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Cicero Babel Berlin (Vorschau)

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<strong>Babel</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Nichts klappt, alle lieben sie:<br />

Das Geheimnis unserer<br />

verschlunzten Hauptstadt<br />

„Sexy ist ein<br />

Lebensgefühl“<br />

Ein Gespräch mit<br />

Klaus Wowereit<br />

Bayreuth bröselt<br />

Im Wagner‐Jahr blamieren<br />

sich die Festspiele<br />

Prinzip Protestpartei<br />

Welche Chancen hat die<br />

„Alternative für Deutschland“?


Warum sind<br />

nationen<br />

reich oder arm?<br />

Über den Erfolg oder das Scheitern von Nationen wird viel<br />

geschrieben. Manche behaupten, dass die Geographie der<br />

entscheidende Faktor sei, andere betonen kulturelle Faktoren:<br />

Bestimmte Werte und Verhaltensweisen, beispielsweise (…)<br />

das nordische oder deutsche Arbeitsethos, seien hilfreich für<br />

die Wirtschaftsentwicklung, während südeuropäische oder<br />

afrikanische Einstellungen eher ein Hindernis bildeten. Noch<br />

andere sehen die Ursache bei einer aufgeklärten oder unaufgeklärten<br />

politischen Führung. (…) Im vorliegenden Buch wird<br />

ein anderer Ansatz zur Untersuchung der Ursachen des Erfolgs<br />

und des Scheiterns von Nationen vertreten. Unserer Meinung<br />

nach sind es die von den Staaten gewählten Regeln – oder<br />

Institutionen – , die darüber bestimmen, ob sie wirtschaftlich<br />

erfolgreich sind oder nicht. Das Wirtschaftswachstum wird<br />

von Innovationen sowie vom technologischen und organisatorischen<br />

Wandel angetrieben, die sich den Ideen, den Begabungen,<br />

der Kreativität und der Energie von Individuen verdanken.<br />

Aber dazu bedarf es entsprechender Anreize. Zudem sind<br />

Fähigkeiten und Ideen breit über die Gesellschaft verstreut,<br />

weshalb ein Staat, der große Teile der Bevölkerung benachteiligt,<br />

kaum das vorhandene Innovationspotential nutzen und<br />

vom wirtschaftlichen Wandel profitieren dürfte. All das legt<br />

eine einfache Schlussfolgerung nahe: Den Schlüssel zu nachhaltigem<br />

wirtschaftlichen Erfolg findet man im Aufbau einer<br />

Reihe von Wirtschaftsinstitutionen, welche die Talente und<br />

Ideen der Bürger eines Staates nutzbar machen können, indem<br />

sie geeignete Anreize und Gelegenheiten bieten, dazu gesicherte<br />

Eigentums- und Vertragsrechte, eine<br />

funktionierende Justiz sowie einen<br />

freien Wettbewerb, so dass sich die<br />

Bevölkerungsmehrheit produktiv<br />

am Wirtschaftsleben beteiligen kann.<br />

Lesen Sie weiter…<br />

Daron Acemoglu / James A. Robinson<br />

Warum Nationen scheitern<br />

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C i c e r o | A t t i c u s<br />

Von: <strong>Cicero</strong><br />

An: Atticus<br />

Datum: 25. April 2013<br />

Thema: <strong>Berlin</strong><br />

Magische Hauptstadt<br />

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abc-opix#: 1303-075 · Titel: <strong>Cicero</strong> - Ausgabe 5/2013 · DU: 09.04.2013 · ET: 25.04.2013 · Das Dokument ist ohne Überfüllung/Trapping angelegt, Titelbild: vor weiterer Rolf Verarbeitung Ohst; Illustration: diese anlegen!<br />

Christoph Abbrederis<br />

D<br />

er Song macht gute Laune. „<strong>Berlin</strong> – du bist so wunderbar – <strong>Berlin</strong>!“ singen<br />

tiefenentspannte Menschen zu einem Ska-Rhythmus, und alle sind eins in dieser<br />

Ansicht: der Polizist, das Partygirl, der Straßenfeger. Der Werbespot einer Brauerei<br />

läuft seit bald zehn Jahren in den Kinos der Hauptstadt. Trink dieses Hauptstadtbier, und<br />

du bist wie diese Menschen hier, das ist die Botschaft: Sei lässig, sei <strong>Berlin</strong>.<br />

Die Frage ist: Wann geht lässig in fahrlässig über? Im Augenblick macht sich die deutsche<br />

Hauptstadt weltweit lächerlich. Ein Bauherr kann sich darauf berufen, in das letzte große<br />

Stück zusammenhängender Mauer, die East Side Gallery, behördlich genehmigt Löcher zu<br />

reißen. Für dieses Stück betonierte Geschichte mit ihren Graffiti reisen die Touristen aus<br />

der ganzen Welt an. Viele landen auf dem liebenswerten Flughafen Tegel, denn der neue<br />

Großflughafen – eine weitere Chiffre für das <strong>Berlin</strong>er Chaos – wird nicht fertig. Über allem<br />

Gewurstel und Geschlunze schwebt ein Bürgermeister, als hätte er damit nichts zu schaffen.<br />

Läuft ja auch so weit alles, nicht zuletzt, weil Länder wie Bayern, Baden-Württemberg und<br />

Hessen die Sause ohne Pause über den Länderfinanzausgleich bezahlen. Bist du wirklich so<br />

wunderbar, <strong>Berlin</strong>? Oder die Folge davon, dass hier Rosinenbombermentalität West und<br />

Alimentationsgewohnheit Ost aufeinandergetroffen sind?<br />

<strong>Berlin</strong> ist lustvoll und liederlich zugleich. Die Deutschen schimpfen auf ihre Hauptstadt<br />

und fahren doch begeistert hin. <strong>Berlin</strong> bricht laufend seine eigenen Besucherrekorde. Vielen<br />

reicht die Stippvisite nicht. 40 000 Menschen ziehen jedes Jahr an die Spree, hippe Start-ups<br />

siedeln sich an, weil ihre jungen Spitzenkräfte hier leben wollen, wie Marcus Pfeil beschreibt<br />

(ab Seite 32).<br />

Vorhang also auf für das magische <strong>Berlin</strong>, dessen Frivolität der Künstler Rolf Ohst für<br />

das <strong>Cicero</strong>-Cover in Öl gemalt hat. Alexander Marguier hat sich an Orte und zu Menschen<br />

in dieser Stadt begeben, um ihren zwiespältigen Zauber zu ergründen (ab Seite 16).<br />

Herausgekommen ist ein Kaleidoskop der Kontraste, ein Mosaik der Momente. Ich würde<br />

Ihnen empfehlen, zur Lektüre seines Textes die eigens für <strong>Cicero</strong> komponierte CD „Sinfonie<br />

einer Hauptstadt“ einzulegen und so eine sinnliche Dimension mehr zu haben, diese<br />

widersprüchliche Stadt zu erfassen. Der <strong>Berlin</strong>er Jazzer und Komponist Volker Schlott hat<br />

für <strong>Cicero</strong> ein Hörbild der deutschen Hauptstadt und ihrer Klänge geschaffen. Es ist der<br />

Soundtrack einer Stadt der Widersprüche. Die CD liegt einem Teil der Auflage bei, kann<br />

von Abonnenten kostenlos, ansonsten für 8,90 Euro bestellt werden.<br />

Klaus Wowereit, der „Regierende“, wie man in <strong>Berlin</strong> sagt, stellt sich dem Vorwurf, die<br />

schlunzigste Stadt der Welt zu repräsentieren. Irgendwelche Gewissensbisse, Herr Wowereit?<br />

(ab Seite 26). Iwo. „<strong>Berlin</strong> wird gezielt schlechtgeredet“, sagt der Regierende.<br />

Na dann: Weiterfeiern!<br />

Mit besten Grüßen<br />

Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />

In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />

der römische Politiker und Jurist<br />

Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />

Freund Titus Pomponius Atticus<br />

das Herz ausgeschüttet<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 5


C i c e r o | I n h a l t<br />

Titelthema<br />

16<br />

Boom, Boom, <strong>Berlin</strong><br />

Die Durcheinanderstadt begreifen. Eine Reportage<br />

von Buschkowsky bis in den Pärchenclub<br />

von Alexander Marguier<br />

26<br />

„<strong>Berlin</strong> wird gezielt schlechtgeredet“<br />

Klaus Wowereit erklärt sich. Ein Interview über<br />

Pannen, Partys, Schulden und die Sexyness der Stadt<br />

von Georg Löwisch und Alexander Marguier<br />

20<br />

<strong>Berlin</strong> in Zahlen<br />

Günstige Kitas, Milliarden aus Bayern, nur<br />

16 Michelin‐Sterne: Die wichtigsten Kennziffern der Stadt<br />

von Til Knipper<br />

32<br />

<strong>Berlin</strong>s neuer Mittelstand<br />

Finanzstarke Investoren sind in der Hauptstadt selten.<br />

Was lockt die Internetbranche trotzdem an?<br />

von Marcus Pfeil<br />

Fotos. Antje Berghäuser, tanja Raeck<br />

6 <strong>Cicero</strong> 5.2013


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C i c e r o | I n h a l t<br />

36 Politik für Teenager<br />

64 Das Königreich und die EU 80<br />

BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE kapital<br />

36 | Meinung, Zack, Zack<br />

Florian Mundt alias LeFloid ist der<br />

Leitartikler der Generation Youtube<br />

Von Klaus Raab<br />

38 | Guerilla im Tweed<br />

Beatrix von Storch, einflussreiche Alliierte<br />

der „Alternative für Deutschland“<br />

Von Constantin Magnis<br />

40 | Feind wird Freund<br />

Die CDU-Kontrahenten Matthias Zimmer<br />

und Christean Wagner verbünden sich<br />

Von Volker Resing<br />

44 | Die Politpilze<br />

Der Lebenszyklus von Protestparteien<br />

Von Christoph Seils<br />

46 | Mein SChüler<br />

Sigmar Gabriels Lehrer erzählt<br />

Von Constantin Magnis<br />

48 | Fleischfan im Veganerclub<br />

Steinbrücks Scheitern zeigt den Siegeszug<br />

des Protestantischen in der Politik<br />

Von Christine Eichel<br />

50 | Frau Fried fragt sich<br />

...ob Frauen zu faul für Führungsjobs sind<br />

Von Amelie Fried<br />

52 | Mein Wunschkabinett<br />

<strong>Cicero</strong>-Wahlserie: Warum Iris Berben<br />

und Paul Kirchhof ministrabel sind<br />

Von Monika Maron<br />

54 | Man ist Mensch, wenn<br />

man mit Menschen ist<br />

Das Netz boomt. Aber auch der Drang<br />

nach Begegnung und Besprechung<br />

Von Frank A. Meyer<br />

56 | Seelöwe im PolitZirkus<br />

David Axelrod wechselt vom<br />

Weißen Haus zum Fernsehen<br />

Von Christoph von Marschall<br />

58 | Kampferprobte Reporterin<br />

Le Monde hat in Natalie Nougayrède<br />

erstmals eine Chefredakteurin<br />

Von Sascha Lehnartz<br />

60 | „Manchmal muss man<br />

den Bauch aufschneiden“<br />

Amadou Haya Sanogo, Malis<br />

oberster Militär, im Interview<br />

Von Martin Specht<br />

64 | Ein bisschen Europa<br />

darf’s schon sein<br />

Während Griechenland und Zypern<br />

straucheln, streitet London über die EU<br />

Von sebastian Borger<br />

70 | Opiate sind keine Lösung<br />

Das Oberhaupt der katholischen Kirche<br />

über Kapitalismus und Kommunismus<br />

Von Papst Franziskus<br />

72 | Wie man dem Satan ein<br />

schnippchen schlägt<br />

Franziskus und Benedikt XVI.<br />

eint mehr, als sie trennt<br />

Von Alexander Kissler<br />

74 | Renaissance der Atombombe<br />

Warum so viele Staaten die<br />

Massenvernichtungswaffe haben wollen<br />

Von Karl-Heinz Kamp<br />

Herr der Dosenrepublik<br />

76 | Weniger ist Meer<br />

EU-Kommissarin Maria Damanaki<br />

kämpft gegen Überfischung<br />

Von Christian Schwägerl<br />

78 | Läckerläckerläcker<br />

Erfolg mit selbst gebastelter Werbung:<br />

Willi Pfannenschwarz und sein Müsli<br />

Von Benno Stieber<br />

80 | Scheuer roter Bulle<br />

Der Milliardär Dietrich Mateschitz<br />

kombiniert Analyse mit Bauchgefühl<br />

Von Stefan Tillmann<br />

86 | „Neue Rasterfahndung“<br />

Der Autor Rudi Klausnitzer erklärt, was<br />

unsere Datenspur über uns verrät<br />

Von Til Knipper<br />

88 | Not macht erfinderisch<br />

Unterwegs mit deutschen Rettungsärzten,<br />

die dem Mangel trotzen<br />

Von Petra Sorge<br />

Fotos: Julia Zimmermann für <strong>Cicero</strong>, Martin Parr/Magnum Photos/Agentur Focus, Sutton Images/Corbis; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

8 <strong>Cicero</strong> 5.2013


I n h a l t | C i c e r o<br />

Fotos: Danielle Levitt, Jürgen Holzenleuchter für <strong>Cicero</strong>; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

96 En vogue? Ihre Entscheidung 124<br />

Stil<br />

96 | Die Bildermacherin<br />

Vogue-Kreativchefin Grace Coddington ist<br />

die einflussreichste Stylistin der Welt<br />

Von Anne Waak<br />

Bayreuther Baufestspiele<br />

Salon<br />

118 | harmlos ist niemand<br />

Philip Seymour Hoffman spielt<br />

gerne die zweite Geige<br />

Von björn eenboom<br />

138 | Erdogans Stachel<br />

Zülfü Livaneli singt und schreibt gegen<br />

die Einschränkung der Demokratie<br />

Von Necla Kelek<br />

98 | „Eine dramatische Geste“<br />

Interview mit dem Architekten Norman<br />

Foster zum Münchner Lenbachhaus<br />

Von Ulrich Clewing<br />

100 | Warum ich trage, was ich trage<br />

Emotional aufgeladene Kleidungsstücke<br />

können Erfolg im Beruf bringen<br />

Von Andreas Rumbler<br />

102 | Die Stilhalde<br />

Fotografien eines Möbellagers, das<br />

ein gigantischer Designfundus ist<br />

Von Achim Hatzius<br />

112 | Mehr als ein Tick<br />

Wenn die Liebe zu Uhren zur Profession<br />

wird und man sich davon ein Haus kauft<br />

Von Gisbert L. Brunner<br />

116 | Küchenkabinett<br />

Spargel ist das heimliche<br />

Nationalgericht der Deutschen<br />

Von Julius Grützke und Thomas Platt<br />

120 | da stehst Du doch drauf<br />

Das Duo Joko und Klaas knüpft an<br />

eine lange Klamauk-Tradition an<br />

Von daniel haas<br />

122 | liebe, ein Pendelschlag<br />

Peter Carey verbindet in seinen<br />

Büchern Schönheit und Komik<br />

Von hannes stein<br />

124 | walhall bröselt<br />

Ausgerechnet im Wagner-Jahr 2013 ist<br />

Bayreuth eine einzige große Baustelle<br />

Von michael Stallknecht<br />

129 | Benotet<br />

Musik und Musikkritik sind<br />

allzu oft geschiedene Leute<br />

Von daniel Hope<br />

130 | Im Flammenmeer<br />

der Niedertracht<br />

Die Folgen der Bücherverbrennung<br />

von 1933 sind bis heute spürbar<br />

Von Philipp Blom<br />

132 | man sieht nur, was man sucht<br />

Xu Bing zeigt, dass Kunst die Summe<br />

aus Abfall und Abgeltung sein kann<br />

Von beat Wyss<br />

134 | Kapitale Ignoranz<br />

Antikapitalismus hat viele blinde Flecken<br />

Von ernst-wilhelm Händler<br />

140 | Bibliotheksporträt<br />

Der Essayist Karl-Markus Gauß schläft<br />

und arbeitet zwischen Büchern<br />

Von vladimir Vertlib<br />

144 | die letzten 24 Stunden<br />

Ab nach Kassel<br />

Von hubertus Meyer-Burckhardt<br />

Standards<br />

Atticus —<br />

Von Christoph Schwennicke — seite 5<br />

Stadtgespräch — seite 10<br />

Forum — seite 14<br />

Impressum — seite 28<br />

Postscriptum —<br />

Von Alexander Marguier — seite 146<br />

Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />

erscheint am 23. Mai 2013<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 9


C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />

Vom <strong>Berlin</strong>er SChwabylon hat der CSU-General keine Ahnung, Merkel<br />

wappnet sich gegen Putins Hunde, die Protestparteijugend blamiert sich, der<br />

<strong>Berlin</strong>er Gaslaternen-Streit tobt, und Uwe Vorkötter wechselt zur dunklen Seite<br />

Prenzlberg à la CSU:<br />

schwul und schwäbisch<br />

S<br />

eit Bundestagsvizepräsident<br />

Wolfgang Thierse (SPD) sich öffentlich<br />

darüber beklagte, dass<br />

die in seiner Nachbarschaft wohnenden<br />

Schwaben ein Brötchen nicht „Schrippe“,<br />

sondern „Weckle“ nennen, tobt in <strong>Berlin</strong><br />

ein kleiner Kulturkampf. Die Schwaben<br />

fühlen sich verleumdet, die Einheimischen<br />

überfremdet und Thierse missverstanden.<br />

Nun hat sich auch noch ein Bayer in den<br />

schwelenden Streit eingemischt. CSU-Generalsekretär<br />

Alexander Dobrindt vermutet<br />

in Thierses Wohnbezirk Prenzlauer Berg,<br />

wegen der dort gemessenen hohen Schwabendichte<br />

„Schwabylon“ genannt, offenbar<br />

auch noch eine Hochburg der Lesben<br />

und Schwulen: „Die Modernität einer Gesellschaft<br />

ergibt sich aus den Lebensphilosophien<br />

der Mehrheit der Menschen und<br />

nicht einer Minderheit, wie sie beispielsweise<br />

im <strong>Berlin</strong>er Szenebezirk Prenzlauer<br />

Berg zu finden ist“, sagte er, um zu begründen,<br />

warum die CSU gegen die steuerliche<br />

Gleichstellung von Hetero- und<br />

Homo-Ehen ist. Damit offenbarte er eine<br />

fast schon rührende Unkenntnis der tatsächlichen<br />

Verhältnisse. In „Prenzlberg“<br />

(Szenebegriff) schieben mit Abstand mehr<br />

junge Heteropaare Kinderwagen über den<br />

Gehsteig als in jedem anderen Stadtteil.<br />

Homosexuelle sind dort allem Anschein<br />

nach eher eine Rarität. Dobrindts homophobes<br />

Geschwafel wird deshalb in Regierungskreisen<br />

eher belächelt. Der Mann<br />

habe offenbar keine Ahnung, sagt Angela<br />

Merkels zweiter Regierungssprecher Georg<br />

Streiter, der selbst in Prenzlauer Berg<br />

wohnt. „Wenn man sich in diesem Stadtteil<br />

ohne Kinderwagen und ohne Babybauch<br />

bewegt, fühlt man sich ganz fremd.“ tz<br />

Die Merkel-dogtrin<br />

keine Köter im Kreml<br />

W<br />

enn Ulrich Brandenburg, der<br />

deutsche Botschafter in Moskau,<br />

ein Treffen von Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel mit dem russischen<br />

Präsidenten Wladimir Putin vorbereitet,<br />

muss er stets auf einem – sonst im diplomatischen<br />

Verkehr eher unüblichen – Protokollvermerk<br />

bestehen: Hunde sind absolut<br />

unerwünscht und deshalb unter allen<br />

Umständen fernzuhalten.<br />

Denn Merkel mag Hunde nicht, sie<br />

hat sogar große Angst vor ihnen. Dies<br />

hat, wie man in dem Buch „Angela Merkel.<br />

Die Kanzlerin und ihre Welt“ des SZ-<br />

Journalisten Stefan Kornelius nachlesen<br />

kann, biografische Gründe. Merkel wurde<br />

1995 in der Uckermark beim Fahrradfahren<br />

vom Jagdhund des Nachbarn angefallen<br />

und ins Knie gebissen. Seitdem meidet<br />

sie Hunde.<br />

Putin, seinerseits ein Hundenarr,<br />

kannte die Phobie der Kanzlerin offenbar<br />

und nutzte sie zweimal zu merkwürdigen<br />

Scherzen. Als Merkel im Januar 2006<br />

ihren Antrittsbesuch bei ihm machte, beglückte<br />

er sie im Präsidentenpalast mit einem<br />

Stoffhund. Grinsend beobachtete<br />

er, wie Merkels außenpolitischer Berater<br />

Christoph Heusgen die Kanzlerin unauffällig<br />

von dem ihr unsympathischen Kuscheltier<br />

befreite.<br />

Ein Jahr später erlaubte er sich in seiner<br />

Residenz am Schwarzen Meer einen<br />

noch derberen Scherz. Plötzlich stürmte<br />

sein großer, schwarzer Labrador Koni in<br />

den Raum, beschnupperte die verängstigte<br />

Kanzlerin sorgfältig, legte sich dann aber<br />

artig vor ihre Füße. Wieder beobachtete<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

10 <strong>Cicero</strong> 5.2013


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C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />

Putin grinsend, wie Merkel ängstlich ihre<br />

Beine an sich zog und völlig verkrampfte.<br />

Er genoss den Auftritt in „sadistischer<br />

Pose“, wie Kornelius schreibt. Und bei<br />

Merkel verstärkte sich der Eindruck, dass<br />

sie – vor laufenden Fernsehkameras – bewusst<br />

als Angsthäsin vorgeführt werden<br />

sollte. Seitdem gilt für deutsch-russische<br />

Gipfeltreffen das Hundeverbot – nach der<br />

„Hallstein-Doktrin“ ist die „Merkel-Dogtrin“<br />

ein neues, weltweit einzigartiges Petitum<br />

deutscher Außenpolitik. tz<br />

Im rechten unterholz:<br />

schwarze unerwünscht<br />

A<br />

ls konservative Sammlungsbewegung<br />

der Unzufriedenen gegen<br />

Angela Merkels Euro- und<br />

Europapolitik hat die „Alternative für<br />

Deutschland“ in den vergangenen Wochen<br />

ziemlich viel Wirbel in den Medien<br />

gemacht. Während der Widerstand<br />

in Resteuropa von überwiegend nichtakademischen<br />

Populisten angeführt wird,<br />

hat hierzulande eine Gruppe von Professoren<br />

die Führung der Euro-Skeptiker<br />

übernommen. Weil aber die „Alternative<br />

für Deutschland“ nicht nur die älteren<br />

Semester ansprechen soll, sondern auch<br />

mit Stimmen von Erst- und Jungwählern<br />

in den Bundestag einziehen will, hat sie<br />

sich bereits eine eigene Jugendorganisation,<br />

die AfD-Jugend, zugelegt. Und die<br />

mischt jetzt mit einer eigenen Facebook-<br />

Seite im Wahlkampf mit.<br />

Wahrscheinlich um zu beweisen, dass<br />

er auf der Höhe der Zeit ist, schmückte<br />

der Protestparteinachwuchs kürzlich seine<br />

Facebook-Seite mit einem Titelbild, auf<br />

dem fünf junge Menschen zu sehen waren<br />

– darunter ein Schwarzer. Aber die<br />

Rechnung schien ohne die Partei-Klientel<br />

gemacht. Aus dem rechten Umfeld meldeten<br />

sich empörte AfD-Sympathisanten,<br />

die das Gruppenbild mit Neger voll daneben<br />

fanden und dahinter eine plumpe Anbiederei<br />

an den multikulturellen Zeitgeist<br />

vermuteten. Doch statt die ausländerfeindlichen<br />

Kritiker in die Schranken zu weisen,<br />

verhedderte sich die AfD-Jugend selbst im<br />

rechten Unterholz: „Hier biedert sich keiner<br />

bei Multikulti an … Nur die Ausländer,<br />

die sich anpassen wollen, sind willkommen.<br />

Also auch ein Schwarzer, der sich integriert<br />

…“, kommentierte der Administrator.<br />

Bernd Lucke, der Kopf der „Alternative“,<br />

beteuerte im <strong>Cicero</strong>-Online-Interview zwar:<br />

„Wir lehnen Ausländerfeindlichkeit ab.“<br />

Trotzdem löschte die AfD-Jugend, offenbar<br />

selbst erschrocken von dem rechtspopulistischen<br />

Shitstorm, den sie ausgelöst hatte, das<br />

Titelbild mitsamt den Kommentaren. Eine<br />

klare Positionierung gegen Rassismus geht<br />

anders. ts<br />

Gaslaternen-Abriss:<br />

senat schafft fakteN<br />

D<br />

er Kampf um die <strong>Berlin</strong>er Gaslaternen<br />

geht in eine neue Runde.<br />

Seit der Senat im vorigen Jahr allen<br />

Protesten und Einwänden zum Trotz<br />

damit begonnen hat, die historischen Straßenleuchten<br />

mit dem schönen gelben Licht<br />

durch moderne energiesparende LED-<br />

Lampen zu ersetzen (<strong>Cicero</strong>, Juni/2012),<br />

machen engagierte Bürger – unterstützt<br />

von Schauspielern, Malern, Kunstprofessoren<br />

und Denkmalschützern – auf zwei<br />

Internetportalen www.denk-mal-an-berlin.<br />

de und www.gaslicht-kultur.de – gegen den<br />

Abriss mobil. Ein Gutachter hat ihnen bereits<br />

bescheinigt, dass die alten Laternen<br />

– einzeln und als Ensemble – ein einzigartiges<br />

Kulturdenkmal darstellen. Jetzt<br />

wollen sie, mithilfe eines zweiten Gutachters,<br />

die Unesco davon überzeugen, dass<br />

die <strong>Berlin</strong>er Gaslaternen zum Weltkulturerbe<br />

gehören und deshalb geschützt werden<br />

müssen. Aber während sie Protestbriefe<br />

verfassen, schafft der Senat Fakten.<br />

Gut möglich also, dass die Laternen verschwunden<br />

sind, bevor sie Weltkulturerbe<br />

werden konnten. hp<br />

abrupter Seitenwechsel:<br />

journalist als hausierer<br />

E<br />

s ist ja nicht so, dass der Journalist<br />

grundsätzlich gut und der<br />

Lobbyist grundsätzlich böse wäre.<br />

Obwohl es natürlich Figuren gibt, die<br />

diese Klischees festigen. So erlangte Uwe<br />

Vorkötter als Chefredakteur von <strong>Berlin</strong>er<br />

Zeitung und Frankfurter Rundschau einst<br />

eine Art Heldenstatus, weil er die Integrität<br />

seiner Redaktionen gegen den Heuschrecken-Verleger<br />

David Montgomery<br />

verteidigte. Ex-Bild-Redakteur Hans-<br />

Erich Bilges, Eigentümer der PR- und Beratungsagentur<br />

Consultum Communications,<br />

wird hingegen eher auf der dunklen<br />

Seite der Macht verortet, weil er – jedenfalls<br />

laut der jüngsten Spiegel-Berichterstattung<br />

– in Lobby- und Beraterdienste<br />

für Regime wie Kasachstan, Weißrussland<br />

oder zuletzt Aserbaidschan involviert gewesen<br />

sein soll.<br />

Daher war es eine ziemliche Überraschung,<br />

dass der Ex-Chef der Rundschau<br />

unlängst als „Managing Partner“ und<br />

zweiter Mann zu Bilges’ Agentur wechselte.<br />

In <strong>Berlin</strong>-Mitte sitzt er nun in einem Büro,<br />

das mit seinen kahlen Wänden, den grauen<br />

Teppichböden und dem Blick in den Innenhof<br />

kaum sinistren Glamour, sondern<br />

eher den Charme einer Hautarztpraxis versprüht,<br />

und muss sich seinen Kaffee selber<br />

machen. Noch ernüchternder war es zu erfahren,<br />

dass es gar nicht zu seinen neuen<br />

Aufgaben gehören wird, als Spin-Doctor<br />

PR-Kampagnen für die Achse des Bösen<br />

zwischen Nordkorea und Iran zu entwickeln.<br />

Vielmehr soll Vorkötter für Consultum<br />

Unternehmen, Verbände und Medienhäuser<br />

redaktionell und wirtschaftlich<br />

beraten. Neu ist für den langjährigen und<br />

leidgeprüften Medienmanager dabei vor allem<br />

eines: „Als Chefredakteur will einem<br />

dauernd jemand Themen andrehen, heute<br />

ist eine meiner Hauptaufgaben die Kundenakquise,<br />

und ich muss selber meine Themen<br />

an den Mann bringen, ein bisschen<br />

wie ein Handelsvertreter.“ cm<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

12 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Das geht besser!<br />

Nicht vergessen: Am 12. Mai ist Muttertag!<br />

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C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />

Forum<br />

Über Tugendwächter, Werte, die Schweizer und Warhols Wurzeln<br />

Zum Beitrag „vom furor<br />

des fortschritts“ von<br />

Reinhard Mohr / April 2013<br />

sehr deutsch<br />

Danke für Reinhard Mohrs ebenso geistreiche wie präzise Bestandsaufnahme deutscher<br />

Befindlichkeiten. Am deutschen Wesen soll nach wie vor die Welt genesen:<br />

So zynisch es klingen mag, ist das von Ihnen geschilderte Phänomen eine typische<br />

