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Cicero Am Tatort (Vorschau)

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www.cicero.de<br />

September 2012<br />

8 EUR / 12,50 CHF<br />

www.cicero.de<br />

Gesine Schwan<br />

über<br />

Joachim Gauck<br />

„Er bleibt hinter<br />

den Aufgaben<br />

seines <strong>Am</strong>tes zurück“<br />

Ludwig Poullain<br />

über<br />

Angela Merkel<br />

„Verbotsschilder<br />

für Andersdenkende“<br />

Richard David Precht<br />

über<br />

deutsche Schulen<br />

„Wir brauchen eine Revolution!“<br />

Boris Aljinovic und<br />

Dominic Raacke<br />

als Felix Stark und<br />

Till Ritter<br />

SONNTAGS, 20:15 IN BERLIN<br />

AM TATORT<br />

Innenansichten eines TV-Phänomens<br />

Österreich: 8 EUR, Benelux: 9 EUR, Italien: 9 EUR<br />

Spanien: 9 EUR, Portugal (Cont.): 9 EUR, Finnland: 12 EUR


Wenigstens bin ich mir sicher,<br />

Die erste Seite<br />

was ihren Namen angeht. Sie hieß<br />

Maria Kowalenko, Mascha für ihre Freunde,<br />

und stand, als ich sie zum ersten Mal sah,<br />

auf dem Bahnsteig am Ploschad Revoluzii, dem<br />

Revolutionsplatz. Ich konnte ihr Gesicht kaum<br />

fünf Sekunden lang bewundern, da sie dann<br />

einen kleinen Make-up-Spiegel hervorkramte<br />

und hochhielt. Mit der anderen Hand setzte<br />

sie sich eine Sonnenbrille auf. (…) Ich schaute<br />

sie länger an, als es sich gehörte. (…) Ich bestieg<br />

den Zug, um eine Station weiter zur Haltestelle<br />

Puschkinskaja zu fahren, und stand unter den<br />

gelblichen Paneelen im Licht der uralten Leuchtstoffröhren,<br />

die mich jedes Mal, wenn ich mit<br />

der Metro fuhr, glauben ließen, ich sei ein<br />

Komparse in irgendeinem paranoiden Siebziger-<br />

Jahre-Film mit Donald Sutherland in der Hauptrolle.<br />

(…) Dann hörte ich sie schreien. Sie war<br />

etwa fünf Meter hinter mir und schrie nicht<br />

bloß; sie kämpfte mit einem hageren, Pferdeschwanz<br />

tragenden Mann, der ihr die Handtasche<br />

stehlen wollte (eindeutig eine gefälschte<br />

Burberry), und rief um Hilfe. (…) Anfangs habe<br />

ich nur zugesehen, aber der Mann holte mit der<br />

Faust aus, als wollte er zuschlagen, und hinter<br />

mir hörte ich jemanden brüllen, man solle doch<br />

endlich was unternehmen. Also lief ich zum<br />

Hageren und riss ihn am Kragen zurück. Er gab<br />

die Tasche auf und hieb mit den Ellbogen nach<br />

mir. Ich ließ ihn los. Sekundenschnell war alles<br />

vorbei, und ich hatte ihn nicht einmal genau<br />

zu Gesicht bekommen.<br />

»Spasibo«, sagte Mascha.<br />

›Danke.‹ Sie nahm die<br />

Sonnenbrille ab.<br />

Lesen Sie weiter…<br />

Aus dem Englischen von Bernhard Robben,<br />

288 Seiten, gebunden, € (D) 18,99<br />

Ein Buch von S. FISCHER


SONNTAGS, 20:15 IN BERLIN<br />

AM TATORT<br />

Innenansichten eines TV-Phänomens


C i c e r o | A t t i c u s<br />

Von: <strong>Cicero</strong><br />

An: Atticus<br />

Datum: 30. August 2012<br />

Thema: <strong>Tatort</strong>, Bundestag, Poullain, griechisches Katasteramt<br />

Lauter ungehaltene Reden<br />

Titelbild: Jan Rieckhoff; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

W<br />

er in deutschen GroSSstädten ungestört unterwegs sein möchte, der mache<br />

seine Spritztour sonntagabends nach der Tagesschau. Die Republik steht<br />

still, das Land hält inne, wenn der <strong>Tatort</strong> an die Bildschirme ruft. Die <strong>Tatort</strong>-<br />

Sommerpause ist überstanden – Anlass für <strong>Cicero</strong>, dem gesellschaftlichen Phänomen<br />

des letzten deutschen Straßenfegers auf den Grund zu gehen. Klaus Raab hat sich<br />

zu Süchtigen und Machern begeben (Seite 16). Und Anlass für eine ungewöhnliche<br />

Aktion: Das Heft erscheint mit 20 verschiedenen Titelbildern – in jeder Region mit<br />

den örtlichen Ermittlern im Porträt.<br />

Auch an einem anderen <strong>Tatort</strong> ist die Sommerpause vorüber. Der Bundestag<br />

nimmt seine Arbeit wieder auf und läutet das letzte Jahr der Legislaturperiode vor<br />

der Bundestagswahl im Herbst 2013 ein. Was für eine eigene Welt das hohe Haus<br />

der Volksrepräsentanten ist, hat Michael Frowin vor der Sommerpause erleben dürfen.<br />

Im sonstigen Leben macht sich der Kabarettist über das Schauspiel im Bundestag<br />

lustig. Für zehn Tage verwandelte er sich nun in einen <strong>Cicero</strong>-Reporter, begab sich auf<br />

Expedition ins Plenum und staunte nicht schlecht (Seite 52).<br />

Manchmal hilft es im Leben weiter, sich einfach mal wieder zu melden. Es war<br />

schon lange an der Zeit und bot sich an, im Zuge des Skandals um den Bankenzins<br />

Libor eine kleine Mail an Ludwig Poullain zu schreiben und ihn nach seinem<br />

Befinden und seiner Meinung zur Lage zu fragen. Poullain antwortete prompt und<br />

hängte unverbindlich einen Text an, den er „nur l’art pour l’art, nur für mich, ohne<br />

Fremdzweckbestimmung“ geschrieben habe.<br />

Das machte neugierig. Der Grandseigneur der deutschen Bankenwelt hatte<br />

vor acht Jahren mit einer „Ungehaltenen Rede eines ungehaltenen Mannes“<br />

schon einmal Furore gemacht. Sein Manifest gegen den Sittenverfall der Banken,<br />

seinerzeit abgedruckt in der FAZ, klingt bis heute nach. Auch Poullains neuerliche<br />

Wortmeldung, diesmal in <strong>Cicero</strong> (Seite 90), hat es in sich.<br />

Ins Gericht geht die Fast-Bundespräsidentin Gesine Schwan mit dem Schließlichdoch-Bundespräsidenten<br />

Joachim Gauck, und der frühere Verfassungsrichter Hans<br />

Hugo Klein wagt eine Prognose, wie seine Kollegen in Karlsruhe wohl über den<br />

Rettungsschirm ESM abstimmen werden (Seite 94).<br />

Der Ursache für diesen Riesenrettungsschirm ist Richard Fraunberger<br />

nachgegangen. Seine Odyssee auf der Suche nach dem griechischen Katasteramt<br />

(Seite 76) treibt die Tränen in die Augen – Lachtränen und Tränen der Wut.<br />

Mit besten Grüßen<br />

In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />

der römische Politiker und Jurist<br />

Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />

Freund Titus Pomponius Atticus<br />

sein Herz ausgeschüttet<br />

Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 3


C i c e r o | I n h a l t<br />

Titelthema<br />

16<br />

In mörderischer Gesellschaft<br />

Eine Ermittlung über den <strong>Tatort</strong> als Massenphänomen<br />

von Klaus Raab<br />

30<br />

20 Städte – 20 Cover<br />

Von Kiel bis zum Bodensee: <strong>Cicero</strong> in allen Varianten<br />

von Jan Rieckhoff und Karoline Kuhla<br />

36<br />

War nicht alles schlecht<br />

Was den Polizeiruf 110 vom <strong>Tatort</strong> unterscheidet<br />

von Matthias Dell<br />

28<br />

„Es ist alles zu korrekt“<br />

Der <strong>Tatort</strong>-Ermittler aus Kiel und sein Bonanza-Gefühl<br />

Interview mit Axel Milberg<br />

32<br />

„Ihr quatscht alles kaputt“<br />

Ein Dramolett über die Nöte eines <strong>Tatort</strong>-Autors<br />

von Peter Probst<br />

38<br />

Ach ja, die Quote …<br />

Ein Ex-<strong>Tatort</strong>-Kommissar beklagt mutlose TV‐Macher<br />

von Gregor Weber<br />

Illustration: Wieslaw Smetek<br />

4 <strong>Cicero</strong> 9.2012


I n h a l t | C i c e r o<br />

Soll Joachim Gauck die Krisenpolitik<br />

der Kanzlerin erklären?<br />

56 76<br />

90<br />

Wem gehört hier was? Auf der Suche<br />

nach dem griechischen Katasteramt<br />

Auf tönernen<br />

Füßen: Soll<br />

Deutschland<br />

den Euro<br />

verlassen?<br />

BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE kapital<br />

40 | Der Mutant<br />

Peter Müller muss sich an die rote Robe<br />

des Verfassungsrichters noch gewöhnen<br />

Von Benno Stieber<br />

62 | Chiles Vorzeigefrau<br />

Michelle Bachelet streitet<br />

für Frauen in aller Welt<br />

Von Carlos Widmann<br />

82 | Kläger mit Leseschwäche<br />

Charles Schwab kämpft im Libor-<br />

Skandal gegen das Finanzestablishment<br />

Von Moritz Küpper<br />

42 | Wolfgang und ich<br />

Wie Ingeborg Schäuble ihr Leben<br />

in den Dienst von anderen stellt<br />

Von Georg Löwisch<br />

64 | Merkels letzter Verbündeter<br />

Der niederländische Premier Mark<br />

Rutte bangt um seine Wiederwahl<br />

Von Rob Savelberg<br />

84 | Der Weichmacher<br />

Sein Vater erfand den Brita-Filter,<br />

Markus Hankammer modernisiert ihn<br />

Von Lenz Jacobsen<br />

Fotos: Steffi Loos/DAPD, Bruno Perousse/Hoaqui/Laif; Illustrationen: Robert Zimmermann, Christoph Abbrederis<br />

44 | PreuSSen im Shitstorm<br />

Hermann Parzinger, Chef der Stiftung<br />

Preußischer Kulturbesitz, in der Kritik<br />

Von Alexander Marguier<br />

48 | „Ja, ich habe beschnitten“<br />

Plädoyer für das Ritual der Circumcision<br />

Von Adriana Altaras<br />

49 | Gleiche Regeln für alle<br />

Beschneidung ist Körperverletzung<br />

Von Philipp Blom<br />

52 | Bonbons mit Bundesadler<br />

Wie ein Kabarettist im Reichstag<br />

den politischen Alltag erlebte<br />

Von Michael Frowin<br />

56 | Was der Bundespräsident<br />

jetzt tun sollte<br />

Ein paar kritische Anmerkungen zur<br />

<strong>Am</strong>tsführung von Joachim Gauck<br />

Von Gesine Schwan<br />

59 | Frau Fried fragt sich …<br />

… ob es ihrer Gesundheit zuträglich<br />

ist, sich an Bibelworte zu halten<br />

Von <strong>Am</strong>elie Fried<br />

60 | Zwei Deutsche Sittenbilder<br />

Im Gegensatz zur Politik ist bei Banken<br />

das Prinzip Verantwortung unbekannt<br />

Von Frank A. Meyer<br />

66 | Krieg der Pinocchios<br />

Henrique Capriles Radonski strebt<br />

nach der Macht in Venezuela<br />

Von Karen Naundorf<br />

68 | Korrupte KAder<br />

Was steckt wirklich hinter den<br />

politischen Verwerfungen in Rumänien?<br />

Von Keno Verseck<br />

71 | Rumänisch-ungarische<br />

lektionen<br />

Den beiden EU-Staaten gehört<br />

der Geldhahn zugedreht<br />

Von Alexander Graf Lambsdorff<br />

72 | „Europa muss<br />

mäSSigend einwirken“<br />

Rumänien macht Rückschritte – aber<br />

wir dürfen das Land nicht aufgeben<br />

Von Peter Maffay<br />

76 | Der Kern des Chaos<br />

Auf der Suche nach dem<br />

griechischen Katasteramt<br />

Von Richard Fraunbeger<br />

86 | Superhelden mit<br />

Migrationshintergrund<br />

Naif Al-Mutawa hat für seine Söhne<br />

eine muslimische Comicserie entwickelt<br />

Von Til Knipper<br />

90 | Weiterhin ungehalten<br />

Ein alter Bankier rügt die Kanzlerin<br />

und fordert Deutschlands Euroaustritt<br />

Von Ludwig Poullain<br />

96 | Der Systembruch<br />

Prognose eines ehemaligen Richters zum<br />

anstehenden Karlsruher ESM-Urteil<br />

Von Hans Hugo Klein<br />

98 | Streit beim Panzerbauer<br />

Die KMW-Eignerfamilien liegen im<br />

Zwist – ein Blick hinter die Kulissen<br />

Von Hauke friederichs<br />

102 | Verdi geht in die Kirche<br />

Die Gewerkschaft kämpft gegen das<br />

Sonderarbeitsrecht der Kirchenmitarbeiter<br />

Von Ludwig Greven<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 5


C i c e r o | I n h a l t<br />

cicero online<br />

Salon<br />

104 | die ganze Wahrheit<br />

Alan Hollinghurst soll das schönste<br />

Englisch der Welt schreiben<br />

Von Daniel Schreiber<br />

106 | Lettische Erdbeeren<br />

Die Mezzosopranistin Elīna Garanča<br />

hat gelernt, sich selbst zu retten<br />

Von Eva gesine Baur<br />

128 | Das Opernhaus im Urwald<br />

Provinz mit Weltklasse: Niederbayerns<br />

Kulturwald-Festival sorgt für Furore<br />

Von Eva gesine baur<br />

128<br />

Im Bayerischen<br />

Wald spielt nun<br />

auch die Musik<br />

132 | Bibliotheksporträt<br />

Zu Besuch bei Rainer Moritz, dem Leiter<br />

des Hamburger Literaturhauses<br />

Von Claudia Rammin<br />

Aktuell:<br />

Frage des Tages<br />

Wie steht es um den Abzug<br />

der Truppen aus Afghanistan?<br />

Ist die Beschneidung Teil<br />

der Religionsfreiheit? Jeden<br />

Morgen beantworten wir<br />

Ihnen Fragen zu einem<br />

aktuellen Thema.<br />

www.cicero.de<br />

Debatte:<br />

Religion und Gesellschaft<br />

Die katholische Kirche<br />

steckt in einer Glaubenskrise,<br />

in Deutschland tobt eine<br />

Beschneidungs-Debatte.<br />

Welche Bedeutung hat<br />

die Religion heute noch<br />

für das gesellschaftliche<br />

Zusammenleben?<br />

www.cicero.de/dossier/<br />

religion-und-gesellschaft<br />

108 | Über Vampirbücher<br />

und virtuellen Sex<br />

Der Literaturagent Andrew Wylie kämpft<br />

gegen den Untergang der Hochkultur<br />

Von Huberta von Voss<br />

112 | Prechts Prolog<br />

Warum Deutschland eine noch nie da<br />

gewesene Bildungsrevolution braucht<br />

Von Richard David Precht<br />

114 | Europa, enges Land<br />

Napoleons Russlandfeldzug wirft bis<br />

heute weltgeschichtliche Schatten<br />

Von Konstantin Sakkas<br />

122 | Benotet<br />

In der Hollywood Bowl werden<br />

Träume wahr, auch wenn es regnet<br />

Von Daniel Hope<br />

124 | Man sieht nur, was man sucht<br />

Schon Pieter Bruegel wusste, dass es<br />

schlecht bestellt ist um das Abendland<br />

Von Beat Wyss<br />

126 | Küchenkabinett<br />

Die großen Religionen sorgen auch<br />

in der Küche für kleine Einschnitte<br />

Von Thomas Platt und Julius grützke<br />

136 | Das Schwarze sind die Buchstaben<br />

Der Iran liegt näher an Deutschland,<br />

als man gemeinhin denkt<br />

Von Robin Detje<br />

138 | Die letzten 24 Stunden<br />

Warum sich ein Komiker vor seinem Tod<br />

noch mit Heinz Buschkowsky versöhnt<br />

Von Kurt Krömer<br />

Standards<br />

Atticus —<br />

Von Christoph Schwennicke — seite 3<br />

Forum — seite 10<br />

Impressum — seite 11<br />

Stadtgespräch — seite 12<br />

Postscriptum —<br />

Von Alexander Marguier — seite 140<br />

Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />

erscheint am 27. September 2012<br />

Die Deutschen und ihr Glaube:<br />

Wie halten wir es mit der Religion?<br />

Unterhaltsam: Die<br />

cicero-Online-Mediathek<br />

Neben unserer Karikatur des<br />

Tages finden Sie dort aktuelle<br />

Bildergalerien und Videos.<br />

www.cicero.de/mediathek<br />

Interaktiv:<br />

Die <strong>Cicero</strong>-Online-Umfrage<br />

Wer soll Kanzlerkandidat<br />

der SPD werden? Brauchen<br />

wir eine Reichensteuer? Wir<br />

fragen, Sie antworten.<br />

www.cicero.de<br />

Fotos: Kulturwald festspiele Bayrischer Wald, Gerard Klijn/Joker; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

6 <strong>Cicero</strong> 9.2012


IHRE EXKLUSIVE<br />

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Freude am Fahren<br />

ERKLÄREN,


C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />

Forum<br />

Diesmal geht es um Zeit, Bücher, Europa und Märchenerzähler<br />

„Es lohnt sich.“ Fragt sich bestenfalls<br />

für wen, oder war es gar versteckter<br />

Zynismus?<br />

Hartmut Leubachert, per E-Mail<br />

zum Titelthema „Keine Zeit“<br />

August 2012<br />

Totschläger?<br />

Es ist schon kurios: Da widmen Sie – vermutlich – zusammengenommen viele<br />

Monate Recherchearbeit dem „göttlichen“ Thema Zeit, stellen Beiträge dazu unter<br />

den unterschiedlichsten Gesichtspunkten zusammen – und dann hat man den<br />

Eindruck, dass Sie mit einem einzigen Wort alles wieder zunichtemachen. Was um<br />

Himmels willen hat Sie bewogen, einerseits über die „knappste Ressource der Welt“<br />

zu sinnieren und andererseits Tipps zu geben zum „Zeittotschlagen“? … Schon<br />

Rilke war verstört über den Begriff „Zeit vertreiben“, und Sie wollen die Zeit sogar<br />

totschlagen?<br />

Dieter Bähre, Ibbenbüren<br />

Gute Alte Zeit<br />

gute alte zeit<br />

was war schon gut an dieser zeit<br />

weißt du noch<br />

früher war alles besser<br />

es war die zeit, als spinat noch eisen<br />

enthielt<br />

kleinkinder wurden als paket verschnürt<br />

große kinder hatten ehrfurcht vor den<br />

erwachsenen<br />

alte leute starben rechtzeitig<br />

gute alte zeit<br />

gut, dass sie vorbei ist<br />

Auch wenn ich nicht mit allen Ihren<br />

Aussagen einverstanden bin: ein wichtiges<br />

Thema, ein wichtiges Magazin,<br />

weiter so!<br />

Nachdenkliche Zeitgrüße<br />

Ernst Link, Biebergemünd<br />

zum Interview „Zeit gibt es<br />

nicht“ mit franz Müntefering/<br />

August 2012<br />

Versteckter Zynismus<br />

Als Abonnent erwarte ich von <strong>Cicero</strong>,<br />

gemäß Ihrem Namensgeber, Scharfsinn<br />

und Kompetenz, auch und vor<br />

allem in politischen Fragestellungen. In<br />

vieler Hinsicht bin ich diesbezüglich<br />

positiv überrascht; in puncto „Euro<br />

und Europa“ bin ich jedoch geradezu<br />

enttäuscht von der, entschuldigen Sie,<br />

billigen Mainstreammeinung, die Sie zu<br />

Papier bringen. Der Gipfel, und das ist<br />

symptomatisch für den ganzen Europawahn,<br />

ist das Interview mit Müntefering,<br />

der als einziges Pro für die unsäglichen<br />

Schulden, Verwerfungen, unnötigen<br />

Gefahren und Lasten für die nächsten<br />

fünf Generationen nur sagen kann:<br />

zu den beitrÄgen über europa<br />

und Eurokrise/August 2012<br />

Ungenutzte Zeit<br />

So wie es heute aussieht, ist Europa<br />

weiter denn je davon entfernt, eine<br />

demokratisch verfasste, politisch global<br />

einflussreiche Kraft zu sein. Trotz der<br />

vorgeblichen Beschleunigung der politischen<br />

und wirtschaftlichen Prozesse<br />

hat Europa dafür sehr viel Zeit gehabt<br />

und vertan … Dabei wäre und ist gerade<br />

Deutschland seit Jahrzehnten – bei<br />

aller sinnvollen Zurückhaltung – in der<br />

Lage, ein Grundmodell einer politischen<br />

Gestaltung für ein politisch vereintes<br />

Europa „zur Verfügung“ zu stellen: ein<br />

von allen Bürgern gewähltes europäisches<br />

Parlament, das wiederum eine<br />

europäische Regierung wählt (bezogen<br />

auf die Bevölkerungsstärke nach einem<br />

Mehrheitswahlrecht) und dazu einen<br />

europäischen Rat, in dem die Regierungschefs<br />

der Mitgliedsländer Sitz und<br />

Stimme hätten) … Sicher wäre es ein<br />

durchaus komplizierter und problemhaltiger<br />

Prozess. Wenn man davon absieht,<br />

dass alle Zeichen dafür sprechen, dass<br />

genau das die aktuelle Bundesregierung,<br />

also Angela Merkel, um keinen Preis<br />

will … Der „neue“, aber „verschwiegene“<br />

Nationalismus dominiert und<br />

verhilft der Kanzlerin zu ungeahnter<br />

Popularität. So hat der rechtsradikale<br />

Nationalismus aktuell in Deutschland<br />

keine Notwendigkeit und bleibt noch<br />

politisch wirkungslos. Niemand kann<br />

heute allerdings ausschließen – siehe<br />

Frankreich und anderswo –, dass er im<br />

illustration: cornelia von seidlein<br />

10 <strong>Cicero</strong> 9.2012


künftigen Europa eines Tages die Richtung<br />

bestimmt.<br />

Wieland Becker, Berlin<br />

zum beitrag „Was wir verlieren“<br />

von Thomas Hettche/august 2012<br />

Zu viele Fremdworte<br />

Mal davon abgesehen, dass ich mich der<br />

Meinung des Autors Thomas Hettche<br />

in keinster Weise anschließen kann (wo<br />

bitte schön ist der Unterschied, ob ich<br />

ein Buch lese oder genau dasselbe Buch<br />

auf meinem iPad oder Kindle?), habe<br />

ich den Artikel nicht verstanden. Ist ja<br />

wunderbar, dass der Autor ein berühmter<br />

Schriftsteller ist, aber ist es dann<br />

seine Pflicht, möglichst viele Fremdwörter<br />

aneinanderzureihen? Danke dennoch<br />

für eine wirklich gute Ausgabe, die ich<br />

sehr gerne gelesen habe.<br />

Anna Fischer, St. Georgen (Schwarzwald)<br />

zum beitrag „Natos neue Kleider“<br />

von Florence Gaub/August 2012<br />

Hans christian Grimm<br />

„Des Kaisers neue Kleider“ ist kein<br />

Grimmsches Märchen, sondern ein<br />

Märchen von H. C. Andersen. Das sollte<br />

man eigentlich auch als <strong>Am</strong>erikanerin<br />

wissen, denn sowohl die Märchen der<br />

Brüder Grimm wie die von H. C. Andersen<br />

gehören zur Weltliteratur. So, wie<br />

man als Deutscher wissen sollte, dass<br />

„Tom Sawyer und Huckleberry Finn“<br />

nicht von Hemingway ist. Im Übrigen:<br />

Ich bin erst seit einem knappen Jahr<br />

Ihre Leserin, freue mich aber auf jedes<br />

neue Heft.<br />

Elfriede Müller-Wiener, Darmstadt<br />

(Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.)<br />

Coverwahl<br />

Zwölf Variationen unseres Illustrators Wieslaw<br />

Smetek zum Titelthema „Zeit“ standen zur<br />

Auswahl. Die Mehrheit unserer Leserinnen und<br />

Leser entschied sich per Online-Umfrage für<br />

die gehetzte Kreatur im Uhren-Hamsterrad –<br />

wie die Redaktion. Der Frauenkopf vor<br />

Renaissance-Landschaft belegte Platz zwei.<br />

verleger Michael Ringier<br />

chefredakteur Christoph Schwennicke (V.i.S.d.P.)<br />

Stellvertreter des chefredakteurs<br />

Alexander Marguier<br />

Redaktion<br />

Textchef Georg Löwisch<br />

Ressortleiter Judith Hart (Weltbühne), Til Knipper<br />

(Kapital), Daniel Schreiber (Salon), Constantin Magnis<br />

(Reportagen), Christoph Seils (<strong>Cicero</strong> Online)<br />

politischer Chefkorrespondent Hartmut Palmer<br />

Assistenz der Chefredaktion Ulrike Gutewort<br />

Publizistischer Beirat Dr. Michael Naumann (Vorsitz),<br />

Heiko Gebhardt, Klaus Harpprecht, Frank A. Meyer,<br />

Jacques Pilet, Prof. Dr. Christoph Stölzl<br />

Art director Kerstin Schröer<br />

Bildredaktion Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />

Produktion Utz Zimmermann<br />

Verlag<br />

verlagsgeschäftsführung<br />

Rudolf Spindler<br />

Leitung Vertrieb u. unternehmensentwicklung<br />

Thorsten Thierhoff<br />

Objektleitung Tina Krantz, Anne Sasse<br />

Redaktionsmarketing Janne Schumacher<br />

Abomarketing Mark Siegmann<br />

kommunikation André Fertich<br />

Tel.: +49 (0)30 820 82-517, Fax: -511<br />

E-Mail: presse@cicero.de<br />

grafik Franziska Daxer, Dominik Herrmann<br />

zentrale dienste Erwin Böck, Stefanie Orlamünder,<br />

Ingmar Sacher<br />

herstellung Lutz Fricke<br />

druck/litho Neef+Stumme, Wittingen<br />

nationalvertrieb DPV Network GmbH, Hamburg<br />

leserservice DPV direct GmbH, Hamburg<br />

Hotline: +49 (0)1805 77 25 77*<br />

Anzeigenleitung (verantwortlich)<br />

Jens Kauerauf, Gruner+Jahr AG & Co KG<br />

<strong>Am</strong> Baumwall 11, 20459 Hamburg<br />

Tel.: +49 (0)40 3703-3317, Fax: -173317<br />

E-Mail: kauerauf.jens@guj.de<br />

Service<br />

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<strong>Cicero</strong>-Ausgabe? Ihr <strong>Cicero</strong>-Leserservice hilft Ihnen gerne weiter.<br />

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LAE 2012 93 000 Entscheider<br />

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gründungsherausgeber Dr. Wolfram Weimer<br />

<strong>Cicero</strong> erscheint in der<br />

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<strong>Cicero</strong> erhalten Sie im gut sortierten<br />

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an Bahnhöfen und Flughäfen.<br />

Falls Sie <strong>Cicero</strong> bei Ihrem Pressehändler<br />

nicht erhalten sollten, bitten Sie ihn, <strong>Cicero</strong> bei<br />

seinem Großhändler nachzubestellen. <strong>Cicero</strong> ist<br />

dann in der Regel am Folgetag erhältlich.<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 11


C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />

Das Berliner Flughafendrama wird zur Komödie, eine hessische Linke rettet<br />

einem CDU-Pensionär den Wahlkreis, ein Luxemburger zensiert deutsche<br />

Politiker, und Bücher über mögliche Kanzlerkandidaten verkaufen sich nicht<br />

FLUGHAFENAUSSCHUSS:<br />

LAUTER DORFRICHTER<br />

D<br />

ER UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSS<br />

des Berliner Abgeordnetenhauses,<br />

der das Desaster des Großflughafens<br />

BER untersuchen soll, wird nun bald<br />

nach der Sommerpause seine Arbeit aufnehmen.<br />

Und schon jetzt ähnelt das Projekt<br />

Heinrich von Kleists Lustspiel „Der<br />

zerbrochene Krug“. Lauter kleine Berliner<br />

Dorfrichter sollen einen Skandal aufklären,<br />

in den sie selbst oder ihre Parteifreunde<br />

verwickelt sind. Die Linkspartei saß bis<br />

September im Aufsichtsrat der Flughafengesellschaft<br />

und ist als brandenburgische<br />

Regierungspartei dort immer noch mit<br />

zwei Ministern vertreten. Von den Linken<br />

kritische Ausschuss arbeit zu erwarten, ist so,<br />

als würde man den Verfassungsschutz bitten,<br />

seine Verstrickungen mit dem Rechtsterror<br />

öffentlich und in Eigenregie aufzuarbeiten.<br />

Auch die SPD, Regierungspartei<br />

in Berlin und Brandenburg, wird nicht<br />

allzu viel unternehmen, um die Genossen<br />

im Aufsichtsrat, Klaus Wowereit und Matthias<br />

Platzeck, ins Schwitzen zu bringen.<br />

Die CDU wird sich koalitionstreu geben.<br />

Und selbst aus Bayern wird kein Störfeuer<br />

kommen, solange der CSU‐Verkehrsminister<br />

Peter Ramsauer seinen Staatssekretär<br />

Rainer Bomba nicht aus dem Gremium<br />

abberuft und zum Abschuss freigibt. Bleiben<br />

noch die Grünen, die überall in der<br />

Opposition sitzen. Aber nicht ihnen fiel<br />

der Ausschussvorsitz zu, sondern der Piratenpartei<br />

– die bislang mit allem auffiel,<br />

nur nicht mit politischer Expertise. Deren<br />

neuer Flughafenbeauftragter, Martin<br />

Delius, sitzt in der Klemme. Seine Partei<br />

verlangt Transparenz, sein neues <strong>Am</strong>t Verschwiegenheit.<br />

Also fragte Delius die Piraten<br />

im Internet, wie er mit geheimen Dokumenten<br />

umgehen solle. Ein weiser Tipp<br />

lautete dort: „Julian Assange (Wikileaks)<br />

als Mitarbeiter der Piraten-Fraktion einstellen<br />

und ihm politisches Asyl gewähren.“<br />

Einen Probelauf haben die Piraten<br />

schon gestartet. Sie stellten einen für die<br />

Bauherren wenig schmeichelhaften Sachstandsbericht<br />

zum BER ins Internet. Wowereit<br />

tobte – nicht etwa über die in dem<br />

Bericht kalkulierten Mehrkosten in Milliardenhöhe,<br />

sondern über den Geheimnisverrat.<br />

Inzwischen scheint festzustehen,<br />

dass der angepeilte Eröffnungstermin am<br />

17. März 2013 erneut verschoben werden<br />

muss. Der neue Airport, lästerte der Tagesspiegel,<br />

„ist auf dem besten Weg, der einzige<br />

Flughafen der Welt zu sein, den die Reisenden<br />

für lange Zeit nur auf dem Landweg<br />

erreichen können“. Die Blamage ist perfekt.<br />

Und das Lustspiel der parlamentarischen<br />

Aufarbeitung hat schon begonnen,<br />

bevor sich der Untersuchungsausschuss an<br />

die Arbeit machen konnte. ps<br />

SprachUnterricht<br />

aus Luxemburg<br />

D<br />

er luxemburgische Premierminister<br />

Jean-Claude Juncker hat<br />

zwar auch schon Lobeshymnen<br />

auf die deutsche Bundesregierung und<br />

vor allem auf Angela Merkel gesungen. In<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

12 <strong>Cicero</strong> 9.2012


gürtlerbachmann<br />

„Eine Gesellschaft<br />

braucht Regeln –<br />

die Frage ist nur<br />

wie viele?“<br />

PETER FUNK<br />

Außendienst Vertrieb bei Reemtsma<br />

Wir bei Reemtsma sind der Ansicht, dass jede Gesellschaft Regeln für den<br />

Umgang miteinander braucht. Zu viele Regeln führen jedoch schnell in<br />

eine Verbotskultur. Wir sollten nicht vergessen: Die Selbstbestimmung<br />

des Einzelnen ist ein hohes gesellschaftliches Gut. Reemtsma leistet hier<br />

seinen ganz eigenen Beitrag. So unterstützen wir zum Beispiel mit dem<br />

Reemtsma Begabtenförderungswerk die Ausbildung junger Menschen aus<br />

sozial schwachen Umfeldern. Denn Bildung ist der Schlüssel zu einem<br />

selbstbestimmten Leben. Nur so hat unsere Gesellschaft eine Zukunft.<br />

www.reemtsma.de<br />

WERTE LEBEN. WERTE SCHAFFEN.


C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />

jüngster Zeit fällt er aber eher durch beißende<br />

Kritik auf. Erst hat die Kanzlerin in<br />

der Eurokrise via Interview ihr Fett weggekriegt.<br />

Nun nimmt sich Juncker den Vizekanzler<br />

zur Brust. In dem Buch „Kauderwelsch“<br />

(Lingen-Verlag), das dieser Tage<br />

erscheint und sich mit der Blubb-Sprache<br />

der Politik befasst, rügt Juncker die<br />

Logorrhöe von Wirtschaftsminister Philipp<br />

Rösler (FDP). Manchmal wäre „in der<br />

Politik Schweigen wirklich Gold“, seufzt<br />

Juncker da. Wie angenehm wäre doch die<br />

politisch-mediale Landschaft, wenn jeder<br />

nur dann etwas sagte, wenn er auch<br />

wirklich etwas zu sagen hat, merkt er an.<br />

„Doch zu oft wirken Mikrofone auf Politiker<br />

wie Magneten auf Metall.“ Und<br />

gelegentlich fehlten verständliche Worte.<br />

„Weil nicht verstanden werden soll. Weil<br />

nicht verstanden werden darf. Weil Verständnis<br />

nicht interessiert. Oft auch, weil<br />

nicht verstanden wird.“ Eine Aussage des<br />

deutschen Wirtschaftsministers Philipp<br />

Rösler in der Schlecker-Debatte sei hierfür<br />

ein frappierendes Beispiel: „Jetzt gilt<br />

es für die Beschäftigten – mehr als 10 000<br />

vornehmlich Frauen, einzelne Mütter und<br />

ältere Frauen – schnellstmöglich eine Anschlussverwendung<br />

selber zu finden.“ Der<br />

Begriff „Anschlussverwendung“ sei „nicht<br />

nur ein sprachliches Unding!“, wettert Polit-Sprachpapst<br />

Juncker. Er sage auch viel<br />

über das Welt-, Menschen- und Wirtschaftsbild<br />

desjenigen aus, der es verwendet.<br />

Hört sich so an, als würde sich Juncker<br />

die FDP nicht gerade als Koalitionspartner<br />

wünschen. Gut möglich, dass der wortgewaltige<br />

Euroguppenchef damit inzwischen<br />

schon wieder etwas gemeinsam mit Angela<br />

Merkel hat. swn<br />

k-FRage der SPD:<br />

Der <strong>Am</strong>azon-Check<br />

M<br />

ontag, 9 Uhr 23: Platz 190 838,<br />

Dienstag 19 Uhr 12: Platz<br />

248 294, Donnerstag 15 Uhr 23,<br />

Platz 288 523. Es sind Zahlen, die Peer<br />

Steinbrück Sorgen machen müssten. Eben<br />

erst hat sich der kantige Kandidatenkandidat<br />

via Interview in der Süddeutschen Zeitung<br />

und Schmuseporträt im Stern flächig<br />

zurückgemeldet und Aufmerksamkeit erheischt,<br />

aber an den Bücherbörsen wird er<br />

nicht besser notiert, sondern sackt weiter ab.<br />

Es ist ein wirklich gutes Buch, das der<br />

Journalist Daniel Friedrich Sturm jüngst<br />

erst über den SPD-Spitzenmann vorgelegt<br />

hat. Aber bei diesen Platzierungen<br />

von „Bestsellerrang“ zu sprechen, wie<br />

das <strong>Am</strong>azon auf seiner Homepage tut,<br />

ist schon fast ein bisschen zynisch. Der<br />

einstige Internetbücher- und heutige Allesverkäufer<br />

ist ein ganz guter Seismograf<br />

für Stimmungen. Wenn die beiden<br />

Verlage, die in diesem Herbst auch<br />

noch mit Steinbrück-Biografien auf den<br />

Markt kommen, auf diesen Seismografen<br />

blicken, dürfte ihnen blümerant werden.<br />

Ist es möglich, dass der Mann schon<br />

durch ist, der Hype vorüber?<br />

Da hilft nur ein Kandidatencheck via<br />

<strong>Am</strong>azon weiter. Also: Sigmar Gabriel: „Die<br />

Kraft einer großen Idee“, Rang 948 235.<br />

Sein Jugendwerk (jedenfalls gemessen<br />

am Cover): „Mehr Politik wagen“, Rang<br />

1 088 772. Kein wirklich überzeugender<br />

Hinweis auf großes Interesse an den Thesen<br />

des SPD-Parteichefs.<br />

Jetzt aber: Frank-Walter Steinmeier:<br />

„Mein Deutschland – Wofür ich stehe“,<br />

Rang: 57 028. Da schau her! Das war das<br />

Thesenpapier, mit dem Steinmeier seinerzeit<br />

als Kanzlerkandidat für die SPD<br />

angetreten ist. Hatte der Spiegel eben<br />

doch recht? Steinmeier ante portas? Wollen<br />

jetzt alle wissen, wie der weise Weißhaarige<br />

denkt. Weitersuchen: Frank-Walter<br />

Steinmeier: „Die Biografie“, geschrieben<br />

von Torben Lüthjen. Rang 439 291.<br />

Ein Durchmarsch ist etwas anderes.<br />

swn<br />

Rentner Riesenhuber:<br />

Urgestein mit Sitzfleisch<br />

V<br />

on wegen Rente mit 67! Der<br />

CDU-Abgeordnete Heinz Riesenhuber<br />

wird im Dezember 77.<br />

Und selbstverständlich will das parlamentarische<br />

Urgestein – er ist seit 1976 MdB<br />

und war in Helmut Kohls Kabinett Forschungsminister<br />

– bei der Wahl 2013<br />

abermals kandidieren. In seinem Wahlkreis<br />

Main-Taunus vor den Toren Frankfurts<br />

gibt es zwar ein Grummeln, weil<br />

der alte Herr partout nicht aufhören will.<br />

Aber der umtriebige Multi-Aufsichtsrat<br />

hat dafür gesorgt, dass es keinen jüngeren<br />

Erben für dieses sichere Direktmandat<br />

gibt. Zudem hat er eine unfreiwillige<br />

Wahlhelferin: die Abgeordnete Luc<br />

Jochimsen von der Linkspartei. Die nämlich<br />

dürfte, träte Riesenhuber nicht mehr<br />

an, als erste Alterspräsidentin das neu gewählte<br />

Parlament eröffnen – sie ist gerade<br />

mal drei Monate jünger als Riesenhuber,<br />

der schon 2009 Alterspräsident war und<br />

es sehr gerne auch 2013 wieder werden<br />

möchte. Der Christdemokrat, dessen Markenzeichen<br />

die stets akkurat gebundene<br />

Fliege ist, setzt darauf, dass das Grummeln<br />

seiner Parteifreunde angesichts dieser<br />

Konstellation verstummen wird: Für<br />

stramme hessische CDU-Mitglieder verkörpert<br />

Jochimsen als ehemalige Fernseh-<br />

Chefredakteurin des Hessischen Rundfunks<br />

nämlich das Feindbild schlechthin.<br />

In ihrer Ära war der HR bei den Konservativen<br />

als „Rotfunk“ verschrien. Jochimsen<br />

Alterspräsidentin? Da werden aus Riesenhuber-Kritikern<br />

in der CDU ganz schnell<br />

Riesenhuber-Fans. gom<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

14 <strong>Cicero</strong> 9.2012


EIN REBELL, DER DIE WELT<br />

NICHT ÄNDERN WILL.<br />

PRODUKTION AUSSCHLIESSLICH MIT ERNEUERBAREN ENERGIEN. FÜR UNS DER NÄCHSTE SCHRITT.<br />

Cleve Beaufort ist bereit, ungewöhnliche Wege einzuschlagen,<br />

wenn sie ihn seinem Ziel näher bringen: Die<br />

Herstellung von Autos nachhaltiger zu gestalten. So denkt<br />

Beaufort bei erneuerbaren Energien nicht automatisch an<br />

Sonne, Wind oder Wasser, sondern an eine nahe gelegene<br />

Mülldeponie. Eine Maßnahme, die der Atmosphäre jedes<br />

Jahr 92.000 Tonnen CO 2<br />

erspart. Mithilfe von Turbinen<br />

wird im amerikanischen BMW Werk Spartanburg Methangas,<br />

das in Verrottungsprozessen auf der Mülldeponie<br />

entsteht, in Strom und Warmwasser umgewandelt –<br />

momentan über 50 Prozent des Gesamtbedarfs. Besonders<br />

stolz sind Beaufort und sein Team, dass ihr Modell<br />

mittlerweile auch in anderen Werken umgesetzt wird.<br />

Die BMW Group ist zum siebten Mal in Folge<br />

nachhaltigster Automobilhersteller der Welt.<br />

Erfahren Sie mehr über den Branchenführer<br />

im Dow Jones Sustainability Index auf<br />

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T i t e l<br />

In mörderischer<br />

gesellschaft<br />

Miroslav Nemec<br />

packt als „Kriminalhauptkommissar<br />

Ivo Batic“ auch heiße Eisen an, um<br />

die Aufklärungsquote in München<br />

dem Law-and-Order-Image<br />

des Freistaats anzugleichen<br />

16 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Jeden<br />

Sonntagabend<br />

um 20:15 Uhr<br />

sitzt die halbe<br />

Republik vor<br />

dem Fernseher<br />

und starrt auf<br />

sich selbst.<br />

Denn was in<br />

der populärsten<br />

deutschen<br />

TV‐Reihe<br />

verhandelt<br />

wird, ist nicht<br />

weniger als die<br />

Befindlichkeit<br />

der Nation.<br />

Klaus Raab<br />

hat sich auf<br />

Spurensuche<br />

begeben, um den<br />

erstaunlichen<br />

Erfolg des „<strong>Tatort</strong>“<br />

zu ermitteln.<br />

Und stieß dabei<br />

auf seltsame<br />

Zeugen<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 17


T i t e l<br />

Von Klaus Raab<br />

W<br />

enn sich das Fadenkreuz<br />

aufbaut, das Schlagzeug<br />

einsetzt, wenn der Mann<br />

über den nassen Asphalt<br />

spurtet, kurz: sonntags<br />

zur heiligen Zeit, da muss der SPD‐Politiker<br />

Ralf Stegner manchmal doch zu<br />

einem Termin. Einige Dinge lassen sich<br />

auch vom Sonntag nicht wegorganisieren,<br />

Wahlabende zum Beispiel. Aber zum<br />

Glück, sagt Stegner, gebe es ja noch den<br />

Rekorder. Er zeichnet auf, lückenlos, Blum,<br />

Ballauf, Borowski. Und die alten, Trimmel,<br />

Haferkamp, Schimanski, stehen eh in seinem<br />

Regal. Stegner hat sie alle, 852 Filme,<br />

1970 bis 2012.<br />

Ralf Stegner, Chef der schleswig-holsteinischen<br />

SPD, ist kein Genusspolitiker,<br />

er selbst wirkt im Fernsehen, als hätte er<br />

Büroklammern gefrühstückt. Aber er hat<br />

sich keinen Moment gewundert, dass man<br />

ihn zum <strong>Tatort</strong> befragen will, zu der Beziehung<br />

von Politik, Gesellschaft und dieser<br />

Sendung mit dem ungeheuren Erfolg. Er<br />

hat zu sich nach Hause eingeladen, nach<br />

Bordesholm südlich von Kiel. Stegner hat<br />

eigentlich Urlaub, aber das ist ein Termin,<br />

bei dem er bei sich und seiner Leidenschaft<br />

sein darf, er trägt Poloshirt und<br />

Hausschuhe.<br />

Ralf Stegner, Fraktionsvorsitzender der<br />

SPD im Kieler Landtag, hat sämtliche<br />

<strong>Tatort</strong>-Folgen bei sich im Regal stehen<br />

In der Person Ralf Stegner trifft sich<br />

beides: Als Politiker hat er leidvoll erfahren,<br />

wie schwierig es ist, das Publikum<br />

für sich zu begeistern. Und zugleich gehört<br />

er im Falle des <strong>Tatort</strong>s selber zu den<br />

Begeisterten dieses Krimis, dieser über<br />

die Langstrecke gesehen mit der Tagesschau<br />

erfolgreichsten Sendung des deutschen<br />

Fernsehens. Sechs bis elf Millionen<br />

Zuschauer sehen sie sich an, Sonntag für<br />

Sonntag, Jahr für Jahr, nur unterbrochen<br />

von einer Sommerpause, die aber von<br />

Wiederholungen überbrückt wird und die<br />

jetzt auch schon wieder vorbei ist. Der<br />

<strong>Tatort</strong> ist ein Phänomen. Wie verhält es<br />

sich zwischen ihm und der gesellschaftlichen<br />

Debatte, wie beeinflussen sie sich?<br />

Und warum werden die Zuschauer dieses<br />

Krimis partout nicht überdrüssig?<br />

Aufnahmegerät läuft. Also, Herr Stegner?<br />

„Was an wichtigen Themen in der<br />

Gesellschaft verhandelt wird, kommt im<br />

<strong>Tatort</strong> vor“, sagt er. „Er ist ein Stück Bundesrepublik<br />

Deutschland.“ Ein Satz ist das,<br />

den sich kein Drehbuchautor besser ausdenken<br />

könnte, um einen Politiker als jemanden<br />

einzuführen, der volksnah sein<br />

will und zugleich tief genug im Berufsjargon<br />

verwurzelt ist, um das Land bei der<br />

Staatsform zu nennen. „Die Republik“,<br />

sagt Stegner, „wird darin nicht nur aus<br />

München, Hamburg oder Berlin beschrieben“,<br />

wie sonst üblich, „sondern auch aus<br />

Saarbrücken, Stuttgart, Frankfurt, Münster,<br />

Hannover und, was weiß ich, Ludwigshafen.<br />

Das ist schon Darstellung bundesrepublikanischer<br />

Realität.“<br />

Da ist ein häufig benutztes <strong>Tatort</strong>-<br />

Stichwort: Realität.<br />

Und tatsächlich scheint vieles von<br />

dem, was man sieht, real. Nehmen wir<br />

Kiel. Wenn jemand, der noch nie in der<br />

Stadt war, erklären müsste, wie Kiel ist,<br />

was würde ihm einfallen? Der <strong>Tatort</strong>. Gut,<br />

und dann noch Ralf Stegner. Er hat für<br />

die SPD die Landtagswahl 2009 gegen den<br />

Ministerpräsidenten Peter Harry Carstensen,<br />

CDU, verloren und beim nächsten<br />

Mal in einer SPD-Mitgliederbefragung<br />

gegen den heutigen Ministerpräsidenten<br />

Torsten Albig. Aber man kennt dieses Gesicht.<br />

Wenn Stegner im Fernsehen auftaucht,<br />

weiß man sofort: aha, Kiel. Obwohl<br />

er in Süddeutschland aufwuchs, wo<br />

seine Eltern eine Gastwirtschaft hatten, in<br />

der sie sonntags schon in den siebziger Jahren<br />

den <strong>Tatort</strong> zeigten. Kiel, das ist sein Gesicht,<br />

das sind die Gesichter von Kubicki,<br />

Carstensen, Albig, früher Simonis, noch<br />

früher Engholm und Barschel.<br />

Ansonsten ist da der <strong>Tatort</strong>: Da ist<br />

das Moor im Wald, zu sehen in „Borowski<br />

und das Mädchen im Moor“. Dann<br />

hätten wir da das Meer und irgendwo<br />

Fotos: Wolfgang Wilde (SeiteN 16 bis 17), Anna Mutter<br />

18 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Eva Mattes<br />

geht als „Kriminalhauptkommissarin<br />

Klara Blum“ auch Bodensee-<br />

Bewohnern mit vermeintlich<br />

weißer Weste an die Gurgel<br />

Foto: Wolfgang Wilde<br />

dahinter Schweden; beides weiß man<br />

aus „Borowski und der coole Hund“.<br />

Und dann ist da diese grüne flurbereinigte<br />

Unendlichkeit, wie sie sich im <strong>Tatort</strong>-Fall<br />

„Borowski und der stille Gast“<br />

am 9. September andeutet.<br />

Der <strong>Tatort</strong> macht das Bild von Kiel.<br />

Und nichts von dem, was der <strong>Tatort</strong> zeigt,<br />

ist falsch. Betrachtet man Kiel aus der Totalen,<br />

auf einem Satellitenbild zum Beispiel,<br />

sieht man das, was man in den Filmen<br />

sieht: das Meer vor der Haustür, drum herum<br />

grüne Flächen, und irgendwo Baumansammlungen,<br />

zwischen denen sich ja<br />

wohl irgendwo ein Moor befinden wird.<br />

Schweden ist rechts oben.<br />

Und der <strong>Tatort</strong> macht nicht nur Kiel,<br />

er macht auch Ludwigshafen, Saarbrücken,<br />

Hannover und Leipzig, ab diesem<br />

Herbst Dortmund und von 2013 an Erfurt.<br />

Was weiß man von Konstanz? Dass es dort<br />

grünt und blüht. Der <strong>Tatort</strong> erzeugt Bilder,<br />

die von Soldaten, alleinerziehenden Müttern<br />

und Hartz‐IV‐Empfängern. Es geht<br />

um Menschen und wie sie in ihrer Zeit<br />

und bei sich selbst feststecken. Wie sie reden,<br />

wie sie sich die Hand geben, welche<br />

sozialen Rollen sie spielen, welche Autos<br />

sie fahren, wie sie lieben, wie viel sie saufen<br />

und wie oft sie „Scheiße“ sagen. Was<br />

sie treibt.<br />

Den meisten <strong>Tatort</strong>-Kommissaren, die<br />

überzeichneten Münsteraner Charaktere<br />

vielleicht ausgenommen, würde man daher<br />

zuschreiben, dass sie heute wirklich<br />

da draußen herumlaufen könnten; anders<br />

als zum Beispiel Spiderman oder die<br />

Christine-Neubauer-Figuren, die sich in<br />

Schmonzetten in ihresgleichen verlieben.<br />

<strong>Tatort</strong>-Charaktere, die nicht in die Zeit<br />

gehören, werden abgesetzt, wie Kommissar<br />

Haferkamp, der von 1974 bis 1980<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 19


T i t e l<br />

in Essen ermittelte. Er rauchte filterlose<br />

Roth-Händle und trug schwarze Existenzialisten-Rollkragenpullover<br />

unterm<br />

Trenchcoat. Er war modern – in den Siebzigern.<br />

Deshalb gibt es ihn heute nur noch<br />

als Wiederholung. Und in Ralf Stegners<br />

DVD‐Regal.<br />

Die Frage ist, was passiert, wenn man<br />

näher an die wirkliche Welt heranzoomt.<br />

Zoom auf Stegners Haus, nahe der Kieler<br />

Straße zwischen Bordesholmer See und<br />

Schmalsteder Mühlenteich gelegen. Man<br />

könnte einen Fußball in die Blumen schießen,<br />

könnte die Gartentür öffnen und sich<br />

in den angebauten Wintergarten auf Korbsessel<br />

setzen. Es ist real. Aber jeder Regisseur,<br />

der hier drehen müsste, würde aufheulen:<br />

Dieses Haus ist uneindeutig. Nicht<br />

klein- oder großbürgerlich, Nippes schon,<br />

aber doch wieder nicht so viel, dass es wehtut.<br />

An der Decke hängt ein Kronleuchter,<br />

aber oben wächst das Kabel heraus. Dagegen<br />

haben Häuser im <strong>Tatort</strong> eine eindeutige<br />

Schichtzugehörigkeit, es sieht<br />

dort nach Bahnhofstoilette aus oder nach<br />

Designerkatalog.<br />

Vom <strong>Tatort</strong>, Stegners Leidenschaft, die<br />

zu zeigen sich anbieten würde, um im Film<br />

die Person näherzubringen, die hier lebt, ist<br />

nirgends etwas zu sehen. In seinem Arbeitszimmer<br />

stehen zwar alle <strong>Tatort</strong>e auf DVD<br />

im Regal, aber kaum eine hat ein Originalcover.<br />

Das würde kein Requisiteur durchgehen<br />

lassen.<br />

Ermittlungsergebnis: Die Welt ist keine<br />

Kulisse. Die Welt im <strong>Tatort</strong> schon.<br />

Foto: Wolfgang Wilde<br />

Dominik Raacke<br />

treibt sich als<br />

„Hauptkommissar Till<br />

Ritter“ auch über den<br />

Dächern von Berlin<br />

herum, wenn der<br />

Einsatz es erfordert<br />

20 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Foto: Roland Magunia/DDP Images<br />

Und so mag es also sein, dass all das,<br />

was man im <strong>Tatort</strong> sieht, in der Gesellschaft<br />

vorkommen könnte, umgekehrt aber<br />

stimmt das nicht; es könnte nicht alles, was<br />

man in der Gesellschaft findet, im <strong>Tatort</strong><br />

auftauchen. Das gilt auch für die <strong>Tatort</strong>-<br />

Kommissare; sie würden in einer Fußgängerzone<br />

nicht auffallen, aber 95 Prozent<br />

der Fußgängerzone würden im <strong>Tatort</strong> wie<br />

Fremdkörper wirken.<br />

Nehmen wir Stegner: Dass er Marotten<br />

hat, die <strong>Tatort</strong>-Leidenschaft, dazu seine<br />

Fliegen, das qualifiziert ihn dringend als<br />

Kommissar. Ballauf und Schenk stehen<br />

an einer Kölner Currywurstbude, Stoever<br />

und Brockmöller sangen in Hamburg Lieder,<br />

und Borowksi kämpft in Kiel mit seinem<br />

Passat, den er „Brauner“ nennt wie die<br />

Walküre Helmwige das Pferd im „Ring des<br />

Nibelungen“. Einen Spleen braucht jede<br />

Figur, das macht sie wiedererkennbar.<br />

Stegner hat Eigenheiten, aber sein Beruf<br />

als Politiker wäre ein Grund zur Disqualifikation<br />

als populärer Krimicharakter.<br />

Komplexität, Aktentaschen und Büroklammern<br />

sind zwar real, aber langweilig. Und<br />

Langeweile ist der Tod des Films. Realistisch<br />

gezeichnete Politiker gibt es deshalb<br />

kaum im Krimi. „Wenn Politiker im <strong>Tatort</strong><br />

auftauchen, sind das in der Regel reiche<br />

Staatssekretäre, die große Villen haben,<br />

ihre Frauen betrügen und im Übrigen korrupt<br />

sind“, sagt Stegner. „Die Darstellung<br />

von Politik ist schon eine eigenartige.“<br />

Die Darstellung bundesrepublikanischer<br />

Realität endet im <strong>Tatort</strong> also, wo<br />

sie langweilen würde oder nicht glaubhaft<br />

wäre. Und ein Politiker, der keine korrupte<br />

Drecksau ist, das glaubt im Krimi<br />

kein Mensch.<br />

Der <strong>Tatort</strong> ist demnach kein Spiegel<br />

oder Abbild, er ist eine kulturelle Landkarte.<br />

Besser: eine Sammlung von Landkarten,<br />

ein Atlas. Landkarten bilden die<br />

Landschaft nicht ab, sie verweisen auf sie,<br />

sie sind ihr Modell. Sie vereinfachen, ordnen<br />

als zentral erachtete Aspekte, blenden<br />

aus. Aus der Totalen wirkt das Bild, das<br />

der <strong>Tatort</strong> zeichnet, daher noch wie ein<br />

sachgemäßer Überblick – Kiel liegt am<br />

Meer, Schweden rechts oben. Zoomt man<br />

aber heran, sieht man nicht mehr die Welt,<br />

sondern nur, wie die <strong>Tatort</strong>-Macher auf sie<br />

verweisen.<br />

Berlin. Der Schauspieler Fahri Yardim<br />

kommt mit dem Fahrrad zum Café. Er soll<br />

demnächst ein populärer <strong>Tatort</strong>-Charakter<br />

werden. Der NDR hat ihn engagiert,<br />

um mit Til Schweiger ein Ermittlerduo zu<br />

bilden. Yardim hat einen leicht norddeutschen<br />

Zungenschlag, er redet sofort los.<br />

Wer ist Fahri Yardim? „Ich bin Hamburger“,<br />

sagt er, „schon deshalb ist diese Rolle<br />

für mich eine große Ehre.“ Türkisch? Er sei<br />

Hamburger. Also deutsch? Och, eigentlich<br />

verbinde ihn mit einem Arbeiterkind aus<br />

Frankreich wahrscheinlich mehr als mit einem<br />

deutschen Spitzenbanker. So viel zum<br />

Selbstbild des Schauspielers Yardim.<br />

Gebhard Henke koordiniert bei der<br />

ARD den <strong>Tatort</strong>, damit nicht jedes<br />

Mal der Gärtner der Mörder ist<br />

Yardim wird allerdings nicht Yardim<br />

sein im <strong>Tatort</strong>. Gesucht für seine Rolle<br />

wurde kein Darsteller aus Hamburg, sondern<br />

explizit einer mit türkischem Hintergrund.<br />

Worauf also verweist Fahri Yardim?<br />

In der Zeitung jedenfalls stand, als bekannt<br />

wurde, dass er die Rolle übernimmt: „Tils<br />

Neuer wird ein Türke.“ Yardim ist, genau<br />

wie Schweiger, ein wandelnder Verweis.<br />

Der berühmte Schweiger verweist im <strong>Tatort</strong><br />

auf den Mainstream, Yardim auf eine<br />

gesellschaftliche Gruppe, selbst wenn er<br />

sich gar nicht über sie definiert.<br />

Auch so legt der <strong>Tatort</strong> Ist-Zustände<br />

in der Gesellschaft fest: Eine Gruppe, auf<br />

die ein Sonntagskommissar verweist, gehört<br />

dazu.<br />

Köln. Im Büro von Gebhard Henke<br />

stehen ein Grimme-Preis, ein Deutscher<br />

Fernsehpreis und ein Deutscher Comedypreis<br />

und verweisen darauf, dass hier Fernsehen<br />

nicht geglotzt, sondern gedacht wird.<br />

Henke arbeitet als Fernsehspielchef beim<br />

WDR, im ARD‐Verbund hat er das <strong>Am</strong>t<br />

des <strong>Tatort</strong>-Koordinators. Wenn der vielgliedrig-föderale<br />

Sonntagskrimi einen Kopf<br />

hat, dann ist er das.<br />

Henke nutzt, wenn er vom <strong>Tatort</strong><br />

spricht, als übergeordneten Begriff nicht<br />

„Realität“, sondern das Wort „Kunst“. Während<br />

die fiktionalen Figuren für, zum Beispiel,<br />

Ralf Stegner Transporteure gesellschaftspolitisch<br />

relevanter Geschichten<br />

sind, verhält es sich für Henke andersherum.<br />

Die Oberthemen sind für ihn Oberflächen,<br />

auf denen sich die Charaktere<br />

entwickeln können: „Selbst wenn der Aufhänger<br />

für einen Film ein aktuelles Thema<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 21


T i t e l<br />

Ulrike Folkerts<br />

macht als<br />

„Kriminalhauptkommissarin<br />

Lena Odenthal“ vor<br />

Ludwigshafener Industriekulisse<br />

selten eine schlechte Figur<br />

ist“, sagt er, „sind die Zwänge des Kriminalfilmgenres<br />

viel stärker als das Einklinken<br />

in die Realität. Oft sind die Oberthemen<br />

ja nur ein Rahmen, und die viel größere<br />

Frage ist: Wie schaffen wir darin Raum für<br />

die Figuren?“<br />

Es war im Juni 1981, als die Figur im<br />

<strong>Tatort</strong> die Oberhand über das Problem gewonnen<br />

hat. Damals tauchte Horst Schimanski<br />

auf. Seine Fälle wurden erstmals<br />

komplett aus der Ermittlerperspektive<br />

erzählt. Die erste Einstellung des ersten<br />

Schimanski-<strong>Tatort</strong>s zeigt: ihn. Wie um zu<br />

markieren, dass es sich um einen Bruch<br />

handelte, warf in Minute vier jemand einen<br />

Fernseher aus dem Fenster. Mit Schimanski<br />

zog das literarische Ich in den Sonntagskrimi<br />

ein. „Das Verhalten zum Fall<br />

war bei ihm immer wichtiger als der Fall<br />

selbst“, sagt Hajo Gies, einer der Schimanski-Erfinder,<br />

der als Regisseur 21 <strong>Tatort</strong>e<br />

gedreht hat. Und siehe da: Schimanski zog<br />

die ganze regionale Vielfalt des <strong>Tatort</strong>s mit.<br />

Mit ihm kam der konstante Erfolg, und<br />

Sonntag 20:15 Uhr wurde zum Ritual der<br />

Abendgestaltung.<br />

Die Frage ist, was das dann soll mit<br />

Afghanistan, Müllskandal, Ehrenmord<br />

und Pflegenotstand, mit dem bundesrepublikanischen<br />

Politikkram also, der zwar<br />

nicht in jedem Film aufpoppt, aber doch<br />

in vielen.<br />

Gebhard Henke hat darauf mehrere<br />

Antworten. Erstens: Die Gründerväter,<br />

wie er sie nennt, hätten es so gewollt.<br />

Der <strong>Tatort</strong> wurde erfunden, als man überlegte,<br />

wie man dem ZDF-Erfolg „Der<br />

Kommissar“ etwas entgegensetzen könne.<br />

Die Ursprungserzählung handelt von drei<br />

WDR-Mitarbeitern, dem Redakteur Peter<br />

Märthesheimer, dem Fernsehspielchef<br />

Günter Rohrbach und dem Dramaturgen<br />

Foto: Wolfgang Wilde<br />

22 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Gunther Witte, die laut Henke am entscheidenden<br />

Tag am Decksteiner Weier in<br />

Köln spazieren gingen, alle drei sollen einen<br />

Trenchcoat getragen haben. Wie Kommissar<br />

Haferkamp, der später im WDR-<br />

<strong>Tatort</strong> ermittelte.<br />

Witte hatte die Idee zu einer Regionalkrimireihe<br />

für das Genre des Fernsehspiels,<br />

das sich in den Siebzigern politisch<br />

verstand, und zu der alle ARD-Anstalten<br />

Beiträge leisten sollten. Die Sender brachten<br />

ihre regionale Identität ein, sie setzten<br />

ihre weltanschaulichen Akzente. Das Prinzip<br />

war: Jeder produziert für sich.<br />

Henke glaubt, dass hier, im Anstaltspluralismus<br />

und damit der Unterschiedlichkeit<br />

der Filme, die dieser hervorbringe,<br />

das Erfolgsgeheimnis der Reihe liegt, weil<br />

er „die Vielfalt sichert und auch ein Motor<br />

von Kreativität ist, den man definitiv nicht<br />

hätte, wenn alles aus einem Guss wäre“.<br />

Zweitens hat Henke eine dramaturgische<br />

Antwort: „Ich fände es langweilig,<br />

wenn man die Uhr danach stellen könnte,<br />

dass immer ein Reicher in seiner Villa erschlagen<br />

wird.“ Tatsächlich sind die Möglichkeiten,<br />

warum ein Mörder jemanden<br />

umbringt, begrenzt. Als Motive denkbar<br />

sind etwa Eifersucht, Neid, Eitelkeit oder<br />

Zorn. Oder ein Täter ist psychisch gestört,<br />

dann muss man nicht viel begründen, ein<br />

Irrer darf ja im Krimi immer alles. Oder<br />

aber die Umstände sind schuld, Armut,<br />

Arbeitslosigkeit, mafiöse Strukturen. Und<br />

da sind wir bei der Politik: Sie steigert die<br />

Vielfalt dramaturgischer Möglichkeiten,<br />

der <strong>Tatort</strong> benutzt sie, die Politik eröffnet<br />

ihm Varianten.<br />

Politik im <strong>Tatort</strong> – Henke hat noch<br />

eine dritte Antwort, warum sie stark vertreten<br />

ist. Verkürzt lautet sie: Klar könnten<br />

wir diese Themen weglassen, aber dann<br />

wäre der <strong>Tatort</strong> nicht mehr der <strong>Tatort</strong>, und<br />

da wären wir ja schön blöd.<br />

Das ist natürlich nicht so innovativ,<br />

und deshalb analysiert vermutlich Stegners<br />

Sohn beim Besuch in Bordesholm den<br />

<strong>Tatort</strong> so: „<strong>Am</strong> Anfang gibt es eine Leiche,<br />

am Ende immer eine Auflösung, und dazwischen<br />

lernt man die Kommissare kennen.<br />

Find’ ich langweilig.“ Stegner junior<br />

hat gerade Abitur gemacht, er gehört zu<br />

der Altersgruppe, unter der das Sonntagabendritual<br />

nach einer Allensbach-Befragung<br />

nicht halb so verbreitet ist wie unter<br />

den Zuschauern über dreißig.<br />

Aber der <strong>Tatort</strong> funktioniert wie keine<br />

andere Sendung, und die Fans haben<br />

eine konkrete Vorstellung von der Reihe.<br />

Man sehe das an jüngeren Regisseuren,<br />

sagt Henke; sie würden die Grundverabredung<br />

– der <strong>Tatort</strong> als politisches Fernsehspiel,<br />

in dem gesellschaftliche Realität<br />

verarbeitet werden kann – von Haus aus<br />

kennen, sie hätten ihn schon mit ihren Eltern<br />

geguckt, und man müsse ihnen nicht<br />

mehr erklären, was machbar sei. Der <strong>Tatort</strong><br />

ist eine gesellschaftspolitische Marke auch<br />

einfach deshalb, weil er es ist.<br />

Die Verarbeitung politischer Ereignisse<br />

gelingt dann mal besser und mal<br />

schlechter. In Köln, wo vielleicht der sozialdemokratischste<br />

aller <strong>Tatort</strong>e gedreht<br />

wird, trauern die Ermittler, wenn sie mal<br />

nach Leipzig fahren, ihrem Soli nach, fühlen<br />

sich aber ansonsten wohl, wenn sie in<br />

einen Arbeitskampf geraten. In Bremen,<br />

wo die ehemalige Friedensaktivistin Inga<br />

Lürsen ermittelt, kämpft man bisweilen<br />

mit der großen Weltbedrohung, mal mit<br />

„Das Verhalten<br />

zum Fall war<br />

bei ihm immer<br />

wichtiger als<br />

der Fall selbst“<br />

Regisseur Hajo Gies über Schimanski<br />

Satan-, mal mit Islam-, mal mit Terroristen,<br />

der Bremer ist der -ismus-<strong>Tatort</strong>. In<br />

Konstanz lotet die innerlich gespaltene<br />

Klara Blum aus, was ein Staatsdiener tut,<br />

wenn er an die Grenzen seiner Befugnisse<br />

stößt.<br />

In diesem Spätsommer bekommen es<br />

Ballauf und Schenk mit Afghanistan-Rückkehrern<br />

zu tun, Flückiger in Luzern mit<br />

Immobilienhaien, Borowski mit einem Serientäter<br />

und Lürsen in Bremen mit einem<br />

Geiselnehmer.<br />

Es gibt aber Jahre, 2008 war so eines,<br />

in denen fast jeder Film auf einer politischen<br />

Folie spielt. Manche nervt das. Als<br />

bei „Walulis sieht fern“, einer 2012 mit<br />

dem Grimme-Preis ausgezeichneten Comedyreihe,<br />

einmal „der typische <strong>Tatort</strong> in<br />

123 Sekunden“ nachgespielt wurde, fragte<br />

der Kommissar-Parodist seine Kollegin in<br />

ihrem Metagespräch über die Reihe: „Sag<br />

mal, haben wir eigentlich schon ein Ereignis<br />

von gesellschaftlicher Relevanz?“<br />

Und sie: „Du meinst den verkrampften<br />

sozialkritischen Einschlag? Kommt jetzt:<br />

Atomlobby.“<br />

Der Regisseur Hajo Gies sagt: „Der<br />

<strong>Tatort</strong> wird immer Themen aufgreifen,<br />

von denen er annimmt, dass sie ankommen.<br />

Man kann sicher sein, dass man<br />

das, was man im Spiegel oder Stern der<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 23


T i t e l<br />

letzten Woche gelesen hat, ein Jahr später<br />

als <strong>Tatort</strong> in der ARD wiederfindet.“<br />

Wenn man kurz mal eine Suchmaschine<br />

bemüht, sieht man: keine allzu unverschämte<br />

Zuspitzung.<br />

2003 sind Blutdiamanten Thema in<br />

den Medien; 2006 läuft ein WDR-<strong>Tatort</strong><br />

namens „Blutdiamanten“. 2007 wird an<br />

der Charité ein Forschungsprojekt zu Pädophilie<br />

abgeschlossen; zwei <strong>Tatort</strong>e 2008<br />

handeln von pädophilen Männern. Soldaten<br />

mit posttraumatischem Belastungssyndrom<br />

sind 2009 immer wieder in der<br />

Presse. 2011 sieht man traumatisierte Afghanistan-Rückkehrer<br />

im Saarbrücker,<br />

2012 einen traumatisierten Kriegsfotografen<br />

im Leipziger <strong>Tatort</strong>. 2010 kauft Nordrhein-Westfalen<br />

seine erste CD mit Kundendaten<br />

der Bank Credit Suisse; 2012<br />

handelt „Schmuggler“ aus Konstanz vom<br />

Geldtransfer über die Schweizer Grenze.<br />

Knapp eineinhalb Jahre dauere es von<br />

der Idee bis zur Ausstrahlung, sagt Gebhard<br />

Henke, der <strong>Tatort</strong>-Koordinator.<br />

Zwischen Dezember 2007 und Januar<br />

2009, ein bis zwei Jahre nach dem<br />

Streit um die Mohammed-Karikaturen<br />

also, senden verschiedene ARD-Anstalten<br />

gleich fünf <strong>Tatort</strong>e, in denen islamische<br />

Protagonisten auftauchen. In allen<br />

geht es, es wirkt im Nachhinein fast wie<br />

eine Kampagne, um Ehrenmord, Zwangsheirat<br />

oder Patriarchat. „Das war wie eine<br />

unterirdische Verabredung“, sagt Henke,<br />

„man merkte, das ist ein Stoff, auf den<br />

viele Autoren fast gleichzeitig angesprungen<br />

sind. In dem Moment, in dem man<br />

die Häufung realisierte, waren sie schon<br />

produziert. Das ist der Preis des föderativen<br />

Systems, in dem man nicht jeden<br />

Schritt abstimmt. Aber daraus lernen wir<br />

natürlich.“<br />

Bekannt ist schon jetzt, dass es die<br />

neuen Saarbrücker Ermittler um Kommissar<br />

Jens Stellbrink, gespielt von Devid<br />

Striesow, 2013 mit der Rockergang Dark<br />

Dogs zu tun bekommen und einem Mord,<br />

der an reale Fälle von 2010 und 2011 erinnert,<br />

in die Mitglieder der Hells Angels<br />

verwickelt waren.<br />

Die These liegt daher nahe, dass das,<br />

was der <strong>Tatort</strong> tatsächlich spiegelt, die Medienagenda<br />

des jeweiligen Vorjahrs ist. Die<br />

Frage, ob ein <strong>Tatort</strong> einen direkten politischen<br />

Zweck verfolge, wäre damit geklärt:<br />

in der Regel nicht. Dafür kommen die<br />

Filme zu spät.<br />

Was nicht heißen soll, dass im <strong>Tatort</strong><br />

nie klare politische Positionen vertreten<br />

würden.<br />

Der 2008 ausgestrahlte Film „Salzleiche“,<br />

der im Wendland spielt, kommentierte<br />

die Atompolitik, indem eine Leiche,<br />

Harald Krassnitzer<br />

ermittelt als<br />

„Chefinspektor Moritz<br />

Eisner“ auch gerne mal<br />

im Wiener Untergrund<br />

24 <strong>Cicero</strong> 9.2012


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Foto: Wolfgang Wilde<br />

die in einem Salzhügel vergraben war, an<br />

der Oberfläche auftauchte – was, worauf<br />

Regisseurin Christiane Balthasar hinweist,<br />

unmöglich wäre, wenn stimmen würde,<br />

was Atomenergiebefürworter sagen: dass<br />

das Salz nie wieder hergibt, was es einmal<br />

einschließt.<br />

Ob Endlager, Rockerbanden oder<br />

Zwangsheirat: Bei allen Themen, die wiederkehren,<br />

wirkt der <strong>Tatort</strong> wie ein Verstärker:<br />

Der erste Anlass mag vorüber sein,<br />

aber beim nächsten Mal, wenn es wieder<br />

um das Verbot von Hells Angels oder Gorleben<br />

geht, hat man schon Bilder vor Augen.<br />

Der <strong>Tatort</strong>, der auf einer Folie spielt,<br />

kann dann selbst die Folie der nächsten<br />

Debatte zum Thema werden und die ersten<br />

Assoziationen liefern.<br />

Aber auch wenn der <strong>Tatort</strong> ein größeres<br />

Publikum für ein Thema emotionalisieren<br />

kann, vermag er es nicht, ein Thema<br />

zu setzen und sogar direkt etwas zu bewirken.<br />

Der einzige Spielfilm, von dem er<br />

wisse, dass er kausal etwas verändert habe,<br />

sei „Contergan“ vom WDR gewesen, sagt<br />

Gebhard Henke – danach seien die Renten<br />

der Geschädigten erhöht worden. Dass<br />

aber der <strong>Tatort</strong> die Welt eins zu eins verändere,<br />

glaube er nicht.<br />

Ermittlungsergebnis: Der <strong>Tatort</strong> nimmt<br />

am Gesellschaftsgespräch teil. Aber er kann<br />

kein Thema auf die Agenda setzen.<br />

Wir sind da wieder bei Ralf Stegner. Er<br />

ist als Politiker in der Lage, etwas zu bewirken,<br />

das der <strong>Tatort</strong> nicht kann. Er kann<br />

„Unterhaltung<br />

ist eine extrem<br />

gute Sache, um<br />

Themen zu<br />

transportieren“<br />

Politiker Ralf Stegner über die <strong>Tatort</strong>-Mission<br />

sich zum Beispiel mit anderen SPD-Linken<br />

zusammentun und ein Steuerkonzept formulieren.<br />

Das wäre eine Tat mit Ziel, vielleicht<br />

sogar mit Ergebnis. Der <strong>Tatort</strong> hat<br />

selten ein konkretes Ziel, außer ein möglichst<br />

guter Film zu sein. Was schreibt Stegner<br />

dem <strong>Tatort</strong> dann eigentlich zu? Was<br />

will er von ihm?<br />

Stegner sagt: „Unterhaltung ist eine extrem<br />

gute Sache, um Themen zu transportieren,<br />

insbesondere solche, die einem auch<br />

an die Nieren gehen. Also ich wette, dieser<br />

Afghanistan-Film hat Leute dazu gebracht,<br />

über den Kriegseinsatz nachzudenken,<br />

die das sonst nicht getan hätten.“ Der<br />

<strong>Tatort</strong> und seine fiktionalen Charaktere als<br />

erfolgreicher Vermittler institutionalisierter<br />

Politik.<br />

Die Frage ist, von wem sich die Zuschauer<br />

am liebsten etwas vermitteln lassen.<br />

Während der echte Polizist eine Wächterfunktion<br />

ausübt, hat der Fernsehkommissar<br />

eine andere Funktion: Er führt<br />

die Zuschauer über unbekanntes Terrain.<br />

Fernsehkommissare sind keine Polizisten.<br />

Sie sind Mischungen aus Entertainern und<br />

Ethnologen, die Mikrokosmen erkunden,<br />

mit einer mal sechs, mal elf Millionen Studenten<br />

umfassenden Seminargruppe.<br />

Manche Zuschauer vertrauen sich gern<br />

einer mütterlichen Klara Blum an. Die anderen<br />

folgen lieber einem alleinerziehenden<br />

Vater, wie ihn Til Schweiger bald geben<br />

soll. Oder darf’s eine alleinerziehende Mutter<br />

sein, wie sie Maria Furtwängler erfolgreich<br />

spielt? Oder eine Kommissarin und<br />

ein Kommissar – denen man ansieht, dass<br />

aus ihrer Familie mal jemand eingewandert<br />

ist – , wie sie Aylin Tezel im Herbst<br />

in Dortmund und Fahri Yardim 2013 in<br />

Hamburg verkörpern?<br />

Mit dem Hamburger Undercoveragenten<br />

Cenk Batu, gespielt von Mehmet Kurtulus,<br />

wollten sich zu wenige Zuschauer<br />

identifizieren. Schlechte Quote. Weil er<br />

ein Türke ist? Fahri Yardim, der nun einen<br />

der Hamburger Parts übernimmt, sagt:<br />

„Der Gedanke kommt mir auch, blöderweise,<br />

aber aus einer gewissen Impulsgewohnheit:<br />

Oh, irgendwas läuft nicht gut,<br />

und da kommt ein Türke drin vor, könnte<br />

man da stillen Rassismus vermuten, der<br />

sich in Desinteresse äußert?“ Die Antwort<br />

aber laute: nein. „Cenk Batu hat, glaube<br />

ich, eher deswegen nicht funktioniert, weil<br />

er vielen Leuten nicht traditionell genug<br />

<strong>Tatort</strong> war. Das Konzept des Undercovermanns,<br />

der da alleine in den Untergrund<br />

eintaucht, da fehlte womöglich etwas, was<br />

man sehr gerne sieht – dieses Geplänkel<br />

zwischen zwei Kollegen.“<br />

Was aber ist mit ihm, Fahri Yardim, der<br />

keinen Undercoveragenten spielt? Der im<br />

Casting ausgewählt wurde, weil er einen<br />

türkischen Hintergrund hat? Ist er damit<br />

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9.2012 <strong>Cicero</strong> 25


