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Cicero Keine Zeit! (Vorschau)

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WWW.CICERO.DE<br />

August 2012<br />

8 EUR / 12,50 CHF<br />

www.cicero.de<br />

Eberts Staatsstreich<br />

90 Jahre Nationalhymne<br />

<strong>Keine</strong> <strong>Zeit</strong>!<br />

Warum wir immer mehr machen und zu<br />

immer weniger kommen…<br />

…und was wir dagegen tun können<br />

Ist die Demokratie zu<br />

langsam?<br />

Franz Müntefering über Politik<br />

im Schweinsgalopp<br />

„Tristan ist gesünder<br />

als LSD“<br />

Der Dirigent Christian Thielemann<br />

über Rauschzustände in der Musik<br />

Der Chef von<br />

Tom Cruise<br />

Das mysteriöse Leben des<br />

Scientology-Führers David Miscavige<br />

Österreich: 88 EUR, Benelux: 9 EUR, Italien: 9 EUR<br />

Spanien: 9 EUR, 9 EUR, Portugal (Cont.): 9 EUR, 9 EUR Finnland: 12 EUR


Was ist Ihr Titelbild?<br />

Unser Illustrator Wieslaw Smetek ist ein<br />

kreatives Kraftwerk. Für den Titel dieses<br />

Heftes hat er so viele gute Entwürfe<br />

geliefert, dass wir Ihnen auch jene zeigen<br />

wollen, die es nicht geworden sind. Unter<br />

www.cicero.de/zeit finden Sie noch mehr.<br />

Dort haben Sie die Wahl. Stimmen Sie ab.<br />

Das Ergebnis dann im nächsten Heft.<br />

TiTelbild und enTwürfe: wieslaw smeTeK<br />

Verschiedene Titelbild-Entwürfe unseres<br />

Illustrators Wieslaw Smetek


Eberts Staatsstreich<br />

90 Jahre Nationalhymne


SOUVERÄNITÄT KÖNNEN WIR NICHT<br />

ABER SIE KÖNNEN SIE ERFAHREN.<br />

Ein Automobil, dessen souveräne Leistung und elegante Exklusivität weit über das Gewohnte hinausgehen. Und<br />

das auch abseits der Straße Erwartungen übertrifft – mit einem exklusiven Kundenbetreuungsprogramm, das<br />

seinesgleichen sucht. Mehr über den neuen BMW 7er und den BMW Excellence Club unter www.bmw.de/7er<br />

DER NEUE BMW 7er.<br />

Kraftstoffverbrauch in l/100 km (kombiniert): 12,9–5,6. CO 2 -Emission in g/km (kombiniert): 303–148.<br />

Als Basis für die Verbrauchsermittlung gilt der ECE-Fahrzyklus. Abbildung zeigt Sonderausstattungen.


Der neue BMW 7er<br />

www.bmw.de/7er<br />

Freude am Fahren<br />

ERKLÄREN,


BOROS<br />

www.deutschlandradio.de<br />

Ich will wissen.<br />

› woraus unser Universum besteht<br />

› was die Welt im Innersten zusammenhält<br />

› wie sich unser Universum weiter entwickelt<br />

Felicitas Pauss, Professorin für experimentelle Teilchenphysik<br />

Jetzt auch<br />

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Über Digitalradio, Kabel, Satellit und Internet


A t t i c u s | C i c e r o<br />

Von: <strong>Cicero</strong><br />

An: Atticus<br />

Datum: 26. Juli 2012<br />

Thema: Jubiläumsausgabe, <strong>Zeit</strong><br />

Immer mehr machen,<br />

immer weniger schaffen<br />

Titelbild: WieslaW Smetek; Fotos: DPA (2), action press/PSG (Titelseite); Illustration: Christoph Abbrederis<br />

C<br />

icero wird 100. Nicht 100 Jahre alt, das dauert noch ein bisschen. Aber vor Ihnen liegt<br />

die 100. Ausgabe unseres Magazins. Der richtige Anlass, eine große Frage in Angriff zu<br />

nehmen. Warum haben wir nie <strong>Zeit</strong>?<br />

Manchmal bekommt man welche geschenkt. Auf einem Transkontinentalflug zum Beispiel.<br />

Eine rare Gelegenheit, in einem Buch wie diesem zu versinken: Nicholas Wapshotts „The Clash<br />

That Defined Modern Economics“ über John Maynard Keynes und Friedrich August von Hayek.<br />

Bis der Flieger in Berlin aufsetzt ist klar, dass sich Neoliberale und Keynesianer nicht zuletzt wegen<br />

der Eitelkeit zweier Männer bis heute unversöhnlich gegenüberstehen.<br />

Oder auf einer langen Bahnfahrt quer durch Deutschland, ein ruhiges Abteil und den Briefwechsel<br />

von Voltaire und Friedrich dem Großen in der Tasche. Bis Hamburg bleibt genug <strong>Zeit</strong><br />

zu staunen, wie zwei große Männer sich über so viele Seiten unerträglich servil umschmeicheln,<br />

um sich schließlich nicht so sehr wegen Friedrichs Kriegslust zu überwerfen, sondern aufgrund<br />

der Tatsache, dass sich der Preußenkönig alsbald noch einen anderen Hofintellektuellen hielt.<br />

Das gleiche Muster: Zwei Männer zerstreiten sich nicht zuerst in der Sache, sondern aus Eifersucht<br />

und Missgunst. Für solche Trouvaillen braucht man <strong>Zeit</strong>. <strong>Zeit</strong>, die uns dauernd fehlt.<br />

Wir machen immer mehr und kommen dabei zu immer weniger. Wieso ist das so? Der Wissenschaftsjournalist<br />

Stefan Klein ist diesem Phänomen auf den Grund gegangen (ab Seite 16), der<br />

<strong>Zeit</strong>philosoph Hartmut Rosa macht durchdachte Vorschläge, der <strong>Zeit</strong>falle zu entgehen (Seite 25).<br />

Für den neuen Berliner Großflughafen reicht die <strong>Zeit</strong> bekanntlich auch hinten und vorne<br />

nicht, weshalb der Architekt Albert Speer zu dem Schluss kommt, dass Großprojekte wie<br />

Schönefeld oder die Elbphilharmonie in einer bürokratisierten Welt der Planfeststellungsverfahren<br />

zwangsläufig aus dem Ruder laufen (ab Seite 84).<br />

In der aktuellen EU-Krise fehlt nicht nur Geld. Schlaflos hetzt die Kanzlerin zwischen<br />

Brüssel und Berlin hin und her, vom EU-Gipfel direkt in den Bundestag. Und das Bundesverfassungsgericht<br />

leistet sich den Luxus, sorgfältig zu prüfen, ob Merkels Europapolitik noch im<br />

Einklang mit dem Grundgesetz ist. Dafür fallen alle über das Gericht her, weil in der Zwischenzeit<br />

die Rettung Europas warten muss. Franz Müntefering, der frühere SPD-Chef und Vizekanzler,<br />

macht sich bei diesem Tempo Sorgen um Europa und die Demokratie (ab Seite 28), ebenso<br />

der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio (ab Seite 48). Spitzenpolitiker reden über ihr gespaltenes<br />

Verhältnis zum Taktgeber an ihrem Handgelenk (ab Seite 34), und Prominente führen uns an<br />

Orte, an denen sie sich eine Auszeit gönnen (ab Seite 19).<br />

Suchen Sie sich doch auch so einen Ort und nehmen sich <strong>Zeit</strong>.<br />

<strong>Zeit</strong> für diese 100. Ausgabe von <strong>Cicero</strong>.<br />

Mit besten Grüßen<br />

In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />

der römische Politiker und Jurist<br />

Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />

Freund Titus Pomponius Atticus<br />

das Herz ausgeschüttet<br />

Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 3


C i c e r o | I n h a l t<br />

Titelthema<br />

16<br />

In der <strong>Zeit</strong>falle<br />

Warum wir mehr machen und zu weniger kommen<br />

von Stefan Klein<br />

25<br />

Mythos Multitasking<br />

Zehn Hinweise zum Umgang mit <strong>Zeit</strong>not<br />

von Hartmut rosa<br />

28<br />

„<strong>Zeit</strong> gibt es nicht“<br />

Ein ausgeruhtes Gespräch mit Franz Müntefering<br />

Von Christoph Schwennicke<br />

19<br />

Auszeit vom Alltag<br />

Prominente zeigen die Orte, an denen<br />

sie Kraft schöpfen und Ruhe suchen<br />

26<br />

Die knappste Ressource der Welt<br />

<strong>Cicero</strong>-Redakteure verraten, womit sie<br />

am liebsten ihre <strong>Zeit</strong> verschwenden<br />

34<br />

Metronome der Macht<br />

Spitzenpolitiker und ihre Uhren<br />

von Laurence Chaperon<br />

TitelIllustration: Wieslaw Smetek<br />

4 <strong>Cicero</strong> 8.2012


I n h a l t | C i c e r o<br />

Fremdelt David McAllister mit Berlin?<br />

Der Ministerpräsident widerspricht<br />

44 68<br />

88<br />

In Syrien geht das staatliche Töten<br />

weiter. Und was macht die Nato?<br />

Wie ticken Cern-Forscher? Ein Blick<br />

in die Seele der Wissenschaftler<br />

BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE kapital<br />

40 | Immer wieder aufstehen<br />

Andrea Verpoorten ist das neue Gesicht<br />

in der NRW-CDU<br />

Von Jürgen Zurheide<br />

52 | dER sTRIPPENZIEHER<br />

Kardinal Tarcisio Bertone hat viele<br />

Gegner, allein der Papst hält zu ihm<br />

Von MaRTIN zÖLLER<br />

70 | Euroretter Wider Willen<br />

ESM-Chef Klaus Regling ist der<br />

Herr über 700 Milliarden Euro<br />

Von Eric Bonse<br />

42 | Der EWIGE INDER<br />

Sebastian Edathy, der die NSU-Morde<br />

aufarbeiten soll, gilt vielen als Fremder<br />

Von Hartmut Palmer<br />

54 | Pragmatiker der Macht<br />

Wie ernst ist es Burmas Präsidenten<br />

Thein Sein mit dem Wandel?<br />

Von Sascha Zastiral<br />

72 | Strafe für die Zunge<br />

Ralf Nowak stellt in Pforzheim die<br />

schärfsten Saucen Deutschlands her<br />

Von Benno Stieber<br />

44 | „Ich habe noch viel <strong>Zeit</strong>“<br />

Niedersachsens CDU-Ministerpräsident<br />

kopiert im Wahlkampf Hannelore Kraft<br />

Ein Gespräch mit David McAllister<br />

56 | Genie oder Wahnsinn?<br />

David Miscavige herrscht über<br />

Scientology wie ein unduldsamer Despot<br />

Von Frank Nordhausen<br />

74 | Die Geduld des Fischers<br />

Hausbesuch bei Paul Volcker, der<br />

lebenden Legende der Weltfinanzen<br />

Von Nikolaus Piper<br />

Fotos: Stefan Thomas Kroeger/Laif, Peter Ginter; Illustrationen: Jan Rieckhoff, Christoph Abbrederis<br />

47 | Frau Fried fragt sich …<br />

… ob das Leben Spaß macht, wenn man<br />

kein Risiko mehr eingeht<br />

Von Amelie Fried<br />

48 | Die Ruhe der Getriebenen<br />

Der <strong>Zeit</strong>druck auf das Verfassungsgericht<br />

ist ein Herrschaftsmittel<br />

Von Udo di Fabio<br />

50 | Deutschland wird deutscher<br />

Die späte Seligsprechung des Kanzlers<br />

Gerhard Schröder folgt perfiden Motiven<br />

Von Frank A. Meyer<br />

60 | Im Klammergriff des Militärs<br />

Seit Jahren haben Soldaten das Sagen in<br />

der Politik Ägyptens. Wie lange noch?<br />

Von Gerhard Haase-Hindenberg<br />

66 | „Der Islam bietet keine Lösung“<br />

Amr Mussa glaubt an die<br />

Wandlungsfähigkeit Ägyptens<br />

Von Julia Gerlach<br />

68 | Natos neue Kleider<br />

Warum der Einsatz des<br />

Militärbündnisses in Syrien falsch wäre<br />

Von Florence Gaub<br />

78 | Deutschlands 17. Bundesland<br />

Im Pazifik tobt ein Kampf um die<br />

Rohstoffressourcen der Tiefsee<br />

Von Andreas Rinke und<br />

Christian Schwägerl<br />

84 | „Da stimmt etwas nicht<br />

in unserem System“<br />

Warum deutsche Infrastrukturprojekte<br />

immer häufiger im Debakel enden<br />

Ein Gespräch mit Albert Speer<br />

88 | Urknallköpfe<br />

Eine Fotoreportage über die Forscher des<br />

größten Experiments der Geschichte<br />

Von Peter Ginter<br />

96 | Europas schmutziges<br />

kleines Geheimnis<br />

Nach dem Dotcom-Crash rettete die<br />

EZB Deutschland, zulasten der anderen<br />

Von Mark Dittli<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 5


C i c e r o | I n h a l t<br />

cicero online<br />

Salon<br />

98 | Die Macht des Orakels<br />

Heiner Goebbels spektakulärer<br />

Start in die Ruhrtriennale<br />

Von Barbara Burckhardt<br />

100 | Töchter und Väter<br />

Nora Bossong hat den Wirtschaftsroman<br />

der Stunde geschrieben<br />

Von Maike Albath<br />

102 | „Ich will manipulieren“<br />

Deutschlands bekanntester Dirigent über<br />

einen Haufen Vorurteile<br />

Ein gespräch mit christian thielemann<br />

108 | Man sieht nur, was man sucht<br />

Kunst ist nicht gleich Werbung: über<br />

Leni Riefenstahls „Olympia“-Film<br />

Von Beat Wyss<br />

110 | Was wir verlieren<br />

Mit dem Ende der Buchkultur steht so<br />

viel mehr auf dem Spiel, als wir denken<br />

Von Thomas Hettche<br />

116 | Benotet<br />

Für Musikliebhaber ist es im Sommer<br />

nirgends schöner als in Heiligendamm<br />

Von Daniel Hope<br />

118 | Eberts Staatsstreich<br />

Die deutsche Nationalhymne wird<br />

90 Jahre alt<br />

Von Uwe Soukup<br />

120 | Bibliotheksporträt<br />

Zu Besuch bei Nir Baram, dem<br />

israelischen Starintellektuellen<br />

Von Marko Martin<br />

124 | das schwarze sind<br />

die Buchstaben<br />

Intelligentes Leben ist möglich: Bücher<br />

über die HBO-Serie „The Wire“<br />

Von Robin detje<br />

126 | Küchenkabinett<br />

Das Doping am Herd ist so verpönt wie<br />

im Spitzensport – und genauso verbreitet<br />

Von Thomas Platt und Julius Grützke<br />

128 | Die letzten 24 stunden<br />

Warum ein Fotograf und Umweltaktivist<br />

mit einem Lächeln sterben wird<br />

Von Yann Arthus-Bertrand<br />

Standards<br />

Atticus —<br />

Von Christoph Schwennicke — seite 3<br />

Forum — seite 8<br />

Impressum — seite 9<br />

Stadtgespräch — seite 10<br />

Postscriptum —<br />

Von Alexander Marguier — seite 130<br />

Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />

erscheint am 30. August 2012<br />

110<br />

Thomas Hettche<br />

nimmt Abschied<br />

vom Buch<br />

Aktuell:<br />

Frage des Tages<br />

Wie geht es Angela Merkel?<br />

Warum ist Griechenland<br />

pleite? Wer wird<br />

Kanzlerkandidat der SPD?<br />

Jeden Morgen beantworten<br />

wir Ihnen Fragen zu<br />

einem aktuellen Thema.<br />

www.cicero.de<br />

Debatte:<br />

Brauchen wir mehr<br />

Direkte Demokratie?<br />

Die Forderung nach<br />

Volksentscheiden auch im<br />

Bund wird immer populärer.<br />

Aber passen diese überhaupt<br />

zur parlamentarischen<br />

Demokratie?<br />

Diskutieren Sie mit.<br />

www.cicero.de<br />

HINTERGRÜNDIG:<br />

Parteiencheck<br />

Wie geht es der CDU, CSU,<br />

SPD, FDP, der Linken<br />

und den Piraten ein Jahr<br />

vor der Bundestagswahl?<br />

In unserem Parteiencheck<br />

blicken wir in die Zukunft<br />

der Parteien, benennen<br />

Stärken und Schwächen,<br />

Chancen und Risiken.<br />

www.cicero.de/Parteiencheck<br />

Kolumne:<br />

Ökonomie und Alltag<br />

Jeden Freitag beschäftigt<br />

sich unser Kolumnist Til<br />

Knipper mit der Frage,<br />

wie die Ökonomie unser<br />

Leben bestimmt.<br />

www.cicero.de/kolumnen/<br />

oekonomie-und-alltag<br />

Unterhaltsam:<br />

Karikaturen<br />

Mit spitzer Feder zeichnen<br />

Burkhard Mohr und<br />

Heiko Sakurai ihre<br />

täglichen Kommentare<br />

für <strong>Cicero</strong> Online.<br />

www.cicero.de/Karikaturen<br />

Foto: Michael Short/Prisma; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

6 <strong>Cicero</strong> 8.2012


C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />

Forum<br />

Es geht um Wähler, Griechen, Burschenschafter und Annoncen<br />

arabischen Ländern gearbeitet. Die vor<br />

kurzem geäußerten Worte von C. Roth<br />

zu Panzerlieferungen an Saudi-Arabien<br />

zeigten, dass diese „Dame“ für das<br />

Amt einer Außenministerin absolut<br />

ungeeignet ist. Also – Frau Merkel,<br />

werden Sie besser, dann könnten Sie<br />

auch wiedergewählt werden.<br />

Erwin Chudaska, Rödermark<br />

zum Titelthema „Comeback<br />

der Autokraten“ von William<br />

J. Dobson / <strong>Cicero</strong> Juli 2012<br />

Zu nebulös<br />

Sie haben das Titelthema breit gefächert, jedoch meines Erachtens nebulös abgehandelt.<br />

Was ist denn eigentlich das Charakteristikum einer Demokratie: das<br />

Wählendürfen – um dann ohnmächtig zuzusehen, wie die Krisenverursacher mit<br />

Milliardenspritzen gefüttert werden von der demokratischen Regierung? Darf<br />

eine Demokratie (nach Ihrem Verständnis) diplomatisch eine Diktatur politisch<br />

hofieren? Und möchte nicht zum Beispiel die CSU auch gern mit 90 Prozent<br />

Wahlergebnis herrschen? Gerade die politischen Magazine zählen ja gern mit, ob<br />

bei innerparteilichen Wahlen ein Ergebnis von 95 Prozent oder 98 Prozent herauskommt<br />

– wo ist da der Unterschied zu den verteufelten Staaten? Sie machen es<br />

sich sehr einfach auf der Welle des politischen Mainstreams … Bisher war ich vom<br />

<strong>Cicero</strong> anderes gewohnt, nicht eine derartige Undifferenziertheit.<br />

Bernd Ebert, Groß-Zimmern<br />

zum beitrag „Athens Che<br />

Guevara“ von Richard<br />

Fraunberger / <strong>Cicero</strong> Juli 2012<br />

In die eigene Tasche<br />

Das Wort graeculare beschreibt seit Caesars<br />

<strong>Zeit</strong>en den Umgang der Griechen<br />

mit Fremden. Insofern bezeichnet es<br />

eine alte Tradition. Aber dem jungen<br />

Che-Verschnitt sei gesagt, wenn Griechenland<br />

keine deutsche Kolonie ist, ist<br />

Deutschland auch keine griechische.<br />

Und wenn der Durchschnittsgrieche<br />

keine Opfer bringen will, kann vielleicht<br />

der Überdurchschnittsgrieche mal in<br />

seine eigene Tasche greifen? Damit<br />

wären die lumpigen paar Milliarden<br />

locker zu erledigen.<br />

Dr. Ing. Karl Reißmann, Mittweida<br />

zum beitrag „Die Glucke<br />

der Nation“ von Christoph<br />

Schwennicke / <strong>Cicero</strong> Juni 2012<br />

Polit-Gau Roth!<br />

Danke an Ihr Magazin für den<br />

aufschlussreichen Beitrag. Ich bin kein<br />

Fan von A. Merkel, habe aber nichts<br />

dagegen, wenn sie nach der nächsten<br />

Wahl wieder Kanzlerin würde. Denn<br />

was wäre die Alternative? Mit einigen<br />

SPD-Oberen könnte ich ja leben, aber<br />

niemals mit einer Außenministerin<br />

Claudia Roth. Dies wäre ein Polit-Gau!<br />

Da hat G. Westerwelle bisher einen<br />

guten Job gemacht. Der Schnuckel-Bär<br />

S. Gabriel würde etliche Zugeständnisse<br />

an die Grünen machen, damit er<br />

Kanzler wird. Ich habe drei Jahre in<br />

zur Kolumne „Frau Fried Fragt<br />

sich – Frauen und FuSSball“<br />

von Amelie Fried und zur<br />

anzeigenwerbung / <strong>Cicero</strong><br />

Juli 2012<br />

Nur auf Gewinn aus<br />

Ich lese Ihr Magazin seit der ersten<br />

Ausgabe, war von Anfang an begeistert<br />

und hab es auch bald abonniert. Es<br />

war ebenso schön zu sehen, wie die<br />

Relevanz Ihrer Themen und Artikel<br />

gestiegen ist und Ihr Magazin zu Recht<br />

an Bedeutung gewann. Schon an den<br />

Gästen des Foyergesprächs war das gut<br />

zu erkennen. Seit den letzten Ausgaben<br />

bin ich jedoch etwas enttäuscht … Zuerst<br />

wurde das Magazin teurer, was natürlich<br />

nicht ausbleibt, wenn die Autoren und<br />

Artikel „teurer“ werden. Doch gleichsam<br />

verstärkte sich meiner Auffassung nach<br />

ebenso die Werbung. Als dann eine<br />

Parfümwerbung (was an sich ja nicht<br />

verwerflich ist) samt Pröbchen in ihrem<br />

Magazin erschien, wunderte es mich<br />

doch. So etwas würde ich in einer typischen<br />

Frauenzeitschrift erwarten! Aber<br />

nun gut. In der letzten Ausgabe durfte<br />

ich dann zwei Kataloge durchblättern,<br />

die mir Schuhpuder argentinischer Tangotänzer<br />

und Eidottertrenner verkaufen<br />

wollten. Letzteres mag für den unerfahrenen<br />

Backanfänger ganz nützlich sein<br />

und besitzt definitiv eher eine Daseinsberechtigung,<br />

aber es hat meiner Ansicht<br />

nach nichts in einem Magazin für<br />

Politische Kultur zu suchen. In derselben<br />

Ausgabe wurde dann eine Kolumne zum<br />

Thema Männer und Frauen eingeführt,<br />

illustration: cornelia von seidlein<br />

8 <strong>Cicero</strong> 8.2012


I m p r e s s u m<br />

die gleich mit dem Thema Fußball<br />

begann. Die Kolumnen und Blogs auf<br />

<strong>Cicero</strong> Online sind da doch um einiges<br />

sinnvoller … Einzig gute Beilage zurzeit,<br />

über die ich mich jedes Mal freue, ist die<br />

Literaturen – die sollten Sie unbedingt<br />

beibehalten! In den Anfängen wurde auf<br />

den ersten Seiten noch dem Leser und<br />

den Abonnenten gedankt, was das Lesen<br />

noch erfreulicher machte, da man das<br />

Gefühl hatte, man hat an etwas Wachsendem<br />

teil und hilft, eine neue, wichtige<br />

Art von Magazin voranzubringen.<br />

Janine Stibaner, Jena<br />

zur Fotoreportage „Freiheit,<br />

Ehre, Vaterland“ / <strong>Cicero</strong><br />

Juli 2012<br />

kleinbürgerlich<br />

Glückwunsch zu Ihrem Burschenschafter-Artikel.<br />

Er enthüllt die ganze<br />

kleinbürgerliche, rückwärtsgewandte<br />

Denkweise von Burschenschaftern, die<br />

die Machtübernahme von rechtsextremen<br />

Burschenschaftern erst ermöglicht<br />

hat. Glücklicherweise gibt es auch ein<br />

paar andere Burschenschafter. Nicht<br />

viele, aber immerhin.<br />

Christian J. Becker, Hamburg<br />

verleger Michael Ringier<br />

chefredakteur Christoph Schwennicke (V.i.S.d.P.)<br />

Stellvertreter des chefredakteurs<br />

Alexander Marguier<br />

Redaktion<br />

Ressortleiter Judith Hart (Weltbühne), Til Knipper<br />

(Kapital), Daniel Schreiber (Salon), Constantin Magnis<br />

(Reportagen), Christoph Seils (<strong>Cicero</strong> Online)<br />

politischer Chefkorrespondent Hartmut Palmer<br />

Assistenz der Chefredaktion Ulrike Gutewort<br />

Publizistischer Beirat Dr. Michael Naumann (Vorsitz),<br />

Heiko Gebhardt, Klaus Harpprecht, Frank A. Meyer,<br />

Jacques Pilet, Prof. Dr. Christoph Stölzl<br />

Art director Kerstin Schröer<br />

Bildredaktion Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />

Produktion Utz Zimmermann<br />

Verlag<br />

verlagsgeschäftsführung<br />

Rudolf Spindler<br />

Leitung Vertrieb u. unternehmensentwicklung<br />

Thorsten Thierhoff<br />

Redaktionsmarketing Janne Schumacher<br />

Abomarketing Mark Siegmann<br />

kommunikation André Fertich<br />

Tel.: +49 (0)30 820 82-517, Fax: -511<br />

E-Mail: presse@cicero.de<br />

grafik Franziska Daxer, Dominik Herrmann<br />

zentrale dienste Erwin Böck, Stefanie Orlamünder,<br />

Ingmar Sacher<br />

herstellung Lutz Fricke<br />

druck/litho Neef+Stumme, Wittingen<br />

nationalvertrieb DPV Network GmbH, Hamburg<br />

leserservice DPV direct GmbH, Hamburg<br />

Hotline: +49 (0)1805 77 25 77*<br />

Anzeigenleitung (verantwortlich)<br />

Jens Kauerauf, Gruner+Jahr AG & Co KG<br />

Am Baumwall 11, 20459 Hamburg<br />

Tel.: +49 (0)40 3703-3317, Fax: -173317<br />

E-Mail: kauerauf.jens@guj.de<br />

verkaufsbüro gruner+jahr ag & co KG<br />

Verkaufsbüro Nord – Berlin: Kurfürstendamm 182<br />

10707 Berlin, Tel.: +49 (0)30 25 48 06-50, Fax: -51<br />

Verkaufsbüro Nord – Hamburg: Stubbenhuk 10<br />

20459 Hamburg, Tel.: +49 (0)40 3703-2201, Fax: -5690<br />

Verkaufsbüro Nord – Hannover: Am Pferdemarkt 9<br />

30853 Langenhagen, Tel.: +49 (0)511 76334-0, Fax: -71<br />

Verkaufsbüro West: Heinrichstraße 24<br />

40239 Düsseldorf, Tel.: +49 (0)211 61875-0<br />

Fax: +49 (0)211 61 33 95<br />

Verkaufsbüro Mitte: Insterburger Straße 16<br />

60487 Frankfurt, Tel.: +49 (0)69 79 30 07-0<br />

Fax: +49 (0)69 77 24 60<br />

Verkaufsbüro Süd-West: Leuschnerstraße 1<br />

70174 Stuttgart, Tel.: +49 (0)711 228 46-0, Fax: -33<br />

Verkaufsbüro Süd: Weihenstephaner Straße 7<br />

81673 München, Tel.: +49 (0)89 4152-252, Fax: -251<br />

anzeigenverkauf buchverlage<br />

Thomas Laschinski, Tel.: +49 (0)30 609 859-30, Fax: -33<br />

E-Mail: advertisebooks@laschinski.com<br />

anzeigenverkauf online<br />

Kerstin Börner, Tel.: +49 (0)30 981 941-121, Fax: -199<br />

E-Mail: anzeigen@cicero.de<br />

verkaufte auflage 82 954 (2. Quartal 2012)<br />

LAE 2011 88 000 Entscheider<br />

reichweite 450 000 Leser<br />

gründungsherausgeber Dr. Wolfram Weimer<br />

<strong>Cicero</strong> erscheint in der<br />

ringier Publishing gmbh<br />

Friedrichstraße 140, 10117 Berlin<br />

E-Mail: info@cicero.de, www.cicero.de<br />

redaktion Tel.: +49 (0)30 981 941-200, Fax: -299<br />

verlag Tel.: +49 (0)30 981 941-100, Fax: -199<br />

eine publikation der ringier gruppe<br />

ZU den CICERO-Ausgaben<br />

Juni und Juli 2012<br />

FRECHER, MODERNER<br />

Was für ein erfrischender Neustart! Mit<br />

großem Interesse habe ich den Wechsel<br />

in der Chefredaktion von <strong>Cicero</strong> wahrgenommen<br />

– erstaunlich, wie schnell<br />

die neue Handschrift sichtbar wird.<br />

Frecher, moderner, kritischer – aber<br />

nicht weniger fundiert und hintergründig<br />

präsentiert sich das Magazin auch in<br />

seiner jüngsten Ausgabe. <strong>Cicero</strong> bietet,<br />

im Gegensatz zu anderen politischen<br />

Magazinen, einen etwas anderen Blick<br />

auf Politik und Kultur und besetzt<br />

damit eine Nische auf dem deutschen<br />

<strong>Zeit</strong>schriftenmarkt. Das ist mutig, weil<br />

nicht immer mainstreamtauglich. Schön,<br />

dass die meisten Journalisten hier<br />

noch wahre „Wortwerker“ sind; gute<br />

Geschichten – bitte mehr davon!<br />

Claudia Krüger, Stuttgart<br />

(Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.)<br />

Service<br />

Liebe Leserin, lieber leser,<br />

haben Sie Fragen zum Abo oder Anregungen und Kritik zu einer<br />

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B e r l i n e r R e p u b l i k | S t a d t g e s p r ä c h<br />

Warum das Weltklima an der Hotelbar nicht gerettet werden konnte, Lammert<br />

keinen Sprecher mehr hat, ein CDU-Politiker auf eine eingebildete Jüdin hereinfiel<br />

und die Große Koalition als plausibles Gerücht in Berlin umgeht<br />

Mit dem Fahrstuhl:<br />

zum Klimagipfel<br />

D<br />

ie welt zu retten, ist keine einfache<br />

Aufgabe. Und beim Nachhaltigkeitsgipfel<br />

in Rio de Janeiro<br />

Mitte Juni hatte man zuweilen den Eindruck,<br />

dass wir dafür vielleicht nicht das<br />

richtige Personal haben. Obwohl das ansonsten<br />

unbekümmerte Stadtbild Rios<br />

für ein paar Tage von ernsten Delegiertentrossen<br />

in dunklen Anzügen bestimmt<br />

wurde, von Limousinenkarawanen, Straßensperrungen<br />

und Hubschraubereinsätzen.<br />

Angela Merkel war nicht dabei. Sie<br />

hatte Umweltminister Peter Altmaier und<br />

Entwicklungsminister Dirk Niebel nach<br />

Brasilien geschickt. Niebel und seine Berater<br />

wohnten, wie Hillary Clinton auch,<br />

im Luxushotel Windsor Atlantica, direkt<br />

am Strand der Copacabana. Es ist nicht bekannt,<br />

wie viel Anteil die deutsche Delegation<br />

am betrüblichen Ergebnis des Gipfels<br />

hatte. Schon vor Beginn des Staatstreffens<br />

war der Entwurf des Abschlussdokuments<br />

an Delegierte und Journalisten verschickt<br />

worden. Darin wurde ersichtlich, dass der<br />

legendäre erste Klimagipfel am selben Ort<br />

vor 20 Jahren nicht nur so gut wie keine<br />

konkreten Folgen gezeitigt hatte, sondern<br />

auch, dass der größte Erfolg der diesjährigen<br />

Zusammenkunft nur darin hätte bestehen<br />

können, sich trotz der ungleich dramatischeren<br />

Situation auf Richtlinien zu<br />

einigen, die nicht hinter denen von 1992<br />

zurückbleiben. Rio war ein Flop. Unter<br />

den Deutschen herrschte trotzdem joviale<br />

Männerurlaubsatmosphäre. Bei einer<br />

gemeinsamen abendlichen Fahrstuhlfahrt<br />

im 39-stöckigen Windsor tauschte sich<br />

das Team Niebel darüber aus, wo sich die<br />

besten Bars des Hotels befänden. Jemand<br />

wusste von einer auf der vierten Etage, und<br />

sein Kollege zeigte sich beeindruckt. Aber<br />

punkten konnte letztlich der Chef: „Auf<br />

dem Dach gibt es auch noch eine Bar“,<br />

sagte Niebel. „Aber die macht schon um<br />

23 Uhr zu. Sehen Sie, über die wichtigen<br />

Sachen habe ich mich informiert!“ ds<br />

Dumm gelaufen:<br />

Lammert ohne Sprecher<br />

P<br />

ressesprecher für Norbert<br />

Lammert zu sein, ist aus verschiedenen<br />

Gründen nicht einfach.<br />

Erstens beherrscht der christdemokratische<br />

Parlamentspräsident die Kunst<br />

der freien Rede so virtuos, dass es schwer<br />

ist, es ihm auch nur annähernd gleichzutun<br />

oder als sein Sprachrohr genau seinen<br />

Ton zu treffen. Lammert ist selbst sein bester<br />

Sprecher. Zweitens gibt es eine Bundestagsverwaltung,<br />

die jeden, der von außen<br />

kommt, mit Argwohn beäugt – und erst<br />

recht, wenn es sich dabei um eine so bekannte<br />

Journalistin wie Sabine Adler handelt.<br />

Die war Leiterin des Hauptstadtbüros<br />

beim Deutschlandradio, als sie vor noch<br />

nicht einmal einem Jahr bei Lammert anheuerte.<br />

Sie hatte sich ihren Job etwas anders<br />

vorgestellt: Nicht nur Interviews redigieren<br />

und Pressemitteilungen herausgeben,<br />

sondern sie wollte für Lammert das sein,<br />

was der Regierungssprecher Steffen Seibert<br />

für Angela Merkel ist: eine kundige Interpretin.<br />

Aber Lammert – siehe oben – interpretiert<br />

sich am besten selbst. Außerdem<br />

lernte Adler bald die Macht der Verwaltung<br />

kennen: Journalisten arbeiten immer<br />

unter <strong>Zeit</strong>druck, Verwaltungen nie. Wenn<br />

Adler um halb fünf mal schnell eine Auskunft<br />

brauchte, war der Betreffende entweder<br />

im Urlaub oder im Feierabend. Es<br />

stellte sich also schon bald heraus, dass es<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

10 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Da bekommt<br />

jedes Schiff<br />

feuchte Bullaugen!<br />

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B e r l i n e r R e p u b l i k | S t a d t g e s p r ä c h<br />

besser wäre, sich wieder zu trennen. Und<br />

da Frau Adler eine Rückfahrkarte zum<br />

öffentlich-rechtlichen Sender hatte, war<br />

das auch kein Problem. Lammert willigte<br />

ein. Für das eine Jahr bis zur Bundestagswahl<br />

wollte er Adlers Stellvertreter Christian<br />

Hoose zum Leiter der Pressestelle machen.<br />

Leider aber hatte Hoose einen Anruf<br />

aus Dresden erhalten. Der sächsische Ministerpräsident<br />

Stanislaw Tillich (CDU)<br />

fragte ihn, ob er Regierungssprecher werden<br />

wolle. Und Hoose, der das Sprechergeschäft<br />

von der Pike auf in Hans-Dietrich<br />

Genschers Außenministerium gelernt<br />

hat, sagte zu. Nun ist Lammert zwar nicht<br />

sprach-, aber sprecherlos. Sabine Adler hat<br />

sich nach Warschau verabschiedet, Christian<br />

Hoose fängt am 1. August in Dresden<br />

an. Dumm gelaufen. hp<br />

eingebildete jüdin:<br />

Polenz wurde getäuscht<br />

W<br />

er sich ins Netz begibt, klagen<br />

Datenschützer, kommt darin<br />

um. Ganz so schlimm ist es Ruprecht<br />

Polenz nicht ergangen, aber eine blutige<br />

Nase hat er sich schon geholt. Und<br />

das ging so: Der Vorsitzende des Auswärtigen<br />

Ausschusses im Bundestag ist ein reger<br />

Nutzer sozialer Netzwerke. Besonders<br />

heiß her geht es auf seiner Facebookseite,<br />

wenn das Thema Nahost und das Zusammenleben<br />

von Israelis und Palästinensern<br />

behandelt wird. In den vergangenen Jahren<br />

tat sich dabei die Lyrikerin Irena Wachendorff<br />

aus Remagen mit Engagement<br />

für einen arabisch-jüdischen Kindergarten<br />

und heftiger Israelkritik hervor. Einsprüche<br />

hebelte sie bevorzugt mit Hinweisen<br />

auf ihre Biografie aus: Ihr Vater sei „orthodoxer<br />

Jude“, der per Kindertransport<br />

aus Deutschland geflohen sei. Ihre Mutter<br />

habe Auschwitz überlebt und sei zuvor<br />

vom Kreisauer Kreis versteckt worden. Je<br />

verbissener ihre Israelkritik, desto doller die<br />

biografischen Details: Schließlich wollte sie<br />

sogar ihren Militärdienst in Israel abgeleistet<br />

haben. Wem das nicht ganz koscher war,<br />

der wurde von Polenz, einem Unterstützer<br />

des von Wachendorff angeblich geförderten<br />

Kindergartens, auf der Facebookseite<br />

„entfreundet“. Nun stellt sich heraus: Polenz’<br />

Schützling ist eine eingebildete Jüdin,<br />

deren Vater bei der Wehrmacht war und<br />

deren Mutter ganz gewiss nicht Auschwitz –<br />

oder sonst ein Lager – überlebte. Und Polenz?<br />

Wütete zunächst gegen die Journalistin<br />

Nathalie Pyka, die die Geschichte<br />

aufgedeckt hatte („Man kann doch keinen<br />

umgekehrten Ariernachweis verlangen“)<br />

– und kommt nun doch langsam ins<br />

Grübeln. Parteifreunden gegenüber gab er<br />

sich zerknirscht. Da sei er doch glatt „einer<br />

Betrügerin“ aufgesessen. Einer Betrügerin,<br />

deren unverschämte Lügen man durchaus<br />

früher hätte erkennen können. jh<br />

ein gerücht geht um:<br />

koalition wieder groSS?<br />

I<br />

n Berlin geistert etwas herum namens<br />

Große Koalition. Es ist ein<br />

Gerücht, aber ein plausibles Gerücht,<br />

und es geisterte schon, bevor sich<br />

Horst Seehofer öffentlich darüber ausließ,<br />

dass es auch eine Abstimmung zur Eurorettung<br />

geben könnte, bei der die CSU ausschert.<br />

Nein, nein, nein, wiegelte er gleich<br />

wieder ab: Das wolle er natürlich nicht<br />

als drohenden Koalitionsbruch verstanden<br />

wissen. (Als was aber sonst?) Danach<br />

wurde das Gespenst noch größer, das Gerücht<br />

noch plausibler. Was ist, wenn Folgendes<br />

passiert: Zu den notorischen Abweichlern<br />

in der CDU und in der FDP<br />

läuft eines Tages die komplette CSU-Landesgruppe<br />

über? Muss dann die SPD nicht<br />

mindestens eine informelle Große Koalition<br />

eingehen und Kanzlerin Angela Merkel<br />

in ihrer Politik bis zum Ende dieser Legislaturperiode<br />

unterstützen?<br />

Der SPD-Altmeister Franz Müntefering<br />

hat unlängst schon in einem viel beachteten<br />

Auftritt in der Bundestagsfraktion<br />

seinen Genossen den Weg in diese Richtung<br />

gewiesen, jetzt legt er im <strong>Cicero</strong>-Interview<br />

nach: „Es gibt im Moment ein Ziel,<br />

dem sich alle demokratischen Parteien in<br />

Deutschland verpflichtet fühlen sollten:<br />

Europa muss jetzt gelingen. Und dafür<br />

muss man sich einsetzen, dafür müssen<br />

sich gerade die Sozialdemokraten einsetzen.“<br />

(Seite 28) Übersetzt heißt das: Kocht<br />

keine parteipolitischen Süppchen auf Europa,<br />

erliegt nicht der Versuchung, für den<br />

Bundestagswahlkampf Kapital aus diesem<br />

Thema zu schlagen – Kapital auf Kosten<br />

des EU-Bündnisses.<br />

Was aber hieße eine Große Koalition<br />

der europäischen Vernunft für die Bundestagswahlen<br />

2013 und vor allem: Was bedeutet<br />

das für die <strong>Zeit</strong> danach? Wieder eine<br />

Große Koalition? Die SPD hat die letzte<br />

noch in traumatischer Erinnerung – nicht,<br />

weil man nicht klargekommen wäre miteinander,<br />

sondern weil die Sozialdemokraten<br />

mit knapp 24 Prozent daraus hervorgingen.<br />

Kürzlich gab es nun eine Art großkoalitionäres<br />

Wetterleuchten. Da flogen die<br />

Fraktionschefs Volker Kauder (CDU) und<br />

Frank-Walter Steinmeier (SPD) gemeinsam<br />

zu einem Treffen mit EU-Kommissionspräsident<br />

José Manuel Barroso nach Brüssel.<br />

Es war klar, dass die SPD bei aller Kritik im<br />

Detail im Bundestag wieder mehrheitlich<br />

die Hand für Merkel heben – und so deren<br />

Mehrheit sichern würde. Da sehe man<br />

doch mal, „unter der klugen Führung der<br />

Koalition kann man sogar mit euch Sozen<br />

was zusammenmachen“, flachste Kauder.<br />

Er ist ein Mann, der in der Großen Koalition<br />

Leute wie Steinmeier und den damaligen<br />

SPD-Fraktionschef Peter Struck schätzen<br />

gelernt hat. Und für einen Augenblick<br />

hatte es den Anschein, als denke er den eigenen<br />

Gedanken zu Ende – in Richtung<br />

Große Koalition. Aber Steinmeier, der damalige<br />

SPD-Kanzlerkandidat mit den<br />

24 Prozent, lachte und sagte gleich: „Machen<br />

wir aber nicht mehr.“ Darauf beendete<br />

Kauder das Geplänkel: „Wir ja auch<br />

nicht!“ Mal sehen. swn<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

12 <strong>Cicero</strong> 8.2012


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T i t e l<br />

In der<br />

<strong>Zeit</strong>falle<br />

E-Mails, SMS, Internet oder Smartphones: Wir leben<br />

unser Leben in einer Aufregung, die unsere Vorfahren<br />

nur aus der Schlacht kannten – und mit der unser<br />

Gehirn auf Dauer nicht zurechtkommt. Die üblichen<br />

Rezepte der <strong>Zeit</strong>planung helfen da nicht weiter, und<br />

Multitasking ist ohnehin eine Legende. Dennoch sind wir<br />

den ständigen Ablenkungen nicht hilflos ausgeliefert<br />

Von Stefan Klein<br />

„Alles ist jetzt ultra. (…) Niemand<br />

kennt sich mehr, niemand begreift das<br />

Element, worin er schwebt und wirkt. (…)<br />

Junge Leute werden (…) im <strong>Zeit</strong>strudel<br />

fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist<br />

es, was die Welt bewundert und wonach<br />

jeder strebt. Alle möglichen Erleichterungen<br />

der Kommunikation sind es, worauf<br />

die gebildete Welt ausgeht, sich zu<br />

überbieten …“<br />

Anscheinend leidet der Autor dieser Zeilen<br />

unter dem Dauerbombardement durch<br />

E-Mails; vielleicht wird er auch von einer<br />

jener entsetzlichen Telefonanlagen traktiert,<br />

die mitten im Gespräch mit Piepen bereits<br />

den nächsten Anruf ankündigen. Oder<br />

sein Twitter-Account quillt über, der Kopf<br />

schwirrt ihm, weil er mit seinen Kindern<br />

ein paar der aberwitzigen Clips auf Youtube<br />

ansehen musste? Nichts dergleichen:<br />

Der Schreiber ist Johann Wolfgang von<br />

Goethe. In einem Brief an seinen Freund,<br />

den Komponisten Zelter, beklagt er sich<br />

außerdem über „Eisenbahnen, Schnellposten<br />

und Dampfschiffe“. Das war 1825.<br />

Seitdem ist das Reisen hundert Mal<br />

und die Kommunikation zehn Millionen<br />

Foto: Zoonar<br />

16 <strong>Cicero</strong> 8.2012


8.2012 <strong>Cicero</strong> 17


T i t e l<br />

Mal schneller geworden. Der Brief, der zu<br />

Zelter nach Berlin mehr als eine Woche<br />

brauchte, wäre heute als E-Mail in Sekunden<br />

am Ziel. Nach Italien zu reisen, ist eine<br />

Angelegenheit von ein paar Stunden. Und<br />

selbst in Weimar hält der ICE.<br />

Wenn schon Goethe sich über zu viel<br />

Tempo beklagte – haben wir dann nicht<br />

erst recht allen Grund dazu? Jedenfalls<br />

spricht der Dichter den meisten Deutschen<br />

aus der Seele: 67 Prozent der Mitbürger<br />

empfinden die „ständige Hektik und Unruhe“<br />

als den größten Auslöser von Stress.<br />

Wie sehr sich das Lebenstempo gerade in<br />

den vergangenen Jahren beschleunigt hat,<br />

lässt sich am besten an den vermeintlich<br />

kleinen Dingen des Alltags ablesen: Fotokopierer<br />

mit einem Ausstoß von 30 Blatt<br />

pro Minute; Internetanbieter, die Sie mit<br />

neuen Anschlüssen locken, bei denen sich<br />

die Seiten um ein paar Zehntelsekunden<br />

schneller aufbauen; Kaffee „To Go“.<br />

Jeder etwas ältere Film im Fernsehen<br />

führt uns vor Augen, in welchem Maß<br />

nicht nur unser Lebenswandel, sondern<br />

selbst die Wahrnehmung einen Zahn<br />

zugelegt hat. Die kühnen Schnitte von<br />

Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker<br />

„2001 – Odyssee im Weltraum“ beanspruchten<br />

bei seinem Erscheinen im<br />

Jahr 1968 die Sehgewohnheiten der Kinogänger<br />

bis an ihre Grenzen. Heute verlieren<br />

wir bei denselben Einstellungen, in<br />

denen die Raumschiffe zu klassischer Musik<br />

durchs Weltall gleiten, fast die Geduld.<br />

Als vor einigen Jahren einige Folgen des<br />

1965 gedrehten Fernsehklassikers „Raumpatrouille<br />

Orion“ neu für das Kino zusammengeschnitten<br />

wurden, beschleunigten<br />

die Produzenten denn auch die Geschwindigkeit,<br />

mit der die Orion von ihrer Heimatbasis<br />

abhebt, um fast das Doppelte.<br />

Kaum einem alten Fan der Kultserie fiel<br />

es auf. Wir finden inzwischen ein höheres<br />

Tempo normal.<br />

Der Preis, den wir zahlen, ist das Gefühl,<br />

ständig außer Atem zu sein. Noch ein<br />

paar Zahlen über die <strong>Zeit</strong>, in der wir leben:<br />

Auf die Frage, ob sie sich oft oder immer<br />

gehetzt fühlten, antworteten mehr als ein<br />

Viertel der Deutschen mit Ja. Noch größer<br />

und ständig wachsend ist das Heer der<br />

Angestellten, die sich über ein hohes Arbeitstempo<br />

beschweren. Und die Befragten<br />

sind sich einig darüber, dass Hektik krank<br />

macht. Von den Gehetzten klagten fast<br />

doppelt so viele über Rückenschmerzen,<br />

67 Prozent<br />

der Mitbürger<br />

empfinden<br />

die „ständige<br />

Hektik und<br />

Unruhe“ als<br />

den größten<br />

Auslöser von<br />

Stress<br />

Verspannungen an Schultern und Nacken,<br />

Verletzungen und ganz allgemein Stress als<br />

Beschäftigte, die ihre Arbeit gemächlich genug<br />

fanden.<br />

Wir kennen das Gefühl der <strong>Zeit</strong>not so<br />

sattsam, dass wir darüber ganz vergessen<br />

haben, wie merkwürdig es ist. Schließlich<br />

sind wir reicher an <strong>Zeit</strong>, als es Menschen je<br />

waren – und verfügen über eine nie da gewesene<br />

Freiheit, sie zu gestalten. Die Kombination<br />

aus Zwölfstundentag und Sechstagewoche,<br />

einst die übliche Arbeitszeit,<br />

ist heute die Ausnahme. Vor allem aber<br />

hat sich während der vergangenen hundert<br />

Jahre die Lebenserwartung beinahe<br />

verdoppelt. Wir hätten also eigentlich allen<br />

Grund, uns zu entspannen. Stattdessen<br />

fühlen wir uns gejagt.<br />

Wo bleibt all die gewonnene <strong>Zeit</strong>? Acht<br />

Stunden und 18 Minuten verschläft der<br />

erwachsene Deutsche. Eine Stunde und<br />

33 Minuten lang isst er. 47 Minuten am<br />

Tag weilt er hinter den geschlossenen Türen<br />

von Bad und Toilette. Frauen schlafen im<br />

Durchschnitt vier, essen drei und pflegen<br />

sich acht Minuten länger als Männer. Männer<br />

opfern zwei Stunden und neun Minuten,<br />

Frauen drei Stunden 49 Minuten des<br />

Tages dem Haushalt. Davon entfallen bei<br />

den Frauen 20 Minuten täglich auf Wäschepflege.<br />

Die entsprechende Zahl bei den<br />

Männern ist statistisch nicht nachweisbar.<br />

Um diese Erkenntnisse zu gewinnen,<br />

hat das Statistische Bundesamt einigen<br />

Aufwand getrieben. Alle zehn Jahre bekommen<br />

mehr als 12 000 Menschen im ganzen<br />

Land ein Tagebuch in die Hand und<br />

müssen im Zehn-Minuten-Rhythmus notieren,<br />

was sie tun. Das Ergebnis präsentiert<br />

sich als ein gar nicht so unerfreulicher<br />

Alltag in Deutschland. Jede und jeder im<br />

Land verfügt im Schnitt über 42 Stunden<br />

Freizeit pro Woche, mehr Muße haben in<br />

Europa einzig die Finnen. Und wir wissen<br />

durchaus mit diesem Gut umzugehen.<br />

Fast 15 Stunden pro Woche widmen die<br />

Deutschen Freunden und Vergnügungen<br />

wie Kino, Theater und Stadion. Selbst für<br />

das Essen lassen wir uns heute 21 Minuten<br />

täglich mehr <strong>Zeit</strong> als noch vor zehn Jahren.<br />

Man könnte fast glauben, die Deutschen<br />

seien am Ende gar auf dem Weg, das Genießen<br />

zu lernen – wären da nur nicht die<br />

Stimmen von immer mehr Menschen zu<br />

hören, die über Stress klagen.<br />

Zweifellos sind Muße und Hetze ungleich<br />

verteilt. Berufstätige Mütter kleiner<br />

Kinder etwa, erst recht Alleinerziehende,<br />

haben in Deutschland tatsächlich mehr<br />

Aufgaben, als sie vernünftigerweise an einem<br />

Tag bewältigen können. Aber für die<br />

meisten, die sich gehetzt fühlen, trifft das<br />

nicht zu. Die Statistiken über den objektiven<br />

und den gefühlten Mangel an <strong>Zeit</strong> sind<br />

denn auch ein Sammelsurium an Merkwürdigkeiten.<br />

Deutsche Rentner beispielsweise<br />

fühlen sich schon dann unerträglich<br />

gestresst, wenn fünf ihrer 24 Stunden verplant<br />

sind; Landwirtinnen hingegen beschweren<br />

sich erst, wenn sie elf Stunden<br />

täglich eingespannt sind. Und wie ist zu<br />

erklären, dass Menschen bei gleicher Arbeitsbelastung<br />

umso größere <strong>Zeit</strong>not empfinden,<br />

je mehr sie verdienen?<br />

Vielleicht bringt uns eine kleine <strong>Zeit</strong>reise<br />

ins Weimar jener Epoche, die Goethe<br />

so hektisch vorkam, dem Phänomen näher.<br />

Die Menschen auf der Straße bewegen sich<br />

mit geradezu aufreizender Langsamkeit –<br />

in ungefähr dem halben Tempo, das Sie<br />

gewohnt sind. Wenn Sie das noch nicht<br />

ungeduldig macht, dann genügt ein Besuch<br />

beim Bäcker: Bis Sie Ihre Brötchen bekommen,<br />

sind eine Viertelstunde und zwei<br />

Schwätzchen mit anderen Kunden vergangen.<br />

Sie wären tagelang mit öden Aufgaben<br />

beschäftigt, etwa mit der Hand Texte abzuschreiben,<br />

Rechnungen auf dem Papier anzustellen,<br />

Wäsche zu waschen. Die Abende<br />

bei Kerzenlicht und ohne Zerstreuung erscheinen<br />

Ihnen unendlich. Und wenn Sie<br />

Fotos: Alan Ginsburg/ Jahreszeiten-Verlag (Foto und Zitat aus dem Buch von Stefanie von Wietersheim und Claudia von Boch: Frauen & ihre Refugien/Callwey-Verlag/EUR 29,95), Tine Acke<br />

18 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Auszeit vom Alltag<br />

Gegen die wachsende Hektik hilft oft nur der strategische Rückzug. <strong>Cicero</strong> hat Prominente<br />

gefragt, wohin sie abtauchen, wenn sie einmal ganz bei sich selbst sein wollen<br />

Schauspielerin<br />

Senta Berger:<br />

„Ich wandere in<br />

meinem Haus von<br />

einem Refugium<br />

zum nächsten. Da,<br />

wo ich meinen<br />

Reiseschreibtisch<br />

aufklappe, ist<br />

mein Zimmer“<br />

Hinterm Horizont<br />

geht’s weiter: Wenn<br />

es ihm an Land<br />

zu viel wird, geht<br />

Udo Lindenberg<br />

an Bord. Mehrmals<br />

im Jahr mietet<br />

sich der Sänger auf<br />

Kreuzfahrtschiffen ein<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 19


T i t e l<br />

eine kleine Unterbrechung von so viel Einförmigkeit<br />

suchen, hätten Sie schon bald<br />

nach den ersten Ausläufern des Thüringer<br />

Waldes Ihren Aktionsradius erreicht. Die<br />

Gelegenheit, darüber hinauszublicken, bekommen<br />

Sie selbst als gut situierter Bürger<br />

höchstens ein- oder zweimal im Jahr. So sehen<br />

Sie nichts als tagaus, tagein dieselben<br />

Mauern, dieselben Gesichter.<br />

Wollen Sie schon mit der <strong>Zeit</strong>maschine<br />

die Rückreise in Ihren hektischen Alltag antreten?<br />

Widerstehen Sie dieser Versuchung,<br />

dann werden Sie nach einer Weile subtile<br />

Veränderungen Ihrer Wahrnehmung bemerken.<br />

Die Gerüche verschiedener Phasen des<br />

Frühlings im Wald werden Ihnen vertraut.<br />

Sie nehmen wahr, wie sich die Gesichtszüge<br />

Ihrer Mitmenschen verändern, und lernen<br />

die hohe Kunst der geistreichen Konversation.<br />

Während sich Ihr Ausdruckswille in<br />

Ihrem früheren Leben in kaum mehr als ein<br />

paar E-Mail-Kürzeln erschöpfte ;-) , beginnen<br />

Sie nun, in sorgsam formulierten Briefen<br />

und in gestochener Handschrift über<br />

Ihre Gefühle Rechenschaft abzulegen – keiner<br />

ist mehr darüber erstaunt als Sie selbst.<br />

Einige Gedichte haben Sie so oft gelesen,<br />

dass Sie die Verse ganz von allein auswendig<br />

lernten. Sogar die Lebensgeschichte Ihres<br />

Bäckers wird Ihnen geläufig. Und seine<br />

von Hand gefertigten Brötchen verströmen<br />

einen intensiven Duft, von dem Ihre Lieben<br />

daheim im 21. Jahrhundert noch nicht<br />

einmal ahnen.<br />

In der Vergangenheit, in der Sie sich herumtreiben,<br />

ist Abwechslung kostbar. Weil<br />

Sie nicht viel erleben, beschäftigen Sie sich<br />

umso intensiver mit den Reizen, die Sie<br />

wahrnehmen. Ausgehungert nach Zerstreuung,<br />

empfinden Sie selbst einen Jahrmarkt<br />

als ein Ereignis, das eine mühsame<br />

Anreise lohnt.<br />

Uns heutige Menschen dagegen erreicht<br />

so viel Stimulation, wie wir wollen.<br />

Der Jahrmarkt findet jeden Abend im Fernsehen<br />

statt; in einer einzigen Stunde vor<br />

dem Bildschirm bekommen wir mehr als<br />

tausend Einstellungen zu sehen. Fernreisen,<br />

Musik auf Knopfdruck, ausgefallene<br />

Speisen – in einem einzigen Jahr sammeln<br />

wir mehr Eindrücke als Goethes <strong>Zeit</strong>genossen<br />

in einem ganzen Leben. Soziologen<br />

nennen dies die „Ereignisgesellschaft“:<br />

Sinnesreize gibt es in beliebiger Menge sofort.<br />

Nur fehlt uns die <strong>Zeit</strong>, sie zu genießen.<br />

Denn das Gehirn kann Information<br />

nicht beliebig schnell verarbeiten. Darum<br />

ist Aufmerksamkeit ein knappes Gut. Erreicht<br />

uns ein Reiz, während wir mit etwas<br />

anderem beschäftigt sind, können wir<br />

uns ihm zuwenden, dann aber bleibt der<br />

erste Vorgang im Kopf unvollendet. Oder<br />

aber wir blocken die Neuigkeit ab. In jedem<br />

Fall verzichten wir auf einen großen<br />

Teil der eigentlich verfügbaren Information.<br />

Das wäre nicht weiter schlimm, wenn es<br />

uns gelänge, sinnvoll auszuwählen. Fatalerweise<br />

aber funktionieren die nötigen Filter<br />

schlecht – zu schlecht für unsere moderne<br />

Umgebung.<br />

Versuchen Sie einmal, nicht auf einen<br />

der Monitore zu achten, über die in<br />

Bahnen und Bussen Werbung flimmert.<br />

In einem<br />

einzigen Jahr<br />

sammeln<br />

wir mehr<br />

Eindrücke<br />

als Goethes<br />

<strong>Zeit</strong>genossen in<br />

einem ganzen<br />

Leben<br />

Noch schwerer fällt es, sich vom laufenden<br />

Fernseher oder gar von einem spannenden<br />

Computerspiel loszureißen. Als ginge<br />

von den Bildschirmen eine bannende Kraft<br />

aus, gelingt es uns nicht, einfach den Ausknopf<br />

zu drücken, obwohl wir es eigentlich<br />

wollen.<br />

Ein Gegenstück im Büro sind die ständig<br />

hereintröpfelnden E-Mails. Natürlich<br />

ist jedem klar, dass erstens Outlook und Co<br />

<strong>Zeit</strong>räuber sind, die uns unablässig daran<br />

hindern, eine Sache ungestört zu Ende zu<br />

führen, und dass zweitens nur die wenigsten<br />

Mails einer umgehenden Antwort bedürfen.<br />

Und doch kostet es größte Überwindung,<br />

das E-Mail-Programm einfach zu<br />

beenden und dann auch abgeschaltet zu<br />

lassen. Denn als das Netz in die Haushalte<br />

einzog, wurden die Menschen nach dem<br />

neuen Medium süchtig. Eine Untersuchung<br />

der inzwischen untergegangenen Internetfirma<br />

AOL berichtet aus diesen Tagen:<br />

Schon in den späten neunziger Jahren<br />

verbrachten drei Viertel aller Amerikaner<br />

mehr als eine Stunde mit ihrer elektronischen<br />

Post. 41 Prozent der Befragten riefen<br />

morgens noch vor dem Zähneputzen<br />

zum ersten Mal ihre Mails ab, ebenso viele<br />

gaben zu, sogar nachts schon einmal extra<br />

aufgestanden zu sein, nur um am Computer<br />

das Postfach zu prüfen. 4 Prozent taten<br />

es selbst dann, wenn sie, mit Laptop ausgerüstet,<br />

auf der Toilette saßen. Seit in jeder<br />

Hosentasche ein Smartphone steckt, dürften<br />

sich sehr viel mehr Menschen das angewöhnt<br />

haben.<br />

Liegt es daran, dass es Menschen unmöglich<br />

ist, ständiger Ablenkung zu entsagen?<br />

Die genetische Programmierung unseres<br />

Gehirns entstand in einer <strong>Zeit</strong>, in der<br />

neue Reize rar waren und, wenn sie doch<br />

auftraten, eine möglicherweise lebenswichtige<br />

Bedeutung hatten. Was sich in unserer<br />

Umgebung verändert, weckt die Aufmerksamkeit,<br />

ob wir es wollen oder nicht. Automatisch<br />

wird der Blick dorthin gezogen.<br />

So mögen wir heute vor dem Computer<br />

durchaus wissen, wie belanglos die meisten<br />

per E-Mail eintreffenden Botschaften<br />

sind – wir stürzen uns dennoch mit derselben<br />

Intensität darauf, mit der einst ein Savannenbewohner<br />

die Ohren spitzte, wenn<br />

er ein Rascheln im Laubwerk vernahm.<br />

Diese Reaktionen sind einem eigenen<br />

Netzwerk von Nervenzellen zu verdanken.<br />

Es geht von einem bläulichen Kern namens<br />

Locus coeruleus im Hirnstamm aus (coeruleus<br />

ist lateinisch für „blau“). Von dort<br />

zieht sich das Geflecht der Neuronen nach<br />

unten und oben – einerseits ins Rückenmark,<br />

andererseits ins Stirnhirn und in tiefere<br />

Hirnzentren, welche Emotionen auslösen.<br />

Sobald ein bemerkenswerter Reiz<br />

eintrifft, setzt der blaue Kern automatisch<br />

den Botenstoff Noradrenalin frei. Diese<br />

Substanz ist eng verwandt mit dem besser<br />

bekannten Stresshormon Adrenalin. Noradrenalin<br />

sorgt dafür, dass der Blutdruck<br />

steigt und der Pulsschlag etwas schneller<br />

wird – plötzlich fühlen Sie sich lebendig.<br />

In den höher gelegenen Zentren des Gehirns<br />

beschleunigen sich Wahrnehmung<br />

und Denken. Der Körper macht sich bereit<br />

zu reagieren, Gefühle melden sich. Wenn<br />

der Reiz nicht bedrohlich ist, gelangt nur<br />

Fotos: Claudia von Boch/Callwey-Verlag (Foto und Zitat aus dem Buch von Stefanie von Wietersheim und Claudia von Boch: Frauen & ihre Refugien/Callwey-Verlag/EUR 29,95), Karin Rocholl<br />