Ausprägung deutscher Mentalität. Besonders deutlich wurde dies angesichts der<br />

von bestimmten politischen Kreisen und dem medialen Mainstream angefachten<br />

Demontage des letzten Bundespräsidenten (dessen Ungeschicktheit wir hier einmal<br />

außer Acht lassen wollen): Die Inquisition der Empörung, die dort anrollte, war<br />

im Grunde genommen nichts anderes als eine demokratisch verbrämte Spielart<br />

ureigensten deutschen Spießertums.<br />

Jan Eschbach, Düsseldorf<br />

Mehr doof als lustig<br />

Auch wer sich wie ich über sprachliche<br />

Überkorrektheiten oder Peinlichkeiten<br />

wie „Mitglieder/innen“ amüsiert, behält<br />

am Ende aller <strong>Cicero</strong>-Beiträge das schale<br />

Gefühl zurück, dass die lustigen Formulierungen<br />

Reinhard Mohrs am Ende<br />

doch nur der Verunsicherung angesichts<br />

der ach so komplexen Wirklichkeit entspringen.<br />

Angesichts der gleich dahinter<br />

abgedruckten klugen Antworten der<br />

Feministin Anna-Katharina Messmer<br />

wirkt auch Mohrs Herumreiten auf der<br />

„supereigenartigen“ sprachlichen Entgleisung<br />

ihrer Mitstreiterin am Ende mehr<br />

doof als lustig.<br />

Jürgen Terhag, Leichlingen<br />

recht wachsweich<br />

Ihre Titelgeschichte „Vom Furor des<br />

Fortschritts“ von Reinhard Mohr ist<br />

inhaltlich nicht übel. Mohr trägt so<br />

einige zentrale Possen des „sozialen<br />

Fortschritts“ zusammen und versäumt<br />

nicht, diese entsprechend bissig zu<br />

kommentieren. Dennoch klingt mir das<br />

Ganze recht wachsweich in den Ohren:<br />

Ich bezweifle, ob der durchgängig ironische<br />

Tonfall – mit polemischen Spitzen –<br />

das adäquate Ausdrucksmittel ist, um<br />

Gesellschaftsveränderndes von solcher<br />

Wichtigkeit und Diskussionsbedürftigkeit<br />

darzustellen. Ich persönlich nenne<br />

das „Kabarettisierung des Journalismus“,<br />

die Mohr hier geradezu beispielhaft<br />

betreibt … Das (aber) halte ich dem<br />

verhandelten Gegenstand für nicht<br />

angemessen, denn da geht es um etwas:<br />

um das Umsichgreifen von Absurditäten,<br />

Widersinn, ja Idiotie, das konkrete Folgen<br />

hat. Und zwar Folgen, die keineswegs<br />

als harmlos für eine Gesellschaft<br />

angesehen werden können.<br />

Stefan Till Schneider, Eppelheim<br />

kündigung storniert<br />

Meine Kündigung (des <strong>Cicero</strong>-Abos, die<br />

Redaktion) nehme ich zurück. Verantwortlich<br />

hierfür ist – im Wesentlichen –<br />

der Beitrag von Reinhard Mohr in der<br />

aktuellen Ausgabe!<br />

Holger Bessler, Bad Bevensen<br />

inquisitorische attitüde<br />

Ist ja eh ein netter Versuch, so eine journalistisch<br />

zugespitzte, um nicht zu sagen<br />

„überdrehte“ Aufmacher-Geschichte.<br />

Wenn dann nicht der Autor in die selbstgestellte<br />

Falle tappen würde. Das leidige<br />

an der „political correctness“ ist ja meiner<br />

bescheidenen Meinung nach nicht<br />

die correctness an sich, sondern die<br />

besserwisserische, inquisitorische Attitüde,<br />

mit der sie oft vorgetragen wird.<br />

Humorfreiheit scheint dabei oberste<br />

illustration: cornelia von seidlein<br />

14 <strong>Cicero</strong> 5.2013


illustrationen: cornelia von seidlein<br />

BürgerInnenpflicht zu sein. Welchen<br />

Gegenentwurf entwickelt nun der Autor,<br />

was unterscheidet ihn in seiner Haltung?<br />

Das hat sich mir mit diesem Artikel leider<br />

nicht erschlossen (außer, dass er halt<br />

recht zwänglerisch die Gegenposition<br />

zum correctness-mainstream einnimmt).<br />

Die schärfsten Kritiker der Elche waren<br />

früher selber welche, hat Herr Bernstein<br />

einmal so schön gedichtet. Anregend<br />

lesenwert war die Themenstrecke aber<br />

allemal. Mit freundlichen Grüßen aus<br />

dem Burgenland.<br />

Franz Renner, Mattersburg, Österreich<br />

Zum beitrag „Bergler gegen<br />

Feudalherren“ von<br />

Frank A. Meyer / April 2013<br />

demokratische schweiz<br />

Frank A. Meyer trifft mit seinen Kommentaren<br />

öfter den Kern der Dinge,<br />

aber selten stimme ich ihm so sehr aus<br />

vollem Herzen zu wie in diesem Fall.<br />

Dass die soziale Marktwirtschaft bei<br />

uns durch die viel gerühmte (auch von<br />

der SZ) Agenda 2010 praktisch ruiniert<br />

wurde, scheint ja hierzulande kaum wen<br />

zu stören (Herrn Steinbrück sicherlich<br />

nicht). Dass wir uns aber an der Schweiz,<br />

in meinen Augen das einzige wirklich<br />

demokratische Land in Europa, ein Beispiel<br />

nehmen sollten, anstatt uns über<br />

sie lustig zu machen, musste mal gesagt<br />

werden! Und zwar nicht nur hinsichtlich<br />

der sehr erfolgreichen Schweizer Wirtschaft,<br />

sondern auch und gerade unter<br />

dem Blickwinkel der fortschreitenden<br />

Erosion demokratischer Institutionen<br />

bei uns und in der Eurozone insgesamt.<br />

Prof. Dr. Claus Prießner, München<br />

FAST immer ins Schwarze<br />

Weiblich, ledig und dazu noch jung<br />

(35) … Eigentlich entspreche ich so gar<br />

nicht Ihrer Leserschicht! (Kleiner Hinweis<br />

vom Redaktionsmarketing.) Aber<br />

<strong>Cicero</strong> hat es geschafft, meinen kreativen<br />

Designerkopf für andere Themen<br />

zu begeistern als etwa „Schriftgröße,<br />

Bildqualität, Layout“ und „welcher Lipgloss<br />

steht mir am besten“. Ein großes<br />

Kompliment vor allem an Herrn Meyer<br />

und Frau Fried. Ihre Kolumnen treffen<br />

immer wieder ins Schwarze.<br />

Nicole Franke, Kelkheim<br />

zum beitrag „Widerstand“ von<br />

Alexander Marguier / April 2013<br />

tumbes Bashing<br />

Von einem Magazin für politische<br />

Kultur wie dem <strong>Cicero</strong> erwarte ich<br />

kontroverse Meinungen und hintergründiges,<br />

wie auch pointiertes Darstellen<br />

von politischen Zusammenhängen und<br />

Diskursen. Auch wenn ich nicht immer<br />

bei all Ihren Standpunkten mitgehen<br />

kann, interessant argumentiert und<br />

scharf beobachtet sind sie zumeist schon.<br />

In diesem Sinne muss ich doch recht<br />

enttäuscht das tumbe „Gutmenschen“-<br />

Bashing Ihres stellvertretenden Chefredakteurs<br />

zur Kenntnis nehmen. Das<br />

Befassen mit der Politik sollte doch<br />

zumindest diese insofern ernst nehmen,<br />

als dass Politik möglicherweise von<br />

Menschen gemacht wird, die eine politische,<br />

das heißt eben auch normative<br />

und nicht nur eine ästhetische Agenda<br />

haben, wie es die vielleicht überspitzten,<br />

aber gleichwohl simplen Reflexinterpretationen<br />

eines Gesellschaftsreporters<br />

nahelegen.<br />

Saskia Ellenbeck, <strong>Berlin</strong><br />

zum beitrag „Mein Schüler“ von<br />

Constantin Magnis / April 2013<br />

„schööler“ Rösler<br />

In der April-Ausgabe bot die Serie<br />

„Mein Schüler“ einem pensionierten<br />

Oberstudienrat das Forum, sich über<br />

seinen „unbotmäßigen Schööler“ Rösler<br />

zu äußern.<br />

Ich selbst wurde von eben diesem<br />

Pädagogen in Englisch und Geschichte<br />

unterrichtet, jetzt leite ich ein Gymnasium<br />

in Hannover. Schüler, die von uns<br />

unterrichtet werden, haben dem Lehrer<br />

zweifelsohne mit Anstand und Respekt<br />

zu begegnen, aber Lehrer haben auch<br />

zu gewärtigen, dass die uns Anvertrauten<br />

in ihrer Persönlichkeitsentwicklung<br />

noch Suchende, Ausprobierende,<br />

Unsichere sind. Ich wäre jedenfalls froh,<br />

wenn ich wüsste, dass meine Lehrer so<br />

manche meiner Verhaltensweisen als<br />

Pennäler vergessen hätten … Es ist überaus<br />

problematisch, wenn sich Lehrer<br />

aus der Erinnerung heraus zu ehemaligen<br />

Schülern äußern. Das gilt für Lob<br />

ebenso wie für Tadel.<br />

Martin Thunich, Hannover<br />

zum beitrag „MaN sieht<br />

nur, was man sucht“ von<br />

Beat Wyss / April 2013<br />

Warhols wurzeln<br />

Im April-Heft bringen Sie den Artikel<br />

„Ein Judas, viele Opportunisten“ des<br />

„bekanntesten Kunsthistorikers des Landes“,<br />

Beat Wyss.<br />

Unglücklicherweise ist ihm ein<br />

Abstammungsfehler unterlaufen, indem<br />

er Andy Warhol als „Sohn polnischer<br />

Einwanderer“ bezeichnet hat. Warhols<br />

Eltern stammen aus dem Dorf Mikova<br />

in der Nähe der Stadt Medzilaborce.<br />

Beide Orte befinden sich auf dem<br />

Gebiet der Slowakei. Auf diesem Gebiet<br />

leben bis heute die Ruthenen, deren<br />

Sprache ein Dialekt aus Russisch und<br />

Slowakisch ist.<br />

Hauptmerkmal der Ruthenen ist die<br />

Religion – russisch-orthodoxe, später<br />

griechisch-katholische Religion. Seine<br />

Eltern, Andrej Varchola und Julia Varcholova,<br />

waren also keine Polen, sondern<br />

Ruthenen aus der Slowakei.<br />

Alice Boldis, Ulm<br />

(Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.)<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 15


T i t e l<br />

<strong>Berlin</strong>-Fototagebuch. Diese Eindrücke haben<br />

die <strong>Cicero</strong>-Bildredakteurinnen Antje Berghäuser<br />

und Tanja Raeck seit 2011 zusammengetragen<br />

16 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Boom, Boom,<br />

<strong>Berlin</strong><br />

Die Besucher strömen, die Stadt wächst, die Mieten<br />

steigen. <strong>Berlin</strong> zieht viele an, obwohl es das reine<br />

Durcheinander ist. Oder gerade deshalb? Nachforschungen<br />

bei Sarrazin und einer Luxusmaklerin, bei Buschkowsky<br />

und einem Piraten, im Bizarrclub und auf der „Third<br />

Reich“-Tour, zwischen <strong>Berlin</strong>-Flaggen-Verbrennung<br />

und den Fronten im täglichen Hundestreit<br />

Von Alexander Marguier<br />

B<br />

erlin ist eine Stadt zwischen<br />

Glanz und Kläglichkeit, zwischen<br />

Lust und Liderlichkeit,<br />

zwischen Boom und Depression.<br />

Außerhalb <strong>Berlin</strong>s schütteln<br />

die Menschen den Kopf über manches<br />

Versagertum, den Ort aber finden<br />

sie trotzdem attraktiv. Im Januar regt man<br />

sich in Deutschland über den Flughafen<br />

auf, und im Mai genießt man ein verlängertes<br />

Wochenende in der Hauptstadt. Die<br />

Deutschen stellen fest, dass <strong>Berlin</strong> verlottert<br />

ist, und trotzdem entscheiden sie sich, ihre<br />

Freizeit dort zu verbringen – oder ihr Leben.<br />

Kaum eine andere Metropole in Europa<br />

zieht so viele Menschen an wie die deutsche<br />

Hauptstadt. <strong>Berlin</strong> ist der Versager, der<br />

aufsteigt; ein abschreckendes Beispiel, das<br />

Tausende anzieht. Wie passt das zusammen?<br />

Wie lebt <strong>Berlin</strong> mit Erfolg und Chaos, mit<br />

all seinen Gegensätzen? Eine Reise zum besseren<br />

Verständnis der Durcheinanderstadt.<br />

Eine Wohnung in der Hauptstadt<br />

<strong>Berlin</strong> und seine Schmuddel-Ecken, ein<br />

ewiges Thema. Wer sich darüber aufregt,<br />

sollte wissen: Die latente Verlottertheit ist<br />

in Wahrheit ein wichtiger Standortfaktor.<br />

Sagt zumindest Anne Riney. Und sie muss<br />

es wissen, denn die resolute Irin lebt seit<br />

30 Jahren in der Stadt und leitet das Büro<br />

„Mitte“ des Luxusimmobilienmaklers<br />

„Engel & Völkers“.<br />

Riney hat viel internationale Kundschaft,<br />

in letzter Zeit vor allem Italiener:<br />

„Als Berlusconi abtreten musste, stieg die<br />

Zahl der Interessenten aus Italien von einem<br />

Tag auf den nächsten.“ Es seien insbesondere<br />

Privatleute, die ihr Geld sicher<br />

anlegen wollen und Deutschland als eine<br />

Insel der Stabilität im krisengeschüttelten<br />

Europa sähen. Eine Immobilie in der<br />

Hauptstadt gilt deshalb als gute Investition,<br />

auch in Schweden, Dänemark, Spanien, Island<br />

oder Israel. „Besonders jüngere Italiener<br />

kaufen sich eine Wohnung aber nicht<br />

einfach nur als Renditeobjekt, sondern<br />

verlegen ihren Lebensmittelpunkt nach<br />

<strong>Berlin</strong> und ziehen selbst ein.“ Da würde<br />

sich <strong>Berlin</strong>s Schmuddel-Image bewähren,<br />

sagt Riney: „Viele, die zum ersten Mal aus<br />

dem Ausland hierherkommen, sind positiv<br />

überrascht, dass die Hauptstadt so gar<br />

nicht dem deutschen Klischee von sauberer<br />

Aufgeräumtheit entspricht.“<br />

Anne Riney selbst findet <strong>Berlin</strong> denn<br />

auch eher vergleichbar mit New York als<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 17


T i t e l<br />

mit anderen deutschen Großstädten – nur<br />

nicht bei den Immobilienpreisen. Die seien<br />

zwar in letzter Zeit deutlich gestiegen, aber<br />

im Gegensatz zu anderen Metropolen immer<br />

noch ziemlich niedrig. „<strong>Berlin</strong> ist eben<br />

noch nicht so durchkommerzialisiert, eher<br />

so wie London vor 40 Jahren.“<br />

Für Schnäppchenjäger wird der Markt<br />

so langsam trotzdem eng. Vor sechs oder<br />

sieben Jahren war in <strong>Berlin</strong> ein Mietshaus<br />

noch für das Zehnfache der Jahreskaltmiete<br />

zu haben, inzwischen zahlt man deutlich<br />

mehr als doppelt so viel. Dennoch bleibt<br />

die Nachfrage hoch, was nicht zuletzt an<br />

Angela Merkel liegt. Auch das ist ein Erfahrungswert<br />

der irischen Maklerin: „Außerhalb<br />

Deutschlands wird zwar viel über<br />

die Bundeskanzlerin geschimpft. Aber viele<br />

Ausländer, die in <strong>Berlin</strong> eine Immobilie<br />

kaufen, tun das, weil sie in Angela Merkel<br />

eine Garantin für Stabilität sehen.“ Solange<br />

die Kanzlerin regiert und <strong>Berlin</strong> sich<br />

nicht zu sehr herausputzt, hat die Immobilienbranche<br />

offenbar nichts zu befürchten.<br />

<strong>Berlin</strong> für <strong>Berlin</strong>-Hasser<br />

<strong>Berlin</strong> ist die einzige deutsche Metropole,<br />

in der sich Schmähschriften über die<br />

eigene Stadt als eigenständiges literarisches<br />

Genre herausgebildet haben. Mindestens<br />

einmal im Jahr erscheint ein neues Buch,<br />

das die Hässlichkeiten der Architektur,<br />

die Unfreundlichkeit der Bewohner, die<br />

aufgesetzte Mitte-Coolness, das Hornbrillen-Hipstertum,<br />

verlotterte Lebensgewohnheiten<br />

oder auch die nervigen Touristen<br />

in den Mittelpunkt stellt. Die Titel<br />

heißen dann „Das Buch für <strong>Berlin</strong>-Hasser“,<br />

„I hate <strong>Berlin</strong>“ oder „Vergiss <strong>Berlin</strong>!“ und<br />

werden stets von <strong>Berlin</strong>ern verfasst. Außerhalb<br />

<strong>Berlin</strong>s interessiert sich zwar kein<br />

Mensch für diese Werke, aber für die Lokalpresse<br />

sind solche vernichtenden Selbstreflexionen<br />

immer ein Thema. Allein schon<br />

deshalb, weil sie regelmäßig empörte Leserkommentare<br />

nach sich ziehen, in denen es<br />

dann heißt, der Autor des jeweils aktuellen<br />

<strong>Berlin</strong>-Bashings solle doch abhauen, wenn<br />

es ihm hier nicht gefällt. Ein verlässliches<br />

Reiz-Reaktions-Schema.<br />

Die jüngste Hervorbringung aus dieser<br />

nicht enden wollenden Reihe ist „<strong>Berlin</strong><br />

zum Abkacken“ und geht auf 160 Seiten<br />

die einzelnen Bezirke durch – von<br />

Tempelhof bis Köpenick. Über Prenzlauer<br />

Berg erfährt der Leser beispielsweise: „Architektonisch<br />

hätte die Stadt den Bezirk<br />

sehr attraktiv gestalten können. Stattdessen<br />

wurde er zum Totsanieren freigegeben.<br />

Die Straßen sehen aus, wie mit Photoshop<br />

bearbeitet. Jeder, der nach <strong>Berlin</strong> kommen<br />

und keine Überraschung erleben will, ist<br />

hier richtig. Hoffentlich ist es genau das,<br />

was Prenzlauer Berg das Genick brechen<br />

wird.“ Nichts Neues also.<br />

Zur Buchvorstellung in einer Charlottenburger<br />

Buchhandlung sind trotzdem an<br />

die 30 Leute gekommen, was für Hauptstadt-Verhältnisse<br />

nicht schlecht ist. Der<br />

Autor nennt sich Kristjan Knall, trägt Fellmütze<br />

und Sonnenbrille und macht sich zu<br />

Beginn der Lesung erst mal eine Flasche<br />

Bier mit dem Feuerzeug auf. Die Tarnung<br />

und das Pseudonym seien wichtig, er wolle<br />

nicht erkannt werden. Kristjan Knall liest<br />

zu schnell und verhaspelt sich an vielen<br />

Stellen. Zwischen den einzelnen Passagen<br />

erzählt er, warum er den gefühlt 100 existierenden<br />

<strong>Berlin</strong>-Hasser-Büchern noch eines<br />

hinzufügen musste: Weil ihm die anderen<br />

nicht hasserfüllt genug gewesen seien.<br />

„Ich habe keinen künstlerischen Anspruch,<br />

mir ging es einfach nur ums Abkotzen.“<br />

Ein paar Tage zuvor hat der <strong>Berlin</strong>er<br />

Kurier eine Geschichte über Kristjan<br />

Knall und sein Buch gebracht; die Reporter<br />

18 <strong>Cicero</strong> 5.2013


hätten eine <strong>Berlin</strong>-Flagge dabeigehabt<br />

und ihn gebeten, diese<br />

zu verbrennen. Im Blatt hieß es<br />

dann unter dem entsprechenden<br />

Foto: „Kristjan Knall fackelt<br />

symbolisch für seinen Hass auf<br />

die Stadt in Neukölln eine <strong>Berlin</strong>-Flagge<br />

ab.“ Im Online-Auftritt<br />

des <strong>Berlin</strong>er Kuriers hinterlässt<br />

ein Leser am 18. Februar in<br />

der Kommentarspalte hinter dem<br />

Bericht über die Flaggenverbrennung<br />

folgende Nachricht: „Für den<br />

Vogel sollten wir <strong>Berlin</strong>er sammeln,<br />

um ihm ein Ticket nach Russland<br />

zu spendieren, am besten dorthin,<br />

wo der Meteorit runtergekommen<br />

ist. Oder an die Elfenbeinküste, da<br />

kann er ja dann die Menschen weiter<br />

beleidigen. Mal sehen, was die dann<br />

mit ihm machen.“<br />

Alles wie gehabt.<br />

Auf den Spuren Adolf Hitlers<br />

Im vergangenen Jahr kamen laut Statistik<br />

10,8 Millionen Touristen aus aller Welt<br />

nach <strong>Berlin</strong>; 2013 werden es wahrscheinlich<br />

noch mehr Besucher gewesen sein.<br />

15 von ihnen stehen an einem kalten Aprilmorgen<br />

vor dem Bahnhof Zoo und warten<br />

auf ihren Führer – den Führer zum Führer<br />

gewissermaßen, denn sie haben die Erkundungstour<br />

„Third Reich <strong>Berlin</strong>“ gebucht:<br />

einen vierstündigen Stadtspaziergang, bei<br />

dem es laut Veranstalter darum geht, „die<br />

Überreste des Tausendjährigen Reiches“ zu<br />

entdecken. Klingt ein bisschen finster, ist<br />

es aber nicht.<br />

Der Tourguide heißt Cesar, wurde in<br />

Kolumbien geboren, hat in England Geschichte<br />

studiert und lebt seit zehn Jahren<br />

in <strong>Berlin</strong>. Die historischen „<strong>Berlin</strong> Walks“<br />

sind nur sein zweites berufliches Standbein,<br />

hauptsächlich spielt Cesar die Laute<br />

in einem Barockorchester. Eine Glorifizierung<br />

des Naziregimes ist von ihm ganz bestimmt<br />

nicht zu erwarten. Manchmal seien<br />

auf seinen Drittes-Reich-Rundgängen zwar<br />

Teilnehmer dabei, die „ein bisschen seltsam“<br />

wirkten, sagt er. Aber bei den allermeisten<br />

Gästen handele es sich einfach nur um geschichtlich<br />

interessierte Touristen aus dem<br />

Ausland. Ganz harmlos. So auch heute:<br />

Spanier, Israelis, Schotten, Japaner und ein<br />

amerikanisches Ehepaar mit zwei Töchtern.<br />

Keine politisch verdächtigen Subjekte.<br />

Mit dem Linienbus geht es zur Siegessäule,<br />

der ersten Station. Die Gruppe erfährt,<br />

dass sich nach der deutschen Kapitulation<br />

Hunderte Sowjetsoldaten an<br />

diesem Ort versammelt hätten, um mit viel<br />

Schnaps „a great party“ zu feiern. Und dass<br />

Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen<br />

von einer großen Inflation heimgesucht<br />

worden sei, „so ähnlich wie in Simbabwe<br />

von ein paar Jahren“. Weiter zum<br />

Reichstag, „Hitler didn’t like this building“.<br />

Cesar erzählt vom Reichstagsbrand, dessen<br />

Ursache „still a mystery“ sei, und wie die<br />

Nazis sich dieses Ereignis zunutze gemacht<br />

hätten. Dann deutet er auf das gegenüberliegende<br />

Bundeskanzleramt und macht auf<br />

die vielen Fenster in der Fassade aufmerksam:<br />

Die Deutschen wollten damit zeigen,<br />

wie transparent Politik heutzutage in ihrem<br />

Land sei. Zustimmendes Nicken der<br />

Teilnehmer. Es folgt eine Kaffeepause in einem<br />

Imbiss-Pavillon auf der anderen Straßenseite,<br />

die beiden Japaner teilen sich eine<br />

Bratwurst. Sie wirken mäßig begeistert von<br />

dieser kulinarischen Spezialität.<br />

Danach führt Cesar seine Gruppe<br />

zum Sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten<br />

und dann zur Philharmonie. Vor dem<br />

Gebäude befindet sich eine Gedenkplatte,<br />

die an eine ehemalige Villa an der Tiergartenstraße<br />

4 erinnert. In ihr haben die Nationalsozialisten<br />

damals die Euthanasie geplant<br />

und organisiert. Cesar erklärt, was es<br />

damit auf sich hatte und fragt hinterher:<br />

„<strong>Berlin</strong> hat ein<br />

Design für<br />

sechs bis sieben<br />

Millionen<br />

Einwohner:<br />

ein großartiges,<br />

wenn auch<br />

verkommenes<br />

Gehäuse“<br />

Thilo Sarrazin<br />

„Any questions about the euthanasia programme?“<br />

Nein, keine weiteren Fragen.<br />

Der Bendlerblock, Zentrum der Widerstandsgruppe<br />

um Graf von Stauffenberg,<br />

ist eine der Hauptsehenswürdigkeiten während<br />

des Rundgangs. „You know the movie<br />

with Tom Cruise?“, will der Amerikaner<br />

von seinen beiden halbwüchsigen Töchtern<br />

wissen. „This was the building!“ Die Mädchen<br />

freuen sich. Der Walküre-Film mit<br />

Tom Cruise in der Rolle Stauffenbergs hat<br />

bleibenden Eindruck hinterlassen.<br />

Die „Third Reich“-Tour endet etwas<br />

unspektakulär auf einem Parkplatz zwischen<br />

Plattenbauten nahe dem Holocaust-<br />

Denkmal. Ein paar Meter tiefer unter der<br />

Erde befand sich einst der Führerbunker.<br />

Das spanische Ehepaar wirkt leicht enttäuscht,<br />

als Cesar mitteilt, „Hitler’s bunker“<br />

sei längst abgetragen und könne deshalb<br />

nicht mehr besichtigt werden. Schade,<br />

aber das lässt sich dann wohl nicht ändern.<br />

Sarrazin macht sich keine Sorgen<br />

Es fällt schwer, sich einen gut gelaunten<br />

Thilo Sarrazin vorzustellen. Der Mann<br />

strahlt eine permanente Mürrischkeit aus;<br />

er neigt zum Dozieren und zur Besserwisserei.<br />

Dabei kann ein Gespräch mit dem<br />

ehemaligen <strong>Berlin</strong>er Finanzsenator ganz<br />

unterhaltsam sein. Zwischen den älteren<br />

Herrschaften, die an diesem Vormittag<br />

das „Wiener Caffeehaus“ im langweiligen<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 19


T i t e l<br />

Statistik<br />

<strong>Berlin</strong> in Zahlen<br />

Einwohner 2013 3 543 676<br />

Einwohner pro Quadratkilometer 3974<br />

Einwohner 1942 4 478 102<br />

Einwohner pro Quadratkilometer 5014<br />

Anzahl der Hunde in <strong>Berlin</strong> 109 746<br />

Anzahl der Hunde pro 1000 Einwohner 31<br />

Anfallender Hundekot in <strong>Berlin</strong> pro Jahr in Tonnen 20 020<br />

Roggenmenge, die Deutschland als<br />

staatliche Notfallreserve lagert, in Tonnen 50 000<br />

Anzahl der Schafe in <strong>Berlin</strong> 368<br />

Anzahl der Schafe pro 1000 Einwohner 0,1<br />

Anzahl der Schafe in Baden-Württemberg 248 650<br />

Anzahl der Schafe pro 1000 Einwohner 23<br />

Geld, das <strong>Berlin</strong> 2012 aus dem Länderfinanzausgleich bekam,<br />

in Milliarden Euro 3,323<br />

Geld, das Bayern 2012 in den Länderfinanzausgleich einzahlte,<br />

in Milliarden Euro 3,904<br />

Kosten für einen Kindergartenplatz eines Vierjährigen in <strong>Berlin</strong><br />

sieben Stunden wochentags in Euro 0<br />

Kosten für einen Kindergartenplatz eines Vierjährigen in München<br />

sieben Stunden wochentags in Euro 105<br />

Kita-Mittagessen in <strong>Berlin</strong> pro Monat in Euro 23<br />

Kita-Mittagessen in München pro Monat in Euro 61<br />

Bauzeit des Flughafens Willy Brandt in <strong>Berlin</strong> in Jahren bisher 7<br />

Baukosten in Milliarden Euro bisher 4,3<br />

Passagierkapazität in Millionen 27<br />

Bauzeit des Flughafens Chek Lap Kok in Hongkong in Jahren 8<br />

Baukosten in Milliarden Euro 15,2<br />

Passagierkapazität in Millionen 53,3<br />

Ladenmiete an der Tauentzienstraße in <strong>Berlin</strong><br />

für einen Quadratmeter pro Jahr in Euro 2760<br />

Ladenmiete an der Friedrichstraße in <strong>Berlin</strong><br />

für einen Quadratmeter pro Jahr in Euro 1920<br />

Ladenmiete auf der Avenue des Champs-Élysées in Paris<br />

für einen Quadratmeter pro Jahr in Euro 9573<br />

Zahl der Michelin-Sterne in <strong>Berlin</strong>, die 2012 vergeben wurden 16<br />