T i t e l<br />

Top 30<br />

Das TAtort-Ranking<br />

Mehr als 800 Folgen sind in den vergangenen 42 Jahren<br />

gelaufen. Manche waren schon am Montag darauf<br />

vergessen, andere sind Klassiker geworden. Eine Hitliste<br />

Rang Titel Ermittler Regie/Drehbuch Sender Erstsendung<br />

1 Nie wieder frei sein Batic, Leitmayr Christian Zübert/ BR 19. 12. 2010<br />

Dinah Marte Golch<br />

2 Kurzschluss Finke, Jessner Wolfgang Petersen/ NDR 07. 12. 1975<br />

Herbert Lichtenfeld<br />

3 Der oide Depp Batic, Leitmayr Michael Gutmann/ BR 27. 04. 2008<br />

Alexander Adolph<br />

4 Reifezeugnis Finke, Franke Wolfgang Petersen/ NDR 27. 03. 1977<br />

Herbert Lichtenfeld<br />

5 Borowski und die Frau am Fenster Borowski, Brandt Stephan Wagner/ NDR 02. 10. 2011<br />

Sascha Arango<br />

6 Schwarzer Advent Batic, Leitmayr Jobst Oetzmann/ BR 08. 11. 1998<br />

Christian Limmer<br />

7 Weil sie böse sind Dellwo, Sänger Florian Schwarz/ HR 03. 01. 2010<br />

Michael Proehl<br />

8 Ein mörderisches Märchen Batic, Leitmayr Manuel Siebenmann/ BR 04. 03. 2001<br />

Daniel Martin Eckhart<br />

9 Herzversagen Dellwo, Sänger Thomas Freundner/ HR 17. 10. 2004<br />

Thomas Freundner,<br />

Stephan Falk<br />

10 Herz aus Eis Blum, Perlmann Ed Herzog/<br />

SWR 22. 02. 2009<br />

Dorothee Schön<br />

11 Blechschaden Finke, Jessner Wolfgang Petersen/ NDR 13. 06. 1971<br />

Herbert Lichtenfeld<br />

12 Morde ohne Leichen Kant, Varanasi, Wolfgang Murnberger ORF 19. 05. 1997<br />

Fichtl, Maier<br />

13 Abschaum Lürsen, Stedefreund Thorsten Näter Radio 04. 04. 2004<br />

Bremen<br />

14 Der glückliche Tod Odenthal, Kopper Aelrun Goette/ SWR 05. 10. 2008<br />

André Georgi<br />

15 Der dunkle Fleck Thiel, Prof. Boerne Peter F. Bringmann/ WDR 20. 10. 2002<br />

Stefan Cantz,<br />

Jan Hinter<br />

16 Außer Gefecht Batic, Leitmayr Friedemann Fromm/ BR 07. 05. 2006<br />

Christian Jeltsch<br />

17 Hitchcock und Frau Wernicke Stark, Ritter Klaus Krämer RBB 24. 05. 2010<br />

18 Schatten Lürsen, Stedefreund Thorsten Näter Radio 28. 07. 2002<br />

Bremen<br />

19 Kindstod Ballauf, Schenk Claudia Garde/ Edgar WDR 17. 06. 2001<br />

von Cossart<br />

20 Kein Entkommen Eisner, Fellner Fabian Eder/Fabian ORF 05. 02. 2012<br />

Eder, Lukas Sturm<br />

21 Wolfsstunde Thiel, Prof. Boerne Kilian Riedhof/ WDR 09. 11. 2008<br />

Kilian Riedhof,<br />

Marc Blöbaum<br />

22 Bitteres Brot Blum, Perlmann Jürgen Bretzinger/ SWR 18. 01. 2004<br />

Dorothee Schön<br />

23 Wo ist Max Gravert? Dellwo, Sänger Lars Kraume HR 17. 04. 2005<br />

24 Kinder der Gewalt Ballauf, Schenk Ben Verbong/<br />

WDR 02. 05. 1999<br />

Ben Verbong, Edgar<br />

von Cossart<br />

25 Vermisst Odenthal, Kopper Andreas Senn/ SWR 11. 10. 2009<br />

Christoph Darnstädt<br />

26 Norbert Batic, Leitmayr Nikolaus Stein von BR 28. 11. 1999<br />

Kamienski/Harald<br />

Göckeritz<br />

27 Der traurige König Batic, Leitmayr Thomas Stiller/ BR 26. 02. 2012<br />

Magnus Vattrodt,<br />

Jobst Oetzmann<br />

28 Bienzle und sein schwerster Fall Bienzle, Gächter Hartmut Griesmayr/ SWR 25. 02. 2007<br />

Felix Huby<br />

29 Transit ins Jenseits Schmidt, Hassert Günter Gräwert/ SFB 05. 12. 1976<br />

Günter Gräwert,<br />

Jens‐Peter Behrend<br />

30 Wir sind die Guten Batic, Leitmayr Jobst Oetzmann/<br />

Jobst Oetzmann<br />

Magnus Vattrodt<br />

BR 13. 12. 2009<br />

Quelle: www.tatort-fundus.de<br />

eine Art Alibitürke, der, egal was er tut,<br />

vor allem einen Migrationshintergrund<br />

haben muss? „Das ist eine Thematik, mit<br />

der ich öfter konfrontiert werde“, sagt er,<br />

„aber die geht mir schon echt auf den Sack.<br />

Ich glaube, es ist einfach ein schönes Symbol<br />

für urbanes Leben. Das, was vielleicht<br />

noch irgendwo als exotisch gilt, als Selbstverständlichkeit<br />

zu erzählen, das bildet<br />

Großstadt schön ab.“<br />

Trotzdem projiziert am Ende jeder Zuschauer<br />

in seine Figuren, was er mag, empfindet<br />

Zu- oder Abneigung. Bildet sich<br />

Werturteile. Im besten Fall öffnen fiktionale<br />

Fernsehcharaktere damit Welten, im<br />

schlechtesten reproduzieren sie Vorurteile.<br />

An den Figuren kann man jedenfalls ablesen,<br />

in welcher Gesellschaft wir leben.<br />

Auch an der Ermittlerin Conny Mey<br />

etwa, die Nina Kunzendorf in Frankfurt<br />

spielt: In ihr manifestiert sich eine Genderdebatte<br />

der Gegenwart. Sie ist eine<br />

Frau, erkennbar im Arbeitermilieu aufgewachsen,<br />

die in erstaunlich engen Jeans<br />

ausführlich Flure entlanggeht und von einem<br />

Kollegen zu hören bekommt, sie solle<br />

lieber im Nagelstudio anfangen. Ist es sexistisch,<br />

sie ständig von hinten zu zeigen?<br />

Oder verweist ihr Hintern, da er zu dieser<br />

behänden, impulsiven und hartnäckigen<br />

Frauenfigur gehört, darauf, dass enge<br />

Jeans und Nagellack nicht gleich dumme<br />

Nuss bedeuten? Tatsache ist: Darüber<br />

wird debattiert.<br />

Bordesholm. Ralf Stegner sagt, wenn er<br />

es sich aussuchen dürfte, wäre er am liebsten<br />

Borowski. Grummelig, aber mit Tiefgang.<br />

Auf eine schüchterne Weise hat er<br />

damit erklärt, wie er selbst gesehen werden<br />

möchte.<br />

Ein bisschen wie ein Sonntagabendkommissar,<br />

das wäre womöglich gern<br />

manch ein Politiker. Es sind Identifikationsfiguren,<br />

denen Millionen vertrauen –<br />

was damit zu tun hat, dass sich Politiker<br />

90 Minuten nach Beginn ihrer Arbeit gerade<br />

den zweiten Sitzungskeks nehmen. Die<br />

Kommissare dagegen haben nach 90 Minuten<br />

eine Lösung gefunden. Abspann, Musik,<br />

die neue Woche kann beginnen. Die Probleme<br />

der alten sind gelöst.<br />

Klaus Raab ist Reporter<br />

und lebt in Berlin. Er schreibt<br />

unter anderem für das<br />

Magazin Wired. Sein erster<br />

Lieblingskrimi war Columbo<br />

Foto: privat (Autor)<br />

26 <strong>Cicero</strong> 9.2012


v<br />

iPhone App<br />

www.berlinartweek.de


T i t e l<br />

„Es ist alles zu korrekt“<br />

Axel Milberg, bekannt als Charakterschädel Borowski, über mangelnden Mut im deutschen<br />

Staatsfernsehen, den <strong>Tatort</strong> als Sucht und sein persönliches „Bonanza“-Gefühl<br />

H<br />

err Milberg, ich erhoffe mir<br />

von diesem Gespräch Heilung,<br />

mindestens Aufschluss. Ich tue<br />

es jeden Sonntagabend mit meiner Frau,<br />

danach sind wir meistens enttäuscht und<br />

tun es trotzdem am nächsten Sonntag<br />

wieder, freuen uns schon ab Samstag<br />

darauf. Was ist da los bei uns?<br />

Dann sind Sie also einer von denen.<br />

Ja, ich gestehe lieber gleich zu Anfang, es<br />

hilft ja nichts. Was passiert da?<br />

Das müssen Sie mir beantworten. Sie<br />

müssen Ihre Krankheit nicht nur benennen,<br />

sondern auch sagen, wie es dazu<br />

kam. Wo haben Sie sich angesteckt? Nehmen<br />

Sie etwas ein?<br />

Keine Medikamente, nein. Angesteckt?<br />

Keine Ahnung. Ich habe inzwischen andere<br />

mit angesteckt. Meine Frau beispielsweise,<br />

die sich jahrelang gesträubt hat, ist<br />

auch infiziert.<br />

Suchen Sie vielleicht Halt? Halt im Taumel<br />

der verrinnenden Zeit. Ich schlage<br />

doch der vergehenden Zeit ein Schnippchen,<br />

indem ich mir Konstanten in meinem<br />

Leben erhalte, und dazu gehören das<br />

Ritual X und die Übung Y. Oder eben der<br />

<strong>Tatort</strong> am Sonntagabend. Man will nicht<br />

wahrhaben, dass das Wochenende zu<br />

Ende geht. <strong>Am</strong> Sonntagmittag haben wir<br />

das Gefühl, es sei schon Montag.<br />

Aber das würde ja bedeuten, es ist mehr<br />

der Sendeplatz als das Format <strong>Tatort</strong>, das<br />

Millionen vor den Fernseher holt.<br />

Es ist vor allem die Regelmäßigkeit. Als<br />

ich ein kleiner Junge war, gab es einen<br />

Pflichttermin die Woche: Mittwoch,<br />

18:15 Uhr, Bonanza auf dem Sofa meiner<br />

Großmutter. Meine Eltern hatten keinen<br />

Fernseher. Ich schaute in eine fremde<br />

Welt hinein, wie durch ein umgedrehtes<br />

„Wo haben Sie sich angesteckt?“: Axel Milberg als <strong>Tatort</strong>-Therapeut<br />

Fernglas auf etwas, das ganz weit weg ist –<br />

<strong>Am</strong>erika! Immer scheint die Sonne, die<br />

Guten hier, die Bösen da, Pferde, ein Vater<br />

mit drei Söhnen. Meine Großmutter<br />

mochte den Hoss besonders gern, aber<br />

auch Little Joe, in den war sie verknallt,<br />

und dazu der vernünftige Adam – alle<br />

längst tot. Bonanza, das war ein Ritual.<br />

So wie heute der <strong>Tatort</strong>.<br />

Wir hatten eine norwegische Gasttochter<br />

für ein Jahr, 18 Jahre alt, die hat erst gefremdelt<br />

mit dem sehr deutschen Spargel<br />

und ihn dann geliebt. Und sie hat von<br />

Anfang an gefremdelt mit dem <strong>Tatort</strong> und<br />

bis zum Ende nicht verstanden, warum<br />

wir da jeden Sonntag sitzen. Ist der <strong>Tatort</strong><br />

vielleicht zu deutsch für eine Norwegerin?<br />

Oder zu diffus, zu verschieden.<br />

Ich finde die qualitativ auch sehr<br />

unterschiedlich – denken Sie mal an<br />

Hamburg, da hat man versucht, das moderner<br />

zu erzählen mit Mehmet Kurtulus.<br />

Oder der Kieler <strong>Tatort</strong>, den wir nach<br />

Finnland verkauft haben, der war extravagant,<br />

den wollten die Finnen haben.<br />

Wir müssten mehr wagen. Ich habe<br />

Wolfgang Petersen, der in den siebziger<br />

Jahren in Kiel gedreht hat, neulich gefragt,<br />

ob er sich vorstellen kann, dort erneut<br />

zu drehen. Mir war natürlich vollkommen<br />

klar, er ist in Hollywood, hat<br />

Etats von 120 Millionen Dollar. War mir<br />

aber wurscht.<br />

Und was hat er gesagt?<br />

Er hat nachgedacht, er hat mich lange<br />

angeschaut, gelächelt, er hat gesagt, sein<br />

Sohn, der in Hamburg lebt, habe schon<br />

mal versucht, ein Buch für den Kiel-<strong>Tatort</strong><br />

Foto: Gerald von Foris<br />

28 <strong>Cicero</strong> 9.2012


unterzubringen. Wurde abgelehnt. Aber,<br />

wenn er so darüber nachdenke, nein, er<br />

glaubt doch eher nicht, nein.<br />

Petersen hat schon <strong>Tatort</strong>e gemacht.<br />

Ja, drei oder vier mit Kommissar<br />

Finke, gespielt vom herrlichen Klaus<br />

Schwarzkopf. Ich habe ihm vorgeschlagen:<br />

Stell dir vor, aus einer deiner Folgen<br />

kommt ein Mörder nach 30 Jahren erfolgreich<br />

therapiert frei, und der taucht<br />

bei mir jetzt wieder auf. Da wäre so viel<br />

an Brückenschlag denkbar gewesen, von<br />

damals zu heute! Aber Wolfi wollte leider<br />

nicht.<br />

Schauen Sie die alten <strong>Tatort</strong>e an?<br />

Ja, klar. Das macht mir richtig Spaß.<br />

Durch diesen zeitlichen Abstand lernt<br />

man viel über die Bundesrepublik und Sozialgeschichte<br />

– Koteletten, Hosen mit<br />

Schlag, wie die Menschen gesprochen<br />

haben, ihre soziale Struktur. Auch, wie<br />

man sich damals beschimpft hat: „Gib<br />

die Knarre her!“ – „Du bist ein Ganove!“<br />

Niedlich. Heute sagen wir doch: „Fick<br />

dich doch, du Wichser“ oder irgend so<br />

was. Und damals gab es noch Moneten<br />

oder die Spritze, ja, statt Pistole haben<br />

sie Spritze gesagt und sind sich unglaublich<br />

frivol dabei vorgekommen. Und das<br />

macht dann Spaß, das wieder anzugucken.<br />

Wobei der <strong>Tatort</strong> der Realität doch hinterherhinkt.<br />

In Deutschland war das Wort<br />

Scheiße schon zehn Jahre länger salonfähig,<br />

bis es Schimanski das erste Mal im<br />

<strong>Tatort</strong> in den Mund nahm.<br />

Ja, es ist alles immer noch viel zu korrekt.<br />

Wir dürfen heute im öffentlich-rechtlichen<br />

Fernsehen, oder wie Thomas Platt sagen<br />

würde: im Staatsfernsehen, nicht mehr<br />

rauchen, und wir müssen auch immer angeschnallt<br />

sein. Vier Typen qualmend in<br />

einer DS, und dann die Verfolgungsjagd<br />

ohne Gurt wie in einem Film Noir – undenkbar<br />

im deutschen Staatsfernsehen!<br />

Ist der <strong>Tatort</strong> politisch?<br />

Wenn er will, schon. Er kann dann Anregungen<br />

und auch Verstörung in die Gesellschaft<br />

tragen. Primär ist aber, dass<br />

man spannende Unterhaltung macht.<br />

Das heißt, politische Themen, wenn sie<br />

denn vorkommen, sind Vehikel, ein dramaturgisches<br />

Mittel und kein Impetus?<br />

Wir klammern aktuelle politische Themen<br />

nicht aus, wenn wir uns davon eine<br />

gute Geschichte versprechen. Aber wenn<br />

ein korrupter Minister in einem <strong>Tatort</strong><br />

verhaftet wird oder ein Mörder ist, ist es<br />

ein korrupter Minister, der einen Mord<br />

begangen hat, aber deswegen sind nicht<br />

alle Minister Schweine. Wenn ein Angler<br />

ein Mörder ist, dann sind nicht die<br />

Angler gemeine Mörder. Was auch so<br />

öde ist in Deutschland: Wenn es politisch<br />

wird, ist es meistens gleich auch<br />

pädagogisch und erzieherisch. Dass wir<br />

„Bonanza, das war<br />

ein Ritual, ein<br />

Pflichttermin, so<br />

wie der <strong>Tatort</strong><br />

auch. Er gibt Halt<br />

im Taumel der<br />

verrinnenden Zeit“<br />

es mal hinkriegen und das voneinander<br />

lösen, diese siamesischen Zwillinge –<br />

politisch ist gleich auch erzieherisch –,<br />

das wäre geil. Aber das geht offenbar nur<br />

anderswo.<br />

Welches im weiteren Sinne politische<br />

Thema hätten Sie gerne mal im <strong>Tatort</strong>?<br />

Zum Beispiel Massentierhaltung. Ich<br />

finde es ganz schwierig, mir vorzustellen,<br />

dass um Mitternacht, wenn wir<br />

alle nicht auf den Straßen sind, Kolonnen<br />

von LKWs Schweine, Rinder und<br />

Kälber durch die Gegend zur Massenschlachtung<br />

fahren, die ein erbärmliches<br />

Leben gelebt haben. Da liegt doch ein<br />

Fehler im System, und dahinter steckt<br />

eine ganz fiese Fleischlobby – und Verbraucher,<br />

die im Ernst glauben, man<br />

könne ein Hähnchen artgerecht halten<br />

und dann für 7,99 Euro an der<br />

Pommesbude verkaufen. Als ich in irgendeiner<br />

Zeitschrift las, dass an der<br />

deutsch-holländischen Grenze ein Toter<br />

gefunden worden war, der Folterspuren<br />

trug, und man die Fleischlobby dahinter<br />

vermutete, da dachte ich: Hey,<br />

das ist doch ein <strong>Tatort</strong>-Stoff! Aber die<br />

Resonanz auf meine Idee war, na ja, verhalten.<br />

Genauso wie bei Kinderpornografie,<br />

ein furchtbares Milliardengeschäft<br />

mit <strong>Tatort</strong>-Potenzial. Also, es gibt<br />

schon ein paar Sachen, die man ruhig<br />

machen könnte.<br />

Warum ist eigentlich der primär politische<br />

Raum so <strong>Tatort</strong>-frei? Keine Morde im<br />

Kanzleramt.<br />

Da sind die Morde so perfekt, dass man<br />

sie nicht nachweisen kann. Nein, manche<br />

Themen kommen einfach nicht an.<br />

Dazu gehören Geschichten aus der Politik,<br />

aber auch zum Beispiel Geschichten,<br />

die in Schauspielerkreisen spielen.<br />

Ich wollte mal einen Stoff entwickeln lassen,<br />

wo ich einen Schauspieler spiele, der<br />

nicht besonders gut im Geschäft ist und<br />

sich so durchschlägt. Keine Chance.<br />

Man munkelt, dass Sie demnächst einen<br />

sehr politischen <strong>Tatort</strong> zeigen werden.<br />

Pst, unter uns: Man hat Haare gefunden<br />

auf Barschels Strickjacke, auf den Socken<br />

und auf der Hose. Was will ich damit sagen:<br />

Im übernächsten Borowski, der im<br />

Oktober ausgestrahlt wird, wenn sich<br />

Barschels Tod zum 25. Mal jährt, da gibt<br />

es eine Geschichte, in der dieser Todesfall<br />

vorkommt. Mehr kann, will, darf, soll ich<br />

darüber nicht sagen. Aber so viel schon.<br />

Dann eine unverfänglichere Frage: Wo ist<br />

diese unglaublich hässliche hellbraune<br />

Karre her? Und wie lange wollen Sie<br />

diesen alten Passat eigentlich noch fahren<br />

als Kommissar?<br />

Den erschieße ich in der nächsten Folge.<br />

Im Ernst?<br />

Ja, als mein Dienstwagen mal wieder<br />

stehen bleibt, auf freiem Acker. Wie im<br />

Western. Aber der Braune hat sich gewehrt.<br />

Mir ist in der Szene ein Rußpartikel<br />

aus der präparierten Patrone ins<br />

Auge gekommen, weil der Regisseur ein<br />

echtes Mündungsfeuer haben wollte. Ich<br />

hatte sofort einen stechenden Schmerz,<br />

habe aber, wie man das so macht als<br />

Schauspieler, zu Ende gespielt – bis:<br />

„Cut! Danke!“ Und dann sah ich mich<br />

im Spiegel, und das ganze Weiße des<br />

Auges war knallrot. Dann ging’s sofort<br />

ins Krankenhaus.<br />

Das Gespräch führte Christoph Schwennicke<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 29


20 Städte, 20 Titel<br />

Sie bringen die Republik am Sonntagabend zum Stillstand: Alle <strong>Tatort</strong>-Kommissare auf einen Blick<br />

Berlin<br />

Dominic Raacke und Boris<br />

Aljinovic als Till Ritter und<br />

Felix Stark:<br />

Von den U-Bahnschächten bis zu<br />

den Hochhäusern der Hauptstadt<br />

reicht ihr Revier. Actionreich<br />

ermitteln der treuherzige Stark<br />

und der Womanizer Ritter bis in<br />

die Kreise der Mächtigen.<br />

Bremen<br />

Oliver Mommsen und Sabine<br />

Postel als Nils Stedefreund<br />

und Inga Lürsen:<br />

Auf der Suche nach dem Mörder<br />

ist die nordisch-kühle Blondine<br />

Lürsen gern unkonventionell unterwegs.<br />

Obwohl er das missbilligt,<br />

ist Stedefreund zum Schluss ihr<br />

Netz und doppelter Boden.<br />

Dortmund<br />

Jörg Hartmann, Aylin Tezel,<br />

Anna Schudt und Stefan<br />

Konarske als Peter Farber,<br />

Nora Dalay, Martina Bönisch<br />

und Daniel Kossik:<br />

Ein vierköpfiges Team braucht<br />

es, um den alten Haudegen<br />

Schimanski zu ersetzen. Na, dann<br />

mal viel Erfolg im Ruhrpott!<br />

Erfurt<br />

Benjamin Kramme, Friedrich<br />

Mücke und Alina Levshin als<br />

Maik Schaffert, Henry Funck<br />

und Aline Grewel:<br />

Endlich hat auch Thüringen einen<br />

eigenen <strong>Tatort</strong>. Wie ihre Rollen<br />

sind auch die Darsteller des Trios<br />

in den neuen Bundesländern<br />

beheimatet.<br />

Frankfurt<br />

Joachim Król und Nina<br />

Kunzendorf als Frank Steier<br />

und Conny Mey:<br />

Mit Cowboygang und lautem<br />

Dekolleté kennt Mey keine Berührungsängste.<br />

Dem Zyniker Steier<br />

passt das gar nicht. Doch wenn<br />

es drauf ankommt, halten sie<br />

zusammen.<br />

Hamburg<br />

Til Schweiger als neuer<br />

Kommissar in Hamburg:<br />

Nach Schweigers Kritik am<br />

Kult-Vorspann der Serie und Cenk<br />

Batus Tod fragt sich die Republik:<br />

Wie viel Schweiger steckt im<br />

neuen Kommissar?<br />

Hamburg-Umland<br />

Petra Schmidt-Schaller<br />

und Wotan Wilke Möhring<br />

als Katharina Lorenz und<br />

Thorsten Falke:<br />

Ein neues Team im Norden: Erst<br />

ermitteln Lorenz und Falke wegen<br />

brennender Autos in Hamburg-<br />

Blankenese, der zweite Fall führt<br />

sie dann auf eine Nordseeinsel.<br />

Hannover<br />

Maria Furtwängler als<br />

Charlotte Lindholm:<br />

Alleinerziehende Mutter,<br />

deren schluffiger Mitbewohner<br />

weggelaufen ist. Beruflich voll<br />

involviert: Wer mit ihr das Bett<br />

teilt, ist am Ende der Folge meist<br />

tot oder der Mörder.<br />

Kiel<br />

Sibel Kekilli und Axel Milberg<br />

als Sarah Brandt und<br />

Klaus Borowski:<br />

Einmal aneinander gewöhnt,<br />

ergänzen sich der sensible<br />

Borowski und die tatkräftige<br />

junge Kollegin gut. Doch sie ist<br />

krank, und das bleibt nicht ohne<br />

Konsequenzen.<br />

Köln<br />

Klaus J. Behrendt und<br />

Dietmar Bär als Max Ballauf<br />

und Freddy Schenk:<br />

In beschlagnahmten<br />

Kult‐Karosserien fahnden Freddy<br />

und Max wie ein altes Ehepaar<br />

nach dem Mörder. Ende gut, alles<br />

gut: immer an der Wurstbude mit<br />

Blick auf den Dom.<br />

Konstanz<br />

Eva Mattes und Sebastian<br />

Bezzel als Klara Blum und<br />

Kai Perlmann:<br />

Das Muttertier vom Bodensee:<br />

Blum ermittelt mit Menschenkenntnis<br />

und Herzenswärme.<br />

Wird’s brenzlig, steht ihr Perlmann<br />

als Typ Klassensprecher zur Seite.<br />

Leipzig<br />

Martin Wuttke und Simone<br />

Thomalla als Andreas<br />

Keppler und Eva Saalfeld:<br />

Die Schmolllippige und der<br />

knochentrockene Ex-Alkoholiker<br />

waren mal verheiratet, was<br />

zu Zankereien, aber auch<br />

authentischer Tiefe während der<br />

Ermittlungen führt.<br />

30 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Ludwigshafen<br />

Andreas Hoppe und Ulrike<br />

Folkerts als Mario Kopper<br />

und Lena Odenthal:<br />

Als 100-prozentige Polizistin<br />

lässt Odenthal niemals locker.<br />

Mitbewohner und Kollege Kopper<br />

hat italienische Wurzeln und<br />

unterstützt sie nach getaner<br />

Arbeit mit Kochkünsten.<br />

Luzern<br />

Stefan Gubser und Delia<br />

Mayer als Reto Flückiger<br />

und Liz Ritschard:<br />

Vom Bodensee nach Luzern:<br />

Der Schweizer Flückiger wirkt<br />

ordentlich und korrekt, wagt aber<br />

auch „alternative“ Ermittlungsmethoden.<br />

Aus den USA kommt dazu<br />

die neue Kollegin Ritschard.<br />

Saarbrücken<br />

Devid Striesow und<br />

Elisabeth Brück als Jens<br />

Stellbrink und Lisa Marx:<br />

Ungern trennten sich <strong>Tatort</strong>-Fans<br />

von Kappl und Deininger. Werden<br />

Stellbrink und Marx ihnen das<br />

Wasser reichen können?<br />

Stuttgart<br />

Felix Klare und Richy Müller<br />

als Sebastian Bootz und<br />

Thorsten Lannert:<br />

Familienmensch Bootz und der<br />

durch einen Schicksalsschlag<br />

ernst gewordene Lannert ermitteln<br />

meist unter der Fuchtel ihrer<br />

spanisch ins Handy säuselnden<br />

Staatsanwältin Álvarez.<br />

Der <strong>Tatort</strong> ist auch ein Kaleidoskop Deutschlands und<br />

angrenzender Regionen: 20 Ermittlerteams führen durch<br />

den deutschen Fernsehföderalismus. In nur sieben Tagen<br />

vom Hamburger Illustrator Jan Rieckhoff per Pinselstrich<br />

erschaffen, präsentiert <strong>Cicero</strong> in einer einmaligen<br />

Aktion auf 20 Einzeltiteln alle Lokalhelden. Ob Kiel<br />

oder Konstanz, Wiesbaden oder Wien – so findet jeder<br />

<strong>Cicero</strong>‐Leser seinen Lieblingskommissar.<br />

München<br />

Udo Wachtveitl und<br />

Miroslav Nemec als Franz<br />

Leitmayr und Ivo Batic:<br />

Die beiden ergrauten Herren<br />

sind mit Hirn (Leitmayr) und<br />

Herz (Batic) bei der Sache. Das<br />

eingespielte Team trumpft mit<br />

allen emotionalen Facetten auf.<br />

Münster<br />

Jan Josef Liefers und<br />

Axel Prahl als Professor<br />

Karl-Friedrich Boerne und<br />

Frank Thiel:<br />

Karikaturen ihrer selbst: Boerne,<br />

der Kunstfreund mit Hang zur<br />

maßlosen Selbstüberschätzung.<br />

Thiel, der St.Pauli-Fan und<br />

Hippie-Taxifahrer-Sohn. Das sorgt<br />

für Zündstoff.<br />

Wien<br />

Harald Krassnitzer und<br />

Adele Neuhauser als Moritz<br />

Eisner und Bibi Fellner:<br />

Der spießige Eisner arbeitet mit<br />

Ex-Alkoholikerin Fellner von der<br />

Sitte. Er behält die Übersicht, sie<br />

kennt die Straße vom Türsteher<br />

bis zum Inkasso-Heinzi.<br />

Wiesbaden<br />

Ulrich Tukur als Felix Murot:<br />

Murot ermittelt schweigsam und<br />

ohne Rücksicht auf Verluste. Bis<br />

Lilly – sein Hirntumor, auch liebevoll<br />

„die Nuss“ genannt – sich<br />

mit Wahrnehmungsstörungen<br />

einmischt.<br />

Kiel<br />

Hamburg<br />

Bremen<br />

Münster<br />

Hannover<br />

Berlin<br />

Dortmund<br />

Leipzig<br />

Köln<br />

Erfurt<br />

DEUTSCHLAND<br />

Wiesbaden<br />

Frankfurt/Main<br />

Ludwigshafen<br />

Saarbrücken<br />

Stuttgart<br />

München Wien<br />

Konstanz<br />

ÖSTERREICH<br />

SCHWEIZ<br />

Luzern<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 31


T i t e l<br />

„Ihr quatscht alles kaputt“<br />

Drehbuchautoren müssen leiden können, besonders beim <strong>Tatort</strong>. Hier beschreibt einer<br />

von ihnen seinen kreativen Arbeitsalltag – als Dramolett mit den üblichen Verdächtigen<br />

Von Peter Probst<br />

1. Kneipe (innen/Tag)<br />

Versiffte Holztische, abblätternde Wandfarbe,<br />

über dem Filmplakat von „Messer im Kopf“<br />

eine Lichterkette mit farbigen Glühbirnen. Im<br />

Hintergrund ein einsamer Trinker. Um den<br />

zentralen Tisch sitzen die Produzentin (50),<br />

eine Walküre mit hennarotem Haar, der<br />

Redakteur (45), ein Marathonläufer im<br />

azurblauen Polo-Shirt, der Autor (55),<br />

grauhaarig mit tiefen Magenfalten,<br />

die propere Dramaturgin (35), der<br />

Regisseur (60) in einer speckigen, ärmellosen<br />

Lederweste und ein Schauspieler (50), der<br />

weiß, wie bekannt er ist. Der ausgemergelte<br />

Wirt (60) hat die Getränke serviert (bis auf<br />

das Pils des Regisseurs nur Analkoholika) und<br />

zieht sich hinter den Tresen zurück. Vor dem<br />

Autor liegt ein Drehbuch. Unter dem Titel<br />

„Der <strong>Tatort</strong>-Mörder“ steht gesperrt gedruckt<br />

„Drehfassung“.<br />

Produzentin (flüsternd): Ihr wisst,<br />

weshalb wir uns hier treffen?<br />

Alle nicken, der Autor spitzt konzentriert<br />

seinen Bleistift.<br />

Autor (mit deutlicher Verzögerung): Ne,<br />

ich nicht.<br />

Produzentin (flüsternd): Wegen dem Wirt.<br />

Autor: Hä?<br />

Redakteur (flüsternd): Mein Cousin<br />

braucht dringend Unterstützung. Hat<br />

sich mit der Kneipe total verhoben und<br />

wollte sich schon zwei Mal umbringen.<br />

Autor: Ah.<br />

Produzentin: Wisst ihr, dass ich mich<br />

richtig auf diese Besprechung gefreut<br />

habe? Also, wegen mir können wir diese<br />

Fassung so drehen – bis auf ein paar<br />

Dialogänderungen vielleicht.<br />

Der Autor strahlt.<br />

Dramaturgin: Mir ist da noch ein Fehler<br />

aufgefallen. Im siebten Bild sagt Berger:<br />

Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?<br />

Regisseur (stöhnt): Berger. Das ist jetzt<br />

mein dritter Berger im dritten Film.<br />

Können wir den nicht anders nennen?<br />

Kowalczyk zum Beispiel?<br />

Autor: Kowalczyk, gern.<br />

Notiert es.<br />

Dramaturgin: Es heißt aber<br />

Durchsuchungsbeschluss.<br />

Der Regisseur starrt auf ihre Brüste.<br />

Autor: Habe ich doch geschrieben.<br />

(blättert) Mich nervt es furchtbar, dass das<br />

immer wieder falsch gemacht wird. Da …<br />

(stutzt) Aber, wie kommt das denn da rein?<br />

Schweigen.<br />

32 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Redakteur: Ich habe mir erlaubt, das zu<br />

korrigieren.<br />

Autor: Was? In meinem Drehbu …<br />

Redakteur: Der Zuschauer ist es so<br />

gewohnt, da sollten wir ihn nicht ohne<br />

Not verwirren.<br />

Autor: Aber, das geht doch nicht, dass<br />

Sie, ohne mich zu fragen …<br />

Redakteur (unterbricht): Ich möchte jetzt<br />

mal von unserem Kommissar wissen, wie<br />

die Geschichte auf ihn wirkt. Ich meine,<br />

ist sie wirklich spannend?<br />

Der Autor zuckt zusammen.<br />

Schauspieler: Na ja, ich habe nach fünf<br />

Seiten gewusst, wer der Mörder ist.<br />

Produzentin: Die Mörderin.<br />

Schauspieler: Wieso?<br />

Produzentin: Weil es nicht Berger war,<br />

sondern seine Frau.<br />

Regisseur: Frau Kowalczyk.<br />

Schauspieler: Echt? Das versteht man<br />

aber nicht. Egal. Außerdem habe ich im<br />

Vergleich zu diesem Berger …<br />

Regisseur: Kowalczyk. Bitte, nur noch<br />

Kowalczyk.<br />

Schauspieler: … viel zu wenig Dialog.<br />

Autor: Weil du so angelegt bist, dass<br />

du lange nur beobachtest, dir deine<br />

Gedanken machst und am Ende völlig<br />

überraschend zuschlägst.<br />

Schauspieler: Und dann werden meine<br />

Blicke wieder weggeschnitten, weil wir zu<br />

lang sind.<br />

Regisseur: Wir sind deutlich zu kurz.<br />

Autor: Das kann nicht sein. Das Buch ist<br />

20 Seiten länger als mein letzter <strong>Tatort</strong>.<br />

Regisseur: Den hat auch Großkopf<br />

inszeniert, die Schnecke.<br />

Redakteur: Noch mal: Ist dieses Buch<br />

wirklich spannend?<br />

Der Autor beginnt, seinen Bleistift zu<br />

zerkauen.<br />

Schauspieler: Also, wenn Sie mich so<br />

fragen: Nein.<br />

Autor: Nach über 40 <strong>Tatort</strong>en findest du<br />

doch alles langweilig.<br />

Schauspieler: Stimmt nicht. Ich lese<br />

gerade ein Drehbuch, das ist wirklich<br />

spitzenmäßig.<br />

Redakteur: Zum Beispiel glaubt<br />

kein Zuschauer, dass die Frau eines<br />

Kommissars wirklich umgebracht wird.<br />

Dramaturgin: Aber, dass sie gefoltert<br />

wird, fand ich schon interessant. Mich<br />

hat das an „<strong>Am</strong>erican Psycho“ erinnert.<br />

Regisseur (animiert): Vielleicht sollten<br />

wir das mehr ausreizen. Haben Sie da<br />

Ideen?<br />

Dramaturgin (nickt eifrig): Mir fehlt<br />

da zum Beispiel ein Messer. Ein langes,<br />

blitzendes Messer. Phallus-Symbol.<br />

Autor: Schreibe ich euch gern rein. Aber<br />

habt ihr keine Angst, dass darunter<br />

die Szenen mit dem Hungerstreik der<br />

Flüchtlinge leiden?<br />

Produzentin: Die fand ich ja sehr<br />

klischeehaft. Und wahnsinnig aufwendig!<br />

Autor: Klischeehaft? Ich habe<br />

zwei Wochen in Flüchtlingsheimen<br />

recherchiert.<br />

Regisseur: Davon merkt man leider<br />

nichts. Aber, ich mache euch das. Müssen<br />

ja keine Flüchtlinge sein.<br />

Autor: Aber, natürlich. Das ist doch das<br />

Thema.<br />

Redakteur: Ach, ich soll noch vom<br />

Chef grüßen: Er hätte das Ganze gern<br />

komischer.<br />

Alle: Komischer?<br />

Redakteur: Ein bisschen mehr Richtung<br />

Münster-<strong>Tatort</strong>.<br />

Schauspieler: Müns-ter!? Scusi, aber<br />

dafür müsst ihr euch einen anderen<br />

suchen. Ich bin doch kein Zirkusclown.<br />

Produzentin: Leute, bitte, lasst uns beim<br />

Buch bleiben. Wir drehen in zehn Tagen.<br />

Ich muss die Locations klarmachen.<br />

Wenn wir das Flüchtlingsheim nicht<br />

mehr brauchen …<br />

Illustrationen: Leif Heanzo<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 33


T i t e l<br />

Autor: Doch, unbedingt.<br />

Regisseur: Wie fändet ihr ein Bordell?<br />

Autor: Für meine Flüchtlinge?<br />

Regisseur: Die, die schaffen da an.<br />

Dramaturgin: Cool.<br />

Autor: Das sind Jungs.<br />

Regisseur: Mein Gott, dann putzen die<br />

da halt.<br />

Autor: Aber …<br />

Der Redakteur hat die ganze Zeit im Drehbuch<br />

hin- und hergeblättert.<br />

Redakteur: Ich sage jetzt mal was<br />

Ketzerisches: Wie wär’s, wenn wir diesen<br />

Berger ganz rausnehmen?<br />

Regisseur: Wenn wir das Buch<br />

entsprechend überarbeiten.<br />

Autor: Die Ferres als magersüchtige<br />

25-Jährige?<br />

Regisseur: Ich mache euch das. Mit der<br />

Vroni kriege ich das hin.<br />

Autor: Aber wenn die Berger …<br />

Er blättert verzweifelt in seinem Buch.<br />

Dramaturgin: Kowalczyk.<br />

Autor: … die Szenen von ihrem Mann<br />

übernimmt, müsste sie ja an drei Orten<br />

gleichzeitig sein.<br />

Redakteur: Wie lange schreiben Sie<br />

eigentlich schon <strong>Tatort</strong>?<br />

Autor: 19 Jahre, wieso?<br />

Er winkt dem Wirt.<br />

Redakteur: Jetzt darfst du mir ein Glas<br />

von deinem Chardonnay bringen.<br />

Regisseur: Mir noch ein Pils.<br />

Produzentin: Wodka.<br />

Schauspieler: Un’ espresso doppio<br />

macchiato.<br />

Wirt: Was?<br />

Schauspieler: Scusi, ich habe grade zwei<br />

Wochen in Spanien gedreht. Milchkaffee.<br />

Autor: Kamillentee.<br />

Alle machen höhnisch Geräusche des Bedauerns.<br />

Produzentin: Peter, das kriegst du doch<br />

hin.<br />

Illustrationen: Leif Heanzo<br />

Regisseur: Kowalczyk.<br />

Autor: Aber er ist der Gegenspieler.<br />

Ohne ihn …<br />

Redakteur: Dann wären wir auch das<br />

Problem mit der Vorhersehbarkeit los.<br />

Autor: Aber die Frau vom Berger ist so<br />

ein Mäuschen, die käme von selbst nie<br />

auf die Idee mit dem Mord.<br />

Regisseur: Ich hätte da übrigens eine<br />

sensationelle Besetzung. Der Vroni ist<br />

gerade was geplatzt.<br />

Redakteur (erregt): Sie glauben, die Vroni<br />

spielt das?<br />

Redakteur: Weil Sie doch sehr klassisch<br />

denken.<br />

Autor: Klassisch? Ich? Überhaupt nicht.<br />

Ich kann einfach nicht völlig unlogische<br />

Dinge schreiben.<br />

Redakteur: Der Zuschauer ist inzwischen<br />

so geübt im Krimigucken, der setzt<br />

bestimmte Dinge einfach voraus.<br />

Produzentin: Die Logik passiert in der<br />

Lücke, sozusagen.<br />

Autor (entgeistert): Die Logik passiert in<br />

der Lücke.<br />

Redakteur: Genau. Ich würde sagen, so<br />

machen wir das.<br />

Der Autor schaut auf seine Aufzeichnungen.<br />

Autor: Berger raus, statt Flüchtlingsheim<br />

Bordell. Folterszene ausbauen, langes,<br />

blitzendes Messer. Komischer werden.<br />

Logik im Off. Vroni Ferres als 25-jährige<br />

Magersüchtige. Wie soll das alles<br />

zusammengehen?<br />

Redakteur: Ich bin nicht der Autor, aber<br />

das geht.<br />

Schauspieler: Ja, ich habe da ein gutes<br />

Gefühl.<br />

Produzentin: Wie lange wirst du<br />

brauchen, Peter, zwei Tage, drei Tage?<br />

Der Autor ist totenbleich. Er pumpt.<br />

34 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Autor: Habt ihr je drüber nachgedacht,<br />

was es für einen Autor bedeutet, wenn<br />

bei jeder Besprechung alles wieder auf<br />

den Kopf gestellt wird? Das ist die<br />

neunte Fassung. Bei der dritten hieß es:<br />

So machen wir das, es geht nur noch<br />

um ein paar klitzekleine Änderungen.<br />

Ich habe immer alle Bestellungen<br />

Punkt für Punkt abgearbeitet und<br />

jetzt …<br />

Redakteur: Vielleicht war das der Fehler:<br />

Wir bestellen nichts, wir versuchen nur,<br />

mit unseren Anregungen zu helfen.<br />

Autor (außer sich): Helfen? Ihr quatscht<br />

alles kaputt.<br />

Entsetztes Schweigen. Der Autor merkt, dass<br />

er eine rote Linie überschritten hat.<br />

Autor: Sorry, tut mir leid. Vergesst das,<br />

bitte.<br />

Redakteur: Also, ich muss mich schon<br />

sehr wundern. Ich habe Sie immer für<br />

einen Profi gehalten …<br />

Autor: Das bin ich auch. Ich mache das.<br />

Morgen habt ihr die neue Fassung.<br />

Redakteur: Ich möchte aber nicht, dass<br />

Sie als Autor das Gefühl haben, nur<br />

unseren Quatsch umgesetzt zu haben.<br />

Autor: Das habe ich nicht. Ehrlich nicht.<br />

Produzentin: Ich glaube, das hat er echt<br />

nicht so gemeint.<br />

Schauspieler: Ja, er weiß doch, was für<br />

ein Privileg es ist, einen <strong>Tatort</strong> für mich<br />

schreiben zu dürfen.<br />

Der Redakteur mustert den Autor weiter<br />

misstrauisch.<br />

Schauspieler: Jetzt komm, Peter. Ist<br />

schon klar, dass das noch mal ein<br />

ziemlicher Brocken ist. Aber du packst<br />

das. Und was du nicht mehr hinkriegst,<br />

improvisiere ich dir.<br />

Autor (schreit auf): Improvisierst du mir?<br />

Er zieht die Schlinge zu. Da sprühen Funken,<br />

ein Feuerball rast die Lichterkette entlang,<br />

verschwindet in der Steckdose.<br />

2. Küche (innen/Tag)<br />

Der Feuerball verlässt die Steckdose auf der<br />

anderen Seite der Wand, rast ein Stromkabel<br />

entlang, das in einem maroden Wasserkocher<br />

endet. Der Wirt gießt gerade heißes Wasser<br />

über den Kamillenteebeutel. Der Kocher<br />

beginnt in seiner Hand zu glühen. Er kann<br />

ihn nicht loslassen und bricht mit einem<br />

erstickten Schrei zusammen. Dann ein Knall,<br />

die Lichter gehen aus.<br />

Autor (off): Was ist denn jetzt los?<br />

Sich nähernde Schritte. Stimmen im Dunkeln.<br />

Redakteur (off): Sie haben ihn<br />

umgebracht! Sie Mörder!<br />

Dramaturgin (off): Mord? Ist das nicht<br />

eher Totschlag?<br />

Autor (off): Höchstens fahrlässige<br />

Körperverletzung mit Todesfolge.<br />

Produzentin (off): Wir müssen die Polizei<br />

rufen.<br />

Schauspieler (off): Was denn? Das mache<br />

ich. (im Kommissarston) Herr Redakteur,<br />

Sie haben gesagt, Ihr Cousin wollte sich<br />

sowieso umbringen?<br />

Anzeige<br />

Eine Insel für<br />

ausgestoßene<br />

Frauen.<br />

Eine Frau, die<br />

Rache nimmt an<br />

ihren Peinigern.<br />

Der 4. Fall für<br />

Carl Mørck.<br />

Ü: Hannes Thiess Deutsche Erstausgabe 544 Seiten € 19,90<br />

Foto: Wolfgang BAlk<br />

Autor: Muss ich mich jetzt entleiben,<br />

damit Sie mir glauben?<br />

Produzentin: Glückwunsch, das ist<br />

die Idee des Tages. Dann zahlt die<br />

Ausfallversicherung.<br />

Der Autor greift melodramatisch zu der<br />

Lichterkette hinter sich, macht eine Schlinge<br />

und legt sie sich um den Hals.<br />

Alle: Aber dann ist doch alles in<br />

Ordnung.<br />

Peter Probst<br />

54, ist Schriftsteller und<br />

Drehbuchautor. Er schrieb<br />

<strong>Tatort</strong>e wie „Jagdzeit“ (2011)<br />

oder „Gefallene Engel“ (1998)<br />

_<br />

© Peter Peitsch/peitschphoto.com<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 35<br />

www.adler-olsen.de


t i t e l<br />

War nicht alles schlecht<br />

Letzter Rest DDR: Das Ost-Pendant Polizeiruf 110 wird im West-<strong>Tatort</strong> aufgehen und verschwinden<br />

von Matthias Dell<br />

D<br />

er Erfolg des <strong>Tatort</strong>s verdankt<br />

sich neben der Sendezeit dem<br />

einschlägigen Vorspann. Der Versuchung,<br />

diesen zu aktualisieren, hat die<br />

ARD in 40 Jahren widerstanden, was für<br />

große, bis zu einem gewissen Zeitpunkt<br />

vermutlich unfreiwillige Weitsicht spricht.<br />

Dass Til Schweiger als Neukommissar im<br />

Frühjahr vorschlug, den Vorspann abzuschaffen,<br />

weil er „outdated“ sei, zeigt, wie<br />

wenig Schweiger verstanden hat. Allein<br />

durch den altmodischen Vorspann nämlich<br />

nobilitiert der <strong>Tatort</strong> auch durchwachsene<br />

Filme zur Institution und kann heute<br />

eine Geschichte behaupten, die der Reihe<br />

als Tradition gutgeschrieben wird.<br />

Das Gegenbeispiel wäre der Polizeiruf<br />

110, bei dem schon in den DDR-Jahren<br />

der Vorspann mehrfach überarbeitet<br />

worden war und der nach der letzten Aktualisierung<br />

mit einem pseudomodischlieblosen<br />

Auftakt aufwartet. Das kann man<br />

als Mahnung begreifen – und als eine Erklärung<br />

dafür nehmen, warum der Polizeiruf<br />

110 gemeinhin als „schlechter“ gilt,<br />

obwohl er spätestens seit dem Anfang der<br />

nuller Jahre nichts anderes macht als der<br />

<strong>Tatort</strong>. Die vermeintlich höhere Qualität<br />

des <strong>Tatort</strong>s besteht tatsächlich nur im besseren<br />

Label, im immer gleichen Vorspann:<br />

Klassisch ist er nicht, weil er besonders gut<br />

oder zeitlos ist. Klassisch konnte er werden,<br />

weil er nie verändert worden ist.<br />

Das sagt mehr über die Geschichte als<br />

jede Sonntagsrede. Wenn die Vereinigung<br />

von 1990 etwas anderes gewesen wäre als<br />

die Integration der DDR in die Bundesrepublik<br />

zu westdeutschen Bedingungen,<br />

hätte sich das auch auf den <strong>Tatort</strong>-Vorspann<br />

auswirken müssen. Was „outdated“<br />

über den Geschmack von Til Schweiger<br />

hinaus meint, nämlich geschichtspolitisch,<br />

lehrt der Blick auf den Polizeiruf-<br />

110-Vorspann am Beginn der neunziger<br />

Jahre. Musik und Machart sind die gleiche,<br />

der Wahl der Ausschnitte aus den Polizeiruf-110-Folgen<br />

aber, die der Vorspann<br />

Ermittlerteam in der Ost-Provinz:<br />

Hauptmeister Horst Krause und sein<br />

haariger Assistent bekämpfen das<br />

Verbrechen im Polizeiruf 110 des RBB<br />

kompilierte, fielen der Hubschrauber und<br />

die Uniformen der Genossen Volkspolizisten<br />

zwangsläufig zum Opfer.<br />

Bei der Ausdehnung der ARD auf das<br />

Sendegebiet des Deutschen Fernsehfunks<br />

Anfang 1992 soll darüber nachgedacht<br />

worden sein, den Polizeiruf 110 im <strong>Tatort</strong><br />

aufgehen zu lassen. Dass es dazu nicht<br />

kam, hatte verschiedene Gründe. Der Polizeiruf<br />

110, fast genauso alt wie der <strong>Tatort</strong>,<br />

war dem westdeutschen Zuschauer nicht<br />

unbekannt. Die dritten Programme hatten<br />

in den achtziger Jahren gelegentlich<br />

Folgen gezeigt. Vor allem aber ließ sich<br />

mit dem Überleben der Reihe Respekt<br />

gegenüber den ostdeutschen Zuschauern<br />

bekunden; es war nicht alles schlecht im<br />

DDR-Fernsehprogramm.<br />

Die konzeptuellen Unterschiede zwischen<br />

Polizeiruf 110 und <strong>Tatort</strong> wurden<br />

in der Folge eingeebnet. Zu DDR-Zeiten<br />

brauchte es für einen Polizeiruf 110 kein<br />

Kapitalverbrechen, und er war wie das<br />

Land, in dem er spielte: zentralistisch. Was<br />

sich in der Absurdität äußerte, dass es den<br />

Ermittlern, egal, wo sie in der DDR gerade<br />

tätig waren, an Büros und Ortskenntnissen<br />

nie mangelte. Von diesen Qualitäten blieb<br />

eine offenere Erzählweise und als Alternative<br />

zum großstädtischen <strong>Tatort</strong> die Flucht<br />

in den ländlichen Raum.<br />

Das Ende einer „anderen“ Krimireihe,<br />

an der sich bis 2004 auch westdeutsche<br />

ARD-Anstalten beteiligten, hat mit<br />

der Durchformatierung des Fernsehprogramms<br />

zu tun. Den <strong>Tatort</strong>, wie wir ihn<br />

heute kennen, gibt es seit 1994, als die<br />

ARD unter dem Druck des Privatfernsehens<br />

die Zahl der Produktionen deutlich<br />

erhöhte, um den Sonntagabend in ihrem<br />

Sinne zu labeln. Übrig geblieben als einzige<br />

Alternative ist der Polizeiruf 110, der<br />

mittlerweile ebenso föderalistisch organisiert<br />

ist und jene standardisierte Idee von<br />

Aufklärung propagiert, die bei einer Leiche<br />

in den ersten Minuten ansetzt. Die Hallenser<br />

Ermittlungen von Schmücke, Schneider<br />

und mittlerweile Lindner sind deshalb<br />

nicht schlechter, weil es sich um einen Polizeiruf<br />

110 handelt, sondern weil sich der<br />

MDR mit seinen Filmen so wenig Mühe<br />

gibt wie sonst nur der SWR.<br />

Mit Blick auf die Aufmerksamkeitskonzentration<br />

im Fernsehen liegt es nahe<br />

zu vermuten, dass der Polizeiruf 110 eines<br />

nicht zu fernen Tages im <strong>Tatort</strong> aufgehen<br />

wird. Mit Jaecki Schwarz (Schmücke)<br />

wird nächstes Jahr der Kommissar-Darsteller<br />

pensioniert, der kraft seiner Biografie<br />

noch glaubhaft die Identität eines durch<br />

die DDR geprägten Lebens vermitteln<br />

konnte, auch wenn die Filme davon zuletzt<br />

nicht mehr handelten. Horst Krause<br />

als gleichnamiger Polizist in Brandenburg<br />

ist lange als RBB-Darling regionalisiert. An<br />

einem Polizeiruf neben dem <strong>Tatort</strong> könnte<br />

nach Schmückes Abgang dann nur noch<br />

der BR Interesse haben, dem die Alternative<br />

Polizeiruf 110 aktuell ermöglicht, seinen<br />

Reichtum zentralistisch zu pflegen:<br />

Zwei <strong>Tatort</strong>-Kommissariate in München<br />

nämlich wären eines zu viel.<br />

Matthias Dell<br />

arbeitet beim Freitag, wo er auch<br />

einen <strong>Tatort</strong>-Blog veröffentlicht.<br />

In Kürze erscheint sein <strong>Tatort</strong>-<br />

Buch „Herrlich inkorrekt“<br />

Fotos: Oliver Feist/RBB, Oliver Schmidt (Autor)<br />

36 <strong>Cicero</strong> 9.2012


©J.Meese<br />

Ihre Meinung zuBILD, Jonathan Meese?


T i t e l<br />

ach ja, die Quote …<br />

Es hat sich verkauft, also ist es gut? Der Sendeplatz<br />

macht den <strong>Tatort</strong> zum Blockbuster, nicht seine Qualität.<br />

Ein später Stoßseufzer eines Ex-<strong>Tatort</strong>-Kommissars<br />

von Gregor Weber<br />

M<br />

an könnte denken, dass ich<br />

Schauspieler bin. Oder Autor.<br />

Beides falsch. Ich bin <strong>Tatort</strong>-Kommissar.<br />

Beziehungsweise<br />

Ex-<strong>Tatort</strong>-Kommissar,<br />

aber das soll hier egal sein.<br />

<strong>Tatort</strong>-Kommissar ist eine gültige Berufsbezeichnung<br />

an der Grenze zur persönlichen<br />

Eigenschaft. Jemand, der, bevor die<br />

Zeitungen melden, dass er <strong>Tatort</strong>-Kommissar<br />

wird, Schauspieler war, hat wahlweise:<br />

einen Ritterschlag erhalten, ist in<br />

große Fußstapfen getreten, wird der neue<br />

Schimanski, auch gerne der neue weibliche<br />

Schimanski oder – mittlerweile ein großer<br />

Renner – ist der jüngste <strong>Tatort</strong>-Kommissar<br />

aller Zeiten.<br />

Fest steht: Das Label wird man nicht<br />

mehr los. Nie. Und es darf als Konsens gelten,<br />

dass es ein Schauspieler geschafft hat,<br />

wenn er <strong>Tatort</strong>-Kommissar wird. Aber was<br />

genau hat man denn da geschafft?<br />

Nun, man ist Hauptdarsteller in der renommiertesten<br />

Krimireihe des deutschen<br />

Fernsehens, zu sehen auf dem besten Sendeplatz,<br />

vor dem aufgeschlossensten und<br />

klügsten Publikum. Die Redakteure, die<br />

die inhaltliche Verantwortung für die Filme<br />

der Reihe tragen, sind durch die Bank ausgewiesene<br />

Film- und vor allem Krimiexperten<br />

mit genauem Gespür sowohl für die<br />

drängenden Themen des bundesrepublikanischen<br />

Augenblicks als auch die ganz allgemeinen<br />

sozialen, zwischenmenschlichen<br />

und psychologischen Dramen der Gegenwart.<br />

Nur die besten Autoren und Regisseure<br />

arbeiten für dieses Format, Letztere<br />

wiederum suchen sich die innovativsten<br />

Kameraleute, was sich in den Qualitätsansprüchen<br />

an jeden Einzelnen in den Teams<br />

fortsetzt. Dann engagiert die Produktionsfirma<br />

die bestmöglichen Schauspieler für<br />

die Episodenrollen, jeder von ihnen weiß,<br />

dass der sonntägliche Auftritt von Millionen<br />

Zuschauern gesehen wird und wie ein<br />

Nachbrenner im Jet-Triebwerk seiner Karriere<br />

unaufhaltsam Schub verleiht. All das<br />

zu finanzieren, ist unproblematisch. Die<br />

Budgets sind hoch, und die Produktionsfirmen<br />

stecken nahezu jeden Cent in die<br />

Steigerung der Qualität. Beim <strong>Tatort</strong> wird<br />

zu Spitzengagen gearbeitet. Und deswegen<br />

sitzen die Zuschauer an gut 35 Sonntagen<br />

des Jahres um 20:15 Uhr auch immer<br />

wieder atemlos vor diesen fesselnden<br />

Filmen; Getränke und Salzstangen bleiben<br />

unberührt, der Anrufbeantworter ist eingeschaltet,<br />

und die kleinen Kinder, sonst<br />

von permissiver Pädagogik sanft geschaukelt,<br />

fliegen an jenen Abenden kommentarlos<br />

und unter strikten Schweigegeboten<br />

spätestens um 20:10 Uhr in die Federn.<br />

Okay.<br />

Die meisten in den letzten Absätzen<br />

aufgestellten Behauptungen waren leider<br />

unwahr oder zumindest eine, na ja, „optimierte<br />

Version“ der Wirklichkeit. Eine<br />

Sprachregelung, würde man es in Kommunikationsabteilungen<br />

nennen. Sprachregelungen<br />

erstellen solche Abteilungen zu<br />

für die Firma heiklen Themen, die von so<br />

eindeutig öffentlichem Interesse sind, dass<br />

man sie nicht elegant beschweigen kann.<br />

Der <strong>Tatort</strong> gehört wahrscheinlich zu<br />

den Lieblingsspielwiesen der Sendersprecher<br />

des ARD‐Verbunds, weil es hier, ihrer<br />

Meinung nach, nie Katastrophen zu beschönigen<br />

gilt, sondern stets Rekorde und<br />

Verdienste zu verlobhudeln.<br />

Man soll von Kommunikationsabteilungen<br />

nicht erwarten, dass sie Produkte<br />

ihrer Firma objektiv bewerten, das ist nicht<br />

ihr Job. Und kein Abteilungs- oder Projektleiter<br />

– sprich <strong>Tatort</strong>-Redakteur – wird<br />

dem Firmensprecher in zur Veröffentlichung<br />

gedachten Stellungnahmen ernsthaft<br />

von Qualitätsproblemen erzählen.<br />

Würde ja den eigenen Stuhl in Flammen<br />

setzen! Was beim Fernsehen allerdings niemandem<br />

bewusst zu sein scheint: Das Produkt<br />

selbst stellt eine Kommunikation des<br />

Senders mit der Öffentlichkeit dar. Und<br />

die acht bis zwölf Millionen Zuschauer, die<br />

der <strong>Tatort</strong> vor die Glotze lockt, haben eine<br />

gegen null tendierende Schnittmenge mit<br />

der Nachmittagsmeute vor RTL und Co.<br />

Will sagen, der <strong>Tatort</strong>-Zuschauer kann in<br />

der Regel Filme lesen und beurteilen.<br />

„Ha!“, sagt jetzt der <strong>Tatort</strong>-Redakteur,<br />

„das ist der Beweis! Wir können doch gar<br />

nicht falsch liegen, bei der Quote.“<br />

Ach ja, die Quote …<br />

Die Quote, lieber Redakteur, und ich<br />

bin dankbar, dass ich diese steile These endlich<br />

einmal öffentlich loswerden darf, die<br />

Quote sagt doch gar nichts über die Qualität.<br />

Die Quote sagt auch nicht, dass die<br />

Zuschauer den Film gut finden, den sie gerade<br />

gucken. Die Quote spiegelt nur die<br />

Erwartung, die die Zuschauer an den Film<br />

haben. Weil sie die Schauspieler irgendwie<br />

gut finden oder weil man so nett lachen<br />

kann über die Schrullen der Ermittler. Weil<br />

der letzte <strong>Tatort</strong> mit den zweien aus MünsterKölnMünchenBremenWasweißich<br />

ganz<br />

gut oder sogar toll war. Vor allem aber sagt<br />

die <strong>Tatort</strong>-Quote eines: Gebildete, kulturell<br />

interessierte Bürger haben Sonntagabend,<br />

20:15 Uhr Zeit, der Krimireihe<br />

zuzugucken, mit der sie aufgewachsen sind.<br />

Der Sendeplatz ist für das Fernsehen, was<br />

die Lage für Immobilienmakler ist. Die Lizenz<br />

zum Gelddrucken beziehungsweise<br />

Quote zu generieren. Und wozu braucht<br />

die ARD Quote? Nicht für die Werbung,<br />

der Zahn sei hier gezogen. Nein, Redaktion<br />

und Produktionsfirma brauchen die<br />

Quote als Nachweis, dass sie erfolgreich<br />

gearbeitet und die richtigen Entscheidungen<br />

getroffen haben. Kritiker sind unberechenbar,<br />

Preise gibt es zu selten und wenn,<br />

dann zu lange nach der Ausstrahlung, aber<br />

die Quote, die liegt am Morgen danach auf<br />

dem Tisch. Und wenn man sie zum Maßstab<br />

macht, enthebt einen das von jeder Reflexion<br />

über die Qualität des Produkts. Es<br />

hat sich gut verkauft, also ist es gut.<br />

Diese Haltung durchzieht den Apparat<br />

ARD, von Ausnahmen abgesehen. Doch<br />

die kommen offenbar wenig zu Wort, ganz<br />

38 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Foto: Derek Henthorn<br />

Webers Zehn-Punkte-Plan für bessere <strong>Tatort</strong>e<br />

Mutige Redakteure Mut gegen den<br />

eigenen Sender. Filme, vor denen der<br />

Programmdirektor Angst hat – das<br />

sollten <strong>Tatort</strong>e sein.<br />

Fähige Redakteure Redakteure<br />

waren früher noch aus eigener Erfahrung<br />

fähig, Filme zu drehen. Sie haben<br />

Filme gemacht, die sie selber gerne<br />

drehen würden.<br />

Flamboyante Redakteure Völlig<br />

aus der Mode gekommen. Redakteure<br />

sollen brennen. Kreative erst recht.<br />

„Dieser <strong>Tatort</strong> wird meine Karriere<br />

beenden, aber scheiß drauf, ich muss<br />

ihn drehen.“ Nur so geht es.<br />

ZeitgemäSSe Erzählformen Natürlich<br />

wird an <strong>Tatort</strong>-Sets über die „Sopranos“<br />

geredet, über „Breaking Bad“<br />

und „The Wire“. Und dann sofort faul<br />

abgewunken: „Die haben soooo viel<br />

Kohle.“ Stimmt. Aber das darf niemanden<br />

abhalten, gründlich zu analysieren,<br />

warum diese Serien so spannend sind,<br />

und die eigene Messlatte genauso<br />

hoch zu hängen.<br />

Weniger Teams Hallo ARD, schon<br />

mal das Wort „Marktüberschwemmung“<br />

gehört? Oder „Verramschung“?<br />

Durch ständig neue Teams soll vor allem<br />

Aufmerksamkeit generiert werden.<br />

Aber neue Schauspieler ändern mal gar<br />

nichts an den Geschichten – und auf<br />

die kommt es an.<br />

so, wie man es als Kreativer kennenlernt,<br />

dem Quote egal ist, aber der Anspruch<br />

alles. Denn das System ist leider maßgeschneidert<br />

für Anspruchslosigkeit. Stoffe<br />

für den <strong>Tatort</strong> werden nicht entwickelt,<br />

weil jemand unbedingt diese Geschichte<br />

erzählen will und ein anderer an diese Unbedingtheit<br />

glaubt. Nein, sie werden entwickelt,<br />

weil ein Sender mit diesem oder<br />

jenem Team einen bis drei Filme pro Jahr<br />

in die Reihe einspeist und das Geld dafür<br />

da ist und nur abgerufen werden muss.<br />

Und der Auftrag geht an eine Produktionsfirma<br />

nicht, weil sie sich überzeugend<br />

präsentiert hat, sondern weil sie – bis auf<br />

sehr seltene Ausnahmen – der Sendeanstalt<br />

oder der Gesamt-ARD gehört und deswegen<br />

Aufträge braucht, die ihre Existenz<br />

rechtfertigen.<br />

Mehr Geld Es muss beim <strong>Tatort</strong> ein<br />

Mindestbudget geben, das deutlich<br />

über den derzeit üblichen liegt.<br />

Die Marke ist auch deswegen kein<br />

Premium produkt mehr, weil sie nicht<br />

wie ein Premiumprodukt finanziert und<br />

produziert wird. Ein <strong>Tatort</strong> muss teurer<br />

sein als der Krempel, der während der<br />

Woche so weggesendet wird.<br />

Konkurrenz Und zwar auf allen<br />

Ebenen. Keine Gewissheiten, keine<br />

Abonnements. Weder für Redakteure<br />

noch für Produktionsfirmen,<br />

nicht für Autoren, Regisseure oder<br />

Schauspieler.<br />

It’s the reality, stupid Kriminalfilme<br />

müssen sich an der Wirklichkeit<br />

messen. Sie ist voll von unglaublichen<br />

Geschichten. Interessiert euch für das<br />

wahre Leben, geht raus und strengt<br />

euch an!<br />

Figuren, Figuren, Figuren Ob Kommissare<br />

oder Killer, ob Zeugen oder<br />

Zaungäste. Erspart ihnen Papiersound,<br />

Thesensprech und Klischees: Die Taffe<br />

und der Depri, der Intuitive und der<br />

Methodische, der Emotionale und die<br />

Kühle, schnarch …<br />

Herzblut Das Wichtigste überhaupt.<br />

Bei den Kreativen sowieso, aber<br />

auch beim Sender. Leider die größte<br />

Mangelware.<br />

Alleine die Bavaria Film (im Wesentlichen<br />

der ARD gehörend) und sechs ihrer<br />

Tochterfirmen produzieren <strong>Tatort</strong>e in<br />

Reihe für sieben von neun ARD-Anstalten.<br />

Der NDR wird von Studio Hamburg bedient,<br />

auch eine ARD-Tochter. Der Hessische<br />

Rundfunk produziert seine <strong>Tatort</strong>e<br />

immerhin komplett selbst, und der MDR<br />

hat die Neuentwicklung für einen <strong>Tatort</strong><br />

Erfurt frei ausgeschrieben.<br />

Solch interne Auftragsvergabe muss<br />

nicht zwangsläufig zu minderer Qualität<br />

führen. Die Firmen sind professionell und<br />

erfahren. Und es gibt ja auch immer wieder<br />

mal gute bis herausragende <strong>Tatort</strong>e. Aber<br />

das Hauptbedürfnis eines systemisch organisierten<br />

Apparats liegt in der Bestandserhaltung.<br />

Also soll es laufen wie gehabt<br />

und lieber nicht wie erträumt. Wagemut<br />

ist keine verlässliche Basis. Lieber ein Konsensprodukt<br />

als einen Ausreißer nach oben,<br />

der immer auch das Risiko des Ausreißens<br />

nach unten in sich trägt. Man darf sich<br />

vorstellen, dass letzten Endes immer eine<br />

graue Runde von Funktionären auf Firmenund<br />

Senderebene über die Stoffe entscheidet.<br />

Die Skills, die für Karrieren in solchen<br />

Apparaten nötig sind, haben nichts<br />

mit Kreativität und künstlerischer oder intellektueller<br />

Urteilskraft zu tun. Immer weniger<br />

Redakteure sind selbst Profis des Erzählens,<br />

Produzenten in diesem Bereich<br />

sowieso nicht.<br />

Kreative, die den Willen und das Talent<br />

haben, Kriminalgeschichten des 21. Jahrhunderts<br />

in das leider nur noch nominell<br />

edelste Format des deutschen Fernsehens<br />

einzubringen, verzweifeln über der achten<br />

Fassung ihres Drehbuchs, weil die einzige<br />

Kritik des Redakteurs in dem Satz bestand:<br />

„Ich weiß nicht, irgendwie macht<br />

mich der Stoff nicht mehr an.“ Verträge,<br />

die ein TV‐Autor heutzutage abschließt,<br />

bestehen aus plumpen Enteignungsparagrafen.<br />

Zu jeder Zeit kann der Autor durch<br />

einen anderen ersetzt werden, stets ist der<br />

Redakteur Alleinentscheider über Abnahme<br />

oder Zurückweisung der aktuellen<br />

Fassung. Und die letzte Fassung schreibt<br />

immer öfter der Regisseur – das gibt noch<br />

mal Extrakohle. Unter solchen Umständen<br />

wird die Annahme von „Kritik“ zur<br />

reinen Überlebensfrage für den Künstler.<br />

Das machen die wirklich guten Autoren<br />

nicht lange mit, so eine Politik zieht lediglich<br />

Jasager an, die die Chance wittern,<br />

ihre künstlerische Minderbegabung durch<br />

Hörigkeit wettzumachen. Und das funktioniert.<br />

Der Apparat stülpt also die Karrierekriterien<br />

einer starren Verwaltung über<br />

den Kreativbereich, in dem eigentlich der<br />

Streit um die überwältigende Vision im absoluten<br />

Zentrum zu stehen hätte.<br />

Soll sich also keiner wundern, wenn<br />

er Sonntagabend, 20:15 Uhr in der ARD<br />

mal wieder das Gefühl hat, dem unbeholfen<br />

in Krimiform gebrachten Monatsbericht<br />

eines Gleichstellungsbeauftragten zuzugucken.<br />

Gregor Weber<br />

Jahrgang 1968, ist Autor und<br />

Schauspieler. Im <strong>Tatort</strong> war er bis<br />

Januar 2012 als saarländischer<br />

Kommissar Deininger zu sehen<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 39