20 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Schauspielerin<br />

Nadja Uhl kaufte<br />

sich im Oktober<br />

2005 gemeinsam mit<br />

drei Freunden die<br />

Villa Gutmann in<br />

der Nauener Vorstadt<br />

bei Potsdam. Die<br />

Villa ist „meine Burg<br />

der Zuflucht“, sagt<br />

Uhl. „Sie hat so<br />

etwas Liebevolles“<br />

„Da steht eine Bank am See,<br />

und wären da nichts als eine Bank<br />

und ein sanft bewegter See, es sähe aus<br />

wie Harmonie. Da sitzt aber einer drauf<br />

auf der Bank, der sieht die tolle Photographin stehn,<br />

der er liefern soll den Dichter auf der Bank am See.<br />

Und schon krampft sich die Rechte ins Revers und<br />

die Linke klemmt zwischen den vierten und den fünften Finger<br />

die Bank, die, stünde sie allein am See,<br />

ein Bild ergäbe der reinen Harmonie“<br />

Martin Walser beantwortete die <strong>Cicero</strong>-Anfrage<br />

mit einem Gedicht<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 21


T i t e l<br />

„Mit spektakulären<br />

Plätzen kann ich leider<br />

nicht dienen. Soll<br />

ich meinen häufig<br />

kranken Mann allein<br />

lassen, um mal eben<br />

auf den Brocken<br />

zu fliegen? Und die<br />

vier Enkelkinder, die<br />

regelmäßig hier spielen,<br />

um ihre Apfelschorle<br />

und das Hefeteilchen<br />

betrügen, um über den<br />

Bodensee zu rudern?<br />

Es sieht vielmehr<br />

so aus: Ich sitze in<br />

unserem Garten unter<br />

einem Kirschbaum<br />

auf einer Bank, die<br />

ich dringend mal<br />

putzen müsste. Dort<br />

gerate ich durchaus in<br />

einen kontemplativen<br />

Zustand, wenn ich<br />

zum Beispiel Tiere<br />

beobachte – Amseln,<br />

die ihre Jungen<br />

füttern, Eichhörnchen,<br />

Bienen, Hummeln,<br />

Schmetterlinge,<br />

Nachbars Katze. Am<br />

liebsten belausche ich<br />

aber zwei sechsjährige<br />

Enkel, die Feuerwehr<br />

oder Agent spielen<br />

und sich gegenseitig<br />

über absurde<br />

Wichtigkeiten belehren“<br />

Ingrid Noll<br />

Schriftstellerin<br />

22 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Anzeige<br />

Foto: Andreas Reeg<br />

relativ wenig Noradrenalin in die Nervenbahnen<br />

– wohlige Anregung breitet sich<br />

aus, auch ein leichtes Kribbeln der Spannung.<br />

Nur wenn die Neuigkeit gefährlich<br />

erscheint, wird eine große Dosis Noradrenalin<br />

freigesetzt, sodass die Reaktion in<br />

Stress und Furcht umschlägt.<br />

Doch die wenigsten Anlässe im geordneten<br />

Alltag von heute geben Anlass zu<br />

Angst. Wir werden mit Reizen bombardiert,<br />

die ein bisschen aufregend, doch alles andere<br />

als bedrohlich sind. Vielmehr liegt in<br />

den meisten Ablenkungen sogar ein kleines<br />

Versprechen: Das Klingeln des Handys<br />

könnte den Anruf eines Freundes bedeuten;<br />

die E-Mail eine Einladung auf eine<br />

Party; und selbst die Bilder auf dem Werbemonitor<br />

in der U‐Bahn verheißen ein<br />

etwas besseres Leben.<br />

Da die Aufmerksamkeit sich selbst<br />

steuert, ist es schwer, solche Signale willentlich<br />

zu missachten. Aber vielleicht würden<br />

wir es auch gar nicht wollen. Ob ein<br />

unbekanntes Gesicht oder auch nur eine<br />

gerade eintreffende SMS – jede neue Information,<br />

die das Bewusstsein erreicht, bewirkt<br />

einen kleinen, schönen Flash. Der<br />

Effekt ist tatsächlich mit dem einer Droge<br />

vergleichbar; Substanzen wie Nikotin und<br />

vor allem Kokain wirken auf dieselben Nervenbahnen<br />

ein.<br />

Und mit jedem Reiz, der Aufmerksamkeit<br />

fordert, steigt das allgemeine Erregungsniveau.<br />

„Sie leben Ihr Leben in einer<br />

Aufregung, die Ihre Vorfahren nur in der<br />

Schlacht kannten“, schreibt der amerikanische<br />

Autor Mark Helprin. In einem Zustand<br />

ständiger Stimulation fühlen wir uns<br />

lebendig: Wir haben guten Grund, das verfluchte<br />

Tempo, in dem wir leben, zu lieben.<br />

Doch je mehr die Erregung zunimmt,<br />

umso schlechter können wir uns konzentrieren.<br />

Das vom blauen Kern ausgehende<br />

Neuronennetzwerk, das uns rege macht,<br />

kann nämlich die höheren Funktionen<br />

der Aufmerksamkeit hemmen: Es verhindert,<br />

dass wir Störungen ausblenden. Dann<br />

ist es kaum mehr möglich, zwischen wichtig<br />

und unwichtig zu unterscheiden; wahllos<br />

fliegt das Bewusstsein auf jeden neuen<br />

Reiz. Einst war eine solche Blockade höchst<br />

sinnvoll. Für den Steppenbewohner, der<br />

ein bedrohliches, unbekanntes Geräusch<br />

hört, wäre ein Filter der Wahrnehmung ein<br />

lebensgefährlicher Luxus. Er ist darauf angewiesen,<br />

dass jede neue Entwicklung im<br />

Gebüsch sofort sein Bewusstsein erreicht.<br />

Heute freilich wirkt die Selbstabschaltung<br />

der Filter fatal. Gerade diese Funktion<br />

der Aufmerksamkeit, die wir angesichts<br />

der Reizfülle am dringendsten bräuchten,<br />

bricht als erste zusammen. Die Filter<br />

der Wahrnehmung beginnen durchlässig<br />

zu werden, immer mehr Stimulation<br />

erreicht das Bewusstsein, immer häufiger<br />

springt die Aufmerksamkeit zum nächsten<br />

Signal. Dies erhöht nun erst recht die<br />

Erregung und schwächt die Filter – eine<br />

Abwärtsspirale.<br />

Die ganz normalen Folgen der Überflutung<br />

hat die kalifornische Arbeitswissenschaftlerin<br />

Gloria Mark dokumentiert. Sie<br />

zeichnete auf, wie oft Angestellte in Softwarefirmen<br />

von einer Tätigkeit zur nächsten<br />

wechselten, sich also beispielsweise von<br />

der Lektüre eines Schriftstücks abwandten,<br />

um ein wenig im Internet zu surfen. Dies<br />

war in der Regel 20 Mal pro Stunde und<br />

öfter der Fall: Den Mitarbeitern gelang es<br />

nicht, sich länger als durchschnittlich drei<br />

Minuten mit einer Angelegenheit zu befassen!<br />

Da hilft auch nicht der oft gegebene<br />

Rat, „Multitasking“ zu üben, weil das Gehirn<br />

zu jeder <strong>Zeit</strong> nur eine bewusste Tätigkeit<br />

ausführen kann. Wer trotzdem versucht,<br />

beim Telefonieren eine E-Mail zu<br />

beantworten, springt in Wirklichkeit mit<br />

seiner Aufmerksamkeit unablässig hin und<br />

her. Dabei vergeht in der Summe mehr<br />

<strong>Zeit</strong>, als wenn man beide Tätigkeiten nacheinander<br />

ausgeführt hätte, und es häufen<br />

sich Fehler.<br />

Je löcheriger die Filter der Aufmerksamkeit<br />

werden, umso weniger können<br />

wir den selbst gewählten Vorhaben folgen.<br />

Deswegen fällt es in einer Welt voller Reize<br />

so schwer, nach dem eigenen Rhythmus zu<br />

leben. Was ringsum geschieht, nötigt uns<br />

seinen Takt auf. Wir folgen den Ereignissen<br />

der Außenwelt wie ein dressiertes Hündchen<br />

der Glocke: Man saust den ganzen<br />

Tag von Termin zu Termin, bekommt einen<br />

Kick nach dem anderen. Fragt man<br />

sich allerdings abends, was eigentlich die<br />

Stunden von früh bis spät so sehr ausgefüllt<br />

hat, stellt sich ein schales Gefühl ein: <strong>Keine</strong>n<br />

einzigen Eindruck von nennenswerter<br />

Bedeutung hat man erlebt, sondern vor allem<br />

die Geschwindigkeit selbst.<br />

So ähnelt nicht nur das Hochgefühl,<br />

sondern auch der Nachgeschmack dem<br />

einer Droge. Rauschmittel versetzen das<br />

Gehirn auf chemischem Weg in einen<br />

Ausnahmezustand. Was genau ringsum<br />

Wolfram Weimer<br />

LAND UNTER<br />

Ein Pamphlet zur Lage der Nation<br />

96 Seiten / geb. mit Schutzumschlag<br />

€ 10,00 (D) / € 10,30 (A) / CHF* 14,90<br />

ISBN 978-3-579-066655-4<br />

Christian Wulff und Theodor zu<br />

Guttenberg – nur zwei Beispiele von<br />

vielen, deren mangelndes Unrechtsbewusstsein<br />

unser Vertrauen in die<br />

Politik und ihre Gesichter nachhaltig<br />

erschüttert hat. Wolfram Weimer zeigt,<br />

was in unserer Demokratie fehlt:<br />

Rückgrat beweisen und Haltung zeigen.<br />

Ein überzeugender Appell.<br />

*empf. Verkaufspr.<br />

GÜTERSLOHER<br />

VERLAGSHAUS<br />

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www.aufbau-verlag.de<br />

Das neue Buch<br />

des großen<br />

Rebellen<br />

Hrsg. Roland Merk. ISBN 978-3-351-02758-2. € 10,00. Auch als E-Book<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 23


T i t e l<br />

Der Fotograf<br />

Jim Rakete hatte<br />

kürzlich die<br />

Gelegenheit, sich für<br />

ein paar Wochen in<br />

die Villa Massimo in<br />

Rom zurückzuziehen.<br />

„Urlaub ist das<br />

nicht“, schrieb er. „Ich<br />

arbeite hier, wie alle<br />

anderen auch, nur<br />

eben: in inspirierender<br />

Umgebung“<br />

Für den 86-jährigen<br />

Historiker Fritz<br />

Stern ist es immer<br />

noch die akademische<br />

Arbeit, bei der er<br />

sich am wohlsten<br />

fühlt. Wenn er nicht<br />

an seinem Institut<br />

an der Columbia<br />

University in New<br />

York forscht, zieht er<br />

sich in sein Haus in<br />

Princeton zurück<br />

24 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Fotos: <strong>Cicero</strong>, Kai Nedden, Sven Paustian (Autor)<br />

geschieht, wird uninteressant; es zählt nur<br />

noch die starke Empfindung. Ein Hochgeschwindigkeitstag<br />

wirkt so ähnlich.<br />

Und wie Süchtige haben wir nicht nur<br />

unsere Leistungsfähigkeit, sondern auch,<br />

weit schlimmer, die Freiheit der Selbstkontrolle<br />

verloren. Diese Erfahrung macht uns<br />

heute zu schaffen – nicht etwa ein Mangel<br />

an verfügbarer <strong>Zeit</strong>, auch nicht die oft und<br />

schwammig beklagte Beschleunigung der<br />

Welt. Das Drama findet vielmehr in unseren<br />

Köpfen statt. Eine mit verheißungsvollen<br />

Angeboten überladene Umgebung<br />

stellt uns eine Aufgabe, für die wir nicht<br />

gemacht sind: Es gilt auszuwählen – und<br />

zu verzichten.<br />

Die üblichen Rezepte der <strong>Zeit</strong>planung<br />

greifen denn auch viel zu kurz: Gute Vorsätze<br />

sind machtlos gegen die automatische<br />

Steuerung der Aufmerksamkeit. Wer<br />

es neben sich knallen hört, wird aufsehen<br />

– ob es auf der To-do-Liste steht oder<br />

nicht. Und doch sind wir den Ablenkungen<br />

keineswegs ausgeliefert. Denn zum einen<br />

lässt sich die Konzentrationsfähigkeit<br />

wie ein Muskel trainieren. Zum anderen<br />

folgt die Aufmerksamkeit zwar selten unseren<br />

schönen Absichten, sehr wohl aber tieferen,<br />

oft verborgenen Motivationen. Diese<br />

Antriebe, einmal bewusst gemacht, wirken<br />

nämlich wie ein Gegengewicht zu den Verlockungen<br />

des Augenblicks. So stellen uns<br />

Smartphone und Co und die Explosion der<br />

Möglichkeiten in unserem Leben vor die<br />

überraschende Herausforderung, uns selbst<br />

kennenzulernen. Im Takt der sich vollziehenden<br />

technischen Revolution bestehen<br />

wird nur, wer um seine tiefsten Wünsche<br />

und Sehnsüchte weiß.<br />

Goethe übrigens kam mit der von<br />

ihm selbst bemängelten Schnelligkeit seiner<br />

Epoche bestens zurecht. In „Dichtung<br />

und Wahrheit“ bekennt er:<br />

„Da man immer <strong>Zeit</strong> genug hat, wenn<br />

man sie gut anwenden will, so gelang mir<br />

mitunter das Doppelte und Dreifache.“<br />

Denn: „Die <strong>Zeit</strong> ist unendlich lang und<br />

ein jeder Tag ein Gefäß, in das sich sehr<br />

viel eingießen lässt, wenn man es wirklich<br />

ausfüllen will.“<br />

Stefan Klein<br />

ist Wissenschaftsjournalist und<br />

Buchautor. Zuletzt erschien von<br />

ihm „Der Sinn des Gebens“<br />

Zehn Tipps zum Umgang mit <strong>Zeit</strong>not<br />

von Hartmut Rosa<br />

Die Momo-Erkenntnis: <strong>Zeit</strong>sparen ist nicht die Lösung. Befreien Sie sich von der<br />

Illusion, durch neue <strong>Zeit</strong>spartechniken Ihr <strong>Zeit</strong>problem zu überwinden. Dem Hamsterrad<br />

kann man nicht entkommen, man kann sich nur häuslich darin einrichten.<br />

Die Momo-Konsequenz: <strong>Zeit</strong> verschenken macht zeitreich! Wenn Sie einmal das<br />

Gefühl haben wollen, richtig viel <strong>Zeit</strong> zu haben, dann müssen Sie sie verschwenden!<br />

<strong>Zeit</strong>kontrolle und <strong>Zeit</strong>management sind nicht mehr zeitgemäSS. Der Versuch,<br />

mittels exakter <strong>Zeit</strong>- und Stundenpläne oder klarer Prioritätsordnungen das<br />

<strong>Zeit</strong>problem zu lösen, muss in einer hochdynamischen Umgebung notwendigerweise<br />

scheitern.<br />

Entwickeln Sie ein Gefühl für Verschiebungen und Resonanzen! Erwerben<br />

Sie eine Technik der Ad-hoc-Balancierung, die Ihrer beschleunigten Umwelt angemessen<br />

ist. Aber bedenken Sie: Wirkliche Innovationen in Wirtschaft, Wissenschaft,<br />

Kunst und Politik entstehen nur durch zähes, zeitresistentes Festhalten an einer<br />

Vision wider alle Kontingenzen.<br />

Sie verpassen Vieles und Wichtiges! Reden Sie sich gar nicht erst ein, dass Sie<br />

schon nichts Wichtiges verpassen werden unter den E-Mails, Anrufen und Kontaktanfragen.<br />

Akzeptieren Sie, dass sich da draußen viel ereignet, während Sie offline<br />

sind. Das ist nicht nur egal, sondern notwendig.<br />

Legen Sie sich auf eine prioritäre Kommunikationsform fest! Wählen Sie unter<br />

E-Mail, Facebook, SMS oder Voicemail einen Kommunikationsweg, durch den Sie<br />

regelmäßig zu erreichen sind und über den Sie immer antworten. Nennen Sie diesen<br />

Weg denen, die für Sie wichtig sind (Ehepartner, Sekretariat etc.). Dieser Kanal ist<br />

nicht nur Ihre am häufigsten benutzte, sondern Ihre wichtigste Weltverbindung.<br />

Der Schreibtisch muss voll sein! Die Strategie, den Schreibtisch oder das E-<br />

Mail-Fach abzuarbeiten, bevor Sie nach Hause gehen und bevor Sie mit dem Wichtigen<br />

anfangen, muss scheitern. Es ist ein gutes Zeichen, wenn die Aufgabenberge<br />

schneller wachsen, als Sie sie abarbeiten können. Problematisch wird es erst, wenn<br />

es andersherum ist. Akzeptieren Sie dieses Verhältnis!<br />

Entwickeln und pflegen Sie ihre Monotaskingfähigkeit! Die Idee, dass man<br />

mehr schafft, wenn man sich um mehrere Sachen gleichzeitig kümmert, ist wissenschaftlich<br />

widerlegt. Multitasking ist ein Mythos.<br />

Schaffen Sie sich Entschleunigungsoasen! Tragen Sie „nichts“ in den Kalender<br />

ein, und stellen Sie sicher, dass Sie das dann auch tun! Erklären Sie ein paar Routinen<br />

für sakrosankt: Zum Beispiel können Sie zwischen Weihnachten und Neujahr<br />

grundsätzlich für niemanden zu sprechen sein, am Freitag immer zum Volleyball<br />

gehen oder sonntags, egal was dazwischenkommt, den „Tatort“ schauen.<br />

Steigen Sie nicht als schuldiges Subjekt ins Bett! Ontologisieren Sie Ihr Leiden<br />

nicht. An die Stelle der Beichte kann die Soziologie treten: Nicht Sie sind schuld,<br />

sondern die Strukturen!<br />

Hartmut Rosa ist Professor für Soziologie an der Universität Jena und Autor des<br />

Buches „Beschleunigung. Die Veränderung der <strong>Zeit</strong>strukturen in der Moderne“ (Suhrkamp)<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 25


T i t e l<br />

Die knappste Ressource der Welt<br />

Eine Sache von zeitloser<br />

Schönheit<br />

Ein Buch,<br />

in dem man viel über<br />

<strong>Zeit</strong> lernen kann<br />

Ein Ort, an dem<br />

man mehr <strong>Zeit</strong> hat<br />

als anderswo<br />

Ein Augenblick,<br />

in dem die <strong>Zeit</strong> stehen<br />

zu bleiben scheint<br />

Til Knipper<br />

Abstract City – der Blog<br />

von Christoph Niemann auf<br />

NYTimes.com<br />

Marc Fischer: „Die Sache<br />

mit dem Ich“ – in jeder<br />

von Fischers Reportagen<br />

erfährt man, dass sich<br />

besondere Situationen,<br />

Begegnungen und<br />

Zufälle nur dann<br />

ergeben, wenn man sich<br />

<strong>Zeit</strong> nimmt<br />

Alexander Marguier Die Natur Thomas Mann:<br />

„Der Zauberberg“<br />

In Monatsmagazin-<br />

Redaktionen<br />

In der Kindheit<br />

Bei Hochzeitsreden<br />

von Trauzeuginnen –<br />

niemanden interessiert,<br />

was du und die Braut<br />

auf eurer Weltreise<br />

nach dem Abitur erlebt<br />

habt; nicht mal die<br />

Braut, denn die war<br />

dabei<br />

Verkehrsunfall kurz<br />

bevor es kracht<br />

Judith Hart<br />

Marilyn Monroe, weil sie<br />

niemals aufhören wird, unsere<br />

Fantasie anzuregen<br />

Stefan Zweig:<br />

„Schachnovelle“ – weil<br />

sie ein Paradebeispiel<br />

dafür ist, dass der<br />

menschliche Wille <strong>Zeit</strong><br />

und Raum überwinden<br />

kann<br />

In der Badewanne<br />

Der Tod eines nahe<br />

stehenden Menschen<br />

Hartmut Palmer<br />

Die Matthäus-Passion von<br />

Johann Sebastian Bach<br />

Thomas Mann:<br />

„Joseph und seine<br />

Brüder“<br />

Der Friedhof – getreu<br />

dem Motto, das auch der<br />

Titel eines wunderbaren<br />

Films ist: „Wer früher<br />

stirbt, ist länger tot“<br />

Beim Betrachten<br />

eines klaren<br />

Sternenhimmels – weil<br />

einen dabei die Frage<br />

beschäftigt, ob es den<br />

Stern, dessen Licht<br />

man sieht, überhaupt<br />

noch gibt<br />

Christoph<br />

Schwennicke<br />

Eine Wanderung durch<br />

die Hardangervidda in<br />

Norwegen – endlos weit,<br />

endlos erhaben<br />

Lemmy Kilmister: „White<br />

Line Fever“ – das Carpe<br />

diem eines lebensklugen<br />

Mannes<br />

Im Zug auf langen<br />

Bahnfahrten. Bedingung:<br />

allein und ohne<br />

Umsteigen<br />

Die Geburt des eigenen<br />

Kindes<br />

Daniel Schreiber<br />

Michael Naumann<br />

Der „Lepanto-Zyklus“ von<br />

Cy Twombly – Abstraktion,<br />

die zu Tränen rührt; zu sehen<br />

im Münchener Museum<br />

Brandhorst<br />

Die amerikanische<br />

Unabhängigkeitserklärung<br />

Die Erzählungen<br />

der kanadischen<br />

Schriftstellerin Alice<br />

Munro, weil sie zeigen,<br />

dass es im Leben immer<br />

auch ein Danach gibt<br />

Marcel Proust:<br />

„Auf der Suche nach der<br />

verlorenen <strong>Zeit</strong>“<br />

Yoga-Matte und<br />

Psychoanalyse-Sofa: An<br />

beiden Orten kommt man<br />

in Berührung mit seiner<br />

inneren <strong>Zeit</strong><br />

Auf jedem Friedhof<br />

Frank A. Meyer <strong>Zeit</strong> Bibel Kirche Abschied<br />

Der Moment, in dem<br />

man zum ersten Mal<br />

bemerkt, dass man<br />

schon einige graue<br />

Haare an den Schläfen<br />

hat<br />

Als ich zum ersten Mal<br />

vom Zwölf-Meter-Turm<br />

des Schwimmbads in<br />

Köln-Müngersdorf in<br />

den Abgrund schaute<br />

26 <strong>Cicero</strong> 8.2012


In dieser Tabelle offenbaren die Kollegen aus der Redaktion, wie sie ihre <strong>Zeit</strong> sinnvoll<br />

oder lustvoll sinnlos verbringen. Eine kleine Handreichung zum <strong>Zeit</strong>totschlagen<br />

Eine besonders<br />

schöne<br />

<strong>Zeit</strong>verschwendung<br />

Ein Popsong,<br />

der erstaunlich<br />

zeit resistent ist<br />

Eine <strong>Zeit</strong>investition,<br />

die sich lohnt<br />

Ein besonders<br />

großer <strong>Zeit</strong>killer<br />

Schwimmen – als<br />

Fortbewegungsart zu langsam<br />

und wahnsinnig anstrengend,<br />

wenn man es nicht kann. Fühle<br />

mich danach aber trotzdem<br />

immer gut<br />

Al Bano & Romina Power:<br />

„Felicità“ – bei Lichte<br />

betrachtet gar nicht so<br />

erstaunlich, weil schon die<br />

Namen der Interpreten so stark<br />

sind und das Lied sehr gute<br />

Laune macht<br />

Zahnseide benutzen – sagt<br />

mein Zahnarzt<br />

„Spiegel-Online“ – nicht „Bild“,<br />

nicht Fleisch<br />

Schönheit ist keine<br />

Verschwendung<br />

Serge Gainsbourg & Jane Birkin:<br />

„Je t’aime“ – volle Stöhnung für<br />

Seniorennachmittage<br />

Bedienungsanleitungen lesen<br />

Schlechte Gewohnheiten<br />

Im Strandkorb aufs Meer<br />

blicken<br />

Hildegard Knef:<br />

„Für mich soll’s rote Rosen<br />

regnen“ – die Knef konnte ja<br />

nicht wirklich singen, aber<br />

wahrscheinlich traut sich<br />

gerade deshalb jeder, lauthals in<br />

den Refrain einzustimmen<br />

Lesen<br />

Kfz-Anmeldestelle<br />

Alte Filme anschauen<br />

Medizinische<br />

Vorsorgeuntersuchung<br />

Mehr als einmal täglich<br />

Facebook checken – weshalb<br />

man sich so schnell wie möglich<br />

von Facebook abmelden sollte<br />

(was gar nicht so einfach ist)<br />

Fische beobachten in<br />

kristallklarem Wasser – völlig<br />

sinnlos ohne Angel, aber schön<br />

Herbert Grönemeyer:<br />

„Männer“ – ein Mann, der<br />

nicht singen kann, bellt<br />

Banalitäten über seine<br />

Geschlechtsgenossen<br />

Die Steuererklärung machen –<br />

und nicht mit schlechtem<br />

Gewissen vor sich herschieben<br />

Das „Postamt“ – warum ist<br />

da eigentlich IMMER eine<br />

Schlange?<br />

Komplizierte französische<br />

Rezepte mit gefühlten<br />

200 Zutaten aus dem<br />

„Larousse Gastronomique“<br />

nachkochen<br />

Kate Bush:<br />

„Wuthering Heights“ – selbst<br />

Sex-Pistols-Sänger John<br />

Lyndon und Rapper Big Boi<br />

sind Fans<br />

Schwimmen, Laufen und ins<br />

Fitnessstudio gehen, weil man<br />

sich sonst mit 40 schon so<br />

fühlen könnte, als wäre man 50<br />

Diäten (macht man eigentlich<br />

nur, wenn man es sowieso nicht<br />

ernst meint)<br />

Die ersten Liebesbriefe<br />

The Beatles:<br />

„Strawberry Fields Forever“<br />

Die Lektüre von Robert Musils<br />

„Mann ohne Eigenschaften“<br />

Der Tod<br />

Schlafen „Barbara“ Nachdenken Fragebögen<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 27


T i t e l<br />

„<strong>Zeit</strong> gibt es nicht“<br />

Franz Müntefering über eine Erfindung des Menschen, die Rasanz der Moderne,<br />

die Langsamkeit der Demokratie – und ein Europa, dessen Uhr tickt<br />

H<br />

err Müntefering, was ist <strong>Zeit</strong>?<br />

<strong>Zeit</strong> ist eine Erfindung der<br />

Menschen, so wie der Raum<br />

auch. Alle Dimensionen sind Erfindungen<br />

des Menschen, um sich orientieren<br />

zu können.<br />

Moment mal! <strong>Zeit</strong> ist eine physikalische<br />

Größe, eine Gesetzmäßigkeit, mit der<br />

wir rechnen. Wie können Sie sagen, dass<br />

wir sie einfach nur erfunden haben, um<br />

klarzukommen?<br />

Es gibt sie nicht, die <strong>Zeit</strong> an sich. <strong>Zeit</strong><br />

ist nicht absolut, sie ist relativ. Ist sie ein<br />

Punkt oder eine Linie? Wir wissen es<br />

nicht, wir versuchen, ihr mit Uhren einen<br />

Rahmen zu geben. Uhren sind ohnehin<br />

eine komische Sache. Sie ticken<br />

Punkte und erwecken doch die Illusion,<br />

die <strong>Zeit</strong> sei eine gerade Linie. Es gibt<br />

aber keine lineare <strong>Zeit</strong>.<br />

Warum kommt es uns so vor, als ob unsere<br />

<strong>Zeit</strong> immer knapper wird, obwohl wir immer<br />

älter werden?<br />

Was wir gerade erleben, ist eine Neuordnung<br />

der <strong>Zeit</strong> und des Raumes. Und das<br />

ereignet sich durch die Geschwindigkeit,<br />

durch die Globalität, durch die Mobilität,<br />

die wir in den vergangenen hundert Jahren<br />

entwickelt haben. Also, Raum und<br />

<strong>Zeit</strong> verändern sich. Das hat es schon immer<br />

gegeben, aber das geschieht exponentiell<br />

im Augenblick. Früher haben die<br />

Menschen in ihrer Sippe gewohnt, und<br />

dann entstanden Städte, und dann zog<br />

„Demokratie braucht eine menschenmögliche Geschwindigkeit“, sagt Franz Müntefering<br />

und macht sich Sorgen um den Parlamentarismus in Europa. Der 72-jährige frühere<br />

SPD-Vorsitzende und Vizekanzler der Großen Koalition mahnt seine Sozialdemokraten<br />

zur Unterstützung der Europapolitik der Kanzlerin. Es gebe „im Moment ein Ziel, dem<br />

sich alle demokratischen Parteien in Deutschland verpflichtet fühlen sollten: Europa muss<br />

gelingen.“ Seine Stimme hat immer noch großes Gewicht, über alle Parteigrenzen hinweg<br />

Foto: Frank Zauritz<br />

28 <strong>Cicero</strong> 8.2012


man ins Nachbarland, auch in die Welt<br />

hinein. Und heute ist die Globalität da,<br />

und die Mobilität, Menschen und Güter<br />

und Informationen rund um die Welt<br />

transportieren zu können.<br />

Aber der Mensch erfindet doch permanent<br />

Maschinen, die helfen sollen, <strong>Zeit</strong> zu<br />

sparen: das Rad, der Motor, die Eisenbahn,<br />

das Flugzeug, das Fax, das Handy. Und am<br />

Ende hat er erst recht keine. Was läuft da<br />

schief?<br />

Die Frage, die wir uns stellen müssen:<br />

Was hat das Ganze für eine Wirkung,<br />

diese höhere Geschwindigkeit, dieses<br />

hohe Tempo in der <strong>Zeit</strong>? Und es hat eine<br />

gewaltige Wirkung auf die Politik, weil<br />

es das Zusammenleben der Menschen<br />

berührt. Das ist Politik. Die Politik<br />

macht sich Gedanken darüber, wie arbeiten,<br />

wie leben wir zusammen, wer hat<br />

die Macht, wer hat die Aufgabe, diese<br />

Dinge zu regeln. Das hohe Tempo hat<br />

hier Folgen.<br />

Sie haben keine Armbanduhr am Handgelenk.<br />

Warum nicht?<br />

Habe ich in meinem Leben nie gehabt,<br />

doch, einmal kurz, als ich 20 war. Ich<br />

mag Uhren nicht besonders. Als Junge<br />

habe ich aus einer Uhr mal den Stundenzeiger<br />

ausgebaut. Ein Experiment. Ich<br />

wollte deutlich machen, dass die <strong>Zeit</strong> etwas<br />

ist, was sich im Kreise dreht an der<br />

großen Uhr, ohne dass man genau weiß,<br />

wie spät es eigentlich ist. Und dass dieser<br />

Spruch „Es ist fünf vor zwölf“ voraussetzt,<br />

dass wir zwei Zeiger in Bewegung haben.<br />

Wenn es nur einer ist, weiß man das gar<br />

nicht mehr. Man sieht nur, wie das weitergeht,<br />

man sieht nur, wie das tickt, aber<br />

man weiß eigentlich gar nicht so genau,<br />

wie spät es ist. Das hat mir immer Spaß<br />

gemacht, war ein bisschen auch ein Schabernack<br />

und ein bisschen skurril, aber es<br />

war mein Spiel mit der <strong>Zeit</strong>, ja.<br />

Sie haben sehr intensive Jahre in der<br />

Politik verbracht, als Vizekanzler, als<br />

SPD-Chef. Aus dieser <strong>Zeit</strong> ist mir ein Satz<br />

von Ihnen in Erinnerung geblieben. Er fiel<br />

auf einer rasanten Autofahrt, hinten in<br />

Ihrem Dienstwagen. Aus dem Fax quollen<br />

die Papiere, das Handy klingelte dauernd.<br />

Da haben Sie gesagt: „Was fehlt, sind<br />

die Tankstellen.“ Was haben Sie damit<br />

gemeint?<br />

Dass man mal Ruhe braucht, dass man<br />

konzentriert bleiben muss und dass man<br />

sich nicht berauschen darf an der Geschwindigkeit.<br />

Und dass man dann auf<br />

diese Art und Weise, ja, bei sich selbst<br />

bleibt und nicht verloren geht in der Geschwindigkeit,<br />

in der wir uns bewegen.<br />

Das ist nämlich schnell passiert.<br />

„Eigentlich bräuchte die Politik mehr<br />

Momente der Entschleunigung, Reflexionsschleifen,<br />

um über grundlegende<br />

Entscheidungen nachzudenken“, sagt<br />

Andreas Voßkuhle, der Präsident des<br />

Bundesverfassungsgerichts.<br />

Er trifft es genau. Ja, das ist eines der<br />

großen Probleme. Ich glaube, an dem,<br />

was der Präsident da anspricht, hängt<br />

die ganze Frage der Demokratie. Als<br />

ich 1975 das erste Mal in den Bundestag<br />

kam, da gab es kein Handy, da<br />

„Bei einem<br />

G‐8‐Gipfel hat mal<br />

ein russischer<br />

Kollege zu mir<br />

gesagt: ‚Wir<br />

gewinnen. Weil<br />

wir schneller sind‘“<br />

gab es kein Faxgerät, da gab es drei<br />

große Kopierautomaten, und das war<br />

es auch. Da herrschte eine ganz andere<br />

Geschwindigkeit.<br />

Ist die Demokratie zu langsam für diese<br />

schnelle neue Welt?<br />

Demokratie setzt voraus, dass per Wahl<br />

beauftragte Menschen Dinge diskutieren,<br />

dass sie auch streiten und dann Entscheidungen<br />

treffen. Demokratie braucht <strong>Zeit</strong>,<br />

sie braucht eine menschenmögliche Geschwindigkeit,<br />

und die gibt es nicht mehr<br />

immer.<br />

Politik nur noch als hilflose Nacheile?<br />

Was jetzt stattfindet an den Finanzmärkten,<br />

ist von der Politik nicht mehr<br />

beherrscht. Das ist eine der verhängnisvollen<br />

Realitäten, die sich mit dem Finanzkapitalismus<br />

verbinden. Der Primat<br />

der Politik ist nicht garantiert an der<br />

Stelle. Deshalb müssen wir Tempo rausnehmen<br />

aus der Sache. Demokratie wird<br />

nur bestehen können, wenn wir nicht<br />

durch die Geschwindigkeit der Ereignisse<br />

ihre Handlungsmuster völlig zerstören.<br />

Wenn ein Parlament keine <strong>Zeit</strong><br />

mehr hat zu diskutieren, kontrovers zu<br />

diskutieren, zu befragen, auch mal nachzudenken<br />

und dann zur Entscheidung<br />

zu kommen, wenn das alles nicht mehr<br />

geht, dann werden die autokratischen<br />

Systeme gewinnen, die auf niemanden<br />

Rücksicht nehmen. Die Demokratie wäre<br />

dann nicht mehr das Ideal. Bei einem<br />

G‐8‐Gipfel hat zu meiner <strong>Zeit</strong> als Arbeitsminister<br />

einmal ein russischer Kollege<br />

zu mir gesagt: „Wir gewinnen. Weil<br />

wir schneller sind.“ <strong>Keine</strong> andere Staatsform<br />

braucht so viel kalkulierbare <strong>Zeit</strong><br />

wie die Demokratie. Das ist das Dilemma.<br />

Das ist aber auch ihre Stärke.<br />

Gibt es eine Lösung, wie demokratische<br />

Politik wieder in Vorlage kommt?<br />

Entscheidend ist, dass man eine Dimension<br />

hat, die wirkungsmächtig ist. Und<br />

Deutschland alleine ist nicht wirkungsmächtig<br />

genug. Das haben wir auch damals<br />

diskutiert, als es darum ging, auch<br />

unsere Märkte zu öffnen für Derivate<br />

und derlei, als die Engländer uns gesagt<br />

haben: Wenn ihr nicht mitmacht, dann<br />

geht das Geld um euch herum, dann<br />

ist man halt draußen. Aber Europa mit<br />

400 Millionen Menschen hat das Potenzial,<br />

wirkmächtig zu sein. Das sehe ich als<br />

die große Chance an, die wir haben, die<br />

wir jetzt nutzen müssen: Wenn Europa<br />

es schafft zu beweisen, dass einigermaßen<br />

legitimierte Demokratien gemeinsam Regeln<br />

finden, ohne ein Staat zu sein, mit<br />

denen auf diese Geschwindigkeiten der<br />

Welt reagiert wird, dann könnte das ein<br />

Zeichen sein in die Welt hinein.<br />

Und wenn nicht?<br />

Wenn Europa das nicht schafft, wenn es<br />

zurückfällt in die blanke Nationalstaatlichkeit,<br />

dann weiß ich nicht, an welcher<br />

Stelle auf unserem Planeten eigentlich die<br />

Demokratie noch einen Anschub bekommen<br />

könnte. Die Zeichen der <strong>Zeit</strong>, die<br />

Globalität und die Geschwindigkeit, in<br />

der alles stattfindet, sprechen gegen die<br />

Demokratie, die sich aufs Nationalstaatliche<br />

reduziert.<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 29


T i t e l<br />

Was erwidern Sie denjenigen, die sagen,<br />

das wollen wir aber nicht, wir wollen keine<br />

Souveränitätsrechte an Europa abgeben?<br />

Es gibt natürlich Angst bei den Menschen<br />

vor den Veränderungen. Und die,<br />

die das Thema nicht tief genug durchdringen,<br />

die sagen: Lasst uns lieber auf<br />

uns zurückziehen. Aber das geht nicht.<br />

Wir müssen institutionell etwas tun und<br />

von der nationalen Ebene Rechte abgeben.<br />

Darüber müssen die Völker dann<br />

abstimmen. Wir brauchen ganz konkret<br />

eine Verfassungsänderung, und über eine<br />

solche Verfassungsänderung muss es einen<br />

Volksentscheid geben.<br />

Das schwächt am Ende die nationalen<br />

Parlamente.<br />

Es gibt einen Automatismus: In einer so<br />

globalisierten und schnellen Welt gewinnen<br />

die großen Einheiten und die kleinen<br />

an Gewicht. Nicht die Landtage,<br />

nicht die nationalen Parlamente, sondern<br />

das, was darüber ist, das gewinnt an Gewicht,<br />

und die Metropolen, die Städte<br />

und Gemeinden, da wo die Menschen zu<br />

Hause sind.<br />

Ein ungeheurer Einschnitt ins deutsche<br />

Staatsgefüge.<br />

Ich weiß. Wir stehen an einem historischen<br />

Wendepunkt. Ich habe in meinem<br />

Leben einmal eine vergleichbare Situation<br />

erlebt. Das war 1969 bis 1972, als<br />

die Ostpolitik von Willy Brandt zu scheitern<br />

drohte, als die Mehrheiten zerbröckelten<br />

und eigentlich alles dafür sprach,<br />

dass diese Politik nicht fortgesetzt würde.<br />

Konkret: Dass der Moskauer und der<br />

Warschauer Vertrag nicht unterschrieben<br />

würden und es auch keine Vereinbarung<br />

mit der DDR geben würde. Da haben<br />

Willy Brandt und die Sozialdemokraten<br />

gesagt, wir machen weiter, den Weg gehen<br />

wir weiter. Das kam dann auch so,<br />

und die Menschen haben in einer grandiosen<br />

Wahl Willy Brandt ihre Unterstützung<br />

gegeben, 1972, und darauf fußt viel<br />

von dem, was hinterher passiert ist.<br />

War das der Hintergrund für Ihren Appell<br />

in der SPD-Bundestagsfraktion, die Europapolitik<br />

der Kanzlerin im Prinzip weiter zu<br />

unterstützen?<br />

Ja. Es gibt im Moment ein Ziel, dem sich<br />

alle demokratischen Parteien in Deutschland<br />

verpflichtet fühlen sollten: Europa<br />

muss jetzt gelingen. Und dafür muss man<br />

sich einsetzen, dafür müssen sich gerade<br />

die Sozialdemokraten einsetzen. Da sind<br />

im Moment noch zu viele in der Welt<br />

unterwegs, die sagen: Den Euro kriegen<br />

wir schon noch platt. Denen muss Europa<br />

die Stirn bieten und jetzt die Bereitschaft<br />

zeigen, dass man zusammensteht<br />

und dass man sich nichts kaputt schießen<br />

lässt.<br />

Die 27 Chefs, die da<br />

zusammensitzen,<br />

sind für alles<br />

Mögliche gewählt,<br />

nur nicht um<br />

Europa zu regieren“<br />

Bekommen wir so die Vereinigten Staaten<br />

von Europa?<br />

Nicht unbedingt. Aber wir müssen oberhalb<br />

unserer Nationalstaaten einen europäischen<br />

Rahmen finden, der sich möglicherweise<br />

mehr am amerikanischen als<br />

am deutschen Föderalismus orientiert.<br />

Ich glaube, dass die Nationalstaaten eine<br />

Rolle behalten, aber dass wir aus den<br />

Staaten heraus, und zwar mit demokratischen<br />

Methoden, Wege finden müssen,<br />

um neue Muster demokratischer Strukturen<br />

in Europa und auch weltweit entwickeln<br />

zu können.<br />

Welche institutionellen Veränderungen<br />

schweben Ihnen konkret vor?<br />

Es kann nicht sein, dass auf Dauer die<br />

Regierungschefs, die Präsidenten oder<br />

Kanzler wie ein exekutivföderaler Rat<br />

agieren. Das ist einfach Unsinn. Jürgen<br />

Habermas spricht mit Recht vom Exekutivföderalismus.<br />

Die da zusammensitzen,<br />

die 27 Chefs, die sind ja für alles<br />

Mögliche gewählt, nur nicht um Europa<br />

zu regieren. Das Parlament in Europa<br />

hat nur bedingt Möglichkeiten, irgendetwas<br />

zu tun. Aber die Staats- und Regierungschefs<br />

entscheiden, was die Kommission<br />

tun soll. Und diese Kommission, das<br />

sind Ministerien ohne den Rang eines<br />

Ministers, und da schickt jedes Land jemanden<br />

hin, ungewählt. Wenn wir das<br />

Ganze mal übertragen auf den Föderalismus<br />

unseres Landes, dann wäre das<br />

so: Die Bundesregierung ist abgeschafft,<br />

die Ministerpräsidenten der Länder treffen<br />

sich und sagen den Ministerien, ihr<br />

macht jetzt mal schön dieses oder jenes.<br />

Minister gibt es nicht mehr, und das Parlament<br />

ist weitgehend draußen, es wird<br />

informiert. Absurd, oder? Aber genauso<br />

funktioniert derzeit Europa oder eben gerade<br />

nicht.<br />

Also, was tun?<br />

Wir müssen auf europäischer Ebene größere<br />

Verantwortung organisieren. Wie<br />

das dann aussieht, ob man das ohne eine<br />

Verfassungsänderung machen kann, das<br />

weiß ich nicht. Was jetzt beschlossen<br />

ist, mag verfassungskonform sein. Aber,<br />

wenn man da weitergeht, wenn man<br />

wirklich eine europäische Wirtschaftsund<br />

Sozialregierung haben will, dann<br />

müssen vorher die demokratischen Strukturen<br />

eingezogen werden. Am besten vorbereitet<br />

in einem europäischen Konvent.<br />

Das wird ein langer Prozess sein, für den<br />

man sich <strong>Zeit</strong> nehmen muss. Vielleicht<br />

acht bis zehn Jahre. Vielleicht länger. Das<br />

geht nicht im Schweinsgalopp. Wir reden<br />

von einer unglaublichen Anstrengung,<br />

der wir uns aber unterwerfen müssen. Es<br />

lohnt sich.<br />

Wieder die Sache mit der <strong>Zeit</strong>, die uns davonläuft.<br />

Werden Sie das Europa erleben,<br />

das Sie sich wünschen?<br />

Das weiß man nie. Je älter ich werde, ich<br />

bin jetzt 72, umso gelassener und ruhiger<br />

bin ich eigentlich dabei in diesem Älterwerden.<br />

Also, ich kann von mir aus<br />

sagen: Da ist keine Angst vor irgendwas.<br />

Tot zu sein, ist nicht schwer. Aber<br />

jeder von uns hat nur ein einziges Mal<br />

die Chance, hundert Jahre alt zu werden.<br />

Also rate ich: möglichst nichts leichtfertig<br />

davon aufgeben und es genießen. Es gibt<br />

von Ingeborg Bachmann ein Gedicht<br />

„An die Sonne“, und die zentrale Zeile<br />

heißt: „Nichts Schönres unter der Sonne<br />

als unter der Sonne zu sein.“ Das gefällt<br />

mir. Aber Europa soll sich beeilen.<br />

Das Gespräch führte<br />

Christoph Schwennicke<br />

30 <strong>Cicero</strong> 8.2012


www.suedtirol.info<br />

südtirol: zeitlos<br />

IN VIERZEHN TAGEN ÜBER DIE ALPEN VON MERAN ZUM BRENNER GEHEN, EINE WOCHE IM WEINBERG WOHNEN,<br />

EINEN ABEND LANG DEN LIEDERN EINER ALTEN SPRACHE LAUSCHEN – SÜDTIROL BIETET UNGEZÄHLTE MÖG-<br />

LICHKEITEN, DEN TAKT DER ZEIT SELBST ZU BESTIMMEN. ACHT BEISPIELE.<br />

inteGrAtion im WeinBerG<br />

Architektur ist raumgewordene <strong>Zeit</strong>. Wenn dieser satz stimmt, dann für die Werke des in Bozen geborenen matteo Thun. er ist dafür bekannt, dass er<br />

sich bei seiner Arbeit viel <strong>Zeit</strong> nimmt. sei es bei der innengestaltung der Therme meran oder dem Bau von hotels in den Alpen. Bei letzteren ist ihm<br />

wichtig, dass die vorgefundene umgebung und der neu geschaffene raum nicht nur zusammenpassen, sondern sich ergänzen. so wie beim hotel Pergola<br />

residence in Algund, das mitten in einem Weinberg steht. Thun machte aus den Auflagen der naturschutzbehörden eine tugend und die bäuerliche<br />

Bautradition zur Grundlage seiner Planung. einheimisches lärchenholz und natursteinplatten bestimmen das äußere, lehmverputz und Weidengeflecht<br />

das innere. das hotel könnte, so es die Besitzer eines – hoffentlich fernen – tages nicht mehr als luxusresidenz betreiben wollten, als Wohnhaus dienen.<br />

das Gebäude sollte auch ohne nutzung als hotel eine Berechtigung haben, inmitten eines Weinberges zu stehen. die integration ist geglückt: die reben<br />

wachsen über die namensgebenden Pergolen der terrassen von zwölf suiten und zwei Villen. www.pergola-residence.de 1<br />

hAlten oder Gehen!<br />

Wer sich die <strong>Zeit</strong> nimmt, an den Wirtshaustischen das<br />

Watten zu erlernen, wird ein spiel fürs leben mit nach hause<br />

nehmen. Vom erstklässler bis zum 90-Jährigen fordern die<br />

südtiroler „halten!“, wenn sie sich sicher sind, das spiel<br />

gewonnen zu haben, und donnernd die nächste karte auf die<br />

tischplatte knallen. Gerne erklären sie jedem Gast die nur<br />

auf den ersten Blick undurchschaubaren regeln des spiels.<br />

Genau wie die Zeichen mit Augen, mund und Fingern, mit<br />

denen man seinen mitspieler heimlich sein Blatt wissen lässt.<br />

online trainieren: www.watten.org 1


www.suedtirol.info<br />

der schAukelnde BischoF<br />

das Gotteshaus st. Prokulus in naturns überrascht seine Besucher mit<br />

einem schaukelnden mann. das weltweit einmalige Fresko aus dem 7. oder<br />

8. Jahrhundert zeigt wahrscheinlich den namenspatron Prokulus. schaukelt<br />

der frühchristliche Veroneser Bischof zwischen erde und himmelreich, zwischen<br />

diesseits und Jenseits? An anderer stelle ist, ganz prosaisch, eine bunte<br />

kuhherde verewigt – auch das ein seltenes motiv der kirchenmalerei. Viele<br />

meister haben in der kirche, an der Via claudia Augusta gelegen, gearbeitet.<br />

Von Volkskundlern wird das untere Vinschgau gerne auch eine transitzone<br />

der <strong>Zeit</strong>en und kulturen genannt. das gegenüber der kirche unterirdisch angelegte<br />

museum begeistert heute auch kinder für die 1500-jährige Geschichte<br />

der Gegend rund um naturns. www.naturns.it/prokulus 1<br />

Andere <strong>Zeit</strong>rechnunG<br />

die Pension Briol wurde 1928 im Bauhausstil gebaut und eingerichtet. seither haben die Besitzer fast nichts daran verändert. Vom Gebäude<br />

mit seiner sonnenterrasse, der holzvertäfelten stube und den gusseisernen Öfen ist alles so klar und einfach gestaltet, wie es der maler und<br />

Architekt hubert lanzinger entworfen hat. die Gäste, sie fühlen sich sofort in die entstehungszeit des hauses zurückversetzt. und genießen<br />

dabei die ruhe und die dolomitenkulisse am horizont gegenüber. Fernseher und internetanschluss gibt es nicht, dafür ein schwimmbecken<br />

mit Quellwasser und ausgezeichnete südtiroler Gerichte. Autos müssen unten im eisacktal warten. nur zu Fuß über Waldwege oder mit dem<br />

Bergtaxi ist die 1310 meter hoch gelegene <strong>Zeit</strong>maschine erreichbar. www.briol.it 1<br />

Ausdruck der menschlichen nAtur<br />

seine holzskulpturen werden weltweit ausgestellt, experten nennen seinen<br />

namen in einem Atemzug mit den Großen der kunstszene. Bei allem ruhm<br />

verbirgt der Bildhauer Aron demetz seine herkunft aus dem Grödnertal,<br />

die tradition der südtiroler holzschnitzkunst nicht. er schafft übergroße<br />

Figuren, majestätisch stehend, auf allen Vieren kriechend, umständlich<br />

hockend. demetz übergießt sie mit Baumharz, bearbeitet sie mit silber oder<br />

Aluminium oder übergibt sie dem Feuer – und schafft so eine künstlerische<br />

sprache, die die kraft, aber auch die Verletzungen und die Vergänglichkeit<br />

der menschlichen natur zum Ausdruck bringt. www.arondemetz.it1


www.suedtirol.info<br />

ÜBer 13 hÜtten musst du Gehen<br />

südtirols höchstgelegene Berghütte ist das Becherhaus auf 3195 metern. sieben<br />

stunden brauchen gletschergeübte Bergsteiger für den Aufstieg vom ridnauntal<br />

oder timmelsjoch aus. kein spaziergang für den sonntagnachmittag.<br />

hüttenwirt erich Pichler lebt mit seiner Familie an diesem zeitenthobenen ort<br />

und sorgt zwischen Juni und september unermüdlich für die Gäste. Frühstück<br />

bereiten, mittag- und Abendessen kochen, sich um die Wassertanks und das<br />

stromaggregat kümmern, ohne die hier oben nichts geht. die Vorräte werden<br />

mit dem hubschrauber eingeflogen. Viele Bergsteiger erfüllen sich mit der<br />

13-hütten-tour einen lebenstraum: in 14 tagen zu Fuß von meran zum Brenner.<br />

das Becherhaus steht genau in der mitte und ist in doppelter hinsicht der<br />

höhepunkt der unternehmung. www.becherhaus.com 1<br />

urlAuB länGer hAltBAr<br />

kalt geräuchert, mindestens 22 Wochen gereift, wenig<br />

Pökelsalz: so entsteht aus schweineschinken südtiroler<br />

Bauernspeck. der ist lange haltbar und verlängert die<br />

urlaubszeit scheibchenweise über das ganze Jahr hinweg<br />

– ausreichender Vorrat vorausgesetzt. die hersteller,<br />

oft familiär geführte kleinbetriebe, füttern die schweine<br />

mit speziellem Futter, um das Fleisch besonders mürbe<br />

zu machen. ebenso wie die zum räuchern verwendeten<br />

holzsorten werden diese Geheimnisse von Generation<br />

zu Generation weitergegeben. www.speck.it 1<br />

lAdinische FeenklänGe<br />

die schwestern marlene und elisabeth schuen und ihre cousine maria moling<br />

bilden das Folktrio Ganes aus Wengen im Gadertal. die drei erobern gerade die<br />

konzertsäle deutschlands. mit ihren elektroakustisch verstärkten liedern bringen<br />

sie eine sprache zum klingen, die außerhalb ihrer heimat niemand versteht.<br />

lediglich 30 000 menschen in den dolomiten sprechen ladinisch – und dies<br />

auch noch in fünf unterschiedlichen idiomen. so heißen die „Ganes“ im nachbartal<br />

„Aguanes“ und werden mit „Wassernixen“ oder „Feen“ übersetzt. dass<br />

sie feenhaft singen und die <strong>Zeit</strong> vergessen lassen, wissen die konzertbesucher in<br />

südtirol schon lange. www.ganes-music.com 1<br />

© Blanko Musik, Foto: Anne De Wolff


T i t e l<br />

Metronome der macht<br />

34 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Spitzenpolitiker klagen fast immer über Terminstress und <strong>Zeit</strong>mangel. Für <strong>Cicero</strong> hat die Fotografin<br />

Laurence Chaperon deshalb einige nach ihrem Verhältnis zum Taktgeber am Handgelenk<br />

befragt. Auf den nächsten Seiten werden diese acht Armbanduhren von ihren Trägern gewürdigt<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 35


T i t e l<br />

„Die Uhr hat mir<br />

mein Mann 2003 zu<br />

Weihnachten geschenkt.<br />

Auf meine Uhr ist Verlass,<br />

das mag ich an ihr. Aber<br />

die <strong>Zeit</strong>, die sie anzeigt,<br />

ist an hektischen Tagen<br />

oft genug mehr Gegner<br />

als Freund“<br />

Kristina Schröder,<br />

Bundesfamilienministerin<br />

„Meine Uhr ist ein<br />

Geschenk. Ich finde<br />

sie schön, und sie<br />

ist nützlich. Sie ist<br />

mit Erinnerungen<br />

verbunden – so wie der<br />

Gedanke an die <strong>Zeit</strong><br />

immer auch Gedanken<br />

an die verschiedenen<br />

<strong>Zeit</strong>en des eigenen<br />

Lebens wachruft“<br />

Annette Schavan,<br />

Bundesministerin für<br />

Bildung und Forschung<br />

36 <strong>Cicero</strong> 8.2012


„Die Uhr ist ein<br />

Geschenk von<br />

meiner Frau – Hilfe<br />

und Feind zugleich.<br />

Hilfe, weil nur<br />

mit ihr die Arbeit<br />

effizient bewältigt<br />

werden kann. Und<br />

Feind, weil die Uhr<br />

oft die Herrschaft<br />

über die Inhalte<br />

gewinnt. Im Urlaub<br />

lege ich als Erstes<br />

meine Uhr ab“<br />

Thomas de Maizière,<br />

Bundesverteidigungsminister<br />

„Die Uhr ist<br />

ein Geschenk<br />

gewesen. Sie<br />

ist aber nur ein<br />

Mittel. <strong>Zeit</strong> selbst<br />

bedeutet mir<br />

viel mehr“<br />

Hans-Peter Friedrich,<br />

Bundesinnenminister<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 37


T i t e l<br />

„Meine Uhr habe<br />

ich mir selbst<br />

gekauft. Sie ist<br />

mir wegen ihrer<br />

sachlichen und<br />

funktionsgerechten<br />

Art gleich<br />

aufgefallen. Sie ist<br />

minimalistisch, auf<br />

das Wesentliche<br />

beschränkt, hat<br />

klare Linien. Ich<br />

mag das mehr als<br />

barocke Schnörkel“<br />

Rainer Brüderle,<br />

FDP-Fraktionsvorsitzender im<br />

Bundestag<br />

„Die Uhr haben<br />

mir vor zwei<br />

Jahren meine<br />

Kinder geschenkt,<br />

weil sie die<br />

alte so hässlich<br />

fanden. Sie ist ein<br />

unverzichtbarer<br />

Helfer, um mein<br />

Arbeitspensum<br />

zu schaffen“<br />

Ursula von der Leyen,<br />

Bundesministerin für Arbeit<br />

und Soziales<br />

38 <strong>Cicero</strong> 8.2012


„Meine Uhr habe<br />

ich geschenkt<br />

bekommen. Sie<br />

ist für mich<br />

ein Anker, ein<br />

Kompass und<br />

ein ständiger<br />

Begleiter“<br />

Claudia Roth,<br />

Bundesvorsitzende von<br />

Bündnis 90/Die Grünen<br />

„Die Uhr hat mir<br />

meine Frau zum<br />

50. Geburtstag<br />

geschenkt.<br />

Quälen kann<br />

einen jede Uhr<br />

im täglichen<br />

Terminstress.<br />

Aber wenn das<br />

schon so ist,<br />

dann sollte sie<br />

wenigstens gut<br />

aussehen“<br />

Frank-Walter Steinmeier,<br />

Vorsitzender der SPD-<br />

Bundestagsfraktion<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 39


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Immer wieder aufstehen<br />