Zahl der Michelin-Sterne in Paris, die 2012 vergeben wurden 114<br />

Anzahl der McDonald’s-Filialen in <strong>Berlin</strong> 56<br />

Anzahl der McDonald’s-Filialen in Paris 81<br />

Til Knipper<br />

Westend bevölkern, fällt der 68-Jährige<br />

nicht weiter auf. Sarrazin, der in der Nähe<br />

wohnt, scheint hier öfter zu Gast zu sein.<br />

Jedenfalls dreht niemand den Kopf nach<br />

ihm um.<br />

Obwohl Optimismus nicht gerade<br />

zu den prägenden Charaktereigenschaften<br />

des Autors von „Deutschland schafft<br />

sich ab“ zählt, fallen Sarrazins Zukunftsprognosen<br />

für <strong>Berlin</strong> überraschend positiv<br />

aus: „Die Stadt wird in den nächsten Jahrzehnten<br />

blühen, wachsen und gedeihen.“<br />

Nicht einmal die Turbulenzen wegen des<br />

missglückten Flughafenneubaus könnten<br />

daran etwas ändern. Ein „Riesenskandal“<br />

sei das Projekt zwar, aber letztlich werde<br />

auch der nur eine Fußnote in der Hauptstadtgeschichte<br />

bleiben. „Der Grundriss<br />

<strong>Berlin</strong>s ist der Grund für seine Lebensqualität<br />

und die kolossal leistungsfähige<br />

Infrastruktur“, sagt Sarrazin, „diese Stadt<br />

hat ein Design für sechs bis sieben Millionen<br />

Einwohner.“ <strong>Berlin</strong> nennt er „ein<br />

großartiges, wenn auch leicht verkommenes<br />

Gehäuse“, dessen Qualität nicht einmal<br />

von der Unfähigkeit in Politik und Verwaltung<br />

zunichtegemacht werden könne. Womit<br />

wir dann doch wieder bei einem von<br />

Sarrazins Lieblingsthemen wären: dem Versagen<br />

der öffentlichen Hand beim Beseitigen<br />

von Problemen.<br />

Ineffizienz ist Sarrazin ein Gräuel, und<br />

die <strong>Berlin</strong>er Verwaltung sei jahrzehntelang<br />

der Inbegriff an Ineffizienz gewesen – mit<br />

entsprechenden Nachwehen bis heute.<br />

„Der öffentliche Dienst wurde in Ermangelung<br />

anderer Arbeitsplätze vollgesogen<br />

mit viel mehr Mitarbeitern, als man<br />

brauchte“, erzählt der ehemalige Finanzsenator<br />

und erinnert sich an seine Zeit im<br />

Aufsichtsrat der <strong>Berlin</strong>er Verkehrsbetriebe:<br />

14 000 Mitarbeiter seien dort im Jahr 2002<br />

beschäftigt gewesen, nach der Wende sogar<br />

27 000. „Ich habe dann ausgerechnet,<br />

dass ein Unternehmen dieser Größenordnung<br />

mit 7000 Leuten auskommen müsste.<br />

Und der gesamte Verwaltungsapparat war<br />

genauso aufgebläht. Das führte zu übermäßiger<br />

Arbeitsteilung und extrem verlangsamten<br />

Abläufen. Wer schnell und effizient<br />

war, nahm den anderen die Arbeit<br />

weg. Die <strong>Berlin</strong>er Landespolitiker wiederum<br />

waren vor allem daran gewöhnt, woanders<br />

Geld einzuwerben. Gestaltungswille<br />

und Gestaltungskompetenz lagen durchweg<br />

unter dem in Westdeutschland gewohnten<br />

Niveau. Diese Mängel von Politik<br />

20 <strong>Cicero</strong> 5.2013


und Verwaltung potenzierten sich gegenseitig<br />

und führten zum berühmten <strong>Berlin</strong>er<br />

Sumpf. Das galt quer durch alle Parteien.“<br />

Thilo Sarrazin schaut sich eine Grafik<br />

an, bei der es um die Finanzentwicklung<br />

der Stadt <strong>Berlin</strong> geht. „Als ich Finanzsenator<br />

wurde, haben wir erst mal damit begonnen,<br />

die Dinge analytisch auseinanderzunehmen.“<br />

Dann bleibt sein Blick an<br />

irgendeiner Ziffer kleben, offenbar verspürt<br />

er Erklärungsbedarf seinem Gesprächspartner<br />

gegenüber. „Um die Relation zu ermitteln,<br />

wurde diese absolute Zahl umgerechnet.<br />

Verstehen Sie?“ Ja.<br />

Mit Zahlen hantiert Sarrazin auch dann<br />

besonders gern, wenn er auf die Bevölkerungsstruktur<br />

<strong>Berlin</strong>s zu sprechen kommt.<br />

Auf diesem Gebiet gibt es aus seiner Sicht<br />

natürlich nichts Gutes zu vermelden: „In<br />

<strong>Berlin</strong> entfallen mit stark steigender Tendenz<br />

etwa 40 Prozent der Geburten auf die<br />

sogenannten bildungsfernen Schichten, ein<br />

großer Teil davon Empfänger von Transferleistungen.<br />

Das prägt die Ausgaben für<br />

die Bildungspolitik, die Kosten der Unterkunft,<br />

die Hilfen zur Erziehung, die Hilfen<br />

in besonderen Lebenslagen, die Kosten der<br />

Gerichte, des Strafvollzugs und so weiter.“<br />

Daraus entstehe „ein Ausgabendruck, auf<br />

den eigentlich niemand eine Antwort hat“.<br />

Nicht einmal Thilo Sarrazin.<br />

Schlaflos durch die Nacht<br />

Svenja und Frank kennen <strong>Berlin</strong> kaum –<br />

obwohl sie mindestens zwei Mal im Monat<br />

dort sind. Aber wenn sie am Wochenende<br />

mit dem Auto aus der Lüneburger Heide<br />

in die Stadt gefahren kommen, ist es immer<br />

schon dunkel. Und wenn die beiden<br />

Endzwanziger nach vier oder fünf Stunden<br />

wieder aufbrechen, dämmert allenfalls im<br />

Sommer das Morgenlicht.<br />

Svenja und Frank haben immer das<br />

gleiche Ziel, das „Insomnia“ im Stadtteil<br />

Tempelhof – den „Pärchenclub für Liebhaber<br />

des Fetisch, des Bizarren und des Besonderen“.<br />

So steht es auf der Homepage.<br />

Und weiter: „Insomnia ist lustvolle, erotische<br />

Kommunikation auf allen Ebenen unter<br />

hedonistischen Freidenkern“. Freidenker,<br />

dieser Begriff ist Svenja und Frank wichtig;<br />

sie bezeichnen sich selbst ausdrücklich nicht<br />

als „Swinger“, sondern als „Libertinäre“. Für<br />

Laien ist diese Unterscheidung nicht ganz<br />

leicht nachzuvollziehen, jedenfalls geht es<br />

Svenja und Frank nicht ums „Gruppenrammeln“,<br />

wie sie es nennen, sondern um erotische<br />

Selbstentfaltung. Die sieht an diesem<br />

Samstagabend so aus: Frank wechselt in der<br />

Umkleidekabine seine Alltagsklamotten gegen<br />

einen schwarzen Ganzkörperanzug aus<br />

Latex, während aus der zierlich-unscheinbaren<br />

Svenja binnen weniger Minuten eine<br />

Art Lolita-Vamp wird, mit kniehohen weißen<br />

Stiefeln und einer Krankenschwesternhaube<br />

auf dem Kopf. Frank legt seiner<br />

Freundin noch das Hundehalsband an und<br />

führt sie dann an der Leine nach oben, in<br />

den großen Ballsaal.<br />

„Circus Bizarre“ lautet das Motto des<br />

Abends, um 23 Uhr ist die Tanzfläche<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 21


T i t e l<br />

schon schwitzend voll. Frauen in schwarzen<br />

Negligés oder knappen Höschen, manche<br />

mit, andere ohne BH, in engen Ledercorsagen,<br />

Stringtangas oder aufwendigen<br />

Kostümen aus dem ästhetischen Repertoire<br />

des Fantasy-Romans. Die Männer geben<br />

sich nicht ganz so viel Mühe, dem Insomnia-Dresscode<br />

„Sexy, Fetish, elegantes<br />

Schwarz, Black Glamour“ zu entsprechen –<br />

die meisten tragen schwarze Unterhosen,<br />

Lendenschurz oder sehr dunkle Anzüge; einige<br />

aber auch, so wie Sven, schwarze Latex-Suits,<br />

die sogar das Gesicht bedecken.<br />

Sie sehen darin aus wie Kampfschwimmer.<br />

Der DJ spielt Progressive House, Trance<br />

und Techno, auf die hohe Wand über seinem<br />

Pult werden von der Empore aus Pornos<br />

projiziert. In <strong>Berlin</strong> gibt es einige solcher<br />

Orte, die harte Beats mit sexuellem<br />

Anything Goes zusammenbringen, Svenja<br />

und Frank waren auch schon im „Kit Kat<br />

Club“ oder dem ewigen „Berghain“. Seit<br />

ein, zwei Jahren gehen sie aber nur noch<br />

ins Insomnia: „Es ist hier nicht so groß und<br />

irgendwie familiärer als in den anderen Läden“,<br />

sagt Svenja.<br />

An der Bar treffen sie ein Pärchen im<br />

SM-Look, man kennt einander von den<br />

vielen Besuchen. Die Unterhaltung ist weniger<br />

exotisch als das Aussehen der vier, es<br />

geht um Urlaub und Unterhaltungselektronik.<br />

Svenja arbeitet an vier Tagen in der<br />

Woche als Kundenberaterin, Frank macht<br />

irgendetwas mit Computern. Ihre Kleinstadt<br />

in der Lüneburger Heide sei zwar „ein<br />

bisschen langweilig und sehr, sehr übersichtlich,<br />

aber zum Leben super“. <strong>Berlin</strong>?<br />

„Nichts für uns, auf Dauer sowieso nicht“,<br />

sagt Svenja. Frank fügt hinzu: „viel zu anonym“.<br />

Drei Stunden später haben die beiden<br />

noch einmal Sex im Whirlpool, ein<br />

paar Männer schauen ihnen dabei zu.<br />

Dann geht es zurück in die Umkleide<br />

und mit dem Auto nach Hause. Nächste<br />

Woche kommen sie wieder.<br />

Ein Pirat und der Flughafen<br />

Martin Delius „ist ein deutscher Politiker<br />

der Piratenpartei“. So steht es im Wikipedia-Eintrag<br />

über den 29-Jährigen. Delius<br />

gehört zu den 15 Piraten, die nach der zurückliegenden<br />

Landtagswahl ins <strong>Berlin</strong>er<br />

Abgeordnetenhaus einzogen. 8,9 Prozent<br />

der Wählerstimmen hat die Partei im September<br />

2011 geholt – fast fünf Mal mehr<br />

als die FDP. Für die Piraten war das der<br />

Auftakt zu einer Erfolgsserie in anderen<br />

Bundesländern, inzwischen ist der Trend<br />

gebrochen. Delius lässt sich davon nicht<br />

verunsichern.<br />

Wahlanalysen zeigen, dass 80 Prozent<br />

der <strong>Berlin</strong>er Piraten-Wähler ihre Stimme<br />

22 <strong>Cicero</strong> 5.2013


aus Unzufriedenheit über die anderen Parteien<br />

gegeben haben. Das sagt mehr aus<br />

über die Stadt als über die Partei. Dabei<br />

war damals der verkorkste Hauptstadtflughafen<br />

noch überhaupt kein Thema. Inzwischen<br />

gibt es dazu sogar einen Untersuchungsausschuss,<br />

und dessen Vorsitzender<br />

heißt Martin Delius. Der studierte Physiker<br />

hat sich tief in die Materie eingearbeitet<br />

– und je tiefer er kam, desto erstaunter<br />

war er über die Ignoranz der maßgeblich<br />

am Flughafenbau Beteiligten.<br />

Über das Projekt spricht er mit einer<br />

Ruhe und Abgeklärtheit, die fast schon an<br />

Zynismus grenzt. Seine Analysen lassen den<br />

Naturwissenschaftler erkennen. „Systemversagen“<br />

nennt Delius, was dazu geführt<br />

hat, dass der Rest der Republik über die<br />

Hauptstadt und ihren unfertigen Flughafen<br />

spottet. „Ganz allgemein gesagt, hatte<br />

der gesamte Planungsprozess derart viele<br />

Sollbruchstellen, dass gar nichts anderes<br />

passieren konnte als das jetzige Desaster.“<br />

Die <strong>Berlin</strong>-Brandenburger Flughafengesellschaft,<br />

Betreiberin der bestehenden Flughäfen<br />

Tegel und Schönefeld, sei von Anfang<br />

an mit dem Neubauprojekt überfordert<br />

gewesen, weil es ihr dafür an Erfahrung<br />

gefehlt habe. Die Kompetenzen, sagt Delius,<br />

seien derartig verwischt worden, dass<br />

die externen Kontrolleure „spätestens seit<br />

dem Jahr 2005 die Controlling-Berichte<br />

gemeinsam mit der Geschäftsführung der<br />

Flughafengesellschaft geschrieben“ hätten.<br />

Eine unabhängige Überprüfung des Baufortschritts<br />

habe es also nicht gegeben.<br />

Stattdessen sei etwas eingetreten, das<br />

Delius als „Premiereneffekt“ bezeichnet,<br />

wie man ihn aus dem Theater kennt: Je<br />

näher die Premiere rückt, desto mehr Abstriche<br />

macht der Regisseur von einer Inszenierung,<br />

um den Aufführungstermin<br />

einhalten zu können. Am Schluss hätten<br />

die <strong>Berlin</strong>er Flughafenbauherren nur noch<br />

die Airport-Eröffnung im Kopf gehabt und<br />

den Sinn für die technischen Realitäten verloren.<br />

Eine Art kollektive Autosuggestion.<br />

„Im Mai vergangenen Jahres, kurz vor Bekanntgabe<br />

der ersten Verschiebung, war das<br />

Hauptthema in der Aufsichtsratssitzung die<br />

Frage, wer bei der feierlichen Eröffnung neben<br />

der Bundeskanzlerin sitzen darf.“<br />

Inzwischen hält Delius alles für möglich.<br />

Sogar, dass der Hauptstadtflughafen<br />

nie fertig wird. „Die Tatsache, dass der<br />

technische Geschäftsführer der Flughafengesellschaft<br />

immer und immer wieder<br />

betont, es sei möglich, dieses Bauprojekt<br />

zu einem guten Ende zu bringen, sagt doch<br />

schon alles“, unkt Delius und setzt dazu ein<br />

leicht sardonisches Lächeln auf.<br />

Natürlich geht es ihm nicht nur um<br />

die Sache, sondern auch um Politik. Die<br />

Piraten fordern Klaus Wowereits Rücktritt,<br />

und zwar als Stadtoberhaupt. „Wowereit ist<br />

völlig überfordert mit der Situation, mit<br />

ihm sind in <strong>Berlin</strong> keine sinnvollen Projekte<br />

mehr zu machen. Allein schon, weil<br />

er im Senat keine Stärke mehr hat. So ein<br />

Regierender Bürgermeister ist schädlich für<br />

die Stadt.“ Systemversagen hin oder her.<br />

Ist das Flughafendebakel womöglich<br />

sogar ein Beleg dafür, dass das System der<br />

gesamten Hauptstadt nicht funktioniert?<br />

Ist <strong>Berlin</strong> überfordert von den Ansprüchen<br />

an sich selbst? Darauf antwortet Delius<br />

kühl: „Ich gehe davon aus, dass an anderer<br />

Stelle in Deutschland genau dasselbe<br />

passiert.“<br />

Baustelle <strong>Berlin</strong><br />

„<strong>Berlin</strong> hat viele Baustellen. Schön, dass<br />

wenigstens der Strom problemlos fließt.“<br />

Mit diesem Slogan wirbt der schwedische<br />

Energiekonzern Vattenfall derzeit in einer<br />

großen Kampagne für Sympathie bei der<br />

Hauptstadtbevölkerung. Unter dem Baustellen-Spruch<br />

ist auf den riesigen Vattenfall-Plakaten<br />

ein kleiner Junge abgebildet,<br />

der aus Holzklötzen einen wackeligen<br />

Turm baut.<br />

In <strong>Berlin</strong> ist Vattenfall der sogenannte<br />

Grundversorger; wer sich nicht um einen<br />

anderen Anbieter kümmert, bekommt<br />

seinen Strom automatisch von dort. Aus<br />

Geldnot verkaufte der <strong>Berlin</strong>er Senat im<br />

Jahr 1997 seinen Stromversorger Bewag für<br />

umgerechnet 1,17 Milliarden Euro. Inzwischen<br />

hat sich der Wind wieder gedreht, etliche<br />

lokale Initiativen wollen die Privatisierung<br />

rückgängig machen. Geht es nach<br />

dem „<strong>Berlin</strong>er Energietisch“, soll <strong>Berlin</strong><br />

wieder ein eigenes Stadtwerk bekommen.<br />

Auch das Stromnetz soll rekommunalisiert<br />

werden, wenn Ende nächsten Jahres<br />

der entsprechende Konzessionsvertrag zwischen<br />

dem Land <strong>Berlin</strong> und Vattenfall ausläuft.<br />

Im Februar hat der „Energietisch“<br />

deshalb eine Unterschriftensammlung gestartet,<br />

mit der er ein Volksbegehren erreichen<br />

will, um seine Pläne zu verwirklichen.<br />

Der Politik ist das Vorhaben nicht<br />

ganz geheuer. Allein schon deshalb, weil<br />

das von der Senatsverwaltung für Finanzen<br />

in Gang gesetzte Verfahren für die Neukonzessionierung<br />

des <strong>Berlin</strong>er Stromnetzes<br />

in Konflikt mit einem erfolgreichen Volksbegehren<br />

geraten würde – und <strong>Berlin</strong> eine<br />

juristische Baustelle mehr hätte.<br />

Bei Vattenfall traut man der Stadt ohnehin<br />

nicht zu, dass sie allein in der Lage<br />

wäre, die Stromversorgung sicherzustellen.<br />

Deswegen die Plakatkampagne, mit der<br />

unverhohlen auf die derzeit größte <strong>Berlin</strong>er<br />

Baustelle angespielt wird. Nach dem<br />

Motto: Wer schon keinen Flughafen hinbekommt,<br />

sollte sich nicht auch noch als<br />

Energieversorger und Stromnetzbetreiber<br />

versuchen. Aus Sicht von Vattenfall stellt<br />

sich die <strong>Berlin</strong>er Landespolitik nämlich<br />

so dar: ein kleiner Junge, der aus Bauklötzen<br />

einen wackeligen Turm zu errichten<br />

versucht.<br />

Hunde im Dialog<br />

Als „Hundehasser“ will Martin Goldbach<br />

auf keinen Fall gesehen werden. Er bevorzugt<br />

die Bezeichnung „Hunde-Skeptiker“.<br />

Goldbach, 40 Jahre alt, ist freischaffender<br />

Werbeberater und Vater von zwei kleinen<br />

Kindern – einem zehnjährigen Jungen und<br />

einem sechs Jahre alten Mädchen.<br />

Die Familie wohnt an der Krummen<br />

Lanke, einem See am Rande des Grunewalds.<br />

In dieser Gegend spürt man die<br />

Stadt kaum; die vielen Bäume, Rasenflächen<br />

und das nahe Gewässer wirken beinahe<br />

wie ein ländliches Idyll. Für Kinder<br />

eigentlich ideal. Wenn da nicht die Hunde<br />

wären. Goldbachs Tochter wurde vor einiger<br />

Zeit beim Spielen neben dem elterlichen<br />

Grundstück von einem frei laufenden<br />

Tier umgerannt und fürchtet sich seither<br />

vor Hunden. Und im vergangenen Sommer,<br />

die Goldbachs saßen gerade beim<br />

Ein Hund<br />

überrumpelte<br />

Martin Goldbach<br />

beim Picknick, das<br />

Herrchen rief: „Oh<br />

Gott, er verträgt<br />

keine Wurst!“<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 23


T i t e l<br />

Picknick an der Krummen Lanke, kam<br />

wieder ein Hund angestürmt und tat Anstalten,<br />

sich über ihre mitgebrachten Speisen<br />

herzumachen. Wenig später folgte der<br />

Hundebesitzer und rief der Familie schon<br />

von weitem zu: „Um Gottes willen, lassen<br />

Sie ihn bloß keine Wurst fressen! Die verträgt<br />

er nicht!“<br />

Es sind Erlebnisse wie diese, die Martin<br />

Goldbach zu <strong>Berlin</strong>s inzwischen bekanntestem<br />

Hunderebellen haben werden<br />

lassen. Im September vergangenen Jahres<br />

hat die Senatsverwaltung nämlich den sogenannten<br />

„Bello-Dialog“ ins Leben gerufen,<br />

bei dem Hundehalter und von Hunden<br />

genervte Bürger ins Gespräch kommen<br />

und zu irgendeinem Kompromiss finden<br />

sollten. Denn die <strong>Berlin</strong>er Hunde genießen<br />

traditionell größere Freiheiten als ihre<br />

Artgenossen in anderen deutschen Städten;<br />

der Leinenzwang wird hier eher als<br />

unverbindliche Empfehlung wahrgenommen.<br />

Und wie weit die Pflicht zur Mitnahme<br />

von Hundekot reicht, das merken<br />

Fußgänger ziemlich schnell am Zustand ihrer<br />

Schuhsohlen.<br />

Goldbach machte sich also auf ins<br />

Schöneberger Rathaus, um zunächst als<br />

Zuschauer an der konstituierenden Sitzung<br />

des „Bello-Dialogs“ teilzunehmen.<br />

Er traf dort auf eine übermächtige Fraktion<br />

von Hundebesitzern, die um ihre<br />

ungeschriebenen Privilegien fürchteten.<br />

Immerhin wurde Martin Goldbach wenig<br />

später zum offiziellen Teilnehmer am<br />

„Bello-Dialog“ ernannt. Es war eine ernüchternde<br />

Erfahrung.<br />

Denn eigentlich, sagt Goldbach,<br />

bräuchte es solche Bürgerforen überhaupt<br />

nicht. Wenn nur die geltenden Vorschriften<br />

zur Leinenpflicht und der Mitnahme<br />

von Hundekot eingehalten würden, gäbe<br />

es auch keine Probleme. Diesen Einwand<br />

trug er dann auch dem im Bello-Dialog<br />

federführenden Justizsenator vor, Thomas<br />

Heilmann von der CDU. Dessen Antwort<br />

fiel, zumal für einen Juristen, bemerkenswert<br />

aus: Laut Protokoll „erläuterte Herr<br />

Heilmann, dass die Aufbringung von Finanzmitteln<br />

zur Durchsetzung von Regelungen<br />

des Hundegesetzes in Konkurrenz<br />

zur Bewältigung anderer öffentlicher<br />

Aufgaben steht“. Mit anderen Worten: In<br />

<strong>Berlin</strong> fehlt das Geld, um die Hunde an<br />

die Leine zu bringen. Und das ist auch gut<br />

so, zumindest aus Sicht der Hundebesitzer.<br />

Zwar sind Hunde nur in 5 Prozent der<br />

<strong>Berlin</strong>er Haushalte zu Hause, doch deren<br />

Gewohnheitsrecht nach Laisser-faire-Manier<br />

steht über dem Gesetz.<br />

Goldbach wird nicht müde, diese Zustände<br />

öffentlich anzuprangern. Er glaubt,<br />

für die Mehrheit der Menschen in seiner<br />

Stadt zu sprechen, wenn er sagt, als<br />

„Unsere<br />

Infrastruktur<br />

ist auf dem<br />

Weg in die<br />

DDR“<br />

Heinz Buschkowsky<br />

Fußgänger in <strong>Berlin</strong> gewöhne man sich einen<br />

Blick nach unten an, um nicht ständig<br />

in Hundehaufen zu treten. Goldbach<br />

fragt sich auch, warum der Justizsenator<br />

mit dem in <strong>Berlin</strong> üblichen Hinweis auf<br />

knappe Haushaltsmittel argumentiere,<br />

wo doch gleichzeitig rund 60 Prozent der<br />

Hunde steuerlich nicht gemeldet seien.<br />

Dadurch würden der Stadt jährliche Einnahmen<br />

in Höhe von 19 Millionen Euro<br />

entgehen. „Ich bin gegenüber den reflexartigen<br />

Verweisen auf <strong>Berlin</strong>s Finanzlage inzwischen<br />

etwas empfindlich. Insbesondere<br />

wenn damit eigenes Nichtstun gerechtfertigt<br />

und zugleich die allgemeine <strong>Berlin</strong>er<br />

Schluffigkeit auch noch als Standortfaktor<br />

überhöht wird“, sagt Goldbach.<br />

Der „Bello-Dialog“ hat nach fünf Sitzungen<br />

übrigens die Einführung einer<br />

Sachkundeprüfung für Hundehalter beschlossen;<br />

erfolgreich geprüfte Hunde<br />

sollen in ausgewiesenen Grünflächen die<br />

Möglichkeit zum Freilauf erhalten. Dass<br />

diese Regelung jemals kontrolliert wird, ist<br />

nicht zu erwarten.<br />

Buschkowskys Neukölln<br />

Das Rathaus Neukölln ist ein imposantes<br />

Bauwerk im Stil der deutschen Neorenaissance.<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet,<br />

wird es dominiert von einem 68 Meter<br />

hohen Turm, auf dessen Spitze sich eine<br />

Statue der Glücksgöttin Fortuna befindet.<br />

Wer Neukölln nur aus der aufgeregten Berichterstattung<br />

über Jugendgewalt, migrantische<br />

Parallelgesellschaften und Integrationsverweigerer<br />

kennt, dürfte überrascht<br />

sein, wie ruhig und gesittet es hier zugeht.<br />

Zumindest an einem Donnerstagvormittag.<br />

Da unterscheidet sich die Karl-Marx-<br />

Straße vor dem Rathaus nicht sehr von anderen<br />

<strong>Berlin</strong>er Einkaufsmeilen mit ihren<br />

Coffee-to-go-Bäckereien an jeder Ecke.<br />

Heinz Buschkowskys Arbeitszimmer<br />

liegt im ersten Stock, auf dem Besprechungstisch<br />

steht eine große Sanduhr. Ein<br />

unmissverständlicher Hinweis darauf, dass<br />

der Hausherr nicht viel Zeit hat. Tatsächlich<br />

ist Buschkowsky ein viel beschäftigter<br />

Mann. Als Neuköllner Bezirksbürgermeister<br />

ist er in den Medien omnipräsent, wenn<br />

es mal wieder um Themen wie Zuwanderung<br />

oder Armut geht. Außerdem schreibt<br />

er Kolumnen für die Bild-Zeitung; sein<br />

Buch „Neukölln ist überall“ stand monatelang<br />

auf den Bestsellerlisten. Der Mann<br />

24 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Foto: Andrej DAllmann (Autor)<br />

ist eine Berühmtheit. Und dafür bekannt,<br />

kein Blatt vor den Mund zu nehmen.<br />

Im Zuwanderer-Kiez Neukölln hat<br />

ihm seine direkte, mitunter ins Schroffe<br />

neigende Art nicht geschadet, im Gegenteil.<br />

Bei der letzten Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung<br />

holte Buschkowsky<br />

knapp 43 Prozent – die Hauptstadt-SPD<br />

hingegen kam bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus<br />

nur auf 27,4 Prozent der<br />

Wählerstimmen. Trotzdem beäugen viele<br />

<strong>Berlin</strong>er Sozialdemokraten ihren erfolgreichen<br />

Genossen mit Argwohn. „Spalter“,<br />

„Panikmacher“, „Populist“: Diese Begriffe<br />

fallen häufig, wenn in den besseren Kreisen<br />

der <strong>Berlin</strong>er SPD über Buschkowsky<br />

geredet wird. Sogar das Wort „Rassist“ ist<br />

manchmal zu hören.<br />

Wenn der vermeintliche Rassist Buschkowsky<br />

über die Probleme der Stadt im<br />

Allgemeinen und die seines Bezirks im Besonderen<br />

spricht, dann klingt das so: „Ich<br />

möchte gern, dass alle Kinder, die in Neukölln<br />

geboren werden, die gleichen Chancen<br />

auf ein eigenständiges Leben haben,<br />

wie ich sie hatte.“ Dazu muss man wissen:<br />

Heinz Buschkowsky ist als Sohn eines<br />

Schlossers und einer Sekretärin in einer<br />

Einzimmerwohnung groß geworden, die<br />

noch dazu im Keller lag. „Hocharbeiten“<br />

ist bei ihm also im Wortsinn zu verstehen.<br />

Mit Laisser-faire, Ausländerromantik oder<br />

Schnorrermentalität sollte ihm deshalb besser<br />

keiner kommen.<br />

Buschkowsky macht Politik nach dem<br />

Motto „Anpacken statt Rumlabern“ – und<br />

kommt damit gut an, zumindest bei der<br />

Neuköllner Bevölkerung. Die ehemals<br />

skandalumwitterte Rütli-Schule etwa<br />

wurde auf Vordermann gebracht und in<br />

ein Leuchtturmprojekt namens „Campus<br />

Rütli“ verwandelt. Auf solche Erfolge ist<br />

Buschkowsky stolz. Zur Verzweiflung dagegen<br />

treiben ihn realitätsblinde Schönredner:<br />

„Mich stört an der <strong>Berlin</strong>er Politik,<br />

dass sie seit mindestens 15 Jahren die<br />

zunehmende soziale Spaltung der Stadt<br />

schlichtweg ignoriert oder kleinredet. Der<br />

verstorbene Soziologe Hartmut Häußermann<br />

und ich in seinem Fahrwasser konnten<br />

uns den Mund darüber fusselig reden,<br />

dass in <strong>Berlin</strong> an die 700 000 Menschen<br />

in von Ausgrenzung bedrohten Gebieten<br />

leben. Es war, als ob wir den Mond anbellten.“<br />

Anstatt „Hunderte von Millionen<br />

Euro für eine Landesbibliothek oder<br />

Schlampereien beim Flughafenbau aufzuwenden,<br />

sollte man das Geld nehmen, um<br />

Ganztagsschulen für alle Kinder einzurichten<br />

und eine Kindergartenpflicht mit ausreichenden<br />

Plätzen einzuführen“.<br />

Wenn Buschkowsky erst einmal die<br />

richtige Betriebstemperatur erreicht hat, ist<br />

nichts und niemand vor seinem Zorn sicher,<br />

der sich in der typischen <strong>Berlin</strong>er Schnodderigkeit<br />

Luft macht. Die <strong>Berlin</strong>er Verwaltung?<br />

„Nicht sehr leistungsfähig und kreativ.“<br />

Und die <strong>Berlin</strong>er Parteienlandschaft<br />

erst! Über die Grünen, deren Koalitionspläne<br />

mit Wowereits SPD nach der zurückliegenden<br />

Wahl am Streit über ein Straßenbauprojekt<br />

scheiterten, sagt Buschkowsky:<br />

„Wer wegen 300 Meter Autobahn den Anspruch<br />

aufgibt, die Stadt zu gestalten, bedarf<br />

zweifellos einer politischen Therapie.“<br />

Die CDU trifft es nicht ganz so hart; sie<br />

sei „ohne Zweifel taktisch klüger und regierungsorientierter.<br />

Allerdings hat sie auf der<br />

Suche nach den richtigen Köpfen starken<br />

Verschleiß“. Die Liberalen dagegen sind aus<br />

Neuköllner Sicht kaum noch einer Erwähnung<br />

wert: „Die FDP ist in <strong>Berlin</strong> bis zur<br />

Unkenntlichkeit deformiert.“ Und Buschkowskys<br />

eigene Partei? „Die SPD weiß, dass<br />

es irgendwann eine Zeit nach Wowereit geben<br />

wird. Das Personaltableau dafür quillt<br />

nicht unbedingt über.“<br />

Heinz Buschkowskys Zustandsbeschreibung<br />

seiner Heimatstadt kann ganz<br />

schön deprimierend sein. Wer ihm zuhört,<br />

könnte fast glauben, <strong>Berlin</strong> läge irgendwo<br />

in der Dritten Welt. Allein die<br />

Straßen! „Sie sind in einem miserableren<br />

Zustand als in Ostberlin anno 1989. Unsere<br />

Infrastruktur ist auf dem Weg in die<br />

DDRisierung.“<br />

Gegen Ende seiner Suada wird er dann<br />

doch noch optimistisch: „Der Tourismus<br />

boomt. Die Welt interessiert sich für uns.<br />

Ich glaube, dass <strong>Berlin</strong> eine gute Zukunft<br />

hat, wenn es seine Preziosen putzt und nicht<br />

verramscht. Ich denke da an den Flughafen<br />

Tempelhof und die East-Side-Gallery.“<br />

Deutschlands Hauptstadt ein Schmelztiegel<br />

für Zuwanderer aus aller Herren Länder?<br />

Buschkowsky fände es gut. Allerdings:<br />

„Bunt, klug und modern ist kein Widerspruch<br />

zu arm und sexy.“<br />

Alexander Marguier<br />

ist stellvertretender<br />

Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 25


T i t e l<br />

„<strong>Berlin</strong> wird gezielt<br />

schlechtgeredet“<br />

Was reizt ihn an <strong>Berlin</strong>? Und was will er überhaupt noch in seinem Amt nach dem<br />