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Der Mutant<br />

Peter Müller, einst CDU-Politiker, heute Verfassungsrichter, entscheidet mit beim ESM-Urteil<br />

von Benno Stieber<br />

D<br />

ie scharlachroten Roben sind<br />

vielen Richtern ein Graus. Mal<br />

verheddert sich das weite Gewand<br />

in den Rollen des Richterstuhls, mal<br />

vergessen sie das Barett abzusetzen. Nur<br />

wenigen Richtern gelingt es, in der Robe<br />

eine gute Figur zu machen. Bei Peter Müller,<br />

wenn er meist ganz links auf der Richterbank<br />

sitzt, wirkt die Robe, als wäre sie<br />

ein Stück zu groß.<br />

Man hat ihn noch als selbstbewussten<br />

saarländischen Landesvater in Erinnerung.<br />

Jetzt ist er Teil des wohl mächtigsten<br />

Kollektivs des Landes. Müller ist in<br />

bewegten Zeiten gekommen. Das Gericht<br />

muss über die Zukunft des Euro mitentscheiden<br />

oder gleich der ganzen Europäischen<br />

Union – wer weiß das in diesen Tagen<br />

schon so genau. Bei der mündlichen<br />

Verhandlung zum ESM im Sommer saß er<br />

auf der Richterbank und stellte seinen ehemaligen<br />

Parteifreunden kritische Fragen zu<br />

den Abläufen im Bundestag bei dieser historischen<br />

Entscheidung. Aber seine neue<br />

Rolle ist für beide Seiten noch ungewohnt.<br />

In der Verhandlung wurde er von fast jedem<br />

Parlamentarier als „Herr Verfassungsrichter“<br />

Müller angesprochen – als einziger<br />

der acht Richter. Gleichgültig, ob das als<br />

kleine Spitze gegen den ehemaligen Kollegen<br />

Ministerpräsidenten gemeint ist, der<br />

von ihren Gnaden auf seinen Posten kam,<br />

oder ganz unbewusst. Peter Müller werden<br />

diese Feinheiten nicht entgangen sein.<br />

Müller hat im Sauseschritt die Seiten<br />

gewechselt. Kaum vier Monate lagen damals<br />

zwischen seinem Rücktritt in Saarbrücken<br />

und seinem <strong>Am</strong>tsantritt in Karlsruhe,<br />

der von bösen Kommentaren begleitet<br />

wurde. Es wurde seine mangelnde Qualifikation<br />

für das höchste Richteramt im<br />

Land kritisiert. Seine einschlägigen Erfahrungen<br />

beschränken sich tatsächlich auf<br />

zwei Jahre als <strong>Am</strong>tsrichter in Ottweiler und<br />

zwei Jahre beim Landgericht Saarbrücken.<br />

Wissenschaftliche Veröffentlichungen von<br />

bleibender Bedeutung sind von ihm nicht<br />

bekannt. Kritiker fürchteten, hier würde<br />

ein amtsmüder Ministerpräsident auf einem<br />

Richtersessel entsorgt. Es war von politischem<br />

Kuhhandel die Rede.<br />

Aber der wohl schwerwiegendste Vorbehalt,<br />

warum es vielleicht keine gute Idee<br />

ist, einen amtierenden Ministerpräsidenten<br />

zum krönenden Abschluss seiner Karriere<br />

zum Verfassungsrichter zu machen, wurde<br />

schon bald offenkundig.<br />

Beim jährlichen Presseempfang des Gerichts<br />

im Februar, bei dem traditionell die<br />

Fälle präsentiert werden, die die Senate<br />

im laufenden Jahr zum Abschluss bringen<br />

wollen, trug Müller eine Verfassungsbeschwerde<br />

gegen die Wahl der letzten Bundespräsidenten<br />

vor, die in seinem Dezernat<br />

liegt. Es geht dabei um die Frage, ob<br />

die Wahlmänner bei der Wahl der Bundespräsidenten<br />

Horst Köhler und Christian<br />

Wulff ordnungsgemäß bestimmt worden<br />

sind. Müller wäre zum ersten Mal Berichterstatter<br />

in einem Verfahren gewesen. Er<br />

hätte die Beratung im Senat vorbereitet,<br />

sein Votum wäre von großem Gewicht bei<br />

der Entscheidung.<br />

Allerdings war Müller 2009 und 2010<br />

auch einer der Wahlmänner, gegen deren<br />

Kür nun geklagt wird. Auf die Frage, ob<br />

Wulff und Köhler nun womöglich gar nicht<br />

ordnungsgemäß gewählt worden seien, antwortete<br />

Müller gut gelaunt, er könne sich<br />

nicht näher dazu äußern, weil ein Befangenheitsantrag<br />

vorliege. Verschmitzt fügte<br />

er hinzu: Spätestens wenn er jetzt antworten<br />

würde, wäre er wohl befangen. Eine<br />

Pointe, wie man sie vom Politiker Müller<br />

kennt. Aber aus dem Witz wurde Ernst.<br />

Der Zweite Senat hat ihn von dem Verfahren<br />

wegen Befangenheit ausgeschlossen.<br />

Die erste große Entscheidung aus Müllers<br />

Dezernat findet nun ohne ihn statt.<br />

Und es stehen weitere Verfahren an, bei<br />

denen Ähnliches droht. Ein weiteres NPD-<br />

Verbotsverfahren etwa. Als Politiker hatte<br />

sich Müller stets dagegen ausgesprochen.<br />

Macht ihn das bei einer Entscheidung<br />

des Verfassungsgerichts nun befangen?<br />

Oder Seehofers Klage gegen den Länderfinanzausgleich.<br />

Als Ministerpräsident eines<br />

strukturschwachen Landes war Müller<br />

immer ein entschiedener Befürworter des<br />

Transfers. Dürfte er nun als Richter darüber<br />

urteilen?<br />

Man würde Peter Müller gerne selber<br />

danach fragen. Doch die Pressestelle des<br />

Gerichts erklärt, dass er in diesem Jahr<br />

nicht für Interviews zur Verfügung steht.<br />

Ein Schweigegelübde passt gut in die<br />

klösterliche Atmosphäre des höchsten Gerichts,<br />

es ist offenbar Teil seines Eingliederungsprogramms<br />

in den „Achter ohne<br />

Steuermann“.<br />

Denn Ansehen unter den Kollegen erwirbt<br />

man sich in Karlsruhe weniger durch<br />

öffentlichkeitswirksame Auftritte als durch<br />

fleißiges Aktenstudium und brillante juristische<br />

Argumente. Und nicht selten klafft<br />

zwischen dem Einfluss einzelner Richter im<br />

Haus und der Aufmerksamkeit, die sie in<br />

der Öffentlichkeit genießen, eine größere<br />

Lücke. Die Lauten sind auch beim Verfassungsgericht<br />

nicht immer die Tüchtigen.<br />

Karlsruhe war für Müller seit einem<br />

Auftritt als Sachverständiger bei einer<br />

mündlichen Verhandlung vor einigen Jahren<br />

ein Sehnsuchtsort. Er hat das immer<br />

wieder durchblicken lassen. Ob das <strong>Am</strong>t<br />

seinem Temperament entspricht, ist aber<br />

noch offen. Ein politischer Weggefährte<br />

hatte vor Müllers <strong>Am</strong>tsantritt Zweifel angemeldet:<br />

„Der weiß gar nicht, was er sich<br />

da antut.“ Inzwischen dürfte er eine Ahnung<br />

haben.<br />

Benno Stieber<br />

berichtet als freier Korrespondent<br />

unter anderem für die Financial<br />

Times Deutschland von den<br />

Bundesgerichten in Karlsruhe<br />

Fotos: Imago, privat (Autor)<br />

40 <strong>Cicero</strong> 9.2012


„Herr Verfassungsrichter“,<br />

frotzeln seine<br />

einstigen Kollegen im<br />

Verhandlungssaal<br />

Peter Müller, früher CDU-Ministerpräsident im Saarland<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 41


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Wolfgang und ich<br />

Bisher hat Ingeborg Schäuble ihr Leben stets anderen gewidmet – das soll sich nun endlich ändern<br />

von Georg Löwisch<br />

E<br />

s ist auf den ersten Blick unvorstellbar,<br />

dass die schmale Frau mit<br />

der leisen Stimme das alles gemacht<br />

haben soll. Dass sie als Mädchen in<br />

Südbaden mit dem Traktor die Wege hochgebolzt<br />

ist. Dass sie fast allein vier Kinder<br />

großgezogen hat. Sich in den Angolakrieg<br />

einfliegen ließ. Und dass sie jede Etappe der<br />

vielleicht härtesten deutschen Politikerbiografie<br />

der vergangenen Jahrzehnte mitgegangen<br />

ist: den Weg ihres Mannes, Wolfgang<br />

Schäuble.<br />

Sitzt man Ingeborg Schäuble eine<br />

Weile gegenüber in einem Gartencafé in<br />

Berlin-Grunewald, dann meint man freilich,<br />

Anhaltspunkte für die Stärke dieser<br />

Frau auszumachen. Die kräftigen Hände<br />

zum Beispiel oder diese Spur von Bestimmtheit<br />

in ihren leisen Sätzen. Auf die<br />

Frage, wie sie reagiert, wenn ihr Mann unduldsam<br />

wird, sagt sie bloß: „Ich nehme<br />

das dann gar nicht erst zur Kenntnis.“<br />

<strong>Am</strong> 18. September wird der Finanzminister<br />

70 Jahre alt. Die CDU wird ihn feiern,<br />

eine Biografie wird erscheinen, eine<br />

Fernsehdokumentation ausgestrahlt werden.<br />

Es wird wieder um die Frage gehen,<br />

wie Wolfgang Schäuble das alles aushalten<br />

kann.<br />

Und Ingeborg?<br />

Die glücklichen Momente in der Kindheit<br />

von Ingeborg Hensle spielen vor dem<br />

weichen, hügeligen Grün des Kaiserstuhls.<br />

Aus dem Weinbaugebiet stammt ihre Mutter,<br />

und die fährt von Freiburg, wo die Familie<br />

wohnt, häufig zu den Verwandten.<br />

Ingeborg und ihre zwei Geschwister kommen<br />

mit, sie helfen im Weinberg oder bei<br />

der Obsternte. Nach der Knochenarbeit<br />

vespern alle zusammen unter einem Baum.<br />

In der Szene liegen einige Dinge, die Ingeborg<br />

Schäuble prägen: Das Vergnügen<br />

kommt nach der Arbeit. Und die Familie<br />

ist das Wichtigste.<br />

Nach dem Abitur studiert sie Volkswirtschaft.<br />

In der Freiburger Mensa trifft<br />

sie einen Jurastudenten. Sie heiraten. Wolfgang<br />

und Ingeborg, das ist zunächst auch<br />

beruflich eine gleich starke Beziehung.<br />

Sie fängt beim Freiburger Pharmaunternehmen<br />

Gödecke an, er beim Finanzamt.<br />

Manchmal kocht er ihr Linsen mit Spätzle.<br />

Eines Abends ruft die Junge Union an und<br />

trägt Wolfgang Schäuble die erste Bundestagskandidatur<br />

an. Er sagt zu, er gewinnt,<br />

da hat ihn die Politik. Meist bringt sie ihn<br />

Montagnacht um halb zwölf zum IC nach<br />

Bonn. „Und dann war er für die ganze Woche<br />

weg.“<br />

Obwohl sie schon zwei Kinder haben,<br />

lässt sie sich zur Lehrerin ausbilden. Aber<br />

als sie es geschafft hat, kommt das dritte<br />

Kind. Sie entscheidet, nur für die Familie<br />

da zu sein, wenn schon der Vater in Bonn<br />

ist. Fragt man sie, ob sie mit der Politik<br />

konkurriert habe um diesen Mann, sagt sie:<br />

„Ich hätte nie meinen Mann vor die Entscheidung<br />

gestellt – die Politik oder ich.“<br />

1990 schießt ein geistig Verwirrter auf<br />

Wolfgang Schäuble. Er überlebt. Aber das<br />

Leben nach dem Überleben ist ein Kampf,<br />

auch für seine Frau. Die Verben klingen<br />

hart, wenn sie über diese Zeit redet.<br />

Durchstehen, verzichten. 1991 bucht sie<br />

eine Reise nach Ägypten, sie muss raus, sie<br />

macht das nur für sich.<br />

Fünf Jahre später wird sie zur Vorstandsvorsitzenden<br />

der Welthungerhilfe<br />

gewählt. Sie reist zu den Projekten. Einmal,<br />

1999 in Angola, muss ihr Flugzeug<br />

lange über der eingekesselten Stadt Balombo<br />

kreisen, um nicht abgeschossen zu<br />

werden. Aber sie will den Menschen dort<br />

unbedingt Mut machen. Sie prangert die<br />

Ölkonzerne an, die die Kassen von Angolas<br />

Kriegsherren füllen. Ihr <strong>Am</strong>t besteht<br />

auch aus viel Kleinarbeit. Alleine tingelt<br />

sie im Regionalexpress zu den Initiativen<br />

und Weihnachtsbasaren. „Für keinen Termin<br />

war sie sich zu schade“, sagt Simone<br />

Pott, die Sprecherin der Welthungerhilfe.<br />

„Sie war nie eine Charity-Lady.“<br />

Neben ihrem <strong>Am</strong>t bei der Welthungerhilfe<br />

betreut sie ihre pflegebedürftige Mutter,<br />

sie hat sie zu sich nach Berlin geholt.<br />

Sie muss das machen, so ist sie, das ganze<br />

Leben kümmert sie sich um andere, um<br />

die Kinder, die Mutter, die Hungernden<br />

der Welt und um den Mann im Rollstuhl.<br />

„Es ist ja nicht so, dass man nichts für sich<br />

tut, wenn man für andere etwas tut“, sagt<br />

sie. „Aber ich habe immer gedacht, meine<br />

Zeit kommt noch.“<br />

2008 gibt sie das <strong>Am</strong>t bei der Welthungerhilfe<br />

ab. 2010 ist ihr Mann so krank,<br />

dass er während einer Brüssel-Reise in die<br />

Klinik muss. Schon tags darauf verlässt er<br />

das Krankenhaus wieder, der Professor ist<br />

fassungslos. Keine ärztliche Begleitung,<br />

kein Krankenwagen, nur Wolfgang und<br />

Ingeborg.<br />

Der Minister erholt sich. 2011 stirbt<br />

Ingeborg Schäubles Mutter.<br />

Auf einmal hat sie Zeit. Sie ist 68. Sie<br />

beschließt, einfach mal nicht so viel zu machen.<br />

Der Haushalt, aber sonst: lesen, Rad<br />

fahren, Leute treffen, Fitnessstudio. Es ist<br />

fast ein Wunder, dass der Pflichtmensch Ingeborg<br />

Schäuble so unbefangen über Freizeit<br />

sprechen kann.<br />

Und paradox: Während man bei Wolfgang<br />

Schäuble bisweilen den Eindruck hat,<br />

er tue alles, um nicht von unverplanter<br />

Zeit überrumpelt zu werden, hat sich Ingeborg<br />

Schäuble diese Zeit erkämpft. „Ich<br />

nutze die gewonnenen Freiräume“, sagt<br />

sie. Vielleicht zum ersten Mal lebt sie einfach<br />

so in den Tag hinein. Sie kann es sich<br />

leisten, die Frau, an der man sehen kann,<br />

welche Größe darin liegt, für andere da<br />

zu sein.<br />

Georg Löwisch<br />

ist Textchef bei <strong>Cicero</strong><br />

Fotos: Karin Rocholl, Wolfgang Borrs (Autor)<br />

42 <strong>Cicero</strong> 9.2012


„Es ist ja nicht<br />

so, dass man<br />

für sich nichts<br />

tut, wenn man<br />

für andere etwas<br />

tut“ – demnach<br />

hat Ingeborg<br />

Schäuble auch viel<br />

für sich getan<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 43


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

PreuSSen im Shitstorm<br />

Hermann Parzinger bringt als Chef der „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ derzeit die Feuilletons gegen sich auf<br />

von alexander marguier<br />

D<br />

afür, dass Hermann Parzinger die<br />

derzeit meistverachtete Person<br />

im deutschen Kulturbetrieb ist,<br />

wirkt er einigermaßen gefasst. Leute, die<br />

ihn gut kennen, behaupten allerdings, die<br />

Contenance des 53‐Jährigen sei reine Fassade;<br />

tief im Inneren sei der Präsident der<br />

Berliner „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“<br />

empfindlich getroffen – geradezu fassungslos<br />

über die Vorwürfe, die seit einigen Wochen<br />

auf ihn niederprasseln. Einen Kulturbanausen<br />

und Bilderstürmer hat man ihn<br />

geschimpft, wobei das noch die harmloseren<br />

Verbalattacken in Richtung dieses<br />

feingliedrigen, zurückhaltend wirkenden<br />

Mannes mit dem grau melierten Vollbart<br />

waren. Im medialen Shitstorm, den etliche<br />

bisweilen gar nicht sonderlich feinsinnige<br />

Feuilletonisten heraufbeschworen haben,<br />

herrscht offenbar die totale Enthemmung.<br />

Gerade so, als hätte ein Kartell von Kunstkritikern<br />

nur auf die passende Gelegenheit<br />

gewartet, um endlich auch mal so richtig<br />

die Sau rauslassen zu können: Boulevard<br />

meets Museum.<br />

Wie konnte es so weit kommen? Das<br />

Unglück nahm seinen Lauf am 12. Juni<br />

dieses Jahres mit einer, fast könnte man<br />

sagen: Petitesse von zehn Millionen Euro.<br />

Das ist natürlich nicht ganz wenig, aber im<br />

Vergleich zum 260 Millionen Euro schweren<br />

Gesamtetat der Preußen-Stiftung dann<br />

eben doch eher ein Trinkgeld. Ein gut gemeintes<br />

allemal, denn diese Summe, die<br />

an jenem frühsommerlich-heiteren Dienstag<br />

bei Beratungen zum Nachtragshaushalt<br />

im Bundestag der von Parzinger geleiteten<br />

Kulturinstitution zugeschlagen wurde,<br />

sollte so etwas sein wie die Initialzündung<br />

für eine Neuordnung der Berliner Museumslandschaft.<br />

Dieses Projekt firmiert inzwischen<br />

fast nur noch unter dem bündigen<br />

Titel „Rochade“, und es ist – anders als<br />

die Feuilletonpanik vermuten lässt – ein<br />

ziemlich alter Hut. Was Hermann Parzinger<br />

in seiner unaufgeregten Art jedenfalls<br />

als „die Lösung aller Probleme“ beschreibt,<br />

kommt je nach Standpunkt entweder einem<br />

Befreiungsschlag gleich oder aber einem<br />

Hütchenspiel mit viel Trickserei und<br />

ganz, ganz bösem Ende für die schönen<br />

Künste.<br />

So viel zur Ausgangslage: Berlin verfügt<br />

mit seiner Gemäldegalerie über eine der<br />

bedeutsamsten Sammlungen Alter Meister<br />

weltweit. Beherbergt wird sie von einem<br />

erst 1998 eröffneten Museum, das<br />

dafür zwar maßgeschneidert wurde, sich<br />

jedoch in einer etwas ungünstigen innerstädtischen<br />

Brachenlandschaft neben der<br />

Philharmonie und in Sichtweite des Potsdamer<br />

Platzes befindet. Ebenfalls ganz in<br />

der Nähe liegt die Neue Nationalgalerie<br />

mit ihrem berühmten Mies-van-der-Rohe-<br />

Bau aus dem Jahr 1968 – der als Ausstellungsfläche<br />

für insbesondere die Kunst der<br />

Klassischen Moderne schon seit Anbeginn<br />

aus allen Nähten platzt; nur ein kleiner<br />

Bruchteil der Bestände kann überhaupt<br />

dort gezeigt werden. Einen halben Kilometer<br />

Luftlinie in nordöstlicher Richtung<br />

von diesem Quartier entfernt: die Museumsinsel<br />

mit unter anderen dem Bode-<br />

Museum für Skulpturen vom Mittelalter<br />

bis zum späten 18. Jahrhundert. Wäre es<br />

nicht schlau, so schlugen es die Befürworter<br />

der Rochade schon vor mehr als zehn<br />

Jahren vor, die Alten Meister aus der Gemäldegalerie<br />

auf die Museumsinsel zu bringen<br />

und die Gemäldegalerie stattdessen in<br />

ein großes „Museum des 21. Jahrhunderts“<br />

umzuwidmen? Zumal sämtliche Flächen<br />

und Kunstwerke, die davon betroffen sind,<br />

ohnehin der „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“<br />

unterstehen?<br />

Wie aus diesem alles andere als abwegigen<br />

Plan quasi über Nacht ein erbitterter<br />

Kulturkampf werden konnte, ist ein<br />

Rätsel, das nicht nur Hermann Parzinger<br />

zu schaffen macht. Sondern auch Bundestagsabgeordneten<br />

wie Monika Grütters von<br />

der CDU, die mit viel Engagement für die<br />

Rochade geworben haben und es als Signal<br />

feiern wollten, dass die zehn Millionen<br />

Euro im Nachtragshaushalt für die<br />

Umbaumaßnahmen der Gemäldegalerie<br />

zu einem „Museum des 21. Jahrhunderts“<br />

bewilligt worden waren. Warum es anders<br />

kam, versucht Parzinger sich nun mit einem<br />

„etwas unglücklichen Ablauf der Ereignisse“<br />

zu erklären. Auch seine Stiftung<br />

sei von dem Zehn-Millionen-Segen überrascht<br />

worden, „wir hätten das gerne anders<br />

kommuniziert“. Vielleicht ahnte er ja bereits,<br />

dass sogar Feuilletonschreiber inzwischen<br />

vom Wutbürgervirus infiziert sind<br />

und plötzlich wild um sich schlagen können,<br />

wenn sie sich vor vermeintlich vollendete<br />

Tatsachen gesetzt fühlen. Der notorische<br />

Herdentrieb in der Kunstkritik sorgt<br />

dann für den Rest.<br />

Also hat Hermann Parzinger die vergangenen<br />

Wochen vor allem damit zugebracht,<br />

dem anschwellenden Bocksgesang<br />

seiner Kritiker Argumente entgegenzusetzen.<br />

Da geht es beispielsweise um den Vorwurf,<br />

die altmeisterlichen Gemälde würden<br />

wegen der Rochade für Jahrzehnte,<br />

wenn nicht für immer in irgendwelchen<br />

Lagern verschwinden. Falsch, beteuert der<br />

Stiftungschef, maximal sieben Jahre lang<br />

müsse wegen des Umzugs mit Einschränkungen<br />

gerechnet werden: Die Hälfte der<br />

aktuell gezeigten Werke könne im Bode-<br />

Museum präsentiert werden, und weil für<br />

die Übergangszeit bis zur Eröffnung eines<br />

Neubaus auf der Museumsinsel provisorische<br />

Ausstellungsflächen gefunden<br />

würden, seien 70 bis 80 Prozent des Bestands<br />

auch weiterhin öffentlich zugänglich.<br />

„Wenn man uns da vorwirft, Kulturschänder<br />

zu sein, dann verstehe ich die<br />

Welt nicht mehr.“<br />

Mit noch größerem Unverständnis<br />

dürfte Parzinger auf einen Zeitungsartikel<br />

des FAZ-Altkritikers Eduard Beaucamp<br />

reagiert haben, der Mitte Juli in geradezu<br />

unflätiger Weise die Umzugspläne<br />

Foto: Andreas Pein<br />

44 <strong>Cicero</strong> 9.2012


So schnell gibt er<br />

sich nicht geschlagen:<br />

Hermann Parzinger<br />

in der Berliner<br />

„Villa von der<br />

Heydt“, dem Sitz der<br />

Preußen-Stiftung<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 45


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

verdammte: Von einem „Handstreich“ war<br />

da die Rede, von einem „Abbruchunternehmen“<br />

und einem „brachialen Planungsdesaster“.<br />

Einmal davon abgesehen, dass<br />

derselbe Beaucamp die Rochadenpläne einige<br />

Jahre zuvor noch regelrecht bejubelt<br />

hatte, nutzte der inzwischen 75-jährige Kritiker<br />

seine Suada gleich noch für persönliche<br />

Beleidigungen: Parzinger sei „ohne<br />

Sensibilität für die klassischen Künste“,<br />

seine Argumente von „Einfalt und Grobheit“<br />

gezeichnet. Will sagen: Ein Archäologe<br />

an der Spitze der „Stiftung Preußischer<br />

Kulturbesitz“ mit ihren 16 Staatlichen Museen,<br />

der Staatsbibliothek und etlichen Instituten,<br />

das könne ja sowieso nicht gut gehen<br />

– solche Typen graben doch sonst nur<br />

den Sand in der Wüste um.<br />

„Sprachlich war das zum Teil unter der<br />

Gürtellinie“, sagt Parzinger, aber was ihn<br />

wirklich entsetzt habe: „Dass die FAZ einer<br />

Gegenmeinung überhaupt keinen Platz einräumt.“<br />

Er selbst sei von der Sekretärin abgewimmelt<br />

worden beim Versuch, den zuständigen<br />

Feuilleton-Herausgeber ans Telefon zu<br />

bekommen. Kein Wunder also, wenn bei<br />

der Preußen-Stiftung inzwischen von einer<br />

Kampagne die Rede ist. Gut möglich, heißt<br />

es, dass alte Differenzen wegen dem Wiederaufbau<br />

des Berliner Stadtschlosses der<br />

Grund dafür sind; auch an diesem Vorhaben<br />

ist die „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“<br />

maßgeblich beteiligt.<br />

Dass dem Archäologen Parzinger vor<br />

gut vier Jahren eine der größten Kulturinstitutionen<br />

des Landes anvertraut wurde,<br />

war kein Zufall – am Ende machte er sogar<br />

gegen den flamboyanten Kulturwissenschaftler<br />

Martin Roth das Rennen,<br />

der inzwischen das „Victoria and Albert<br />

Museum“ in London leitet. Aber Parzinger<br />

hatte sich bis dahin eben nicht nur als<br />

Altertumsforscher von Weltrang etabliert,<br />

sondern als Leiter des „Deutschen Archäologischen<br />

Instituts“ noch dazu großes organisatorisches<br />

Geschick bewiesen. Außerdem<br />

spricht der Mann zehn Sprachen<br />

und hat exzellente Kontakte nach Russland,<br />

die er bei Verhandlungen über die<br />

Rückgabe von Beutekunst aus dem Zweiten<br />

Weltkrieg bestens zu nutzen weiß. Für<br />

seine Verdienste um die Erforschung der<br />

Skythen, eines Reiternomadenvolks, das<br />

im 8. Jahrhundert in die Wolgagegend<br />

vordrang, bekam Parzinger vor drei Jahren<br />

sogar den „Orden der Freundschaft“<br />

von Dmitri Medwedew überreicht – die<br />

höchste Auszeichnung, die Russland an<br />

Ausländer zu vergeben hat. Während seiner<br />

Urlaube nimmt der passionierte Forscher<br />

immer noch an Grabungen teil, doch<br />

dass ihm dieser wissenschaftliche Eifer jetzt<br />

als Ausweis für Kulturbanausentum vorgehalten<br />

wird, hätte er sich wahrlich nicht<br />

träumen lassen. „Etwas billig“ sei diese Masche<br />

seiner Kritiker, stellt Hermann Parzinger<br />

dazu nur kühl fest.<br />

Im Arbeitszimmer des Stiftungspräsidenten,<br />

gleich neben der Eingangstür,<br />

befindet sich eine Ansicht des Brandenburger<br />

Tors – ein Werk Oskar Kokoschkas,<br />

das bereits von Parzingers Vorgänger<br />

Einfalt und Grobheit werden<br />

ihm wegen der Umzugspläne für<br />

Berlins Alte Meister vorgeworfen<br />

ausgesucht worden war. Er selbst hat sich<br />

aus dem Archiv zwei Bilder von Erich Heckel<br />

ausgeliehen, die nun neben seinem<br />

Schreibtisch hängen; der Übergang von<br />

Impressionismus zum Expressionismus<br />

bei diesem Künstler fasziniere ihn – „auch<br />

wenn manche Kollegen ein bisschen die<br />

Nase rümpfen“.<br />

Vom Sitz der Preußen-Stiftung am<br />

Landwehrkanal gelangt man zu Fuß in weniger<br />

als 15 Minuten zur Gemäldegalerie.<br />

Parzinger gibt gerne zu, dass er selbst viel<br />

zu selten den Weg dorthin finde – er hat<br />

sich eben noch um tausend andere Sachen<br />

zu kümmern. Aber auch auf Kunstinteressierte<br />

mit deutlich weniger Zeitdruck wirkt<br />

das Museum mit seinen altmeisterlichen<br />

Schätzen nicht gerade wie ein Magnet:<br />

250 000 Besucher im Jahr; die „Gemäldegalerie<br />

Alte Meister“ in Dresden kommt<br />

auf das Doppelte. Nun vertreten zwar beflissene<br />

Advokaten der reinen Lehre den<br />

Standpunkt, wer sich an solcherlei Zahlen<br />

orientiere, stelle die schönen Künste „auf<br />

eine Stufe mit Massenspektakeln“ (FAZ).<br />

Doch diese reichlich dünkelhafte Haltung<br />

lässt wiederum Parzinger nicht gelten: „Wir<br />

haben ja auch einen Beitrag zur kulturellen<br />

Bildung zu leisten.“ Und da darf man sich<br />

durchaus schon mal die Frage stellen, warum<br />

in der Berliner Gemäldegalerie trotz<br />

ihrer grandiosen Sammlung nicht selten<br />

mehr Museumswärter als Museumsgäste<br />

anzutreffen sind.<br />

„Es würde dem Ort wirklich helfen,<br />

wenn er ein klareres Profil bekäme“, lautet<br />

Parzingers feste Überzeugung. Gerade<br />

wegen der Nähe zum Potsdamer Platz, zur<br />

Philharmonie von Hans Scharoun und natürlich<br />

zum Mies-Bau der Neuen Nationalgalerie<br />

sei die heutige Gemäldegalerie prädestiniert<br />

für ein Museum mit der Kunst<br />

des 20. Jahrhunderts. „Davon haben wir<br />

hier in Berlin einen riesigen Bestand, den<br />

kein Mensch kennt, weil er wegen Platzmangels<br />

nicht gezeigt werden kann.“ Das<br />

alles künftig unter einem Dach sehen zu<br />

können – Befürworter der Rochade verwenden<br />

dafür den Slogan „Von Brücke bis<br />

Beuys“ –, sei eine „riesige Chance“. Von dieser<br />

Meinung lässt sich Hermann Parzinger<br />

auch nicht durch eine Internet-Petition beirren,<br />

die mittlerweile an die 15 000 Umzugsskeptiker<br />

aus aller Welt unterzeichnet<br />

haben. Ob diese Leute wirklich alle wissen,<br />

dass Parzinger sich auf die Rochade nur einlassen<br />

will, wenn der Bundestag einen Neubau<br />

für die Alten Meister auf der Museumsinsel<br />

garantiert? Fraglich.<br />

„Ich wage vorauszusagen: Wenn dieser<br />

große Plan jetzt scheitert, dann ist er für<br />

immer gescheitert.“ Was sich wie eine Drohung<br />

liest, klingt aus dem Munde Parzingers<br />

eher wie ein Appell an die Vernunft.<br />

Das laute Getöse hat ihn jedenfalls am Kern<br />

der Sache nicht zweifeln lassen; die „Stiftung<br />

Preußischer Kulturbesitz“ wird unter<br />

Führung des gebürtigen Münchners weiter<br />

für die Rochade kämpfen. Und daran,<br />

dass Hermann Parzinger ein ziemlich versierter<br />

Kämpfer ist, besteht wenig Zweifel:<br />

Der Archäologe ist ganz nebenbei nämlich<br />

auch noch erfolgreicher Judoka: schwarzer<br />

Gürtel, 2. Dan, mehrfacher Berliner Meister<br />

in der Altersklasse über 30. Da ist schon<br />

ein bisschen Geschick nötig, um so jemanden<br />

auf die Matte zu legen.<br />

Alexander Marguier<br />

ist stellvertretender<br />

Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

Foto: Andrej Dallmann (Autor)<br />

46 <strong>Cicero</strong> 9.2012


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| B e r l i n e r R e p u b l i k | B e s c h n e i d u n g : P r o<br />

Ja, ich habe beschnitten!<br />

Seit Wochen streitet Deutschland über die Beschneidung muslimischer und jüdischer<br />

Jungen. Doch was denken jene, die es eigentlich angeht? Einblick in die Seele einer Mutter<br />

von Adriana Altaras<br />

Neulich bei Lanz wurde ich gefragt,<br />

wie ich denn als Mutter<br />

meine Söhne habe beschneiden<br />

lassen können. Das sei ja wohl<br />

das Allerletzte! Ich begann zu<br />

Entscheidung schwergetan hätte, schließlich<br />

sei ich eine moderne Frau und lebe ein<br />

assimiliertes Judentum … Ich kam nicht<br />

weit mit meiner Berichterstattung, denn<br />

sofort beherrschten Ekel und Abscheu,<br />

aber vor allem ein großes<br />

schwarzes Loch an Unwissen<br />

die Diskussion.<br />

Juden sind eben nur<br />

dann nett, wenn sie Opfer<br />

sind. Als Menschen mit<br />

eigener Kultur, womöglich<br />

noch fremdartigen Ritualen<br />

sind sie plötzlich nicht mehr so<br />

süß. Ich halte das für Doppelmoral,<br />

und da mir jetzt keiner reinbeten kann,<br />

werde ich rasch ein paar Gedanken zu Papier<br />

bringen.<br />

Ja, auch jüdischen Müttern fällt die Beschneidung<br />

schwer – denn auch sie hören<br />

ihr Neugeborenes weinen. Tradition und<br />

aufgeklärtes, modernes Berufsleben beginnen<br />

einen Wettstreit, der meist in schlaflosen<br />

Nächten, heftigen Diskussionen mit<br />

der Familie, dem Partner und den Freundinnen<br />

kulminiert. Ich kenne keine Jüdin,<br />

jedenfalls nicht in Berlin, die sich trotz aller<br />

Unsicherheit gegen die Beschneidung<br />

entschieden hätte. Vielleicht gibt es welche,<br />

ich habe sie nicht getroffen.<br />

Für den Jungen beginnt mit der Beschneidung<br />

ein Leben nicht nur in einer<br />

Familie, sondern in einer Gemeinschaft.<br />

Für manchen eine Glaubensgemeinschaft,<br />

für mich – die ich, bevor ich Kinder hatte,<br />

den Kommunismus, den Sozialismus, den<br />

erzählen, dass ich mich mit der<br />

+<br />

Kapitalismus und vier unterschiedliche<br />

Sprachen kennenlernen durfte – Identität.<br />

Ein großes Wort, aber ein besseres habe<br />

ich nicht dafür.<br />

Natürlich hingen mir meine Freunde<br />

in den Ohren: Bist du verrückt? Du beschneidest,<br />

wie die Frauen in Afrika beschnitten<br />

werden! (Absoluter Quatsch!)<br />

Er wird später kaum etwas fühlen, gaben<br />

meine schwulen Freunde zum Besten.<br />

(Auch Blödsinn!) Wenn Gott die<br />

Vorhaut nicht gewollt hätte,<br />

hätte er sie doch gleich weggelassen!<br />

Die Christen …<br />

Da wären wir bei einem<br />

wichtigen Punkt: Wir sind<br />

keine Christen. Wir haben<br />

andere Rituale, Rituale, die<br />

mich stärken – auch wenn ich<br />

immer noch nicht und wahrscheinlich<br />

nie verstehen werde, warum<br />

meine Familie dafür verfolgt wurde.<br />

Bei der Brit Mila, der Beschneidung<br />

meiner Söhne, waren mehr als 100 Gäste<br />

geladen. Sie standen uns bei, sie ersetzten<br />

Familienangehörige, die es nicht mehr<br />

gibt, sie gaben mir Halt, sie gingen mir<br />

auf die Nerven. Sie taten das, was man als<br />

Gemeinschaft tut. Bestenfalls. Füreinander<br />

da zu sein.<br />

Nein, es gibt keine Betäubung. Aber<br />

dem Jungen werden mit dem Finger einige<br />

Tropfen koscherer Wein gegeben, und auf<br />

einer sterilen Unterlage wird die Beschneidung<br />

vorgenommen. Das Kind weint, die<br />

Mutter japst, das Baby wird gestillt und<br />

schläft ein. Wenn es aufwacht, wird die<br />

Wunde angeschaut und neu verbunden,<br />

dann geht der Mohel (Beschneider), seine<br />

Arbeit ist getan.<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 50<br />

Foto: MENAHEM KAHANA/AFP/Getty Images<br />

Ein Schnitt für die Gemeinschaft:<br />

Beschneidungszeremonie in der<br />

israelischen Stadt Haifa<br />

48 <strong>Cicero</strong> 9.2012


B e s c h n e i d u n g : c o n t r a | B e r l i n e r R e p u b l i k |<br />

Gleiche Regeln für alle<br />

Rechtlich kann es keinen Zweifel geben: Beschneidung bei einem Kind ist<br />

Körperverletzung. Ein Plädoyer für eine konsequente Säkularisierung der Werte<br />

von Philipp Blom<br />

Selten hat ein Gerichtsurteil<br />

ohne unmittelbare strafrechtliche<br />

Auswirkungen so viel<br />

Entrüs tung und so viele Kontroversen<br />

verursacht wie das<br />

zur Beschneidung von Jungen. Beide Seiten<br />

der daraus resultierenden Debatte haben<br />

sich rhetorisch überboten, kein Klischee<br />

wurde ausgelassen, von A wie Antisemitismus<br />

und Auschwitz bis Z wie<br />

Zukunft von Islam und Judentum<br />

in Deutschland.<br />

Juristisch gesehen kann<br />

kein Zweifel bestehen:<br />

Ein medizinisch nicht<br />

notwendiger chirurgischer<br />

Eingriff an einem Kind ist<br />

Urteil des Kölner Landgerichts<br />

-<br />

Körperverletzung, noch<br />

dazu, wenn er ohne Narkose<br />

vorgenommen wird. Keine Tradition<br />

und keine gute Absicht kann das<br />

ändern. Es gibt wohl keinen deutschen<br />

Arzt, der einem westafrikanischen Kind<br />

traditionelle Ziernarben in den Körper<br />

ritzen würde, auch wenn die Konsequenzen<br />

dieses Eingriffs weniger gravierend sind<br />

als die Entfernung der Vorhaut bei einem<br />

Jungen – und auch wenn die Eltern meinten,<br />

sie würden ihm ein identitätsstiftendes<br />

Geschenk machen.<br />

Es lohnt sich daher kaum, die daran<br />

anschließenden Argumente noch einmal<br />

durchzuexerzieren, denn es geht nicht darum,<br />

ob ein beschnittener Mann sexuell<br />

eingeschränkt oder im Vorteil ist, was die<br />

hygienischen Aspekte sind und ob die Zeremonie<br />

von Kindern als traumatisch erfahren<br />

wird oder nicht und möglicherweise<br />

bleibende psychische Schäden hinterlässt.<br />

Tatsächlich geht es um Machtverhältnisse:<br />

die Macht einer Gemeinschaft über<br />

ihre Kinder, die Macht einer Gesellschaft<br />

über ihre Minderheiten und den Stellenwert<br />

von religiösen Überzeugungen und<br />

Traditionen in einer zunehmend säkularen<br />

Gesellschaft. Diese Frage ist in den vergangenen<br />

Jahren in verschiedener Form immer<br />

wieder aufgetaucht, sei es bei der Debatte<br />

um Verschleierung und Burka und<br />

das Verbot in Frankreich, im niederländischen<br />

Streit um das Schächten von<br />

Vieh nach jüdischem oder islamischem<br />

Religionsgesetz<br />

(das heißt ein Kehlschnitt<br />

ohne Narkose, der in anderen<br />

Kontexten längst<br />

verboten ist) oder in der<br />

kürzlich in Deutschland<br />

neckisch aufgeworfenen<br />

Forderung nach einem<br />

Blasphemieverbot.<br />

Diese Scharmützel zwischen<br />

religiösen Traditionen und weltlichen<br />

Werten stellen einen Kontext her, der hinter<br />

den oft hysterisch geführten Teildebatten<br />

ein größeres und wichtigeres Thema erkennen<br />

lässt: Wie können wir uns Regeln<br />

für eine Gesellschaft geben, deren Mitglieder<br />

nicht alle dieselbe Tradition haben,<br />

dieselben Werte und dieselben Ziele? Was<br />

kann und was muss in einer multikulturellen,<br />

von Migration geprägten Gesellschaft<br />

verbindlich sein und was verhandelbar?<br />

Bis nach dem Zweiten Weltkrieg hat<br />

sich diese Frage kaum gestellt, weil europäische<br />

Gesellschaften historisch und ideologisch<br />

homogener waren. Es gab einen Riss<br />

zwischen christlichen und aufklärerischen<br />

Werten, der sich durch die Debatten zog<br />

und noch immer zieht, aber da wichtige<br />

Aufklärungsdenker wie Kant und Voltaire<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 51<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 49


| B e r l i n e r R e p u b l i k | B e s c h n e i d u n g : P r o<br />

Fortsetzung von Seite 48<br />

Frau von der Leyen, unsere Arbeitsministerin,<br />

saß mit mir in der Talkrunde bei<br />

Lanz. Bisher, erzählte sie, habe sie keine Ahnung<br />

gehabt, was Beschneidung wirklich<br />

sei. Aber hygienisch könne es auf keinen<br />

Fall sein. Schmallippig, applausheischend<br />

blickte sie in die Runde. Seit 5772 Jahren<br />

beschneiden Juden auf diese Art. Sie wären<br />

ja bekloppt, wenn sie dabei ihre Kinder<br />

nachhaltig verletzen würden. Man kann einiges<br />

darüber nachlesen, liebe Frau von der<br />

Leyen. Man kann Juden und Muslime befragen.<br />

Vielleicht sogar bevor man ein Gesetz<br />

kommentarlos durchgehen lässt.<br />

Wir jedenfalls haben gefeiert, gegessen<br />

und getanzt. Und als vor drei Jahren<br />

mein älterer Sohn Barmizwa hatte – in<br />

etwa das jüdische Äquivalent zur Konfirmation<br />

oder Firmung – waren dieselben<br />

Gäste wieder da, und wir feierten weiter,<br />

dass es uns noch gibt. Beide Male waren<br />

die Gäste Zeugen eines existenziellen Ereignisses:<br />

zunächst der Eintritt in die jüdische<br />

Gemeinschaft, dann die Feier, im religiösen<br />

Sinn erwachsen zu sein, mit dem Versprechen,<br />

sein Leben möglichst ehrenwert und<br />

gut zu leben. Was auch immer das heißen<br />

mag. Sie alle nehmen teil an dem Werdegang<br />

meiner Kinder. Geben mir Rat und<br />

Kraft: zum Beispiel jetzt, da die Pubertät<br />

in unsere Familie Einzug gehalten hat – die<br />

einen übrigens länger und härter beschäftigen<br />

kann als jede Beschneidung.<br />

Ja, bei der Beschneidung entscheiden<br />

die Eltern für ihre Kinder. Tun das Eltern<br />

nicht immer? Eigentlich schon ab der<br />

Schwangerschaft. Das ist wahrlich nicht<br />

leicht. Man übernimmt Verantwortung,<br />

in vielen Bereichen. Und genau das wollte<br />

ich. Ich wollte meinen Kindern eine Basis<br />

geben, einen festen Boden, von dem aus<br />

sie in die Welt gehen können. Ich glaube<br />

nicht daran, dass alles „später“, „aus freien<br />

Stücken“ sozusagen „buchbar“ ist. Meine<br />

Kinder haben ein Fundament, aus dem heraus<br />

sie handeln können, gegebenenfalls<br />

„umbuchen“. Es gibt beschnittene Hindus,<br />

Buddhisten – war Christus nicht auch beschnitten<br />

und hat sich dann für eine andere<br />

Religion entschieden?<br />

Natürlich ist auch das Judentum eine<br />

alte, an vielen Punkten überalterte Religion.<br />

Ich wäre sehr für eine Renovierung. Ein<br />

Thema, das langsam wieder Einzug findet in<br />

rabbinischen Kreisen. Aber die vergangenen<br />

60 Jahre war das jüdische Volk damit beschäftigt,<br />

die Schoah zu verkraften.<br />

Es ist müßig, Vergleiche zu ziehen: Aber<br />

der Ausschluss der Frauen aus den religiösen<br />

Handlungen in der katholischen Kirche,<br />

der Zölibat – da hätte ich auch noch<br />

einige Fragen … So lange schon toleriere<br />

ich diese merkwürdig verklemmte, christliche<br />

Religion und erhoffe mir eine ähnliche<br />

Toleranz für meine eigene.<br />

Ja, es gibt jüdische Mütter, die nicht<br />

beschnitten haben. Meist handeln sie aus<br />

dem Druck der Verhältnisse, aus Angst,<br />

man würde am Penis ihres Sohnes erkennen,<br />

dass er „staatsfeindlich“ ist, und ihn<br />

Ja, ich würde<br />

wieder<br />

beschneiden.<br />

Ich würde mich<br />

neun Monate<br />

den Zweifeln<br />

aussetzen,<br />

mich mit der<br />

Entscheidung<br />

quälen – und am<br />

Ende den Mohel<br />

anrufen<br />

der Universität oder des Landes verweisen.<br />

Angst vor Verfolgung war meistens der<br />

Grund: in Polen, in Ungarn noch in den<br />

fünfziger Jahren. Auch während des Holocausts<br />

war man vorsichtig, handelte aus Not<br />

gegen die jüdischen Gesetze. Man wollte<br />

unerkannt bleiben, kein identifizierendes<br />

Zeichen tragen – verständlicherweise.<br />

In meiner Umgebung hatten wir alle<br />

das Glück, uns nicht verstecken zu müssen.<br />

Und so haben orthodoxe, reformierte oder<br />

liberale Frauen ihre Söhne beschneiden lassen,<br />

meist zu Hause von einem Mohel am<br />

achten Tag nach der Geburt.<br />

Nein, wir konnten nicht klagen, bisher.<br />

Danke der Nachfrage: Meinen Söhnen<br />

geht es bestens, ihr Schmock sieht vorbildlich<br />

aus, sie sind gesund, übertragen weniger<br />

Krankheiten. Das hat sich bei den <strong>Am</strong>erikanern<br />

schon herumgesprochen, aber<br />

leider noch nicht in Deutschland.<br />

Ja, ich würde wieder beschneiden. Ich<br />

würde mich neun Monate den Zweifeln<br />

aussetzen, mich mit der Entscheidung quälen<br />

– und am Ende den Mohel anrufen. Die<br />

Angst vor dem jetzt kriminellen Akt würde<br />

mich weniger sorgen als das Gefühl, nach<br />

Holland zu müssen, um gegebenenfalls die<br />

Wunde zu versorgen. Denn eine deutsche<br />

Klinik würde mich beziehungsweise meinen<br />

Sohn nicht mehr behandeln. Müsste<br />

ich nach Holland wie unzählige Frauen,<br />

als das Abtreibungsgesetz, Paragraf 218, in<br />

Kraft trat? Ja, Frau von der Leyen, ich habe<br />

abgetrieben, ich habe beschnitten!<br />

Parallel zu Herrn Lanz saßen bei Frau<br />

Will der Berliner orthodoxe Rabbiner, eine<br />

Muslima und eine Psychologin. Der Rabbiner<br />

hatte seine Kippa auf, seine Schläfchenlocken<br />

kräuselten sich perfekt. Die<br />

Muslima war maßvoll, aber doch verhüllt.<br />

Die Psychologin hingegen hatte eine fesche<br />

Fönfrisur und elegante, schwarze Kleidung.<br />

Schon ohne Ton konnte man der Dämonisierung<br />

beiwohnen: Hier hält das Mittelalter<br />

Einzug in die modernen Wohnzimmer<br />

der Republik. Was auch immer die<br />

beiden Religionsvertreter zu sagen hätten:<br />

Ihr Äußeres sollte für sich sprechen – für<br />

eine Welt, die wir Aufgeklärten doch alle<br />

längst hinter uns gelassen haben sollten.<br />

Die Begegnung des Abendlands mit dem<br />

Morgenland findet auf dem abendländischen<br />

Spielfeld und nach abendländischen<br />

Spielregeln statt.<br />

Schade, dass Herr Müller, frisch gebackener<br />

Chef der Vatikanischen Kurie, nicht<br />

auch eingeladen war (ebenfalls in pittoreskem<br />

Outfit)! Er verteidigt die Beschneidung<br />

als religiöses Ritual – und religiöse<br />

Rituale seien unantastbar. Die Front verläuft<br />

nicht mehr zwischen Kirche contra Islam<br />

oder Judentum. In der Frage der Beschneidung<br />

verläuft sie anders als bisher.<br />

Interessant.<br />

Ob religiöse Rituale unantastbar sind,<br />

das vermag ich nicht zu beurteilen. Aber<br />

ich weiß, dass es nicht verkehrt sein kann,<br />

wenn unsere Kinder ein wenig Spiritualität<br />

in ihren Umhängetaschen haben, wenn sie<br />

ganze Nachmittage lang in den Einkaufszonen<br />

umherstreunen.<br />

Adriana Altaras<br />

ist Schauspielerin und<br />

Regisseurin. Von ihr erschien<br />

der autobiografische Roman<br />

„Titos Brille“<br />

Foto: Privat<br />

50 <strong>Cicero</strong> 9.2012


B e s c h n e i d u n g : c o n t r a | B e r l i n e r R e p u b l i k |<br />

Foto: Peter Rigaut<br />

Fortsetzung von Seite 49<br />

es sich nicht mit dem lieben Gott verderben<br />

wollten, gab es doch einen gemeinsamen<br />

Boden, von dem aus argumentiert<br />

und gestritten werden konnte. In der Praxis<br />

bedeutete Aufklärung oft Christentum<br />

„light“.<br />

Das hat sich grundlegend geändert.<br />

Heute haben nicht nur Moslems, sondern<br />

auch andere Europäer, die unterschiedlichen<br />

Traditionen entstammen oder Atheisten<br />

sind, persönliche und kulturelle Prioritäten,<br />

die sich nicht in christlichen Werten<br />

fassen lassen – und dieser Anteil der Bevölkerung<br />

wird weiter steigen. Die Frage ist<br />

also, wie wir Werte definieren können, die<br />

eine minimale Gemeinsamkeit beschreiben<br />

und für alle verbindlich sind.<br />

Das Problem mit religiös inspirierten<br />

Werten – etwa dem „jüdisch-christlichen<br />

Wertekanon“ der CDU – ist, dass der Wahrheitsanspruch<br />

jeder Tradition den aller anderen<br />

ausschließt, trotz allem Gerede von<br />

Ökumene, die darin in der Praxis besteht,<br />

dass eine religiöse Krähe der anderen kein<br />

Auge aushackt, wie man auch jetzt beim demonstrativen<br />

und dubiosen Schulterschluss<br />

der Kirchen mit dem jüdisch-islamischen<br />

Beschneidungsgebot sehen kann.<br />

Unterschiedliche Traditionen und<br />

Weltbilder können nur dann miteinander<br />

leben, wenn die Ordnung des öffentlichen<br />

Raumes nicht einer von ihnen eine<br />

Vormachtstellung gibt, in einem neutralen<br />

Raum, der auf säkularen Minimalwerten<br />

aufbaut. Gerade in Deutschland tut<br />

man sich schwer damit – nicht nur, weil<br />

der Bundespräsident ein Pfarrer ist und die<br />

Bundeskanzlerin eine Pfarrerstochter, die<br />

christliche Werte im Grundgesetz verankert<br />

wissen möchte, sondern auch, weil die<br />

Bundesrepublik keine konsequente Trennung<br />

von Kirche und Staat vollzieht: Sie<br />

treibt Kirchensteuern ein (nicht aber Moscheen-,<br />

Synagogen- oder Tempelsteuern<br />

oder Beiträge für Fußballclubs), und der<br />

Standardtext eines <strong>Am</strong>tseids endet noch<br />

immer mit „so wahr mir Gott helfe“.<br />

Die Berufung auf „jüdisch-christliche“<br />

Werte täuscht darüber hinweg, dass<br />

viele davon mit unserem Moralverständnis<br />

völlig unvereinbar sind. Gemeint sind<br />

oft Nächstenliebe und universelle Bruderschaft,<br />

aber Erstere ist als „goldene Regel“<br />

(Was du nicht willst …) in fast allen<br />

moralischen Systemen verankert, und<br />

die zweite hinderte Christen und Moslems<br />

jahrhundertelang nicht daran, Menschen<br />

anderer Hautfarben und Bekenntnisse<br />

zu versklaven oder zu ermorden. Erst<br />

unter dem Druck der Aufklärung haben<br />

die abrahamitischen Religionen begonnen,<br />

sich von den Werten der Bronzezeit<br />

teilweise loszusagen, nach denen Frauen<br />

rechtlos waren, Homosexuelle gesteinigt<br />

wurden, Exorzisten Epileptikern Dämonen<br />

austrieben und kleine Jungen als Ersatz<br />

für Menschenopfer beschnitten wurden.<br />

Damals glaubte man übrigens auch<br />

noch, die Erde sei eine Scheibe.<br />

Eine multikulturelle Moral könnte<br />

ungefähr so funktionieren wie der Straßenverkehr.<br />

Es gäbe viele Möglichkeiten,<br />

eine Vorfahrtsregel praktikabel zu begründen<br />

– etwa indem Autos einheimischer<br />

Herstellung immer Vorfahrt haben oder<br />

besonders umweltfreundliche, kleine, oder<br />

rote Fahrzeuge oder Frauen vor Männern.<br />

Tatsächlich aber gilt: Ein Auto ist ein Auto<br />

ist ein Auto, solange es und sein Fahrer den<br />

technischen Anforderungen genügen. Es ist<br />

gleichgültig, was der Fahrer gerade denkt,<br />

wie er die Welt sieht, warum er fährt, woher<br />

er kommt oder wohin er will, solange<br />

er die StVO befolgt. Wenn er aber darauf<br />

besteht, auf der linken Straßenseite zu fahren,<br />

weil das bei ihm Tradition ist, baut er<br />

erst einen Unfall und verliert dann seinen<br />

Führerschein.<br />

Dieses täglich erfolgreich praktizierte<br />

System des Miteinander-Verkehrens basiert<br />

auf Gleichheit, auf Sicherheit und<br />

auf Freiheit (niemand fragt nach dem Warum,<br />

Woher oder Wohin). Es ist nicht sehr<br />

erhebend, weil es keine metaphysischen<br />

Ziele definiert, aber gerade deswegen ist<br />

es menschlich und anwendbar.<br />

Vielleicht sollten wir den lyrischen<br />

Paragrafen 1 Absatz 2 der Straßenverkehrsordnung<br />

ins Grundgesetz aufnehmen:<br />

„Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich<br />

so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt,<br />

gefährdet oder mehr, als nach den<br />

Umständen unvermeidbar, behindert oder<br />

belästigt wird.“ Darauf kann man keine<br />

Religion begründen – wohl aber eine<br />

Gesellschaft.<br />

Philipp Blom ist Historiker<br />

und Autor. Seine Bücher „Der<br />

taumelnde Kontinent“ und<br />

„Böse Philosophen“ wurden<br />

mehrfach ausgezeichnet<br />

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Jörg Schindler<br />

Dieses Buch ist aus Wut<br />

entstanden<br />

www.fischerverlage.de<br />

Dies ist ein Buch über Rüpel, Ignoranten, Sozial-Allergiker und andere Ichlinge. Menschen,<br />

die uns täglich auf offener Straße beleidigen. Kollegen, die rücksichtslos ihre Ellbogen<br />

ausfahren. Schmarotzer, die sich nicht um andere scheren.<br />

Traurig, aber wahr: Wir leben in einer Rüpel-Republik. Es wird Zeit für Veränderungen.<br />

Die Rüpel<br />

Republik<br />

scherz<br />

Warum<br />

sind wir so<br />

unsozial?<br />

ISBN 978-3-651-00047-6, 256 S. Broschur, € (D) 14,99


| B e r l i n e r R e p u b l i k | E x p e d i t i o n i n s P a r l a m e n t<br />

Bonbons mit<br />

Bundesadler<br />

Kein Witz: Wie ein politischer Kabarettist als <strong>Cicero</strong>-Reporter zwei<br />

Sitzungswochen im Deutschen Bundestag erlebte – Skandale inklusive<br />

von Michael Frowin<br />

„Der Bundestag ist mal voller und mal leerer“,<br />

pöbelte einst Otto Graf Lambsdorff, „aber<br />

immer voller Lehrer.“ Ist das immer noch so?<br />

52 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Fotos: Hans-Christian Plambeck/Laif, Julian Röder/Ostkreuz<br />

I<br />

ch gebe es zu: Ich lebe davon,<br />

den politischen Zirkus zu beobachten<br />

und satirisch aufbereitet<br />

einem gierigen Kabarettpublikum<br />

zum Fraß vorzuwerfen. Und<br />

ich gebe zu: Dem eingeschworenen<br />

Publikum läuft nicht das Wasser im<br />

Mund zusammen bei Themen wie „Zustimmung<br />

zum Freisetzungsversuch mit<br />

einem gentechnisch veränderten Lebendimpfstoff<br />

trotz erheblicher Risiken“. Vielleicht<br />

könnte aus dem Thema „Maßnahmen<br />

und Voraussetzungen zur Teilnahme<br />

an dem Programm ‚Initiative zur Flankierung<br />

des Strukturwandels‘ für Schlecker-<br />

Beschäftigte“ eine flotte Kabarettnummer<br />

werden, wenn man entweder gegen<br />

die Ausbeuterstrukturen von Discountern<br />

vom Leder zieht oder die<br />

Geiz-ist-Geil-Mentalität der Bevölkerung<br />

beschimpft.<br />

Ganz sicher aber ist die „Umstrittene<br />

Nutzung des Auslandsnachrichtendiensts<br />

für den Transport<br />

eines von BM Niebel privat gekauften<br />

Teppichs“ gefundene Munition<br />

für eine todsichere Pointenschlacht.<br />

Denn bei Niebel raucht die Tastatur<br />

des Gagschreibers: Der führt ein<br />

Ministerium, das er zuvor abschaffen<br />

wollte, rennt als „Guidos Großmaul“<br />

(Spiegel) mit olivgrüner Gebirgsjägermütze<br />

durch Afrika, verteilt Posten<br />

an Parteifreunde und schleust einen<br />

privat in Afghanistan gekauften Teppich<br />

am Zoll vorbei. Kabarett-Herz,<br />

was willst du mehr?<br />

Und genauso sollte es kommen.<br />

Allerdings nicht auf der Kabarettbühne,<br />

sondern im Bundestag.<br />

<strong>Cicero</strong> schickt mich, den Artfremden,<br />

ins Herz der Republik: zwei<br />

Sitzungswochen. Anschauen und<br />

berichten.<br />

Erste Station: Pressestelle. Die<br />

Bonbons mit dem Bundesadler auf<br />

dem Papier sind schon mal gut. Also gestärkt<br />

rein in die <strong>Am</strong>tsstube zur professionellen<br />

Abfertigung. Ausweis zeigen,<br />

sich vor die runde Kamera hocken – und<br />

zwei Minuten später halte ich ihn in der<br />

Hand: den roten Presseausweis des Deutschen<br />

Bundestags. Eine S-Bahn-Fahrkarte<br />

zu kaufen dauert länger. Ich decke mich<br />

ein mit kostenlosem Infomaterial (Geschäftsordnung,<br />

Kürschners Volkshandbuch,<br />

Lexikon der parlamentarischen<br />

Begriffe) – die Metamorphose vom Satiriker<br />

zum Schreiberling ist perfekt. Ich<br />

bin Reporter.<br />

Um warm zu werden, schickt man<br />

mich an Tag eins auf die Fraktionsebene.<br />

Zum Reinschnuppern. Und tatsächlich:<br />

Schon hier wird deutlich, was mich bis ans<br />

Ende der zwei Wochen begleiten wird: der<br />

Widerspruch zwischen Hektik und Handeln<br />

einerseits und Leerlauf und Langeweile<br />

andererseits.<br />

Tag zwei. Der Presseausweis öffnet alle<br />

Türen in den Bundestag. Das Spanngummi<br />

fürs Fahrrad muss ich abgeben, das Kellnermesser<br />

darf mit rein. Ob Abgeordnete<br />

eher erwürgt als erstochen werden?<br />

„So bleibt es dabei, dass offenbar alle dasselbe beklagen,<br />

obwohl alle dasselbe wollen“: <strong>Cicero</strong>-Autor Michael<br />

Frowin mit Hausausweis vor dem Reichstag<br />

Dann sitze ich im Saal. Es ist ein durchaus<br />

erhabenes Gefühl, so hautnah dran zu<br />

sein, sich so frei und selbstverständlich im<br />

politischen Zentrum zu bewegen, den Bundestag<br />

als so offenes Haus erleben zu können.<br />

Ich bin also gespannt.<br />

Aber um es vorwegzunehmen: Ernüchternder<br />

Höhepunkt der 183. Sitzung ist tatsächlich<br />

die aktuelle Stunde über den Teppich<br />

von Herrn Niebel. Denn ausgerechnet<br />

da kommt der Anschein von Wichtigkeit<br />

ins hohe Haus. Es treten auf: Brüderle und<br />

Döring, und sogar die Minister Bahr und<br />

Westerwelle geben sich die Ehre. Die komplette<br />

FDP-Fraktion tritt an. Sie alle sind<br />

da, um ihrem Teppichhändler die Stange zu<br />

halten. Ein Hauch von Hysterie liegt in der<br />

Luft, die Presse wittert den Skandal und bevölkert<br />

die Tribüne. Und dann fliegen auch<br />

schon die einstudierten Fetzen. „Liberales<br />

Teppichluder“ krakeelt der Angreifer – und<br />

wird von den Verteidigern niedergebrüllt.<br />

Der Minister selbst entschuldigt sich lustlos<br />

in der Hälfte seiner Redezeit. Danach dennoch<br />

lang anhaltender, rhythmischer Beifall.<br />

Als hätte er was gesagt.<br />

Und kaum ist der fade Auftritt des Ministers<br />

vorbei, trollt sich auch wieder<br />

der Außenminister und mit ihm die<br />

Hälfte der Fraktion. Und man fragt<br />

sich unwillkürlich: Langweilen diese<br />

einstudierten Mechanismen nicht<br />

furchtbar? Brigitte Zypries (SPD),<br />

ehemalige Bundesjustizministerin,<br />

wird im Gespräch mutmaßen, dass<br />

sich der Plenarsaal bei möglichen<br />

Skandalen deshalb füllt, weil die<br />

meisten Abgeordneten eben doch<br />

auch Bunte-Leser sind. Eine erstaunliche<br />

These.<br />

Die Rednerin Sibylle Pfeiffer<br />

(CDU/CSU) konstatiert: „Für mich<br />

stellt sich die Frage nach der Debattenkultur:<br />

Setzen wir nur noch auf<br />

Effekthascherei und Bedienung des<br />

Boulevards?“<br />

Über Debattenkultur und Boulevardisierung<br />

werde ich in den nächsten<br />

Tagen noch viel hören. Und obwohl<br />

die Frage von Frau Pfeiffer<br />

natürlich durchaus berechtigt ist,<br />

frage ich mich angesichts der gebotenen<br />

Parlamentsshow: Würden es die<br />

anderen nicht umgekehrt genauso<br />

machen? „Klar macht man auch aus<br />

der Mücke einen Elefanten“, sagt der<br />

SPD-Abgeordnete Sören Bartol. „Ich<br />

habe keine Lust am Skandalisieren. Trotzdem:<br />

Unterschiedliche Ansichten oder<br />

Fehlverhalten müssen in die Medien, wenn<br />

man Aufmerksamkeit erregen will.“ Und<br />

Brigitte Zypries ergänzt: „Bei Niebel ist es<br />

die Kette der Verfehlungen.“ Dennoch: Es<br />

bleibt der Eindruck der einstudierten, austauschbaren<br />

Empörungsmechanismen.<br />

CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach<br />

beschreibt das als den Sport in der Politik.<br />

„Nehmen Sie das EM-Spiel Deutschland<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 53


| B e r l i n e r R e p u b l i k | E x p e d i t i o n i n s P a r l a m e n t<br />

gegen Holland. Die letzten zehn Minuten<br />

zog es die Deutschen sehr zur holländischen<br />

Eckfahne. Das war nicht schön, das<br />

macht keinen Spaß, aber das war effizient<br />

und notwendig.“<br />

Das macht keinen Spaß, ist aber notwendig.<br />

So lässt sich der Eindruck nach<br />

zwei Wochen Parlamentssitzungen durchaus<br />

zusammenfassen. Wobei es sie natürlich<br />

gibt – die „großen“ Debatten. ESM,<br />

Betreuungsgeld, Fiskalpakt, sogar einen<br />

Hammelsprung – es war ja eine Menge<br />

drin in den letzten zwei Sitzungswochen<br />

vor der Sommerpause. Aber auch da<br />

möchte man dem Kabarett-Kollegen Dieter<br />

Hildebrandt zustimmen, der den Zustand<br />

des Parlaments einmal so beschrieb:<br />

„Nehmen wir mal an, wir befinden uns<br />

im rhetorischen Zentrum unserer Republik<br />

– im Parlament. Da, wo die <strong>Cicero</strong>nes<br />

und Demostenesse ihre feurigen Reden<br />

ins Volk feuern. (…) Ohne Rücksicht auf<br />

Kameras, einfach rückhaltlos ehrlich und<br />

leidenschaftlich. (…) Geistesblitze zucken<br />

durch das Haus, die Sprache feiert Feste,<br />

Bonmonts, Aperçus, Zitate überschlagen<br />

sich (…) – so wär das schön gewesen. Und<br />

so war es auch gemeint.“<br />

Wenn es so gemeint war, dann ist davon<br />

nicht mehr allzu viel übrig. Die Fragestunden<br />

bilden sicher den Tiefpunkt der<br />

Parlamentssitzungen. Der Bundestagspräsident<br />

liest eine schier endlose Liste von Fragen<br />

vor, ein Staatssekretär die Antwort der<br />

Bundesregierung mehr oder weniger lustlos<br />

vom Blatt, bei manchem ist auf den Rängen<br />

der vorgelesene Text nicht mal akustisch<br />

zu verstehen. Eine Katastrophe. Das<br />

Parlament ist leer, die Besuchertribünen<br />

sind voll, der Eindruck ist verheerend. Die<br />

15 Abgeordneten, die da sind, sind nicht<br />

anwesend, hören nicht zu, lesen Zeitung<br />

oder Akten, starren auf Smartphone oder<br />

„Der Presseausweis öffnet<br />

alle Türen in den Bundestag.<br />

Das Spanngummi muss ich<br />

abgeben, das Kellnermesser<br />

darf ich behalten“<br />

iPad. „Klar sind Fragestunden langweilig“,<br />

gibt Brigitte Zypries unumwunden zu.<br />

„Vor allem, weil da alles so reglementiert<br />

ist. Andererseits ist der Rücktritt von Franz<br />

Josef Jung durch eine Fragestunde bewirkt<br />

worden.“ Carsten Schneider, der haushaltspolitische<br />

Sprecher der SPD-Fraktion, hält<br />

hingegen die Fragestunden für überflüssig.<br />

Er ist dafür, die Minister direkt zu befragen.<br />

Dann könnte man sie wie im englischen<br />

Parlament richtig ins Kreuzverhör<br />

nehmen. Überhaupt plädiert er wie Brigitte<br />

Zypries für eine Parlamentsreform.<br />

Und auch Marlies Volkmer, SPD, bezweifelt,<br />

ob es in 20 Jahren die Parlamentsarbeit<br />

in dieser Form noch geben wird.<br />

Denn selbst die Debatten leiden unter<br />

den festgelegten Ritualen. Diejenigen,<br />

die eine Rede halten, versuchen den Anschein<br />

von Engagement und Leidenschaft<br />

zu erwecken, doch werden diese Versuche<br />

durch die antrainierten Mechanismen der<br />

Teilnahmslosigkeit drum herum in einer<br />

solchen Weise konterkariert, dass ich mich<br />

frage, ob da überhaupt ein Bewusstsein dafür<br />

existiert, wo man sich befindet und woran<br />

man gerade teilnimmt.<br />

Besonders deutlich wird das am späten<br />

Abend, wenn nach 21 Uhr noch immer<br />

debattiert wird. Während vorne in markigen<br />

Worten von der schlimmsten Form<br />

der Kinderarbeit gesprochen wird, haben<br />

sich im Saal Gesprächskreise gebildet, wo<br />

Köpfe zusammengesteckt werden und eifrig<br />

gelacht wird. Gebetsmühlenartig werden<br />

am Rednerpult die immer gleichen Argumente<br />

wiederholt, keiner bezieht sich auf<br />

den anderen.<br />

Bei der folgenden Aussprache (zum<br />

G-20‐Gipfel in Rio) ist die Teilnahmslosigkeit<br />

noch größer, und ich notiere: Es<br />

ist diese Demonstration von Belanglosigkeit,<br />

die einen beim Zuschauen nahezu<br />

ankotzt. Zum Beispiel der FDP-Abgeordnete<br />

Michael Kauch. Er sitzt in der ersten<br />

Reihe, albert vor seiner Rede für alle<br />

sichtbar mit Kollegen herum, geht dann<br />

ans Pult und spricht mit heiligem Ernst<br />

von der Macht der Parlamente. Zitat: „Es<br />

geht auch darum (…), die schrecklichste<br />

‚Laberbude‘ der Vereinten Nationen namens<br />

Konferenz für nachhaltige Entwicklung<br />

in New York durch ein sinnvolles<br />

Gremium zu ersetzen.“ Nach seiner Rede<br />

geht er zurück an seinen Platz und albert<br />

nahtlos weiter.<br />

„Wer mit einer vorher ausgedruckten<br />

Rede kommt, hat schon verloren“, sagt der<br />

junge CDU-Abgeordnete Peter Tauber und<br />

greift zur Geschäftsordnung des Bundestags.<br />

Er liest vor: „Paragraf 33 – Die Redner<br />

sprechen grundsätzlich in freiem Vortrag.<br />

Sie können hierbei Aufzeichnungen<br />

benutzen.“ Da muss er selbst lachen. Denn<br />

die meisten Abgeordneten folgen eher Kurt<br />

Tucholskys „Ratschlägen für einen schlechten<br />

Redner“: „Sprich nicht frei – das macht<br />

einen so unruhigen Eindruck. <strong>Am</strong> besten<br />

ist es: du liest deine Rede ab.“<br />

Natürlich gibt es auch die guten Redner,<br />

die mitreißen können. Nur eben zu<br />

wenige davon. Das Parlament sei halt der<br />

Querschnitt der Gesellschaft, sagt Sören<br />

Bartol entschuldigend. Insofern gebe es<br />

eben gute und schlechte Rednerinnen und<br />

Redner. Das mag so sein, aber eine Rede<br />

zu halten, ist auch kein unergründliches<br />

Geheimnis. So sagt der Rhetorik-Coach<br />

Florian Mück: „Ein großer Redner informiert<br />

nicht, er bewegt.“ Und: „Alle großen<br />

Redner waren zu Beginn schlechte Redner.“<br />

Doch in den Gesprächen mit den Abgeordneten<br />

scheint mir gar nicht der Drang<br />

nach der Notwendigkeit des rhetorischen<br />

Ausdrucks vorhanden zu sein. Denn bei<br />

meinen Fragen zu eben diesen Beobachtungen<br />

über das Parlament wirken meine<br />

Gesprächspartner ratlos. „Die Leidenschaft<br />

verebbt bis ins Parlament“, räumt Marlies<br />

Volkmer ein. „In der Arbeitsgruppe brauchen<br />

Sie viel Leidenschaft, um die eigenen<br />

Leute zu überzeugen. In den Ausschüssen<br />

wissen Sie ja schon, wer da sitzt und was<br />

die denken. Und im Parlament will ich ja<br />

keinen mehr überzeugen.“<br />

Aber so ist es auch gar nicht vorgesehen.<br />

„In Parlamentsdebatten“, so die<br />

Theorie, „werden Argumente zu einem<br />

politischen Thema im Parlament ausgetauscht.“<br />

Und gerade die Öffentlichkeit,<br />

54 <strong>Cicero</strong> 9.2012


die an Arbeitsgruppen und Ausschüssen<br />

nicht teilnimmt, wünscht sich engagierte<br />

Debatten und leidenschaftliche Vorträge.<br />

„Ich liebe Debatten“, sagt Carsten<br />

Schneider, „aber wir brauchen eine Parlamentsreform,<br />

weil es zu viele Unsinnsdebatten<br />

gibt.“ Und auch Bundestagspräsident<br />

Lammert sagt bei Markus Lanz: „Ich<br />

habe mehrfach darauf hingewiesen, dass<br />

wir uns mit dem Missverhältnis zwischen<br />

der von uns selbst produzierten Menge<br />

der Initiativen aller Art und der dafür zur<br />

Verfügung stehenden Zeit auseinandersetzen<br />

müssen.“<br />

Das ist auch das, was alle Abgeordneten,<br />

mit denen ich gesprochen habe, einmütig<br />

beschreiben: die kaum zu bewältigende<br />

Menge der Arbeit, die immer drohende,<br />

manchmal eintretende Überforderung. Gefragt<br />

nach dem, was er sich wünsche, antwortet<br />

Wolfgang Bosbach: „Die Ressourcen,<br />

die auch die Ministerien haben, damit<br />

ich auf Augenhöhe mitdiskutieren kann.“<br />

Und Brigitte Zypries wünscht sich mehr<br />

Versuche, in den Ausschüssen über Parteigrenzen<br />

hinweg offener zu diskutieren.<br />

Überhaupt ist das die Erkenntnis, die<br />

ich nach zwei Sitzungswochen und Gesprächen<br />

mit Abgeordneten gemacht habe: der<br />

verblüffend große Unterschied zwischen<br />

dem, was im Parlament stattfindet – und<br />

dem Selbstverständnis der Abgeordneten<br />

und ihrer sehr engagierten Arbeit auf der<br />

anderen Seite. Also auch zwischen dem,<br />

was die Öffentlichkeit wahrnimmt (beziehungsweise<br />

wahrnehmen kann) und der<br />

tatsächlichen Arbeit vieler Abgeordneter.<br />

Als gelernter Schauspieler finde ich Theaterproben<br />

im Theater oder beim Film meist<br />

peinlich, weil sie mit einer tatsächlichen<br />

Probe so viel zu tun haben wie eine Wahlkampfrede<br />

mit Realpolitik. Auch lässt die<br />

immer wieder gestellte Frage „Ah, Sie sind<br />

Künstler! Und was machen Sie tagsüber?“ darauf<br />

schließen, dass gewisse Klischees eben<br />

partout nicht auszuräumen sind.<br />

Auf diesen Widerspruch im Beruf des<br />

Politikers angesprochen, reagieren die<br />

meisten Abgeordneten erstaunlich offen<br />

und ehrlich: „Dass die Leute mehr Vertrauen<br />

haben, weil wir es verdient haben“,<br />

wünscht sich Peter Tauber, und Sören Bartol,<br />

„dass sich der Blick von außen nicht<br />

nur auf einige wenige richtet, sondern aufs<br />

große Ganze“. Und auch Carsten Schneider<br />

findet, dass „diese ‚Bäh‘-Haltung einfach<br />

nicht angebracht ist“. Wolfgang<br />

Bosbach wiederum gibt freimütig zu, ihn<br />

nerve es, dass „der Großteil meiner Arbeit<br />

niemanden interessiert“.<br />

Und Marlies Volkmer wünscht sich<br />

mehr Mut von den Medien, auch mal andere<br />

Leute als die immer gleichen Gesichter<br />

zu Wort kommen zu lassen, weil sie glaubt,<br />

„dass die Mehrheit der Menschen durchaus<br />

interessiert ist an sachlichen Auseinandersetzungen“.<br />

Zu viel Boulevard – das sei<br />

das Problem. Über seine neue Brille sei im<br />

Internet mehr diskutiert worden als über<br />

sachliche Themen, berichtet Peter Tauber,<br />

aber „die Leute wollen halt das Menschliche“.<br />

„Viele verstehen eben nicht, wie<br />

das Parlament funktioniert, deshalb muss<br />

man es immer wieder erklären“, konstatiert<br />

Sören Bartol. Und so ergeben sich<br />

die Abgeordneten tapfer dem mühsamen<br />

Klein-Klein: Empfangen immer wieder Besuchergruppen,<br />

denen sie immer wieder<br />

dasselbe erzählen, beantworten unzählige<br />

E-Mails, die sie tagtäglich erreichen (Zypries:<br />

„Die Diskussionskultur im Interet ist<br />

unterirdisch und an Schärfe und Borniertheit<br />

oft nicht zu über- bzw. unterbieten.“) –<br />

und sagen doch wie Wolfgang Bosbach mit<br />

vollem Ernst: „Ich mache das aus Überzeugung.<br />

Solang die dicke Frau noch singt, ist<br />

die Oper nicht vorbei.“ Und das glaube ich<br />

Wolfgang Bosbach – und den anderen auch.<br />

Auch wenn Peter Tauber zugibt, ab und an<br />

sehr müde zu sein. „Man muss aufpassen,<br />

dass man nicht zynisch wird!“, sagt Carsten<br />

Schneider und ergänzt: „Gleich werde ich<br />

50 Besuchern wieder erklären, wie unsere<br />

Arbeit funktioniert, und warum das Parlament<br />

oft so leer ist. Aber heute Abend sehen<br />

eine Million eine Talkshow – 50 zu einer<br />

Million. Verstehen Sie, was ich meine?“<br />

Und das verstehe ich auch. Sehr gut.<br />

So bleibt es dabei, dass offenbar alle<br />

dasselbe beklagen, obwohl alle dasselbe<br />

„Im Gespräch mit den<br />

Abgeordneten scheint mir<br />

gar nicht der Drang nach der<br />

Notwendigkeit von Rhetorik<br />

vorhanden zu sein“<br />

wollen. Alle beklagen mangelnde Courage,<br />

fehlenden Mut, zu wenig Sachlichkeit.<br />

Alle wünschen sich besonnene, gebildete<br />

Führungspersönlichkeiten mit<br />

Kompetenz und Sachverstand. Aber offenbar<br />

ist es schwer, den Mut aufzubringen,<br />

eingefahrene Denkstrukturen aufzubrechen<br />

und sich zu neuen Denkmustern<br />

aufzumachen.<br />

Einzig Michael Glos ruht nach etlichen<br />

Jahren im Parlament und in zahlreichen<br />

Führungspositionen in sich und lässt die<br />

Frage nach seinen Wünschen von sich abtropfen.<br />

Er beobachte wenig Veränderungen,<br />

die Mechanismen seien noch immer<br />

dieselben. Man brauche ein dickes Fell, natürlich.<br />

Aber noch wichtiger sei viel Gelassenheit.<br />

Ihm jedenfalls gefalle es, dass er in<br />

der Öffentlichkeit anders wahrgenommen<br />

werde, als er tatsächlich sei, denn das sei<br />

schließlich eine wunderbare Tarnung. „<strong>Am</strong><br />

meisten hatte ich Angst davor, dass man<br />

mich durchschaut“, sagt er mit einem ironischen<br />

Lächeln. Und so weht in der Art,<br />

wie Michael Glos von seinen Erfahrungen<br />

erzählt, eine Ahnung davon herüber, wie<br />

es war, als Abgeordnete und Minister noch<br />

nicht jede Sekunde der Beobachtung ausgesetzt<br />

waren, als es noch etwas mehr Zeit<br />

gab, als noch nicht jedes Ereignis mediale<br />

Aufmerksamkeit hervorrief. Und als man<br />

sich noch etwas trauen durfte ohne Angst,<br />

dass ein Missgeschick sofort in zig Varianten<br />

veröffentlicht wird. „Ich gehe nicht<br />

ins Kabarett“, sagt Michael Glos. „Das hab’<br />

ich doch täglich hier.“ Ich weiß, was für<br />

ein Kabarett er meint. Das ist sympathisch.<br />

Und das meine ich auch.<br />

Michael Frowin<br />

Jahrgang 1969, ist Schauspieler, Autor und<br />

Kabarettist. Bekannt wurde er mit der Polit-<br />

Satire „Kanzleramt Pforte D“ (MDR)<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 55


