<br />

erreichen will, muss kollektive<br />

Erlebnisse schaffen wie exklusive, selbst<br />

produzierte Filme und Serien, Liveübertragungen<br />

von Unterhaltungsshows oder<br />

Sportereignissen, die der Zuschauer in<br />

Echtzeit erleben will.<br />

Können die neuen Anbieter das nicht?<br />

Anbieter wie Hulu und Netflix haben<br />

inzwischen realisiert, dass sie eigene<br />

attraktive Programme zeigen müssen,<br />

um die Zuschauer zu binden. Daher<br />

geben sie originäre Serien in Auftrag<br />

oder beteiligen sich an der Finanzierung<br />

größerer Projekte. Auch Youtube<br />

hat erkannt, dass die von Usern<br />

hochgeladenen „funniest home videos“<br />

kein Treiber des Geschäftsmodells sind.<br />

Deswegen starten sie eigene Channels<br />

mit professionell produzierten<br />

Foto: Werner Schuering/Imagetrust<br />

82 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Inhalten. Wir <strong>als</strong> Produzenten freuen<br />

uns natürlich über jeden dieser neuen<br />

Player im Markt.<br />

Also bekommen Sie ein paar neue Kunden<br />

und sonst bleibt alles beim Alten?<br />

Nein, die Branche befindet sich mitten<br />

in einem Paradigmenwechsel, weil gerade<br />

die jüngeren Zuschauer ganz anders<br />

fernsehen. 40 Prozent der 14- bis<br />

24-Jährigen nutzen beim Fernsehen<br />

gleichzeitig einen Second Screen, <strong>als</strong>o<br />

ein zweites Gerät, sei es ein Laptop, ein<br />

Smartphone oder einen internetfähigen<br />

Fernseher. Darüber kommunizieren<br />

sie mit Freunden live über das aktuelle<br />

Programm. Das bietet für uns und<br />

die Sender wunderbare Möglichkeiten<br />

der Programmerweiterung. Wer „Gute<br />

Zeiten, schlechte Zeiten“ sieht, kann<br />

sich dann über eine Second-Screen-App<br />

etwa Tagebücher der Protagonisten anschauen,<br />

die zukünftige Handlungsstränge<br />

andeuten. Auch neue Geschäftsmodelle<br />

sind auf diesem Wege denkbar:<br />

Wem das Hemd des Hauptdarstellers<br />

gefällt, der kann es direkt über die App<br />

bestellen.<br />

Führt das nicht zwangsläufig zu einer<br />

weiteren Verflachung des Niveaus?<br />

Das muss uns eher aus gesellschaftlicher<br />

Sicht Sorgen machen, weil es zeigt, dass<br />

die Jüngeren, sogenannten „digital natives“,<br />

durch ständiges Multitasking ihre<br />

Konzentrationsfähigkeit verlieren. Mangelnde<br />

Aufnahmebereitschaft lässt sich<br />

nur mit besonders hoher Qualität bekämpfen.<br />

Unsere Sendungen müssen<br />

noch mehr <strong>als</strong> zuvor eine Sogwirkung<br />

entfalten. Denken Sie nur an die fantastischen<br />

Serien der amerikanischen Pay-<br />

TV‐Sender wie Mad Men, The Sopranos,<br />

The Wire, die zeigen, dass sich die<br />

Qualität des Fernsehens immer weiter<br />

verbessert.<br />

Und wie steht das deutsche Fernsehen<br />

im internationalen Vergleich da?<br />

Das deutsche Fernsehangebot gehört<br />

zu den besten in der Welt. Wir<br />

haben hier viele gut gemachte Fernsehfilme<br />

und Unterhaltungsformate.<br />

Die große Vielfalt verdanken wir dabei<br />

vor allem dem dualen System von<br />

starken öffentlich-rechtlichen Sendern<br />

und kommerziell ausgerichteten<br />

Privatsendern.<br />

Aber die Qualität der angesprochenen<br />

US-Serien erreichen wir nicht.<br />

Aber wie viele erfolgreiche Pay-TV-Sender<br />

haben wir denn in Deutschland?<br />

ARD, ZDF …<br />

Nein, das ist Unsinn, das können Sie<br />

so nicht sagen. In den USA haben Pay-<br />

TV-Sender wie HBO, Showtime oder<br />

AMC irgendwann begriffen, dass sie<br />

ihre Zuschauer nur dann dauerhaft an<br />

sich binden können, wenn sie unverwechselbar<br />

sind. Das schafft man nicht,<br />

wenn man nur auf die Erstausstrahlung<br />

von Kinofilmen und auf Sport setzt.<br />

Dafür brauchen sie originäre Produktionen<br />

höchster Qualität. Die absorbieren<br />

damit doch inzwischen das gesamte<br />

Kreativpotenzial Hollywoods. Regisseure<br />

wie Martin Scorsese drehen lieber<br />

eine HBO-Serie <strong>als</strong> einen Hollywood-<br />

Film, weil sie dort viel freier arbeiten<br />

können. Ich traue Sky in Deutschland<br />

zu, einen ähnlichen Weg zu gehen. Wir<br />

entwickeln gerade neue Programmideen<br />

dafür. An talentierten Autoren, Regisseuren<br />

und Produzenten mangelt es hier<br />

jedenfalls nicht.<br />

Aber wenn die qualitativ hochwertigen<br />

Programme von Pay-TV-Sendern kommen<br />

sollen, wie lassen sich dann noch<br />

die Milliardengebühren rechtfertigen, mit<br />

denen ARD und ZDF derzeit ihr mutloses<br />

Programm zusammenschustern?<br />

Ach, das ist doch eine Legende. ARD<br />

und ZDF sind wertvolle Programmanbieter,<br />

die immer noch die Hauptauftraggeber<br />

der deutschen Produktionswirtschaft<br />

sind. Ohne sie gäbe es diese<br />

Kreativindustrie hier gar nicht. Unabhängig<br />

davon muss sich eine demokratische<br />

Gesellschaft ein öffentlich-rechtliches<br />

Rundfunk- und Fernsehsystem<br />

leisten, um die Vielfalt im Bereich Information,<br />

Bildung und Unterhaltung<br />

zu sichern. Das ist wichtig für einen gemeinsamen<br />

Diskurs – <strong>als</strong> Kitt einer modernen<br />

demokratischen Gesellschaft.<br />

Das Gespräch führte Til Knipper<br />

Facebook, Google und Co, nicht im Zentrum<br />

der öffentlichen Kritik stehen.<br />

Wenn Netzinhalte zukünftig genauso<br />

selbstverständlich wie ARD und ZDF über<br />

den häuslichen Bildschirm flimmern, allzeit<br />

abrufbereit, wird sich auch schnell die<br />

Systemfrage stellen: Warum werden die<br />

öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten<br />

angesichts der technologischen Revolution<br />

noch weiter mit acht Milliarden Euro jährlich<br />

subventioniert? Es fällt zunehmend<br />

schwer zu begründen, warum jede Sendeanstalt<br />

der ARD noch ihr eigenes Drittes<br />

Programm haben muss. Lokale Fenster<br />

kann es auch in einem einzigen überregionalen<br />

Dritten Programm geben. Thierry<br />

Chervel geht noch weiter. Er schlägt vor,<br />

auch im Netz Programme fürs Dritte zu<br />

entwickeln und mit öffentlichen Mitteln<br />

finanzieren zu lassen.<br />

In diesem Zusammenhang müsste man<br />

dann aber auch diskutieren, ob ein öffentlich-rechtlicher<br />

Informationsauftrag heute<br />

anders organisiert werden sollte <strong>als</strong> zu den<br />

Zeiten, <strong>als</strong> Sendefrequenzen rar und ihre<br />

Verteilung hochpolitisch waren, weil es die<br />

Internetwelt mit all ihren digitalen Techniken<br />

und Verbreitungsmöglichkeiten noch<br />

nicht gab. Programme <strong>als</strong> Abspielstationen<br />

für immer dieselben Kino- und TV‐Produktionen,<br />

zeitversetzt in Endlosschleifen,<br />

dann auch noch in den Dritten Programmen<br />

zweit- oder drittverwertet, sind heute<br />

überflüssig. Technisch ist es schon möglich,<br />

alle Fernsehprogramme, die in den vergangenen<br />

50 Jahren hergestellt wurden, online<br />

zu stellen, jederzeit abrufbar, für jeden.<br />

Für Kinofilme gilt das auch. Wiederholungen<br />

dürfte es angesichts dieser Entwicklung<br />

im Fernsehen eigentlich gar nicht mehr geben.<br />

Bei all diesen Planspielen bleibt immer<br />

noch die Frage der Vergütung ungeklärt:<br />

Wie soll sie erfolgen, pauschal oder<br />

abrufbezogen, <strong>als</strong> Flatrate oder pro Klick?<br />

Ufa-Chef Wolfgang Bauer (siehe auch<br />

nebenstehendes Interview) gibt sich diesbezüglich<br />

demonstrativ gelassen und zitiert<br />

eine alte Italo-Western-Weisheit: „Irgendeiner<br />

zahlt immer.“ Werbetreibende, Konsumenten<br />

durch Abos oder Pay per view<br />

führt er <strong>als</strong> Beispiele an. Die internationale<br />

Entwicklung scheint ihm recht zu geben.<br />

In Großbritannien benutzen 39 Prozent<br />

der Bevölkerung den BBC I-Player, das<br />

kostenpflichtige Video-on-demand-Portal<br />

der BBC. Dass die Google-Tochter Youtube<br />

von der Ufa Programme produzieren<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 83


| K a p i t a l | D a s E n d e d e s F e r n s e h e n s<br />

lasse, zeige doch auch, dass der Internetkonzern<br />

diesbezüglich den Wert von urheberrechtlich<br />

geschützten Programmen erkenne,<br />

sagt Bauer. Auch die Apologeten der<br />

„Alles ist umsonst“-Kultur lassen Bauer eher<br />

kalt: „Die Facebooks dieser Welt, die ihr<br />

Geld mit privaten Nutzerdaten verdienen,<br />

sind natürlich gegen die Vergütung urheberrechtlich<br />

geschützter Inhalte, weil es ihr<br />

Geschäftsmodell stört“, sagt Bauer. Wenn<br />

die Filesharer aber merkten, dass sie für<br />

ihre Filme mit dem Verlust ihrer privaten<br />

Daten zahlen, höre das auch auf, meint er.<br />

Aber was ist, wenn einer Jugend, die in sozialen<br />

Netzwerken ihr Innerstes nach außen<br />

kehrt, der Verlust der Privatheit egal ist?<br />

Die digitale Welt verändert die Öffentlichkeit<br />

insgesamt und damit auch eine der<br />

wichtigen Voraussetzungen für eine funktionierende<br />

demokratische Gesellschaft: die<br />

von Information und Teilhabe. Gilt unter<br />

den neuen Bedingungen eigentlich noch<br />

der hehre Grundsatz der Pressefreiheit, dass<br />

Vielfalt und Konkurrenz die Qualität sichern?<br />

Bringt <strong>als</strong>o die Vielfalt des Internets<br />

mehr Qualität in die Medien? Oder<br />

verkommt Öffentlichkeit durchs Netz zu<br />

immer folgenärmerem großen Palaver? In<br />

Deutschland kann man das nirgendwo so<br />

gut beobachten wie in Berlin.<br />

In der Hauptstadt verschränken sich<br />

digitale und analoge Medienwelt schon<br />

länger aufs Engste. Traditionelle Medien<br />

wie die Zeitungen und Stadtmagazine haben<br />

seit dem Mauerfall einen beispiellosen<br />

Auflagenverlust erlitten. Das Regionalprogramm<br />

des rbb, der örtlichen öffentlichrechtlichen<br />

ARD-Anstalt, hat im Reigen<br />

der Dritten Programme bei den Einschaltquoten<br />

die rote Laterne. Das wäre gar<br />

nicht so schlimm, wenn wenigstens ein regionales<br />

Programm gemacht würde, das<br />

den öffentlich-rechtlichen Informationsauftrag<br />

ins Internetzeitalter transformiert.<br />

Aber die allseits beschworenen Kreativen<br />

der Stadt sucht man vergebens im regionalen<br />

Fernsehprogramm. Das rbb-Programm<br />

bleibt erschreckend bieder. Mutige Projekte<br />

wie die 24-Stunden-Berlin-Reportage,<br />

für die 2008 das Leben der Stadt einen<br />

ganzen Tag lang gefilmt wurde, sind<br />

rare Ausnahmen.<br />

Die digitale Stadt blüht trotzdem:<br />

1,3 Millionen Berliner gehören zur aktiven<br />

Facebook-Gemeinde. Keine Stadt in<br />

Deutschland ist so vernetzt wie die Hauptstadt.<br />

Google liefert über eine Milliarde<br />

Einträge zu Berlin. Fast 350 Millionen davon<br />

führen zu Berlin-Blogs. Aber welche<br />

Rolle spielt dieses digitale Berlin in der realen<br />

Stadt? Bildet sich dadurch angesichts<br />

der schwindenden Bedeutung der traditionellen<br />

Medien eine neue Öffentlichkeit heraus?<br />

Die Themen der „digitalen Stadtöffentlichkeit“<br />

treffen meist nicht den Kern<br />

des Politischen. Von der Flughafenpleite<br />

etwa wurde sie genauso überrascht wie alle<br />

anderen.<br />

Stattdessen ist eine nervöse, fast hysterische<br />

Öffentlichkeit entstanden. Ein paar<br />

wenige reichen aus, um die gesamte Stadt<br />

und die Feuilletons im ganzen Land in Erregung<br />

zu versetzen. Als beispielsweise auf<br />

einer Brache an der Spree mitten in Kreuzberg<br />

das BMW-Guggenheim-Lab für zwei<br />

Monate ein besseres Zelt aufbauen wollte,<br />

um darin über die Zukunft der Stadt zu<br />

diskutieren, haben sich etwa zwei Dutzend<br />

Leute über das Netz dazu verabredet,<br />

dieses Projekt in Kreuzberg – möglicherweise<br />

mit Gewalt – zu verhindern. Sofort<br />

sprach der Innensenator von „linken Chaoten“,<br />

die der Stadt schaden – und alle Medien<br />

plapperten es tagelang nach. Bis in die<br />

Hauptnachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen<br />

Fernsehanstalten schaffte<br />

es die Geschichte. Die Netzinitiative einiger<br />

weniger hatte Folgen in der politischen<br />

Wirklichkeit: Die Veranstalter haben<br />

ihr Zelt jetzt in Prenzlauer Berg aufgeschlagen,<br />

in der Hoffnung, damit der Gewalt<br />

zu entgehen.<br />

Ist das funktionierende Öffentlichkeit?<br />

Niemand hat recherchiert, wer – und wie<br />

viele – wirklich stören wollten. Es ist ein<br />

Beispiel, das zeigt, wie die Netzöffentlichkeit<br />

die herkömmlichen Medien bis hin<br />

zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen verändert.<br />

Es ist ein Beispiel dafür, wie in dieser<br />

neuen digitalen Welt Maßstäbe und Bedeutungen<br />

ins Schwimmen geraten, aber<br />

auch wie „Vielfalt“ nicht automatisch Qualität<br />

sichert.<br />

Demokratie ist mehr <strong>als</strong> Mehrheitswille<br />

und Trendsetting, <strong>als</strong> Basisdemokratie<br />

plus Internet. Sie lebt von der Spannung<br />

zwischen Zivilgesellschaft und politisch<br />

Handelnden. Und sie braucht eine gesellschaftliche<br />

Öffentlichkeit, in der Interessengegensätze<br />

in der Gesellschaft dargestellt<br />

und politische Handlungsalternativen beschrieben<br />

werden.<br />

Welchen Beitrag dazu die neue digitale<br />

Medienwelt leisten kann, ist völlig offen.<br />

Journalisten und Filmemacher, Zeitungen<br />

und jetzt auch das Programmfernsehen –<br />

egal ob öffentlich-rechtlich oder privat<br />

organisiert – brauchen neue Geschäftsmodelle<br />

und Legitimationen, wenn sie<br />

überleben wollen. Vielleicht alle bald nur<br />

noch im Netz.<br />

Max Thomas Mehr ist<br />

freier Journalist. Mit seinen<br />

Kindern durchlebt und durchleidet<br />

er das Netzzeitalter<br />

Illustration: Daniel Haskett, Foto: Privat<br />

84 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Jetzt im Handel<br />

Lassen Sie sich vom Volksmund nichts erzählen:<br />

die Wahrheit über Mann und Frau.<br />

Weitere Themen<br />

Bolivien<br />

Die Rückkehr der Lynchjustiz.<br />

Iran<br />

Der Schah und sein Erbe.<br />

Hunde<br />

Wie der böse Wolf zum besten Freund wurde.<br />

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GEO. Die Welt mit anderen Augen sehen


| K a p i t a l | D i e S c h l e c k e r - F r a u e n<br />

„Wie bei Honecker“<br />

„Ich wünsche<br />

mir einen<br />

soliden<br />

Arbeitsplatz.<br />

Es war schon<br />

die Hölle“<br />

Zehn Jahre hat Anja Reichstein (41) bei<br />

Schlecker gearbeitet:<br />

Anja Reichstein, stellvertretende Filialleiterin, in ihrem<br />

Wohnzimmer in Berlin-Charlottenburg<br />

„Ich habe die Nachricht, dass Schlecker<br />

insolvent ist, aus dem Fernsehen erfahren.<br />

Zum Glück hat mein Sohn einen Boxsack,<br />

den habe ich dann attackiert. Ich<br />

war richtig sauer: Selbst wir wussten von<br />

Läden, die keinen Umsatz bringen – das<br />

müssen die da oben doch erst recht gewusst<br />

haben! Danach habe ich abgeschaltet:<br />

einfach arbeiten, arbeiten, arbeiten.<br />

Ich war enttäuscht, dass viele Kollegen<br />

gleich abgesprungen sind. Der Rest muss<br />

die Stange halten – das ist eine Scheißsituation,<br />

machen wir uns mal nichts vor.<br />

Wenn wir unseren Laden endgültig zumachen,<br />

müssen wir uns Taschentücher<br />

mitnehmen. Und was soll ich dann zu<br />

Hause mit der ganzen Zeit? Ich bin ein<br />

Wuselmensch, ich muss was zu tun haben.<br />

Deshalb werde ich meine Prüfung<br />

zur Einzelhandelsverkäuferin nachholen<br />

und wünsche mir einen soliden Arbeitsplatz.<br />

Es war schon die Hölle.“<br />

86 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Ihre Firma ist insolvent. Ursula von der Leyen will sie zu Kita-Erzieherinnen und<br />

Altenpflegerinnen umschulen. Die Kunden kaufen ihre Toilettenartikel bald woanders. Doch wer<br />

sind eigentlich die Schlecker-Frauen, über die jetzt alle reden? Karoline Kuhla (Protokolle)<br />

und Oliver Mark (Fotos) zeigen vier Gesichter hinter der Unternehmenspleite<br />

„Wir waren<br />

eine kleine<br />

Schlecker-<br />

Familie“<br />

Cornelia Bieski (36) hat sich in ihren<br />

17 Jahren bei Schlecker immer mit<br />

ihrer Arbeit identifiziert, zuletzt <strong>als</strong><br />

Filialleiterin:<br />

Schlecker-Filialleiterin Cornelia Bieski in<br />

ihrer Wohnung in Berlin-Lichtenberg<br />

„Als vergangenes Jahr die normalen Waren<br />

wie Klopapier fehlten, wussten wir, dass<br />

etwas im Argen ist. Viele sagen heute, die<br />

da oben seien schuld. Ich denke, jeder hat<br />

seinen Teil dazu beigetragen: Herr Schlecker,<br />

die Direktoren und auch die Mitarbeiter.<br />

Teilweise war es schon erschreckend,<br />

wie manche Filialen aussahen. Ich<br />

habe die Filiale immer <strong>als</strong> meinen Laden<br />

gesehen. Sogar meine Töchter und mein<br />

Mann kamen zum Wischen, <strong>als</strong> es einen<br />

Wasserschaden gab. Wir waren eine<br />

kleine Schlecker-Familie. Wenn Schlecker<br />

doch weitermachen könnte, wäre<br />

ich <strong>als</strong> Erste wieder da. Bei den Umschulungsvorschlägen<br />

der Politik könnte mir<br />

die Hutschnur platzen. Ich gehe die Zukunft<br />

ruhig an, habe aber Angst, dass ich<br />

in einen Beruf gedrängt werde, in dem<br />

ich nicht glücklich werde.“<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 87


| K a p i t a l | D i e S c h l e c k e r - F r a u e n<br />

„Der Staat und<br />

Schlecker,<br />

die haben es<br />

versaut!“<br />

Sabrina Druschky (48) war 13 Jahre lang<br />

Schlecker-Verkäuferin:<br />

Schlecker-Verkäuferin Sabrina Druschky in<br />

ihrem Wohnzimmer in Berlin-Reinickendorf<br />

„Im Januar fragte mich ein Kunde: Was,<br />

ihr seid pleite? So habe ich davon erfahren.<br />

Der Staat und Schlecker, die haben<br />

es versaut. Nach Griechenland werden<br />

Milliarden geschickt, denen wird geholfen.<br />

Und uns? 25 000 Arbeitsplätze auf<br />

einen Schlag weg – das ist kein kleines<br />

Ding! Aber Schlecker ist machbar, wir<br />

waren der Tante-Emma-Laden. Viele<br />

Stammkunden umarmen uns jetzt traurig,<br />

wünschen alles Gute. Das hat uns<br />

ausgemacht: Die Kunden kamen mit<br />

ihrem Leben. Wo gehen sie jetzt damit<br />

hin? Aber wenigstens ist die Ungewissheit<br />

vorbei. Man hatte einfach nur Angst.<br />

Ich war der Hauptverdiener in der Familie.<br />

Jetzt heißt es Bewerbungen schreiben,<br />

das habe ich noch nie gemacht. Aber ich<br />

habe keinen Bock, arbeitslos zu sein. Ich<br />

möchte mein Leben leben, für mich, meinen<br />

Mann und unseren Sohn.“<br />

88 <strong>Cicero</strong> 7.2012


„Schlecker<br />

hat jahrelang<br />

nicht gewusst,<br />

was hier<br />

abging“<br />

Mona Frias (46) kämpft seit 2001 <strong>als</strong> Betriebsrätin<br />

für die Schlecker-Frauen:<br />

Mona Frias, Schlecker-Betriebsrätin,<br />

in ihrem Marzahner Büro<br />

„In den letzten Wochen haben wir uns<br />

auf den Ausverkauf konzentriert. Meine<br />

Mädels stehen weiter pflichtbewusst in<br />

den Filialen, da merkt man den harten<br />

Kern. Es ist ungerecht, dass die Firmenleitung<br />

Schindluder getrieben hat und<br />

wir das jetzt ausbügeln müssen und dann<br />

auf der Straße sitzen. Wenn Herr Schlecker<br />

mit seinen Mitarbeitern zusammengearbeitet<br />

hätte, würde er heute nicht da<br />

stehen, wo er steht: in der Pleite. Mit<br />

ihm war es wie zu DDR-Zeiten mit<br />

Honni: Wenn Schlecker kam, wurden<br />

die Buden aufgeräumt. Er hat jahrelang<br />

nicht gewusst, was hier abging. Ich habe<br />

bis in den Bundestag gekämpft, und der<br />

Job hat mir Spaß gemacht. Wenn Schlecker<br />

vorbei ist, kann ich den Sommer<br />

genießen und Zeit mit meiner Familie<br />

verbringen. Dann gucken wir mal, wohin<br />

die Reise geht.“<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 89


| K a p i t a l | E u r o k r i s e<br />

„Es ist wie nach<br />

Versailles“<br />

Der ehemalige Chefredakteur des Economist Bill Emmott über die Überlebenschancen<br />