Flughafendesaster? Klaus Wowereit über Pannen und Partys, Geld und Sexyness,<br />

über den Dorfteich von Lichtenrade, das Berghain und den Boom seiner Stadt<br />

Klaus Wowereit kommt zur Tür seines<br />

Amtszimmers im Roten Rathaus. Der<br />

Raum ist ein kleines Museum. In Schränken<br />

werden hinter Glas Vasen verwahrt, Figürchen<br />

und ein signiertes Bild der Queen.<br />

In der Mitte des Zimmers steht rechter<br />

Hand die geschwungene Skulptur „Mitternacht“<br />

aus Messing und Zinn und links ein<br />

Karussellpferd in Originalgröße, das hat er<br />

vom Schaustellerverband. Hinterm Schreibtisch<br />

auf einem Regal sind elf kleine <strong>Berlin</strong>-<br />

Bären aufgereiht, daneben zwei Teddybären.<br />

An der Wand leuchtet ein Gemälde, Leim<br />

auf Leinwand, Rainer Fetting: „Drummer<br />

und Gitarrist“. Viele Dinge, über die ein<br />

Regierender Bürgermeister mit Besuchern<br />

plaudern kann, und welche, mit denen<br />

er vielleicht etwas über sich erzählen will.<br />

Aber draußen wummert und hämmert es,<br />

vor dem Fenster schwingt ein Kran hin und<br />

her, und da ist Wowereit schon wieder beim<br />

Thema Baustelle gelandet, auch wenn hier<br />

bloß ein neuer U-Bahnhof gebaut werden<br />

soll und kein Flughafen.<br />

Bei Ihnen vor dem Fenster ist es ja ganz<br />

schön laut.<br />

Das wird nächste Woche noch lauter,<br />

wenn hier eine 22 Meter hohe<br />

Wand errichtet wird. Es wird im Zuge<br />

des U‐Bahn-Baus Betonarbeiten geben,<br />

und damit die Rathausfassade<br />

nicht beschädigt wird, bauen sie eine<br />

Spritz-Schutzwand.<br />

Vor dem Fenster?<br />

Vor allen Fenstern, für die gesamte<br />

Fassade.<br />

Dann ist es zwei Jahre dunkel?<br />

Die Plane soll licht- und luftdurchlässig<br />

sein, so jedenfalls die Ankündigung. Und<br />

sie soll für zwei Monate vor dem Haus<br />

stehen.<br />

Wowereit nimmt auf dem Sofa vor dem<br />

Fenster Platz und lehnt sich zurück.<br />

Herr Wowereit, 2011 haben Sie die Wahl<br />

mit dem Slogan „<strong>Berlin</strong> verstehen“ gewonnen.<br />

Verstehen Sie <strong>Berlin</strong> noch?<br />

Ich lebe seit meiner Geburt hier. Natürlich<br />

ist die Stadt im Wandel. Täglich verändert<br />

sich etwas, da muss man sich auf<br />

dem Laufenden halten. Aber <strong>Berlin</strong> und<br />

ich, wir verstehen uns noch.<br />

In den vergangenen Monaten hat Ihr Ansehen<br />

gelitten. Nach einer Meinungsumfrage<br />

halten Sie nur noch 47 Prozent der Bürger<br />

dieser Stadt für kompetent.<br />

Im Moment wird meine Arbeit natürlich<br />

stark mit der Entwicklung beim Flughafen<br />

identifiziert. Der ist fast schon ein<br />

Jahr lang das zentrale Thema – die berühmte<br />

F-Frage. Sie hat Themen wie<br />

Wirtschaft, Arbeit, Integration und Bildung<br />

in der Wahrnehmung zurückgedrängt.<br />

Da wundert es mich nicht, dass<br />

viele Menschen unzufrieden sind. Mit<br />

dem, was auf dem Flughafen passiert, bin<br />

ich ja selber nicht zufrieden.<br />

Sie halten sich selbst auch nur zu 47 Prozent<br />

für kompetent?<br />

Ach, das sind Wortspiele. Es ist ja gar<br />

nicht die Frage, wie ich es empfinde.<br />

Sondern, dass ich für alles verantwortlich<br />

gemacht werde, was am Flughafen<br />

passiert.<br />

Sie fühlen sich ungerecht behandelt?<br />

Sagen wir es mal so: Als es gut lief, ist<br />

das nicht mir zugeschrieben worden. Die<br />

großen Erfolge zum Beispiel in der Akquise<br />

von Airlines, die vom BER starten,<br />

waren selbstverständlich. Das hat<br />

sich total geändert. Aber wenn man an<br />

der Spitze des Aufsichtsrats gestanden<br />

hat, muss man die Kritik aushalten. Dass<br />

sich andere vom Acker gemacht haben<br />

und nicht zu ihrer Verantwortung standen,<br />

als es schieflief, fand ich allerdings<br />

schon seltsam.<br />

Dass die F-Frage immer nur Ihnen gestellt<br />

wird und beispielsweise nicht Peter<br />

Ramsauer, dem Bundesverkehrsminister?<br />

Der Bund hat zwar etwas weniger Anteile<br />

an der Flughafengesellschaft als <strong>Berlin</strong><br />

und Brandenburg, aber gegen ihn können<br />

keine Entscheidungen fallen. Deshalb<br />

hat auch er die volle Verantwortung.<br />

Vor der geplanten Eröffnung vor einem<br />

Jahr gab es doch schon das Gerangel, wie<br />

die Bundeskanzlerin platziert wird und<br />

wo Herr Ramsauer sitzt, das Vorausprotokoll<br />

des Bundeskanzleramts war auch<br />

schon da. Ganz wichtig auch, dass alle<br />

gut in die „Tagesschau“ kommen. Als die<br />

Eröffnung dann abgesagt werden musste,<br />

waren plötzlich alle weit weg.<br />

Dann drehen wir die F-Frage mal um: Wofür<br />

sind Sie denn nicht verantwortlich?<br />

Foto: Lene Münch für <strong>Cicero</strong><br />

26 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Für das konkrete Bauen. Das müssen<br />

die Ingenieure machen. Und schrauben<br />

müssen die Handwerker. Wir haben die<br />

Bauaufträge ja auch nicht an No-Names<br />

vergeben, sondern an renommierte<br />

Firmen. Dazu waren Heerscharen von<br />

Planungsbüros, Controllern und Beratern<br />

unterwegs. Dass trotzdem derartige<br />

technische Probleme auftauchen, kann<br />

man doch nicht einfach bei der Politik<br />

abladen.<br />

Aber die muss jemand führen. Und der<br />

Aufsichtsrat ist dafür da, die Geschäftsführung<br />

zu berufen. Warum haben Sie<br />

den Chef der Flughafengesellschaft nicht<br />

schon entlassen, nachdem Sie vor einem<br />

Jahr, im Mai 2012, den Eröffnungstermin<br />

erstmals verschieben mussten?<br />

Der Geschäftsführer, den Sie meinen –<br />

Herr Schwarz –, war nur Sprecher der<br />

Geschäftsführung. Seine Zuständigkeit<br />

lag insbesondere auf dem kaufmännischen<br />

Gebiet und beim Betrieb der bisherigen<br />

Flughäfen. Die Verantwortung fürs<br />

Bauen trug nach dem damaligen Konstrukt<br />

ein anderer Geschäftsführer, Herr<br />

Körtgen. Den haben wir sofort entlassen.<br />

Alle Pferde gleichzeitig auszutauschen,<br />

wäre falsch gewesen.<br />

Das heißt: Sie sind als Aufsichtsratsvorsitzender<br />

gar nicht wegen dieses atemberaubenden<br />

Desasters, sondern nur aus<br />

taktischen Gründen zurückgetreten?<br />

Nein. Nach der erneuten Verschiebung<br />

Anfang Januar dieses Jahres, als der vom<br />

neu geholten Geschäftsführer Amann<br />

festgelegte Eröffnungstermin vom selben<br />

Herrn Amann schon wieder gestrichen<br />

wurde, war es notwendig zu zeigen: Es<br />

gibt drei Gesellschafter, die gemeinsam in<br />

der Verantwortung stehen. Deshalb hat<br />

Matthias Platzeck den Vorsitz des Aufsichtsrats<br />

übernommen.<br />

Klaus Wowereit, 59, seit<br />

fast zwölf Jahren <strong>Berlin</strong>s<br />

Regierender Bürgermeister, hier<br />

in seinem Amtszimmer durch<br />

die Skulptur „Mitternacht“<br />

hindurch fotografiert<br />

Haben Sie überhaupt ernsthaft überlegt,<br />

nicht bloß den Aufsichtsratsvorsitz abzugeben,<br />

sondern als Regierender Bürgermeister<br />

zurückzutreten?<br />

Ich habe überlegt, welche Konsequenzen<br />

ich ziehe – auch persönlich.<br />

Was hat Sie bewogen, am Amt<br />

festzuhalten?<br />

Verantwortung. Ich bin gewählt für diese<br />

Legislaturperiode.<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 27


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verleger Michael Ringier<br />

chefredakteur Christoph Schwennicke<br />

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Redaktion<br />

Textchef Georg Löwisch<br />

Ressortleiter Lena Bergmann (Stil), Judith Hart<br />

(Weltbühne), Dr. Alexander Kissler (Salon), Til Knipper (Kapital)<br />

Constantin Magnis (Reportagen), Christoph Seils (<strong>Cicero</strong> Online)<br />

politischer Chefkorrespondent Hartmut Palmer<br />

Assistentin des Chefredakteurs Monika de Roche<br />

Redaktionsassistentin Sonja Vinco<br />

Publizistischer Beirat Heiko Gebhardt,<br />

Klaus Harpprecht, Frank A. Meyer, Jacques Pilet,<br />

Prof. Dr. Christoph Stölzl<br />

Art director Kerstin Schröer<br />

Bildredaktion Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />

Produktion Utz Zimmermann<br />

Verlag<br />

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V.i.S.d.P.: Christoph Schwennicke<br />

Printed in Germany<br />

eine publikation der ringier gruppe<br />

Sie haben sich angeblich 48 Stunden<br />

zurückgezogen, bevor Sie gesagt haben,<br />

dass Sie weitermachen. Was lief<br />

da? Mussten Ihre Parteifreunde Sie in<br />

Krisenberatungen zum Weitermachen<br />

überreden?<br />

Das habe ich mit mir selber beraten. Und<br />

bin dann zu der Entscheidung gekommen,<br />

im Amt zu bleiben.<br />

Wie läuft so eine Selbstberatung ab?<br />

Es gibt keine Live-Übertragung meines<br />

Privatlebens, und dabei bleibt es.<br />

Werden Sie denn zur Eröffnung des<br />

Flughafens gehen, falls dieser Termin je<br />

stattfindet?<br />

Der Flughafen wird eröffnet werden, und<br />

ich werde dabei sein – als Regierender<br />

Bürgermeister.<br />

Ein blöder Termin für Sie. Matthias Platzeck,<br />

der Aufsichtsratschef, und Hartmut<br />

Mehdorn, der Chef der Flughafengesellschaft,<br />

werden sich als diejenigen präsentieren<br />

können, die rausgerissen haben,<br />

was Klaus Wowereit fast verbockt hätte.<br />

Das ist genau diese falsche Art der Betrachtung,<br />

die weder angemessen noch<br />

fair ist. Erstens geht es nicht um Eitelkeiten.<br />

Zweitens tragen alle drei Gesellschafter<br />

gemeinsam die Verantwortung –<br />

egal, wer den Aufsichtsratsvorsitzenden<br />

stellt.<br />

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<strong>Cicero</strong>-Ausgabe? Ihr <strong>Cicero</strong>-Leserservice hilft Ihnen gerne weiter.<br />

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nicht erhalten sollten, bitten Sie ihn, <strong>Cicero</strong> bei<br />

seinem Großhändler nachzubestellen. <strong>Cicero</strong> ist<br />

dann in der Regel am Folgetag erhältlich.<br />

Teilen Sie den Eindruck, dass die F-Frage<br />

vielen <strong>Berlin</strong>ern peinlich ist?<br />

Mein Eindruck ist, dass <strong>Berlin</strong>s Ruf auch<br />

sehr gezielt schlechtgeredet wird. Aber<br />

das sind nicht die Bürgerinnen und Bürger,<br />

sondern andere.<br />

Nennen Sie mal diese anderen!<br />

Da geht es nicht zuletzt um die Interessen<br />

anderer Regionen. Mein Eindruck<br />

bei Auslandsreisen, oder wenn ich Besucher<br />

hier habe, ist: Da steht mitnichten<br />

das Wort mit dem F im Zentrum. Das<br />

ist wahrlich kein Glanzstück gewesen,<br />

aber die Attraktivität der Stadt hat unter<br />

den Problemen mit dem BER nicht gelitten.<br />

<strong>Berlin</strong> ist so attraktiv wie nie – das<br />

sehen Sie sowohl an den Tourismuszahlen<br />

als auch an der Bevölkerungsentwicklung.<br />

Und inzwischen auch an den Wirtschaftsdaten,<br />

beim Wachstum und bei<br />

der Zahl der Jobs.<br />

28 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Nicht-<strong>Berlin</strong>er finden die Stadt interessant<br />

und spotten trotzdem gern, dass hier<br />

nichts klappt: Faszinierend, aber chaotisch,<br />

das ist doch die <strong>Berlin</strong>-Ambivalenz.<br />

Da passt die F-Katastrophe gut rein.<br />

In Hamburg wird bei der Elbphilharmonie<br />

eine gigantische Kostensteigerung<br />

verursacht. Hören Sie dort solche Debatten<br />

wie in <strong>Berlin</strong>? Ich glaube nicht.<br />

Die Hamburger haben da ein stabileres<br />

Selbstbewusstsein.<br />

Dabei ist <strong>Berlin</strong> doch Hauptstadt.<br />

Aber <strong>Berlin</strong> muss mit Ressentiments leben,<br />

die über Jahrzehnte gepflegt worden<br />

sind. In der DDR ging es gegen die<br />

Hauptstadt, die immer Vorrang hatte,<br />

und im Westen gegen die Subventionsmentalität.<br />

Dagegen muss man auch<br />

heute noch kräftig arbeiten. Die <strong>Berlin</strong>erinnen<br />

und <strong>Berlin</strong>er sollten da selbstbewusster<br />

sein, aber ohne chauvinistisch zu<br />

werden.<br />

Sie haben ein heute berühmtes Zitat in die<br />

Welt gesetzt: „<strong>Berlin</strong> ist arm, aber sexy.“<br />

Würden Sie das heute noch sagen?<br />

Warum nicht? Als ich den Satz vor einem<br />

Jahrzehnt in London gesagt habe,<br />

hat ihn in <strong>Berlin</strong> erst mal keiner zur<br />

Kenntnis genommen. Ich habe damals<br />

versucht, eine Stadt zu beschreiben, die<br />

nicht vom Reichtum geprägt ist, aber<br />

trotzdem eine starke Anziehungskraft<br />

ausübt. Erst später hat in <strong>Berlin</strong> dann<br />

die Opposition versucht, ihn gegen<br />

mich zu verwenden.<br />

In Süddeutschland steht der Satz häufig<br />

dafür: <strong>Berlin</strong> hat selbst kein Geld, sondern<br />

gibt unseres aus und prahlt dann auch<br />

noch, wie sexy es ist.<br />

Wer bösartig ist, kann jeden Satz verdrehen.<br />

Sexy hat nichts mit Geldausgeben<br />

zu tun. Es ist eine Haltung, ein<br />

Lebensgefühl.<br />

„In <strong>Berlin</strong> muss man nicht geboren<br />

sein. Man muss nicht in einem<br />

bestimmten Tennisclub sein, um<br />

dazuzugehören. Die Stadt nimmt<br />

Leute nach drei Monaten auf“<br />

Führt <strong>Berlin</strong> ein lustiges Lotterleben auf<br />

Kosten reicher Länder wie Bayern und<br />

Hessen, die vor dem Bundesverfassungsgericht<br />

gegen den Länderfinanzausgleich<br />

klagen?<br />

Dann fallen Sie aber bitte mal nicht auf<br />

die Wahlkampfaktionen der Union in<br />

Bayern und Hessen rein. Es ist ein falsches<br />

Klischee, dass <strong>Berlin</strong> nicht hart<br />

daran arbeitet, seine wirtschaftliche Situation<br />

zu verbessern. Eine eiserne Haushaltsdisziplin<br />

hat dazu geführt, dass wir<br />

im Ländervergleich seit einem Jahrzehnt<br />

den geringsten Ausgabenzuwachs haben.<br />

Hessen und Bayern liegen beim Geldausgeben<br />

an der Spitze. Unsere öffentlich<br />

Beschäftigten haben die niedrigste Einkommensentwicklung,<br />

da wurden nun<br />

wirklich harte Nachteile in Kauf genommen.<br />

<strong>Berlin</strong> will 2015 ohne neue Schulden<br />

auskommen.<br />

Und der F?<br />

Den Landesanteil an den Mehrkosten<br />

tragen wir aus eigener Kraft.<br />

Worin besteht <strong>Berlin</strong>s Sexyness?<br />

In der Offenheit. In der Möglichkeit,<br />

sich hier zu entfalten. Die ständigen Veränderungen<br />

in der Stadt gehören dazu.<br />

In vielen Gegenden <strong>Berlin</strong>s stößt die<br />

Veränderung auf Protest. Bürger rufen:<br />

Gentrifizierung! Stört Sie das?<br />

Wenn es zum Mantra wird, stört mich<br />

das. <strong>Berlin</strong> darf keine Stadt unter einer<br />

Käseglocke sein, unter der sich nichts verändert.<br />

Das hatten wir schon mal mit der<br />

Mauer, und daran ist <strong>Berlin</strong> fast erstickt.<br />

Die Stadt muss sich umgestalten. Wir haben<br />

hart an Quartieren gearbeitet, die<br />

eine einseitige Sozialstruktur hatten und<br />

gekippt waren. Wer das jetzt als Gentrifizierung<br />

diffamiert, hat nicht verstanden,<br />

wie eine Stadt sich entwickeln muss.<br />

Trotzdem bringt natürlich Wachstum<br />

auch neue Probleme. Beispielsweise,<br />

wenn Wohnungen unbezahlbar und dadurch<br />

Mieter vertrieben werden. Da<br />

müssen wir gegensteuern, zum Beispiel<br />

mit öffentlichem Wohneigentum.<br />

In den vergangenen zwei Jahren sind<br />

80 000 Menschen nach <strong>Berlin</strong> gezogen.<br />

Und das freut uns. Die Perspektive ist,<br />

dass das Wachstum anhält. Aber <strong>Berlin</strong><br />

hatte schon mal über 4,5 Millionen<br />

Einwohner vor dem Zweiten Weltkrieg.<br />

Diese Stadt ist für mehr angelegt.<br />

Die Herausforderung muss bewältigt<br />

werden. Vor nicht allzu langer Zeit hatten<br />

wir 150 000 leer stehende Wohnungen.<br />

Heute brauchen wir Wohnungsbau,<br />

mehr Kitas, mehr Schulen.<br />

Stellen Sie sich vor, Sie könnten einem<br />

Besucher drei Orte zeigen, die ihm helfen,<br />

<strong>Berlin</strong> zu verstehen. Welche wären das?<br />

Ich würde erst mal das Schuhwerk kontrollieren<br />

und dann mit den Leuten in die<br />

Quartiere hineingehen. Kreuzberg, Nord-<br />

Neukölln. Dort kann man viel lernen.<br />

Dann würde ich den Besucher mit rausnehmen<br />

nach Buch, wo die alten Kliniken<br />

stehen.<br />

Buch? Das war doch das frühere Regierungskrankenhaus,<br />

wo die hohen SED-<br />

Funktionäre ihren Haferschleim löffelten?<br />

Aber dort sind auch die Hufeland-Kliniken,<br />

architektonisch wunderbar. Man<br />

denkt, man wäre auf einem Universitätscampus<br />

in Großbritannien.<br />

Dritter Ort?<br />

Das wäre die Gedenkstätte am Grenzstreifen<br />

an der Bernauer Straße oder Hohenschönhausen,<br />

das Gelände des ehemaligen<br />

Stasi-Gefängnisses.<br />

Sie sind in Lichtenrade aufgewachsen. In<br />

einem eben erschienenen <strong>Berlin</strong>-Buch<br />

heißt es über diesen Stadtteil: „Der<br />

Lichtenrader sieht einen. Hinter Vorhängen<br />

und unter gestickten Tischdecken<br />

beobachtet er argwöhnisch jeden<br />

Eindringling, gegen den sich sein Frust<br />

richten kann.“ Aus was für einer Gegend<br />

stammen Sie?<br />

Diese Beschreibung kann ich nicht nachvollziehen.<br />

Und wie Lichtenrade ist? Der<br />

Stadtteil hat sich radikal verändert. Von<br />

einem ländlich geprägten Ort mit Bauern<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 29


T i t e l<br />

Wie hat es Ihnen gefallen? Können Sie den<br />

Club empfehlen?<br />

In Ihrem Alter nicht mehr.<br />

Wie alt waren Sie denn, als Sie da waren?<br />

Das braucht hier keine Rolle zu spielen.<br />

Foto: Lene Münch für <strong>Cicero</strong><br />

und Dorfteich, Dorfkrug und Dorfkirche<br />

mit Einfamilienhäusern hin zu den<br />

Wohnungsbauprojekten der sechziger<br />

und siebziger Jahre. Das hat die Atmosphäre<br />

verändert. Es gab den Reiterverein,<br />

den Karnevalsverein, den Männerchor,<br />

den gemischten Chor, die Freiwillige<br />

Feuerwehr.<br />

Was kam hinter Lichtenrade?<br />

Die Mauer. Lichtenrade war sogar umgeben<br />

von ihr. Für mich war da Schluss.<br />

Deswegen ist man immer gerne gereist.<br />

Man wollte raus.<br />

Trotzdem haben Sie bisher Ihr ganzes<br />

Leben nur in <strong>Berlin</strong> verbracht.<br />

Was heißt nur?<br />

Das sollte doch gar nicht abwertend klingen.<br />

Aber wollten Sie nie richtig weg?<br />

Nein. Wenn man den idealen Ort hat,<br />

muss man nicht weg.<br />

Warum ist er ideal?<br />

<strong>Berlin</strong> ist die einzige echte Metropole in<br />

Deutschland. Eine pulsierende Stadt.<br />

Was genau mögen Sie an <strong>Berlin</strong>?<br />

Die Atmosphäre ist offen. Wir sind nicht<br />

verkrustet. Wir haben – das ist ein Vorteil<br />

und ein Nachteil – keine starren bürgerlichen<br />

Strukturen. Wir haben keine<br />

Kaufmannschaft wie in Hamburg, die<br />

seit Jahrzehnten die Stadt geprägt hat,<br />

und das ist manchmal auch ein Problem.<br />

Aber in <strong>Berlin</strong> muss man nicht geboren<br />

sein. Man muss nicht in einem bestimmten<br />

Golfclub oder Tennisclub sein, um<br />

Wowereit beim<br />

<strong>Cicero</strong>-Interview<br />

mit Alexander<br />

Marguier (links)<br />

und Georg Löwisch<br />

dazuzugehören. Diese Stadt nimmt Leute<br />

nach drei Monaten auf. Die innere Liberalität<br />

<strong>Berlin</strong>s lässt mir Luft zum Atmen.<br />

Viele verbinden ja mit <strong>Berlin</strong> eine Dauerparty.<br />

Sie haben das Image des Partybürgermeisters.<br />

Wieso hängt Ihnen das so an?<br />

Das fragen mich die Leute, die es<br />

schreiben.<br />

Wir haben das noch nie geschrieben.<br />

Nie geschrieben, nur gefragt. Aber diese<br />

Zeit ist ja nun schon längst vorbei. Dabei<br />

gehe ich heute eigentlich zu genauso<br />

vielen Veranstaltungen, die andere Party<br />

nennen. Obwohl das ein völlig dusseliger<br />

Begriff ist. Ich verstehe unter Party etwas<br />

anderes. Wenn ich zur Echo-Verleihung<br />

gehe, gibt es den anschließenden<br />

Empfang. Für manche Leute ist das Party,<br />

für mich ist das Arbeit. Das hat mit Spaß<br />

wenig zu tun.<br />

Warum ist das Arbeit?<br />

Weil einen jeder anquatscht und man<br />

permanent unter Beobachtung steht.<br />

Wenn ich tanze, dann lauern 20 Kameras.<br />

Das ist keine Party, wenn du nirgendwo<br />

privat bist.<br />

Wollen Sie hier allen Ernstes behaupten,<br />

dass Ihre Prominenz Sie stört?<br />

Ständig öffentlich zu sein, kann nerven.<br />

Es ist aber der Preis, den man zahlt.<br />

Waren Sie schon im Berghain, dem Club,<br />

der für die coole Zügellosigkeit <strong>Berlin</strong>s<br />

steht?<br />

Ich war auch schon im Berghain.<br />

Weil Sie nicht privat da waren?<br />

Ich war auch schon privat da.<br />

Wenn Sie immer beobachtet und gefilmt<br />

werden, wäre es nicht angenehmer, einmal<br />

aus <strong>Berlin</strong> wegzuziehen?<br />

Wollen Sie mich loswerden?<br />

Wir haben allein in Ihrem Interesse gedacht.<br />

Vielleicht in 20 Jahren, wenn Sie<br />

nicht mehr Bürgermeister sind?<br />

Dann kann ich auch schon wieder privat<br />

sein.<br />

Wie viele Einwohner wird <strong>Berlin</strong> dann<br />

haben?<br />

In den nächsten Jahren rechnen wir mit<br />

etwa 30 000 Plus pro Jahr. Dann wird<br />

<strong>Berlin</strong> in 20 Jahren schon an die vier Millionen<br />

haben.<br />

2005 waren Sie auf dem Titel des<br />

Magazins „Time“ abgebildet. Der <strong>Berlin</strong>-<br />

Botschafter, weltbekannt. Sie wurden als<br />

Kanzlerkandidat der SPD gehandelt. Ist es<br />

für Sie nicht bitter, jetzt als Pannen-Wowi<br />

verspottet zu werden?<br />

So viel hat sich nicht geändert. Der Regierende<br />

Bürgermeister wird mit allem<br />

identifiziert, was in <strong>Berlin</strong> passiert.<br />

Sie eröffnen morgen die neue Non-Stop-<br />

Verbindung <strong>Berlin</strong>-Chicago von Air <strong>Berlin</strong>.<br />