| B e r l i n e r R e p u b l i k | J o a c h i m G a u c k<br />

Was der Bundespräsident<br />

jetzt tun sollte<br />

Zwei Mal hat sie selbst, von der SPD nominiert, für das höchste <strong>Am</strong>t im Staate kandidiert –<br />

kritische Anmerkungen einer engagierten Bürgerin zur <strong>Am</strong>tsführung Joachim Gaucks<br />

von Gesine Schwan<br />

56 <strong>Cicero</strong> 9.2012


W<br />

ir leben in politisch<br />

unübersichtlichen Zeiten.<br />

Vielleicht war es nie anders.<br />

Jedenfalls spüren viele Menschen<br />

seit der Banken- und<br />

Schuldenkrise eine besondere Unsicherheit,<br />

die unsere europäischen Nachbarn persönlich<br />

noch viel heftiger erreicht hat als uns<br />

Deutsche. Woran sollen wir uns in dieser<br />

Krise halten?<br />

Orientierung erwarten viele von „der“<br />

Politik. Wer kann sie geben? Seit dem Sommerinterview<br />

von Bundespräsident Gauck<br />

wird die Frage nach der Rollenverteilung<br />

zwischen Bundeskanzlerin und Bundespräsident<br />

– allgemeiner: zwischen den entscheidenden<br />

Politikerinnen und Politikern<br />

und dem Bundespräsidenten – diskutiert.<br />

Soll er die Krisenpolitik der Kanzlerin in<br />

Sachen Europa „erklären“? Aus mehreren<br />

Gründen sollte er das nicht.<br />

Schon weil er jenseits der Parteien steht,<br />

also auch nicht im Dienst der Regierung.<br />

Umgekehrt sollte er auch nicht in deren<br />

Geschäfte eingreifen. Ebenso ist eine direkte<br />

Kritik an Regierungsentscheidungen<br />

für sein <strong>Am</strong>t nicht vorgesehen. Darüber<br />

hinaus würde „erklären“ eine Lehrerrolle<br />

des Bundespräsidenten voraussetzen, die<br />

mündigen Bürgern gegenüber nicht angemessen<br />

ist.<br />

Aber er soll doch qua <strong>Am</strong>t „Orientierung<br />

geben“. Wie geht das angesichts<br />

der Tatsache, dass er nicht der Oberlehrer<br />

mündiger Bürger ist, sondern im Gegenteil<br />

von ihnen (wenn auch durch indirekte<br />

Wahl) sein Mandat erhalten hat?<br />

Sein <strong>Am</strong>t verweist ihn nicht nur auf die<br />

genannten Grenzen, sondern bietet vor allem<br />

auch ungewöhnliche Chancen. Denn<br />

was er sagt, wird öffentlich in hohem Maße<br />

beachtet, und er verfügt über schier unendliche<br />

Ressourcen, um sich ein differenziertes<br />

eigenes Urteil zu bilden. Vor allem<br />

kann er seine Einsichten, in den Grenzen<br />

der Verfassung, ohne Rücksicht auf bevorstehende<br />

Wahlen, öffentlich vertreten.<br />

Die täglich handelnde Politik steht hier vor<br />

viel schwierigeren Herausforderungen, weil<br />

sie in Deutschland angesichts des Föderalismus<br />

praktisch unaufhörlich im (Vor-)<br />

Wahlkampf steht.<br />

„Soll der Bundespräsident die Krisenpolitik<br />

der Kanzlerin in Sachen Europa ‚erklären‘?<br />

Aus mehreren Gründen sollte er das nicht“<br />

Ehrlichkeit fällt also im <strong>Am</strong>t des Bundespräsidenten<br />

erheblich leichter. Damit<br />

verbessert sich seine Möglichkeit, das für<br />

die Demokratie so notwendige Vertrauen,<br />

das durch wahltaktisches Sprechen unterminiert<br />

wird, zu stärken. Er könnte zum<br />

Beispiel die Logiken ebenso wie die Voraussetzungen<br />

und die langfristigen Implikationen<br />

unterschiedlicher politischer Positionen<br />

verdeutlichen. Damit würde er,<br />

ohne Partei zu ergreifen, das Terrain der<br />

öffentlichen Debatte klären helfen, sodass<br />

die taktischen und strategischen Absichten<br />

öffentlicher Positionen transparenter würden.<br />

Das wäre ein hilfreicher Beitrag zur argumentativen<br />

Erhellung der anstehenden<br />

Entscheidungen. Denn so würden deren<br />

Tragweite (die nicht auf Anhieb erkennbar<br />

ist), ihre Vielschichtigkeit, ihre oft unvermeidbare<br />

Unsicherheit oder Schwierigkeit,<br />

bei denen die Politik zuweilen zwischen<br />

Pest und Cholera wählen muss, erkennbar.<br />

Dadurch würde den mündigen Bürgern,<br />

die nicht den ganzen Tag mit detaillierter<br />

politischer Analyse verbringen<br />

können, ermöglicht, sich ihrerseits eigenständiger<br />

zu orientieren. Gleichzeitig trüge<br />

der Bundespräsident zu einem Vertrauenszuwachs<br />

zwischen Wählern und Gewählten<br />

bei, weil Verzerrungen der Kommunikation<br />

eingedämmt würden.<br />

Das erfordert ein ständiges Einarbeiten<br />

in komplizierte politische Streitfragen<br />

– und nicht zuletzt eine Urteilskraft,<br />

die zwischen Sachzusammenhängen und<br />

politischen Präferenzen zu unterscheiden<br />

weiß. Dazu gehört auch, behauptete<br />

Sachzwänge auf ihre impliziten politischen<br />

Wertungen zu durchleuchten und politische<br />

Präferenzen mit sachlichen Herausforderungen<br />

zu konfrontieren. Allerdings<br />

braucht es dazu einen gehörigen Mut, denn<br />

die Verantwortung und das Gewicht präsidialer<br />

Aussagen sind erheblich. Zum Teil<br />

ist das alles auch die Aufgabe der Medien,<br />

die aber häufig aus verschiedenen Gründen<br />

hinter ihren demokratiepolitischen Obliegenheiten<br />

zurückbleiben und meist auch<br />

nicht über die Ressourcen des Bundespräsidenten<br />

verfügen.<br />

Zum „Kerngeschäft“ des Bundespräsidenten<br />

gehört schließlich, auf eigene geistige<br />

Rechnung neuralgische Probleme der<br />

Gesellschaft oder längerfristige Zukunftsperspektiven<br />

zur Debatte zu stellen, vielleicht<br />

sogar Lösungen vorzuschlagen.<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 57


| B e r l i n e r R e p u b l i k | J o a c h i m G a u c k<br />

Darauf konzentriert sich in der Regel weniger<br />

die handelnde Politik, obwohl Parteien,<br />

die in der Verfassung zwischen Staat und<br />

Gesellschaft angesiedelt sind, dazu auch einen<br />

Beitrag leisten sollten. Die „großen Linien“<br />

eines Zukunftsentwurfs oder auch<br />

einer Geschichtsbetrachtung könnten im<br />

Übrigen indirekt Alternativen zur aktuellen<br />

Politik und damit implizit Kritik an ihr<br />

formulieren, aber eben indirekt und ausgewiesen<br />

durch die Leistung eines eigenen<br />

begründeten Entwurfs. Richard von Weizsäcker<br />

war ein Meister darin, solche Alternativen<br />

zur Sprache zu bringen.<br />

Nehmen wir zur Illustration dieser<br />

Überlegungen die gegenwärtige Schulden-<br />

und Bankenkrise in Europa. Hinter<br />

vorgehaltener Hand geben alle politisch<br />

Eingeweihten zu, dass Europa längst<br />

eine Haftungs- und Transferunion darstellt.<br />

Schon weil wir alle ökonomisch viel zu sehr<br />

voneinander abhängen. Politiker, die sich<br />

nicht mehr zur Wahl stellen wollen (wie<br />

Gerhard Schröder), sagen das auch öffentlich.<br />

Andere bemänteln es oder behaupten<br />

das Gegenteil, weil sie um ihre Wiederwahl<br />

fürchten. Sie vermuten, dass die Deutschen<br />

nicht bereit sind zu haften, weil eine gegebenenfalls<br />

zu zahlende Haftungssumme<br />

ihre Vorstellungskraft übersteigt.<br />

Vor allem aber wurde den Deutschen seit<br />

Beginn der Schuldenkrise eine Geschichte<br />

erzählt, der zufolge diese nicht aus der vorangegangenen<br />

Bankenkrise, sondern allein<br />

oder vornehmlich aus unverantwortlicher<br />

Politik hervorgegangen sei, an der<br />

sie selbst keinen Anteil trügen; die europäischen<br />

Nachbarn, vor allem im Süden,<br />

seien an ihrem Unglück selbst schuld und<br />

würden im Falle eines solidarischen Entgegenkommens<br />

nur mit dem alten unverantwortlichen<br />

Schlendrian fortfahren. Im Übrigen<br />

könnten die Deutschen ohnehin auf<br />

keinen Fall für alle anderen haften.<br />

So fest hat sich diese (deutsche!) Geschichte<br />

über Europa etabliert, dass es<br />

schier unmöglich scheint, gegenüber<br />

den deutschen Wählern öffentlich eine<br />

konsistente Position zugunsten des Euro zu<br />

vertreten, die die gemeinsame Haftung und<br />

auch gegebenenfalls Transferleistungen (sei<br />

es bei einem europäischen Bankenverbund,<br />

sei es beim Bürgen für Eurobonds, um die<br />

Zinsen südlicher Staatsanleihen bezahlbar<br />

zu halten) selbstverständlich einschließt –<br />

wie immer sie konkret geregelt werden.<br />

Aber dass die logische Alternative zu<br />

Haftung und Transfer das Zerbrechen der<br />

Währungsunion oder den Ausstieg Griechenlands,<br />

Spaniens, Italiens (beziehungsweise<br />

umgekehrt auch Deutschlands) aus<br />

der gemeinsamen Währung bedeutete,<br />

wird den Bürgern langsam bewusst. Die<br />

das auch wollen, proklamieren das Ende<br />

des Euro nicht ausdrücklich, polemisieren<br />

aber seit langem gegen ihn ebenso wie<br />

gegen Haftung und Transfer und behaupten,<br />

dass Europa den Euro nicht brauche.<br />

Wenn der Bundespräsident von der Kanzlerin fordert, ihr<br />

Verhalten genau zu erklären, hat er als „Bürger“ recht.<br />

Aber er bleibt hinter den Aufgaben seines <strong>Am</strong>tes zurück<br />

Eigentlich meinen sie, dass Deutschland<br />

Europa nicht (mehr) braucht. Exportieren<br />

kann man auch nach Asien.<br />

Die Kanzlerin dagegen hat erkannt,<br />

dass Deutschland für seine Wirtschaft den<br />

Euro und Europa braucht, und dass der<br />

Verlust des Euro, nachdem er einmal eingeführt<br />

ist, die Europäische Union schwer<br />

beschädigen würde. So versucht sie, gemeinsame<br />

Haftung und möglichen Transfer<br />

„unter der Hand“ (und das Gegenteil<br />

behauptend) einzuführen, um die öffentliche<br />

Debatte darüber und die klare politische<br />

Entscheidung zu vermeiden.<br />

Eine dritte Position, die logisch konsistent<br />

und klar zugunsten des Euro und<br />

der Europäischen Union einschließlich<br />

Haftung und möglichem Transfer argumentierte,<br />

bleibt zurzeit aus Angst vor<br />

den deutschen Wählern öffentlich auf der<br />

Strecke. Sie müsste, um schnell zu wirken,<br />

mit einem Vertrauensvorschuss gegenüber<br />

den europäischen Nachbarn beginnen und<br />

mit einem konzeptionellen Entwurf europäischer<br />

Willensbildung und Kontrolle<br />

einhergehen.<br />

Dieses Spiel mit verdeckten Karten ist<br />

kein Beispiel für politischen Mut oder eine<br />

gelungene demokratische Kommunikation,<br />

denn sie zerstört das Vertrauen der Bürger<br />

immer mehr. Sie spüren, dass etwas falsch<br />

läuft im öffentlichen Raum, trauen sich<br />

selbst aber kein eigenes Urteil zu und hoffen<br />

einfach, dass der Kelch der Haftung<br />

an ihnen vorübergeht. Und die Regierenden<br />

hoffen, dass sie irgendwie durch die<br />

Krise kommen.<br />

Wenn der Bundespräsident in dieser Situation<br />

von der Bundeskanzlerin fordert,<br />

ihr Verhalten ganz genau zu erklären, hat<br />

er als „Bürger“ recht, weil die Bürgerinnen<br />

und Bürger auf diese Weise Genauigkeit<br />

und Glaubwürdigkeit von handelnden<br />

Politikern verlangen können. Aber er bleibt<br />

damit hinter den Aufgaben und Chancen<br />

seines <strong>Am</strong>tes zurück. Wenn er seinerseits<br />

„mehr Europa“ für Deutschland und nicht<br />

„mehr Deutschland“ in Europa will, hat er<br />

großartige Möglichkeiten, das Argumentationsknäuel<br />

in Sachen Banken- und Schuldenkrise,<br />

in Sachen Haftung, Solidarität<br />

und wirklicher Zahlung zu entwirren. Er<br />

könnte mit seiner <strong>Am</strong>tsautorität klarstellen,<br />

dass die Deutschen bisher an ihre verschuldeten<br />

Nachbarn nichts gezahlt, dagegen einiges<br />

an Zinsen und durch unrealistisch<br />

billige Staatsanleihen gewonnen haben. Er<br />

könnte Zusammenhänge der gemeinsamen<br />

europäischen Verantwortung für die Krise,<br />

überhaupt die transnationale Verflechtung<br />

und damit auch die Notwendigkeit eines<br />

transnationalen Einstehens der ökonomischen<br />

Akteure erläutern. Deutsche Banker<br />

haben nicht nur in den USA am aufgeblähten<br />

Immobiliensektor gut verdient. Leichtsinnige<br />

Schuldner haben zuvor leichtsinnige<br />

Gläubiger gefunden; vorteilsgierige<br />

Gläubiger haben zuweilen gezielt auf den<br />

Leichtsinn ihrer Schuldner hingearbeitet.<br />

Und solange mit den Schulden der Nachbarn<br />

deutsche Exporte bezahlt wurden, haben<br />

diese Schulden uns auch nicht besonders<br />

gestört.<br />

Der Bundespräsident könnte überdies<br />

auch Positionen unserer europäischen<br />

Nachbarn fair erläutern. Damit würde er<br />

zu einer Kultur des ehrlichen Argumentierens<br />

und des „Gemeinsinns“ beitragen, die<br />

Kant in den drei Maximen: „Selbst denken!<br />

Jederzeit mit sich einstimmig denken! Jederzeit<br />

an der Stelle des anderen denken!“<br />

charakterisiert hat. Wenn wir in widersprüchlichen<br />

Positionen verharren und uns<br />

darüber hinaus nicht an die Stelle der anderen<br />

setzen, werden wir weder für Europa<br />

Foto: Steffi Loos/DAPD (Seiten 56 bis 57)<br />

58 <strong>Cicero</strong> 9.2012


F r a u F r i e d f r a g t s i c h . . .<br />

Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: Picture alliance<br />

noch für unser globales Zusammenleben<br />

eine Zukunft in Demokratie und Wohlstand<br />

entwickeln. „Mehr Europa“ verlangt<br />

eine andere Geschichte über Europa.<br />

So hätte der Bundespräsident die<br />

Chance, mit reicher Expertise versehen<br />

eine „eigene“ andere Geschichte über Vergangenheit,<br />

aktuelle Krise und die Zukunft<br />

Europas sowie die Rolle Deutschlands darin<br />

zu erzählen als die öffentlich gängige,<br />

die stark durch Wahltaktik bestimmt ist.<br />

Es könnte eine ausgewogenere sein, die es<br />

den Deutschen plausibler machen würde,<br />

nicht nur ihre kurzfristigen nationalen Interessen<br />

zu sehen, was jeden gesellschaftlichen<br />

Zusammenhalt und damit zugleich<br />

Demokratie und wirtschaftlichen Wohlstand<br />

zerstört, auch in Deutschland selbst.<br />

Er könnte daran erinnern, dass der Wille<br />

zur vertrauensvollen und solidarischen Zusammenarbeit<br />

am Anfang der europäischen<br />

Einigung stand und allen Europäern unerwarteten<br />

Wohlstand und Frieden in Freiheit<br />

gebracht hat.<br />

Er könnte Gründe dafür anführen, dass<br />

der entschiedene Wille zum solidarischen<br />

Zusammenstehen in Europa, gerade von<br />

deutscher Seite dokumentiert, die Märkte<br />

für Europa zurückgewinnen würde, dass er<br />

die Einrichtung transparenter Kontrollen<br />

erleichtert und die besten Aussichten bietet,<br />

den Ernstfall eines Schuldenausgleichs<br />

oder des Eurozusammenbruchs zu vermeiden.<br />

Eine Geschichte über die Eurokrise,<br />

die Verantwortung, Leichtfertigkeit und<br />

Vorteile in der Vergangenheit realistischer<br />

zuordnete, würde auch eine europäische<br />

Haftungs- und Transferunion für die Zukunft<br />

plausibler machen.<br />

Damit würde er die Kanzlerin nicht<br />

nur kritisieren, sondern einen eigenen<br />

und hoffentlich überzeugenden Vorschlag<br />

zur Debatte stellen. Das wäre ein wunderbarer<br />

Beitrag zu einer öffentlichen Kommunikation,<br />

in der ein fairer Austausch<br />

von Argumenten hilft, gemeinsam Orientierung<br />

für den bestmöglichen Weg<br />

Deutschlands nach „mehr Europa“ zu finden<br />

und damit Demokratie wie Vertrauen<br />

zu stärken. Welche Chancen für den Bundespräsidenten!<br />

Gesine Schwan<br />

ist Präsidentin der Humboldt-<br />

Viadrina School of Governance<br />

in Berlin<br />

… ob es ihrer Gesundheit<br />

zuträglich ist, sich an<br />

Bibelworte zu halten<br />

M<br />

an möchte ja gern alles richtig<br />

machen, und dabei soll angeblich<br />

die Bibel helfen. Leider kommt<br />

oft Unsicherheit ob der korrekten Exegese<br />

auf. Nehmen wir die Forderung, man solle<br />

nach dem Erhalt einer Ohrfeige die andere<br />

Wange hinhalten: Gerade hat mich jemand,<br />

den ich für einen Freund gehalten habe,<br />

um Geld betrogen. Muss ich ihm jetzt<br />

meine restlichen Ersparnisse auch noch<br />

schenken? Schließlich heißt es: „Wenn<br />

einer dir dein Hemd nehmen will, so<br />

gib ihm auch noch den Mantel.“ Das<br />

käme sicher sehr cool rüber, würde<br />

aber kaum dazu führen, dass ich mich<br />

besser fühle.<br />

„Liebet eure Feinde und betet für alle, die<br />

euch hassen und verfolgen“, fordert Jesus in der<br />

Bergpredigt. Na, vielen Dank! Wenn’s nach mir ginge, könnten alle, die mich hassen<br />

und verfolgen, gern zur Hölle fahren – Freunde werden wir sowieso nicht<br />

mehr. Andererseits: Vielleicht ist die Hölle der viel interessantere Ort, und die größere<br />

Strafe wäre, sie in den Himmel zu beten. Bleibt die Frage, ob Gebete auch<br />

helfen, wenn man gar nicht gläubig ist?<br />

Wir leben in einer Zeit des Positivterrors. Sogar vernünftige Leute glauben,<br />

man müsse nur positiv denken, dann würde alles gut. Man schickt sich keine herzlichen<br />

Grüße mehr, sondern „positive Energien“. Und alle sollen sich ständig versöhnen.<br />

Missbrauchsopfer mit ihren Peinigern. Israelis mit Palästinensern. In Syrien<br />

wurde sogar ein Minister für Versöhnung ernannt, der die Verfolgten des<br />

Assad-Regimes mit ihren Verfolgern versöhnen soll. Wer sich nicht versöhnen<br />

will, gilt als Querulant. Aber der Versöhnung muss Aufarbeitung vorausgehen sowie<br />

Einsicht und Reue des Täters. Einem uneinsichtigen Täter zu verzeihen, mag<br />

christlich sein und von menschlicher Größe zeugen, vernünftig im Sinne der Verbrechensprophylaxe<br />

ist es nicht.<br />

Ich liebe gern und viel – warum soll ich nicht gelegentlich auch hassen? Und<br />

soll mir bloß keiner einreden, das sei schlecht für mein Seelenheil. Viel schlechter<br />

für mein Seelenheil ist, mich wie ein betrogener Idiot zu fühlen. Deshalb möchte<br />

ich mit manchen Menschen lieber ehrlich verfeindet als verlogen versöhnt sein.<br />

Gut gepflegte Feindschaften können einem übrigens fast so ans Herz wachsen wie<br />

Freundschaften – und gesundheitsfördernd sind sie auch: Der Zorn hält den Kreislauf<br />

in Schwung.<br />

„Ihr aber sollt so vollkommen sein wie euer Vater im Himmel.“ Dschieses!<br />

Geht’s vielleicht eine Nummer kleiner? Ein Bild sollen wir uns nicht von ihm machen<br />

– aber so heilig sein wie er?<br />

Da halte ich mich doch lieber an den alten Haudegen Georg von Frundsberg:<br />

Viel Feind, viel Ehr. Schließlich habe ich genügend Facebook-Freunde.<br />

<strong>Am</strong>elie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />

Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen aufwirft<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 59


| B e r l i n e r R e p u b l i k | K o m m e n t a r<br />

Zwei deutsche Sittenbilder<br />

Das Land bestraft seine Politiker hart für Abweichungen vom<br />

Pfad der Tugend – während sich die „Verantwortlichen“ in der<br />

Finanzbranche lächelnd davonstehlen<br />

Von Frank A. Meyer<br />

Sittenbild Nummer eins:<br />

Welch ein Abgang! Die Staatsanwaltschaft befragt ihn, Verfahren<br />

bedrohen ihn, das politische Berlin ächtet ihn.<br />

Sein neues Büro, das ihm der Deutsche Bundestag zugewiesen<br />

hat, ist „klein wie eine Abstellkammer“. Die Telefonzentrale<br />

des Parlaments kennt ihn nicht: „Wulff? Mit zwee f? Hamm wa<br />

hier nich.“ Beides will der Spiegel in Erfahrung gebracht haben.<br />

Nachrichten von einem Ausgegrenzten.<br />

Und wer ihn leibhaftig vor sich sah, hat Tristes zu vermelden:<br />

Als „Auftritt eines Gezeichneten“, beschreibt die Süddeutsche<br />

Zeitung seine Anwesenheit bei einer Feierstunde.<br />

Der gescheiterte Bundespräsident, bleich und abgemagert.<br />

Der gefallene Politiker, einsam und verlassen.<br />

Was hat er bloß verbrochen?<br />

Ein unordentlicher Kredit für ein ordentliches Häuschen<br />

im höchst ordentlichen Großburgwedel. Dazu kostengünstige<br />

bis kostenlose Ferien bei und mit Freunden. Auch eine Hotelübernachtung,<br />

für die ein Unternehmerfreund geradestand. Das<br />

Upgrade für einen Flug, Economy auf Business. Ein paar Partynächte<br />

in unschicklicher Nähe zu Wirtschaftsgrößen.<br />

Welch piefiges Sündenregister! Zu peinlich, um wahr zu sein.<br />

Doch alles leider nun mal nicht vereinbar mit Wulffs vorangegangenem<br />

<strong>Am</strong>t des niedersächsischen Ministerpräsidenten.<br />

Deshalb leider auch nicht vereinbar mit der Würde des<br />

Bundespräsidenten.<br />

Ja, die deutsche Demokratie bestraft ihre Politiker streng<br />

für Abweichungen vom Pfad der Tugend. Selbst wenn ihre<br />

Missetaten nichts weiter sind als Spießersünden, Geschmacksverirrungen,<br />

Stillosigkeiten – Verteidigungsminister Rudolf<br />

Scharping etwa musste gehen, weil er sich zur Unzeit eines<br />

Kampfeinsatzes der Bundeswehr mit seiner Freundin im Pool<br />

ablichten ließ.<br />

Sittenbild Nummer zwei:<br />

Welch ein Abgang! Die Schweiz heiligt ihn, die Finanzwirtschaft<br />

huldigt ihm, die Medien bewundern ihn.<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

60 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Foto: privat<br />

Lachend lässt er sich im Formel-1-Cockpit ablichten – jeder<br />

Zoll ein Champion, ein Weltmeister, ein „Master of the Universe“,<br />

wie sich Banker seines Kalibers nun mal gern sehen.<br />

Deutschland behält Josef Ackermann strahlend in Erinnerung.<br />

Seine Heimkehr in die Eidgenossenschaft nach zehn Jahren<br />

als Chef der Deutschen Bank war triumphal.<br />

Lukrative Mandate fallen ihm reihenweise in den Schoß:<br />

in Deutschland, in der Schweiz, in der Türkei, in Kuwait, in<br />

Schweden. Natürlich und selbstredend, und wie könnte es anders<br />

sein, ist er doch auch noch Vizepräsident des „World Economic<br />

Forum“. Reputation verpflichtet.<br />

Was hat er geleistet?<br />

Die Deutsche Bank entwickelte sich unter seiner Ägide zu einer<br />

der größten, wenn nicht zur größten Spekulantenbank überhaupt.<br />

Sie steckte tief im Sumpf der US‐Subprime‐Krise, die<br />

2007/2008 zur Weltfinanzkrise wurde. „Joes“ Bank war damals<br />

Täter. Und sie ist es erneut im Libor-Betrug.<br />

Wo immer gezockt wurde, wo immer gezockt wird, das Institut<br />

mit dem Schweizer Siegelbewahrer war dabei und ist dabei.<br />

Anything goes, solang es nur der Rendite dient. Ziel unter<br />

Ackermann: 25 Prozent – und auch schon mal 14 Millionen<br />

Jahresgehalt für den Chef selber. Soll man ihn, darf man ihn den<br />

„obersten Verantwortlichen“ nennen?<br />

Verantwortung ist das Sonntagswort aller „Joes“ dieser bizarren<br />

Halbwelt. Damit begründen sie ihre exorbitanten Boni.<br />

Doch sobald tatsächlich einmal Verantwortung getragen werden<br />

muss, verflüchtigt sich das Sonntagswort. Im Ernstfall<br />

nämlich sind für Schuld und Sühne höchstens die Chargen<br />

auf der nächstunteren oder der nächstnächstunteren Ebene<br />

zuständig.<br />

Und der Chef selber? Natürlich über jeden Zweifel erhaben.<br />

Dasselbe gilt ebenso selbstredend für den neuen Deutsche-<br />

Bank-Chef Anshu Jain, ehedem „verantwortlich“ für das Investmentbanking<br />

der Deutschen Bank in London, oberster Koch<br />

also in der Giftküche der globalen Finanzwirtschaft, „verantwortlich“<br />

für fragwürdigste Finanztaten gegen Nationen, Gesellschaften<br />

und Menschen.<br />

Zieht ihn jemand zur Verantwortung? Nein. Man hängt an<br />

seinen Lippen!<br />

Anshu Jain verspricht „eine neue Kultur“. Der Bock verspricht<br />

zu gärtnern. Das Versprechen wird respektvoll begrüßt.<br />

Auch Christian Wulff versprach einst eine neue Kultur. Ganz<br />

Deutschland höhnte.<br />

Der Täter Anshu Jain ist gesellschaftsfähig. Das Täterchen<br />

Christian Wulff dagegen nicht.<br />

Das ist es, was uns die zwei Sittenbilder vor Augen führen:<br />

die Moral der Politik. Und die <strong>Am</strong>oral der Finanzwirtschaft.<br />

Und wie stehen wir Journalisten dazu? Chefredakteur Georg<br />

Mascolo lieferte im Spiegel jüngst ein Beispiel – es sei ausführlich<br />

zitiert:<br />

„Die Banken erpressen uns, hat SPD-Chef Sigmar Gabriel<br />

in einem Thesenpapier geschrieben, und es ist zu hoffen, dass<br />

in dem Getöse über seine teilweise berechtigten, teilweise überzogenen<br />

Forderungen die wirklich wichtige Wortmeldung dieser<br />

Woche nicht vergessen wird. Sie kommt von Sandy Weill. Er<br />

war acht Jahre lang die bestimmende Figur der US-Großbank<br />

Citigroup.“<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 61<br />

Die Politik – „Getöse“, übertrieben, nicht ernst zu nehmen.<br />

Der Finanzspekulant – „die wirklich wichtige Wortmeldung der<br />

Woche“.<br />

So gegensätzlich sind die Sitten:<br />

Der Politiker hat Wahlen zu fürchten, außerdem Staatsanwälte,<br />

Untersuchungsausschüsse und die gesellschaftliche Ächtung,<br />

selbst wenn er sich nur bei unappetitlichen Petitessen ertappen<br />

lässt. Wie Wulff.<br />

Der Vormann der deutschen Finanzwirtschaft hingegen<br />

bleibt unbehelligt, bei welcher Tat auch immer er ertappt<br />

wird, sei es beim Sturmlauf auf Währungen, beim Zerstören<br />

von Volkswirtschaften, beim Aushebeln von Demokratie. Sei es<br />

Ackermann. Sei es Jain.<br />

Was für eine Gesellschaft zeigt sich da?<br />

Eine Gesellschaft, die ihre Politiker argwöhnisch beäugt und<br />

akribisch verfolgt – ihre Geldmächtigen dagegen bewundernd<br />

bestaunt und rechtsfrei schalten und walten lässt.<br />

Primat der Politik? Primat des Rechtsstaats?<br />

Im Sommer 2012 vor aller Augen verdampft.<br />

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Frank A. Meyer<br />

ist Journalist und Gastgeber der politischen<br />

Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />

Geld ist nicht da,<br />

um Geld zu vermehren,<br />

sondern<br />

um Ideen zu<br />

verwirklichen.<br />

Geld ist Mittel der Zukunftsgestaltung —<br />

wenn wir es gemeinsam dazu machen.<br />

Machen<br />

Sie’s gut!<br />

Werden Sie<br />

Mitglied.<br />

glsbank.de<br />

das macht Sinn


| W e l t b ü h n e<br />

Chiles Vorzeigefrau<br />

Michelle Bachelet kämpft als Chefin von „UN Women“ für die Quote und gegen Zwangsehen<br />

von Carlos Widmann<br />

I<br />

n den Stinkenden Kellern der<br />

Villa Grimaldi herrschte Gleichberechtigung.<br />

Die Frauen wurden<br />

genauso gefoltert wie die Männer. Aber<br />

die damalige Medizinstudentin Michelle<br />

Bachelet weigert sich bis heute – beinahe<br />

vier Jahrzehnte später –, als Folteropfer<br />

kategorisiert zu werden: „Ja, mein Kopf<br />

steckte in einer Kapuze. Ja, ich wurde bedroht,<br />

geschmäht, geschlagen. Aber die<br />

‚parrilla‘ (der Grill) ist mir erspart geblieben.“<br />

Das war jenes eiserne Gestell, an<br />

das die nackten Leiber der Gefangenen<br />

geschnallt wurden, um ihnen die Namen<br />

ihrer Freunde oder Komplizen zu entreißen.<br />

Das wirksamste Mittel dafür waren<br />

die Elektroden, mit denen immer stärkere<br />

Stromstöße verabreicht wurden, gerne<br />

auch im Genitalbereich.<br />

Vermutlich war es der Respekt vor dem<br />

Vater, der Michelle Bachelet davon abhielt,<br />

sich selbst als Folteropfer registrieren zu<br />

lassen. Denn als die 24-Jährige im Februar<br />

1975 mit ihrer Mutter im Verhörzentrum<br />

Villa Grimaldi landete, war ihr Vater,<br />

der Luftwaffengeneral Alberto Bachelet,<br />

bereits ein Jahr tot – buchstäblich zu Tode<br />

gefoltert. Er war nach dem Militärputsch<br />

Augusto Pinochets intensiv gequält worden<br />

und erlag schließlich einem Herzinfarkt.<br />

Erst heute müssen sich die ehemaligen<br />

hohen Offiziere dafür vor Gericht<br />

verantworten.<br />

Vom Folterkeller ins Präsidentenpalais:<br />

Diesen unfassbar weiten Weg haben<br />

in Lateinamerika zwei Frauen zurückgelegt<br />

– nach Michelle Bachelet auch die<br />

einstige kommunistische Stadtguerillera<br />

Dilma Rousseff, die heute in Brasilia die<br />

Geschäfte führt. Beide sind Pragmatikerinnen,<br />

die sich von ihren Ideologien verabschiedet<br />

haben – sofern Michelle Bachelet<br />

je eine hatte. Die Generalstochter, die vier<br />

Exiljahre in der DDR verbrachte (Deutschunterricht<br />

am Herder-Institut, Leipzig; Medizinstudium<br />

an der Humboldt-Universität,<br />

Berlin), ist dort vom Sozialismus wohl eher<br />

kuriert worden. Schon 1979 – als der Diktator<br />

Pinochet im Zenit seiner Macht stand –<br />

„Ich bin eine Frau, Sozialistin,<br />

geschieden und Agnostikerin“<br />

Michelle Bachelet<br />

kehrte Michelle nach Chile zurück. Dem<br />

gewaltsamen Widerstand blieb sie fern, in<br />

der Sozialistischen Partei war sie eine Unbekannte.<br />

Mit dem Arzt Aníbal Henríquez,<br />

der Pinochet und die Reformen der neoliberalen<br />

„Chicago Boys“ unterstützte, hat sie<br />

fünf Jahre zusammengelebt. Eines ihrer drei<br />

Kinder stammt von ihm. Dennoch erklärte<br />

Bachelet bei ihrem <strong>Am</strong>tsantritt als Staatspräsidentin:<br />

„Ich bin eine Frau, Sozialistin,<br />

geschieden und Agnostikerin.“<br />

„Crusading feminist“ heißt es in einem<br />

Porträt aus New York – als „feministische<br />

Kreuzzüglerin“ wird die Chilenin darin<br />

vorgestellt. Dieses Bild passt so gar nicht<br />

zu Bachelet, ist aber gut gemeint und ihrer<br />

neuen Rolle geschuldet: Sechs Monate<br />

nach ihrer Präsidentschaft (2006 bis 2010)<br />

wurde Michelle Bachelet zum „Executive<br />

Director“ einer Instanz der Vereinten Nationen,<br />

die sich lapidar „UN Women“ nennt.<br />

Eine Selbstdefinition gibt es nur auf Englisch:<br />

„United Nations Entity for Gender<br />

Equality and the Empowerment of Women“.<br />

Den diplomatischen Rang der Chefin<br />

gibt es auch auf Deutsch: Michelle Bachelet,<br />

Untergeneralsekretär der Vereinten<br />

Nationen. Davon gibt es derzeit 40. Frauenbeauftragte<br />

der UN wäre eine solide<br />

deutsche Bezeichnung oder oberste Hüterin<br />

der Frauenrechte – zuständig also für<br />

die Hälfte der Menschheit.<br />

Wenn es über Geld und Macht verfügte,<br />

wäre es wohl das wichtigste <strong>Am</strong>t der Welt.<br />

Vom Zugang der Frauen zu Ärzten, zu Wissen,<br />

Ausbildung und bezahlter Arbeit hängt<br />

das Schicksal der Völker ab – nicht nur<br />

in der Dritten Welt, auch in Teilen Europas.<br />

„Equality is good business“, verkündet<br />

Michelle Bachelet mit entwaffnendem Lächeln:<br />

Gleiches Recht, Schutz vor Gewalt<br />

und Unterwerfung, vor religiösem Obskurantismus<br />

und Zwangsehen – das zahlt<br />

sich aus, hebt den Lebensstandard, bringt<br />

nachweislich die Wirtschaft voran! Doch<br />

ein <strong>Am</strong>t, das – nahezu ohne Mittel – sowohl<br />

für die Frauenquote in der Führung<br />

der Weltkonzerne wie gegen die Genitalverstümmelung<br />

somalischer Musliminnen<br />

kämpft, kann sich leicht im Banalen verirren.<br />

Jeder 25. Tag im Monat, verfügte<br />

UN Women jüngst, ist fortan „Orange<br />

Day“: der Tag, an dem ein Zeichen gesetzt<br />

wird, um Gewalt gegen Frauen zu<br />

bekämpfen – durch das Tragen orangefarbener<br />

Kleidungsstücke.<br />

Ganz und gar nicht banal sind hingegen<br />

erste Hinweise auf eine Rückkehr<br />

Bachelets in die chilenische Politik. Vor<br />

wenigen Wochen schickte die 60-Jährige<br />

eine Grußbotschaft an die Parteiführung<br />

der chilenischen Christdemokraten. Das<br />

schlug ein wie eine Bombe: Die Democristianos<br />

sind der unentbehrliche Koalitionspartner,<br />

mit dem die äußerst populäre<br />

Sozialistin im November 2013 nochmals<br />

Chiles Präsidentin werden könnte.<br />

Carlos Widmann war<br />

Korrespondent der Süddeutschen<br />

Zeitung. Im September erscheint<br />

von ihm „Das letzte Buch über<br />

Fidel Castro“ (Hanser-Verlag)<br />

Fotos: Platon/trunkarchive.com, Peter-Andreas HAssiepen (Autor)<br />

62 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Chiles ehemalige<br />

Präsidentin<br />

Michelle Bachelet<br />

gilt bis heute<br />

als populärste<br />

Politikerin<br />

ihres Landes<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 63


| W e l t b ü h n e<br />

Merkels letzter<br />

VerbÜndeter<br />

Mark Rutte hält der Kanzlerin die Stange. Wie lange noch, hängt auch von den Wahlen in den Niederlanden ab<br />

von Rob Savelberg<br />

W<br />

enig deutete Anfangs darauf hin,<br />

dass ausgerechnet Mark Rutte der<br />

letzte Verbündete Angela Merkels<br />

in der Eurokrise sein würde. Als der juvenile<br />

Regierungschef der Niederlande vor<br />

fast zwei Jahren sein <strong>Am</strong>t antrat, ließ die<br />

Chefin der liberalkonservativen Koalition<br />

an der Spree harsch verlautbaren, wie enttäuscht<br />

sie über die Bildung seiner Minderheitsregierung<br />

war. Sie bedauerte offiziell,<br />

dass Rutte sich vom unberechenbaren<br />

Populisten Geert Wilders unterstützen ließ.<br />

So undiplomatisch war die Kommunikation<br />

zwischen Berlin und Den Haag<br />

lange nicht mehr gewesen. Aber Rutte<br />

ließ sich nichts anmerken, übte stattdessen<br />

einige Wörter Deutsch, und als er Merkel<br />

dann wenig später zum ersten Mal im<br />

Kanzleramt traf, lachte er alle Kritik weg.<br />

Diese Reaktion ist exemplarisch für<br />

den niederländischen Regierungschef. Der<br />

45-Jährige ist ein unverbesserlicher Optimist,<br />

immer in der Lage, die schwierigsten<br />

Situationen umzudeuten. Stets behält<br />

er dabei sein entwaffnendes Lächeln.<br />

Ein richtiger Holländer eben, locker,<br />

fröhlich, gut gelaunt – und immer mit festem<br />

Blick auf das Portemonnaie: Richtig ist,<br />

was Geld bringt, falsch, was kein oder kaum<br />

Geld einbringt. Als sogar die Niederlande in<br />

die Rezession rutschten, sollte Schluss sein<br />

mit „linken Hobbys“ und Umverteilung.<br />

So wurden Kultursubventionen, Gelder für<br />

den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die<br />

Entwicklungshilfe und sogar Mittel für Bildung<br />

für Behinderte massiv gekürzt.<br />

Rutte ist eben ein Neoliberaler, gilt<br />

als Fan von Ronald Reagan und Maggie<br />

Thatcher. Für ihn sind Menschen selbst<br />

für ihr Schicksal verantwortlich. Er befürwortet<br />

maximale persönliche Freiheit, sogar<br />

um den Holocaust zu leugnen. Seine<br />

wirtschaftspolitischen Ziele konzentrieren<br />

sich auf ein unternehmerfreundliches<br />

Klima. Dabei sollen der Staat und auch<br />

die Bürokraten aus Brüssel ihren Einfluss<br />

möglichst gering halten. Außer wenn es<br />

darum geht, Wohnungseigentümern mit<br />

Milliarden Euro zu helfen – die steuerliche<br />

Abziehbarkeit von Darlehenszinsen ist für<br />

Rutte eine heilige Kuh.<br />

Sein Vater war Handelsdirektor in der<br />

Kronkolonie Indonesien. Der Sohn wuchs<br />

in der Regierungsstadt Den Haag auf, wo er<br />

auch heute noch in einer kleinen Wohnung<br />

wohnt. Seine Mutter wusch bis vor kurzem<br />

noch seine Wäsche und bügelte die Hemden<br />

des bekanntesten Singles der Niederlande.<br />

Wie alle in seiner Familie ist Rutte<br />

Protestant und gilt als bescheiden. Seit Jahren<br />

unterrichtet er jeden Donnerstagmorgen<br />

Schüler in seiner Heimatstadt im Fach<br />

politische Weltkunde, egal wie voll der Terminkalender<br />

des Ministerpräsidenten ist.<br />

Nach dem Gymnasium wollte der passable<br />

Pianist zunächst das Konservatorium<br />

besuchen, entschloss sich dann jedoch für<br />

ein Geschichtsstudium in Leiden. Später<br />

wurde Rutte Personalchef beim Megakonzern<br />

Unilever, trug Verantwortung für den<br />

Erdnussbutterfabrikanten Calvé und die<br />

Tiefkühlprodukte von „Käpt’n Iglo“.<br />

Doch neben der Wirtschaft lockte die<br />

Politik. Rutte war Vorsitzender der Jungen<br />

Liberalen. Nach einem zähen Kampf<br />

mit der ehemaligen Gefängnisdirektorin<br />

Rita Verdonk wurde er Frontmann der<br />

Volkspartei für Freiheit und Demokratie<br />

(VVD). Und ausgerechnet in der größten<br />

Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit<br />

gewannen seine Rechtsliberalen die Wahlen<br />

2010, mit hauchdünnem Vorsprung<br />

vor den Sozialdemokraten.<br />

Regieren konnte Rutte allerdings nur,<br />

indem er vom Islamhasser Wilders toleriert<br />

wurde, einem Enfant terrible, das alles andere<br />

als tolerant ist. Rutte denkt in solchen<br />

Fragen eher praktisch als prinzipiell. Als<br />

Wilders ihn in der Tweede Kamer, dem<br />

Parlament, anschnauzte: „Sei doch mal<br />

normal, Mann!“, antwortete Rutte ruhig:<br />

„Sei doch lecker selber mal normal, Mann!“<br />

Ein anderes Beispiel für Ruttes Pragmatismus<br />

ist sein Pakt mit der bibeltreuen, theokratischen<br />

und antiliberalen SGP.<br />

Aller Pragmatismus hat nichts genutzt:<br />

Im Frühjahr ließ Wilders die Koalition<br />

platzen, weil er keine 15 Milliarden<br />

Euro einsparen wollte, um die Maastricht-<br />

Grenze von maximal 3 Prozent Defizit einzuhalten.<br />

Der Premier hatte sich sehr um<br />

die Hilfe des blondierten Euroskeptikers<br />

bemüht, umarmte ihn sogar kumpelhaft<br />

im Garten des „Catshuis“, seiner Haager<br />

Residenz. Umsonst.<br />

Rutte menschelt gerne. Zu den<br />

Sparklausuren erschien er auf dem Fahrrad,<br />

bevorzugt auch in Jeans. Als die Eurokrise<br />

wieder einmal eine Hochphase erlebte<br />

und Rutte sich beim EU-Gipfel in<br />

Brüssel um 50 Milliarden Euro verrechnet<br />

hatte, sah man ihn kurz darauf mit offenem<br />

weißen Hemd auf dem Technofestival<br />

„Dance Valley“ tanzen. Welch ein Kontrast<br />

zur Freizeitgestaltung der deutschen<br />

Kanzlerin, die alljährlich in Abendrobe in<br />

Bayreuth Wagners Musik lauscht.<br />

Dies zeigt die Nonchalance des Niederländers,<br />

der Deutschland mit seinem harten<br />

Sparkurs für angeschlagene Staaten<br />

unterstützt hat. Für Merkel ist das Nachbarland<br />

eine der letzten Stabilitätsstützen.<br />

Ob ihr die am Ende auch noch abhandenkommt,<br />

wird wesentlich vom Ausgang der<br />

Wahlen (am 12. September) im kleinen Königreich<br />

abhängen.<br />

Rob Savelberg ist Deutschlandkorrespondent<br />

für „De<br />

Telegraaf“, die auflagenstärkste<br />

Zeitung der Niederlande. Er<br />

lebt seit 1998 in Berlin<br />

Fotos: Michel de Groot, privat (Autor)<br />

64 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Jung und jovial:<br />

Der niederländische<br />

Regierungschef<br />

Mark Rutte<br />

mag es locker<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 65


| W e l t b ü h n e<br />

Krieg der Pinocchios<br />

Henrique Capriles Radonski will im Oktober Nachfolger von Hugo Chávez als Staatspräsident Venezuelas werden<br />

von karen naundorf<br />

E<br />

s geht um die Zukunft Venezuelas,<br />

doch das Land streitet sich über<br />

eine Baseballkappe. „La prohibida“,<br />

„die Verbotene“, heißt die umstrittene<br />

Schirmmütze in den Nationalfarben<br />

Gelb, Blau, Rot – und verkauft sich prächtig.<br />

Eigentlich darf in Venezuela während<br />

einer Wahlkampagne niemand mit den<br />

Landesfarben werben. Doch Henrique<br />

Capriles Radonski, der Herausforderer des<br />

amtierenden Staatspräsidenten Hugo Chávez,<br />

trägt „die Verbotene“ bei jeder Rede<br />

und macht sie so zu einem Symbol der Opposition:<br />

Er, bis vor kurzem Gouverneur<br />

des Bundesstaats Miranda, wolle das polarisierte<br />

Land einen, „der Präsident aller<br />

Venezolaner sein“. Da kommen die Nationalfarben<br />

gelegen. Die Androhung des Nationalen<br />

Wahlrats (CNE), eine Geldstrafe<br />

festzusetzen, scheint ihm egal zu sein. Er<br />

twitterte: „Jeden Tag werden 50 Venezolaner<br />

ermordet. Und die Regierung sorgt sich<br />

darum, welche Kappe ich trage.“<br />

Nach fast 13 Jahren Chávez-Regierung<br />

hat es das Oppositionsbündnis „Mesa de<br />

Unidad Democrática“ („Tisch der demokratischen<br />

Einheit“) geschafft, sich auf einen<br />

Kandidaten zu einigen. Ausgerechnet<br />

Capriles, der gemäßigtste von allen, gewann<br />

die Vorwahlen im Februar. Seine<br />

Wählerschaft ist konservativ, doch er selbst<br />

gibt an, die Mitte-Links-Regierung des<br />

ehemaligen brasilianischen Präsidenten<br />

von „Lula“ da Silva sei sein Vorbild.<br />

Capriles ist der Anti-Chávez schlechthin:<br />

Der 40-jährige Anwalt stammt aus einer<br />

der reichsten Familien Venezuelas, wurde<br />

schon mit 28 Jahren Bürgermeister von Baruta,<br />

einem wohlhabenden Bezirk in Caracas.<br />

Und bietet damit eine Angriffsfläche<br />

für den <strong>Am</strong>tsinhaber: „Es ist der Kampf des<br />

„Es ist der Kampf des Kandidaten<br />

der Bourgeoisie gegen das Volk“<br />

Hugo Chávez<br />

Kandidaten der Bourgeoisie gegen das Volk,<br />

des Imperiums gegen das venezolanische Vaterland“,<br />

sagt Chávez. Capriles’ volksnaher<br />

Diskurs sei aufgesetzt. Tatsächlich darf man<br />

sich fragen, wie demokratisch der Kandidat<br />

der Opposition wirklich ist: Seine Rolle bei<br />

einem Putschversuch gegen Chávez im Jahr<br />

2002 ist umstritten. „Capriles war an der<br />

Gefangennahme des Innenministers beteiligt“,<br />

sagt der Chávez zugewandte Journalist<br />

Roberto Malaver. „Und er war unfähig,<br />

der ihm unterstellten Polizei zu befehlen, die<br />

Aktionen der Putschisten vor der kubanischen<br />

Botschaft zu beenden.“<br />

Was passierte damals wirklich? Vielleicht<br />

ist das in diesem Wahlkampf, den ein Meinungsforscher<br />

unlängst als „Krieg der Pinocchios“<br />

bezeichnete, gar nicht mehr wichtig –<br />

denn ohnehin glaubt keiner dem anderen<br />

auch nur ein Wort. Kein Wunder, setzen<br />

doch beide Seiten regelmäßig Gerüchte in<br />

die Welt, um den Gegenkandidaten zu diffamieren.<br />

Chávez-Anhänger behaupten, der<br />

unverheiratete Capriles sei schwul, und die<br />

Opposition habe kolumbianischen Paramilitärs<br />

Geld geboten, um Hugo Chávez mit<br />

Waffengewalt zu stürzen. Capriles-Anhänger<br />

werfen Chávez vor, staatliche Gelder für den<br />

Wahlkampf einzusetzen, und streuen immer<br />

wieder Informationen über Chávez’ Krebserkrankung,<br />

in denen sie mehrfach sein baldiges<br />

Ableben prophezeien.<br />

Capriles geht abends joggen, trinkt<br />

Cola light, schläft selten mehr als vier<br />

Stunden – und das Wichtigste: Er hat sich<br />

nicht ein einziges Mal dazu herabgelassen,<br />

Chávez zu beschimpfen. Nicht einmal als<br />

der Präsident ihn aufforderte: „Setz die<br />

Maske ab! Du hast den Schwanz eines<br />

Schweins, die Ohren eines Schweins, du<br />

schnarchst wie ein Schwein, also bist du<br />

eines.“ Chávez spielte damit auf Capriles’<br />

jüdisch-polnische Wurzeln an: Die Großmutter<br />

entkam den Nazis knapp, ein Teil<br />

der Familie starb in Treblinka. Das Simon-<br />

Wiesenthal-Zentrum reagierte prompt und<br />

verbat sich weitere antisemitische Attacken.<br />

Capriles blieb ruhig.<br />

„Er möchte so venezolanisch wie möglich<br />

wirken“, vermutet Alex Vásquez, der<br />

die Wahlkampagne von Capriles für die Zeitung<br />

El Nacional begleitet. „Deshalb betont<br />

er seine jüdische Herkunft nicht. Er will<br />

keine Distanz zu seinen Wählern schaffen.“<br />

Der Kandidat geht von Haus zu Haus, sein<br />

Team notiert akribisch, wem Medikamente<br />

fehlen, wo es reinregnet, wer die Stromrechnung<br />

nicht zahlen kann. Er spielt Basketund<br />

Fußball mit den Jungs in den Armenvierteln.<br />

Und springt auch mal spontan aus<br />

dem Fenster des Wahlkampfbusses, wenn<br />

Anhänger am Straßenrand winken (und hält<br />

so seine Bodyguards auf Trab).<br />

Capriles’ Programm verspricht Kontinuität<br />

und Wandel zugleich: „Wir haben<br />

nicht vor, gewählt zu werden und dann<br />

alles umzuwerfen.“ Wirtschaftspolitisch<br />

dürfte sich aber unter ihm einiges ändern:<br />

Mehr Möglichkeiten für private Unternehmer,<br />

Enteignungen könnten rückgängig<br />

gemacht werden. „Besonders interessant<br />

scheint mir, was Capriles mit den Erdölerlösen<br />

vorhat: Arbeit schaffen, Wohnungsbau,<br />

in die Bildung investieren“, sagt Vásquez.<br />

„Sein Programm ist allerdings nicht<br />

sehr detailliert. Es zeigt zwar, was geschehen<br />

soll, aber erklärt nicht, wie.“<br />

Wer gewinnt am 7. Oktober? Klar ist<br />

nur: Es wird eng. Und damit ziemlich ungemütlich<br />

auf den Straßen, wenn die Wahllokale<br />

schließen. „Beiden Seiten wird es<br />

schwerfallen, ein knappes Ergebnis anzuerkennen“,<br />

befürchtet Vásquez.<br />

Karen Naundorf<br />

ist Korrespondentin des<br />

Weltreporter-Netzwerks<br />

Fotos: Meridith Kohut, privat (Autorin)<br />

66 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Der Kandidat mit der<br />

Kappe: Obwohl es untersagt<br />

ist, trägt Henrique Capriles<br />

Radonski im Wahlkampf<br />

eine Baseballmütze in den<br />

Nationalfarben Venezuelas<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 67


| W e l t b ü h n e | R u m ä n i e n<br />

Korrupte<br />

Kader<br />

Der Premier setzt den Präsidenten ab. Der<br />

weigert sich, sein <strong>Am</strong>t zu räumen, und wirft<br />

seinerseits dem Regierungschef vor, zu lügen<br />

und zu betrügen. Wer ist in Rumänien der Gute<br />

und wer der Böse? Und wer sind die Hintermänner<br />

in diesem undurchsichtigen Machtkampf?<br />

von Keno Verseck<br />

Stundenlang hatten die Kamerateams<br />

vor dem luxuriösen Apartmenthaus<br />

in der Museum-Zambaccian-Straße<br />

ausgeharrt. Die<br />

Bilder von der Verhaftung des<br />

ehemaligen Regierungschefs, von seiner<br />

Überführung ins Gefängnis wollte sich<br />

kein Fernsehsender entgehen lassen. Zwei<br />

Polizeibeamte waren gekommen, um ihn<br />

abzuführen. Da fiel im Haus ein Schuss.<br />

Ein Rettungswagen kam, verschwand<br />

in der Garage des Anwesens, raste kurz darauf<br />

in das nahe gelegene Floreasca-Krankenhaus.<br />

Dort erhaschten Kameraleute einige<br />

Bilder: Adrian Năstase auf einer Liege,<br />

zugedeckt, die Augen geschlossen, keine<br />

Blutspuren, um den Hals einen Schal.<br />

Năstase war von 2000 bis 2004 rumänischer<br />

Regierungschef und langjähriger<br />

Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei.<br />

In der Öffentlichkeit gilt er bis heute<br />

als eines der Symbole für Korruption im<br />

Land, mehrere Verfahren und Prozesse gegen<br />

ihn laufen noch. An diesem 21. Juni<br />

war er wegen illegaler Wahlkampf- und<br />

Parteienfinanzierung zu zwei Jahren Gefängnis<br />

verurteilt worden – rechtskräftig.<br />

Juristisch gab es für den 62-Jährigen kein<br />

Entkommen mehr.<br />

Doch offenbar hatte Năstase sich geschworen,<br />

dass Gefängnis für ihn keine<br />

Option sei. Ärzte bestätigten am selben<br />

Abend den Selbstmordversuch des Ex-<br />

Premiers. Er habe sich in den Hals geschossen,<br />

sei zwar nicht lebensgefährlich<br />

verletzt, müsse aber längere Zeit im Krankenhaus<br />

bleiben. Regierungschef Victor<br />

Ponta machte seinem einstigen Ziehvater<br />

im Spital die Aufwartung, gab sich hinterher<br />

vor der Presse erschüttert.<br />

Nur einige Tage später fiel die Selbstmordstory<br />

in sich zusammen. Der Ex-Regierungschef<br />

soll lediglich einen Kratzer am Hals<br />

gehabt haben. Er hatte wohl Theater gespielt,<br />

ein allerletzter Versuch, der Haft zu entgehen.<br />

Umsonst. <strong>Am</strong> 26. Juni wurde Năstase ins Gefängnis<br />

Rahova bei Bukarest gebracht. Gegen<br />

einige Mediziner, darunter einen Freund<br />

des Ex-Premiers, wird seither wegen Begünstigung<br />

von Straftaten ermittelt.<br />

Noch sind nicht alle Merkwürdigkeiten<br />

des Falles aufgeklärt, aber eines steht<br />

schon jetzt fest: Năstases Selbstmordtheater<br />

hat Geschichte gemacht – als Auftakt<br />

zu einer der schwersten politischen Krisen<br />

in Rumänien seit dem Sturz des Diktators<br />

Nicolae Ceauşescu im Dezember 1989.<br />

„Der Fall war ein Alarmsignal für die<br />

korrupten Politiker“, sagt der Bukarester<br />

Philosoph und Essayist Andrei Cornea. „Es<br />

war das Signal, dass sie nicht mehr sicher<br />

sind vor der Justiz. Deshalb haben sie begonnen,<br />

den Staat umzukrempeln.“<br />

Wenige Tage nach Năstases Verurteilung<br />

initiierte die Regierung unter Ministerpräsident<br />

Victor Ponta ein blitzartiges<br />

<strong>Am</strong>tsenthebungsverfahren gegen den<br />

Staatspräsidenten Traian Băsescu. Er habe<br />

seine Kompetenzen überschritten, lautete<br />

die Begründung. Das Verfassungsgericht<br />

wies das später zurück. Um das Verfahren<br />

durchzubringen, ließ die Regierung<br />

Foto: Mihai Barbu/Picture Alliance/DPA<br />

68 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Mit Plakaten polemisieren Anhänger des<br />

abgesetzten Staatspräsidenten Traian Băsescu<br />

gegen die Regierungspartei von Victor Ponta.<br />

Die sei wie ein Hyänenrudel über die Justiz<br />

hergefallen, um den wegen Korruption<br />

verurteilten früheren Regierungschef<br />

Adrian Năstase aus dem Knast zu befreien<br />

mit Notverordnungen Gesetze ändern, im<br />

Eilverfahren die Vorsitzenden der beiden<br />

Parlamentskammern austauschen und die<br />

Kompetenzen staatlicher Institutionen<br />

beschneiden. Maßnahmen, die sich nach<br />

Ansicht von Juristen am Rande oder jenseits<br />

der Legalität bewegten. Băsescu und<br />

seine Anhänger nannten das Vorgehen einen<br />

„Staatsstreich“, EU-Vertreter sprachen<br />

von „staatsstreichähnlichen Maßnahmen“.<br />

Mit der Suspendierung Băsescus am<br />

6. Juli entbrannte ein gnadenloser Machtkampf<br />

zwischen Regierung und Präsident.<br />

Bis zur Wiedereinsetzung Băsescus in sein<br />

<strong>Am</strong>t Ende August herrschte über Wochen<br />

Regierungsstillstand, die Tageszeitung<br />

Adevărul konstatierte einen „politischen<br />

Kollaps“, der auch ökonomische Folgen<br />

hatte: Zeitweilig verfiel der Wechselkurs<br />

der Landeswährung Leu zum Euro, der<br />

Nationalbankchef Mugur Isărescu warnte<br />

vor einem Absturz der Wirtschaft.<br />

Ein Zusammenhang zwischen Năstases<br />

Verurteilung und dem <strong>Am</strong>tsenthebungsverfahren<br />

gegen Băsescu ist naheliegend.<br />

„Sie haben den Staatspräsidenten suspendiert,<br />

weil er die Justizreform mitgetragen<br />

hat, er ist ein Hindernis für die korrupte<br />

Elite“, sagt Laura Ştefan, Juristin und Mitglied<br />

einer Expertengruppe, die im Auftrag<br />

der Europäischen Union (EU) periodisch<br />

den Stand der Rechtsstaatlichkeit in<br />

Rumänien begutachtet. In einen größeren<br />

Zusammenhang ordnet Andrei Cornea die<br />

Ereignisse ein: „Rumänien ist eine Oligarchie<br />

und keine Demokratie. Das Land wird<br />

von ,lokalen Baronen‘ geführt, sie haben<br />

die wirkliche Macht“, sagt er. „Einige von<br />

Băsescus Projekten, wie die Verwaltungsoder<br />

die Verfassungsreform, würden diese<br />

Verhältnisse grundlegend ändern, und das<br />

kann die Oligarchie nicht hinnehmen.“<br />

Dahinter steht eine historische Tradition,<br />

von der sich Rumänien nur schwer löst und<br />

an der auch die EU-Integration des Landes<br />

nichts geändert hat. So wie seit jeher wussten<br />

auch im postkommunistischen Rumänien<br />

Parteicliquen und die Seilschaften der<br />

Lokalfürsten ihre Interessen gut zu schützen.<br />

Selten verfuhren sie dabei legal. Das<br />

Verfahren zur <strong>Am</strong>tsenthebung von Staatspräsident<br />

Traian Băsescu ist dafür ein besonders<br />

anschauliches Beispiel.<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 69


| W e l t b ü h n e | R u m ä n i e n<br />

Wie dreist die Regierungsmehrheit um<br />

die Macht stritt, zeigte das Tauziehen um<br />

das Referendum, mit dem Rumäniens Bürger<br />

am 29. Juli verfassungsgemäß über die<br />

<strong>Am</strong>tsenthebung des Präsidenten entschieden<br />

hatten. Zwar votierten rund 87 Prozent<br />

der Wähler für die Absetzung Băsescus.<br />

Allerdings kamen nur 46 Prozent zur Abstimmung.<br />

Da für ein gültiges Referendum<br />

mindestens 50 Prozent der Wahlberechtigten<br />

an den Urnen erscheinen müssen, ist<br />

die Abstimmung ungültig – theoretisch.<br />

Die Regierung behauptete, es gäbe weit<br />

weniger als die 18,3 Millionen Wahlberechtigten,<br />

die sie vor dem Referendum<br />

offiziell angegeben hatte. Anfang August<br />

gelangten zudem Regierungspläne an die<br />

Öffentlichkeit, denen zufolge Wahllisten<br />

gefälscht werden sollten, um die Zahl der<br />

Wahlberechtigten zu verringern und die<br />

Wahlbeteiligung damit auf über 50 Prozent<br />

zu bringen.<br />

Das Verfassungsgericht, zuständig für<br />

die Validierung von Volksabstimmungen,<br />

zögerte ein Urteil wochenlang hinaus –<br />

kein Wunder, ist es doch mit Richtern besetzt,<br />

die nach politischem Proporz ernannt<br />

wurden und auf denen großer politischer<br />

Druck lastet. <strong>Am</strong> 21. August entschieden<br />

die Richter schließlich, dass Băsescu<br />

in sein <strong>Am</strong>t zurückkehren könne, da das<br />

Referendum wegen mangelnder Wahlbeteiligung<br />

gescheitert sei. Die Ponta-Regierung<br />

beschimpfte das Gericht daraufhin<br />

in einer Weise, die in der modernen europäischen<br />

Geschichte ihresgleichen sucht –<br />

die Richter seien „ehrlos“ und „ungerecht“,<br />

ihre Entscheidung „illegal“, sagte beispielsweise<br />

der Regierungschef Ponta.<br />

Rumänien erlebte seit 1989 schon mehrere<br />

Krisen, in denen sich offenbarte, wie<br />

schwach der Staat ist und wie leicht Interessengruppen<br />

seine Institutionen und die<br />

Gewaltenteilung aushebeln können. Die<br />

politische Kraft, die Rumänien diesmal in<br />

eine solche Krise gestürzt hat, ist die „Sozialliberale<br />

Union“ (USL). Doch mit sozialliberaler<br />

Politik hat das Drei-Parteien-Bündnis<br />

wenig zu tun. In der USL sind vielmehr<br />

Rumäniens mächtigste und korrupteste<br />

Seilschaften vereint: Da wäre zum einen<br />

die Sozialdemokratische Partei (PSD),<br />

nach 1989 das Sammelbecken für den<br />

größten Teil von Ceauşescus Securitate-,<br />

Partei- und Betriebselite; zum anderen die<br />

National-Liberale Partei (PNL), in der sich<br />

viele neureiche rumänische Unternehmer<br />

Regierungschef Victor<br />

Ponta (links) ließ den<br />

Staatspräsidenten<br />

Băsescu des <strong>Am</strong>tes<br />

entheben. Offenbar<br />

fürchtete er dessen<br />

gegen Korruption<br />

und Vetternwirtschaft<br />

gerichtete Reformen<br />

Zwei mächtige<br />

Hintermänner im<br />

Kampf um die Macht:<br />

Interimspräsident<br />

Crin Antonescu (links)<br />

und der Medienmogul<br />

Dan Voiculescu, die<br />

graue Eminenz der<br />

Konservativen<br />

und Magnaten zusammengeschlossen haben,<br />

und schließlich die Konservative Partei<br />

(PC), eine Zwerg- und Marionettenpartei,<br />

deren graue Eminenz Dan Voiculescu<br />

ist, ein ehemaliger Securitate-Mitarbeiter<br />

und Devisenbeschaffer Ceauşescus, heute<br />

Milliardär und Medienmogul.<br />

Zustande kam die Regierungsmehrheit<br />

Ende April, als viele Parlamentarier zur<br />

USL überliefen und die bis dahin regierenden<br />

Liberaldemokraten gestürzt wurden.<br />

Auch das hat in Rumänien historische<br />

Tradition: Zeichnet sich in Wahljahren wie<br />

in diesem – im Juni fanden Kommunalwahlen<br />

statt, im November wird ein neues<br />

Parlament gewählt – ein Stimmungsumschwung<br />

in der Bevölkerung ab, wechseln<br />

viele Lokal- oder Parlamentspolitiker in<br />

das Lager des künftigen Wahlsiegers und<br />

sichern sich so ihren Zugang zur Macht<br />

und zu Staatsgeldern.<br />

Seit Anfang Mai im <strong>Am</strong>t, regierten<br />

Ministerpräsident Victor Ponta und sein<br />

Kabinett bisher vor allem mit Dekreten,<br />

die sofortige Gesetzeskraft haben und erst<br />

nachträglich vom Parlament abgesichert<br />

werden müssen. Seit Jahren kritisiert die<br />

Europäische Union in ihren halbjährlichen<br />

Kontrollberichten zur Rechtsstaatlichkeit<br />

in Rumänien diese Praxis der Exekutive.<br />

Ungeachtet dessen brachte es die Ponta-<br />

Regierung inzwischen auf mehr als zwei<br />

Dutzend solcher Notverordnungen – so<br />

viele wie keine Vorgängerregierung in einem<br />

vergleichbaren Zeitraum.<br />

Ginge es allerdings allein nach Victor<br />

Ponta, hätte es die jetzige Krise wohl so<br />

nicht gegeben. Der Mann mit dem unschuldigen<br />

Bubengesicht ist ausgesprochen<br />

wendig und karrierebewusst. Einst Staatsanwalt<br />

für Korruptionsbekämpfung, stieg<br />

er als politischer Zögling des jetzt inhaftierten<br />

Ex-Regierungschefs Adrian Năstase<br />

schnell auf in der Sozialdemokratischen<br />

Partei und übernahm 2010 deren Vorsitz.<br />

Ponta hat noch nie feste ideologische Positionen<br />

vertreten, Konflikten geht er lieber<br />

aus dem Weg. Bereits nach dem gescheiterten<br />

Referendum plädierte er vorsichtig dafür,<br />

die Niederlage zu akzeptieren.<br />

Vergebens. Denn nicht der Regierungschef<br />

zieht im derzeitigen Machtkampf die<br />

Fäden. Er wirkt eher wie ein Gefangener<br />

der Lokalfürsten in seiner Partei, die ihn vor<br />

sich hertreiben, unter anderem mit seiner<br />

„Copy-and-Paste-Affäre“: Ponta hat mehr als<br />

ein Drittel seiner juristischen Doktorarbeit<br />

Fotos: Corbis, Geert Vanden Wijngaert/ddp images/AP Photo, Vadim Ghirda/ddp images/AP Photo, ZVG, Privat (Autor)<br />