des Euro, Merkels f<strong>als</strong>che Wirtschaftspolitik und sein prophetisches Talent<br />

hätte die Krise noch mal erheblich verschärft.<br />

Wir wären ein sehr instabiles Euromitglied<br />

gewesen.<br />

H<br />

err Emmott, vor zehn Jahren haben<br />

Sie in Ihrem Buch „Vision 20|21“<br />

geschrieben, der Euro berge<br />

politisch „enorme Sprengkraft“, und einige<br />

Länder könnten sich „schon im ersten<br />

Jahrzehnt des Experiments“ wieder aus<br />

der Gemeinschaftswährung verabschieden.<br />

Empfinden Sie Genugtuung, dass sich Ihre<br />

Prognose zu bewahrheiten scheint?<br />

Nein, mir wäre es lieber gewesen, wenn<br />

man dem Euro von Anfang an ein Regelwerk<br />

verpasst hätte, mit dem er die erste<br />

Krise überstehen kann. Aber die Mischung<br />

aus europäischer Solidarität und<br />

Bill Emmott<br />

war 13 Jahre<br />

Chefredakteur<br />

des Economist.<br />

Sein Buch „Good<br />

Italy, Bad Italy“<br />

ist kürzlich auf<br />

Englisch erschienen.<br />

Der gleichnamige<br />

Dokumentarfilm<br />

soll im Herbst bei<br />

den Filmfestspielen<br />

in Venedig laufen<br />

dem Beharren auf nationaler Souveränität<br />

und Verantwortung musste schiefgehen.<br />

Zumal die Regeln schon gebrochen<br />

wurden, bevor der Euro <strong>als</strong> Zahlungsmittel<br />

eingeführt wurde. Insofern war die<br />

Prognose einfach. Ich habe in demselben<br />

Buch aber auch geschrieben, die EU habe<br />

das Zeug zur Supermacht.<br />

Sind Sie <strong>als</strong> Engländer froh, dass Großbritannien<br />

nie dem Euro beigetreten ist?<br />

Das ist wahrscheinlich das Beste, was<br />

wir jem<strong>als</strong> für die Europäische Union getan<br />

haben. Die Europaskepsis der Briten<br />

Sie zitieren in Ihrem Buch Winston Churchill<br />

mit dem Satz: „Um Aussagen über<br />

die Zukunft machen zu können, muss man<br />

die Vergangenheit kennen.“ Gibt es Krisen,<br />

aus denen wir in unserer jetzigen Situation<br />

Lehren ziehen können?<br />

Ich fürchte, diese Krise ist einzigartig,<br />

weil es noch nie eine so ambitionierte<br />

Währungsunion wie den Euro gab. Eine<br />

Gemeinschaftswährung dieser Größe mit<br />

so vielen Mitgliedern, die zudem auch<br />

noch politisch und ökonomisch in etwa<br />

gleich stark sein sollten, ist schwer mit<br />

anderen vergleichbar. Es gibt aber eine<br />

gewisse Parallele zur Situation nach dem<br />

Ersten Weltkrieg. Dam<strong>als</strong> war die vorherrschende<br />

Ideologie, dass Deutschland<br />

den anderen Ländern die Kriegsschäden<br />

ersetzen muss, koste es, was es wolle. Der<br />

Ökonom John Maynard Keynes schrieb<br />

dam<strong>als</strong> in seinem Buch „Die wirtschaftlichen<br />

Folgen des Vertrags von Versailles“,<br />

dass eine solche Politik theoretisch richtig<br />

sein kann, in der Praxis aber unweigerlich<br />

katastrophale Folgen hat.<br />

Und jetzt führt Angela Merkel mit ihrer<br />

Sparpolitik Europa an den Abgrund?<br />

Wer Staatsschulden einzig <strong>als</strong> Sünden der<br />

Vergangenheit brandmarkt und dem ganzen<br />

Kontinent ein Spardiktat verordnet,<br />

der erreicht am Ende das Gegenteil von<br />

dem, was er eigentlich wollte. Wir sehen<br />

es in Griechenland, Portugal, Irland,<br />

Spanien und bald auch in Italien – diese<br />

Länder haben keine Chance, durch Sparen<br />

aus der Rezession herauszukommen,<br />

Foto: Andrea Artz<br />

90 <strong>Cicero</strong> 7.2012


sondern werden auf einer Abwärtsspirale<br />

weiter nach unten gezogen. Dass dies<br />

nicht nur wirtschaftliche, sondern auch<br />

politische und gesellschaftliche Konsequenzen<br />

haben kann, haben wir schon<br />

bei den Ausschreitungen in Griechenland<br />

gesehen.<br />

Aus den Wahlen in Griechenland sind jetzt<br />

doch wieder die Konservativen <strong>als</strong> Sieger<br />

hervorgegangen. Für wie wahrscheinlich<br />

halten Sie es, dass es den Griechen gelingt,<br />

Mitglied der Eurozone zu bleiben?<br />

Unabhängig von der genauen Zusammensetzung<br />

der griechischen Regierung<br />

gehe ich davon aus, dass die Griechen<br />

versuchen werden, die Konditionen<br />

der Rettungspakete nachzuverhandeln.<br />

Die EU kann an einigen Stellen vielleicht<br />

nachgeben, aber wenn Griechenland<br />

auch in Zukunft nicht in der Lage<br />

sein wird, die Regeln des Stabilitäts- und<br />

Wachstumspakts einzuhalten, müssen sie<br />

die Währungsunion verlassen.<br />

Für den Fall sagen viele Ökonomen ein<br />

wirtschaftliches Armageddon voraus.<br />

Niemand weiß genau, was dann passiert.<br />

Die viel größere Katastrophe wäre ein<br />

Auseinanderbrechen der gesamten Eurozone.<br />

Wenn Griechenland sich aber alleine<br />

verabschiedet, wird es für die anderen<br />

mittelfristig einfacher, das Konstrukt<br />

Euro zu managen, weil der Austritt eine<br />

disziplinierende Wirkung auf die anderen<br />

Krisenländer hätte. Im Gegenzug wären<br />

Gläubigerländer wie Deutschland dann<br />

eher bereit, über eine zeitlich und in der<br />

Höhe begrenzte Form von gemeinsamen<br />

Eurobonds nachzudenken und ihre<br />

strikte Sparpolitik zu überdenken.<br />

Der Economist, bei dem Sie 13 Jahre<br />

Chefredakteur waren, hat kürzlich auf dem<br />

Titel die Weltwirtschaft <strong>als</strong> sinkenden<br />

Tanker dargestellt, aus dem Schiffsinnern<br />

kommt eine Sprechblase mit der Frage:<br />

„Frau Merkel, können wir die Motoren jetzt<br />

mal bitte starten?“ Hängt die Weltkonjunktur<br />

wirklich von den Entscheidungen<br />

der Bundeskanzlerin ab?<br />

Der Titel trifft es recht gut. Die ganze<br />

Welt blickt im Moment auf Europa, und<br />

Deutschland ist die größte Volkswirtschaft<br />

in der EU. Europa droht in eine<br />

Depression abzurutschen. Wenn ich Merkels<br />

wirtschaftspolitischer Berater wäre,<br />

würde ich ihr raten, in Deutschland ein<br />

Konjunkturpaket aufzulegen, das Konsum<br />

und Investitionen fördert. Also Steuern<br />

senken, Ausgaben erhöhen. Deutschland<br />

kann sich das leisten, weil die<br />

Zinsen, die es an den Märkten zahlen<br />

muss, sich auf einem Rekordtief befinden.<br />

In der jetzigen Situation ist eher schädlich,<br />

dass Deutschlands Neuverschuldung<br />

nur bei 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts<br />

liegt. Das Motorenanwerfen beginnt<br />

zu Hause, und wenn sich alle Gläubigerländer<br />

anschließen, wird es seine<br />

Wirkung nicht verfehlen.<br />

Aber holt man sich mit höheren Ausgaben<br />

das Vertrauen der Märkte zurück?<br />

Die Investoren kalkulieren nur, ob diese<br />

reichen Länder ihr Geld eher zurückzahlen<br />

können, wenn Europas Konjunktur<br />

wieder anspringt oder wenn der Kontinent<br />

ähnlich wie Japan Ende der neunziger<br />

Jahre in einer langen Rezession stecken<br />

bleibt. Die Antwort diesbezüglich<br />

dürfte klar sein.<br />

Welche Rolle muss die Europäische Zentralbank<br />

bei der weiteren Krisenbekämpfung<br />

spielen?<br />

Sie muss bereit sein, auch weiterhin den<br />

Banken im Notfall große Summen an<br />

Geld zur Verfügung zu stellen und an<br />

den Staatsanleihemärkten einzugreifen.<br />

Auch wenn die Bilanzsumme der EZB<br />

inzwischen auf über drei Billionen Euro<br />

angestiegen ist, müssen wir uns über Inflationsgefahren<br />

derzeit keine Sorgen<br />

machen.<br />

Die EU-Kommission schlägt zur Stabilisierung<br />

des Finanzsektors eine Bankenunion<br />

vor, eine gemeinsame europäische Bankenaufsicht,<br />

einen europaweiten Einlagensicherungsfonds<br />

sowie die Einrichtung<br />

eines Geldtopfs für die Rekapitalisierung<br />

notleidender Banken.<br />

Wenn ich weiter Merkel beraten soll: Eine<br />

gemeinsame Bankenaufsicht ist sinnvoll,<br />

damit hätten sich Immobilienkrisen wie in<br />

Irland und Spanien wahrscheinlich verhindern<br />

lassen. Von einem gemeinsamen Einlagensicherungsfonds<br />

würde ich erst mal<br />

abraten, weil die deutschen Sparer oder<br />

die Bundesregierung damit Haftungsrisiken<br />

übernehmen, die sie nicht kontrollieren<br />

können. Sie müssten sich dabei auf die<br />

neue europäische Bankenaufsicht verlassen,<br />

von der sie noch gar nicht wissen, ob sie<br />

effektiv arbeiten wird.<br />

Aber reichen diese Maßnahmen, um die<br />

Ansteckungsgefahr für Länder wie Spanien<br />

oder Italien zu bekämpfen?<br />

Wir sprechen hier von Notfallmaßnahmen,<br />

die die Wahrscheinlichkeit erhöhen,<br />

dass der Euro überlebt. Mittelfristig müssen<br />

die betroffenen Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit<br />

erhöhen. Das geht nur über<br />

eine Liberalisierung der Märkte und die<br />

Förderung des Unternehmertums. Nehmen<br />

wir Italien: Dort werden Unternehmensgründer<br />

seit den siebziger Jahren<br />

massiv behindert. Das Land hat seine unternehmerische<br />

Dynamik verloren, weil<br />

die Gründung einer Firma, ihr Markteintritt,<br />

das Einstellen von Mitarbeitern unglaublich<br />

kompliziert sind. Hinzu kommt,<br />

dass das Rechtssystem immer schlechter<br />

funktioniert und das organisierte Verbrechen<br />

überall die Hand aufhält. Wenn Fiat<br />

in seinem Heimatland nicht in der Lage<br />

ist, wettbewerbsfähige Autos zu produzieren,<br />

gleicht das einer Anklage gegen die<br />

italienischen Gewerkschaften, das Arbeitsrecht<br />

und die gesamte wirtschaftliche Infrastruktur<br />

des Landes.<br />

Würden Subventionen in Bereichen wie<br />

erneuerbarer Energie helfen, um die Wirtschaft<br />

in den Krisenländern am Mittelmeer<br />

anzukurbeln?<br />

Abgesehen davon, dass die EU-Gesetze<br />

so etwas verbieten, bin ich ohnehin kein<br />

Fan von Subventionen. Wer seine Wettbewerbsfähigkeit<br />

verbessern will, sollte<br />

nicht auf die Förderung grüner Energie<br />

setzen, weil dadurch zunächst einmal<br />

die Energiekosten steigen. Das sollen mal<br />

lieber die Deutschen zur Wettbewerbsreife<br />

bringen, und die anderen können es<br />

dann später billiger einkaufen: Das ist die<br />

Art Transferunion, mit der beide Seiten<br />

gut leben können.<br />

Vor zehn Jahren haben Sie die Zukunft des<br />

Euros richtig prognostiziert. Wagen Sie<br />

einen erneuten Ausblick?<br />

Ich bin zu 80 Prozent sicher, dass es den<br />

Euro in zehn Jahren noch geben wird.<br />

Die Währungsunion wird dann 20 Mitglieder<br />

haben, wobei einige aktuelle Mitglieder<br />

nicht mehr dabei sein werden.<br />

Das Gespräch führte Til Knipper<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 91


| K a p i t a l | R a f f i n i e r t e s P r e i s s y s t e m<br />

Kartell ohne ABsprache<br />

Alle Jahre wieder steigen vor dem Urlaub die Benzinpreise. Ein Brancheninsider erklärt das<br />

Preissystem der Mineralölkonzerne, auf das die Politik mit blindem Aktionismus reagiert<br />

von Hauke Friederichs<br />

D<br />

er grauhaarige Mann schaut<br />

durch ein Fenster neben der<br />

Kasse dem Feierabendverkehr<br />

zu, der träge an seiner Tankstelle<br />

vorbeifließt. Sein Blick<br />

fällt auf die Preisanzeige draußen. „Die<br />

Zentrale hat die Preise immer noch nicht<br />

angepasst“, sagt er und schüttelt den Kopf.<br />

Er wirkt dabei beinahe überrascht. Der<br />

Mann ist Pächter einer Tankstelle in Hamburg,<br />

die einem der fünf großen Mineralölkonzerne<br />

in Deutschland gehört. Vor einer<br />

Stunde hat er die Preise der Konkurrenten<br />

in der Umgebung seiner Tankstelle an seine<br />

Konzernzentrale durchgegeben. Dort werden<br />

die Daten von einer Abteilung gesammelt<br />

und Benzinpreise für alle Tankstellen<br />

des Mineralölkonzerns in Deutschland<br />

festgelegt. „Das ist alles von oben gesteuert“,<br />

sagt der Tankstellenpächter. „Was<br />

Benzin und Diesel an meiner Zapfsäule<br />

kosten, entscheide nicht ich.“<br />

Was der Tankstellenpächter aus Hamburg<br />

beschreibt, funktioniert genauso in<br />

München, Köln, Berlin und Leipzig. Die<br />

Preise an den Tankstellen von Aral, Shell,<br />

Esso, Total und Jet steigen und fallen nach<br />

einem festen System. Preissprünge von bis<br />

zu 15 Cent innerhalb weniger Stunden wirken<br />

wie abgesprochen. Vor allem vor Feiertagen<br />

und Schulferien steigt der Preis für<br />

den Liter Benzin häufig kräftig an – der<br />

Ärger der in den Sommerurlaub fahrenden<br />

Autofahrer scheint auch dieses Jahr<br />

unvermeidlich.<br />

Genauso unvermeidlich wie die ebenfalls<br />

jährlich stattfindende Diskussion, was<br />

gegen den saisonalen Anstieg der Kraftstoffpreise<br />

getan werden muss. Die Rollen<br />

und Argumente sind dabei fest verteilt: Die<br />

Transparenz Fehlanzeige: Benzinpreise steigen in<br />

Deutschland mangels Wettbewerb immer weiter<br />

Foto: Picture Alliance/DPA<br />

92 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Politik klagt über die mangelnde Markttransparenz<br />

und den fehlenden Wettbewerb<br />

in der deutschen Mineralölwirtschaft.<br />

Automobilclubs wie der ADAC und Verbraucherschützer<br />

prangern die Gier von<br />

Aral, Shell, Esso und Co an. Und die gescholtenen<br />

Konzerne geben über ihre Interessenverbände<br />

der Politik die Schuld am<br />

Preisanstieg – wegen der hohen Steuern<br />

auf Benzin.<br />

Zuletzt diskutierte die Bundesrepublik<br />

vor Ostern über die Kraftstoffpreise, <strong>als</strong><br />

ein Liter Benzin mehr <strong>als</strong> 1,71 Euro kostete.<br />

Boulevardzeitungen und Talkshows<br />

machten die Preistreiberei der Ölmultis<br />

zum Thema. Minister aus Bund und Ländern<br />

versprachen, für eine Preisbremse bei<br />

den Kraftstoffen sorgen zu wollen.<br />

Bei Worten ist es bisher geblieben –<br />

wie immer, wenn der Kraftstoffmarkt in<br />

Deutschland reguliert werden sollte. Der<br />

Benzinpreis beschäftigt die deutsche Politik<br />

seit Jahrzehnten. Als der Preis pro Liter<br />

Benzin in den siebziger Jahren über eine<br />

D‐Mark stieg, wurden bereits die Klagen<br />

über die zu große Macht von Aral, Shell<br />

und den anderen Markenkonzernen laut.<br />

Passiert ist seitdem wenig, der Preis stieg<br />

weiter.<br />

Eines ist dieses Jahr neu: Bundeswirtschaftsminister<br />

Philipp Rösler (FDP) hat<br />

im Benzinpreis ein Thema entdeckt, mit<br />

dem er beim Wähler punkten will. „Den<br />

Ärger der Autofahrerinnen und Autofahrer<br />

über das Auf und Ab der Benzinpreise<br />

kann ich sehr gut nachvollziehen. Es ist<br />

für sie überhaupt nicht mehr ersichtlich,<br />

wie die Preise zustande kommen“, sagte<br />

Rösler in Berlin. Er kündigte nach Ostern<br />

an, die Mineralölkonzerne unter strenge<br />

Aufsicht stellen zu wollen. Dazu soll eine<br />

Markttransparenzstelle geschaffen werden,<br />

die die Ein- und Verkaufspreise für<br />

Benzin und Diesel erhebt und auswertet.<br />

Die Kartellbehörden könnten so Anhaltspunkte<br />

für etwaige Verstöße finden und<br />

„missbräuchliches Verhalten der großen Mineralölkonzerne<br />

leichter aufdecken und<br />

verfolgen“, behauptet Rösler. Sein Gesetzentwurf<br />

wurde im Mai vom Kabinett beschlossen.<br />

Der Bundestag muss dem Gesetz<br />

noch zustimmen. Es soll noch in diesem<br />

Jahr in Kraft treten. Die Transparenz und<br />

der Wettbewerb würden damit erhöht, verspricht<br />

Rösler. Mit dieser Meinung steht<br />

der Bundeswirtschaftsminister aber ziemlich<br />

alleine da.<br />

Die Ministerpräsidenten verschiedener<br />

Bundesländer hatten stattdessen von Rösler<br />

staatliche Eingriffe in den Kraftstoffmarkt<br />

gefordert. Von einer Preisregulierung durch<br />

Behörden wollte Rösler jedoch nichts wissen,<br />

sie verstößt gegen liberale Grundsätze<br />

und käme in der FDP nicht gut an. Rösler<br />

entschied sich für eine Kompromisslösung,<br />

die niemandem wehtut, aber auch keinem<br />

wirklich nützt. Brancheninsider und das<br />

Bundeskartellamt bezweifeln, dass die Verbraucher<br />

von Röslers Initiative profitieren.<br />

Das System der Kraftstoffpreisgestaltung<br />

habe sich über Jahre bewährt, sagt<br />

ein Mitarbeiter eines großen Mineralölkonzerns.<br />

„Es gibt keine schriftliche Abmachung<br />

zwischen den Unternehmen. Das<br />

Aral und<br />

Shell erhöhen<br />

meist <strong>als</strong> Erste,<br />

die anderen<br />

ziehen<br />

innerhalb<br />

weniger<br />

Stunden nach<br />

System ist über Jahre gewachsen, es funktioniert.<br />

Warum sollte das jemand ändern?<br />

Die großen Konzerne Aral, Shell, Esso, Jet<br />

und Total bestimmen die Preise. Keiner redet<br />

darüber.“<br />

Der Mitarbeiter bricht das Schweigen<br />

und damit auch eine eherne Branchenregel.<br />

Sein Name, Alter oder Arbeitgeber dürfen<br />

nicht genannt werden, um ihn nicht<br />

zu enttarnen. Er beschreibt das System der<br />

Preisgestaltung an den deutschen Tankstellen.<br />

Die großen fünf Mineralölkonzerne in<br />

Deutschland unterhielten Abteilungen, die<br />

das sogenannte „Pricing“ betreiben. Dort<br />

arbeiten jeweils sieben oder acht Mitarbeiter,<br />

bei denen die Informationen über<br />

die Preise der Konkurrenz zusammenlaufen.<br />

Mehrfach am Tag melden die Pächter<br />

der Tankstellen per SMS, E-Mail oder Telefon,<br />

was die anderen Mineralölkonzerne<br />

für einen Liter Kraftstoff berechnen. Für<br />

verschiedene Großregionen werde jeweils<br />

die Wettbewerbslage analysiert und per<br />

Computer ein Durchschnittswert ermittelt.<br />

Per Tastendruck ändert die Zentrale dann<br />

die regionalen Preise auf den Anzeigentafeln<br />

der Tankstellen und den Zapfsäulen.<br />

Seit Jahren hat keiner der großen Mineralölkonzerne<br />

gegen das Pricing-Modell<br />

verstoßen. Keiner der Anbieter habe Interesse<br />

daran, dauerhaft mit Dumping preisen<br />

die Konkurrenten auszustechen, sagt der<br />

Insider. Einen echten Wettbewerb gibt es<br />

nicht, auch weil die Mineralölkonzerne gemeinsam<br />

Raffinerien betreiben und sich<br />

untereinander Rohöl und Benzin verkaufen.<br />

Solange die Großen sich an das System<br />

halten, hat der Verbraucher keine echte<br />

Chance, günstiger an Benzin zu kommen.<br />

Direkte Absprachen treffen die Anbieter<br />

dabei nicht – auch damit das Bundeskartellamt<br />

keine Beweise für etwaige<br />

Verstöße bekomme. Drei Jahre lang haben<br />

die staatlichen Wettbewerbshüter die<br />

deutschen Tankstellen überwacht, dokumentiert,<br />

wie die Benzinpreise stiegen und<br />

fielen, das Angebot der Konkurrenten verglichen<br />

und doch keinen Beweis für Gesetzesverstöße<br />

gefunden. Sie konnten lediglich<br />

feststellen, dass die großen fünf ihre<br />

Preise stets nach dem gleichen Muster erhöhen<br />

und senken.<br />

„Das läuft wie in einer langjährigen Ehe,<br />

da können die Partner sich auch ohne Absprachen<br />

darauf verlassen, dass einer am<br />

nächsten Morgen das Frühstück macht.<br />

Fast immer erhöhen Aral und Shell <strong>als</strong><br />

Erste die Preise. Nach exakt drei oder fünf<br />

Stunden folgen die anderen Anbieter“,<br />

sagt Kartellamtspräsident Andreas Mundt.<br />

„Wer die Preise erhöht, geht <strong>als</strong>o kaum ein<br />

Risiko ein, dass die Kunden zum Wettbewerber<br />

wechseln.“ Es ist ein raffiniertes<br />

System des Abguckens und Nachmachens.<br />

Ändern können die Wettbewerbshüter das<br />

System nicht. Preise abzusprechen, ist verboten,<br />

den Markt zu analysieren, nicht.<br />

Darauf verweist auch der Mineralölwirtschaftsverband<br />

(MWV). Das neue<br />

Gesetz aus dem Wirtschaftsministerium<br />

lehnt der Verband ab. „Was Herr Rösler<br />

mit dem Markttransparenzstellen-Gesetz<br />

fordert, klingt nach Verzweiflungstat, zumal<br />

er selbst eingesteht, dass sich für den<br />

Verbraucher nichts ändert“, sagt Klaus Picard,<br />

Geschäftsführer des MWV. „Die Benzinpreise<br />

richten sich nicht nach Feiertagen<br />

und Urlaubsanfang, sondern nach den<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 93