Da kommt dann wieder die F-Frage.<br />

Mit einer Panne muss man leben. Jeder<br />

erfahrene Bürgermeister weiß, dass das<br />

nicht ursächlich mit <strong>Berlin</strong> zu tun hat.<br />

Reagieren die Menschen anders auf<br />

Sie als früher, wenn Sie die Straße<br />

entlanggehen?<br />

Nein, die Menschen reagieren nicht<br />

anders.<br />

Das heißt, Sie sind glücklich in Ihrem<br />

Amt?<br />

Sonst würde ich das nicht machen.<br />

Das Gespräch führten Georg Löwisch und<br />

Alexander Marguier<br />

30 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Nächster<br />

Studienstart:<br />

06. September 2013<br />

Bewerben bis<br />

zum 01. Juli<br />

Gemeinsame Bildungsförderung für Politiker.<br />

Das Master-Stipendium der ZU.<br />

Für die Masterstudiengänge an der Zeppelin Universität. Zwei Jahre. Vollzeit. Praxistauglich durch<br />

Forschungsorientierung. Verwaltungs- und Politikwissenschaft und alles, was man wirklich braucht – für<br />

ein Management von Transformation in Verwaltung, Staat und Politik. Für Politik-, Verwaltungs- und Wirtschaftswissenschaftler<br />

und Andersdenkende.<br />

Die Zeppelin Universität ist eine private Stiftungsuniversität am Bodensee, die als Uni zwischen Wirtschaft,<br />

Kultur und Politik konsequent interdisziplinär, individualisiert und international lehrt und forscht. Weitere<br />

Informationen zu diesem Master-Studiengang wie auch zu den Master-Studiengängen in Kommunikationsund<br />

Kulturwissenschaften und in Wirtschaftswissenschaften sowie der Bewerbung unter zu.de/cicero


T i t e l<br />

<strong>Berlin</strong>s Neuer Mittelstand<br />

Die Hauptstadt<br />

entwickelt sich<br />

zu Europas<br />

Internetmetropole.<br />

Niedrige Mieten,<br />

der attraktive<br />

Standort und<br />

gut ausgebildete<br />

Mitarbeiter locken<br />

Gründer und<br />

Investoren an<br />

von Marcus Pfeil<br />

Anna Alex und Juli Bösch<br />

kleiden mit ihrem Start-up<br />

Outfittery Männer ein,<br />

die Angst vorm Shoppen<br />

oder keine Zeit haben<br />

32 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Foto: Philipp Gross<br />

E<br />

inen Hinterhof weiter verkaufte<br />

früher der Modedesigner Andreas<br />

Murkudis seine Kleidung,<br />

bis es ihn aus <strong>Berlin</strong>-Mitte weg<br />

nach Schöneberg zog. Jetzt frisst<br />

sich das Start-up „Outfittery“ von Anna<br />

Alex durch das Jugendstilgebäude an der<br />

Münzstraße. Outfittery ist ein virtueller<br />

Einkaufsberater, Anna Alex stellt Kleidung<br />

für Herren zusammen, die entweder allergisch<br />

aufs Einkaufen reagieren oder wenig<br />

Zeit haben. Ein Jahr nach der Gründung<br />

hat das Unternehmen bereits 50 000 Kunden<br />

und beschäftigt 30 Mitarbeiter.<br />

Outfittery ist eines von 2500 Internet-<br />

Start-ups, die seit 2008 in <strong>Berlin</strong> gegründet<br />

wurden. Das jedenfalls ist die Zahl, die der<br />

neu gegründete Bundesverband deutscher<br />

Startups e. V. ermittelt hat. <strong>Berlin</strong> kämpft<br />

dabei mit Städten wie Istanbul, Warschau<br />

oder Tel Aviv um die digitale Vormachtstellung<br />

diesseits des Atlantiks.<br />

In Europa dürfte derzeit keine Stadt<br />

mehr Gründer und Investoren anziehen<br />

als die deutsche Hauptstadt. Wie viele es<br />

tatsächlich sind, weiß zwar niemand genau,<br />

weil täglich neue Firmen entstehen,<br />

es keine vernünftige Branchenstudie gibt,<br />

nicht klar ist, ob sich schon Start-up nennen<br />

darf, wer nur eine Idee ausbrütet, oder<br />

ob der Eintrag im Handelsregister entscheidet.<br />

Die New York Times jedenfalls adelte<br />

<strong>Berlin</strong> – in Anlehnung an das Silicon Valley<br />

– schon zur „Silicon Alley“.<br />

„Internet-Start-ups haben in den vergangenen<br />

Jahren rund 20 000 Arbeitsplätze in<br />

<strong>Berlin</strong> geschaffen“, sagt Florian Nöll, Vorstandsmitglied<br />

im Start-up-Verband. Wenn<br />

man jede IT-Firma mitzählt, sind es laut einer<br />

Studie der Industrie- und Handelskammer<br />

sogar 45 000 neue Jobs. Jede 25. Stelle<br />

in <strong>Berlin</strong> hängt inzwischen von der Branche<br />

ab. So entsteht in der industriefreien<br />

Hauptstadt etwas, das sich zum Mittelstand<br />

von morgen auswachsen könnte.<br />

Weil der Mittelstand von heute sich<br />

in der Finanzkrise als Rückgrat der deutschen<br />

Wirtschaft erwiesen hat, lassen sich<br />

neuerdings auch Politiker mit den Jungunternehmern<br />

ablichten. Schließlich ist<br />

die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Bilder<br />

bis zur Wahl im September halten und<br />

sich weder Kanzlerin noch Herausforderer<br />

mit Nachwuchs-Pleitiers verewigt haben.<br />

<strong>Berlin</strong> scheint für den Boom wie geschaffen,<br />

geht es hier doch unangepasster<br />

und wilder zu als anderswo. Jeder kann<br />

hier sein Ding machen. Getragen von einer<br />

Melange aus Euphorie, Unsicherheit<br />

und Zweifeln fühlt sich <strong>Berlin</strong> ja selbst ein<br />

wenig an wie ein Start-up. Noch fehlt das<br />

große Geld, der ganz große Deal, noch ist<br />

<strong>Berlin</strong>s Start-up-Boom vor allem eins: ein<br />

Zukunftsversprechen.<br />

Gründer wie Investoren vereint dabei<br />

die Hoffnung, ein neues Instagram zu<br />

entwickeln. Instagram ist eine Foto-App,<br />

die es den Nutzern erlaubt, die mit dem<br />

Smartphone geschossenen Bilder direkt mit<br />

ihren Freunden online zu teilen. Das soziale<br />

Netzwerk Facebook kaufte den Instagram-Entwicklern<br />

deren Unternehmen<br />

kurz vor dem eigenen Börsengang für eine<br />

Milliarde Dollar ab. Von derartigen Deals<br />

ist die deutsche Szene noch weit entfernt:<br />

So heißt es in einer Analyse des renommierten<br />

Tech-Blogs Startup Genome zwar,<br />

<strong>Berlin</strong> sei zurzeit der beste Standort, um<br />

Die Internetbranche hat<br />

in <strong>Berlin</strong> 45 000 neue<br />

Jobs geschaffen – ein<br />

neuer Mittelstand für die<br />

industriefreie Hauptstadt<br />

eine Firma zu eröffnen. Allerdings sei „das<br />

Ökosystem noch nicht reif genug, um sie<br />

hier auch wachsen zu lassen“. Im Global<br />

Startup Ecosystem Index liegt <strong>Berlin</strong> deshalb<br />

abgeschlagen hinter Städten wie Toronto,<br />

Paris, São Paulo oder Hongkong auf<br />

Platz 15.<br />

Zwar sitzen in <strong>Berlin</strong> eine Menge Business<br />

Angels und Inkubatoren, also Brutkästen,<br />

die sich in eine Idee verlieben, die<br />

neue Ideen mit Cash päppeln und auf Rendite<br />

hoffen. Um es aber mit dem richtigen<br />

Valley aufzunehmen, fehlen in der Alley<br />

die großen Investoren, die auch bereit<br />

sind, in späteren Finanzierungsrunden ins<br />

Risiko zu gehen. Nach einer Analyse der<br />

Nachrichtenagentur Dow Jones haben<br />

Deutschlands Gründer im vergangenen<br />

Jahr 822 Millionen Euro eingesammelt, das<br />

sind zwar 48 Prozent mehr als 2011, und<br />

ein Großteil davon floss auch nach <strong>Berlin</strong>.<br />

Insgesamt ist das aber nicht viel mehr als<br />

die Summe, die Investoren vor dem Börsengang<br />

allein in Facebook pumpten.<br />

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in einer Umgebung, die keine Gnade<br />

bei Fehlern kennt und in der Mitgefühl<br />

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5.2013 <strong>Cicero</strong> 33<br />

www.dtv.de


T i t e l<br />

Vor allem die deutsche Erbengeneration<br />

scheut das Wagnis, sich mit Start-ups<br />

einzulassen. Das meiste Geld, das nach<br />

<strong>Berlin</strong> fließt, kommt aus dem Ausland:<br />

„Ab einem Volumen von über 15 Millionen<br />

Euro finanzieren fast nur die großen<br />

angelsächsischen Venture-Capital-Fonds“,<br />

sagt Florian Nöll vom Start-up-Verband.<br />

Auch bei der jüngsten Finanzierungsrunde<br />

des Online-Händlers Zalando kamen die<br />

knapp 300 Millionen Euro von der schwedischen<br />

Beteiligungsgesellschaft Kinnevik.<br />

Innerhalb der EU investieren schwedische<br />

Wagniskapitalgeber im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung<br />

am stärksten, deutsche Investoren<br />

liegen nur auf Rang zwölf.<br />

Um die Risiko- und Unternehmerkultur<br />

am Standort Deutschland zu verbessern,<br />

hat Nöll im Oktober mit drei anderen<br />

Gründern den Bundesverband deutscher<br />

Startups e. V. gegründet. „Um gegenüber<br />

der Politik mit einer Stimme sprechen zu<br />

können“, sagt er. Die Themen sind: Steuererleichterungen,<br />

eine Reform der Insolvenzordnung<br />

oder eine Verbesserung der<br />

Einwanderungspolitik. Die Politik hat inzwischen<br />

erkannt, dass der Hype um <strong>Berlin</strong>s<br />

Start-up-Szene auf lange Sicht gerechtfertigt<br />

sein könnte. Im Wahlkampf hat<br />

SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück bereits<br />

kurz nach Ostern die Factory, einen<br />

Gründer-Campus an der Bernauer Straße<br />

besucht, in den Google eine Million Euro<br />

investiert hat. Die Kanzlerin schaute Anfang<br />

März beim Spieleentwickler Wooga<br />

und bei Researchgate, einer Vernetzungsplattform<br />

für Wissenschaftler, vorbei und<br />

rief eine „neue Gründerzeit“ aus.<br />

Wirtschaftsminister Philipp Rösler protegiert<br />

die Gründerelite mit speziellen Investitions-<br />

und Förderprogrammen. Ende<br />

Februar war der Vizekanzler sogar auf<br />

Dienstreise im Silicon Valley. Dort gefiel<br />

es ihm so gut, dass er im Mai für eine ganze<br />

„German Valley Week“ hinfliegen will. <strong>Berlin</strong>s<br />

Gründer wollen ihn in einem eigenen<br />

Charterflieger begleiten.<br />

Auch Outfittery-Gründerin Anna Alex<br />

will mitfliegen. Auf der Reise will sie Rösler<br />

als Kunden gewinnen. „Genau unsere Zielgruppe:<br />

einer, der keine Zeit zum Shoppen<br />

hat“, sagt die 28-Jährige, die Volkswirtschaft<br />

in Paris und Freiburg studiert hat.<br />

Rösler und Alex eint der Traum von<br />

einem deutschen Apple, Google oder Facebook.<br />

„Noch fehlt <strong>Berlin</strong> die ganz große<br />

Die Samwer-<br />

Brüder<br />

Alexander,<br />

Oliver<br />

und Marc<br />

dominieren<br />

mit ihrer<br />

Holding<br />

Rocket Internet<br />

die deutsche<br />

Start-up-<br />

Branche<br />

Idee von internationaler Bedeutung“, sagt<br />

Kolja Hebenstreit vom Inkubator Team<br />

Europe. Zwar gab es auch schon Exits,<br />

so nennen Gründer und Investoren den<br />

Verkauf eines Start-ups oder dessen Börsengang,<br />

die zu Träumen verleiten. Ende<br />

2012 etwa hat der Online-Reisevermarkter<br />

Expedia 477 Millionen Euro für das Vergleichsportal<br />

Trivago bezahlt, und im Sommer<br />

davor kaufte die US-Firma Care, eine<br />

Plattform für Betreuungsdienstleistungen,<br />

für einen zweistelligen Millionenbetrag<br />

ihre deutsche Kopie Betreut.de. Aber<br />

im Vergleich zu den USA nehmen sich die<br />

Summen noch bescheiden aus.<br />

Der Online-Versandhändler Zalando<br />

könnte der erste <strong>Berlin</strong>er Milliardendeal<br />

sein, wenn er es bis an die Börse schafft.<br />

Oder die Musiktauschbörse Soundcloud,<br />

die inzwischen mehr als zehn Millionen<br />

Menschen nutzen. Die Firma des Schweden<br />

Alexander Ljung, die auch in der <strong>Berlin</strong>er<br />

Factory residiert, hat es zumindest<br />

in die dritte Finanzierungsrunde geschafft<br />

und vor gut einem Jahr 50 Millionen Euro<br />

vom US-Investor Kleiner Perkins Caufield<br />

& Byers eingesammelt.<br />

„Vielleicht braucht die Stadt aber<br />

auch noch ein paar Jahre, bis sie eine<br />

große Company ausspuckt. Im Silicon<br />

Valley machen die das schließlich etwas<br />

länger“, sagt Jens Munk, Deutschland-<br />

Chef der britischen Investmentbank<br />

Torch Partners. „<strong>Berlin</strong> war immer eine<br />

kreative Stadt, das verbindet sich jetzt mit<br />

den relativ günstigen Immobilienpreisen<br />

und hervorragend ausgebildeten Mitarbeitern.“<br />

Munk glaubt fest daran, dass der aktuelle<br />

Start-up-Boom beständiger ist als<br />

das Phänomen der New Economy um die<br />

Jahrtausendwende.<br />

Heute dominieren die <strong>Berlin</strong>er Szene<br />

die nach dem Dotcom-Crash zur Jahrtausendwende<br />

übrig gebliebenen Gründer, die<br />

mit ihrem Geld jetzt andere Firmen finanzieren.<br />

Lukasz Gadowski mit Team Europe<br />

gehört dazu, Verlage wie Dumont, Madsack<br />

oder Holtzbrinck hoffen, im Netz<br />

ihr wegbrechendes Kerngeschäft kompensieren<br />

zu können. Handelskonzerne wie<br />

Otto oder Tengelmann sind angefixt vom<br />

E-Commerce. AWD-Gründer Carsten<br />

Maschmeyer und SAP-Mitgründer Hasso<br />

Plattner wetteifern um die heißesten Geschäftsideen.<br />

Angeführt wird diese Generation<br />

von den Samwer-Brüdern Marc, Oliver<br />

und Alexander, die einst Alando, Jamba<br />

und Citydeal teuer an Ebay, Verisign und<br />

Groupon verkauften. Ihre Holding Rocket<br />

Internet, über die sie an diversen Internetunternehmen<br />

beteiligt sind, beschäftigt<br />

8000 bis 10 000 Mitarbeiter auf der ganzen<br />

Welt, die meisten bei Zalando.<br />

Auch Anna Alex hat dort vorher gearbeitet,<br />

ihre Mitgründerin Julia Bösch<br />

kennengelernt und den Kontakt zu ihrem<br />

ersten Investor Holtzbrinck Ventures geknüpft.<br />

Und so ist ihr junges Unternehmen<br />

längst Teil eines immer engmaschigeren,<br />

immer größer werdenden Netzwerks<br />

in <strong>Berlin</strong>, das sich schon bald aus sich selbst<br />

heraus nähren könnte.<br />

Marcus Pfeil<br />

beobachtet als Kolumnist des<br />

Wall Street Journal die deutsche<br />

Internetszene<br />

Fotos: Dieter Mayr/Agentur Focus, Privat (Autor)<br />

34 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Hört diese Stadt!<br />

Von Prenzlauer Berg bis Tiergarten, von Neukölln bis zum S-Bahnhof Alexanderplatz: Eine musikalische<br />

Reise durch <strong>Berlin</strong> – klangvoll-fließend, pulsierend-bunt, rhythmisch-hämmernd, wie das<br />

Leben in der Hauptstadt so spielt. Elektrobeats, Schlager und Big-Band-Sounds verbinden sich mit<br />

lärmenden Alltagsgeräuschen und historischen O-Tönen zu einer etwas anderen Sinfonie.<br />

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für die Leser von <strong>Cicero</strong>,<br />

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| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Meinung, Zack, Zack<br />

Wer erreicht heute Teenager mit politischen Themen? Florian Mundt schafft das in seinen rasanten Videos<br />

von Klaus Raab<br />

W<br />

as an Florian Mundts Videos sofort<br />

auffällt, ist das hohe Tempo.<br />

„Aloha“, sagt er zur Begrüßung,<br />

dann zack, erste Pointe, zack, erstes Thema,<br />

zack, zack, zack. Tippt man den Text ab,<br />

den er während einer Minute spricht, so<br />

kommt man auf 1245 Anschläge. Zum<br />

Vergleich: Eine zufällig ausgewählte Minute<br />

Text aus dem „heute journal“ ergibt<br />

841 Anschläge. Mundt liefert 50 Prozent<br />

mehr Inhalt als herkömmliches Fernsehen.<br />

Mundt, 25 Jahre alt, hat sich den Künstlernamen<br />

LeFloid gegeben und ist damit<br />

im Netz auf der Video-Plattform Youtube<br />

bereits sehr bekannt geworden. Der <strong>Berlin</strong>er<br />

ist ein Fachmann für Comics, japanische<br />

Popkultur und Computerspiele, der<br />

in seiner Show „LeNews“ überraschende<br />

Ausflüge in die Gesellschaftspolitik unternimmt,<br />

der zu Zivilcourage anhält und<br />

seine jungen Fans ohne jede Lehrerhaftigkeit<br />

anregt, sich für Politik zu interessieren,<br />

indem er über Nordkoreas Atomtests<br />

so unverkrampft spricht wie über Batman.<br />

Seit etwa zweieinhalb Jahren lädt er<br />

mindestens einmal pro Woche ein selbst<br />

produziertes Video auf seinen Kanal. Mehr<br />

als 150 Videos sind es inzwischen, er erreicht<br />

mit einem 400 000 bis 1,8 Millionen<br />

Zuschauer. Davon können viele Zeitungskommentatoren<br />

nur träumen. So<br />

viele Zuschauer in LeFloids Zielgruppe<br />

unter 25 Jahren hätte auch manche Fernsehsendung<br />

gern.<br />

Pro 1000 Klicks verdient ein deutscher<br />

Youtube-Partner 60 Cent bis 1,30 Euro,<br />

Mundt kommt so schätzungsweise auf<br />

350 bis 1000 Euro pro Sechsminutenvideo.<br />

LeFloid verkauft zudem T‐Shirts. Ein<br />

Starmoderatorengehalt hat er trotzdem<br />

nicht, zumal ein Youtube-Kanal viel unsichtbaren<br />

Aufwand erfordert: Diskussionen<br />

mit Nutzern oder die Pflege eines weit<br />

verzweigten Netzwerks, das Links zu den<br />

Filmen verbreitet.<br />

Fernsehen ist für Mundt hierarchisch,<br />

Onlinevideos sind es nicht: „Das Videomachen<br />

hört für mich an dem Punkt auf,<br />

an dem sich jemand ansatzweise als Vorgesetzter<br />

gerieren könnte“, sagt er. Beim<br />

Fernsehen wolle er nicht enden. Auch ein<br />

Youtuber muss sich Zwängen fügen, den<br />

Geschäftsbedingungen der Google-Tochter<br />

Youtube etwa. Der einzige Vorgesetzte, den<br />

Mundt anerkennt, ist aber der Zuschauer:<br />

„Sobald man eine Sekunde lockerlässt, wird<br />

ein Video weggeklickt“, sagt er. Auch das<br />

ist ein Korsett, aber eines, in dem er sich<br />

beweglich fühlt.<br />

In einem Moment steht er in der Bildmitte,<br />

im nächsten weiter links. In einer<br />

Sekunde trägt er Schildmütze, in der folgenden<br />

Batman-Kostüm. Zack, zack, harte<br />

Schnitte, man muss sich daran gewöhnen.<br />

Journalisten wird beigebracht, dass man<br />

zwei Szenen weich ineinanderfließen lassen<br />

sollte, um niemanden mit Bildsprüngen<br />

zu verstören. Mundt aber ist Autodidakt<br />

und tut, wie Pippi Langstrumpf, was<br />

ihm gefällt. Er ist in einer komfortablen<br />

Position: Er muss es nicht allen recht machen,<br />

er sieht ja an den Nutzerzahlen, dass<br />

genug Leute seine Filme mögen.<br />

Er zitiert Agentenfilme, die man gesehen<br />

haben muss, um die Zitate zu erkennen,<br />

er spricht über Nischenbands und befreundete<br />

Youtuber; für seine Themen, sagt<br />

er, gebe es nur ein Auswahlkriterium: Sie<br />

müssen ihn interessieren. Konsequent geht<br />

er den Weg des eigenen Geschmacks, anders<br />

als etablierte Medien, die am liebsten<br />

jeder neuen Idee eine Kundenbefragung<br />

vorausschicken würden.<br />

Es gibt bei Youtube Comedy-, Beauty-,<br />

Gaming-, BMX- und Actionkanäle. Auch<br />

LeFloid veranstaltet kein philosophisches<br />

Nachtstudio, aber er ist der mit dem originellsten<br />

Zugriff auf politische Themen.<br />

„Unverzüglich“ heißt bei ihm „instant“, statt<br />

„ziemlich“ sagt er „sauig“. Mal wird er ärgerlich,<br />

etwa wenn es um einen Hitlergruß<br />

zeigenden Fußballer geht, mal albert er vor<br />

sich hin, aber er trifft in der Regel den richtigen<br />

Ton. Wäre Youtube eine Zeitung, Le-<br />

Floid wäre mit seiner Show „LeNews“ der<br />

Leitartikler. Das Unternehmen Mediakraft,<br />

ein Internet-TV-Sender, der die bekanntesten<br />

deutschen Youtuber präsentiert und<br />

auch LeFloids Show zeigt, hat für das laufende<br />

Wahljahr angekündigt, nach US-Vorbild<br />

auf das „wachsende Publikum für Infound<br />

Bildungsinhalte“ zu reagieren: Es soll<br />

mehr Informationsprogramm geben. Mediakraft<br />

nennt LeFloid den „Anchorman des<br />

deutschsprachigen Youtube“.<br />

Mundt lässt sich nicht so leicht politisch<br />

einordnen. Mal nervt ihn die Pharmaindustrie,<br />

mal der Papst, und dann stören<br />

ihn Polizisten beim Skateboarden. „Mir<br />

ist wichtig, dass man der Community was<br />

mitgibt“, sagt er. Über japanische Popkultur<br />

und Ufo-Geschichten kommt er zu einer<br />

Sonntagsbotschaft für gestresste Teenager:<br />

„Man sollte viel dankbarer sein im<br />

Leben.“ Im Herbst legte er sich mit der homophoben<br />

und rassistischen Internetseite<br />

kreuz.net an. Von Januar bis März, da hatte<br />

er in einem Video gerade gelobt, dass US-<br />

Politiker Onlinepetitionen ernst nähmen,<br />

sammelte er exemplarisch 32 000 Unterschriften<br />

für die „Operation Todesstern“ –<br />

für den Bau einer deutschen Raumstation<br />

nach „Star Wars“-Vorbild –, um zu zeigen,<br />

dass Mitbestimmung möglich ist.<br />

Florian Mundt ist ein ernsthafter und<br />

freundlicher Gesprächspartner. Im Rahmen<br />

seines Studiums der Psychologie und<br />

Rehabilitationspädagogik in <strong>Berlin</strong> klärt er<br />

Schulklassen über Cybermobbing und Datenschutz<br />

auf. Im Netz ist er zu einem Meinungsmacher<br />

für junge Leute geworden. Er<br />

spricht sie als „Dudes und Dudines“ an. Drei-,<br />

viermal pro Video fragt er: „Was meint ihr?<br />

Lasst uns mal in den Kommentaren drüber<br />

quatschen“; er wirkt dabei nicht anbiedernd,<br />

weil er selbst aus der Generation kommt, die<br />

mit „Was meint ihr?“ aufgewachsen ist. Man<br />

wird von ihm hören.<br />

Klaus Raab<br />

schreibt als freier Autor vor allem<br />

über Themen an der Schnittstelle<br />

zwischen Medien, Politik und<br />

Alltag<br />

Fotos: Julia Zimmermann für <strong>Cicero</strong>, privat (Autor)<br />

36 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Leitartikler der Youtube-<br />