70 <strong>Cicero</strong> 9.2012


nachweislich plagiiert, was er jedoch bestreitet.<br />

Die staatliche Kommission, die ihm den<br />

Doktortitel entziehen wollte, ließ die Regierung<br />

auflösen – per Dekret.<br />

Einer der Lokalfürsten, an denen Pontas<br />

Schicksal hängt, ist Liviu Dragnea, Generalsekretär<br />

der Sozialdemokraten und<br />

seit langem einer der mächtigsten „Barone“<br />

Rumäniens. Der 49-jährige Ingenieur verfügt<br />

über ausgedehnte Ländereien und ein<br />

Immobilienimperium im südrumänischen<br />

Kreis Teleorman, dem er jahrelang als Vorsitzender<br />

des Kreisrats vorstand. Im Laufe<br />

der vergangenen anderthalb Jahrzehnte war<br />

er in zahlreiche dubiose Geschäfte verwickelt,<br />

mehrmals ermittelte die Antikorruptions-Staatsanwaltschaft<br />

DNA gegen<br />

ihn, unter anderem wegen betrügerischer<br />

Privatisierung, Mauscheleien bei der Vergabe<br />

von öffentlichen Aufträgen und Fälschung<br />

von Dokumenten bei einem Antrag<br />

auf EU-Fördergelder. Gerne würde man<br />

Dragnea zu seiner Rolle in der gegenwärtigen<br />

politischen Krise befragen, doch der<br />

mächtige „Baron“ antwortet weder auf Telefonanrufe<br />

noch auf schriftliche Anfragen.<br />

Neben Lokalfürsten wie Dragnea sind<br />

es vor allem zwei weitere Männer, die für<br />

die Strategie des Machtkampfs mit dem<br />

Staatspräsidenten verantwortlich zeichnen:<br />

der Milliardär und Medienmogul<br />

Dan Voiculescu und der zeitweilige Interimsstaatschef<br />

Crin Antonescu.<br />

Voiculescu betreibt seine Konservative<br />

Partei wie ein Puppentheater – er braucht<br />

die Parteifunktionäre, um sie auf Regierungsposten<br />

zu hieven, damit sie seinen<br />

Firmen von dort aus Staatsaufträge zuschanzen.<br />

Seine populären Fensehsender<br />

Antena 1 und Antena 3 senden unterdessen<br />

die jeweils ihm genehme Propaganda.<br />

Ende Juni trat Voiculescu als Senatsabgeordneter<br />

zurück. Der erwünschte Nebeneffekt<br />

dieses Schrittes: Ein gegen ihn<br />

anhängiges Gerichtsverfahren wegen eines<br />

mutmaßlich illegalen Grundstücksgeschäfts,<br />

bei dem ihm eine Gefängnisstrafe<br />

drohte, wird nun nicht mehr vom Obersten<br />

Kassationsgerichtshof (ICCJ) verhandelt,<br />

der für Politikerverfahren zuständig<br />

ist, sondern von einem anderen Gericht.<br />

Voiculescu gewinnt so Zeit. Wenn er das<br />

Verfahren lange genug hinauszögern kann,<br />

ist der Straftatbestand verjährt.<br />

Antonescu wiederum, Chef der National-Liberalen<br />

Partei, hegt gegen Băsescu<br />

einen tiefen persönlichen Hass. Mit dem<br />

Kommentar<br />

Rumänisch-Ungarische Lektionen<br />

Bei Grundrechtsverletzungen Geldhahn zudrehen<br />

Anhaltende Armut in weiten Teilen<br />

des Landes, die fortgesetzte Flucht<br />

der Besten ins Ausland, ein gerissener<br />

Premierminister, der kurz nach seinem<br />

Wahlsieg nicht nur die Institutionen<br />

der Republik, sondern sogar Justiz<br />

und Zivilgesellschaft unter Druck<br />

setzt: Die Nachrichten aus Rumänien<br />

bestätigen gerade so ziemlich jedes<br />

Vorurteil, das man über das Land<br />

haben kann. Ganz besonders gilt das<br />

für den Kampf, den Premier Victor<br />

Ponta gegen Präsident Traian Basescu<br />

führt, um seine Macht völlig uneingeschränkt<br />

ausüben zu können. Schlussfolgerung:<br />

Die EU hat das Land viel<br />

zu früh aufgenommen. Das stimmt,<br />

greift jedoch viel zu kurz. Denn bei<br />

näherem Hinsehen wird klar, dass<br />

die Vorgänge in Bukarest auf verblüffende<br />

Weise denen in Budapest ähneln.<br />

In Ungarn nimmt Premierminister<br />

Viktor Orbán nicht nur eine<br />

legitime politische Abrechnung mit<br />

seinem Vorgänger vor, er nutzt seine<br />

Zwei-Drittel-Mehrheit vielmehr dazu,<br />

diese Abrechnung verfassungsrechtlich<br />

so zu verankern, dass die Ungarn<br />

Orbáns Politik auch in künftigen demokratischen<br />

Wahlen nicht mehr ändern<br />

können.<br />

Die beiden im Kern so ähnlichen<br />

Konstellationen unterscheiden sich in<br />

einem wichtigen Punkt: In Ungarn<br />

wird die Revolution von oben von einem<br />

Konservativen, in Rumänien<br />

von einer sozialliberalen Koalition betrieben.<br />

Kommissionspräsident Barroso<br />

schlägt daher kräftig auf Ponta<br />

ein, während er zu Orban butterweich<br />

blieb. Im Europaparlament stehen<br />

CDU und CSU in Treue fest zum<br />

ungarischen Potentaten, können sich<br />

dagegen über Victor Ponta gar nicht<br />

genug echauffieren. Doch das bringt<br />

alles nichts. Das Problem ist nicht Rumänien,<br />

es ist auch nicht Ungarn. Das<br />

eigentliche Problem ist, wie die EU<br />

mit Mitgliedstaaten umgehen soll, die<br />

ihre Versprechen aus den Beitrittsverhandlungen<br />

brechen. Parteipolitik ist<br />

keine Lösung, denn es geht um grundsätzliche<br />

Fragen von Rechtsstaatlichkeit<br />

und Demokratie, die über dem<br />

Parteienstreit stehen.<br />

Drei andere Dinge sind entscheidend:<br />

die Wiederherstellung der<br />

Glaubwürdigkeit in der Erweiterungspolitik,<br />

eine objektive Bewertung von<br />

Rechtsstaatlichkeit und Demokratie<br />

auch nach dem Beitritt und das Zudrehen<br />

des Geldhahns, wenn es nicht<br />

anders geht. In der Erweiterungspolitik<br />

gab Deutschland die Devise aus:<br />

„Keine Osterweiterung ohne Polen.“ In<br />

Warschau erlahmte daraufhin schnell<br />

der Reformeifer, 2004 war man ja sicher<br />

dabei (ein klassischer Fall von<br />

„moral hazard“), und Rumänien segelte<br />

2007 im Schlepptau Polens in die EU,<br />

obwohl sein Justizsystem Lichtjahre<br />

von rechtsstaatlich annehmbaren Standards<br />

entfernt war. Den aufgeweichten<br />

Beitrittskriterien wieder Geltung zu<br />

verschaffen, ist notwendig, aber schwierig.<br />

Eine objektive Bewertung der aktuellen<br />

Mitgliedstaaten zu organisieren,<br />

ginge dagegen leicht und schnell.<br />

Es würde völlig ausreichen, die Grundrechteagentur<br />

der EU in Wien damit<br />

zu beauftragen. Die Mitgliedstaaten,<br />

auch Deutschland, müssten sich dann<br />

allerdings bereit erklären, auch mit solchen<br />

Bewertungen konfrontiert zu werden,<br />

die politisch nicht genehm sind.<br />

Das aber ist ein annehmbarer Preis.<br />

Und wenn es gar nicht anders geht,<br />

muss es schmerzen – das heißt, dass<br />

EU‐Zahlungen gestoppt werden, wenn<br />

Wien den Daumen senkt.<br />

Alexander Graf<br />

Lambsdorff<br />

ist Vorsitzender der FDP im<br />

Europäischen Parlament<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 71


| W e l t b ü h n e | R u m ä n i e n<br />

Interview<br />

„Europa muss mässigend einwirken“<br />

Peter Maffay macht sich Sorgen um sein Heimatland und ruft<br />

das Ausland zu mehr Engagement auf<br />

H<br />

err Maffay, im Moment steht<br />

Rumänien für Chaos, für Krise.<br />

Sie engagieren sich schon<br />

lange in Ihrer alten Heimat. Was hat<br />

sich seit 1989 verändert?<br />

Eine Diktatur ist einer Gesellschaft gewichen,<br />

die demokratische Züge hat.<br />

Das war die Voraussetzung für eine Annäherung<br />

an Europa. Das Land hat<br />

neue Impulse bekommen, Industrie<br />

aus dem Ausland hat sich angesiedelt,<br />

die Menschen auf der Straße sind befreit<br />

von jahrzehntelanger Angst, wegen<br />

einer eigenen Meinung Repressalien<br />

ausgesetzt zu sein.<br />

Im Moment muss man an der Demokratiefähigkeit<br />

der Rumänen zweifeln.<br />

Dieser Zweifel ist berechtigt und angebracht.<br />

Das Ausland muss mäßigend<br />

auf Rumänien einwirken. Aber versuchen<br />

Sie sich zu vergegenwärtigen,<br />

wie undenkbar dieser Prozess unter<br />

Ceauşescu gewesen ist. Jetzt aber macht<br />

Rumänien einen Rückschritt. Da ist es<br />

Aufgabe der anderen Gesellschaften in<br />

Europa, die Rumänen daran zu erinnern,<br />

dass es so nicht geht.<br />

War Rumänien wirklich reif dafür, in die<br />

EU aufgenommen zu werden?<br />

Aus meiner Sicht ist es richtig gewesen,<br />

Rumänien abzuholen. Aber jetzt<br />

darf man es nicht allein lassen. Gleichzeitig<br />

ist es richtig, Rumänien zu mahnen,<br />

sich an die Kriterien zu halten,<br />

„Rumänien macht einen Rückschritt“,<br />

behauptet Peter Maffay<br />

unter denen es in die EU aufgenommen<br />

wurde.<br />

Haben Sie den Eindruck, dass die EU<br />

entschlossen agiert?<br />

Nein. Es werden Vorbehalte geäußert,<br />

und es gibt Versuche, auf Rumänien<br />

einzuwirken. Aber das müsste noch viel<br />

deutlicher geschehen. Wir können es<br />

uns nicht leisten, Staaten wie Rumänien<br />

und Bulgarien aus unserem Verbund<br />

zu verlieren. Das würde die EU<br />

wie ein Bumerang treffen.<br />

Was läuft falsch?<br />

Wir dürfen nicht von zu hoher Warte<br />

auf Rumänien blicken. Das ist nicht<br />

gut, schon gar nicht vor dem Hintergrund<br />

unserer Geschichte. Es gäbe sofort<br />

Gegenreaktionen, die zum Teil<br />

schon einsetzen. Wir müssen verstehen,<br />

welche Strecke Rumänien<br />

schon zurückgelegt hat. Rumäniens<br />

Schwierig keiten – ethnisch, politisch,<br />

wirtschaftlich – sind nicht so schnell zu<br />

überwinden, wie wir es gerne hätten.<br />

Wären dann nicht gerade die rumänischen<br />

Künstler gefordert?<br />

Es gibt eine ganze Reihe vorzüglicher<br />

Köpfe – Musiker, Schriftsteller. Das im<br />

Westen geläufige Handwerk aber, wie<br />

sich dieser Teil der Gesellschaft organisieren<br />

kann, muss erst wieder erlernt<br />

werden. Nach 50 Jahren Kommunismus<br />

und nur 20 Jahren Demokratie ist<br />

viel verlernt. Nehmen Sie das Stiftungswesen,<br />

das Kultur aus privater Initiative<br />

schafft und das im Westen so wesentlich<br />

ist. In Rumänien verfügt man<br />

nicht über das Wissen, wie man Stiftungen<br />

gründen und verwalten kann.<br />

Welche Kraft privates Engagement<br />

entfaltet.<br />

Sie haben Rumänien als 16-Jähriger<br />

verlassen. Was verbindet Sie heute noch<br />

mit dem Land?<br />

Was verbindet einen Sohn mit seiner<br />

Mutter? Das erfasst man nur gefühlsmäßig.<br />

Diese allerersten Impulse, die<br />

ein Mensch wahrnimmt, das sind alles<br />

bestimmende Einflüsse, die nie verloren<br />

gehen. Diejenigen, die vorgeben,<br />

dass ihnen das nichts mehr bedeutet,<br />

belügen sich selbst.<br />

Die Fragen stellte Judith Hart<br />

Staatschef verbindet die National-Liberalen<br />

eine Feindschaft, seit Băsescu es vor Jahren<br />

ablehnte, den Öl-Milliardär Dinu Patriciu,<br />

einen der Väter der postkommunistischen<br />

rumänischen Liberalen, vor einem Prozess<br />

wegen eines betrügerischen Privatisierungsgeschäfts<br />

zu schützen.<br />

Doch auch der Staatspräsident Băsescu<br />

ist in den Augen vieler Beobachter keine<br />

unbescholtene Lichtgestalt. Der Bukarester<br />

Politologe Cristian Pârvulescu sieht ihn<br />

als wesentlich Mitverantwortlichen an der<br />

gegenwärtigen politischen Krise in Rumänien.<br />

„Der Präsident pflegt einen autoritären<br />

Stil, fällt durch rassistische Äußerungen<br />

und ordinäre Ausdrucksformen auf“,<br />

sagt Pârvulescu. „Er hat sich oft in die Arbeit<br />

des Parlaments und der Regierung<br />

eingemischt und durch seine Sparpolitik<br />

eine tiefe soziale Spaltung des Landes<br />

verursacht.“<br />

Der Historiker und Publizist Ovidiu<br />

Pecican, der an der Universität im siebenbürgischen<br />

Klausenburg (Cluj) lehrt, sagt,<br />

Băsescu kündige oft viel an, von dem dann<br />

wenig verwirklicht werde. Im Machtkampf<br />

mit der Regierung repräsentiere er zwar die<br />

Foto: Marc Rehbeck/DDP Images Via Peta<br />

72 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Foto: Privat (Autor)<br />

Seite, die weniger antirechtsstaatlich agiere,<br />

aber, so Pecican, „letztlich geht es um einen<br />

Wettbewerb zweier Cliquen, die in<br />

der Bevölkerung beide keine Legitimität<br />

genießen“.<br />

Tatsächlich versteht sich Băsescu als<br />

„eingreifender“ und „mitspielender“ Präsident,<br />

der die Kompetenzen seines <strong>Am</strong>tes<br />

ausschöpft. Häufig vergreift sich der einstige<br />

Hochseekapitän in Wort und Ton.<br />

Eine Journalistin beschimpfte er als „dreckige<br />

Zigeunerin“, einen Kollegen nannte<br />

er „Schwuchtel“, Angestellten des öffentlichen<br />

Dienstes, die gegen seine Sparpolitik<br />

protestierten, empfahl er, aus Rumänien<br />

zu verschwinden und sich einen Arbeitsplatz<br />

im Ausland zu suchen. Zum Treiben<br />

vieler korruptionsverdächtiger Lokalfürsten<br />

in seiner eigenen Partei, den Liberaldemokraten,<br />

schweigt er meistens. Er selbst<br />

soll eine Staatsimmobilie unrechtmäßig erworben<br />

haben; im Frühjahr 2009 half er<br />

seiner Tochter Elena, die als Partygirl und<br />

für schlechte Grammatikkenntnisse bekannt<br />

ist, Abgeordnete des Europaparlaments<br />

zu werden.<br />

Andererseits unterstützte Băsescu als<br />

Staatschef die Justizreform und die Institutionalisierung<br />

des Kampfes gegen Korruption.<br />

Die ehemalige Justizministerin<br />

Monica Macovei, derzeit Abgeordnete der<br />

Liberaldemokraten im Europaparlament<br />

und eine Ikone des Kampfes gegen Korruption,<br />

sieht Băsescu deshalb als Garanten der<br />

Rechtsstaatlichkeit. „Mit seiner <strong>Am</strong>tsenthebung<br />

würde die Justiz wieder beeinflussbar<br />

und der Kampf gegen die Korruption<br />

gestoppt werden“, sagt sie. Auch viele Intellektuelle,<br />

die Băsescu durchaus kritisch gegenüberstehen,<br />

äußern sich nuanciert. Der<br />

Philosoph und Essayist Andrei Cornea charakterisiert<br />

den suspendierten Staatschef als<br />

„Vorstadtflegel, der jedoch politische Visionen<br />

und Projekte hat“.<br />

Băsescu kehrt unter äußerst schwierigen<br />

Umständen in sein <strong>Am</strong>t zurück. Er<br />

hat 7,5 Millionen Wähler gegen sich, die<br />

ihn ausdrücklich absetzen wollten. Mit<br />

der Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten<br />

kann Băsescu nicht mehr rechnen,<br />

da er wegen seiner rigiden Sparpolitik<br />

und seines polarisierenden Stils bei den<br />

meisten Menschen im Land unbeliebt ist.<br />

Băsescu will sich künftig mehr zurücknehmen,<br />

doch den Beweis dafür muss er erst<br />

noch antreten. Dass eine Kohabitation<br />

zustande kommt, dafür sehen die meisten<br />

Beobachter kaum Chancen, zumindest<br />

nicht bis zu den Parlamentswahlen im November,<br />

zumal auch der PNL-Chef Antonescu<br />

nach Băsescus Wiedereinsetzung als<br />

Staatschef die Bürger im Land zu öffentlichen<br />

Protesten aufrief – bis „das Regime<br />

Băsescu eliminiert“ und „Rumänien befreit“<br />

sei.<br />

Auch die Europäische Union, die das<br />

„staatsstreichähnliche Vorgehen“ der Ponta-<br />

Regierung scharf geißelte, verfügt über wenige<br />

Möglichkeiten, ordnend einzugreifen.<br />

In Ungarn hat Viktor Orbán vorexerziert,<br />

wie die Regierung eines EU-Mitgliedstaats<br />

die Brüsseler Kommission mit Versprechungen<br />

hinhalten kann, von denen<br />

dann später höchstens ein Bruchteil umgesetzt<br />

wird.<br />

Diese Methode scheint der rumänische<br />

Victor nun zu übernehmen. Ohnehin ist<br />

Ponta von seinem ungarischen Namensvetter<br />

„fasziniert“, wie er schon vor längerer<br />

Zeit bekannte. Manche Sprüche Orbáns<br />

scheint der „Copy-and-Paste“-Regierungschef<br />

direkt kopiert zu haben, zum Beispiel<br />

den, dass Rumänien „keine Kolonie“ sei.<br />

EU-Politiker und Mitglieder der Brüsseler<br />

Kommission haben Rumäniens politische<br />

Klasse zu mehr Einheit, Dialogfähigkeit<br />

und Kompromissbereitschaft<br />

aufgerufen. Müsste die Elite im Land angesichts<br />

der gravierenden wirtschaftlichen<br />

Folgen der politischen Krise nicht ein Interesse<br />

daran haben? Nein, überhaupt<br />

nicht, sagt der Bukarester Ökonom Ilie<br />

Şerbănescu, der 1997/98 kurzzeitig als<br />

Minister für Reformen arbeitete. „Früher<br />

dachten wir, wenn ausländische Investoren<br />

ins Land kommen und wir der EU beitreten,<br />

würde uns das zivilisieren und uns eine<br />

funktionierende Marktwirtschaft bescheren“,<br />

sagt Şerbănescu. „Aber das war eine<br />

Illusion. Rumänien ist noch immer keine<br />

richtige Marktwirtschaft. Die meisten Angehörigen<br />

der Elite leben vom Raub und<br />

Diebstahl staatlicher Ressourcen, und sie<br />

lassen sich dabei von niemandem stören.<br />

Die jetzige politische Krise kommt ihnen<br />

sogar sehr gelegen, denn unter solchen chaotischen<br />

Verhältnissen können sie ihre Geschäfte<br />

am besten machen.“<br />

Keno Verseck<br />

berichtet seit 1991 über mittelund<br />

südosteuropäische Länder.<br />

Er ist Autor der „Landeskunde<br />

Rumänien“ (C. H. Beck)<br />

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<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur, im Gespräch<br />

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9.2012 <strong>Cicero</strong> 73


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Wer die griechische Misere verstehen will, mache sich auf die Suche nach dem<br />

Katasteramt. Diese Odyssee sagt mehr über das Land als alle Troika-Berichte<br />

von Richard Fraunberger<br />

V<br />

angelis Samaras, 75, stämmig,<br />

Hände wie Schaufeln, sitzt unter<br />

dem Feigenbaum und schaut<br />

zu, wie Mais und Bohnen auf seiner Parzelle<br />

wachsen. Die Bewässerungsanlage<br />

zischt, alles sprießt auf dem Acker unweit<br />

seines Hauses in Krieza, einem 500-Seelen-Dorf<br />

auf der Insel Euböa. Acker hat<br />

Samaras viel. Land, auf dem er Gemüse<br />

anbaut, auf dem Olivenbäume und Wein<br />

wachsen, Land, das wie Saatkorn verstreut<br />

auf Hügeln, in Tälern, am Meer und auf<br />

einem Berg liegt, wo er, Vangelis Samaras,<br />

Ex-Bauunternehmer und heute Rentner,<br />

Gott zu Ehren eine Kapelle erbauen ließ.<br />

Es ist Land, das er geerbt und im Laufe der<br />

Zeit hinzugekauft hat. Insgesamt fünf Hektar,<br />

vielleicht auch mehr, so genau weiß das<br />

Vangelis Samaras nicht.<br />

Auch in Athen hat er Grund und Boden.<br />

Es ist ein Grundstück im Stadtviertel<br />

Egaleo, 400 Quadratmeter groß. „Ich<br />

fuhr nach Egaleo, um darauf ein Haus zu<br />

bauen und kam aus dem Staunen nicht heraus“,<br />

erzählt er. Auf seinem Grundstück,<br />

das jahrelang brachlag, hatte ein Nachbar<br />

einen Zaun gezogen, zehn Meter lang, zwei<br />

Meter breit, weil er Platz für seine Hühner<br />

brauchte. Nun beanspruchte der Nachbar<br />

den Streifen für sich. Streit brach aus. Die<br />

Polizei wurde gerufen. „Zum Glück ersannen<br />

die Beamten eine findige Lösung“, sagt<br />

Vangelis Samaras. Sie schlugen ihm heimlich<br />

vor, ihn und den Nachbarn anderntags<br />

zu verhaften, sodass die Bauarbeiter in<br />

Ruhe den Hühnerzaun niederreißen und<br />

das Fundament für das Haus legen können.<br />

Das war 1966. Geändert hat sich seither<br />

wenig.<br />

Foto: Bruno Perousse/Hoaqui/Laif<br />

76 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Hinter den idyllischen<br />

Fassaden griechischer<br />

Dörfer lauert das<br />

Dickicht aus Bau- und<br />

Immobilienrecht – so<br />

verworren wie die<br />

griechische Mythologie<br />

Ein Heer von Rechtsanwälten, Notaren<br />

und Richtern beschäftigt sich mit<br />

Streitigkeiten um Grund und Boden. Das<br />

Dickicht aus Besitztitel, Erwerb von Immobilien,<br />

Bau- und Immobilienrecht ist so<br />

verworren wie die griechische Mythologie.<br />

Hinzu kommt die enge Verflechtung von<br />

Politik, Wirtschaft und Kirche. Vor einigen<br />

Jahren besuchten zwei Mönche aus dem<br />

Kloster Vatopedi die Chefetage des Finanzministeriums.<br />

Sie wollten einen angeblich<br />

vor tausend Jahren von byzantinischen Kaisern<br />

vermachten, heute wertlosen See gegen<br />

teure staatliche Grundstücke in Athen<br />

tauschen (<strong>Cicero</strong> 12/2011). Trotz erheblicher<br />

Zweifel an der Urkunde klappte der<br />

Deal. Die Mönche gründeten einen Immobilienfonds.<br />

Aus dem Nichts sackten sie zig<br />

Millionen Euro ein, während der Staat das<br />

Nachsehen hatte.<br />

Nahezu jeder Grieche besitzt ein<br />

Grundstück, ein Haus, eine Wohnung. Ein<br />

Eigenheim ist so selbstverständlich wie die<br />

Taufe. Doch Griechenland ist der einzige<br />

Staat innerhalb der EU, in dem es nach<br />

wie vor kein flächendeckendes Kataster<br />

gibt, also eine Liegenschaftskarte sämtlicher<br />

Immobilien und Flurstücke eines Landes.<br />

Größe, Lage, Nutzung, Art, Eigentümer,<br />

alles ist bis ins letzte Detail erfasst und<br />

kartografiert. Es ist die Bemessungsgrundlage<br />

der Grundsteuer. Es ist die Voraussetzung<br />

einer urbanen und ruralen Entwicklung<br />

eines Staates. Es dient der Nutzung<br />

und dem Schutz von Wald, Seen, Flüssen.<br />

Es bewahrt vor Willkür und Korruption.<br />

Ohne ein Kataster investieren keine Unternehmen.<br />

Ohne ein Kataster fließen keine<br />

Agrarsubventionen. Es ist die Bedingung<br />

für eine funktionierende Marktwirtschaft.<br />

Gut 20 Prozent des Bruttosozialprodukts<br />

hängen unmittelbar mit Grund und Boden<br />

zusammen.<br />

Seit 1830, seit der Anerkennung seiner<br />

Souveränität, hat Griechenland keinen<br />

Überblick darüber, was sein ist. Größe<br />

und Wert seines Staatseigentums verlieren<br />

sich im Ungefähren. Es kennt nicht seinen<br />

Grund und Boden, nicht seine Küste,<br />

Berge, Seen, nicht seine Gebäude und auch<br />

nicht seinen Wald, obgleich die Verfassung<br />

ein Waldkataster vorschreibt. Es weiß nicht,<br />

wo sein Eigentum beginnt und wo es endet.<br />

Immer wieder wurde versucht, das Land<br />

zu kartografieren. Man vermaß Ländereien,<br />

Weinfelder, ein paar Waldgebiete. Aber immer<br />

wieder stockte die Arbeit und blieb liegen.<br />

Einzig auf den Dodekanes gibt es ein<br />

Kataster. Die Inseln waren in italienischer<br />

Hand. Die Geschichte des griechischen Katasterwesens<br />

ist die Geschichte eines Staates,<br />

der geformt wurde von Abertausenden<br />

Einzelinteressen, die sich wie Bäche zu einem<br />

Mahlstrom vereinten und alles mit<br />

sich rissen, was auf dem Weg lag.<br />

Geschätzte 180 000 Hektar Land sind<br />

illegal in Besitz. 300 000 Gebäude sind<br />

ohne Eigentümer. Wälder verschwinden.<br />

Es wird gebaut, was das Zeug hält. Auf<br />

Bergen, in Wäldern und am Strand schießen<br />

Ferienhäuser aus dem Boden; die Kykladen<br />

ertrinken im Zement. Und das trotz<br />

oder gerade wegen der 4000 Gesetze und<br />

ministerialen Beschlüsse, die den Immobilienbesitz<br />

regeln. Auf eine Million wird die<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 77


| W e l t b ü h n e | g r i e c h e n l a n d<br />

Zahl der Schwarzbauten geschätzt. Bauten,<br />

die an das staatliche Strom- und Wassernetz<br />

angeschlossen sind. Bauten, die es<br />

nicht gäbe, existierte ein Kataster. Doch<br />

für alles finden sich Lösungen. Alle Jahre<br />

wieder erlässt der Staat eine <strong>Am</strong>nestie und<br />

füllt so seine Kassen auf. Der Bürger legalisiert<br />

seinen Schwarzbau. Und wer noch<br />

nicht gebaut hat, der kann es auch weiterhin<br />

schwarz tun, denn die nächste <strong>Am</strong>nestie<br />

kommt gewiss. Besonders gewieft ist<br />

die Antragstellung auf Legalisierung von<br />

Schwarzbauten, die noch gar nicht gebaut<br />

worden sind.<br />

Seit Jahren fordert die EU den Verkauf<br />

von Staatsimmobilien und die Privatisierung<br />

staatlicher Firmenbeteiligungen. Im<br />

Zuge der Finanzkrise willigte die Regierung<br />

unter Jorgos Papandreou ein und kündigte<br />

einen Erlös von 50 Milliarden Euro an.<br />

Doch wie sollen Häfen, Grundstücke, Gebäude<br />

und Betriebe verkauft werden, wenn<br />

Eigentumsrechte unklar sind? Wie kommt<br />

es, dass ein Staat, der seit 182 Jahren unabhängig<br />

und seit 31 Jahren Mitglied der EU<br />

ist, sein Vermögen verwaltet wie eine Studenten-WG?<br />

Alles, was bis heute existiert,<br />

sind 400 Grundbuchämter, die so aufgebaut<br />

sind wie vor 180 Jahren.<br />

Konstantinos Bibikas, 72, ein freundlicher<br />

Herr mit sanfter Stimme, ist Leiter<br />

eines solchen Grundbuchamts. Es liegt<br />

zwischen Autowerkstätten im zweiten<br />

Obergeschoss eines Neubaus in der Kleinstadt<br />

Aliveri auf Euböa. Es ist ein kleiner<br />

Raum mit Wandregalen, vollgestopft<br />

mit Ordnern und schweren Büchern, die<br />

so groß sind wie Atlanten. Ein Ventilator<br />

durchschneidet die heiße Luft. Zwei<br />

Rechtsanwälte sitzen über Büchern und<br />

machen Notizen. „Die ersten Grundbücher<br />

wurden 1836 unter Otto I eingeführt“,<br />

erklärt Konstantinos Bibikas. Sie dienten<br />

der Vergabe von Hypotheken an Privatpersonen<br />

und Körperschaften. Vom Grundbuch<br />

explizit ausgeklammert waren staatliche<br />

Immobilien. Die Wirtschaft musste<br />

angekurbelt, Geld in Umlauf gebracht werden.<br />

Kapital war knapp. Kaum gegründet,<br />

war der neue Staat bereits hoch verschuldet.<br />

König Otto I hatte als Antrittsgeschenk<br />

von den Großmächten zwar eine Garantie<br />

für eine Anleihe über 60 Millionen Francs<br />

mitgebracht. Doch das Geld zerrann dem<br />

Staat in Windeseile. Nicht einmal die Zinsen<br />

konnte Griechenland aufbringen. Wurden<br />

Truppen zum Eintreiben von Steuern<br />

losgeschickt, griffen die Untertanen zu den<br />

Waffen.<br />

Der neue, nach französischem Vorbild<br />

zentralisierte Staatsapparat und die<br />

importierten Ideen der Aufklärung waren<br />

nicht kompatibel mit dem jahrhundertealten<br />

Verständnis von Machtausübung<br />

und patriarchalem Klientelwesen der Bürger.<br />

Griechenland ist Heimat, Stolz, Identifikation.<br />

Der neue Staat dagegen ist ein<br />

aufoktroyiertes Konstrukt der Großmächte,<br />

des Westens, dem man schon seit Byzanz<br />

misstraut. So wurde aus dem neuen Griechenland<br />

fremdes Territorium, das man<br />

„Kaum ein Eintrag im Grundbuch<br />

entspricht der Wirklichkeit“<br />

Konstantinos Bibikas, Leiter des Grundbuchamts in Aliveri<br />

als Eroberer in der Gestalt eines Sekretärs,<br />

Bürgermeisters, Ministers betritt, es plündert<br />

und die Beute in den sicheren Hafen<br />

der Familie bringt. Ein Modus vivendi, der<br />

noch heute gilt.<br />

Die Zentralregierung in Athen schaffte<br />

es nicht, die Macht der lokalen Clans zu<br />

brechen. Graf Kapodistrias, der erste Ministerpräsident,<br />

wurde 1831 von Großgrundbesitzern<br />

erschossen. Ein neuer, von<br />

Fremdherrschaft befreiter Staat einigt kein<br />

Volk, und eine politische Neuordnung ändert<br />

nicht den Menschen. Mit dem Abzug<br />

der Türken entstanden unklare Besitzverhältnisse.<br />

Riesige Ländereien wurden umverteilt,<br />

die im Grunde jeder für sich beanspruchen<br />

konnte: arbeitslos gewordene<br />

Revolutionäre, die Kirche, Clans, Politiker.<br />

Und immer wieder verschoben sich<br />

die Staatsgrenzen. Griechenland wuchs<br />

bis 1947. Erst dann lag das Staatsgebiet<br />

endgültig fest. An einer genauen Klärung<br />

der Eigentumsrechte der riesigen Nationalgüter<br />

war unter den politischen und<br />

wirtschaftlichen Wirren kaum zu denken.<br />

Der Aufbau eines Katasters wurde auf den<br />

Sankt-Nimmerleins-Tag verlegt. Indem<br />

der Staat drängende Rechtsfragen unter<br />

den Teppich kehrte, hielt er seine Wähler<br />

bei Laune, und die besitzenden Schichten<br />

blieben gefügig.<br />

„Und heute zahlen wir die Zeche“, sagt<br />

Konstantinos Bibikas. „Nichts ist so, wie<br />

es sein sollte. Kaum ein Eintrag im Grundbuch<br />

entspricht der Wirklichkeit.“ Oder<br />

er ist schwammig formuliert und damit<br />

unbrauchbar. Das Grundbuchamt Aliveris<br />

ist ein Archiv aus Verträgen und Büchern,<br />

die Personennamen, Erfassungsdatum,<br />

Art und Ort der Immobilie, Art der<br />

Transaktion und Angaben zu Hypotheken<br />

und Pfändungen enthalten. Digitalisierte<br />

Grundbücher gibt es nicht. Die ältesten<br />

Bücher stammen von 1856. Sie enthalten<br />

handschriftliche Kopien der Kaufverträge,<br />

niedergeschrieben von Gymnasiasten für<br />

eine Mahlzeit. Manche Einträge sind zum<br />

Schmunzeln: „Das erworbene Grundstück<br />

liegt zwischen dem von Dimitris Raptis<br />

und Janis Makridis“, „Das Grundstück erstreckt<br />

sich vom Olivenbaum an der Kirche<br />

bis zum Hügel“. Alle Grundbücher sind<br />

personenbezogen. Eine Suche nach Grundstücken<br />

oder dem Eigentümer bestimmter<br />

Grundstücke ist somit unmöglich.<br />

Im Grunde genommen ist das griechische<br />

Grundbuchamt ein öffentliches<br />

schwarzes Brett, an das Rechte auf Eigentum<br />

gepinnt werden, deren Rechtmäßigkeit<br />

ungeprüft ist. Denn Eigentumsverhältnisse<br />

können aus dem Nichts geschaffen<br />

werden. Alles, wessen es bedarf, sind ein<br />

Notar und ein Eintrag ins Grundbuch.<br />

Land, das früher mittels „dia logou“, das<br />

heißt ausschließlich mündlich vererbt oder<br />

verkauft wurde, eine noch kürzlich praktizierte<br />

Gepflogenheit, verwandelt sich so<br />

rechtskräftig in Eigentum. Ebenso Land,<br />

das 20 Jahre lang bewirtschaftet wurde und<br />

auf dem, wie zum Beweis, Olivenbäume<br />

oder Bohnenstangen stehen. Ebenso ungeprüft<br />

sind topografische Karten. Sie beschreiben<br />

Immobilien und sind Bestandteil<br />

eines Kaufvertrags und Voraussetzung<br />

einer Baugenehmigung. „In manchen Fällen<br />

wurden Ställe im Nachbargrundstück<br />

einfach mit vermessen“, sagt Konstantinos<br />

Bibikas. Plötzlich hat der Stall zwei Eigentümer.<br />

Warum? Weil der Verkäufer vermessen<br />

lässt, was er verkaufen will. Doch<br />

auch klare Eigentumsrechte schützen nicht<br />

vor Überraschungen. Wer ein Grundstück<br />

kauft, erwirbt damit noch lange nicht die<br />

darauf befindlichen Olivenbäume.<br />

78 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Aber nicht nur Bürger werden kreativ,<br />

wenn es um ihre Interessen geht. Die<br />

Stadtgemeinde Aliveri wollte das Rathaus<br />

um ein Stockwerk erweitern, aber die dazu<br />

nötige Grundstücksfläche reichte nicht aus.<br />

Also wies man den Landvermesser an, die<br />

Verkehrsstraße als Baufläche in die topografische<br />

Karte einzuzeichnen. Prompt<br />

erfolgte die Baugenehmigung. So trickst<br />

sich der Staat selber aus. Wenn sich aber<br />

der Staat nicht an seine Gesetze hält, warum<br />

sollten es dann die Bürger tun? Es gibt<br />

ein Geflecht von sehr strengen Gesetzen<br />

in Griechenland. Und es gibt die jahrhundertealte<br />

Gewohnheit, Gesetze zu dehnen,<br />

mit ihnen zu spielen, sie nicht anzuwenden,<br />

sie zu ignorieren oder, besser noch, Gesetze<br />

eigens auf die Interessen einer bestimmten<br />

Gruppe oder Person zuzuschneiden. Und<br />

das Interesse ist groß. Denn jede Familie<br />

ist ein Interessenverband, und jeder Wähler<br />

ist seine eigene Lobby.<br />

Konstantinos Bibikas hält nichts von<br />

Schummeleien. Er mag Kontrolle, er<br />

braucht sie. Damit er über Akti Nireos,<br />

das 200 Hektar große Neubaugebiet Aliveris,<br />

nicht den Überblick verliert, hat er<br />

von Hand ein Büchlein angelegt. Es ist<br />

sein Kataster. Es erlaubt ihm, Immobilien<br />

und Eigentümer genau zu lokalisieren. Das<br />

Neubaugebiet mit Meeresblick umfasst bis<br />

jetzt gut 500 Häuser. Fast alle davon wurden<br />

nach der Einführung des Euro erbaut.<br />

Der riesige Hang, ursprünglich bewaldet,<br />

wurde 1967 von zwei Baukooperativen gekauft.<br />

Fast jede Berufsgruppe in Griechenland<br />

verfügt über eine solche Kooperative.<br />

Lehrer, Bankangestellte, Mitarbeiter der<br />

halbstaatlichen Stromgesellschaft. Sie erwerben<br />

riesige Flächen Bauland, parzellieren<br />

und verkaufen es günstig an ihre Mitglieder,<br />

und zwar unabhängig vom Beruf.<br />

Die Kooperativen reichen zurück bis in die<br />

zwanziger Jahre, als 1,5 Millionen Griechen<br />

im Zuge eines Bevölkerungsaustauschs aus<br />

Kleinasien in ihr Heimatland strömten und<br />

die Landflucht zugleich immer mehr verarmte<br />

Menschen in die Städte trieb. Wohnraum<br />

war nicht vorhanden, und der Staat<br />

war zu arm, um welchen zu bauen. Ein Finanzierungsmodell<br />

musste her. Die Baukooperativen<br />

entstanden. Ganze Stadtviertel<br />

in Athen erwuchsen auf diese Weise.<br />

In den Sechzigern explodierte die Anzahl<br />

der Kooperativen. Sie verkamen zum<br />

Rammbock privater Interessen. Einflussreiche<br />

Berufsgruppen, Rechtsanwälte, Notare,<br />

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mit seiner Stilrichtung ›Pure Nature‹ und unser aufmerksamster<br />

Service, dies alles eingebettet in einer einzigartigen<br />

Parklandschaft. Mit <strong>Cicero</strong> bieten wir unseren Gästen ein<br />

Magazin, das sowohl unseren eigenen Ansprüchen als auch<br />

den Ansprüchen unserer Gäste entspricht.«<br />

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Aachen: Pullman Aachen Quellenhof · Bad Doberan – Heiligendamm: Grand Hotel Heiligendamm · Bad Pyrmont:<br />

Steigenberger Hotel · Baden-Baden: Brenners Park-Hotel & Spa · Bad Schandau: Elbresidenz Bad Schandau Viva<br />

Vital & Medical SPA · Baiersbronn: Hotel Traube Tonbach · Bergisch Gladbach: Grandhotel Schloss Bensberg,<br />

Schlosshotel Lerbach · Berlin: Hotel Concorde, Brandenburger Hof, Grand Hotel Esplanade, InterContinental Berlin,<br />

Kempinski Hotel Bristol, Hotel Maritim, The Mandala Hotel, Savoy Berlin, The Regent Berlin, The Ritz-Carlton<br />

Hotel Binz/Rügen: Cerês Hotel · Dresden: Hotel Taschenbergpalais Kempinski · Celle: Fürstenhof Celle · Düsseldorf:<br />

InterContinental Düsseldorf, Hotel Nikko · Eisenach: Hotel auf der Wartburg · Essen: Schlosshotel Hugenpoet<br />

Ettlingen: Hotel-Restaurant Erbprinz · Frankfurt a. M.: Steigenberger Frankfurter Hof, Kempinski Hotel Gravenbruch<br />

Hamburg: Crowne Plaza Hamburg, Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten, Hotel Atlantic Kempinski, InterContinental<br />

Hamburg, Madison Hotel Hamburg, Panorama Harburg, Renaissance Hamburg Hotel, Strandhotel Blankenese<br />

Hannover: Crowne Plaza Hannover · Hinterzarten: Parkhotel Adler · Jena: Steigenberger Esplanade · Keitum/Sylt:<br />

Hotel Benen-Diken-Hof · Köln: Excelsior Hotel Ernst · Königstein im Taunus: Falkenstein Grand Kempinski, Villa<br />

Rothschild Kempinski · Königswinter: Steigenberger Grand Hotel Petersberg · Konstanz: Steigenberger Inselhotel<br />

Magdeburg: Herrenkrug Parkhotel, Hotel Ratswaage · Mainz: Atrium Hotel Mainz, Hyatt Regency Mainz<br />

München: King’s Hotel First Class, Le Méridien, Hotel München Palace · Neuhardenberg: Hotel Schloss Neuhardenberg<br />

· Nürnberg: Le Méridien · Potsdam: Hotel am Jägertor · Rottach-Egern: Park-Hotel Egerner Höfe, Hotel<br />

Bachmair am See, Seehotel Überfahrt · Stuttgart: Hotel am Schlossgarten, Le Méridien · Wiesbaden: Nassauer Hof<br />

ITALIEN Tirol bei Meran: Hotel Castel · ÖSTERREICH Lienz: Grandhotel Lienz · Wien: Das Triest · PORTUGAL<br />

Albufeira: Vila Joya · SCHWEIZ Interlaken: Victoria Jungfrau Grand Hotel & Spa · Lugano: Splendide Royale<br />

Luzern: Palace Luzern · St. Moritz: Kulm Hotel, Suvretta House · Weggis: Park Hotel Weggis, Post Hotel Weggis<br />

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Bitte sprechen Sie uns an:<br />

E-Mail: hotelservice@cicero.de


| W e l t b ü h n e | g r i e c h e n l a n d<br />

Richter, das Militär schufen anstatt fehlenden<br />

Wohnraums Ferienhäuser und Villen<br />

mit Meeresblick. Manche Baukooperativen<br />

verkauften mehr Land, als sie erwarben.<br />

Andere erstanden Ländereien mit<br />

fragwürdigem Besitztitel. Die Bauwirtschaft<br />

boomte. Im Gegenzug verschwanden<br />

Wälder, circa eine Million Hektar. So<br />

auch in Aliveri. Aber das will heute keiner<br />

mehr so genau wissen. Und so genau lässt<br />

sich das auch nicht ermitteln ohne Kataster.<br />

Es gibt zwar Luftaufnahmen aus dem<br />

Jahr 1945. Aber was damals Wald war, ist<br />

heute Bauland – und umgekehrt.<br />

Was einen Wald definiert, ist gesetzlich<br />

festgeschrieben. Forstämter können Wald<br />

zu Ackerland machen und Ackerland zu<br />

Wald. Auch wo er beginnt und aufhört,<br />

was also noch Bauland ist und was nicht,<br />

liegt im Ermessen der Forstämter. Da liegt<br />

es auf der Hand, dass mithilfe eines Briefumschlags<br />

oder eines politischen Machtworts<br />

sich intakte oder verbrannte Wälder<br />

in Bauland verwandeln. Das Fehlen<br />

eines Katasters öffnet alle Schleusen. Zuerst<br />

rinnen Bäche, kleine Geldsummen an<br />

Mitarbeiter von Forstämtern und des Archäologischen<br />

Instituts, an Beamte, Makler,<br />

Notare, Rechtsanwälte, Landvermesser.<br />

Später sind es Ströme, große Geldsummen<br />

an Bauunternehmen, Politiker, Architektenbüros,<br />

Spekulanten. Für nahezu alles<br />

finden sich in Griechenland Lobbys. Nur<br />

das Gemeinwohl hat keine.<br />

„Niemand hatte ein Interesse an einem<br />

Kataster. Es fehlte der politische Wille“,<br />

sagt Apostolos Arvanitis. Er sitzt in seinem<br />

Büro im Athener Stadtviertel Agia<br />

Paraskevi und blickt zum Fenster hinaus.<br />

Was er sieht, ist ein betongewordener Moloch<br />

mit vier Millionen Einwohnern, eine<br />

Stadt, die so schnell wuchs, dass jede Planung,<br />

kaum fertig, bereits überholt war.<br />

„Es gibt große Unternehmen, deren Rechte<br />

an Grund und Boden nie ganz geklärt wurden“,<br />

sagt Arvanitis. Er sagt es vorsichtig,<br />

er wägt jedes Wort ab. Apostolos Arvanitis<br />

ist seit 2009 Direktor der Ktimatologia<br />

AG. Der 54-Jährige steht unter enormem<br />

Druck. Er und seine 365 Mitarbeiter erstellen<br />

das nationale Kataster. „Wir organisieren<br />

ein Land, das unorganisiert ist“, sagt<br />

er. Eine Herkulesaufgabe, ein Jahrhundertprojekt,<br />

gemessen an dem Dschungel aus<br />

illegalen, legalen und halblegalen Eigentumsverhältnissen<br />

und dem Desinteresse,<br />

Ordnung und Transparenz in den Dschungel<br />

zu bringen.<br />

Gegründet wurde die Ktimatologia<br />

AG 1995, als die Regierung den Aufbau<br />

eines Katasters beschloss. Sie gehört dem<br />

Ministerium für Umwelt, Raumplanung<br />

und öffentliche Arbeiten. 152 Millionen<br />

Euro wurden damals in Brüssel für das Pilotprojekt<br />

genehmigt. Einige Jahre später<br />

war fast alles Geld verbraucht und kaum etwas<br />

erledigt. In den Büros saß eine Mannschaft<br />

von Akademikern ohne jede Erfahrung.<br />

Man glaubte, das Kataster mit Excel,<br />

einem Tabellenkalkulationsprogramm, erstellen<br />

zu können. Ein Desaster. Der Staat<br />

„Niemand hatte ein Interesse<br />

an einem Kataster“<br />

Apostolos Arvanitis, Direktor der Ktimatologia AG<br />

musste Teile der Hilfsgelder zurückerstatten.<br />

„So ist halt Griechenland“, erklärte der<br />

damals zuständige Minister Kostas Laliotis<br />

bei einer Pressekonferenz.<br />

Nun ist das Projekt erneut erwacht.<br />

1,5 Milliarden Euro soll es kosten.<br />

15 000 Kilometer Küste, 3000 Inseln und<br />

132 000 Quadratkilometer Land wurden<br />

fotografiert. Ein Drittel der Landesfläche<br />

ist in Bearbeitung. Die Umsetzung hinkt<br />

dem Zeitplan hinterher. Schuld ist unter<br />

anderem die kafkaeske Lage. Im Zuge der<br />

Katastererstellung wurden auf Attika Immobilien<br />

deklariert, deren Gesamtfläche<br />

die Attikas um das Doppelte übersteigt.<br />

Wie ist das möglich? Viele Grundstücke<br />

im Ausland lebender Griechen wurden<br />

gleich von mehreren Nachbarn beansprucht,<br />

in der Hoffnung, eigenen Grund<br />

und Boden zu mehren. Ein weiterer Grund<br />

sind die offiziellen Grundstücksflächen,<br />

die meistens größer sind als die tatsächlichen.<br />

So konnten Häuser gebaut werden,<br />

für die sonst nie eine Baugenehmigung erteilt<br />

worden wäre. Ebenso spielen Agrarsubventionen<br />

eine Rolle. Je größer die gemeldeten<br />

Olivenhaine, desto mehr Gelder<br />

fließen. Abenteuerlich auch die Erstellung<br />

der Waldkarten. Manche Forstämter weigern<br />

sich, dem Katasteramt bereits bestehende<br />

Karten auszuhändigen, weil sie um<br />

den Verlust ihrer Befugnisse fürchten –<br />

und damit um ihren lukrativen Nebenverdienst.<br />

Andere können die Karten erst<br />

gar nicht anfertigen, weil sie dazu den örtlichen<br />

Bebauungsplan benötigen, den die<br />

Baubehörde versäumt hat zu erstellen.<br />

Die Hälfte der vor Bebauung geretteten<br />

Waldbestände ist erfasst. Sobald eine<br />

Waldkarte erstellt ist, muss sie zuerst im<br />

Ministerium abgestempelt werden. „Und<br />

das dauert“, klagt Dimitris Rokos, 44, Planungsleiter<br />

der Ktimatologia AG. „Leider<br />

ist unser Unternehmen so flexibel wie<br />

eine staatliche Behörde.“ Entscheidungen<br />

und Verantwortlichkeiten sind über<br />

mehrere Ministerien verteilt. Im Grunde<br />

kein Problem. Doch Ministerien konkurrieren<br />

und sind untereinander weder<br />

koordiniert noch vernetzt. Oft ist nicht<br />

klar, wer was in welchem Ministerium<br />

tut. Oft fehlt den Mitarbeitern die Kompetenz.<br />

Kürzlich noch wussten die Behörden<br />

nicht einmal, an wie viele Beamte und<br />

Rentner sie Gelder überweisen und ob sie<br />

überhaupt noch leben. Nur ein Big Bang<br />

könne helfen, den griechischen Staatsapparat<br />

zu reformieren, erklärte die OECD.<br />

„Die Troika würde unsere Probleme besser<br />

verstehen als unsere Behörden“, sagt Dimitris<br />

Rokos seufzend.<br />

2020 soll das Kataster fertiggestellt<br />

sein. Bis dahin wird um Grund und Boden<br />

geschachert, Grenzlinien werden hinund<br />

hergeschoben, und die Gerichte werden<br />

eine Fülle von Ungereimtheiten klären<br />

müssen. Der Aufbau des Katasters ist die<br />

letzte Möglichkeit, staatliches Territorium<br />

zu besetzen. „Das Kataster wird die Mentalität<br />

der Menschen verändern“, hofft Dimitris<br />

Rokos. „Transparente Eigentumsverhältnisse.<br />

Vereinfachte Baugenehmigungen.<br />

Gerechtigkeit. Alle werden profitieren.“<br />

Das Wohl der Gemeinschaft stünde über<br />

dem Wohl einzelner Gruppen. Bleibt zu<br />

hoffen, dass es die Menschen in Griechenland<br />

auch so sehen.<br />

Richard Fraunberger<br />

lebt seit 2001 in Griechenland<br />

und hat selbst einschlägige<br />

Erfahrungen mit Forstamt und<br />

Baubehörde gemacht<br />

Foto: privat<br />

80 <strong>Cicero</strong> 9.2012


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| K a p i t a l<br />

kläger mit Leseschwäche<br />

Der US-Milliardär und Finanzdienstleister Charles Schwab treibt im Libor-Skandal die Großbanken vor sich her<br />

von Moritz Küpper<br />

C<br />

harles Schwab Redet gern. Der<br />

weißhaarige Mann, Spitzname<br />

Chuck, sitzt auf seinem Sofa, trägt<br />

eine Brille mit schwarzem Rand, Hemd<br />

und Krawatte und redet: über Inflation, den<br />

Dollar oder die enorme US-Staatsverschuldung.<br />

„Conversations with Chuck“ heißt<br />

das Videoformat auf der Website des Finanzdienstleisters<br />

„Charles Schwab“.<br />

Die Unterhaltungen mit Chuck haben<br />

nur einen Haken. Es sind eher Monologe.<br />

Dabei würde man ihn so gern zu<br />

dem Thema befragen, das seit einiger Zeit<br />

die Bankenwelt in Atem hält und Rechtsanwälte<br />

und Aufsichtsbehörden weltweit<br />

elektrisiert: der sogenannte Libor-Skandal.<br />

Und wer, wenn nicht der heute 75‐jährige<br />

Namensgeber und Aufsichtsratsvorsitzende<br />

der Firma könnte dazu besser<br />

Stellung nehmen? War es doch sein Unternehmen,<br />

das als eines der ersten im Juni<br />

Klage auf Schadenersatz eingereicht und<br />

damit dem Establishment der Finanzwelt<br />

den Kampf angesagt hat.<br />

Das Kürzel Libor steht für „London<br />

Inter Bank Offered Rate“. Es ist der täglich<br />

ermittelte Durchschnittszins, zu dem<br />

sich die Banken untereinander Geld leihen<br />

würden. Die 18 nach Marktaktivität<br />

wichtigsten Banken geben an jedem Börsentag<br />

um 11 Uhr eine Schätzung ab, zu<br />

welchem Zinssatz sie sich ohne Sicherheiten<br />

Geld bei einer anderen Bank leihen<br />

könnten. Für die eigentliche Berechnung<br />

werden nur die mittleren 50 Prozent der<br />

Angaben berücksichtigt. Obwohl es sich<br />

lediglich um eine hypothetische Selbstauskunft<br />

der Banken handelt, wird der<br />

Libor nicht umsonst als „die wichtigste<br />

Zahl der Welt“ bezeichnet, weil auf diesem<br />

Zinssatz Finanzprodukte im Wert von<br />

800 Billionen Dollar basieren. Das ist das<br />

Zehnfache des weltweit erwirtschafteten<br />

Bruttosozialprodukts.<br />

Bereits Ende 2007 gab es bei der New<br />

Yorker Notenbank erste Erkenntnisse über<br />

zu niedrige, manipulierte Libor‐Zinsen.<br />

Über die britischen und amerikanischen<br />

Finanzaufsichtsbehörden kam der Skandal<br />

ins Rollen, in dem bislang allerdings<br />

nur die britische Barclays-Bank Manipulationen<br />

eingeräumt hat. Die Folgen: eine<br />

Strafzahlung in Höhe von 450 Millionen<br />

Dollar sowie die Rücktritte des Vorstandsvorsitzenden<br />

Bob Diamond und des Verwaltungsratschefs<br />

Marcus Agius.<br />

Ein Ende des Skandals ist aber noch<br />

gar nicht abzusehen. Die am Libor-Fixing<br />

beteiligten Großbanken fürchten sich vor<br />

allem vor langwierigen Zivilprozessen, wie<br />

sie Charles Schwab und einige andere bereits<br />

angestrengt haben. Schwabs Klagebegründung:<br />

Die Manipulationen des Libor-<br />

Zinssatzes hätten seine Rendite und die<br />

seiner Kunden geschmälert. Im Gegenzug<br />

hätten die beteiligten Banken „Milliarden<br />

unberechtigter Gewinne“ eingefahren. Zu<br />

den von Charles Schwab verklagten Geldhäusern<br />

gehören auch die Deutsche Bank<br />

und die sich in Auflösung befindende<br />

WestLB, wodurch eventuell Schadenersatz<br />

und Bußgelder vom deutschen Steuerzahler<br />

übernommen werden müssten.<br />

Der fünffache Familienvater Schwab<br />

schmückt sich gerne mit dem Image des<br />

Saubermanns und Demokratisierers der<br />

Branche. Schwab, der 2003 kurz als möglicher<br />

Finanzminister der Bush-Regierung<br />

im Gespräch war, ist in den USA durchaus<br />

angesehen, weil er exemplarisch den<br />

amerikanischen Traum verkörpert: Der<br />

aus einfachen Verhältnissen stammende<br />

Kalifornier steht in der aktuellen Forbes-<br />

Liste der reichsten <strong>Am</strong>erikaner auf Platz<br />

101 mit einem geschätzten Vermögen von<br />

rund 3,5 Milliarden Dollar. Gepaart mit<br />

dem Label: „Self-made.“ Ein Ritterschlag.<br />

Das Unternehmen „Charles Schwab“ betreut<br />

heute rund acht Millionen Konten<br />

und eine Summe von circa 1,65 Billionen<br />

Dollar. Besonderen Respekt erhält<br />

Schwab dafür, dass er es in seiner Karriere<br />

inklusive MBA‐Abschluss an der amerikanischen<br />

Elite‐Universität Stanford<br />

trotz ausgeprägter Lern- und Leseschwäche<br />

so weit gebracht hat. Das Lesen bereitet<br />

ihm bis heute Probleme. Eine von<br />

ihm und seiner Frau Helen gegründete<br />

Stiftung kümmert sich daher um Kinder<br />

mit Lernschwächen.<br />

Ist der mehrfache Milliardär also eine<br />

Art Robin Hood? „Um Himmels willen,<br />

nein“, sagt Karen Petrou, geschäftsführende<br />

Partnerin bei Federal Financial<br />

Analytics, „Charles Schwab ist nun wirklich<br />

kein kleines Unternehmen. Sie haben<br />

nur das gemacht, was sie tun mussten:<br />

die Rechte ihrer Anleger schützen.“ Dafür<br />

bekomme das Unternehmen schließlich<br />

seine Maklergebühren. Ohnehin hat<br />

das Saubermann-Image der Bank und ihres<br />

Gründers im vergangenen Jahr empfindliche<br />

Kratzer erhalten, als das Unternehmen<br />

von der US‐Finanzaufsicht SEC<br />

zu einer Geldstrafe von 119 Millionen<br />

Dollar verurteilt wurde, weil es einen seiner<br />

Fonds als sichere Anlage angepriesen<br />

hatte, der voller hochriskanter Wertpapiere<br />

steckte.<br />

Auch der restliche Lebensstil Schwabs<br />

bietet nur bedingt Robin-Hood-Potenzial:<br />

Seit Jahrzehnten zählt der leidenschaftliche<br />

Golfer zu den großzügigen Wahlkampfspendern<br />

der Republikaner und fordert die Privatisierung<br />

der Sozialversicherungskonten<br />

und weitere Steuersenkungen, weswegen er<br />

im laufenden Präsidentschaftswahlkampf<br />

voll auf Herausforderer Mitt Romney setzt.<br />

Das Wahlergebnis erfährt Schwab Anfang<br />

November. Wie lange der Feldzug gegen die<br />

Banken dauern wird, ist dagegen nicht abzusehen:<br />

„Das wird kompliziert und kann<br />

Jahre dauern“, schätzt Petrou. Beides auf<br />

jeden Fall spannende Themen für weitere<br />

„Conversations with Chuck“.<br />

Moritz Küpper<br />

ist Redakteur beim Deutschlandfunk<br />

und als Arthur-F.-Burns-<br />

Stipendiat zurzeit in den USA<br />

Fotos: Eric Millette, Deutschland radio (Autor)<br />

82 <strong>Cicero</strong> 9.2012


„Die Libor-<br />

Manipulationen<br />

haben die<br />

Renditen der<br />

Bank und<br />

unserer Kunden<br />

geschmälert“<br />

Auszug aus der Klage von<br />

Charles Schwab, dem Gründer<br />

der gleichnamigen Bank<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 83


| K a p i t a l<br />

Der Weichmacher<br />

Heinz Hankammer hat den Brita-Wasserfilter erfunden, Sohn Markus macht die Firma fit für die Zukunft<br />

von Lenz Jacobsen<br />

A<br />

m Senior kommt keiner vorbei.<br />

Direkt im Haupteingang der Firmenzentrale<br />

im hessischen Taunusstein<br />

hängt er an der Wand, in Öl<br />

gemalt, zufrieden lächelnd: Heinz Hankammer,<br />

Unternehmensgründer und Erfinder<br />

des Wasserfilters Brita. Damit erst<br />

gar kein Zweifel aufkommen kann, wessen<br />

Werk all das hier ist: seins, natürlich.<br />

Zwei Stockwerke weiter oben sitzt sein<br />

Sohn, Markus Hankammer, in der warmen<br />

Spätnachmittagssonne, und doch ein wenig<br />

im Schatten seines Vaters. Seit 1999 schon<br />

ist er der Chef bei Brita und damit verantwortlich<br />

für 320 Millionen Euro Umsatz<br />

und mehr als 1000 Mitarbeiter. In 60 Ländern<br />

verkauft er das Produkt, das sein Vater<br />

einst entwickelt und sich so seinen eigenen<br />

Markt geschaffen hat. Der Brita-Wasserfilter<br />

ist eine Mischung aus Aktivkohle und<br />

Entionisierer, die das Wasser weicher machen<br />

soll. 250 Millionen Menschen trinken<br />

weltweit das Brita-Wasser, so die Firma.<br />

Die Haushaltsfilter, bei denen die Filterkartusche<br />

in eine Kanne eingesetzt ist, haben<br />

die Firma berühmt gemacht. So wie Taschentücher<br />

Tempo heißen und Klebeband<br />

Tesa, so heißen Wasserfilter eben Brita – ein<br />

Traum für jede Marketingabteilung.<br />

Markus Hankammer hat also, könnte<br />

man denken, einen ziemlich bequemen Job.<br />

Doch es ist nicht einfach, der Nachfolger<br />

des großen Pioniers und Gründers zu sein –<br />

besonders als Sohn. Er muss absichern, was<br />

der Vater aufgebaut hat, ohne sich auf den<br />

alten Erfolgsrezepten auszuruhen.<br />

Deshalb war er sich lange Zeit überhaupt<br />

nicht sicher, ob er das Lebenswerk<br />

seines Vaters weiterführen wollte. „Noch<br />

während des Studiums hatte ich eigentlich<br />

andere Pläne.“ Trotzdem hat er sich<br />

immer sehr beeilt mit allem. Mit 18 Jahren<br />

Abitur, mit 22 Diplom. „Früher wollte<br />

ich nicht unbedingt der Beste sein, sondern<br />

der Schnellste. Vielleicht war mir unbewusst<br />

doch klar: Wenn ich das Geschäft<br />

übernehmen will, muss ich mich beeilen.“<br />

Als Markus von der Uni kam, war sein Vater<br />

bereits 59 Jahre alt. Auch wenn er das<br />

so nicht sagt, der Druck auf ihn, den designierten<br />

Nachfolger, war groß.<br />

Denn Brita ist so sehr Familienunternehmen,<br />

dass es schon beinahe Karikatur<br />

ist. Da ist zum Beispiel jenes Schwarz-<br />

Weiß-Foto aus dem Sommer<br />

1967, das bei Brita bis heute<br />

in Ehren gehalten wird:<br />

Die ganze Familie ist zu sehen,<br />

wie sie an einem langen<br />

Holztisch im eigenen<br />

Garten die ersten Wasserfilter<br />

zusammenbaut. Ganz<br />

vorne turnt Tochter Brita herum,<br />

nach der die Firma benannt<br />

ist. Wie sehr er Unternehmer<br />

werden wollte, ließ<br />

der junge Heinz Hankammer<br />

bereits seine verdutzte<br />

Lehrerin in der Berufsschule<br />

beim Steno-Unterricht wissen:<br />

„Ich lerne das nicht, ich<br />

werde mal selbstständig sein,<br />

dann habe ich eine Sekretärin,<br />

die für mich tippt.“ Bereits<br />

Anfang der sechziger<br />

Jahre probierte Hankammer<br />

es zweimal erfolglos, einmal<br />

mit Süßigkeiten, einmal mit Reifen aus der<br />

Dose. Dann entdeckte er in einem Labor jenen<br />

Filter, der das Wasser entmineralisierte,<br />

und begann im Garten zu basteln.<br />

Sohn Markus musste 30 Jahre später<br />

erst nach Chile gehen, um zu merken, dass<br />

der heimische Betrieb das Richtige für ihn<br />

ist: Von einem winzigen Zwölf-Quadratmeter-Büro<br />

aus baute er den Vertrieb auf.<br />

Zweieinhalb Jahre später hatte Hankammer<br />

Junior 15 Angestellte und ganz Chile<br />

mit Brita-Filtern versorgt.<br />

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland<br />

war er vor allem damit beschäftigt,<br />

die Firma dem immer noch rasanten<br />

Wachstum anzupassen: Ein durchdachtes<br />

Vertriebsnetz, klarere Strukturen und der<br />

Umzug der Verwaltung in den schicken<br />

Bürobau gegenüber der eigenen Produktions-<br />

und Lagerhalle folgten. „Mein Vater<br />

war ein großartiger Verkäufer, ich bin eher<br />

Stratege“, sagt Hankammer. Man könnte<br />

auch sagen: Der Senior ist vorgeprescht, hat<br />

die Märkte erobert, der Junior<br />

pflegt diese Eroberungen,<br />

sorgt für Ordnung und<br />

organisches Wachstum.<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

„Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht<br />

haben? Den<br />

Mittelstand!“, sagte<br />

kürzlich der neue<br />

Deutsche-Bank-Chef<br />

Anshu Jain. <strong>Cicero</strong><br />

weiß das schon länger<br />

und stellt besondere<br />

Mittelständler in einer<br />

Serie vor.<br />

Markus Hankammer<br />

probiert seit einiger Zeit<br />

neue Anwendungsbereiche<br />

für den Wasserfilter aus:<br />

Eingebaut in Kaffeemaschinen<br />

oder in Wasserspendern<br />

für Unternehmen und Gastronomie,<br />

soll die Abhängigkeit<br />

von der klassischen Filterkanne<br />

reduziert werden.<br />

2009 hat Markus auch<br />

das Ruder beim zweiten großen<br />

Interessenschwerpunkt<br />

der Hankammers übernommen:<br />

dem Fußball-Drittligisten<br />

SV Wehen-Wiesbaden.<br />

Dort hatte ihn der<br />

Vater als Kind hingeschickt,<br />

da Markus damals ein Querulant<br />

gewesen sei, sagt zumindest der Senior:<br />

„Beim Fußball hat er gelernt, sich<br />

zu fügen.“ Aus Dankbarkeit übernahm<br />

Heinz Hankammer den Verein und führte<br />

ihn bis in die Zweite Bundesliga, was ihm<br />

den Spitznamen „Abramowitsch vom Dorf“<br />

einbrachte. Nach dem kometenhaften Aufstieg<br />

brauchen sie jetzt aber auch im Verein<br />

einen besonnenen Strategen.<br />

Lenz Jacobsen<br />

ist Mitgründer des Journalistenbüros<br />

„Weitwinkel Reporter“<br />

in Köln, wo das Leitungswasser<br />

besonders hart ist<br />

Fotos: Andreas Reeg, Privat (Autor)<br />

84 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Gefiltertes Wasser:<br />

Lebenselixier für Markus<br />

Hankammer und<br />

seine 1000 Mitarbeiter<br />

bei Brita<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 85


| K a p i t a l<br />

Superhelden mit<br />

Migrationshintergrund<br />

Naif Al-Mutawa hat muslimische Comicfiguren geschaffen als Vorbilder für seine fünf Söhne<br />

von Til Knipper<br />

S<br />

Eine Mutter hat ihn immer gewarnt:<br />

„Wähle deine Freunde<br />

sorgfältig aus, da du wahrscheinlich<br />

auch ihre Feinde dazubekommst.“<br />

Aber in dem Fall hatte er doch niemanden<br />

ausgewählt, und das überschwängliche Lob<br />

in einer Rede von Barack Obama für die<br />

von ihm entworfene Comicserie The 99 traf<br />

Naif Al-Mutawa völlig unvorbereitet. Obamas<br />

Feinde bekam er trotzdem gratis dazu,<br />

und sie machen ihm und seinen 99 muslimischen<br />

Superhelden seitdem das Leben<br />

in den USA schwer.<br />

Für <strong>Am</strong>erikas rechte, christliche Fundamentalisten<br />

war Obamas Äußerung ein<br />

weiterer Beleg dafür, dass der Präsident ein<br />

Muslim sei. Und einmal in Fahrt, gaben<br />

sie auch der noch jungen Comicserie eine<br />

volle Breitseite mit: The 99 sei ein Trojanisches<br />

Pferd, das die Scharia direkt in die<br />

Kinderzimmer bringe, hieß es in den einschlägigen<br />

Radiotalkshows und Blogs. Wer<br />

seine Kinder mit der Serie in Berührung<br />

kommen lasse, könne sie auch gleich im<br />

Dschihadisten-Ausbildungscamp in Afghanistan<br />

anmelden. Al-Mutawa bekam das<br />

Label eines „teuflischen arabisch-amerikanischen<br />

Terroristen“ verpasst. „Wie können<br />

Sie es wagen, mich amerikanisch zu<br />

nennen?“, antwortete der gebürtige Kuwaiti<br />

trocken.<br />

Angriffe aus dieser Ecke haben ihn ohnehin<br />

nicht überrascht. „Das macht mich<br />

Präsident Obamas Lob hat Naif<br />

Al-Mutawa in den USA geschadet<br />

eher stolz, weil es mir zeigt, dass ich etwas<br />

richtig mache“, sagt Al-Mutawa. Erschrocken<br />

hat ihn eher, dass sich der<br />

amerikanische Kabelfernsehsender Hub<br />

dadurch so unter Druck setzen ließ, dass<br />

er die 26‐teilige erste Staffel der animierten<br />

The 99‐Fernsehserie auf unbestimmte<br />

Zeit im Archiv verschwinden ließ. „Sie hatten<br />

offenbar Angst, dass ihnen nach den<br />

Protesten Werbekunden abspringen“, sagt<br />

Al-Mutawa. Er empfindet es schon fast als<br />

Klischee, dass die von ihm entwickelten Figuren,<br />

die für Toleranz und Verständigung<br />

stünden, nun „von Extremisten abgeschossen“<br />

würden. Da hilft es Al-Mutawa auch<br />

nicht, dass der Sender ihn voll bezahlt hat.<br />

„Für unser Geschäftsmodell, das auf dem<br />

Verkauf von Lizenzen beruht, wäre es extrem<br />

wichtig gewesen, die Serie zuerst erfolgreich<br />

im wichtigsten Fernsehmarkt der<br />

Welt zeigen zu können.“<br />

Das Absurde an den Vorwürfen ist, dass<br />

es sich bei The 99 um säkulare Comicgeschichten<br />

handelt. Andernfalls müsste man<br />

auch Supermans alttestamentarische Bezüge<br />

beklagen, weil dessen Auftauchen bei<br />

seinen Pflegeeltern, den Kents, eine moderne<br />

Version von Mose im Korb am Nil<br />

ist. Al-Mutawas 99 Helden kommen aus<br />

ebenso vielen verschiedenen Ländern und<br />

verfügen dank besonderer Edelsteine über<br />

jeweils eine herausragende Fähigkeit: die<br />

einzige religiöse Anspielung, dass es sich<br />

um genau jene 99 Eigenschaften handelt,<br />

die Allah im Koran zugeschrieben werden,<br />

darunter Stärke, Mut, Weisheit und Gnade.<br />

„Das sind universell anwendbare Begriffe,<br />

egal an welchen Gott man glaubt“, sagt<br />

Al-Mutawa.<br />

Die Idee für die Comicserie war 2003<br />

bei einer gemeinsamen Taxifahrt in London<br />

mit seiner Schwester Samar entstanden.<br />

Naif Al-Mutawa hatte gerade seinen<br />

MBA von der Columbia University in New<br />

York in der Tasche sowie den Doktortitel in<br />

klinischer Psychologie, und seine Schwester<br />

nervte ihn damit, dass er Kinderbücher<br />

schreiben solle. So fern lag das nicht, weil<br />

Al-Mutawa während des Studiums über das<br />

Thema Toleranz schon mal eine illustrierte<br />

Buchserie für Kinder verfasst hatte, für die<br />

er prompt mit einem Preis der Unesco ausgezeichnet<br />

worden war. „Ich habe dann zu<br />

ihr gesagt, das müsse schon so etwas Großes<br />

wie Pokémon sein. Sie sagte: Ja, mach<br />

doch.“ Der Gedanke ließ ihn nicht mehr<br />

los, und das Potenzial von The 99 scheint<br />

tatsächlich ähnlich groß zu sein wie bei<br />

den Pokémonfiguren aus dem japanischen<br />

Videospiel.<br />

Mehr als 50 Comicbücher sind inzwischen<br />

bei Al-Mutawas Teshkeel Group in<br />

Kuwait auf Englisch und Arabisch erschienen.<br />

20 Mitarbeiter beschäftigt das Unternehmen<br />

fest. Insgesamt, schätzt Al-Mutawa,<br />

haben an der bisherigen Realisierung<br />

des Projekts The 99 etwa 800 Leute mitgearbeitet.<br />

Die Bücher haben sich insgesamt<br />

etwa eine Million Mal verkauft. Besonders<br />

stolz ist der Chef dabei auf die fünf Spezialausgaben,<br />

in denen sein noch junges Unternehmen<br />

mit dem legendären amerikanischen<br />

Verlag DC Comics die Helden aus<br />

The 99 zusammen mit Batman, Superman<br />

Foto: Cara Hromada Photography/ Teshkeel Media Group/ddp images/AP Photo<br />

86 <strong>Cicero</strong> 9.2012


„Extremismus<br />

lässt sich nur mit<br />

Kunst und Kultur<br />

besiegen“, sagt<br />

der Comicverleger<br />

Naif Al-Mutawa<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 87


| K a p i t a l<br />

Dr. Ramzi Razem, der Mentor der 99 Helden, ist das schlankere, größere<br />

Alter Ego von Naif Al-Mutawa in den Comics: „Aber so entspannt und<br />

ruhig wie er werde ich wohl erst 20 Jahre nach meinem Tod sein“<br />

und Wonderman auf die Jagd nach den<br />

Bösewichten dieser Welt schicken durfte.<br />

„So was hat DC Comics zuletzt vor 20 Jahren<br />

gemacht“, kann sich Al-Mutawa noch<br />

heute freuen. Auf diese Ausgaben bezog<br />

sich auch das präsidiale Lob, weil Obama<br />

diese Kooperation für die „innovativste Reaktion“<br />

auf seine Rede in Kairo hielt, wo<br />

er für ein Zusammenrücken von westlicher<br />

und muslimischer Welt plädiert hatte.<br />

Zusammen mit der niederländischen<br />

Produktionsfirma Endemol wird gerade die<br />

zweite Staffel der Fernsehserie produziert,<br />

in der dann auch ein deutscher Charakter<br />

als Teil der 99 Helden eingeführt werden<br />

soll.<br />

Neben den Büchern und der Fernsehserie<br />

gibt es in Kuwait-City auch einen Themenpark,<br />

den ein Lizenznehmer betreibt<br />

und der im Jahr etwa 300 000 Besucher<br />

zählt. Weitere Parks sind in Planung.<br />

Was Al-Mutawa bei dem ganzen Projekt<br />

antreibt, sind vor allem seine fünf Söhne,<br />

die zwischen vier und 15 Jahren alt sind.<br />

„Ich möchte, dass sie mit positiven Rollenbildern<br />

aufwachsen aus ihrem eigenen Kulturkreis“,<br />

sagt Al-Mutawa. Das ist in der islamischen<br />

Welt gar nicht so einfach, weil<br />

dort bisher eher palästinensische Selbstmordattentäter<br />

oder Osama bin Laden in die<br />

Kategorie Helden einsortiert werden, und<br />

in iranischen Kinderbüchern amputierte<br />

Märtyrer auf dem Weg zu den versprochenen<br />

72 Jungfrauen gezeigt werden.<br />

Das wollte Al-Mutawa nicht mehr<br />

länger akzeptieren, weil er während seiner<br />

Arbeit als Psychologe in New York und<br />

Kuwait genug traumatisierte Kriegs-, Folter-<br />

und Terroropfer behandelt hatte. „Ich<br />

war schon immer davon überzeugt, dass<br />

sich Extremismus nur mit Kunst und Kultur<br />

besiegen lässt“, sagt al Mutawa. „So war<br />

es in Europa während der Renaissance und<br />

der Reformation, und etwas Vergleichbares<br />

muss auch in der islamischen Welt<br />

passieren.“<br />

Nicht so einfach fiel es Al-Mutawa am<br />

Anfang, ein Team für sein Vorhaben zusammenzustellen.<br />

Der Businessplan war<br />

schnell geschrieben, und auch die erste Finanzierungsrunde<br />

mit sieben Millionen<br />

US‐Dollar 2003 verlief erstaunlich erfolgreich,<br />

aber die Skepsis von Autoren und<br />

Zeichnern ließ sich nicht so leicht überwinden.<br />

Kurz nach den Anschlägen vom<br />

11. September 2001 wollte kaum jemand<br />

mit einem muslimischen Jungverleger islamische<br />

Helden entwickeln.<br />

Al-Mutawas Verlag Teshkeel kaufte daraufhin<br />

2005 das Cracked-Magazin, ein wenig<br />

erfolgreiches Satireblatt, das nie an das<br />

Vorbild Mad heranreichte. Damit räumte<br />

er zumindest bei potenziellen Mitstreitern<br />

und Geldgebern die letzten Zweifel aus,<br />

dass es sich bei dem Macher von The 99 um<br />

einen religiösen Fanatiker handele. Denn<br />

der Kauf von Cracked durch einen radikalen<br />

Muslim war ungefähr so wahrscheinlich<br />

wie die Übernahme der Titanic durch den<br />

Vatikan. Prompt wollte sich bei der zweiten<br />

Finanzierungsrunde eine saudi-arabische<br />

Investmentbank nur unter der Bedingung<br />

beteiligen, dass Cracked verkauft<br />

wurde. Danach hoben die Saudis auch das<br />

Verbot der Comics in ihrem Land auf. „Ironie<br />

des Schicksals: Jetzt ist die Fernsehserie<br />

schon gelaufen, während der US‐Sender<br />

sie noch unter Verschluss hält.“ Das<br />

faktische Sendeverbot in den USA wurmt<br />

ihn weiterhin. Das merkt man daran, dass<br />

er plötzlich noch schneller redet, wenn er<br />

davon spricht.<br />

Gut, dass Al-Mutawa bei The 99 auch<br />

ein Vorbild für sich selbst eingebaut hat: Dr.<br />

Ramzi Razem, den Mentor der jungen Helden.<br />

Der sieht aus wie sein schlanker, größerer<br />

Bruder, ist aber deutlich ruhiger als Al-<br />

Mutawa. „So entspannt werde ich wohl erst<br />

20 Jahre nach meinem Tod sein“, sagt Al-<br />

Mutawa, der nebenbei auch noch eine psychologische<br />

Klinik mit 27 Therapeuten in<br />

Kuwait betreibt und an der medizinischen<br />

Fakultät lehrt. Auch hier ist er nicht dem elterlichen<br />

Rat gefolgt: „Wenn du Psychologie<br />

studierst, wirst du irgendwann zwangsläufig<br />

verrückt“, hat ihn sein Vater schon vor dem<br />

Studium gewarnt.<br />

Til KNipper<br />

leitet das Ressort<br />

Kapital bei <strong>Cicero</strong><br />

Fotos: Teshkeel Group, privat (Autor)<br />

88 <strong>Cicero</strong> 9.2012


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über Angela Merkel<br />

„Verbotsschilder für Andersdenkende“<br />

Gesine Schwan<br />

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„Er bleibt hinter den Aufgaben<br />

seines <strong>Am</strong>tes zurück“<br />

Richard David Precht<br />

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| K a p i t a l | d e r E u r o i s t g e s c h e i t e r t<br />