| K a p i t a l | R a f f i n i e r t e s P r e i s s y s t e m<br />

Einkaufskosten, und das sind Weltmarktpreise.“<br />

Die Mitgliedsunternehmen seines<br />

Verbands, zu denen Shell, Aral, Esso, Total<br />

und Jet gehören, wollten einen freien<br />

Wettbewerb.<br />

Frei heißt aus Sicht der Lobbyisten vor<br />

allem wenig Staat. Frei ist der Benzinpreis<br />

in Deutschland allerdings keineswegs. Die<br />

freien Tankstellen legten im vergangenen<br />

Jahr Beschwerde beim Kartellamt gegen<br />

die Großen der Branche ein. Sie kaufen ihr<br />

Benzin bei den großen fünf. Die Mineralölkonzerne<br />

berechnen den Freien manchmal<br />

mehr pro Liter, <strong>als</strong> sie selber von Privatkunden<br />

an der Zapfsäule kassieren. Im April eröffnete<br />

das Kartellamt ein Verfahren gegen<br />

Aral, Shell, Esso, Total und Jet, weil diese<br />

den Marktzugang der Freien Tankstellen<br />

erschweren sollen. Von einem Oligopol auf<br />

dem Kraftstoffmarkt sprechen Mundt und<br />

Vertreter des Bundeswirtschaftsministeriums,<br />

die sonst eher zur sprachlichen Zurückhaltung<br />

neigen.<br />

Mehr <strong>als</strong> die Hälfte der rund<br />

14 700 Straßentankstellen in Deutschland<br />

gehören den großen Marken: Aral<br />

(BP), Shell, Esso (ExxonMobil), Jet (ConocoPhillips)<br />

und Total. Auch die Tankstellen<br />

an großen Supermärkten gehören meist<br />

den Marktführern, auch wenn sie unter anderen<br />

Namen firmieren. 70,5 Prozent der<br />

in Deutschland verkauften Kraftstoffe gehen<br />

auf die großen Markengesellschaften<br />

zurück, teilt das Bundeswirtschaftsministerium<br />

mit. Einer der größten Konzerne ist<br />

Shell. Das Unternehmen bestätigt, dass die<br />

Preise an den rund 2200 Shell-Stationen<br />

in Deutschland zentral aus der Preisabteilung<br />

in der Hamburger Zentrale gesteuert<br />

würden. Je intensiver der Wettbewerb,<br />

desto wahrscheinlicher sind Preisbewegungen,<br />

heißt es bei Shell. Eine Zusammenarbeit<br />

mit der Konkurrenz bei der Preisgestaltung<br />

weist Shell zurück: „Preisabsprachen<br />

sind kartellrechtlich verboten.“ Die Branche<br />

wiederholt diesen Satz wie ein Mantra.<br />

Röslers neue Markttransparenzstelle<br />

brauchen die großen fünf nicht zu fürchten.<br />

Die Lobbyisten der Mineralölwirtschaft<br />

kämpfen hinter den Berliner Kulissen<br />

dennoch gegen das „bürokratische<br />

Monster“, wie der MWV das geplante<br />

Gesetz nennt: Die neue Transparenzstelle<br />

würde zu mehr Verwaltungsaufwand und<br />

damit zu steigenden Kosten bei den Unternehmen<br />

und schließlich zu höheren Preisen<br />

führen.<br />

Aber auch beim Kartellamt steht man<br />

dem Gesetzesvorhaben sehr skeptisch gegenüber.<br />

Präsident Mundt hatte in der Vergangenheit<br />

gefordert, dass der Gesetzgeber<br />

ihm die Möglichkeiten geben müsse,<br />

für mehr Wettbewerb zu sorgen. Solange<br />

das Oligopol der Mineralölkonzerne in<br />

Deutschland bestehen bleibt, sind ihm<br />

diesbezüglich die Hände gebunden. Nun<br />

formuliert er seine Einwände gegen den<br />

Rösler-Vorstoß sehr diplomatisch. Die fehlende<br />

Transparenz, die Rösler beklagt, sei<br />

gar nicht das Problem auf dem Kraftstoffmarkt.<br />

„In diesem sehr speziellen Markt<br />

weiß jeder Anbieter stets, wie sich die Konkurrenten<br />

verhalten werden, wie sich die<br />

Preise entwickeln werden“, sagt Mundt. Er<br />

Röslers<br />

Vorschlag sorgt<br />

nur für mehr<br />

Daten, einen<br />

Einfluss auf die<br />

Benzinpreise<br />

hat er nicht<br />

bemüht sich darum, dass der Gesetzentwurf<br />

von Rösler noch abgeändert wird: „So<br />

ist die wöchentliche Lieferung von Preisdaten<br />

der Raffinerien, wie der Gesetzentwurf<br />

es vorsieht, unserer Meinung nach nicht<br />

nötig. Die Frage ist, ob der Aufwand die<br />

von uns gewonnenen Erkenntnisse deckt.“<br />

Wenn jede Tankstelle die Einkaufs- und<br />

Verkaufspreise an die Markttransparenzstelle<br />

melden muss, dürften dort täglich<br />

mehr <strong>als</strong> eine Million Datensätze auflaufen.<br />

Diesbezüglich herrscht seltene Übereinstimmung<br />

der Ansichten zwischen Kartellamt<br />

und den Mineralöllobbyisten.<br />

Zuvor waren zwei andere Modelle im<br />

Gespräch: Das österreichische Modell<br />

schreibt vor, dass Tankstellen lediglich<br />

einmal am Tag die Preise erhöhen dürfen.<br />

Die Mineralöllobby hatte diesem Modell<br />

durchaus etwas abgewinnen können, Spötter<br />

sagen sogar, sie hätte es selbst vorgeschlagen:<br />

Das Abgucken und Nachmachen<br />

der Preise der Konkurrenten wird dadurch<br />

noch einfacher, weil der Kraftstoff über einen<br />

längeren Zeitpunkt das Gleiche kostet.<br />

Zudem waren die Benzinpreise in Österreich<br />

nach der Einführung des Modells<br />

dauerhaft gestiegen.<br />

Gegen das westaustralische Modell hingegen<br />

hatten die Lobbyisten leidenschaftlich<br />

gekämpft. Die insgesamt 550 Tankstellen<br />

in Westaustralien müssen täglich<br />

ihre Preise für den kommenden Tag melden<br />

und dürfen diesen dann 24 Stunden<br />

lang nicht mehr ändern. Alle Preise werden<br />

im Internet veröffentlicht. Kunden<br />

können sich sicher sein, an der Zapfsäule<br />

den Preis vorzufinden, den sie im Internet<br />

recherchiert haben. Für die Autofahrer<br />

wird es so einfacher, die Preise der unterschiedlichen<br />

Anbieter zu vergleichen. Der<br />

MWV spricht dennoch von einem „Loser-Modell“,<br />

das sich nicht einmal in ganz<br />

Australien durchsetzen konnte und lediglich<br />

in einer unbedeutenderen Provinz angewandt<br />

werde.<br />

Kartellamtspräsident Mundt hatte sich<br />

dagegen für das australische Modell ausgesprochen.<br />

Durch die Preisfestlegung<br />

am Vortag werde das bisherige feste System<br />

der Preisangleichung aufgebrochen, da<br />

die Konkurrenten nicht mehr voneinander<br />

abschauen können, sagt Mundt. Damit<br />

konnte er sich im Wirtschaftsministerium<br />

nicht durchsetzen.<br />

Rösler entschied sich am Ende gegen<br />

das westaustralische und gegen das österreichische<br />

Modell und setzte sein eigenes<br />

Kompromissmodell durch, das lediglich<br />

dazu führen wird, dass mehr Daten erfasst<br />

werden: Die beim Kartellamt gesammelten<br />

Informationen sollen auch nicht veröffentlicht<br />

werden. Die Preise werden durch<br />

Röslers Modell nicht sinken. Im kommenden<br />

Jahr wird Deutschland <strong>als</strong>o wieder vor<br />

Ostern und vor den Sommerferien über<br />

steigende Kraftstoffpreise diskutieren. Das<br />

Bundeskartellamt dürfte dann über noch<br />

mehr Daten verfügen, um ein raffiniertes<br />

System der Preisgestaltung unter den Mineralölkonzernen<br />

nachzuweisen – das ohne<br />

Änderung des Wettbewerbsrechts jedoch<br />

ganz legal bleiben wird.<br />

Hauke Friederichs<br />

arbeitet <strong>als</strong> freier Journalist.<br />

Hohe Benzinpreise betreffen ihn<br />

<strong>als</strong> leidenschaftlichen Bahnfahrer<br />

nur selten<br />

Foto: Hannah Schuh/Arne Mayntz<br />

94 <strong>Cicero</strong> 7.2012


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| S a l o n<br />

Brandenburgs Spitze<br />

Für wenige war der Weg auf die Bühne steiniger <strong>als</strong> für Mandy Fredrich, die Königin dieses Opernsommers<br />

von Eva gesine Baur<br />

N<br />

aturliebende wissen, wo der<br />

Fläming liegt, dieser verschlafen-schöne<br />

Landschaftszug in der<br />

Mark Brandenburg. Mozartliebende aus aller<br />

Welt werden es auch bald wissen wollen.<br />

Denn von dort stammt Mandy Fredrich.<br />

Und die singt Ende Juli bei den Salzburger<br />

Festspielen jene Partie, die <strong>als</strong> die größte<br />

Herausforderung der Opernliteratur gilt:<br />

die Königin der Nacht in Mozarts „Zauberflöte“.<br />

„Da heißt es alles oder nichts“, sagt<br />

die Sopranistin. Wenn sie die dreigestrichenen<br />

Fs nicht trifft, kann sie das Übrige<br />

himmlisch singen, und keiner wird sich daran<br />

erinnern. Diese kaum singbaren Spitzentöne<br />

machen aus der Partie einen Hochleistungssport,<br />

reine Nervensache.<br />

Mandy Fredrich glaubt an Yoga und<br />

Selbstsuggestion. Sie sagt nicht: Ich will das<br />

schaffen. Sie sagt: „Ich werde in der Felsenreitschule<br />

stehen und losfliegen.“ So wie sie<br />

sich jahrelang sagte: „Ich muss mein Geld<br />

nicht mit Singen verdienen, aber ich werde<br />

es.“ Diese Zuversicht hat sie bereits über<br />

viele Abgründe hinweggetragen.<br />

Als ihre Eltern in der damaligen DDR<br />

ihrer ältesten Tochter 1974 den Vornamen<br />

Mandy gaben, hatte Barry Manilow seinen<br />

gleichnamigen Welthit schon millionenmal<br />

verkauft. „I sent you away“, bedauert darin<br />

ein Liebhaber und erkennt zu spät: „But I<br />

need you today.“ Mandys Vater hatte das<br />

Lied im Programm. Der gelernte Agraringenieur<br />

war so gut wie jedes Wochenende<br />

mit seiner Band unterwegs, spielte Tanzmusik<br />

auf Hochzeiten und Schützenfesten.<br />

Mit 16 stieg seine Tochter, die Klavier<br />

und Orgel gelernt hatte, ein: <strong>als</strong> Keyboarderin,<br />

umzingelt von älteren Männern.<br />

„Von Oper wusste ich gar nichts“, sagt sie.<br />

„Und vom Singen auch nicht.“<br />

Das änderte sich, <strong>als</strong> an der städtischen<br />

Musikschule von Belzig eine Gesangspädagogin<br />

eingestellt wurde. In der Kapelle<br />

einer Rehaklinik in Belzig gab Mandy ihren<br />

ersten Auftritt <strong>als</strong> Solistin. Nicht mit<br />

Mozart, sondern mit Lloyd Webbers Song<br />

„Memory“ aus dem Musical „Cats“. „Ich<br />

bin schier gestorben vor Angst. Danach<br />

wusste ich aber, Singen ist meins.“<br />

Doch während Mandy, wie auch heute<br />

noch, im Garten ihrer Eltern Unkraut jätete<br />

oder den neuesten Rosenstock einpflanzte,<br />

lag die Hoffnung, jem<strong>als</strong> auf einer<br />

Opernbühne zu stehen, in weiter Ferne.<br />

So weit entfernt wie die Raumsonde Voyager,<br />

bestückt mit einer goldenen Platte, die<br />

anderen Planetensystemen mitteilen soll,<br />

welche Klänge die Menschheit geschaffen<br />

hat. Dort findet sich neben aserbaidschanischen<br />

Sackpfeifern und einem Blues von<br />

Louis Armstrong die zweite Arie der Königin<br />

der Nacht.<br />

Die Hoffnung rückte näher, <strong>als</strong> Mandy<br />

beim Wettbewerb „Jugend musiziert“ 2002<br />

zuerst regional in Potsdam, dann in Frankfurt<br />

an der Oder und schließlich beim Bundesausscheid<br />

in Nürnberg gewann. In der<br />

Frankfurter Jury saß Jutta Schlegel, Professorin<br />

an der Berliner Musikhochschule.<br />

Die fragte: „Wollen Sie nicht Sängerin werden?“<br />

Mandy hatte vor, zuerst einmal die<br />

Ausbildung <strong>als</strong> Mediengestalterin zu beenden.<br />

Ihr Ziel: „Mit Musik zu tun haben,<br />

aber auch Chancen auf einen Job.“ Während<br />

sie bei der Deutschen Welle ihr Geld<br />

verdiente, bereitete sie sich auf die Aufnahmeprüfung<br />

an der Musikhochschule vor.<br />

Erster Versuch: Berlin, Frühjahr 2003. Urteil<br />

der Kommission: Sie sind etwas zu alt<br />

und ihr Italienisch ist zu schlecht. Zweiter<br />

Versuch: Berlin, Sommer 2003. Urteil der<br />

Kommission: Sie sind viel zu alt, Sie werden<br />

es nicht mehr schaffen.<br />

Doch in Gesangspädagogik schaffte<br />

sie die Prüfung. Und noch viel mehr. Sie<br />

packte ihre Kurse so zusammen, dass sie<br />

in der Nachtschicht arbeiten konnte. „Ich<br />

bin durch mein Leben gerannt.“ Was sie<br />

verdiente, gab sie fürs Singen aus. Für<br />

Meisterkurse. „Die habe ich gebraucht.“<br />

Musikalisch wie seelisch, denn die Hochschule<br />

erprobte an ihr die hohe Schule der<br />

Entmutigung. Ohne Erfolg. Mandy meldete<br />

sich ein drittes Mal an zur Aufnahmeprüfung<br />

für Gesang. Und bestand, trotz einer<br />

H<strong>als</strong>entzündung. Es hieß jedoch: Sie<br />

werden bestenfalls Soubrette.<br />

Dann kam Robert Gambill <strong>als</strong> Professor<br />

an die Hochschule. „Der sagte: Du<br />

gehörst auf die Bühne, ich seh’s an deinen<br />

Augen.“ 2008 hat Gambill „die Königin<br />

aus dem Schrank geholt“, erinnert<br />

sie sich. „Ich wusste gar nicht, dass ich so<br />

hohe Töne hatte.“ Ihr gefeiertes Königinnen-Debüt<br />

gab sie in Hof. Mal nachts, mal<br />

tags schuftete sie neben dem Engagement<br />

weiter, sang im selben Jahr an der Detmolder<br />

Oper vor und wurde aufgenommen.<br />

Ihr Geld steckte sie weiterhin in sündhaft<br />

teure Meisterklassen. „Renata Scotto hat alles<br />

gelobt, was ich angeblich nicht konnte<br />

und hatte. Mein Piano und mein Timbre<br />

für Belcanto.“ Doch sie musste weiterrennen,<br />

auch auf Gesangswettbewerbe. „Nur<br />

der erste Preis zählt“, erklärte ihr die legendäre<br />

italienische Sopranistin.<br />

In der Semperoper in Dresden holte<br />

Mandy Fredrich sich 2010 einen besonders<br />

begehrten Preis in der „Competizione<br />

dell’Opera“. Mit Mozart und Belcanto.<br />

Spätestens seit diesem Zeitpunkt dürften<br />

viele gesagt haben „I sent you away. But<br />

I need you today.“ Mandy lacht darüber.<br />

„Ich habe mich nie beklagt. Ich habe immer<br />

an meine Großmutter gedacht. Wenn<br />

ich mit vier Freunden statt alleine bei ihr<br />

eingefallen bin, hat sie eben für fünf Gäste<br />

gekocht. Zur Not für einen Rotkohl, für<br />

einen Weißkohl und für einen Grünkohl.“<br />

Alles geht, zeigte die Großmutter. Die Enkelin<br />

auch. „Du darfst dir nur die Lebensfreude<br />

nicht abwürgen lassen.“<br />

Eva gesine Baur<br />

schreibt Biografien und Romane,<br />

die von Musik handeln. Zuletzt<br />

erschien ihr Buch über „Emanuel<br />

Schikaneder“ (C. H. Beck)<br />

Fotos: Götz Schleser, privat (Autorin)<br />

96 <strong>Cicero</strong> 7.2012


„Ich habe mich<br />

nie beklagt.<br />

Alles geht. Ich<br />

werde in der<br />

Felsenreitschule<br />

stehen und<br />

losfliegen“<br />

Von der Rehaklinik zur Salzburger<br />

Festspielbühne: Mandy Fredrich<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 97


| S a l o n<br />

gefühlsimplosionen<br />

Die Koreanerin Haegue Yang, Star der Documenta 13, macht Kunst aus dem Dilemma des Verlusts<br />

von Birgit Sonna<br />

M<br />

it Haegue Yang unter vier Augen<br />

ins Gespräch zu kommen, ist in<br />

etwa so schwierig, <strong>als</strong> würde man<br />

sich mit Brad Pitt heimlich vor der Premiere<br />

seines jüngsten Hollywoodfilms treffen.<br />

Konspirativ sind bei der eben eröffneten<br />

Documenta gleich mehrere Interviews anberaumt,<br />

die aber verwirrenderweise erst<br />

kurz vorher mit genauer Ortsangabe bestätigt<br />

werden. Und frühmorgens, <strong>als</strong> Haegue<br />

Yang dann bei ihrer Jalousieninstallation<br />

im Halbdunkel des Kulturbahnhofs, Kassels<br />

ehemaligem Güterbahnhof, steht, wird<br />

sie aus dem Hinterhalt von einer Journalistin<br />

aus Peru aufgespürt, die sich lauth<strong>als</strong><br />

beschwert, trotz unzähliger Anfragen nicht<br />

zu ihr vorgelassen worden zu sein.<br />

Die Südkoreanerin mit Wohnsitz in<br />

Berlin gehört zu den begehrtesten Künstlerinnen<br />

der Gegenwart. Und das zu Recht.<br />

Kaum jemand anderes ist imstande, mit<br />

eher modesten und minimalen Mitteln<br />

so berührende, wie aus der Zeit gefallene<br />

Parallelkosmen heraufzubeschwören. Aus<br />

Kleiderständern, Kabeln und Textilem,<br />

aus Ventilatoren und Glühbirnen, aus<br />

Europapaletten und Bierkisten, kurzum<br />

aus gemeinhin unbeachteten, funktionalen<br />

Alltagsmaterialien arrangiert sie<br />

leichthändig Skulpturen, <strong>als</strong> seien diese<br />

Ikebana-Gestecke.<br />

Die Aufregung um ihre Person lässt<br />

Haegue Yang relativ kalt. „Um ehrlich zu<br />

sein, für mich spielt es keine so übermäßige<br />

Rolle, hier vertreten zu sein“, sagt<br />

sie. „Ich gebe nichts auf den Hype.“ Vielmehr<br />

beschäftige sie die Frage, wie sie es<br />

schaffe, dass jemand auch einen Gewinn<br />

davon hat, ihre Arbeit zu verfolgen. Mit<br />

zwei Werken ist sie auf der Weltkunstschau<br />

präsentiert. Während wir sprechen, führt<br />

ihre Konstruktion aus Aluminiumjalousien<br />

im Hintergrund einen ziemlich spukhaften,<br />

motorisierten Tanz auf. Parallel dazu<br />

ist im Staatstheater Kassel ein von ihr nach<br />

Marguerite Duras’ Novelle „Die Krankheit<br />

Tod“ inszeniertes Monodrama zu sehen.<br />

Das beunruhigende mechanische Klicken<br />

ihrer schwarzen Jalousien will auch<br />

nicht aufhören, während die Künstlerin<br />

mit rauer Stimme davon schwärmt, wie sie<br />

„Ich gebe nichts auf den Hype.<br />

Mich interessieren eher die<br />

doppelbödigen Emotionen“<br />

Haegue Yang<br />

sich in diesen Ort der Tristesse verliebt hat,<br />

an dem wir uns befinden. Es ist, <strong>als</strong> würde<br />

man einem von Geisterhand dirigierten<br />

Schauspiel der permanenten Ver- und Enthüllung<br />

beiwohnen. Yangs gekonnt ausbalancierte<br />

Choreografie des Lichtes, das<br />

durch den Fensterschutz fällt, lädt die Atmosphäre<br />

der Verlassenheit am Bahnsteig<br />

noch weiter auf. „Wie Sie sehen, ist der<br />

Mechanismus der Jalousien eher ungelenk<br />

wie ein sehr simpler, primitiver Roboter“,<br />

sagt sie. Modernismus kann verschiedene<br />

Facetten haben, und heute kennen wir ihn<br />

vor allem in Form glattester, reinster Kultiviertheit.<br />

Aber diese Arbeit, an diesem<br />

Ort erinnert eher an den Beginn der Industrialisierung,<br />

an das ruhmreiche Kassel<br />

mit seinen Lokomotiven und großen<br />

Lastwagen.<br />

Magische Interferenzen zwischen<br />

den Kulturen und Zeiten, zwischen Öffentlichem<br />

und Privatem, zwischen West<br />

und Ost schließen sich oft durch Haegue<br />

Yangs Skulpturen auf. Nicht zuletzt ist<br />

diese Gleichzeitigkeit des Unzeitgleichen<br />

biografisch begründet. Nach dem eher lustlosen<br />

Beginn eines traditionell ausgerichteten<br />

Kunststudiums in Seoul nahm Professor<br />

Georg Herold von der Frankfurter<br />

Städelschule sie schon bei ihrer ersten Europareise<br />

unter die Fittiche. Yang konnte<br />

es anfangs selbst nicht recht glauben, ohne<br />

irgendein Hindernis quasi im Olymp der<br />

deutschen Kunstakademien gelandet zu<br />

sein. Vergleichsweise rasant erfolgte dann<br />

auch der Aufstieg in der Kunstwelt. Mit<br />

Soloausstellungen brillierte sie im New<br />

Museum in New York und am Kunsthaus<br />

Bregenz, auf der Kunstbiennale in Venedig<br />

vertrat sie 2009 ihre Heimat im Länderpavillon<br />

und schaffte damit den endgültigen<br />

Durchbruch. Der anhaltende Schwebezustand<br />

des Entfremdetseins hat sie dabei<br />

nie verlassen: „Ich bin ja relativ jung, teile<br />

aber in puncto Modernisierung <strong>als</strong> Koreanerin<br />

eher den gesellschaftlichen Erfahrungsschatz<br />

der älteren Generation hier in<br />

Europa“, sagt sie. „Mich interessieren doppelbödige<br />

Emotionen.“<br />

Dass Haegue Yang nun zum inzwischen<br />

dritten Mal die um die Unmöglichkeit<br />

der Liebe kreisende Novelle von<br />

Marguerite Duras auf die Bühne bringt, hat<br />

sicher auch mit der gefühlten Verwandtschaft<br />

zu der von Kindheit an in Indochina<br />

lebenden französischen Autorin zu<br />

tun. „Ich denke, Duras spürte, dass sie nie<br />

eine richtige Heimat hatte und dies ihre<br />

Sehnsucht ausmachte. Sie lebte mehr in<br />

dem Zustand des Dilemmas und Verlusts<br />

<strong>als</strong> in einem Erfülltsein.“ Genau diese Zustände<br />

sind es auch, für die Yang und ihre<br />

Kunst den Filter liefern, den Verstärker, mit<br />

dessen Hilfe man in der kollektiven und in<br />

der persönlichen Erinnerung verschiedene<br />

Zeitachsen entlangfahren kann. So lange,<br />

bis die Gefühle implodieren.<br />

Birgit Sonna<br />

ist Autorin und Kunstkritikerin<br />

Foto: Stefan Kröger, Privat (Autorin)<br />

98 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Die Künstlerin Haegue Yang<br />