Trotz vieler Niederlagen ist Andrea Verpoorten das neue Gesicht in der NRW-CDU – mit Zukunftschancen<br />

von Jürgen Zurheide<br />

D<br />

ie jüngsten Tiefschläge haben<br />

noch keine Spuren hinterlassen.<br />

Andrea Verpoorten spricht darüber<br />

ohne Groll und mit erstaunlicher Gelassenheit.<br />

Wo andere vielleicht ein paar Tränen<br />

verdrücken würden, bleibt sie cool. Es<br />

gab ja auch schöne politische Erfolge. Aber<br />

die Zahl der Niederlagen ist eindeutig höher:<br />

erst die verlorene Landtagswahl, die sie<br />

das Mandat in Düsseldorf kostete, dann der<br />

kölsche Klüngel in der Domstadt, der ihr zu<br />

schaffen machte. Und jetzt dieses neue Parteiamt<br />

im nordrhein-westfälischen Landesvorstand<br />

ihrer Partei, um das man sie nicht<br />

beneiden muss: Schatzmeister der klammen<br />

Landes-CDU zu sein, ist kein Vergnügen.<br />

Trotzdem bleibt sie heiter. „Man muss immer<br />

wieder aufstehen“, sagt sie tapfer.<br />

Nach dem Verlust des Landtagsmandats<br />

hat sie sich neue Ziele gesetzt. Daran<br />

ist Christa Thoben nicht ganz unschuldig.<br />

Die frühere nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin<br />

hatte sich in den Jahren<br />

nach dem Machtverlust der CDU an Rhein<br />

und Ruhr 2010 darauf beschränkt, die Finanzen<br />

des größten christdemokratischen<br />

Landesverbands zu verwalten; besonderes<br />

Vergnügen bereitete das angesichts eines<br />

Schuldenbergs von mehr als sechs Millionen<br />

Euro nicht. Als Norbert Röttgen nach<br />

der Wahlniederlage im Mai zurücktreten<br />

musste, bat sie dessen designierten Nachfolger<br />

Armin Laschet, die Verantwortung<br />

in jüngere Hände zu legen, und präsentierte<br />

dem Aachener die Kölnerin Andrea<br />

Verpoorten.<br />

Die Landtagswahl war für Verpoorten<br />

deshalb eine Katastrophe, weil sie auf der<br />

Landesliste nicht abgesichert war und im<br />

traditionell sozialdemokratisch dominierten<br />

Bezirk Köln I diesmal keine Chance auf<br />

Wiederwahl hatte. Tief getroffen musste<br />

sie ihr Büro in der Landeshauptstadt räumen.<br />

Immerhin lag ihr Erststimmenergebnis<br />

knapp zehn Punkte über den mageren<br />

18 Prozent für die CDU in ihrem<br />

Wahlkreis. Nicht nur deshalb gibt es einige<br />

Parteifreunde, die fest davon überzeugt<br />

sind, dass Verpoorten in der Landespartei<br />

eine Zukunft hat. Man müsse dieses frische<br />

Gesicht der Kölner CDU in der Politik<br />

halten, fanden sie. Hermann-Josef<br />

Arentz, der frühere Vorsitzende der CDU-<br />

Sozialausschüsse, zum Beispiel, setzte sich<br />

bei Laschet für sie ein: „Ich finde die gut.“<br />

Danach hatte der künftige Landeschef eine<br />

Sorge weniger. Seine Kandidatin für den<br />

Posten des Kassenwarts wurde auf dem<br />

Landesparteitag in Krefeld mit einem besseren<br />

Ergebnis gewählt als er selbst.<br />

Seither muss sich die 39-jährige Anwältin<br />

um die Finanzen des größten Landesverbands<br />

kümmern. „Ich weiß nicht, ob<br />

ich Ihnen gratulieren oder Ihnen Beileid<br />

wünschen soll“, begrüßte sie Hannelore<br />

Kraft, als sich die beiden kürzlich zufällig<br />

begegneten. Die nordrhein-westfälische<br />

Ministerpräsidentin hatte die SPD 2005<br />

in einer ähnlichen Lage übernommen, in<br />

der sich die CDU jetzt befindet. Die Sozis<br />

hatten damals nach 39 Jahren die Macht<br />

verloren und litten unter einem so hohen<br />

Schuldenberg, dass Kraft sich innerparteilich<br />

erst einmal unbeliebt machen und Personal<br />

entlassen musste. Andrea Verpoorten<br />

wird das auch nicht erspart bleiben. Aber<br />

Probleme sind für sie Herausforderungen:<br />

„Meine Schwester sagt immer: Wenn es etwas<br />

zu verteilen gibt, bekommst du garantiert<br />

die schwerere Aufgabe.“<br />

Es gibt 54 gut bezahlte und fest angestellte<br />

Kreisgeschäftsführer in der demoralisierten<br />

CDU an Rhein und Ruhr. Mit<br />

ihnen muss sie sich jetzt herumschlagen.<br />

Denn ihr Job ist es, die Bilanz von rot auf<br />

schwarz zu drehen. Immerhin kennt sie sich<br />

mit Zahlen aus. Nach dem Abitur am erzbischöflichen<br />

Gymnasium in Köln, wo sie<br />

auch studierte, arbeitete sie in Reichweite<br />

des Doms in einer auf Steuer- und Nachfolgefragen<br />

spezialisierten Anwaltskanzlei.<br />

Auch ihr Name hilft. „Man traut mir zu,<br />

die Dinge zu verstehen“, hat sie beobachtet,<br />

denn sie entstammt der Unternehmerdynastie,<br />

die seit fünf Generationen den<br />

gleichnamigen Eierlikör herstellt. Obwohl<br />

sie selbst damit nicht kokettiert, hatte sie<br />

nichts dagegen, dass eine Boulevardzeitung<br />

im Frühjahr ihre Kandidatur für den Vorsitz<br />

der Kölner CDU mit dem legendären<br />

Werbespruch kommentierte: „Ei, Ei, Ei!<br />

Verpoorten soll Kölns CDU retten“.<br />

Die eigene Familie, aber auch die Adenauers<br />

– deren Wort in der Stadt zählt – hatten<br />

sie ermuntert zu kandidieren. Und sie<br />

war selbstbewusst in die Schlacht gezogen.<br />

Aber sie hatte die Kraft des kölschen Klüngels<br />

unterschätzt: Nicht sie wurde Parteivorsitzende,<br />

sondern der außerhalb der Stadt<br />

unbekannte Bankmanager Bernd Petelkau.<br />

Denn der hatte die Unterstützung von Richard<br />

Blömer, dem Strippenzieher hinter<br />

den Kulissen, den auch äußerst unappetitliche<br />

Parteispendenaffären nicht aus dem<br />

Ring geworfen haben. Aus Blömers Sicht<br />

hatte Verpoorten einen entscheidenden<br />

Nachteil: Sie gehört zu keiner der berüchtigten<br />

Klüngelrunden rings um das historische<br />

Rathaus. Sie vertritt und repräsentiert<br />

die gutbürgerlichen konservativen Familien,<br />

denen der kleinkarierte innerparteiliche<br />

Grabenkampf zuwider ist.<br />

Ihre Gegner feierten Verpoortens Niederlage<br />

mit Eierlikör, dabei hält ihr Familienzweig<br />

keine Anteile am Unternehmen. Selbst<br />

das erzählt Andrea Verpoorten eher ruhig,<br />

aus der Bahn geworfen hat sie das nicht. Sie<br />

kandidierte anschließend – gegen das ausdrückliche<br />

Votum des neuen CDU-Vorsitzenden<br />

– für einen Stellvertreterposten in der<br />

Kölner CDU und wurde gewählt. Man muss<br />

eben immer wieder aufstehen.<br />

Jürgen Zurheide<br />

arbeitet als Düsseldorfer<br />

Korrespondent u.a. für den<br />

Tagesspiegel und als Moderator<br />

für den Deutschlandfunk<br />

Fotos: Frank Ossenbrink, privat (Autor)<br />

40 <strong>Cicero</strong> 8.2012


„Meine<br />

Schwester<br />

sagt immer:<br />

Wenn es<br />

etwas zu<br />

verteilen gibt,<br />

bekommst du<br />

garantiert die<br />

schwerere<br />

Aufgabe“<br />

Andrea Verpoorten hat die<br />

undankbare Aufgabe, die Kasse<br />

der NRW-CDU zu sanieren<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 41


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Der Ewige Inder<br />

Sebastian Edathy, der die NSU-Morde an Ausländern aufarbeiten soll, gilt im eigenen Land oft als Fremder<br />

von Hartmut Palmer<br />

D<br />

er Vorsitzende ist müde. Er hat<br />

kaum geschlafen, nächtelang<br />

Akten gelesen. Aber Sebastian<br />

Edathy muss wach bleiben. Denn er leitet<br />

den parlamentarischen Untersuchungsausschuss,<br />

der klären soll, warum eine rechtsextreme<br />

Mörderbande, die sich hochtrabend<br />

Nationalsozialistischer Untergrund<br />

(NSU) nannte, zehn Jahre lang unbehelligt<br />

durch die Republik fahren und Ausländer<br />

erschießen konnte. Draußen schwimmen<br />

Touristenschiffe auf der Spree am Reichstag<br />

vorbei. Die Sonne scheint, die Gäste<br />

an Bord sind fröhlich. Drinnen ist es heiß.<br />

Edathy hat das Jackett ausgezogen, als Einziger.<br />

Er hält sich dadurch wach, dass er<br />

ständig die Position ändert: mal vorgebeugt,<br />

mal zurückgelehnt, den Kopf mal<br />

links, mal rechts aufgestützt und zwischendurch<br />

in beiden Händen vergraben, als<br />

könne er nicht glauben, was er hört.<br />

Es ist ja auch unglaublich, was Heinz<br />

Fromm, der scheidende Präsident des Kölner<br />

Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV),<br />

erzählt. Nichts haben sie gewusst in seiner<br />

Behörde: nichts von den Kontakten<br />

ihrer Länderkollegen in die rechtsradikale<br />

Szene, nichts von den Berichten der V‐Leute,<br />

nichts vom NSU. Die wenigen Akten, die<br />

sie hatten, wurden auch noch geschreddert,<br />

einen Tag nachdem das Trio aufflog. Unfassbar!<br />

Es riecht nach Verschwörung, Vertuschung<br />

und Staatsaffäre, nach Vorsatz und<br />

Komplott. Edathy will das nicht ausschließen.<br />

Aber er hat einen anderen Verdacht:<br />

Die Unfähigkeit der Sicherheitsbehörden,<br />

die Morde als rassistisch motiviert einzuschätzen,<br />

könnte damit zu tun haben, dass<br />

die meisten Menschen hierzulande zwar wissen,<br />

wo Rassismus endet, nicht aber, wo er<br />

beginnt. Zum Beispiel bei einer so harmlos<br />

klingenden Zeile über den „schwarzen Präsidenten<br />

Obama“ oder den „indischstämmigen<br />

Vorsitzenden“ Edathy. Ja, sein Vater<br />

war Inder und seine Mutter Deutsche.<br />

Aber: „Was macht mich, der ich hier geboren<br />

wurde, ‚indischstämmig‘? Was macht<br />

einen Präsidenten der USA, der Eltern unterschiedlicher<br />

Hautfarbe hatte, zu einem<br />

„Da ist die Strafverfolgung<br />

eindeutig behindert worden“<br />

Sebastian Edathy über die Behandlung eines NSU-Mordes in Hessen<br />

‚Schwarzen‘“? Seine Antwort: „Der Mangel<br />

an Reflexion. Und die Tatsache, dass es<br />

heute immer noch nicht ungewöhnlich ist,<br />

Menschen aufgrund ihrer phänotypischen<br />

Erscheinung zu sortieren.“ Die „Banalität<br />

des Rassismus“ hat dies der Migrationsforscher<br />

Mark Terkessidis genannt.<br />

Er kennt das, seit er denken kann. Seine<br />

Mitschüler wurden nie gefragt, wo sie herkämen<br />

– er jedoch ständig. Nie vergisst er,<br />

wie seine Mutter – er war damals sechs Jahre<br />

alt – auf einem Spielplatz von der Mutter<br />

eines anderen Kindes gefragt wurde, wo sie<br />

denn ihr süßes Kind adoptiert habe. Schon<br />

damals habe er es „irgendwie ungerecht gefunden“,<br />

wie ein Fremder behandelt zu werden.<br />

Selbst im Bundestag passiert das: Der<br />

Saaldiener, der ihn nicht in den Sitzungssaal<br />

lassen, sondern auf die Diplomatentribüne<br />

geleiten will. Die Kollegen, die ihn auf einer<br />

EU‐Konferenz in Wien mit der Bemerkung<br />

empfangen: „Oh, der Türkisch-Dolmetscher<br />

ist ja auch schon da.“ Oder der<br />

Genosse Ortwin Runde, damals Hamburger<br />

Bürgermeister, der ihn auf einer Reise<br />

in die Hamburger Partnerstadt St. Petersburg<br />

auf Englisch begrüßte: „Nice to meet<br />

you.“ Edathy entgegnete: „Wir können<br />

auch Deutsch reden, Ortwin.“ Kann so einer,<br />

der selbst so oft mit der Banalität des<br />

ganz alltäglichen Rassismus konfrontiert<br />

wurde, die schlimmsten rassistischen Verbrechen<br />

in der Geschichte der Bundesrepublik<br />

aufklären? Ist er unbefangen und neutral<br />

genug, einen solchen Ausschuss zu leiten?<br />

Edathy kennt die Fragen. Sie werden<br />

sich häufen, je konkreter der Ausschuss<br />

nicht nur das Versagen der Sicherheitsbehörden,<br />

sondern auch Fehlentscheidungen<br />

von Politikern untersucht. Spätestens am<br />

28. September wird es zum Eklat kommen,<br />

wenn der hessische Ministerpräsident<br />

Volker Bouffier als Zeuge auftritt. Denn er<br />

wird dem Ausschuss erklären müssen, warum<br />

er sich im Jahr 2006 nach der Ermordung<br />

des Türken Halit Yozgat in Kassel<br />

damals noch als hessischer Innenminister<br />

weigerte, verdächtige V‐Leute des hessischen<br />

Verfassungsschutzes durch seine und<br />

die bayerische Polizei vernehmen zu lassen.<br />

Nach dem Motto: Quellenschutz geht immer<br />

vor – auch vor Mordaufklärung. Edathy<br />

findet das skandalös: „Da ist die Strafverfolgung<br />

eindeutig behindert worden“,<br />

erklärte er im Fernsehen. Seitdem fordern<br />

hessische CDU- und FDP-Politiker seinen<br />

Rücktritt. Ein Vorsitzender müsse sich wie<br />

ein Richter zurückhalten und dürfe nicht<br />

vorschnell urteilen.<br />

Edathy ist aber kein Richter. Er ist noch<br />

nicht einmal Jurist, sondern Soziologe.<br />

Auch als Vorsitzender bleibt er Politiker.<br />

Und wenn es um rassistische Gewalt geht,<br />

ist er Partei. „Ich arbeite mit Leidenschaft<br />

an der Aufklärung“, sagt Edathy. „Aber ich<br />

werde mich von den Leiden der Opfer nicht<br />

überwältigen lassen.“<br />

Hartmut Palmer<br />

ist politischer Chefkorrespondent<br />

von <strong>Cicero</strong>. Er lebt und arbeitet<br />

in Bonn und in Berlin<br />

Fotos: Michael Gottschalk/DDP Images/dapd, Andrej Dallmann (Autor)<br />

42 <strong>Cicero</strong> 8.2012


„Mein Vater war<br />

Inder, meine Mutter<br />

Deutsche. Aber was<br />

macht mich zum<br />

indischstämmigen<br />

Menschen?“<br />

Sebastian<br />

Edathy, SPD<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 43


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

„Ich habe noch viel <strong>Zeit</strong>“<br />

In Berlin gefragt, in der Provinz verwurzelt: David McAllister kopiert das Erfolgsmodell von Hannelore Kraft<br />

H<br />

err McAllister, was haben Sie<br />

eigentlich gegen Berlin?<br />

Gar nichts. Berlin ist meine<br />

Geburtsstadt. Ich bin für Berlin. In<br />

Charlottenburg bin ich aufgewachsen<br />

und habe dort bis 1982, also bis zu<br />

meinem elften Lebensjahr gelebt. In<br />

Berlin komme ich ohne Navi und Karte<br />

klar. Unsere Hauptstadt ist historisch<br />

spannend, kulturell vielseitig und zu<br />

Recht ein Magnet für Besucher aus aller<br />

Welt.<br />

Aber mit dem politischen Berlin haben Sie<br />

nicht viel am Hut?<br />

Im Gegenteil. Im Schnitt bin ich zweimal<br />

pro Woche in Berlin – ob im Präsidium<br />

und Bundesvorstand der CDU,<br />

im Bundesrat oder bei anderen wichtigen<br />

Treffen. Dort bin ich hundertprozentig<br />

präsent, wenn es um die gezielte<br />

Durchsetzung niedersächsischer Belange<br />

geht. Landespolitik wird auch in Berlin<br />

gestaltet. Zu bestimmten Umgangsformen<br />

im Berliner Politikbetrieb halte<br />

ich Distanz. Manche Gepflogenheiten<br />

sind einfach nicht mein Stil – etwa<br />

das Durchstechen vertraulicher Unterlagen<br />

oder Gesprächsinhalte an die Medien<br />

oder das Schlechtreden politischer<br />

Freunde in sogenannten Hintergrundkreisen.<br />

Um sich mit seinen politischen<br />

Inhalten Gehör zu verschaffen, muss<br />

man auch nicht zwingend jedes Mikrofon<br />

ungefragt und ununterbrochen<br />

ansteuern.<br />

So hat Kurt Beck aus Mainz auch mal von<br />

Berlin geredet. Es ging nicht lange gut.<br />

Kurt Beck ist als SPD-Parteivorsitzender<br />

an innerparteilichen Intrigen und der<br />

mangelnden Solidarität seiner Genossen<br />

gescheitert. Was mich angeht, so habe<br />

ich zu den Spitzen der Bundes-CDU ein<br />

sehr gutes Verhältnis. Daher bin ich ganz<br />

entspannt.<br />

Warum?<br />

In Berlin will ich nichts werden. <strong>Keine</strong>r<br />

muss fürchten, ich wolle ihm oder ihr einen<br />

Posten wegnehmen. Mein Platz ist<br />

in Niedersachsen. Dieses Land ist meine<br />

Heimat. Hier bin ich froh und glücklich<br />

mit dem, was ich bin. Hier mache ich<br />

meine Arbeit und bin für die Menschen<br />

da. So einfach ist das.<br />

Auch das hat schon mal einer gesagt und<br />

galt dann erst recht als derjenige, der<br />

Merkel ans Leder wollte: Ihr Vorgänger<br />

Christian Wulff.<br />

Dass in der Berliner Republik alles aus<br />

der Sicht der Bundeshauptstadt wahrgenommen<br />

wird, verstehe ich. Aber es gibt<br />

in Deutschland auch ein reiches politisches,<br />

wirtschaftliches und kulturelles Leben<br />

außerhalb des Berliner Regierungsviertels.<br />

Landespolitik ist spannend und<br />

nah an den Menschen. Gerade Letzteres<br />

ist mir besonders wichtig. Als Ministerpräsident<br />

kann ich viel für das schönste<br />

Land der Bundesrepublik tun. Für mich<br />

ist es eine große Ehre, in vergleichsweise<br />

jungen Jahren dieses Amt bekleiden zu<br />

dürfen.<br />

„Du musst auch mal den Arm heben“, hat<br />

Ihnen Ihr väterlicher Freund Peter Harry<br />

Carstensen empfohlen. Was ist falsch an<br />

der Empfehlung?<br />

Die Empfehlung ist richtig. Alles zu seiner<br />

<strong>Zeit</strong>. Und ich habe noch ganz viel<br />

<strong>Zeit</strong>.<br />

Wie jetzt? Erst sagen Sie: Ich will nichts<br />

werden, dann sagen Sie: Ich habe noch<br />

ganz viel <strong>Zeit</strong>! <strong>Zeit</strong>, um nichts zu werden?<br />

Am 20. Januar 2013 findet die Landtagswahl<br />

in Niedersachsen statt. In diesem<br />

Land habe ich meinen Platz. Wenn<br />

die Niedersachsen mir als CDU-Spitzenkandidaten<br />

das Vertrauen aussprechen –<br />

und dafür kämpfe ich –, dann bleibe ich<br />

Ministerpräsident. Seit zwei Jahren habe<br />

ich mich auf die Landespolitik konzentriert<br />

und die <strong>Zeit</strong> genutzt, um mich in allen<br />

Teilen des Landes vorzustellen. Niedersachsen<br />

hat für mich Priorität. Hätte<br />

ich von Anfang an gesagt „Hoppla, Berlin,<br />

hier komme ich, welche Posten gibt es für<br />

mich“, dann hätte es doch geheißen: „Herr<br />

McAllister kümmert sich doch nur um<br />

Berlin, der ist nur an seinem eigenen Fortkommen<br />

interessiert.“ Politik ist eben nicht<br />

das permanente Schielen auf einen neuen<br />

Job. Mir geht es um die Sache. Punkt.<br />

Warum haben Sie bisher jedes Parteiamt<br />

auf Bundesebene abgelehnt? Der Vizeposten<br />

der CDU ist mit Ursula von der Leyen<br />

und nicht mit Ihnen besetzt, was normal<br />

wäre.<br />

Auf diese Weise haben wir als Niedersachsen<br />

eine weitere Persönlichkeit im<br />

engsten Führungskreis der CDU, nämlich<br />

Ursula von der Leyen. Ich habe sie<br />

vorgeschlagen.<br />

Im nächsten Jahr sind zwei Landtagswahlen.<br />

Die erste in Niedersachsen und die<br />

zweite in Bayern. Sie haben noch nie eine<br />

Wahl gewonnen und tun so, als könnten<br />

Sie die bevorstehende Wahl im Schlaf<br />

gewinnen. CSU-Chef Horst Seehofer<br />

dagegen macht für seine Wiederwahl eine<br />

Menge Wind. Wer macht hier also was<br />

falsch?<br />

Wahlkämpfe führt man hellwach<br />

und nicht im Schlaf. Ihre Wahrnehmung<br />

ist unzutreffend. <strong>Keine</strong>r von uns<br />

macht etwas „falsch“. Für Horst Seehofer<br />

und mich gelten unterschiedliche<br />

Bedingungen.<br />

Ach so. Wir machen es falsch.<br />

Horst Seehofer ist als CSU-Vorsitzender<br />

ein „Pfeiler“ der Berliner Koalition. Damit<br />

ist er in bundespolitischen Fragen anders<br />

gefordert.<br />

Foto: Stefan Thomas Kroeger/Laif<br />

44 <strong>Cicero</strong> 8.2012


„Politik ist<br />

eben nicht das<br />

permanente<br />

Schielen auf<br />

einen neuen Job“<br />

Niedersachsens Ministerpräsident McAllister<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 45


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Wieso eigentlich? Faktisch ist die CSU<br />

doch auch nichts weiter als ein Landesverband<br />

der CDU.<br />

Eben nicht. Die CSU ist eine eigenständige<br />

Partei. Meine Aufgabe als niedersächsischer<br />

CDU-Landesvorsitzender<br />

ist, die Bundeskanzlerin nach Kräften zu<br />

unterstützen. Das, was die Regierungskoalition<br />

richtig macht, wird von uns<br />

in Niedersachsen unterstützt. Wenn es<br />

mal unterschiedliche Auffassungen gibt,<br />

dann tragen wir das intern in den dafür<br />

zuständigen Gremien vor.<br />

Sie melden sich ja nicht einmal zu den<br />

Dingen zu Wort, die Sie stark angehen, die<br />

Energiewende zum Beispiel.<br />

Niedersachsen ist von der Energiewende<br />

so stark betroffen wie kein anderes Bundesland.<br />

Damit meine ich sowohl die<br />

damit verbundenen besonderen Herausforderungen<br />

als auch die sich daraus<br />

ergebenden Chancen. Die Energiepolitik<br />

hat für uns eine zentrale Bedeutung<br />

– allein schon wegen unserer geografischen<br />

Lage. Wir wollen, dass die<br />

Energiewende gelingt. Als eine der ersten<br />

Landesregierungen haben wir ein<br />

energiepolitisches Konzept verabschiedet.<br />

Niedersachsen ist das Land Nummer<br />

eins bei den erneuerbaren Energien.<br />

Dazu äußere ich mich quasi täglich bei<br />

jeder nur passenden Gelegenheit, nun<br />

auch im <strong>Cicero</strong>.<br />

Und Niedersachsen wird das Atomklo von<br />

Deutschland bleiben, wenn Sie weiterhin<br />

so gefügig sind.<br />

Gerade bei dem Thema Gorleben hat<br />

die Landesregierung im Zuge der Energiewende<br />

die Chance genutzt, die Endlagersuche<br />

auf eine neue Grundlage zu<br />

stellen. Die einseitige Fokussierung auf<br />

Gorleben ist vorbei. Das ist gut so! Niedersachsen<br />

hat sich sehr engagiert in der<br />

Bund-Länder-Arbeitsgruppe beteiligt.<br />

Hier sind wir bereits einen weiten Weg<br />

gegangen. Als Ministerpräsident eines<br />

Landes, das die Hauptlasten der atomaren<br />

Entsorgung zu tragen hat, fände ich<br />

es gut, wenn wir nun sehr bald zu einem<br />

Konsens kommen würden. Der Endlagersuchprozess<br />

ist ja ein Verfahren, das<br />

Jahrzehnte dauert. Dieser Prozess kann<br />

nur erfolgreich sein, wenn er auf einer<br />

breiten parlamentarischen Mehrheit beruht.<br />

Dafür werbe ich.<br />

Das heißt konkret?<br />

Beim Erkundungsstopp für Gorleben gibt<br />

es bereits einen Konsens. In einem ergebnisoffenen<br />

bundesweiten Suchprozess wird<br />

am Ende die Geologie entscheiden und<br />

nicht die Politik, welcher Standort geeignet<br />

ist oder nicht. Das gilt dann auch für<br />

Gorleben. Das Ganze muss ein transparenter<br />

Prozess sein. Im Interesse der heute<br />

und künftig betroffenen Menschen darf<br />

die abschließende Lösung der nuklearen<br />

Entsorgung nicht weiter hinausgezögert<br />

werden. Wir brauchen absehbar eine Lösung<br />

aus einem Guss. Den Versuch des<br />

Bundes, das Standortauswahlgesetz auf<br />

die Grundlage einer inhaltlichen und parteiübergreifenden<br />

Verständigung zu stellen,<br />

begrüße ich sehr. Die deutsche Politik<br />

wird auch die Frage entscheiden müssen:<br />

Ist das bisher verfolgte Konzept der Nichtrückholbarkeit<br />

des atomaren Mülls tatsächlich<br />

noch das nach wissenschaftlichen<br />

Kriterien richtige Verfahren? Oder müssen<br />

wir nicht aufgrund von Erfahrungen,<br />

die wir andernorts – beispielsweise in der<br />

Asse – gemacht haben, umdenken?<br />

Die Bundeskanzlerin hat den Umweltminis<br />

ter ja auch deshalb abberufen, weil<br />

ihr die Energiewende operativ zu zäh voranzugehen<br />

schien. Ist der <strong>Zeit</strong>plan noch zu<br />

halten, oder haben Sie Zweifel?<br />

Die Bundeskanzlerin hat die Energiewende<br />

als größte politische, wirtschaftliche<br />

und gesellschaftliche Herausforderung<br />

seit der Wiedervereinigung<br />

bezeichnet. Das hat sie nicht ohne Grund<br />

gesagt. Ohne Frage gibt es noch sehr viel<br />

zu tun. Auf der anderen Seite sollten wir<br />

bitte auch nicht alles kleinreden, was<br />

in den zurückliegenden zwölf Monaten<br />

schon alles auf den Weg gebracht wurde.<br />

Kommt es dann jetzt auf ein verlorenes<br />

Jahr nicht so an?<br />

Die Energiewende ist ein Projekt, das auf<br />

mehrere Jahrzehnte angelegt ist. Manche<br />

Kritik an einem mangelnden Tempo<br />

kann ich nachvollziehen. Aber es ist doch<br />

nicht so, dass sich die deutsche Politik<br />

seit den Beschlüssen nach Fukushima zurückgelehnt<br />

hat. Was mich in der energiepolitischen<br />

Auseinandersetzung stört,<br />

ist, dass in kaum einem Politikfeld in<br />

Deutschland von meinen politischen<br />

Mitbewerbern so geheuchelt wird wie in<br />

der Energiepolitik.<br />

Sie meinen die Grünen.<br />

Ja, ich meine die Grünen, aber zum Teil<br />

auch Sozialdemokraten. Manche sind vor<br />

Ort unredlich unterwegs. Sie sind gegen<br />

den Bau neuer fossiler Kraftwerke, gegen<br />

weitere Biogasanlagen oder gegen<br />

neue Energiespeicher-Technologien. Die<br />

Offshore-Windenergie wird zwar dem<br />

Grunde nach positiv bewertet, aber spätestens,<br />

wenn es um den erforderlichen<br />

Netzausbau geht, stellt man sich an die<br />

„Spitze der Bewegung“ und fordert Unbezahlbares<br />

– wie komplette Erdverkabelungen.<br />

In der deutschen Energiepolitik<br />

sind zu viele unterwegs, die gegen alles<br />

zugleich sind. Die Energiewende ist kein<br />

Thema einer Partei, sondern ein Projekt,<br />

das über alle Parteigrenzen hinweg<br />

gemeinsam beschlossen wurde. Das hat<br />

mir gut gefallen. An dieser Gemeinsamkeit<br />

sollten wir festhalten. Deshalb sind<br />

alle politischen Kräfte gefordert, dass die<br />

Energiewende tatsächlich ein Erfolg wird.<br />

Noch einmal zu Ihrem Politikprinzip. Sie<br />

sagen: „Ich schiele nicht nach Berlin,<br />

sondern diene meinem Land als<br />

Karikatur: Heiko Sakurai<br />

46 <strong>Cicero</strong> 8.2012


F r a u F r i e d f r a g t s i c h . . .<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

Ministerpräsident.“ Frau Kraft hat nach<br />

dem gleichen Prinzip eine gute Landtagswahl<br />

hingelegt in Nordrhein-Westfalen.<br />

Sehen Sie, so mache ich das auch.<br />

Wir haben Sie verstanden. Sie machen es<br />

wie Frau Kraft. Jetzt zwinkern Sie mit den<br />

Augen!<br />

Nochmals: Mein Platz ist in Niedersachsen.<br />

Das ist so, und das bleibt so. Ungeachtet<br />

dessen können Sie davon ausgehen,<br />

dass wir Niedersachsen sehr genau wissen,<br />

wann es darauf ankommt, in Berlin präsent<br />

zu sein.<br />

Und wenn Sie dann die Wahl auf diese<br />

Art und Weise gewinnen, haben Sie, ob<br />

Sie wollen oder nicht, den gefährlichsten<br />

Titel am Bein, den die CDU zu vergeben<br />

hat, nämlich den des Kronprinzen. Wer soll<br />

da sonst noch sein? Es ist ja keiner mehr<br />

da. Das sind dann Sie, ob Sie wollen oder<br />

nicht …<br />

Es gibt in der Union ganz viele hervorragende<br />

Köpfe und Nachwuchskräfte.<br />

Ach ja? Wen denn?<br />

Erstens mal leben wir nicht in einer Monarchie.<br />

Es gibt keine Kronprinzessin<br />

und keinen Kronprinzen.<br />

Die Antwort haben wir erwartet.<br />

Zweitens haben wir eine starke Parteivorsitzende<br />

und Kanzlerin. Und drittens<br />

sind wir ein Team.<br />

Jetzt sind wir aber gespannt.<br />

Die Mitglieder des Präsidiums, die Spitzen<br />

der Bundestagsfraktion, die Bundesminister,<br />

die Ministerpräsidenten und<br />

viele mehr.<br />

Sie führen einen Dolch in Ihrem schottischen<br />

Familienwappen. Vielleicht wollen<br />

Sie nur alle einlullen, um im richtigen<br />

Moment zuzuschlagen.<br />

Das Clan-Motto der McAllisters lautet:<br />

Fortiter in re, suaviter in modo. Hart in<br />

der Sache, aber eben gemäßigt im Umgang<br />

und im Ton. Als Generalsekretär<br />

der CDU in Niedersachsen hatte ich<br />

mal eine <strong>Zeit</strong>, in der ich frech und forsch<br />

war und auch sein musste. Das ist vorbei.<br />

Mein Stil ist jetzt ein anderer.<br />

Das Gespräch führten Hartmut Palmer und<br />

Christoph Schwennicke<br />

… ob das Leben noch<br />

Spaß macht, wenn man<br />

nichts riskiert<br />

D<br />

as Leben hat eine unangenehme<br />

Eigenschaft: Es ist lebensgefährlich.<br />

Und das empört uns. Was bildest<br />

du dir ein, Leben? Schließlich fliegen wir<br />

auf den Mond, klonen Schafe, spalten und<br />

verschmelzen Atome – da wird es doch wohl<br />

möglich sein, dir deine Risiken auszutreiben!<br />

Also checken und scannen wir dieses Leben,<br />

bevor es noch mit bloßem Auge sichtbar<br />

ist, wir prüfen und optimieren seine<br />

Qualität, damit auf jeden Fall ein<br />

gesundes Kind zur Welt kommt,<br />

das im Kindergarten Chinesisch<br />

lernen und später eine Elite-<br />

Uni besuchen kann. Damit es<br />

die <strong>Zeit</strong> bis dahin unbeschadet<br />

übersteht, setzen wir ihm<br />

einen Helm auf, sobald es das<br />

Babybett verlässt, packen es in<br />

monströse Schutzmonturen und<br />

transportieren es in TÜV‐geprüften, bruchfesten Kindersitzen. Wir schließen<br />

sämtliche Versicherungen für Schadensfälle von Arbeitslosigkeit bis Zahnausfall<br />

ab und wiegen uns in der Illusion, damit seien wir vor den Unwägbarkeiten des<br />

Schicksals geschützt.<br />

Alles in unserem Leben muss optimal laufen. Bloß keine <strong>Zeit</strong> verlieren, und<br />

vor allem kein Risiko eingehen. Wir programmieren unser Navi, um so schnell wie<br />

möglich den nächstgelegenen Briefkasten zu finden, checken Hunderte von Gästebewertungen,<br />

bevor wir ein Hotel buchen, und vergewissern uns, dass vor uns<br />

680 Kunden diese Kaffeemaschine gekauft und nicht nach einer Woche aus dem<br />

Fenster geworfen haben. Wir rennen zu Vorsorgeuntersuchungen von Organen,<br />

deren Existenz uns unbekannt war, und entdecken dabei Auffälligkeiten, die besser<br />

unentdeckt geblieben wären, weil sie uns nie beeinträchtigt hätten. Wir sind so<br />

besessen von dem Wahn, jede potenzielle Gefahr auszuschalten, dass wir wohl bald<br />

nicht mehr das Haus verlassen, ohne den aktuellen Meteoritenflugbericht zu lesen.<br />

Früher haben wir uns ins Auto gesetzt und sind einfach losgefahren. Haben<br />

irgendwo gegessen, irgendwo übernachtet, sind irgendwo angekommen. Mal war’s<br />

toll, mal nicht so, aber jeden Moment konnte etwas passieren. Das Leben war<br />

so, wie es sein sollte: unberechenbar und deshalb lebendig. Heute setzen wir alles<br />

daran, dem Leben seine Lebendigkeit auszutreiben. Bevor wir riskieren, schlecht<br />

zu essen oder eine Nacht in einem miesen Hotel zu verbringen, bleiben wir lieber<br />

zu Hause und googeln ein paar Krankheiten, die uns womöglich befallen könnten.<br />

Am Ende besitzen wir alle die optimale Kaffeemaschine und werden dank<br />

exzessiver Vorsorge sehr alt. Aber wir werden uns dabei furchtbar langweilen.<br />

Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />

Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen aufwirft<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 47


| B e r l i n e r R e p u b l i k | G e w a l t e n t e i l u n g<br />

Die Ruhe der Getriebenen<br />

Das Bundesverfassungsgericht wird von Politik und Märkten unter <strong>Zeit</strong>druck<br />

gesetzt. Es widersetzt sich zu Recht und gibt der Vernunft wieder Raum<br />

von Udo Di Fabio<br />

E<br />

s rauscht im Blätterwald, weil<br />

ein Gericht den ESM/Fiskalpakt<br />

nicht innerhalb von Stunden<br />

prüft, sondern für eine Entscheidung<br />

Tage und Wochen braucht.<br />

Regierungsvertreter warnen vor den Folgen<br />

einer solchen Verzögerung – schließlich<br />

wurde die Ausfertigung der Zustimmungsgesetze<br />

durch den Bundespräsidenten angehalten.<br />

Was werden die nervösen Märkte<br />

tun? Journalisten dagegen feiern das Gericht<br />

für seine Courage, auch im Eilverfahren<br />

sich <strong>Zeit</strong> für eine Rechtsprüfung zu<br />

nehmen: endlich kein Durchwinken also.<br />

Wie kommt es, dass nicht so sehr der sachliche<br />

Ausgang des Verfahrens eigentlicher<br />

Gegenstand der Erörterung ist, sondern der<br />

triviale Hinweis des Gerichts eine große<br />

Nachricht wird, sich die für den Fall erforderliche<br />

<strong>Zeit</strong> zu nehmen?<br />

Der Hinweis auf <strong>Zeit</strong>druck ist nicht<br />

nur Vorwand. Behaupteter <strong>Zeit</strong>druck<br />

kann aber auch ein Herrschaftsmittel sein,<br />

genauso wie das früher gepflegte „Aussitzen“<br />

einer Sache. Die <strong>Zeit</strong> wird zu einem<br />

Instrument der Macht, wenn derjenige,<br />

der zu rascher Entschließung fähig ist, andere<br />

unter <strong>Zeit</strong>not setzt, die langsamer getaktet<br />

sind. Europäische Krisengipfel oder<br />

internationale Krisenreaktionen gelten als<br />

Stunde der Exekutive. Hier trifft man sich,<br />

bleibt so lange zusammen, bis etwas vereinbart<br />

ist, und zwar unter dem sachlichen<br />

Druck eines Problems, das nach rascher<br />

Lösung ruft. Die Öffentlichkeit, die<br />

Parlamente, ja sogar die Ministerialverwaltungen<br />

und erst recht die Gerichte brauchen<br />

viel mehr <strong>Zeit</strong>, sie alle sind schon deshalb<br />

meist zum Nachvollzug verurteilt. Je<br />

mehr die übernational verhandelnden Regierungsvertreter<br />

unter <strong>Zeit</strong>druck geraten<br />

und ihn zugleich erzeugen, desto weniger<br />

Bürger können ihnen folgen – ein Problem<br />

für die Demokratie.<br />

Die zeitliche Überlegenheit der Exekutive<br />

im System der Gewaltenteilung<br />

ist natürlich altbekannt. Im Abstand von<br />

100 Jahren kann im Ausbruch des Ersten<br />

Weltkriegs eine Dynamik beobachtet<br />

werden, die öffentliche Meinung und<br />

Parlamente, Beamte und Diplomaten außen<br />

vor ließ, während die Stäbe des Militärs<br />

mit ihren Plänen der Mobilmachung<br />

und des Truppenaufmarschs das Geschehen<br />

beherrschten und die Diplomatie an<br />

den Rand drängten. Deutschland wollte<br />

1914 nicht um jeden Preis den Krieg, es<br />

hatte gute Gründe, ihn zu fürchten. Aber<br />

seine schlechte geostrategische Lage zwang<br />

zu besonderer Eile, erst im Westen erfolgreich<br />

schlagen und dann sich dem russischen<br />

Heer entgegenstellen, bevor die<br />

maritime Überlegenheit Englands den Mittelmächten<br />

die Luft zum Atmen nimmt.<br />

Aus einem sachlichen militärstrategischen<br />

Problem entsteht <strong>Zeit</strong>druck, der in anderen<br />

Hauptstädten damals mit anderen Erwägungen<br />

ähnlich herrschte, und die Ökonomie<br />

der <strong>Zeit</strong> drückt dann auf eine womöglich<br />

noch offene Sachentscheidung.<br />

Der <strong>Zeit</strong>druck der Mobilmachung und<br />

die sofort unter Beweis zu stellende Bündnistreue<br />

haben damals den Weg in den<br />

Krieg kräftig verbreitert. Es gibt einen engen<br />

Zusammenhang zwischen der Mechanik<br />

des <strong>Zeit</strong>drucks und der sachlichen Entscheidung:<br />

ein „Sach-<strong>Zeit</strong>-Kontinuum“,<br />

das mit dem Raum-<strong>Zeit</strong>-Kontinuum Einsteins<br />

die Relativität der Bestimmungsfaktoren,<br />

ihre Abhängigkeit voneinander gemein<br />

hat.<br />

Die europäische Staatsschuldenkrise<br />

ist ein Musterbeispiel für ein solches Sach-<br />

<strong>Zeit</strong>-Kontinuum. Staatsschulden besitzen<br />

schon von ihrer Natur her eine ausgeprägte<br />

<strong>Zeit</strong>dimension, die allerdings gerne unterschätzt<br />

wird, weil sie in einer längerwelligen<br />

Amplitude verläuft. Der Staat<br />

verschafft sich Finanzmittel zu Marktbedingungen,<br />

er borgt sich damit für die Gegenwart<br />

Handlungsfreiheit von anderen,<br />

die er später durch eine Einschränkung seiner<br />

Handlungsmöglichkeiten zurückführen<br />

muss. Eine Situation wechselseitigen<br />

Karikatur: Heiko Sakurai<br />

48 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Foto: privat (Autor)<br />

Vorteils entsteht gleichwohl, wenn mit<br />

ausreichend hohem Zins und geringem<br />

Ausfallrisiko die Sache für den Kreditgeber<br />

interessant wird und auf der Seite des<br />

Kreditnehmers das geliehene Geld insofern<br />

sinnvoll investiert wird, als dass bei ihm<br />

mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in<br />

der Zukunft mehr Reichtum entsteht, aus<br />

dem dann die Kredite ohne spürbare Freiheitseinbuße<br />

aus den Überschüssen beglichen<br />

werden können.<br />

Kredite erzeugen aber wegen derartiger<br />

Zusammenhänge sofort <strong>Zeit</strong>druck, weil<br />

beide Seite daran interessiert sein müssen,<br />

dass zum Fälligkeitstermin der Schuldner<br />

leistungsfähig ist, und dafür muss vor allem<br />

der Kreditnehmer mehr tun, als es ohne<br />

Verschuldung nötig wäre. Die Währungsunion<br />

war insofern für leistungsschwächere<br />

Mitgliedstaaten, die vorher Probleme<br />

hatten, sich an den Anleihemärkten<br />

zu finanzieren, vor allem eine große Gefahr.<br />

Das nunmehr viel leichter fließende<br />

Geld konnte konsumtiv verbraucht oder<br />

mit konjunkturellen Strohfeuern verbrannt<br />

werden und dadurch die Illusion von rasch<br />

wachsendem Wohlstand erzeugen, während<br />

in Wirklichkeit die steigende Kreditaufnahme<br />

einen ungeheuren <strong>Zeit</strong>druck<br />

für Reformen setzte, die auf eine tragfähige<br />

Haushaltswirtschaft und auf eine steigende<br />

Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften<br />

drängte.<br />

Diese lange <strong>Zeit</strong>amplitude, die aus jedem<br />

großen Kredit folgt, ist seit der drohenden<br />

Insolvenz Griechenlands durch<br />

eine wesentlich kürzer schwingende Amplitude<br />

der Liquiditätsengpässe fast in den<br />

Hintergrund gerückt. Wer am Rand der<br />

Insolvenz steht, braucht Geld und immer<br />

nur frisches Geld, sonst droht eine Zäsur.<br />

Die Länder der Eurozone haben Griechenland<br />

und anderen bislang das Geld gegeben,<br />

das misstrauisch gewordene Märkte<br />

verweigerten.<br />

Der Einstieg in eine solche gemeinsame<br />

Staatsfinanzierung, die nach Buchstaben<br />

und Geist der europäischen Verträge<br />

an sich untersagt ist, weil sonst die Währungsunion<br />

„auf Dauer“ (also wiederum<br />

eine leicht zu übersehende lang schwingende<br />

Amplitude) nicht funktionieren<br />

kann, gelang über ein <strong>Zeit</strong>argument, das<br />

schnell wie eine alternativlose Sachkonstellation<br />

wirkte. Zuerst wurde gesagt, man<br />

kaufe nur <strong>Zeit</strong>, damit kein Super-Lehman-<br />

Desaster entstehe, weil ja doch so große<br />

unbekannte Risiken in Kreditausfallversicherungen<br />

für griechische Staatsanleihen<br />

schlummerten. Wer hat eigentlich je nachgeprüft,<br />

ob solche Argumente stimmen?<br />

Die ansonsten pfeilschnellen Banken und<br />

Märkte brauchten plötzlich <strong>Zeit</strong>, um ihre<br />

Investments umzuschichten, um die drohende<br />

hellenische Insolvenz einzupreisen<br />

und abzufedern. Ja und was ist jetzt, wo seit<br />

zwei ganzen Jahren Umschichtungen und<br />

„Haircuts“ stattgefunden haben? Wie viel<br />

<strong>Zeit</strong> braucht denn eigentlich „der Markt“,<br />

und wie viel <strong>Zeit</strong> braucht eigentlich Griechenland,<br />

um endlich zu reformieren und<br />

seine Steuern einzutreiben? Oder hat vielleicht<br />

die griechische Steuerverwaltung einfach<br />

nur größere rechtliche Skrupel, illegale<br />

Steuer-CDs zu erwerben?<br />

Es besteht der dringende Verdacht,<br />

dass das <strong>Zeit</strong>argument „überfällige“ Sachentscheidungen<br />

verhindert. Es besteht der<br />

Verdacht, dass aktionistische Szenarien grell<br />

ausgeleuchtet auf die Bühne gebracht werden,<br />

damit langfristige Sach- und <strong>Zeit</strong>zusammenhänge<br />

in den Schatten geraten.<br />

Dahinter steht das große Thema der modernen<br />

westlichen Welt: Kann auf Dauer<br />

eine Gesellschaft zusammenhalten, die wesentliche<br />

Leistungen wie die Wirtschaft,<br />

die Wissenschaft, das Recht und auch die<br />

Politik spezialisiert und diese Bereiche nach<br />

eigenen Sachgesetzen und jeweils eigenem<br />

<strong>Zeit</strong>rhythmus sich entfalten lässt?<br />

Die moderne Gesellschaft sucht nach der<br />

einen Vernunft und findet viele Rationalitäten.<br />

Die Welt des Kaufmanns unterscheidet<br />

sich von der des Wissenschaftlers, die<br />

Politikerin denkt anders als die Erzieherin,<br />

bei Journalisten sind Takt und Tempo anders<br />

als bei Juristen. Seit einigen Jahren<br />

kommt es zu bemerkenswerten Reibungen<br />

zwischen sozialen Welten, die sich voneinander<br />

entfernt haben und dann doch wieder<br />

– allerdings nunmehr als Fremde – sich<br />

sehr nahegerückt sind: Finanz- und Realwirtschaft,<br />

Politik und Anleihemärkte, Gerichte<br />

und Parlamente, internationale Organisationen<br />

und Nationen.<br />

Die Neuzeit – deshalb der Name – hat<br />

sich vor 500 Jahren auf der <strong>Zeit</strong>achse erfunden:<br />

Dynamik, Mobilität und Fortschritt<br />

sind ihre Fanfarenstöße. Aber der<br />

Westen kann nur offen und fortschrittlich<br />

bleiben, wenn er aus dem Gefängnis<br />

des kurzfristigen <strong>Zeit</strong>drucks ausbricht: Im<br />

Blick auf die langfristigen Bedingungen<br />

einer ausgewogenen Sozialordnung muss<br />

er viel wachsamer und aktiver werden, zugleich<br />

aber im Blick auf die vordergründigen<br />

Bestimmungsfaktoren viel kühler<br />

und besonnener reagieren. Wachstumsschwächen<br />

kann aushalten, wer sofort mit<br />

der Arbeit an der Gesundung der Wirtschaft<br />

beginnt, anstatt mit Deficit Spending<br />

sich erneut an Strohfeuern zu wärmen<br />

oder andere zur Begleichung eigener<br />

Rechnungen ultimativ, weil unter <strong>Zeit</strong>druck<br />

aufzufordern.<br />

Weltfinanzkrise und Schuldenkrise erzeugen<br />

nicht nur Reibungen, sondern offenbaren<br />

regelrechte Friktionen: Wie zusammenstoßende<br />

Kontinente schlagen<br />

Sachzwänge und Logik des einen Bereichs<br />

in den anderen hinein, wirken zurück und<br />

fügen Unvereinbares zu einem gemeinsamen<br />

Schicksal zusammen. Die arbeitsteilig<br />

auseinanderstrebende Gesellschaft kommt<br />

sich so wieder gefährlich nahe, einfache Zusammenhänge<br />

wirken mächtig in undurchsichtigen<br />

künstlichen Gebilden: so wie der<br />

sehr einfache Mechanismus der amerikanischen<br />

oder spanischen Immobilienkrise<br />

im Weltfinanzsystem. Ein amerikanisches<br />

Rentnerehepaar wird über ein paar Organisationsschritte<br />

hinweg zu einem winzig<br />

kleinen Baustein eines riesigen Hedgefonds,<br />

der wiederum von kühnen Strategen mit<br />

ihrem ausgeprägten Renditekalkül gesteuert<br />

wird, die aber doch abhängig bleiben<br />

von Konjunkturen oder der Unberechenbarkeit<br />

politischer Entscheidungen.<br />

In einer Weltgesellschaft, die wirtschaftliche<br />

Rationalität zu ihrem eigentlichen<br />

geistigen Zentrum gemacht hat, ist<br />

jeder auf seinen Vorteil aus. Auf Dauer<br />

funktioniert aber auch die Wirtschaftsgesellschaft<br />

nur, wenn sie den Boden einer<br />

Vernunft der bürgerlichen Solidität und Eigenverantwortung<br />

nicht zerstört. Es geht<br />

um die Erhaltung einer Freiheit, die nicht<br />

auf eine isolierte Existenz, sondern auf aktive<br />

Bindungsfähigkeit zielt, einer Kultur<br />

also, aus der alles an Solidarität und Rücksichtnahme<br />

wächst, was eine humane Gesellschaft<br />

ausmacht. Wir sollten gerade in<br />

der Krise uns die <strong>Zeit</strong> nehmen, über diese<br />

sachlichen Zusammenhänge zu reden.“<br />

Udo Di Fabio<br />

ist Professor für öffentliches Recht<br />

an der Universität Bonn. Er war<br />

von 1999 bis 2011 Richter am<br />

Bundesverfassungsgericht<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 49


| B e r l i n e r R e p u b l i k | K o m m e n t a r<br />

Deutschland<br />

wird deutscher<br />

Die späte Seligsprechung des<br />

Reformkanzlers Schröder folgt<br />

perfiden Motiven<br />

Von Frank A. Meyer<br />

W<br />

as für ein Satz! „Wir waren auch schon mal der<br />

‚kranke Mann Europas‘, und zwar vor den Arbeitsmarktreformen<br />

des damaligen Kanzlers Gerhard<br />

Schröder.“ Zitiert hat ihn der Spiegel; gesagt hat ihn Günther<br />

Oettinger, einst CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg,<br />

heute EU‐Kommissar für Energie in Brüssel.<br />

Man könnte diesen Satz durchaus polemisch interpretieren.<br />

Zum Beispiel so: „Liebe Kanzlerin, spiel dich nicht so auf in Europa,<br />

denn du profitierst doch bloß von den Reformen deines<br />

Vorgängers.“<br />

So hat es der liebenswert-seriöse Parteifreund natürlich nicht<br />

gemeint. Doch dokumentiert er als unverdächtiger Zeuge, was<br />

derzeit gerade im Schwange ist: Schröder war’s. Er hat Deutschland<br />

krisenfest gemacht.<br />

War er’s? Nach Meinung von konservativen und rechten<br />

Blättern, von der Frankfurter Allgemeinen über die <strong>Zeit</strong> bis zu<br />

Springers Welt: Ja, er war’s.<br />

So ist beispielsweise aus der Feder von Ulf Poschardt (Die<br />

Welt), dem Etagenkellner aller Neoliberalen, zu lesen: „Die positiven<br />

Impulse aus dieser Reformzeit wirken fort.“ Und der<br />

transatlantische Titan Josef Joffe (Die <strong>Zeit</strong>) empfiehlt die Schröder-Medizin<br />

auch den Franzosen: „Ohne eine blau-weiß-rote<br />

Agenda 2015 wird Frankreich nicht gesunden.“<br />

So tönt es allenthalben durch die Republik: „Lob für Gerhard<br />

Schröder“ oder „Das deutsche Jobwunder macht die Hartz-<br />

Reformen zum Vorbild für ganz Europa“ (beides: FAZ). Auch<br />

außerhalb von Deutschland wird der Lobgesang angestimmt:<br />

Die Ironie der Wahl von François Hollande bestehe darin, „dem<br />

Beispiel der letzten Mitte-Links-Regierung des deutschen Kanzlers<br />

Gerhard Schröder zu folgen“ (Wall Street Journal).<br />

Patrons und Banker und Publizisten entdecken ihr Herz für –<br />

ja für wen eigentlich? Für den „Brioni“- und den „Basta“-Schröder,<br />

für den „Sozi“, den sie vor acht Jahren mit allen Mitteln der<br />

Polemik und Demagogie schmähten!<br />

Die Springer-Medien betrieben das Schröder-Bashing so<br />

blindwütig, dass sich der damalige Chefredakteur der Welt am<br />

Sonntag, Christoph Keese, in einem Interview – statt als journalistischer<br />

Handwerker – als politischer Propagandist outete:<br />

„Wir, die Minderheit der Neoliberalen, schreiben seit Jahren<br />

gegen eine Mehrheit von Menschen an, die vehement gegen Kapitalismus<br />

und freie Marktwirtschaft eintreten.“<br />

Nicht nur der Springer-Verlag verkam zur politischen Propaganda-Bude.<br />

Auch der Spiegel, da noch unter Stefan Aust, reihte<br />

sich in die Kampagne derer ein, die Gerhard Schröder samt Rot-<br />

Grün vom Hof jagen wollten. Federführer war Gabor Steingart,<br />

seinerzeit Spiegel-Bürochef in Berlin, heute Chefredakteur des<br />

Handelsblatts.<br />

Mit dem inquisitorischen Eifer eines Savonarola errichtete<br />

Steingart nahezu wöchentlich neue Scheiterhaufen: „Rot-<br />

Grün stolpert mit schludrigen Reformkonzepten in den Herbst.“<br />

„Schröder-Truppe sprunghaft, verworren, konzeptlos.“ „Durch<br />

gezielte Unwahrheiten versuchen der Kanzler und seine Getreuen<br />

ihre prekäre Ausgangslage zu verbessern.“ „Der SPD-<br />

Kanzler bekommt das zentrale Problem des Landes nicht in den<br />

Griff.“ Und mit ätzender Häme: „Historisch – das ist des Kanzlers<br />

Lieblingseigenlob.“<br />

Inzwischen gelten die Schröder-Reformen in der Tat als „historisch“<br />

– sie wurden zur Grundlage des aktuellen deutschen<br />

Erfolgs. Auch erzkonservative Blätter empfehlen das „schludrige<br />

Reformkonzept“ zur Nachahmung in ganz Europa, um „das<br />

zentrale Problem des Kontinents“ in den Griff zu kriegen.<br />

Es war eine journalistisch dürftige Epoche, die Spätzeit<br />

von Kanzler Schröder. Es war die <strong>Zeit</strong> von ARD-Christiansen,<br />

die, unbedarft, aber wirkmächtig, allsonntäglich zum<br />

Talk-Gericht über Rot-Grün lud. Ihr Spiel lief nach der perfiden<br />

Anleitung: Deutschland schlechtreden, um die Regierung<br />

schlechtzumachen.<br />

Zu diesem Power-Game lieferte Spiegels Steingart das Programm<br />

in Buchform. Es hieß: „Deutschland – der Abstieg eines<br />

Superstars“.<br />

Jetzt ist Deutschland Superstar. Dank der Regierung von damals.<br />

Die Seligsprechung von Gerhard Schröder ist in vollem<br />

Gange.<br />

Und nun? Übt man journalistische Selbstkritik? In der Welt?<br />

In der FAZ? Im Spiegel? So etwas ist in unserem Metier nicht<br />

vorgesehen. Jedenfalls nicht in Deutschland. Ganz im Gegenteil:<br />

Schon wird zur nächsten Jagd geblasen, als Auftakt für das<br />

Wahljahr 2013. Allen voran – wie ehedem – Die Welt, die FAZ.<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

50 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Gegen wen geht’s diesmal? Gegen die „Sozis“ – gegen wen<br />

denn sonst?<br />

Den schrillen Ton hat Dorothea Siems in der Welt vorgegeben:<br />

„Sollten sich die Sozialdemokraten vor den Karren<br />

der Reformgegner spannen lassen, grenzte dies an<br />

Vaterlandsverrat.“<br />

Seitdem wird den Genossen systematisch der Marsch geblasen:<br />

„Angela Merkel hat auf dem EU‐Gipfel weitere rote Linien<br />

geräumt. Und die deutschen Sozialdemokraten halfen kräftig<br />

mit, Deutschlands Position zu schwächen“, so ebenfalls die Welt.<br />

Deren Herausgeber Thomas Schmid singt voller Inbrunst<br />

mit: „Zu Merkels Schwäche haben nicht nur Mario Monti und<br />

François Hollande, sondern auch SPD und Grüne beigetragen.“<br />

Den „Sozis“ ist einfach nicht zu trauen, was Deutschland<br />

betrifft – was die Heimat betrifft. Sie sind eben „vaterlandslose<br />

Gesellen“. So wurden sie einst in der wilhelminischen Monarchie<br />

diffamiert. So wurden sie auch in der Bundesrepublik schon<br />

diffamiert – zum Beispiel Willy Brandt wegen seiner Vergangenheit<br />

als norwegischer Offizier im Kampf gegen die Nazis.<br />

Nun also ein neuer Fall von sozialdemokratischem Vaterlandsverrat:<br />

mitten in der Europäischen Union! Da muss natürlich<br />

auch die Marktradikale Heike Göbel von der FAZ mit einstimmen.<br />

Unter dem sinnigen Titel „Was die SPD tut“ wirft sie<br />

den Sozialdemokraten vor, durch ihre Forderung nach einem<br />

Wachstumspaket für Europa unserer Kanzlerin den „starken innenpolitischen<br />

Rückhalt“ verweigert zu haben.<br />

1914 schnarrte Kaiser Wilhelm II: „Ich kenne keine Parteien<br />

mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Die Sozialdemokraten<br />

hatten soeben den Kriegskrediten zugestimmt – dem<br />

Monarchen also den starken innenpolitischen Rückhalt nicht<br />

verweigert.<br />

Das sollen sich die Genossen doch bitte endlich mal hinter<br />

die Ohren schreiben: Im Ringen um Euro und Europa kennen<br />

wir keine Partei mehr, nur noch Deutsche!<br />

So ist denn angerichtet für den Wahlkampf 2013:<br />

deutsch-national.<br />

Denn: „Europa greift nach unserem Geld“, wie die Welt am<br />

Sonntag alle wahren Patrioten mit riesengroßer Schlagzeile anfixte.<br />

Wer wollte es da wagen, eine abweichende Meinung auch<br />

nur zu äußern: etwa darauf hinweisen, dass auch Frankreich<br />

und – man glaubt es kaum – sogar Italien happig für hilfsbedürftige<br />

EU-Nationen haften und zahlen?<br />

Wer wollte da zum Opfer der publizistisch subtil eingefädelten<br />

neuen Dolchstoßlegende werden?<br />

Ja, das Klima wird gerade vergiftet. Durch Populismus<br />

ohne Populistenführer – mit Publizistenführern stattdessen.<br />

Wofür Angela Merkel selbstverständlich nichts kann. Was sie<br />

aber durchaus in Kauf nimmt, wenn es ihr hilfreich erscheint.<br />

Widerworte aus dem Kanzleramt waren bis dato keine zu<br />

vernehmen.<br />

Deutschland wird deutscher.<br />

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Foto: privat<br />

Frank A. Meyer<br />

ist Journalist und Gastgeber der politischen<br />

Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 51


| W e l t b ü h n e<br />

Der Strippenzieher<br />

Wer geglaubt hatte, Tarcisio Bertone sei am Ende, irrt: Der Papst hält an seinem Kardinalstaatssekretär fest<br />

von Martin Zöller<br />

E<br />

S war ein typischer Bertone-Termin.<br />

Einer, von dem er wohl<br />

selbst weiß, dass einige im Vatikan<br />

wieder die Augen rollen werden. Kurz<br />

vor der Sommerpause bekam Kardinal Tarcisio<br />

Bertone, der zweitwichtigste Mann im<br />

Vatikan, Besuch vom deutschen Botschafter<br />

am Heiligen Stuhl und von einem Vertreter<br />

von Mercedes-Benz. Die beiden Herren<br />

hatten ein Geschenk dabei: das Modell<br />

eines Formel-1-Mercedes. Ein netter Gag,<br />

ein Insiderwitz unter Vatikan-Besuchern,<br />

steht doch in Bertones Empfangszimmer<br />

im Apostolischen Palast bereits ein rotes<br />

Ferrari-Modell, dessen Bedeutung für die<br />

vatikanische Diplomatie nicht hoch genug<br />

einzuschätzen ist. Der Ferrari dient als Eisbrecher<br />

zwischen Gastgeber und Gast. Ein,<br />

zwei lockere Sprüche über das Automodell,<br />

bevor es etwa um das Verhältnis von Kirche<br />

und Staat in Guatemala geht.<br />

Für eine lockere Gesprächsatmosphäre<br />

sorgen, einen Witz machen. Es gibt viele<br />

im Vatikan, die dies als eine herausragende<br />

Fähigkeit Bertones anerkennen –<br />

und ebenso viele, die dies für seine einzige<br />

Fähigkeit halten. War es schon bislang<br />

eine regelrechte Manie einiger Kurialer,<br />

bei jeder Gelegenheit über Tarcisio Bertone<br />

herzuziehen, ist seit der Veröffentlichung<br />

geheimer Vatikan-Dokumente<br />

daraus offenbar ein regelrechter Kampf<br />

gegen den 77-Jährigen geworden: Der<br />

Kardinal soll vor den Augen der Welt als<br />

unfähig dargestellt werden. Immer häufiger<br />

sieht sich der Papst genötigt, Bertone<br />

demonstrativ das Vertrauen auszusprechen:<br />

Zum 75. Geburtstag vor zwei<br />

Jahren, dann 2012 bereits Ende Januar,<br />

Ende Mai und zuletzt am 2. Juli in einem<br />

öffentlichen Brief. Dass Benedikt XVI vor<br />

dem Sommer noch Ruhe geschaffen hat,<br />

begrüßen viele im Vatikan. Dass damit<br />

Bertones Abschied in weite Ferne gerückt<br />

ist, weniger. Denn: Unter Druck macht<br />

Benedikt XVI gar nichts. Erst recht nicht<br />

gegen einen Mitarbeiter, an dem er vor allem<br />

eins schätzt: seine Loyalität.<br />

Als Tarcisio Bertone im Juni 2006 von<br />

seinem Amt als Erzbischof von Genua nach<br />

Rom ins Amt des Kardinalstaatssekretärs<br />

berufen wurde, schien dies eine gute Idee<br />

zu sein: ein erdverbundener, humorvoller,<br />

jovialer zweiter Mann als Gegenpol zum<br />

zurückhaltenden Deutschen, der wenig<br />

Lust auf große Reisen hatte und es sich<br />

zum Inhalt des Pontifikats machen wollte,<br />

den Glauben zu vertiefen. Schließlich hatte<br />

doch die Zusammenarbeit der beiden in<br />

der Glaubenskongregation schon gut funktioniert.<br />

Doch im Maschinenraum des Vatikans,<br />

dem Staatssekretariat, war man von<br />

dem Wechsel vom hochpolitischen Kardinal<br />

Angelo Sodano zum leutseligen Bertone<br />

wenig erfreut. Der Vorwurf lautete:<br />

Bertone reise zwar als eine Art zweiter Papst<br />

über die Kontinente und spiele dort auch<br />

Papst – allerdings mit dem einzigen Ziel,<br />

„bella figura“ zu machen.<br />

Während diese wachsende Selbstgefälligkeit<br />

die bedeutendsten Kardinäle<br />

mit vielen weltlichen Ministern und Regierungschefs<br />

verbindet, hat Tarcisio Bertone<br />

im Laufe seiner Amtszeit auch in der<br />

Sache nicht immer eine glückliche Hand<br />

bewiesen. Nachhaltig geschadet hat er dem<br />

Pontifikat durch die Lässigkeit der Behandlung<br />

des Falles Richard Williamson: Weder<br />

fielen ihm die Holocaust-Leugnungen<br />

auf noch hielt er es für erforderlich, den<br />

ohnehin schon kritischen Schritt der Annäherung<br />

an die Piusbrüder ausführlich<br />

zu erläutern. Als Benedikt XVI bereits in<br />

größten Schwierigkeiten steckte, war von<br />

Bertone wenig zu sehen.<br />

Und auch sonst gibt es genug Baustellen:<br />

Der mühsam gesponnene Faden zur<br />

Volksrepublik China ist mittlerweile abgerissen;<br />

ein Streit zwischen Irland und dem<br />

Vatikan wurde in aller Öffentlichkeit ausgetragen;<br />

mit der italienischen Bischofskonferenz<br />

liegt Bertone im Clinch, weil er alles,<br />

was Italien betrifft, am liebsten selbst regeln<br />

will. Und positive Initiativen? Vatikan-Beobachter<br />

bemängeln, dass der Vatikan<br />

zu ganz wesentlichen Fragen wie etwa<br />

der Krise der europäischen Idee im Zuge<br />

der Schuldenkrise wenig beizutragen hat.<br />

Bei aller Sympathie für Benedikt sagen<br />

auch papsttreue Journalisten in Rom: „In<br />

zehn Jahren wird man bei einem Rückblick<br />

auf diesen Papst sagen: Bertone war ein<br />

Schwachpunkt des Pontifikats.“<br />

Schließlich gibt es auch strukturelle<br />

Gründe für die massive Kritik, die Bertone<br />

entgegenschlägt: Unter Benedikt XVI und<br />

der Regierung Bertones wurden viele Vatikan-Karrieren<br />

auf ein Nebengleis gelenkt:<br />

Während vor Benedikt die Nuntien in aller<br />

Welt damit rechnen konnten, nach ihrem<br />

Dienst im Ausland in verantwortungsvolle<br />

Posten im Vatikan zu kommen, idealerweise<br />

in der Verantwortung eines Dikasteriums<br />

(vergleichbar einem Ministeramt),<br />

setzt Benedikt XVI in der Personalauswahl<br />

andere Schwerpunkte: Leiter von Dikasterien<br />

werden Kandidaten aus der Praxis.<br />

Bertone ist so möglicherweise zum Blitzableiter<br />

ehrgeiziger Diplomaten geworden,<br />

die sich insgeheim über den Papst empören.<br />

Tarcisio Bertone lässt sich jedenfalls<br />

nicht aus der Ruhe bringen. Verglichen mit<br />

dem, was Kardinälen in der Renaissance<br />

von ihren Kollegen widerfahren ist, ist „Vatileaks“<br />

harmlos. Benedikt XVI wünschte<br />

ihm vor dem Sommer die Fürsprache der<br />

Jungfrau Maria und der Apostel Petrus und<br />

Paulus. Ob das seine Gegner abschrecken<br />

wird? Auch wenn Bertone erneut das Vertrauen<br />

des Papstes erlangt hat: Die Kritik<br />

an ihm macht wohl nur erzwungenermaßen<br />

Sommerpause.<br />

Martin Zöller<br />

hat jahrelang für die ARD und<br />

deutsche Tageszeitungen über den<br />

Vatikan und italienische Politik<br />

berichtet<br />

Fotos: Polaris/laif, Pivat (Autor)<br />

52 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Der Vorwurf<br />

lautete:<br />

Bertone reise<br />

zwar als eine<br />

Art zweiter<br />

Papst über die<br />

Kontinente –<br />

allerdings mit<br />

dem einzigen<br />

Ziel, „bella<br />

figura“ zu<br />

machen<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 53


| W e l t b ü h n e<br />

Pragmatiker der Macht<br />

Burmas Präsident Thein Sein wird als Wegbereiter einer Demokratisierung seines Landes gefeiert – zu Recht?<br />