Weiterhin ungehalteN<br />

Einst Kritiker der eigenen Zunft, knöpft sich der ehemalige WestLB-Chef<br />

jetzt die Kanzlerin vor – und plädiert für Deutschlands Austritt aus der Euro-Zone<br />

Von Ludwig Poullain<br />

Z<br />

u meinem langen Leben gehört<br />

auch die zwölf Jahre währende<br />

Phase, in der mir von den Nazis<br />

eigenständiges Denken untersagt<br />

war. Nach deren Vertreibung<br />

habe ich die Befreiung von dieser<br />

Zensur als die beste aller damaligen Errungenschaften<br />

empfunden. Danach habe<br />

ich eine längere Zeit gebraucht, bis es mir<br />

dämmerte, dass auch gewählte Regierende<br />

einer demokratischen Republik dazu neigen,<br />

ihren Untertanen vorzugeben, was<br />

und in welche Richtung sie zu denken haben<br />

und was zu denken sie vermeiden sollen,<br />

um es dafür lieber ihnen, den Oberen,<br />

zu überlassen.<br />

Nicht zuletzt hierauf führe ich es zurück,<br />

dass in unserem Land die Debattenkultur<br />

erstorben ist. Diskussionen, die per<br />

Definition ein Austausch von Intelligenz<br />

sein sollen, sind verpönt. Falls sich einer<br />

der Wortführer der Politik einmal eine eigene<br />

Meinung gebildet haben sollte, so<br />

wird sie kein noch so überzeugendes Argument<br />

jemals ändern können.<br />

Erst etwa ein Jahr nach ihrem <strong>Am</strong>tsantritt<br />

ist mir die Art der Bundeskanzlerin<br />

Merkel, durch Verschweigen ihrer Absichten<br />

und durch verstecktes Tun zu herrschen,<br />

aufgestoßen. Wenn sie es für unumgänglich<br />

hält, die Meinungsbildung der Bürger<br />

in eine ihr genehme Richtung zu lenken,<br />

so geschieht dies nicht etwa durch<br />

eine klare Vorgabe und die Darlegung der<br />

Gründe. Vielmehr pflegt sie uns nur etwa<br />

kurz zu verkünden, die Energieerzeugung<br />

sei auf den Kopf zu stellen, oder auch,<br />

dem notleidenden Griechenland sei Hilfe<br />

Ludwig Poullain<br />

Vom Saulus zum Paulus: Der 92‐jährige<br />

Poullain hat als ehemaliger Chef der<br />

WestLB und Präsident des Deutschen<br />

Sparkassen- und Giroverbands das deutsche<br />

Bankwesen geprägt. Selbst während seiner<br />

Zeit bei der WestLB in einen Skandal<br />

um einen Beratervertrag verstrickt, hat er<br />

sich nach seinem Abschied aus der Welt<br />

der Banker zu deren schärfsten Kritiker<br />

entwickelt. Berühmt geworden ist seine<br />

„Ungehaltene Rede“ über den Sittenverfall<br />

im deutschen Bankwesen, geschrieben 2004<br />

für die Verabschiedung des NordLB‐Chefs<br />

Manfred Bodin. Der Vortrag wurde<br />

aufgrund seines kritischen Inhalts<br />

kurzfristig abgesagt, erschien dann aber<br />

wenig später in voller Länge in der FAZ<br />

zu gewähren, um dann, anstelle einer fälligen<br />

Begründung, den Nachsatz anzuhängen,<br />

dies sei alternativlos.<br />

Mit diesem Hinweis errichtet sie offenkundig<br />

Verbotsschilder für Andersdenkende.<br />

Nachdem mir dieses Taktieren<br />

bewusst geworden ist, lehne ich mich dagegen<br />

auf und zwinge mich dazu, das mir<br />

von ihr Vorgesetzte nicht mehr als gegeben<br />

hinzunehmen und das von ihr zum Tabu<br />

Erklärte besonders sorgfältig durch meine<br />

Hirnwindungen zu drehen.<br />

Das gilt aktuell natürlich besonders in<br />

Bezug auf die von ihr gewählte Methode,<br />

unsere Gemeinschaftswährung zu retten.<br />

Ich glaube beobachten zu können, dass sie<br />

sich bei der Pflege dieses Homunkulus namens<br />

Euro mittlerweile keine Mühe mehr<br />

gibt, uns Bürgern vorzugaukeln, sie bedächte<br />

hierbei irgendetwas. Mit ihrem Finanzminister<br />

macht sie das, was sie glaubt,<br />

aus dem Diktat der Märkte folgern zu<br />

müssen. Denn diese allein lenken ihr Tun.<br />

Wenn sie mit dem, was sie anrichten, wenigstens<br />

das Ende bedenken würden! Doch<br />

die schiere Automatik ihrer Handlungen<br />

lässt mich argwöhnen, dass sie davon ausgehen,<br />

diese vermeintlichen Rettungstaten<br />

bis zum jüngsten Tag fortsetzen zu können.<br />

Just die Folgen eines solchen Gebarens<br />

bis zu seinem Ende zu bedenken, dies habe<br />

ich versucht. Das Ergebnis dieses abenteuerlichen<br />

Unterfangens ist hier zu lesen.<br />

Der Niederschrift schicke ich die Aufklärung<br />

voraus, dass ich hierbei von meinen<br />

Erfahrungen als Vorstand der zu seiner<br />

Zeit noch wohlfunktionierenden WestLB<br />

sowie als (nebenamtlicher) Präsident des<br />

Foto: Dominik Asbach/Laif; Illustration: Robert Zimmermann<br />

90 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Deutschen Sparkassen- und Giroverbands<br />

gezehrt habe.<br />

Anders als die in dieser Zeit im <strong>Am</strong>t<br />

des Sparkassenpräsidenten Agierenden, die<br />

sich als Cheflobbyisten der deutschen Sparkassen<br />

verstehen, habe ich in den siebziger<br />

Jahren die Sparer zum Dreh- und Angelpunkt<br />

meines Handelns gemacht, als es<br />

galt, das von ihnen mühsam Erarbeitete vor<br />

der Gefahr einer importierten Inflation zu<br />

bewahren. Den meisten der damals arbeitenden<br />

Bürger war das mit ihnen im Jahre<br />

1948 Geschehene noch allzu gegenwärtig,<br />

als durch die Währungsreform über Nacht<br />

100 Mark auf 7,50 Mark reduziert wurden.<br />

Ich bin mir sicher, dass Frau Merkel jener<br />

Generation ihre groß angelegte Schuldenvermehrung<br />

mit dem ihm innewohnenden<br />

riesigen Inflationspotenzial nicht hätte<br />

oktroyieren können. Sie hätten ihr bei der<br />

nächsten Wahl ihre Stimmen entzogen.<br />

Was die Kanzlerin in dieser Euroschuldenkrise<br />

hätte anders machen sollen? Ganz<br />

einfach: bereits beim ersten Hilfeschrei der<br />

Griechen bei dem „Nein“, das sie in der allerersten<br />

Reaktion von sich gegeben hatte,<br />

zu verharren und standhaft zu bleiben bis<br />

zum heutigen Tag. Um wie vieles besser erginge<br />

es heute den Hellenen, wenn sie den<br />

von den Geberländern zugeteilten Schuldenberg<br />

nicht mit sich herumschleppen<br />

müssten, stattdessen zur Drachme zurückgekehrt<br />

wären und sich dann ihrer Lieblingsbeschäftigung<br />

hätten hingeben können,<br />

ihre eigene Währung nach eigenem<br />

Belieben abzuwerten. Auf der Geberseite<br />

verfügten alle Staaten, die den Griechen<br />

glaubten, zur Hilfe eilen zu müssen, auch<br />

heute noch über ihre Moneten. Und mangels<br />

Präzendenzfalls hätten sich folgende,<br />

durch eigenes Verschulden in Not geratene<br />

Länder nicht auf Griechenland berufen<br />

können.<br />

Wenn die Überweisungen wenigstens<br />

etwas Positives bewirkt hätten! Dies vermochten<br />

sie allein schon deswegen nicht,<br />

weil sie für die Behebung der Schäden, die<br />

die Griechen durch den Missbrauch des<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 91


| K a p i t a l | d e r E u r o i s t g e s c h e i t e r t<br />

billigen Euro sich selbst zugefügt hatten,<br />

ungeeignet waren. Nicht einmal die Symptome<br />

konnten sie lindern, wie hätten sie<br />

gar den Grund des Übels wirksam bekämpfen<br />

können? Dieser lag nämlich nicht in<br />

der bloßen Anhäufung von Schulden, sondern<br />

in der mangelnden Leistungsfähigkeit<br />

ihrer Volkswirtschaft.<br />

Die aus all diesen Hilfsmaßnahmen<br />

rührenden furchteinflößenden Verpflichtungen<br />

unseres Staates in Höhe von zurzeit<br />

etwa 310 Milliarden Euro können darum<br />

also auch nur als ein Zwischenstand betrachtet<br />

werden. Ich bin mir sicher, dass die<br />

auf zustimmendes Kopfnicken getrimmten<br />

Mitglieder des Deutschen Bundestags<br />

diesem Schuldenbetrag ein stetes Wachstum<br />

garantieren.<br />

Dass die Regierungen der sich in Zahlungsschwierigkeiten<br />

manövrierten Länder<br />

die einfachsten Gebote der Sittsamkeit<br />

missachten, also dreist den Beistand<br />

der ordentlich Wirtschaftenden fordern,<br />

anstatt höflich um Beistand zu bitten, wundert<br />

mich nicht. Ich habe schon als junger<br />

Kreditsachbearbeiter einer Sparkasse<br />

genau dieses Verhalten bei Kreditsuchenden<br />

beobachtet. Kunden mit einwandfreier<br />

Bonität pflegten ihre Anliegen artig vorzutragen,<br />

während die andere Sorte frech<br />

auf ihren vermeintlichen Rechtsanspruch<br />

pochte, auch ohne Offenlegung ihrer miesen<br />

wirtschaftlichen Verhältnisse jeden Kredit<br />

zu erhalten. Heute weiß ich, dass eine<br />

solche Haltung für Hochverschuldete, die<br />

ihren Zustand selbst herbeigeführt haben,<br />

systemimmanent ist.<br />

Zusammengefasst lautet das erste Ergebnis<br />

meines ungebührlichen Denkens:<br />

Alle bisherigen Hilfsmaßnahmen waren<br />

nutzlos, und sie werden es fürderhin sein.<br />

Das geflossene Geld ist weg, die Eurorettung<br />

ein einziges Fiasko.<br />

Nicht nur Griechenland und Portugal<br />

kranken an der mangelhaften Wettbewerbsfähigkeit<br />

ihrer Wirtschaft, Spanien<br />

und Italien plagen dieselben Symptome,<br />

und ganz offensichtlich leidet auch Europas<br />

sogenannter Industriestaat Nummer<br />

zwei, Frankreich, hieran.<br />

Und darum ist Griechenland für mich<br />

nicht das Problem. Diese Sache wird sich<br />

nahezu automatisch regeln. Es liegt vielmehr<br />

bei den drei großen, sich immer noch<br />

als bedeutende Industrienationen gebärdenden<br />

Ländern Frankreich, Italien und<br />

Spanien, von denen unser Nachbarland der<br />

schwierigste und auch schwerwiegendste<br />

Fall ist. Gewiss, noch sind die Märkte ruhig<br />

– sie haben aktuellere Fälle vor ihren<br />

Flinten. Jedoch werden sie sich, wenn die<br />

noch unter der Oberfläche schlummernden<br />

gravierenden Strukturschwächen<br />

Das geflossene Geld ist weg,<br />

die bisherige Eurorettung ein<br />

einziges Fiasko<br />

Frankreichs offenkundig werden, dieses<br />

Landes mit besonderer Inbrunst annehmen.<br />

Mit der Einführung der Gemeinschaftswährung<br />

haben diese drei Länder<br />

die Pflege ihrer Industrielandschaft bewusst<br />

vernachlässigt. Anstelle einer anstrengenden<br />

Industriegesellschaft haben<br />

sie sich für die bequemere der Dienstleistungen<br />

entschieden. Diese Strukturänderung<br />

hat zu einer endgültigen Vernichtung<br />

von Millionen von Industriearbeitsplätzen<br />

geführt. Sie sind durch kein Wachstumsprogramm<br />

neu zu schaffen. Diese Lücken<br />

gehören nunmehr endgültig auch zur<br />

Struktur dieser Länder. Sie bedingen Arbeitslosenquoten,<br />

die über Jahrzehnte auf<br />

einem Sockel im zweistelligen Prozentbereich<br />

verharren werden. Als weitere Folge<br />

dieser Deindustrialisierung wird das Bruttosozialprodukt<br />

dieser Staaten in Zukunft<br />

kein erwähnenswertes Wachstum erfahren<br />

können, und deswegen wird sich auch die<br />

Staatsverschuldung weiterhin zwangsweise<br />

erhöhen. An dieser Konsequenz werden<br />

alle Fiskalpakte dieser Welt nichts ändern<br />

können.<br />

Der nach meinen Beobachtungen bereits<br />

vor einigen Jahrzehnten begonnene<br />

Prozess der Deindustrialisierung ist während<br />

der Vor-Euro-Epoche durch laufende<br />

Abwertungen der Francs, Lira und Peseten<br />

absorbiert worden und hat sich deshalb auf<br />

die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie dieser<br />

Länder nicht ausgewirkt. Ich war erschreckt,<br />

als ich mir deutlich gemacht habe,<br />

wie weit sich der Wert des französischen<br />

Franc in der Zeit von 1950 bis zur Einführung<br />

des Euro von dem der Deutschen<br />

Mark entfernt hat: Durch Abwertungen ist<br />

er in jedem Jahrzehnt um durchschnittlich<br />

30 Prozent gesunken.<br />

Der Kern aller Gründe für die mangelnde<br />

Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder<br />

liegt in der mangelnden Flexibilität. Frankreich,<br />

ebenso Italien wie auch Spanien, hätten,<br />

wenn es ihnen denn möglich gewesen<br />

wäre, auch in jüngerer Zeit mehrfach abgewertet.<br />

Doch das System lässt solches nun<br />

einmal nicht zu. Der Euro liegt wie ein Leichentuch<br />

über diesen Ländern.<br />

Zwar gibt es, rein theoretisch, noch<br />

ein weiteres Regulativ, auf das aber schon<br />

mangels politischer Umsetzbarkeit nicht<br />

zurückgegriffen werden kann: eine der<br />

unterbliebenen Abwertungsquote entsprechende<br />

Kürzung der sozialen Leistungen.<br />

Die Griechen und nunmehr auch die Spanier<br />

demonstrieren, dass ein solch grundsätzlich<br />

probates Mittel in der Praxis immer<br />

am militanten Widerstand der Betroffenen<br />

scheitern muss.<br />

Die aus den herrschenden Verzerrungen<br />

herrührenden Spannungen belasten<br />

nicht nur die Finanzmärkte, sie haben<br />

auch schon längst die Gemüter der Bürger<br />

erfasst. Neben der Wut über die verhängten<br />

Einschränkungen haben sich Neid<br />

und Missgunst der Völker des Südens bemächtigt,<br />

derweil die Nordländer, die vermeintlichen<br />

Tresorverwalter, sich schwarz<br />

darüber ärgern, dass jede ihrer Überweisungen<br />

nur mit einem lauten Schrei nach<br />

mehr quittiert wird.<br />

Komme mir nur jetzt keiner mit der<br />

These, der Euro habe die Völker vor einem<br />

neuen Krieg bewahrt, oder ärger noch:<br />

Nur sein Bestand vermöge in Zukunft einen<br />

Krieg zu verhindern. Auch ohne Euro<br />

wird in Europa niemals mehr aufeinander<br />

geschossen werden.<br />

Abgesehen von der Generalklausel der<br />

Verfechter des Euro, dass ein jeder, der<br />

sich gegen ihn als Währungsmittel wendet,<br />

ein Verräter am vereinigten Europa<br />

ist, gibt es eine weitere Unterstellung, die<br />

nicht beweisbar, aber weitverbreitet ist:<br />

Kein Land habe vom Euro so profitiert<br />

wie Deutschland, bei einem Verlassen der<br />

92 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Gemeinschaftswährung werde sich das ins<br />

Gegenteil verkehren.<br />

Meine Wahrnehmungen und Erfahrungen<br />

der vergangenen sieben Jahrzehnte<br />

als Bankier und Beobachter der Weltwirtschaft<br />

lassen mich zu dem Schluss kommen,<br />

dass das Gegenteil richtig ist: Die<br />

Grundlage der Leistungsfähigkeit unserer<br />

Industrie ist während der Zeit der Deutschen<br />

Mark gelegt worden. Wie sich heutige<br />

Lobbyisten gegen jedwede Änderungen<br />

wehren, so stemmten sich während<br />

der Herrschaft der festen Wechselkurse des<br />

Bretton-Woods-Systems die vorgeschobenen<br />

Interessenwahrer der deutschen Industrie<br />

gegen jedwede Aufwertung der Deutschen<br />

Mark gegenüber dem Dollar. Auch<br />

damals schon waren es die bösen Spekulanten,<br />

die, wenn die Ungleichgewichte der<br />

beiden Währungen auf den Märkten Wirkung<br />

zeigten, durch Anhäufungen der Dollars<br />

auf den Konten der Deutschen Bundesbank<br />

die Politik auf Trab brachten. Wenn<br />

man denn den beschwörenden Worten der<br />

Bewahrer hätte Glauben schenken können,<br />

drohte mit jeder Aufwertung der Mark der<br />

Weltuntergang, hätte sie doch Deutschlands<br />

Wettbewerbsfähigkeit zerstört und<br />

damit die Exporte zum Erliegen gebracht.<br />

Doch, oh Wunder, stets trat das genaue<br />

Gegenteil ein, verzeichnete doch das<br />

Statistische Bundesamt nach jeder Aufwertung<br />

weitere kräftige Zunahmen der<br />

Exportaufträge.<br />

Die Gründe für diese Erscheinung liegen<br />

auf der Hand: Eine jede Aufwertung<br />

zwang die deutsche Industrie, ihre Produkte<br />

zu verbessern und die Produktivität<br />

zu erhöhen. In dicken Lettern schreibe ich<br />

es nieder: Mit jeder Aufwertung der Deutschen<br />

Mark ist die deutsche Industrie leistungsfähiger<br />

geworden. Die Grundlage ihres<br />

heutigen hohen Standards ist in jener<br />

Zeit gelegt worden. Als Ergebnis dieser Prozesse<br />

halte ich fest, dass nicht der Preis eines<br />

Produkts allein das entscheidende Kriterium<br />

für eine Auftragserteilung ist; vielmehr<br />

sind seine Qualität und die Zuverlässigkeit<br />

von Lieferung und Leistung von<br />

ausschlaggebender Bedeutung.<br />

Schwankenden Wechselkursen und damit<br />

der Gefahr fallender Erlöse aufgrund<br />

sich verteuernder Euros unterliegt unsere<br />

Exportindustrie auch heute auf den Märkten<br />

außerhalb des Euroraums. Allerdings<br />

erleichtert der infolge der Eurokrise niedrige<br />

Kurs des Euro gegenüber dem Dollar<br />

zurzeit die Geschäfte. Ich gehe davon<br />

aus, dass dieser Umstand ein wesentlicher<br />

Grund dafür ist, dass die Herren der großen<br />

deutschen Industriekonzerne so leidenschaftlich<br />

für den Erhalt des Euro votieren.<br />

Dass sich auch der Verband der deutschen<br />

Banken zu diesen Befürwortern gesellt,<br />

gehört zur Wahrung der Interessen<br />

seiner Mitglieder, verspricht doch der weitere<br />

Bestand der Gemeinschaftswährung<br />

eine fortwährende wundersame Geldvermehrung<br />

durch die Europäische Zentralbank<br />

(EZB). Deren Präsident Mario<br />

Draghi muss ich zumindest ob der Unbekümmertheit,<br />

mit der er seinem Herkunftsland<br />

durch die von ihm geleitete<br />

Institution Beihilfe zur Zinssenkung für<br />

Staatsanleihen gewährt, fast schon so etwas<br />

wie stille Bewunderung zollen.<br />

Die deutsche Industrie, die, dies sei an<br />

dieser Stelle angemerkt, die Trägerin des<br />

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Fortschritts und des Wohlstands und auch<br />

der Finanzier unseres Sozialstaats ist, hat<br />

in Zukunft weltweit wachsende Märkte<br />

zu erwarten. Entwicklungsländer werden<br />

zu Schwellenländern, und Schwellenländer<br />

wachsen zu Industrienationen heran –<br />

alle aufnahmefähig für deutsche Produkte.<br />

Die Initiatoren des Euro waren der<br />

Wahnvorstellung unterlegen, die Gemeinschaftswährung<br />

würde die ihr<br />

angehörenden Länder zu einer<br />

mächtigen Wirtschaftsmacht zusammenfügen,<br />

die den beiden anderen<br />

Monolithen, den USA und<br />

China, Paroli bieten würde. Doch<br />

der Homunkulus Euro hat das genaue<br />

Gegenteil bewirkt. Er hat die<br />

Wettbewerbsfähigkeit der Schwächeren<br />

weiterhin eingeschränkt<br />

und damit eine Machtblockbildung<br />

unmöglich gemacht. Von<br />

den vermeintlichen Industrienationen<br />

Frankreich, Italien und<br />

Spanien im globalen Wettbewerb<br />

im Stich gelassen, tummelt sich<br />

Deutschland allein auf den globalen<br />

Märkten.<br />

Trifft ihn die Ironie der Geschichte,<br />

oder wird er von der<br />

Strafe der Götter heimgesucht, der<br />

ehemalige Präsident der Republik<br />

Frankreich, François Mitterrand,<br />

weil das Mittel, der Euro, den er<br />

erkor, die Wirtschaftskraft der<br />

Deutschen zu schwächen, nicht<br />

diese, sondern sein eigenes Land<br />

getroffen hat? Erzählt uns die griechische<br />

Mythologie nicht auch schon von Krösus,<br />

der sein eigenes Imperium zerstörte, nachdem<br />

er die Einflüsterungen der Pythia, er<br />

würde, wenn er denn seinen Feind angreife,<br />

ein großes Reich zerstören, falsch deutete?<br />

Was also folgere ich aus dem bislang in<br />

diesem Beitrag Aufgereihten? Die Strukturprobleme<br />

werden Spanien, Italien und<br />

Frankreich, eines nach dem anderen, an die<br />

Wand drücken. Sie werden, wahrscheinlich<br />

in dieser Reihenfolge, Hilfe erbitten müssen.<br />

Frau Merkel mit ihren blinden Terrakottasoldaten<br />

im Gefolge nicht nur aus<br />

ihrer Partei wird sie so lange gewähren lassen,<br />

bis Deutschland selbst am Ende sein<br />

wird. Und welche andere Rettungsstation<br />

bliebe uns dann wohl noch außer China?<br />

Doch gemach! So weit wird es nicht<br />

kommen. Noch bevor es eine Rettungsaktion<br />

für Italien gibt, werden wir einen<br />

gewaltigen Knall, so etwas wie einen währungspolitischen<br />

Urknall erleben, mit<br />

dem das Eurokartenhaus in sich zusammenfällt.<br />

Doch zur großen Verwunderung<br />

aller wird sich bei der Sichtung der<br />

Reste ergeben, dass die im Tresor gelagerten<br />

Werte und Substanzen erhalten sind<br />

und dass sich aus ihnen gesundes Neues<br />

gestalten lässt.<br />

Aus dieser Erkenntnis schöpfend entwickle<br />

ich den verwegen klingenden Vorschlag,<br />

dass das nach Größe und Struktur<br />

am besten ausgestattete Land, und<br />

das ist in Europa nun einmal Deutschland,<br />

nicht länger auf Godot, also darauf<br />

warten sollte, bis sich Griechenland und<br />

dann, peu à peu, auch weitere Staaten aus<br />

dem Euro verabschieden müssen. Stattdessen<br />

sollten wir uns selbst aus dem Gewürge<br />

lösen, eine neue Währung kreieren<br />

und hierzu die Staaten und Völker gleicher<br />

Struktur und Gesinnung einladen. Zu diesen<br />

zähle ich die skandinavischen Länder,<br />

die Niederlande, Österreich selbstredend,<br />

aber auch die Schweiz würde unter diesen<br />

Umständen daran Gefallen finden,<br />

sich solch einem Gebilde anzuschließen,<br />

denken und handeln doch die alten Eidgenossen<br />

ebenso stabilitätsorientiert und<br />

industriepolitisch wie wir und bewegen<br />

sich dabei auf höchstem Niveau. Ja, und<br />

die Franzosen, bitte schön, auch, aber nur<br />

dann, wenn sie sich den stringenten Regeln<br />

der neuen Gemeinschaft unterwerfen.<br />

Um Deutschland ist mir dabei nicht<br />

bange. Eine neue Währung, wie immer<br />

sie auch aussehen oder heißen mag, wird<br />

zwar die während der Euroherrschaft unterbliebene<br />

Aufwertung gegenüber den anderen,<br />

im Euroverbund verbleibenden<br />

Ländern nachholen müssen.<br />

In dieser Phase wird die deutsche<br />

Industrie hart zu kämpfen haben,<br />

doch sie wird sich durchbeißen<br />

und diese Belastung, wie weiland<br />

zu Bretton-Woods-Zeiten, auch<br />

als Chance nutzen, ihre Produkte<br />

zu modernisieren, ihre Qualität<br />

zu verbessern und dabei gleichzeitig<br />

ihre Produktivität zu erhöhen.<br />

Ein solcher Gang würde<br />

auch nicht nationaler Überheblichkeit<br />

entsprießen, sondern<br />

wäre zunächst ohnehin nur ein<br />

Notausstieg.<br />

Das sogenannte „vereinte“ Europa<br />

oder gar die Vereinigten Staaten<br />

von Europa blieben dabei auf<br />

der Strecke. Aber was für ein Europa<br />

wäre ein solches Gebilde überhaupt?<br />

Das Europa der Brüsseler<br />

Technokraten, die aus einem Gewirr<br />

endloser Knäuel ein Europa<br />

hunderttausendfacher Reglements<br />

stricken? Oder das Europa, dessen<br />

Interessen von den in erster Linie<br />

auf die Wahrung nationaler Belange bedachten<br />

Regierungschefs immer erst dann<br />

in Betracht gezogen werden, nachdem sie<br />

sich gegenseitig über den Tisch gezogen haben?<br />

Oder das Europa der Wunsch- und<br />

Wahnvorstellungen, die sich in den Köpfen<br />

der Bürger nach den Feiertagsreden der Berufseuropäer<br />

gebildet haben?<br />

Wie ich begonnen habe, so beende ich<br />

diese Gedanken mit einer persönlichen Anmerkung.<br />

Im Jahre 1930, also drei Jahre<br />

vor dem Machtantritt Hitlers, wurde ich<br />

damals als zehnjähriger Sextaner in ein<br />

Gymnasium eingeschult, das das Französische<br />

als erste Fremdsprache lehrte. Mein<br />

Lehrer, Frontsoldat des Ersten Weltkriegs,<br />

bläute uns Knaben ein, diese Sprache mit<br />

Eifer zu lernen, weil wir sie später als Soldaten<br />

im Revanchekrieg gegen Frankreich<br />

bei der Besetzung dieses Landes gut verwenden<br />

könnten. Wir Jungen fanden an<br />

Illustration: Robert Zimmermann<br />

94 <strong>Cicero</strong> 9.2012


dieser Rede nichts Anstößiges, galt doch<br />

Frankreich damals im ganzen Land als<br />

unser Erbfeind. Als Ergebnis dieser Lehre<br />

habe ich mich 1939 als 19-Jähriger freiwillig<br />

zur Truppe gemeldet und dann im Verlauf<br />

des Krieges vier Jahre lang in Russland<br />

als Sturmgeschützler meinen Teil dazu beigetragen,<br />

Europa zu zerstören.<br />

1945, kurz nach Ende des Krieges, habe<br />

ich im Kreis der wenigen mir verbliebenen<br />

Klassenkameraden den Schwur getan,<br />

nie wieder in unserem Leben auf andere zu<br />

schießen. Damals wähnten wir uns als die<br />

ersten Europäer.<br />

Die Euphorie, mit der wir Gleichgesinnten<br />

nach dem Krieg Europa anstrebten,<br />

entsprang dem Bedürfnis, nach der Welt<br />

des Mordens zukünftig auf einem Kontinent<br />

des Friedens zu leben.<br />

Um dies sicherzustellen, erschien auch<br />

mir in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende<br />

der Weg, die Grenzen zwischen den<br />

Völkern verschwinden zu lassen, als der logische.<br />

Damals habe ich nicht bedacht, wie<br />

viel andersartig sie doch alle sind, die Griechen<br />

und Norweger, die Italiener und Finnen,<br />

die Spanier, Serben, Holländer, Balten<br />

und die Deutschen. Europa ist nun einmal<br />

von seiner Geschichte, seinen Völkern und<br />

ihren Kulturen als Ansammlung von Nationalstaaten<br />

geprägt. Das sollten auch die<br />

Einigungsfetischisten respektieren und es<br />

dabei belassen.<br />

Kehren wir also zur EWG, der Europäischen<br />

Wirtschaftsgemeinschaft, zurück.<br />

Das war die richtige Einrichtung, weil sie<br />

es den einzelnen Ländern ermöglichte,<br />

freien und friedlichen Handel miteinander<br />

zu treiben und ein jedes Volk nach seiner<br />

Fasson glücklich werden zu lassen. Und<br />

dies jeweils auf eigene Kosten.<br />

Ist das, was ich mir zusammengedacht<br />

habe, nur ein Hirngespinst? Sicherlich ist<br />

der Gedanke insoweit eine Utopie, unsere<br />

Regierung vermöchte die Initiative entwickeln<br />

und die Tatkraft aufbringen, eine<br />

solche Lösung aktiv anzustreben. Darum<br />

also wird das Spektakel – so wie bislang geübt,<br />

aber noch zusätzlich durch wachsende<br />

feindselige Emotionen angeheizt – weitergehen,<br />

bis es zu dem von mir genannten<br />

Knall kommt. Das sich hiernach entwickelnde<br />

Gebilde wird zwar eher von Zufälligkeiten<br />

gestaltet sein, aber es wird um ein<br />

Vielfaches besser werden, als das vom unglückseligen<br />

Homunkulus Euro geprägte<br />

jemals werden kann.<br />

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Der Systembruch<br />

<strong>Am</strong> 12. September fällt Karlsruhe sein Urteil über den ESM. Ein ehemaliger<br />

Verfassungsrichter wagt eine Prognose<br />

von Hans Hugo Klein<br />

M<br />

it groSSer Spannung erwartet<br />

nicht nur die deutsche Politik<br />

das Urteil, mit dem das<br />

Bundesverfassungsgericht am<br />

12. September – der Form<br />

nach vorläufig, der Sache nach aber definitiv<br />

– über die Vereinbarkeit sowohl des<br />

Fiskalpakts als auch des Vertrags zur Einrichtung<br />

des Europäischen Stabilitätsmechanismus<br />

(ESM) mit dem Grundgesetz<br />

entscheiden wird. Der Fiskalpakt verfolgt<br />

das Ziel, die wirtschaftliche Säule der Währungs-<br />

und Wirtschaftsunion zu stärken. Er<br />

will die seit Jahren schmerzlich vermisste<br />

Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten der<br />

Eurozone gewährleisten, indem er sie zur<br />

Einführung von Schuldenbremsen nach<br />

deutschem Vorbild und zu einem ausgeglichenen<br />

Haushalt verpflichtet. Die Vertragsparteien<br />

verpflichten sich zur Korrektur<br />

vertragswidriger Defizite und unterwerfen<br />

sich der Überwachung durch Rat und<br />

Kommission. Die Gewährung von Leistungen<br />

aus dem ESM wird an die Ratifizierung<br />

des Fiskalpakts und an die Einführung nationaler<br />

Schuldenbremsen geknüpft.<br />

Der Fiskalpakt schließt damit eine Lücke,<br />

die seit der Einführung der Währungsunion<br />

durch den Vertrag von Maastricht<br />

bestand. Der sogenannte Stabilitäts- und<br />

Wachstumspakt konnte diese Lücke nicht<br />

schließen, zumal er aufgeweicht wurde,<br />

als er seine Bewährungsprobe hätte ablegen<br />

sollen. Der Fiskalpakt ist nicht verfassungswidrig,<br />

obgleich er das nationale Budgetrecht<br />

spürbar einschränkt. Schon das<br />

Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

(1993) hat auf das finanzpolitische<br />

Defizit der Währungsunion hingewiesen<br />

und erklärt, dass für die Ergänzung der<br />

Währungs- durch eine Wirtschaftsunion<br />

„rechtlich Raum“ sei. Das Lissabon-Urteil<br />

(2009) hebt hervor, dass die vom Grundgesetz<br />

erlaubte Mitwirkung Deutschlands an<br />

der Entwicklung der EU auch eine politische<br />

Union umfasst, also „die gemeinsame<br />

Ausübung öffentlicher Gewalt … bis hinein<br />

in die Kernbereiche des staatlichen Kompetenzraums“,<br />

zu denen auch das Budgetrecht<br />

gehört. Das Urteil vom 7. September<br />

2011 schließlich betont, dass Deutschland<br />

Ohne das Ziel der<br />

Preisstabilität dürfte<br />

Deutschland laut<br />

Verfassung am Euro<br />

nicht teilhaben<br />

sich mit der Öffnung für die europäische<br />

Integration auch finanzpolitisch bindet.<br />

Das Budgetrecht werde auch dann nicht<br />

verletzt, wenn solche Bindungen einen erheblichen<br />

Umfang annähmen.<br />

Mit dem Fiskalpakt wird also nur nachgeholt,<br />

was im Integrationsprogramm des<br />

Maastricht-Vertrags tendenziell bereits angelegt<br />

war und über zwei Jahrzehnte hinweg<br />

versäumt worden ist. Die Haushaltsautonomie<br />

eines Staates wird nicht dadurch<br />

aufgehoben, dass der Haushaltsgesetzgeber<br />

sich sehenden Auges in die Verschuldensfalle<br />

begibt, also wissentlich gegen ihn bindendes<br />

supranationales Recht verstößt und<br />

die dort vorgesehenen Sanktionen auslöst.<br />

Die verfassungsrechtliche Problematik<br />

des ESM-Vertrags ist anders gelagert.<br />

Durch den Vertrag wird eine „internationale<br />

Finanzinstitution“ (Artikel 1)<br />

eingerichtet, die die Aufgabe hat, „Finanzmittel<br />

zu mobilisieren und ESM-<br />

Mitgliedern, die schwerwiegende Finanzierungsprobleme<br />

haben, … unter strikten …<br />

Auflagen eine Stabilitätshilfe bereitzustellen,<br />

wenn dies zur Wahrung der Finanzstabilität<br />

des Euro-Währungsgebiets insgesamt<br />

und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar<br />

ist“ (Artikel 3). Zu diesem Zweck wird<br />

der ESM mit einem Stammkapital von<br />

700 Milliarden Euro ausgestattet, bestehend<br />

aus 80 Milliarden eingezahltem und<br />

620 Milliarden abrufbarem Kapital. Davon<br />

entfallen auf Deutschland 21,7 beziehungsweise<br />

168,3 Milliarden, zusammen<br />

also 190 Milliarden Euro.<br />

Über die Vergabe der dem ESM zur<br />

Verfügung stehenden Mittel entscheidet<br />

der Gouverneursrat, in dem jede Vertragspartei<br />

mit einem für die Finanzen zuständigen<br />

Regierungsmitglied vertreten ist.<br />

Einstimmig, in Dringlichkeitsfällen mit<br />

der qualifizierten Mehrheit von 85 Prozent<br />

der Stimmen, beschließt der Gouverneursrat<br />

unter anderem über die Gewährung<br />

von Stabilitätshilfen einschließlich der<br />

damit verbundenen wirtschaftspolitischen<br />

Auflagen. Das bedeutet, dass Deutschland,<br />

das mehr als 27 Prozent des Stammkapitals<br />

hält, in keinem Fall überstimmt werden<br />

kann. Generell gilt, dass wichtige Entscheidungen<br />

(wie zum Beispiel über unmittelbare<br />

Zahlungen an Banken) nur einstimmig<br />

getroffen werden können.<br />

Das Bundesverfassungsgericht hat in<br />

seinem Urteil vom 7. September 2011<br />

bereits entschieden, dass der Bundestag<br />

„auch in einem System intergouvernementalen<br />

Regierens die Kontrolle über grundlegende<br />

haushaltspolitische Entscheidungen<br />

behalten“ muss. Daraus folgt, dass<br />

96 <strong>Cicero</strong> 9.2012


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Erfolg ist zeitlos<br />

Foto: picture alliance<br />

der Bundestag „seine Budgetverantwortung<br />

nicht durch unbestimmte haushaltspolitische<br />

Ermächtigungen auf andere Akteure<br />

übertragen“ darf. „Insbesondere darf<br />

er sich keinen finanzwirksamen Mechanismen<br />

ausliefern, die … zu nicht überschaubaren<br />

haushaltsbedeutsamen Belastungen<br />

ohne vorherige konstitutive Zustimmung<br />

führen können …“ Von Verfassungs wegen<br />

ist der Bundestag gehindert, „einem …<br />

nicht an strikte Vorgaben gebundenen und<br />

in seinen Auswirkungen nicht begrenzten<br />

Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus“<br />

zuzustimmen, „der – einmal in Gang gesetzt<br />

– seiner Kontrolle und Einwirkung<br />

entzogen ist“.<br />

Eine Regelung, die es ermöglicht, dass<br />

„fiskalische Dispositionen anderer Mitgliedstaaten<br />

zu irreversiblen, unter Umständen<br />

massiven Einschränkungen der nationalen<br />

Gestaltungsspielräume führen“, darf der<br />

Bundestag nicht beschließen. Eine „Haftungsübernahme<br />

für Willensentscheidungen<br />

anderer Staaten“ ist verfassungsrechtlich<br />

ausgeschlossen. Deutlicher konnte das<br />

Bundesverfassungsgericht nicht zum Ausdruck<br />

bringen, dass „Eurobonds“ jeder Art<br />

mit dem geltenden Verfassungsrecht nicht<br />

vereinbar sind.<br />

Für die verfassungsrechtliche Beurteilung<br />

des ESM‐Vertrags kommt es nun darauf<br />

an, ob er sich in diesem Rahmen hält<br />

(ob sich also zum Beispiel die Haftung<br />

Deutschlands tatsächlich auf jene 190 Milliarden<br />

Euro beschränkt), oder ob sie, ohne<br />

dass der Bundestag noch darauf Einfluss<br />

hätte, eine weit größere Dimension erreichen<br />

könnte. So wird behauptet (aber<br />

auch bestritten), dass der ESM nach Artikel<br />

21 des Vertrags unbeschränkt Kredite<br />

aufnehmen könnte, für die alle Mitgliedstaaten<br />

gemeinsam haften, und weiter, dass<br />

Deutschland, wenn andere Mitgliedstaaten<br />

ihren Pflichten zur Einzahlung des auf<br />

sie entfallenden Kapitalanteils nicht nachkämen,<br />

eine Nachschusspflicht träfe, die<br />

sich auf bis zu 700 Milliarden Euro steigern<br />

könnte.<br />

Träfen diese Behauptungen zu, stünde<br />

der ESM-Vertrag verfassungsrechtlich auf<br />

schwankendem Grund. Im Übrigen ist<br />

durch das ESM-Finanzierungsgesetz dafür<br />

Sorge getragen, dass die Haushalts- und<br />

Stabilitätsverantwortung des Bundestags<br />

wirksam wahrgenommen werden kann.<br />

Das Gesetz gewährleistet einerseits eine<br />

umfassende Unterrichtung des Parlaments,<br />

andererseits wird das Abstimmungsverhalten<br />

des deutschen Vertreters im Gouverneursrat<br />

bei gewichtigen Entscheidungen<br />

an die vorherige Zustimmung des Bundestags<br />

gebunden.<br />

Das Problem der Währungsunion liegt<br />

freilich tiefer. So ist die vertragliche Konzeption<br />

der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft<br />

nach ständiger Rechtsprechung<br />

des Bundesverfassungsgerichts<br />

Grundlage und Gegenstand des deutschen<br />

Zustimmungsgesetzes zum Vertrag von<br />

Maastricht. Die Unabhängigkeit der EZB<br />

und das vorrangige Ziel der Preisstabilität<br />

sind dauerhaft geltende Verfassungsanforderungen<br />

einer Beteiligung Deutschlands<br />

an der Währungsunion.<br />

Gleiches gilt für das unionsrechtliche<br />

Verbot des unmittelbaren Erwerbs von<br />

Schuldtiteln öffentlicher Einrichtungen<br />

durch die EZB und das Verbot der Haftungsübernahme<br />

(bail out) für die Schulden<br />

anderer Staaten. Alle diese Vorschriften<br />

des Unionsrechts – wie gesagt: nach<br />

deutschem Verfassungsrecht unabdingbare<br />

Voraussetzungen der Zugehörigkeit<br />

Deutschlands zur Währungsunion – werden<br />

seit Jahren teils offen, teils listenreich<br />

gebrochen oder umgangen, was natürlich<br />

auch Zweifel daran nährt, ob die Verantwortlichen<br />

sich künftig rechts treu verhalten<br />

werden.<br />

Der ESM-Vertrag markiert, wie man<br />

gesagt hat, einen währungsrechtlichen<br />

Richtungswechsel, indem er die bisherigen,<br />

als vorübergehend bezeichneten Stützungsmaßnahmen<br />

ersetzt durch eine dauerhaft<br />

vertraglich gesicherte Erwartung der<br />

Schuldnerländer auf finanzielle Hilfen derjenigen,<br />

die solide gewirtschaftet haben:<br />

Die Vergemeinschaftung der Schulden ist<br />

auf den Weg gebracht. Zwar ist der ESM-<br />

Vertrag mit verfassungsändernder Mehrheit<br />

beschlossen worden. Das Bundesverfassungsgericht<br />

wird aber gleichwohl die<br />

Frage beantworten müssen, ob der mit dem<br />

beschriebenen Systembruch bewirkte Austausch<br />

der Geschäftsgrundlage der Währungsunion<br />

nicht an den unabänderlichen<br />

Kern des Grundgesetzes rührt.<br />

Hans Hugo Klein<br />

war von 1983 bis 1996 Richter<br />

am Bundesverfassungsgericht<br />

und von 1972 bis 1983 Bundestagsabgeordneter<br />

der CDU<br />

»Wer nicht mehr will, als er kann,<br />

bleibt unter seinem Können.«<br />

Herbert Marcuse, Philosoph, 1898 – 1979<br />

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9.2012 <strong>Cicero</strong> 97


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Streit beim Panzerbauer<br />

Bei Krauss-Maffei Wegmann liegen die beiden Eignerfamilien im Zwist über<br />

Panzerlieferungen in den Nahen Osten – ein Blick hinter die Kulissen<br />

von Hauke Friederichs<br />

D<br />

eutschlands wichtigster Panzerbauer<br />

lässt sich öffentlich<br />

feiern – ein Ereignis mit Seltenheitswert.<br />

An einem Sommertag<br />

im August 2007 erhält<br />

Manfred Bode, Aufsichtsratschef von<br />

Krauss-Maffei Wegmann (KMW), im<br />

Stadtschloss Palais Bellevue in Kassel das<br />

„Verdienstkreuz am Bande“ der Bundesrepublik<br />

– die höchste Anerkennung, die<br />

Deutschland für Verdienste um das Gemeinwohl<br />

vergibt.<br />

Fotos zeigen Manfred Bode während<br />

der Feier entspannt lächelnd. Zu sehen<br />

ist ein schlanker, mittelgroßer Mann mit<br />

ergrautem Haar und Seitenscheitel. Er<br />

trägt eine Brille mit dünnem Gestell. Es<br />

sind fast die einzigen Aufnahmen, die von<br />

Manfred Bode zu finden sind. „Ich habe<br />

mich gewundert, dass er den Orden überhaupt<br />

angenommen hat, das ist schließlich<br />

mit Öffentlichkeit verbunden“, sagt<br />

ein Bekannter der Familie. Bode scheue<br />

das Rampenlicht sehr, er wirke lieber im<br />

Verborgenen.<br />

In der Öffentlichkeit ist Bode weitgehend<br />

unbekannt, obwohl er seit 1979 bei<br />

KMW die Zügel in der Hand hält. Die<br />

Firma wird weltweit für ihre Waffensysteme<br />

geschätzt: Die Kampfpanzer Leopard<br />

1 und 2 sowie die geschützten Transportfahrzeuge<br />

Fennek und Dingo sind im<br />

Ausland äußerst begehrt.<br />

Der Geehrte wirkt im Stillen. „Ein<br />

Schattenmann“ sei Bode, stellt das Wirtschaftsmagazin<br />

Capital fest, „ein Strippenzieher,<br />

vernetzt bis in höchste politische<br />

Kreise“. Das Phantom wird er genannt.<br />

Bode veröffentlicht kaum Zahlen<br />

über sein Unternehmen. Er scheue die<br />

Aufnahme von Krediten, um Banken keinen<br />

Einfluss auf seine Firma zu geben und<br />

weist bisher alle fremden Investoren ab.<br />

Auch das Loben überlässt er anderen.<br />

Im Stadtpalais hält Kassels Oberbürgermeister<br />

Bertram Hilgen vor fünf Jahren<br />

die Laudatio: „Sie haben mit Ihrem weitreichenden<br />

unternehmerischen Sachverstand<br />

das Unternehmen KMW nicht nur<br />

ausgesprochen erfolgreich geführt, sondern<br />

zugleich durch konsequente Entwicklung<br />

und Forschung mit einzigartigen Kernfähigkeiten<br />

und dem derzeit umfangreichsten<br />

Portfolio der europäischen Heerestechnik<br />

ausgestattet“, sagt das Stadtoberhaupt.<br />

Im Dezember 1969 ist Bode in die Firma<br />

Wegmann eingetreten. Zehn Jahre später<br />

wird er Vorsitzender der Geschäftsführung.<br />

Heute leitet Manfred Bode den Aufsichtsrat<br />

der Wegmann-Gruppe. Ein Leben<br />

für den Panzerbau.<br />

Auch privat interessiert<br />

sich Bode, heute 71,<br />

für Motoren und Waffen.<br />

Bode mag alte Rennwagen.<br />

Er soll eine Oldtimer-Sammlung<br />

haben,<br />

dazu zähle ein gelber Lotus<br />

Elite, den er selber auf<br />

Rennen fährt. Bode gehe zudem<br />

gerne jagen, erzählt der<br />

Bekannte. Selbst mit Freunden<br />

habe er kaum über Geschäfte<br />

gesprochen und sei ein eher<br />

zurückhaltender Typ.<br />

In der generell verschwiegenen<br />

deutschen Rüstungsindustrie<br />

gelten Bode und seine Firma Krauss-<br />

Maffei Wegmann als besonders still<br />

und öffentlichkeitsscheu. Das Werk in Kassel<br />

ist für Ortsfremde kaum zu finden. Namenszüge<br />

oder Fahnen mit dem Firmenlogo,<br />

den Buchstaben KMW, sind dort<br />

nirgends zu entdecken.<br />

Journalisten erhalten bei KMW kaum<br />

Informationen. Auch Anfragen von <strong>Cicero</strong><br />

zu aktuellen Rüstungsdeals beantwortet<br />

der selbst ernannte<br />

„Marktführer in Europa<br />

für hochgeschützte Radund<br />

Kettenfahrzeuge“<br />

nicht. Transparenz<br />

schade dem Geschäft,<br />

so heißt es<br />

bei Krauss-Maffei<br />

Wegmann, berichtet<br />

ein<br />

98 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Der Leopard 2 ist überall gefragt. Wegen<br />

europäischer Sparzwänge bemüht sich<br />

KMW intensiv um arabische Kunden<br />

Insider. „Die Tradition dieser Firma ist,<br />

dass Öffentlichkeit des Teufels ist“, sagt<br />

auch Burkhart von Braunbehrens, einer<br />

der Anteilseigner und bis vor kurzem<br />

Aufsichtsratsmitglied beim Panzerbauer.<br />

Er hat mit dieser 170-jährigen Tradition<br />

gebrochen. Erstmals sucht ein KMW-<br />

Gesellschafter die Öffentlichkeit – sehr<br />

zum Ärger von Manfred Bode, heißt es in<br />

Unternehmenskreisen.<br />

„Die strikte Geheimhaltungspraxis von<br />

KMW finde ich lächerlich, die wird aus<br />

Angst vor Konkurrenten wie Rheinmetall<br />

ins Absurde getrieben“, sagt Braunbehrens.<br />

Das Schweigen schade der Firma und der<br />

ganzen Rüstungsindustrie. „Denn so begibt<br />

die Branche sich unter den Generalverdacht,<br />

dass sie schmutzige Geschäfte<br />

mache.“ Bislang konnte er sich mit seiner<br />

Forderung nach mehr Transparenz bei<br />

KMW nicht durchsetzen. „Im Aufsichtsrat<br />

der Firma war es mir nicht<br />

möglich, über Rüstungsexporte<br />

nach Saudi-<br />

Arabien, Katar oder<br />

an andere Länder<br />

vernünftig zu<br />

sprechen“, sagt<br />

Braunbehrens.<br />

Generell wird über<br />

Waffenausfuhren<br />

bei KMW nicht offen gesprochen, bestätigt<br />

ein Mitarbeiter.<br />

Dabei hätte KMW in den vergangenen<br />

Monaten durchaus wirtschaftliche Erfolge<br />

vermelden können: In Saudi-Arabien steht<br />

das Unternehmen vor einem Vertragsabschluss<br />

über den Export von mindestens<br />

270 Kampfpanzern. Ein Leopard 2 wurde<br />

im Juli in Saudi-Arabien erprobt. In Katar<br />

sollen Firmenvertreter über eine Bestellung<br />

von 200 Leopard 2 und weiterer Waffensysteme<br />

von KMW gesprochen haben.<br />

Der Umfang des Katar-Geschäfts stelle<br />

den Panzerdeal mit Saudi-Arabien in den<br />

Schatten, heißt es im Umfeld von KMW.<br />

Katar solle nicht nur an Panzern interessiert<br />

sein. In den Vereinigten Arabischen<br />

Emiraten fand 2011 ein erfolgreicher Wüstentest<br />

des Leopard 2 statt. Es geht um<br />

Milliardenaufträge. Und es gibt, so ist es<br />

aus dem Umfeld von KMW zu hören, in<br />

Saudi-Arabien außerdem noch Interesse an<br />

dem geschützten Transportfahrzeug Dingo.<br />

Den gepanzerten Jeep nennt KMW einen<br />

Lebensretter, weil noch kein deutscher Soldat<br />

darin in Afghanistan gestorben sei.<br />

Jahrzehntelang hat KMW vor allem<br />

die Bundeswehr und Nato-Staaten beliefert.<br />

Nun sucht KMW neue Abnehmer.<br />

„Grundsätzlich stehen wir vor der Herausforderung,<br />

dass in den kommenden Jahren<br />

bei allen unseren europäischen Kunden gespart<br />

werden muss“, stellt der Geschäftsführer<br />

Frank Haun in der KMW-Mitarbeiterzeitung<br />

Leo Inside fest. „Für<br />

uns bedeutet das zweierlei: Erstens,<br />

dass wir unsere Internationalisierung<br />

weiter vorantreiben,<br />

und zweitens,<br />

dass wir neue Marktsegmente<br />

erschließen.“<br />

Nicht allen Gesellschaftern<br />

und Mitarbeitern<br />

passen dieser neue<br />

Kurs des Unternehmens<br />

und die Ausrichtung auf<br />

neue Märkte im Nahen und<br />

Mittleren Osten. Braunbehrens<br />

hat sich zum Wortführer<br />

der Gegner des Strategiewechsels<br />

aufgeschwungen.<br />

Er glaube zwar nicht, dass<br />

Saudi-Arabien den Leopard<br />

gegen Demonstranten einsetzen<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 99


| K a p i t a l | W a f f e n g e s c h ä f t e<br />

werde – dennoch lehnt Braunbehrens den<br />

Deal mit Riad ab: „Panzer zu liefern, ist<br />

ein falsches politisches Signal, gegenüber<br />

dem arabischen Frühling und nach dem<br />

Einmarsch der Saudis in Bahrain. Es muss<br />

als feindlicher Akt gegen die arabische Demokratiebewegung<br />

verstanden werden.“<br />

Nachdem Burkhart von Braunbehrens öffentlich<br />

das Geschäft mit den Saudis kritisiert<br />

hatte, wurde er am 5. Juni 2012 aus<br />

dem Aufsichtsrat der Krauss-Maffei Wegmann<br />

Verwaltungs GmbH abberufen. Damit<br />

scheint der Konflikt unter den Gesellschaftern<br />

aber nicht beigelegt zu sein.<br />

38 Kommanditisten sind an der Holding<br />

beteiligt. Laut einer Berechnung von<br />

Rüstungsgegnern sollen die Braunbehrens<br />

zusammen etwas mehr als die Hälfte der<br />

Wegmann-Holding halten. Dennoch sei<br />

es Manfred Bode immer wieder gelungen,<br />

Mehrheiten zu organisieren – zuletzt aber<br />

mit größerer Mühe als früher, berichtet ein<br />

Insider. Er spricht von „Verhärtungen im<br />

Gesellschaftsrat“. Es habe Konflikte zwischen<br />

den Braunbehrens und den Bodes<br />

über den Unternehmenskurs gegeben –<br />

aber auch innerhalb der einzelnen Familien.<br />

Untereinander herrsche großes Misstrauen,<br />

das mit den öffentlichen Äußerungen von<br />

Burkhart von Braunbehrens noch größer<br />

geworden sei.<br />

Die Braunbehrens sind die Nachfahren<br />

der Gründer von Wegmann. Viele ihrer<br />

Familienmitglieder bewegen sich in einem<br />

Umfeld, das der Waffenproduktion<br />

kritisch gegenübersteht. Zum Braunbehrens-Klan<br />

gehören Künstler, ein Mozart-<br />

Biograf, Therapeuten, Humanisten. Ihre<br />

Lebensläufe passen einfach nicht zu Waffenproduzenten,<br />

allen voran die Vita von<br />

Burkhart von Braunbehrens. Er war Kommunist,<br />

Vietnamkriegsgegner und aktives<br />

Mitglied der Studentenbewegung. „Meine<br />

Familie war mit der unmittelbaren Geschäftsführung<br />

nie befasst“, sagt Burkhart<br />

von Braunbehrens. „Die Bodes haben stets<br />

die Firma geleitet. Die Braunbehrens erwägen<br />

seit langem, sich von den Anteilen zu<br />

trennen. Das ist innerhalb der Gesellschaft<br />

aber kaum möglich.“ Mit einer komplizierten<br />

Firmenstruktur und den umständlich<br />

geregelten Verkaufsmöglichkeiten von<br />

Anteilen haben die Bodes und die Braunbehrens<br />

sich aneinandergekettet. Als besonders<br />

innig kann diese Partnerschaft nicht<br />

bezeichnet werden. Insider berichten über<br />

Ein Leben für den Panzerbau: Manfred<br />

Bode hält seit drei Jahrzehnten die<br />

Zügel bei KMW fest in der Hand<br />

KMW-Gesellschafter Burkhart von<br />

Braunbehrens ist gegen Panzerlieferungen<br />

nach Saudi-Arabien und Katar<br />

einen Machtkampf, der nun erstmals teilweise<br />

öffentlich ausgetragen wird.<br />

In E-Mails und Briefen an Bekannte<br />

versicherten einige Braunbehrens, wenig<br />

Einfluss auf den Kurs des Unternehmens<br />

ausüben zu können, und lediglich<br />

stille Teilhaber zu sein. Darin stand auch,<br />

dass Familienmitglieder mit dem Kunden<br />

Saudi-Arabien nicht glücklich seien. Und<br />

dass die Braunbehrens erst aus den Medien<br />

von dem Deal erfahren hätten – nicht von<br />

der KMW-Führung. Von den Bodes gibt<br />

es dazu keine Stellungnahme.<br />

Sie bestimmen seit 1912 das Geschäft<br />

bei Wegmann & Co. Damals wurde der<br />

Ingenieur August Bode Geschäftsführer<br />

und drei Jahre später persönlich haftender<br />

Gesellschafter des damaligen<br />

Eisenbahnwaggonbauers. Unter seiner<br />

Geschäftsleitung gewann die Rüstungsproduktion<br />

eine immer stärkere Bedeutung<br />

– früh stieg das Unternehmen in die<br />

Panzerfertigung ein. 1917, zum Ende des<br />

Ersten Weltkriegs, stellte Wegmann den<br />

ersten deutschen Panzer, den „Großkampfwagen<br />

Kolossal“, her. Als die Nazis mit der<br />

Wiederaufrüstung des Deutschen Reiches<br />

begannen und Panzerbauer suchten, war<br />

August Bode sofort zur Stelle. Für die<br />

Wehrmacht liefen bei Wegmann in Kassel<br />

Hunderte Panzer vom Band. Während<br />

des Zweiten Weltkriegs wurde dort der<br />

schwere Kampfpanzer Tiger gebaut. Die<br />

Tradition mit den Tiernamen hat man bis<br />

heute beibehalten.<br />

August Bode trat 1937 in die NSDAP<br />

ein und erhielt später Auszeichnungen<br />

wie das „goldene Treuedienstehrenzeichen“<br />

und „Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse ohne<br />

Schwerter“. Nach dem Krieg wurden er<br />

und seine beiden Söhne Engelhard und<br />

Fritz, Mitglieder der SS ehrenhalber, nur<br />

zur Zahlung einer geringen Geldstrafe verurteilt<br />

und führten die Geschäfte weiter.<br />

Mit der Wiederbewaffnung Westdeutschlands<br />

1955 stieg Wegmann wieder ins Panzergeschäft<br />

ein.<br />

Manfred Bode, der Enkel von August,<br />

fusionierte Wegmann im Jahr 1999 mit<br />

Krauss-Maffei Wehrtechnik, einer Tochter<br />

von Mannesmann. Die Wegmann-Holding<br />

erhielt 51 Prozent an KMW, Mannesmann<br />

49. Später übernahm Siemens die<br />

Anteile von Mannesmann. Manfred Bode<br />

blieb Chef. Er fädelte zehn Jahre später<br />

auch die komplette Übernahme von KMW<br />

durch die Familienholding ein, als Siemens<br />

beschloss, sich vom Rüstungsgeschäft zu<br />

trennen: Für einen geschätzten Kaufpreis<br />

von rund 200 Millionen Euro übernahm<br />

Wegmann im Dezember 2010 die Anteile<br />

von Siemens. Seitdem veröffentlicht KMW<br />

kaum noch Geschäftszahlen. Die letzten<br />

Umsatzzahlen, die per Pressemitteilung<br />

genannt wurden, sind von 2008. In dem<br />

Jahr machte der Panzerbauer 1,4 Milliarden<br />

Euro Umsatz. Ein Jahr später – so steht<br />

es in dem im Bundesanzeiger veröffentlichten<br />

Geschäftsbericht von 2010, waren es<br />

898 Millionen Euro. Neuere Zahlen gibt es<br />

nicht. Bekannt ist aber, dass das Auslandsgeschäft<br />

eine große Rolle spielt: In manchem<br />

Jahr gehen mehr als 70 Prozent der<br />

Produktion in den Export – wohin KMW<br />

liefert, wird selten öffentlich.<br />

Fotos: Thomas Imo/Photothek.net (Seiten 98 bis 99), Tobias Hase/Picture Alliance/DPA, ZDF<br />

100 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Foto: Hannah Schuh/Arne Mayntz (Autor)<br />

Selbst die Panzergeschäfte mit dem<br />

klammen Griechenland, das trotz leerer<br />

Kassen für Milliarden Euro Leoparden<br />

bestellte, machten kaum Schlagzeilen.<br />

Bode soll dabei persönlich in Athen<br />

für die Produkte seiner Firma geworben<br />

haben. „Dass wir mit deutschen Steuergeldern<br />

den Griechen die KMW-Panzer<br />

bezahlen, zeigt doch, dass den Deutschen<br />

alles egal ist“, sagt ein Mitarbeiter des Panzerbauers.<br />

Auch die anstehenden Geschäfte<br />

mit arabischen Staaten findet mancher Angestellte<br />

problematisch. „Die Deals verlagern<br />

sich einfach in die Länder, die noch<br />

flüssig sind und die glauben, mit Panzern<br />

was regeln zu können“, sagt ein Mitarbeiter.<br />

Intern sei bekannt, dass sich die Chefs<br />

intensiv um arabische Kunden bemühten.<br />

Wer dagegen die sporadisch herausgegebenen<br />

Pressemitteilungen des Unternehmens<br />

liest, muss davon ausgehen, dass<br />

der wichtigste KMW-Kunde die Bundeswehr<br />

ist: „Der Leopard 2A7+ wurde für die<br />

neuen Aufgaben der Bundeswehr entwickelt<br />

und qualifiziert. Die auf den Schutz<br />

der Fahrzeugbesatzung optimierten Systemkomponenten<br />

bewähren sich derzeit<br />

im Afghanistaneinsatz mit dem Nato-Partner<br />

Kanada.“ Dabei hat die Bundeswehr<br />

kein einziges Modell des neuen Leopard<br />

2A7+ gekauft, weil es an Geld und dem<br />

Bedarf fehlt. Deutschland will künftig mit<br />

225 Exemplaren auskommen – 1990 waren<br />

es noch fast zehnmal so viele.<br />

KMW sucht deswegen weltweit potente<br />

Kunden. Das Münchner Unternehmen<br />

baute in den vergangenen beiden Jahren<br />

in Singapur ein Büro für Asien auf und<br />

gründete in Indien ein Joint Venture. Diese<br />

Aktivitäten und die insgesamt intransparenten<br />

Geschäfte der Firma sorgen in<br />

Deutschland immer häufiger für Proteste.<br />

Für Aufsehen sorgte im Sommer 2012<br />

die Kampagne „25 000 Euro“, die ein<br />

symbolisches Kopfgeld auf die Eigner von<br />

Krauss-Maffei Wegmann ausgelobt hatte.<br />

Die Aktion ging aufs Konto des „Zentrums<br />

für Politische Schönheit“ aus Berlin, einem<br />

Zusammenschluss von Künstlern und Menschenrechtsaktivisten.<br />

Mittlerweile haben<br />

sich mehrere Mitglieder der Familie Braunbehrens<br />

juristisch gegen das Projekt gewehrt.<br />

Aber längst haben andere Gruppen den<br />

Protest mit zweifelhaften Methoden fortgeführt<br />

und veröffentlichen im Internet die<br />

Namen der Mitarbeiter des Panzerbauers.<br />

Die Bundeswehr hat kein<br />

einziges Modell des neuen<br />

Leopard gekauft, weil es an Geld<br />

und dem Bedarf fehlt<br />

Das sorge im Unternehmen für Unruhe,<br />

sagt jemand aus dem Umkreis der Firma.<br />

Organisationen wie die „Aktion Aufschrei“,<br />

ein Bündnis von Menschenrechtlern, Rüstungsgegnern<br />

und Friedensbewegung, haben<br />

im August zu „Hausbesuchen“ bei<br />

KMW in Kassel und München aufgerufen.<br />

Und nun scheint mit Katar der nächste<br />

umstrittene Kunde festzustehen. KMW<br />

äußert sich zu diesem Thema nicht – ganz<br />

anders die Bundesregierung, die jeden Export<br />

von Kriegswaffen genehmigen muss:<br />

„Bei mir ist angekommen, dass es eine Interessensbekundung<br />

gab, ja“, sagte der stellvertretende<br />

Regierungssprecher Ende Juli<br />

in Berlin in der Bundespressekonferenz zu<br />

der Meldung, Katar wolle 200 Leoparden<br />

kaufen.<br />

Burkhart von Braunbehrens will weiter<br />

die Öffentlichkeit suchen. Er fordert eine<br />

strikte internationale Rüstungskontrolle.<br />

Ein genereller Gegner von Waffenausfuhren<br />

ist er nicht. Der Leopard sei schließlich<br />

auch für die militärische Begleitung von<br />

Friedensmissionen geeignet. Er fordert eine<br />

Konsolidierung für den deutschen und für<br />

den europäischen Rüstungsmarkt: „Ein<br />

Zusammengehen mit Rheinmetall halte<br />

ich auf lange Sicht für KMW für eine sinnvolle<br />

Option. Die meisten Systeme produzieren<br />

KMW und Rheinmetall sowieso<br />

zusammen“, sagt der Eigner von KMW.<br />

„Bisher sträubt sich die Familie Bode bei<br />

jeder Gelegenheit gegen eine Fusion mit<br />

Rheinmetall.“ Er befürchte, dass es nicht<br />

zu der notwendigen Konsolidierung kommen<br />

wird, „weil der wirtschaftliche Druck<br />

auf KMW fehlt – vor allem, wenn nun<br />

Verträge mit Saudi-Arabien und Katar geschlossen<br />

werden sollten“.<br />

Für Manfred Bode sind solche Forderungen<br />

die reine Provokation. Er hat<br />

eine starke Abneigung gegen Rheinmetall<br />

und sieht im Branchenriesen aus Düsseldorf<br />

die schärfste Konkurrenz. Rheinmetall<br />

soll mehrfach versucht haben, sich an<br />

KMW zu beteiligen. Schließlich bauen<br />

beide Unternehmen gemeinsam den Leopard,<br />

den Schützenpanzer Puma, die Panzerhaubitze<br />

2000 und die neuen gepanzerten<br />

Transportfahrzeuge AMPV und<br />

Boxer. Eine noch engere Kooperation<br />

berge viele Synergieeffekte, heißt es in der<br />

Rüstungsbranche.<br />

Bode jedoch habe kein Interesse an einem<br />

Einstieg von großen Konzernen, die<br />

mitreden wollen, schließlich habe er bereits<br />

den Machtübergang auf die nächste<br />

Generation vorbereitet, heißt es bei KMW-<br />

Kennern. Sein Sohn Felix leitet Wegmann<br />

Automotive, eine Tochter der Wegmann<br />

Unternehmensholding. Der andere Sohn<br />

Stephan führt die Geschäfte von Schleifring<br />

und Apparatebau, ebenfalls eine Firma<br />

der Holding. Beide Söhne leiten mit Haun<br />

zusammen zudem die Holding. Wenn es<br />

nach dem Willen von Manfred Bode gehe,<br />

dann seien Stephan und Felix seine Nachfolger,<br />

sagt ein Insider. Ob die Gesellschafterversammlung<br />

die Geschäfte weiter in<br />

den Händen der Bodes lassen will, sei aber<br />

noch nicht ausgemacht. Noch halte Manfred<br />

Bode die Zügel fest in der Hand, heißt<br />

es. Seine Söhne seien kompetente Unternehmer,<br />

aber keine Machtmenschen wie<br />

der Vater. Spätestens wenn der Patriarch<br />

die Firma aus Altersgründen verlassen wird,<br />

dürfte der Machtkampf mit neuer Leidenschaft<br />

geführt, das Fusionsthema wiederbelebt<br />

werden, nicht zuletzt deswegen, weil die<br />

verkaufswilligen Braunbehrens dann endlich<br />

ihre Anteile loswerden könnten.<br />

Hauke Friederichs<br />

ist freier Journalist. Anfang<br />

September erscheint sein Buch<br />

„Bombengeschäfte – Tod made in<br />

Germany“<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 101


| K a p i t a l | F r i e d e n s p f l i c h t s e i m i t D i r<br />

Verdi geht in die Kirche<br />

Die Gewerkschaft möchte das Sonderarbeitsrecht der 1,2 Millionen Mitarbeiter der Kirchen<br />

kippen. Der Konflikt eskaliert in Niedersachsen – gegen das Interesse vieler Beschäftigter<br />