vor ihrer Installation in Kassel<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 99


| S a l o n<br />

Mit dem Leben<br />

davongekommen<br />

Sibylle Berg, die erbarmungsloseste Schriftstellerin deutscher Sprache, nimmt die Dinge jetzt gelassen<br />

von Daniel Schreiber<br />

A<br />

uf der Dachterrasse des „Grieder<br />

les Boutiques“, dem Luxuskaufhaus<br />

an der Bahnhofstraße,<br />

schaut man auf die Kuppeln der Zürcher<br />

Altstadt, dazwischen strahlen die Alpen in<br />

beruhigendem Frühsommergrün. Anstelle<br />

von „danke“ sagt man hier „merci“ und<br />

spricht das Wort wie „mercy“ aus, den englischen<br />

Begriff für Gnade. Sibylle Berg sitzt<br />

vor einem grünen Tee, in einer schwarzen<br />

Knautschsatinjacke von Rick Owens, das<br />

erdbeerblonde Haar zu einem langen Zopf<br />

gebunden. Die zapfenförmigen Säulen, die<br />

die Terrasse begrenzen, nennt sie hartnäckig<br />

„Phalli“ oder „Eicheln“ und die handverlesenen<br />

schwulen Kellner „schöne junge<br />

Fleischhappen“. Gerade hat sie ein Theaterstück<br />

fertig geschrieben, hat deswegen Rückenschmerzen<br />

und würde gerne sterben.<br />

Und wo wir schon dabei sind: Klüger und<br />

reicher wäre sie gleich auch gern. Seit einer<br />

Woche verfolgt sie die Liveübertragung der<br />

Schachweltmeisterschaft in Moskau. „Ich<br />

glaube, diese Schachspieler regen sich nicht<br />

mehr auf“, sagt sie. Ausweichmanöver. Sie<br />

muss sich erst einmal ein Bild von ihrem<br />

Gegenüber machen. Sie lächelt.<br />

Berg ist eine der meistgelesenen Kolumnistinnen<br />

Deutschlands, eine Autorin,<br />

Reporterin und Dramatikerin, für<br />

die sich die Kollegen seit fast zwei Jahrzehnten<br />

fantasievollste Labels ausdenken.<br />

„Die Nase ist ein bisschen kleiner,<br />

aber sonst ist das Alien-Gesicht<br />

wieder ganz das alte“<br />

Berg über ihre Gesichtsrekonstruktion nach einem Autounfall<br />

Als „Designerin des Schreckens“ wurde<br />

sie bezeichnet, <strong>als</strong> „moralinsaures Monster“,<br />

„über Leichen latschende Schlampe“,<br />

„Höllenfürstin des Theaters“, „Kassandra<br />

des Klamaukzeitalters“, oder, schon etwas<br />

origineller, <strong>als</strong> „Hasspredigerin der Singlegesellschaft“.<br />

Liegt es vielleicht daran, dass<br />

Menschen, die so etwas schreiben, Bergs<br />

mittlerweile zehn erfolgreiche Romane und<br />

zwölf Theaterstücke einfach nur nicht verstehen?<br />

Dass sie die Mitleidlosigkeit ihrer<br />

literarischen Stimme verkennen und ihren<br />

Zivilisationsekel für eine zynische Attitüde<br />

halten? Dass sie sich auf die Füße<br />

getreten fühlen, wenn Berg darüber rätselt,<br />

„wie Männer es immer wieder schaffen,<br />

an die Spitze zu kommen, allein weil<br />

sie es eben wollen“? Oder daran, dass solche<br />

Leute glauben, es handle sich lediglich<br />

um eine kalkulierte Provokation, wenn sie<br />

anstelle von „Sex“ über „Geschlechtsverkehr“<br />

schreibt, ihren viel gelesenen Twitter-<br />

Account mit „Kaufe nix, ficke niemanden“<br />

übertitelt und mit leichter Hand behauptet,<br />

dass die heutzutage vermittelte Idee der<br />

Liebe nur ein „Marketinginstrument“ sei,<br />

um „Waschmittel zu verkaufen“?<br />

Es ist kein Zufall, dass es sich bei vielen<br />

von Bergs größten Kritikern um Männer<br />

handelt, die regelmäßig gerne darauf<br />

verweisen, wie seltsam ihr Gesicht auf den<br />

Autorenfotos aussieht und wie dünn sie in<br />

ihren gelegentlichen Talkshowauftritten<br />

wirkt. Berg scheint ein Weiblichkeitsbild<br />

zu verkörpern, mit dem viele nicht umgehen<br />

können.<br />

Vielleicht auch, um dieser Geschlechterfalle<br />

zu entkommen, hat sie einen Hermaphroditen<br />

zur Hauptfigur ihres Ende<br />

Juli erscheinenden Romans gemacht. Drei<br />

Jahre hat sie daran gearbeitet. Ein Wälzer,<br />

ihr bisher längstes Buch. Der Hermaphrodit<br />

heißt Toto, wurde in der DDR geboren,<br />

einem „Land, in dem alte Nation<strong>als</strong>ozialisten<br />

Kommunismus spielten“,<br />

und von seiner alkoholkranken Mutter<br />

so genannt, weil er sie an ein Hündchen<br />

erinnerte. „Das Baby sah zu wenig nach<br />

Nichts aus, <strong>als</strong> dass sie es einfach hätte<br />

ignorieren können“, heißt es im Roman.<br />

Im Heim wird Toto von einer faschistoiden<br />

Stasifunktionärin gequält und für ein<br />

bisschen frischen Spargel <strong>als</strong> Arbeitstier<br />

an eine saufende Bauernfamilie verkauft.<br />

Nachdem er es irgendwie in den Westen<br />

schafft, wird er immer mal wieder krankenhausreif<br />

geschlagen, ob in der Hippiekommune,<br />

im Obdachlosenheim, in der<br />

Bar, wo er in traurigstem F<strong>als</strong>ett singt,<br />

oder in der Fabrik, in der er kurzzeitig arbeitet.<br />

Totos große Liebe, der Investmentbanker<br />

Kasimir, lässt ihm eine radioaktive<br />

Sonde in den Magen setzen, um ihm beim<br />

langsamen Sterben zuzuschauen. Und sogar<br />

<strong>als</strong> Obdachloser im Paris-Simulakrum<br />

der Zukunft wird er noch von einer Polizistin<br />

misshandelt. „Vielen Dank für das<br />

Leben“, heißt der Roman, der Titel ist übrigens<br />

ernst gemeint. Denn Toto ist mit einer<br />

besonderen Gabe ausgestattet: Er weiß,<br />

dass der Hass, der ihm entgegengebracht<br />

wird, nicht wirklich ihm gilt. Immer wieder<br />

gelingt es ihm, sich voller Dankbarkeit<br />

den „Witz seines Aufenthalts auf diesem<br />

Foto: Katharina Lütscher<br />

100 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Sibylle Berg in<br />

Zürich, wo sie seit<br />

16 Jahren lebt<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 101


| S a l o n<br />

seltsamen durchs All eiernden Planeten“<br />

zu erschließen.<br />

„Ich habe Toto wie einen Menschen<br />

konzipiert, mit dem ich gerne die Welt<br />

aufgefüllt sehen würde“, sagt Berg. „Totos<br />

haben nicht diese Scheiße im Kopf, die<br />

so viele haben. Sie müssen nicht alles totwalzen,<br />

was nicht sie sind. Er ist ein wirklicher<br />

Außenseiter, einer, wie wir ihn alle<br />

kennen – die in der Schule verprügelt wurden,<br />

weil sie gestunken haben, schwul waren,<br />

lesbisch oder einfach anders.“<br />

Sie selbst war natürlich auch eine dieser<br />

Außenseiterinnen. Man wisse ja nie, woran<br />

das liegt, sagt sie: Ob daran, wie sie aussah.<br />

Oder an der Last, die ihr von zu Hause aufgebürdet<br />

wurde.<br />

Aufgewachsen ist die heute 50-Jährige<br />

in Weimar, jenem putzigen Kondensat<br />

deutscher Kultur und Geschichte, wo<br />

Klassik, Bauhaus und die erste demokratische<br />

Verfassung des Landes entstanden –<br />

und später ein KZ gleich vor der Haustür.<br />

Sibylle Bergs Mutter, eine alleinstehende<br />

Bibliothekarin, war Alkoholikerin.<br />

Für ein paar Jahre gab sie ihre Tochter zu<br />

einem entfernt verwandten Musikprofessoren-Ehepaar,<br />

das dem Mädchen das Lesen<br />

beibrachte und es dazu anhielt, nach klassischen<br />

Konzerten Aufsätze zu schreiben. Als<br />

sie zehn war, musste sie zurück zur Mutter.<br />

„Das Schlimmste ist, dass du Suchtkranke<br />

nicht erreichen kannst“, sagt Berg. „Sie reden<br />

nicht mit dir. Sie lassen sich nicht retten.“<br />

Weil sie Angst hatte, in ein Heim zu<br />

kommen, und ihre Mutter nicht mehr arbeiten<br />

konnte, sorgte sie dafür, dass wenigstens<br />

immer alles sauber aussah. Das bisschen<br />

Geld, das man in der DDR brauchte,<br />

verdiente sie, indem sie antiquarische Bücher<br />

aufstöberte und an Sammler verkaufte.<br />

Nach der Schule machte Sibylle Berg<br />

eine Ausbildung zur Puppenspielerin, besuchte<br />

das Weimarer Kaffeehaus, in dem<br />

die Ausreisewilligen verkehrten, und<br />

schrieb dem Staatsratsvorsitzenden Erich<br />

Honecker 1984 einen Brief, in dem sie<br />

ihm mitteilte, dass sie in die BRD ausreisen<br />

wolle. Schon am nächsten Tag wartete die<br />

Stasi vor der Haustür, die Genossin Puppenspieltheaterchefin<br />

teilte ihr mit, dass sie<br />

nicht mehr zur Arbeit kommen bräuchte.<br />

Stattdessen gab es eine Vorladung zum<br />

Verhör ins Ministerium für Inneres. Das<br />

hätte aber alles nicht viel gebracht, erzählt<br />

Berg: „Dam<strong>als</strong> konnte ich noch weniger<br />

reden <strong>als</strong> heute, nämlich gar nicht.“ Ein<br />

„Das Schlimme<br />

ist, dass du<br />

Suchtkranke<br />

nicht erreichen<br />

kannst. Sie<br />

reden nicht mit<br />

dir, lassen sich<br />

nicht retten“<br />

Berg über ihre alkoholkranke Mutter<br />

paar Monate später klappte es dann aber<br />

doch mit der Ausreise in den Westen, zunächst<br />

in ein Auffanglager nach Berlin-Marienfelde.<br />

In dieser Zeit nahm sich Sibylle<br />

Bergs Mutter das Leben. Sie hatte versucht,<br />

sich mit einem Gasherd zu ersticken. Dabei<br />

explodierte ein Großteil des Wohnhauses,<br />

in dem sie lebte.<br />

Drei Monate verbrachte Sibylle Berg<br />

an einer Akrobatenschule im Schweizer<br />

Tessin und ging danach zurück nach Berlin,<br />

wo sie in einem Wohnheim von Sozialhilfe<br />

lebte. „Und dort kam verspätet der<br />

Schock des Weggehens. Ich lag in meinem<br />

Zimmer und dachte plötzlich auch daran,<br />

mir das Leben zu nehmen. Aber ich hatte<br />

so einen klaren Moment und dachte, du<br />

warst ja nie richtig glücklich, das wäre nicht<br />

gut, dich jetzt umzubringen.“ Also zog sie<br />

nach Hamburg und arbeitete <strong>als</strong> Gärtnerin,<br />

Putzfrau, Sekretärin und Versicherungsvertreterin<br />

– im festen Willen, später wieder in<br />

die Schweiz zu ziehen. Und Sibylle Berg begann<br />

zu schreiben: „das Einzige, von dem<br />

ich dachte, dass ich es wirklich kann“.<br />

Doch dann, 1991, hätte sie sich doch<br />

noch fast umgebracht. „Das war relativ<br />

romantisch“, sagt sie. Die Grenzen waren<br />

wieder offen, und sie wollte <strong>als</strong> Gewinnerin<br />

nach Weimar zurückkehren. Sie lieh sich<br />

einen BMW Z1, diesen Achtziger-Jahre-<br />

Neureichentraum von einem Cabrio mit<br />

versenkbaren Türen, und borgte sich einen<br />

Anzug. Allerdings kam sie nur bis nach<br />

Hannover, wo sie sich beim Versuch, einem<br />

Drängler auszuweichen, gleich mehrfach<br />

auf der Autobahn überschlug.<br />

Berg zeigt auf die kaum noch sichtbaren<br />

Narben in ihrem Gesicht, das durch<br />

den Unfall komplett entstellt worden war.<br />

Sie hatte Glück im Unglück: Das Scharnier<br />

des Cabriodachs war kurz vor der Hirnhaut<br />

stecken geblieben und knapp am Sehnerv<br />

vorbeigeschrammt. 22, über zehn Jahre verteilte<br />

chirurgische Eingriffe waren nötig,<br />

um das Gesicht wieder herzustellen. Berg,<br />

die schon immer seltsam angeschaut wurde,<br />

merkte in jener Zeit, wie es sich anfühlt, so<br />

richtig angestarrt zu werden, und zwar die<br />

ganze Zeit. „Die Nase ist ein bisschen kleiner<br />

geworden“, sagt sie. „Aber sonst sieht<br />

alles so aus wie vorher, das Alien-Gesicht<br />

ist wieder ganz das alte.“<br />

Ihr erster Roman, der 1997 erschien,<br />

trug dann auch den treffenden Titel „Ein<br />

paar Leute suchen das Glück und lachen<br />

sich tot“. Tatsächlich war es bereits<br />

das dritte Buch, aber die ersten beiden<br />

mochte sie nicht; bei diesem hatte<br />

sie jedoch ein gutes Gefühl. Veröffentlichen<br />

wollte den Roman zunächst niemand,<br />

er wurde von 50 Verlagen abgelehnt.<br />

Bis ihn Reclam schließlich druckte<br />

und mehr <strong>als</strong> 100 000 Mal verkaufte. Ein<br />

Überraschungserfolg.<br />

„Glück“ war der Auftakt zu einem so<br />

bösen wie moralischen Werkreigen, in<br />

dem Berg ihre Figuren, prall gefüllt mit<br />

unerfüllbaren Sehnsüchten, in gruseligen<br />

Beziehungen lebend und mit unzulänglichen<br />

Körpern ausgestattet, durch das Fitnessstudio<br />

des real existierenden Neoliberalismus<br />

jagte und erbarmungslos scheitern<br />

ließ. Bergs Sound traf den Nerv der Zeit,<br />

bald schrieb sie Texte und Reisereportagen<br />

für Zeitschriften wie das Zeit-Magazin und<br />

Tageszeitungen wie die FAZ. Auf Spiegel<br />

Online ist seit einem Jahr jeden Samstag<br />

ihre Kolumne „Fragen Sie Frau Sibylle“ zu<br />

lesen. Im Berg-Werk, einer gloriosen Untergangsidylle,<br />

arbeitete ein Menschengeschlecht,<br />

das gern über seine Einsamkeit<br />

jammert und sich noch lieber gegenseitig<br />

quält, einsperrt und ermordet. Eine Spezies,<br />

die einander vornehmlich während teurer<br />

Asienurlaube sitzen lässt und dem bevorstehenden,<br />

vom Klimawandel beschleunigten<br />

Weltende mit ausgesprochener Ignoranz<br />

gegenübersteht.<br />

Mit fröhlicher Gewissheit verarbeitet<br />

Berg all diese Motive auch in „Vielen<br />

Dank für das Leben“. Aber wie schon im<br />

102 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Foto: Andrej Dallmann<br />