von Sascha Zastiral<br />

E<br />

S ist noch gar nicht lange her, da<br />

galt Myanmar als hoffnungsloser<br />

Fall: ein von zahlreichen Bürgerkriegen<br />

zerrissener, wirtschaftlich desolater<br />

Staat, fest im Würgegriff seiner brutalen wie<br />

korrupten Generäle. Ein Land, in dem die<br />

meisten Menschen keinen Stromanschluss<br />

hatten, kaum Zugang zu medizinischer Versorgung,<br />

von politischen Freiheiten ganz zu<br />

schweigen. Myanmar, so schien es, war aus<br />

der <strong>Zeit</strong> gefallen.<br />

Dann tauchte ein Mann auf, der auf<br />

der Weltbühne fast unbekannt war: Thein<br />

Sein. Der unscheinbare Karriereoffizier, ein<br />

schmächtiger Mann, Mitte 60, mit Glatze<br />

und runder Brille, legte seine Generalsuniform<br />

ab und wurde im vergangenen März<br />

der erste zivile Präsident des Landes seit<br />

50 Jahren. Kurz danach setzten Reformen<br />

ein, die selbst die zuversichtlichsten Optimisten<br />

verblüfft haben.<br />

Als Architekt dieser Veränderungen gilt<br />

Thein Sein. Er soll, so heißt es, eine Gruppe<br />

von Reformern anführen, die den politischen<br />

Wandel vorantreiben und dabei hinter<br />

den Kulissen mit den Hardlinern des alten<br />

Regimes um die Vorherrschaft kämpfen.<br />

Aber stimmt dieses Bild?<br />

Akzente in der Politik seines Landes setzt<br />

Thein Sein seit 2007, als ihn der damalige<br />

Gewaltherrscher Than Shwe zum Premierminister<br />

der Militärjunta ernennt. 2009 reist<br />

er nach New York und verteidigt vor der<br />

UN-Vollversammlung das Militärregime<br />

und dessen „Fahrplan zu einer disziplinierten<br />

Demokratie“. Den Diplomaten fällt er<br />

als ruhiger, aber überzeugender Gesprächspartner<br />

auf.<br />

In Myanmar gilt Thein Sein als loyaler<br />

Untergebener, der mehr von einem Bürokraten<br />

hat als von einem Krieger und der sich<br />

nie in den Vordergrund drängt. Damit war<br />

er für Diktator Than Shwe – der das Land<br />

seit 1992 mit großer Brutalität regiert hat –<br />

ganz offensichtlich der ideale Nachfolger.<br />

Denn Than Shwe wollte sich unbehelligt<br />

in den Ruhestand verabschieden und sich<br />

dabei keine Sorgen darüber machen müssen,<br />

ob er eines Tages in einer Gefängniszelle in<br />

Den Haag aufwachen wird.<br />

Dabei war Thein Sein schon immer eine<br />

Ausnahmeerscheinung. Zwar haben alle führenden<br />

Generäle des Landes stets beteuert,<br />

sie seien gläubige Buddhisten. Thein Sein ist<br />

jedoch der einzige unter ihnen, der auch die<br />

Ruhe und Ausgeglichenheit ausstrahlt, die<br />

mit der wichtigsten Religion des Landes in<br />

Verbindung gebracht wird. Menschen, die<br />

ihm nahe sind, sagen, er versuche stets, seiner<br />

Familie als gutes Beispiel voranzugehen.<br />

Und tatsächlich sind aus seinem unmittelbaren<br />

familiären Umfeld keine Fälle von Korruption<br />

bekannt.<br />

Zugleich ist Thein Sein jedoch auch einer<br />

der Väter der umstrittenen Verfassung<br />

aus dem Jahr 2008, die das Militärregime<br />

in einem farcehaften Referendum durchgedrückt<br />

hat. Das Dokument wäscht alle früheren<br />

Regierungen von ihren Verbrechen<br />

rein und zementiert die politische Macht<br />

des Militärs.<br />

Kein Wunder also, dass es sich die Nationalliga<br />

für Demokratie (NLD) von Aung<br />

San Suu Kyi zum vorrangigen Ziel gemacht<br />

hat, diese Verfassung zu ändern. Das dürfte<br />

schon bald zu Konflikten führen. Armeechef<br />

Min Aung Hlaing hat erst vor wenigen Monaten<br />

unmissverständlich klargestellt, dass<br />

es die Aufgabe der Armee sei, „die Verfassung<br />

zu verteidigen“. Der Präsident fügte<br />

kurz darauf hinzu: „Unser Land befindet<br />

sich im Übergang zu einem System der<br />

Demokratie mit der Verfassung als Kernstück.“<br />

Einige Beobachter reagierten überrascht,<br />

solche Worte vom Reformer Thein<br />

Sein zu hören.<br />

Dabei ist klar, dass sich Thein Sein<br />

nicht gegen die Interessen des Militärs stellen<br />

wird. Er selbst hat der Armee vier Jahrzehnte<br />

lang bedingungslos gedient und es<br />

dabei bis an die Spitze des Armeeapparats<br />

gebracht. Obwohl er aus sehr einfachen<br />

Verhältnissen stammt, hat er 1968 einen<br />

Abschluss an der Elitemilitärakademie des<br />

Landes gemacht. Danach diente er lange in<br />

Einheiten im Norden und Osten des Landes.<br />

1997 wurde er in den „Staatsrat für Frieden<br />

und Entwicklung“, die Militärjunta, berufen.<br />

Sieben Jahre später stieg er dort zum<br />

ersten Sekretär auf. 2007 wurde er Premierminister,<br />

kurz danach folgte die Beförderung<br />

zum General.<br />

Daher war es für den Vater zweier Töchter<br />

vermutlich das größte persönliche Opfer,<br />

als er vor zwei Jahren seine Uniform ablegte,<br />

um als Zivilist die „Unionspartei für<br />

Solidarität und Entwicklung“ (USDP) – die<br />

Partei der Generäle – in die massiv manipulierten<br />

Parlamentswahlen vom November<br />

2010 zu führen. Er hat es dennoch getan<br />

und sich wahrscheinlich nicht einmal darüber<br />

beschwert. Es war schließlich ein Befehl.<br />

Man täte Thein Sein jedoch Unrecht,<br />

würde man ihn als reinen Erfüllungsgehilfen<br />

einer Militärjunta betrachten, die sich<br />

ungestört in den Ruhestand verabschieden<br />

möchte. Jene, die ihn länger kennen, sagen,<br />

Thein Seins Reformwille erscheine glaubwürdig.<br />

Zudem hängt vieles an dem Einvernehmen<br />

zwischen Regierung und der NLD,<br />

von dem persönlichen Verhältnis zwischen<br />

Thein Sein und Aung San Suu Kyi ab, die<br />

über den Präsidenten sagt, er sei „ein guter<br />

Zuhörer“.<br />

Dieses Verhältnis dürfte allerdings spätestens<br />

in drei Jahren enden. Soeben hat<br />

Thein Sein erklärt, er werde nach dem Ende<br />

seiner Amtszeit 2015 nicht noch einmal für<br />

das Präsidentenamt kandidieren – angeblich<br />

wegen seiner Herzprobleme. Vielleicht<br />

glaubt er auch nur, er habe bis dahin seine<br />

Pflicht als Soldat erfüllt.<br />

Sascha Zastiral berichtet<br />

seit 2010 für das Korrespondentennetzwerk<br />

Weltreporter<br />

aus Bangkok. Davor war er<br />

Südasienkorrespondent der taz<br />

Fotos: Edgar Su/REUTERS, Privat (Autor)<br />

54 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Thein Sein ist einer<br />

der Väter jener<br />

neuen Verfassung,<br />

die alle früheren<br />

Regierungen von<br />

deren Verbrechen<br />

reinwäscht und<br />

die Macht des<br />

Militärs zementiert<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 55


| W e l t b ü h n e<br />

genie Oder Wahnsinn?<br />

Als Scientology-Chef ist David Miscavige reich und mächtig – doch kaum jemand weiß etwas über ihn<br />

von Frank Nordhausen<br />

A<br />

usgerechnet Tom Cruise. Es ist<br />

nicht bekannt, wie David Miscavige<br />

auf die Nachricht reagiert hat,<br />

dass Katie Holmes sich von Hollywoods Superstar<br />

scheiden lässt. Doch amüsiert wird<br />

der Scientology-Chef über die Meldungen<br />

nicht gewesen sein. Es ist gewiss nicht schön<br />

zu lesen, dass Katie Holmes die gemeinsame<br />

Tochter Suri vor der bösen Sekte ihres Mannes<br />

schützen wollte und sich deshalb von<br />

ihm trennt. Schließlich ist Tom Cruise Scientologys<br />

wichtigster Werbeträger – und der<br />

beste Freund von David Miscavige.<br />

Der Sektenführer scheut die Öffentlichkeit,<br />

ganz anders als der charismatische<br />

Scientology-Gründer L. Ron Hubbard.<br />

Der knapp 1,70 Meter kleine, 52 Jahre alte<br />

„Vorstandsvorsitzende“ verbirgt sich meist<br />

hinter den Mauern der Scientology-Bürohäuser<br />

in Hollywood oder der schwerbewachten<br />

„Gold Base“ in der kalifornischen<br />

Wüste. Glaubt man abtrünnigen Top-Scientologen,<br />

so führt er das ausschweifende<br />

Leben eines karibischen Diktators und<br />

agiert zugleich kühl wie der Chef eines<br />

multinationalen Konzerns – der er auch ist.<br />

Zu wirklich großer Form läuft der<br />

Mann mit den scharfen Gesichtszügen stets<br />

auf, wenn er auf den glamourösen Meetings<br />

seiner Organisation in Hollywood davon<br />

spricht, wie die „weltweite Expansion von<br />

Scientology“ noch energischer vorangetrieben<br />

werden könne. Bei diesen Versammlungen<br />

sitzen die Hollywood-Berühmtheiten<br />

in der ersten Reihe, neben Tom Cruise beispielsweise<br />

John Travolta, Kirstie Alley, Juliette<br />

Lewis. Der Fischzug in der Filmbranche<br />

war eine Idee des 1986 verstorbenen<br />

Hubbard, und Miscavige hat sie umgesetzt.<br />

Er hat verstanden, dass Macht in Hollywood<br />

Macht in der Öffentlichkeit und sogar<br />

Macht in der Politik bedeutet.<br />

Vielleicht war es auch Miscavige, der<br />

deshalb jetzt dafür sorgte, dass die Scheidung<br />

von „TomKat“ schnell geregelt wurde.<br />

Mit Tom Cruise geht Miscavige seit 20 Jahren<br />

Gleitschirm springen, Motorrad fahren<br />

und Tontauben schießen. Ehemalige Top-<br />

„Er ist extrem eitel, aber auch<br />

sehr intelligent“<br />

Mike Rinder, ehemaliger Scientology-Geheimdienstchef über David Miscavige<br />

Scientologen haben keinen Zweifel daran,<br />

dass Miscavige die Regeln ihrer Beziehung<br />

definiert und er den Superstar – als eine Art<br />

bürgerliches Alter Ego – losschickt, um beispielsweise<br />

Politiker in den USA zum Protest<br />

gegen die angebliche Diskriminierung<br />

von Scientology in Europa zu gewinnen.<br />

Es war Miscavige gewiss nicht in die<br />

Wiege gelegt, Hollywoodstars wie Schachfiguren<br />

zu benutzen. Ebenso wenig wie<br />

voraussehbar war, dass er als Vorsitzender<br />

des scientologischen „Religious Technology<br />

Center“ in Los Angeles, mitten in einem<br />

der freiesten Länder der Erde, eine<br />

totalitäre Gehirnwäsche-Organisation leiten<br />

würde. Der Erbe Hubbards stammt aus<br />

kleinsten Verhältnissen und machte bei Scientology<br />

eine uramerikanische Karriere –<br />

vom Laufburschen zum Milliardär. „Er ist<br />

extrem eitel, aber auch sehr intelligent“,<br />

sagt sein ehemaliger Geheimdienstchef<br />

Mike Rinder, der 2007 ausstieg. „Doch er<br />

nutzt seine Intelligenz für böse Dinge. Er<br />

ist wirklich der Diktator von Scientology.<br />

Ein verrücktes Genie. Wenn er sich von dir<br />

gekränkt fühlt, wird er das nie vergessen –<br />

und dir das Messer in den Rücken stechen,<br />

wenn du es überhaupt nicht erwartest.“<br />

David Miscavige wurde 1961 in eine<br />

polnisch-italienische Einwandererfamilie<br />

in Philadelphia geboren. Als er zehn Jahre<br />

alt war, begann sein Vater, der die Familie<br />

als Trompeter durchbrachte, in der lokalen<br />

Scientology-Filiale („Org“) sogenannte Auditings<br />

zu buchen, Rückführungen in vergangene<br />

Leben am Lügendetektor („E-Meter“).<br />

Weil David unter Asthma litt, nahm<br />

ihn der Vater mit in die Org – und die Beschwerden<br />

verschwanden, zumindest eine<br />

<strong>Zeit</strong> lang. Miscavige sagte später, er habe<br />

damals gefühlt: „Das ist es. Ich habe die<br />

Antwort.“ Kurz danach ging die Familie<br />

für drei Jahre nach England, um dort „clear“<br />

zu werden. Nach der Rückkehr in die USA<br />

entschied sich der 15-Jährige, fortan nur<br />

noch für Scientology zu arbeiten. Der ehrgeizige<br />

Jugendliche fand zunächst Verwendung<br />

als Laufbursche. Bald aber wurde er<br />

für die „Messenger Org“ rekrutiert, eine<br />

Elitetruppe aus halbwüchsigen Kindern<br />

von Scientologen, die unmittelbar dem<br />

Sektenchef Hubbard unterstanden.<br />

1979 fand in Washington ein aufsehenerregender<br />

Prozess gegen die Führung des<br />

Scientology-Geheimdiensts statt wegen<br />

Verschwörung gegen die USA, bei dem<br />

elf Top-Scientologen zu Haftstrafen verurteilt<br />

wurden. Hubbard tauchte damals<br />

unter, und Miscavige wurde sein wichtigster<br />

Verbindungsmann zur Zentrale in Hollywood.<br />

Der Aufsteiger nutzte Hubbards<br />

Protektion und die internen Wirren, um<br />

1982 gegen das Scientology-Management<br />

zu putschen. Handstreichartig kaperten er<br />

und seine „Messenger“-Kumpel – ungebildete,<br />

wilde Jungen, die nichts als Scientology<br />

gelernt hatten – ein globales Unternehmen,<br />

das einen jährlichen Umsatz von<br />

rund 300 Millionen Dollar machte und<br />

Tausende von abhängigen Kunden besaß.<br />

Anschließend begannen der 21-Jährige<br />

und sein Führungsstab, den Psychokonzern<br />

militärisch straff durchzuorganisieren. Doch<br />

gingen sowohl die Strapazen des Machtkampfs<br />

wie die unkontrollierten Wutanfälle<br />

Hubbards an Miscavige nicht spurlos<br />

vorbei. Der Aussteiger Jesse Prince, damals<br />

Foto: PIERRE-PHILIPPE MARCOU/AFP/Getty Images<br />

56 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Scientology ist<br />

sein Leben: David<br />

Miscavige leitet<br />

die Organisation<br />

mit harter Hand<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 57


| W e l t b ü h n e<br />

die Nummer zwei in der Scientology-Spitze,<br />

beobachtete schreckliche Asthma-Attacken<br />

des jungen Führers. „Mit Hubbard unmittelbar<br />

zu tun zu haben, war eine traumatische<br />

Erfahrung.“ Vielleicht empfand Miscavige<br />

es als Befreiung, als der Sektengründer<br />

1986 im kalifornischen Creston starb. Die<br />

Stärke des Nachfolgers war es, dass er die<br />

Sekte nach dem Verlust des charismatischen<br />

Führers darauf einschwor, dessen Werk fortzusetzen.<br />

Zugleich begann er, um Hollywoodstars<br />

zu werben, denen die Sekte Seelenmassage<br />

und Hilfe beim beruflichen<br />

Aufstieg versprach.<br />

Die größte Aufgabe aber, die vor Miscavige<br />

lag, war, den jahrzehntelangen Streit<br />

mit der Steuerbehörde IRS zu lösen, deren<br />

Millionen-Dollar-Forderungen den Bankrott<br />

für Scientology bedeutet hätten. Miscavige<br />

ging zweigleisig vor. Zunächst begann<br />

er, große Summen aus den USA auf Konten<br />

in Europa zu leiten. Sein Ex-Finanzchef<br />

Marty Rathbun, der 2004 ausstieg, beziffert<br />

den Wert des Scientology-Vermögens<br />

auf derzeit rund drei Milliarden Dollar. Er<br />

bestätigt zudem, dass es Scientology gelang,<br />

die Steuerbehörde mit 2300 Klagen gegen<br />

einzelne Sachbearbeiter fast lahmzulegen:<br />

„Das hat ausgereicht.“ Die Behörde kapitulierte<br />

und gewährte Scientology 1993 völlige<br />

Steuerfreiheit. Der Coup machte aus<br />

einer Sekte, die damals auch in Amerika<br />

als verrückt und gefährlich galt, eine respektable<br />

„Kirche“ mit Steuerprivilegien<br />

und Protektion durch die US-Regierung.<br />

„Der Krieg ist vorbei!“, jubelte Miscavige<br />

vor Tausenden Anhängern in Hollywood.<br />

Der „Vorstandsvorsitzende“ bezieht<br />

nach offiziellen Angaben nur ein sehr bescheidenes<br />

Geschäftsführergehalt. Doch<br />

Jesse Prince konnte „Daves“ Verwandlung<br />

vom bettelarmen Boten in einen der vermutlich<br />

tausend reichsten Männer Amerikas<br />

direkt miterleben. Während seine Untergebenen<br />

oft gerade mal 25 Dollar in<br />

der Woche verdienten, habe sich der junge<br />

Scientology-Herrscher maßgeschneiderte<br />

250-Dollar-Hemden gegönnt, sagt Prince.<br />

Ein Stab von bis zu 20 scientologischen<br />

Butlern, Dienstmädchen, Boten und Bodyguards<br />

sei nur für den Chef tätig. Sein<br />

Reisebudget sei unbegrenzt, wenn er mit<br />

Entourage zum Shoppen nach Paris oder<br />

zum Hochseefischen auf die Bahamas<br />

fliege. Seine Frau Shelly habe am liebsten<br />

bei Chanel und Dior eingekauft (sie<br />

ist allerdings in Ungnade gefallen und<br />

wurde seit zwei Jahren nicht mehr öffentlich<br />

gesehen).<br />

„DM“, wie er intern genannt wird,<br />

gilt als absoluter Perfektionist, der jedes<br />

Detail seines Imperiums unter Kontrolle<br />

haben will, bis hin zur Auswahl der<br />

Uniformstoffe für die paramilitärische Elitetruppe<br />

Sea Org. „Seine Macht und Kontrolle<br />

sind in jeder Hinsicht absolut“, sagt<br />

Jesse Prince. Seine Untergebenen lässt er<br />

„Bringt doch endlich was vor<br />

oder haltet den Mund“<br />

David Miscavige<br />

angeblich sogar vor seinem Hund salutieren,<br />

der eine Uniform mit goldenen Streifen<br />

trägt.<br />

Ende der neunziger Jahre verlagerte<br />

Miscavige das Machtzentrum in die „Gold<br />

Base“ genannte Wüstenbasis rund 100 Kilometer<br />

südöstlich von Los Angeles, die<br />

er in ein Luxusresort mit privaten Kinos,<br />

Swimmingpools und Golfplatz umbauen<br />

ließ. Neben seinem Anwesen wurden dort<br />

Villen für Tom Cruise und John Travolta<br />

errichtet. Die Sicherheitsarchitektur des<br />

mit 700 Elitescientologen besetzten Geländes<br />

entspricht der einer Militäreinrichtung:<br />

Kameras, Bewegungsmelder und massive<br />

Stahlzäune mit rasiermesserscharfen Metallspitzen.<br />

Jesse Prince ist überzeugt, dass<br />

man auch Waffen einsetzen würde, falls die<br />

Regierung jemals auf die Idee käme, David<br />

Miscavige zu verhaften. „Der einzige Weg,<br />

den er kennt, um zu handeln, ist mit extremer<br />

Kraft alles zu überwältigen, was sich<br />

ihm in den Weg stellt.“<br />

Frühere hochrangige Scientologen<br />

schildern den Waffennarren als skrupellosen<br />

Tyrannen mit extremen Launen, der<br />

Untergebene erniedrigt und geschlagen<br />

habe. Miscavige wies die Anschuldigungen<br />

zurück und höhnte in einem <strong>Zeit</strong>ungsinterview:<br />

„Bringt doch endlich was vor oder<br />

haltet den Mund. Lasst mal die Beweise<br />

sehen.“ Zumindest Hinweise gibt es inzwischen<br />

zuhauf. Zahlreiche Schlüsselfiguren<br />

aus dem innersten Führungszirkel haben<br />

Scientology in den vergangenen Jahren verlassen<br />

und von körperlichen Misshandlungen,<br />

Psychoterror, Sklavenarbeit berichtet.<br />

Mike Rinder, der selbst nicht als zimperlich<br />

galt, bezeugt, er sei von Miscavige bis<br />

zu 50 Mal mit Faustschlägen und Fußtritten<br />

malträtiert worden. Auch Marty Rathbun<br />

erzählt von regelrechten Prügelorgien.<br />

Miscavige habe eine interne Gewaltkultur<br />

etabliert, die den gesamten Apparat durchziehe,<br />

und er halte etwa 80 Manager seit<br />

Jahren in einer Baracke in der Gold Base<br />

gefangen. „Sie müssen auf dem Fußboden<br />

schlafen und immer wieder vor allen anderen<br />

ihre Verbrechen gestehen. Weil Miscavige<br />

sie zu Feinden erklärt hat.“ Scientology<br />

bestreitet all dies. Es handele sich um<br />

„absolute und totale Lügen“.<br />

Miscavige aber fürchtet die Abtrünnigen.<br />

Seit mehr als einem Jahr werden Rathbun<br />

und seine Frau in ihrem Haus in Texas<br />

von Scientology-Agenten rund um die<br />

Uhr observiert, gefilmt, geschmäht. Ähnlich<br />

geht es den anderen Top-Aussteigern.<br />

„Immer angreifen, nie verteidigen“, den<br />

Leitspruch Hubbards hat Miscavige offenbar<br />

verinnerlicht. 1998 sagte er der <strong>Zeit</strong>ung<br />

St. Petersburg Times in Florida: „Wenn wir<br />

in einen Krieg verwickelt werden, in dem<br />

wir unser Überleben bedroht sehen, werden<br />

wir entschlossen kämpfen!“<br />

Es könnte bald so weit sein, befürchten<br />

ehemalige Weggefährten. Mehr und mehr<br />

Mitglieder verlassen die Organisation in<br />

immer kürzeren Abständen. Darunter sogar<br />

Miscaviges Eltern, sein Bruder Ronnie<br />

und seine Nichte Jenna. Für den ehemaligen<br />

Finanzchef Marty Rathbun befindet sich<br />

Scientology derzeit „in der Endphase einer<br />

Diktatur“. Er glaubt, dass ihr harter Kern<br />

aus gerade noch 20 000 Menschen bestehe.<br />

„Ich habe Angst, dass Scientology in einem<br />

Blutbad endet“, sagt er. „Mein Albtraum:<br />

Miscavige befiehlt die letzten tausend Scientologen<br />

in die Gold Base und lässt seine<br />

Garde dann mit Maschinengewehren alle<br />

niedermähen. Er ist ein Soziopath, er will<br />

die Herrschaft oder den Untergang.“<br />

Frank Nordhausen<br />

schreibt seit 20 Jahren über Sekten.<br />

Zuletzt erschien von ihm:<br />

„Scientology. Wie der Sektenkonzern<br />

die Welt erobern will“<br />

Foto: privat<br />

58 <strong>Cicero</strong> 8.2012


www.berlinartweek.de<br />

v


| W e l t b ü h n e | Ä g y p t e n s M i l i t ä r<br />

Im Klammergriff<br />

des Militärs<br />

Foto: Corbis<br />

60 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Allein unter Soldaten: Der neue ägyptische Präsident<br />

Mohammed Mursi (Mitte) bei einer Parade mit Mitgliedern des Militärrats<br />

Wer bestimmt die politische Zukunft Ägyptens? Der Präsident, das Parlament<br />

oder am Ende doch die Offiziere? Mit dem ägyptischen Militärrat und den<br />

Muslimbrüdern stehen sich zwei starke Gegner gegenüber – in einem Streit,<br />

der bereits vor 60 Jahren begann<br />

Von Gerhard Haase-Hindenberg<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 61


| W e l t b ü h n e | Ä g y p t e n s M i l i t ä r<br />

E<br />

s ist der Kampf zweier Giganten.<br />

Auf der einen Seite der ägyptische<br />

Militärrat (Scaf), dem alle Befehlshaber<br />

der Teilstreitkräfte angehören,<br />

und auf der anderen die<br />

Muslimbruderschaft, hinter der eine Million<br />

Mitglieder und ein Vielfaches davon<br />

an Sympathisanten steht. Gerade erst war<br />

Mohammed Mursi Isa Ayyat, der Kandidat<br />

der Muslimbrüder, als erster ziviler Präsident<br />

der ägyptischen Republik vereidigt<br />

worden, da setzte er als eine seiner ersten<br />

Amtshandlungen das zum Jahreswechsel<br />

gewählte Parlament wieder ein, dem durch<br />

das Verfassungsgericht kurz zuvor die Legitimation<br />

entzogen worden war. Hinter<br />

der Entscheidung der Richter stand so offensichtlich<br />

die „Empfehlung“ des Scaf,<br />

dass Mursis Verfügung zu Recht als offene<br />

Kampfansage an die Offiziersriege zu verstehen<br />

ist.<br />

Der Machtkampf am Nil aber ist fast so<br />

alt wie die ägyptische Republik und durchlief<br />

in den vergangenen sechs Jahrzehnten<br />

eine höchst wechselvolle Geschichte. Am<br />

23. Juli 1952 putschten die „Freien Offiziere“<br />

um den charismatischen Oberst Gamal<br />

Abdel Nasser das Militär an die Macht.<br />

Da waren die Muslimbrüder noch mit ihnen<br />

verbündet. Kaum aber hatte sich König<br />

Faruk im italienischen Exil eingerichtet,<br />

da lagen die ungleichen Partner schon<br />

im Streit über ein postmonarchistisches<br />

Ägypten. Die enttäuschten Muslimbrüder<br />

versuchten im Oktober 1954 erfolglos<br />

den einstigen Verbündeten Nasser durch<br />

ein Attentat aus dem Weg zu räumen. Der<br />

ließ daraufhin zahlreiche Muslimbrüder<br />

verhaften und hinrichten.<br />

Mit einer solchen Zuspitzung ist diesmal<br />

nicht zu rechnen, denn die Muslimbruderschaft<br />

hat sich erklärtermaßen von<br />

der Gewaltanwendung verabschiedet und<br />

kann sich zudem auf präsidiale Dekrete<br />

stützen. Mohammed Mursis jüngster Erlass<br />

sieht „vorgezogene Neuwahlen des Parlaments<br />

60 Tage nach einem Referendum<br />

über die neue Verfassung“ vor, was der Scaf<br />

unter dem Vorsitz von Feldmarschall Hussein<br />

Tantawi mit der Bemerkung kommentiert,<br />

zunächst „die Auswirkungen dieser<br />

Entscheidung“ erörtern zu wollen.<br />

In einem geräumigen Apartment im<br />

vornehmen Teil von Heliopolis sitzt der<br />

90‐jährige Mursi Saad el Din und versucht,<br />

die chaotisch gewordene Welt um<br />

sich herum zu verstehen. Der einstige<br />

Karrierediplomat und Sprecher des 1981<br />

ermordeten Präsidenten Anwar al Sadat,<br />

hat keinen Zweifel, dass die Militärführung<br />

auch künftig eine starke Rolle im politischen<br />

Leben seines Landes spielen wird,<br />

und verweist auf die Tradition. Das Militär<br />

spielte in der Politik eine Rolle, seit sich<br />

die Mamluken, ehemals kaukasische Militärsklaven,<br />

im 13. Jahrhundert zu Ägyptens<br />

Herrschern aufschwangen. Sie regierten<br />

600 Jahre, bis sie in einem nächtlichen<br />

Massaker von Muhammad Ali Pascha ausgeschaltet<br />

wurden. Der albanische Offizier<br />

in osmanischen Diensten begründete am<br />

An einer<br />

Islamisierung<br />

Ägyptens zeigte<br />

sich bislang kein<br />

Militärführer offen<br />

interessiert<br />

Nil eine neue Dynastie, die erst durch Nassers<br />

Putsch gegen dessen Ururenkel Faruk<br />

beendet wurde. Seither saßen in Folge vier<br />

säkular gesinnte Offiziere auf dem Präsidentenstuhl<br />

– bis Ende Juni der Zivilist<br />

Mohammed Mursi vereidigt wurde.<br />

Doch an ein Ende des militärischen<br />

Engagements in der ägyptischen Innenwie<br />

Außenpolitik vermag auch Yousry Ezbawy<br />

vom renommierten Forschungsinstitut<br />

des „Al Ahram Center for Political and<br />

Strategic Studies“ nur unter bestimmten<br />

Bedingungen zu glauben. „Wenn es zu einer<br />

echten Zusammenarbeit zwischen säkularen<br />

und islamischen Kräften kommen<br />

sollte, wäre dies eine von der Scaf favorisierte<br />

Variante. Sollte dies aber nicht gelingen,<br />

wird der Militärrat an die Macht<br />

zurückkehren.“<br />

Natürlich weiß auch Ezbawy, dass ein<br />

solcher Wunsch frommer ist, als es die<br />

Imame von ihren Gläubigen erwarten.<br />

Auch wenn die jüngere Generation der<br />

Muslimbruderschaft Konsensbereitschaft<br />

signalisiert, steht die Organisation letztlich<br />

in der Tradition starrer ideologischer<br />

Prinzipien. Ziel der 1928 gegründeten Bruderschaft<br />

ist eine Gesellschaftsordnung, deren<br />

Moralvorstellungen sich am Koran und<br />

an der islamischen Rechtsprechung Scharia<br />

orientieren.<br />

An einer Islamisierung Ägyptens aber<br />

zeigte sich bislang kein Militärführer offen<br />

interessiert, auch wenn Anwar al Sadat<br />

1971 die Muslimbrüder aus der Haft<br />

entließ, deren Betätigung auf sozialem Gebiet<br />

duldete und Ägypten gar durch Verfassungsergänzung<br />

zur „islamischen Republik“<br />

erklärte. Durch deren zeitweilige Aufwertung<br />

wollte er seinerzeit den zunehmenden<br />

Einfluss linksgerichteter Kräfte einschränken.<br />

Als Sadat in Camp David aber den<br />

Frieden mit Israel aushandelte, fand sich<br />

die ägyptische Linke mit den Muslimbrüdern<br />

erst in der gemeinsamen Opposition<br />

und schließlich in den Gefängnissen wieder.<br />

Auch unter Mubarak blieb die Bruderschaft<br />

verboten, selbst ihre Kandidaten<br />

durften nur als Unabhängige Wahlkämpfe<br />

führen und ins Parlament einziehen. Erst<br />

die Tahrir-Revolution bescherte ihr (wieder)<br />

die volle Legalität. Ende April 2011<br />

gründete sie die islamische „Freiheits- und<br />

Gerechtigkeitspartei“ (FJP). Deren Präsidentschaftskandidat<br />

Mohammed Mursi ist<br />

heute das Staatsoberhaupt.<br />

Der hat es mit einem Militär zu tun,<br />

dessen Einfluss weit in die ägyptische Gesellschaft<br />

reicht. Kaum ein westlicher Tourist,<br />

der seinen Golfcaddy über den gepflegten<br />

Rasen des Kairoer „Al Masah“ zieht,<br />

ahnt, dass sich diese Luxusherberge im Besitz<br />

der ägyptischen Armee befindet. Erst<br />

recht weiß er nicht, dass Khaled Faruk,<br />

der freundliche Hotelmanager, ein pensionierter<br />

Oberst ist. Es würde den Besucher<br />

auch erstaunen, wüsste er, dass die<br />

Frühstückseier aus armeeeigenen Hühnerfarmen<br />

stammen und das Brot aus einer<br />

Bäckerei, der ebenfalls ein Ex-Offizier<br />

vorsteht. Die Armee baut auch Straßen, betreibt<br />

Zementwerke, Erdölraffinerien und<br />

besitzt Ländereien. Nach Schätzungen von<br />

Experten ist das ägyptische Militär mit seinem<br />

uniformierten wie zivilen Personal inzwischen<br />

größter Arbeitgeber des Landes.<br />

Das Geschäft der Generäle macht 10 bis<br />

40 Prozent des ägyptischen Wirtschaftsvolumens<br />

aus. Genau weiß das niemand, da<br />

sich deren Betriebe einer zivilen Kontrolle<br />

entziehen.<br />

Begonnen hatte das wirtschaftliche Engagement<br />

der Armee bereits unter Nasser,<br />

der mit der Nationalisierung von Unternehmen<br />

den Grundstein dafür legte. Die<br />

62 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Fotos: ullstein bild-TopFoto, AFP PHOTO/AFP/Getty Images<br />

Expansion aber begann erst nach dem Friedensvertrag<br />

von Camp David. Präsident<br />

Sadat setzte die Hälfte der fast eine Million<br />

Militärangehörigen frei und halbierte<br />

das Budget. Um seine Leute nicht in die<br />

Arbeitslosigkeit entlassen zu müssen, schuf<br />

das Militär jenes Geflecht an Unternehmen.<br />

Und die vom Staat bewilligten Steuerbefreiungen<br />

und Subventionen verleihen<br />

der militäreigenen Schattenwirtschaft gegenüber<br />

der privatwirtschaftlichen Konkurrenz<br />

einen enormen Vorsprung. In einer<br />

von Wikileaks 2008 veröffentlichten,<br />

geheimen Depesche der US‐Botschafterin<br />

Margaret Scobey in Kairo an ihre Regierung<br />

beklagte die Diplomatin: „In unseren<br />

Augen hintertreibt das Militär marktwirtschaftliche<br />

Reformen, indem es die direkte<br />

Beteiligung des Staates an den Märkten fördert.“<br />

Noch aber werden die amerikanischen<br />

Interessen in der Region vorwiegend<br />

vom Pentagon bestimmt, und das ließ<br />

sich die Überflugrechte für seine Kampfflugzeuge,<br />

die Öffnung des Sueskanals für<br />

die US-Kriegsflotte und die Sicherung der<br />

Grenze nach Gaza einiges kosten. Jährlich<br />

wurden dem Konto des Militärs 1,3 Milliarden<br />

Dollar gutgeschrieben.<br />

Wer in Kairo regieren will, kann all<br />

diese Fakten nicht ignorieren – nicht das<br />

wirtschaftliche Imperium des heimischen<br />

Militärs und nicht die strategischen Interessen<br />

des Westens. Das Scaf wird darauf<br />

bestehen, auch künftig das Verteidigungsministerium<br />

zu besetzen und in<br />

der Wirtschaftspolitik ein wichtiges Wort<br />

mitzureden.<br />

Mehr als einmal hatte Mubaraks neoliberaler<br />

Wirtschaftskurs beim Militärrat<br />

zu Verärgerung und hinter den Kulissen<br />

zu kaum verdeckter Rebellion geführt.<br />

Nahezu alle von ihm in den beiden letzten<br />

Jahren seiner Regentschaft verfügten<br />

Versetzungen innerhalb des Militärs wurden<br />

von diesen ignoriert. Als dann im Januar<br />

2011 die jungen Leute lautstark ihre<br />

Forderungen vortrugen und von Mubaraks<br />

Polizeigarden beschossen wurden, schickte<br />

der Militärrat am vierten Abend des Aufstands<br />

Panzer zum Schutz der Demonstranten.<br />

Zwar stand die Armeeführung zu<br />

keinem <strong>Zeit</strong>punkt entschlossen hinter der<br />

Protestbewegung, doch gab es mit ihr eine<br />

zeitweilige Kongruenz von Interessen.<br />

Mubaraks Rücktritt veränderte das<br />

schlagartig. Um das entstandene Machtvakuum<br />

zu füllen, brauchte es eine<br />

Kaum jemand wird<br />

in der arabischen<br />

Welt so verehrt<br />

wie Gamal Abdel<br />

Nasser. Der Offizier,<br />

Politiker und<br />

Putschist stürzte<br />

1952 König Faruk<br />

und begründete<br />

damit eine neue<br />

Tradition – die<br />

nachfolgenden<br />

Präsidenten des<br />

Landes waren<br />

hohe Offiziere<br />

Während<br />

Präsident Anwar<br />

al Sadat (rechts)<br />

anfänglich<br />

mit den<br />

Muslimbrüdern<br />

paktierte und sie<br />

erst nach dem<br />

Friedensvertrag<br />

von Camp David<br />

bekämpfte,<br />

waren sie<br />

unter der<br />

Präsidentschaft<br />

von Husni<br />

Mubarak<br />

von Anfang<br />

an verboten<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 63


| W e l t b ü h n e | Ä g y p t e n s M i l i t ä r<br />

Der Konflikt zwischen dem Militär und den Muslimbrüdern ist weitaus älter als die jüngsten Auseinandersetzungen<br />

entschlossene Hand, und die war vom Parlamentspräsidenten<br />

Fathi Sorur nicht zu<br />

erwarten, der laut Verfassung bis zu Neuwahlen<br />

provisorisches Staatsoberhaupt gewesen<br />

wäre. Als Mann des alten Regimes<br />

stand er auch zu sehr im Fadenkreuz der öffentlichen<br />

Kritik. Es musste also schnell gehandelt<br />

werden. „Für den Scaf lag es nahe,<br />

selbst die Schalthebel des Staates zu besetzen“,<br />

begründet Aman Ahmad Ragab, wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am „Al Ahram<br />

Center for Political and Strategic Studies“,<br />

die nicht verfassungsgemäße Machtübernahme.<br />

„Der 25. Januar brachte ja keine<br />

einzige politische Führergestalt hervor.<br />

Vielmehr übten ganz unterschiedliche<br />

Gruppen auf die staatlichen Institutionen<br />

Druck aus, indem sie Leute mobilisierten<br />

und verschiedene politische, soziale und<br />

ökonomische Forderungen aufstellten.“<br />

Schon in den Tagen der Tahrir-Revolte<br />

konnten Beobachter aus den Aussagen<br />

führender Offiziere graduelle Unterschiede<br />

herauslesen. Beim Truppenbesuch<br />

von Feldmarschall Mohammed Hussein<br />

Tantawi am 4. Februar auf dem Tahrir-<br />

Platz wandte er sich auch an die Demonstranten.<br />

Um sie zum Aufgeben zu bewegen,<br />

sagte er zu, Mubarak werde definitiv<br />

nach Ablauf seiner Amtszeit im September<br />

das Präsidentenamt niederlegen. Und eine<br />

neue Verfassung würde die künftige Amtszeit<br />

seiner Nachfolger limitieren. Noch einmal<br />

machte Tantawi seinem Ruf als „Mubaraks<br />

Pudel“, wie ihn mittlere Offiziersränge<br />

schon seit längerem hinter vorgehaltener<br />

Hand verspotteten, alle Ehre. Sein Generalstabschef<br />

Sami Hafez Enan, der kurz zuvor<br />

aus Washington zurückgekehrt war, erntete<br />

eine Woche später zehntausendfachen Applaus,<br />

als er den Menschen auf dem Tahrir-Platz<br />

kaum versteckte Zustimmung zur<br />

Forderung nach Mubaraks Rücktritt signalisierte.<br />

Tags darauf ist er maßgeblich daran<br />

beteiligt gewesen, dass Vizepräsident<br />

Omar Suleiman Mubaraks Demission verkünden<br />

konnte.<br />

Nach fast 30 Jahren auf dem Präsidentenstuhl<br />

war Husni Mubarak nicht vom<br />

Amt zurückgetreten, er wurde von seinen<br />

Militärs abgesetzt. Es ist ein Zufall der Geschichte,<br />

dass in diesem historischen Moment<br />

„Mubaraks Pudel“ als amtierender<br />

Verteidigungsminister den Vorsitz des Scaf<br />

übernahm und zum nominell mächtigsten<br />

Mann Ägyptens wurde. Ausgerechnet<br />

Tantawi, dem drei Jahre zuvor in jener geheimen<br />

US-Depesche bescheinigt wurde,<br />

„altersstarr und resistent“ gegen Neuerungen<br />

zu sein.<br />

Innerhalb des Militärrats sei der Feldmarschall<br />

nie mehr als ein Primus inter<br />

pares gewesen, sagt der Politanalyst Walid<br />

Shehab (Name von der Redaktion geändert).<br />

Ein Gleicher unter Gleichen also.<br />

Doch wie gleich sind innerhalb des Scaf<br />

die Vorstellungen von Ägyptens Zukunft?<br />

„Es gibt zwar keine Fraktionierungen“, sagt<br />

Shehab, „wohl aber divergierende Vorstellungen<br />

über die künftige Rolle des Militärs.“<br />

Vizeadmiral Mohab Mamish etwa,<br />

der humanistisch gebildete und bei der<br />

Truppe sehr populäre Befehlshaber der<br />

Marine, habe bereits die Erarbeitung eines<br />

Foto: B.Amsellem/Signatures/laif<br />

64 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Foto: Siegfried Büker (Autor)<br />

Konzepts angeregt, welches den schrittweisen<br />

Ausstieg aus dem aktiven politischen<br />

wie auch wirtschaftlichen Engagement vorsieht.<br />

Es werde angenommen, dass Mamish<br />

in Absprache oder gar mit Order aus Washington<br />

handle.<br />

Auch wenn im Kairoer Offizierscorps<br />

angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen<br />

mit den islamischen Kräften ein<br />

solches Szenario kaum mehrheitsfähig<br />

sein dürfte, hat es wohl dennoch den einen<br />

oder anderen Unterstützer. So wird<br />

General Hassan al Rawini als ein solcher<br />

genannt. Dem Befehlshaber der Zentralen<br />

Militärzone Kairo werden glänzende<br />

organisatorische Fähigkeiten zugeschrieben,<br />

und die wären unbedingt<br />

gefragt – vor allem bei einer Dezentralisierung<br />

des Wirtschafts imperiums und<br />

dessen Eingliederung in marktwirtschaftliche<br />

Strukturen. Die Mehrheit im Militärrat<br />

aber dürfte derzeit nicht gewillt sein,<br />

mehr Machtpositionen als unbedingt nötig<br />

abzugeben.<br />

Sechs Wochen nach Mubaraks Sturz<br />

rief der Militärrat das Volk zur Abstimmung<br />

über einen neuen Verfassungsentwurf<br />

auf. Während die revolutionären<br />

Kräfte in dem überhastet formulierten<br />

Entwurf die Forderungen des Tahrir-Platzes<br />

zu wenig berücksichtigt sahen, fanden<br />

sich die gerade erst entstehenden demokratischen<br />

Parteien gegenüber den Muslimbrüdern<br />

benachteiligt, die auf eine seit<br />

Jahrzehnten bestehende Organisation zurückgreifen<br />

konnten. Die säkularen Kräfte<br />

empfahlen daher ihren Wählern, mit<br />

Nein zu stimmen. Abstimmungen aber<br />

werden in Ägypten auf dem Land entschieden,<br />

und dort gelten vor allem die<br />

Empfehlungen der Imame. In den Metropolen<br />

Kairo und Alexandria konnte die<br />

Ablehnungsfront gegen das Referendum<br />

zwar mobilisiert werden, landesweit aber<br />

stimmten 77,2 Prozent für den umstrittenen<br />

Verfassungsentwurf.<br />

Das erfolgreiche Zweckbündnis des<br />

Militärs mit Muslimbrüdern und den islamistischen<br />

Salafisten gegen die Gruppen<br />

der Tahrir-Revolutionäre verführte<br />

den Militärrat Monate später zu einer für<br />

ihn fatalen Fehleinschätzung. Bei den Parlamentswahlen<br />

hatte er durch Manipulationen<br />

eben jenes Ergebnis herbeigeführt,<br />

welches der Scaf nun per Gerichtsbeschluss<br />

wieder kippen ließ. Einer der Ersten, der in<br />

Kairo offen benannte, was in der Militärabteilung<br />

der amerikanischen Botschaft bereits<br />

hinter vorgehaltener Hand kolportiert<br />

wurde, war Ägyptens führender Romancier<br />

Alla al Aswani („Der Jakubijân-Bau“).<br />

Während einer Diskussionsrunde auf dem<br />

Mokattamberg über den Dächern der Stadt<br />

sprach er davon, dass mindestens ein Drittel<br />

der gewählten Abgeordneten durch eine<br />

vom Militärrat organisierte Wahlfälschung<br />

zu ihrem Mandat gekommen sei. Exakt jenes<br />

Drittel, dem derselbe Militärrat nun<br />

die parlamentarische Legitimation abspricht.<br />

Tatsächlich sollte laut Wahlgesetz<br />

Im ägyptischen<br />

Militärrat hat<br />

inzwischen die<br />

Suche nach einem<br />

zivilen politischen<br />

Kopf begonnen, der<br />

von breiten Teilen<br />

der Bevölkerung<br />

akzeptiert würde<br />

ein Drittel der Mandate auf unabhängige<br />

Kandidaten entfallen. Da die Offiziere des<br />

Scaf aber eine Mehrheit für revolutionäre<br />

Gruppen fürchteten, hatte man mancherorts<br />

Manipulationen zugunsten von Bewerbern<br />

vorgenommen, die den Muslimbrüdern<br />

nahestehen oder der „Freiheits- und<br />

Gerechtigkeitspartei“ angehören. Doch<br />

die mehrheitlich säkularen Offiziere hatten<br />

nicht mit den Erfolgen jener Parteien<br />

gerechnet, die schließlich islamischen Kräften<br />

eine überragende Parlamentsmehrheit<br />

sicherten. So fanden sich die Militärs in der<br />

Rolle von Goethes Zauberlehrling wieder,<br />

welche die gerufenen Kräfte nun wieder<br />

loswerden müssen. Da aber will Präsident<br />

Mursi verständlicherweise nicht mitspielen.<br />

Der Militärrat hat zumindest zugesagt,<br />

„die Auswirkungen“ des präsidialen<br />

Dekrets über vorgezogene Neuwahlen erörtern<br />

zu wollen. Immerhin läge darin<br />

die Chance, gemäßigte säkulare Kräfte zu<br />

bündeln und sich deren Unterstützung<br />

zu sichern. Die Muslimbrüder wiederum<br />

dürften an raschen Neuwahlen nur wenig<br />

Interesse haben. Die Präsidentschaftswahl<br />

habe gezeigt, dass die Bruderschaft den<br />

Zenit ihres Erfolgs bereits überschritten<br />

habe, sagt Walid Sheha: „Kaum noch jeder<br />

zweite wahlberechtigte Ägypter ging<br />

zur Stichwahl, und Mursi bekam von diesen<br />

knapp 52 Prozent der Stimmen. Also<br />

26 Prozent der Wahlberechtigten stimmten<br />

für ihn. Wir müssen aber davon ausgehen,<br />

dass die Hälfte seiner Wähler ihn<br />

nur gewählt hat, um dessen Gegenkandidaten,<br />

den Mubarak-Mann Ahmed Schafik,<br />

zu verhindern. Damit sind die Muslimbrüder<br />

auf ihre alte Größe von 13 Prozent<br />

Stammwählern zurückgefallen.“<br />

Tatsächlich ist ein schwindender Einfluss<br />

der Muslimbrüder bei großen Teilen<br />

der ägyptischen Bevölkerung festzustellen.<br />

Dem Aufruf zu einer Solidaritätskundgebung<br />

für Präsident Mursi, nach dessen vor<br />

Gericht abermals gescheiterten Versuch<br />

der Wiedereinsetzung des Parlaments, kamen<br />

am 13. Juli statt der erwarteten Million<br />

gerade mal einige Tausend Demonstranten<br />

nach.<br />

Im ägyptischen Militärrat hat inzwischen<br />

die Suche nach einem zivilen politischen<br />

Kopf begonnen, der von breiten Teilen<br />

der Bevölkerung akzeptiert würde. Es<br />

sollte jemand sein, der den eigenen wirtschaftlichen<br />

Zielen nicht zuwiderläuft,<br />

die zivilgesellschaftlichen Visionen teilt<br />

und sich einer Islamisierung der Gesellschaft<br />

entgegenstellt. Favorisiert wird jener<br />

Mann, der trotz geringer Wahlkampfmittel<br />

als drittstärkster Kandidat aus der<br />

Präsidentschaftswahl hervorgegangen ist:<br />

Hamdin Sabahi.<br />

Der 57-jährige Journalist gilt als gemäßigter<br />

Nasserist. Wie dieser verfügt Sabahi<br />

über die Attribute eines Volkstribuns,<br />

genießt zunehmendes Ansehen unter Arbeitern<br />

und als langjähriger politischer<br />

Aktivist auch bei einem großen Teil der<br />

Facebook-Jugend. Trotz seiner kritischen<br />

Haltung gegenüber dem Scaf dürfte Hamdin<br />

Sabahi aber auch für die militärische<br />

Führung Ägyptens berechenbarer sein als<br />

der islamistische Mohammed Mursi. Noch<br />

aber ist der Kampf der Giganten in vollem<br />

Gange.<br />

Gerhard Haase-Hindenberg<br />

ist freier Publizist. Zuletzt<br />

erschien: „Ich werde nicht zerbrechen“<br />

(Biografie der ägyptischen<br />

Revolutionärin Shahinda Maklad)<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 65


| W e l t b ü h n e | D e r Ä g y p t i s c h e W e g<br />

„Der Islam bietet<br />

keine Lösungen“<br />

Ägyptens ehemaliger Außenminister Amr Mussa über die Zukunft seines Landes, die<br />

Rolle der Muslimbrüder – und über die Macht des neuen Präsidenten Mohammed Mursi<br />

Amr Mussa ist der weise alte<br />

Herr der ägyptischen Politik: Er<br />

war Außenminister unter Husni<br />

Mubarak, fiel in Ungnade<br />

und wechselte zur Arabischen<br />

Liga. Seit 2000 wurde er als<br />

möglicher Nachfolger Mubaraks<br />

gehandelt. Nach dessen Sturz<br />

meldete der 75-Jährige Interesse<br />

auf den Posten an und landete<br />

schließlich bei der Präsidentenwahl<br />

abgeschlagen auf Platz sechs<br />

H<br />

err Mussa, Ägypten erlebt wieder<br />

einmal unruhige <strong>Zeit</strong>en. Wohin<br />

steuert Ihr Land?<br />

Sie haben recht, es sind verwirrende <strong>Zeit</strong>en.<br />

Viele von uns haben gedacht, dass<br />

wir nach den Wahlen und der Übergabe<br />

der Macht an den neuen Präsidenten<br />

nach vorne schauen und den Neubeginn<br />

vorantreiben könnten, aber nun<br />

verstricken wir uns schon wieder in diesen<br />

endlosen Streit. Es ist ein Streit zwischen<br />

den politischen Lagern und um<br />

die Frage: „Wer hat das letzte Wort – das<br />

Militär, das Verfassungsgericht oder der<br />

Präsident?“<br />

Wer hat denn nun das letzte Wort? Die<br />

Rechte des Präsidenten wurden ja vom<br />

Militärrat stark beschnitten.<br />

Nein, das stimmt nicht. Wenn man die<br />

Verfassungsergänzung genau liest, bemerkt<br />

man, dass seine Macht gar nicht<br />

so sehr eingeschränkt wurde. Der Präsident<br />

beruft die Minister und den Premier,<br />

und wie man sieht, hat er das Recht und<br />

die Macht, ein Dekret zu erlassen und<br />

das Parlament wiedereinzusetzen. Deswegen<br />

kann man nicht sagen, dass er keine<br />

Macht hat. Es zeigt sich klar und deutlich,<br />

dass die Macht vom Militär an den<br />

Präsidenten abgegeben wurde.<br />

Und welches sind jetzt die Rolle und die<br />

Macht der Militärs?<br />

Der Militärrat spielt in der Exekutive<br />

keine Rolle mehr. Der Feldmarschall ist<br />

nicht mehr derjenige, der Dekrete erlässt<br />

oder auch nur seine Unterschrift daruntersetzen<br />

muss. Herr Mursi regiert. Auf<br />

seine Entscheidung, das Parlament wiedereinzusetzen,<br />

gab es einige scharfe Reaktionen<br />

von den Generälen, aber ich<br />

sehe keine Anzeichen, dass sie nervös<br />

werden.<br />

Sie meinen also, die Befürchtung, dass es<br />

zu einem offenen Machtkampf zwischen<br />

Foto: Shawn Baldwin/Corbis<br />

66 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Militär und Muslimbrüdern kommen<br />

könnte, ist übertrieben?<br />

Es besteht die Gefahr einer Eskalation,<br />

aber ich habe die Hoffnung, dass sie ausbleibt.<br />

Es liegt in der Hand des Präsidenten:<br />

Will er in Richtung Konfrontation<br />

steuern, oder sucht er Stabilität? Ich<br />

denke, sein Interesse liegt in der Stabilität.<br />

Er muss die Wirtschaft wieder ankurbeln,<br />

schon deswegen wird er weitere<br />

Konfrontation vermeiden.<br />

Was ist die größte Herausforderung der<br />

neuen Regierung?<br />

Sie muss die Lebensbedingungen der<br />

Menschen spürbar verbessern, und zwar<br />

schnell. Die Not ist groß, und die Menschen<br />

haben keine Geduld. Zuerst müssen<br />

die langen Schlangen verschwinden:<br />

der Mangel an Gasflaschen, Benzin, das<br />

schlechte Transportsystem, die Krankenhäuser<br />

und so weiter. Es reicht nicht, dass<br />

man die Straßen in der Innenstadt reinigt.<br />

Die Viertel der Armen, die Slums,<br />

da muss zuallererst etwas passieren. Was<br />

wir brauchen, ist eine neue Geisteshaltung,<br />

dann klappt es auch mit der Verbesserung<br />

der Lebensbedingungen.<br />

Die vergangenen 18 Monate haben Ägypten<br />

auch wirtschaftlich zugesetzt, die<br />

Reserven sind fast aufgebraucht. Da hat<br />

der Präsident wenig Handlungsspielraum.<br />

Solange es keine Stabilität gibt, erholt<br />

sich die Wirtschaft nicht, Investoren bleiben<br />

fern, und die Touristen kommen<br />

nicht zurück. Es ist klar, dass die Regierung<br />

nicht dauerhaft die Situation verbessern<br />

kann, es sei denn, es gelingt, die<br />

Wirtschaft wieder anzukurbeln.<br />

Ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist der<br />

Tourismus, und gerade in dieser Branche<br />

gibt es große Sorgen, dass die Muslimbrüder<br />

Alkohol und Bikinis verbieten und so<br />

dem Tourismus schaden könnten. Teilen<br />

Sie diese Befürchtungen?<br />

Es gibt diese Sorge. Wenn man sich jedoch<br />

anhört, was der neue Präsident zu<br />

dem Thema sagt, so klingt das beruhigend.<br />

Ihm bleibt auch nichts anderes übrig,<br />

als den Tourismus zu schützen, denn<br />

er ist eine so wichtige Einkommensquelle<br />

des Landes.<br />

Ägypten ist ja bereits ein sehr religiöses<br />

Land. Nun haben wir eine Regierung, die<br />

mehr Islam verspricht. Welche Rolle wird<br />

der Islam in Zukunft spielen?<br />

Es wird sich sicher bemerkbar machen,<br />

dass wir einen Präsidenten aus der Muslimbruderschaft<br />

haben. Allerdings gibt<br />

es in Ägypten auch eine starke Fraktion,<br />

die sich eine moderne und keine islamische<br />

Regierungsform wünscht. In manchen<br />

Bereichen wird es daher Widerstand<br />

gegen den Einfluss der Islamisten geben,<br />

zum Beispiel in der Bildung. Es geht<br />

um Wissenschaft, um die Zukunft und<br />

Weltoffenheit unseres Landes. Wir können<br />

nicht zulassen, dass eine ganze Generation<br />

zu halbgebildeten, engstirnigen<br />

Menschen erzogen wird.<br />

„Wir können<br />

nicht zulassen,<br />

dass eine ganze<br />

Generation zu<br />

halbgebildeten,<br />

engstirnigen<br />

Menschen<br />

erzogen wird“<br />

Wie steht es um die Liberalen? Welches<br />

Gehör finden sie?<br />

Es geht ihnen besser denn je! Es ist etwas<br />

sehr Bemerkenswertes passiert: Die Islamisten<br />

mit ihrer Parlamentsmehrheit haben<br />

sich selbst vorgeführt. Die Menschen<br />

haben gesehen, dass sie keine Lösungen<br />

haben, und sind von ihnen enttäuscht.<br />

Sie sind hungrig, sie wollen Brot, eine<br />

gute Schule für den Sohn und ein Bett<br />

für die Oma im Krankenhaus. Auf diese<br />

Fragen gibt es keine religiöse Antwort.<br />

Das haben die Menschen im vergangenen<br />

Jahr erkannt.<br />

Dennoch haben die Liberalen die Wahl<br />

verloren. Das lag vor allem daran, dass sie<br />

sich nicht einigen konnten. Führt dieser<br />

Schock zu mehr Einheit im nichtreligiösen<br />

Lager?<br />

Hoffentlich. Doch es ist sehr schwierig,<br />

das liberale Lager zu vereinen, hier sind<br />

alle politischen Richtungen vertreten:<br />

von links bis konservativ. Es fehlt ein<br />

Führer, ein gemeinsames Programm, und<br />

es gibt bisher keine Anzeichen, dass eine<br />

Einigung möglich ist.<br />

Sie sitzen in der Verfassungsversammlung.<br />

Bis September soll der Entwurf einer<br />

neuen Verfassung fertig sein und das Volk<br />

in einem Referendum darüber abstimmen.<br />

Wie gehen die Verhandlungen voran?<br />

Es gibt viele gute Diskussionen. Gerade<br />

jetzt diskutieren wir den Islamartikel.<br />

Meiner Meinung nach sollte er so<br />

sein, wie von Scheich al Azhar mit Papst<br />

Schenuda III vereinbart, bevor dieser<br />

kürzlich gestorben ist. Der Artikel sollte<br />

so, wie er bisher in der Verfassung steht,<br />

bleiben, ergänzt durch das Bekenntnis zu<br />

Minderheitenrechten. Die Islamisten sehen<br />

das natürlich anders.<br />

Wie sehen Sie Ägyptens Rolle in der<br />

Region?<br />

Ägypten muss wieder aktiv werden. Die<br />

Tatenlosigkeit unter der alten Regierung<br />

war sehr schlecht. Ich gehöre zu den Befürwortern<br />

von besseren Beziehungen<br />

zum Iran. Nur so lassen sich die Konflikte<br />

in Palästina, Libanon und Syrien<br />

lösen.<br />

Sie kennen die Regime aus langer Erfahrung<br />

und haben mehrere stürzen sehen.<br />

Was muss passieren, damit der Regierungswechsel<br />

in Syrien gelingt?<br />

Ich bin kein Experte im Stürzen von Regierungen,<br />

doch ich weiß, welche Macht<br />

das Volk hat. Es ist nur eine Frage der<br />

<strong>Zeit</strong>. Assad fährt eine Art von Selbstmordpolitik.<br />

Ihm einen sicheren Platz<br />

im Exil anzubieten, wäre eine Lösung,<br />

jedoch auch nicht perfekt, denn sein<br />

System ist dadurch noch lange nicht<br />

besiegt.<br />

Haben denn langfristig der Aufbruch und<br />

die Demokratie in der arabischen Welt<br />

eine Chance?<br />

Ich sehe in den nächsten Jahren auf jeden<br />

Fall mehr Veränderung. Wir werden<br />

Schritte in Richtung Demokratisierung<br />

erleben. Allerdings sehe ich auch mehr<br />

Unsicherheit, Spannungen und Unruhe.<br />

Dies geht mit dem Übergang zur Demokratie<br />

einher.<br />

Das Gespräch führte Julia Gerlach<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 67


| W e l t b ü h n e | K o m m e n t a r<br />

Natos neue Kleider<br />

Syrien und das Märchen von der gerechten Welt<br />

Von Florence Gaub<br />

E<br />

s war einmal eine erfolgreiche Militärallianz. Sie<br />

schützte Zivilisten im Kosovo und in Libyen, half Irak<br />

und Afghanistan beim Staatsaufbau und hatte – militärisch<br />

betrachtet – keinerlei Konkurrenz. Alles war also gut in<br />

Nato-Land. Doch dann entschied ein junger Herrscher namens<br />

Baschar al Assad, sein Volk zu massakrieren, und so manch einer<br />

war sich sicher: Die Allianz muss handeln. Schließlich hatte<br />

sie dies im Namen der Menschenrechte schon anderswo erfolgreich<br />

getan. Und die Ritter der Nato-Runde entschieden, dem<br />

syrischen Volk zur Hilfe zu eilen …<br />

Doch was wie ein Märchen klingt, ist meistens auch eines.<br />

Die Rufe nach einer Militärintervention in Syrien werden lauter,<br />

die Nato wird kritisiert für ihre Passivität und doppelte Standards,<br />

so, als wäre eine Lösung ganz einfach, wenn man nur<br />

wollte. Dabei zwingt uns die syrische Krise in erster Linie, endlich<br />

manche Dinge beim Namen zu nennen, so wie das Kind in<br />

Grimms Märchen „Des Kaisers neue Kleider“.<br />

Denn Fakt ist: Die Nato kann nicht überall auf der Welt eingreifen<br />

– und soll es auch nicht. Noch wichtiger ist: Selbst wenn<br />

Russland zustimmte, eine militärische Lösung ist in diesem Fall<br />

keine; und wer immer noch glaubt, dass Libyen ein gelungenes<br />

Beispiel ist, kennt die Fakten nicht. Die grausame Wahrheit ist,<br />

dass die Welt nicht nur sehr komplex, sondern auch nicht gerecht<br />

ist; dass auch allmächtig erscheinende Militärallianzen mit<br />

den teuersten Waffen der Welt nicht kurzerhand eine Lösung<br />

schaffen können, und dass westliches Eingreifen auch deshalb<br />

nicht gerne gesehen wird, weil es regionalen Akteuren die Gelegenheit<br />

nimmt, endlich mal eigenverantwortlich zu handeln.<br />

Doch das wollen viele nicht hören. Vor lauter Wunschvorstellungen<br />

von einer idealen und einfachen Welt werden die Augen<br />

verschlossen vor einer Realität, die weder schön noch simpel ist.<br />

Denn die neuen Kleider der Nato sind in Wahrheit keine.<br />

Militärische Lösungen sind grundsätzlich kein Allheilmittel; zugegeben<br />

wäre es nett, wenn dem so wäre, aber Tatsache ist, dass<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