von Ludwig Greven<br />

V<br />

erdi-Chef Frank Bsirske greift<br />

tief in die Klassenkampfkiste.<br />

„Ihr schreibt Geschichte!“, ruft<br />

er einigen Hundert Angestellten<br />

aus mehreren Kliniken und<br />

anderen Sozialeinrichtungen der evangelischen<br />

Kirche in Hannover zu, die in einen<br />

Warnstreik getreten sind. Schließlich<br />

gehe es hier, proklamiert der Vorsitzende<br />

der Dienstleistungsgewerkschaft, um etwas<br />

sehr Grundsätzliches: das „Menschenrecht<br />

auf Streik“ und das im Grundgesetz geschützte<br />

Grundrecht, Tarifverträge auszuhandeln<br />

– auch für Kirchenmitarbeiter.<br />

Dafür ist Bsirske an diesem Sommertag<br />

extra aus Berlin angereist. Denn es ist<br />

ein besonderer Tarifkonflikt, der seit mehr<br />

als einem Jahr in Niedersachsen als Pilotbezirk<br />

tobt. Es geht nicht nur um viele<br />

potenzielle neue Verdi-Mitglieder. Und<br />

es geht auch nicht nur um ein paar Prozent<br />

mehr Gehalt, sondern um das historische<br />

Sonderrecht der Kirchen, das aus<br />

der Weimarer Verfassung unverändert ins<br />

Grundgesetz übernommen wurde: das<br />

Recht der Kirchen, ihre inneren Angelegenheiten<br />

ohne Einmischung von außen<br />

regeln zu dürfen.<br />

Dieses Selbstbestimmungsrecht beinhaltet<br />

nach Ansicht der evangelischen wie<br />

der katholischen Kirche die Möglichkeit,<br />

als größter Arbeitgeber in Deutschland<br />

Bezahlung und Arbeitsbedingungen ihrer<br />

1,2 Millionen Erzieherinnen, Sozialarbeiter,<br />

Krankenschwestern oder Ärzte in paritätischen<br />

Kommissionen mit Mitarbeitervertretern<br />

direkt auszuhandeln – ohne<br />

Gewerkschaftsbeteiligung. Und vor allem<br />

ohne Streiks. „Mit unserem diakonischen<br />

Auftrag und dem partnerschaftlichen Verhältnis<br />

zu den Mitarbeitern ist ein Arbeitskampf<br />

unvereinbar“, sagt der Hannoveraner<br />

Landesbischof Ralf Meister.<br />

Dieser sogenannte dritte Weg, auf dem<br />

sich die kirchlichen Mitarbeiter und ihre<br />

Dienstherren gleichberechtigt bewegen<br />

sollen, ist Verdi schon lange ein Dorn im<br />

Auge. „Die kirchlichen Unternehmen verhalten<br />

sich genauso wie andere Arbeitgeber“,<br />

sagt Bsirske, „zum Teil behandeln sie<br />

ihre Mitarbeiter noch schlimmer!“ Deshalb<br />

versucht Verdi jetzt in Niedersachsen Tarifverträge<br />

zu erzwingen. Sobald die ersten<br />

Bastionen fallen, kalkuliert Bsirske, ist die<br />

Sonderstellung der kirchlichen Arbeitgeber<br />

bundesweit kaum mehr zu halten. Die Kirchenoberen<br />

beider Konfessionen verfolgen<br />

diesen Stellvertreterkrieg argwöhnisch. In<br />

einem gemeinsamen Positionspapier von<br />

Caritas und Diakonie heißt es dazu: „Der<br />

dritte Weg ermöglicht den Kirchen und<br />

ihren Wohlfahrtsverbänden, die religiöse<br />

Dimension ihres Wirkens nach innen wie<br />

nach außen auch in der Form des Arbeitsrechts<br />

zu leben.“<br />

Tatsächlich bezahlten die Kirchen ihre<br />

Mitarbeiter lange Zeit besser als die nichtkirchlichen<br />

Träger. Seit Mitte der neunziger<br />

Jahre hat aber der Kostendruck auf<br />

alle sozialen Einrichtungen in Deutschland<br />

drastisch zugenommen. Das betrifft auch<br />

die Kirchen, weil sie die Gelder für ihre<br />

Kliniken, Pflegeheime, Jugend- und Sozialhelfer<br />

wie andere Wohlfahrtsverbände<br />

und private Heimbetreiber fast vollständig<br />

von den Sozialkassen und der öffentlichen<br />

Hand erhalten.<br />

Die Konsequenz daraus ist ein teilweise<br />

ruinöser Wettbewerb. Besonders drastisch<br />

ist die Lage in der Altenpflege und hier wiederum<br />

am eklatantesten in Niedersachsen.<br />

Denn die Pflegeversicherungen und die übrigen<br />

öffentlichen und staatlichen Kostenträger<br />

diktieren die Pflegesätze jeweils in<br />

Landeskommissionen. Und in Niedersachsen,<br />

angeführt von der schwarz-gelben Landesregierung,<br />

rühmen sie sich damit, die<br />

niedrigsten Sätze von allen Bundesländern<br />

zu zahlen.<br />

Das hat dazu geführt, dass diakonische<br />

Werke Gehälter gesenkt, Arbeitszeiten<br />

verlängert und Personal abgebaut haben.<br />

Sie beschäftigen jetzt Billigkräfte als<br />

Leiharbeiter oder gliedern Tochterfirmen<br />

aus, für die der Kirchentarif nicht gilt. Bei<br />

Karikatur: Burkhard Mohr<br />

102 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Foto: privat<br />

den Sozialverbänden ist es allerdings teilweise<br />

noch schlimmer. So hat die Arbeiterwohlfahrt<br />

ihren bundesweiten Tarifvertrag<br />

schon vor Jahren gekündigt. Auch hier zahlen<br />

die einzelnen Einrichtungen ihre Mitarbeiter<br />

jetzt je nach Finanzlage und jeweils<br />

geltendem Haustarif. Oder ganz ohne Tarif.<br />

Von den Privaten, die inzwischen in Niedersachsen<br />

60 Prozent der Altenheime betreiben,<br />

ganz zu schweigen.<br />

Die Kirchen sind jedoch Verdis bevorzugtes<br />

Feindbild. Und Bsirske hat sich<br />

bewusst die evangelische vorgenommen.<br />

Anders als die katholische Kirche sind die<br />

Protestanten dezentral organisiert und in<br />

Niedersachsen auch noch in fünf Landeskirchen<br />

aufgeteilt. So kann der Geschäftsführer<br />

jeder diakonischen Einrichtung,<br />

auch wenn er formal an die kirchlichen<br />

Vereinbarungen gebunden ist, faktisch<br />

selber entscheiden, ob er sich daran hält.<br />

Verdi spricht deshalb gezielt Diakonieeinrichtungen<br />

an, in denen die Finanznot und<br />

die Unzufriedenheit der Mitarbeiter besonders<br />

groß sind. Gemeinsam mit der Ärztegewerkschaft<br />

Marburger Bund konnte<br />

man in Oldenburg bereits ein evangelisches<br />

Krankenhaus aus dem kirchlichen Tarifverbund<br />

herausbrechen. Die Klinik fand<br />

keine Ärzte mehr, weil die woanders mehr<br />

verdienen konnten. Nach wochenlangem<br />

Streik des medizinischen Personals gab die<br />

Klinik leitung schließlich nach und schloss<br />

den ersten Tarifvertrag eines diakonischen<br />

Trägers mit einer Gewerkschaft.<br />

Nach diesem Vorbild versucht Verdi<br />

nun, Haustarifverträge auch in den drei<br />

evangelischen Krankenhäusern in der Landeshauptstadt<br />

zu erzwingen. Ihr Problem<br />

allerdings: Die Streikbereitschaft des Klinikpersonals<br />

ist gering. Bei den Mitarbeitern<br />

von Alten- und Pflegeheimen ist der<br />

Organisationsgrad noch viel niedriger. Nur<br />

wenige der meist weiblichen Teilzeitpflegekräfte<br />

sind in der Gewerkschaft. Und selbst<br />

wenn, können sie die Arbeit nicht niederlegen,<br />

ohne die Versorgung der alten Menschen<br />

zu gefährden.<br />

Die Möglichkeiten der Gewerkschaft,<br />

Druck auf die kirchlichen Arbeitgeber<br />

auszuüben, ist deshalb im Moment gering.<br />

Das bestreitet Verdi-Chef Bsirske auch gar<br />

nicht. Er geht aber davon aus, dass der Unmut<br />

unter den rund 50 000 Diakonie-Beschäftigten<br />

in Niedersachsen wächst, weil<br />

es für die große Mehrheit von ihnen seit<br />

2010 keine Gehaltserhöhung gegeben hat.<br />

Im Frühjahr 2011 scheiterten die Lohnverhandlungen<br />

im Rahmen des dritten Weges.<br />

Bsirske hofft, dass sich die evangelischen<br />

Arbeitgeber spätestens am Ende des Jahres<br />

mit den Mitarbeitervertretern und Verdi an<br />

den Verhandlungstisch setzen. Aufgrund<br />

des erhöhten Wettbewerbsdrucks ist inzwischen<br />

auch bei Kirchenleitung und Diakonie<br />

die Bereitschaft gestiegen, sich auf<br />

einen alten Vorschlag von Verdi einzulassen:<br />

einen Flächentarifvertrag für alle sozialen<br />

Träger in Deutschland, einschließlich<br />

Awo, Deutschem Roten Kreuz und Paritätischem<br />

Wohlfahrtsverband, abzuschließen.<br />

„Das würde den ruinösen Wettbewerb<br />

„Kirchliche<br />

Unternehmen<br />

sind teilweise<br />

schlimmer<br />

als andere“<br />

Frank Bsirske, Verdi-Chef<br />

mit Dumpinglöhnen beenden“, hofft Bischof<br />

Meister.<br />

Zusammen beschäftigen Kirchen und<br />

Wohlfahrtsverbände noch 60 Prozent des<br />

Personals in den Pflegeberufen. Ein bundesweiter<br />

„Tarifvertrag Soziales“ könnte<br />

deshalb von der Bundesregierung für allgemeinverbindlich<br />

erklärt werden und<br />

gälte dann auch für die privatwirtschaftliche<br />

Konkurrenz.<br />

Es gibt aber noch einen Haken aus<br />

Sicht der Gewerkschaft: Die Kirche möchte<br />

den Flächentarifvertrag bisher nur für die<br />

anderen Träger – und ihn dann für sich<br />

übernehmen. Dafür müsste der Bundestag<br />

das Tarifvertragsgesetz ändern. Und die<br />

Kirchenbeschäftigten hätten dann weiterhin<br />

kein Streikrecht. Aus Sicht der Kirche<br />

kein Nachteil: „Streik ist ein Relikt alter Industriekultur<br />

und passt nicht ins 21. Jahrhundert.<br />

Da gibt es heute andere Wege“,<br />

sagt Christoph Künkel, Leiter der Diakonie<br />

Niedersachsen.<br />

So haben sich beide Seiten vorerst ideologisch<br />

eingegraben. Und werfen sich gegenseitig<br />

vor, einen „Machtkampf auf<br />

dem Rücken der Beschäftigten“ auszutragen.<br />

Verdi wolle in Wahrheit nur ihren<br />

Einflussbereich ausdehnen und Mitglieder<br />

gewinnen, argumentieren die Kirchenvertreter.<br />

Tatsächlich hat die Dienstleistungsgewerkschaft<br />

seit ihrer Gründung<br />

eine Million Mitglieder verloren. „Die Kirchen<br />

wollen einen Dammbruch verhindern<br />

und mauern sich ein“, hält Bsirske dagegen<br />

und wirft ihnen bigottes Verhalten vor.<br />

Die Beschäftigten selber werden kaum<br />

gefragt. Lothar Germer, Vorsitzender der<br />

Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeitervertretungen<br />

in der niedersächsischen Diakonie<br />

und Verdi-Mitglied, argumentiert<br />

wie die Gewerkschaft: „Lohnfragen sind<br />

Machtfragen. Ohne Streikrecht haben wir<br />

keine Macht.“ Sabine Meyer, die als Förderlehrerin<br />

in einer großen kirchlichen Jugend-<br />

und Behindertenstiftung in Burgwedel<br />

bei Hannover mit fast 400 Mitarbeitern<br />

arbeitet und die dortigen Kollegen vertritt,<br />

ist dagegen, die Gewerkschaft reinzuholen<br />

und einen Tarifvertrag zu schließen. „Wir<br />

sind mit dem dritten Weg immer gut gefahren.<br />

Die Gehälter sind in Ordnung, die<br />

Mitarbeiter sind zufrieden.“ Sie weiß dabei<br />

die Mehrheit ihrer Kollegen hinter sich.<br />

Ein Ende des Kirchen-Tarifkampfs ist<br />

vorerst nicht zu erwarten. Beide Seiten<br />

warten jetzt erst einmal auf das Bundesarbeitsgericht.<br />

Das will am 20. November<br />

entscheiden, ob die Diakonie-Mitarbeiter<br />

streiken dürfen oder ob die Kirchen sich zu<br />

Recht auf ihre Sonderstellung berufen. Die<br />

unterlegene Seite wird danach vors Bundesverfassungsgericht<br />

ziehen, Verdi will den<br />

Streit notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof<br />

für Menschenrechte tragen.<br />

Hans-Peter Hoppe, Vorsitzender des<br />

Diakonischen Dienstgeberverbands in Niedersachsen,<br />

verzweifelt langsam. Als junger<br />

Pfarrer war er in den achtziger Jahren selber<br />

in der ÖTV, bevor die in Verdi aufging.<br />

„Dass ich als Spät-68er heute als Arbeitgebervertreter<br />

unser Dienstrecht gegen eine<br />

völlige Zersplitterung der Tariflandschaft<br />

verteidigen muss, gegen meine eigene frühere<br />

Gewerkschaft“, stöhnt er, „das hätte<br />

ich mir nie träumen lassen.“<br />

Ludwig Greven<br />

arbeitet als Politikredakteur in<br />

der Online-Redaktion der Zeit<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 103


| S a l o n<br />

Die ganze wahrheit<br />

Wie es Alan Hollinghurst gelingt, das schönste Englisch der Welt zu schreiben<br />

von Daniel Schreiber<br />

E<br />

s sind immer die heterosexuellen<br />

Kritiker, die sich um ihre Dosis<br />

schwulen Sex betrogen fühlen“,<br />

amüsiert sich Alan Hollinghurst. Den festen<br />

Bariton seiner Stimme würde man eher<br />

bei einem Wagner-Sänger vermuten als bei<br />

einem Autor von mittlerweile fünf gespenstisch<br />

fein geschliffenen Romanen, die ihm<br />

den Ruf eingebracht haben, von allen lebenden<br />

Schriftstellern das schönste Englisch<br />

zu schreiben – und eben aufsehenerregende<br />

schwule Sexszenen, für die sich selbst<br />

Frauenhelden wie John Updike begeistern<br />

konnten. An Letzterem schien es James<br />

Wood, dem Literaturkritiker des New Yorker,<br />

beim neuen Roman „Des Fremden<br />

Kind“ etwas zu mangeln. Im Vergleich zu<br />

Hollinghursts vorherigen „atemberaubend<br />

fleischlichen“ Büchern, schrieb er in seiner<br />

mehrseitigen Kritik, falle ihm das neue „etwas<br />

zu zahm“ aus.<br />

Wir befinden uns in Hollinghursts<br />

eher schlicht eingerichtetem Townhouse<br />

im Londoner Stadtteil Hampstead Heath,<br />

einem viktorianischen Jahrhundertwendetraum<br />

aus Backstein, weißen Giebeln und<br />

ausladenden Fuchsien. Kate Moss wohnt<br />

ein paar Straßen weiter. Im Treppenhaus<br />

liegen Hunderte von Ausgaben der Übersetzungen<br />

seiner Bücher. Er weiß nicht, wohin<br />

mit ihnen. Die meisten davon sind Exemplare<br />

der „Schönheitslinie“, seinem vor<br />

sieben Jahren erschienenen Booker-Prizegekrönten<br />

Weltbestseller, in dem er ein von<br />

Geld, Kokain und Sex getränktes Sittengemälde<br />

der Thatcher-Ära zeichnete.<br />

58 ist Hollinghurst jetzt; nach den recht<br />

wild durchfeierten achtziger und neunziger<br />

Jahren und einigen längeren Beziehungen<br />

lebt er allein. „Als ich mit dem Schreiben<br />

begonnen habe, war es noch relativ neu, etwas<br />

explizit Schwules zu machen“, sagt er.<br />

„Es hat sich dringend angefühlt.“ In Oxford<br />

besuchte er das gleiche College wie<br />

Oscar Wilde, seine Magisterarbeit schrieb<br />

er über Ronald Firbank und E. M. Forster.<br />

Auch in seiner Arbeit als stellvertretender<br />

Chefredakteur des Times Literary Supplement<br />

setzte er sich für schwule Autoren ein.<br />

„In ‚Des Fremden Kind‘ aber ging es mir<br />

eher um etwas Verstecktes“, sagt er, „darum,<br />

wie manche schwule Beziehungsgeflechte<br />

erst im Laufe der Zeit, manchmal<br />

erst nach Jahrzehnten, zutage treten.“<br />

Gravitationszentrum des knapp 690<br />

Seiten langen Romans ist Cecil Valance,<br />

ein charismatischer Lyriker, der eine Affäre<br />

mit seinem Cambridge-Kommilitonen<br />

George Sawle hat, bevor er im Ersten Weltkrieg<br />

ums Leben kommt. Ein Teil der Figur<br />

ist dem bisexuellen britischen Dichter<br />

Rupert Brooke nachempfunden, den William<br />

Butler Yeats einmal als „den schönsten<br />

Mann Englands“ bezeichnete. Wie Brooke<br />

hat auch Valance egomanische Tendenzen<br />

und ein gepeinigtes Privatleben – Frauen<br />

wie Männer verlieben sich viel zu einfach<br />

in ihn. Auch er schreibt charmante, aber<br />

nicht wirklich gute Lyrik. Und wie bei<br />

Brooke wird auch eines von Valances Gedichten<br />

durch einen adelnden Kommentar<br />

von Winston Churchill zum emblematischen<br />

Text für das seine Söhne verlierende<br />

Weltkriegsengland.<br />

Hollinghurst holt ein Buch mit Briefen<br />

und Fotos von Brooke aus seinem Arbeitszimmer,<br />

das seiner Mutter gehört hatte.<br />

Wie viele war auch er mit dessen Lyrik aufgewachsen.<br />

„Es ist faszinierend, wie lange<br />

es gedauert hat, dass die ganze komplizierte<br />

Wahrheit über ihn ans Tageslicht kam.“<br />

In fünf Kapiteln, deren Handlung sich<br />

über ein Jahrhundert erstreckt, rekonstruiert<br />

Hollinghurst die posthume Heiligsprechung<br />

und das literarische Nachleben seines<br />

Brooke’schen Helden Cecil Valance.<br />

Quasi en passant entstehen dabei ein Panorama<br />

des postimperialen Verfalls des britischen<br />

Weltreichs zu einem prosaischen<br />

Kleinbürgerstaat – und eine Geschichte<br />

der wandelnden sozialen Einstellungen<br />

zur Homosexualität, ihrer Verleugnung<br />

und psychologischen Verdrängung. Das<br />

Ende des Romans taucht in eine schwule<br />

Welt ein, die zumindest auf der Oberfläche<br />

so selbstverständlich daherkommt, als<br />

hätte es die lange Geschichte des Sich-Verstecken-Wollens<br />

und -Müssens nie gegeben.<br />

Nicht nur die Atmosphäre des Romans<br />

und sein eleganter, evokationsfreudiger Ton<br />

erinnern dabei an die großen englischen<br />

Autoren, an Henry James, E. M. Forster<br />

oder Evelyn Waugh, die neben zeitgenössischen<br />

Schriftstellern wie Alice Munro,<br />

Colm Tóibín und Tessa Hadley in den vielen<br />

Bücherregalen in Hollinghursts Townhouse<br />

stehen. Was einem beim Lesen von<br />

„Des Fremden Kind“ vor allem das seltsame<br />

Gefühl gibt, einen Klassiker in der Hand<br />

zu halten, ist Hollinghursts mildes und humoreskes<br />

Auge für die Sittenkomödie, die<br />

das Leben ist: sein Gespür für die moralischen<br />

Komplexitäten des Alltags, die unter<br />

den Gesprächen anwesenden Spannungen,<br />

sein Wissen darum, auf welch fadenscheiniger<br />

Grundlage die meisten von uns Entscheidungen<br />

treffen, die unser ganzes Leben<br />

bestimmen werden.<br />

„Wissen Sie, ich schätze das Alleinsein<br />

sehr“, sagt Hollinghurst zum Ende unseres<br />

Gesprächs. „Es ist nicht einfach, eine<br />

Beziehung mit mir zu führen, besonders<br />

wenn ich schreibe.“ Wenn er arbeitet,<br />

zieht er sich für vier bis fünf Wochen an<br />

den Schreibtisch zurück und bricht jeden<br />

Kontakt zur Außenwelt ab. Dann trinkt er<br />

nicht, spricht mit kaum jemandem, geht<br />

allerhöchstens kurz zum Einkaufen aus<br />

dem Haus. Vielleicht kann man die Welt,<br />

wie sie ist, nur so klar erkennen, wenn man<br />

sich zumindest für eine Zeit ganz von ihr<br />

verabschiedet. Das Opfer lohnt sich in jedem<br />

Fall. „Wenn das Schreiben gut geht“,<br />

sagt er, „bringt es mir ungeheuer viel. Dann<br />

ist es die beste Sache der Welt.“<br />

Daniel Schreiber<br />

leitet den Salon bei <strong>Cicero</strong> und<br />

ist Autor der Biografie „Susan<br />

Sontag. Geist und Glamour“<br />

(Aufbau-Verlag)<br />

Fotos: Andrea Artz, Privat (Autor)<br />

104 <strong>Cicero</strong> 9.2012


„Es sind<br />

immer die<br />

heterosexuellen<br />

Kritiker, die sich<br />

um ihre Dosis<br />

schwulen Sex<br />

betrogen fühlen“<br />

Alan Hollinghurst in London. Sein<br />

neuer Roman „Des Fremden Kind“<br />

erscheint im Blessing-Verlag<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 105


| S a l o n<br />

Lettische Erdbeeren<br />

Elina Garanča, begnadeter Mezzosopran und Opernschönheitskönigin du jour, hat gelernt, sich selbst zu retten<br />

von Eva gesine Baur<br />

E<br />

rst, wer ihr gegenübersitzt, bemerkt,<br />

was ihre Erscheinung ungewöhnlich<br />

macht: zupackende<br />

Hände mit kräftigen Fingern und kurz geschnittenen<br />

Nägeln. Eine große, klare, breite<br />

Stirn. Ein überwacher, forschender Blick.<br />

Sieht so eine romantische Frau aus?<br />

Elīna Garanča, von den Kritikern zur<br />

Schönheitskönigin der Oper hochgejubelt,<br />

hat eine neue CD eingespielt, die „Romantique“<br />

heißt. Sie liebt die Lieder der deutschen<br />

Romantik und hat am Vorabend<br />

unserer Begegnung das bis auf den letzten<br />

Platz gefüllte Münchner Opernhaus mit<br />

leisen Liedern von Robert Schumann in<br />

Aufruhr versetzt.<br />

Das Wesen der Romantik, hat Oscar<br />

Wilde gesagt, sei die Ungewissheit. Es wirkt<br />

jedoch so, als gebe es nichts Ungewisses<br />

bei dieser Mezzosopranistin. Ihr beruflicher<br />

Weg, der in nur zehn Jahren vom Debüt in<br />

Meiningen bis zur Met in New York führte,<br />

scheint eine Autobahn gewesen zu sein, mit<br />

Gewissheit asphaltiert.<br />

Über Garanča wird oft geschrieben,<br />

dass sie alles habe: Timbre, Technik, Charisma,<br />

Musikalität, Darstellungskraft und<br />

besagte Schönheit. Dass die Lettin nordisch<br />

kühl wirkt, passt. Was nicht passt, ist ihr<br />

Eingeständnis, eine professionelle Maske zu<br />

tragen. Auf der Höhe des Weltruhms bebt<br />

sie noch immer vor dem ersten Ton, auf<br />

mancher Gala fühlt sie sich sterbenseinsam.<br />

Hören will das niemand.<br />

Das, was alle hören wollen, gibt sie nur<br />

sehr zögerlich preis: Ihren Ehemann, den<br />

Dirigenten Karel Mark Chichon, erzählt<br />

sie stockend, habe sie bei einer gemeinsamen<br />

Probe in ihrer Heimatstadt Riga kennengelernt.<br />

Er kam zehn Minuten zu spät.<br />

„Und ich war bitterböse.“ Aber als er ihr die<br />

Hand reichte, durchfuhr sie ein Blitz. „Ich<br />

wusste: Das ist ein Mann, den du heiraten<br />

kannst.“ Vor sechs Jahren tat sie das auch,<br />

im vergangenen Jahr wurde die Tochter Catherine<br />

geboren.<br />

In ihrer Heimat habe Romantik viel<br />

mit Wehmut und Sehnsucht zu tun, sagt<br />

Garanča. Im Unabhängigkeitskampf haben<br />

Hunderttausende von Letten bei Demonstrationen<br />

etwas gesungen, was von<br />

den Deutschen ihres Alters kaum mehr<br />

einer kennt: Volkslieder. In Lettland heißt<br />

es, für jeden Letten gebe es ein Volkslied.<br />

Zwei Millionen für zwei Millionen. „Unsere<br />

Volkslieder sind voller Weisheit“, sagt<br />

sie und dreht an ihrem Brillantring. Ihre<br />

Stimme klingt so innig wie am Abend zuvor<br />

bei einem Schumann-Lied. „Aber es<br />

gibt darin auch viel Schmutziges“, strahlt<br />

sie.<br />

Die Hände von Elīna Garanča bewegen<br />

sich wenig, aber energisch. Sie sehen aus,<br />

als könnten sie hart arbeiten. „Ich habe gelernt,<br />

wie viel Erdung mein Beruf verlangt.“<br />

Ihre Großeltern sind Bauern. „Die väterlicherseits<br />

haben sich mehr mit Pferden, die<br />

mütterlicherseits mehr mit Milchwirtschaft<br />

und Fleischproduktion befasst.“ Ferienmachen<br />

hieß für Elina, dort, 200 bis 300 Kilometer<br />

von Riga entfernt, mitten im Wald,<br />

Kühe zu melken, Schweine zu füttern, Unkraut<br />

zu jäten. Und sie melkte, fütterte und<br />

jätete gern. „Ich habe als Kind kapiert, dass<br />

es eine Welt gibt, die sich mit Lebenserhalt<br />

befasst, und eine, die sich mit Kunst<br />

beschäftigt.“ Ihr Vater war Chorleiter, die<br />

Mutter Liedsängerin. „Ich habe Schumanns<br />

‚Frauenliebe und -leben‘ in ihrem<br />

Bauch gehört. Und singe das aus ihren Noten,<br />

in denen ihre handschriftlichen Eintragungen<br />

stehen.“ Oper, die hybrideste aller<br />

Kunstformen, hat für sie nichts mit Abheben<br />

zu tun. Opernsängerin zu werden, lag<br />

so nahe wie das Theater in ihrer Jugend:<br />

direkt gegenüber der Schule. Im Winter,<br />

also die meiste Zeit des Jahres, wechselte sie<br />

nach der letzten Stunde tagtäglich die Straßenseite.<br />

Drüben unterrichtete die Mutter<br />

Schauspieler in Gesang.<br />

In jenen sieben, acht Monaten des Jahres,<br />

in denen es in Lettland finster ist, lebt<br />

Garanča inzwischen unweit von Málaga.<br />

Dort pflanzt sie Tomaten und Zucchini,<br />

düngt Erdbeeren und Rosen. Manchmal<br />

stinken ihre Hände zwei Tage lang nach<br />

Schafscheiße, erzählt sie, und spricht<br />

„Schafscheiße“ so vollendet aus wie „Todesschlaf“<br />

oder „Segensspruch“, wenn sie<br />

Schumann-Lieder singt. Als kleines Mädchen<br />

versuchte sie, auf einer Kuh zu reiten<br />

und Fallschirm zu springen, hielt eine<br />

Decke an vier Zipfeln fest und sprang im<br />

Kuhstall vom höchsten Balken ab. Dass sie<br />

bis zu den Knien im Mist landete, raubte<br />

ihr nicht die Lust an Exkursionen ins Dickicht<br />

der Unvernunft.<br />

Aber gibt es auch etwas Zerbrechliches<br />

hinter dieser starken Garanča? Steigen<br />

Ängste auf hinter der glatten Stirn? „Im<br />

Dunkeln verfüge ich über einen Wahrnehmungsradius<br />

von 360 Grad. Weil ich Angst<br />

habe vor der Dunkelheit“, sagt sie. Als sie<br />

mir erklärt, woher diese Angst kommt,<br />

schaut sie auf den Boden. Und als sie mich<br />

zum Schluss bittet, das nicht zu schreiben,<br />

ist ihre Stimme 30 Jahre jünger als sie selbst.<br />

Psychologin zu werden, könnte sie sich<br />

vorstellen. Sie interessiert brennend, was<br />

Menschen zu unvernünftigen Handlungen<br />

verleitet. Vor allem aber interessiert<br />

sie, welche Überlebensinstinkte wach werden,<br />

wenn Menschen in eine unerwartete<br />

Situation geraten. In Opern wollen Frauen<br />

meist gerettet werden, und üblicherweise<br />

kommt die Rettung zu spät. Elīna Garanča<br />

rettet sich in ihrem Dasein lieber selbst und<br />

rechtzeitig.<br />

Kürzlich wurde ihr angeboten, erstmals<br />

ein neu komponiertes, hochgelobtes Werk<br />

zu singen. Es handelte von einer Mutter,<br />

die im Tsunami ihr Kind verlor. Da war<br />

gerade ihre Tochter zur Welt gekommen.<br />

„Ich habe abgelehnt“, sagt sie. Stattdessen<br />

hat sie ganz privat eine Ersteinspielung produziert:<br />

lettische Volkslieder. Wiegenlieder<br />

für Catherine, wenn ihre Mama auf Tournee<br />

ist. Perfekt maskiert.<br />

Eva Gesine Baur<br />

schreibt Biografien und Romane,<br />

die von Musik handeln. Zuletzt<br />

erschien ihr Buch über „Emanuel<br />

Schikaneder“ (C. H. Beck)<br />

Fotos: Felix Broede, Privat (Autorin)<br />

106 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Bebt, auch wenn es<br />

niemand hören will,<br />

auf der Höhe ihres<br />

Weltruhms immer<br />

noch vor dem ersten<br />

Ton: Elīna Garanča<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 107


| S a l o n<br />

Über Vampirbücher und<br />

virtuellen Sex<br />

Wie Andrew Wylie, der berühmteste Literaturagent der Welt, gegen den Untergang der Hochkultur kämpft<br />

von Huberta von Voss<br />

V<br />

ielleicht räkelte sich Hampton,<br />

die Ladenkatze, gerade auf der<br />

Holztheke neben der antiken Registrierkasse,<br />

als Andrew Wylie die bimmelnde<br />

Tür des Corner Bookstore nach<br />

einem Lauf im Central Park öffnete. Vielleicht<br />

brauste gerade der Bus M3 auf der<br />

Madison Avenue auf dem Weg nach Harlem<br />

vorbei. Vielleicht war wieder mal<br />

kein Vogel im Central Park zu hören gewesen,<br />

nur das Rauschen des Verkehrs, das<br />

Klicken der Touristenkameras und das<br />

dumpfe Wummern der iPods der anderen<br />

Jogger. Man findet alles in Manhattan, nur<br />

keine Stille. Es sei denn, man sucht Zuflucht<br />

an der Ecke der 93. Straße in dieser<br />

kleinen Kathedrale der guten Literatur,<br />

in der Frank McCourt erstmals „Die<br />

Asche meiner Mutter“ vorstellte und das<br />

Geräusch der Sohlen auf dem alten rotgrauen<br />

Terrazzoboden zu leisen Schritten<br />

gemahnt.<br />

Wylies Blick fiel auf „Vertigo“, die erste<br />

Übersetzung von W. G. Sebalds Erzählungsband<br />

„Schwindel. Gefühle“. „Ist literarische<br />

Größe noch möglich?“, fragt da Susan<br />

Sontag rhetorisch auf dem Einband. „Ich<br />

hatte kein Geld dabei, aber nahm das Buch<br />

mit und rief Susan an“, erinnert sich Wylie.<br />

Sontag geriet ins Schwärmen. „Okay“,<br />

sagte ich. „Ich werde duschen, gehe das<br />

Buch bezahlen und lese es dann. Nachdem<br />

ich durch war, habe ich sie direkt danach<br />

wieder angerufen und gesagt ‚Mein Gott,<br />

Susan, das ist großartige Literatur!‘“ Wylie<br />

besorgte sich Sebalds Nummer und beschloss,<br />

ihn weltweit berühmt zu machen.<br />

Wenig später fuhr er mit dem Zug ins ostenglische<br />

Norwich und besiegelte die Zusammenarbeit<br />

wie üblich per Handschlag.<br />

Bald verband Andrew und Max, wie Sebald<br />

von Freunden genannt wurde, eine innige<br />

Freundschaft.<br />

Wenn Wylie einen Autor gewinnen<br />

will, reist er an und spielt notfalls über die<br />

Bande. „Er ist ein meisterhafter Stratege“,<br />

sagt der Autor George Prochnik. So hat<br />

Wylie einst die Kooperation mit der früheren<br />

pakistanischen Politikone Benazir<br />

Bhutto als Köder ausgeworfen, um Salman<br />

Rushdie für seine Agentur zu gewinnen.<br />

Kaum ein Agent verfügt über derart<br />

solide internationale Verlagskontakte von<br />

Nordamerika und Europa bis nach Japan,<br />

China und in die arabische Welt. Seit der<br />

Harvard-Absolvent und Sohn einer wohlhabenden<br />

Bostoner Familie nach wilden<br />

Jahren als bärtiger Taxifahrer und Partygast<br />

von Andy Warhol 1980 die Wylie Agency<br />

gründete, hat er sein Netzwerk aus Autoren<br />

und Verlegern, Chefredakteuren und<br />

Rezensenten unermüdlich ausgebaut. Wer<br />

von Wylie vertreten wird, hat gute Chancen,<br />

in New York und London besprochen<br />

und bis nach Karachi gelesen zu werden.<br />

Sebalds Roman „Austerlitz“ wurde von der<br />

New York Times zu einem der zehn wichtigsten<br />

Bücher des Jahres gewählt und<br />

ein weltweiter Erfolg. „Mein letztes Buch<br />

wurde von Wylies Agentur nach Südkorea<br />

und Katar verkauft“, sagt Prochnik. „Kein<br />

anderer meiner Agenten hat diese Märkte<br />

vorher auch nur für relevant gehalten, geschweige<br />

denn Verbindungen dorthin aufgebaut.“<br />

Für die Autoren summieren sich<br />

diese internationalen Verkäufe.<br />

Wie im Corner Bookstore herrscht auch<br />

in Wylies New Yorker Büro in der Nähe<br />

von Broadway und Carnegie Hall eine fast<br />

schon gespenstische, weltabgewandte Ruhe.<br />

Es würde einen nicht wundern, wenn Wylie<br />

statt elegantem Maßanzug einen weißen<br />

Kittel trüge, um in seinem Chemielabor<br />

ungestört von dem Getöse der Bestsellerlisten<br />

die Essenz der Weltliteratur zu destillieren.<br />

Es ist Mittwochnachmittag, die<br />

drückende Hitze Manhattans wird sich in<br />

wenigen Minuten in einem heftigen Sommersturm<br />

entladen. 18 Mitarbeiter in kleinen<br />

Büros und Arbeitsnischen beschäftigen<br />

sich hier nahezu geräuschlos mit ihren Manuskripten,<br />

umgeben von Tausenden von<br />

Erstausgaben ihrer Autoren. Niemand<br />

spricht, niemand blickt auf, als der Chef<br />

mit festem Schritt vorbeieilt. Ein Mitarbeiter<br />

isst ein Reisgericht aus einer Aluschale<br />

und brütet über einem Balkendiagramm.<br />

Zu den Geschäftspraktiken der Agentur<br />

gehören Zahlen und Präzision: Wie hoch<br />

schätzt man das Potenzial eines Buches ein,<br />

welche zusätzlichen Märkte könnte man<br />

dafür noch erobern? Wie viel Vorschuss<br />

kann man einem Verlag abhandeln?<br />

Wylie nimmt auf einem Sessel Platz,<br />

schlägt die Beine übereinander und beobachtet<br />

mich auf dem dunkelblauen Sofa.<br />

Die eigenartige Schräge seiner hellen Augen<br />

geben seinem schmalen Kopf etwas Raubkatzenhaftes.<br />

Seit er 1995 Martin <strong>Am</strong>is von<br />

dessen langjähriger Agentin Pat Kavanagh,<br />

der Frau des britischen Schriftstellers Julian<br />

Barnes, abwarb, haftet ihm der Spitzname<br />

„Schakal“ an. Dabei handelt Wylie weniger<br />

wie ein aasfressender Wildhund, sondern<br />

eher wie ein Gepard, von dem man sagt, er<br />

beobachte seine Beute lange im Verborgenen,<br />

bevor er zugreife. „Oft stellen wir fest,<br />

dass ein Autor von sieben internationalen<br />

Verlagen gedruckt wird, die allesamt für ihren<br />

schlechten Geschmack und ihr mangelndes<br />

Urteil bekannt sind. Das spart mir<br />

unglaublich viel Zeit, weil ich mir dann die<br />

Werke noch nicht mal anschauen muss“,<br />

meint er trocken. Man tue Autoren keinen<br />

Gefallen damit, ihre Bücher an Joe<br />

Mudpuddle in Sussex zu verkaufen. Mancher<br />

wirft ihm vor, nur etablierten Autoren<br />

zu Ruhm zu verhelfen, dabei findet<br />

man bei der Durchsicht seines 240 Seiten<br />

Foto: Kai Nedden<br />

108 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Andrew Wylie in<br />

seinem New Yorker<br />

Büro. Zu seinen<br />

850 Klienten zählen<br />

Orhan Pamuk,<br />

David Bowie und<br />

Henry Kissinger<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 109


| S a l o n<br />

starken Katalogs eine Reihe von Debütwerken.<br />

Und niemand kann ihm vorwerfen,<br />

sein Geld mit Buchmarkt-Trash oder<br />

billiger Mädelliteratur zu verdienen. „Dieser<br />

Mann hat einen unglaublich guten Geschmack“,<br />

sagt Steve Wasserman, bis vor<br />

kurzem New Yorker Direktor der Konkurrenzagentur<br />

Kneerim & Williams.<br />

Würde er einschlagen, wenn E. L. James,<br />

die alleine in den USA gerade 35 Millionen<br />

Exemplare ihrer Sadomaso-Trilogie<br />

verkauft hat, ihn bäte, ihr Agent zu werden?<br />

Wylie lächelt genüsslich. „Ich würde<br />

ihr sagen, dass ich ihre Arbeit nicht gelesen<br />

habe“, sagt er lang gedehnt und unterdrückt<br />

ein Lachen, „was der Fall ist. Und<br />

dass ich das Gefühl habe, dass wir nach<br />

dem, was ich höre, nicht die richtigen<br />

Agenten für sie wären.“ Vor James bekam<br />

Danielle Steel lange den Spott Wylies ab,<br />

der „kein Interesse an Literatur für frustrierte<br />

Frauen hat“ – es sei denn auf dem literarischen<br />

Niveau von Charlotte Brontës<br />

„Jane Eyre“.<br />

Einen Steinwurf entfernt von Wylies<br />

Agentur sitzt einer seiner wichtigsten Geschäftspartner<br />

in einem raumgreifenden<br />

Büroturm, der die Macht des größten internationalen<br />

Publikumsverlags spiegelt:<br />

Markus Dohle, CEO von Random House,<br />

Verleger von E. L. James, Danielle Steel und<br />

einer beachtlichen Zahl von Wylies Klienten<br />

wie dem vor elf Jahren verstorbenen<br />

W. G. Sebald. Der energische Westfale ist<br />

dieser Tage bestens gelaunt, denn dank<br />

der „Mommy-Porn“-Trilogie und anderer<br />

erfolgreicher Titel läuft das Geschäftsjahr<br />

2012 trotz allgemeiner Krisenstimmung<br />

hervorragend. Im Herbst geht Random<br />

House mit Salman Rushdies Memoiren<br />

„Joseph Anton“ sowie neuen Werken von<br />

John Grisham und Ian McEwan an den<br />

Start. Hinzu kommt der rapide Anstieg der<br />

E‐Book-Verkäufe, mit denen laut Dohle<br />

neue Käuferschichten gewonnen wurden.<br />

So rapide, dass selbst der Zusammenbruch<br />

der amerikanischen Buchhandelskette Borders<br />

mit 700 nun fehlenden Verkaufsstellen<br />

verkraftbar scheint. „Ich werde häufig<br />

gefragt, wie es uns denn mit unserem ‚traditionellen‘<br />

Verlagsmodell geht. Uns geht<br />

es sehr gut, weil wir das Modell modernisiert<br />

haben und weiterentwickeln!“, sagt<br />

der 44-Jährige.<br />

Derweil steht der internationale Buchmarkt<br />

unter Druck: Einerseits soll laut des<br />

Marktforschungsunternehmens Forrester<br />

„Jeder Verleger sollte sich für<br />

W. G. Sebald ruinieren. Stattdessen<br />

machen sie das für E. L. James“<br />

Andrew Wylie<br />

Der Corner Bookstore ist eine New Yorker Institution. Natürlich wird hier auch „Shades of<br />

Grey“ verkauft, berühmt aber ist der Buchladen für sein ausgesuchtes literarisches Sortiment<br />

Research 2015 der Umsatz mit E-Books<br />

in den USA auf ganze drei Milliarden Dollar<br />

klettern. Andererseits hat Jeff Bezos,<br />

Chef des amerikanischen Buchversandriesen<br />

<strong>Am</strong>azon, den Verlagen mit der Einführung<br />

des hauseigenen digitalen Lesegeräts<br />

Kindle und der Gründung eines<br />

eigenen Verlags de facto den Krieg erklärt.<br />

Dass <strong>Am</strong>azon Publishing vom Verlagsurgestein<br />

Larry Kirshbaum, dem früheren<br />

CEO der Time Warner Book Group, geleitet<br />

wird, ist für das Feld der Konkurrenten<br />

keine Beruhigung. „16 von 100 Bestsellern<br />

auf dem Kindle werden heute mit<br />

unserer Hilfe selbst verlegt“, erklärte Bezos<br />

kürzlich stolz dem New-York-Times-Starkolumnisten<br />

Thomas L. Friedman. „Das<br />

bedeutet: kein Agent, kein Verleger, kein<br />

Papier – nur ein Autor, der den Großteil<br />

der Lizenzgebühren bekommt, plus <strong>Am</strong>azon<br />

und Leser.“ Wann immer er die Gelegenheit<br />

hat, trompetet Jeff Bezos: „Weg<br />

mit den Türhütern!“ Die Zukunft des Verlegens<br />

sei digital und demokratisch.<br />

Wylie und Dohle sind da natürlich<br />

gänzlich anderer Meinung. Schon seit langem<br />

halten sie dagegen, dass Buchproduktion<br />

ohne Qualitätskontrolle das Netz verstopfe<br />

wie Schmutz ein Abflussrohr. „Der<br />

einzige Ehrgeiz von <strong>Am</strong>azon ist Größe. Für<br />

die macht es gar keinen Unterschied, ob sie<br />

Hot Dogs verkaufen oder ‚Ulysses‘, solange<br />

es nur 99 Cents kostet“, schnarrt Wylie.<br />

Dass der Internetversand und E-Book-Verleger<br />

seinen Autoren 70 Prozent der Einnahmen<br />

verspricht, sei aufgrund der in den<br />

USA relativ niedrigen Verkaufspreise von<br />

E-Books ohnehin Rosstäuscherei. Wenn er<br />

einen Vorschuss von drei bis vier Dollar<br />

pro Buch auf prospektive 100 000 Printexemplare<br />

aushandle, könne sich der Autor<br />

zwei Jahre zum Schreiben zurückziehen.<br />

Aber wenn man 30 Cents von 100 000<br />

digitalen Exemplaren bekäme, die zu<br />

Foto: ZVG<br />

110 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Foto: Dagmar Morath<br />

Schleuderpreisen auf den Markt geworfen<br />

würden, sei man rasch pleite. „Oder man<br />

arbeitet sieben Jahre bei McDonalds und<br />

schreibt nach Feierabend ‚Ulysses‘ und versucht,<br />

sich nicht aufzuhängen.“<br />

In den Gängen der Verlage geht dennoch<br />

das Gespenst der Autorenautonomie<br />

um. Dohle räumt ein, dass er vor den neuen<br />

Spielern und Marktmodellen großen Respekt<br />

hat. „Wir beobachten und analysieren<br />

die Marktentwicklungen ganz genau.“ Allerdings<br />

bemüht er sich auch darum, den<br />

Hype zu dämpfen. Nur ganz wenigen der<br />

sich selbst online verlegenden Autoren sei<br />

es gelungen, nach oben auszubrechen. Von<br />

denen seien dann zudem durchaus viele zu<br />

klassischen Verlagen gegangen, um satte<br />

Vorschüsse zu kassieren.<br />

So unterzeichnete etwa <strong>Am</strong>anda Hocking,<br />

die mit online selbst veröffentlichten<br />

Vampirromanen berühmt wurde, bei<br />

der amerikanischen Verlagsgruppe Macmillan.<br />

„<strong>Am</strong>anda wer?“, knarzt Wylie mit<br />

hochgezogenen Brauen. „Was fasziniert<br />

Leute überhaupt so an diesen Vampirbüchern?<br />

Ich kann das echt nicht nachvollziehen.“<br />

Überhaupt tummelten sich im Netz<br />

Tausende von „matschbesprengten Schreiberlingen,<br />

die an gnadenloser Selbstüberschätzung<br />

leiden“. „So viele Autoren können<br />

einfach nicht schreiben und glauben<br />

trotzdem, dass jemand einen Haufen Geld<br />

für den von ihnen fabrizierten Müll zahlen<br />

sollte.“ Für Stefan Zweig war die Literatur<br />

der Eingang in eine andere Welt. Wylie<br />

scheint bereit zu sein, diesen Eingang<br />

wie ein Zerberus zu verteidigen.<br />

Random House verfolgt eine andere<br />

Strategie. Auf die Herausforderung der<br />

E-Book-Ära stellt man sich hier nolens, volens<br />

ein. In einem Imagefilm auf seinem<br />

US-Autorenportal präsentiert der Verlagsriese<br />

eine ausgeklügelte Marketingstrategie:<br />

Experten für Social Media, Blogger und<br />

Mundpropagandisten, Analysten digitaler<br />

Entwicklungen, Beobachter der explodierenden<br />

Self-Publishingszene, die gezielt erfolgreiche<br />

Autoren anwerben, Mitarbeiter,<br />

die selbst kreierte Online-Literaturseiten<br />

wie „Suvudu“ oder „Everyday eBook“ bespielen<br />

– sie alle sollen den Autoren des<br />

Hauses und seiner zahlreichen Imprints<br />

die Gewissheit geben, dass die Verlagsmaschine<br />

brummt und man werbe- und vertriebstechnisch<br />

längst im 21. Jahrhundert<br />

angekommen ist. Während das Geschäft<br />

mit den E-Books in Deutschland wegen<br />

der Buchpreisbindung und der damit verbundenen<br />

verhältnismäßig hohen Preise<br />

nur schleppend in Gang kommt, liegt ihr<br />

Umsatzanteil in den USA bei gut 25 Prozent.<br />

„In drei Jahren könnten wir 35 bis<br />

40 Prozent erreichen“, sagt Dohle.<br />

Für Steve Wasserman, mittlerweile<br />

Cheflektor bei der Yale University Press,<br />

bleibt die Zukunft des Verlegens ein Geheimnis.<br />

„Ob Autoren weiter auf traditionellem<br />

Wege veröffentlichen oder ihre<br />

Werke lieber direkt online stellen werden,<br />

ist eine offene Frage. Wie sie beantwortet<br />

wird, ist der Kern der aktuellen Auseinandersetzung<br />

zwischen <strong>Am</strong>azon und traditionellen<br />

Verlegern“, schrieb er unlängst in der<br />

amerikanischen Wochenzeitschrift The Nation.<br />

Den Unterschied zwischen E-Books<br />

und Printausgaben beschreibt er in unserem<br />

Gespräch so: „Das ist wie virtueller<br />

und echter Sex. Jeder weiß, dass echter Sex<br />

besser ist, aber für den virtuellen gibt es<br />

trotzdem einen großen Markt.“<br />

Andrew Wylie will, dass seine Agentur<br />

100 Jahre besteht und den Wandel überdauert.<br />

„Ich glaube, dass die Autoren, für<br />

die ich mich interessiere, einen bleibenden<br />

Wert haben. Deswegen sollten sie nicht nur<br />

dafür bezahlt werden, was ihr Buch in einem<br />

Jahr einbringt, sondern im Verlauf<br />

von 50 Jahren. Wie kann man jemals genug<br />

für Sebald zahlen? Jeder Verleger sollte<br />

sich für Sebald ruinieren. Stattdessen ruinieren<br />

sie sich für E. L. James. Das ist einfach<br />

verrückt“, meint Wylie zum Abschluss<br />

meines Besuchs, und man kann die Leidenschaft<br />

durchhören, mit der er Verhandlungen<br />

führt.<br />

Im Corner Bookstore liegt auf den gediegenen<br />

Lesetischen zurzeit Dave Eggers’<br />

viel gelobter neuer Roman „A Hologram<br />

for the King“, neben vielen anderen anspruchsvollen<br />

Neuerscheinungen aus der<br />

Schmiede des Staragenten. Irgendwann<br />

wird hier Prochniks neues Buch über Stefan<br />

Zweig liegen, für den Bücher eine Handvoll<br />

Stille inmitten von Unruhe und Qual<br />

waren. „Sie verkaufen also nicht ‚Shades of<br />

Grey‘?“, frage ich Robert, den Buchhändler.<br />

„Doch, doch, das hält den Laden am Leben“,<br />

seufzt er. „Wollen Sie’s haben?“<br />

Huberta von Voss<br />

lebt als freie Journalistin in<br />

New York. Zuletzt erschien ihr<br />

Reportageband „Arme Kinder,<br />

reiches Land“ (Rowohlt)<br />

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9.2012 <strong>Cicero</strong> 111


| S a l o n | P r e c h t s p r o l o g<br />

Auf die barrikaden!<br />

Kinder werden in Deutschland immer noch nach den gleichen Methoden unterrichtet wie vor<br />

50 Jahren. Unsere Schulen zerstören die angeborene Neugier. Eine Revolution muss her<br />

von Richard David Precht<br />

K<br />

inder, die heute eingeschult werden,<br />

gehen im Jahr 2070 in Rente.<br />

Welche Bildung werden sie für ihr<br />

Leben brauchen? Was müssen sie wissen,<br />

und was müssen sie können? Welche Herausforderungen<br />

werden sie in ihrem Zusammenleben<br />

meistern müssen und welche<br />

in ihrem Berufsleben?<br />

So naheliegend es ist, sich diese Fragen<br />

zu stellen, und so wichtig es ist, sie zu<br />

beantworten, so wenig beschäftigen sich<br />

unsere Schulen, unsere Lehrer und unsere<br />

Bildungspolitiker damit. Kinder lernen<br />

heute nahezu das Gleiche in der Schule<br />

wie die Generation ihrer Eltern und Großeltern.<br />

Die alten Sprachen sind etwas unwichtiger<br />

geworden, die Fremdsprachen<br />

wichtiger, der Biologie-Unterricht enthält<br />

heute mehr und anderen Stoff – aber<br />

das sind auch schon die wichtigsten Unterschiede.<br />

Selbst die Schullektüre gleicht<br />

fast durchgehend der von vor 40 Jahren:<br />

Goethes „Werther“, Max Frischs „Homo<br />

faber“, Friedrich Dürrenmatts „Physiker“.<br />

Aber behandeln diese Bücher wirklich die<br />

Probleme, die Sorgen, die Ängste, Träume<br />

und Sehnsüchte unserer Kinder?<br />

Die „Bildungshochstapler“, wie der<br />

Psychologe Thomas Städtler sie nennt, packen<br />

im Zweifelsfall immer mehr Stoff in<br />

die Lehrpläne, ohne dabei den alten Stoff<br />

auszumisten. Die Folge ist das, was der<br />

Bildungsexperte Reinhard Kahl als „Bulimie-Lernen“<br />

bezeichnet: schnell füttern,<br />

schnell wieder in Klausuren von sich geben<br />

und danach schnell vergessen. Mehr als<br />

100 000 Stunden geht ein deutsches Kind<br />

bis zum Abitur zur Schule – aber bis dahin<br />

hat es bereits den überwiegenden Teil<br />

des Gelernten vergessen. Noch verheerender<br />

sieht die Bilanz einige Jahre später aus.<br />

Welcher Erwachsene kann heute noch den<br />

Stoff, den er mit 13 gelernt hat? Wovon<br />

handelt das ohmsche Gesetz? Was ist der<br />

Der Gastgeber<br />

Der Philosoph und Schriftsteller<br />

Richard David Precht wird von<br />

September an regelmäßig in <strong>Cicero</strong><br />

über das Thema schreiben, das er in<br />

der neuen ZDF‐Sendung „Precht“<br />

jeweils am ersten Sonntag eines<br />

Monats um 23:30 Uhr zur Diskussion<br />

stellt. Seine Premiere – und damit auch<br />

seinen ersten <strong>Cicero</strong>-Prolog – widmet<br />

er der Bildungsmisere in Deutschland.<br />

Der Gast<br />

„Ein guter Unterricht“, sagt der<br />

Hirnforscher und Bildungskritiker<br />

Gerald Hüther, „ist einer, der<br />

die allen Kindern angeborene<br />

Begeisterungsfähigkeit erhält, statt<br />

sie zu zerstören.“ Der Göttinger<br />

Neurobiologe, der mit zahlreichen<br />

populärwissenschaftlichen Büchern<br />

und Interviews bekannt wurde, ist<br />

Prechts erster Gast.<br />

Inhalt der „Goldenen Bulle“? Wer kann als<br />

Erwachsener noch den „Höhensatz“ in der<br />

Geometrie anwenden?<br />

Gewiss, all dies ist wichtiger Bildungsstoff.<br />

Doch so wie er an unseren Schulen<br />

gelehrt und gelernt wird, bleibt im Regelfall<br />

kaum etwas davon hängen. Denn, wie<br />

bereits Konfuzius wusste: „Das, was man<br />

erklärt bekommt, vergisst man. Das, was<br />

einem vorgemacht wurde, daran erinnert<br />

man sich. Nur das aber, was man selber<br />

gemacht hat, kann man.“ Selber machen,<br />

das heißt bezogen auf den Schulstoff, mit<br />

Neugier und Begeisterung ausführen, nicht<br />

aber aus Pflicht repetieren.<br />

Welchen Sinn macht es, 100 000 Stunden<br />

zu lernen, wenn so wenig davon in<br />

Erinnerung bleibt? Welche ungeheure Verschwendung<br />

von Zeit und Energie liegt<br />

hier vor? Wie viel angeborene Neugier<br />

wird dabei von der Schule zerstört? Wären<br />

unsere Schulen Unternehmen, sie wären<br />

längst pleite. Sie sind viel zu ineffizient.<br />

Wären unsere Schulen Staaten, wären<br />

sie längst implodiert. Gescheitert am Widerstand<br />

ihrer Bürger.<br />

Die Anforderungen der zukünftigen<br />

Lebens- und Arbeitswelt verlangen nach<br />

kreativen Problemlösern und nicht nach<br />

Köpfen, die wie Aktenordner mit totem<br />

Wissen angefüllt sind. Doch statt Kinder<br />

als individuelle Rennpferde zu behandeln,<br />

schulen wir sie zu geduldigen Postpferden,<br />

wie der Mathematiker und Managementberater<br />

Gunter Dueck anmahnt. Unsere<br />

Schulen bereiten nicht nur schlecht auf<br />

das Leben vor, sie zerstören sogar gezielt<br />

jene Potenziale an Neugier, Begeisterungsfähigkeit<br />

und Kreativität, die später für ein<br />

erfülltes Leben gebraucht werden.<br />

Nach alldem, was die moderne Entwicklungspsychologie,<br />

die Lerntheorie und<br />

die Hirnforschung über das Lernen wissen,<br />

lässt sich schlussfolgern: Genau so wie<br />

Fotos: Axel Heimken/DDP Images/DAPD, Frank Schinski/Ostkreuz<br />

112 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Verbessert: Was Personalentscheider<br />

gegen die Benachteiligung<br />

von Frauen<br />

bei Berufungen tun können.<br />

Seite 3<br />

Verkürzt: In Europa wollen<br />

Hochschulen den<br />

Fachkräftemangel mit<br />

Express-Studiengängen<br />

lindern. Seite 4<br />

Verändert: Der europäische<br />

Forschungsrat renoviert<br />

sein Programm und<br />

fördert nun Forscher mit<br />

Geschäftssinn. Seite 6<br />

Vernetzt: Wie eine Informatikerin<br />

Web 2.0-Elemente<br />

in bundesdeutsche<br />

Hörsäle bringen<br />

möchte. Seite 9<br />

kontakte Seite 10<br />

Internet: www.iwwb.de/weiterbildung.<br />

html?seite=38<br />

Vertrackt: Tschechiens<br />

Regierung steckt in der<br />

Dauerkrise und macht<br />

den Hochschulen so das<br />

Leben schwer. Seite 30<br />

unsere Schulen glauben, Wissen zu vermitteln<br />

– genau so geht Lernen nicht. Doch<br />

warum werden diese Erkenntnisse an unseren<br />

Schulen bis heute kaum berücksichtigt?<br />

Warum dressieren wir immer noch Postpferde,<br />

anstatt den Charakter und die Fähigkeiten<br />

der Rennpferde zu stärken?<br />

Die Antwort ist vermutlich recht einfach:<br />

Weil unser Bildungssystem selbst in<br />

hohem Maße unkreativ ist! Die Anzahl<br />

der Begeisterten, Neugierigen und Kreativen<br />

unter deutschen Lehrern ist sehr überschaubar.<br />

Gar nicht zu reden von Kultusbürokraten<br />

und Kulturpolitikern. Statt<br />

über ein völlig neues Lernen nachzudenken,<br />

finden sich in den öffentlichen Debatten<br />

noch immer uralte Freund-Feind-<br />

Linien von vermeintlich „linker“ oder<br />

„rechter“ Bildungspolitik. Dabei geht es um<br />

„linke“ Gesamtschulen gegen die „rechten“<br />

Bildungsprivilegien der Besserverdienenden<br />

– aber es geht kaum um die Frage, was<br />

inhaltlich an unseren Schulen passiert. Wer<br />

ändert unsere Lehrpläne? Wer macht unsere<br />

Klassenzimmer zu architektonisch gelungenen<br />

Lernräumen? Wer schafft unsere<br />

völlig absurde Lehrerausbildung ab, die den<br />

Referendaren den gleichen fleißigen Konformismus<br />

abnötigt, den sie später von ihren<br />

Schülern einfordern werden?<br />

Was dagegen ist ein guter Lehrer? Einer,<br />

der selbst weiterlernen möchte, hätte Wilhelm<br />

von Humboldt geantwortet. Was sind<br />

seine wichtigsten Voraussetzungen? Fachwissensfülle?<br />

Didaktik? Nein, die wichtigsten<br />

Voraussetzungen eines Lehrers sind<br />

1) dass er Kinder mag und 2) dass er ein<br />

Mensch ist, dem man gerne zuhört und der<br />

mit seiner eigenen Begeisterung andere begeistert.<br />

Alles andere ist demgegenüber sekundär.<br />

Aber: An wie viele solcher Lehrer<br />

erinnern wir uns aus unserer eigenen Schulzeit?<br />

An einen, zwei oder bestenfalls drei.<br />

Ein guter Lehrer begleitet seine Schüler<br />

auf ihrer Entdeckungsreise durch die faszinierende<br />

Welt des Wissens, Glaubens und<br />

Meinens, die man Kultur nennt. Und nur<br />

was dabei mit Neugier gelernt wird, wird<br />

unseren Kindern wichtig und bedeutsam.<br />

Und nur was ihnen bedeutsam ist, weckt<br />

ihre Kreativität und spornt die Leistungsbereitschaft<br />

an. Ein guter Unterricht, so<br />

sagt der Hirnforscher und Bildungskritiker<br />

Gerald Hüther, ist einer, der die allen Kindern<br />

angeborene Begeisterungsfähigkeit erhält<br />

statt sie zu zerstören. „Leben ist mehr<br />

als die Jagd nach guten Zensuren. Leben ist<br />

mehr als die Vorbereitung auf ein Examen.<br />

Kinder können mehr, als auf Zeugnisse zu<br />

schielen. Wir demütigen sie, wenn wir ihre<br />

Leistungen nur auf die in der Schule erzielten<br />

Noten reduzieren“, schreibt Hüther in<br />

seinem soeben erschienenen Buch „Jedes<br />

Kind ist hochbegabt“.<br />

Ungezählte Bildungsreformen hat die<br />

Bundesrepublik Deutschland bisher erlebt<br />

bis hin zu den jüngsten Verfehlungen des<br />

Bologna-Prozesses und zur flächenweisen<br />

Abschaffung des 13. Schuljahrs. Das, was<br />

heute ansteht, ist keine neue Reform. Unsere<br />

Schulen müssen nicht reformiert werden.<br />

Sie müssen völlig anders werden als<br />

bisher. Wir brauchen andere Lehrer, andere<br />

Methoden und ein ganz anderes Zusammenleben<br />

in der Schule. Mit einem<br />

Wort: Wir brauchen keine weitere Bildungsreform,<br />

wir brauchen eine Bildungsrevolution!<br />

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Historische<br />

Darstellung<br />

von Napoleons<br />

Einmarsch in<br />

Moskau, das<br />

vom Zaren und<br />

seiner Regierung<br />

aufgegeben und<br />

in Brand gesetzt<br />

worden war<br />

Europa, enges Land<br />

Napoleons Russlandfeldzug jährt sich diesen Herbst zum 200. Mal.<br />

Seine weltgeschichtlichen Schatten wirken bis heute nach. Nicht<br />

zuletzt in der tragischen Figur seines Feldherrn<br />

von Konstantin Sakkas<br />

Foto: Action Press/Ullstein Bild<br />

114 <strong>Cicero</strong> 9.2012


D a s a l t e e u r o p ä i s c h e L e i d e n | S a l o n |<br />

Hat der Moderne<br />

den Weg<br />

bereitet, war im<br />

Herzen jedoch<br />

ein Anhänger<br />

der politischen<br />

Romantik des<br />

Ancien Régime:<br />

Napoleon<br />

Bonaparte<br />

(1769-1821)<br />

Foto: Bridgemanart.com<br />

A<br />

m 16. Dezember 1812 veröffentlichte der Moniteur, das<br />

offizielle Mitteilungsblatt der kaiserlich-französischen<br />

Regierung, ein Kommuniqué, worin dem französischen<br />

Volk der Rückzug der Grande Armée aus Russland und<br />

die bevorstehende Rückkehr Napoleons nach Paris verkündet<br />

wurde. Der Text schloss mit dem eindrucksvollen Satz: „La santé<br />

de sa majesté n’a jamais été meilleure“, zu Deutsch: „Die Gesundheit<br />

Seiner Majestät ist nie besser gewesen.“ Mit diesem Satz endete<br />

der Russlandfeldzug, zu dem Napoleon sechs Monate zuvor,<br />

am 22. Juni 1812, mit dem bis dahin größten Heer der Geschichte<br />

aufgebrochen war und der in einem beispiellosen Desaster geendet<br />

hatte. Und mit diesem Satz begann zugleich der Befreiungskrieg<br />

der europäischen Länder gegen die französische Besatzung und<br />

gegen das junge französische Kaisertum. Er war der Anfang vom<br />

Ende Napoleons.<br />

Der napoleonische Russlandfeldzug war der erste Versuch eines<br />

westeuropäischen Herrschers, das Riesenreich im Osten zu erobern.<br />

Die Erobererkarriere des Kaisers hatte 1796 mit dem Italienkrieg<br />

begonnen, damals noch im Dienst des revolutionären<br />

Pariser Direktoriums. Seither hatte er das gesamte europäische<br />

Festland entweder unterworfen oder dessen Souveräne zu Friedensverträgen<br />

gezwungen. Damit trat er in die Fußstapfen des<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 115


| S a l o n | D a s a l t e e u r o p ä i s c h e L e i d e n<br />

Noch im September 1812, nach seinem Sieg bei der blutigen Schlacht von Borodino, feuerte Napoleon<br />

seine Truppen mit dem sprichwörtlich gewordenen Satz „Seht, die Sonne von Austerlitz!“ an<br />

Auch seine fatale<br />

Fehlorganisation tat der<br />

epochalen Emblematik<br />

des Russlandfeldzugs<br />

keinen Abbruch<br />

von ihm bewunderten Alexanders des Großen. Was er 1812 anstrebte,<br />

war nicht mehr die europäische Hegemonie, sondern das<br />

eurasische Großreich.<br />

Neben dem epochalen Anspruch Napoleons, eine Universalmonarchie<br />

zu errichten, stand der politisch-taktische, England zu<br />

bezwingen. Trotz seiner parlamentarischen Tradition hatte sich<br />

Frankreichs alter Erbfeind der Revolutionsregierung<br />

widersetzt und lag seit 1792 beinahe<br />

ununterbrochen im Krieg mit Paris. Die<br />

Kontinentalsperre, 1806 im besetzten Berlin<br />

von Napoleon dekretiert, verbot den französisch<br />

besetzten Ländern den Handel mit der<br />

Weltmacht England. Auch mit Russland, das<br />

Napoleon zuvor nicht hatte besiegen können<br />

und mit dem es im Tilsiter Frieden 1807 zum<br />

Ausgleich gekommen war, bestand ein Abkommen,<br />

das den Handel mit England verbot.<br />

Noch auf dem Erfurter Fürstentag von<br />

1808 standen sich Kaiser Napoleon und Kaiser<br />

Alexander I von Russland als gleichberechtigte Staatsmänner<br />

gegenüber, die das Schicksal Europas untereinander entschieden<br />

zu haben schienen.<br />

Doch der Schein trog. Der Gegensatz zwischen Frankreich und<br />

England war ein unlösbares Dilemma, und Russland war der Faktor,<br />

an dem es sich entscheiden sollte. Die Ehe, die Napoleon 1810<br />

mit der österreichischen Erzherzogin Marie Louise schloss, um<br />

sich, dem sozialen Aufsteiger und „Leutnant auf dem Kaiserthron“,<br />

die ersehnten Weihen dynastischer Legitimität zuzulegen, war das<br />

erste offizielle Signal seiner Abwendung von Russland. Der Zar seinerseits<br />

unterlief die Kontinentalsperre und blockierte den Handel<br />

mit französischen Waren. Eine europäische Wirtschaftskrise,<br />

hervorgerufen durch Frankreichs isolationistische Handelspolitik,<br />

war die äußere Gestalt der politischen Konfrontation, die sich seit<br />

1807 unaufhaltsam anbahnte. Angestachelt<br />

durch klarsichtige Berater wie den aus Preußen<br />

verbannten Freiherrn vom Stein, der in<br />

Russland Exil gefunden hatte, betrieb Alexander<br />

leise, aber zügig die diplomatische Lösung<br />

von Frankreich.<br />

Napoleon reagierte. Nachdem seine österreichische<br />

Gattin 1811 mit einem Sohn<br />

niedergekommen war, dem der Kaiser gleich<br />

bei der Geburt, in Anlehnung an die alte<br />

deutsche Reichstradition, den Titel „König<br />

von Rom“ verlieh, schienen ihm seine dynastischen<br />

<strong>Am</strong>bitionen gesichert. Er hatte nun<br />

einen Nachfolger und war bereit für einen neuen Feldzug. Diesmal<br />

ging es gegen Russland, in den unheimlichen, gewaltigen Osten.<br />

Seine Unterwerfung würde ihm den Zugang nach Südasien<br />

erschließen, damit aber zugleich die kolonialen Reserven Englands<br />

bedrohen und die handelspolitische Geschlossenheit des<br />

Kontinents vollenden.<br />

Was nun kam, ist im kulturellen Gedächtnis Europas bis<br />

heute so tief verankert wie sonst nur der Zweite Weltkrieg und<br />

Foto: Fine Art Images<br />

116 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Napoleon auf der Anhöhe von Borodino: Trotz der siegreichen Schlacht war der Feldzug eigentlich schon zu diesem Zeitpunkt<br />

verloren. Die russische Armee war noch intakt, und Moskau hatte als strategisches Ziel seine Bedeutung verloren<br />

Foto: AKG Images<br />

die Hitlerherrschaft: der Einmarsch ins weite russische Land; die<br />

großen, blutigen Schlachten mit bis dahin ungekannten Gefallenenziffern;<br />

die tragikomische Einnahme Moskaus, das vom Zaren<br />

und seiner Regierung aufgegeben und in Brand gesetzt worden<br />

war; schließlich der beschwerliche Rückmarsch durch die<br />

eisige Winterkälte, bei dem russische Kosaken über die erschöpften<br />

französischen Regimenter herfielen und ihnen unglaubliche<br />

Verluste beibrachten. So überlieferte Leo Tolstoi Napoleons Russlandabenteuer<br />

in „Krieg und Frieden“ der Nachwelt, so machten<br />

es Hollywood-Verfilmungen unsterblich.<br />

Von Anfang an litt der Feldzug unter seiner fatalen Fehlorganisation.<br />

Er begann im Juni, zu einem angesichts des frühen<br />

russischen Wintereinbruchs viel zu späten Zeitpunkt. Die<br />

zwangsverpflichteten nichtfranzösischen Truppen aus Italien,<br />

Deutschland und den slawischen Ländern waren nicht mit dem<br />

Herzen bei der Sache. Selbst das französische Volk, obschon berauscht<br />

von der glänzenden Imperatorengestalt ihres Führers,<br />

stöhnte über die Lasten der neuen Truppenerhebungen, die erdrückende<br />

Besteuerung und das straffe, diktatoriale Regime im<br />

Inneren. Doch all das konnte der epochalen Emblematik dieses<br />

Unternehmens, das irgendwie nicht von diesem Planeten schien,<br />

keinen Abbruch tun.<br />

Noch nach Jahrzehnten schwelgten ausgediente französische<br />

Grenadiere, unbeirrt durch den Frieden und bescheidenen Wohlstand<br />

der Restaurationsphase nach Napoleons Sturz 1814/15,<br />

in der Erinnerung an den russischen Feldzug, der ihnen doch<br />

so unsägliches Leid, Entbehrungen und furchtbare moralische<br />

Grenzerfahrungen gebracht hatte. Schwärmerisch hielt der Intellektuelle<br />

André Maurois fest: „Nie hat die französische Armee den<br />

kleinen Hut, den grauen Mantel vergessen, hinter dem sie alle Könige<br />

Europas besiegt und die Trikolore bis nach Moskau getragen<br />

hatte.“ Ins kollektive Gedächtnis gingen vor allem der alexandrinische<br />

Gestus der Welteroberung dieses Feldzugs ein, sein Ausbruch<br />

aus der stickigen Enge europäischer Machtpolitik in die<br />

unwirkliche Sphäre einer grenzenlosen Expansion.<br />

In Wirklichkeit war die Grenze Moskau. Napoleon erlag, wie<br />

so viele Feldherren vor und nach ihm, der Illusion, dass der Besitz<br />

der fremden Hauptstadt zugleich schon den Sieg bedeuten<br />

würde. Tatsächlich hielt sich das Gros der russischen Truppen im<br />

Hinterland auf, umsichtig geführt von ihrem Marschall Kutusow,<br />

einem ungebildeten Haudegen, dessen feiner kriegerischer Instinkt,<br />

bereichert von einer inbrünstigen orthodoxen Religiosität,<br />

richtig lag mit der Einschätzung, man müsse Napoleon in Moskau<br />

einfach an den Rand seiner Ressourcen bringen.<br />

Ein warnendes Vorzeichen war das Gespräch mit dem russischen<br />

General Balachoff, den Zar Alexander zu Beginn der Kampfhandlungen<br />

als Emissär zu Napoleon gesandt hatte. Als ihn der<br />

ungestüme Franzose fragt, welche Straße denn am schnellsten<br />

nach Moskau führe, antwortet der Russe geradeheraus: „Sire, alle<br />

Wege führen nach Rom. Man kann auf mehreren Routen nach<br />

Moskau gelangen. Karl XII etwa marschierte über Poltawa.“ Das<br />

war ein Schlag ins Gesicht. Karl XII, der jugendliche Schwedenkönig,<br />

der sich im Nordischen Krieg zu Beginn des 18. Jahrhunderts<br />

mit Zar Peter dem Großen anlegte, wurde in Poltawa nach<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 117


| S a l o n | D a s a l t e e u r o p ä i s c h e L e i d e n<br />

Beim Rückmarsch aus<br />

Moskau kam es Ende<br />

November 1812 zur Schlacht<br />

von Beresina, nach der<br />

sich der Befehlshaber des<br />

preußischen Hilfskorps auf<br />

die Seite Russlands stellte<br />

118 <strong>Cicero</strong> 9.2012


9.2012 <strong>Cicero</strong> 119


| S a l o n | D a s a l t e e u r o p ä i s c h e l e i d e n<br />

einem lange ungebrochenen Vormarsch vernichtend geschlagen.<br />

Napoleon war gewarnt.<br />

Noch im September 1812, nach seinem Sieg bei der Schlacht<br />

von Borodino, feuerte er seine Truppen mit dem sprichwörtlich<br />

gewordenen Satz: „Voilà le soleil d’Austerlitz – Seht, die Sonne<br />

von Austerlitz!“ an, in Anspielung auf die Dreikaiserschlacht von<br />

1805, aus der das junge französische<br />

Kaiserreich so glorreich hervorgegangen<br />

war. Doch die Geschichte wiederholte<br />

sich nicht. Borodino war taktisch<br />

ein Sieg, strategisch war es ein Patt: Der<br />

Weg nach Moskau war zwar frei, aber<br />

die russische Armee blieb intakt, und<br />

das Ziel selber hatte seine Bedeutung<br />

für die Entscheidung des Feldzugs verloren.<br />

Wenig später befahl er seinen<br />

Truppen den Rückmarsch aus Moskau,<br />

und zur Jahreswende stellte sich General<br />

von Yorck, widerwilliger Befehlshaber<br />

des preußischen Hilfskorps, das<br />

unter Napoleon gegen Russland hatte<br />

kämpfen müssen, offen auf die russische<br />

Seite. Im Frühjahr 1813 erklärt Friedrich<br />

Wilhelm III von Preußen Frankreich<br />

den Krieg. Im August endlich<br />

verbündet sich Österreich mit Preußen<br />

und Russland, und Neujahr 1814, genau<br />

ein Jahr nach dem preußischen Abfall,<br />

überschreitet die große Koalition<br />

den Rhein. Im April ziehen die verbündeten<br />

Monarchen in Paris ein. Napoleon<br />

muss abdanken und geht ins erste<br />

Exil auf die Insel Elba. Sein Stern war<br />

gesunken. Auch sein hunderttägiges Intermezzo<br />

1815, bei dem er sich die Macht in Paris wiederaneignete<br />

und neue Truppen aufstellte, kann das Rad der Geschichte nicht<br />

zurückdrehen. Bei Waterloo in Belgien, am 18. Juni 1815, fast auf<br />

den Tag genau drei Jahre nach Beginn der russischen Expedition,<br />

schlägt er seine letzte Schlacht. Es ist seine endgültige Niederlage.<br />

Die historische Gestalt Napoleons ist bis heute, trotz einer<br />

Flut von Veröffentlichungen und fiktionaler Verarbeitungen, auratisch<br />

und menschlich weitgehend ungeklärt. Nichts als seine<br />

schiere Kraft ist in Erinnerung geblieben, die pure Gewalt seiner<br />

Wirkung und das ewig Drängende, das ihn von Feldzug zu Feldzug<br />

führte. Sein Gestalten und Entwerfen aber blieben merkwürdig<br />

geisterhaft und ungreifbar.<br />

Doch eben in diesem Aktionismus, dem Drang, immer Neues<br />

zu schaffen, spiegelt sich exakt das Wesen Europas und das Wesen<br />

der europäischen Neuzeit ab – vom kopernikanischen Traum der<br />

Vermessung der Welt über die cartesianische Fantasie der restlos<br />

rationalen Gliederung bis hin zur rasenden, suchtartigen Verliebtheit<br />

des Kontinents in die Bewegung. Dass Napoleon kein eigentliches<br />

Ziel kannte, sondern dass das „Immer weiter“, das „Immer<br />

werden“ und „Niemals sein“ sein Charakter waren, wurde nirgends<br />

so deutlich wie bei seinem Russlandfeldzug. Der französische Kaiser<br />

verkörperte die reine, haltlose Kraft, die fleischgewordene „Furie<br />

des Verschwindens“, von der Georg Wilhelm Friedrich Hegel,<br />

„Ich bin ein Stück Fels, das in den Weltraum<br />

geschleudert wurde“: Wie kein anderer verkörperte<br />

Napoleon das uralte europäische Leiden an<br />

der Begrenztheit des insularen Daseins<br />

sein großer philosophischer Zeitgenosse und glühender Bewunderer,<br />

1806 in der „Phänomenologie des Geistes“ sprach.<br />

Als Napoleon Bonaparte 1799 in einem Staatsstreich die<br />

Macht an sich riss, lag die Französische Revolution gerade ein<br />

Jahrzehnt zurück. Zweifelsohne stand er unter ihrem Enfluss.<br />

Doch ideologisch war er, aus korsischem Adel stammend, ein<br />

Kind des aufgeklärten Absolutismus<br />

und des Ancien Régime mit seiner<br />

uralten Fantasie der Welteroberung.<br />

Schon 1804 erhebt er sich selbst zum<br />

Kaiser. Auch sein Lebenswandel erinnert<br />

an den eines spät geborenen europäischen<br />

Heerkönigs mit all den<br />

kriegerischen, amourösen und schöngeistigen<br />

Allüren der Herren von einst.<br />

Im Grunde war er eine südländisch<br />

eingefärbte Mischung aus Ludwig XIV<br />

und Friedrich dem Großen. Doch er<br />

war eben auch mehr. Waren jene anderen<br />

beiden großen Monarchen der<br />

westeuropäischen Vormoderne irgendwann<br />

in ihrem Leben zur Ruhe gekommen,<br />

blieb Napoleon zeitlebens,<br />

bis zum bitteren Ende, der große Ruhelose.<br />

Er wollte Alexander sein, und<br />

es war Alexanders Weg, den er ideell<br />

und geografisch einschlug.<br />

Doch auf diesem Weg musste er<br />

scheitern. Von ihm selber, einem Kind<br />

der Aufklärung, der Entzauberung der<br />

Welt, stammt der Satz: „Als Alexander<br />

verkündete, der Sohn des Gottes <strong>Am</strong>mon<br />

zu sein, glaubten ihm alle bis auf<br />

den Philosophen Aristoteles; würde<br />

ich das sagen, würde mich das letzte Pariser Marktweib auslachen.“<br />

Die Zeit der großen Ideen, denen man sich rauschhaftunreflektiert,<br />

im Glauben und im Machen, hingeben konnte, war<br />

vorbei, spätestens mit der Revolution, als deren Testamentsvollstrecker<br />

er einst selbst die politische Bühne betreten hatte. Napoleon,<br />

bis heute als Wegbereiter der Moderne, als Vater der rationalen<br />

Staatsorganisation, der freiheitlichen Grundrechte, des<br />

Fortschritts angesehen, war tatsächlich ein Kind der Vergangenheit,<br />

Zuspätgekommener.<br />

„Je suis une parcelle de rocher, lancée dans l’espace“, hatte der<br />

Kaiser gesagt: „Ich bin ein Stück Fels, das in den Weltraum geschleudert<br />

wurde.“ Das ist die Selbst- und Weltsicht des Menschen<br />

der frühen Neuzeit, des cartesianischen Suchers und Zweiflers,<br />

ins Faustisch-Mannhafte, Abenteuerliche gewandt. Das uralte<br />

europäische Leiden an der Begrenztheit des insularen Daseins, die<br />

brennende, verzehrende Sehnsucht nach Entgrenzung, nach Überschreitung,<br />

nach Transzendenz: Napoleon lebte sie aus ins politische<br />

Extrem. Der wehmutsvolle, ängstlich gepflegte Traum der<br />

alten Griechen und Römer, hinauszusegeln über die Säulen des<br />

Herakles ins weite, grenzenlose Meer: Napoleon schickte sich an,<br />

ihn mit modernsten Mitteln wahr zu machen. Diesem Traum gab<br />

er sich hin, erbarmungslos sich selbst und die anderen ausnutzend;<br />

und an diesem Traum zerbrach er nach Anstrengungen, die man<br />

Fotos: Russian Look/AKG (Seiten 118 bis 119), Ullstein Bild<br />

120 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Foto: Privat (Autor)<br />