Generation. Mit seinen LeFloid-<br />

Videos erreicht Florian Mundt<br />

Millionen Zuschauer<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 37


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Guerilla im Tweed<br />

Beatrix von Storch ist eine einflussreiche Unterstützerin der neuen Partei „Alternative für Deutschland“<br />

von Constantin Magnis<br />

Z<br />

wei gegen eine, es sieht schlecht<br />

aus für Beatrix von Storch. Mittagspause<br />

auf einem Wirtschaftssymposium,<br />

20 Minuten, um beide zu<br />

bezwingen: Sie muss das kleckernde Eier-<br />

Shrimps-Brötchen in ihrer Hand aufessen<br />

und den widerspenstigen Mann von der<br />

belgischen Botschaft vor ihr niederdiskutieren.<br />

Der Belgier widerspricht ihrer These,<br />

der Euro habe Deutschland wirtschaftlich<br />

geschadet. Er ahnt nicht, mit wem er sich<br />

angelegt hat.<br />

Auch wenn die zierliche Frau mit dem<br />

Tweed-Jackett nicht so aussieht: Beatrix von<br />

Storch ist eine der wirkmächtigen Gegnerinnen<br />

der Euro-Rettungspolitik und als<br />

Vorsitzende des Vereins „Zivile Koalition“<br />

eine der einflussreichen konservativen Netzwerkerinnen<br />

des Landes. In der kommenden<br />

Viertelstunde haut sie dem Belgier Argumente<br />

um die Ohren, rattert Zahlen<br />

herunter, und irgendwann starrt er nur<br />

noch betroffen schweigend auf den Tisch.<br />

Von ihrer Buffet-Schnitte bleibt lediglich<br />

ein einsamer Shrimp am Tellerrand übrig.<br />

Zwei zu null für Beatrix von Storch.<br />

<strong>Berlin</strong>, ein Saal der Technischen Universität.<br />

Auf dem Programm steht ein „intimer<br />

Gedankenaustausch“ über eine europäische<br />

Bankenunion. Während auf dem Podium<br />

der Direktor der Europäischen Zentralbank,<br />

Yves Mersch, die Idee als „Vollendung der<br />

Währungsunion“ bewirbt, macht sich von<br />

Storch im Publikum Notizen, bald ist ihr<br />

Papier gesprenkelt mit strengen Ausrufeund<br />

Fragezeichen. Immer wieder schnaubt<br />

sie verächtlich, tippt sich an die Stirne oder<br />

zischt: „Wenn ich so einen Unfug höre, geht<br />

mein Puls auf 180.“ Die Skepsis beruht auf<br />

Gegenseitigkeit. Als von Storch sich nach<br />

dem Vortrag das Mikrofon greift, werden<br />

die Lippen des EZB-Direktors schmal. Das<br />

liegt nicht nur an ihren kritischen Fragen.<br />

Vergangenes Jahr hat von Storch 5127 Unterschriften<br />

für eine Massenklage gegen<br />

die EZB und deren Ankündigung gesammelt,<br />

notfalls unbegrenzt Staatsanleihen<br />

aufzukaufen. Im Januar hat das Gericht der<br />

Europäischen Union die Klage angenommen.<br />

Nicht, dass sie große Chancen hätte.<br />

Aber von Storch geht es bei dem, was sie tut,<br />

weniger um Punktsiege und mehr um Prinzipienverteidigung.<br />

Mehrheiten hatte sie bisher<br />

nicht auf ihrer Seite, den Zeitgeist auch<br />

nicht, vielleicht liegt das in der Natur bürgerlich-konservativer<br />

Grabenkämpfe.<br />

Als Herzogin von Oldenburg wird sie<br />

1971 geboren. Ihr Vater hat als Nachgeborener<br />

der Fürstenfamilie kein Vermögen<br />

und verdient sein Geld als Bauingenieur.<br />

Als sie Mitte der Neunziger Jura studiert,<br />

begeistert sie ihr späterer Mann Sven von<br />

Storch für die Politik. Sie gründen den Verein<br />

„Allianz für den Rechtsstaat“ und machen<br />

dagegen mobil, dass Kohl die Enteignungen<br />

der DDR-Bodenreform anerkennt.<br />

Der Kanzler hatte dafür die Verfassung ändern<br />

lassen – unter fadenscheinigen Vorwänden,<br />

ist sie überzeugt.<br />

Ihre Familie hatte nie Grundbesitz im<br />

Osten, aber der Rechtsstaat, sagt sie, ist wie<br />

ein Schirm: „Hat der ein Loch, werden erst<br />

die nass, die direkt darunterstehen, aber irgendwann<br />

kriegen wir alle nasse Füße.“ Zu<br />

verhindern, dass der Rechtsstaat auf Kosten<br />

individueller Freiheitsrechte aufgeweicht<br />

wird, sagt die Juristin, sei bis heute ihr Antrieb,<br />

auch beim Kampf gegen die Euro-Rettungspolitik.<br />

Darum demonstriert sie damals<br />

tagelang im Bonner Regierungsviertel,<br />

verteilt Flugblätter auf dem CDU-Parteitag,<br />

sammelt per Post Petitionen, lernt, wie man<br />

Menschen mobilisiert.<br />

Inzwischen führt sie mit ihrem Mann<br />

in <strong>Berlin</strong> ein 14-köpfiges Protestunternehmen<br />

rund um ihren 2004 gegründeten<br />

Kampagnenverein „Zivile Koalition“, der<br />

heute Vorreiter im Widerstand gegen den<br />

Euro-Rettungskurs ist. Knapp hunderttausend<br />

Unterstützer hat sie, ihre Adresskartei<br />

schätzt sie auf das Zehnfache. Daneben<br />

trommelt die angeschlossene „Initiative Familienschutz“<br />

für das Betreuungsgeld und<br />

gegen die Homo-Ehe, der hausinterne<br />

Thinktank „Institut für strategische Studien“<br />

entwickelt Argumente, die eigene<br />

Online-Zeitung Freie Welt spielt sie nach<br />

draußen, und die Website „Abgeordnetencheck“<br />

übt Druck auf Parlamentarier<br />

aus, allein seit 2011 gingen 1,7 Millionen<br />

E-Mails über die Plattform an den Bundestag.<br />

Eigentlich ist von Storch Anwältin,<br />

inzwischen ist Protest ihr Hauptberuf.<br />

An ihrenTruppen kommt heute keiner<br />

mehr vorbei, der außerhalb der Union im<br />

konservativen Lager etwas bewegen will.<br />

Der „<strong>Berlin</strong>er Kreis“ der CDU konsultierte<br />

ihr Netzwerk, die Freien Wähler holten sie<br />

sich für Demos ins Boot. Die Gründung der<br />

neuen Partei „Alternative für Deutschland“<br />

begleitet sie, bei der Auftaktveranstaltung in<br />

Oberursel saß Beatrix von Storch wie selbstverständlich<br />

auf dem Podium, auch wenn<br />

ein Parteiamt für sie nicht infrage kommt.<br />

Die Zivilgesellschaft brauche neutrale Repräsentanten,<br />

die keine Rücksicht auf parteipolitische<br />

Strategien nehmen müssten und<br />

sich ausschließlich an Sachthemen orientierten,<br />

sagt sie: „Das ist unsere Aufgabe.“<br />

Sie ist sich nicht sicher, ob die AfD eine<br />

Zukunft als eine Art deutsche Tea Party hat.<br />

Sie hoffe es, aber es widerspräche, sagt sie,<br />

allen bisherigen Erfahrungen konservativer<br />

Parteigründungen. Eigentlich will sie<br />

die neue Partei gar nicht konservativ nennen,<br />

mit dem Begriff kann sie nichts mehr<br />

anfangen, seit Angela Merkel sich selbst<br />

so nennt. Im Flur ihres bunt gestrichenen<br />

Hauptquartiers hängt ein Gruppenfoto der<br />

Belegschaft. Alle grinsen breit in die Kamera.<br />

Alle formen mit den Händen dasselbe<br />

Zeichen: die Merkel-Raute. Es sieht<br />

aus, als wollten sie zusammen einen Geist<br />

bannen.<br />

Constantin Magnis<br />

ist Reporter von <strong>Cicero</strong><br />

Fotos: Christoph Michaelis für <strong>Cicero</strong>, Privat (Autor)<br />

38 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Verein, Thinktank,<br />

Initiative, Online-<br />

Zeitung: Von Storch<br />

führt ein 14-köpfiges<br />

Protestunternehmen<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 39


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Feind wird Freund<br />

Christean Wagner und Matthias Zimmer, zwei Protagonisten im CDU-Richtungsstreit, tun sich zusammen<br />

von Volker Resing<br />

N<br />

ormale spiele gibt es bei<br />

Christean Wagner nicht. Normal<br />

fällt aus. Erst Bock, dann Ramsch,<br />

das ist die Skat-Regel des hessischen CDU-<br />

Fraktionsvorsitzenden. Egal, wo er spielt.<br />

Bock heißt: Der Gewinn zählt doppelt.<br />

Ramsch verkehrt die normalen Spielregeln:<br />

Man muss möglichst wenig Stiche<br />

machen. Am ersten Abend des Bundesparteitags<br />

der CDU in Hannover im Dezember<br />

sitzt Wagner in der lila getünchten Bar<br />

des Hotels Domero und teilt Karten aus.<br />

Es ist grell, es ist ungemütlich. Egal, Wagner<br />

macht es sich an einem Tisch gemütlich<br />

mit seinen Vertrauten. Mit seinen Regeln.<br />

„Spielen Sie mit“, ruft er rüber, als er<br />

den Kollegen Matthias Zimmer sieht. Der<br />

kommt an den Tisch. „Hab 20 Jahre nicht<br />

gespielt“, sagt er. Er schaut nur zu, aber er<br />

zecht mit. Bis spät in die Nacht.<br />

Als es im Dezember beim Bundesparteitag<br />

in Hannover krachte, als die Delegierten<br />

an der Homo-Ehe aneinandergerieten,<br />

als ein Dutzend aufgewühlte Redner<br />

ihre Weltbilder, ihre Lebensentwürfe und<br />

ihren Glauben verteidigten, als es darum<br />

ging, wem die CDU gehört – da hatte sich<br />

im Stillen längst eine erstaunliche Annährung<br />

vollzogen, in der Nacht an jenem<br />

Skattisch. Christean Wagner und Matthias<br />

Zimmer haben gemerkt, dass sie sich<br />

prächtig verstehen. Dabei ist Wagner Initiator<br />

des „<strong>Berlin</strong>er Kreises“, des Traditionsbataillons<br />

der CDU, und Matthias Zimmer<br />

will eine moderne Großstadtpartei.<br />

Er kämpft als einer der „Wilden 13“ für<br />

die Gleichstellung der Homo-Ehe. Der<br />

Bewahrer und der Reformer, zwei Protagonisten<br />

des Streits in der CDU, aber sie<br />

können miteinander. Man hört diese Sympathie<br />

heraus, wenn Zimmer den Abend in<br />

der Hotelbar schildert. Und man hört sie,<br />

wenn Wagner über Zimmer sagt: „Der ist<br />

intellektuell brillant.“<br />

Ausgerechnet ein Wortführer der<br />

Traditionalisten und ein Vertreter<br />

der Reformer haben ein Manifest<br />

der Versöhnung geschrieben<br />

Seit Hannover duzen sie sich. Sie haben<br />

sich damals, am Abend nach dem Schlagabtausch<br />

um die Homo-Ehe, gleich ein<br />

zweites Mal in die Bar gesetzt. Sie verabredeten<br />

dort, ein gemeinsames Papier zu<br />

schreiben. Nun ist es fertig und trägt gleich<br />

den wuchtigen Titel: „Die CDU als Volkspartei“.<br />

Die zwei wollen damit ein Signal<br />

im Wahljahr aussenden: Wenn sie sich verstehen,<br />

Wagner und Zimmer, dann müssen<br />

doch auch die Flügel der CDU wieder zueinanderkommen,<br />

die Modernisierer und<br />

die Traditionalisten, die „Wilde 13“ und<br />

der „<strong>Berlin</strong>er Kreis“. „Wagner und ich wollen<br />

die Grabenkämpfe in der CDU beenden<br />

und auf das Verbindende in der christlichen<br />

Volkspartei verweisen“, sagt Zimmer.<br />

„Wir sind verschieden, aber unterschiedliche<br />

Denkrichtungen stärken die CDU.“<br />

Es ist ein Papier der Versöhnung. Der<br />

Trick: Die Gegensätze in der Partei werden<br />

positiv gewendet. Gerade die Unterschiedlichkeit<br />

mache die CDU aus, wird<br />

argumentiert. Verschiedene Werte, soziale<br />

Herkünfte und Interessen zu bündeln,<br />

sei doch das Erfolgsrezept der CDU. „Die<br />

Pluralität und Vielschichtigkeit hat nichts<br />

mit Beliebigkeit oder Warenhauskatalog<br />

zu tun“, heißt es in dem Text, der unter<br />

cicero.de/cduvolkspartei nachzulesen ist.<br />

Die CDU als große Integrationspartei der<br />

Gesellschaft müsse auch den Anspruch haben,<br />

„40 Prozent plus X“ an Stimmen zu<br />

holen. „Die CDU ist unser großes Integrationsprojekt<br />

der politischen Mitte“, sagt<br />

Zimmer.<br />

Der Schritt der beiden ist erstaunlich,<br />

denn in der CDU hat ein Jahrzehnt unter<br />

Angela Merkel Gegensätze wachsen lassen.<br />

Die einen sehen keine Alternative zu den<br />

Veränderungen, die die Kanzlerin vollzogen<br />

hat. Die anderen fühlen sich nach Atomausstieg,<br />

Abschaffung der Wehrpflicht und<br />

Hinwendung zum Mindestlohn fremd im<br />

eigenen Haus. Zwei Sonnensysteme in einer<br />

Partei. Wie haben da Wagner und Zimmer<br />

zusammengefunden?<br />

Die Annäherung beginnt mit einem<br />

Streit. 2011 ruft der Fraktionschef im hessischen<br />

Landtag wegen irgendeiner Sache bei<br />

Zimmer an. Der ist Bundestagsabgeordneter,<br />

2009 hat er der SPD den Wahlkreis Frankfurt<br />

I abgenommen. Ein Neuling, in der Hierarchie<br />

der Union steht Wagner klar über<br />

ihm. Am Telefon ist er wütend. Doch das<br />

Gespräch zieht sich. Zimmer lässt sich nicht<br />

einfach umpusten. Vielleicht gefällt das Wagner,<br />

er schätzt Kampfgeist. Aber bis zum Du<br />

ist es da noch weit, denn sie sind zwei Männer<br />

aus unterschiedlichen Welten.<br />

Christean Wagner wurde 1943 in Ostpreußen,<br />

in Königsberg, geboren, dem<br />

heutigen Kaliningrad. Dort ist seine Heimat,<br />

sagt er. Seinen jüngsten Sohn, den<br />

jetzt 13 Jahre alten Nachzügler, hat er 2000<br />

im alten Königsberger Dom taufen lassen.<br />

„Es war die erste Taufe dort seit 1945“,<br />

sagt Wagner. Es gibt nicht mehr viele in<br />

der CDU, die eine solche Geschichte stolz<br />

macht. Gerade ist er 70 Jahre alt geworden,<br />

und im Herbst nach der Landtagswahl<br />

Foto: Oliver Rüther für <strong>Cicero</strong><br />

40 <strong>Cicero</strong> 5.2013


„Die Grabenkämpfe<br />

beenden“ – Christean<br />

Wagner (rechts) und<br />

Matthias Zimmer<br />

in Frankfurt<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 41


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

hört er auf. Die Homo-Ehe ist eine letzte<br />

Schlacht eines langen Kampfes gegen den<br />

linken Mainstream. Als Student in Marburg<br />

hatte das begonnen. Er trat einer Studentenverbindung<br />

bei. Eroberte mit einer<br />

rechten Listenverbindung die Mehrheit<br />

im Studentenparlament. Es war die Zeit,<br />

als die Welt in Freund und Feind geteilt<br />

war. Studentenverbindung oder Sozialismus.<br />

„Stahlhelmfraktion“ wurden er und<br />

Gleichgesinnte später genannt. Zunächst<br />

war ihnen nicht mal der damals aufstrebende<br />

Roland Koch geradlinig genug. Seit<br />

dieser Zeit hat sich Wagner mit Leuten zusammengetan,<br />

die so konservativ sind wie<br />

er. Er und seine Freunde arbeiten zusammen.<br />

Nach seinen Regeln.<br />

Christean Wagner ist eine der letzten<br />

konservativen Größen der CDU. Als Kultusminister<br />

hat er die Gesamtschule verdammt,<br />

als Justizminister den „härtesten<br />

Strafvollzug“ Deutschlands angekündigt.<br />

Klar, schneidig, Jurist. Aber er haut nicht<br />

nur drauf, er kann mit Raffinesse fechten.<br />

Die hessische Parteispendenaffäre, in der<br />

die Partei Schwarzgeld als jüdische Vermächtnisse<br />

ausgab, überstand er fast galant.<br />

Vor ein paar Jahren hat er den „<strong>Berlin</strong>er<br />

Kreis“ mitbegründet, um den „Markenkern“<br />

der CDU wieder zu stärken.<br />

Matthias Zimmer ist fast zwei Jahrzehnte<br />

jünger, im Mai wird er 52. Er ist Politikwissenschaftler,<br />

Studium in Trier, in den USA,<br />

in München. Er wurde in Hamburg promoviert<br />

und hat sich in Köln habilitiert. Er<br />

arbeitete am Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung,<br />

er hat in Kanada<br />

gelehrt – ein akademisches Leben, in dem<br />

er einen Blick für Veränderungen entwickelt<br />

hat. In Frankfurt arbeitete er für die<br />

Oberbürgermeisterin Petra Roth, die später<br />

ein schwarz-grünes Bündnis einging.<br />

Aber Wagner und Zimmer lassen sich<br />

nicht so einfach einsortieren. Der Konservative<br />

Wagner hat vier Kinder und ist das<br />

dritte Mal verheiratet. „Ich habe es immer<br />

als einen Tiefpunkt empfunden“, sagt er,<br />

„dass ich in meinem Leben meinen eigenen<br />

Ansprüchen an Ehe und Familie nicht gerecht<br />

werden konnte.“ Zimmer wiederum<br />

taugt eigentlich nicht zum Bürgerschreck.<br />

Verheiratet, zwei Kinder, manchmal lässt<br />

er sich einen Drei-Tage-Bart stehen, aber<br />

dazu trägt er ordentlich Krawatte. Wie<br />

Wagner gehörte er einer Studentenverbindung<br />

an. Auf die Frage, warum er für<br />

die Gleichstellung der Homo-Ehe eintritt,<br />

sagt er, er habe da nicht immer so gedacht,<br />

sondern seine Meinung gründlich geändert,<br />

weil er kein Argument für die Ungleichbehandlung<br />

mehr gefunden habe. Zimmer<br />

sieht sich als Analytiker.<br />

Im vergangenen Jahr hat er ein Papier<br />

vorgelegt: „Die CDU in der Großstadt“.<br />

13 Seiten gegen den Frust nach der Serie<br />

verlorener Oberbürgermeisterwahlen und<br />

ein Plädoyer, dass die CDU sich öffnen<br />

müsse – auch für die Grünen. Es hat ihm<br />

Als Zimmer in der Hessen-CDU<br />

Prügel bekommt, nimmt ihn<br />

Wagner plötzlich in Schutz<br />

ein paar Auftritte und vor allem Aufmerksamkeit<br />

eingebracht. Vielleicht merkte sich<br />

Merkel damals seinen Namen.<br />

Als er für seine Großstadt-Streitschrift<br />

im vergangenen Herbst im hessischen Landesvorstand<br />

Prügel bekommt, nimmt ausgerechnet<br />

Wagner ihn plötzlich in Schutz.<br />

„Gutes Papier, wichtige Denkanregung.“<br />

Wagner lädt Zimmer sogar in einen Kreis<br />

von Vertrauten ein, der sich im Kloster<br />

Eberbach trifft. Seine Mitstreiter reiben<br />

sich die Augen. „Mit dem Zimmer kann<br />

man eben gut diskutieren“, sagt Wagner.<br />

Eigentlich umgibt sich Wagner doch<br />

seit der Studentenzeit mit Gleichgesinnten.<br />

Da könnte es auch eine List sein: den<br />

Großstadt-Reformer vereinnahmen, um<br />

die Traditionalisten aus der Schmollecke<br />

herauszuführen. Immerhin ist Zimmer<br />

auch Bundesvize der Christlich-Demokratischen<br />

Arbeitnehmerschaft. Aber vielleicht<br />

hat ein Mann von 70 Jahren so ein<br />

Taktieren auch nicht mehr nötig.<br />

Zimmer jedenfalls profitiert von der<br />

Nähe zum Kontrahenten. Sie interessiert<br />

ihn. Sie macht ihn auch interessant. Und<br />

die Zeit spielt eh für ihn. „Er ist einer der<br />

letzten echten Herren in der CDU“, lobt<br />

er Wagner.<br />

Das jetzt vorliegende Volkspartei-Manifest<br />

sollte Zimmer schreiben. Wagner<br />

würde es redigieren. Reibungslos verlief die<br />

Entstehung dann doch nicht. Der größte<br />

Streit ging um einen Lieblingsbegriff der<br />

Konservativen, geradezu um ein Heiligtum:<br />

den Stammwähler.<br />

Das Wagner’sche Mantra lautet, die<br />

CDU müsse sich mehr um die Stammwähler<br />

kümmern, anstatt den Wechselwählern<br />

nachzujagen. Die verdrossenen Treuen<br />

von einst seien leichter zurückzuerobern als<br />

die flatterhaften mal Richtung Grün mal<br />

sonst wohin irrlichternden neuen Wähler.<br />

Zimmer hingegen nennt dies einen fatalen<br />

Irrtum. Es schlummerten ja auch in den<br />

jungen bürgerlichen Schichten der Städte<br />

CDU-affine Geister, die auf Ansprache<br />

warteten. Diese dürften nicht als Wechselwähler<br />

abgewertet werden. Schwarz-Grün<br />

sei kein Teufelszeug. Wer setzt sich durch?<br />

Sie finden eine Formel. „Die größte<br />

Herausforderung besteht darin, Stammwähler<br />

zu motivieren und neue Stammwähler<br />

zu gewinnen“, heißt es in dem<br />

Papier. Wagner und Zimmer predigen<br />

„Vielstimmigkeit“ in „Grundharmonie“.<br />

Diese Sicht passt zu einer Analyse des Parteienforschers<br />

Franz Walter, der der CDU<br />

ein „Vielfaltsmanagement“ empfohlen hat.<br />

In dem Papier ist viel vom Christentum die<br />

Rede, aber zu den neuen Stammwählern<br />

sollen sogar Islamgläubige gehören: „Die<br />

CDU könnte so auch für eine zunehmende<br />

Zahl von Muslimen attraktiv sein.“<br />

Nur das Problem mit der Homo-Ehe<br />

haben sie in ihrem Papier gemieden. Es<br />

scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.<br />

Wagner sagt: „Die CDU ist ausdrücklich<br />

eine Partei der Toleranz.“ Im Manifest der<br />

zwei steht aber auch, es dürfe keine Abkehr<br />

von „Grundwerten und Traditionen<br />

geben“. Beim Skat nennt man es „drücken“,<br />

wenn man unliebsame Karten im<br />

Spiel beiseitelegt. Das hilft beim Gewinnen.<br />

Auf dem Parteitag in Hannover haben<br />

Wagner und die Konservativen die Abstimmung<br />

gegen die Homo-Ehe gewonnen.<br />

Am Abend danach lief in der Hotelbar<br />

eine zweite Skatrunde. Diesmal stieg<br />

Zimmer ein. Er siegte.<br />

Volker Resing<br />

ist Hauptstadtkorrespondent.<br />

Soeben erschien sein Buch „Die<br />

Kanzlermaschine: Wie die CDU<br />

funktioniert“ (Herder-Verlag)<br />

Foto: Laurence Chaperon<br />

42 <strong>Cicero</strong> 5.2013


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| B e r l i n e r R e p u b l i k | N e u l i n g e<br />

Die Politpilze<br />

Nach den Piraten macht die „Alternative für Deutschland“ Schlagzeilen. Protestparteien<br />

schießen aus dem Boden, aber die meisten verkümmern bald wieder. Warum ist das so?<br />