68 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Foto: privat<br />

Waffen alleine keine sozial-politischen Prozesse beschleunigen,<br />

keinen Konsens herstellen und keinen Staat aufbauen können.<br />

Die meisten Probleme, die Syrien hat, sind nicht militärischer,<br />

sondern politischer Natur, und daran wird auch ein Sieg<br />

über die Armee nichts ändern. Selbst wenn Assad abträte, wären<br />

diese nicht gelöst, denn er ist nicht allein verantwortlich für die<br />

derzeitige Lage, sondern wird von einem umfassenden System<br />

getragen.<br />

Hinzu kommt, dass interne Konflikte immer eine innere<br />

Uhr haben; das bedeutet, dass sie je nach Konflikttyp (etwa Unabhängigkeitskrieg,<br />

Sezessionskrieg, Bürgerkrieg etc.) eine gewisse<br />

angeborene Dauer haben und daher nicht vorzeitig beendet<br />

werden können. Ein Bürgerkrieg kommt im Regelfall nur<br />

dann zum Ende, wenn eine Seite gewinnt oder wenn beide Seiten<br />

erkannt haben, dass sie nicht gewinnen können. Daran können<br />

Außenstehende nur wenig ändern. Ein trauriges Beispiel dafür<br />

ist der Eingriff der US Marines im Libanon 1982: Sieben<br />

Jahre dauerte der Bürgerkrieg zu diesem <strong>Zeit</strong>punkt schon, als die<br />

Militärs unverrichteter Dinge abziehen mussten, nachdem bei<br />

einem Attentat fast 300 Soldaten getötet worden waren. Amerikas<br />

militärische Potenz änderte gar nichts an der libanesischen<br />

Dynamik. Frieden (wenngleich ein fragiler) entstand im Libanon<br />

erst acht Jahre später, als die <strong>Zeit</strong> reif war und eine Konferenz<br />

in Saudi-Arabien dies besiegelte. Die traurige Wahrheit ist,<br />

dass Konfliktlösung ganz oft eben nicht am mangelnden Engagement<br />

der internationalen Gemeinschaft scheitert, sondern an<br />

den Konfliktparteien selbst. Es ist an der <strong>Zeit</strong>, unsere bisweilen<br />

frustrierende Machtlosigkeit anzuerkennen, wenn es um komplexe<br />

interne Konflikte geht: Häufig gibt es keine Lösung.<br />

Doch im Westen hat sich seit Ende des Kalten Krieges das<br />

Wunschdenken einer gerechten Welt ausgebreitet. Menschenrechte<br />

müssen zweifelsohne geschützt werden. Aber haben wir<br />

auch die Mittel und die Bereitschaft, dies überall auf der Welt<br />

zu tun und unsere eigenen Soldaten dafür in den Krieg zu schicken?<br />

Zwar kam beim Libyen-Einsatz kein einziger Nato-Soldat<br />

ums Leben, aber das ist die Ausnahme und nicht die Regel.<br />

Und Libyen ist noch längst nicht gesichert; sein politischer<br />

Gleitflug kann sich jederzeit noch in einen Sturzflug verwandeln.<br />

Milizen schalten und walten im Land, wie sie wollen; Bombenattentate<br />

auf das Rote Kreuz, die Konsulate der USA und Tunesien<br />

schreibt sich eine Al-Qaida-Splittergruppe zu, und jede<br />

Nacht wird in Tripolis geschossen. Ein Regime zu stürzen, bedeutet<br />

viel mehr Arbeit, als die meisten anerkennen wollen –<br />

eine Weltbankstudie ergab, dass es im Schnitt 20 Jahre dauert,<br />

funktionierende Institutionen aufzubauen.<br />

Doch <strong>Zeit</strong> ist ein seltenes Gut in der internationalen Politik.<br />

Niemand hat die <strong>Zeit</strong>, politischen Prozessen den Raum zu<br />

geben, den sie benötigen. Als Gaddafi nach fünf Monaten Bombardements<br />

noch im Amt war, wurde die Nato als ineffizient bezeichnet;<br />

libysche Wahlen wurden für nur acht Monate später<br />

angesetzt. Zum Vergleich: In Deutschland fanden erste nationale<br />

Wahlen vier Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches statt.<br />

Bestimmte Aspekte des menschlichen Seins können nicht beschleunigt<br />

werden, dies wollen jedoch im digitalen <strong>Zeit</strong>alter nur<br />

wenige wahrhaben. Alles muss sofort passieren – der Krieg, der<br />

Sieg, der Wiederaufbau. Wie viel <strong>Zeit</strong>, Mühe und Geld es kostet,<br />

eine solche Situation aufzulösen, davor verschließen allzu viele<br />

die Augen.<br />

Schließlich ist Syrien nicht Libyen. Das Land ist wesentlich<br />

kleiner, hat aber etwa die vierfache Bevölkerung; es hat funktionsfähige<br />

Luftabwehrraketen (wie die Türkei bestätigen kann),<br />

eine heterogene Bevölkerung und eine weitgehend funktionierende<br />

Armee. Wer nach Intervention aus der Luft ruft, wird tote<br />

Nato-Piloten rechtfertigen müssen. Dies wäre vertretbar, wenn<br />

das Endergebnis ein stabiles, demokratisches Syrien wäre; doch<br />

wenn dafür nur eine geringe Chance besteht, ist es schlicht verantwortungslos,<br />

nach den Waffen zu rufen.<br />

Und dann sind da noch die Nachbarstaaten. Im Gegensatz<br />

zu Libyen besteht kein arabischer Konsens, wie die syrische<br />

Quadratur des Kreises gelöst werden soll. Es gab keinen Hilferuf<br />

der Regionalorganisation Arabische Liga, dass die Nato doch<br />

bitte agieren solle – dabei ist dies die wichtigste Voraussetzung.<br />

Seit Jahrzehnten beschweren sich arabische Politiker über westliche<br />

Einmischerei in ihre Angelegenheiten; wie sollen sie Eigenverantwortlichkeit<br />

für ihre Region entwickeln, wenn wir ihnen<br />

nie die Gelegenheit dazu geben? Die Arabische Liga mag langsamer<br />

sein, als es manchen lieb ist; letztendlich ist es ihre Aufgabe,<br />

die syrische Krise beizulegen.<br />

Am Ende des Tages ist daher kein militärischer Akteur, egal<br />

welcher Herkunft, geeignet, die syrische Krise zu meistern. Die<br />

Nato auch deshalb nicht, weil niemand sie gerufen hat; weil sie<br />

nicht die Vereinten Nationen als Schützer der Menschenrechte<br />

weltweit ersetzen soll; und weil es <strong>Zeit</strong> wird, dass die arabische<br />

Welt ihre eigene Nato gründet.<br />

Florence Gaub<br />

ist Wissenschaftlerin in der Nahostabteilung<br />

des Nato Defense College in Rom. Der Artikel<br />

gibt ihre private Meinung wieder<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 69


| K a p i t a l<br />

Euroretter wider Willen<br />

ESM-Chef Klaus Regling ist Herr über 700 Milliarden Euro, dabei lehnte er einen solchen Fonds lange ab<br />

von Eric Bonse<br />

W<br />

ie fühlt es sich an, Herr über<br />

700 Milliarden Euro zu sein?<br />

Die Antwort kennt nur Klaus<br />

Regling. Der Chef des neuen Eurorettungsfonds<br />

ESM verwaltet die gewaltige<br />

Kriegskasse, mit der Kanzlerin Angela Merkel<br />

und die anderen 16 Eurochefs die Existenzkrise<br />

der Währungsunion überwinden<br />

wollen. Auf ihm ruht die Hoffnung von<br />

Bürgern und Bankern, Managern und<br />

Märkten.<br />

Doch Regling ist an diesem regnerischen<br />

Tag im Juli nicht zum Reden zumute.<br />

Gerade hat er erfahren, dass er den neuen,<br />

umstrittenen Topjob bekommen wird. Die<br />

Bundesregierung hat sich über die Bedenken<br />

der ESM-Gegner in Deutschland und<br />

den Widerstand Spaniens hinweggesetzt.<br />

Der Kampf ist vorbei, aber der Sieger<br />

lässt sich nichts anmerken. Kein Jubel,<br />

keine Dankesrede, kein Champagner. Der<br />

61‐jährige Regling macht einfach weiter,<br />

als sei nichts gewesen. Als sei es ganz normal,<br />

wieder eine Stufe auf der Karriereleiter<br />

nach oben zu klettern und zum Gralshüter<br />

des Euro aufzusteigen.<br />

Dabei hat Regling diese Karriere nie<br />

so gewollt. Er hat auch diesen ESM nie so<br />

gewollt. Im Grunde müsste ihm die ganze<br />

Eurorettung zuwider sein, denn sie war weder<br />

in seiner Karriereplanung noch in seinem<br />

politischen Denken vorgesehen. Sein<br />

VWL-Studium in Hamburg schloss er mit<br />

einer Diplomarbeit zur „Theorie des optimalen<br />

Währungsgebietes“ ab. Doch von<br />

dieser Theorie ist der Sohn eines SPD-Politikers<br />

weiter entfernt denn je.<br />

Mitte der neunziger Jahre dachte er,<br />

der Euro werde mit ein paar Regeln gut<br />

über die Runden kommen. Regling hatte<br />

gerade seine Karriere im Finanzministerium<br />

begonnen. Gemeinsam mit Finanzminister<br />

Theo Waigel (CSU) arbeitete er<br />

den Stabilitätspakt aus. Von Krise war<br />

keine Rede.<br />

Damals konnte er noch nicht ahnen,<br />

dass er eines Tages rund um den Globus<br />

Anleihen eines Luxemburger Fonds anpreisen<br />

würde, der überschuldete EU-<br />

Länder stützen soll. Rund die Hälfte seiner<br />

Arbeitszeit verbringt Regling heute mit<br />

„Das erste Jahrzehnt ist einfach,<br />

das zweite wegen der Pubertät<br />

schwierig. Dann wird’s besser“<br />

Klaus Regling, ESM-Chef, vergleicht den Euro gerne mit einem Kind<br />

„Roadshows“ vor Investoren, bei denen er<br />

Millionen einwirbt. Die übrige <strong>Zeit</strong> geht<br />

bei Arbeits- und Krisensitzungen drauf –<br />

oft mit Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker,<br />

der nicht weit von Reglings Büro auf<br />

dem Luxemburger Kirchberg residiert.<br />

Entschädigt wird er mit einem Gehalt,<br />

das das der Kanzlerin übersteigt:<br />

324 000 Euro sind in den vertraulichen<br />

„Beschäftigungsbedingungen“ des ESM<br />

vorgesehen. Doch das Jahressalär ist ihm<br />

nicht zu Kopf gestiegen. Als er einmal in einer<br />

Nobelherberge in Paris absteigen sollte,<br />

lehnte er dies empört ab und suchte sich<br />

ein kleineres Hotel.<br />

Dass er verzichten kann, hat Regling<br />

schon 1998 bewiesen. Damals ließ er sich<br />

in den einstweiligen Ruhestand versetzen,<br />

weil er die Politik von Finanzminister Oskar<br />

Lafontaine nicht mittragen wollte. Der<br />

„Waigel-Mann“ flüchtete aus Berlin nach<br />

London, um bei einem US-Hedgefonds die<br />

Finanzmärkte von innen kennenzulernen.<br />

Doch letztlich war dies nur eine Episode<br />

in Reglings Karriere. Die prägende<br />

Phase kam später, 2001 bis 2008. Nach<br />

dem Abstecher an die Themse arbeitete er<br />

als Generaldirektor für Wirtschaft und Finanzen<br />

bei der EU-Kommission in Brüssel.<br />

Fassungslos musste er mitansehen, wie<br />

Deutschland seinen Stabilitätspakt verletzte.<br />

Regling kritisierte den Regelverstoß lautstark,<br />

verhindern konnte er ihn nicht.<br />

Aber er suchte den Konflikt. Regling<br />

leitete ein Defizitverfahren gegen Berlin<br />

ein, überwarf sich mit Kanzler Gerhard<br />

Schröder (SPD). Als der Streit eskalierte,<br />

war es wiederum Regling, der eine Reform<br />

des Stabilitätspakts auf den Weg brachte –<br />

und Deutschland in Geheimgesprächen<br />

mit Noch-nicht-Kanzlerin Merkel zurück<br />

auf Konsolidierungskurs.<br />

Seither gilt er als das personifizierte Gewissen<br />

des Euro. Der Kampf mit Deutschland<br />

hat ihn geläutert, das Bündnis mit<br />

Merkel hat ihn gestärkt. Im Juli 2010 wird<br />

er beauftragt, den damals noch provisorischen<br />

Rettungsschirm EFSF aufzubauen.<br />

Die Märkte würden sich schnell beruhigen,<br />

lautete sein „zentrales Szenario“. Doch<br />

Regling sollte sich irren, wie so oft in seinem<br />

Leben. Die Krise wurde schlimmer,<br />

der Rettungsschirm von einem Provisorium<br />

zur Dauereinrichtung. Der Stabilitätspakt,<br />

sein Mantra, wurde zu Makulatur.<br />

Andere, wie sein Weggefährte Jürgen<br />

Stark, der ehemalige EZB-Chefvolkswirt,<br />

sind an diesem Widerspruch verzweifelt<br />

und haben aufgegeben. Doch Regling<br />

glaubt immer noch an den Euro. „Ich<br />

sage oft: Das erste Jahrzehnt ist einfach,<br />

das zweite ist wegen der Pubertät schwierig,<br />

aber dann wird alles besser.“ Dazu lächelt<br />

er vieldeutig. Endlich.<br />

Eric Bonse lebt und arbeitet<br />

seit 2004 als EU-Korrespondent<br />

in Brüssel. Zuvor berichtete<br />

er für den Tagesspiegel und<br />

das Handelsblatt aus Paris<br />

Fotos: Tim Wegner/laif, Privat (Autor)<br />

70 <strong>Cicero</strong> 8.2012


„Theorie des<br />

optimalen<br />

Währungsgebietes“<br />

hieß der Titel seiner<br />

Diplomarbeit. Als<br />

ESM-Chef ist<br />

Klaus Regling<br />

davon weiter<br />

entfernt denn je<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 71


| K a p i t a l<br />

Strafe für die Zunge<br />

In Pforzheim kocht Ralf Nowak die schärfsten Saucen Deutschlands – und angeblich auch die gefährlichsten<br />

von Benno Stieber<br />

W<br />

enn Ralf Nowak mit seinen Mitarbeitern<br />

die Filiale eines Supermarkts<br />

betritt, drücken ihm die<br />

Kassenkräfte schon mal ganz arglos die<br />

Tageseinnahmen in die Hand. Eine Verwechslung.<br />

Mit schwarzer Uniform und<br />

Polizeimütze sieht Ralf Nowak wie ein<br />

Sicherheitsmann aus. Dabei ist der Gründer<br />

von Hot Mamas doch nur gekommen,<br />

um Deutschlands schärfste Sauce im<br />

Markt sortiment unterzubringen.<br />

Das mit der Marshall-Uniform, inklusive<br />

Abzeichen und Sprechfunk, war Nowaks<br />

Idee. Denn die Kluft, die jeder Mitarbeiter<br />

im Außendienst tragen muss, bleibt<br />

im Gedächtnis. Kein Filialleiter verwechselt<br />

„die Chilipolizisten“ mit den Anzugträgern<br />

der Konkurrenz.<br />

Hot Mamas ist angetreten, es mit den<br />

großen Lebensmittelkonzernen aufzunehmen.<br />

Auch die haben Würzsaucen zuhauf<br />

im Sortiment. Aber aus Nowaks Sicht ist<br />

das alles schlappes Zeug. Seine Saucen heißen<br />

Painmaker, und auf den Etiketten steht<br />

großmäulig „Medium Hot für Anfänger“<br />

oder „fühl den Schmerz“. Sie liegen auf<br />

der nach oben offenen Schärfeskala unangefochten<br />

an der Spitze. Die Maßeinheit<br />

heißt Scoville. Und Nowaks schärfste Saucen<br />

bringen es auf bis zu 120 000 Scoville.<br />

Tabasco hat nur 5000.<br />

Gerichte, die wegen ihrer Schärfe eher<br />

Mutprobe als Genuss sind, haben zunächst<br />

etwas Pubertäres. Aber klar ist auch, dass<br />

mit dem Siegeszug fernöstlicher Küche in<br />

unseren Breiten das gepflegte Brennen auf<br />

der Zunge immer mehr Freunde findet.<br />

Eine wachsende Grillbegeisterung steigert<br />

zudem die Nachfrage nach Fertigsaucen.<br />

Es scheint, als hätte Nowak diesen<br />

Trend schon bei der Hot-Mamas-Gründung<br />

vor sechs Jahren erahnt. Lange hat er<br />

als Koch in den Töpfen von Kantinen und<br />

anderen Großküchen gerührt, wo er gern<br />

auch mal Scharfes servierte. Nowak stellte<br />

aber bald fest, dass das handelsübliche<br />

Chilipulver genormt ist und einen Schärfegrad<br />

hat, über den jeder Mexikaner oder<br />

Thai lachen würde.<br />

Er besorgte sich frische Habanero-Chilis<br />

und begann, mit eigenen Saucenrezepten<br />

zu experimentieren. Nach ersten Erfolgen<br />

gründete er mit dem Stuttgarter<br />

Gastronom Klaus Lorenz, der sich schon<br />

vor längerer <strong>Zeit</strong> den Namen „Hot Mamas“<br />

gesichert hatte, seine Saucen-Manufaktur.<br />

Aus seiner <strong>Zeit</strong> in der<br />

Großküche wusste Nowak,<br />

wie man mit dem Großhandel<br />

reden muss. Er setzte<br />

seine Marshall-Mütze auf<br />

und stellte seine Saucen bei<br />

Edeka und Rewe vor. Hartnäckigkeit,<br />

sein Rampensau-<br />

Gen und erfolgreiche Messeauftritte<br />

führten zum Erfolg.<br />

Gekocht werden die<br />

Höllensaucen in den Räumen<br />

einer befreundeten<br />

Großmetzgerei im Pforzheimer<br />

Norden. Morgens werden<br />

hier Würste gestopft,<br />

nachmittags braut Nowaks<br />

Team auf einem Großküchenherd<br />

die Tunken aus frischen<br />

Chilis, Tomatenmark<br />

und allerlei Gewürzen. „Hot<br />

Mamas“ setzt auf natürliche<br />

Zutaten und verzichtet komplett<br />

auf künstliche Aromen und Konservierungsstoffe.<br />

Nowak sagt: „Ich habe zum<br />

Glück nie gelernt, wie man Lebensmittel<br />

industriell fertigt.“ Er produziert Feinkost,<br />

die ihren Preis hat. Eine Flasche kostet bis<br />

zu zwölf Euro.<br />

Qualität ist für das Unternehmen eine<br />

Art Lebensversicherung. Neulich habe eine<br />

große deutsche Restaurantkette um Kostproben<br />

gebeten und einen Auftrag in Aussicht<br />

gestellt. Dann habe er nichts mehr<br />

gehört, berichtet Nowak. Über Umwege<br />

hat er später den wirklichen Grund für die<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

„Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht<br />

haben? Den<br />

Mittelstand!“, sagte<br />

kürzlich der neue<br />

Deutsche-Bank-Chef<br />

Anshu Jain. <strong>Cicero</strong><br />

weiß das schon länger<br />

und stellt besondere<br />

Mittelständler in einer<br />

Serie vor.<br />

Anfrage erfahren. Der Systemgastronom<br />

wollte Nowaks Produkt kopieren und im<br />

großen Stil selbst anbieten. Vergeblich. Die<br />

aufwendige Produktionsweise hätte sich für<br />

das große Unternehmen nicht gerechnet.<br />

Nowak stellt jetzt für die Restaurantkette<br />

eine Haussauce in Lizenz her.<br />

Längst platzt die kleine Firma aus<br />

allen Nähten. Das Büro ist vollgestopft<br />

mit Akten und Unterlagen. In Fluren stapeln<br />

sich die Paletten, die<br />

ausgeliefert werden müssen.<br />

4000 Flaschen kann<br />

er in seiner Manufaktur<br />

täglich produzieren. Zu<br />

wenig, in der Grillsaison<br />

gehen manchmal bundesweit<br />

10 000 Saucen täglich<br />

über den Ladentisch. Deshalb<br />

wird derzeit ein eigenes<br />

Firmengebäude mit<br />

20 000 Quadratmetern<br />

gebaut.<br />

Derweil drohen rechtliche<br />

Schwierigkeiten. Das<br />

Bundesamt für Risikobewertung<br />

will festgestellt<br />

haben, dass hohe Dosen<br />

schärfster Chilis schädlich<br />

seien. Nowak hält das<br />

zwar für Unsinn, fühlt sich<br />

aber gleichzeitig geschmeichelt:<br />

Er ist der Hersteller<br />

von Deutschlands schärfster und angeblich<br />

auch gefährlichster Sauce. Den amtlichen<br />

Befund nutzt er zum Marketing:<br />

Der Deckel von Nowaks schärfstem Gebräu<br />

hat jetzt eine Kindersicherung. Und<br />

oben drauf thront ein weißer Totenkopf<br />

aus Plastik.<br />

Benno Stieber<br />

ist freier Korrespondent mit dem<br />

Themenschwerpunkt Mittelstand.<br />

Bei sehr scharfem Essen bekommt<br />

er Schluckauf<br />

Fotos: Andy Ridder, Privat (Autor)<br />

72 <strong>Cicero</strong> 8.2012


„Ich habe<br />

zum Glück<br />

nie gelernt,<br />

wie man<br />

Lebensmittel<br />

industriell<br />

herstellt“, sagt<br />

Ralf Nowak.<br />

Die Hot-<br />

Mamas-Saucen<br />

kochen er und<br />

sein Team selbst<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 73


| K a p i t a l<br />

Die Geduld des Fischers<br />

Eine Begegnung mit Paul Volcker, dem großen alten Mann der amerikanischen Finanzpolitik<br />

von Nikolaus Piper<br />

P<br />

aul Volcker ist ein großer Mann.<br />

Er misst genau zwei Meter und<br />

zwei Zentimeter, was durchaus<br />

einschüchternd wirken kann. Aber er hat<br />

gelernt, mit dem Problem umzugehen. Ermutigend<br />

lächelt er seinem Gegenüber zu,<br />

während er sich zu ihm herabbeugt. Auch<br />

sein trockener Humor hilft: „Wollen Sie<br />

wirklich so viel über mich schreiben?“ In<br />

Amerika ist Volckers Körpergröße fast so<br />

etwas wie ein Markenzeichen geworden.<br />

Am 21. Januar 2010 stellte Präsident Barack<br />

Obama im Weißen Haus eine neue<br />

Vorschrift vor, die die großen Banken an<br />

systemsprengender Spekulation hindern<br />

soll. Dabei betonte er, so als sei dies sein<br />

stärkstes Argument, die Regel stamme „von<br />

diesem langen Kerl hinter mir“ – von Paul<br />

Volcker eben. Die Regel heißt seither „Volcker<br />

Rule“. Im Juni trat sie nach langen,<br />

schwierigen Beratungen in Kraft.<br />

Der 84-Jährige steht seit über 50 Jahren<br />

im öffentlichen Leben und ist immer<br />

noch einer der einflussreichsten Männer<br />

der amerikanischen Politik. Dass er dabei<br />

oft unbequem ist, hat ihm nie geschadet,<br />

im Gegenteil. Mit dem ehemaligen<br />

Staatssekretär im US‐Finanzministerium,<br />

dem ehemaligen Notenbankchef und dem<br />

ehemaligen Chef des Beratergremiums<br />

von Präsident Obama für die Finanzkrise<br />

muss man weiterhin rechnen. Sein Terminkalender<br />

ist bis an den Rand gefüllt, sein<br />

Granit-Schreibtisch steht in einem Büro<br />

oberhalb des Rockefeller Centers in Manhattan.<br />

Aus seinem Fenster guckt er auf<br />

den goldenen Prometheus-Brunnen. Davor<br />

liegt jener aus unzähligen Filmen bekannte<br />

Platz, wo im Winter alte und junge New<br />

Yorker Schlittschuh laufen.<br />

Volcker ist so präsent, dass Ende 2008<br />

viele Politexperten und Journalisten in Washington<br />

glaubten, er könne Obamas Finanzminister<br />

werden, wenigstens für eine<br />

halbe Amtszeit. Tatsächlich bekam dann<br />

Timothy Geithner den Job. Volcker wurde<br />

Chef eines Gremiums, das den Präsidenten<br />

dabei beriet, die Anfang 2009 kollabierende<br />

Wirtschaft zu retten. Spricht man<br />

ihn heute auf die damaligen Gerüchte an,<br />

„Deutschland ist das stärkste Land.<br />

Und mit Stärke kommt Verantwortung“<br />

Paul Volcker<br />

dann lacht er: „Hören Sie, ich bin ein alter<br />

Mann. Andere haben über dieses Thema<br />

geredet, ich nie.“ Ein echtes Dementi<br />

klingt anders.<br />

Wer Volcker besucht, kommt an einer<br />

kleinen Steinskulptur in Form eines<br />

Lachses vorbei. Die Wände im Flur, im<br />

Sekretariat und im Büro sind bedeckt mit<br />

Fischbildern. Das Fischen ist die große Leidenschaft<br />

des Ökonomen. „Es ist eine Ausrede,<br />

um sich an den schönsten Plätzen der<br />

Welt aufzuhalten“, sagt Volcker. Und es bedürfe<br />

einer „gewissen intellektuellen Anstrengung,<br />

um einen Fisch anzulocken“.<br />

Volcker steht auf und holt ein Memo, in<br />

dem sorgfältig mit Bleistift eine Reihe von<br />

Zahlen notiert ist – die Daten seines zuletzt<br />

gefangenen Lachses: 30 Pfund, einer der<br />

größten, die er je gefangen hat.<br />

Fischen hat auch etwas mit Beharrungsvermögen<br />

zu tun, und passend dazu erscheint<br />

zu Volckers 85. Geburtstag im<br />

September eine große Biografie unter dem<br />

Titel „The Triumph of Persistence“ – „Der<br />

Triumph der Beharrlichkeit“. Der Autor<br />

ist William Silber, Professor für Finanzwissenschaften<br />

an der New York University.<br />

Volckers Karriere kann man auch als<br />

große Übung in Beharrlichkeit sehen. Als<br />

Ökonom wurde er deswegen so erfolgreich,<br />

weil er am einmal als richtig Erkannten<br />

stur festhielt, auch wenn er sich damit<br />

Feinde machte. Das jüngste Beispiel<br />

dafür ist die besagte Volcker-Regel. Es ist<br />

eine ziemlich komplizierte Vorschrift innerhalb<br />

eines noch komplizierteren Gesetzes<br />

zur Neuregulierung der Finanzmärkte,<br />

dem „Dodd-Frank Act“. Das Prinzip ist<br />

jedoch denkbar einfach: Große Banken<br />

dürfen nicht mehr auf eigene Rechnung<br />

spekulieren. Diese Banken, argumentiert<br />

Volcker, werden vom Staat vor dem Bankrott<br />

geschützt, und sie müssen auch geschützt<br />

werden, weil sie als Kreditgeber für<br />

das Funktionieren der gesamten Wirtschaft<br />

unverzichtbar sind. Im Gegenzug dürfen<br />

sie diesen Schutz nicht missbrauchen, indem<br />

sie ihr Kapital im sogenannten Eigenhandel<br />

bei hochriskanten Zockereien aufs<br />

Spiel setzen. Das Verbot gilt für die Giganten<br />

der Branche: Goldman Sachs, Bank<br />

of America, Citigroup, JP Morgan Chase.<br />

Nicht jedoch für Hedgefonds und andere<br />

Finanzfirmen. „Die können tun, was sie<br />

wollen. Wenn sie scheitern, verlieren die<br />

Investoren und vielleicht die Gläubiger ihr<br />

Geld. Das war’s dann.“<br />

Wie weitreichend der Eingriff der Volcker-Regel<br />

für die Banken ist, ließ sich am<br />

erbitterten Widerstand der Wall-Street-<br />

Lobbyisten in Washington ablesen. Kein<br />

Wunder, war doch der Eigenhandel vor<br />

der Krise eine der wichtigsten Gewinnquellen<br />

der Branche. Den Lobbyisten gelang<br />

es, die Regel in einigen Punkten zu<br />

verwässern. Ihre Substanz habe aber keinen<br />

Schaden genommen, glaubt der Erfinder.<br />

„Die Volcker-Regel ist immer noch<br />

eine gute Regel“, sagt er energisch. Im Übrigen<br />

komme es gar nicht so sehr auf die<br />

Details an, sondern auf die Kultur. Kultur?<br />

Foto: Holger Keifel/Agentur Focus<br />

74 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Triumphator der<br />

Beharrlichkeit:<br />

Paul Volcker, der<br />

große alte Mann<br />

der Weltfinanz<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 75


| K a p i t a l<br />

Ja, die Gebräuche der wilden Typen in den<br />

Handelsräumen hätten „das unterminiert,<br />

was notwendig ist für eine starke Bankenkultur<br />

– Sorgfalt, Verantwortung gegenüber<br />

dem Kunden, treuhänderische Pflichten.<br />

Wenn Sie Händler sind, machen Sie<br />

sich keine Gedanken um die Kunden, sie<br />

versuchen Geld für sich selbst zu machen.“<br />

Es war Volckers Sturheit zu verdanken,<br />

dass seine Regel trotz des Widerstands Gesetz<br />

wurde. Ein wenig kam ihm dabei aber<br />

auch der Zufall zu Hilfe. Im Mai musste<br />

Jamie Dimon, der erfolgsverwöhnte Chef<br />

der Großbank JP Morgan, einen Spekulationsverlust<br />

von über zwei Milliarden Dollar<br />

melden, und zwar aus dem Eigenhandel.<br />

Wie sich später herausstellte, könnten es sogar<br />

5,8 Milliarden Dollar werden. Die Meldung<br />

kam in der heißen Endphase der Verhandlungen<br />

um die Volcker-Regel, deren<br />

entschlossenster Gegner Dimon war. Hat<br />

ihm dessen Fehltritt geholfen, die Lobby zu<br />

bremsen? Volcker lacht ausweichend. Diese<br />

Frage könne er nun wirklich nicht beantworten.<br />

Auch die Verwicklung von JP Morgan<br />

in den aktuellen Skandal um illegale<br />

Absprachen beim Interbanken-Zinssatz Libor<br />

will er nicht kommentieren.<br />

Volckers Werte kommen aus einer anderen<br />

Welt. Nach dem Studium in Princeton,<br />

Harvard und an der London School of<br />

Economics trat er 1952 seinen ersten Job<br />

als Ökonom bei der Federal Reserve Bank<br />

of New York an. Die New York Fed ist so<br />

etwas wie der operative Arm der US‐Notenbank.<br />

Wer dort arbeitet, sitzt an der<br />

Schnittstelle zwischen Regierung und Wall<br />

Street und kann auf beiden Seiten Karriere<br />

machen. Nach drei Jahren ging Volcker<br />

zunächst zur Chase Manhattan Bank, der<br />

Vorläuferin von Jamie Dimons JP Morgan<br />

Chase, und dann nach Washington ins Finanzministerium.<br />

Er war erst 42 Jahre alt,<br />

als man ihn zum Staatssekretär für internationale<br />

Fragen machte.<br />

Das war im Sommer 1969, als die einst<br />

in Bretton Woods beschlossene Währungsordnung<br />

der Nachkriegszeit mit ihren festen<br />

Wechselkursen kurz vor dem Zusammenbruch<br />

stand. In Bretton Woods hatten<br />

die USA versprochen, jederzeit Gold aus<br />

ihren Reserven zum Preis von 35 Dollar für<br />

die Feinunze zu verkaufen. Das begründete<br />

den Rang des Dollars als Leitwährung. In<br />

den sechziger Jahren jedoch häuften die<br />

Europäer immer höhere Dollaransprüche<br />

an. Es war absehbar, dass die Reserven<br />

der USA bald nicht mehr reichen würden,<br />

diese Ansprüche zu befriedigen.<br />

In den Geschichtsbüchern, jedenfalls<br />

in deutschen, steht meist, das System von<br />

Bretton Woods sei zusammengebrochen,<br />

weil das Handels- und das Staatsdefizit<br />

Amerikas wegen des Vietnam-Krieges außer<br />

Kontrolle gerieten. Das stimmt zwar,<br />

es gibt aber auch noch eine andere Seite,<br />

und auf die kommt es Volcker an. Um das<br />

System zu retten, hätten die Europäer auch<br />

bereit sein müssen, etwas gegen ihre Überschüsse<br />

zu tun, indem sie ihre Währungen<br />

aufwerten. Das waren sie aber nicht,<br />

aus Angst um die Arbeitsplätze. „Eine Ausnahme<br />

waren übrigens die Deutschen. Sie<br />

reagierten als Einzige.“<br />

In Washington war jedenfalls klar, dass<br />

es so nicht weitergehen konnte. Volcker<br />

riet dem damaligen Finanzminister John<br />

Connally, das Dollar-Gold-Versprechen<br />

zu kündigen. Tatsächlich teilte Präsident<br />

Richard Nixon am 15. August 1971 der<br />

Welt in einer Fernsehansprache mit, dass<br />

die USA „vorübergehend“ die Konvertibilität<br />

von Dollar in Gold aussetzten. Der<br />

„Nixon-Schock“ war gleichzeitig das Ende<br />

von Bretton Woods.<br />

Man dürfe das alles nicht zu sehr personalisieren,<br />

sagt Volcker heute: „Es haben<br />

auch noch andere diesen Rat gegeben.“<br />

Seine Stimme damals aber war entscheidend,<br />

und das dementiert er auch nicht.<br />

Zum ersten Mal zeigte er 1971 seine Fähigkeit,<br />

unpopuläre Entscheidungen durchzusetzen.<br />

In Amerika nennt man das<br />

„Leadership“.<br />

Die nächste Gelegenheit kam 1979.<br />

Damals lagen die USA politisch und<br />

wirtschaftlich danieder. Das Land litt unter<br />

dem verlorenen Vietnamkrieg, die Wirtschaft<br />

stagnierte, die Inflation erreichte<br />

14 Prozent. In der Situation berief Präsident<br />

Jimmy Carter Volcker an die Spitze der<br />

US-Notenbank. „Ich sagte ihm, dass das<br />

Problem nur durch eine Rosskur zu lösen<br />

sein würde, und er stimmte mir zu.“ Volcker<br />

setzte den Leitzins der Fed schrittweise<br />

auf beispiellose 20 Prozent herauf. Das Ergebnis<br />

war, wie gewünscht, Preisstabilität.<br />

Davor jedoch kamen eine schwere Rezession<br />

auf der ganzen Welt und eine politische<br />

Wende in den USA. Carter verlor 1980 die<br />

Wahl, und Ronald Reagan zog ins Weiße<br />

Haus ein. Hat der Fed-Präsident Carter<br />

die zweite Amtszeit gekostet? Er habe ihn<br />

dies auch gefragt, sagt Volcker, und Carter<br />

habe „mit einer Art Lächeln“ geantwortet:<br />

„Es gab auch noch andere Gründe.“<br />

Was setzt einen in die Lage, sehr Unpopuläres<br />

zu tun, von dem man erst in ein<br />

paar Jahren weiß, ob es richtig war? „Es<br />

gab ein verbreitetes Gefühl im Land, dass<br />

etwas schieflief, dass etwas geändert werden<br />

musste. So einfach war das.“ Daraus habe<br />

„eine Art grundsätzliche Unterstützung“ in<br />

der Bevölkerung resultiert. „Die war nicht<br />

sehr sichtbar, weil es auf der anderen Seite<br />

viel Lärm gab. Aber sie war da.“ Als Volcker<br />

1987 sein Amt verließ, war die Inflation<br />

auf 4,5 Prozent gesunken.<br />

Viele Menschen haben heute wieder<br />

Angst vor einer großen Inflation, die den<br />

Wert ihrer Ersparnisse vernichtet. Das ist<br />

verständlich angesichts der riesigen Mengen<br />

an Geld, mit denen die Notenbanken<br />

die Wirtschaft geflutet haben. Werden die<br />

Karikatur: Klaus Stuttmann<br />

76 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Foto: Privat<br />

Notenbanken in den USA und Europa in<br />

der Lage sein, das Geld wieder einzusammeln,<br />

bevor es zu spät ist? „Inflation ist<br />

kein technisches Problem“, antwortet Volcker.<br />

„Es ist ein menschliches Problem. Die<br />

technischen Möglichkeiten gibt es, das ist<br />

keine Frage. Aber werden sie auch bereit<br />

sein, die richtigen Schritte zu tun? Werden<br />

sie gegen heftige Opposition die Zinsen<br />

erhöhen?“ Die selbst gestellte Frage beantwortet<br />

er mit einem typischen Volcker:<br />

„Wir bezahlen die Leute in der Fed dafür,<br />

dass sie solche unbequemen Entscheidungen<br />

treffen.“<br />

Wenn es um unpopuläre Entscheidungen<br />

geht, kommt das Gespräch heute unweigerlich<br />

auf den Euro. Volcker gehörte zu<br />

den wenigen amerikanischen Ökonomen,<br />

die 1999 die Einführung der Gemeinschaftswährung<br />

unterstützten. Allerdings<br />

war er zu optimistisch, wie so viele andere<br />

auch. „Ich dachte damals implizit, dass die<br />

Unmöglichkeit von Auf- und Abwertungen<br />

von selbst für Disziplin in den Mitgliedsländern<br />

sorgen würde. Diese Hoffnung hat<br />

sich als falsch erwiesen. Alle Länder pumpten<br />

einfach billig Geld.“<br />

Volcker versucht, kontroverse Aussagen<br />

zu vermeiden, weil er „niemandem<br />

etwas diktieren will“. Aber er sagt dann<br />

doch so viel: „Ich stimme denen zu, die<br />

sagen: Wenn man mit dem Euro weitermacht,<br />

erfordert dies mehr Integration,<br />

nicht nur in der Finanz-, sondern auch<br />

in der Wirtschaftspolitik.“ Er sagt nicht,<br />

dass die Deutschen mehr zahlen müssen,<br />

aber er legt es nahe: „Deutschland ist das<br />

stärkste Land. Und mit Stärke kommt Verantwortung.<br />

Es ist wie in den USA nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg. Viele hielten den<br />

Marshall-Plan für ein Opfer. Aber es war<br />

kein Opfer, sondern ein Beitrag zu einer<br />

Welt, in der wir leben wollten: friedlich,<br />

ökonomisch erfolgreich.“<br />

Sollten sich die Deutschen bei der Eurorettung<br />

also am Marshall-Plan orientieren?<br />

„Ja, absolut. Deutschland hat unheimlich<br />

profitiert vom Euro. Aber egal, wie Sie<br />

darüber denken, Sie kommen nicht raus<br />

aus dem Problem, ohne starke Führung in<br />

Europa zu zeigen.“<br />

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arbeitet als Wirtschaftskorrespondent<br />

der Süddeutschen<br />

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Deutschlands<br />

17. Bundesland<br />

Im Pazifik tobt ein Kampf um die Rohstoffressourcen in der Tiefsee.<br />

Spät eingestiegen, droht Berlin bereits jetzt den Anschluss zu verlieren<br />

Von Andreas Rinke und Christian Schwägerl<br />

78 <strong>Cicero</strong> 8.2012


R o h s t o f f e | K a p i t a l |<br />

E<br />

S klingt alles so friedlich und<br />

passend zur Jahreszeit auch<br />

nach Urlaub: Hawaii, Mexiko,<br />

„Sonne“, 17. Bundesland. Aber<br />

wenn im Bundeskanzleramt<br />

diese Worte fallen, geht es nicht etwa um<br />

einen vorgezogenen Wahlkampfauftritt<br />

Angela Merkels am Ballermann auf Mallorca,<br />

sondern um knallharte geopolitische<br />

und wirtschaftliche Interessen der Bundesrepublik<br />

Deutschland. Das entscheidende<br />

Stichwort lautet „Versorgungssicherheit“,<br />

weil der Zugang zu den weltweiten Rohstoffen<br />

für die Exportnation lebensnotwendig<br />

ist. Nicht nur auf der Prioritätenliste<br />

der Politiker, sondern auch in den Vorständen<br />

der Dax-Unternehmen ist das Thema<br />

ganz nach oben gerückt.<br />

Mit Argusaugen beobachtet man in<br />

Berlin, wie Chinas Führung gerade zur<br />

Rohstoffakquise um die Welt jettet, etwa<br />

nach Dänemark, um ein Bergbauprojekt<br />

auf Grönland voranzutreiben oder nach Island,<br />

um einen Vertrag über Technologien<br />

für den Tiefsee-Bergbau abzuschließen.<br />

Trotz Dauerbelastung durch die Eurokrise<br />

treibt Bundeskanzlerin Angela Merkel<br />

das Rohstoffthema voran. Denn je systematischer<br />

China sich weltweit den Zugang<br />

zu strategischen Ressourcen sichert,<br />

desto mehr geraten deutsche Industrieunternehmen<br />

durch hohe Rohstoffpreise unter<br />

Druck. Ohne kritische Rohstoffe wie<br />

Kupfer, Nickel, Kobalt oder die sogenannten<br />

Seltenen Erden ist keine Produktion<br />

von Hightechgütern mehr möglich. Auch<br />

Windräder, Solarzellen und andere Kernelemente<br />

der deutschen Energiewende<br />

kommen ohne diese Materialien nicht<br />

aus. Daher untersucht inzwischen auch<br />

Berlin auf einem zwischen Mexiko und<br />

Hawaii gelegenen Explorationsgebiet die<br />

Möglichkeit, die Rohstoffressourcen in der<br />

Tiefsee auszubeuten. Aber andere Länder<br />

sind schon deutlich weiter, und Deutschland<br />

muss aufpassen, will es den Anschluss<br />

nicht verlieren.<br />

Wie alarmiert die Politik ist, war Ende<br />

April auf dem Rohstoffkongress der Unions-Bundestagsfraktion<br />

zu spüren. Kanzlerin<br />

Merkel mahnte ungewohnt martialisch<br />

an: Man werde „darum kämpfen<br />

müssen, Zugang zu Rohstoffen zu haben“.<br />

Deutschland stehe „im Wettbewerb<br />

mit Staaten, die eine sehr strategische rohstoffpolitische<br />

Planung betreiben“, sagte sie<br />

mit Blick vor allem auf China. Ab sofort<br />

müssten Industrie und Politik sich gegenseitig,<br />

„sozusagen im nationalen Interesse,<br />

stützen“. Der gesamte deutsche Wohlstand<br />

hänge von der Exportfähigkeit ab.<br />

SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier<br />

sieht die Entwicklung kritisch und<br />

zieht bereits Parallelen zur blutigen Kolonialzeit.<br />

„Vieles am Beginn des 21. Jahrhunderts<br />

erinnert an den alten ‚scramble<br />

for Africa‘, an den weltweiten Run nach<br />

Flottenstützpunkten und Aufkohlstationen“,<br />

warnte er vor kurzem.<br />

Drastisch ausgedrückt hat damit auch<br />

in Deutschland, wo Staat und Wirtschaft<br />

seit 1945 in geostrategischen Fragen eher<br />

Distanz wahrten, eine neue Phase begonnen:<br />

Ein „politisch-industrieller Rohstoffkomplex“<br />

bekommt Konturen. Künftig<br />

soll auch die deutsche Entwicklungspolitik<br />

ganz offen die Sicherung von Rohstoffpartnerschaften<br />

mit ressourcenreichen Ländern<br />

wie Kasachstan oder der Mongolei<br />

„flankieren“.<br />

Auf der Seite der Wirtschaft kümmert<br />

sich Ulrich Grillo, der designierte Chef des<br />

Bundesverbands der Deutschen Industrie<br />

(BDI), um das Thema. Als bisheriger Chef<br />

des Arbeitskreises Rohstoffe im BDI gehört<br />

er zu den Architekten der neuen deutschen<br />

Rohstoffpolitik. Im Hintergrund trieb er<br />

die Gründung einer Rohstoffallianz voran,<br />

in der sich führende deutsche Industriekonzerne<br />

wie BASF, Daimler oder Thyssen-Krupp<br />

zusammengeschlossen haben.<br />

Anders als noch vor einigen Jahren befürwortet<br />

auch Grillo, dass Staat und Firmen<br />

hierbei näher zusammenrücken: „Die<br />

Rohstoffversorgung selbst bleibt natürlich<br />

Aufgabe der Unternehmen, aber die Politik<br />

hilft überall bei der Sicherung des Zugangs.“<br />

Das sei nicht nur bei uns und den<br />

Chinesen so, sondern auch in Japan, Korea<br />

und Frankreich, sagt Grillo.<br />

Dabei ist die Erde entgegen den ursprünglichen<br />

Prognosen des Club of Rome<br />

reich an Bodenschätzen. Nur ist absehbar,<br />

dass viele Vorkommen aus geologischen<br />

und politischen Gründen immer schwerer<br />

zugänglich sein werden. So hat China<br />

die Ausfuhr der sogenannten Seltenen Erden<br />

stark reguliert, weil es die Rohstoffe<br />

für seine stark wachsende Industrieproduktion<br />

braucht.<br />

Da viele der Ressourcen an Land<br />

schon ausgebeutet und verteilt sind, liegt<br />

der Fokus nun auf der Jagd nach den gigantischen<br />

Rohstoffressourcen in der<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 79


| K a p i t a l | R o h s t o f f e<br />

bislang herrenlosen Tiefsee außerhalb der<br />

200-Meilen-Zone. Vor allem im Pazifik findet<br />

derzeit eine neue Phase der Kolonialisierung<br />

statt. In mehreren Tausend Meter<br />

Tiefe unter der Wasseroberfläche schlummern<br />

Milliarden Tonnen der begehrten<br />

Metalle: Kupfer, Zink, Eisen, aber auch<br />

große Vorkommen der Seltenen Erden.<br />

Als „Schatztruhe“ hat Bundesforschungsministerin<br />

Annette Schavan die<br />

Tiefsee bezeichnet, als sie den Vertrag<br />

zum Bau eines neuen deutschen Rohstoff-<br />

Forschungsschiffs namens „Sonne“ unterschrieb.<br />

Doch die Bundesregierung muss<br />

viel nachholen, denn in den vergangenen<br />

Jahrzehnten hat Deutschland die Erkundung<br />

der Tiefsee vernachlässigt.<br />

Es wäre nur folgerichtig, wenn Merkel<br />

demnächst einmal zu einer Dienstreise in<br />

den Pazifik aufbrechen würde. Denn dort<br />

liegt zwischen Mexiko und Hawaii so etwas<br />

wie das 17. Bundesland. In einem riesigen<br />

Gebiet auf Hoher See, also außerhalb<br />

nationaler Ansprüche, hat die Internationale<br />

Meeresbodenbehörde ISA seit 1994<br />

Lizenzrechte für die Rohstofferkundung<br />

vergeben. Gleich zu Beginn sicherten sich<br />

sieben Staaten einen „Pionierinvestorenstatus“.<br />

Deutschland verzichtete damals<br />

unter Kanzler Kohl, weil das Bundeswirtschaftsministerium<br />

die Antragskosten von<br />

250 000 Dollar scheute. Man überließ<br />

China, Russland, Japan, Südkorea, Indien,<br />

Frankreich und einem Konsortium aus ehemaligen<br />

Ostblockstaaten das Terrain.<br />

Erst als die Rohstoffpreise wieder stiegen,<br />

erinnerte man sich in Berlin der<br />

Schätze auf dem Meeresgrund und beantragte<br />

ein Lizenzgebiet, das der Bundesrepublik<br />

2006 zugesprochen wurde. Das potenzielle<br />

deutsche Abbaugebiet im Pazifik<br />

hat eine Größe von rund 75 000 Quadratkilometern<br />

und ist damit etwas größer als<br />

Bayern. Bis 2021 muss sich die Bundesregierung<br />

entscheiden, ob sie im Pazifik Rohstoffe<br />

abbauen will oder nicht.<br />

Für die öffentliche Debatte zumindest<br />

in Deutschland wird die Frage nach möglichen<br />

Umweltschäden von großer Bedeutung<br />

sein. „Der Abbau von Rohstoffen in<br />

der Tiefsee ist vermutlich nicht ohne massive<br />

negative Beeinträchtigung der Ökosysteme<br />

möglich“, warnt etwa die Biologin<br />

und Meeresexpertin Iris Menn von Greenpeace.<br />

„Eine umweltverträgliche Ausbeutung<br />

der Ressourcen ist nach dem derzeitigen<br />

Wissensstand nicht möglich.“<br />

Doch am Ende könnte die Gier nach Bodenschätzen<br />

die ökologischen Bedenken<br />

übertrumpfen – gerade im Kalkül asiatischer<br />

Staaten. Immerhin schätzt die Bundesanstalt<br />

für Geowissenschaften und<br />

Rohstoffe (BGR), dass in dem von ihr erkundeten<br />

Gebiet etwa eine Milliarde Tonnen<br />

wertvoller Manganknollen liegen, im<br />

Die kartoffelgroßen Manganknollen enthalten Kupfer, Kobalt, Nickel und die sogenannten<br />

Seltenen Erden. Bis zu 500 Milliarden Tonnen werden auf dem Meeresboden vermutet<br />

Schnitt mit einer Dichte von zwölf Kilogramm<br />

pro Quadratmeter. Diese kartoffelgroßen<br />

Erzklumpen enthalten die begehrten<br />

Metalle. Der Abbau würde sich wohl<br />

vor allem auf jene Gebiete konzentrieren,<br />

bei denen man eine Dichte von 30 Kilogramm<br />

pro Quadratmeter gemessen hat.<br />

Außerdem liegen im deutschen Lizenzgebiet<br />

mindestens zwei interessante Vulkane,<br />

deren Hänge reich bestückt sind mit Mangankrusten.<br />

Nach einer internen Berechnung<br />

der BGR hätten die vermuteten zehn<br />

Millionen Tonnen Nickel, die acht Millionen<br />

Tonnen Kupfer und die 1,2 Millionen<br />

Tonnen Kobalt einen Marktwert von rund<br />

561 Milliarden Dollar.<br />

Der aufkommende Tiefseebergbau hat<br />

auch schon deutsche Großkonzerne wie<br />

Siemens auf den Plan gerufen. Das Münchner<br />

Unternehmen kaufte 2011 zwei kleine<br />

norwegische Firmen namens Bennex und<br />

Poseidon, die Spezialisten für die Stromversorgung<br />

in der Tiefsee sind. Im März<br />

schlug Siemens erneut zu und übernahm<br />

für 470 Millionen Dollar von der britischen<br />

Expro Holding deren Geschäftszweig<br />

mit tiefseetauglichen Komponenten<br />

für Öl- und Gasleitungen. Der deutsche<br />

Erdöl- und Bergbauspezialist Aker Wirth<br />

ist mit der Entwicklung eines Knollenkollektors<br />

beschäftigt. Stück für Stück werden<br />

die Bausteine für eine Infrastruktur am<br />

Meeresboden zusammengefügt.<br />

Doch der Vorsprung vor allem der asiatischen<br />

Länder Korea, Indien und China,<br />

die ebenfalls Lizenzfelder für Manganknollen<br />

im Pazifik besitzen, ist schwer<br />

wettzumachen. Während die BGR im<br />

Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums<br />

im Frühjahr mit dem alten Forschungsschiff<br />

„Sonne“ erst die vierte Erkundungsmission<br />

in das Gebiet startete,<br />

um mögliche Umweltauswirkungen eines<br />

Rohstoffabbaus zu untersuchen, hat<br />

Korea bereits 30 Missionen im eigenen<br />

Lizenzgebiet hinter sich. Die koreanische<br />

Regierung hat bereits ein eigenes Testgelände<br />

für die Erprobung tiefseetauglicher,<br />

automatisierter Abbausysteme für die<br />

Manganknollen eingerichtet. Ende Juni<br />

tauchte zudem das chinesische Unterseeboot<br />

„Jiaolong“, benannt nach einem<br />

mystischen Seedrachen, im Pazifik zum<br />

ersten Mal tiefer als 7000 Meter.<br />

Im Pazifik droht ein Machtkampf, und<br />

das Wettrennen um die Schätze in der Tiefe<br />

ist dort längst eröffnet. Hier könnte das<br />

Grafik: Eric Tscherne/Rebrush, Quelle: BGR (Seiten 78 bis 79); Foto: BGR<br />

80 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Illustration: BGR/Aker Wirth GmbH; Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz (Autoren)<br />

Gedrängel um die besten Abbaugebiete besonders<br />

riskant werden, weil sich die USA<br />

als wichtigster Spieler der Region bisher<br />

noch nicht eingeschaltet haben. Da die Supermacht<br />

die internationale Seerechtskonvention<br />

nie unterzeichnet hat, konnte sie<br />

bisher von der ISA auch kein Explorationsgebiet<br />

erhalten. Doch nun pocht Amerika<br />

verstärkt auf seine Hegemonie im Pazifik.<br />

US-Präsident Barack Obama hat das „pazifische<br />

Jahrhundert“ ausgerufen, und das<br />

Pentagon kündigte Anfang Juni an, künftig<br />

den Großteil der US-Flotte im Pazifik<br />

zu stationieren.<br />

Noch geht es dabei um die strategische<br />

Kontrolle von Transport und militärischen<br />

Versorgungsrouten. Aber wenige Experten<br />

zweifeln daran, dass auch die USA aus<br />

Sorge um die Rohstoffversorgung des Landes<br />

mit Macht versuchen könnten, sich in<br />

die lukrativsten Gebiete im Pazifik zu drängen,<br />

zumal die vielversprechendsten Manganknollengebiete<br />

direkt vor der amerikanisch-mexikanischen<br />

Westküste liegen.<br />

Gleichzeitig macht China mobil. Der<br />

renommierte chinesische Politologe Pang<br />

Zhongying von der People’s University<br />

of China bezeichnet sein Land bereits als<br />

zweite „Hegemonialmacht“ neben den<br />

USA. Andere chinesische Strategen entwickeln<br />

bereits Planspiele für den Aufbau von<br />

bewaffneten Rohstoff- und Fischereiflotten.<br />

Der Bau mehrerer Flugzeugträger markiert<br />

die Rückkehr Chinas auf die Weltmeere –<br />

das erste Mal seit dem Ende der Kaiserflotte<br />

im 16. Jahrhundert beansprucht das<br />

Land wieder eine globale Präsenz. Dazu<br />

kommt, dass sich das Riesenreich im Pazifik<br />

durch geschickte Entwicklungskooperationen<br />

längst auch bei kleinen Inselstaaten<br />

den Zugriff auf Rohstoffgebiete sichert.<br />

Manche Vorkommen liegen in den exklusiven<br />

Sonderwirtschaftszonen dieser Staaten,<br />

andere fallen ihnen durch eine Uno-<br />

Sonderregelung aus den Lizenzgebieten in<br />

internationalen Gewässern zu.<br />

Die drohende Ressourcenknappheit<br />

birgt großes Konfliktpotenzial und bedroht<br />

die friedliche Erforschung der Rohstoffvorkommen<br />

im Pazifik zwischen Asien<br />

und Amerika. Im Streit um die vermuteten<br />

Gas- und Ölvorkommen im südchinesischen<br />

Meer sind bereits Schüsse zwischen<br />

China und anderen ostasiatischen<br />

Staaten gefallen.<br />

Wo Deutschland und die Europäer in<br />

diesem geopolitisch hochbrisanten Umfeld<br />

Entwürfe des deutschen Mittelständlers Aker Wirth für einen Manganknollenkollektor.<br />

Südkorea und Indien verfügen bereits über Prototypen tiefseetauglicher Abbausysteme<br />

bleiben, sorgt Industrie und Politik auf<br />

dem alten Kontinent gleichermaßen. Sie<br />

kommen bei der Erkundung des Pazifiks<br />

nicht nur spät. Sie sind auch militärisch<br />

und politisch zu schwach, um erfolgreich<br />

Einfluss auf die anderen Erdteile auszuüben.<br />

Bereits im Rennen um Rohstoffe<br />

in Afrika und anderen Kontinenten droht<br />

Europa zurückzufallen – zumal auch hier<br />

die Dominanz der nationalen Blickwinkel<br />

weiter ein gemeinsames Vorgehen der Europäer<br />

verhindert.<br />

SPD-Fraktionschef Steinmeier, der<br />

in seiner Amtszeit als Außenminister die<br />

„Energieaußenpolitik“ entdeckt und strategische<br />

Interessen Deutschlands pointiert<br />

formuliert hat, hält sogar die Gefahr<br />

von Rohstoffkriegen für real. Das moderne<br />

China wolle zwar die Fehler des wilhelminischen<br />

Reiches vermeiden und nicht zu<br />

aggressiv auftreten. Aber es genüge nicht,<br />

„ein etwas klügerer Wilhelm II zu sein“.<br />

Der Druck auf die chinesische Regierung,<br />

die eigene Wachstumsmaschine mit der<br />

Zufuhr von immer mehr Rohstoffen zu<br />

schmieren, ist enorm. „Wer blutige Konflikte<br />

wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg<br />

vermeiden will, muss den Weg internationaler<br />

Kooperation gehen“, sagt<br />

Steinmeier. Das sieht Kanzlerin Merkel<br />

ähnlich, aber ihr Satz, dass Deutschland<br />

künftig um Rohstoffe „kämpfen“ müsse,<br />

zeigt, dass im Kanzleramt auch weniger<br />

kooperative Entwicklungen für möglich<br />

erachtet werden.<br />

Ein künftiger Rohstoffkonflikt gehört<br />

deshalb zu den Szenarien, auf die sich die<br />

deutsche Politik einstellen muss. Umso<br />

mehr erhalten Investitionen in neue Recycling-Technologien<br />

für kritische Rohstoffe,<br />

wie sie etwa am Helmholtz-Zentrum im<br />

sächsischen Freiberg erfolgen, eine geound<br />

verteidigungspolitische Bedeutung. Je<br />

geringer die Abhängigkeit von Rohstofflieferungen<br />

aus sensiblen, umstrittenen Regionen<br />

der Welt ist, desto stabiler kann die<br />

deutsche Wirtschaft funktionieren.<br />

Denn sollte in nicht allzu ferner Zukunft<br />

der Kapitän eines deutschen Rohstoff-Frachters<br />

nach Berlin melden müssen,<br />

dass U‐Boote einer unbekannten Macht<br />

die Fördermaschinen im deutschen Lizenzgebiet<br />

zerstört haben, stünde die deutsche<br />

Politik vor ganz neuen sicherheitspolitischen<br />

Fragen.<br />

Andreas Rinke<br />

(rechts), Chefkorrespondent<br />

der Nachrichtenagentur<br />

Reuters, und der Politikund<br />

Wissenschaftsjournalist<br />

Christian<br />

Schwägerl haben<br />

im April bei C. Bertelsmann das Buch<br />

„11 drohende Kriege“ veröffentlicht. Darin<br />

entwickeln sie Szenarien künftiger Konflikte<br />

um Technologien, Rohstoffe und Nahrung<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 81