2009 erschienenen Vorgänger „Der Mann<br />

schläft“ ist zwischen den Zeilen mittlerweile<br />

ein Gleichmut zu spüren, eine Gelassenheit<br />

gewissermaßen, eine „Miniweisheit“,<br />

wie Berg das selbstironisch nennt.<br />

Heute kreiert sie Figuren wie Toto, den<br />

perfekten Menschen, wie sie glaubt: den<br />

Prototypen, der so ist, wie das Universum<br />

geplant war, bevor etwas schieflief.<br />

Erbarmungslos ist sie immer noch.<br />

Und sie weiß, dass man auch böse elegant<br />

durchs Leben kommen kann. Zwischen<br />

Rudelaggression und innerer Rettung<br />

kommt es allerhöchstens zum Remis.<br />

Aber immerhin. Außerdem ist Sibylle Berg<br />

sich heute besser im Klaren darüber, wen<br />

sie mit ihrer Arbeit erreicht. „Früher dachte<br />

ich, ich kann mit meinen Büchern etwas<br />

ändern“, sagt sie. „Ich war so beseelt von<br />

meiner Mission und dachte, ‚Wacht auf!‘,<br />

‚Haltet ein!‘, ‚Seid nicht mehr böse!‘“ Die<br />

Menschen, auf die es ihr nun ankommt,<br />

trifft sie bei Lesungen. „Ich habe den Eindruck,<br />

meine Bücher geben manchen Lesern<br />

das Gefühl, dass sie nicht alleine sind.<br />

Die sehe ich dann, die kommen dann kahl<br />

geschoren mit irgendwelchen Spangen am<br />

Ohr, Mädchen, die nicht wissen, ob sie<br />

Jungs sind und andersrum.“<br />

Vielleicht hat Sibylle Bergs neue Gelassenheit<br />

aber auch damit zu tun, dass es ihr<br />

inzwischen einfach gut geht, sie einen sicheren<br />

Abstand zwischen sich und ihre Geschichte<br />

gebracht hat. Seit 16 Jahren lebt sie<br />

in Zürich, der Stadt, in der sie schon immer<br />

wohnen wollte. Wir gehen ein wenig spazieren.<br />

Der große, postkartenblaue See mit<br />

seinen Segelbooten und den Gletschern im<br />

Hintergrund liegt nur wenige Straßen hinter<br />

dem „Grieder les Boutiques“. In diese Stadt<br />

habe sie sich verliebt, <strong>als</strong> sie zum ersten Mal<br />

in die Schweiz kam, dam<strong>als</strong> gerade aus der<br />

DDR geflüchtet. An eine Szene, die sie auf<br />

jener Irrfahrt beobachtete, muss sie immer<br />

wieder denken: Ein betrunkener Mann war<br />

auf einer Bank an einer Bushaltestelle eingeschlafen,<br />

doch anstatt ihn aufzuwecken und<br />

zu verscheuchen, legte ihm ein vorbeikommender<br />

Polizist ein Kissen unter den Kopf<br />

und deckte ihn zu. Seitdem empfindet sie<br />

die Schweiz <strong>als</strong> einen Ort, an dem ihr nichts<br />

zustoßen kann.<br />

Inzwischen hat sie auch nicht mehr das<br />

Gefühl, von allen Menschen angestarrt zu<br />

werden. Besser gesagt: Die Menschen starren<br />

immer noch, nur ist das Sibylle Berg eigentlich<br />

egal. Sogar die Liebe hat sie schließlich<br />

gefunden – nicht die verkitschte, große,<br />

sondern die wahre, die unspektakuläre und<br />

ruhige Liebe. Seit acht Jahren ist sie mit einem<br />

muskulösen Glatzkopf verheiratet, den<br />

sie in Tel Aviv, ihrer Zweitheimat, kennengelernt<br />

hat. Aber sie verbietet unter Todesandrohung,<br />

darüber zu schreiben. „Eigentlich“,<br />

sagt sie irgendwann, „wird es immer angenehmer,<br />

das Leben, und es könnte noch so<br />

weitergehen für ein paar Hundert Jahre. Aber<br />

lass uns lieber wieder über Eicheln reden.“<br />

Sibylle Bergs neuer Roman „Vielen Dank für das Leben“<br />

erscheint am 30. Juli im Hanser-Verlag, hat 400 Seiten<br />

und kostet 21,90 Euro<br />

Daniel Schreiber<br />

leitet den Salon bei <strong>Cicero</strong>. Er<br />

hat die Biografie „Susan Sontag.<br />

Geist und Glamour“ (Aufbau-<br />

Verlag) geschrieben<br />

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Bestellnr.: 858306


Historische<br />

Gedächtnislücken<br />

Bis heute hält sich der Glaube, dass es sich bei der Kapitolinischen<br />

Wölfin um die bildgewordene Rom-Gründung handele. Doch die<br />

echte Lupa Romana wurde zuletzt in Byzanz gesehen<br />

Von Beat Wyss<br />

104 <strong>Cicero</strong> 7.2012


M a n s i e h t n u r , w a s m a n s u c h t | S a l o n |<br />

Fotos: Imago, artiamo (Autor)<br />

Die Kapitolinische Wölfin<br />

mit Romulus und Remus,<br />

Kapitolinische Museen, Rom<br />

W<br />

er kennt die Kapitolinische<br />

Wölfin nicht? Allgegenwärtig<br />

ist das Muttertier beim Säugen<br />

von Romulus und Remus im Stadtbild<br />

von Rom: an den Lieferwagen des<br />

Frischmilchvertriebs von Lazio, <strong>als</strong> Emblem<br />

an den Eimern der städtischen<br />

Müllabfuhr und an den Sch<strong>als</strong> und Tattoos<br />

der Tifosi von SR Roma. Wer der<br />

Lupa dann im Original begegnet, jenem<br />

schmächtigen Bronzetier von nur<br />

75 Zentimetern Höhe, muss einen Anflug<br />

von Enttäuschung unterdrücken.<br />

Sind die Kapitolinischen Museen nicht<br />

gerade brechend voll von Touristen, entschädigt<br />

aber ein angenehmer Schauer<br />

beim Gedanken, man stehe hier neben<br />

der bildgewordenen Rom-Gründung auf<br />

dem Hügel, wo sich einst das religiöse<br />

Machtzentrum der Ewigen Stadt befand.<br />

Doch das ist zu schön, um wahr zu sein.<br />

Das Sinnbild der Romanità hat einen<br />

Riss bekommen. Noch vor wenigen<br />

Jahren galt die Kapitolinische Wölfin unbestritten<br />

<strong>als</strong> etruskisches Werk. Zweifel<br />

tauchten auf, <strong>als</strong> die Lupa für das Jubeljahr<br />

2000 im neuen Glanz erstrahlen<br />

sollte. Die Restauratoren entdeckten,<br />

dass die Bronze nicht antik sein kann,<br />

weil es sich um ein Wachsschmelzverfahren<br />

in einem Guss handelt, eine Technik,<br />

die erst im christlichen Mittelalter<br />

aufkommt. Aus einem Guss sind auch<br />

die Kirchenglocken, deren voller, runder<br />

Klang eine nahtlose Metallform benötigt.<br />

Aber wer ist dann diese Wölfin, die<br />

uns so unverwandt und zähneble ckend<br />

entgegenblickt? Es könnte sich um<br />

das Wappentier der Grafen von Tusculum<br />

handeln, die im Hochmittelalter<br />

zu Roms führenden Patriziern gehörten.<br />

Acht Päpste stellte die Familie, die es darüber<br />

hinaus verstand, die Kurie über Mätressenwirtschaft<br />

gefügig zu halten. Dieser<br />

Typ von Nobilität war der geborene<br />

Feind republikanisch gesinnter Bürger.<br />

1191 griffen römische Bürgermilizen<br />

die Stadt Tusculum an und zerstörten<br />

sie zusammen mit der Burg der Grafen.<br />

Die Kapitolinische Wölfin, in der wir das<br />

ehrwürdige Symbol von Senat und Republik<br />

von Rom verehren, könnte <strong>als</strong>o<br />

eine Kriegstrophäe von Bürgern sein, die<br />

einen Adelssitz geplündert hatten. Dieser<br />

Sachverhalt geriet in Vergessenheit, <strong>als</strong><br />

die Bronze vor dem Papstpalast zu stehen<br />

kam. Hier herrschte ein buntes Treiben.<br />

Neben Schenken und Herbergen gab es<br />

Bordelle für die wogenden Pilgerströme.<br />

Der Spitzname einer berühmten Kurtisane<br />

– „Luparella“ – beweist, dass sich in<br />

der frühen Neuzeit der Name der Wölfin<br />

nicht ausschließlich mit staatstragenden<br />

Ideen verband.<br />

Dass die Zwillinge unter den Zitzen<br />

der Lupa aus der Renaissance stammen,<br />

hatte man schon länger gewusst. Sie entstanden<br />

im Auftrag von Papst Sixtus IV,<br />

der die Bronze im Jahr 1471 auf das Kapitol<br />

versetzen ließ. Damit bekräftigte der<br />

Pontifex, dass er nicht nur der Oberhirte<br />

über die Christen auf dem Erdkreis, sondern<br />

auch der weltliche Herrscher Roms<br />

sei.<br />

Und was geschah mit jener Bronzewölfin,<br />

von der Titus Livius, <strong>Cicero</strong><br />

und Dionysios von Halikarnass berichten?<br />

In der Tat hatte eine solche einmal<br />

in Rom gestanden, zuletzt wohl im<br />

Lupercal, jener künstlichen Grotte, die<br />

Kaiser Augustus ihr zur Weihe bauen<br />

ließ. Das Bildwerk begleitete <strong>als</strong> Palladium<br />

und Kriegstrophäe den Niedergang<br />

des Weltreichs. Zuletzt wurde die<br />

Lupa Romana in Byzanz gesehen. Nach<br />

der Plünderung Konstantinopels während<br />

des Vierten Kreuzzugs steckten<br />

die Venezianer die Bronze 1204 in den<br />

Schmelzofen, um daraus Kupfermünzen<br />

zu schlagen.<br />

Bildergeschichten wie diese lehren,<br />

dass das historische Gedächtnis viel kürzer<br />

ist <strong>als</strong> das Alter seiner visuellen Zeugen.<br />

B e at W y s s<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes. Er<br />

lehrt in Karlsruhe<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 105


| S a l o n | P a r a l l e l w e l t e n<br />

Hat sich den Traum<br />

einer eigenen Bühne<br />

erfüllt: der 76-jährige<br />

Dieter Hallervorden<br />

in „Ich bin nicht<br />

Rappaport“<br />

106 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Nonstop<br />

Konsens<br />

In Dieter Hallervordens Schlosspark-<br />

Theater läuft ein Programm mit<br />

einem Personal, <strong>als</strong> seien die Uhren<br />

vor 30 Jahren stehen geblieben. Eine<br />

Zeitreise nach Berlin-Steglitz – und ein<br />

Protokoll einer persönlichen Wandlung<br />

Von Peter Laudenbach<br />

Foto: Julia Zimmermann<br />

D<br />

ieter Hallervorden kennt jeder,<br />

der einen Fernseher hat. Didi,<br />

die Palim!-Palim!-Knallcharge<br />

mit dem etwas gröberen Humorverständnis,<br />

gehört zur eher tristen Popkultur der<br />

alten Bundesrepublik. Er steht in einer<br />

Reihe mit Heino, Dieter Thomas Heck<br />

und Derrick – lauter alte Bekannte aus<br />

der Spießerhölle des deutschen Unterhaltungsfernsehens.<br />

Die Exkursion in<br />

das kleine Theater, das Hallervorden seit<br />

drei Jahren im Südwesten Berlins betreibt,<br />

tritt man dann auch bei aller Liebe und<br />

dem festen Vorsatz, fair, neugierig und<br />

unvoreingenommen hinzuschauen, mit<br />

durchaus gemischten Gefühlen an. Hallervorden<br />

steht für eine Welt, mit der ich<br />

nie etwas zu tun haben wollte, eine Welt<br />

der schlecht sitzenden Herrenanzüge, der<br />

gebügelten Häkeldeckchen und überraschungsfreien<br />

Biografien. Eine Welt<br />

der Blondinenwitze, Zimmerpflanzen,<br />

Golf-Fahrer und der Angestellten, die<br />

spätestens ab 11 Uhr stoisch mit einem<br />

aufgeräumten „Mahlzeit!“ grüßen. Ich<br />

weiß, dass das ungerecht ist. Ich weiß<br />

aber auch, dass ich vor dieser bundesrepublikanischen<br />

Tristesse irgendwann ins<br />

Theater, in die Kunst und ins Nachtleben<br />

geflohen bin.<br />

Schon die Fahrt ins kleinbürgerliche<br />

Steglitz hat etwas von einer Zeitreise. Je<br />

näher man Hallervordens Schlosspark-<br />

Theater kommt, desto mehr sieht Berlin<br />

aus wie Bielefeld oder Hildesheim:<br />

Auf den Einkaufsstraßen wechseln sich<br />

„Blume 2000“- und „Fielmann“-Filialen<br />

ab, in den Seitenstraßen ist es so ruhig<br />

und beschaulich, <strong>als</strong> würden die Leute, die<br />

hier wohnen, ihr Leben lang nichts anderes<br />

tun <strong>als</strong> arbeiten, fernsehen, Steuern<br />

zahlen und schlafen. Nur ab und zu sorgt<br />

ein Asia-Laden oder ein einsames Grafitto<br />

(„Bullen raus“) für das Gefühl, noch im<br />

vertraut abgeranzten Berlin zu sein.<br />

Das Theaterfoyer und seine Gäste halten<br />

dann auch, was die Anreise versprach:<br />

Männer mit Herrenhandtaschen, Damen<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 107


| S a l o n | P a r a l l e l w e l t e n<br />

01<br />

02<br />

04 05<br />

mit fest betonierter Dauerwelle und ein<br />

Altersdurchschnitt, bei dem ich mich mit<br />

meinen 48 Jahren wieder unverschämt<br />

jung fühlen darf. Seltsam, dass es das alles<br />

noch gibt: ein Berlin ohne ausländische<br />

Touristen und Junkies, ohne Mitte-<br />

Hipster und Lederschwule. Das Berlin<br />

der gebügelten Hemden, C & A-Anzüge<br />

und Beamtenlaufbahnen.<br />

Zwei Damen, beide deutlich über 50,<br />

eher korpulent und bestens gelaunt, haben<br />

es sich in der fünften Reihe auf ihren<br />

Plätzen gemütlich gemacht. Der Sekt<br />

für die Pause ist bestellt, der Tratsch aus<br />

dem Büro ist ausgetauscht, die Vorstellung<br />

kann beginnen. Gegeben wird<br />

heute Neil Simons Komödie „Ein seltsames<br />

Paar“, deren Humor schon in der<br />

Verfilmung mit Walter Matthau und<br />

Jack Lemmon etwas angeschwiemelt<br />

roch. Der Film ist von 1968 und sieht<br />

aus, <strong>als</strong> hätte man noch 1950, <strong>als</strong> hätte<br />

es Woodstock, die Beatles und den Summer<br />

of Love nie gegeben. Genauso die Inszenierung<br />

im Schlosspark-Theater. Man<br />

könnte sagen: ein klarer Fall von der andernorts<br />

oft so schmerzlich vermissten<br />

Werktreue. Die beiden Damen im Parkett<br />

freuen sich schon „auf den Hunold,<br />

der war in ‚Neues vom Bülowbogen‘ immer<br />

so sympathisch“. Rainer Hunold ist<br />

ein Schauspieler, der mit seinem Pausbackengesicht<br />

vor allem Gemütlichkeit ausstrahlt.<br />

Die öffentlich-rechtlichen Serien,<br />

in denen er mit der Zuverlässigkeit eines<br />

deutschen Schäferhunds durch schlecht<br />

ausgeleuchtete Dekorationen stapft, heißen<br />

„Ein Fall für zwei“ oder „Der Staatsanwalt“.<br />

Das Land, das man dort sieht,<br />

ist ein Vorabenddeutschland der sedierten<br />

Konflikte, das mit der Wirklichkeit<br />

etwa so viel zu tun hat wie ein Fassbinder-Film<br />

mit Kukident-Werbung.<br />

Vielleicht ist es kein Wunder, dass die<br />

beiden Damen in der fünften Reihe des<br />

Schlosspark-Theaters Hunold so sympathisch<br />

finden. In seinem beschaulichen<br />

Vorabenddeutschland würden sie vermutlich<br />

auch gerne leben. Und weil der<br />

Schauspieler für sie zur Fernsehfamilie<br />

gehört, kommentieren sie anschließend<br />

entspannt wie auf der heimischen<br />

Wohnzimmercoach das Bühnengeschehen.<br />

Theater wird hier zur Fortsetzung<br />

Fotos: Julia Zimmermann<br />

108 <strong>Cicero</strong> 7.2012


03<br />

06 07<br />

Berlin in Bernstein<br />

Fotos: Julia Zimmermann<br />

des Fernsehens mit anderen Mitteln.<br />

Als im Lauf des Stückes ein putzwütiger<br />

Felix, gespielt von Hunold, seinem<br />

chaotischen Mitbewohner Oscar in der<br />

Zweck-WG der zwei geschiedenen Männer<br />

häusliche Ordnung beibringen will,<br />

kommentieren die Zuschauerinnen in der<br />

fünften Reihe das wohlig mit einem tief<br />

empfundenen Hausfrauen-Seufzer: „Geht<br />

doch.“ Ein Abend fast wie im richtigen<br />

Fernsehen, nur besser, weil man live dabei<br />

ist. Beim Rausgehen in der Pause sagt<br />

die eine zur anderen: „Was zu Hause ganz<br />

normal ist, wird hier zur Komödie.“ Hier<br />

haben sich definitiv ein Theater und ein<br />

Publikum gefunden.<br />

Ein paar Tage nach der Aufführung<br />

des „Seltsamen Paares“ steht der Prinzipal<br />

nach einer Vorstellung seines Erfolgsstücks<br />

„Ich bin nicht Rappaport“ selbst<br />

auf der kleinen Guckkastenbühne, strahlt<br />

gerührt ins Publikum und freut sich über<br />

den Applaus. Didi Hallervorden sieht aus<br />

wie jemand, der das alles sehr genießt: sein<br />

kleines, schön herausgeputztes Theaterchen,<br />

den Beifall und den etwas sentimentalen<br />

eigenen Auftritt, weit entfernt von<br />

den alten Knallchargen-Klischees. Am<br />

meisten freut er sich vielleicht darüber,<br />

dass er sich selbst mit diesem Theater ein<br />

schönes Geschenk gemacht hat. Und der<br />

Besucher aus Kreuzberg sieht an diesem<br />

Abend auf seiner Exkursion im vermeintlichen<br />

Spießeruniversum eine Vorstellung,<br />

die es jederzeit mit den üppig mit jährlich<br />

gut zehn Millionen Euro subventionierten<br />

Blutbäder im Heiner-Müller-<br />

Gedächtnisstil sind hier nicht zu<br />

befürchten: Autogramme und<br />

Plakate historischer Inszenierungen<br />

am Schlosspark-Theater (Bilder<br />

1 und 5). Die Renovierung des Hauses<br />

aus dem 19. Jahrhundert kostete<br />

1,2 Millionen Euro, im vergangenen<br />

Jahr musste Hallervorden noch einmal<br />

600 000 Euro nachschießen (2 und 7).<br />

Ein Theater und ein Publikum<br />

haben sich gefunden (3, 4 und 6)<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 109


| S a l o n | P a r a l l e l w e l t e n<br />

Inszenierungen von Claus Peymann am<br />

Berliner Ensemble aufnehmen kann –<br />

und das, obwohl sich Peymann bekanntlich<br />

für den Gröraz hält, den größten Regisseur<br />

aller Zeiten.<br />

Mit seinem Schlosspark-Theater hat<br />

sich Hallervorden von dem in ewigen<br />

Wiederholungsschleifen laufenden Palim!-<br />

Palim!-Fernseh-Didi emanzipiert. In den<br />

vergangenen drei Jahren konnte er sich<br />

ein treues Stammpublikum erspielen.<br />

Als er sich von der Berliner Kulturpolitik<br />

irgendwann etwas zu lieblos behandelt<br />

sah, hat er in einem Brief an den zuständigen<br />

Kulturstaatssekretär Schmitz<br />

einfach eine lange Liste der Prominenten<br />

aufgezählt, die hier schon auf der Bühne<br />

standen, von Hannelore Hoger bis Max<br />

Goldt, von Wolfgang Niedecken und<br />

Harry Rowohlt bis Joachim Fuchsberger.<br />

Finanziell ist das Privattheater für<br />

den Hausherrn nicht ohne Risiko. Allein<br />

die Renovierung des vom Vormieter, dem<br />

Musical-Konzern „Stage“, arg heruntergewirtschafteten<br />

Gebäudes kostete Hallervorden<br />

1,2 Millionen Euro. Im Gegenzug<br />

stellt ihm das Land Berlin den klassizistischen<br />

Theaterbau aus dem 19. Jahrhundert,<br />

einst das kleine Haus des vor zwei<br />

Jahrzehnten abgewickelten Schiller-Theaters,<br />

mietfrei zur Verfügung. Ob er seine<br />

in den Zuschauerraum und die Bühnentechnik<br />

verbaute Million irgendwann wiedersieht,<br />

scheint Hallervorden im Augenblick<br />

nicht besonders zu interessieren. In<br />

der ersten Spielzeit musste er noch einmal<br />

600 000 Euro nachschießen. Seit dieser<br />

Spielzeit bekommt er vom Land Berlin<br />

bescheidene 230 000 Euro Subventionen.<br />

Hallervorden sitzt im nüchternen Besprechungszimmer<br />

des Theaters, ein auf<br />

nicht unsympathisch altmodische Weise<br />

höflicher Mann, dem man seine 76 Jahre<br />

nicht ansieht. Als das Wasserglas des Reporters<br />

leer ist, steht der Gastgeber mitten<br />

im Gespräch auf, geht umständlich<br />

um den Tisch herum und fragt: „Darf<br />

ich nachschenken? Mit oder ohne Kohlensäure?“<br />

Dazu passt sein Hang, sich etwas<br />

gewunden auszudrücken: „Wenn man<br />

von Geiz und Gewinnsucht getrieben ist,<br />

sollte man tunlichst kein Theater aufmachen.<br />

Ich glaube schon sagen zu dürfen,<br />

dass ich dieses Theater wirklich uneigennützig<br />

führe. Ich bekomme für alles, was<br />

ich hier mache, keinen Cent Gage. Dieses<br />

Theater ist für mich wirklich eine<br />

„Hier hat auch schon Heinz<br />

Rudolf Kunze gespielt, das ist<br />

doch nicht spießig!“<br />

Dieter Hallervorden über das Schlosspark-Theater<br />

Alte Möbel und alte Autos werden liebevoller behandelt <strong>als</strong> alte<br />

Menschen: Schlussapplaus für Hallervordens „Rappaport“<br />

Herzensangelegenheit.“ Wie er so dasitzt<br />

mit seinem zerknautschten Gesicht und<br />

dem verwustelten Resthaar, dem karierten<br />

Hemd und den beiden Brillen vor sich<br />

auf dem Tisch, eine zum Lesen, eine für<br />

die Fernsicht, glaubt man ihm das sofort.<br />

Der Mann erfüllt sich mit den Didi-Millionen<br />

aus seinen Fernsehquatsch-Jahrzehnten<br />

einen alten Theatertraum. Er<br />

wirkt wie ein großer Junge, der sich über<br />

sein schön restauriertes Schatzkästlein<br />

mit den 473 Plätzen und inzwischen gut<br />

100 000 Zuschauern im Jahr freut.<br />

Weil Hallervorden in aller Bescheidenheit<br />

an die großen Tage des Schlosspark-Theaters<br />

anknüpfen will, hat er alte<br />

Theaterplakate ins Foyer gehängt. So erfährt<br />

man, dass am 27. April 1966, einem<br />

Mittwoch, das heute vergessene Stück<br />

„Freunde und Feinde“ eines gewissen Arkady<br />

Leokum mit Martin Held, Curt<br />

Bois und Ilja Richter zu sehen war. Gut<br />

46 Jahre später tritt Ilja Richter wieder<br />

hier auf, diesmal <strong>als</strong> Theo-Lingen-Double.<br />

Daneben hängen, mit Foto und liebevoll<br />

gerahmt, Stücke aus Hallervordens privater<br />

Autografen-Sammlung, Unterschriften<br />

von Elizabeth Taylor, Zarah Leander,<br />

Hildegard Knef und Heinz Rühmann. Einerseits:<br />

piefig. So stellt sich Klein-Didi<br />

die große Theaterwelt vor: Knef, Rühmann<br />

und ich. Andererseits: rührend.<br />

Foto: Julia Zimmermann<br />

110 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Foto: Harry Schnitger<br />