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auf den europäischen Kriegsschauplätzen seit dem Dreißigjährigen<br />

Krieg nicht mehr gesehen hatte und die sich erst in der Apokalypse<br />

des Weltkriegszeitalters wiederholen sollten.<br />

Napoleons Scheitern setzte einen Endpunkt unter die politische<br />

Romantik des Ancien Régime, unter seinen Wunsch,<br />

es den Helden Homers gleichzutun und sich durch die Inbesitznahme<br />

der Welt selbst eine Welt zu schaffen – jene Welt,<br />

die man innerlich, durch den Fortfall der alten Glaubenssätze,<br />

durch den Verlust Gottes verloren hatte. Des Gottes, von dem<br />

Hegel just zu jener Zeit schrieb, er sei „gestorben“. Napoleons<br />

Seele war die Seele eines Heimatlosen, eines von der Insel Vertriebenen,<br />

der sich zeitlebens in der Welt, in Europa wie auf einem<br />

verlassenen, auf dem Ozean schwimmenden Eiland fühlen<br />

sollte – in einer unsäglichen Leere, die auszufüllen sein Lebensinhalt<br />

war und um deren Verdrängung willen er seinen politischen<br />

Weg einschlug.<br />

Folgerichtig endete dieser Weg auf einer Insel. Weit ab von<br />

Europa, auf Sankt Helena, vor der westafrikanischen Küste. Helena<br />

– so hieß die spartanische Prinzessin, die bei Homer von Paris<br />

geraubt wird und um deren Rückholung willen die Griechen<br />

den Trojanischen Krieg beginnen. Bei Homer endet dieser Feldzug<br />

zwar mit dem Sieg und mit der Niederbrennung Trojas; aber<br />

auch die heimkehrenden Griechen kommen nicht mehr zur Ruhe.<br />

Ihre häuslichen Altäre sind ihnen fremd geworden, das zehnjährige<br />

Kriegserlebnis, die Rastlosigkeit der Feldlagerexistenz haben sie<br />

ihrer Heimat für immer entfremdet, ohne dass sie in der Fremde<br />

eine neue Heimat gefunden hätten. Die Ruhe und Ganzheitlichkeit<br />

ihrer bürgerlichen Existenz war verloren, für immer. Eben<br />

diese Ganzheitlichkeit und Ruhe hatte Napoleon wiederherstellen<br />

wollen. Es ist ihm nicht gelungen.<br />

Als der Kaiser während der französisch-russischen Friedensverhandlungen<br />

1807 vom Thronwechsel in Spanien erfuhr, der seine<br />

europäische Position gefährdete, und General Rapp fragte, wie weit<br />

es von Danzig nach Cádiz sei, antwortete dieser lakonisch: „Zu<br />

weit, Sire.“ Napoleon, dessen Leben ein einziger Traum von der<br />

Überschreitung der Grenzen der Zeit war, scheiterte daran, dieses<br />

unmögliche Projekt im Modus der Überschreitung der bloß räumlichen<br />

Grenzen wahr zu machen. Er hätte ewig weitermarschieren<br />

können: Ans Ziel wäre er niemals gekommen. Es gibt kein „Ende<br />

der Welt“. Sein Ziel hätte in ihm selbst gelegen. Die Welt, die er<br />

außen nicht fand, hätte er in sich selbst finden müssen, anstatt<br />

sich immer neuen Kraftanstrengungen und Gewaltleistungen hinzugeben<br />

wie ein Drogensüchtiger dem Rausch.<br />

In Wahrheit war Napoleon schwächer als der letzte seiner Grenadiere<br />

gewesen. Frankreich mag er neu geformt, Europa mit seinen<br />

Gedanken inspiriert haben: Sich selber hat er nicht gefunden.<br />

Ein ruheloser Marsch war sein Leben gewesen. Die Ruhe kam erst<br />

auf dem verlassenen Felsenriff vor Afrika, weit weg von Europa,<br />

jenem Kontinent, der ihm in seiner tiefen, traurigen Weltlosigkeit,<br />

wie so vielen großen Europäern auf dem Thron und am Schreibtisch<br />

vor ihm, doch immer zu eng gewesen war.<br />

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Konstantin Sakkas<br />

ist freier Autor. Er schreibt Essays und Reportagen für das<br />

Deutschlandradio, den SWR, <strong>Cicero</strong> und die Zeit<br />

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| S a l o n | B e n o t e t<br />

Gladiatorenmusik<br />

Von einem Auftritt in der Hollywood Bowl,<br />

einer der größten Freiluftarenen der Welt, hatte<br />

unser Kolumnist schon als Kind geträumt. Vom<br />

monsunartigen Regen, der einsetzte, als dieser<br />

Traum endlich wahr wurde, nicht<br />

Von Daniel Hope<br />

E<br />

s gibt Auftritte, von denen ein Musiker schon als Kind<br />

träumt: das erste Mal in der Carnegie Hall zu spielen<br />

etwa, der Royal Albert Hall oder im Sydney Opera House.<br />

Wenn man irgendwann tatsächlich das Glück hat, an diesen Orten<br />

aufzutreten, erfüllt es einen mit Stolz und Ehrfurcht.<br />

Bis vor kurzem gab es für mich einen Ort, bei dem es nur bei<br />

einem Traum geblieben war: die Hollywood Bowl. Mitten in Los<br />

Angeles gelegen, ist sie eine der größten Freiluft arenen der Welt,<br />

mit Platz für über 18 000 Zuschauer. Eingeweiht wurde sie am<br />

11. Juli 1922 und entwickelte sich schnell zum beliebten Spielort<br />

für die größten klassischen Musiker aller Zeiten. Jascha Heifetz,<br />

der legendäre Geiger, der 1931 dort sein Debüt gab, verglich einen<br />

Auftritt in der Hollywood Bowl mit einem Wettkampf bei<br />

den Olympischen Spielen. Man sei dort nicht Musiker, man sei<br />

Gladiator, sagte er. Neben meinen Klassikhelden sind inzwischen<br />

auch die Popgrößen der Welt in der Bowl aufgetreten: von den<br />

Beatles und Pink Floyd bis zu The Doors und Elton John. Klassik<br />

spielt jedoch immer noch eine große Rolle. Während des Sommers<br />

ist der Spielort Sitz des Hollywood Bowl Orchestra und des<br />

Los Angeles Philharmonic Orchestra.<br />

Vom Letzteren kam vor ein paar Monaten die Einladung, auf<br />

die ich mein Leben lang gewartet hatte: <strong>Am</strong> 12. Juli dieses Jahres<br />

sollte ich mein Debüt geben, zusammen mit dem amerikanischen<br />

Dirigenten Leonard Slatkin.<br />

Alleine die ersten Schritte auf dem gigantischen Gelände, die<br />

ich am Abend zuvor unternahm, um ein wenig Stimmung zu<br />

schnuppern, erfüllten mich mit unbändiger Vorfreude. Als ich<br />

die Werbung für mein Konzert auf der großen Leinwand vor dem<br />

Eingang fotografierte, hastete ein schwer bewaffneter Polizist herbei<br />

und sagte: „Weitergehen, Sir, hier dürfen Sie nicht stehen bleiben!“<br />

Dann erklärte ich ihm, warum ich das Plakat fotografierte,<br />

und er grinste. „Echt? Sie spielen in der Bowl? Cool! Dann mache<br />

ich doch ein Bild von Ihnen vor dem Plakat!“<br />

<strong>Am</strong> Vormittag darauf fand die Probe in der Bowl statt. Das<br />

Thermometer zeigte 33 Grad, und die kalifornische Luft war ungewöhnlich<br />

feucht. Vor der Bühne hatte man eine Sonnengardine<br />

aufgehängt, um das Orchester zu schützen. Es hatte sich ein<br />

besonderer Gast angemeldet, der mittlerweile 93 Jahre alte Komponist<br />

Walter Arlen, der nach seiner Flucht aus Wien 1939 über<br />

30 Jahre lang als Musikkritiker für die Los Angeles Times tätig gewesen<br />

war. Nach meiner Probe setzten wir uns in den Zuschauerraum,<br />

und er erzählte mir Anekdoten über Musiker wie Arturo<br />

Toscanini oder Bruno Walter, die er in der Bowl erlebt hatte.<br />

<strong>Am</strong> Abend meines Konzerts passierte dann etwas, was es in<br />

der Bowl seit mehr als 30 Jahren so gut wie nie gegeben hatte: Es<br />

regnete! Erst waren es nur ein paar Tropfen, dann öffnete sich der<br />

Himmel, und es goss in Strömen. Die Orchestermitglieder der Los<br />

Angeles Philharmonic machten tapfer weiter. Zu Beginn des Konzerts<br />

spielten sie die amerikanische Nationalhymne, und das Publikum<br />

sprang begeistert auf, um patriotisch mitzusingen. Diejenigen<br />

unter ihnen, die heimlich Regenschirme mit ins Stadion geschmuggelt<br />

hatten, versuchten, sie aufzuspannen, wurden jedoch gleich<br />

von den anwesenden Polizisten verwarnt. Irgendwann prasselte der<br />

Regen fast monsunartig nieder, und es fing an, auf die Kontrabässe<br />

zu tropfen. Verärgerte Gewerkschaftsmitarbeiter gestikulierten wild<br />

herum und bestanden darauf, das Orchester um einige Meter nach<br />

hinten zu verlegen. Es platschte sogar auf die riesigen Bildschirme<br />

herunter, die das Konzert ins Stadion übertrugen.<br />

In der Bowl gibt es allerdings eine goldene Regel: „The show<br />

must go on!“ Das hatte mir mein Künstlerbetreuer schon am<br />

Abend zuvor erklärt. Nichts konnte die bombastische Stimmung<br />

trüben, weder für mich noch erstaunlicherweise für das Publikum.<br />

Nach der Ouvertüre und mehreren Unterbrechungen war<br />

es endlich Zeit für meinen Auftritt. Der Regen hatte beinahe aufgehört.<br />

Dafür wehte jetzt ein starker Wind, und die Musiker hielten<br />

ihre Noten und Pulte fest. Ich schritt auf die Bühne. Das Publikum<br />

begrüßte mich mit Ovationen, bevor ich auch nur einen<br />

einzigen Ton spielte.<br />

Es wurde ein großartiger Abend, die Kulmination eines Kindheitstraums<br />

und eine Hommage an viele meiner musikalischen<br />

Helden. Ich habe jede Sekunde genossen und wollte nicht, dass<br />

der Auftritt zu Ende geht. Als Frederick, ein guter Freund aus Los<br />

Angeles, mich hinterher ziemlich durchnässt in der Garderobe besuchte,<br />

umarmte er mich mit den Worten: „Hey, du hast in der<br />

Hollywood Bowl gespielt! Es hat geregnet und du hast gewonnen!“<br />

Jascha Heifetz hatte wohl recht mit seinem Gladiatorenvergleich.<br />

Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband<br />

„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch „Toi,<br />

Toi, Toi – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt) und die<br />

CD „Vivaldi Recomposed“ (Deutsche Grammophon). Er lebt in Wien<br />

illustration: anja stiehler/jutta fricke illustrators<br />

122 <strong>Cicero</strong> 9.2012


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| S a l o n | M a n s i e h t n u r , w a s m a n s u c h t<br />

Goldene Zeitkritik<br />

Das Abendland war schon immer im Begriff unterzugehen. Ein<br />

Blick auf den malenden Intellektuellen Pieter Bruegel legt nahe,<br />

dass es unklug wäre, die Europa- auf eine Eurokrise zu reduzieren<br />

Von Beat Wyss<br />

124 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Pieter Bruegel der Ältere:<br />

„Landschaft mit Ikarussturz“,<br />

Öl auf Leinwand, 74 x 112 cm,<br />

Brüssel, Musées Royaux des<br />

Beaux-Arts de Belgique<br />

Fotos: DeAgostini/Getty Images, artiamo (Autor)<br />

V<br />

ielleicht hilft es ja, unseren<br />

mit Melancholie geschlagenen<br />

Europapatriotismus aufzuhellen,<br />

indem wir uns klar werden, dass<br />

das Abendland immer schon im Begriff<br />

war unterzugehen. Es muss am Namen<br />

liegen, wenn über dieser Weltgegend<br />

die Sonne unentwegt sinken will.<br />

Auch Pieter Bruegel der Ältere hat es so<br />

empfunden. Das Dämmerlicht, in das<br />

seine „Landschaft mit Ikarussturz“ getaucht<br />

ist, belegte er daher auch mit einem<br />

humanistischen Argument. Als gelernter<br />

Kupferstecher gehörte er zu den<br />

Intellektuellen seiner Zeit. Sein Gemälde<br />

ist als gelehrsamer Kommentar<br />

auf Ovids Metamorphosen zu lesen.<br />

Ein Fischer, ein Hirte und ein pflügender<br />

Bauer hätten den schwebenden<br />

Jüngling am Himmel gesehen, schreibt<br />

der augusteische Dichter; Bruegel malt<br />

die genannten Zeugen, um von der Sage<br />

ja kein Jota abzuweichen. Wir sehen den<br />

Verwegenen, wie er gerade ins Meer fällt,<br />

nachdem er der Sonne zu nahe kam, was<br />

das Wachs in den kunstvoll gefertigten<br />

Flügeln zum Schmelzen brachte. Er hatte<br />

den Rat seines Vaters Dädalus, nicht zu<br />

hoch zu fliegen, missachtet.<br />

Spielt der pflügende Bauer zur Himmelsstürmerei<br />

etwa den währschaften<br />

Widerpart mit Bodenhaftung? Weit gefehlt:<br />

Bruegels Bauer bietet nur ein anderes<br />

Beispiel für Niedergang. Er steht<br />

für den Abschied vom Goldenen Zeitalter,<br />

jener Epoche ewigen Frühlings, als<br />

der Sammler von Feldfrüchten mit dem<br />

sich begnügte, was die freigiebige Natur<br />

ihm zum Essen gab. Der Ovid’sche Bauer<br />

ist hier biblisch überblendet und hört<br />

auf den Namen Kain, den Erfinder des<br />

Pflugs. Dessen Mord an Bruder Abel besiegelt<br />

im Bruegel’schen Weltbild den<br />

Kulturkampf zwischen dem Ackerbau der<br />

Sesshaften und nomadischem, dem goldenen<br />

Hirtendasein. Hinter dem Acker<br />

im Gebüsch liegt eine Leiche, Beleg für<br />

die eiserne Zeit der Gewalt. Jean-Jacques<br />

Rousseau sollte diese Denktradition später<br />

fortsetzen, als er Gold und Eisen als<br />

Ursache für die Ungleichheit der Menschen<br />

beschrieb.<br />

Bruegels „Landschaft mit Ikarussturz“<br />

ist Zeitkritik. Das Gemälde muss<br />

zwischen 1555 und 1569 entstanden<br />

sein. Der Krieg zwischen Spanien und<br />

Frankreich führte zur ersten kontinentalen<br />

Finanzkrise. Der Freiheitskrieg<br />

der Niederländer gegen die Spanier, der<br />

ebenfalls zu dieser Zeit begann, sollte<br />

ein paar Jahrzehnte später in den Dreißigjährigen<br />

Krieg münden – einen Kolonialkrieg<br />

im Gewand konfessioneller<br />

Konflikte. Es ging um nichts weniger<br />

als die Neuverteilung der Welt, bei der<br />

die alten katholischen Großmächte Spanien<br />

und Portugal gegen das anglikanische<br />

Großbritannien und das protestantische<br />

Holland als Verlierer hervorgehen<br />

sollten.<br />

Bruegel glaubte wie Erasmus von<br />

Rotterdam an die Unteilbarkeit des<br />

Chris tentums. Der niederländische<br />

Humanist sah sich im Zeitalter der<br />

Polarisierung zwischen katholischer<br />

Inquisition und calvinistischem Gesinnungsterror<br />

auf verlorenem Posten: zwischen<br />

Scylla und Charybis, sagt uns das<br />

Gemälde. Denn der Maler führt uns vor<br />

das Panorama der Meerenge von Messina,<br />

wo, nach Homer, Odysseus bei der<br />

Passage sechs seiner Gefährten verlor.<br />

Das kleine Werk hängt in Brüssel,<br />

wo Bruegel wirkte und begraben liegt.<br />

In jener Stadt, wo Karl V als Kaiser des<br />

Heiligen Römischen Reiches 1555 abdankte,<br />

wird heute wieder um den Fortbestand<br />

der europäischen Einheit gestritten.<br />

Konfliktparteien sind eben jene<br />

Nationalstaaten, die aus den Trümmern<br />

des Dreißigjährigen Krieges hervorgegangen<br />

waren. Überblickt man die blutige<br />

Geschichte Europas, scheinen die<br />

vergangenen 67 Jahre relativen Friedens<br />

wie ein Wunder. Das eiserne Zeitalter<br />

der Kriege ist vorbei. Nur im Zank um<br />

das Gold, scheint es, sind wir die Alten<br />

geblieben.<br />

B e at W y s s<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes. Er<br />

lehrt in Karlsruhe<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 125


| S a l o n | K ü c h e n k a b i n e t t<br />

Matzebrot mit<br />

Blutwurst?<br />

Die großen Religionen sorgen auch in der<br />

Küche für kleine Einschnitte. Doch wer die<br />

Bräuche der Glaubensgemeinschaften als<br />

abstrus und nostalgisch verspottet, sollte sich<br />

überlegen, was nach ihnen kommen könnte<br />

Von Thomas Platt und Julius Grützke<br />

O<br />

b es um Moscheen, den Zölibat oder Beschneidungen<br />

geht: Religiöse Traditionen schmecken vielen nicht mehr.<br />

Den Kritikern geht es dabei selten um das Heilsversprechen<br />

der Glaubensrichtungen als vielmehr um ihre Riten, die überwiegend<br />

aus dem alten Orient stammen. In unserer säkularisierten<br />

Gesellschaft scheint es kaum noch verständlich, dass Sitten und<br />

Bräuche gepflegt werden, die auf eine Reglementierung oder gar<br />

eine Verletzung hinauslaufen. Das gilt auch und besonders für die<br />

zahlreichen Gebote, die Nahrungsmittel betreffen.<br />

Es sind zumeist genießbare und oft auch wohlschmeckende<br />

Speisen, von denen die Gläubigen Abstand nehmen sollen. Die<br />

Ursprünge dieser Verbote liegen oft im Dunkeln und sind schwer<br />

vermittelbar. Nicht zuletzt deshalb werden sie streng überwacht.<br />

Die Unreinheit des Schweinefleischs etwa wird meistens auf hygienische<br />

Vorbehalte aus fernen Zeiten und exotischen Klimazonen<br />

zurückgeführt. Anderen Erklärungen zufolge entspringt sie dem<br />

Wunsch, die Haltung von Vieh zu verhindern, das im Leben als<br />

Nahrungskonkurrent auftritt und lediglich nach seinem Tod zum<br />

Nutztier wird. Vorschriften wie die Tötungstechnik des Schächtens<br />

leiten sich aus einem moralischen Vorbehalt ab: Das Blut als<br />

Träger der Seele soll vom Verzehr ausgeschlossen sein.<br />

Die herrschende Meinung verurteilt solche Überlegungen als<br />

abseitig. Als lächerlich gewordene Zeugnisse überkommener Epochen<br />

werden sie umstandslos einer abstrusen Nostalgie zugerechnet,<br />

ähnlich der Fastenzeit und dem Fischgericht am Freitag. Doch<br />

man sollte über diese religiösen Gebote den Stab nicht zu schnell<br />

brechen – Einschränkungen können auch etwas Befreiendes haben:<br />

Wer hat nicht schon vor einer langen Speisekarte gesessen<br />

und unter der Unschlüssigkeit gelitten, die eine große Auswahl<br />

mit sich bringt? In solchen Situationen wünscht man sich ein<br />

Regelwerk. Außerdem stiften Tabus immer auch ein Zugehörigkeitsgefühl.<br />

Wer mit Gleichgesinnten das Matzebrot bricht, bildet<br />

eine Gemeinde – eine Insel der Seligen im Meer aus anderen.<br />

Der Ansehens- und Mitgliederverlust der großen Glaubensgemeinschaften<br />

hat eine Lücke hinterlassen. Der Wunsch, die Welt<br />

an der Tafel in Gut und Böse zu scheiden, besteht jedoch weiter.<br />

Agnostiker essen ihren Fisch vielleicht am Sonntag, aber niemals<br />

mehr Viktoriabarsch, weil sie dessen Zucht und Transport<br />

für unethisch halten. Die Zahl der Vegetarier in unserem Land<br />

nimmt stetig zu. Auch die vielfältigen Allergien und Unverträglichkeiten<br />

stiften im Chaos der Vielfalt eine neue Liturgie. Gerade<br />

Köche der Hochgastronomie klagen über Gäste, die mit ihren<br />

Forderungen nach gluten- und laktosefreien Zubereitungen<br />

und ellenlangen Ausschlusslisten mit verbotenen Früchten die<br />

Küche vor ernste Probleme stellen. Man kann sich gut vorstellen,<br />

dass sich manch einer die Segnungen einer religiösen Ordnung<br />

zurückwünscht. Immerhin absorbiert ihre Autorität die Marotten,<br />

die in einer kirchenfreien Welt regelrecht aufblühen.<br />

Sosehr man spotten mag über die mystischen Bräuche der<br />

Glaubensgemeinschaften – wer sie auf dem Altar der Vernunft<br />

opfern will, sollte bedenken, was danach kommen könnte. Schon<br />

jetzt ermöglicht das Studium des Kochbuchangebots der verschiedenen<br />

ethischen und esoterischen Richtungen einen Ausblick auf<br />

eine Welt ohne Gottesfurcht, die von zahllosen anderen Ängsten<br />

beherrscht wird. Bei all dem, was dort verteufelt wird, bleibt für<br />

den Speiseplan nur eine kleine Auswahl – immer begleitet von dem<br />

Mantra, es schmecke auch sehr gut ohne die verfemten Zutaten.<br />

Parmesan zum Beispiel ersetzt die vegane Küche mit einem Gemisch<br />

aus Hefeflocken und Semmelbröseln aus Dinkelbrot. Nicht<br />

wenige wird es bei solchen Aussichten gruseln, und sie werden sich<br />

fragen, ob man mit den kleinen Einschnitten der hergebrachten<br />

Religionen nicht besser dran gewesen wäre.<br />

Julius Grützke und Thomas Platt<br />

sind Autoren und Gastronomiekritiker.<br />

Beide leben in Berlin<br />

illustration: Thomas Kuhlenbeck/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser<br />

126 <strong>Cicero</strong> 9.2012


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„Er bleibt hinter<br />

den Aufgaben<br />

seines <strong>Am</strong>tes zurück“<br />

Ludwig Poullain<br />

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Angela Merkel<br />

„Verbotsschilder<br />

für Andersdenkende“<br />

Richard David Precht ruft zur Revolution auf<br />

Adriana Altaras und Philipp Blom<br />

streiten über Beschneidung<br />

Peter Maffay<br />

sorgt sich um Rumänien<br />

SONNTAGS, 20:15 IN BERLIN<br />

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über Angela Merkel<br />

„Verbotsschilder für Andersdenkende“<br />

Gesine Schwan<br />

über Joachim Gauck<br />

„Er bleibt hinter den Aufgaben<br />

seines <strong>Am</strong>tes zurück“<br />

Richard David Precht<br />

ruft zur Revolution auf<br />

Adriana Altaras und Philipp Blom<br />

streiten über Beschneidung<br />

Peter Maffay sorgt sich um Rumänien<br />

SONNTAGS, 20:15 IN HANNOVER<br />

AM TATORT<br />

Innenansichten eines TV-Phänomens<br />

<strong>Cicero</strong> September 2012 <strong>Am</strong> <strong>Tatort</strong><br />

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Gesine Schwan<br />

über Joachim Gauck<br />

„Er bleibt hinter den Aufgaben<br />

seines <strong>Am</strong>tes zurück“<br />

Ludwig Poullain<br />

über Angela Merkel<br />

„Verbotsschilder<br />

für Andersdenkende“<br />

Richard David Precht<br />

ruft zur Revolution auf<br />

Adriana Altaras<br />

und Philipp Blom<br />

streiten über Beschneidung<br />

Peter Maffay<br />

sorgt sich um Rumänien<br />

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Joachim Gauck<br />

„Er bleibt hinter den Aufgaben<br />

seines <strong>Am</strong>tes zurück“<br />

Ludwig Poullain<br />

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Angela Merkel<br />

„Verbotsschilder<br />

für Andersdenkende“<br />

Richard David Precht<br />

ruft zur Revolution auf<br />

Adriana Altaras und Philipp Blom<br />

streiten über Beschneidung<br />

Peter Maffay sorgt sich um Rumänien<br />

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„Verbotsschilder<br />

für Andersdenkende“<br />

Richard David Precht ruft zur Revolution auf<br />

Adriana Altaras und Philipp Blom<br />

streiten über Beschneidung<br />

Peter Maffay sorgt sich um Rumänien<br />

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den Aufgaben<br />

seines <strong>Am</strong>tes zurück“<br />

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„Verbotsschilder<br />

für Andersdenkende“<br />

Richard David Precht ruft zur Revolution auf<br />

Adriana Altaras und Philipp Blom<br />

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Peter Maffay sorgt sich um Rumänien<br />

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seines <strong>Am</strong>tes zurück“<br />

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Angela Merkel<br />

„Verbotsschilder<br />

für Andersdenkende“<br />

Richard David Precht ruft zur Revolution auf<br />

Adriana Altaras und Philipp Blom<br />

streiten über Beschneidung<br />

Peter Maffay sorgt sich um Rumänien<br />

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Angela Merkel<br />

„Verbotsschilder für<br />

Andersdenkende“<br />

Richard David Precht<br />

ruft zur Revolution auf<br />

Adriana Altaras und Philipp Blom<br />

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Peter Maffaysorgt sich um Rumänien<br />

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„Verbotsschilder<br />

für Andersdenkende“<br />

Richard David Precht<br />

ruft zur Revolution auf<br />

Adriana Altaras und Philipp Blom<br />

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den Aufgaben<br />

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Joachim Gauck<br />

„Er bleibt hinter<br />

den Aufgaben seines <strong>Am</strong>tes zurück“<br />

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Andersdenkende“<br />

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den Aufgaben<br />

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Richard David Precht<br />

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Das Opernhaus<br />

im Urwald<br />

Seit fünf Jahren macht das niederbayerische<br />

Kulturwald-Festival in der ganzen Welt von sich reden.<br />

Wer steckt hinter den September-Festspielen?<br />

von Eva gesine Baur<br />

D<br />

er Wald sei die Urheimat der<br />

Barbarei, hat August Strindberg<br />

behauptet. Und er sei<br />

der Feind der Kultur. Das mit<br />

der Barbarei würde Thomas<br />

E. Bauer, weltweit gefeierter Bariton, nicht<br />

völlig in Abrede stellen. „In meiner Kindheit<br />

hat es im Bayerischen Wald nach fast<br />

jedem Bierfest heftige Schlägereien und<br />

Messerstechereien gegeben“, sagt er. Ganz<br />

vorbei sei es damit noch immer nicht.<br />

„Das neue Lieder-Traumpaar“, als das die<br />

Musikkritikerin Eleonore Büning Thomas<br />

E. Bauer und seine angeheiratete Begleiterin<br />

Uta Hielscher bejubelte, lebt dennoch<br />

seit fünf Jahren in dieser Gegend,<br />

die bei Partymünchnern als Entwicklungsland<br />

gilt.<br />

Fotos: Kulturwald Festspiele Bayrischer Wald<br />

128 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Wer von hier kommt,<br />

den wirft so leicht nichts<br />

um, sagt man sich in<br />

Niederbayern. Die<br />

Festspiele Bayerischer<br />

Wald versuchen das<br />

trotzdem – mit Bach<br />

im Ratskeller, Punk<br />

in der barocken<br />

Kirche und Beethoven<br />

im Klosterfestsaal<br />

hat, bedeutet nicht etwa, dass ihm die akademische<br />

Fortbildung seiner Landsleute ein<br />

dringendes Anliegen wäre. Die brauchen<br />

nicht zu wissen, dass Horaz der Kultur zutraute,<br />

sie könne belehren, erregen und bewegen.<br />

Sie sollen es nur spüren.<br />

Damit das geschieht, gibt Thomas<br />

E. Bauer einiges ab von seinem Geld, seiner<br />

Zeit und seiner Energie. Denn, erklärt<br />

er sich dankbar mit dem Satz: „Ich habe immer<br />

Glück gehabt.“ Er sei „ein arg schüchternes<br />

Kind“ gewesen und war als Sohn eines<br />

Arbeiters eigentlich nicht mit großen<br />

Chancen gesegnet. In der Grundschule in<br />

Edenstetten hatte er das erste Mal Glück in<br />

Gestalt eines Lehrers, der nebenbei Organist<br />

war und sich ein Klavier ins Klassenzimmer<br />

hatte stellen lassen. Während die<br />

Kinder ihre Buchstaben malten, spielte er.<br />

Alle malten stumm, bis auf einen: Thomas<br />

sang lauthals mit. Vom Lehrer aufgestachelt,<br />

reiste Mutter Bauer mit ihrem singenden<br />

Sohn nach Regensburg, und wie vom Lehrer<br />

erhofft, wurde er Domspatz.<br />

Dann hatte er das Glück, nach der ersten<br />

Halbzeit seines Jurastudiums zum Ersatzdienst<br />

als Altenpfleger ins Abseits berufen<br />

zu werden und festzustellen, was ihm<br />

fehlte: nicht die Stadt, nicht die Paragrafen,<br />

sondern die Musik. Mit fünf anderen<br />

flügge gewordenen Domspatzen gründete<br />

er 1991 ein Vokalensemble, „Singer<br />

Pur“, das sich zuerst vor allem dem Jazz<br />

verschrieb und das Glück hatte, in einer<br />

Regensburger Kneipe den großen Bandleader<br />

Peter Herbolzheimer zu treffen,<br />

der sie zum Bundesjugendjazzorchester<br />

brachte. Als sich dann einer der Sänger in<br />

eine singende Schwedin verliebte, wurde<br />

die Gruppe um einen Kopf und viele Möglichkeiten<br />

reicher und gewann den Deutschen<br />

Musikwettbewerb.<br />

Das Ensemble reiste als Gast deutscher<br />

Botschaften durch alle Kontinente, sog Welt<br />

in sich auf und kultivierte Heimat, indem<br />

es unterwegs Schafkopf spielte. Den Erfolg<br />

der Gruppe fanden Fachleute spektakulär,<br />

Thomas E. Bauer naheliegend: Es sei eben<br />

kostengünstig gewesen, ein paar Sänger einzuladen,<br />

die ohne Instrumente auskamen.<br />

Die Lust auf Jura war Bauer vergangen, die<br />

auf eine Sängerlaufbahn in ihm erwacht. Er<br />

rief bei der Münchner Musikhochschule an<br />

und fragte: „Was muss ich tun, wenn ich<br />

als Sänger weiterkommen will?“ Fassungslos<br />

über so viel Naivität beschied man ihm,<br />

er solle sich mal mit den Bedingungen der<br />

Aufnahmeprüfung beschäftigen. Der Wäldler<br />

sah sich die Namen der Gesangsprofessoren<br />

an, suchte Hanno Blaschke, den ersten<br />

im Alphabet, zu Hause auf, nahm als<br />

Domspatz a. D., der in Regensburg Tonsatz<br />

und Musikgeschichte gelernt hatte, die<br />

Prüfung mit links und ließ seine Gefährten<br />

von „Singer Pur“ ihre Preise künftig alleine<br />

absahnen.<br />

Zu seinen Glückstreffern, sagt Thomas<br />

E. Bauer, gehöre es, zum richtigen<br />

Zeitpunkt den richtigen Menschen begegnet<br />

zu sein. Einen Goldrichtigen zog<br />

er mit seinem niederbayerischen Landsmann<br />

Prof. Siegfried Mauser, Rektor der<br />

Münchner Musikhochschule und Leiter<br />

der Liedklasse; er wurde Bauers Mentor,<br />

„Der Wald ist ambivalent“, sagt Thomas<br />

E. Bauer. „Der hat etwas Ekstatisches,<br />

Dunkles. Eine seltsame Melancholie.“ Die<br />

Wanderwege sind nicht vernünftig ausgezeichnet.<br />

Der Fremde muss sich verlaufen.<br />

Oberbayern ist postkartentauglich und touristentrainiert.<br />

Der Wald ist das Gegenteil<br />

davon. Und Thomas E. Bauer, der zwischen<br />

Washington und Warschau, Rom und Rotterdam,<br />

Peking und Straubing, Barcelona<br />

und Brüssel, Petersburg und Hamburg unterwegs<br />

ist, fühlt sich nach wie vor als ein<br />

typischer Bayernwäldler. „Ich habe hier in<br />

der Gegend 200 Verwandte, und keiner<br />

hat ein Abitur oder jemals etwas von Hölderlin<br />

gelesen.“<br />

Dass der vielseitige Sänger vor fünf Jahren<br />

dort das Festival „Kulturwald“ gegründet<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 129


| S a l o n | P r o v i n z m i t K l a s s e<br />

Begleiter, Freund und riet ihm, sich für die<br />

Titelpartie der Kammeroper „Jakob Lenz“<br />

von Wolfgang Rihm zu bewerben, die im<br />

Rahmenprogramm der Salzburger Festspiele<br />

aufgeführt wurde. „Ich hatte etwas<br />

Einfaches erwartet. Dann hatte ich die Noten<br />

in der Hand und wusste: Oh weh, da<br />

kommt was auf mich zu.“ Thomas E. Bauer<br />

wurde für seine Darstellung des Jakob Lenz<br />

prämiert, weitergereicht unter den lebenden<br />

Komponisten, von Penderecki bis Ruzicka,<br />

und macht sich seither mit Gegenwartsmusik<br />

genauso einen Namen wie mit<br />

Schubert und Haydn, Gluck und Brahms,<br />

Schumann und Bach.<br />

Die Warnung, er verzettle sich, schlug<br />

er in den Wind. „Lied und Oper, Barock<br />

und Gegenwart, Klassik und Volksmusik<br />

profitieren voneinander.“ Das ist auch der<br />

Grundgedanke seines Festivals, das alles andere<br />

als reinsortig ist. Doch bis Bauer dadurch<br />

zu dem wurde, was der Bayerische<br />

Rundfunk den „Fitzcarraldo vom Bayerwald“<br />

nannte, gelang dem Bariton ganz unauffällig<br />

der Aufstieg in die erste Liga seines<br />

Faches. Als er am Deutschen Musikwettbewerb<br />

teilnahm, hatte er eine gute Ausbildung,<br />

aber keine Strategie und keinen Begleiter,<br />

nahm also zuerst den, der ihm dort<br />

gestellt wurde. Als er bis in die Endrunde<br />

durchdrang, wurde ihm eine in Tokio geborene<br />

Pianistin zur Seite gestellt, die einen<br />

Sänger begleitet hatte, der in der ersten<br />

Runde bereits ausgeschieden war. Beide<br />

gewannen, sie als Begleiterin, er als Sänger.<br />

Gewinnen hieß, eine Konzerttournee mit<br />

drei Programmen spendiert zu bekommen.<br />

Die Jury wollte nun die beiden Sieger zusammenspannen,<br />

die Sieger aber wollten<br />

das beide nicht, schon weil es unfair gegenüber<br />

dem Kollegen gewesen wäre. Erst<br />

als verlautbart wurde: „Wenn Sie nicht miteinander<br />

auf Tour gehen, dann streichen<br />

wir das Stipendium“, machten sie gemeinsame<br />

Sache. Und machen es als Ehepaar<br />

Bauer & Hielscher noch immer – auf CD,<br />

auf Musikfestspielen und natürlich beim<br />

eigenen Festival.<br />

Auf die Idee dazu brachte sie der Kauf<br />

eines Landhauses mit großem Grund unweit<br />

von Deggendorf, eine ehemalige Pension<br />

für Berliner Sommergäste mit einem<br />

100 000-Liter-Pool und vielen Zimmern,<br />

in dem die eingeladenen Künstler gratis<br />

übernachten konnten. „Dorthin kommt<br />

kein Mensch“, wurde Fitzcarraldo gewarnt.<br />

Es kamen 3000 Menschen, vor allem aus<br />

„Kultur<br />

kann der<br />

Gesellschaft<br />

einen Ruck<br />

versetzen“:<br />

Thomas<br />

E. Bauer,<br />

Gründer<br />

des niederbayerischen<br />

Kulturwald-<br />

Festivals<br />

der Region, großenteils Menschen, die<br />

noch nie klassische Musik gehört hatten.<br />

Geboten wurde Samba, Schafkopfturnier,<br />

Volksmusik, Punk, Bach und Beethoven.<br />

„Und die, die nur zum Schafkopf<br />

gekommen waren, habe ich genötigt, bis<br />

zum Beethoven zu bleiben. Hinterher haben<br />

sie gesagt: Der Beethoven war gar nicht<br />

so schlecht.“<br />

Bereits im zweiten Jahr fand Fitzcarraldo<br />

Sponsoren, von BMW über Eon bis<br />

zum Rotarier-Club. „Sie haben mir Vertrauen<br />

geschenkt, weil ich gesagt habe:<br />

Ihr müsst mitmachen, aber ich kann euch<br />

überhaupt nichts versprechen.“ Die Presse<br />

fand das Ergebnis jedoch vielversprechend,<br />

denn was Thomas E. Bauer da an international<br />

renommierten Musikerfreunden zusammengezogen<br />

hatte, brachte Weltklasse<br />

in die Provinz. Das war Ziel des Gründers,<br />

der selbst als Kind von der Welt nichts gesehen<br />

hatte und den nicht der Karrierehunger,<br />

sondern der Welthunger in entlegene<br />

Regionen treibt.<br />

Mit seinem Verbündeten Siegfried Mauser<br />

reiste er etwa in der Transsibirischen Eisenbahn<br />

durchs Land, von Omsk bis Tomsk,<br />

von Irkutsk bis Nowosibirsk, um den Menschen<br />

dort in winterlicher Region Schuberts<br />

Winterreise nahezubringen. „Winter, Winterreise,<br />

Sibirien, Transsibirische Eisenbahn:<br />

Die Idee hat sofort gezündet.“ Die Förderer<br />

drängten sich, und Regisseur Klaus Voswinckel<br />

drehte einen Dokumentarfilm über<br />

das Projekt. Die Menschen im hohen Norden<br />

hörten mit feuchten Augen den beiden<br />

Musikern aus Deutschlands Süden zu und<br />

verstanden Schuberts Lieder, ohne ein Wort<br />

Deutsch zu können. Im Truck fuhr Thomas<br />

E. Bauer gemeinsam mit Bernhard Wulff,<br />

Professor für Schlagzeug an der Freiburger<br />

Musikhochschule, auch durch die mongolischen<br />

Wüsten und Steppen, wo sich vor<br />

Konzertbeginn die Besucher hoch zu Ross<br />

am Horizont zeigten und nach den üblichen<br />

Programmpunkten wie Bogenschießen im<br />

Sattel zuhörten, wie der Mann aus Bayern<br />

zum Schlagzeug sang. Thomas E. Bauer ist<br />

stolz darauf, Mitglied des Mongolian Art<br />

Council und Botschafter Niederbayerns zu<br />

sein, gibt im mongolischen Fernsehen gerne<br />

ein mongolisches Volkslied zum Besten und<br />

nimmt an den Treffen in der Niederbayerischen<br />

Botschaft teil, einem Bauernhaus im<br />

Münchner Westpark.<br />

Dass so einer kein Festspielprogramm<br />

bietet, bei dem man die Gehirnwindungen<br />

Foto: Kulturwald Festspiele Bayrischer Wald<br />

130 <strong>Cicero</strong> 9.2012


Foto: Privat (Autorin)<br />

knacken hört, liegt nahe. Und genau das<br />

lockt die Besucher zu den Veranstaltungen<br />

in eine barocke Kirche oder einen<br />

Klosterfestsaal, in einen Stadl oder einen<br />

Ratskeller, ein Kino, eine Glasmanufaktur<br />

oder einen Rittersaal. Von Hugo von<br />

Hofmannsthals „Jedermann“ lassen sie<br />

sich zu Johann Sebastian Bachs Kammermusik<br />

treiben, von Johannes Brahms’ Liederzyklus<br />

„Die schöne Magelone“ zu einer<br />

Voodoo-Nacht mit Vortrag, Film und<br />

Musik aus Benin, von einer Fado-Sängerin<br />

zu Ludwig van Beethovens neunter Sinfonie.<br />

„Ich will nicht verkrampft irgendwelche<br />

Zusammenhänge herstellen. Diese<br />

Suche nach einem Motto hat so etwas Bemühtes.<br />

Unser Kulturwald-Festival ist wie<br />

ein Kindergeburtstag.“<br />

Mit einem höchst erwachsenen Anliegen<br />

des Festivalgründers: Er will hier im<br />

Bayerischen Wald zeigen, dass Kultur nicht<br />

nur Sinn stiften, sondern auch Infrastrukturen<br />

schaffen kann. „Kultur kann der Gesellschaft<br />

einen Ruck versetzen und so Entwicklungen<br />

in Gang bringen.“<br />

Nach Blaibach bei Kötzting, nah an<br />

der Grenze zu Tschechien gelegen, kam<br />

man bisher nur aus Versehen. In Zukunft<br />

kommt man dorthin mit gutem Grund:<br />

Ausgerechnet in Blaibach baut Thomas<br />

E. Bauer ein Konzerthaus. Nichts bajuwarisch<br />

Rustikales, sondern eine visionäre<br />

Architektur. Bisher war Blaibach<br />

ein völlig heruntergekommenes, ruinöses<br />

Dorf. Jetzt wird dort restauriert und investiert,<br />

ein neues Hotel aufgemacht und<br />

das Schwimmbad wieder in Betrieb genommen.<br />

Fitzcarraldo scheiterte mit seinem<br />

Vorhaben, im Urwald ein Opernhaus<br />

zu errichten. Bauer hat im Bayernwald Erfolg.<br />

Warum?<br />

Im vergangenen Jahr hat er Mozarts<br />

„Zauberflöte“ aufgeführt. Die Partie des ersten<br />

Knaben studierte seine Tochter Naomi<br />

ein, während sie im beschallten Hof Rollerblades<br />

lief. Dass der „Zauberflöten“-Librettist<br />

Emanuel Schikaneder, ein Mann, der<br />

zahlreiche Krisen durchstand, aus seiner<br />

Heimat stammt, ist für Thomas E. Bauer<br />

kein Zufall: „Wer von dort kommt“, sagt<br />

er, „den wirft so leicht nichts um.“<br />

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Das leben als Pfeife<br />

Rainer Moritz ist bekennender Schlager- und Fußballfan und gilt als eine Art Tausendsassa<br />

des Buchbetriebs. Ein Bibliotheksbesuch beim Leiter des Hamburger Literaturhauses<br />

Von Claudia Rammin<br />

132 <strong>Cicero</strong> 9.2012


B i b l i o t h e k s p o r t r ä t | S a l o n |<br />

Foto: Florian Sonntag<br />

Sein wichtigstes Buch schenkte ihm seine Tante Maria, als er acht war:<br />

Rainer Moritz in seiner Altbauwohnung in Hamburg-Eppendorf<br />

M<br />

it dem Abseits kennt er sich aus. Als Rainer Moritz<br />

sieben war und sonnabends die Frühstücksbrezeln<br />

beim nahe gelegenen Bäcker holte, sang er eines Tages<br />

lauthals und unbedarft Bill Ramseys „Pigalle, Pigalle,<br />

das ist die größte Mausefalle mitten in Paris“. Dafür<br />

bekam er eine extra Laugenbrezel in die Tüte. Es war der Beginn seiner<br />

Begeisterung für das deutsche Liedgut. Und die wirkte für viele<br />

mindestens genauso abseitig wie seine spätere Tätigkeit als jugendlicher<br />

Schiedsrichter auf dem Fußballplatz. Schon mit 17 machte<br />

der in Heilbronn geborene Schwabe seine Schiriprüfung. Acht Jahre<br />

lang hatte er bei Kreis- und Bezirksligaspielen die Gelbe Karte so<br />

locker sitzen wie weiland John Wayne den Colt.<br />

Doch er hat davon profitiert. „Das Leben als Pfeife stählt“,<br />

lacht Moritz, studierter Germanist, Lektor, Verlagschef, Herausgeber,<br />

Kritiker, Autor und seit 2005 Chef des Hamburger Literaturhauses.<br />

Gäste, die der 54-Jährige in seiner Altbauwohnung in<br />

Hamburg-Eppendorf empfängt, erfahren gleich im Flur viel über<br />

die Faszination des Hausherrn für den Ball, den er zur Freude seines<br />

sechsjährigen Sohnes „heute noch treten kann“. Mehrere Hundert<br />

Bücher über Fußball sammeln sich in langen Regalreihen. Sie<br />

sind „nach dem Umzug vor kurzem leider immer noch nicht alphabetisch<br />

geordnet“, bedauert Moritz. Er schiebt unwirsch einen<br />

Bonsai-Kickertisch im Regal beiseite, der ihm die Sicht auf<br />

seine Schätze versperrt. Antiquarische Ausgaben von „Soccer Revolution“,<br />

daneben „Pfeifend durch die Welt“ aus dem Jahr 1943,<br />

sein eigenes Werk über die ungeliebte elfte Fußballregel: „Abseits.<br />

Das letzte Geheimnis des Fußballs“. Früher, erzählt er, war es im<br />

Kulturbetrieb relativ schwierig, sich als Fußballfan zu outen. Im<br />

Gegensatz zur Beschäftigung mit dem Schlager, der „immer auch<br />

ein Stück deutsche Sozialgeschichte widerspiegelt“, galt die Auseinandersetzung<br />

mit dem Sport lange als unintellektuell. Das war<br />

natürlich, bevor Ballexegeten wie Dirk Schümer oder der Günter-Netzer-Biograf<br />

Helmut Böttiger in den neunziger Jahren die<br />

Feuilletonisierung des Fußballs einleiteten.<br />

Sein „wichtigstes Fußballbuch“ schenkte ihm seine Tante Maria,<br />

als er acht war. Moritz holt ein kleines, schmales, 1966 erschienenes<br />

Bändchen aus dem Regal, von seinem Torwartidol, dem<br />

famosen Petar Radenković. „Das Spielfeld ist mein Königreich“<br />

heißt es. Mit sakralem Tremolo in der Stimme zitiert er: „Es gibt<br />

keine unhaltbaren Bälle.“ Ein „hochphilosophischer Satz, der für<br />

das ganze Leben gilt. Nur wenn der Torwart richtig steht, hält er<br />

jeden Ball.“<br />

Doch nun von der Alltags- zur Hochkultur, vom Flur ins<br />

Wohn- und Esszimmer. Jeweils sechs Meter Designerregale ragen<br />

an den Wänden der beiden Räume in die Höhe. Sie bergen<br />

die Belletristik, streng geordnet nach Alphabet, von A wie Herbert<br />

Achternbuschs „Die Stunde des Todes“ bis Z wie Gerhard<br />

Zwerenz’ „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“. Dazwischen<br />

Julien Greens „Adrienne Mesurat“, einer seiner frühesten<br />

Romane und einer von Moritz’ liebsten. „Ein psychologisch bis<br />

ins Kleinste austariertes Meisterwerk“, sagt er und steigt auf die<br />

Leiter, die an der Bücherwand lehnt. Die erste Übersetzung habe<br />

ihm ein Freund geschenkt. „Auch hier wurde nach dem Umzug<br />

noch nicht perfekt sortiert“, murmelt der Hausherr, der sich als<br />

„sehr ordnungsliebend“ bezeichnet. Eine Hilfe hatte wohl Schwierigkeiten<br />

mit dem ABC.<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 133


| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

Der Mann fürs Abseits: Im „Bookinist“-Sessel des Designers Nils Holger Moormann lässt sich wegen der harten Sitzoberfläche nur in asketischer<br />

Haltung lesen; eines von Rainer Moritz’ Lieblingsbüchern ist Julien Greens heute kaum noch bekannter Roman „Adrienne Mesurat“<br />

Zu seinen Hausgöttern zählen auch Gustave Flaubert und Hermann<br />

Lenz. Er sei zwar kein Sammler, aber von Lenz habe er sich<br />

fast alle Erstausgaben zugelegt, ebenso von „Auf der Suche nach<br />

der verlorenen Zeit“. Das sei der moderne Roman schlechthin,<br />

sagt Moritz, der neben seinen anderen Tätigkeiten noch als Vizepräsident<br />

der Marcel-Proust-Gesellschaft tätig ist. Auch wenn er<br />

immer wieder gern Kriminalromane lese, sei er sehr dafür, Literatur<br />

ernst zu nehmen, auch als Sprachkunstwerk. „Ich habe durchaus<br />

eine Schwäche für Romane, in denen wenig passiert. Stifters<br />

‚Nachsommer‘ ist ein Musterbeispiel dafür, wie durch stilistische<br />

Feinheiten Atmosphäre geschaffen wird, Landschaftsbilder heraufbeschworen<br />

werden.“ Die „ganz harte Variante an Langatmigkeit,<br />

reduzierter, fast karger Sprache“ sei Stifters Mittelalterroman<br />

„Witiko“. 1000 Seiten Dünndruck, die sich Moritz einst auf einem<br />

Campingplatz in der Bretagne erarbeitet hat. „Das werde<br />

ich nie vergessen.“<br />

Die vereinzelten Lücken in Rainer Moritz’ Regalen entpuppen<br />

sich als schimärenhafter Stauraum für Neuzugänge. „Der hält<br />

höchstens für ein Jahr.“ Aber es gibt zum Glück ein Zwischenlager<br />

im Literaturhaus. Nicht jedes Buch schafft die Hürde zu ihm<br />

nach Hause. „Aber was hier ist, darf hierbleiben. Es wandert nicht<br />

mehr zurück“, sagt er und fügt kategorisch hinzu: „Ich sortiere<br />

keine Bücher aus, auch wenn meine Frau das gern hätte.“ Moment,<br />

„wir haben ja auch trojanische Pferde“, sagt er schmunzelnd.<br />

Er sucht unter L und greift nach Hera Linds „Das Superweib“.<br />

Kleinlaut entschuldigt er sich für das literarische Schmuddelkind,<br />

offenbar nicht das einzige. Er habe mal etwas über Unterhaltungsromane<br />

schreiben müssen und auch eine Dora Heldt und eine<br />

Gaby Hauptmann gelesen.<br />

Moritz ist Frühaufsteher, „notorisch fleißig und fröhlich“. Er<br />

liest sehr viel, wann immer sich eine Nische findet. <strong>Am</strong> liebsten zu<br />

Hause in seinem schwarzen Leder-Lady’s-Chair. Er besitzt auch den<br />

rollbaren „Bookinist“ des Designers Nils Holger Moormann, aber<br />

der erfordert wegen seiner harten Sitzfläche eher eine asketische Lesehaltung.<br />

Manchmal schafft er es auch während der Arbeitszeit im<br />

Literaturhaus, in dem er für die Programmgestaltung und die Finanzen<br />

verantwortlich ist. Bei knapp 100 000 Erstauflagen im Jahr ist<br />

es wahrlich nicht leicht, wie eine Art Pythia des Buchwesens Autoren<br />

herauszupicken, die er zu Lesungen einladen kann.<br />

Plötzlich wird Moritz von einem ohrenbetäubenden Lärm aus<br />

dem Flur unterbrochen: „Tor, Toor, Tooor.“ Das Geschrei kommt<br />

von einer Soundinstallation, die bei starker Lichteinwirkung Herbert<br />

Zimmermanns tönendes Wunder von Bern erklingen lässt.<br />

Der Blitz des Fotografen hatte sie offenbar ausgelöst. Moritz verfällt<br />

in unbändiges Gelächter, ehe er sich wieder in Worte fassen<br />

kann.<br />

Er habe schon als Jugendlicher viel gelesen, sagt er dann, immer<br />

noch grinsend. „Ich komme nicht aus einem klassischen Bildungsbürgerhaus.<br />

Mein Vater war kein Leser, die Mutter zwar<br />

im Bücherbund, aber es war alles sehr überschaubar.“ Moritz,<br />

Mittelkind – ein Ausdruck wie Mittelklassewagen –, hatte einen<br />

fünfeinhalb Jahre älteren Bruder und eine fünfeinhalb Jahre jüngere<br />

Schwester und fühlte sich häufig allein. Er vergrub sich früh<br />

in Büchern, zur Sorge seiner Mutter. In der Stadtbücherei entdeckte<br />

er einen Autor, den „niemand außer mir kennt“. Anthony<br />

Buckeridge, in England sehr populär, schrieb „harmlose Geschichten,<br />

klassische Schulromane“. Aber auch Daniel Defoe „Moll Flanders“<br />

hat er begierig mit nach Hause genommen. Das war „ein<br />

wichtiger Faktor in meiner Sozialisation, die ohnehin untypisch<br />

war. Ich sage nur Stichwort Schlager. Als ich 13 oder 14 war, habe<br />

ich Bernd Clüvers ‚Der Junge mit der Mundharmonika‘ gesungen,<br />

während die anderen auf die Rolling Stones standen.“ Bei<br />

den Mädchen war er nicht besonders populär.<br />

Die schräge Passion hat Moritz in „Ich Wirtschaftswunderkind“<br />

schreibend verarbeitet. Überhaupt hat er viele Bücher geschrieben,<br />

Anthologien, Literaturkritiken, Essays. Vor drei Jahren probte er<br />

erstmals das „leichte Fach – Romane, die leicht sind, aber nicht<br />

peinlich“. Ein dritter Versuch folgt in diesem Herbst bei Piper:<br />

„Sophie fährt in die Berge“. Weiß seine Frau, worüber er schreibt?<br />

Ja, Überraschungen à la Charlotte Roche gibt es im Hause Moritz<br />

nicht. Auch von Experimenten gemäß Karen Duve, deren Buch<br />

„Anständig essen – ein Selbstversuch“ es immerhin in seine Bibliothek<br />

geschafft hat, hält er wenig, verrät er zum Schluss unseres<br />

Gesprächs. Er werde sich von keiner Abhängigkeit befreien und<br />

auch künftig nicht auf schweren Rotwein, gefüllte Kalbsbrust, die<br />

Lindenstraße oder die Bundesliga verzichten.<br />

Claudia Rammin<br />

arbeitete für CNN, dpa, den Stern und das Zeit-Magazin.<br />

Heute lebt sie als freie Journalistin in Hamburg<br />

Fotos: Florian Sonntag, privat (Autorin)<br />

134 <strong>Cicero</strong> 9.2012


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| S a l o n | D a s S c h w a r z e s i n d d i e B u c h s t a b e n<br />

Die Frau, die ein<br />

Baum sein wollte<br />

In mancher Hinsicht liegt der Iran viel näher an<br />

Deutschland, als man gemeinhin denkt. Über Bücher<br />

von Shahrnush Parsipur und Gabriele Goettle<br />

Die Bücherkolumne von Robin Detje<br />

Z<br />

wei Frauen ziehen in die Welt und<br />

schreiben. Die Welt ist gegen die<br />

Frauen, wenn auch auf jeweils<br />

sehr verschiedene Weise. Die eine bringt<br />

sich mit ihrem Schreiben in Lebensgefahr<br />

und verbringt Zeit im Gefängnis. Die andere<br />

lebt in einer Welt, in der eigentlich alles,<br />

dann aber doch nicht alles erlaubt ist,<br />

und protokolliert die zermürbenden kleinen<br />

Kämpfe des weiblichen Berufslebens.<br />

Die eine schreibt poetisch, die andere fast<br />

bürokratisch. In der Welt der einen wird<br />

man so grausam attackiert, dass man sich<br />

in lyrische Traumfantasien retten muss;<br />

in der Welt der anderen fühlt man sich<br />

eher langsam im Rahmen der Vorschriften<br />

zermahlen.<br />

Nummer eins: Iran. Shahrnush Parsipurs<br />

Buch „Frauen ohne Männer“ macht<br />

einen geradezu aberwitzigen Vorschlag,<br />

wie man größtem Leid und politischer<br />

Bedrängnis begegnen kann: mit Schönheit<br />

und Poesie. (Shahrnush Parsipur: „Frauen<br />

ohne Männer“; aus dem Farsi von Jutta Himmelreich;<br />

Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2012;<br />

137 Seiten, 19,95 Euro) Die Autorin kann<br />

sich dabei auf Traditionen der persischen<br />

Literatur berufen, die zweieinhalbtausend<br />

Jahre zurückreichen. Davon verstehen wir<br />

nichts. Beim Lesen können wir nur staunen<br />

vor den dreisten Brüchen und Wendungen<br />

der Erzählung. Oft sind sie von geradezu<br />

clownesker Komik.<br />

Der Titel ist eine bewusste Umkehrung<br />

von Hemingways „Männer ohne Frauen“.<br />

Das Buch spielt im Iran der fünfziger Jahre.<br />

Es gibt darin eine Frau, die aus Weltekel<br />

und Enttäuschung beschließt, ein Baum<br />

zu werden. Sie rammt sich in die Erde<br />

und schlägt Wurzeln. Im Garten rund um<br />

diesen Menschenbaum finden sich andere<br />

Frauen ein, Männerflüchtige und Vertriebene,<br />

ein kleines Häuflein, das dort einen<br />

Sommer verbringt. Eine von ihnen ist<br />

schon zweimal gestorben, was ihren Blick<br />

auf die Welt natürlich prägt. Eine andere<br />

wird in der Schwangerschaft durchsichtig:<br />

„ganz kristallen …, transparent, eins mit<br />

dem Licht“. Alle haben Tragisches erlebt –<br />

Ehrenmord, Vergewaltigungen –, aber sie<br />

sind keine Herzchen, und nach der Zeit im<br />

verzauberten Garten leben sie wieder ganz<br />

normale kleine Leben und arrangieren sich.<br />

Das ist eine struppige, wie von einem<br />

Vogel dahingezwitscherte Geschichte. Sie<br />

enthält Sätze wie: „Bei Gott, glaub mir,<br />

Jungfräulichkeit ist völlig unwichtig.“ Sie<br />

empfiehlt Frauen, ihre Körper kennenzulernen<br />

und ihre Sexualität auszuleben.<br />

Das Buch wurde Ende der siebziger Jahre<br />

illustration: cornelia von seidlein<br />

136 <strong>Cicero</strong> 9.2012


foto: Loredana Fritsch<br />

geschrieben, 1990 im Iran veröffentlicht<br />

und verboten. Da hatte die Autorin schon<br />

viel Zeit hinter Gittern verbracht. Heute<br />

lebt sie in den USA. Shahrnush Parsipurs<br />

Erinnerungen an ihre Haft im Iran sollen<br />

im kommenden Jahr auf Englisch im<br />

Verlag Feminist Press erscheinen. Auszüge<br />

kann man schon im Netz lesen.<br />

Aus dem Stoff des Romans hat die bildende<br />

Künstlerin Shirin Neshat einen geradezu<br />

prunkvoll süffigen und trotzdem<br />

seltsam vergurkten Film gemacht, für den<br />

sie im Jahr 2009 auf den Filmfestspielen<br />

von Venedig preisgekrönt wurde. („Women<br />

without Men“; Regie: Shirin Neshat; DVD,<br />

Euro Video, 2011; Farsi mit deutschen Untertiteln;<br />

im Online-Handel zwischen 6 und<br />

19 Euro) Die Frau als Baum ist gestrichen,<br />

dafür wird plötzlich ganz viel politisches<br />

Geschehen nacherzählt, was den mystischen<br />

Bildern, in die Kamera und Regie<br />

viel verliebter zu sein scheinen, seltsam das<br />

Wasser abgräbt. Ein Film, der sich selbst<br />

nicht kennt.<br />

***<br />

Nummer zwei: Deutschland. Ein prosaisches<br />

Land. Berlin, Bayreuth, Lüchow-<br />

Dannenberg. Seit circa 20 Jahren ist Gabriele<br />

Goettle mit Elisabeth Kmölninger<br />

bei uns unterwegs und porträtiert Menschen.<br />

Das heißt: Sie räumt ihnen Platz für<br />

lange, kunstlos anmoderierte O-Ton-Passagen<br />

ein. Auf über 2000 Buchseiten ist ihre<br />

Deutschland-Erzählung inzwischen angewachsen.<br />

(Im Juli war in dieser Kolumne<br />

vom Endlostext des Thomas Kapielski die<br />

Rede, im Oktober wird es um den Endlosheimatroman<br />

des Rainald Goetz gehen.)<br />

Und je gnadenloser die von zahllosen<br />

Kommunikationsagenturen gepimpte<br />

Deutschland-Inszenierung auf allen Kanälen<br />

auf uns hereinprasselt, desto kostbarer<br />

kommt uns Gabriele Goettles unstillbare<br />

Neugier auf das Grau des wirklichen Lebens<br />

vor.<br />

Im neuen Band „Der Augenblick“ gesellt<br />

sich zur unparteiischen Neugier gelegentlich<br />

der Zorn auf den Untergang des<br />

Wohlfahrtsstaats BRD, auf das Ende einer<br />

besseren und gütigeren Zeit. ( Gabriele<br />

Goettle: „Der Augenblick – Reisen durch den<br />

unbekannten Alltag“; Kunstmann-Verlag,<br />

München 2012; 396 Seiten, 22,95 Euro)<br />

Je weniger sich dieser Zorn zwischen die<br />

Reporterin und ihre Geprächspartnerin<br />

schiebt, desto kühler dürfen wir sie<br />

betrachten, und seltsamerweise macht erst<br />

diese Kühle beim Lesen echte Einfühlung<br />

möglich. Dann verliert man sich in seltsamen<br />

Beschreibungen eines Lebens als<br />

Präparatorin medizinischer Exponate, als<br />

Sozialanwältin, als Kämpferin gegen die<br />

Psychiatrie oder als Bodybuilderin. Dann<br />

sind diese Frauen einem so schön fremd.<br />

Und eine geglückte Fremdheitserfahrung<br />

ist immer das größte Geschenk, das Bücher<br />

uns machen können.<br />

Natürlich teilt man den Zorn der Autorin.<br />

Immer wieder streut sie den Namen<br />

Peter Hartz ein, weil sie uns daran erinnern<br />

will, dass die einschneidendste Sozialreform<br />

Nachkriegsdeutschlands bis heute<br />

den Namen eines wegen Untreue rechtskräftig<br />

verurteilten Automanagers trägt.<br />

Und daran, wie viel das über den Anstandsbegriff<br />

unserer Eliten aussagt. Was aber von<br />

der Lektüre dieses Buches vor allem übrig<br />

bleibt, ist ein fast überscharfes Bild vom<br />

Klein-Klein eines deutschen Alltagslebens<br />

aus bürokratischen Vorschriften, starren<br />

Hierarchien und kleinlichem, dörflichem<br />

Misstrauen. Von den Bindungen der eigenen<br />

Biografie und den ganz altmodischen<br />

deutschen Tugenden, die diese Frauen benötigen,<br />

um sich trotzdem durchzusetzen:<br />

Fleiß und Beharrlichkeit.<br />

Zwei unterschiedlichere Bücher kann<br />

man sich kaum vorstellen. Obwohl die beiden<br />

Autorinnen gut gemeinsam auf einem<br />

Podium sitzen könnten: Politisch hätten sie<br />

einander viel zu sagen. Die eine schreibt,<br />

um Frauen überhaupt erst einmal einen<br />

Raum zu öffnen, die andere lehrt uns, dass<br />

dieser Raum, einmal erkämpft, zäh verteidigt<br />

werden muss. Die eine gewinnt ihrer<br />

Bedrängnis ein merkwürdig helles Leuchten<br />

ab, ein Feuerwerk aus großer Not. Und<br />

die andere beharrt auf einem Grau, so undurchdringlich,<br />

dass man sich nach der<br />

Lektüre kaum noch eine andere Farbe vorstellen<br />

kann. So klaustrophobische Züge<br />

nimmt die deutsche Normalität bei Gabriele<br />

Goettle an, dass man im Grunde auswandern<br />

möchte, sobald man mit dem<br />

Buch durch ist. Notfalls in den leuchtenden<br />

Iran, und wenn man dabei in Lebensgefahr<br />

geriete.<br />

Robin Detje<br />

lebt als Autor und Übersetzer<br />

in Berlin<br />

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9.2012 <strong>Cicero</strong> 137


138 <strong>Cicero</strong> 9.2012


D i e l e t z t e n 2 4 S t u n d e n | S a l o n |<br />

„Mensch, hätt ick mal …“<br />

Warum sich Kurt Krömer vor einem deliriösen Abgang<br />

noch schnell mit Heinz Buschkowsky versöhnen würde<br />

wFoto: Maurice Weiss/Ostkreuz<br />

N<br />

a jut. 24 Stunden also. Ganz<br />

klar. Ich würde überall dort rauchen,<br />

wo es verboten ist. Und<br />

ich würde spazieren gehen. Im Grunewald.<br />

Den Tag, den ich dann noch zu<br />

leben hätte, möchte ich für mich haben.<br />

Teilweise würde ich den Leuten<br />

gar nichts sagen. Die Mitleidsschiene<br />

brauch ich nicht. Was mir auf den Sack<br />

gehen würde, wären Leute, die sagen,<br />

„Oh, dit is ja traurig. Kieck ma, 17 Stunden<br />

noch, ach dit is ja schade, wa? Wir<br />

leben alle weiter und du musst jehn.“<br />

Nein. Ich würde all das machen, was<br />

man nicht machen darf: So richtig viel<br />

essen, viel saufen, mit dem Auto übern<br />

Ku’damm fahren. Ich hab ja keinen Führerschein.<br />

Also alles auf die Spitze treiben.<br />

Obwohl. Vielleicht sollte ich nicht<br />

ganz so viel trinken, sonst vergisst man ja<br />

wieder alles. Und dann vergesse ich vielleicht,<br />

dass ich nur noch 15 Stunden zu<br />

leben hätte, und am Ende verpasse ich<br />

dann den eigenen Tod.<br />

In meine letzte Sendung würde ich all<br />

die Leute einladen, die bis jetzt nicht gekommen<br />

sind. Denen würde ich sagen:<br />

„Ick hab nur noch einen Tag zu leben und<br />

denn muss ick qualvoll sterben. Können<br />

Se nich kommen, Herr Adorf.“ Oder<br />

Udo Lindenberg. Ich würde sagen: „Udo,<br />

komm ma morgen, ick hab nich mehr so<br />

Seit Mitte August ist Kurt Krömer,<br />

Deutschlands Lieblingskomiker,<br />

wieder im Fernsehen zu<br />

sehen. Nach seiner inzwischen<br />

legendären „Internationalen<br />

Show“, einem Grimme-Preis<br />

und einem erfolgreichen Ausflug<br />

ins Filmbusiness moderiert er<br />

jeden Samstag die „Late-Night-<br />

Show“ im Ersten. Direkt nach<br />

dem Wort zum Sonntag<br />

lang.“ Nach der Show würden wir dann<br />

einen trinken gehen. Zwei große Bier<br />

und dann vom Tresen fallen. „Lasst mich<br />

liegen, trinkt weiter uff mein Wohl!“,<br />

würde ich rufen. Und die Rechnung bliebe<br />

auch aus.<br />

Vielleicht könnte ich mich auch mit<br />

Heinz Buschkowsky versöhnen. Meine<br />

Harmoniebedürftigkeit würde vermutlich<br />

durchschlagen. Obwohl. Er hat<br />

ja angefangen, mich zu beleidigen. Für<br />

sein gutes Gewissen würde ich es tun.<br />

Nicht, dass er am Ende von meinem Tod<br />

aus der Zeitung erfährt und sich sagt:<br />

„Mensch, der Krömer, mit dem hatte ich<br />

mich doch gestritten und jetzt isser tot.<br />

Mensch, hätt ick mal …“ Ich würde in<br />

sein Büro gehen, ihm die Hand reichen<br />

und sagen: „Buschkowsky, ick nehm dit<br />

uff meene Kappe, es war meine Schuld,<br />

ick entschuldige mich in aller Form bei<br />

Ihnen.“ Beim Rausgehen würde ich dann<br />

denken, was ich für den Blödmann alles<br />

gemacht habe, das geht auf keine Kuhhaut,<br />

und dann treff ich mich mit Udo.<br />

Davon darf Buschkowsky aber nichts<br />

erfahren.<br />

Wie viele Stunden hab ick noch? Oh.<br />

Ich würde noch mal gern jemanden zusammenschlagen,<br />

mal so richtig ohrfeigen.<br />

Ich prügele mich ja nie. Einmal<br />

rausfinden, wie das ist. <strong>Am</strong> besten in<br />

meiner Sendung. Und die Intendantin<br />

sagt dann: „Ab morgen können Sie sich<br />

einen neuen Arbeitsplatz suchen, Herr<br />

Krömer.“ Es müsste auf jeden Fall einer<br />

sein, der es verdient hat. Einer, bei dem<br />

alle sagen: Jawohl. Es dürfte auch niemand<br />

sein, der einen Kopf kleiner ist.<br />

Und es müsste jemand sein, bei dem man<br />

weiß, wenn man den schlägt, dann ist dit<br />

übel …<br />

Aber den Namen nehme ich mit ins<br />

Grab. Echt. Man muss, auch wenn man<br />

tot ist, noch Geheimnisse haben. Ich<br />

schreibe den Namen dann auf ein Zettelchen,<br />

der kommt in einen Umschlag,<br />

den ich in der ausgestreckten Hand halte.<br />

Und dann geht die Kiste zu. Klappe<br />

zu, Affe tot.<br />

9.2012 <strong>Cicero</strong> 139


C i c e r o | P o s t S c r i p t u m<br />

Klarer denken<br />

Von Alexander Marguier<br />

D<br />

ie Energiewende in ihrem Lauf halten weder Ochs noch<br />

Esel auf. Frei nach Erich Honecker, dem großen Staatsratsvorsitzenden<br />

der DDR, lautet so inzwischen der<br />

Marschbefehl des neuen Bundesumweltministers Peter Altmaier.<br />

Da unterscheidet er sich übrigens kaum von seinem Vorgänger<br />

Norbert Röttgen, für den „die größte wirtschaftspolitische Herausforderung<br />

seit dem Wiederaufbau“ (Altmaier) ungefähr der<br />

Dimension des eigenen Egos entsprach. Auf den ersten Blick<br />

könnten die beiden Herren unterschiedlicher kaum sein; tatsächlich<br />

steht der stets jovial-gemütlich wirkende Peter Altmaier<br />

in wohltuendem Kontrast zum schneidig-selbstverliebten Superstaatsmann<br />

aus Meckenheim, der sich trotz seiner Pleite in<br />

NRW immer noch für den besseren Bundeskanzler halten mag.<br />

Aber man sollte sich da nicht täuschen lassen – auch nicht von<br />

Altmaiers saarländischem Zungenschlag, der (mit Ausnahme<br />

des gebürtigen Neunkircheners Honecker) irgendwie volkstümlich<br />

und auf sympathische Weise unpreußisch klingt.<br />

Denn von dialektischer Färbung abgesehen, sind die jüngsten<br />

Einlassungen des Bundesumweltministers geradezu mustergültiger<br />

Apparatschik-Sprech: Als „irreversibel“ bezeichnete Peter<br />

Altmaier die Energiewende jüngst bei der Präsentation eines<br />

„Zehn-Punkte-Programms“ zur Umweltpolitik – gerade so, als<br />

handle es sich um eine physikalische Notwendigkeit, und nicht<br />

um ein von Menschen gemachtes Gesetz. „Irreversibel“, also<br />

unumkehrbar, bedeutet ja in diesem Fall nichts anderes als ein<br />

Festhalten am Atomausstieg auch für den Fall, dass neu hinzugewonnene<br />

Erkenntnisse Zweifel am gesamten Projekt aufkommen<br />

lassen würden. Solches Handeln wider besseres Wissen<br />

wäre aber eine ausgemachte Dummheit, um nicht zu sagen: gegen<br />

die Interessen der eigenen Bevölkerung. Wie kommt Peter<br />

Altmaier, der dem Vernehmen nach ja ein kluger Kopf sein soll,<br />

zu derlei Behauptungen?<br />

Ein Blick in Rolf Dobellis Dauerbestseller „Die Kunst des<br />

klaren Denkens“ hilft da möglicherweise weiter, genauer gesagt,<br />

in das Kapitel „The Sunk Cost Fallacy“. Die sogenannten versunkenen<br />

Kosten sind ein Bild aus der Spieltheorie, mit dem<br />

irrationale Momente menschlichen Verhaltens erklärt werden<br />

können. Aktienbesitzer kennen das vielleicht aus eigener Erfahrung:<br />

Je tiefer ein Wertpapier unter den Einstandspreis sinkt,<br />

desto geringer ist die Bereitschaft, sich von ihm zu trennen –<br />

und zwar unabhängig von der prognostizierten Kursentwicklung.<br />

Das ist ähnlich wie bei einer unglücklichen Ehe: Die Trennung<br />

fällt umso schwerer, je länger die Beziehung währt. Denn die<br />

Partner haben ja bereits so viele Emotionen in sie investiert. Das<br />

Motiv für objektiv widersinniges Weitermarschieren auf dem<br />

einmal eingeschlagenen Weg besteht in Dobellis Worten darin:<br />

„Menschen streben danach, konsistent zu erscheinen. Mit Konsistenz<br />

signalisieren wir Glaubwürdigkeit. Widersprüche sind<br />

uns ein Gräuel. Entscheiden wir, ein Projekt in der Mitte abzubrechen,<br />

generieren wir einen Widerspruch: Wir geben zu, früher<br />

anders gedacht zu haben als heute.“<br />

Zuzugeben, früher anders gedacht zu haben als heute – mit<br />

diesem Satz ist das Modernisierungsprogramm der CDU ziemlich<br />

präzise auf den Punkt gebracht: Die Partei Peter Altmaiers<br />

hat unter Angela Merkels Führung während der vergangenen<br />

zehn Jahre unter Ächzen und Stöhnen viele „versunkene Kosten“<br />

abgeschrieben und alte Positionen geräumt – von der Ausländerpolitik<br />

über Kindererziehung bis hin zur Homo-Ehe; bei<br />

der Atompolitik ist ihr sogar das denkwürdige Kunststück einer<br />

doppelten Kehrtwende gelungen. Wer kann es dem Bundesumweltminister<br />

da schon verdenken, wenn er jetzt endlich ganz<br />

besonders konsistent erscheinen will – und „irreversibel“ nennt,<br />

was in einer Demokratie selbstverständlich auch wieder rückgängig<br />

gemacht werden kann?<br />

Rolf Dobellis Buch trägt übrigens den Untertitel „52 Denkfehler,<br />

die Sie besser anderen überlassen“. Minister Altmaier<br />

sollte sich das zu Herzen nehmen.<br />

Alexander Marguier<br />

ist stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

Illustration: Christoph Abbrederis; Foto: Andrej Dallmann<br />

140 <strong>Cicero</strong> 9.2012


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