Redaktionsgespräch<br />

Besuchen Sie uns in Berlin und<br />

kommen Sie mit den Redakteuren<br />

von <strong>Cicero</strong> ins Gespräch. Wir<br />

laden Sie ein zu einem Blick hinter<br />

die Kulissen und sind gespannt auf<br />

Ihre Meinung, Anregungen oder<br />

Kritik zu <strong>Cicero</strong>. Bitte vormerken:<br />

19. oder 26.10. 2012, 16 Uhr. Jeweils<br />

mit anschließendem Abendessen.<br />

Frühschoppen<br />

Treffen Sie Hartmut Palmer, den<br />

politischen Chefkorrespondenten<br />

von <strong>Cicero</strong>, in der berühmtesten<br />

Frühstückskantine der Republik.<br />

Im „Einstein Unter den Linden“<br />

erklärt er Ihnen, wer an welchem<br />

Tisch sitzt und warum politische<br />

Hintergrundgespräche hier gerne<br />

in aller Offenheit geführt werden.<br />

Danke, liebe<br />

Als Leser kennen Sie uns schon – höchste <strong>Zeit</strong>, dass wir uns<br />

jetzt persönlich kennenlernen. Hier zehn Vorschläge für Sie.<br />

Anglerglück<br />

Seine Freizeit verbringt Christoph<br />

Schwennicke, Chefredakteur von<br />

<strong>Cicero</strong>, am liebsten beim Fischen<br />

am Halensee oder an der Spree.<br />

Fachsimpeln Sie bei einem gemeinsamen<br />

Angelausflug mit ihm<br />

über die besten Köder und die<br />

dicksten Fische – am Wasser und<br />

in der Politik.<br />

Redaktionskonferenz<br />

Dienstags um 10 Uhr – einmal in<br />

der Woche trifft sich die <strong>Cicero</strong>-<br />

Redaktion zur großen Themenkonferenz.<br />

Nehmen Sie daran<br />

teil und schlagen Sie uns Ihre<br />

Themen und Geschichten für die<br />

kommenden Ausgaben vor. Bitte<br />

vormerken: 18. oder 25. 9. 2012.<br />

Berliner Republik<br />

Treffen Sie Michael Naumann,<br />

den ehemaligen Kulturstaatsminister<br />

und jetzigen Vorsitzenden<br />

des Publizistischen Beirats von<br />

<strong>Cicero</strong>. Auf verschlungenen<br />

Wegen führt er Sie durch das<br />

Reichstagsgebäude und erzählt<br />

Ihnen seine schönsten Anekdoten<br />

aus Politik und Journalismus.<br />

100 Ausgaben <strong>Cicero</strong> – ein Grund zum Feiern!<br />

Zu unserem Jubiläum möchten wir uns persönlich bei Ihnen bedanken. Wählen Sie aus,<br />

wen Sie treffen möchten, und schreiben Sie uns eine E-Mail oder Postkarte:<br />

Mark Siegmann<br />

<strong>Cicero</strong>-Leserservice<br />

Friedrichstraße 140<br />

10117 Berlin<br />

E-Mail: 100@cicero.de<br />

www.cicero.de/100


Titelkunst<br />

Die Titelbilder von <strong>Cicero</strong> sind<br />

preisgekrönt. Erleben Sie den<br />

Mann hinter den Werken bei<br />

der Arbeit. Schauen Sie Wieslaw<br />

Smetek über die Schulter, wenn<br />

in seinem Atelier in Hamburg ein<br />

neues Cover unseres Magazins<br />

entsteht.<br />

Leser!<br />

Foto: Harald Hoffmann/Deutsche Grammophon<br />

Musikgenuss<br />

Erleben Sie Daniel Hope am<br />

12. 8. 2012 während der Festspiele<br />

Mecklenburg-Vorpommern bei<br />

der Probe, auf der Bühne und<br />

lernen Sie den Star-Geiger und<br />

<strong>Cicero</strong>-Kolumnisten („Benotet“)<br />

auf der Terrasse des Gutshauses<br />

Stolpe bei einer Tasse Kaffee<br />

persönlich kennen.<br />

Foto: Tobias Bohm<br />

Foto: Paul Ripke<br />

Privatlesung<br />

Gewinnen Sie eine private Lesung<br />

der Schriftstellerin und Literaturen-<br />

Autorin Felicitas Hoppe. Die<br />

Büchner-Preisträgerin 2012 liest<br />

für Sie und Ihre besten Freunde<br />

in einer Buchhandlung Ihres<br />

Vertrauens. Ob aus „Picknick der<br />

Friseure“, „Pigafetta“ oder „Hoppe“,<br />

das entscheiden Sie.<br />

Foyergespräch<br />

Diskutieren Sie am 23. 9. 2012<br />

mit Harald Schmidt über „Die<br />

Zukunft des Fernsehens“ – oder<br />

am 2. 12. 2012 mit Peer Steinbrück<br />

über das Thema „Europa neu<br />

erzählen“. Anlässlich des <strong>Cicero</strong>-<br />

Foyergesprächs im Berliner Ensemble,<br />

moderiert von Alexander<br />

Marguier und Frank A. Meyer.<br />

Küchenkabinett<br />

Lernen Sie die <strong>Cicero</strong>-Kolumnisten<br />

Julius Grützke und Thomas Platt<br />

in ihrem Lieblingsrestaurant<br />

„Horvath“ in Berlin kennen. Nach<br />

dem Menü erwartet Sie hier der<br />

Koch des Jahres 2011, Sebastian<br />

Frank, in seiner Küche zu einem<br />

Gespräch über Genuss und<br />

Politik.<br />

Foto: Daniel Biskup


| K a p i t a l | G r o S S p r o j e k t e<br />

„Da stimmt etwas nicht<br />

in unserem System“<br />

Der Städteplaner Albert Speer über das Berliner Flughafen-Debakel, die Pannen von<br />

„Stuttgart 21“ – und über seine Vision für die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar<br />

H<br />

err Professor Speer, Sie sind ein<br />

international gefragter Städteplaner<br />

und kommen für Ihre<br />

Projekte viel in der Welt herum. Einmal<br />

ganz allgemein gefragt: Sind sich die<br />

Deutschen des Ausmaßes an Globalisierung<br />

überhaupt richtig bewusst?<br />

Ganz ehrlich: nein. Ich habe nicht den<br />

Eindruck, dass wir die Rolle in der Welt,<br />

die wir mit unserem Know-how, mit<br />

unserem Wissen, mit unserer Kompetenz<br />

spielen könnten, auch tatsächlich<br />

wahrnehmen.<br />

Woran liegt das?<br />

Das liegt zum einen daran, dass wir es in<br />

der Vergangenheit überhaupt nicht nötig<br />

hatten, im Ausland zu arbeiten, und darin<br />

auch keine Tradition haben – anders<br />

als zum Beispiel die Niederländer<br />

oder die Briten. Das hat auch damit zu<br />

tun, dass Deutschland nie Kolonien besaß.<br />

Dann kommen noch die sprachlichen<br />

Verständigungsschwierigkeiten dazu.<br />

Und zum Dritten hatten wir immer genügend<br />

in Deutschland zu tun. Aus diesem<br />

Grund ist unsere Rolle in der Welt<br />

immer noch unterentwickelt.<br />

Immerhin ist Deutschland<br />

Exportweltmeister …<br />

Das ist richtig, aber viele unserer Ideen,<br />

Entwicklungen und Vorstellungen kommen<br />

eben immer noch in anderen<br />

Albert Speer, Jahrgang 1934, ist der Gründer des Frankfurter Architektur- und<br />

Stadtplanungsbüros „Albert Speer & Partner“. Das Abitur machte er auf dem<br />

zweiten Bildungsweg nach einer Schreinerlehre, um dann Architektur in<br />

München zu studieren. Er ist der Sohn von Hitlers Generalbauinspektor und<br />

späterem Reichsminister für Bewaffnung und Munition gleichen Namens<br />

Ländern zur Serienreife. Wir sind da<br />

nicht gut genug aufgestellt. Wir sind zu<br />

provinziell und zu langsam.<br />

Für Katar hat Ihr Büro die Planungen<br />

für die Fußball-WM 2022 gemacht und<br />

damit sogar den Zuschlag bekommen; in<br />

China entstehen unter Ihrer Regie ganze<br />

neue Städte. In Deutschland dagegen<br />

kommt es wegen des geplanten Umbaus<br />

des Stuttgarter Hauptbahnhofs zu bürgerkriegsähnlichen<br />

Zuständen. Ist unsere<br />

Gesellschaft vielleicht ein bisschen zu<br />

wohlstandsverwöhnt geworden?<br />

Die Frage kann man sich durchaus stellen.<br />

Stuttgart 21 ist für mich allerdings<br />

ein Sonderfall, den man in die allgemeine<br />

Entwicklung großer städtebaulicher<br />

Projekte eigentlich nicht einordnen<br />

kann, weil der lange Planungszeitraum<br />

von mehr als 15 Jahren nicht in Fehlplanungen<br />

begründet ist. Sondern darin,<br />

dass die Auftraggeber und die Politik<br />

über Jahre hinweg das Projekt gar nicht<br />

mehr wollten. In dieser <strong>Zeit</strong> ist dann<br />

überhaupt nichts passiert. Das ist natürlich<br />

für die Umsetzung eine Katastrophe.<br />

Ich bin der Überzeugung, dass große Infrastruktur-<br />

und Architekturvorhaben einen<br />

fest umrissenen <strong>Zeit</strong>rahmen brauchen.<br />

Wenn es innerhalb von sagen wir<br />

mal fünf Jahren nicht gelingen sollte, mit<br />

dem Bau überhaupt zu beginnen, sollte<br />

man ein Großprojekt einstellen und eine<br />

Generation warten.<br />

Das heißt, Stuttgart 21 wäre nicht wegen<br />

des Widerstands der Bürger, sondern<br />

wegen des falschen politischen Managements<br />

beinahe gescheitert?<br />

Foto: Bernd Roselieb/Visum<br />

84 <strong>Cicero</strong> 8.2012


2022 in Katar: So könnte das Al-Gharafa-Stadion in Doha nach Plänen von Speers Büro aussehen<br />

Visualisierung: HHVISION, Köln; © AS&P - Albert Speer und Partner GmbH<br />

Am Anfang der Planungen gab es für Stuttgart<br />

21 überhaupt kein Akzeptanzproblem.<br />

Was dann aber folgte, waren Managementprobleme<br />

der Politik und der öffentlichen<br />

Verwaltung mit den Genehmigungsverfahren<br />

und allem, was daran hängt. Ich bin<br />

der Überzeugung, dass wir auch da unsere<br />

Kompetenzen nicht ausspielen.<br />

Was müsste also verbessert werden?<br />

Das ist von Projekt zu Projekt verschieden,<br />

weil jedes individuelle Organisationsstrukturen<br />

erfordert. Unser Büro ist<br />

immer bemüht, für eine ganz bestimmte<br />

<strong>Zeit</strong>spanne die Zuständigkeiten und die<br />

Interessen zu bündeln und somit schnell<br />

und schlagkräftig agieren zu können. Wir<br />

brauchen eine Organisationsstruktur auf<br />

<strong>Zeit</strong>. Der Bau der Allianz-Arena in München<br />

ist ein Beispiel dafür.<br />

Aber es kommt doch vor allem auch darauf<br />

an, der Bevölkerung das Erfordernis eines<br />

solchen Großprojekts zu vermitteln …<br />

Das ist selbstverständlich ein ganz großes<br />

Thema, das von vielen Fachleuten<br />

immer noch weit unterschätzt wird.<br />

Im Fall der Allianz-Arena haben wir<br />

der Stadt München dazu geraten, selbst<br />

einen Bürger entscheid zu organisieren<br />

und nicht zu warten, bis Bürgerinitiativen<br />

auftreten. Bei diesem Entscheid haben<br />

dann sogar mehr Bürger abgestimmt<br />

als vor kurzem, als es um die dritte Landebahn<br />

des Münchener Flughafens ging –<br />

und über 60 Prozent waren dafür.<br />

Das jüngste Debakel eines deutschen<br />

Großprojekts ist der Flughafen Berlin-<br />

Brandenburg, dessen Eröffnung mindestens<br />

auf März verschoben wurde. Jetzt<br />

schieben sich das Land Brandenburg, die<br />

Stadt Berlin und der Bund als Anteilseigner<br />

gegenseitig den Schwarzen Peter<br />

zu, von den beteiligten Architektur- und<br />

Ingenieurbüros einmal ganz abgesehen.<br />

Sind in der föderalen Bundesrepublik die<br />

Kompetenzen womöglich zu zersplittert,<br />

um ein Planungsvorhaben dieser Dimension<br />

vernünftig zu stemmen?<br />

Einen großen Flughafen zu bauen, ist<br />

eine sehr komplexe und anspruchsvolle<br />

Aufgabe. Wenn versucht wird, so etwas in<br />

den gewöhnlichen Genehmigungs- und<br />

Verwaltungsmühlen durchzusetzen, wundere<br />

ich mich überhaupt nicht, dass es<br />

da zu Kompetenzgerangel kommt. Es<br />

kann doch nicht sein, dass ein Beamter<br />

des Landkreises Dahme-Spreewald verantwortlich<br />

ist für das gesamte Brandsicherungssystem.<br />

Genau in solchen Fällen<br />

braucht es eine Kompetenzbündelung,<br />

mit der sich klare Entscheidungen treffen<br />

lassen. Wir haben vor Jahren in Berlin<br />

die Wissenschaftsstadt Adlershof mitgeplant,<br />

aus dieser <strong>Zeit</strong> kenne ich die Berliner<br />

Besprechungsgewohnheiten ganz gut.<br />

Wenn in Frankfurt eine Besprechung<br />

stattfindet, sind daran vielleicht zehn<br />

oder 15 Leute beteiligt; in Berlin sind es<br />

ungefähr 40. Und ich glaube, daran hat<br />

sich bis heute nicht viel geändert.<br />

Das heißt, die rechtlichen Grundlagen in<br />

Deutschland sind kein Hindernis, sondern<br />

eher die Verwaltung?<br />

Ich würde schon sagen, dass auch das<br />

Planungs- und Baurecht nicht mehr den<br />

gesellschaftlichen Anforderungen von<br />

heute entspricht. Da besteht ein enormer<br />

Handlungsbedarf.<br />

Inwiefern?<br />

Das ist sehr komplex. Aber um nur ein<br />

Beispiel zu nennen: Wenn die Bundesregierung<br />

jetzt stolz darauf ist, dass sie eine<br />

Novelle des Baugesetzes organisiert hat,<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 85


| K a p i t a l | g r o s s p r o j e k t e<br />

wonach in reinen Wohngebieten Kindergärten<br />

„bis zu einer gewissen Größenordnung“<br />

gestattet werden, dann stimmt<br />

doch das ganze System nicht.<br />

Heute wird ja viel darüber sinniert, ob<br />

westliche Demokratien überhaupt noch in<br />

der Lage sind, mit den schnellen Entscheidungswegen<br />

in Ländern wie China mitzuhalten.<br />

Haben Sie manchmal den Eindruck,<br />

dass wir mit unserem politischen System<br />

Gefahr laufen, wirtschaftlich ins Hintertreffen<br />

zu geraten?<br />

Nein. Wenn es darauf ankommt, sind wir<br />

ja in der Lage, auch große Dinge zu vollbringen.<br />

Aber in der Demokratie sind<br />

Großprojekte eben nur dann fristgerecht<br />

durchsetzbar, wenn ein konkreter Endtermin<br />

feststeht. Wir haben fünf Jahre<br />

lang die Weltausstellung in Hannover<br />

geplant; da war klar, dass an einem bestimmten<br />

Tag alles fertig sein muss, weil<br />

die Ausstellung eben beginnt. Wir können<br />

es also, aber wir leisten uns oft Verzögerungen.<br />

Dann kommt zum Beispiel<br />

ein Genehmigungsverfahren vier Wochen<br />

lang zum Erliegen, nur weil der zuständige<br />

Beamte in Urlaub ist. Das geht übrigens<br />

fast immer auf Kosten der Steuerzahler.<br />

Die Elbphilharmonie in Hamburg<br />

ist ein schönes Beispiel dafür. Es fehlt an<br />

der Disziplin. Und oft auch am Willen,<br />

nach Alternativen zu suchen.<br />

Ist die Elbphilharmonie eine Fehlplanung?<br />

Auf einen früheren Speicher eine Philharmonie<br />

draufzusetzen, ist komplex genug.<br />

Aber darüber noch einmal ein großes Hotel<br />

zu bauen, das halte ich für ausgemachten<br />

Schwachsinn. Die Philharmonie wäre<br />

längst fertig, wenn man das Hotel nebendran<br />

gebaut hätte. Das technisch Machbare<br />

verführt Politiker und Planer dazu,<br />

einfachere Lösungen zu ignorieren.<br />

Ist es für Sie einfacher, in China oder in<br />

Ländern des Mittleren Ostens zu arbeiten<br />

als in Deutschland?<br />

Überhaupt nicht. Es ist anders. Und auch<br />

in solchen Ländern geht es nicht unbedingt<br />

einfacher als in Deutschland. In<br />

China haben wir uns erst einmal sehr<br />

daran gewöhnen müssen, dass es dort<br />

5000 Jahre alte Traditionen gibt, die bis<br />

heute durchschlagen. Das Denken und<br />

die Kultur des Miteinander-Redens sind<br />

völlig anders als bei uns.<br />

Eröffnung verschoben: Der Flughafen Berlin-Brandenburg kann<br />

frühestens im März 2013 seinen Betrieb aufnehmen<br />

Als gelegentlicher China-Besucher könnte<br />

man den Eindruck gewinnen, dass zum<br />

Beispiel der Denkmalschutz dort keine<br />

besonders große Rolle spielt.<br />

Das tut er mittlerweile sogar sehr. Da hat<br />

längst ein großes Umdenken stattgefunden.<br />

Trotzdem geht immer noch sehr viel<br />

kaputt. Aber die Chinesen sind ja auch<br />

clevere Geschäftsleute, die wissen, dass<br />

man mit Denkmalschutz und alter Bausubstanz<br />

viel Geld verdienen kann.<br />

Es ist also nicht so, dass in China irgendwelche<br />

Politiker etwas beschließen, und<br />

am nächsten Tag rollen die Bagger?<br />

Überhaupt nicht. Auch in China gibt es<br />

bei großen Bau- und Infrastrukturprojekten<br />

einen erheblichen Diskussionsprozess,<br />

der auch gegenläufig ist – von der<br />

Stadtebene zur Staatsebene und umgekehrt.<br />

Aber daran sind wir als Planungsbüro<br />

nicht beteiligt.<br />

Wie denken Ihre chinesischen Geschäftspartner<br />

heute über Deutschland?<br />

Mein Eindruck ist, dass nicht nur in<br />

China, sondern auch in vielen anderen<br />

Staaten Deutschland immer noch mit das<br />

höchste Ansehen in der Welt hat. Leider<br />

nutzen wir dieses Ansehen in Deutschland<br />

nicht genug.<br />

Umgekehrt verbinden viele Deutsche<br />

mit China immer noch billige<br />

Massenproduktion.<br />

Was ein Fehler ist. Man muss sich doch<br />

nur einmal anschauen, welche riesigen<br />

Anstrengungen die Chinesen etwa auf<br />

dem Gebiet der Energieeffizienz geleistet<br />

haben. Auch bei den alternativen Energien<br />

sind sie inzwischen dabei, uns zu<br />

überrunden. Das ist dort ein sehr wichtiges<br />

Thema. Die Chinesen wollen sich auf<br />

diesem Gebiet auch deshalb keinen internationalen<br />

Regeln unterwerfen, weil<br />

sie der Überzeugung sind, es besser machen<br />

zu können. Solche Themen werden<br />

in Deutschland kaum gewürdigt. Überhaupt<br />

wird China in den deutschen Medien<br />

immer schlechter dargestellt, als es<br />

der Realität entspricht.<br />

Sie arbeiten ja auch viel für Regierungen,<br />

die demokratisch nicht legitimiert sind.<br />

Foto: Picture Alliance/ZB/euroluftbild.de<br />

86 <strong>Cicero</strong> 8.2012


„Das<br />

technisch<br />

Machbare<br />

verführt<br />

Politiker<br />

und Planer<br />

dazu,<br />

einfachere<br />

Lösungen zu<br />

ignorieren“<br />

Haben Sie da manchmal ein ungutes<br />

Gefühl?<br />

Die Frage stellt sich auf der Ebene nicht,<br />

auf der unser Büro in solchen Ländern<br />

arbeitet. Denn wir haben mit der Politik<br />

wenig zu tun. Aber grundsätzlich finde<br />

ich schon, dass die Frage berechtigt ist.<br />

Wer wie ich seit 40 Jahren auch in Saudi-<br />

Arabien arbeitet, muss sich einfach klarmachen,<br />

dass das eine andere Welt ist,<br />

die aus dem Beduinentum entstammt.<br />

Dort kann übrigens jeder Bürger zu einer<br />

Audienz beim König kommen und findet<br />

Gehör. Man kann nicht alles an unserer<br />

doch sehr jungen Demokratie messen.<br />

Ich bin aber überzeugt davon, dass wir in<br />

jedem Land arbeiten können sollten, mit<br />

dem die Bundesrepublik diplomatische<br />

Beziehungen unterhält.<br />

Im Handelsblatt war unlängst zu lesen,<br />

dass die ständigen Verweise aus Deutschland<br />

bezüglich Menschenrechten in den<br />

betroffenen Ländern zu einer Benachteiligung<br />

deutscher Firmen führten. Haben Sie<br />

diese Erfahrung auch gemacht?<br />

Nein.<br />

Die Entscheidung, eine Fußball-Weltmeisterschaft<br />

im Wüstenstaat Katar abzuhalten,<br />

wurde hierzulande heftig kritisiert. Sie<br />

selbst waren ja maßgeblich daran beteiligt,<br />

dass das Emirat den Zuschlag dafür erhielt.<br />

Hat es Sie nicht selbst ein bisschen<br />

erstaunt, dass es geklappt hat?<br />

Ich war schon überrascht. Ich saß zu<br />

Hause vor dem Fernseher und habe die<br />

Übertragung der Endausscheidung gesehen.<br />

Scheich Mohammed, einer der<br />

Söhne des Emirs von Katar und Vorsitzender<br />

des Bewerbungskomitees, rief hinterher<br />

bei mir an und sagte: „I love my<br />

Germans!“<br />

Was erwidern Sie denn Kritikern wie Franz<br />

Beckenbauer, der eine WM in Katar schon<br />

aufgrund der dortigen Klimaverhältnisse<br />

ablehnt?<br />

Wir haben nachgewiesen, dass es trotz der<br />

Hitze mit hohem technischem Aufwand<br />

und unter Verwendung von Solarenergie<br />

möglich ist, dort eine Fußball-WM zu<br />

veranstalten. Dass es ökologisch sinnvoller<br />

wäre, den Termin in den Herbst oder<br />

Winter zu verschieben, ist eindeutig. Aber<br />

es geht auch so. Ich bin zudem der Überzeugung,<br />

dass diese Region ein Recht<br />

darauf hat, trotz der klimatisch schwierigen<br />

Bedingungen ein solches Großereignis<br />

durchzuführen.<br />

Franz Beckenbauer hat den Katarern mehr<br />

oder weniger offen unterstellt, die WM<br />

gekauft zu haben …<br />

Da liegt er völlig verkehrt. Wir haben<br />

nachgewiesen, dass Katar in der Lage ist,<br />

die WM zu stemmen. Und natürlich gehört<br />

Lobbying immer dazu, um den Zuschlag<br />

zu erhalten; das machen alle anderen<br />

Bewerber genauso. Aber dass die<br />

Katarer die Fußball‐WM „gekauft“ haben,<br />

halte ich für völlig ausgeschlossen.<br />

Werden Sie im Ausland eigentlich oft<br />

auf Ihren berühmt-berüchtigten Vater<br />

angesprochen?<br />

Überhaupt nicht. Das ist nur in Deutschland<br />

Thema. Ich gebe aber offen zu, dass<br />

das Interesse an meiner Person mit meinem<br />

Vater zusammenhängt. So ist es halt.<br />

Gibt es in anderen Ländern eine Faszination<br />

für Großprojekte, die wir in Deutschland<br />

auch aufgrund der Erfahrungen aus<br />

der Nazizeit verloren haben?<br />

Den Eindruck habe ich nicht. Wir haben<br />

in Deutschland wegen der schrumpfenden<br />

Bevölkerung schlicht keinen Bedarf mehr,<br />

zum Beispiel ganze Stadtviertel neu zu planen.<br />

Das ist in einem Land wie Ägypten<br />

ganz anders, wo wir für Alexandria einen<br />

Masterplan bis zum Jahr 2033 erstellen –<br />

die Stadt wird bis dahin von 3,5 Millionen<br />

auf 5,5 Millionen Einwohner gewachsen<br />

sein. Da braucht es einfach neue<br />

Städte und eine neue Infrastruktur.<br />

Sie haben einmal gesagt, Ihr persönliches<br />

Motto laute: „Das Leben ist Risiko.“ Ist<br />

uns Deutschen die Bereitschaft zum<br />

Risiko abhandengekommen?<br />

Generell kann man das nicht sagen. Aber<br />

um Risiken einzugehen, braucht es ein<br />

erhebliches Maß an Eigeninitiative.<br />

Kommen Sie von Ihren vielen Reisen gern<br />

nach Deutschland zurück?<br />

Ja. Wir leben hier auf einer Wohlstandsinsel<br />

von ungeheuren Ausmaßen – von<br />

der Infrastruktur bis hin zur Kultur. Um<br />

das alles zu erhalten, müssen wir uns zukünftig<br />

mehr anstrengen.<br />

Das Gespräch führte Alexander Marguier<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 87


| K a p i t a l | G o t t e s t e i l c h e n<br />

Urknallköpfe<br />

Fast ein halbes Jahrhundert hat die Suche nach dem Higgs-Boson gedauert.<br />

Die Fotoreportage von Peter Ginter zeigt die Menschen hinter dem aufwendigsten<br />

wissenschaftlichen Experiment der Menschheitsgeschichte am Cern in Genf<br />

88 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Der Zen-Buddhist<br />

Vincent Vuillemin ist seit<br />

2010 der Ombudsmann<br />

am Cern, vorher<br />

leitete der Physiker<br />

die Technikabteilung<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 89


90 <strong>Cicero</strong> 8.2012


G o t t e s t e i l c h e n | K a p i t a l |<br />

Urgestein am<br />

Cern: John Ellis<br />

ist seit 1973 in<br />

Genf und leitete<br />

jahrelang die<br />

Theorie-Abteilung<br />

Zusammenbau des<br />

inneren Detektors<br />

der Atlas‐Messstation<br />

im Reinraum<br />

Der CMS-Detektor, eine von vier Messstationen entlang des<br />

27 Kilometer langen LHC-Rings, wiegt mehrere Tausend Tonnen<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 91


| K a p i t a l | G o t t e s t e i l c h e n<br />

Helm ab zum<br />

Gebet: Mehr als<br />

10 000 Wissenschaftler<br />

verschiedenster<br />

Religionen<br />

aus aller Welt<br />

arbeiten am Cern<br />

friedlich zusammen<br />

Stringtheorie in der<br />

Praxis: Pippa Wells<br />

(links), Projektleiterin<br />

beim LHC, und<br />

ihre Kolleginnen<br />

treten regelmäßig<br />

als Streicherensemble<br />

auf<br />

Bewegliches Teilchen: Der Physikerin Helenka Przysiężniak kommen<br />

die besten Einfälle beim Klettern, unter ihr Hunderte Meter Leere<br />

92 <strong>Cicero</strong> 8.2012


8.2012 <strong>Cicero</strong> 93


94 <strong>Cicero</strong> 8.2012


G o t t e s t e i l c h e n | K a p i t a l |<br />

Wartung des Beschleunigers:<br />

Die Teilchen fliegen im<br />

Vakuum bei -271,3 Grad<br />

Celsius durch die schmale<br />

Röhre in der Mitte des Rohrs<br />

W<br />

issenschaft ist wie Sex: Manchmal<br />

kommt etwas Sinnvolles dabei<br />

raus, das ist aber nicht der<br />

Grund, warum wir es tun.“ Diese vorbildliche<br />

Definition für Grundlagenforschung<br />

stammt aus der Feder des amerikanischen<br />

Physikers Richard P. Feynman, der 1965<br />

für seine Arbeiten zur Quantenfeldtheorie<br />

den Physiknobelpreis erhielt. Je nachdem,<br />

wie man den Satz liest, dient er entweder<br />

als Beleg des Vorurteils des vergeistigten,<br />

eindimensionalen, beziehungsunfähigen<br />

Wissenschaftlers oder als das genaue Gegenteil.<br />

Denn um Wissenschaft und Sex<br />

zu vergleichen, muss man schließlich beides<br />

mal gemacht haben.<br />

Das obige Zitat ist dem Fotobildband<br />

„LHC“ von Peter Ginter vorangestellt. Der<br />

Fotograf hat 15 Jahre lang den Aufbau des<br />

Large Hadron Collider (LHC) dokumentiert,<br />

vor allem aber auch die Menschen<br />

hinter dem leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger<br />

am Cern in Genf porträtiert.<br />

Anfang Juli fand dort die vorläufige Krönung<br />

der Arbeit von mehr als 10 000 Physikern<br />

und Ingenieuren aus aller Welt statt,<br />

als erstmals im Experiment die Existenz des<br />

Higgs-Boson nachgewiesen werden konnte,<br />

dem letzten Baustein in der Theorie der<br />

Elementarteilchen.<br />

Weniger bekannt ist, dass es beim Cern<br />

bis Ende Juli noch eine weitere Einheit mit<br />

der Abkürzung LHC gab, die Band Les<br />

Horribles Cernettes, die kürzlich in Genf<br />

ihr Abschiedskonzert gab. Gegründet<br />

wurde die Band vor 22 Jahren von einer<br />

Sekretärin, die über ihre unbefriedigende<br />

Beziehung zu einem Cern-Physiker sang:<br />

„Nie rufst du an, nie triffst du dich mit mir.<br />

Du gehst nicht mal mit anderen Mädchen<br />

aus, du liebst nur deinen Beschleuniger.“<br />

Allgemeine Schlüsse lassen sich aus<br />

dem Song allerdings nicht ziehen, weil<br />

es am Cern viele Forscher gibt, die neben<br />

ihrer Expertise in der Teilchenphysik<br />

über weitere erstaunliche Talente verfügen.<br />

Die Britin Pippa Wells, Projektleiterin<br />

beim LHC, ist ambitionierte Geigerin.<br />

„Als gewissenhafter Amateur kann man in<br />

der Musik ein ordentliches Niveau erreichen,<br />

in der Teilchenphysik nicht“, begründet<br />

Wells ihren Entschluss, sich beruflich<br />

gegen die Musik und für die Welt<br />

der Kleinstelemente entschieden zu haben.<br />

Wie gewissenhaft die Britin aber auch ihr<br />

Geigenspiel weiter vorangetrieben hat,<br />

zeigt die Tatsache, dass sie nebenher beim<br />

Genfer Symphonieorchester die erste Geige<br />

spielt. Ihre kanadische Kollegin Helenka<br />

Przysiężniak, die sich in Genf mit Extradimensionen<br />

beschäftigt, läuft zur Ablenkung<br />

Marathons in etwas mehr als drei<br />

Stunden. Da die zweifache Mutter aus<br />

<strong>Zeit</strong>gründen nicht mehr so viel klettern<br />

und wandern gehen kann, hat sie die zeiteffizienteren<br />

intensiven Bergläufe für sich<br />

entdeckt.<br />

Vincent Vuillemin nutzt seine private<br />

intensive Beschäftigung mit dem Zen-<br />

Buddhis mus auch am Cern, wo der ehemalige<br />

Leiter der Technikabteilung inzwischen<br />

als Ombudsmann tätig ist, der Konflikte<br />

und Eifersüchteleien unter den Eliteforschern<br />

intern zu schlichten hilft.<br />

Es gibt aber am Cern auch die anderen<br />

Geschichten von Forschern, die nach<br />

mehreren Jahren den Genfer See nie gesehen<br />

haben und außerhalb ihrer Büros, in<br />

denen sie zwischen monströsen Papierbergen<br />

hausen, Entzugserscheinungen bekommen.<br />

Vor Jahren soll ein Physiker sogar mal<br />

an Skorbut erkrankt sein, weil er monatelang<br />

nichts Frisches gegessen hatte.<br />

Ob er Pate für das Lied von Les Horribles<br />

Cernettes stand, ist nicht bekannt.<br />

Letztlich haben auch die Bandmitglieder<br />

von ihren hyperintelligenten Forscherfreunden<br />

profitiert. Nach eigener Darstellung<br />

waren sie nämlich die erste Band mit<br />

eigener Homepage und einem Foto von ihnen<br />

im World Wide Web. Selbiges wurde<br />

nämlich auch Ende der achtziger Jahre<br />

von dem Cern-Mitarbeiter Tim Berners-<br />

Lee mehr oder weniger nebenher erfunden.<br />

Wenn ab und zu etwas so Sinnvolles dabei<br />

herauskommt, erübrigt sich jede Diskussion<br />

über den Sinn der Suche nach dem<br />

Higgs-Teilchen. Carlo Rubbia, italienischer<br />

Physiknobelpreisträger, sagte dazu kürzlich<br />

in der FAZ: „Der praktische Nutzen<br />

ist gleich null. Aber es gibt Dinge, die wichtig<br />

sind, weil sie unserem Wunsch entsprechen<br />

zu wissen, woher wir kommen, wohin<br />

wir gehen und woraus wir sind.“ til<br />

Der Bildband „ L H C “<br />

von Peter Ginter<br />

ist in der Edition<br />

Lammerhuber erschienen.<br />

Die Texte haben der<br />

Schriftsteller Franzobel<br />

und Cern-Generaldirektor<br />

Rolf-Dieter Heuer verfasst<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 95


| K a p i t a l | E u r o k r i s e<br />

Europas schmutziges<br />

kleines Geheimnis<br />

Das Unheil begann in Deutschland: Die Niedrigzinspolitik der EZB nach dem Dotcom-<br />

Crash half vor allem den Deutschen. Europas Peripherie hat sie ins Verderben gestürzt<br />

von Mark Dittli<br />

D<br />

ie Spanier sind faul. Die Portugiesen<br />

und Italiener sowieso.<br />

Und die Iren trinken hauptsächlich.<br />

Ihrem eigenen Schlendrian<br />

haben es diese Länder zu verdanken,<br />

dass ihre Staatsschulden heute untragbar<br />

hoch sind, sie ihre Wettbewerbsfähigkeit<br />

verloren haben und sie in der Krise<br />

stecken.<br />

Die Deutschen dagegen sind die erfolgreichen<br />

Exporteure. Global wettbewerbsfähig<br />

wie kaum eine andere Nation. Diesen<br />

Status haben sie sich selbst erschaffen,<br />

mit harten Strukturreformen im eigenen<br />

Arbeitsmarkt.<br />

Wenn die Welt doch bloß so einfach<br />

wäre.<br />

Leider ist alles etwas komplizierter.<br />

Die heutige Stärke Deutschlands und die<br />

Schwäche Spaniens, Irlands, Portugals und<br />

zum Teil auch Italiens ist eine direkte Folge<br />

der Einführung der Gemeinschaftswährung<br />

im Jahr 1999 sowie der Politik der<br />

Europäischen Zentralbank nach der Jahrtausendwende.<br />

Griechenland wird in der<br />

Aufzählung bewusst nicht aufgeführt, denn<br />

dort ist die Lage tatsächlich verbockt.<br />

Blenden wir also zurück, ins Jahr 2000:<br />

Deutschland war damals der kranke Mann<br />

Europas, der es kaum mehr zu schaffen<br />

schien, Wachstumsraten von mehr als<br />

2 Prozent zu erreichen. Das Platzen der<br />

Technologieblase im Frühjahr 2000 traf<br />

die Deutschen besonders hart: Der zuvor<br />

hochgejubelte Neue Markt in Frankfurt<br />

brach um 96 Prozent ein.<br />

Als Folge dieses Schocks fiel die deutsche<br />

Wirtschaft 2002 und 2003 in eine sich<br />

selbst verstärkende Abschwungphase. Es<br />

handelte sich dabei nämlich nicht um eine<br />

normale, harmlose Abkühlung, sondern<br />

Finanzierungssaldi Deutschland [in % des BIP]<br />

10<br />

5<br />

0<br />

-5<br />

-10<br />

-15<br />

-20<br />

92 94 96 98 00 02 04 06 08 10 [Jahr]<br />

Quelle: Nomura Research Institute<br />

Lohnkosten in den wichtigsten Ländern der Eurozone [2000=100]<br />

160<br />

150<br />

140<br />

130<br />

120<br />

110<br />

100<br />

Haushalte<br />

Außenhandel<br />

Unternehmen<br />

Staat<br />

Bilanzrezession<br />

Deutschland<br />

Irland<br />

Griechenland<br />

Spanien<br />

Frankreich<br />

Italien<br />

Portugal<br />

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010<br />

2011 [Jahr]<br />

Quelle: Eurostat<br />

96 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Grafiken: <strong>Cicero</strong> (Quelle: Eurostat); Foto: privat<br />

um eine Bilanzrezession. Ein Land kann in<br />

eine Bilanzrezession fallen, wenn es zuvor<br />

einen exzessiven privaten Schuldenaufbau<br />

durchlebt hat. Kippt dann die Stimmung<br />

und kühlt sich die Wirtschaft des Landes<br />

ab, setzt das „Sparparadox“ ein: Die privaten<br />

Haushalte oder die Unternehmen sind<br />

plötzlich mit zu hohen Schulden belastet<br />

und versuchen, sie abzubauen. Jeder agiert<br />

für sich rational; er erhöht seine Sparquote<br />

und zahlt Schulden zurück. Wenn das aber<br />

alle gleichzeitig tun, sackt die Nachfrage<br />

in der Volkswirtschaft in sich zusammen.<br />

Was damals in Deutschland geschah, hat<br />

Richard Koo, der Leiter des Nomura Research<br />

Institute in Tokio, in einer aktuellen<br />

Studie beschrieben (siehe Grafik „Finanzierungssaldi<br />

Deutschlands“).<br />

Die Kurven zeigen die Finanzierungssaldi<br />

der vier Nachfragesektoren in einer<br />

Volkswirtschaft (Haushalte, Unternehmen,<br />

Staat, Ausland). Speziell zu beachten sind<br />

die rote und die blaue Kurve. Sie zeigen,<br />

wie die privaten Haushalte und besonders<br />

die Unternehmen in Deutschland nach<br />

dem Schock von 2000 ihre Sparquote deutlich<br />

erhöhten – im Fall der Unternehmen<br />

von minus 5 Prozent auf plus 4 Prozent des<br />

Bruttoinlandsprodukts (BIP). Diese Bewegung<br />

entzog der deutschen Volkswirtschaft<br />

nach Berechnungen Koos zwischen 2000<br />

und 2005 eine aggregierte Nachfrage von<br />

12,6 Prozent des BIP.<br />

Deutschlands Inflationsrate fiel damals<br />

auf deutlich unter 1 Prozent, das Land<br />

drohte in die Deflation abzugleiten. Was<br />

Deutsche Handelsbilanz [in Mrd. € pro Monat]<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

-2<br />

-4<br />

95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12<br />

Eurozone US Asien<br />

Deutschlands<br />

Stärke ist die<br />

Schwäche der<br />

anderen<br />

tat die Europäische Zentralbank (EZB) dagegen?<br />

Sie riss die geldpolitischen Schleusen<br />

auf. Zwischen 2001 und 2003 senkte<br />

die Zentralbank den Leitzins von 4,75 Prozent<br />

auf ein Nachkriegstief von 2 Prozent<br />

und beließ den Satz dort.<br />

Diese Maßnahme rettete Deutschland.<br />

Und sie stürzte Irland, Spanien und Portugal<br />

ins Verderben. Deren Volkswirtschaften<br />

nämlich steckten nicht in einer Bilanzrezession,<br />

und die Niedrigzinspolitik der<br />

EZB ließ sie überhitzen. Spanien und Irland<br />

verzeichneten zwischen 2001 und<br />

2007 im Schnitt jährliche Konsumpreis-<br />

Inflationsraten von deutlich über 3 Prozent<br />

pro Jahr, während es in Deutschland weniger<br />

als 1,7 Prozent waren. Wie Richard<br />

Koo in seiner Studie nachweist, stiegen<br />

die Immobilienpreise in Spanien zwischen<br />

2000 und 2005 sogar um 107 Prozent, in<br />

Irland schossen sie um 76 Prozent in die<br />

Höhe. In Deutschland fielen sie dagegen<br />

um 8 Prozent.<br />

[Jahr]<br />

Quelle: Deutsche Bundesbank<br />

Und als direkte Konsequenz der divergierenden<br />

Inflationsraten begannen auch<br />

die Arbeitskosten auseinanderzuklaffen<br />

(siehe Grafik „Lohnkosten in den wichtigsten<br />

Ländern der Eurozone“). Es war in diesen<br />

verhängnisvollen Jahren zwischen 2000<br />

und 2005, als die internationale Wettbewerbsfähigkeit<br />

der europäischen Peripheriestaaten,<br />

ganz besonders Spaniens und Irlands,<br />

ruiniert wurde.<br />

Sie wurde geopfert, um Deutschland zu<br />

retten. Bezeichnenderweise argumentierten<br />

deutsche Ökonomen wie Hans-Werner<br />

Sinn und Axel Weber damals, einige Länder<br />

in Europa müssten höhere Inflationsraten<br />

erdulden, damit die EZB sicherstellen<br />

könne, dass kein Land – gemeint war in<br />

diesem Fall Deutschland – in eine Deflation<br />

abgleite. Weber kam in seinem Papier sogar<br />

zu dem Schluss, dass Inflationsdivergenz innerhalb<br />

der Eurozone kein Problem darstelle.<br />

Deutsche Politiker argumentieren<br />

heute oft und gerne, ihre Wirtschaft sei<br />

so wettbewerbsfähig, weil zwischen 2003<br />

und 2005 harte Reformen am Arbeits- und<br />

Dienstleistungsmarkt durchgesetzt wurden.<br />

Diese waren gewiss nötig, und Deutschland<br />

hat allen Grund, stolz darauf zu sein.<br />

Bloß, ist das wirklich die einzige Erklärung?<br />

Ein Blick auf den Saldo der deutschen<br />

Handelsbilanz (siehe Grafik) mit den Ländern<br />

der Eurozone, den USA und Asien:<br />

Nach der Einführung des Euro und der<br />

extrem lockeren Geldpolitik der EZB zwischen<br />

2001 und 2004 schwollen vor allem<br />

Deutschlands Handelsüberschüsse mit den<br />

anderen Euroländern an. Wäre Deutschland<br />

nach den eigenen Marktreformen tatsächlich<br />

weltweit wettbewerbsfähiger geworden,<br />

hätten auch die Überschüsse im<br />

Handel mit den USA und Asien steigen<br />

müssen. Das taten sie aber erst ab 2010.<br />

Nein, die Sache ist profaner: Deutschland<br />

fand zu neuer Stärke, weil es die Handelsüberschüsse<br />

mit den anderen Euroländern<br />

massiv erhöhen konnte. Deutschland<br />

wurde in Europa wettbewerbsfähiger, weil<br />

die Peripheriestaaten als Folge der EZB-Politik<br />

wettbewerbsunfähiger wurden.<br />

Das ist das kleine schmutzige Geheimnis<br />

der heutigen Eurokrise.<br />

Mark Dittli<br />

ist Chefredakteur der Schweizer<br />

<strong>Zeit</strong>ung Finanz und Wirtschaft<br />

und einer der Autoren des Blogs<br />

„Never mind the markets …“<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 97


| S a l o n<br />

Die Macht des Orakels<br />

Heiner Goebbels, der legendäre Experimentaltheater-Macher, leitet die Ruhrtriennale – und inszeniert John Cage<br />

von Barbara Burckhardt<br />

I<br />

m August wird er 60. Die weiße<br />

Haarpracht passt dazu, die Biografie<br />

nicht. Für sie hätten die meisten<br />

doppelt so viele Jahre gebraucht und<br />

wären jetzt einigermaßen erschöpft. Der<br />

Mann, der da gelassen in einem sachlich<br />

hellen Zimmer im Gelsenkirchener Wissenschaftspark<br />

sitzt, übt stattdessen mal wieder<br />

einen neuen Beruf aus. Heiner Goebbels,<br />

der Komponist, Theatermacher und Professor,<br />

ist für die nächsten drei Jahre Chef<br />

der Ruhrtriennale, jenes legendären Festivals,<br />

das die Industriedenkmäler des Ruhrgebiets<br />

in Plätze der Kunst verwandelt. Am<br />

17. August geht es los: mit dem Festival und<br />

dem neuen Lebensjahrzehnt.<br />

Das alte endete erfreulich: Im<br />

März erhielt Heiner Goebbels den mit<br />

300 000 Euro dotierten norwegischen Ibsen-Preis,<br />

der vor ihm an die Theatermacher<br />

Peter Brook, Ariane Mnouchkine<br />

und Jon Fosse ging. Goebbels, mit weichem<br />

pfälzischen Tonfall und so freundlich,<br />

als wolle er die scharfe Intellektualität<br />

des Avantgarde-Künstlers kaschieren,<br />

fragt: „Hatten Sie von dem Preis vorher<br />

schon mal gehört?“ Ehrlich gesagt: nein.<br />

Der Maestro nickt.<br />

In den siebziger Jahren studierte Goebbels<br />

in Frankfurt Musik, aber auch Soziologie,<br />

das Lieblingsfach der politisch bewegten<br />

Nachachtundsechziger. Er lebte im<br />

selben besetzten Häuserblock wie Joschka<br />

Fischer, und sein 1976 gegründetes „Sogenanntes<br />

Linksradikales Blasorchester“ gab<br />

der dortigen Spontiszene fünf Jahre lang<br />

den musikalischen Takt vor. Goebbels blies<br />

das Saxofon. Frankfurt ist bis heute einer<br />

der wenigen Fixpunkte im Leben des Mannes,<br />

der von sich sagt, dass er am liebsten<br />

alle sieben Jahre das Berufsfeld wechsele.<br />

Er langweile sich so schnell.<br />

In den vergangenen 30 Jahren prägte<br />

er als Professor und Direktor die deutsche<br />

Performance-Schmiede, das Institut für<br />

Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen.<br />

Er ging als Musiker mit dem Art-Rock-Trio<br />

„Cassiber“ auf Tour, komponierte Theaterund<br />

Filmmusik für Hans Neuenfels, Claus<br />

Peymann und Helke Sander, vertonte als<br />

Hörspielmacher vor allem Heiner-Müller-<br />

Material, komponierte Kammermusik für<br />

das weltberühmte Ensemble Modern und<br />

reiste mit seinen legendären eigenen Theaterarbeiten<br />

um die Welt.<br />

Die Texte, mit denen Goebbels auf der<br />

Bühne arbeitet, stammen von Samuel Beckett,<br />

Ludwig Wittgenstein, Elias Canetti,<br />

Heiner Müller oder Franz Kafka. Vieldeutig<br />

sind sie, und ihr Rätsel sollen sie auch<br />

behalten, findet er. Er sampelt Klänge dazu,<br />

und am Ende ist es der Zuschauer, der sich<br />

aus dem Angebot an Tönen, Worten, Gesten,<br />

Bildern und Licht im eigenen Kopf<br />

sein Kunstwerk schafft. „Er muss nicht alles<br />

verstehen, ich arbeite nie symbolisch“,<br />

sagt Goebbels. Es gehe um das Material<br />

selbst, um die sinnliche Erfahrung, die<br />

Wahrnehmung des Moments.<br />

Auch die nächsten drei Jahre Ruhrtriennale<br />

sollen Musik, Performance und Bildende<br />

Kunst gleichberechtigt zusammenbringen.<br />

Und die teilnehmenden Künstler<br />

können so arbeiten, wie Goebbels selbst es<br />

tut: ausgehend von Orten, von Menschen,<br />

vom Vorgefundenen, multiperspektiv, im<br />

offenen Probenprozess. Die Preise wird<br />

die unvoreingenommenste Publikumsjury<br />

vergeben, die man sich nur denken kann:<br />

100 Kinder aus der Region. Sie werden bestimmen,<br />

wer die coolste Tänzerin ist, die<br />

gruseligste Frisur hat und welcher Moment<br />

nicht vergehen soll.<br />

Zur Eröffnung des Festivals inszeniert<br />

Goebbels selbst in der Jahrhunderthalle in<br />

Bochum John Cages fast vergessene „Europeras<br />

1&2“ von 1987, eine experimentelle<br />

Versuchsanordnung ganz in seinem<br />

Sinne: Mit Versatzstücken und Figuren<br />

aus 64 Opern der europäischen Musikgeschichte<br />

montierte Cage nach dem Zufallsprinzip<br />

des auch als „Weisheitsbuch“ bekannten<br />

chinesischen Orakels I Ging ein<br />

neues Ganzes, eine „Oper der Wandlungen“,<br />

die Goebbels’ Prinzip der Gleichberechtigung<br />

aller Mittel auf die Spitze treibt.<br />

Goebbels und sein Bühnenbildner<br />

Klaus Grünberg zitieren dafür nicht weniger<br />

als 32 Bühnenräume aus über 100 Jahren<br />

Theatergeschichte herbei. Goebbels klappt<br />

den Laptop auf und zeigt ein paar Bilder<br />

von überwältigender Schönheit. Nicht länger<br />

als drei Minuten werden die Sets in den<br />

ersten 90 Minuten des Abends aufleuchten,<br />

und alle sind sie echt – gemalt, gebaut, geschichtet.<br />

Nicht zuletzt eine gewaltige logistische<br />

Leistung. Wird der Orakel-Zufall da<br />

vielleicht doch ab und zu pragmatisch korrigiert?<br />

Goebbels grinst: „Auch Cage hat hier<br />

und da geschummelt.“<br />

Mit 60 könnte man eine erste Bilanz<br />

ziehen, nach einem Leben, das aus der<br />

Ferne selbst ein bisschen so wirkt, als sei es<br />

mithilfe des I Ging gesampelt worden: Auf<br />

wie vielen Hochzeiten hat man getanzt, wie<br />

viele Begabungen unter einen Hut gebracht,<br />

wie viel Welt gesehen? So etwas macht der<br />

Künstler aber höchstens für Journalisten,<br />

in aller Freundlichkeit auch bei den<br />

dümmsten Fragen: Wie schafft man das alles<br />

bloß? „Ich bin zwar kein Buddhist“, sagt<br />

er, „aber eine gewisse buddhistische Gelassenheit<br />

hilft.“ Lehnt sich zurück, trinkt einen<br />

Schluck Tee und knabbert am Keks.<br />

Man kann gar nicht anders: Heiner Goebbels<br />

muss man sich als einen glücklichen<br />

Menschen vorstellen.<br />

Barbara Burckhardt<br />

ist Redakteurin der <strong>Zeit</strong>schrift<br />

Theater heute<br />

Fotos: Edgar Schoepal, Privat (Autorin)<br />

98 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Heiner Goebbels<br />

vor einem der<br />

32 Bühnenbilder<br />

seines John-Cage-<br />

Spektakels<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 99


| S a l o n<br />

Töchter und Väter<br />

Nora Bossong hat den Roman der Stunde geschrieben. Und der handelt von einem Frotteewarenhersteller<br />

von Maike ALBATH<br />

E<br />

s ist einer dieser Berliner Sommervormittage,<br />

an denen man<br />

sich wundert, dass die Stadt nicht<br />

am Meer liegt, so badestrandversessen sehen<br />

die Cafébesucher mit ihren Flipflops<br />

und kurzen Hosen aus. Auch der leichte<br />

norddeutsche Tonfall von Nora Bossong<br />

hat mehr mit der Küste als mit Berlin zu<br />

tun. Bossong, Jahrgang 1982, wuchs zwischen<br />

Bremen und Hamburg auf. Einen<br />

Moment lang denkt man bei ihrem klaren,<br />

durchscheinenden Gesicht an die Gemälde<br />

der Präraffaeliten. Der Eindruck des<br />

Ätherischen verfliegt sofort, denn die junge<br />

Autorin, die nicht nur Prosa, sondern auch<br />

Gedichte schreibt, hat etwas erfrischend<br />

Diesseitiges. Nach ihrem Abschluss am<br />

Leipziger Literaturinstitut und dem Studium<br />

der Kulturwissenschaften ging sie für<br />

eine Recherche länger nach Rom. „Wenn<br />

ich Heimweh bekam, las ich immer die<br />

Buddenbrooks“, sagt sie. Dies sei der Auslöser<br />

für ihren dritten Roman gewesen, in<br />

dem ein Familienunternehmen im Mittelpunkt<br />

steht.<br />

Tietjen & Söhne ist eine kleine Firma<br />

für Frotteeware mit 250 Angestellten. Kurt<br />

Tietjen, Enkel des Gründers und mittlerweile<br />

fast im Pensionsalter, hat mit seinem<br />

Schwager das Unternehmen an den Rand<br />

der Insolvenz gebracht. In einer Kurzschlussreaktion<br />

taucht er in New York ab.<br />

Seiner Tochter Luise, die gerade an einer<br />

Abschlussarbeit über Horkheimer sitzt,<br />

bleibt nichts anderes übrig, als die Geschäfte<br />

zu übernehmen. „Wie wird Macht<br />

vererbt und weitergegeben? Das hat mich<br />

interessiert“, meint Bossong. So egalitär<br />

wie die Bundesrepublik immer tue, sei sie<br />

gar nicht. „Schon achtjährige Kinder wissen<br />

genau, wo sie sozial stehen.“ Ohne dass<br />

ihr Vater sonderlich arm gewesen wäre – er<br />

hat als Sozialwissenschaftler für den Hamburger<br />

Senat gearbeitet –, gehörte die Familie<br />

in Blankenese eher zur Unterschicht.<br />

„Das wurde mir in der Schule signalisiert;<br />

da funktionieren bestimmte Codes“, sagt<br />

Bossong. „Bei denjenigen aus den großen<br />

Hamburger Familien war klar, was ihnen<br />

zusteht.“ Aber Reichtum und Einfluss sind<br />

nicht nur ein Geschenk, sondern auch ein<br />

Fluch. Kurt Tietjen, der plötzlich die Freiheit<br />

der Besitzlosen ahnt und versucht, in<br />

einer schäbigen Mietwohnung in Brooklyn<br />

ein neues Leben anzufangen, entkommt<br />

seinem Schicksal natürlich nicht. Selbst<br />

seine billig blondierte neue Freundin weiß<br />

genau, wen sie vor sich hat.<br />

Als Inhaber eines Unternehmens habe<br />

man schließlich auch eine Verantwortung,<br />

sagt Bossong, die für ihre Recherche den<br />

Aufstieg der Krupps studierte und Joseph<br />

Schumpeter, Friedrich August von Hayek<br />

und Alexis de Tocqueville las. „Eine herausragende<br />

soziale Stellung muss man<br />

erst einmal schultern. Man kann sich<br />

nicht indifferent verhalten. Selbst wenn<br />

ich 50 Millionen Euro verschenke, löst<br />

das eine Kette von Handlungen aus.“ Luise<br />

Tietjen, die sich mithilfe des aufstiegsbewussten<br />

Managers Krays bemüht, den<br />

Karren aus dem Dreck zu ziehen, geht mit<br />

diesem Krays auch noch ein Liebesverhältnis<br />

ein, was die vollkommene Verschmelzung<br />

von Beruf und Privatsphäre unterstreicht.<br />

„Schon Luises Großvater nimmt<br />

seinen Sohn Kurt nicht als liebenswertes<br />

Wesen, sondern als seinen besten Angestellten<br />

wahr. Die Zusammenhänge des<br />

Wirtschaftslebens verdrängen die Zusammenhänge<br />

des Familienlebens“, meint<br />

Bossong. Im vergangenen Jahr schrieb<br />

sie für die <strong>Zeit</strong> ein FDP-Gedicht und traf<br />

mehrere Politiker in ihrem Alter, bei denen<br />

ebenfalls kaum eine Trennung zwischen<br />

Privatem und Öffentlichem herrsche.<br />

Die Geschwindigkeit, mit der diese<br />

Leute Familienfotos zückten und auf dem<br />

iPhone Lieblingslieder und Youtube-Videos<br />

abspielten, hat Bossong geradezu erschüttert.<br />

Nach 15 Minuten wusste sie,<br />

wie Frau und Kinder aussahen. „Da wird<br />

eine Nähe inszeniert, die sich nicht einmal<br />

künstlich anfühlt. Das finde ich unheimlich.“<br />

Präzise diagnostiziert sie in ihrem<br />

spannungsgeladenen Roman den Zustand<br />

solcher Beziehungen. Ihre Figuren sind<br />

allesamt Gefangene. Wirtschaftliche, private<br />

und politische Interessen verschwimmen<br />

in einer wabernden Grauzone.<br />

Auch Luise Tietjen entkommt dieser<br />

Gefangenschaft nicht. Eine Weile lang<br />

beißt sie sich erfolgreich durch, am Ende<br />

stolpert sie aber in eine Falle ihres Vaters.<br />

Väter und Töchter stehen schon in Bossongs<br />

Romanen „Gegend“ (2006) und<br />

„Webers Protokoll“ (2009) im Mittelpunkt,<br />

ein Thema, an dem sie sich offensichtlich<br />

abarbeitet. „Auch für Frauen meiner Generation“,<br />

meint sie, „sind bei der beruflichen<br />

Orientierung die Väter entscheidend.<br />

Meine Mutter war auch immer berufstätig,<br />

aber sie musste sich rechtfertigen.“ Wenn<br />

ihr Vater eine Packung Miracoli kochte, erzählt<br />

sie, verschaffte ihm das Respekt bei<br />

ihren Großeltern. Dass ihre Mutter ebenfalls<br />

keine besonders gute Köchin war, galt<br />

als Skandal.<br />

Solche Muster zeitigen natürlich Folgen.<br />

Ihre Freundinnen, beobachtete Bossong<br />

später, hätten trotz bester Leistungen<br />

enorm unter Druck gestanden und seien<br />

mit Ende zwanzig dann erschöpft gewesen.<br />

Ihre männlichen Altersgenossen schonten<br />

ihre Ressourcen und starteten dann zum<br />

Berufseinstieg durch. „Selbst von meiner<br />

Mutter höre ich vollkommen inakzeptable<br />

Bemerkungen wie: „Nora, du musst dich<br />

entscheiden. Entweder Beruf oder Glück<br />

in der Liebe.“ Da sage ich dann: „Moment<br />

mal, nee.“ Wir unterhalten uns noch eine<br />

Weile über Rollenmuster und ihre Beständigkeit.<br />

Dann bezahlen wir unseren Kaffee<br />

und genießen die Freiheit.<br />

Maike Albath<br />

ist Literaturkritikerin und<br />

Autorin des Sachbuchs<br />

„Der Geist von Turin“<br />

(Berenberg-Verlag)<br />

Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz, privat (Autorin)<br />

100 <strong>Cicero</strong> 8.2012


„Selbst von meiner Mutter höre<br />

ich manchmal, dass ich mich<br />

zwischen Beruf und Glück in<br />

der Liebe entscheiden müsse!“<br />

Die Schriftstellerin Nora Bossong über Rollenmuster und ihre<br />

Beständigkeit. Ihr neuer Roman „Gesellschaft mit beschränkter<br />

Haftung“ erscheint am 27. August im Hanser-Verlag<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 101


| S a l o n<br />

„Ich will manipulieren“<br />

Der Dirigent Christian Thielemann über Rausch, den Maestro als Menschen und einen Haufen Vorurteile<br />

P<br />

robentag in Bayreuth: Fliegender<br />

Holländer. Wir treffen uns in<br />

der getäfelten Festspielkantine.<br />

Christian Thielemann kommt gerade<br />

von einer Massage – der Rücken macht<br />

Probleme. Das viele Proben. „Draußen<br />

oder drinnen?“, fragt er und sagt dann,<br />

ohne eine Antwort abzuwarten, „draußen,<br />

oder?“ Schon vor dem Gespräch wird<br />

klar, wie er bekommt, was er will: offen,<br />

charmant, bestimmt. Dieser Christian<br />

Thie lemann hat nichts mit dem Mann<br />

zu tun, der in der deutschen Presse gern<br />

als ewig Gestriger, als Hans Dampf, als<br />

Urdeutscher beschrieben wird. Dieser<br />

Christian Thielemann ist ganz bei sich.<br />

„Hier in Bayreuth fühle ich mich zu Hause“,<br />

sagt er. „Hier sind wir eine Familie.“ Im<br />

September wird er noch eine Familie<br />

dazubekommen. Eine Wunschfamilie.<br />

Thielemann wird offiziell die Sächsische<br />

Staatskapelle Dresden übernehmen. Das<br />

Orchester Webers und Wagners – seiner<br />

Idole. Und, so sagen viele, eine der besten<br />

Musiktruppen Deutschlands.<br />

Herr Thielemann, warum machen Sie<br />

eigentlich Musik?<br />

Um ehrlich zu sein, darüber habe ich nie<br />

nachgedacht. Das war immer so.<br />

Sie meinen, man muss für die Musik<br />

geboren sein?<br />

Wahrscheinlich schon. Im Idealfall wird<br />

man in ein Umfeld der Musik hineingeboren.<br />

Bei uns zu Hause war das Musizieren<br />

immer selbstverständlich. Der Beruf<br />

Musiker war klar wie Kloßbrühe. Ich<br />

habe als Kind Beethovens Egmont-Ouvertüre<br />

gehört. Das hat einen gewaltsamen<br />

und mächtigen Eindruck auf mich<br />

gemacht. Zwei komische Worte, oder?<br />

Gewaltsam und mächtig! Aber es war irgendwie<br />

schön gewaltsam. Und es war<br />

schön mächtig.<br />

Haben Sie so große Gefühle jemals außerhalb<br />

der Musik empfunden?<br />

Och ja, irgendwann schon – natürlich<br />

im Privatleben. Wenn man mit anderen<br />

Menschen zusammen ist und dankbar ist,<br />

eine bestimmte Situation gemeinsam zu<br />

erleben. Oder wenn ich eine Landschaft<br />

anschaue – wie die Sonne untergeht oder<br />

die Vögel zwitschern. Das ist auch schön.<br />

Aber ich habe auch festgestellt, dass das,<br />

was mir in der Musik so gewaltsam und<br />

mächtig und dabei gleichzeitig so schön<br />

vorkam, im Privaten manchmal nur gewaltsam<br />

und mächtig ist – und manchmal<br />

enttäuschend und unschön.<br />

Sie meinen, dass die Musik selbst dem<br />

menschlichen Abgrund eine gewisse<br />

Ästhetik gibt?<br />

Darin liegt ihr großer Reiz. Und genau<br />

darin liegt auch ihre Gefahr. Musik<br />

schafft es, selbst das Böse schön erscheinen<br />

zu lassen. Ich habe lange gebraucht,<br />

um zu lernen, diese Gefühle zu kontrollieren.<br />

Es ist ein langer Weg, bis man<br />

feststellt, dass die Musik so groß ist, dass<br />

sie einen auch kaputtmachen kann. Dass<br />

man sich in ihr verlieren kann. Dass sie<br />

zerstörerisch wirkt.<br />

Wie meinen Sie das?<br />

Das ist eine psychische Sache. Manchmal<br />

scheint die Musik mehr über mich<br />

zu wissen als ich selbst. Was sie mit mir<br />

anstellt, ist so privat, so intim, so nackt,<br />

dass ich Angst habe, es zuzulassen. In diesen<br />

Augenblicken ist sie wie ein Dämon,<br />

der das Archaische in mir berührt und<br />

mich dazu zwingt, mich ihr vollkommen<br />

auszuliefern. Sie saugt alles aus mir heraus.<br />

Ich hatte etwa oft Angst, unter dem<br />

Einfluss von Musik in Situationen zu geraten,<br />

in denen ich alle Grenzen verliere.<br />

Zum Beispiel Drogen zu nehmen oder<br />

zu schnell mit dem Auto zu fahren und<br />

am Baum zu landen. Inzwischen habe<br />

ich das etwas besser im Griff. Ich weiß,<br />

dass ich an dieser Stelle sehr angreifbar<br />

und verführbar bin. Dass die Musik mich<br />

aufputscht, mich antreibt und aufbaut.<br />

Und dass all das, was sie schafft, auch in<br />

sich zusammenfallen kann. Die Intensität,<br />

mit der man in der Musik lebt, ist so<br />

hoch, dass man selbst irgendwann leer ist.<br />

Musik kann also lebensgefährlich werden?<br />

Jede Kunst ist selbstverständlich eine<br />

Gefahr für das Leben. Alle Formen der<br />

Kunstvermittlung haben ja etwas Existenzielles.<br />

Denken Sie an Maria Callas,<br />

an Wilhelm Furtwängler, an Dietrich Fischer-Dieskau.<br />

Um mit der Musik ein<br />

großes Publikum zu erreichen, müssen<br />

Sie all ihre Konzentration sammeln und<br />

befinden sich automatisch an der Grenze<br />

der Selbstaufgabe. Kunst entsteht auf jeden<br />

Fall immer nur an dieser Grenze.<br />

Um auf ihr zu balancieren, braucht der<br />

Künstler Bauch und Kopf. Und ein Bewusstsein<br />

von der Gefahr des Rausches<br />

und für die wahre Welt.<br />

Verstehe ich Sie richtig, dass Sie, während<br />

Sie dirigieren, auch private Bilder zu der<br />

Musik im Kopf haben?<br />

Selbstverständlich.<br />

Umso verwunderlicher ist, dass Sie Ihr<br />

Privatleben komplett aus der Öffentlichkeit<br />

heraushalten.<br />

Ja, weil es sich ja um meinen persönlichen<br />

Film handelt! Welche Bilder, Situationen<br />

und Gefühle man zur Musik<br />

erlebt, ist individuell. Diese Nacktheit<br />

entsteht nur im eigenen Kopf – aus dem<br />

eigenen Leben. Meine Aufgabe als Dirigent<br />

ist, das Persönliche zum Allgemeinen<br />

zu erheben. Erst so kann die Musik<br />

in Kommunikation mit einem Publikum<br />

treten. Deshalb rede ich bei den<br />

Foto: Mat Hennek/Deutsche Grammophon<br />

102 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Christian Thielemann,<br />