Das alles funktioniert natürlich nur,<br />

weil in jeder Inszenierung mindestens ein<br />

halbwegs prominentes Fernsehgesicht auftaucht,<br />

am besten eines wie das von Rainer<br />

Hunold oder Robert Atzorn („Unser<br />

Lehrer Doktor Specht“) – Gesichter, die<br />

das ältere Publikum schon seit Jahrzehnten<br />

kennt. Hallervorden will, dass sich<br />

die prominenten Kollegen an seinem<br />

Haus wohlfühlen. Das ist wichtig, schon<br />

weil seine Theatergagen keine Chance haben,<br />

mit Fernsehhonoraren zu konkurrieren.<br />

Robert Atzorn zum Beispiel wohnt,<br />

wenn er hier auftritt, mit seiner Frau immer<br />

gerne in der Theaterwohnung direkt<br />

über der Probebühne. „Wenn ich Anfragen<br />

mache“, sagt Hallervorden, „muss<br />

ich das so persönlich halten, dass sich ein<br />

Harry Rowohlt oder eine Erika Pluhar gemeint<br />

fühlt. Bei einer Frau wie Senta Berger<br />

habe ich bestimmt ein Jahr geworben.“<br />

„Hallervorden hat nichts Patriarchalisches“,<br />

erzählt Rainer Hunold. „Irgendwann<br />

bei der Probe kommt er, sagt Hallo,<br />

hat einen Tee in der Hand, packt eine<br />

Butterstulle aus, sitzt da, schaut zu und<br />

amüsiert sich. Wenn ihm etwas nicht gefällt,<br />

kann er sehr detailliert kritisieren.<br />

Ich habe ihn bei Proben, nicht zu unserem<br />

Stück, schon mit Tränen im Gesicht<br />

im Zuschauerraum sitzen sehen. Er<br />

liebt das hier.“ Hunold kommt auf über<br />

100 Drehtage im Jahr. Hätte er, statt in<br />

Steglitz Theater zu spielen, vor der Kamera<br />

gestanden, hätte er in der Zeit entschieden<br />

mehr verdient. Ein Hauch von Schmiere<br />

ist nicht zu übersehen, aber Hallervordens<br />

Strategie scheint aufzugehen.<br />

Nicht nur das Szene-Berlin und<br />

Steglitz, auch das Schlosspark-Theater und<br />

die im Feuilleton abgefeierten Staatstheater<br />

scheinen unterschiedliche Planeten<br />

zu bewohnen. Das Großfeuilleton schaut<br />

so gut wie nie in Steglitz vorbei. Auch<br />

beim Publikum, den Stücken, den Spielund<br />

Erzählweisen gibt es in den beiden<br />

Hemisphären kaum Überschneidungen.<br />

Beim Berliner Theatertreffen, der jährlichen<br />

Hitparade der Branche, konnte man<br />

im Mai wieder sehen, was an den großen<br />

Bühnen derzeit so en vogue ist: Von<br />

Selbstmord und Folter („Gesäubert“ von<br />

Sarah Kane aus den Münchner Kammerspielen),<br />

über Völkermord („Hate Radio“<br />

von Milo Rau im Berliner HAU) bis zum<br />

„Chor der Kapitalisten“ in René Polleschs<br />

„Kill your Darlings“ an der Volksbühne<br />

reichte das Themenspektrum. Regietheater,<br />

Blutbäder im Heiner-Müller-Gedächtnis-Stil<br />

oder Sexualkalauer aus Elfriede<br />

Jelineks Textproduktion sind auf<br />

der Bühne des Schlosspark-Theaters nicht<br />

zu befürchten.<br />

Nicht nur, weil die Broadway-Uraufführung<br />

von Herb Gardners Erfolgsstück<br />

„Ich bin nicht Rappaport“ ein gutes Vierteljahrhundert<br />

zurückliegt und Neil Simons<br />

„Seltsames Paar“ schon über ein<br />

halbes Jahrhundert auf dem Buckel hat,<br />

wirkt Hallervordens Theater wie seltsam<br />

aus der Zeit gefallen. Auch die erst vor<br />

sieben Jahren in Paris uraufgeführte Affären-„Achterbahn“<br />

des Franzosen Eric Assous<br />

mit ihrem virilen Manager auf Frauenfang<br />

und der jungen Blondine, die es<br />

zu später Stunde „noch auf einen Drink“<br />

in seine mit Designermöbeln vollgestellte<br />

Wohnung verschlagen hat, kommt aus einer<br />

merkwürdig vorgestrigen Welt voller<br />

Klischees der gröberen Sorte. Im Gegensatz<br />

dazu entwickelt Hallervordens durchaus<br />

sozialkritischer „Rappaport“, in dem<br />

zwei vereinsamte und verarmte Rentner<br />

auf einer New Yorker Parkbank über ihr<br />

Leben räsonieren, ein nicht unsympathisches<br />

Sentiment frei von Peinlichkeit. Die<br />

Szene, in der Hallervorden in seiner Rolle<br />

<strong>als</strong> alter Grantler Nat darüber klagt, dass<br />

alte Möbel und alte Autos weit liebevoller<br />

<strong>als</strong> alte Menschen behandelt werden,<br />

erntet in jeder Vorstellung Szenenapplaus.<br />

Dass ausgerechnet diese nette Inszenierung<br />

dem Schlosspark-Theater jede<br />

Menge Aufregung eingebracht hat, gehört<br />

zu den Treppenwitzen der politischen<br />

Korrektheit: Weil Hallervordens Partner,<br />

der angesehene Theaterschauspieler Joachim<br />

Bliese, einen Schwarzen spielt und<br />

entsprechend geschminkt ist, witterten<br />

aufgeregte Aktivisten einen Fall von Rassismus<br />

und bescherten dem völlig überraschten<br />

Hallervorden via Internet einen<br />

veritablen Shit-Storm. Die kleine Steglitzer<br />

Schlosspark-Gemütlichkeit schien da<br />

ganz kurz mit der etwas raueren, komplizierten<br />

Welt da draußen zu kollidieren.<br />

Doch das ist inzwischen auch schon<br />

wieder fast vergessen. Insgesamt ist die<br />

Welt in Steglitz immer noch beruhigend<br />

übersichtlich und wohlgeordnet.<br />

Selbst wenn es mal Ärger gibt, bleibt<br />

die Atmosphäre anheimelnd. Euro- und<br />

Wirtschaftskrise, die NSU-Morde, die<br />

Hysterie deregulierter Finanzmärkte,<br />

durchdrehende Salafisten, Berliner Gentrifizierungsängste,<br />

Hartz-IV-Zumutungen,<br />

Inflationspanik, Fukushima und<br />

andere Katastrophen hinterlassen hier offenbar<br />

keine größeren Spuren im eigenen<br />

Lebensgefühl. Einerseits ist das natürlich<br />

ignorant und dumpfbackig. Andererseits<br />

sorgt genau diese offenbar durch nichts zu<br />

erschütternde Behäbigkeit für die beruhigende<br />

Normalität und das einigermaßen<br />

störungsfreie Funktionieren dieses Landes.<br />

Es sind diese grauen Normalbürger,<br />

die für den deutschen Wohlstand sorgen,<br />

dafür, dass das Szene- und Kulturvolk in<br />

Kreuzberg und Berlin-Mitte es sich gut<br />

gehen lässt, <strong>als</strong>o Leute wie ich.<br />

Didi Hallervordens Antwort auf die<br />

Frage, was er Snobs wie mir antworten<br />

würde, die das alles sehr altmodisch und<br />

spießig finden, ist so selbstbewusst wie<br />

komisch: „Ich muss auch leichtere Kost<br />

bringen, um Publikum ins Haus zu holen“,<br />

sagt er. „Hier hat auch schon Heinz<br />

Rudolf Kunze gespielt, das ist doch nicht<br />

spießig!“ Wer Heinz Rudolf Kunze, diesen<br />

singenden Bausparvertrag, für unspießig<br />

hält, hat sich definitiv von übertriebenem<br />

Hippness-Ehrgeiz verabschiedet.<br />

Kein Wunder, dass Robert Atzorn mit seinem<br />

Repertoire von zweieinhalb Gesichtsausdrücken<br />

hier <strong>als</strong> Edelmime durchgeht.<br />

Von Berlin-Mitte aus betrachtet, wo in<br />

den Galerien Schockbilder von Jonathan<br />

Meese und Martin Eder hängen, in den<br />

Cafés die digitale Boheme an ihren Apps<br />

bastelt, die Frage nach dem politisch korrekten<br />

Sneaker Sinnkrisen auslösen kann<br />

und die Volksbühne mal wieder Avantgarde-Krach<br />

mit Kapitalismus-Kritik-<br />

Soße spielt, wirkt das alles wie ein skurriles<br />

Paralleluniversum. Aber vielleicht ist<br />

das ja auch genau andersherum. Je länger<br />

man in Steglitz ist, desto ferner rückt<br />

das hippe Berlin. Und die Behauptung<br />

der Tourismus-Werber, Berlin sei ja so verrückt<br />

und bunt, kommt einem hier schon<br />

nach ein paar Tagen einigermaßen gaga<br />

vor. Vielleicht ist ja auch das aufgekratzt<br />

hippe Trendstreber-Berlin das wahre, absolut<br />

skurrile Paralleluniversum.<br />

Peter Laudenbach<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Theaterkritiker des Landes. Er<br />

lebt in Berlin<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 111


| S a l o n | B e n o t e t<br />

Die Musik hinter<br />

den Fassaden<br />

Auch wenn man eine Vergangenheit nur aus<br />

Erzählungen kennt, spürt man sie am eigenen<br />

Leib. Vor allem, wenn sie die eigene Familiengeschichte<br />

betrifft. So geht es auch unserem<br />

Kolumnisten, immer wenn er in Berlin spielt<br />

Von Daniel Hope<br />

A<br />

nfang Juni spielte ich im Konzerthaus Berlin das „War<br />

Concerto“, ein Auftragswerk des Komponisten Bechara<br />

el Khoury. Mit dem Violinkonzert will der libanesische<br />

Komponist ein Zeichen gegen Gewalt und Zerstörung setzen.<br />

Dafür untermalt er seine Erinnerungen aus dem vom Bürgerkrieg<br />

erschütterten Libanon der siebziger Jahre mit einer Art<br />

Klagelied. El Khoury hat das Konzert mir gewidmet und darin,<br />

für mich überraschend, auch das Thema der Vertreibung musikalisch<br />

verarbeitet – ein wesentlicher Bestandteil meiner Berliner<br />

Familiengeschichte.<br />

Berlin und ich – das ist eine Geschichte voller Geister und<br />

nostalgischer Erinnerungen. Es fing schon in London an, <strong>als</strong> ich<br />

ein Kind war und unsere deutsche Oma uns von „ihrem“ Berlin<br />

vorschwärmte, dem Berlin der Weimarer Republik. Von ihrer<br />

Villa in Dahlem erzählte sie, von Fahrradtouren am Wannsee, von<br />

Picknicks mit der kaiserlichen Familie oder von der Einsegnung<br />

ihres Bruders. Am liebsten erinnerte sie sich daran, wie die Wagen<br />

neben dem Rasenplatz hielten, auf dem ein spanischer Brunnen<br />

stand. Wie die Gäste ausstiegen, plaudernd auf dem Kiesweg<br />

an der Terrasse entlang gingen und das Haus durch die Verandatür<br />

betraten. Die letzten Anweisungen an die Bediensteten, alles<br />

so feierlich. Ansprachen zu Beginn, nicht zu förmlich, aber unabdingbar.<br />

Und erst danach wurde zu Tisch gebeten: Forelle in<br />

Gelee, Kalbsrücken mit Gemüse und <strong>als</strong> Dessert Herzogintorte.<br />

Dazu ein Zeltinger Schlossberg aus dem Jahre 1917.<br />

Eines Tages, lange nach ihrem Tod, stand ich tatsächlich vor<br />

ihrer Villa in Dahlem. Noch immer war da die Terrasse, der Garten,<br />

der Rasen, genauso wie sie es mir dam<strong>als</strong> erzählt hatte. Ich<br />

konnte förmlich sehen, wie mein Urgroßvater Wilhelm Valentin<br />

auf der Terrasse saß, eine Zigarre rauchte und in den Garten hinunterschaute.<br />

In diesen Fantasiebildern schwelgend, nahm ich<br />

meine Kamera, um ein Bild vom Haus zu machen. Da öffnete<br />

sich ein Fenster und eine ältere Dame blickte heraus. Bevor ich<br />

auch nur freundlich lächeln konnte, schrie sie: „Verschwinden<br />

Sie!“ Ich versuchte, sie zu beruhigen, ihr zu erklären, dass ich<br />

nichts weiter wolle, <strong>als</strong> ein Foto von dem Haus zu machen, wo<br />

einst meine Familie lebte.<br />

„Familie? Sie meinen die Familie Valentin?“, rief die Dame<br />

irritiert.<br />

„Ja“, sagte ich hoffnungsfroh. „Kennen Sie die Familie?“, wagte<br />

ich zu fragen. Überhaupt war ich überrascht, dass sie sich, nach<br />

über 60 Jahren, noch an den Namen erinnerte.<br />

Jetzt kreischte sie fast: „NEIN! Aber die Geschichte des Hauses<br />

kenne ich.“<br />

Diese Geschichte war der Teil, den unsere Oma bei all unseren<br />

Gutenachtgeschichten ausgelassen hatte: die Enteignung des Hauses,<br />

durchgeführt von Albert Speer und Joachim von Ribbentrop<br />

höchstpersönlich. Nach der Flucht meiner Familie hatte zwischen<br />

1936 und 1939 die jüdische Kaliski-Schule provisorisch ihr Quartier<br />

in der Villa bezogen, zu ihren Schülern gehörten der spätere<br />

Filmemacher Mike Nichols und Michael Blumenthal, heute Direktor<br />

des Jüdischen Museums in Berlin. Nach der Zwangsschließung<br />

der Schule installierten die Nazis im Haus meiner Oma eine<br />

zentrale Dechiffrierstation, die kriegswichtige Botschaften entschlüsselte.<br />

Das Auswärtige Amt ist heute noch Eigentümer der<br />

Villa Im Dol 2-6.<br />

Seit ich von dieser Geschichte durch diesen unschönen Vorfall<br />

zufällig erfahren habe, begegne ich meiner Familie an vielen<br />

weiteren Ecken Berlins wieder. An der Familiengruft, auf dem<br />

Luisenfriedhof, im Grunewald, auf dem Hof der ehemaligen Familienfabrik<br />

in der Großbeerenstraße 71 in Kreuzberg, in der<br />

St. Annen-Kirche in Dahlem. Aber was mich an der Hauptstadt<br />

am meisten fasziniert, ist die unendliche Geschichte, die hinter<br />

so vielen ihrer Bauten steckt. Deshalb habe ich mich vor Jahren<br />

konsequent entschlossen, viele davon zu bespielen: den Reichstag,<br />

das Finanzministerium, die Mendelssohn-Remise, Tempelhof.<br />

Denn dort Musik zu machen, umzingelt von all den Geschehnissen<br />

und Gespenstern, befreit mich von einer Vergangenheit, die<br />

ich nicht erlebt habe, aber trotzdem noch spüre. Und <strong>als</strong> ich vor<br />

dem gesamten Bundestag stand und Maurice Ravels „Kaddisch“<br />

meinen beiden Berliner Urgroßvätern widmete, spürte ich mehr<br />

denn je, dass in Berlin Musik und Geschichte Hand in Hand gehen.<br />

So wie neulich in dem „War Concerto“.<br />

Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband<br />

„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch „Toi,<br />

Toi, Toi – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt) und die<br />

CD „The Romantic Violinist“. Er lebt in Wien<br />

illustration: anja stiehler/jutta fricke illustrators<br />

112 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Jetzt im Handel<br />

Koons-Spezial<br />

Koons<br />

kommt<br />

Koons kommt in die Fondation Beyeler (Basel: 13.05. – 02.09.), in die<br />

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| S a l o n | Z i m m e r f r e i<br />

114 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Radikale Abkehr vom<br />

Minimalismus: Das<br />

New Yorker Gramercy<br />

Park Hotel, das eine<br />

neue Ära der Opulenz<br />

einleitete, hat Maler<br />

und Regisseur Julian<br />

Schnabel eingerichtet –<br />

Gramercy Park<br />

Hotel, NewYork City,<br />

eröffnet 2006, Hotelier<br />

Ian Schrager<br />

Design und<br />

Demokratie<br />

Die Zukunft der Boutique-Hotels liegt in einer<br />

Exklusivität, die nicht auf Geld, sondern auf<br />

Geschmack basiert – womit die Branche zu ihren<br />

Wurzeln zurückkehrt<br />

von alexander schimmelbusch<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 115


W<br />

er Anfang der Achtziger<br />

Jahre auf der<br />

Suche nach einem<br />

Hotel war, in dem<br />

man trotz weißem<br />

Armani-Anzug mit<br />

überdimensionierten<br />

Schulterpolstern<br />

nicht sofort <strong>als</strong> Lude abgestempelt wird,<br />

betrieb reine Zeitverschwendung. Wer ein<br />

Hotel suchte, in dem einem <strong>als</strong> Kellnerinnen<br />

jobbende Models zwar immer die f<strong>als</strong>chen<br />

Drinks bringen, in ihren knappen<br />

schwarzen Uniformen aber so richtig gut<br />

Studio 54, das keine drei Jahre existierte,<br />

ist wohl immer noch der berühmteste<br />

Nachtclub in der Geschichte der Menschheit.<br />

Über der Tanzfläche hing sinnigerweise<br />

eine Skulptur vom Mann im Mond,<br />

der jedes Mal, wenn er sich seinen mechanischen<br />

Kokslöffel an die Nase führte, in<br />

grellem Neonlicht erstrahlte. Ebenso penibel,<br />

wie Rubell an der Tür den Gästemix kuratierte,<br />

steuerte Schrager drinnen mithilfe<br />

von Architekten, Künstlern, Floristen und<br />

Lichtdesignern die Atmosphäre. Zwar feierte<br />

sich eine Brigade aus Celebrities Nacht<br />

für Nacht die Falten ins Gesicht, aber der<br />

Z i m m e r f r e i | S a l o n |<br />

<strong>als</strong> visueller Leitfaden durch das gesamte<br />

Interieur zieht: von den Bettüberwürfen<br />

über die Teppichleisten bis hin zu den Robert-Mapplethorpe-Fotografien.<br />

Es entstand<br />

eine schummrige Oase von karger<br />

Eleganz, in der Putman neben Nichtfarben<br />

nur Beige und Grau tolerierte – und<br />

in deren Lobby sich neben Models, Malern<br />

und Dealern von Anfang an auch wieder<br />

etliche Prominente amüsierten. „Auf<br />

Celebrities kann man natürlich kein seriöses<br />

Geschäft aufbauen“, sinnierte Schrager<br />

später einmal, „aber sie können auch<br />

nicht schaden.“<br />

FotoS: Design Hotels, Joshua Lutz/Redux/Laif (Seiten 114 bis 115), Andrée Putman/Studio Putman, Hotel Michelberger<br />

aussehen, war aufgeschmissen. Wer ein<br />

Hotel suchte, dessen Design den popkulturellen<br />

Augenblick atmete, konnte das<br />

vergessen.<br />

Das galt auch für Manhattan. Unter<br />

dem Einfluss eines aus dem Ruder laufenden<br />

Nachtlebens war New York City Ende<br />

der siebziger Jahre immer libertärer und<br />

progressiver geworden, was sich allerdings<br />

nicht in der Hotelindustrie der Stadt niedergeschlagen<br />

hatte. Dass es dort tatsächlich<br />

kein einziges Hotel gab, das auf ihn anregend<br />

wirkte, wurde dem späteren Hotelmagier<br />

Ian Schrager schon 1979 klar – ein Jahr,<br />

in dem er viel Zeit zum Nachdenken hatte:<br />

Mit seinem Partner Steve Rubell saß er dam<strong>als</strong><br />

eine Freiheitsstrafe wegen Steuerhinterziehung<br />

ab, nachdem die Polizei im Studio<br />

54, dem Nachtclub der beiden, ganze<br />

Müllsäcke voller Bargeld entdeckt hatte.<br />

Morgans Hotel, New York City, eröffnet 1984<br />

legendäre Status des Clubs ist auch darauf<br />

zurückzuführen, dass sich noch nie zuvor<br />

jemand so viel Mühe mit dem Interieur gegeben<br />

hatte.<br />

Das erste Hotel des Paares, das „Morgans“,<br />

verfolgte dann auch denselben Ansatz.<br />

Schrager und Rubell brachten Design<br />

in eine Branche, die in dieser Hinsicht<br />

weitgehend brachlag. Und das mit wenig<br />

Kapital – denn es war nicht so, dass Investoren<br />

den designaffinen Knastbrüdern die<br />

Türen einrannten. Bei der Immobilie handelte<br />

es sich um ein heruntergekommenes<br />

Männerwohnheim in unattraktiver Lage.<br />

Und „das Budget war lächerlich“, erinnert<br />

sich Morgans-Designerin Andrée Putman,<br />

die die beiden im Studio 54 über Yves Saint<br />

Laurent kennengelernt hatte. „Für die Bäder<br />

beispielsweise mussten wir die billigsten<br />

Kacheln nehmen, und die gab es, neben<br />

Pink, nur in Schwarz und Weiß.“<br />

So kam jener heute ikonische Schachbrett-Look<br />

eher zufällig zustande, der sich<br />

Michelberger Hotel, Berlin, eröffnet 2009<br />

Die Revolution der globalen Hotelindustrie<br />

hatte begonnen. Schrager und Rubell<br />

verkauften nicht eine Übernachtung,<br />

sondern eine Auszeit vom Alltag, eine überspitzte<br />

Form kompromissloser Gegenwart.<br />

„Es war klar, dass wir nicht nur in einer<br />

spezialisierten Nische agierten“, so Schrager,<br />

„das Mainstreampotenzial war sichtbar.<br />

Aber wir machten etwas Neues und Originelles,<br />

indem wir ein Erlebnis entwarfen –<br />

und nicht nur einen Platz zum Schlafen.“<br />

Nach dem Aids-Tod Rubells folgte eine<br />

Serie von acht Hotels unter der Ägide von<br />

Schrager und Philippe Starck, deren Designsprache,<br />

ein strenger und mit surrealistischem<br />

Humor aufgelockerter Minimalismus,<br />

ihren Höhepunkt 2000 im Londoner<br />

„Sanderson Hotel“ fand. Für die Branche<br />

war dieser Stil so prägend, dass heute weltweit<br />

in nahezu jeder größeren Stadt eines<br />

Industrie- oder Schwellenlandes ein Hotel<br />

zu finden ist, das ihn auf oberflächliche<br />

Weise nachplappert: weißer Lack,<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 117


| S a l o n | Z i m m e r f r e i<br />

Plexiglas, Edelstahl, buntes Licht und undichte<br />

Duschen mitten in winzigen Zimmern.<br />

Nicht zu vergessen: der Techno in<br />

der Lobby, die dubiose Sushi-Tapas-Fusionsküche,<br />

die schwarzen Samurai-Uniformen<br />

und asymmetrischen Frisuren des<br />

eingebildeten, aber miserabel ausgebildeten<br />

Serviceperson<strong>als</strong>.<br />

Die Lawine an derivativem Design, die<br />

er losgetreten hat, lässt Schrager heute erschaudern:<br />

„Ich fühle mich langsam, <strong>als</strong><br />

hätten wir Frankensteins Monster erschaffen.“<br />

Für ihn ist das Design eher eine sekundäre<br />

Komponente, die erst durch ihre<br />

kulturelle Verankerung eine Daseinsberechtigung<br />

erfährt: „Es ist wie bei einem<br />

Film. Zuerst brauchen wir das Drehbuch,<br />

die Spezialeffekte kommen später. Wenn<br />

wir uns <strong>als</strong>o mit Designern und Architekten<br />

treffen, dann reden wir nicht über Farben,<br />

sondern über den gesellschaftlichen<br />

Kontext. Wie gut verstehen wir das Unbewusste<br />

unserer Kunden? Worauf werden sie<br />

reagieren? Was fehlt ihnen?“<br />

Allerdings war Schrager auch relativ<br />

schnell ernst zu nehmende Konkurrenz<br />

erwachsen – in Form einer Handvoll<br />

gleichermaßen besessener Perfektionisten,<br />

die an ihre Hotelprojekte wie an Gesamtkunstwerke<br />

herangehen. Adrian Zecha<br />

von „Amanresorts“ beispielsweise, dessen<br />

paradiesähnliche Entspannungsoasen das<br />

genaue Gegenteil eines Nightlife-lastigen<br />

Schrager-Hotels darstellen, nämlich den<br />

idealen Ort zum meditativen Auskatern.<br />

Oder André Balazs, der <strong>als</strong> Wiedergänger<br />

Schragers gilt und mit dem Chateau Marmont<br />

1990 einen legendären Sündenpfuhl<br />

des alten Hollywood übernahm und behutsam<br />

modernisierte.<br />

Das Besondere an den Hotels von Balazs<br />

besteht darin, dass er sie auf ihre lokale<br />

Verankerung zurückführt: „Es sollte<br />

keinerlei Unklarheit darüber herrschen,<br />

ob man in London oder New York ist, in<br />

Soho oder an der Wall Street. Schon immer<br />

haben wir nicht nur darüber nachgedacht,<br />

in welcher Stadt und in welchem<br />

Viertel sich unsere Hotels befinden, sondern<br />

sogar, in welchem Gebäude.“ Eine<br />

deutlichere Absage an generisches Design<br />

lässt sich kaum formulieren.<br />

Schragers eigene Antwort auf die Flut<br />

an Design-Generika kam 2006 in Form<br />

einer radikalen Abkehr vom Minimalismus,<br />

die sich im heute schon klassischen<br />

„Gramercy Park Hotel“ manifestierte, für<br />

dessen Gestaltung er keinen Designer,<br />

sondern den Maler und Regisseur Julian<br />

Schnabel engagierte. Vom Schachbrettmuster<br />

einiger Böden und Teilen der Bäder<br />

abgesehen, gibt es im ganzen Hotel keine<br />

einzige weiße Fläche. Stattdessen gelang<br />

Schnabel mit einer Palette aus staubigem<br />

Pink, mattem Taubenblau und besänftigendem<br />

Jade ein bravouröser Spagat zwischen<br />

Exzentrik und Eleganz.<br />

In der Opulenz aus Stuck, Farbe,<br />

Bronze, Holz und Samt lassen sich einige<br />

Vorläufer erahnen – das Pariser Hotel „Costes“<br />

beispielsweise, oder auch das Londoner<br />

„Blakes“ von Anouska Hempel. Das<br />

Fotos: Sanderson Hotels<br />

118 <strong>Cicero</strong> 7.2012


„Erst brauchen wir das Drehbuch,<br />

die Spezialeffekte kommen später“<br />

Hotelier Ian Schrager, The Sanderson, London, eröffnet 2000<br />

Traditionelle des Interieurs scheint optisch<br />

auf eine mondän-verruchte Vergangenheit<br />

zu verweisen, auf die achtziger Jahre, die<br />

ja auch Julian Schnabel hervorgebracht haben,<br />

und auf die Aktien- und Kunstmarktboomphase,<br />

in der man sich 2006 befand.<br />

Dass nach der Wirtschaftskrise von<br />

2008 eher Bedarf an Übernachtungsmöglichkeiten<br />

in anderen Kategorien bestand,<br />

ist keine Überraschung. Als innovativster<br />

Bereich der Hotelbranche gilt heute deshalb<br />

jener „cheap chic“, dem Schrager bereits<br />

im Jahr 2000 mit seinem New Yorker<br />

„Hudson Hotel“ ein Denkmal setzte. Die<br />

kreative Führerschaft in diesem verfeinerten<br />

Budget-Segment lag in den Nullerjahren<br />

bei Balazs mit seiner Marke „The Standard“.<br />

Heute liegt sie bei den „Ace Hotels“<br />

des ehemaligen Partypromoters und Turnschuhdesigners<br />

Alex Calderwood, die ihre<br />

Hipness nicht aus Celebrities und Nightlife<br />

beziehen, sondern eher aus der zeitgenössischen<br />

Sphäre von Social Media, Rockmusik<br />

und Grafikdesign.<br />

In den Zimmern des New Yorker<br />

„Ace“-Flaggschiffs findet man Plattenspieler,<br />

Vinyl und Wände, die mit historischen<br />

Ausgaben der New York Times tapeziert<br />

sind. Diese zeitgenössische Nostalgie<br />

verbindet Calderwood spöttisch mit Elementen<br />

des aktuellen Brooklyner Hipstergestus’,<br />

etwa der Edel-Trailerpark-Gastronomie.<br />

In der Lobby, die die Atmosphäre<br />

einer historischen Bahnhofshalle hat, gibt<br />

es einen Coffeeshop und eine Bar. Zwischen<br />

den Säulen, Bibliothekstischen und<br />

Sofas sind ausgestopfte Biber und Waschbären<br />

aufgestellt. Der Snack aus knuspriger<br />

Schweineschwarte lässt sich dort mit einem<br />

Dosenbier der Redneck-Marke „Porkslap“<br />

hinunterspülen.<br />

Allerdings fallen die „Standard“-Hotels<br />

inzwischen genauso wenig in die Budget-<br />

Kategorie wie jene der Marke „Ace“. Insbesondere<br />

im Falle von Balazs, der sein<br />

nächstes „Standard“ angeblich in Berlin<br />

eröffnen wird, könnte man diese Entwicklung<br />

<strong>als</strong> „Miu-Miu-Effekt“ bezeichnen:<br />

Miu Miu, von Prada <strong>als</strong> günstigere Zweitmarke<br />

eingeführt, war schon nach ein paar<br />

Jahren auf dem einstigen Preisniveau der<br />

Prada-Kollektion angekommen, die ihrerseits<br />

eine Kategorie höhergerückt war.<br />

Eine ähnliche Inflation ist auch im Falle<br />

des Berliner „Soho House“ zu beobachten,<br />

dessen Zimmerpreise sich vom moderaten<br />

Niveau der Eröffnungszeit in Regionen begeben<br />

haben, die das Haus trotz Krawattenverbots<br />

eher für Frankfurter Banker interessant<br />

machen.<br />

Der Tatsache, dass Status im heutigen<br />

Berlin, wie Anfang der achtziger Jahre in<br />

New York, nur wenig mit Geld zu tun hat,<br />

trägt derzeit eher das „Michelberger“ mit<br />

seinem geschmackssicher improvisierten<br />

WG-Stil Rechnung, gelegen in einem Fabrikgebäude<br />

neben der Oberbaumbrücke.<br />

Wenn dieses Hotel ein Berliner wäre, dann<br />

wäre es der unrasierte Typ von nebenan,<br />

der in der Musikbranche arbeitet und sich<br />

am Sonntagnachmittag die Zeitungen in<br />

einem alten Paisley-Morgenmantel holt.<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 119