von Christoph Seils<br />

W<br />

as macht eigentlich Gabriele<br />

Pauli? Jenes politische<br />

Talent aus Franken,<br />

das einst die Ehe befristen<br />

und die CSU entmannen<br />

wollte. Gehüllt in eine bayerische Fahne<br />

eroberte Pauli sogar die Titelseite der Bunten.<br />

Dann hob die selbst ernannte CSU-<br />

Rebellin ab. Sie wechselte zu den Freien<br />

Wählern, fühlte sich auch dort gemobbt,<br />

gründete schließlich ihre eigene Protestpartei.<br />

Für einen Moment machten Pauli und<br />

ihre „Freie Union“ im Jahr 2009 bundesweit<br />

Schlagzeilen: Den etablierten Parteien<br />

dräue gefährliche Konkurrenz, schrieben<br />

manche Kommentatoren. Heute sind Freie<br />

Union und Pauli verschwunden.<br />

Politische Hasardeure, die <strong>Berlin</strong> erobern<br />

wollten, gab es in den vergangenen<br />

Jahrzehnten viele. Am Anfang ist es<br />

ja auch einfach. Eine Handvoll Mitstreiter,<br />

eine Vereinssatzung aus dem Internet und<br />

ein paar Forderungen, schon kann man das<br />

System herausfordern.<br />

Schwierig wird es später. Der Weg<br />

vom Küchentisch ins Parlament ist steinig.<br />

Viele Politpilze sind in den vergangenen<br />

sechs Jahrzehnten aus dem Boden<br />

geschossen und wieder eingegangen. Die<br />

Stattpartei ist längst versunken, die Schillpartei<br />

hat sich im Drogenrausch aufgelöst,<br />

die Republikaner sind zur Sekte mutiert.<br />

Nachdem der Piratenhype vorbei<br />

ist, fordert nun die Partei „Alternative für<br />

Deutschland“ das Parteiensystem heraus.<br />

Auch diesmal sind die Töne der Parteigründer<br />

schrill, die Warnungen vor dem<br />

„Euro-Zwangsverband“, dem „Niedergang<br />

der Demokratie“ und den „verbrauchten<br />

Altparteien“ sind eindringlich. Ihr Protest<br />

füllt Säle. Das Selbstbewusstsein der<br />

Parteigründer Bernd Lucke und Konrad<br />

Adam ist beeindruckend. In fünf Monaten<br />

wollen sie in den Bundestag einziehen.<br />

Schon wird prophezeit, die AfD könne<br />

dem schwarz-gelben Lager wichtige Prozente<br />

wegnehmen.<br />

Gemach, gemach. Im Lebenszyklus einer<br />

Protestpartei durchlebt die AfD gerade<br />

die klassische Aufbruchphase. Die Partei ist<br />

gegründet, ein paar spektakuläre Übertritte<br />

von der CDU haben Schlagzeilen gebracht,<br />

die Journalisten sind noch neugierig und<br />

wohlwollend. Mit der Forderung nach<br />

„Wiedereinführung der D-Mark“ hat die<br />

AfD sich klar gegen die etablierten Parteien<br />

positioniert. Das macht sie interessant.<br />

Die Aufbruchphase<br />

Jetzt kann sie den Ansturm von Interessenten<br />

kaum bewältigen. Alle Frustrierten<br />

der Republik jubeln. Nerds und Ideologen<br />

spült es nun in die neue Partei. Und weil<br />

diese noch keine Strukturen hat, wird es<br />

auch dem einen oder anderen politischen<br />

Halbirren oder Ex-Neonazi gelingen, sich<br />

in Amt und Würden wählen zu lassen. Die<br />

politische Konkurrenz reibt sich schon die<br />

Hände.<br />

Gut ist es für eine Protestpartei, wenn<br />

in dieser Aufbruchphase eine Landtagswahl<br />

ansteht, möglichst in einem der drei Stadtstaaten.<br />

Nirgendwo ist es für neue Parteien<br />

einfacher, in ein Landesparlament einzuziehen,<br />

als in Bremen, Hamburg oder <strong>Berlin</strong>.<br />

Die traditionellen Parteienbindungen<br />

sind dort brüchiger, das Erregungspotenzial<br />

höher. Kein Wunder, dass viele Protestparteien<br />

dort ihren Ursprung hatten:<br />

die Republikaner und die Piraten in <strong>Berlin</strong>,<br />

die Schill- und die Stattpartei in Hamburg.<br />

Pech für die Alternative für Deutschland.<br />

Bis zu den Wahlen in Hamburg und<br />

Bremen muss sie sich bis 2015 gedulden,<br />

<strong>Berlin</strong> wählt noch später.<br />

Die Grünen zogen bei ihrem Kampf gegen<br />

den Atomtod 1978 erstmals in Bremen<br />

in ein Landesparlament ein. 20 000 Wähler<br />

reichten, um die alte Bundesrepublik<br />

aufzumischen. Der Osten mit seinen vielen<br />

Wechselwählern ist auch ein geeignetes<br />

Terrain. Mit einer Materialschlacht etwa<br />

gelang es der DVU 1998 in Sachsen-Anhalt,<br />

12,9 Prozent der Wähler zu mobilisieren.<br />

Die genauso schlichte wie erfolgreiche<br />

Parole lautete: „Diesmal Protest wählen“.<br />

Angst ist für die politischen Neulinge<br />

eine ideale Helferin. Wo die etablierten<br />

Parteien in einem Kokon aus Verantwortung,<br />

Sachzwängen und Interessenausgleich<br />

gefangen sind, können die politischen<br />

Außenseiter ohne Rücksichtnahme<br />

hemmungslos ihre Angstkampagnen inszenieren:<br />

gegen Ausländer, gegen Gift im<br />

Essen, gegen den Euro, gegen Massenverarmung<br />

durch Hartz IV, gegen den Überwachungsstaat.<br />

Die Projektionsflächen der<br />

Unzufriedenen variieren.<br />

Karikaturen: Burkhard mohr; Foto: Andrej Dallmann<br />

44 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Die Aufbauphase<br />

Mit dem ersten Wahlerfolg beginnt die<br />

nächste Phase im Lebenszyklus einer neuen<br />

Partei, die Aufbauphase. Es gilt, professionelle<br />

Strukturen aufzubauen. Einfach<br />

ist das nicht. Denn auf die erste Euphorie<br />

folgen meist der Frust, der Streit ums<br />

Programm und der Kampf um die Macht.<br />

Kein Wunder, dass spätestens in dieser<br />

Phase die meisten neuen Parteien scheitern.<br />

Die Stattpartei erlebte ein paar wilde<br />

Monate. Bei den Piraten dauerte es etwas<br />

länger als ein Jahr, bis sie an ihre Grenzen<br />

stießen und in der Wählergunst wieder<br />

abstürzten. Die AfD steht vor allem unter<br />

Zeitdruck: Weil die Bundestagswahl bevorsteht,<br />

muss sie die Aufbauphase in kurzer<br />

Zeit durchziehen. Innerhalb weniger Wochen<br />

müssen 16 Landesverbände gegründet,<br />

Landeslisten gewählt und 299 Direktkandidaten<br />

aufgestellt werden.<br />

Der bundesdeutsche Föderalismus<br />

stellt eine zusätzliche Herausforderung<br />

dar. Noch vor ein paar Wochen galt der<br />

Vorsitzende der Freien Wähler, Hubert<br />

Aiwanger, als konservativer Hoffnungsträger.<br />

Doch dann trat der designierte<br />

Spitzenkandidat und Adenauer-Enkel Stephan<br />

Werhahn aus der Partei aus und beschwerte<br />

sich über den autoritären Führungsstil<br />

des Parteichefs. Keine Partei in<br />

Deutschland lässt sich hierarchisch und<br />

zentralistisch von oben nach unten organisieren.<br />

Stattdessen müssen Provinzfürsten<br />

eingebunden werden, Kandidaten<br />

brauchen ihren Freiraum. Parteien sind<br />

im Föderalismus ein fragiles Gefüge von<br />

checks and balances.<br />

Zudem müssen die Wähler in Ost und<br />

West, in Nord und Süd, in Großstädten<br />

und der Provinz unterschiedlich angesprochen<br />

werden. Der Landwirt Aiwanger ist<br />

Großstädtern genauso wenig vermittelbar<br />

wie die Internet-Junkie Marina Weisband<br />

von den Piraten auf dem flachen Land,<br />

wo es noch nicht mal Breitbandkabel gibt.<br />

Ob der überalterte und männerdominierte<br />

Volkswirteclub AfD auch Frauen, Jugendliche<br />

und Arbeiter erreichen kann, das muss<br />

sich erst noch erweisen.<br />

Die Bürokratiephase<br />

In der nächsten Phase müssen die Regularien<br />

des Parteienstaats überwunden werden.<br />

So leicht es ist, Partei zu werden, so schwer<br />

ist es, erstmals an einer Wahl teilzunehmen.<br />

Wenn die Basis im Wahlkampf endlich loslegen<br />

will, müssen in der Bürokratiephase<br />

Unterschriften gesammelt werden: 200<br />

für jeden Direktkandidaten, bis zu 2000<br />

für jede Landesliste. Nur bis zum 15. Juli<br />

hat die AfD dafür Zeit. Spätestens bei dieser<br />

politischen Kleinarbeit zeigt sich, ob<br />

die Partei schon Stehvermögen<br />

hat. Jede falsche Unterschrift<br />

kann sich zu einem Skandal<br />

ausweiten.<br />

Und das Geld? Aus der staatlichen<br />

Parteienfinanzierung fließen Mittel,<br />

wenn der ziemlich komplexe<br />

Rechenschaftsbericht fehlerlos ist.<br />

Jede Partei, die bei einer Landtagswahl<br />

mindestens 1 Prozent der<br />

Stimmen erzielte oder bei einer Bundestagswahl<br />

0,5 Prozent, wird in Deutschland<br />

vom Staat alimentiert. Wieder hat die<br />

AfD Pech: Für sie öffnet sich die Staatskasse<br />

noch nicht. Die Piraten hingegen erhalten<br />

in diesem Jahr Abschlagszahlungen<br />

in Höhe von 792 000 Euro.<br />

Die Reaktionsphase<br />

In der nächsten Phase schlägt das System<br />

zurück, gnadenlos. Populismus! Extremismus!<br />

Je lauter die etablierten Parteien die<br />

Neuen beschimpfen, desto nervöser sind<br />

sie. Dennoch kann die Schärfe der Angriffe<br />

unangenehm sein. Nicht selten ertönt nun<br />

auch der Ruf nach dem Verfassungsschutz.<br />

Wie bei den Republikanern, die 1989 überraschend<br />

ins Westberliner Abgeordnetenhaus<br />

eingezogen waren.<br />

In der Reaktionsphase, wenn die etablierten<br />

Parteien aufgewacht sind, integrieren<br />

sie gerne auch Inhalte der jungen<br />

Konkurrenz. Wenn plötzlich das Asylrecht<br />

doch verschärft, der Aufbau Ost intensiviert<br />

oder die staatliche Datensammelwut<br />

gebremst wird, verliert der Marsch auf <strong>Berlin</strong><br />

an Schwung.<br />

So einfach lässt sich das bundesdeutsche<br />

Parteiensystem nicht ins Wanken<br />

bringen. Nur zwei Parteien ist es in sechs<br />

Jahrzehnten gelungen, in die Phalanx der<br />

etablierten Parteien einzudringen: den<br />

Grünen und der PDS beziehungsweise<br />

deren Nachfolgepartei Die Linke.<br />

Unter welchen Voraussetzungen gelingt<br />

es Parteien, sich doch zu etablieren?<br />

Parteien brauchen nicht nur ein Programm<br />

und charismatische Figuren. Sie<br />

sind nicht bloß Interessenvertretung und<br />

Machtmaschine, sondern auch Wertegemeinschaft.<br />

Sie werden nicht nur von gemeinsamen<br />

Zielen zusammengehalten,<br />

sondern von kollektiven Erinnerungen,<br />

etwa an den Friedenskanzler Willy Brandt,<br />

an die Schlacht am Bauzaun in Brokdorf<br />

oder an das Ampelmännchen, die<br />

Puhdys und die Polikliniken.<br />

Mythen und Legenden<br />

sind der Kitt, mit dem<br />

sich Anhänger langfristig<br />

mobilisieren und die Mitglieder<br />

auch über tiefe persönliche und<br />

politische Differenzen hinweg<br />

binden lassen.<br />

Und Parteien brauchen auf<br />

dem Weg vom Rand in die Mitte<br />

der Gesellschaft eine gesellschaftliche<br />

Konfliktlinie, an der die etablierte<br />

Konkurrenz versagt. Den Grünen gelang<br />

der Aufstieg, weil in den siebziger Jahren<br />

im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik<br />

eine junge Generation nach den ökologischen<br />

Kosten der Industriegesellschaft<br />

fragte und die SPD die „Randgruppe der<br />

Aussteiger“ nicht ernst nahm. Die PDS<br />

wiederum nahm sich nach der Wiedervereinigung<br />

der Interessen der ehemaligen<br />

DDR-Eliten an. Die Westparteien fanden<br />

zu diesen weder politisch noch kulturell<br />

einen Zugang. Als die ostdeutsche Regionalpartei<br />

ihren Zenit überschritten hatte,<br />

verschaffte ihr Schröders Agenda 2010 einen<br />

zweiten Frühling.<br />

Jetzt droht also auch der Union Konkurrenz<br />

im eigenen Lager. Europa ist ein<br />

Konfliktthema, mit dem sich eine neue<br />

Partei profilieren könnte. Zumal die Bundesregierung<br />

keine andere Wahl hat, als<br />

den Euro zu verteidigen, und konservative<br />

Christdemokraten auch darüber hinaus<br />

mit Kanzlerin Merkel hadern. Doch<br />

die Herausforderungen, an denen schon<br />

so viele Politpilze gescheitert sind, beginnen<br />

auch für die Alternative für Deutschland.<br />

Die Zeit ist knapp, den Machern<br />

fehlt Erfahrung, und den rechten Narrensaum,<br />

den die Euro-Gegner anlocken, werden<br />

sie so schnell nicht los.<br />

Christoph Seils<br />

leitet <strong>Cicero</strong> Online. Er ist Autor<br />

des Buches „Parteiendämmerung<br />

oder: Was kommt nach den<br />

Volksparteien?“<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 45


| B e r l i n e r R e p u b l i k | M e i n S c h ü l e r<br />

„Wir nannten ihn Rächer“<br />

Notfalls erzwang Sigmar Gabriel Gespräche beim Direktor.<br />

Klaus Drüner, damals Lehrer, über den heutigen SPD-Chef<br />

Pausbäckig war Sigmar Gabriel als Schüler, er sah<br />

ein bisschen wie ein Barockengel aus. Er war ernst,<br />

aber immer sympathisch. Gabriel ist ein gutes Beispiel<br />

für die Durchlässigkeit des gegliederten Schulsystems.<br />

Er war ja erst auf der Realschule und kam<br />

in der zehnten Klasse zu uns aufs Ratsgymnasium in<br />

Goslar, wo er dann reüssierte und 1979 Abitur gemacht<br />

hat. Ich hatte ihn im Sozialkundeunterricht.<br />

Wir haben den Nationalsozialismus durchgenommen, den Kommunismus<br />

sowjetischer und chinesischer Prägung und vor allem<br />

die Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland. Gabriel war extrem<br />

wissbegierig, was manchmal den Unterricht in die Länge zog,<br />

und ihn in andere Richtungen lenkte, als ich wollte. Oft sprang er<br />

auch von Thema zu Thema. Da musste ich manchmal bremsen.<br />

Er war ein extrovertierter Typ, der sehr gut bei seinen Mitschülern<br />

ankam. Er machte in der Schule viel Propaganda für die<br />

SPD-nahen „Falken“, bei denen er Mitglied war. Ich glaube, jede<br />

Jugendorganisation braucht Typen wie ihn. Weil er es verstand,<br />

junge Menschen an sich zu binden. Bei uns wurde er dann Schülersprecher.<br />

Wir Lehrer haben uns gefreut, weil Gabriel kein Typ<br />

war, der gleich die Schule aufmischen wollte, wie viele seiner Mitschüler.<br />

Er hatte zwar viel zu kritisieren, aber das war immer konstruktiv.<br />

Ich gebe zu, manchmal war es lästig, wenn Konferenzen<br />

Wahljahr 2013<br />

Der Countdown<br />

kein Ende fanden, weil ihm immer wieder etwas<br />

Neues einfiel. Oder seine penetrante Einsatzfreude:<br />

gegen Unrecht, aber manchmal eben auch gegen<br />

vermeintliches Unrecht. Im Lehrerzimmer nannten<br />

wir ihn scherzhaft „Rächer der Enterbten“ oder<br />

auch „Erzengel Gabriel“.<br />

Einmal wollte er zum Direktor vordringen. Aber<br />

dem passte es gerade nicht, deshalb sagte er Gabriel,<br />

er solle einen Termin im Sekretariat ausmachen. Was machte Gabriel?<br />

Er klopfte einfach noch mal. Da kam der Direktor wieder<br />

raus und rief: „Ich habe Ihnen doch gesagt, es passt gerade nicht!“<br />

Aber noch bevor er die Türe wieder zuknallen konnte, hatte Gabriel<br />

schon seinen Fuß in den Türrahmen geklemmt. So war er.<br />

Als ich neulich in der Zeit las, dass sein Vater überzeugter Nazi<br />

gewesen sei, war ich erschüttert. Das wussten wir alle nicht. In der<br />

Schulzeit trat nur seine Mutter in Erscheinung, und die war besonders<br />

nett. Wenn ich ihn heute im Fernsehen sehe, erkenne ich<br />

meinen damaligen Schüler sofort wieder. Obwohl mir manchmal<br />

scheint, ihm fehlt intellektuelle Tiefe. Ich verstehe schon, dass die<br />

SPD ihn noch nicht aufs Schild gehoben hat.<br />

In der <strong>Cicero</strong>-Serie „Mein Schüler“ zur Bundestagswahl spürt<br />

Constantin Magnis Lehrer unserer Spitzenpolitiker auf<br />

Sigmar Gabriel vor<br />

dem Ratsgymnasium<br />

in Goslar, wo er<br />

1979 Abitur machte.<br />

Klaus Drüner, 84,<br />

unterrichtete den<br />

heutigen SPD-<br />

Vorsitzenden dort<br />

in Sozialkunde<br />

Fotos: Privat, M.C.Hurek.de; Grafik: <strong>Cicero</strong><br />

46 <strong>Cicero</strong> 5.2013


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Veganerclub<br />

Dienendes Ethos übertrumpft grelles Ego: Peer Steinbrücks Scheitern zeigt<br />

den Siegeszug der protestantischen Kultur in der politischen Sphäre<br />

von Christine Eichel<br />

D<br />

er Empörungspegel ist hoch.<br />

Wohl selten hat ein Kanzlerkandidat<br />

für derart viel Unmut<br />

gesorgt, und das, noch bevor<br />

der Wahlkampf richtig begonnen<br />

hat. Fehler, Fettnäpfchen, falsche Töne.<br />

Wie konnte es zu der bemerkenswerten<br />

Aversion gegen einen Mann kommen, auf<br />

dessen Fehltritte geradezu gelauert wird?<br />

Woher rührt der notorisch negative Reflex?<br />

Peer Steinbrück versucht, sich als Klartexter<br />

zu stilisieren. Er spreche doch nur<br />

aus, was viele denken, verteidigt er sich.<br />

Damit bemüht er den alten Mythos, dass<br />

öffentliche und veröffentlichte Meinung<br />

weit auseinanderklaffen. Sein wahrer Fehler<br />

ist jedoch nicht der kantige Klartext, es<br />

ist ein Denkfehler: zu meinen, der Wähler<br />

favorisiere einen Haudegen, der sich mit<br />

markigen Sprüchen, einträglichen Nebengeschäften<br />

und einem Faible für erlesene<br />

Weine positioniert.<br />

In Zeiten, in denen Parteiprogramme<br />

verwechselbar sind – wenn sie denn überhaupt<br />

gelesen werden – und in denen man<br />

sich gegenseitig Themen wie Mindestlohn<br />

und Homo-Ehe abjagt, sind Menschen<br />

Programm. Die Personalisierung von Politik<br />

ist nicht neu. Doch mit den Kontrahenten<br />

Angela Merkel und Peer Steinbrück<br />

gewinnt sie Konturenschärfe. Ein Blick auf<br />

jene, die mehr Fortune auf dem politischen<br />

Parkett haben, verrät die kollektive Sympathie<br />

für einen ganz anderen Typus, als ihn<br />

Peer Steinbrück verkörpert. Dabei fällt eine<br />

eigentümliche Symptomatik auf: das Pfarrhaus<br />

als Ressource des politischen Personals.<br />

Schauen wir zur Spitze der Republik.<br />

Angela Merkel ist Pfarrerstochter, Joachim<br />

Gauck war lange Pfarrer. In der Nachfolgedebatte<br />

um Christian Wulff wurden neben<br />

Gauck weitere evangelische Theologen<br />

genannt: Margot Käßmann beispielsweise,<br />

Altbischof Wolfgang Huber. Katrin Göring-<br />

Eckardt, Präses der EKD und Ehefrau eines<br />

Pfarrers, obsiegte jüngst über ihre Gegenspielerin<br />

Claudia Roth. Offenbar sorgen<br />

Gestus und Habitus des Pfarrhauses für einen<br />

kräftigen Vertrauensvorschuss, für die<br />

freundliche Unterstellung ethischer Integrität<br />

aus dem Geist von Hausmusik<br />

und Tischgebet. Ja, es scheint, als seien<br />

Erfolg hat das<br />

Pfarrhaus mit<br />

seinem Geist<br />

von Fleiß und<br />

Bescheidenheit<br />

evangelische Pfarrhäuser geradezu Kaderschmieden<br />

für Ämter mit höchstem Symbolwert<br />

und moralischer Leuchtturmfunktion.<br />

Die Pfarrhausherkunft wirkt wie ein<br />

Gütesiegel in einem politischen Klima, in<br />

dem mancher auffallend geschmeidig seine<br />

Prinzipien auswechselt. Oder gar nicht erst<br />

welche hat.<br />

Vom Aroma der Pfarrhausherkunft ist<br />

Peer Steinbrück weit entfernt. Zwar ist er<br />

selbst evangelisch, hat sogar Pastoren unter<br />

seinen Vorfahren und soll ein Luther-<br />

Verehrer sein. Dennoch bricht er geräuschvoll<br />

die Regeln dieses Milieus. Woran er<br />

letztlich scheitert, ist der Siegeszug der<br />

protestantischen Kultur in der politischen<br />

Sphäre. Vor allem Pfarrerskinder verinnerlichten<br />

die moralischen und ästhetischen<br />

Codes des Elternhauses. Merkel ist das prominenteste<br />

Beispiel dafür. Sie repräsentiert<br />

den heilignüchternen Pfarrhausbewohner<br />

mit all jenen Tugenden, die Konjunktur<br />

haben: Bescheidenheit, Pflichtgefühl, unprätentiöses<br />

Auftreten. Dabei mischen sich<br />

Qualitäten des Pfarrhauses mit den Sekundärtugenden<br />

preußischer Couleur: Selbstdisziplin<br />

und Verantwortungsbewusstsein,<br />

Sparsamkeit, Unbestechlichkeit, Zuverlässigkeit.<br />

„Dienst ist alles“, sagt ein preußischer<br />

Offizier in Fontanes „Stechlin“. „Was<br />

uns obliegt, ist nicht die Lust des Lebens,<br />

auch nicht einmal die Liebe, die wirkliche,<br />

sondern lediglich die Pflicht.“<br />

Es ist das Ethos des Dienens, nicht die<br />

grelle Selbstinszenierung. Angela Merkel<br />

48 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein<br />

bedient dieses Ethos instinktsicher. Schon<br />

äußerlich nimmt sie sich zurück. Mit den<br />

immer gleichen Dreiknopfjacketts uniformiert<br />

sie sich – kein elegantes Kostüm,<br />

keine Koketterie lenken vom Amt<br />

ab. Während Politikerinnen in Frankreich<br />

oder Italien ohne Weiteres in Designeroutfits<br />

auftreten, ist solch noble Eleganz<br />

in Deutschland verpönt. Gleichzeitig<br />

wirkt die Kanzlerin entsexualisiert in ihrer<br />

Arbeitsuniform, ganz in der eher prüden<br />

Tradition des Pfarrhauses. Einmal nur wich<br />

die Kanzlerin von ihrer textilen Strategie<br />

der planvollen Untertreibung ab: als sie im<br />

April 2008 zur Eröffnung der Osloer Oper<br />

ein üppiges Dekolleté präsentierte. Allein<br />

in Deutschland beschäftigten sich 78 der<br />

302 Artikel und Hörfunkbeiträge über das<br />

Event mit dem Kleid der Kanzlerin, errechnete<br />

die Osloer Tourismusförderung.<br />

Hoppla, sie ist eine Frau!<br />

Angela Merkel hat nie wieder ihr dirndltaugliches<br />

Dekolleté gezeigt. So wollte sie<br />

nicht gesehen werden, als Objekt der Begierde,<br />

als Frau hinter der Uniform. Sie hatte<br />

längst verstanden: Die Leibfeindlichkeit des<br />

Pfarrhauses ist weit entfernt von fröhlichem<br />

Hedonismus, und genau das macht sie mit<br />

dem Anforderungsprofil des Politikers kompatibel.<br />

„Sorgt nicht um euer Leben, was ihr<br />

essen und trinken werdet; auch nicht um euren<br />

Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht<br />

das Leben mehr als die Nahrung und der<br />

Leib mehr als die Kleidung?“, heißt es im<br />

Neuen Testament. Seit Luther stehen Pomp<br />

und Pracht vollends unter dem Verdacht der<br />

Prätention. Wer im evangelischen Pfarrhaus<br />

aufgewachsen ist, hält sich zurück, zuweilen<br />

in fast klösterlicher Askese.<br />

Diese Haltung hat heute Leitbildpotenzial.<br />

Denn nicht nur bei der Kleidung,<br />

auch beim Essen und Trinken schaut man<br />

genau hin, wenn es um die politische Bonität<br />

geht. Schon die eher harmlose Bemerkung<br />

Steinbrücks, er würde keinen Pinot<br />

Grigio unter fünf Euro trinken, löste eine<br />

heftige Debatte aus. Unvergessen ist auch<br />

die Aufregung über Gerhard Schröders Brioni-Anzüge.<br />

Ein Pastor im Porsche hätte<br />

ähnlich irritiert. Angela Merkel dagegen<br />

lässt sich beim Einkaufen im Supermarkt<br />

fotografieren und beteuert, sie bevorzuge<br />

Hausmannskost. Auch Sahra Wagenknecht<br />

hat verstanden, wie wichtig solche Details<br />

sind. Sie löschte einst eigenhändig Fotos,<br />

die sie beim Hummeressen in Straßburg<br />

zeigten.<br />

Petitessen? Wohl eher sind es Fußnoten<br />

zu einem gesellschaftlichen Klima, in<br />

dem krisengebeutelte Wähler fürchten,<br />

dass an höchster Stelle womöglich Wasser<br />

gepredigt und Wein getrunken werde. Natürlich<br />

geht es nicht nur um Äußerlichkeiten.<br />

Doch die Oberflächen werden zunehmend<br />

wichtiger. Das Sichtbare rückt<br />

in den Fokus, denn kaum ein Laie kann<br />

noch beurteilen, welche politischen Konzepte<br />

angemessen sind. Sachthemen wie<br />

die Lösungsansätze zur Rettung des Euro<br />

sind hochkomplex, kaum vermittelbar fürs<br />

große Publikum. Klar kann man darüber<br />

reden, aber wer hört schon zu, wenn wieder<br />

einmal eine Talkshow über die Finanzkrise<br />

ansteht? TMI nennt man so etwas in<br />

der Terminologie der Kommunikationsstrategen:<br />

too much information. Deshalb<br />

sind Menschen zum Programm geworden.<br />

Was Menschenkenntnis betrifft, hält sich<br />

jeder für einen Spezialisten: Sage mir, wie<br />

du dich verhältst, und ich sage dir, wer du<br />

bist – und ob ich dich wähle.<br />

Damit geraten Stil- und Haltungsfragen<br />

ins Zentrum des Interesses. Und es<br />

spricht immer mehr dafür, dass man heute<br />

vom Politiker verlangt, was einst den idealen<br />

Pfarrer auszeichnete. Zu dessen Image<br />

gehörte traditionell aufopferungsvoller<br />

Fleiß. In der Bibel heißt es über das Leben:<br />

„Und wenn’s köstlich gewesen ist, so<br />

ist’s Mühe und Arbeit gewesen.“ Das klingt<br />

nach einem reichlich spaßbefreiten Credo,<br />

aber Angela Merkel macht vor, wie es sich<br />

in eine erfolgversprechende Strategie verwandeln<br />

lässt. Ihr Bienenfleiß wird gerühmt,<br />

so wie die unerschütterliche Disziplin,<br />

mit der sie nächtelange Sitzungen<br />

übersteht und auch nach transatlantischen<br />

Flügen konzentriert vor die Kameras tritt.<br />

Hier kommt die protestantische Arbeitsethik<br />

ins Spiel. Sie zeichnet sich durch eine<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 49


F r a u F r i e d f r a g t s i c h …<br />

… ob Frauen zu faul für<br />

Führungspositionen sind<br />

I<br />

ch will nicht vorstandsvorsitzende<br />

sein. Oder<br />

Chefredakteurin. Macht interessiert<br />

mich nicht. Ich gestalte lieber<br />

freiberuflich vor mich hin, ohne<br />

einen Chef zu haben und ohne Chefin<br />

zu sein. Chef sein lohnt sich eigentlich<br />

nicht. Man arbeitet deutlich mehr<br />

als andere und kriegt Haue, wenn’s<br />

schlecht läuft. Gut, man verdient auch<br />

deutlich mehr und kann sich wichtig<br />

fühlen. Aber auch das interessiert mich<br />

nicht besonders. So, nun ist es raus.<br />

Wahrscheinlich werde ich jetzt sofort<br />

aus der Initiative Pro Quote (für<br />

mehr Frauen in journalistischen Spitzenpositionen)<br />

ausgeschlossen. Dabei<br />

gehöre ich ihr aus voller Überzeugung an. Ich finde es nämlich richtig und wichtig,<br />

dass die Medien dieses Landes, die zur Hälfte von Frauen konsumiert werden,<br />

zu mindestens 30 Prozent (lieber noch zur Hälfte) von Frauen geleitet werden. Nur<br />

möchte ich keine von ihnen sein. Und, wie ich immer häufiger feststelle, auch viele<br />

andere nicht. Diese vielen anderen Frauen wollen auch nicht Vorstände oder gar<br />

Vorstandsvorsitzende anderer Unternehmen sein. Diese Frauen wollen überhaupt<br />

nicht nach ganz oben. Sie wollen nicht an albernen Pinkelwettbewerben teilnehmen,<br />

sich mit ausgefahrenen Ellbogen in einer Machowelt durchsetzen müssen und<br />

einem absurden – von Männern etablierten – Anwesenheitskult unterwerfen. Oh<br />

nein, sie sind nicht faul. Sie wollen arbeiten und Karriere machen, aber nur bis zu<br />

einem Punkt, an dem sie auch noch ein Leben haben. Freunde. Eine Familie. Und<br />

ganz ehrlich: Ich verstehe sie.<br />

Leider dienen diese Frauen vielen Männern dazu, Frauen generell am Aufstieg<br />

zu hindern. Und zwar auch jene, die aufsteigen wollen (und davon gibt es ebenfalls<br />

eine Menge)! Sie stoßen immer noch an die unsichtbaren Grenzen eines uralten<br />

Mannschaftsgeists, der dafür sorgt, dass alles bleibt, wie es ist. Aber nur, wenn<br />

es mehr von diesen Frauen nach ganz oben schaffen, besteht die Chance, dass sich<br />

endlich etwas ändert. Dass aus halbherzigen Teilzeitmodellen „für unsere Muttis<br />

im Betrieb“ endlich flexible Arbeitszeitregelungen für Frauen und Männer werden.<br />

Dass Väter nicht nur zwei Monate Elternzeit nehmen, weil sie Angst haben,<br />

gemobbt zu werden. Dass beruflich engagierte Mütter nicht mehr schief angesehen<br />

und als karrieregeil beschimpft werden. Dass in Wirtschaft und Gesellschaft endlich<br />

gleiche und vernünftige Bedingungen für Männer und Frauen herrschen.<br />

Dann würden auch mehr Frauen in Spitzenpositionen wollen. Weil sie immer<br />

noch Zeit für ihren Partner, ihre Kinder und ihre Freunde hätten. Weil der Beruf<br />

nicht ihr Leben wäre, sondern ein wichtiger Teil davon. Gleichberechtigung kann<br />

schließlich nicht heißen, dass wir Frauen jeden Mist nachmachen, den uns die<br />

Männer vormachen.<br />

Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />

Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen aufwirft<br />

hohe Innenleitung aus. Wer sie überzeugend<br />

vermittelt, steht nicht im Ruch, es<br />

auf Ruhm oder Geld abgesehen zu haben.<br />

Wenn Steinbrück erklärt, ein Kanzler verdiene<br />

zu wenig, muss er sich nicht wundern,<br />

dass ihm seine Glaubwürdigkeit verloren<br />

geht. Sofort kommt der Verdacht auf,<br />

hier wolle jemand Kapital aus seinem Amt<br />

schlagen.<br />

Von jeher war es ein Distinktionsmerkmal<br />

protestantischer Kreise, nie über Geld<br />

zu sprechen, um ja nicht den Eindruck der<br />

Gier zu erwecken. Welchem Pfarrer würde<br />

man schon attestieren, er verfolge mit seinem<br />

Amt finanzielle Interessen? Das leidenschaftslose<br />

Verhältnis zum Geld wird in der<br />

Außenwahrnehmung oft als Qualität des<br />

Protestantischen gesehen, und als Qualität<br />

des Pfarrhauses. Denn es gilt auch der Umkehrschluss:<br />

Wenn ein Pfarrer sich nichts aus<br />

Luxus macht, kann er nicht in Versuchung<br />

geraten, sich Luxus unredlich zu erwerben.<br />

Bestechlichkeit ist daher weitgehend ausgeschlossen.<br />

In einer ökonomisierten Gesellschaft<br />

hat das Pfarrhaus damit gewissermaßen<br />

ein Alleinstellungsmerkmal. Womit<br />

wir bei einem weiteren heiklen Punkt wären,<br />

dem Eindruck unzulässiger Komplizenschaft<br />

mit den Reichen dieser Welt.<br />

Als bekannt wurde, dass der inzwischen<br />

eingestellte „Peer-Blog“ von zahlungskräftigen<br />

Unternehmern finanziert wurde, hatte<br />

Steinbrück Mühe, den Imageschaden in<br />

Grenzen zu halten. Noch war in Erinnerung,<br />

dass Christian Wulff über allzu innige<br />

Beziehungen zu Unternehmern gestolpert<br />

war. Nicht zuletzt ein Urlaub auf Sylt,<br />

der Insel der Reichen und Schönen, sorgte<br />

für Stirnrunzeln: Dort hatte der Filmproduzent<br />

David Groenewold 2007 die Hotelrechnung<br />

für Wulff bezahlt. Wulffs<br />

Rechtsanwalt erklärte, sein Mandant habe<br />

Groenewold die Summe in bar erstattet –<br />

ein Geschmäckle blieb. Angela Merkel dagegen<br />

wandert in den Dolomiten, ohne<br />

glamouröse Freunde. Außerdem residiert<br />

sie nicht in einer Villa, die von Privatkrediten<br />

vermögender Freunde finanziert werden<br />

muss, sondern begnügt sich mit einer<br />

Etagenwohnung. Es war Martin Luther,<br />

der als Erster das lateinische Wort „modestia“<br />

im Sinne von Genügsamkeit und<br />

Verzicht übersetzte. Darin mitgedacht ist,<br />

dass die Bescheidenheit nicht durch Armut<br />

erzwungen, sondern eine selbst gewählte<br />

Lebensform ist. Merkel führt das so<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

50 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Foto: Privat<br />

beiläufig vor, dass man es fast schon wieder<br />

virtuos nennen kann. Selbst der neue Papst<br />

hat den Zeitgeist verstanden: Schlichtheit<br />

und Bescheidenheit stehen neuerdings<br />

auch auf der Agenda des Oberhaupts der<br />

Katholiken.<br />

Natürlich spielt auch die DDR-Herkunft<br />

für den Erfolg Merkels und Gaucks<br />

eine Rolle. Im ostdeutschen Pfarrhaus bildete<br />

sich eine eigene Identität im Schatten<br />

der Macht aus, jenseits des real existierenden<br />

Machtmissbrauchs. Die Verhältnisse<br />

waren karg, täglich fand ein moralischer<br />

Lackmustest statt. Das Pfarrhaus konnte<br />

seine Glaubwürdigkeit in der DDR nur<br />

aufrechterhalten, wenn es innerlich unabhängig<br />

und äußerlich unbestechlich blieb.<br />

So etwas prägt. Man mag beklagen, dass<br />

der politischen Kultur Deutschlands mit<br />

dem Protestantismus das nötige Quäntchen<br />

Übermut und auch das Spielerische<br />

abhandenkommt, das die Politik von jeher<br />

beatmete und attraktiv machte. Ein<br />

bisschen mehr Sinnlichkeit und Showbiz<br />

dürften schon sein. Doch die Umfragewerte<br />

sind eindeutig. Fleiß, Pflichtgefühl,<br />

Bescheidenheit statt Egopirouetten und finanzieller<br />

Interessen – damit punktet die<br />

Kanzlerin und Pfarrerstochter, das grenzt<br />

den Ex-Pfarrer Gauck von seinem gestrauchelten<br />

Vorgänger Wulff ab.<br />

Steinbrück, der egobetonten Machtwillen<br />

zur Schau stellt, hat sich demgegenüber<br />

selbst diskreditiert. In der protestantischen<br />

Kultur wirkt er so deplatziert wie<br />

ein Fleischesser im Veganerclub. Ein neuer<br />

Beraterstab, so ist zu hören, arbeitet fieberhaft<br />

an einer Imagekorrektur. Was die Berater<br />

Steinbrück empfehlen sollten, um zu<br />

reüssieren, ist Demut. Genau jene Demut,<br />

die zum Tafelsilber, pardon, zum Alltagsbesteck<br />

der protestantischen Kultur gehört.<br />

Doch auch wenn der Wolf Kreide frisst,<br />

bleibt er ein Wolf. Die Spin-Doctors und<br />

Coaches werden Steinbrück den einen oder<br />

anderen Schafspelz verpassen, ändern werden<br />

sie ihn nicht. Dafür sind seine Wolfsinstinkte<br />

zu vital, seine Lust an der Provokation,<br />

auch seine Eitelkeit. Posen kann man<br />

einstudieren, Haltung nicht.<br />

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Christine Eichel lebt als<br />

freie Autorin in <strong>Berlin</strong>. Zuletzt<br />

erschien von ihr „Das deutsche<br />

Pfarrhaus. Hort des Geistes und<br />

der Macht“ (Quadriga-Verlag)<br />

Möchten auch Sie zu diesem<br />

exklusiven Kreis gehören?<br />

Bitte sprechen Sie uns an:<br />

E-Mail: hotelservice@cicero.de


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5 6<br />

Wahljahr 2013<br />

Der Countdown<br />

7<br />

12<br />

8 9<br />

10 11<br />

13 14 15<br />

Wen hätten Sie gern an der Macht? Bis zur Bundestagswahl lädt <strong>Cicero</strong><br />