Jahrgang 1959,<br />

ist Deutschlands<br />

bekanntester und<br />

umstrittenster Dirigent<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 103


| S a l o n<br />

Proben ja auch nicht viel. Bei den Musikern<br />

ist es ja genauso: Sie müssen ihren<br />

eigenen Zugang, ihre eigene Existenz in<br />

den gleichen Noten finden. Und letztlich<br />

ist das doch auch bei den Komponisten<br />

so: Sie werden vom eigenen Leben inspiriert,<br />

aber ihre Sinfonien und Opern sind<br />

Werke der allgemeinen Menschlichkeit.<br />

Ganz abgesehen davon, dass die Sichtbarkeit<br />

des allzu Privaten meiner Erziehung<br />

widerstrebt. Es ist nicht meine Sache,<br />

mein privates Empfinden in der <strong>Zeit</strong>ung<br />

auszubreiten.<br />

„Wenn Sie mir ein Quäntchen<br />

Selbstherrlichkeit erlauben: Ich<br />

bin die Avantgarde. Ich bin ein<br />

geläuterter Konservativer“<br />

Vielleicht machen sich die Leute deshalb<br />

so viele Gedanken um Ihr Leben? Weil Sie<br />

in der Öffentlichkeit so exzessiv wirken?<br />

Mag sein. Sollen sie ruhig.<br />

Ist die Musik für Sie auch ein Experimentierfeld<br />

für das Leben?<br />

Das muss sie sein, weil sie uns einen risikofreien<br />

Raum schenkt, in dem es kein<br />

Gesetzbuch gibt. Auf der Opernbühne<br />

muss ich dafür sein, dass Tosca von der<br />

Engelsburg springt. Gleichzeitig muss<br />

ich aber auch einer Meinung mit Scarpia<br />

sein, der sie vergewaltigen will. Daran<br />

sehen Sie die Schizophrenie der Musik.<br />

Man bewegt sich – ob man will oder<br />

nicht – Takt für Takt in einem vielfältig<br />

zwiespältigen Kosmos. Zum Wahnsinnigwerden<br />

eigentlich, das alles.<br />

Und wie genau kühlen Sie sich wieder ab?<br />

Ich habe mir Dinge gesucht, mit denen<br />

ich von der Musik loskomme. Ich beschäftige<br />

mich mit Geschichte und bildender<br />

Kunst. Gestern zum Beispiel war<br />

ich im Neuen Schloss in Bayreuth und<br />

habe nach Gemälden gesucht, die ich<br />

unbedingt finden wollte. Das sind Unternehmungen,<br />

um der Macht der Musik<br />

wenigstens zeitweise zu entkommen.<br />

Ganz nach dem Motto von Tannhäuser:<br />

„Aus deinem Reiche muss ich fliehn!“<br />

Merken Sie eigentlich, dass Sie durch<br />

die Musik auch selbst mächtig werden?<br />

Orchestermusiker schwärmen von Ihrer<br />

Inspiration, von Ihrer Art zu bekommen,<br />

was Sie wollen …<br />

Das ist ja keine Macht im eigentlichen<br />

Sinne. In den Proben geht es darum, das<br />

Feuer, das in den Partituren steht, zu entzünden.<br />

Tatsächlich gibt es nur wenige<br />

Menschen, die das können. Die diese<br />

2012 ist ein gutes Jahr für Thielemann: Im September wird er als Chefdirigent die<br />

Leitung der Sächsischen Staatskapelle Dresden übernehmen, zur gleichen <strong>Zeit</strong> erscheint<br />

im Verlag C. H. Beck seine musikalische Autobiografie „Mein Leben mit Wagner“<br />

Prometheus-Qualität haben, weil sie selber<br />

brennen. Aber das ist eine naturgegebene<br />

Begabung.<br />

Und wie steht es mit dem Publikum –<br />

merken Sie, dass Sie eine Macht über Ihre<br />

Zuhörer haben?<br />

Natürlich will ich das Publikum manipulieren.<br />

Mir ist es wichtig, dass mein Publikum<br />

das Theater in einem guten Sinne<br />

manipuliert verlässt. Nicht, dass ich sie<br />

zu Dingen treiben will, die sie nicht wollen.<br />

Aber ich möchte sie günstig beeinflussen<br />

– und vielleicht auf sich selbst,<br />

auf ihre Nacktheit, zurückwerfen. Ich<br />

möchte ihnen jenen Raum öffnen, der<br />

sich auch mir durch die Musik öffnet:<br />

eine Welt, in der man hemmungslos und<br />

ohne Rücksicht auf die Regeln der Welt<br />

denken und fühlen darf. Ich möchte den<br />

Menschen mit der Musik zeigen, dass<br />

wir in einer Sinfonie oder einer Oper<br />

Grenzen überschreiten können, die im<br />

Leben unmöglich wären. Würden wir<br />

zehn Flaschen Wein trinken, hätten wir<br />

eine Alkoholvergiftung. Hören wir zehn<br />

Mal den „Tristan“, erweitert der Rausch<br />

unser Bewusstsein.<br />

Jetzt hören Sie sich an wie ein Alt-68er!<br />

Sie meinen, „Tristan“ ist besser und gesünder<br />

als LSD?<br />

Aber natürlich! Grundsätzlich hat der<br />

Mensch Rauschzustände ja sehr gern.<br />

Weil es im Rausch um das Gleiche geht<br />

wie in der Musik, um die Erweiterung<br />

des Bewusstseins. Ich finde es immer ein<br />

bisschen lustig, dass die 68er gegen den<br />

Rausch von Hitlers Reichstagsgedöns waren<br />

– völlig zu Recht natürlich – und sich<br />

zu Hause ihren eigenen Rausch geschaffen<br />

haben, indem sie sich mit LSD vollballerten,<br />

bis sie ihren privaten Lichtdom<br />

gesehen haben. Beide Arten von Rausch<br />

Foto: Matthias Creutziger/Deutsche Grammophon (Life aus der Semperoper, The Lehár Gala from Dresden)<br />

104 <strong>Cicero</strong> 8.2012


sind mir suspekt, weil sie entweder manipulativ<br />

sind oder man in ihnen jede<br />

Kontrolle verliert. Mir ist die Bewusstseinserweiterung<br />

durch eine „Tristan“-<br />

Aufführung lieber.<br />

Und welche Wirkungen hat diese Erfahrung<br />

auf Ihr Leben?<br />

Jeder Rausch beeinflusst uns – weil wir in<br />

ihm Dimensionen erfahren, die wir im<br />

echten Leben nicht erreichen.<br />

Macht „Tristan“ uns etwa zu besseren<br />

Liebhabern?<br />

Das kann durchaus sein. Ich glaube<br />

schon, dass Menschen, die „Tristan“ kennen,<br />

potenziell bessere Liebhaber sein<br />

könnten. Diese Musik kann einen fantasiemäßig<br />

beflügeln. Sie zeigt einem die<br />

Sinnlichkeit und das Existenzielle. Auf jeden<br />

Fall macht dieses Erlebnis freizügiger<br />

und regt an. Das ist schon irre. Ich finde,<br />

wir müssen überhaupt bessere Musikliebhaber<br />

und bessere Liebhaber werden. Sicher<br />

ist: Die Kunst ist eine sinnenfrohe<br />

Angelegenheit. Und davon können wir<br />

im Leben nur lernen.<br />

Erkennen Menschen, die Ihnen nahestehen,<br />

eigentlich den Christian Thielemann<br />

auf der Bühne wieder, den sie auch von<br />

zu Hause kennen? Oder sind Sie vor dem<br />

Orchester ein anderer Mensch?<br />

Leute, die mich gut kennen, sagen oft,<br />

dass mein eigentliches Wesen beim Dirigieren<br />

am besten zu sehen ist. Letztlich<br />

ist das Künstlerische ja nur eine Ausblühung<br />

des Menschen, der diese Kunst betreibt.<br />

Und es ist egal, was jemand tut, ob<br />

er sich für Topfbegonien interessiert oder<br />

Streichholzschachteln sammelt – in dem<br />

Moment, in dem Sie sich in einer Sache<br />

auflösen, sind Sie ganz bei sich. Dann<br />

entsteht ein positiver Fanatismus, der andere<br />

nicht behindert. Ich liebe diese Spinner.<br />

Und, ja, ich bin einer von ihnen. Ich<br />

habe immer etwas für Leute übrig, die<br />

eine gepflegte Macke haben. Aber sie soll,<br />

bitte schön, gepflegt bleiben.<br />

Wegen Ihrer Macken wurden Sie<br />

lange angefeindet. Inzwischen sind<br />

Sie Everybody’s Darling. Was hat sich<br />

geändert?<br />

Für mich persönlich nur, dass ich vor<br />

15 Jahren dachte, mich und mein Leben<br />

vorhersehen zu können. Inzwischen<br />

genieße ich es, wie unvorhersehbar ich<br />

für mich selber geworden bin.<br />

Sie müssen sich also immer neu erfinden?<br />

Der Kern bleibt wahrscheinlich. Aber<br />

ich befrage mich gern neu und definiere<br />

meine Position in der Welt. Ich arbeite ja<br />

nur mit Partituren ohne Einzeichnungen.<br />

Ich sehe also nicht, wie ich einen „Holländer“<br />

vor einigen Jahren gemacht habe.<br />

Ich muss diese Opern immer wieder<br />

neu entdecken. Und manchmal denke<br />

ich an einer Stelle: „Da steht zwar kein<br />

Ritardando – aber ich fände es schön.“<br />

Das sage ich dann den Musikern. Und<br />

manchmal fragen die mich: „Aber warum<br />

denn, das steht doch gar nicht drin.“<br />

Und ich antworte: „Weil ich das schön<br />

finde.“ Dann schmunzeln sie – und machen<br />

es.<br />

Früher wurden Sie noch angefeindet, weil<br />

Sie Werke von Hans Pfitzner aufgeführt<br />

haben, der in das Nazi-System verstrickt<br />

war. Davon ist heute nicht mehr die Rede.<br />

Weil es mir nie um Politik ging, sondern<br />

um die Musik. Ich habe Pfitzners Kompositionen<br />

studiert und geschaut, ob sie<br />

etwas taugen. Das tun sie! Also habe ich<br />

sie aufgeführt. Heute kann ich zurückblicken<br />

und feststellen, dass ich mir in diesen<br />

Fragen treu geblieben bin. Und dass<br />

die <strong>Zeit</strong> und der <strong>Zeit</strong>geist mir entgegengekommen<br />

sind.<br />

Sind denn am Ende alle Werke legitim?<br />

Egal, wie ein Künstler gelebt hat?<br />

Schauen Sie, wir hatten das doch schon<br />

einmal, dass Komponisten aufgrund ihrer<br />

Überzeugungen oder Religionen<br />

nicht aufgeführt wurden. Und nun wollen<br />

einige Leute sich noch immer als<br />

moralischer Wächter aufspielen? Wir<br />

können doch nicht auf der einen Seite<br />

Ressentiments und Rassismus anklagen<br />

und auf der anderen Seite Rassismus<br />

in einen guten und in einen schlechten<br />

unterteilen. Ich war immer der Meinung,<br />

dass wir ohne Ressentiments an<br />

die Musik herangehen müssen. Und, ja,<br />

auch dass wir es uns gerade als Deutsche<br />

nicht so leicht machen dürfen und<br />

einige Musiker von vornherein aus dem<br />

Kanon streichen, weil uns die Auseinandersetzung<br />

mit ihrer Musik auf ein gefährliches<br />

Feld führt. Das gehört zu unserer<br />

Kulturtradition.<br />

Es ist also nichts verboten?<br />

Ich weiß nicht, wie Sie sich so einen Kanon<br />

vorstellen. Sollen wir jetzt zum Wagner-Jahr<br />

eine Liste der politisch unbedenklichen<br />

Wagner‐Werke herausgeben<br />

und eine der politisch belasteten Stücke?<br />

Also, mit Verlaub: ohne mich!<br />

Im Falle Wagner geht es ja auch um die<br />

Vereinnahmung durch Adolf Hitler. Eine<br />

Frage, die sich gerade wieder in Israel<br />

gestellt hat.<br />

Aber was kann Wagner denn dafür? Sicher,<br />

wir müssen uns mit seinem Antisemitismus<br />

auseinandersetzen. Aber in den<br />

meisten seiner Werke ist davon nichts zu<br />

lesen. Wir können doch nichts für die<br />

Verbrecher, die im Festspielhaus gesessen<br />

haben. Unten im Graben wird C‐Dur<br />

gespielt. Und dieses C‐Dur klang 1944<br />

genauso wie heute. Musik ist stärker als<br />

ihre Vereinnahmung.<br />

Es gab eine <strong>Zeit</strong>, da haben Sie Ihre Meinung<br />

provokanter vorgetragen.<br />

Auf jeden Fall habe ich unterschätzt, wie<br />

provokant meine Thesen aufgenommen<br />

wurden. Und wie ideologisch die Situation<br />

damals war. Das ging ja so weit, dass<br />

sogar über meinen Scheitel geschrieben<br />

wurde. Auf dem Höhepunkt dieser Stimmung<br />

hätte ich meine Haare zerwühlen<br />

müssen, damit mein Wagner politisch<br />

korrekt gewesen wäre.<br />

Und heute?<br />

Schauen Sie – ich ruhe in mir. Und vielleicht<br />

ist das die größte Veränderung. Ich<br />

merke, wie die Ruhe in meinen Körper<br />

kommt. Ich muss Ihnen ehrlich sagen:<br />

Ich habe auch immer gewusst, dass<br />

das vorbeigehen würde. Weil ich wusste,<br />

dass ich die zeitlose Wahrheit der Noten<br />

auf meiner Seite hatte und nicht die<br />

schwankende Wahrheit der modischen<br />

Politik. Mich hat es wirklich irritiert, dass<br />

die Leute gesagt haben, ich wollte provozieren.<br />

Aber irgendwann haben sie dann<br />

festgestellt: „Ach Gott, der ist ja wirklich<br />

so.“ Ich war glaubhaft in dem, was ich<br />

getan habe. Und deshalb haben die Menschen<br />

aufgehört, sich aufzuregen.<br />

Vielleicht auch, weil Sie offener geworden<br />

sind?<br />

Es hat bei mir vielleicht etwas gedauert,<br />

dass ich Meinungen, die nicht meine<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 105


| S a l o n<br />

sind, akzeptiert habe. Heute weiß ich,<br />

dass ich sie nicht teilen muss, dass ich<br />

sie rhetorisch erwidern kann – und dass<br />

es wichtig ist, jede Meinung als gegeben<br />

zur Kenntnis zu nehmen. Aber dieses<br />

Recht fordere ich auch für mich ein. Darum<br />

ging es letztlich auch in Israel: Ich<br />

finde, dass man niemanden dazu zwingen<br />

darf, etwas zu hören, was er nicht hören<br />

will. Aber ich finde auch, dass man niemandem<br />

verbieten sollte, das zu hören,<br />

was er gern hören möchte. All das ist eine<br />

Frage der Toleranz. Ich beobachte, dass<br />

unsere Musik gerade in diesen <strong>Zeit</strong>en immer<br />

besser verstanden wird. Weil sie den<br />

Menschen auf das eigentliche Ziel der<br />

Politik zurückführt: den einzelnen, freien<br />

und selbstbestimmten Menschen.<br />

Wie politisch ist die Musik denn wirklich?<br />

Musik sind zunächst einmal Noten. Ob<br />

Wagner Revolutionär war oder Beethoven<br />

seine Sinfonie Napoleon widmen<br />

wollte – das sind Fragen für Musikhistoriker.<br />

Für einen Musiker sind sie weniger<br />

entscheidend. Die Sprache der Musik ist<br />

Politik einer anderen Art: Es ist die Politik<br />

des Unterbewussten, des Menschlichen,<br />

des Individuums. Und es macht<br />

mich wütend, wenn ich Traktate der Musikwissenschaftler<br />

lese, die versuchen,<br />

eine Partitur einer Ideologie unterzuordnen.<br />

<strong>Keine</strong>s dieser Bücher zeigt mir, wie<br />

ich die „Meistersinger“ besser dirigieren<br />

kann. Mir ist es auch unmöglich, aus<br />

einem späten Beethoven-Quartett abzulesen,<br />

ob er gerade Probleme hatte,<br />

schlechte Laune oder Hunger. Inzwischen<br />

beobachte ich, dass die Ideologisierung<br />

der Musik schwindet.<br />

Können Politiker denn trotzdem etwas<br />

von Musik lernen? Angela Merkel ist<br />

Stammgast in Bayreuth, kommt nach den<br />

Konzerten zu Ihnen hinter die Bühne …<br />

Ich glaube, es geht in der Musik um Authentizität.<br />

Und darum, dass Politik immer<br />

beim humanistischen Individuum<br />

anfängt. Das ist bei Wagner genauso wie<br />

bei Mozart. Das Private macht nicht nur<br />

die Musik, sondern auch die Politik. Und<br />

es geht um Wahrhaftigkeit. Als Dirigent<br />

kann ich nicht heute weniger Steuern<br />

versprechen und dieses Versprechen<br />

morgen nicht einlösen. Ich muss mir, bevor<br />

sich der Vorhang hebt, eine Position<br />

erarbeiten. Die muss nicht allen gefallen,<br />

aber sie muss kongruent mit mir sein –<br />

und das wünsche ich mir zuweilen auch<br />

von der Politik.<br />

Sie gelten als konservativ. Gleichzeitig<br />

geben Sie sich aber auch revolutionär. Wie<br />

ordnen Sie sich selbst politisch ein?<br />

Wenn Sie mir ein Quäntchen Selbstherrlichkeit<br />

erlauben, antworte ich Ihnen,<br />

dass ich die neue Avantgarde bin.<br />

Ich bin ein geläuterter Konservativer. Ich<br />

bin nicht engstirnig und trotzdem traditionsbewusst.<br />

Ich fühle mich sehr in meiner<br />

Tradition verwurzelt und bin gerade<br />

deshalb in der Lage, neugierig auf anderes<br />

zu sein.<br />

„Das ist der<br />

Unterschied<br />

zwischen Musik<br />

und Museum: Die<br />

Mona Lisa sieht<br />

seit Jahrhunderten<br />

gleich aus. Wagner<br />

klingt jeden Abend<br />

anders“<br />

Ist die konservative Politik schon genauso<br />

weit wie Sie?<br />

Nein, wahrscheinlich nicht. Deshalb rede<br />

ich ja von Avantgarde.<br />

Und was ist der Unterschied zwischen<br />

einem geläuterten 68er und einem geläuterten<br />

Konservativen?<br />

Die können sich inzwischen gut begegnen.<br />

Es ist doch so, dass die wahren Konservativen<br />

die Grünen geworden sind.<br />

Wir befinden uns ja in einer Umwertung<br />

sämtlicher Begriffe. Konservativ bedeutet<br />

nicht mehr: engstirnig, ausländerfeindlich<br />

und rechtsradikal. Konservativ<br />

bedeutet: das Alte ehren und daher<br />

neugierig auf das Neue sein. Ich habe<br />

durch meinen Beruf gelernt, dass die alten<br />

Stereotype nicht mehr greifen. Für<br />

mich ist es politisch wie künstlerisch<br />

dort am spannendsten, wo große Persönlichkeiten<br />

mit eigener Meinung zusammenarbeiten.<br />

Schlechtes Benehmen<br />

und mangelnde Qualität sind für mich<br />

<strong>Zeit</strong>verschwendung. Und überall gilt die<br />

Regel: Je höher das Niveau ist, desto gelassener<br />

kann man miteinander umgehen.<br />

In der Musik sind wir an diesem Punkt<br />

angekommen, in der Politik vielleicht<br />

noch nicht ganz.<br />

Spielt die <strong>Zeit</strong>, in der ein klassisches Werk<br />

interpretiert wird, eigentlich eine Rolle für<br />

den Klang?<br />

Der große Vorteil der klassischen Musik<br />

ist, dass die gleichen Noten in vielen unterschiedlichen<br />

<strong>Zeit</strong>en und in vielen unterschiedlichen<br />

politischen Kontexten<br />

interpretiert wurden. Klar, wenn Furtwängler<br />

1942 Beethoven zwischen zwei<br />

Bombenangriffen dirigiert hat, klang das<br />

anders als ein Beethoven, bei dem uns<br />

höchstens der EU-Rettungsschirm beschäftigt.<br />

So gesehen verschmelzen in der<br />

<strong>Zeit</strong>maschine Musik Vergangenheit und<br />

Gegenwart immer wieder aufs Neue. Die<br />

Noten bilden den historischen Fixpunkt.<br />

Das ist der Unterschied zwischen Musik<br />

und einem Museum. Die Mona Lisa<br />

sieht seit Jahrhunderten gleich aus. Wagner<br />

klingt jeden Abend anders.<br />

Sie werden mit der Staatskapelle in Dresden<br />

nun ein Orchester mit langer Tradition<br />

übernehmen – Weber und Wagner haben<br />

hier dirigiert. Und die Staatskapelle wird<br />

bis heute für ihren deutschen Klang<br />

gefeiert …<br />

Ich treffe in Dresden auf eine historisch<br />

einmalige Situation: Neben vielen negativen<br />

Dingen ist im Osten ein historischer<br />

Vorteil auszumachen. Während im Westen,<br />

ausgelöst durch die 68er-Bewegung,<br />

versucht wurde, möglichst viele Traditionen<br />

über Bord zu werfen, ist diese Mode<br />

am Osten vorbeigezogen. So hat sich vieles<br />

erhalten, was wir heute sehr schätzen.<br />

Und das hört man auch heute noch im<br />

Klang der Orchester.<br />

Daniel Barenboim hat einmal gesagt, dass<br />

man in der Staatskapelle in Berlin noch<br />

den Klang von 1932 hört …<br />

Das trifft für Dresden ebenfalls zu. Das<br />

liegt auch daran, dass es lange <strong>Zeit</strong> kaum<br />

einen Zuzug von frischem Fleisch gab,<br />

dass das Orchester auf eine merkwürdig<br />

wohltuende Art im eigenen Saft gekocht<br />

hat. Heute sehen wir, dass in Dresden<br />

eine alte Tradition lebt. Und das ist in einer<br />

<strong>Zeit</strong>, in der große Orchester Gefahr<br />

106 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Anzeige<br />

It’s never too late<br />

laufen, gleich zu klingen und ihren Klang<br />

zu globalisieren, ein großes Pfund.<br />

Es fällt auf, dass Sie wenig mit fremden<br />

Orchestern zusammenarbeiten …<br />

Ich mag es lieber, mit Menschen zu arbeiten,<br />

die ich kenne – und da hat sich<br />

in den vergangenen Jahren einfach die<br />

Achse Dresden-Wien-Bayreuth ergeben.<br />

Das ist ein überschaubares Areal, in<br />

dem ich machen kann, was ich will. Und<br />

wenn ich die Welt sehen will, fahre ich<br />

eben mit meinen Dresdenern oder den<br />

Wienern los.<br />

Die Wiener Philharmoniker scheinen es<br />

Ihnen besonders angetan zu haben.<br />

Von denen heißt es ja immer, dass sie so<br />

verstockt seien. Aber ich erlebte immer<br />

wieder ein unglaublich offenes Orchester.<br />

Ich glaube, das liegt daran, dass es sich<br />

seiner Tradition bewusst ist. Die Wiener<br />

wissen, woher sie kommen, und können<br />

deshalb offen für anderes sein. Sie verkörpern<br />

den offenen Konservativismus –<br />

und, ja, das gefällt mir sehr.<br />

Andererseits gibt es keine andere Stadt,<br />

in der die Erwartungen so hoch sind.<br />

Das geht so weit, dass ich Wien manchmal<br />

meiden muss, weil der Druck mir<br />

zu groß wird. Nicht nur vom Publikum,<br />

sondern auch vom Orchester. Ich kann<br />

so langsam nachvollziehen, dass der legendäre<br />

Carlos Kleiber manchmal vor einer<br />

Aufführung die Flucht ergriffen hat.<br />

Gibt es diese Momente bei Ihnen auch,<br />

dass Sie vor einem Konzert am liebsten<br />

fliehen würden?<br />

Ja, das gibt es. Ich denke dann: Jetzt ins<br />

Auto und einfach nur weg. Aber meine<br />

preußische Erziehung verbietet mir das.<br />

Dann gehe ich da hin und dirigiere.<br />

Manchmal macht mir meine Nervosität<br />

auch Angst. Ich verstehe mich da selbst<br />

nicht.<br />

© Foto Schmidt: Paul Ripke; Steinbrück: Daniel Biskup; Meyer, Marguier: Antje Berghäuser<br />

Der große Entertainer über intelligente Satire<br />

und die Zukunft des Fernsehens<br />

<strong>Vorschau</strong><br />

Sonntag,<br />

2. Dezember 2012:<br />

Peer Steinbrück<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

im Berliner Ensemble<br />

Kolumnist Frank A. Meyer und<br />

Alexander Marguier, Stellvertreter<br />

des Chefredakteurs, im Gespräch<br />

mit Harald Schmidt.<br />

Sonntag, 23. 9. 2012, 11 Uhr<br />

Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />

Tickets: Telefon 030 28408155<br />

www.berliner-ensemble.de<br />

Gewinnen Sie 10 x 2 Eintrittskarten zum <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

Erleben Sie Harald Schmidt live beim <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch und lernen<br />

Sie den großen Entertainer persönlich kennen.<br />

Gibt es denn einen Moment, in dem Sie<br />

keine Musik mehr machen würden?<br />

Nein – weniger, das kann ich mir gut<br />

vorstellen. Aber gar keine Musik? Nein!<br />

Auf keinen Fall. Was hat Loriot gesagt?<br />

Ein Leben ohne Möpse wäre möglich,<br />

aber sinnlos. So verhält sich das auch mit<br />

der Musik.<br />

Gleich mitmachen und gewinnen:<br />

Mark Siegmann<br />

<strong>Cicero</strong>-Leserservice<br />

Friedrichstraße 140<br />

10117 Berlin<br />

E-Mail: 100@cicero.de<br />

www.cicero.de/100<br />

Das Gespräch führte Axel Brüggemann<br />

BERLINER<br />

ENSEMBLE<br />

In Kooperation<br />

mit dem Berliner<br />

Ensemble


| S a l o n | M a n s i e h t n u r , w a s m a n s u c h t<br />

Kunst ist nicht<br />

gleich Werbung<br />

Der olympische Fackellauf, der 1936<br />

seine Weltpremiere hatte, wurde<br />

überaus erfolgreich entnazifiziert. <strong>Keine</strong><br />

Olympiade kommt seither ohne ihn aus.<br />

Hoffentlich wird Leni Riefenstahl nicht<br />

das Gleiche passieren<br />

Von Beat Wyss<br />

N<br />

azi-nostalgie ist gern bereit,<br />

der Bewegung Sinn für politische<br />

Symbolik zuzuschreiben.<br />

Aber ausgerechnet die Erfindung<br />

des Fackellaufs verdankt sich einem jüdischen<br />

Archäologen: Alfred Schiff. Der<br />

Sportbegeisterte war der olympischen<br />

Idee Baron de Coubertins von Anfang<br />

an verbunden. Schiff sprach Neugriechisch<br />

und wirkte sogar als Schiedsrichter<br />

bei der ersten Olympiade der Neuzeit<br />

in Athen 1896 mit. Dem Juden<br />

Schiff war 1933 die Stelle an der Berliner<br />

Hochschule für Leibesübungen gekündigt<br />

worden. Seine Idee wurde arisiert,<br />

indem man sie dem Sportfunktionär Carl<br />

Diem zuschrieb, der schützend die Hand<br />

über seinen Freund und Kollegen hielt.<br />

Die Berliner Olympiade von 1936<br />

unterstand Propagandaminister Joseph<br />

Goebbels, der den Empfang des Feuers<br />

aus dem fernen Olympia mit SA-Verbänden<br />

inszenierte. 3197 Kilometer hatte die<br />

Glut hinter sich, entzündet an der Sonne<br />

Hellas’ mit einem Brennspiegel von Zeiss,<br />

von 3331 Stafettenläufern in zwölf Tagen<br />

und elf Nächten nach Berlin getragen.<br />

Die Fackelschäfte, ausgetauscht bei jeder<br />

Etappe, waren geschaffen in Form eines<br />

Ölbaumzweigs aus Kruppstahl: Das Friedenssymbol<br />

war aus dem Stoff, aus dem<br />

auch die Instrumente der Massenvernichtung<br />

geschmiedet wurden.<br />

Nicht überall waren die Läufer willkommen<br />

gewesen. Noch in Griechenland<br />

versuchten Mitglieder der kommunistischen<br />

Jugendorganisation OKNE erfolglos,<br />

ein Durchkommen des brennenden<br />

Symbols nach Deutschland zu behindern.<br />

Proteste gab es auch in Jugoslawien.<br />

In Prag gelang es einigen Aktivisten,<br />

die Fackel dem Läufer zu entreißen und<br />

auszulöschen.<br />

Solche Szenen sind in jenem Film<br />

nicht zu finden, der Mediengeschichte<br />

schreiben sollte: „Olympia: Fest der<br />

Völker, Fest der Schönheit“ von Leni Riefenstahl.<br />

Ihr Olympiafilm bildet einen<br />

frühen Höhepunkt von Berichterstattung<br />

als Dokusoap. Während der 16-tägigen<br />

Dreharbeiten waren 45 Kameramänner<br />

mit 30 Kameras dabei, rund<br />

800 000 Meter Licht auf Zelluloid zu<br />

bannen. Einige Wettkämpfe wurden für<br />

den Film noch einmal nachgestellt. Während<br />

der anderthalbjährigen Arbeit am<br />

Schneidetisch verdichtete die Produzentin<br />

das Material auf 5151 Filmmeter:<br />

rechtzeitig, um an Adolf Hitlers 49. Geburtstag<br />

Premiere zu feiern und an den<br />

Filmfestspielen in Venedig 1938 den<br />

Preis des Goldenen Löwen abzuräumen.<br />

108 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Ein Szenenbild aus Leni Riefenstahls zweiteiliger Dokusoap „Olympia: Fest der Völker, Fest der Schönheit“ von 1938<br />

Fotos: DDP Images, artiamo (Autor)<br />

Das Reproduktionsmedium greift<br />

nicht nur in das technische Material<br />

ein, sondern auch direkt in das Geschehen,<br />

das im Sinne der Botschaft<br />

reproduziert werden soll. So war die<br />

Ehre des Schlusslaufs zur Opferschale<br />

im Berliner Stadion dem Langstreckenläufer<br />

Fritz Schilgen zugefallen.<br />

Riefenstahl hatte den Sportler vorgeschlagen<br />

wegen seines „schwebenden<br />

Schrittes“. Der überschlanke Ephebe<br />

mit wallendem, blondem Deckhaar entsprach<br />

nicht den massigen Kraftmenschen<br />

im Stil von Arno Breker, sondern<br />

dem Wandervogel deutscher Jugendbewegung.<br />

Mit dieser Wahl zeigte sich der<br />

Wolf dem Weltpublikum ein letztes Mal<br />

im Schafspelz.<br />

Das Olympiastadion in Berlin gehört<br />

zu den wenigen Großbauten der Nazizeit,<br />

die den Krieg unbeschadet überstanden<br />

haben. Seit 1966 steht es unter Denkmalschutz.<br />

Doch nicht nur die Entnazifizierung<br />

des steinernen <strong>Zeit</strong>zeugen verlief problemlos,<br />

auch der olympische Fackellauf,<br />

der 1936 seine Weltpremiere hatte, ist aus<br />

keiner Olympiade mehr wegzudenken.<br />

Riefenstahl gewann in Künstlerkreisen<br />

viele Bewunderer, unter ihnen Jean<br />

Cocteau, Mick Jagger und David Bowie.<br />

Schon Susan Sontag wandte sich<br />

deswegen in ihrem Essay „Faszinierender<br />

Faschismus“ gegen die um sich greifende<br />

„Rehabilitation Riefenstahls als unbezwingbare<br />

Priesterin des Schönen“. Einen<br />

klaren Blick auf die Berliner Olympiade<br />

hatte auch Walter Benjamin, als er vor<br />

der „Ästhetisierung der Politik“ warnte.<br />

Wer Riefenstahl als Popikone verharmlost,<br />

verwechselt Kunst mit Werbung. Herrscherlob<br />

ist eine Aufgabe, der die Kunst<br />

seit der Moderne entwachsen ist.<br />

B e at W y s s<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt in Karlsruhe<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 109


| S a l o n | P a p y r i i<br />

Was wir<br />

verlieren<br />

Bibliotheken wirken heute wie<br />

potemkinsche Dörfer. Und auch die<br />

Ideen von Autor- und Urheberschaft<br />

stehen zur Disposition. Einer der<br />

bekanntesten deutschen Schriftsteller<br />

nimmt Abschied vom Buch und hat<br />

sich dafür mit dem Schicksal der<br />

Papyrusrolle auseinandergesetzt<br />

Von thomas Hettche<br />

D<br />

er Altphilologe zuckt entschuldigend mit den Achseln.<br />

Ich halte noch immer seine Geschichte der antiken Texte<br />

in der Hand, die er mir in seinem Büro gegeben hat,<br />

700 Seiten mit Listen von Editorennamen und Fundorten, Verlagen,<br />

Autoren und Titeln, bibliografischen Kürzeln und Jahreszahlen.<br />

Über zehn Jahre hat Manfred Landfester an dem Band<br />

gearbeitet, Teil einer Neuausgabe der 84-bändigen „Realencyclopädie<br />

der classischen Altertumswissenschaft“, die der Stuttgarter<br />

Gymnasiallehrer August Friedrich Pauly 1837 begann. Der Neue<br />

Pauly enthält auf 12 000 Seiten unter 30 000 Stichworten, verfasst<br />

von über 2000 wissenschaftlichen Beiträgern aus 50 Ländern, unser<br />

Wissen über die Antike. 19 Bände, von dem Typografen Hans<br />

Peter Willberg aus der Bembo auf holz- und säurefreiem, geglättetem<br />

und alterungsbeständigem Werkdruckpapier gesetzt, in stabiles<br />

Bibliotheksleinen geschlagen und fadengeheftet, mit einem<br />

schönen Vorsatzpapier versehen und einer zweifarbigen Prägung<br />

auf dem Rücken.<br />

„Das ist rein äußerlich ja ein etwas trockenes Werk“, sagt Professor<br />

Landfester und setzt mit einem etwas schüchternen Lächeln<br />

hinzu: „Aber im Grunde genommen ist es die Auflistung unseres<br />

ganzen kulturellen Gedächtnisses.“<br />

Sieht schon jetzt<br />

aus wie ein<br />

Relikt aus der<br />

Vergangenheit:<br />

die Bibliothek des<br />

Trinity College<br />

in Dublin<br />

Foto: Michael Short/Prisma<br />

110 <strong>Cicero</strong> 8.2012


8.2012 <strong>Cicero</strong> 111


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Eine solche Edition wird es nie mehr geben, schon bei Erscheinen<br />

war sie anachronistisch. Brill, der Verlag der englischsprachigen<br />

Ausgabe, bietet längst den Zugang zur elektronischen<br />

Version im Abonnement. Und, höre ich die Verfechter der Netzkultur<br />

fragen, was ändert sich dadurch? Alles. Der Verweis auf<br />

die unendlichen Speicher der digitalen Welt, in denen nichts verloren<br />

geht, verkennt die spezifische Verschränkung von Medium<br />

und Gehalt, die unsere literarische Kultur ausgezeichnet hat, seit<br />

1816 von Friedrich Christoph Perthes „Der deutsche Buchhandel<br />

als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur“ erschien.<br />

Perthes, der 1796 in Hamburg die erste Sortimentsbuchhandlung<br />

in Deutschland eröffnete, gehörte zu den Gründern des Börsenvereins<br />

des deutschen Buchhandels, und die Entwicklung, die<br />

mit ihm einsetzte, gibt seiner Überzeugung recht, Literatur entstehe<br />

immer in Wechselwirkung mit der Kultur ihrer Verbreitung.<br />

So, wie etwa der Roman als Form seinen Siegeszug nur deshalb<br />

und erst dann antreten konnte, als er sich für eine literarisierte Öffentlichkeit<br />

als das ideale Packmaß von Fiktionen erwies. Mit der<br />

Gründung der modernen Universitäten, mit den <strong>Zeit</strong>ungen und<br />

ihren Feuilletons, den Verlagen, Buchhandlungen und Lesezirkeln<br />

fand diese Kultur die Gestalt, die wir kennen, eine gesellschaftliche<br />

Formation der Lesenden, zu deren grundlegenden Gesetzen<br />

die Unterscheidung von Text und Kommentar gehört, diejenige<br />

zwischen Autor und Werk, die Anerkennung und Honorierung<br />

von Urheberschaft, die Unverletzlichkeit des Textes. Das Ausmaß<br />

des medialen Bruchs, den wir erleben, zeigt sich daran, dass all<br />

diese Regeln heute zur Disposition stehen.<br />

Ein schleichender Prozess der Auszehrung ist im Gang, man<br />

spürt sein Fortschreiten überall, in den Buchhandlungen, den<br />

Universitäten, den Rundfunkanstalten, den Literaturhäusern und<br />

Schulen: überall die potemkinsche Empfindung, durch bloße Fassaden<br />

zu gehen. Zwar gibt es all diese Institutionen noch, aber es<br />

kommt mir so vor, als wären sie dabei, von innen heraus zu vergehen.<br />

Die literaturwissenschaftlichen Seminare, in die ich eingeladen<br />

werde, muten ihren Studenten keine Bücher mehr zu, sondern<br />

kopieren zehnseitige Ausschnitte, anhand derer nicht etwa<br />

Romane verstanden, sondern lediglich Frage- und Diskussionstechniken<br />

eingeübt werden sollen. Kunststücke. Immer mehr Traditionsbuchhandlungen,<br />

die seit Jahrzehnten Lesungen veranstalten,<br />

mutieren zu Papeterien. In den Rundfunksendern trifft man<br />

auf Redakteure, die das Buch, über das sie mit einem sprechen<br />

wollen, nicht mehr gelesen haben dürfen, damit sie die Hörer besser<br />

abholen können, wie man das nennt.<br />

Es ist, als fahre man von einer Geisterstadt zur nächsten, und<br />

überall trifft man auf Menschen, die in ihrer Begeisterung für die<br />

Literatur alt geworden sind und wissen, dass das, was sie tun, mit<br />

ihnen enden wird. Der literarische Raum zerfällt, er verliert seine<br />

Gravitation, alle Kräfte streben hinaus.<br />

Wie sehr das literarische Kunstwerk selbst im Kern von diesem<br />

Prozess der Auszehrung betroffen wird, ja dass man sich dieses<br />

Kunstwerk überhaupt nicht unabhängig von dem Gedächtnisraum<br />

der literarischen Öffentlichkeit vorstellen darf, in den<br />

hinein es entsteht, zeigt sich an den eklatanten Veränderungen<br />

der Weise, wie Bücher gelesen werden. Auffällig an den Leserrezensionen<br />

des Onlinebuchhandels, die zunehmend die literarische<br />

Kritik ablösen, ist, dass jedes Buch rezipiert wird, als wäre<br />

es das erste, das man liest. Intertextuelle Bezüge, Anspielungen,<br />

Traditionen werden nicht mehr erkannt, eine gelungene Lektüre<br />

ist vor allem eine, bei der keine Verunsicherung der eigenen Kompetenz<br />

die Leseerfahrung stört. Der Boom von Festivals und Literaturevents<br />

bestätigt paradoxerweise nur dieses Absterben der<br />

Literarizität, denn der Untergang der literarischen Öffentlichkeit<br />

und Bildung erzwingt geradezu das eintauchende, unbedingte Leseerlebnis<br />

der Jugend, bei dem das Buch die reale Welt zu ersetzen<br />

imstande ist. Danach bleibt nur, es ebenso wie den musikalischen<br />

Hit, dem man eine Weile verfällt und dessen man doch zwangsläufig<br />

überdrüssig wird, in einer Liste abzuspeichern.<br />

Wird unter diesen Voraussetzungen etwas bleiben von dem,<br />

was mir kostbar an Literatur ist? Von jenem Zwielicht der Erwartung<br />

und des Wissens, das um die Bücher glimmt und sie mit all<br />

den anderen Lektüren irrlichternd auflädt? Ich glaube: Nichts<br />

bleibt. Die Hoffnung, wir könnten uns in der <strong>Zeit</strong>kapsel unserer<br />

Romane und Filme, unserer Bilder und Lieder in die Zukunft retten,<br />

ist naiv. <strong>Zeit</strong>en grundlegender medialer Brüche, wie wir gerade<br />

einen erleben, zeichnen sich dadurch aus, dass den Menschen<br />

plötzlich all das, was ihnen eben noch kostbar war, zum Ballast<br />

wird, mit dem sie im besten Fall lediglich Pietät noch verbindet.<br />

Ein solcher medialer Bruch geschieht nicht zum ersten Mal in<br />

unserer Geschichte. In den Breviarien des vierten, fünften Jahrhunderts<br />

unserer <strong>Zeit</strong>rechnung, die hilflos versuchten, das schwindende<br />

Wissen Roms in Kompilationen zusammenzufassen, als die<br />

Fähigkeiten der Autoren zu erlahmen begannen, kann man nachlesen,<br />

was das bedeutet. Als sei etwas dabei zu verwelken, spürt<br />

man in diesen Texten das Nachlassen des Stils, die fehlende Kraft<br />

zur Durchführung, die Unfähigkeit, ein Thema zu gestalten. Wie<br />

von einer Krankheit befallen, werden die Sätze immer einfacher,<br />

die rhetorischen Figuren nicht mehr beherrscht, die Metaphern<br />

stupide. An die Stelle des zerfallenden Wissens zuvor sorgfältig<br />

tradierter Quellen tritt nach und nach hilfloses Hörensagen. Diese<br />

Hilf- und Sprachlosigkeit, die sich schließlich im mühsamen Aufrechterhalten<br />

der Form erschöpft, ist unendlich traurig. Wir leben<br />

in einer solchen Epoche. Mit dem Verschwinden des Nährbodens,<br />

auf dem die Werke siedeln, verdorren auch sie.<br />

Ich schaue mich um in Raum 79 des Philosophikums I der<br />

Universität Gießen, sehe diesen Fußboden, die Lampen, die leeren<br />

Regale und Resopaltische und diesen Schrank darin, der aus<br />

einer anderen <strong>Zeit</strong> stammt. Auch seine handwerkliche Schönheit<br />

ist die Schönheit einer einmal gelebten Realität des Wissens.<br />

Endlich öffnet Professor Landfester ihn. An den Innenseiten der<br />

Türen, mit Reißzwecken befestigt, eine vergilbte schreibmaschinengeschriebene<br />

Inventarliste und der Stahlstich des Fabrikanten<br />

Kalbfleisch, des privaten Sammlers, der seine berühmte Sammlung<br />

ägyptischer Papyrii zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts der<br />

Universität vermachte. Die kostbaren Stücke stehen in schmalen<br />

Fächern wie in einem alten Schallplattenschrank, jeweils zwischen<br />

zwei Glasscheiben gepresst.<br />

„Warum kennen wir eigentlich das, was wir aus der Antike kennen?“,<br />

frage ich. „Es ist das, was übrig geblieben ist“, sagt Landfester.<br />

„Zunächst ging all das verloren, was keine Aufnahme in die<br />

alexandrinische Bibliothek fand. Dann gab es den verheerenden<br />

Brand. Und schließlich einen entscheidenden Bruch der Überlieferung<br />

zwischen 600 und 800. Die sogenannten dunklen Jahrhunderte.<br />

In dieser <strong>Zeit</strong> ist die antike Literatur weitgehend verloren<br />

gegangen.“ „Wie kann man sich das vorstellen? Was geschah<br />

112 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Foto: Stefan Noebel-Heise/imago<br />

da?“ „Ganz banal: Die Menschen haben die Texte nicht mehr abgeschrieben.<br />

Und die Bücher sind dann einfach verrottet, nicht<br />

wahr? Das waren heidnische Bücher, also bestand kein Interesse.<br />

Das ist ja das Besondere an Karl dem Großen, dass er meinte, das<br />

Lateinische sei für seinen modernen Staat und die Bildung notwendig.<br />

Er hat alles suchen lassen an Literatur, was in Klöstern<br />

noch da war. Und die Literatur, die man da um 800 nach Christus<br />

fand, die ist uns heute weitgehend erhalten. Von da an gab es<br />

einen kontinuierlichen Prozess der Tradierung. Im Westen über<br />

Karl, in Byzanz etwa über Photios, den großen Patriarchen. Alles<br />

aber, was damals im Westen nicht in die neue Schrift, in die<br />

karolingische Minuskel, übernommen wurde, gibt es nicht mehr.<br />

Und das Gleiche geschah fast zur selben <strong>Zeit</strong> im griechischen Bereich:<br />

Was in Byzanz nicht gesucht und gesammelt wurde, war<br />

dauerhaft verloren.“<br />

Wie sich das angefühlt haben muss, dieses Verschwinden?<br />

Ist uns diese Empfindung nicht längst vertraut? Zivilisatorischer<br />

Irgendwann hat man<br />

die Texte nicht mehr<br />

abgeschrieben. Der<br />

Rest ist dann einfach<br />

verrottet<br />

Headcrash. Schweigen auf allen Kanälen. Pausenbild. Die kulturelle<br />

Nulllinie. Nur hier und da flackert noch etwas in der Dunkelheit<br />

auf, wohl immer, bis zum Ende, hoffnungsspendendes Zeichen,<br />

es lasse sich doch zurückgewinnen, was längst verloren ist.<br />

„Wir kennen Schulen aus Bordeaux etwa, wo im sechsten Jahrhundert<br />

noch Griechisch unterrichtet wurde. Das ist ganz außergewöhnlich.<br />

Es ist schon erstaunlich, wie lange das antike Bildungssystem<br />

sich auch im politischen Zusammenbruch noch gehalten<br />

hat.“ „Hat man eine Vorstellung davon, was alles verloren gegangen<br />

ist?“ „Man kann rechnen. Wir wissen für Athen, dass zwischen<br />

500 und 100 vor Christus ungefähr 1500 Komödien aufgeführt<br />

worden sind. Und davon sind elf vollständig erhalten, von Aristophanes,<br />

und fünf weitgehend, von Menander, nicht?“ „Kann man<br />

sagen, dass die erhaltenen die besten sind? Oder ist die Überlieferung<br />

zufällig?“ „Nicht ganz. Menander etwa ist, obwohl er der<br />

große Klassiker war, nicht ins Mittelalter gekommen, der ist am<br />

Ende der Antike verloren gegangen. Aber durch Papyrusfunde in<br />

Ägypten, also durch Reste nichtverrotteter Bücher aus Müllhaufen<br />

und Ruinen, die teilweise vollständig waren, ist er überliefert<br />

worden. Aristophanes, einer der größten Komödiendichter, ist<br />

nicht wegen seiner Komik erhalten, sondern weil er gutes Attisch<br />

schrieb. Und das war vom zweiten Jahrhundert nach Christus an<br />

Kult. Man musste so schreiben, es entstanden Lexika, und darüber<br />

wurde Aristophanes in Byzanz weitergegeben.“<br />

„Gibt es eigentlich antike Originalausgaben?“ „Nein, das haben<br />

wir nicht. Wir versuchen, aus den verschiedenen Handschriften,<br />

die ja meist erst aus dem achten und neunten Jahrhundert<br />

stammen, zusammenzusetzen, was der Autor geschrieben haben<br />

könnte.“ „Es gibt keinen einzigen Autografen?“ „Nein, nein, ich<br />

glaube nicht.“<br />

Die Problematik des Umkopierens sei eben nicht neu, sagt<br />

Professor Landfester weiter. Bedenklich sei aber das zunehmende<br />

Tempo in den digitalen Medien. Schnelle Generationswechsel, das<br />

wisse man ja aus der Biologie, produzieren genetische Fehler. „Das<br />

führt zum Verlust. Und zwar zum endgültigen Verlust. Und leichter<br />

als früher bei den Papyrii. Heute ist dann einfach nichts mehr<br />

da. Aber vielleicht haben wir auch zu viel, nicht? Eine gewisse Selektion<br />

ergibt sich immer daraus, dass tatsächlich nicht alles in<br />

das neue Medium überführt wird. Das ist wie bei der Umschrift<br />

damals in die Minuskel. Das ist nur viel schlimmer heute, da es<br />

keine zweite Chance des Wiederentdeckens mehr geben wird. Damals<br />

verrotteten die Schriftrollen dann eben, und das dauerte. Jetzt<br />

aber geht es ganz schnell.“<br />

Aber was ist es eigentlich, das uns heute verloren geht? Gewiss<br />

jene beschriebene literarische Kultur, in der das Buch auf<br />

eine komplexe Weise zirkulierte. Doch was ist es, was da zirkulierte?<br />

Was ist das Buch?<br />

Jacques Derrida betont in einem Vortrag in der Bibliothèque<br />

nationale de France bereits 1997, die Frage des Buches habe nichts<br />

mit der Frage der Schrift, der Schreibweise oder der Einschreibungstechniken<br />

zu tun, denn Bücher würden nach völlig heterogenen<br />

Schriftsystemen verfasst. Das Buch ist nicht an eine Schrift<br />

gebunden. Die Frage des Buches fällt auch nicht mit der Frage der<br />

Druck- und Reproduktionstechniken deckungsgleich in eins: Es<br />

gab zum Beispiel Bücher vor und nach der Erfindung des Druckes.<br />

Die Frage des Buches ist genauso wenig die Frage des Werkes.<br />

Nicht jedes Buch ist ein Werk. Viele Werke hingegen, selbst<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 113


| S a l o n | P a p y r i i<br />

literarische oder philosophische Werke, Werke eines geschriebenen<br />

Diskurses, sind nicht notwendigerweise Bücher. Schließlich<br />

fällt die Frage des Buches auch nicht mit der Frage des Trägers in<br />

eins. Auf strikt buchstäbliche Weise kann man von Büchern sprechen,<br />

die von den verschiedensten Trägern getragen werden: nicht<br />

nur von den klassischen Trägern, sondern auch von der Quasi-<br />

Immaterialität oder Virtualität elektronischer oder telematischer<br />

Operationen.<br />

Was aber bleibt dann? Was ist es, von dem unsere Empfindung<br />

uns so deutlich sagt, dass es im Medienwechsel, den wir erleben,<br />

unwiederbringlich verloren gehen wird? Nachdem Derrida alles<br />

ausgeschieden hat, was jenes Ding, das wir Buch nennen, mit sich<br />

führt, ohne dass es seinen Kern berührte, und was in diesem Wechsel<br />

mühelos übersetzt werden wird, bleibt für ihn als wesentliche<br />

Kennzeichnung des Buches eine dialektische Spannung zwischen<br />

Sammlung und Zerstreuung. Nichts anderes.<br />

Das Buch ist flüchtige Zerstreuung, zitiert er Maurice Blanchots<br />

Aufsatz „Das kommende Buch“, denn es enthält, was es nicht<br />

umfassen kann, es ist zugleich größer und kleiner als das, was es<br />

ist. Es ist eine Weise, die Endlichkeit der eigenen Form mit der<br />

Unendlichkeit seines Inhalts zu verknüpfen.<br />

Dabei handelt es sich indes nur um eines von zwei Modellen<br />

des Buches, es gibt noch ein zweites, das eine nennt Derrida das<br />

neohegelianische Modell des großen totalen Buches, das andere<br />

das ontologisch-enzyklopädische. Der Medienwechsel, den wir erleben,<br />

ist nichts als die Weise, wie jenes gegen dieses ausgespielt<br />

wird. Nicht das Buch selbst verschwindet, sondern die Idee, dass<br />

der Text von einem Anfang und einem Ende begrenzt wird, einer<br />

Totalität also, von der man annimmt, dass sie von einem Autor, einem<br />

einzigen identifizierbaren Autor konzipiert und produziert, ja<br />

signiert und der respektvollen Lektüre eines Lesers vorgelegt wird,<br />

der das Werk nicht antastet. Ihren Grund hat diese respektvolle<br />

Lektüre in der Erfahrung, dass das begrenzte Werk, begrenzt wie<br />

das Leben des Lesers, das Wunder erlebbar macht, einen unendlichen<br />

Inhalt zu evozieren.<br />

Der damit konkurrierende Entwurf des Buches ist die Enzyklopädie,<br />

in der alles seinen Raum hat und die für Derrida in der<br />

Tradition der christlichen Metapher vom Buch der Welt steht.<br />

Das Netz hat die Sehnsucht einer totalen Repräsentanz wiederbelebt<br />

und aktualisiert sie permanent in der Aufforderung, einzutreten<br />

in einen Raum des Schreibens und Lesens der elektronischen<br />

Schrift, die mit vollem Tempo von einem Punkt der Welt<br />

zu einem anderen reist und über die Grenzen und Rechte hinweg<br />

nicht nur die Weltbürger, sondern jeden Leser als möglichen oder<br />

virtuellen Schriftsteller mit dem universellen Netz einer potenziellen<br />

„Universitas“ einer mobilen und transparenten Enzyklopädie<br />

verbindet. Es beruht dieser Raum der elektronischen Schrift auf<br />

dem zutiefst religiösen Versprechen, alle Alterität werde verschwinden,<br />

wie auch die gesamte Geschichte der Einschreibungs- und<br />

Archivierungstechniken, die ganze Geschichte der Träger und der<br />

Weisen des Druckes davon bestimmt ist, dass jede neue Etappe<br />

unweigerlich von einer sakralen oder religiösen Reinvestition begleitet<br />

wird. Eine solche religiöse Reinvestition erleben wir. Oder,<br />

anders gesagt: einen Kreuzzug.<br />

Schon 1999, als ich mit „Null“ eine der ersten literarischen<br />

Anthologien im Netz publizierte, deren Texte sich die Redakteure<br />

der Feuilletons damals zumeist noch von ihren Sekretärinnen<br />

ausdrucken lassen mussten, weil sie noch nicht online waren, erhoffte<br />

man sich unendlich viel von einer solchen digital-enzyklopädischen<br />

Literatur. Aber ich wüsste keinen Hypertext im Netz,<br />

keinen Blog, keinen Tweet, dessen literarische Halbwertszeit seitdem<br />

länger gewesen wäre als das Staunen über die jeweilig neuen<br />

medialen Möglichkeiten, die er nutzt. Denn Literatur ist in ihrem<br />

Kern nicht enzyklopädisch, eben weil sie das Unendliche im Blick<br />

hat, das in der Endlichkeit ihrer Werke erscheint. Ihre Chiffre für<br />

eine Weltabbildung, die im Anspruch auf Totalität natürlich mit<br />

der Enzyklopädie konkurriert, ja sich sogar immer sicher war, nicht<br />

der falschen Unendlichkeit der Addition zu verfallen, ist die Geschichte.<br />

Die Geschichte, verstanden als Erzählung, bildet in der<br />

Literatur auf eine Weise, die mit jener Dialektik von Sammlung<br />

und Zerstreuung zu tun hat, von der Derrida spricht, sich scheinbar<br />

deckungsgleich ab auf jener anderen Geschichte, die alle <strong>Zeit</strong><br />

des Menschlichen meint, alle <strong>Zeit</strong> überhaupt.<br />

Verloren geht, wie es mir scheint, die Fähigkeit zu dieser Erfahrung.<br />

Denn sie ist im höchsten Maße auf eine ganz bestimmte<br />

Die Konsequenzen<br />

des Verlusts unserer<br />

Lesekultur könnten<br />

viel verheerender sein,<br />

als wir denken<br />

Lektürepraxis angewiesen, in der die Autonomie und Totalität des<br />

Werkes ihre notwendige Entsprechung in der Einsamkeit und Abgeschlossenheit<br />

des Lesers finden. Solche Lektüre stiftet einen Ort<br />

und ist auf einen spezifischen Ort angewiesen, dazu gehören Leser<br />

und Buch auf eine unbedingte, von der Welt losgelöste Weise.<br />

Es gibt mich und den Text. Das Zuklappen des Buches ist Scheitern<br />

und lässt Stille zurück. Das Gespräch kann nur geführt oder<br />

verweigert werden. Wird es geführt, ist die <strong>Zeit</strong> angehalten und<br />

suspendiert jede Ökonomie von Down- und Uploads. Die Begegnung,<br />

die das Buch ermöglicht, ist ernst. Diese Unbedingtheit ist<br />

die erste Wahrheit der Literatur. Ihre Sätze sind nichts, sind nur<br />

Papier, oder eben Orte einer solchen Anerkennung, an denen ein<br />

Pakt geschlossen wird.<br />

Ich weiß beim Weiterwischen eines Textes auf dem iPad: Das<br />

ist fraglos ein Text. Aber ich weiß auch, dass dieser Text zu einem<br />

anderen Reich gehört als dem beschriebenen. Es ist naiv zu meinen,<br />

neue Ausgabegeräte träten nun einfach an die Stelle dessen,<br />

was ein Buch ist. So unklar es noch sein mag, auf welchem Gerät<br />

bald die Buchstaben erscheinen werden, so klar ist, dass dieses<br />

Medium Inhalte und Formen verändern wird nach der Weise, in<br />

der sich bereits unsere Apperzeptionsfähigkeit verändert. Es steht<br />

kaum zu erwarten, dass, wie es ein optimistisches Vorurteil will,<br />

weiterhin eine nennenswerte Anzahl von Menschen Bücher auf<br />

die beschriebene Weise lesen wird, die für mich stets ein Akt der<br />

Wandlung, ja der Gnade ist.<br />

114 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Foto: Privat<br />

Die Fähigkeit dazu schwindet in dem Maß, in dem die Wirklichkeit<br />

der mobilen und transparenten Enzyklopädie uns einhüllt.<br />

Die Dialektik, die den Prothesengott Mensch so mit seinen technischen<br />

Ausstülpungen verbindet, dass sie immer auf ihn zurückwirken,<br />

macht es schon heute für viele Menschen immer schwerer,<br />

sich auf einen längeren, abgeschlossenen – und das heißt hier:<br />

nicht mit dem Netz verbundenen – Text zu konzentrieren, ja selbst,<br />

sich in einem Buch zu verlieren. Man schweift in Gedanken ab.<br />

Man vermisst den Hyperlink zu Bildern, Tönen, anderen Texten.<br />

Den Kommentar zu dem, was man gerade liest. Was wiederum der<br />

Revolution der Formate entgegenkommt. Das Buch wird sich im<br />

digitalen Raum auflösen. Habent sua fata libelli – das Buch teilt<br />

das Schicksal seiner Besitzer. Wenn die Literatur der freie Traum<br />

der Literarizität war, war die Schrift im Wachen die bindende<br />

Form unseres Ichverständnisses, unseres Gesellschaftsvertrags, unserer<br />

Vorstellungen von Öffentlichkeit, Menschenrecht, Politik.<br />

Die Konsequenz des Verlusts dieser Form von Literarizität könnte<br />

noch verheerender sein, als wir momentan schon befürchten.<br />

„Wie kamen Sie zur Altphilologie?“, frage ich Professor Landfester.<br />

„Das hatte nur bildungsgeschichtliche Gründe“, sagt er.<br />

„Ich komme aus dem Münsterland und habe sehr stark miterlebt,<br />

wie man in den fünfziger Jahren noch mal mit aller Energie versucht<br />

hat, eine Wertewelt aufrechtzuerhalten der antiken Bildung,<br />

des Humanismus, sozusagen als Rettungsanker gegen die kommunistische<br />

Barbarei. In diesem Milieu bin ich groß geworden.“<br />

„Sie sind 1937 geboren.“ „Ja. Wobei das Personal dieser Restauration<br />

des Humanismus nach dem Krieg natürlich dasselbe Personal<br />

war, das schon in den dreißiger und vierziger Jahren tätig war.<br />

Das machte das damals auch schnell unglaubwürdig.“ „Es verschwindet,<br />

womit Sie Ihr ganzes Leben verbracht haben.“ „Nicht<br />

zwingend. Ich empfinde keine Trauer darüber, dass andere nicht<br />

mitmachen, was ich tue. Dass wir nicht auf der Erfolgsspur sind.“<br />

Schon sei das Altgriechische beinahe verschwunden. „In Hessen<br />

sind es etwa 600 Schüler, die es noch lernen. Die Quote liegt bei<br />

anderthalb Prozent eines Abiturjahrgangs.“<br />

„Und? Was sagen Sie Ihren Studenten? Warum sollen sie heute<br />

Griechisch lernen?“ Landfester überlegt lange und spricht dann<br />

so leise, als wäre ihm nur allzu bewusst und daher auch ein wenig<br />

peinlich, wie unzeitgemäß klingt, was er dann doch sagt: „Im<br />

griechischen Denken ist von Anfang an immer wieder alles infrage<br />

gestellt worden. Radikalität des Denkens zeigt sich aber in<br />

der Sprache. Es gibt in keiner mir bekannten Literatur eine solche<br />

Radikalität wie im Griechischen. Und je mehr die griechischen<br />

Texte im Mittelpunkt standen, umso stärker ist auch das Denken<br />

der Neuzeit radikal gewesen.“<br />

Vielleicht, weil ihm das Schweigen nach diesem Satz unangenehm<br />

ist, nimmt Professor Landfester jetzt endlich eine der<br />

Glasplatten aus dem deckenhohen dunklen Sammlungsschrank,<br />

der noch immer offen steht, und zeigt mir ein handtellergroßes,<br />

ausgefranstes Stück Papyrus. Es sei das Fragment des Briefes einer<br />

Sklavin, erklärt er und fährt mit dem Finger die Buchstaben<br />

entlang, mit denen die Frau ihre Sorge ausdrückte, ob es ihrem<br />

Herrn gutgehe. Auch die Anschrift des Adressaten findet sich auf<br />

dem Fetzen, der irgendwann begraben wurde vom Sand und wiedergefunden<br />

in den Ruinen einer Lehmziegelsiedlung am Nil wie<br />

Abertausende andere Überreste dieses Schreibstoffs auch, von winzigen<br />

Bruchstücken, auf deren dünnem Gewebe die letzten Reste<br />

der uralten Tinte fast verschwinden, bis zu foliogroßen Abschriften<br />

kaiserlicher Edikte. Kaum Literatur, leider, vor allem Rechnungen,<br />

buchhalterische Aufzeichnungen, Dekrete, Brieffragmente, und<br />

vor allem die immer selben Texte, endlose Abschriften von Schülern,<br />

alle geborgen aus jener schmalen Zone, die zufällig weder<br />

die Winde aus der Wüste noch die jährlichen Überschwemmungen<br />

des Nils erreichten.<br />

Es bleibt das Wort immer analog, denke ich, während ich den<br />

Papyrusfetzen betrachte und darauf die verblassende Schrift. Galltinte,<br />

nicht wahr? Gerbsäure, Wasser, Kupfer- und Eisensulfat. Was<br />

ich meine: Die Unterscheidung von analog und digital trifft nicht<br />

den Kern von Sprache. Verändert bei der Digitalisierung von Tönen<br />

oder Bildern sich stets etwas substanziell, so berührt sie das<br />

Entscheidende an der Sprache nicht, weil der Übersetzungsprozess<br />

immer schon zu ihr gehört. Jedes Wort wird von uns übersetzt in<br />

eine innere Präsenz. Und diese Übersetzung gleicht einem operativen<br />

Eingriff, sie trepaniert den Schädel des Lesers, indem sie sich<br />

seiner Vermögen und vor allem seiner Mängel bedient, denn mit<br />

ihren Metaphern und Metonymien und mit ihren Paradoxa zielt<br />

sie auf Überforderung ab und damit paradoxerweise auf Schöpfung.<br />

Gerade in der Erfahrung der Unerschöpflichkeit eines literarischen<br />

Werkes, das doch immer ein endliches bleibt, erlebt der<br />

Leser seine eigene Endlichkeit, die ja nur dadurch unerträglich<br />

ist, dass uns die Empfindung der Unendlichkeit eingegeben ist.<br />

Die Unendlichkeit des digitalen Raumes ist lügenhaft darin,<br />

dass er diese Sterblichkeit zu überwinden behauptet, sie aber tatsächlich<br />

nur leugnen kann. All die Texte, die von vornherein ihren<br />

Platz in einem Netz des Gesprächs und im Gespräch des Netzes<br />

haben und finden, sind der mediale Sand, in dem die Papyrii<br />

der Literatur vergraben werden. Doch auch aus diesem Sand wird<br />

man einmal ihre verrotteten Reste wieder hervorziehen. Und auch<br />

dann wird es wieder jemanden geben, der an diesen Resten von<br />

Lebendigkeit sich wärmen wird als der Glut des Humanums, das<br />

letztlich nichts anderes ist als die Sehnsucht, das Ewige zu denken<br />

in einem sterblichen Körper, wahrhaftig zu sein und autonom<br />

in einer Welt, die diese Autonomie zu jeder Stunde bedroht.<br />

Professor Landfester stellt die Glasplatte zurück und zieht eine<br />

andere heraus. Das sei, erklärt er, der Überrest der Schreibübung<br />

eines ägyptischen Kindes. Er übersetzt: „Homer ist kein Mensch.<br />

Homer ist ein Gott.“ Vorstellbar, dass wir nicht mehr wüssten,<br />

wer Homer war. Und unvorstellbar zugleich. Wir wären andere.<br />

Noch aber leben wir in derselben Welt mit jenem Kind am Nil,<br />

das vor mehr als 2000 Jahren mit einem Schreibrohr und Galltinte<br />

erste griechische Buchstaben auf ein Stück Papyrus malte.<br />

Nicht nur schreiben lernte es so mit Homer, sondern: mit uns zu<br />

sprechen. Und wir hören ihm zu. Die Fragilität dieses Gesprächs<br />

ist das Wunder der Schrift.<br />

Der Text ist ein Vorabdruck aus Thomas Hettches neuem Essayband „Totenberg“, der<br />

am 10. September im Verlag Kiepenheuer & Witsch erscheint und 18,99 Euro kostet<br />