| S a l o n | Z i m m e r f r e i<br />

„Die Stadt wirkt wie ein Magnet auf viele<br />

Menschen“, so definieren die Michelberger-Macher<br />

den Berliner Augenblick, „weil<br />

sie ihnen die Freiheit lässt, in Ruhe ihre<br />

Nische zu finden, ohne von kommerziellen<br />

Überlegungen behelligt zu werden.“<br />

Das untere Ende des Budget-Spektrums<br />

dagegen besetzt in Deutschland die<br />

rapide wachsende „Motel One“-Kette, deren<br />

Produkt einen erfreulichen neuen Basisstandard<br />

darstellt. Dabei ist dessen für<br />

seine Preiskategorie erstaunliche Attraktivität<br />

nicht etwa auf das mittelmäßige, aber<br />

nicht weiter anstößige Design zurückzu-<br />

konkurrieren sollen. Andererseits hat er<br />

im Oktober mit dem „Public“ in Chicago<br />

das erste Hotel einer neuen Budget-Kette<br />

eröffnet.<br />

Mit dem „Public“, das Schrager ohne<br />

Designer einfach selbst entworfen hat,<br />

möchte er seine Art von kuratierter Hotelerfahrung<br />

kompromisslos zugänglich<br />

machen, „ganz ähnlich, wie Andy Warhol<br />

das mit Kunst gemacht hat“. In der Lobby<br />

und den Zimmern zeigt sich ein gereifter,<br />

schlichter Chic, benutzerfreundlich und<br />

komfortabel. Und so steht auch sein neuestes<br />

Projekt für eine Rückkehr zu den Anfän-<br />

Ace Hotel,<br />

New York<br />

City, eröffnet<br />

2010,<br />

Hotelier Alex<br />

Calderwood<br />

das „Lloyd Hotel“ in Amsterdam bereits<br />

seit 2004 praktiziert. Dort kann sich der<br />

Investmentbanker an einer jungen und<br />

kreativen Barszene erfreuen, in die man<br />

ihn anderswo gar nicht hineinließe und<br />

aus der er sich bei Bedarf in seine riesige<br />

Fünf-Sterne-Suite zurückziehen kann,<br />

während die prekäre, aber bezaubernde<br />

Tänzerin sich nach einer langen Nacht in<br />

die bequeme Koje ihres charmanten, aber<br />

winzigen Kämmerchens legt.<br />

Auf die Spitze getrieben hat dieses<br />

Prinzip der Hotelier Claus Sendlinger mit<br />

seinem Pop-Up-Resort am Strand von Tu-<br />

Fotos: ACE Hotel, Deidre Schoo/NYT/Redux/Laif, Christoph Seyferth/Rob‘t Hart Photography/Loyd Hotel, Privat (Autor)<br />

führen, sondern darauf, was man in den<br />

„Motel One“-Häusern eben nicht vorfindet:<br />

die deprimierende Vertreter-Tristesse,<br />

wie sie in Ketten dieser Kategorie – Übernachtungen<br />

ab 49 Euro – sonst üblich ist.<br />

„Motel One“ passt hervorragend in das<br />

Schema der Konzentration geschmacksbürgerlichen<br />

Konsumverhaltens auf entweder<br />

ganz einfach oder ganz edel: T-Shirts<br />

von H&M, aber Schuhe von Tod’s, Flüge<br />

mit Easyjet, aber ein Trolley von Bottega<br />

Veneta – eine Melange aus High-End-Luxus<br />

und sehr günstigen, perfektionierten<br />

Standard-Massenprodukten. Mit dieser<br />

Entwicklung ist derzeit auch Ian Schrager<br />

befasst, der den klassischen Drei- bis Vier-<br />

Sterne-Boutique-Hotel-Bereich <strong>als</strong> „völlig<br />

überfüllt“ bezeichnet: „Die wirklichen<br />

Chancen liegen heute oberhalb und unterhalb<br />

dieser Kategorie.“ Folglich plant<br />

Schrager einerseits eine diskrete Kollektion<br />

von kleinen Superluxus-Stadthotels,<br />

die mit den klassischen Grand-Hotels<br />

gen – zu jener durchmischten, demokratischen<br />

Exklusivität des „Morgans“ nämlich,<br />

„die nicht auf Reichtum, sondern auf Sensibilität<br />

und Stil basierte“. Besondere Aufmerksamkeit<br />

hat Schrager dem Service gewidmet,<br />

der auf das Wesentliche reduziert<br />

wurde – denn wer braucht heute bitte noch<br />

ein Business Center? Sein Service-Konzept<br />

vergleicht er mit dem Einkaufserlebnis im<br />

Apple-Store: „Da bekommt man genau das,<br />

was man dort braucht, und sonst nichts.“<br />

Schrager gesteht, dass er von Trader Joe’s<br />

besessen ist, dem amerikanischen Edel-<br />

Aldi: „Dort kaufen Reiche und Arme gleichermaßen<br />

ein. Es gefällt mir, dass sie einen<br />

spezifischen Blickwinkel haben und keine<br />

große Auswahl.“<br />

Noch besser in die Gegenwart passt –<br />

auch <strong>als</strong> schönes Zeichen gegen die viel<br />

diskutierte Spaltung der Gesellschaft – das<br />

immer populärer werdende Konzept einer<br />

starken Spreizung verschiedener Zimmerkategorien<br />

unter einem Dach, wie sie etwa<br />

lum in Mexiko: Im „Papaya Playa“ hatte<br />

man die Auswahl zwischen einer kleinen<br />

Hütte im Palmenwald für 40 Dollar<br />

die Nacht – oder einer großzügigen Casita<br />

auf einem Felsen mit spektakulärer<br />

Meerblickterrasse. Anfang Mai schloss er<br />

die Anlage einfach nach nur fünf Monaten<br />

und lässt sie während der Sommermonate<br />

<strong>als</strong> improvisiertes Resort auf Mykonos<br />

wieder auferstehen.Dort kann man<br />

nun ohne schlechtes Gewissen (man unterstützt<br />

ja den bankrotten Bündnispartner)<br />

auf der Bruchlinie der Europäischen<br />

Union Party machen. Und dass auch dieses<br />

Resort bald wieder verschwindet, hat<br />

den Vorteil, dass es gut altern wird – verklärt,<br />

in der Erinnerung.<br />

Alexander<br />

Schimmelbusch<br />

arbeitete <strong>als</strong> Investmentbanker<br />

und lebt nun <strong>als</strong> freier Journalist<br />

und Buchautor in Berlin<br />

120 <strong>Cicero</strong> 7.2012


Lloyd Hotel, Amsterdam,<br />

eröffnet 2004<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 121


| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

Die Wiedergefundene<br />

Zeit<br />

Warum manche Bücher wie lange Liebesbeziehungen<br />

sein können: Zu Besuch bei Nikolaus Bachler, dem<br />

Intendanten der Bayerischen Staatsoper<br />

Von Eva gesine Baur<br />

W<br />

o er meistens zu finden ist, lässt sich einfach beantworten:<br />

unterwegs. „Winnie, the Pooh“ war<br />

das erste Buch in seinem Leben, und das hat abgefärbt.<br />

Nikolaus Bachler, Intendant der Bayerischen<br />

Staatsoper, nennt es „eine Poesie der Wanderschaft“.<br />

„Wo bist du gerade?“, heißt die erste Frage, wenn ihn sein<br />

Freund Luc Bondy anruft. Bondy möchte dann aber nicht erfahren:<br />

am Flughafen John F. Kennedy. Oder: bei einer Besprechung<br />

im Café Margot. Sondern an welcher Stelle in „Sodom und Gomorrha“<br />

oder „Im Schatten junger Mädchenblüte“. Bondy hilft<br />

diese Ortsangabe weiter. Er selbst ist genauso zu Hause in den sieben<br />

Bänden von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.<br />

Für viele Leser ist Marcel Prousts zentrales Werk Bildungsballast,<br />

den man im Regal abstellt und aus dem man eine Passage<br />

kennt: die, wo Madeleines in den Lindenblütentee getaucht werden.<br />

Für Bachler ist dieses Werk ein konkurrenzloses Lehrbuch.<br />

„Was Leben ist, habe ich über Proust gelernt.“<br />

Die Ausbildung fing an, <strong>als</strong> Bachler Gymnasiast in Judenburg<br />

war und nach Lesestoff suchte. Seine Schwester las Karl May. „Verlogen,<br />

konstruiert und gähnend langweilig“, fand er. Spannend<br />

fand er ein Foto von Proust, auf das er gestoßen war. Darauf<br />

spazierte der Schriftsteller in voller Montur mit Stock und Hut<br />

am Meer den Sandstrand entlang. Was war das für einer? Vom<br />

Deutschlehrer kam nichts. „Für den war Brecht des Teufels und<br />

die deutschsprachige Literatur mit Weinheber beendet.“ Eine örtliche<br />

Buchhandlung beschaffte Bachler die Einstiegsdroge, „Unterwegs<br />

zu Swann“. Sie machte den angehenden Schauspieler süchtig.<br />

„Keiner hat genauer <strong>als</strong> Proust Menschen beobachtet. Ihre Bewegungen,<br />

ihr Seelenleben, was zwischen ihnen geschieht. Wenn bei<br />

Proust die Mutter eine Treppe hinuntergeht und er damit die Bedeutung<br />

des Wegs klarmacht, das berührt mich, wenn ich es zum zehnten<br />

Mal lese, wie beim ersten Mal. Nur anders.“ Was sich in seiner<br />

Empfindung von Lektüre zu Lektüre verändert, kann Bachler nachvollziehen.<br />

„Ich zeichne in meine Bücher rein, unterstreiche, kritzle<br />

Kommentare an den Rand.“ Lesend taucht er so auch in die eigene<br />

Vergangenheit ein, wenn erneut eines seiner Kultbücher drankommt.<br />

Foto: Gerald von Foris<br />

122 <strong>Cicero</strong> 7.2012


„Ich bin kein<br />

Büchersammler,<br />

ich bin ein<br />

Bücherleser“:<br />

Nikolaus Bachler<br />

in seiner Wohnung<br />

in München<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 123


| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

„Was Leben ist, habe ich über Proust gelernt“, sagt Nikolaus Bachler. Einen der sieben<br />

Bände von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ hat er deswegen immer dabei<br />

Dazu gehört auch F. Scott Fitzgeralds unvollendet gebliebener<br />

Roman „Der letzte Taikun“, für ihn ein amerikanischer „King<br />

Lear“. Oder „Die Dämonen“ von Fjodor Dostojewski. Das wiederholte<br />

Lesen ein- und desselben Buches wirkt widersprüchlich<br />

bei einem Mann, der vor Energie vibriert und erklärt: „Ich lebe<br />

nicht in der Vergangenheit.“ Den Widerspruch löst Bachler grinsend<br />

auf. „Für mich ist das wie in einer Liebesbeziehung: Die<br />

kurzen Beziehungen sind immer gleich. Da wiederholen sich die<br />

bekannten Abläufe. Nur in langjährigen Beziehungen kann sich<br />

etwas ganz Neues ereignen. Nur die bringen einen selbst weiter.“<br />

Dass er zu seinen Büchern ein intimes Verhältnis hat, sieht<br />

man den Büchern an. „Ich bin kein Büchersammler, ich bin ein<br />

Bücherleser. Und zwar kein bibliophiler“, sagt er beim Anzünden<br />

der nächsten Zigarette. Dafür ein ausdauernder. „Im Beruf bin ich<br />

extrem ungeduldig, beim Lesen das Gegenteil.“ Sein Vater, Transportunternehmer,<br />

stöhnte dam<strong>als</strong> bei einem mehrstündigen Probeaufenthalt<br />

in Swanns Welt: „Mein Gott, die sitzen ja noch immer<br />

an demselben Tisch.“ Genau das, was den Vater langweilte,<br />

bannt seinen Sohn bis heute.<br />

Seine eigentliche Bibliothek befindet sich in seinem Haus in<br />

Aussee, in der heimischen Steiermark. In einem großen Raum füllt<br />

sie alle vier Wände vom Boden bis zur Decke. Die beiden Wanderbibliotheken<br />

in München und Berlin haben wesentlich weniger<br />

Umfang, aber dasselbe Ordnungsprinzip: gar keines. „Manchmal<br />

denke ich, alphabetisch zu sortieren, wäre ganz gut. Aber es<br />

bleibt dann beim Vorsatz und beim Suchen.“ Zu Bachlers Umgang<br />

mit Büchern passt es, dass er sie in München teilweise in einem<br />

alten Werkzeugschrank einquartiert hat, den er aus Kapstadt<br />

mitgebracht hat. „Ich liebe Taschenbücher“, sagt Bachler. „Weil<br />

für mich Bücher keine Fetische sind. Ich gehe aktiv mit ihnen um.<br />

Und die nehmen mir nichts übel.“ Es stehen zwar ein paar Klassikerausgaben<br />

in goldgeprägten Leinen- und Ledereinbänden im<br />

Regal, aber die nimmt er selten in die Hand. Dass Goethe in einer<br />

alten, vergilbten dtv-Ausgabe zu finden ist, zeigt: Er wird benutzt.<br />

Angesichts mangelnder Ordnungsliebe ist es hilfreich, dass<br />

es einige Sorten Bücher gibt, die Bachler nicht ausstehen kann.<br />

Auf Platz eins seiner schwarzen Liste: Autobiografien. „Wenn sich<br />

da ein 18-jähriger Fußballer zwischen zwei Buchdeckeln wichtig<br />

macht, ist das gedrucktes Facebook.“ Eine Ausnahme allerdings<br />

fällt ihm sofort ein: „Da geht ein Mensch“, die Erinnerungen des<br />

jüdischen Schauspielers Alexander Granach. Die literarische Welt<br />

des Jüdischen betritt er sowieso gern, die Tradition des Talmud<br />

fasziniert ihn, die fortwährende Deutung der Thora und die des<br />

Lebens. Und das Leben erhält für Bachler erst durch das Lesen Bedeutung.<br />

„Hätte ich Kinder, ich würde sie zum Lesen zwingen. Gehen<br />

lerne ich auch nur, indem ich gehe. Die Lust am Lesen kommt<br />

beim Lesen.“ Kurze Pause. „Ich halte viel von Zwang“, lacht er.<br />

Einige Bücher besitzt er <strong>als</strong> Erinnerungshilfen. Eigentlich hat<br />

er sie im Kopf. Das sind die mit Lyrik, vor allem von Friedrich<br />

Hölderlin, Heinrich Heine und Rainer Maria Rilke. „Lyrik ist abstrakter.<br />

Ein Geruch, ein Gefühl.“ Gegenwelten der langen Romane,<br />

wo die Lektüre, wie er sagt, „ein Besuch bei Geistesverwandten<br />

ist“. Vor allem Hölderlins Diotima-Gedichte haben es ihm angetan.<br />

„Herrliche, durch die mein Geist / von des Lebens Angst genesen“,<br />

heißt es dort. Bachler mag das Wort tolerant nicht. Er redet<br />

von angstfrei und fragt die Buh-Schreier nach einer Aufführung<br />

auch schon mal, wovor sie sich gefürchtet haben.<br />

Er lehnt sich zurück, pafft und sagt zwischen zwei Zügen so<br />

beiläufig, <strong>als</strong> rede er vom Wetter: „Wolle die Wandlung. O sei für<br />

die Flamme begeistert, drin sich ein Ding dir entzieht, das mit<br />

Verwandlungen prunkt.“ Bachler wirkt offen, leicht zugänglich<br />

ist er nicht. Wer sich den Zugang zu ihm erschließen will, findet<br />

in den ersten Zeilen von Rilkes „XII. Sonett an Orpheus“ zwei<br />

Schlüssel: die Begriffe der Wandlung und des Sich-Entziehens.<br />

15 Jahre lang besaß Bachler ein Haus in Kolumbien. „Dort“,<br />

sagt er, „bin ich in die ‚Hundert Jahre Einsamkeit‘ von Márquez<br />

hineingekippt. In die Schönheit und Gefährlichkeit dieses Landes,<br />

wo das Übersinnliche wichtiger ist <strong>als</strong> das Konkrete.“ Nimmt er<br />

heute erneut Gabriel García Márquez aus dem Regal, denkt er an<br />

Einladungen in Südamerika. „Da begann immer sofort einer mit<br />

Tischerücken, Kaffeesatzlesen, Handlesen.“ Er lächelt undurchschaubar.<br />

„Auch das ist Lesen: Erfahrenwollen.“<br />

Literatur wandelt sich im Leser. Auch dadurch, dass er erlebt,<br />

wo sie entstanden ist. Festhalten sei dabei absolut hinderlich, findet<br />

Bachler. Zum Sammler prädestiniert ihn das nicht gerade. „Dass Bücher<br />

verleihen Bücher verschenken heißt, habe ich ins Unbewusste<br />

versenkt.“ Dort liegt auch die Lust, sich der Gesellschaft zu entziehen.<br />

„Das Gerede, in meinem Beruf könne sich das keiner leisten,<br />

habe ich schon in Wien widerlegt.“ Proust entzog sich im Schlafzimmer,<br />

schreibend. Bachler entzieht sich im Schlafzimmer, lesend.<br />

Eva gesine Baur<br />

schreibt Biografien und Romane, die von Musik handeln.<br />

Zuletzt erschien ihr Buch über „Emanuel Schikaneder“<br />

(C. H. Beck)<br />

Fotos: Gerald von Foris, Privat (Autorin)<br />

124 <strong>Cicero</strong> 7.2012


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| S a l o n | D a s S c h w a r z e s i n d d i e B u c h s t a b e n<br />

Immer dieses arme Ego<br />

Der bürgerliche Großkünstler ist einer, der leidet und<br />

dafür geliebt werden will. Über August Strindberg, Thomas<br />

Kapielski, Zachary Mason und die Frage, ob wir dem<br />

19. Jahrhundert entkommen können<br />

Die Bücherkolumne von Robin Detje<br />

I<br />

ch! Ich! Ich!, ruft der bürgerliche<br />

GroSSkünstler und behauptet,<br />

dass er uns alle in sich trägt.<br />

Mein Wahn, sagt er, ist eure Welt. Wenn<br />

ich Ich! Ich! Ich! rufe, meine ich: Euch!<br />

Euch! Euch! Ihr müsst euch nur in mir finden.<br />

Dabei viel Spaß.<br />

150 oder 200 Jahre lang hat dieses Spiel<br />

wunderbar funktioniert: Der bürgerliche<br />

Großkünstler war immer auch der rebellische<br />

Bürgerschreck. Der Star gab sich immer<br />

auch <strong>als</strong> geächteter Außenseiter. Der<br />

Kranke wurde zum Arzt, und das Abfallprodukt<br />

seiner wundersamen Verwandlung<br />

war Schönheit. Das Werk diente <strong>als</strong><br />

Zeugnis eines titanenhaften Ringens mit<br />

übermächtigen Kräften des Bösen (vorzugsweise<br />

des engen, provinziellen Bösen,<br />

aus dem die Großkünstlerseele ausbrechen<br />

musste), und in alle Richtungen spritzte<br />

der Schweiß. Strindberg zum Beispiel,<br />

August, vor 100 Jahren in Stockholm gestorben.<br />

Ein Musterbeispiel dieser Gattung.<br />

Manche glauben, hinter seiner Genialität<br />

habe sich, zumindest phasenweise,<br />

nichts anderes verborgen <strong>als</strong> ein Hang zur<br />

Psychose. Sie halten das Genietum für eine<br />

sozialisierte Spielart der Geisteskrankheit.<br />

Strindbergs erster literarischer Erfolg,<br />

der Roman „Das rote Zimmer“, erschien<br />

1879 und liegt jetzt in einer schönen neuen<br />

Übersetzung vor. (August Strindberg: „Das<br />

rote Zimmer“, Roman, übersetzt von Renate<br />

Bleibtreu; Manesse, Zürich 2012; 576 Seiten,<br />

24,95 Euro) Strindbergs Satire war<br />

ein Generalangriff auf die bürgerliche Gesellschaft<br />

seiner Zeit. Der Held heißt Arvid<br />

Falk und sucht die Wahrheit. Strindberg<br />

jagt ihn durch eine Geisterbahn<br />

voller korrupter Politiker und Kaufleute<br />

und lebensmüder Künstler. Wahrheit begegnet<br />

ihm nirgends, dafür viel zynische<br />

Geschäftemacherei. Dem Autor gelingt<br />

die große Zirkusnummer: in alle Richtungen<br />

Weltekel zu versprühen und dafür von<br />

der Welt geliebt zu werden. Seinem Helden<br />

gönnt er am Ende eine zahme bürgerliche<br />

Existenz <strong>als</strong> Zuflucht, mit ein wenig<br />

Künstlertum, aber hinter der Fassade<br />

brodelt der Hass. Man liest das Buch und<br />

findet all diese Gestalten viel zu leicht im<br />

wirklichen Leben der Gegenwart wieder.<br />

Wir sind noch immer so. Wir stecken im<br />

19. Jahrhundert fest.<br />

In dem Band „Notizen eines Zweiflers“<br />

dürfen wir dem Genie in die Suppenküche<br />

gucken. (August Strindberg: „Notizen<br />

eines Zweiflers“, herausgegeben und übersetzt<br />

von Renate Bleibtreu; Berenberg, Berlin<br />

2011; 320 Seiten, 25 Euro) Da liegen alle<br />

Zutaten ausgebreitet, da wird experimentiert,<br />

skizziert und wieder verworfen. Da<br />

sehen wir den Dichter, der sich auch mit<br />

illustration: cornelia von seidlein<br />

126 <strong>Cicero</strong> 7.2012


foto: Loredana Fritsch<br />

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der Malerei, der Fotografie und Alchemie<br />