Thomas Hettche<br />

ist mit Romanen wie „Die Liebe der Väter“ und „Woraus<br />

wir gemacht sind“ (KiWi) bekannt geworden<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 115


| S a l o n | B e n o t e t<br />

Freude<br />

empfängt Dich!<br />

Im August ist es nirgends schöner als in<br />

Heiligendamm. Das wusste schon der<br />

15-jährige Felix Mendelssohn. Die Festspiele<br />

Mecklenburg-Vorpommern lassen die Tradition<br />

der musikalischen Sommerfrische fortleben<br />

Von Daniel Hope<br />

V<br />

or zwei Jahren habe ich die künstlerische Leitung der<br />

Festspiele Mecklenburg-Vorpommern übernommmen,<br />

die jeden Sommer im Nordosten Deutschlands stattfinden:<br />

127 Konzerte zwischen Mitte Juni und Mitte September.<br />

Diese Festspiele liebe ich besonders, weil sie eine Art musikalische<br />

Entdeckungsreise durch einen wunderschönen Landstrich bieten.<br />

Konzerte finden in idyllischen Gutshäusern, kleinen Dorfkirchen,<br />

Schlössern und Scheunen statt. Manche Spielorte wie das malerische<br />

Renaissanceschloss an einem kleinen See im Dorf Ulrichshusen<br />

haben – dank der Vision der Schlossherren Alla und Helmuth<br />

von Maltzahn sowie durch unvergessliche Auftritte von Künstlern<br />

wie Yehudi Menuhin, Anne-Sophie Mutter und Mstislaw Rostropowitsch<br />

– längst ihren festen Platz in der deutschen, ja sogar<br />

europäischen Musiklandschaft erobert.<br />

Auch Heiligendamm hat sich erneut als bemerkenswerte Spielstätte<br />

etabliert. „Hier ist der Blick bewunderungswürdig schön,<br />

der heilige Damm bezaubert uns gänzlich“, schrieb 1766 der englische<br />

Reiseschriftsteller Thomas Nugent. Wer schon einmal auf<br />

der magischen Strandpromenade vor dem Grand Hotel gestanden<br />

hat, die prunkvollen weißen Villen aus dem 19. Jahrhundert<br />

im Rücken mit Blick auf die Ostsee mit ihren aufwühlenden Farben,<br />

vergisst das nie mehr. Sogar dem 15-jährigen Felix Mendelssohn<br />

erging das ähnlich. Aufgeregt schrieb er 1824 seiner Mutter,<br />

dass er um halb sechs Uhr morgens aus den Federn in eine<br />

kleine Zinkwanne sprang, Kaffee trank und rasch die Treppe abwärtseilte,<br />

„damit ich Punkt 7 Uhr den ersten Badewagen, der an<br />

den Strand zum Heiligen Damm fährt, bekomme“. Vom ersten<br />

deutschen Seebad hatte Familie Mendelssohn von Wilhelm von<br />

Humboldt erfahren, dem preußischen Staatsmann, der in höchsten<br />

Tönen davon schwärmte. Damals hatte man die luxuriöse Möglichkeit,<br />

bei starkem Seegang das neue Badehaus zu besuchen, wo<br />

erwärmtes Wasser in Badewannen als Heilmittel angeboten wurde.<br />

Entstanden ist Heiligendamm im Jahre 1793 durch den mecklenburgischen<br />

Herzog Friedrich Franz I. Im 19. und 20. Jahrhundert<br />

war das Bad vom europäischen Hochadel geprägt. Auch einzelne<br />

Mitglieder der russischen Zarenfamilie sollen zu den Gästen<br />

gezählt haben sowie der Seeheld Lord Nelson, Rainer Maria Rilke<br />

und Franz Kafka. Ungewöhnlich sind auch die Ausführungen zu<br />

den Aufwendungen, die der Großherzog betrieb, um die Badegesellschaft<br />

zu unterhalten. Er war ein moderner Regent, der mit der<br />

<strong>Zeit</strong> ging und dem Musischen viel Raum ließ. Genau das scheint<br />

den jungen Mendelssohn so beeindruckt zu haben. Im malerischen<br />

Nachbarort Bad Doberan wurden die teuersten Blasinstrumente<br />

aus London importiert und die besten Musiker engagiert, um sie<br />

für die Gäste spielen zu lassen. Der Großherzog verstand schon<br />

damals die Idee von „Wellness“ und war überzeugt, dass das intensive<br />

Hören von „neuartigen Klangnuancen“ den Geist fördern<br />

würde. Mendelssohn geriet in Verzückung, als er merkte, dass ihm<br />

die Umgebung „so viel Komponierlaune“ entlockte.<br />

Als ich zu Beginn meiner Arbeit für die Festspiele von der<br />

Verbindung zu Mendelssohn erfuhr, entschied ich mich sofort,<br />

Musik auf eine besondere Art wieder mit Heiligendamm zu verbinden,<br />

und zwar in Form eines Brückenschlags zwischen Mecklenburg<br />

und den Vereinigten Staaten. Zum dritten Mal in Folge<br />

werden auch während der diesjährigen Festspiele die besten Nachwuchsmusiker<br />

aus der Carnegie Hall und dem Lincoln Center<br />

nach Heiligendamm kommen. Sie wohnen, proben öffentlich,<br />

konzertieren im Grand Hotel und lassen sich von dieser historischen<br />

Umgebung immer wieder aufs Neue inspirieren, genau<br />

wie der junge Mendelssohn. Und Nachwuchsmusiker aus Mecklenburg-Vorpommern<br />

bekommen die Chance, mit den Amerikanern<br />

zu musizieren oder sogar in New York aufzutreten. Das einzige<br />

Problem: Für einige der Amerikaner ist Heiligendamm der<br />

erste Eindruck, den sie von Europa bekommen, und damit sind<br />

sie für immer reichlich verwöhnt! „Heic te laetitia invitat post balnea<br />

sanum – Freude empfängt Dich hier, entsteigst Du gesundet<br />

dem Bade“ verheißt die goldene Inschrift am Kurhaus, in dem<br />

die Konzerte der Festspiele stattfinden. Ein gutes Omen und der<br />

Beweis dafür, dass Musik und das Wohlbefinden eigentlich öfter<br />

beieinanderliegen könnten.<br />

Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband<br />

„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch „Toi,<br />

Toi, Toi – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt) und die<br />

CD „The Romantic Violinist“. Er lebt in Wien<br />

illustration: anja stiehler/jutta fricke illustrators<br />

116 <strong>Cicero</strong> 8.2012


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| S a l o n | 9 0 J a h r e H y m n e<br />

Eberts Staatsstreich<br />

Die Olympischen Spiele haben begonnen, die Fußball-EM liegt gerade hinter uns. Wäre<br />

es nicht an der <strong>Zeit</strong>, uns eine Nationalhymne zu geben, die niemanden beschämt?<br />

von Uwe Soukup<br />

D<br />

ie<br />

Reichspräsidenten Friedrich<br />

Ebert zur Nationalhymne bestimmt<br />

wurde, gingen schon immer weit<br />

auseinander. Während Golo Mann in dem<br />

Lied noch 1986 „zarte Lyrik“ erkannte,<br />

war es Heinrich Böll einfach nur „peinlich“.<br />

Egal, wie man dazu steht, Fakt ist,<br />

dass Hoffmann von Fallerslebens „Lied der<br />

Deutschen“ als Nationalhymne nie demokratisch<br />

legitimiert wurde. Weder hat je ein<br />

deutsches Parlament über diese Frage entschieden<br />

noch findet sich – im Unterschied<br />

zur Flagge – irgendwo ein entsprechender<br />

Gesetzestext, der die Nationalhymne bestimmt.<br />

Es ist nicht einmal geregelt, wie<br />

diese Frage geregelt werden soll.<br />

Dieses erstaunliche juristische Vakuum<br />

geht auf die Anfangsjahre der Weimarer<br />

Republik zurück. Politische Morde<br />

der Rechten waren an der Tagesordnung:<br />

Matthias Erzberger und Walther Rathenau<br />

zählten zu den prominentesten Opfern.<br />

Just in dieser Situation entschied der<br />

sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich<br />

Ebert, das „Lied der Deutschen“ mit<br />

allen drei Strophen per Verordnung zur<br />

deutschen Nationalhymne zu dekretieren.<br />

Der Hintergedanke dabei soll gewesen sein,<br />

die undemokratische Rechte wenn schon<br />

nicht für die Republik zu begeistern, so<br />

doch wenigstens ruhig zu stellen und ihrem<br />

„irregeleiteten Patriotismus“ den richtigen<br />

Weg zu weisen. Dieser Plan ist gründlich<br />

misslungen, so wie eigentlich alle Pläne<br />

Eberts: Die Weimarer Republik entstand<br />

links, in einer Friedensrevolution, und endete<br />

rechts, bei Hitler.<br />

Meinungen über das „Lied<br />

der Deutschen“, das vor 90 Jahren,<br />

am 11. August 1922, vom<br />

Schon am späten Abend der Revolution,<br />

am 9. November 1918, hatte sich Ebert als<br />

neuer Reichskanzler in der Staatskanzlei<br />

wiedergefunden und war buchstäblich von<br />

dieser Minute an bemüht, die Revolution<br />

ungeschehen zu machen. Dazu brauchte<br />

er Partner, und die konnte er nicht im eigenen,<br />

eher revolutionären Lager finden.<br />

Und genauso kam es später auch zu der unglücklichen<br />

Hymnenentscheidung.<br />

Geschrieben hatte Heinrich August<br />

Hoffmann von Fallersleben das Lied im<br />

August 1841 auf Helgoland. Dort wurde<br />

es auch 1890 erstmals offiziell gesungen,<br />

in Anwesenheit des Kaisers. Es entwickelte<br />

sich bald zu einem deutschnationalen<br />

und antisemitischen Kampflied. Im Ersten<br />

Weltkrieg wurde die Legende verbreitet,<br />

junge Soldaten wären „Deutschland,<br />

Deutschland über alles“ singend in das<br />

feindliche Sperrfeuer gelaufen. Natürlich<br />

wusste Ebert um die Belastung des Liedes,<br />

aber er gehörte zu jenen Sozialdemokraten,<br />

die zu Kriegsbeginn nur noch „Deutsche“<br />

kannten. Er verlor zwei Söhne an der<br />

Front, die SPD Millionen von Mitgliedern.<br />

Die rechtsradikalen Freicorps-Verbände,<br />

die Ebert bald auf jene früheren Anhänger<br />

der SPD schießen ließ, die unzufrieden<br />

waren mit seiner „Revolution“, sangen<br />

gerne das Deutschlandlied. Ebenso wie die<br />

Putschisten vom März 1920, die ihn zur<br />

Flucht aus der Hauptstadt nötigten. Nein,<br />

eine demokratische Weise war das Lied nie.<br />

„Man darf doch nicht vergessen“, kritisierte<br />

die Vossische <strong>Zeit</strong>ung 1922 Eberts Entscheidung,<br />

„dass in letzter <strong>Zeit</strong> gerade die rechtsradikalen<br />

Kräfte sich des Liedes bemächtigt<br />

haben, als ob es sich um eine Art von<br />

Parteigesang handelte.“<br />

Ebert versuchte das schwierige Lied<br />

zu kaschieren, indem er möglichst oft die<br />

dritte Strophe „Einigkeit und Recht und<br />

Freiheit“ zitierte und Deutschland lediglich<br />

„über alles liebte“, aber es half nichts.<br />

„Seit Monaten bemühen sich Sozialisten<br />

und Demokraten, das ‚Deutschland-<br />

Lied‘ aus dem Lager der ‚Hakenkreuzler‘<br />

zu annektieren. Aber dieses Lied ist vollkommen<br />

kompromittiert“, schrieb Weihnachten<br />

1922 ein junger Sozialdemokrat<br />

im Vorwärts.<br />

Es mag ja sein, dass Hoffmann von<br />

Fallersleben nicht die Weltherrschaft im<br />

Sinn hatte, als er „Deutschland, Deutschland<br />

über alles“ textete und der Hamburger<br />

Verleger Campe es begeistert druckte. In<br />

der NS‐<strong>Zeit</strong> wurde natürlich mit Verve die<br />

erste Strophe gesungen, anschließend das<br />

Horst‐Wessel‐Lied. Das Welteroberungsprogramm<br />

Hitlers hatte einen Soundtrack,<br />

der schon immer da war und so klang, als<br />

sei die Weltherrschaft a priori die politische<br />

Bestimmung der Deutschen gewesen:<br />

„Über alles in der Welt.“<br />

Man sollte meinen, das „Lied der Deutschen“<br />

wäre spätestens nach den Hitlerjahren<br />

unrettbar verloren gewesen. Viele sahen<br />

das so. Auch „Papa Heuss“, der erste Bundespräsident.<br />

Lange wehrte er sich gegen<br />

Adenauers Wunsch, die alte Hymne wieder<br />

einzusetzen, gab einen Text in Auftrag, bat<br />

Carl Orff um eine Melodie – vergeblich.<br />

Die neue Hymne, die Heuss nach seiner<br />

Silvesteransprache 1951 präsentierte, fiel<br />

beim Publikum durch. Adenauer nutzte<br />

die Gunst der Stunde. Während eines tatsächlich<br />

„Staatsbesuch“ genannten Aufenthalts<br />

in Westberlin forderte er im Titania-Palast<br />

in Berlin-Steglitz das Publikum<br />

118 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Illustration: jan Rieckhoff; Foto: Harald Miko (Autor)<br />

vollkommen überraschend auf, sich zu erheben<br />

und mit ihm die dritte Strophe des<br />

Deutschlandlieds zu singen: „Wenn ich<br />

Sie nunmehr bitte, die dritte Strophe des<br />

Deutschlandlieds zu singen, dann sei uns<br />

das ein heiliges Gelöbnis, dass wir ein einiges<br />

Volk, ein freies Volk und ein friedliches<br />

Volk sein wollen.“ Niemandem fiel<br />

auf, dass es das Wort Frieden in der deutschen<br />

Hymne gar nicht gibt.<br />

Franz Neumann, Berliner SPD‐Chef,<br />

verließ aus Protest den Saal, andere folgten.<br />

Die SPD nannte den Vorgang eine „eigenmächtige<br />

Handlung mit schwierigsten<br />

nationalen Folgen“. Das Lied sei von den<br />

Nationalsozialisten entwertet worden. Jakob<br />

Kaiser, Adenauers „Bundesminister für<br />

gesamtdeutsche Fragen“, schwärmte: „Ein<br />

schöner Staatsstreich!“ Im Tagesspiegel hieß<br />

es am nächsten Tag, dass der Kanzler nicht<br />

habe klären können, „ob es sich um eine<br />

Improvisation oder um ein Missverständnis<br />

bei der Aufstellung des Programms“ gehandelt<br />

habe. Dabei hatte er vor der Veranstaltung<br />

den Text der dritten Strophe auf die<br />

Sitze legen lassen. Sicher ist sicher.<br />

Bundespräsident Heuss ließ sich vernehmen,<br />

„das Singen der dritten Strophe des<br />

Deutschlandlieds bedeute keine Entscheidung<br />

über eine Nationalhymne“. Die <strong>Zeit</strong><br />

dafür sei noch nicht reif. Er hoffte auf den<br />

Erfolg seiner in Auftrag gegebenen neuen<br />

Hymne und blockierte Adenauer noch<br />

einige Monate. Doch als seine Hymne<br />

keinen Anklang fand, einigte er sich mit<br />

Adenauer zähneknirschend in einem Briefwechsel,<br />

der anschließend von der Bundesregierung<br />

veröffentlicht wurde, als handle<br />

es sich um ein Gesetz. Um mit sich selbst<br />

„im Reinen zu bleiben“, wie Heuss schrieb,<br />

wolle er aber auf eine feierliche Proklamation<br />

verzichten. Ausdrücklich wird in diesem<br />

Briefwechsel erneut das gesamte Lied –<br />

alle drei Strophen – zur Nationalhymne<br />

erklärt. Der letzte Satz Adenauers lautet:<br />

„Bei staatlichen Veranstaltungen soll die<br />

dritte Strophe gesungen werden.“ Schwer<br />

nachvollziehbar, wie aus diesem lapidaren<br />

Satz die weitverbreitete, aber falsche<br />

Annahme entstehen konnte, die erste, die<br />

„Deutschland-Deutschland-über-alles“-<br />

Strophe sei verboten.<br />

Dass alle drei Strophen Teil der Nationalhymne<br />

blieben, hatte über Jahrzehnte<br />

eine ganze Reihe von Skandalen und Skandälchen<br />

zur Folge. Immer wieder ließen<br />

vor allem christdemokratische Politiker den<br />

Text der gesamten Hymne drucken und in<br />

Schulen verteilen oder sangen in der Öffentlichkeit<br />

demonstrativ die erste Strophe.<br />

Auch die deutsche Fußballnationalmannschaft<br />

stimmte vor dem Endspiel 1954 in<br />

Bern die erste Strophe an, ebenso wie die<br />

20 000 deutschen Schlachtenbummler<br />

nach dem überraschenden Sieg. Damit sich<br />

das bei der Siegerfeier im Berliner Olympiastadion<br />

nicht wiederholte, las Theodor<br />

Heuss den versammelten 80 000 Zuschauern<br />

den Text der dritten Strophe vor.<br />

Während der Wiedervereinigungsverhandlungen<br />

der beiden deutschen Staaten<br />

1990 tauchte der Gedanke auf, eine neue<br />

Hymne aus Versatzstücken beider Staatslieder<br />

zusammenzubasteln, da die Versmaße<br />

fast identisch waren. Daraus wurde nichts.<br />

Manche brachten auch Brechts sogenannte<br />

„Kinderhymne“ ins Spiel, die er aus Ärger<br />

über Adenauers Coup im Titania-Palast<br />

geschrieben hatte. Aber Helmut Kohl<br />

hatte schon 1987 gewarnt: „Wer gegen das<br />

Deutschlandlied ist, der will eine andere<br />

Republik.“ Das war mit Kohl nicht zu machen.<br />

Immerhin hatte er 1949 als 19-Jähriger<br />

an einer Wahlkampfveranstaltung in<br />

Landau teilgenommen, bei der Adenauer<br />

den Trick mit der dritten Strophe schon<br />

einmal ausprobiert hatte.<br />

Nach der Wiedervereinigung erinnerten<br />

sich Bundeskanzler Kohl und Bundespräsident<br />

von Weizsäcker der Methode<br />

Adenauer/Heuss und griffen zur Feder. In<br />

knappen Briefen teilten sie sich gegenseitig<br />

mit, dass nunmehr allein „die dritte Strophe<br />

des Liedes der Deutschen von Hoffmann<br />

von Fallersleben mit der Melodie<br />

von Joseph Haydn die Nationalhymne für<br />

das deutsche Volk“ sei.<br />

Deutschland im Jahre 2012: Wäre es<br />

nicht an der <strong>Zeit</strong>, sich einmal grundsätzlich<br />

um die Frage der Hymne zu kümmern,<br />

statt unsere Fußballnationalspieler, vor allem<br />

jene mit Migrationshintergrund, tadelnd<br />

aufzufordern, dieses schwierige Lied<br />

mitzusingen? Uns eine Hymne zu geben,<br />

die nicht peinlich ist, die niemanden beschämt<br />

und niemanden verletzt? Die auch<br />

Menschen singen können, deren Heimat<br />

vor Jahrzehnten zu den Klängen unserer<br />

Hymne in Schutt und Asche gelegt<br />

wurde? Sicherlich ist eine Nationalhymne<br />

kein Hemd, das man so einfach wechselt.<br />

Aber dieses Hemd ist unmodern, verschlissen<br />

und blutbefleckt.<br />

Uwe Soukup<br />

ist Journalist und Buchautor.<br />

Unter anderem schrieb er die<br />

Sebastian-Haffner-Biografie<br />

„Ich bin nun mal Deutscher“<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 119


| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

Schmales für<br />

Selbstdenker<br />

Nir Baram ist angetreten, um die israelischen<br />

Starintellektuellen Amos Oz und David Grossman zu<br />

beerben. Sein jüngster Roman „Gute Leute“ tut genau<br />

das – mit einem Paukenschlag. Zu Besuch in Tel Aviv<br />

Von Marko martin<br />

U<br />

nd das soll eine Bibliothek sein – ein paar metallicgraue<br />

Baumarktregale wie in einer Studenten-WG?<br />

Dazu ein Hausherr, der sich in Jeans und ausgeleiertem<br />

T-Shirt irgendwann aus der Sofaecke eines weiträumigen,<br />

leer wirkenden Tel Aviver Wohnzimmers schält<br />

und barfuß über den Fliesenboden schlurft. „Dann darf ich also<br />

die vielen Bücher zeigen …“, sagt Nir Baram mit jener merkwürdig<br />

kristallinen Adoleszentenstimme, die in Israel jeder literarisch<br />

und politisch interessierte Radiohörer oder Fernsehzuschauer seit<br />

langem kennt. Macht er womöglich Witze? Mehr oder minder<br />

schma le, windschief dastehende oder übereinandergestapelte Exemplare<br />

mit hebräischen Lettern. Vielleicht handelt es sich dabei<br />

ja um Anleitungsbüchlein für den Bau von Regalen.<br />

„Ich würde eher von Dekonstruktion sprechen. Etwa da drüben,<br />

bei Nikolai Gogols ‚Mantel‘. Ich war 14, es war der Jom-<br />

Kippur-Gedenktag 1991, und als wäre es gestern gewesen, erinnere<br />

ich mich an meinen damaligen Schock: Verdammt, der<br />

Erzähler sagt ja gar nicht immer die Wahrheit, sondern spielt mit<br />

dem Leser.“ Weil es ohnehin keine Wahrheit gibt und nur Nuancen<br />

des mehr oder minder Fiktionalen? „Von wegen“, entgegnet<br />

der preisgekrönte Romancier, dessen Zweiter-Weltkriegs-Roman<br />

„Gute Leute“ in diesem Monat in deutscher Übersetzung<br />

im Hanser-Verlag erscheint. „Einfache Wahrheiten gibt es nicht,<br />

doch umso dringender stellt sich eine Frage. Wie in seiner <strong>Zeit</strong><br />

leben ohne Lügen, trotz aller Masken und Projektionen? F. Scott<br />

Fitzgerald jagt seine Helden auf diese Erkundungstour, und der<br />

120 <strong>Cicero</strong> 8.2012


In Israel kennt jeder politisch interessierte Radiohörer und Fernsehzuschauer seine<br />

kristalline Adoleszentenstimme: Nir Baram, zu Hause in Tel Aviv<br />

Foto: Ziv Koren<br />

‚Große Gatsby‘ ist tatsächlich der Größte von ihnen – eine Art<br />

Geistesbruder von Ulrich.“ Welcher Ulrich denn?<br />

Nir Baram kneift die dunkelbraunen, in tiefen Höhlen liegenden<br />

Augen spöttisch zusammen, legt den Kopf schief und wuselt<br />

sich in gespielter Verzweiflung das Haar. „Könnte sein, dass gerade<br />

von Robert Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘ die Rede ist …“ Der<br />

lakonische Fitzgerald und der kunstvoll mäandernde Musil als prägende<br />

Einflüsse für einen 35‐jährigen Tel Aviver Schriftsteller, dem<br />

sein älterer Kollege Amos Oz erst kürzlich bescheinigt hat, er öffne<br />

der israelischen Literatur neue Wege? „Aber klar doch, der Intellektuelle<br />

Ulrich! Wobei es übrigens weniger um den Stil geht als<br />

um die Aneignung von Sujets, den Blick auf Mentalitäten.“ Aber<br />

weshalb ist dann Musils Wälzer vor uns im Regal so dünn, als sei<br />

er geschrumpft? Statt einer Antwort zieht Baram ein weiteres, eher<br />

handliches Buch heraus und öffnet es von hinten – quadratische<br />

schwarze Buchstaben, am unteren Rand die arabische Ziffer 1 und<br />

wenige Hundert Seiten weiter, von rechts nach links geblättert: „Natürlich<br />

‚Schuld und Sühne‘!“ Das Hebräische ist einfach kompakter<br />

als andere Sprachen, also benötigt es gedruckt auch weniger Raum.<br />

Den Fjodor-Dostojewski-Roman hat übrigens irgendjemand aus<br />

dem Polen vor dem Krieg hierher gerettet, es gehörte Nir Barams<br />

vor ein paar Jahren verstorbenen Mutter, die es geradezu verschlungen<br />

hat, wie auch die Bücher von Iwan Turgenjew und Lew Tolstoi<br />

und selbst die der sozialistischen Realisten Michail Scholochow<br />

und Maxim Gorki, die in den fünfziger und sechziger Jahren im<br />

israelischen Gewerkschaftsverlag erschienen sind.<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 121


| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

Einen Teil seiner Bibliothek hat Baram von seiner Mutter geerbt, die ägyptisch-spanische Vorfahren hatte, vor allem<br />

die russische Literatur liebte und selbst vor sozialistischen Realisten wie Michail Scholochow nicht zurückschreckte<br />

Die Mutter las aus Liebe zur Literatur, aber auch zur Festigung<br />

der eigenen Identität, erzählt Baram. Sie hatte ägyptisch-spanische<br />

Vorfahren, die Eltern seines Vaters kamen aus Polen und Syrien,<br />

und um beim damals den Ton angebenden, vor allem aus Osteuropa<br />

stammenden aschkenasischen Establishment akzeptiert zu<br />

werden, las sie all die Russen.<br />

Wobei – und auch das weiß im überschaubaren Israel ein jeder<br />

– Nir Baram alles andere als ein Außenseiterspross ist. Sowohl<br />

sein Großvater als auch sein Vater hatten in den Regierungen<br />

von Ben Gurion und Jitzchak Rabin Ministerämter inne, unkorrumpierbare<br />

linksliberale Zionisten, deren dennoch zwiespältiges<br />

Erbe Baram in seinem 2009 erschienenen Roman „Der Wiederträumer“<br />

geradezu apokalyptisch fiktionalisiert hat: Am Schluss<br />

geht das sich stets als emanzipatorisches Eiland verstehende Tel<br />

Aviv in einem Hurrikan unter. Folgt man den öffentlichen Einsprüchen<br />

und Reden, die Baram als eine Art eloquenter Nachfolger<br />

von Amos Oz und David Grossman auf Buchmessen und bei<br />

den Demonstrationen der israelischen Friedensbewegung hält, ist<br />

seine Sorge nicht gering, der demokratische Judenstaat könnte irgendwann<br />

auch in der Realität untergehen. Bedroht von außen,<br />

vor allem aber unterminiert von den ultrarechten und fundamental-religiösen<br />

Kräften im Inneren.<br />

„Aber stopp mal, palavern wir etwa wieder über den ewigen<br />

Nahostkonflikt, oder geht’s um die Bibliothek?“ Nir Barams Lächeln<br />

wird unverschämt breit; gleich wird die helle Stimme Provozierendes<br />

verkünden. „Fehlen also hier in den Regalen die<br />

entsprechenden Bücher über den Unabhängigkeits- und den<br />

Sechstagekrieg, und könnte außer dem Standardwerk von Raul<br />

Hilberg nicht auch die Holocaust-Literatur umfangreicher vertreten<br />

sein? Das ist es doch, was man im Ausland von einem schreibenden<br />

Israeli erwartet: In seinen Romanen hat er über die Besatzung<br />

oder über Terroranschläge zu schreiben, nicht zu vergessen<br />

diese Familiengeschichten über die Schoah.“<br />

Stattdessen: Der von Nir Baram geradezu kultisch verehrte<br />

Roberto Bolaño, dazu Jorge Luis Borges, Louis-Ferdinand Céline,<br />

Marcel Proust und Salman Rushdie, auch sie alle in einer vermeintlich<br />

„schmalen“ hebräischen Ausgabe, die Amerikaner von<br />

Dos Passos und Norman Mailer bis Saul Bellow, William Gaddis<br />

und Thomas Pynchon. Man ahnt die postmoderne Präferenz<br />

und wundert sich dann zum ersten Mal nicht, als nebenan – obwohl<br />

ebenso anarchisch gestapelt – die üblichen Universitätsverdächtigen<br />

auftauchen: Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Michel<br />

Foucault, Jean Baudrillard oder Maurice Blanchot. „Meine Studentenlektüren,<br />

denen ich viel verdanke“, sagt Baram. „Was kein<br />

Widerspruch ist: Theorielektüre muss das Fabulieren ja nicht notwendigerweise<br />

zerstören, im Gegenteil: Flexibel und gegen den<br />

Strich gelesen, wappnet sie gegen unnütze Psychologisierungen<br />

und Bedeutungshuberei.“<br />

Nun hat der längst erwachsene Sohn einer russische Literatur<br />

verschlingenden Mutter jedoch diesen neuen, in Israel lebhaft diskutierten<br />

Roman „Gute Leute“ geschrieben, der im Vorkriegs-Berlin<br />

und in Stalins Sowjetunion spielt, dessen Protagonistin Alexandra<br />

sich mit dem Geheimdienst NKWD einlässt, während der<br />

Deutsche Thomas als apolitischer Individualist in der mittleren<br />

Ebene der Nazi-Administration den geplanten Massenverbrechen<br />

zuarbeitet – und dies bereits vor dem berüchtigten „Plan Barbarossa“.<br />

Ein diktaturvergleichendes Aufarbeitungsepos also?<br />

„Gehen wir mal ins Arbeitszimmer!“ Vorbei an den DVD- und<br />

CD-Stapeln im Flur – ein kurzes Hallo ins Schlafzimmer, wo Barams<br />

Freundin für ein Universitätsexamen büffelt – und dann in<br />

einem kleinen Raum mit Schreibtisch und PC linker Hand erneut<br />

ein Baumarktregal, bis obenhin gefüllt. Nicht ohne die Überraschung<br />

des Besuchers auszukosten, liest Nir Baram die Namen:<br />

Joachim Fest, Karl Dietrich Bracher, Christopher Browning, Ian<br />

Kershaw, Nadeshda Mandelstam, Warlam Schalamow. „And here<br />

we go: All die Bücher, die ich lesen musste, ehe ich ‚Gute Leute‘<br />

schreiben konnte. Vor allem, um die Täter nicht als Monster ästhetisieren<br />

zu müssen, wie es Jonathan Littell so effektvoll in den<br />

‚Wohlgesinnten‘ getan hat.“ Und wieder ist da dieses Nesteln am<br />

T-Shirt und das teenagerhafte Lächeln. Vermutlich ist es Nir Barams<br />

Art, auch im Alltagsgestus Zuschreibungen und Erwartungen<br />

zu unterlaufen. Ganz zu schweigen von seinen Büchern.<br />

Marko Martin<br />

ist Journalist und Schriftsteller. Zuletzt erschien sein<br />

Erzählband „Schlafende Hunde“ (Die Andere Bibliothek,<br />

2009). Zurzeit arbeitet er an einem Buch über israelische<br />

Literatur, das „Kosmos Tel Aviv“ heißen soll<br />

Fotos: Ziv Koren, Privat (Autor)<br />

122 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Ab 40 ist man<br />

von Männern,<br />

die nur<br />

schön sind,<br />

gelangweilt.<br />

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| S a l o n | D a s S c h w a r z e s i n d d i e B u c h s t a b e n<br />

Die strukturelle Gewalt<br />

der Dummheit<br />

Intelligenz muss nicht absatzschädigend sein! Den Beweis<br />

erbringen amerikanische Fernsehserien wie „The Wire“<br />

Die Bücherkolumne von Robin Detje<br />

H<br />

eute geht es um die Frage: Gibt<br />

es intelligentes Leben im Fernsehen?<br />

Man muss sie differenziert<br />

beantworten: In Deutschland eher nicht,<br />

in den USA eher doch. Komisch, wir<br />

Deutschen machen uns so gerne über die<br />

Dummheit der Amerikaner lustig. Dabei<br />

ist dort, anders als bei uns, in der Unterhaltungsindustrie<br />

Intellektualität erlaubt.<br />

Intelligenz gilt nicht als absatzschädigend.<br />

Nur beim deutschen Fernsehen lautet das<br />

Gesetz: Was noch nicht doof ist, wird doof<br />

gemacht.<br />

Die US-amerikanische Kabelfernsehserie<br />

„The Wire“ aus den Jahren 2002 bis<br />

2008 gehört zu den ersten großen Kunstwerken<br />

des 21. Jahrhunderts. (Staffel 1-3<br />

auf DVD bei Warner Home Video; zwischen<br />

10 und 35 Euro; Box mit allen fünf Staffeln<br />

von HBO Video, nur auf Englisch, circa<br />

100 Euro.) Getaggt unter: Später Höhepunkt<br />

des Naturalismus, Gesellschaftspanorama,<br />

Honoré de Balzac. Ein Racheakt<br />

gestandener Reporter und Polizisten an einem<br />

System, das sie ausgestoßen hat: Sie<br />

wollten mit der Wirklichkeit umgehen.<br />

Aber die Gesellschaft wollte nichts mehr<br />

von der Wirklichkeit wissen. Also schlugen<br />

sie dieser Gesellschaft eine Fernsehserie<br />

um die Ohren und führten uns vor, was<br />

mit uns passiert, wenn wir uns der Wirklichkeit<br />

verweigern und uns stattdessen in<br />

potemkinschen Dörfern einbunkern: Wir<br />

verrotten.<br />

Die Heroinsüchtigen in den Abbruchhäusern<br />

der Stadt Baltimore, an deren Leid<br />

sich diese Serie entzündet, verrotten buchstäblich.<br />

Rundherum sind es dann eher die<br />

Strukturen, die zu verrottet sind, ihnen zu<br />

helfen: Die Polizei soll lieber Statistiken frisieren,<br />

damit die Politiker besser dastehen,<br />

anstatt die Verbrechen an der Wurzel zu<br />

bekämpfen. Die Lehrer sollen den Schülern<br />

Testfragen einbläuen, damit die Schule<br />

besser dasteht, anstatt die Schutzbefohlenen<br />

fürs Leben stark zu machen. Die Journalisten<br />

sollen lieber kitschige Geschichten<br />

für die Pulitzer-Preis-Jury erfinden, mit<br />

denen die <strong>Zeit</strong>ungen sich selbst inszenieren,<br />

anstatt ihren Kontrollauftrag zu erfüllen.<br />

Staffel für Staffel zeigt „The Wire“, dass<br />

bei uns – denn Baltimore ist überall – das<br />

Funktionieren der Institutionen nur noch<br />

eine hohle Behauptung ist. Und wenn es<br />

Probleme gibt, engagieren wir einen neuen<br />

PR-Berater, der sie wegredet, anstatt sie zu<br />

lösen. Es geht um die Dummheit selbst,<br />

eine zerstörerische Dummheit, erzeugt von<br />

den von uns selbst geschaffenen Strukturen.<br />

Es geht sozusagen um die strukturelle<br />

Gewalt der Dummheit. Und um die<br />

Menschen, die sich an unserer Dummheit<br />

bereichern.<br />

***<br />

Auch mit der Hilflosigkeit von bürokratisch<br />

erstarrten Fürsorgeeinrichtungen beschäftigt<br />

sich die Fernsehserie „The Wire“.<br />

illustration: cornelia von seidlein<br />

124 <strong>Cicero</strong> 8.2012


foto: Loredana Fritsch<br />

Zu den Vorarbeiten der Autoren der Serie,<br />

David Simon und Ed Burns, gehörte<br />

die Großreportage „The Corner“ aus dem<br />

Jahr 1997. (David Simon, Ed Burns: „The<br />

Corner. Bericht aus dem dunklen Herzen<br />

der amerikanischen Stadt“; Kunstmann-Verlag,<br />

München 2012; 800 Seiten,<br />

24,95 Euro.) Das jetzt von einer unüberschaubaren<br />

Anzahl von Übersetzern sehr<br />

souverän ins Deutsche gebrachte Buch ist<br />

das Werk einer anderen Art von Fürsorge.<br />

Ein Jahr haben Simon und Burns, wie sie<br />

schreiben, an einer Straßenecke in einem<br />

Drogenviertel von Baltimore zugebracht,<br />

bis sie dort jede Menschenseele kannten.<br />

Man fürchtet sich beim Lesen ein wenig<br />

vor dem Kitsch, den die journalistische<br />

Pseudofiktionalisierung des Lebens wirklicher<br />

Menschen so leicht erzeugt. Aber<br />

die Autoren begegnen dieser Angst mit<br />

einer Gründlichkeit und Beharrlichkeit,<br />

der man nicht leicht entkommt. Sie lassen<br />

nicht nach, bis ihre Botschaft eisklar<br />

ist: Es ist das kleine Leben kleiner Menschen,<br />

dem die Fürsorge der Institutionen<br />

gelten sollte und an dem sie schändlich<br />

scheitern. Und der „Krieg gegen die<br />

Drogen“, den die USA führen, löst keine<br />

Probleme; er dient als Deckmantel für<br />

schmutzige Geschäfte. Das Buch ist eine<br />

Ehrenrettung des Journalismus, so wie<br />

„The Wire“ zur Ehrenrettung des Fernsehens<br />

werden sollte.<br />

***<br />

Der Diaphanes-Verlag hat eine neue Buchreihe<br />

aufgelegt, sogenannte „Booklets“,<br />

um die hundert Seiten dünn, die Qualitätsfernsehserien<br />

behandeln. In den ersten<br />

drei Bänden geht es um „The Wire“, die<br />

„Sopranos“ und „The West Wing“. Fernsehabende<br />

mit Fußnoten sozusagen. Ein<br />

Brückenschlag zwischen Entertainment<br />

und Intelligenz. Ein schöner, in Deutschland<br />

ganz unüblicher Gedanke. Ist friedliche<br />

Koexistenz zwischen Fernsehen und<br />

Klugheit möglich? Der Verlag sagt Ja und<br />

schlägt zur Bekräftigung drei Mal zart mit<br />

dem Schuh aufs Rednerpult.<br />

Simon Rothöhler gelingt der schönste<br />

Band. (Simon Rothöhler: „The West<br />

Wing“; Diaphanes, Berlin 2012; 96 Seiten,<br />

10 Euro.) Er schreibt allerdings auch über<br />

die schwächste, angreifbarste Serie, was<br />

ihm eine kritische Distanz erlaubt, aus<br />

der sich Funken schlagen lassen. Diedrich<br />

Diederichsens Zugang ist von fast<br />

schon altmeisterlicher Eleganz. (Diedrich<br />

Diederichsen: „The Sopranos“; Diaphanes,<br />

Berlin 2012; 112 Seiten, 10 Euro.) Und<br />

Daniel Eschkötter sieht man bei der Interpretationsarbeit<br />

am meisten schwitzen.<br />

( Daniel Eschkötter: „The Wire“; Diaphanes,<br />

Berlin 2012; 96 Seiten, 10 Euro.) Aber „The<br />

Wire“ ist auch eine Serie, über die man eher<br />

960 Seiten schreiben möchte als 96.<br />

Manchmal kommen die Herren ins gemütliche<br />

Intellektualisieren, machen in Jargon<br />

und erinnern uns daran, dass man Intelligenz<br />

leider auch in Form eines höheren<br />

Fußballfanclubs für ältere Jungs organisieren<br />

kann. Und manchmal sitzen sie auch<br />

einfach nur auf dem Sofa und kratzen sich<br />

den Barthes. Aber wirklich nur manchmal<br />

und vergleichsweise selten. (Apropos Roland<br />

Barthes: Die „Mythen des Alltags“<br />

aus den fünfziger Jahren, bahnbrechend für<br />

den geisteswissenschaftlichen Allinterpretationsanspruch<br />

und auf Deutsch lange nicht<br />

vollständig zu haben, gibt es jetzt auch als<br />

Taschenbuch im Suhrkamp-Verlag. Mit<br />

34 Bonusmythen! Muss man lesen.)<br />

Meistens funkeln diese drei Bände<br />

und bringen einen auf verbotene Gedanken:<br />

Wie wäre es, wenn diese Art von Intellektualität<br />

in Deutschland ganz selbstverständlich<br />

wäre? Wenn sich niemand<br />

mehr dafür schämen müsste, dass er oder<br />

sie Michel Foucault zitiert? Wenn man in<br />

Deutschland klug sein dürfte, ohne sich<br />

ständig dafür entschuldigen zu müssen?<br />

Und wenn irgendwann auch Frauen Diaphanes-Booklets<br />

schreiben dürften?<br />

Ach, eher wird Angela Merkel das Spardiktat<br />

für Europa aufheben, und das<br />

wird niemals geschehen. Seltsam, dass in<br />

Deutschland so viele Menschen Geisteswissenschaften<br />

studieren und dann brav<br />

die eigene Marginalisierung hinnehmen.<br />

Der Intellektualität fehlt bei uns<br />

das Selbstbewusstsein. Gibt es intelligentes<br />

Leben in Deutschland? Lassen die<br />

Strukturen es zu? Mit dieser Frage schalten<br />

wir wieder um zu Florian Silber eisen<br />

und Slavoj Žižek.<br />

Robin Detje<br />

lebt als Autor und Übersetzer<br />

in Berlin<br />

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8.2012 <strong>Cicero</strong> 125


| S a l o n | K ü c h e n k a b i n e t t<br />

Minestrone mit<br />

Mariahilf<br />

Geschmacksverstärker haben einen schlechten<br />

Ruf, aber das hindert niemanden daran, sie<br />

großzügig einzusetzen. Wie das Doping im<br />

Spitzensport ist ihr Einsatz das Ergebnis<br />

unseres eigenen, willentlichen Selbstbetrugs<br />

Von Thomas Platt und Julius Grützke<br />

D<br />

er Sommer ist die <strong>Zeit</strong> der Enttäuschungen. Nicht nur<br />

das Wetter fällt uns regelmäßig in den Rücken, sondern<br />

auch bei großen Sportereignissen müssen die Fans erkennen,<br />

dass ihre Lieblinge das in sie gesetzte Vertrauen nicht erfüllen.<br />

Schlimmstenfalls werden diese sogar wegen Dopings disqualifiziert.<br />

Nicht wenige Sportarten sind wegen solcher Vergehen in<br />

Verruf geraten und stehen inzwischen in noch schlechterem Ansehen<br />

als die Parteien. Doch wie in der Politik liegen die Ursachen<br />

für die Lügen und die falschen Versprechungen in den hochgesteckten<br />

Erwartungen des Publikums.<br />

Unmögliches zu verlangen und sich später darüber zu erregen,<br />

dass es nur mit Schwindelei erreicht werden konnte, ist eine<br />

Form von Selbstbetrug, die nicht nur die Renten- und die Dopingdiskussion<br />

bestimmt. Auch bei den Lebensmitteln lügt man<br />

sich in die Einkaufstasche. Der massenhafte Wunsch nach einem<br />

billigen Wein, der schmeckt wie eine Trockenbeerenauslese, lässt<br />

sich nun einmal nur mit Frostschutzmittel befriedigen. Es wäre<br />

auch naiv anzunehmen, der erbitterte Preiskampf der Dönerbuden<br />

könnte ohne Gammelfleisch geführt werden. Und wenn man mal<br />

genauer auf die wundersame Vermehrung der Discounter-Bioprodukte<br />

schaut, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass<br />

am Horizont schon der nächste Skandal wartet.<br />

Es geht aber nicht bloß darum, die Massen zu versorgen, sondern<br />

auch um den Rekord. Wie Olympioniken, die die Grenzen<br />

des physischen Leistungsvermögens überreizen, versuchen<br />

auch Spitzenköche die aromatischen Möglichkeiten ihrer Zutaten<br />

zu vertiefen. Dabei verfügen sie über zahlreiche Hilfsmittel<br />

und Kniffe – erlaubte wie verpönte. Allein das Erhitzen auf dem<br />

Herd ist ein Akt der Denaturierung. Von einigen neuartigen Techniken,<br />

zum Beispiel jenen der Molekularküche, ganz zu schweigen.<br />

Aber auch sie werden akzeptiert.<br />

Anders verhält es sich mit den Mitteln, die man als das Doping<br />

der Küche bezeichnen könnte. Geschmacksverstärker haben<br />

einen schlechten Ruf, aber das hindert niemanden daran, sie<br />

großzügig einzusetzen. Fast in jedem Fertiggericht tut Mononatriumglutamat<br />

seine Wirkung. Wenn allerdings ein Spitzenkoch<br />

sich zu seiner Verwendung bekennt und es nicht heimlich seinen<br />

Speisen beifügt wie seine Kollegen, die es beschönigend als<br />

„Mariahilf“ bezeichnen, wird er verfemt und geht seiner Sterne<br />

verlustig. Niemand scheint genau wissen zu wollen, wie der intensive<br />

Geschmack zustande kommt. Deshalb wird das Glutamat<br />

auf Lebensmittelpackungen kaum mehr deklariert, sondern<br />

erscheint allenfalls als „Hefeextrakt“. Man will die argwöhnischen<br />

Konsumenten nicht durch einen belasteten Begriff vom<br />

Kauf abhalten.<br />

Dabei ist die auf dem Index gelandete Chemikalie geradezu<br />

ein Baustein unserer Ernährung und seiner Geschmackserlebnisse.<br />

Tomaten und Pilze sind vielleicht deshalb als Zutat und<br />

Würzmittel so beliebt, weil sie viel Glutamat enthalten. Noch<br />

konzentrierter findet sich der Stoff im Parmesan – da wundert<br />

es nicht, dass die Italiener ihre fade Minestrone und so manchen<br />

Pastateller mit dem Hartkäse beraspeln. Aber auch jeder<br />

Saucenfonds findet seinen Sinn darin, natürliches Glutamat zu<br />

konzentrieren, nicht viel anders als die Sojasauce. Gegen diese<br />

alten Kulturtechniken aromatischer Vertiefung wendet niemand<br />

etwas ein. Wenn der hilfreiche Stoff aber nicht aus dem Kochvorgang<br />

selbst stammt, sondern in der Fabrik synthetisiert wurde,<br />

wirkt es, als sei eine unzulässige Abkürzung genommen worden –<br />

ganz wie ein Radrennfahrer, der mit Epo die Ergebnisse eines<br />

Höhentrainings potenziert, um Pyrenäengipfel in übermenschlicher<br />

Geschwindigkeit zu erklimmen.<br />

Genau wie im Sport entfaltet letztlich auch das Doping in der<br />

Küche eine fatale Wirkung. Der herzhafte Geschmack, den das<br />

Glutamatsalz auf die Spitze treibt, überstrahlt alle anderen Nuancen<br />

der Zubereitung und gewöhnt den Gaumen an eine Übertreibung.<br />

Von dieser Illusion einer Intensität zu lassen, fällt schwer – die<br />

Sinne stumpfen ab und lassen sich über eine fade Realität hinwegtäuschen,<br />

in der authentische Aromen nicht für alle zu haben sind.<br />

So wird Glutamat zum neuen Opium fürs Volk, ein Stoff, der den<br />

Menschen eine trostlose Situation schmackhaft macht.<br />

Julius Grützke und Thomas Platt<br />

sind Autoren und Gastronomiekritiker.<br />

Beide leben in Berlin<br />

illustration: Thomas Kuhlenbeck/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser<br />

126 <strong>Cicero</strong> 8.2012


Unser Wein des Monats<br />

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Champagnerhaus. Der Champagner Brut Excellence<br />

hat eine hellgoldene Farbe und ein lebhaftes<br />

Perlenspiel. In der Nase ist er intensiv, frisch und<br />

fruchtig. Am Gaumen sind Aromen von Birne, reifem<br />

Steinobst und Rebstockblüten mit leichtem Pinot<br />

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128 <strong>Cicero</strong> 8.2012


D i e l e t z t e n 2 4 S t u n d e n | S a l o n |<br />

Mit einem Lächeln<br />

Warum der Fotograf und Filmemacher Yann Arthus‐Bertrand<br />

alles, was er besitzt, verschenken wird<br />

Foto: Michael von Aulock<br />

M<br />

ein nächster Film wird davon<br />

handeln, was es heute heißt, ein<br />

Mensch zu sein. Ein Mensch<br />

zu sein heutzutage, bedeutet, dass man<br />

von Umweltzerstörung und Klimawandel<br />

weiß, von der Wirtschaftskrise und<br />

von der Armut in der Dritten Welt. Und<br />

man weiß auch, dass man Teil des Ganzen<br />

ist, dass man diese Dinge unterstützt,<br />

auch wenn man es nicht will. Ein<br />

Mensch zu sein, bedeutet aber auch, dass<br />

man seiner Familie gegenübertritt und<br />

seinem eigenen Tod ins Angesicht schaut.<br />

Kürzlich starb eine meiner engsten<br />

Freundinnen. Und sie tat das mit einem<br />

Lächeln auf den Lippen. Sie musste sich<br />

keine Sorgen über Dinge machen, die<br />

sie versäumt hatte. Sie hatte ein erfülltes,<br />

glückliches Leben. Sie war viel gereist,<br />

hatte immer versucht, ein guter Mensch<br />

zu sein, sie wurde geliebt. Das zu beobachten,<br />

war wunderschön.<br />

Wenn ich nur noch 24 Stunden zu leben<br />

hätte, würde ich also versuchen, der<br />

bestmögliche Mensch zu sein. Grundsätzlich<br />

sind wir nicht besonders gut, meistens<br />

denken wir nur an uns selbst. Ich<br />

werde mich nicht beschweren, sondern<br />

versuchen, mich meinem Schicksal zu ergeben.<br />

Wenn du selbst stirbst, ist das viel<br />

weniger dramatisch, als wenn deine Frau<br />

stirbt oder eines deiner Kinder.<br />

Vor nicht allzu langer <strong>Zeit</strong>, bei Dreharbeiten<br />

in New Orleans, hatte ich einen<br />

Hubschrauberunfall. Plötzlich befanden<br />

Mit atemberaubenden<br />

Luftbildaufnahmen und Filmen,<br />

die die Zerstörung der Erde<br />

dokumentieren, ist der Pariser<br />

Fotograf und Umweltaktivist Yann<br />

Arthus-Bertrand, Jahrgang<br />

1946, weltbekannt geworden. Im<br />

Herbst erscheint sein neuester,<br />

so schöner wie erschreckender<br />

Film „Planet Ocean“, der sich mit<br />

dem beginnenden Kollaps der<br />

Weltmeere auseinandersetzt<br />

wir uns im Sinkflug. Der Pilot und ich<br />

versuchten erst, den Absturz aufzuhalten,<br />

und dann, dem Helikopter zu entkommen.<br />

Beides war nicht möglich. Hubschrauber<br />

sind sehr gefährlich, man hat<br />

viele Unfälle mit ihnen. Deswegen ist es<br />

auch so unglaublich teuer, sie versichern<br />

zu lassen. Ich war mir sicher, dass ich<br />

sterben würde.<br />

Wir hatten unglaubliches Glück, als<br />

der Helikopter zu Boden stürzte. Wir kamen<br />

beide mit dem Leben davon, was an<br />

ein Wunder grenzte. Das Glück, das man<br />

in einem solchen Moment empfindet, ist<br />

schwer zu beschreiben. Die Rettungssanitäter<br />

kamen, und man steckte uns in ein<br />

Krankenhaus. Ich war so glücklich, dass<br />

ich mich fühlte, als sei ich betrunken. Ich<br />

wollte nur zwei Dinge tun: meine Frau<br />

anrufen und ein Glas Wein trinken. Ich<br />

fragte die Krankenschwestern so lange<br />

nach dem Wein, dass sie mir irgendwann<br />

entnervt ein paar Schlafmittel gaben,<br />

um mich ruhig zu stellen. Der Wein<br />

bedeutete Freundschaft für mich – mein<br />

Land, das Terroir, der Boden, von dem<br />

ich stamme. Ich wollte trinken wie ein<br />

Betrunkener. Ich habe diesen Moment<br />

nie vergessen. Das Wissen, dass man im<br />

Begriff ist zu sterben, löst ein unglaublich<br />

starkes Gefühl aus.<br />

An meinem letzten, dem perfekten<br />

Tag werde ich alles, was ich besitze, verschenken.<br />

Ich werde mit meinen Freunden<br />

und mit meiner Familie sprechen,<br />

mit meinen Eltern, meiner Frau und<br />

meinen Kindern, und versuchen, Wiedergutmachung<br />

zu leisten für die Sachen,<br />

die ich falsch gemacht habe. Ich werde<br />

ihnen sagen, dass ich sie liebe. Wir sind<br />

alle so ehrgeizig und versuchen, so viel zu<br />

erreichen, aber ich glaube, dass am Ende<br />

geliebt zu werden alles ist, was wir wollen.<br />

Um einen solchen letzten Tag zu leben,<br />

muss man den Tod akzeptieren. Er<br />

ist eines der Dinge, die man am schwersten<br />

akzeptieren kann. Aber es ist normal<br />

zu sterben. Jeder von uns muss es. Der<br />

Tod ist der wahrscheinlich wichtigste Teil<br />

unseres Lebens. Auch ich möchte mit einem<br />

Lächeln auf den Lippen sterben. Ich<br />

möchte sagen können: Au revoir, c’est<br />

fini, j’ai bien vécu. Ich habe alles getan,<br />

was ich konnte.<br />

8.2012 <strong>Cicero</strong> 129


C i c e r o | P o s t S c r i p t u m<br />

Vorbild Athen<br />

Von Alexander Marguier<br />

D<br />

ie deutschen hatten schon immer ein ambivalentes<br />

Verhältnis zur Freiheit, zur freien Marktwirtschaft erst<br />

recht. Amerikaner dagegen lassen sich in ihrem Vertrauen<br />

auf die segensreiche Wirkung des Kapitalismus für ihr<br />

individuelles Streben nach Glück so schnell durch nichts erschüttern.<br />

So lautet jedenfalls die fromme Legende über die angeblichen<br />

Mentalitätsunterschiede zwischen Alter und Neuer<br />

Welt. Und sie wird immer noch gern erzählt – insbesondere von<br />

jenen, die den deutschen Sozialstaat mit seinen vermeintlich<br />

überbordenden Umverteilungsmechanismen und seiner schier<br />

unersättlichen Gier nach Steuereinnahmen als geradezu gesellschaftszersetzend,<br />

weil leistungsfeindlich brandmarken wollen.<br />

Die jüngst veröffentlichte Studie des „Pew Research Center“<br />

(wohlgemerkt handelt es sich bei diesem nach einem amerikanischen<br />

Ölbaron benannten Forschungsinstitut um keine sozialistische<br />

Vorfeldorganisation) zeichnet allerdings ein ganz anderes<br />

Bild. Demzufolge glauben immerhin 69 Prozent der Deutschen,<br />

dass freie Märkte am besten für das Wohlergehen der<br />

Menschen sorgen. In den Vereinigten Staaten sind es indes nur<br />

noch 67 Prozent, Tendenz seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise<br />

vor vier Jahren stetig sinkend. Und während die<br />

Musterschüler des Kapitalismus offenbar von einer Sinnkrise erfasst<br />

sind, profiliert sich ausgerechnet die Bevölkerung des kommunistisch<br />

regierten China mit einer Zustimmungsquote von<br />

74 Prozent als neue Avantgarde der freien Marktwirtschaft.<br />

Verkehrte Welt? Ganz im Gegenteil. Die Abnutzungserscheinungen<br />

der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in ihrem angloamerikanischen<br />

Stammesgebiet – in Großbritannien sprachen<br />

sich sogar nur 61 Prozent der Befragten für sie aus – folgen einem<br />

Muster, das bis in die Antike zurückreicht. Plutarch etwa<br />

hatte über das Athen des Jahres 594 v. Chr. Folgendes zu berichten:<br />

„Da nun damals die Ungleichheit zwischen Arm und Reich<br />

gleichsam den Gipfel erreichte, so befand sich die Stadt in einer<br />

höchst kritischen Lage, und es sah so aus, als ob sie allein<br />

durch Errichten einer Tyrannis würde aus den Wirren heraus<br />

zur Ruhe kommen können.“ Tatsächlich, so schreibt das amerikanische<br />

Historikerpaar Will und Ariel Durant in seinem 1968<br />

erschienenen Buch „The Lessons of History“, sei schon bei den<br />

alten Griechen die Schere zwischen Vermögenden und Habenichtsen<br />

immer weiter auseinandergegangen: „Die Armen (…)<br />

begannen von gewaltsamer Auflehnung zu sprechen. Die Reichen,<br />

die um ihren Besitz zitterten, beschlossen, sich mit Waffengewalt<br />

zu verteidigen.“ Schließlich habe aber die Vernunft<br />

gesiegt, als gemäßigte Gruppen die Wahl Solons, eines Geschäftsmanns<br />

von aristokratischer Herkunft, zum obersten Regierungsbeamten<br />

durchsetzten.<br />

Und was tat Solon als rechtschaffener antiker Technokrat?<br />

Er senkte den Münzfuß (was man heute mit „Inflation“ übersetzen<br />

würde) und gab damit armen Schuldnern die Möglichkeit,<br />

einen Teil ihrer Schulden abzuschütteln; er schaffte die Verzugszinsen<br />

für Steuern und Grundpfandschulden ab und führte<br />

ein neues, gestaffeltes Besteuerungsverfahren ein, aufgrund dessen<br />

die Reichen das Zwölffache der von den Armen geforderten<br />

Steuern zu zahlen hatten. Nicht zuletzt startete er eine Bildungsoffensive,<br />

indem er dafür sorgte, dass die Söhne von Bürgern,<br />

die im Krieg für Athen gefallen waren, auf Staatskosten erzogen<br />

und geschult wurden. Dass das alles nicht reibungslos verlief,<br />

kann man sich denken: „Die Reichen jammerten über die hohen<br />

Steuern, die Radikalen schalten ihn, weil er den Grundbesitz<br />

nicht neu verteilt hatte“, so Will und Ariel Durant in „The<br />

Lessons of History“. Aber „innerhalb einer Generation waren<br />

sich fast alle einig, dass Solons Reformen Athen vor einem gewaltsamen<br />

Umsturz bewahrt hatten“.<br />

Als Rom gut 300 Jahre später in eine ähnliche systemische<br />

Schieflage geriet, konnte sich der Senat übrigens zu keinen Zugeständnissen<br />

nach athenischem Vorbild durchringen. Es folgten<br />

100 Jahre Bürgerkrieg und Klassenkampf.<br />

Alexander Marguier<br />

ist stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

Illustration: Christoph Abbrederis; Foto: Andrej Dallmann<br />

130 <strong>Cicero</strong> 8.2012


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