beschäftigt hat, wie er nachts eine Bromsilberplatte<br />

unter die Sterne legt, um zu sehen,<br />

ob der Mond Spuren darauf hinterlässt.<br />

Alles ist verzaubert, in allem wohnt<br />

ein Geist, der beschworen werden muss.<br />

Strindberg zeigt sich in diesen Notizen aus<br />

dem Nachlass sehr nackt und verletzlich –<br />

ein berührender Anblick.<br />

***<br />

Das Prosawerk des bildenden Künstlers<br />

und zeitweiligen Kunstprofessors Thomas<br />

Kapielski ist das Gegenteil von titanischem<br />

Ringen. Es verkörpert eher ewiges Murkeln<br />

auf höchstem Niveau, berlinerisches<br />

Räsonnemang. Kapielski ist der Welt nicht<br />

freundlicher gesonnen <strong>als</strong> Strindberg, er erwartet<br />

nur nicht mehr, der eigenen Widerborstigkeit<br />

Glück, Glanz und Ruhm abgewinnen<br />

zu können. Noch immer ruft da<br />

etwas Ich! Ich! Ich!, aber dieses Ich zürnt<br />

nicht mehr, es hat sich ruhig gestellt mit<br />

Gerstensaft. Kunst und Leben sind ein langer<br />

ruhiger Suff. Das muss man aussitzen,<br />

auch <strong>als</strong> Leser, Band für Band. Die Bücher<br />

erscheinen mal bei Merve, mal bei Suhrkamp;<br />

ein paar Bände sind unter dem Rubrum<br />

„Gottesbeweise“ herausgekommen,<br />

und die meisten sind geschmückt mit<br />

Knipsereien des Autors, die Leere abbilden.<br />

Das alles summiert sich zu einem einzigen<br />

endlosen Redefluss. Aber der neue Band<br />

(Thomas Kapielski: „Neue sezessionistische<br />

Heizkörperverkleidungen“; Edition Suhrkamp,<br />

Berlin 2012; 214 Seiten, 14 Euro)<br />

kennt plötzlich ein Ende. Der Autor zittert<br />

vor dem Tod. Dröhnender Glockenklang,<br />

übergroße Sprachkitschkanonen<br />

werden aufgefahren, aparte grammatische<br />

Blumengirlanden gewunden, dazwischen<br />

dann auch immer mal wieder Stammtisch.<br />

Ein schwächeres Kapitel in einem<br />

großen Werk, das Kleinlichkeit genialisch<br />

zur Kunst erhebt. („Glück Glanz Ruhm“<br />

und „Ich Ich Ich“ sind übrigens Buchtitel<br />

des klein-großen Robert Gernhardt. Muss<br />

man lesen.)<br />

***<br />

Zachary Masons ganz und gar erstaunliche<br />

Sammlung von Prosastücken, die mit<br />

dem Odysseus-Mythos spielen, bilden ein<br />

Werk von geradezu zenbuddhistischer Ich-<br />

Losigkeit. (Zachary Mason: „Die verlorenen<br />

Bücher der Odyssee“, Roman, übersetzt<br />

von Martina Tichy; Suhrkamp, Berlin 2012;<br />

230 Seiten, 22,95 Euro) Viele Autoren haben<br />

sich an Homer abgearbeitet, weil sie<br />

sich beweisen wollten. Mason spielt. Er<br />

schreibt so, wie man <strong>als</strong> Autor guter Kinderbücher<br />

schreibt: Die Fantasie selbst ist der<br />

Held. Als Kind darf man beim Lesen nämlich<br />

noch mitmachen. Erst <strong>als</strong> Erwachsener<br />

soll man dann vor den Anstrengungen der<br />

Großdichter strammstehen und ihre Leistungsschau<br />

abnehmen: Ich! Ich! Ich!<br />

Zachary Mason schenkt uns die Heimkehr<br />

des Odysseus in immer neuen Varianten.<br />

Er schenkt uns einen Odysseus, der<br />

sich einen Achilles <strong>als</strong> Golem baut und ihn<br />

dann <strong>als</strong> trojanisches Pferd aus Lehm in die<br />

belagerte Stadt einschleust. Einen Odysseus<br />

<strong>als</strong> hinterlistigen Schwächling, der sich aus<br />

seiner Schmach zum Sänger seines eigenen<br />

Mythos erhebt, sehr erfolgreich natürlich.<br />

Er malt uns aus, wie es wäre, wenn der Tod<br />

selbst Helena entführt hätte. Wenn Troja<br />

eine Stadt im Totenreich wäre und Odysseus<br />

sich umbringen müsste, um hineinzugelangen.<br />

Seine Geschichten sind mal<br />

kurz, mal lang. Manchmal entfernen sie<br />

sich weit vom Original, manchmal bleiben<br />

sie dicht bei Homer. Immer entstammen<br />

sie einem mit leichter Hand hingetuschten<br />

Paralleluniversum: So könnte es<br />

auch gewesen sein. Oder so. Oder so. Wer<br />

ist der Erzähler dieser Geschichten, wer ist<br />

ihr Gott? Das wissen die Götter. Mason<br />

behauptet jedenfalls nie, es zu wissen oder<br />

auch nur wissen zu wollen.<br />

Das Buch ist das Debüt eines 38-jährigen<br />

Computerfachmanns aus dem Silicon<br />

Valley. Der New York Times hat er offenbart:<br />

„Also, die romantische Vorstellung,<br />

Poesie käme aus diesem tiefen, unsagbaren<br />

Ur-Zeugs, ist ja ganz hübsch, aber ich halte<br />

sie im Kern für f<strong>als</strong>ch. Ich glaube, Seele und<br />

Verstand sind sagbar, und ein Herz lässt<br />

sich wahrscheinlich ergründen.“ Weg mit<br />

den Fesseln des romantischen Denkens!<br />

Der deutsche Verlag möchte seinen Autor<br />

in die Tradition der Postmoderne stellen.<br />

Dabei ist er viel eher der erste Vertreter<br />

einer postgenialischen Literatur, in der<br />

Autor und Leser gleichberechtigt miteinander<br />

spielen. Vielleicht können wir dem<br />

19. Jahrhundert doch noch entkommen.<br />

Robin Detje<br />

lebt <strong>als</strong> Autor und Übersetzer<br />

in Berlin<br />

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7.2012 <strong>Cicero</strong> 127


Unser Wein des Monats<br />

<strong>Cicero</strong> empfiehlt: Grauburgunder Kabinett trocken, Achkarrer Castellberg, Jahrgang 2011<br />

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K ü c h e n k a b i n e t t | S a l o n |<br />

illustration: Thomas Kuhlenbeck/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser<br />

Paella mit Matjes<br />

Wo bleibt die Küchenunion? Jedes<br />

Imperium braucht eine Leibspeise, die<br />

für ein gemeinsames Lebensgefühl steht.<br />

Rom hatte sein Garum, Österreich-Ungarn<br />

den Kaiserschmarrn. Wer den Euro retten<br />

will, sollte sich auf ein gemeinsames<br />

Rezept verständigen können<br />

Von Thomas Platt und Julius Grützke<br />

J<br />

edes Imperium hat seine Leibspeisen. Nur mit einem gemeinsamen<br />

Lebensgefühl, das sich auch in der Küche<br />

ausprägt, lässt sich die Arbeitsteilung eines Großreichs<br />

rechtfertigen. Das Römische Reich hat nicht nur mit Arenen und<br />

Thermen noch in den abgelegensten Siedlungen den Lifestyle der<br />

Hauptstadt verbreitet, sondern auch an Herd und Tafel einen lateinischen<br />

Geschmack durchgesetzt. Garum, eine fermentierte<br />

Fischsauce, salzte und würzte die Speisen zwischen Cornwall und<br />

Tigris und stiftete eine kulinarische Identität, die aus Barbaren<br />

Bürgersleute machte. Mit dem Zerfall des Imperiums verschwand<br />

das durchdringende Gewürz von der Speisekarte, und der Zusammenhalt<br />

ging auch in der Küche verloren. Etwas Ähnliches wie<br />

Garum entdeckten Europäer erst tausend Jahre später in Südostasien<br />

wieder, wo die Fischsauce noch heute Verwendung findet.<br />

Die Europäische Union <strong>als</strong> Nachfolger des Römischen Reiches<br />

kann nicht mit einer verbindenden Gemeinsamkeit in der<br />

Küche aufwarten. Aber vielleicht ist das auch zunächst einmal<br />

gar nicht gewollt. Die Gemeinschaft hat keine starke Hauptstadt,<br />

von der aus eine Elite einen führenden Stil etablieren und propagieren<br />

könnte. Brüssel vereint zwar viele Sternerestaurants auf<br />

engem Raum, aber eine Signalwirkung geht von diesen Lokalen<br />

nicht aus. Die letzten Küchenrevolutionen wurden eher am Rand<br />

der Union angezettelt, in Katalonien und Kopenhagen. Die Küche<br />

der Europäischen Gemeinschaft fußt weiterhin auf regionalen<br />

und nationalen Überlieferungen, die auf ihre Unterschiedlichkeiten<br />

bedacht sind. Um Ursprungsbezeichnungen und Originalrezepturen<br />

werden erbitterte Kämpfe geführt. Eine gemeinsame europäische<br />

Küche liegt ferner denn je.<br />

Wer allerdings glaubt, dass eine solche Zusammenführung<br />

von vornherein undenkbar und ohnehin nicht wünschenswert<br />

sei, sollte den Blick auf ein anderes, ebenfalls untergegangenes<br />

Imperium richten, das zumindest in Kochbüchern überlebt hat:<br />

die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie. Vom Gulasch<br />

bis zum Kaiserschmarrn hat sich da aus dem Besten der beteiligten<br />

Völker eine Melange ergeben, die mehr ist <strong>als</strong> die Summe<br />

ihrer Teile. Und kulinarische Konvergenz braucht noch nicht<br />

einmal ein absolutistisches Königshaus. Die vor allem in Kalifornien<br />

herausgebildete Fusionsküche des Pacific Rim etwa<br />

vereinte die Anrainer des Pazifik und definierte gleichsam ihren<br />

Wirtschaftsraum, lange bevor Handelsabkommen ihn kodifizieren<br />

konnten.<br />

Auf dem alten Kontinent hingegen existieren die Speisetraditionen<br />

nebeneinander her und machen das gemeinsame europäische<br />

Haus zu einem Apartmentkomplex, in dem höchstens im<br />

Treppenaufgang die Abluft aus den Kochnischen einen Vorgeschmack<br />

auf zukünftige Gemeinsamkeiten erahnen lässt. Bis jetzt<br />

sind nicht einmal bilaterale Menüs in Sicht. Welches Restaurant<br />

würde auf das Konzept irisch-italienischer Küche setzen? Kein<br />

Gastronom käme auf die Idee, Zaziki mit Foie Gras zu servieren<br />

oder Paella mit Matjes. Die Verschmelzung der Traditionen und<br />

Rezepte ist offensichtlich kein Teil der Lebenswirklichkeit unserer<br />

Union. Waren und Ideen werden getauscht und gehandelt, aber<br />

nicht gemeinsam fortentwickelt. Auf ein gemeinsames Rezept verständigen<br />

kann man sich so nicht.<br />

Womöglich fehlt es an einem Gründungsmythos, wie ihn zum<br />

Beispiel die amerikanische Küche mit Thanksgiving und seinem<br />

typischen Truthahn hat. Die fantasievolle Geschichte der ersten<br />

Siedler, die von den Ureinwohnern durch den Winter gebracht<br />

wurden und sich mit einem Festessen bedankten, erzählt von der<br />

Überwindung größter Not und gegenseitiger Hilfsbereitschaft. So<br />

etwas sollte doch auch bei uns möglich sein: Was wäre zum Beispiel,<br />

wenn in größter Krise, über einer Pizza in später Nacht, der<br />

Euro gerettet würde? Das Fest zur Erinnerung daran könnte dann<br />

in jedem Land begangen werden, mit einem je eigenen Belag auf<br />

dem Hefefladen der Gemeinsamkeit.<br />

Julius Grützke und Thomas Platt<br />

sind Autoren und Gastronomiekritiker.<br />

Beide leben in Berlin<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 129


130 <strong>Cicero</strong> 7.2012


D i e l e t z t e n 2 4 S t u n d e n | S a l o n |<br />

„Bloß nicht heulen!“<br />

Warum der Modedesigner Michael Mich<strong>als</strong>ky<br />

Musik zum Sterben braucht<br />

Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz<br />

I<br />

ch war schon bei zwei Wahrsagern,<br />

und beide haben gesagt,<br />

ich werde erst irgendwann zwischen<br />

87 und 90 sterben. Jetzt bin ich 45,<br />

ich habe <strong>als</strong>o noch Zeit. Aber trotzdem.<br />

An meinem letzten Tag würde ich<br />

relativ früh aufstehen, so zwischen sieben<br />

und acht, das mache ich sowieso,<br />

und daran würde ich auch nichts ändern.<br />

Normalerweise bin ich so ein Typ,<br />

der schnell für zehn Minuten unter die<br />

Dusche springt, und dann Klamotten an<br />

und weg. Aber an dem Tag würde ich baden,<br />

mich pflegen und mich besonders<br />

schön anziehen. Ich würde auch mal wieder<br />

einen Conditioner benutzen. An meinem<br />

letzten Tag will ich „bombe“ aussehen:<br />

meine Lieblingssneakers, meine<br />

Lieblingsjeans, weiße Socken, ein schwarzes<br />

T-Shirt, alles von mir selbst designt.<br />

Dabei und auch für den Rest des Tages<br />

wird Musik <strong>als</strong> Soundtrack im Hintergrund<br />

laufen. Auf der Playlist, die<br />

ich schon vorher vorbereitet habe, sind<br />

alle meine Lieblingslieder von Madonna,<br />

Diana Ross und Pet Shop Boys drauf,<br />

viel Dancemusic, alles sehr uplifting, viel<br />

Elektronisches, ein bisschen chillig. Nonstop.<br />

Wenn ich abends sterbe, soll die<br />

Musik immer noch laufen.<br />

Dann würde ich mich mit meinen<br />

fünf engsten Freunden zum Breakfast<br />

treffen. Ich bereue nichts, muss nichts<br />

bereinigen, ich will nur mit ihnen reden.<br />

Als 12-Jähriger las Michael<br />

Mich<strong>als</strong>ky im Stern eine Reportage<br />

über Karl Lagerfeld und wusste, er<br />

wollte Modedesigner sein. Heute ist<br />

er auf dem besten Weg, genauso<br />

bekannt zu werden wie sein Vorbild.<br />

Nach vielen Jahren <strong>als</strong> Chefdesigner<br />

von Levi’s und später Adidas gründete<br />

er 2006 in Berlin sein eigenes<br />

Label, das für diskreten Luxus mit<br />

Streetwear-Einflüssen steht<br />

Wir würden irgendwohin gehen, wo man<br />

Eggs Benedict bekommt, das ist mein absolutes<br />

Lieblingsessen. Alle Leute sind<br />

eingeweiht und dürfen mich nur treffen,<br />

wenn sie nicht heulen – das müssen<br />

sie garantieren. Außerdem müssen<br />

sie schwören, dass sie einmal im Jahr ein<br />

Fest für mich machen, bei dem es richtig<br />

kracht. Zu dem alle kommen, die ich<br />

kenne. Eine fette Gedächtnisparty in einer<br />

tollen Location, wo nur meine Lieblings-DJs<br />

auflegen. Alle müssten in Weiß<br />

kommen. Geweint werden darf auch dort<br />

nicht.<br />

Danach gehe ich noch mal ins Büro,<br />

um zu checken, was dort los ist. Ich muss<br />

mich von den Leuten da verabschieden<br />

und noch ein paar Anweisungen für die<br />

neue Kollektion geben, damit das auch in<br />

meinem Interesse weitergeht.<br />

Nach einem ausführlichen Spaziergang<br />

über die Museumsinsel, durch das<br />

Regierungsviertel und Kreuzberg wären<br />

auch meine wichtigsten Freunde aus<br />

London eingeflogen, wo ich lange gelebt<br />

habe. Mit ihnen würde ich High Tea<br />

nehmen, wie in England. Im Adlon oder<br />

im Ritz Carlton, so richtig mit Earl Grey<br />

und Cucumber Sandwiches, Scones und<br />

Clotted Cream.<br />

Schließlich gehe ich nach Hause und<br />

ziehe ein cooles Partyoutfit an, denn ich<br />

werde alle meine Freunde und alle Leute,<br />

die mir wichtig sind, inklusive Family,<br />

zu einem lustigen Fest zu mir nach Hause<br />

in Mitte eingeladen haben. Da gibt es<br />

viel zu trinken, auch etwas zu essen, alles<br />

querbeet: Ruinart-Champagner, Spezi, einen<br />

leckeren Robert-Weil-Wein, Kinderschokolade<br />

und Gummibärchen, deftige<br />

fränkische Küche, tolle italienische Sachen<br />

und japanisches Essen. Ich würde mich da<br />

nicht sinnlos betrinken. Ich möchte Quality<br />

Time mit meinen Leuten haben, Social<br />

Time. Das Leben genießen. Ich liebe<br />

ja Menschen, ich liebe soziale Kontakte.<br />

Ich möchte mich daran freuen können,<br />

dass ich ein so schönes Leben hatte.<br />

Das Fest geht so lange, bis meine letzten<br />

Sekunden anstehen. Ich möchte nicht<br />

leiden, sondern wegtreten, wenn es am<br />

lustigsten ist. Zack. Bums. Wie vom Blitz<br />

getroffen. Mit einem Lächeln auf den<br />

Lippen.<br />

7.2012 <strong>Cicero</strong> 131


C i c e r o | P o s t S c r i p t u m<br />

Weniger Ehrlichkeit wagen<br />

Von Alexander Marguier<br />

M<br />

al ehrlich, diese Offenheit, die neuerdings überall zelebriert<br />

wird – mein Ding ist das nicht. Vor ein paar Jahren<br />

war ich mal bei der Paartherapie, <strong>als</strong> es in der Beziehung<br />

nicht besonders gut lief. Am Anfang der Sitzung hieß es,<br />

die Beteiligten sollten jetzt bitte ohne Scham und f<strong>als</strong>che Zurückhaltung<br />

darüber reden, was ihnen am jeweils anderen auf<br />

die Nerven geht. Das Ganze endete in einem ziemlichen Desaster:<br />

Man hatte Dinge gesagt, die man aus gutem Grund am<br />

liebsten für sich behalten hätte – und Sachen über sich selbst erfahren,<br />

die auch nicht besonders schmeichelhaft klangen. Was<br />

dazu führte, dass die Therapie schon nach der ersten Stunde<br />

endgültig gescheitert war: Zwei Singles verließen die Praxis, die<br />

sie kurz zuvor noch <strong>als</strong> Partner betreten hatten. Der Nächste,<br />

bitte!<br />

Warum sollte aber in der großen Politik eine Methode funktionieren,<br />

die schon im kleinsten privaten Kreis zu derart üblen<br />

Verwerfungen führt? Denken Sie nur an Horst Seehofers extemporierten<br />

Auftritt im „Heute-Journal“, <strong>als</strong> er dem ohnehin<br />

reichlich zerzausten Norbert Röttgen noch einmal öffentlich den<br />

Kopf wusch („Sie können das alles senden“): Bereits am nächsten<br />

Tag war die Scheidung vollzogen, und der Umweltminister<br />

konnte die Bruchstücke seiner hoffnungsvollen Karriere vor<br />

der zugeschlagenen Kabinettstür einsammeln. Bürgerliche Umgangsformen<br />

sehen jedenfalls anders aus, und dass das Sorgerecht<br />

für Röttgens Ressort ausgerechnet einem alten Freund übertragen<br />

wurde, macht die Sache nur noch schlimmer. Nun lautet ja<br />

der Vorwurf, Röttgen habe das hässliche Drama selbst heraufbeschworen,<br />

weil er im Wahlkampf sämtliche Fragen nach seiner<br />

weiteren Lebensplanung unter den Teppich kehren wollte.<br />

Ich halte das für Quatsch. Oder glauben Sie ernsthaft, die explizite<br />

Androhung, nach einer Niederlage <strong>als</strong> Oppositionsführer in<br />

Düsseldorf zu bleiben, hätte ihm in NRW auch nur eine Stimme<br />

mehr eingebracht? Eben. Klartext wird einfach überbewertet.<br />

Besonders rätselhaft erscheint mir, warum ausgerechnet Journalisten<br />

ständig darüber klagen, dass Politiker immer noch viel<br />

zu selten deutliche Worte fänden. Immerhin lebt ja die ganze<br />

Branche davon, justement die undeutlichen Worte so lange hin<br />

und her zu interpretieren, bis die Kommentarspalten gefüllt und<br />

die Berichte mit in allerlei „Hintergrundgesprächen“ gewonnenen<br />

Informationen aufgeschrieben sind. Wenn stattdessen Klartext<br />

zur lingua franca des politischen Betriebs würde, könnte<br />

kein Hauptstadtkorrespondent mehr davon träumen, die alleinige<br />

Deutungshoheit über das Regierungshandeln zu besitzen,<br />

und lieb gewonnene Formulierungen („wie aus dem Umfeld der<br />

Kanzlerin verlautete“ etc.) gehörten der Vergangenheit an. Diesen<br />

Kulturbruch kann niemand ernsthaft wollen, erst recht nicht<br />

in meinem Gewerbe.<br />

Aber auch <strong>als</strong> Bürger dieses Landes möchte ich doch sehr darum<br />

bitten, vor einer allzu deutlichen Ansprache seitens der Exekutive<br />

verschont zu bleiben. Stellen Sie sich nur einmal vor,<br />

Angela Merkel würde plötzlich in den Gregor-Gysi-Duktus verfallen<br />

und uns auf einem Parteitag darüber in Kenntnis setzen,<br />

dass die CDU sich gerade „selbst zerstöre“. Da würde einem<br />

doch angst und bange! Überhaupt ist Gysis Göttinger Wutrede<br />

der beste Beweis dafür, wie kontraproduktiv Ehrlichkeit sein<br />

kann. Horst Seehofer, zum Beispiel, wäre doch niem<strong>als</strong> bayerischer<br />

Ministerpräsident geworden mit einem Satz wie „Es ist<br />

besser, sich fair zu trennen, <strong>als</strong> weiterhin unfair, mit Hass, mit<br />

Tricksereien, mit üblem Nachtreten eine in jeder Hinsicht verkorkste<br />

Ehe zu führen“? Bei dem hieß es dam<strong>als</strong> aus gegebenem<br />

Anlass in eigener Sache lediglich „Die Familie Seehofer bleibt<br />

zusammen.“ Hätte Röttgens Missgeschick nicht so ähnlich aus<br />

der Welt geschafft werden können, irgendwie nach dem Motto<br />

„Der Norbert gehört weiterhin zur Familie“? Stattdessen: Klartext,<br />

Türenknallen, Tränen und Zähneklappern. Wenigstens verweigerte<br />

sich die Kanzlerin dem unguten Trend zur Aufrichtigkeit<br />

und rief ihrem geschassten Minister ein versöhnliches „Ich<br />

danke Norbert Röttgen für sein großes klimapolitisches Engagement“<br />

hinterher. Für „Lass uns Freunde bleiben!“ hat es dann<br />

leider nicht mehr ganz gereicht.<br />

Alexander Marguier<br />

ist stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

Illustration: Christoph Abbrederis; Foto: Antje Berghäuser<br />

132 <strong>Cicero</strong> 7.2012


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