Persönlichkeiten ein, sich die perfekte Regierung zu wünschen. Diesmal stammt die<br />

Besetzungsliste von der Schriftstellerin Monika Maron: Merkel darf Kanzlerin<br />

bleiben, aber mit diesem Kabinett dürfte sie viel zu tun bekommen. Die Regierung für<br />

die Juniausgabe des <strong>Cicero</strong> wird der Moderator Jörg Thadeusz auswählen<br />

Illustration: Jan Rieckhoff; Fotos: Picture Alliance/DPA (12), Ralf Krieger/Visum [M], Dirk Dorsemagen, F.A.Z. Foto, Action Press<br />

52 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Anzeige<br />

Foto: Picture Alliance/DPA<br />

(1) Bundeskanzlerin<br />

Da mir keine geeignete Person<br />

eingefallen ist, bleibe ich bei Angela<br />

Merkel, zumal mein Kabinett sie<br />

vermutlich vor neue Herausforderungen<br />

stellen wird. Notfalls würde ich auch<br />

dem Wunsch meiner Freunde folgen<br />

und das Amt selbst übernehmen.<br />

(2) Auswärtiges<br />

Iris Berben – weil ein nationaler<br />

Außenminister in der EU vermutlich<br />

keine großen Befugnisse hat, darstellerische<br />

Qualitäten und ein einnehmendes<br />

Wesen aber sicher von Vorteil sind.<br />

(3) Innen<br />

Heinz Buschkowsky. Er ist klarsichtig,<br />

mutig und durchsetzungsfähig.<br />

(4) Justiz<br />

Horst Dreier, Juraprofessor und<br />

Rechtsphilosoph. Seine Wahl zum<br />

Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts<br />

wurde 2008 leider durch eine Intrige der<br />

katholischen Kirche und der CDU verhindert.<br />

(5) Finanzen<br />

Prof. Paul Kirchhof, dessen verlockendes<br />

Steuermodell, das von Angela Merkel<br />

Gerhard Schröders schnödem Hohn<br />

geopfert wurde, eine Chance haben soll.<br />

(6) Arbeit und Soziales<br />

Gabriele Goettle. Ihre journalistischen<br />

Grab- und Schürfarbeiten in allen<br />

denkbaren Arbeits- und Sozialbereichen<br />

sollten die besten Voraussetzungen<br />

für eine unsentimentale, dafür<br />

wirkungsvolle Amtsführung bieten.<br />

familiären Glücks und Unglücks bürgt,<br />

und eine furchtlose Streiterin gegen<br />

Unterdrückung der Frauen durch den Islam.<br />

(10) Integration<br />

Henryk M. Broder. Polnische Abstammung,<br />

gut integriert, kennt sich als Jude mit<br />

Diskriminierung aus. Neigt zu Polemik,<br />

aber nachdem Beschwichtigungstaktik<br />

gegenüber muslimischen Verbänden bisher<br />

nur unbefriedigende Ergebnisse erzielt hat,<br />

könnte man es ja einmal mit ihm versuchen.<br />

(11) Umwelt<br />

Dirk Maxeiner und Michael Miersch:<br />

Da sie auch in ihren Publikationen fast<br />

nur paarweise auftreten, sollten sie auch<br />

das Amt gemeinsam führen, vor allem die<br />

Klima- und Energiepolitik von dogmatisch<br />

und halbreligiösen Dogmen befreien und<br />

einen offenen Meinungsstreit garantieren.<br />

(12) Bildung und Forschung<br />

Jürgen Kaube, „FAZ“-<br />

Wissenschaftsredakteur, von fast<br />

einschüchternder Intelligenz, originell,<br />

kennt die Bildungs- und Wissenschaftswelt<br />

genau, verzweifelt zuweilen an ihr<br />

und weiß sicher, welche Reformen<br />

unsinnig sind und welche nötig wären.<br />

(13) Wirtschaft und Technologie<br />

Friedrich Merz, von Angela Merkel aus<br />

der Politik vertrieben, ohne dass er ersetzt<br />

werden konnte. Er sollte wieder dabei sein.<br />

(14) Entwicklung<br />

Daniel Cohn-Bendit: polyglott, enthusiastisch,<br />

hat ein realistisches Verständnis von globaler<br />

Gerechtigkeit und sozialen Gegebenheiten.<br />

Foto: ullstein bild – Teutopress<br />

ISBN 978-3-89684-096-7<br />

Auch als E-Book erhältlich.<br />

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin<br />

fordert eine kulturelle Leitidee für<br />

die Bildung.<br />

www.edition-koerber-stiftung.de<br />

(7) Landwirtschaft und Tierschutz<br />

Hermann Schlüsing, mein Tierarzt,<br />

aufgewachsen auf einem Bauernhof, mit<br />

innigem Verhältnis zu kleinen und großen<br />

Tieren und Einblick in die Massentierhaltung,<br />

was ihm das Fleischessen vergällt.<br />

(8) Verteidigung<br />

Michael Wolffsohn, Historiker und, wie<br />

er sich selbst nennt, ein deutschjüdischer<br />

Patriot. Seit kurzem emeritiert, aber<br />

nicht müde, also ein idealer Kandidat.<br />

(9) Familie<br />

Necla Kelek. Soziologin, türkische<br />

Abstammung, was für spezielle Kenntnis<br />

(15) Kultur und Medien<br />

Thea Dorn, Philosophin, Schriftstellerin,<br />

ungemein gebildet, hoher Kunstverstand<br />

und ausreichende Medienerfahrung.<br />

Monika Maron, 71,<br />

ist Schriftstellerin in<br />

<strong>Berlin</strong>. Ihre Romane<br />

und Essays wurden<br />

mehrfach ausgezeichnet.<br />

Ihr Debütroman<br />

„Flugasche“<br />

war die erste<br />

Auseinandersetzung mit<br />

der Umweltzerstörung<br />

in der DDR<br />

Reinhard Mohr<br />

BIN ICH JETZT REAKTIONÄR?<br />

Bekenntnisse eines Altlinken<br />

189 Seiten / geb. mit Schutzumschlag<br />

€ 17,99 (D) / € 18,50 (A) / CHF* 25,90<br />

ISBN 978-3-579-06638-7<br />

Reinhard Mohr geht der Frage nach,<br />

wie es kommt, dass man seinem<br />

Vater immer ähnlicher wird, Globuli<br />

für Hokuspokus hält und die Griechen<br />

nicht nur für Opfer einer bösen<br />

ungerechten Welt. Selbstironisch,<br />

polemisch und anekdotenreich: ein<br />

Plädoyer, sich immer wieder vom<br />

wahren Leben irritieren zu lassen.<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 53<br />

*empf. Verkaufspr.<br />

GÜTERSLOHER<br />

VERLAGSHAUS<br />

www.gtvh.de


| B e r l i n e r R e p u b l i k | K o m m e n t a r<br />

Man ist Mensch, wenn<br />

man mit Menschen ist<br />

Im Netz wird Wissen geliefert,<br />

sekündlich, im Lidschlagtempo.<br />

Aber das Leben spielt woanders<br />

Von Frank A. Meyer<br />

D<br />

er Salon floriert. Zum Beispiel in <strong>Berlin</strong>. Sei es privat,<br />

in herrschaftlichen Wohnungen aus wilhelminischer<br />

Zeit, sei es in Buchhandlungen, sei es im Foyer<br />

von Theatern. Die Bürger eilen in Scharen herbei, um zu diskutieren:<br />

mit Philosophen, Literaten, Künstlern, Zeitzeugen,<br />

Akademikern, Politikern. Wer etwas zu sagen hat, findet in der<br />

deutschen Hauptstadt Podium und Publikum.<br />

Schon einmal war es so, im späten Kaiserreich. Ende des<br />

19. Jahrhunderts wurde der Salon zum Ort bürgerlicher Emanzipation<br />

– Ort von Esprit und Causerie.<br />

Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in den Blütejahren<br />

der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik,<br />

bot der Salon – bis die Nazis kamen – den Freiraum<br />

zur Debatte über die Zeitläufte. Und tagsüber, wenn der Salon<br />

ruhte, lief der Diskurs in Wein- und Kaffeehäusern und in den<br />

Zeitungsredaktionen.<br />

Alles Geschichte?<br />

Das 21. Jahrhundert brach an mit dem Internet. Was wir erfahren,<br />

was wir sagen, was wir denken: In Facebook und Google<br />

und Twitter und Wikipedia findet es seinen Niederschlag.<br />

Ja, das Internet ist das Niederschlagsgebiet allen neuen Wissens.<br />

Die sekündlich anschwellende Menge des elektronisch<br />

vermittelten Menschheitsgedächtnisses ist nur noch in Terabytes<br />

zu bemessen – die Größenordnung, die den jetzt gerade<br />

aktuellen Wissensstand benennen kann. Und der ist ohnehin<br />

jetzt schon überholt. Und jetzt gerade erneut. Das Einspeisen,<br />

Einordnen und Einmotten im Netz vollzieht sich im Tempo<br />

des Lidschlags.<br />

Dennoch sind <strong>Berlin</strong>s Salons gesucht und begehrt, wie wohl<br />

auch in anderen Kulturmetropolen. Es herrscht ganz offensichtlich<br />

der Drang des Bürgers nach Begegnung und Besprechung<br />

mit anderen Bürgern – in intellektueller, in geistvoller Absicht.<br />

Man will reden miteinander; denken miteinander; und man will<br />

dabei zusammensitzen; auch zu einem Glas Wein will man greifen<br />

können beim Diskutieren und Zuhören; man will sich in die<br />

Augen schauen; man will die Körpersprache des Gegenübers erleben<br />

und genießen.<br />

Man ist Mensch, wenn man mit Menschen ist.<br />

Aber auch die Virtualität ist Realität. Unablässig schwatzen<br />

wir doch schwärmend davon, dass die Netzwirklichkeit eine<br />

neue Wirklichkeit schaffe, die sich schließlich als unser aller<br />

wirkliche Wirklichkeit erweisen werde!<br />

In Deutschland haben Netz-Nerds diese Wandlung bereits<br />

gewagt: Aus dem virtuellen Raum heraus gründeten sie die Piratenpartei,<br />

eine Partei, die den Anspruch, die herkömmliche Politik<br />

zu entern, bereits im Namen führt. Und im Logo: Die „Piraten“<br />

setzten flott ihre Segel unter der Totenkopf-Flagge, die ja<br />

dem Feind seit je nichts weniger androht als den Untergang.<br />

Daraus ist nichts geworden. Zwar feierte die Laptop-Partei<br />

ein paar provinzielle Wahltriumphe, doch sie verflüssigte sich inzwischen<br />

wieder fast völlig im Netz.<br />

Ihr Versprechen allerdings war gewaltig: Sie wollte Transparenz<br />

schaffen, hundertprozentiges Sichtbarmachen aller Regungen<br />

in der Demokratie. Ein Totalitarismus von gleißender, von<br />

blendender Helligkeit – bis in den hintersten politischen Winkel<br />

hinein.<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

54 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Foto: Privat<br />

Die Partei schaffte nicht einmal den Überblick über sich<br />

selbst. Sie zerstritt sich in Shitstorms, Twitter-Intrigen und Facebook-Verunglimpfungen.<br />

Der entgeisterten Öffentlichkeit bot<br />

sich ein Bild zumeist junger Menschen, die nicht zusammenfanden,<br />

weil sie kaum je physisch teilgenommen hatten an der realen<br />

Politik, so wie sie immer schon war.<br />

Auch die Abschaffung von Herrschaftswissen durch Transparenz<br />

misslang. Denn was ist Transparenz? Ist es der Klick<br />

auf ein Dialogfeld des Bildschirms? Der Blick in die Google-<br />

Welt? Transparent machen heißt sichtbar machen. Sichtbar aber<br />

bedeutet begreifbar, zum Greifen, also intellektuell-sinnlich<br />

erfahrbar.<br />

Das aber zwingt zum Zusammenfügen und Ergänzen von<br />

Wissenspartikeln, wie sie das Netz liefert; es zwingt zum Einbetten<br />

von partiellem Wissen in den großen menschlichen Erfahrungsschatz;<br />

und es zwingt zur Konfrontation von allem Wissen<br />

mit ethischen und moralischen Grundwerten.<br />

Das wäre dann Bildung zu nennen.<br />

Doch wo und wie bildet sich Bildung? Das Netz liefert dazu<br />

nur den kruden Werkstoff. Die Denkhandwerker aber schreiben<br />

Bücher, halten Vorträge, diskutieren in Salons. Vor allem gestalten<br />

redaktionelle Gemeinschaften Zeitungen, Zeitschriften und<br />

Magazine. Auf Papier wird vorgedacht, nachgedacht und weitergedacht,<br />

wird debattiert und ausprobiert, wird erwogen und abgewogen,<br />

oft umständlich, bisweilen auch vollendet elegant.<br />

Die Zeitung und die Zeitschrift sind der gedruckte Salon<br />

unserer demokratischen Gesellschaft. Journalisten sind in diesem<br />

Salon Gastgeber und Gedankengeber, manchmal brillante Causeure,<br />

gerne auch geistvolle Gaukler. Sie erzählen die sinnfälligen<br />

und hintersinnigen und immer wieder lehrreichen Märchen<br />

des Alltags. Mit ihrem altmodischen Medium garantieren sie das<br />

Denkgeflecht, das unsere freie Gesellschaft zusammenhält.<br />

Und sie tun ihr Werk von Tag zu Tag, von Woche zu Woche,<br />

geradezu bedächtig, auf wohltuende Weise entschleunigt,<br />

mithin also viel zu langsam für die permanent hysterisch erregte<br />

Netzwelt. Zeitungsjournalisten entlarven das Funkengestiebe im<br />

Netz, von bildschirmsüchtigen Kids und Nerds fürs Sternenzelt<br />

gehalten, als unendlich viel Meteoritenschrott.<br />

Das Schicksal der Menschen spielt unter Menschen und hinieden,<br />

wo wir uns begegnen in Salons, in Cafés, in Lounges, in<br />

Redaktionen, in Zeitungen und Zeitschriften, in Büchern – im<br />

persönlichen Gespräch.<br />

Das ist Lebenselixier und Luxus der Demokratie: Zeit zu haben<br />

und Räume dazu.<br />

Frank A. Meyer<br />

ist Journalist und Gastgeber der politischen<br />

Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />

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Basel|June|13–16|2013<br />

Vernissage | Wednesday, June 12, 2013 | By invitation only<br />

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| W e l t b ü h n e<br />

Seelöwe im Politzirkus<br />

David Axelrod hat Barack Obama zum Präsidenten gemacht. Nun kommentiert er dessen Politik im Fernsehen<br />

von Christoph von Marschall<br />

N<br />

un ist er wieder ein Mann der<br />

Medien. So wie vor seinem langen<br />

Ausflug in die Politik. Die<br />

29 Jahre in der Politikberatung haben David<br />

Axelrod an Erfahrungen reicher gemacht<br />

und sein Bankkonto gefüllt. Er hat<br />

Berühmtheit erlangt als der Stratege, der<br />

Barack Obama zum ersten schwarzen Präsidenten<br />

machte.<br />

Die journalistische Unabhängigkeit<br />

aber, die Axelrod bis 1984 bei der Chicago<br />

Tribune genossen hatte, wird er nie<br />

wieder zurückerlangen. Wenn er jetzt mit<br />

58 Jahren als politischer Kommentator vor<br />

die Kameras der NBC-Senderfamilie tritt,<br />

wird er als Schönfärber wahrgenommen,<br />

der nun von einem TV-Konzern entlohnt<br />

wird und nicht mehr vom Weißen Haus,<br />

der aber quasi eine „I love Obama“-Tätowierung<br />

auf der Stirn trägt.<br />

Die Anstellung solcher „Pundits“ bei<br />

Fernsehsendern ist in Amerika nichts Ungewöhnliches.<br />

Jeder weiß, dass die Aufgabe<br />

dieser „Experten“ nicht die unabhängige Berichterstattung<br />

ist, sondern dass sie vielmehr<br />

Politik mit anderen Mitteln betreiben. Für<br />

die Republikaner besorgen das etwa Karl<br />

Rove auf Fox News und Alex Castellanos,<br />

der Bush und Romney diente, auf CNN.<br />

Für die Demokraten Bill Clintons Chefstratege<br />

James Carville auf CNN, Obamas Ex-<br />

Sprecher Robert Gibbs auf MSNBC und<br />

nun eben auch David Axelrod.<br />

Ein weiter Weg für jemanden, dessen<br />

beruflicher Werdegang als Student beim<br />

Hyde Park Herald in Chicago begann und<br />

seinen vorläufigen Höhepunkt in der Wahl<br />

Obamas zum Präsidenten fand. Auf den<br />

ersten Blick traute man Axelrod die Aggressivität<br />

eines Präsidenten-Machers kaum zu.<br />

Er reagiert bedächtig, redet langsam. Mit<br />

dem kräftigen Schnauzer und den dunklen,<br />

leicht melancholischen Augen erinnert<br />

er an einen Seelöwen. Als er seinen<br />

Arbeitsplatz 2009 ins Weiße Haus verlegte<br />

und sich für das erste Staatsbankett einen<br />

Frack zulegte, sah er aus, als habe er sich<br />

als Pinguin verkleidet. Das Umfeld eines<br />

Staatsoberhaupts war eine neue Welt für<br />

ihn. Nicht hingegen die Macht. Von der<br />

fühlte er sich früh angezogen.<br />

Amerika hat immer wieder gerätselt,<br />

was ihn antreibt. Eine Antwort hat Axelrod<br />

selbst gegeben: aufrichtiger Idealismus.<br />

Eine weitere Erklärung dürfte der Wunsch<br />

nach Kontrolle sein. Wie wehrlos man sein<br />

kann, hat Axelrod als Kind wie auch als<br />

junger Vater selbst erfahren. Seine Eltern<br />

lassen sich scheiden, als er acht ist. Sein<br />

Vater begeht Selbstmord, als er in Chicago<br />

studiert – er eilt nach New York, um die<br />

Leiche zu identifizieren. Auch dem Schicksal<br />

der eigenen Tochter steht der damals<br />

26-Jährige machtlos gegenüber. Sie ist erst<br />

wenige Monate alt, als bei ihr Epilepsie diagnostiziert<br />

wird. Jahre später wird Axelrod<br />

2012 seinen Schnauzer verwetten, um einer<br />

Spendenaktion für Epilepsieforschung<br />

zu helfen. Da ist er wieder in seinem Element<br />

– als Macher.<br />

Der Durchbruch als Politikberater kam<br />

1987, als Harold Washington, der erste<br />

schwarze Bürgermeister Chicagos, mit<br />

Axelrods Hilfe wiedergewählt wurde. Die<br />

Herausforderung dabei war weniger, die<br />

Republikaner auf Distanz zu halten. Chicago<br />

ist fest in der Hand der Demokraten.<br />

Es kam darauf an, eine Koalition aus afroamerikanischer<br />

Unterschicht, gebildeten<br />

schwarzen Aufsteigern und liberaler weißer<br />

Oberschicht zu schmieden, die sich<br />

gegen die gut organisierten Vertreter der<br />

weißen Arbeiterklasse und unteren Mittelschicht<br />

durchsetzt.<br />

Darin lag später auch seine Leistung<br />

für Obama, der 1991 mit dem Juraexamen<br />

aus Harvard nach Chicago zurückkam, den<br />

Einstieg in die Politik suchte, aber zunächst<br />

als arrogant und zu intellektuell galt. Nach<br />

einigen Jahren in der Landespolitik in Illinois<br />

bereitete Axelrod Obamas Sprung<br />

auf die nationale Bühne vor, 2004 als Senator,<br />

2008 als Präsidentschaftskandidat.<br />

Er verschaffte ihm das Doppelimage, ein<br />

moderner Kandidat des Wandels und zugleich<br />

traditionell genug zu sein, um bodenständige<br />

Schwarze nicht zu verlieren. Er<br />

öffnete ihm auch den Zugang zu weißen<br />

„Lakeshore Liberals“ – Millionärsfamilien<br />

mit großzügigen Häusern am Ufer des Michigan-Sees,<br />

die mit Spenden Wahlkämpfe<br />

finanzieren.<br />

In den Bush-Jahren, in denen Amerika<br />

unter Lagerspaltung litt, umgab Axelrod<br />

Obama mit einer Aura des Idealismus,<br />

der Versöhnung sowie der Heilung historischer<br />

Sünden wie Sklaverei und Rassentrennung.<br />

Zum Marketing gehörte neben<br />

„Hope“, „Change“ und „Yes, we can“ das<br />

Versprechen der Teilhabe. Nicht Obama<br />

sollte den Wandel bringen, sondern die<br />

Wähler, indem sie ihn unterstützen.<br />

Mit Obamas Sieg 2008 war Axelrod<br />

auf dem Höhepunkt seines Einflusses. Danach<br />

sank seine Macht, zunächst kaum<br />

sichtbar. 2009 war er noch im engsten<br />

Kreis um den Präsidenten zu sehen. Die<br />

Wahl 2008 hatte jedoch eine neue Dynamik<br />

eröffnet: Die technische Organisation<br />

über das Internet und die sozialen Medien<br />

lief der klassischen Strategie, die auf die<br />

Identifizierung der entscheidenden Themen<br />

und die besseren Slogans setzt, den<br />

Rang ab. Axelrod aber war der Guru der alten<br />

Ära, Internet-Zauberer David Plouffe<br />

wurde zum Wunderkind der neuen Zeit.<br />

Bei der Präsidentenwahl 2012 war Axelrod<br />

zwar noch mit an Bord, spielte aber nicht<br />

mehr eine so dominierende Rolle wie noch<br />

vier Jahre zuvor.<br />

Obama wird nie mehr zu einer Präsidentenwahl<br />

antreten, und Axelrod wird<br />

ihm nicht mehr den Steigbügel halten. Im<br />

Fernsehen aber und als Buchautor ist Axelrods<br />

Wort weiter viel Geld wert.<br />

Christoph von Marschall<br />

ist seit 2005 USA-Korrespondent.<br />

Von ihm erschien zuletzt „Der<br />

neue Obama. Was von der<br />

zweiten Amtszeit zu erwarten ist“<br />

Fotos: Jeff Sciortino, Privat (Autor)<br />

56 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Auf den ersten<br />

Blick traute man<br />

David Axelrod<br />

die Aggressivität<br />

eines Präsidenten-<br />

Machers kaum zu<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 57


| W e l t b ü h n e<br />

Kampferprobte<br />

Reporterin<br />

Erstmals steht eine Frau an der Spitze der französischen Tageszeitung Le Monde: Natalie Nougayrède<br />

von Sascha Lehnartz<br />

E<br />

s geschieht nicht allzu oft,<br />

dass eine Frau einen Führungsposten<br />

in einem Prestigeunternehmen<br />

ergattert – und sich dabei gegen<br />

drei renommierte männliche Konkurrenten<br />

durchsetzt. Besonders, wenn der selbstgewisse,<br />

breitbeinige Auftritt nicht zu den<br />

größten Talenten der Kandidatin zählt.<br />

Genau dies ist bei Frankreichs wichtigster<br />

Zeitung geschehen. Die drei Hauptanteilseigner<br />

von Le Monde – Pierre Bergé,<br />

der frühere Lebens- und Geschäftspartner<br />

des Modeschöpfers Yves Saint-Laurent,<br />

der Internetunternehmer Xavier Niel und<br />

der Investmentbanker Matthieu Pigasse –<br />

wählten Natalie Nougayrède als neue<br />

Direktorin des Referenzblatts aus. Anschließend<br />

wurde die 46-Jährige von den<br />

Vertretern der Gesellschaft der Redakteure<br />

mit 79,98 Prozent der Stimmen gewählt.<br />

Das Wahlergebnis lässt ahnen, wie viel<br />

Überzeugungsarbeit die Reporterin in zahllosen<br />

Gesprächen mit der Redaktion geleistet<br />

hat. Als ihr Name Ende Januar erstmals<br />

fiel, fragten selbst lang gediente Mitarbeiter<br />

der Monde, „Natalie Qui?“, Natalie, wer? –<br />

und googelten ihren Namen. Obwohl die<br />

preisgekrönte Journalistin bereits seit 1996<br />

bei der linksliberalen Zeitung arbeitet, war<br />

sie eine vergleichsweise unbekannte Größe.<br />

Das lag zum einen daran, dass Natalie Nougayrède<br />

die meiste Zeit als Korrespondentin<br />

in eher entlegenen Gegenden Osteuropas<br />

zugebracht hatte. Zum anderen pflegt<br />

sie noch einen zuweilen zu diskreten Auftritt.<br />

Nachdem ihre erste Präsentation vor<br />

den Hauptaktionären der Zeitung etwas<br />

dünn geriet, räumte sie selbstkritisch ein:<br />

„Meinen mündlichen Auftritt muss ich<br />

wohl noch verbessern.“<br />

Bevor sie sich für den Posten bewarb,<br />

hatten sich drei männliche Redaktionshaudegen<br />

– der Wirtschaftsjournalist<br />

Alain Faujas, der zeitweilige Chefredakteur<br />

Franck Nouchi, und der langjährige<br />

Deutschlandkorrespondent des Blattes,<br />

Arnaud Leparmentier, um den Chefposten<br />

beworben, der seit dem plötzlichen<br />

Tod des bisherigen Redaktionsleiters Érik<br />

Izraelewicz im vergangenen November vakant<br />

war.<br />

Die drei Hauptaktionäre vermochten<br />

sich jedoch nicht auf einen der ambitionierten<br />

Herren zu einigen. Pierre Bergé<br />

bevorzugte Franck Nouchi. Niel und Pigasse<br />

neigten eher zu Arnaud Leparmentier.<br />

„In ihren eigenen Firmen entscheidet<br />

jeder von den dreien alles allein. Dass andere<br />

eine andere Meinung haben, sind sie<br />

nicht gewohnt“, beschreibt ein Le Monde-<br />

Kenner das Dilemma der Besitzverhältnisse<br />

des Blattes.<br />

In dieser Situation kam den uneinigen<br />

Eigentümern die späte und überraschende<br />

Bewerbung von Natalie Nougayrède gerade<br />

recht.<br />

Die 1966 in Dijon geborene Spezialistin<br />

für Internationale Beziehungen studierte<br />

in Straßburg Politik und lernte ihr<br />

Handwerk am Pariser Centre de Formation<br />

des Journalistes. Als Tochter eines Ingenieurs<br />

wuchs sie teilweise in Großbritannien<br />

und Kanada auf. Sie spricht neben<br />

Französisch auch Englisch und Russisch.<br />

Während des Studiums entwickelte sie ein<br />

leidenschaftliches Interesse an Osteuropa.<br />

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ging<br />

sie 1991 in die Tschechoslowakei und berichtete<br />

von dort aus für die französische<br />

Tageszeitung Libération und für die BBC.<br />

Seit 1996 arbeitete sie zunächst als freie<br />

Mitarbeiterin für Le Monde, schrieb über<br />

den Kosovokrieg und die Ukraine, bevor<br />

sie schließlich Korrespondentin des Blattes<br />

in Moskau wurde. Vor allem durch<br />

ihre furchtlose Berichterstattung über den<br />

Tschetschenienkrieg machte sie sich einen<br />

Namen. 2005 erhielt sie den Prix Albert<br />

Londres, den renommiertesten französischen<br />

Reporterpreis, für eine Geschichte<br />

über das Geiseldrama von Beslan. Nach<br />

ihrer Rückkehr nach Paris wurde sie zur<br />

„diplomatischen Korrespondentin“ ihres<br />

Blattes. Durch ihre eher undiplomatischkritische<br />

Haltung zu Nicolas Sarkozys Außenminister<br />

Bernard Kouchner verscherzte<br />

sie es sich in dieser Funktion rasch mit dem<br />

Quai d’Orsay. Von der Jahreskonferenz der<br />

französischen Botschafter wurde sie 2008<br />

sogar hinauskomplimentiert.<br />

Natalie Nougayrède aber ist nicht leicht<br />

einzuschüchtern. „Man merkt, dass sie in<br />

Tschetschenien war“, sagen Kollegen, die<br />

sie mit ihrer Durchsetzungsfähigkeit beeindruckt<br />

hat. Diese könnte ihr noch von<br />

Nutzen sein, wenn es auf ihrem neuen Posten<br />

darum geht, die journalistischen Prinzipien<br />

der Redaktion gegen die Profitziele<br />

der Eigentümer zu verteidigen. Was sie<br />

auszeichnet, sind der Elan der Reporterin<br />

und ein beinah altmodischer journalistischer<br />

Stolz: „Wenn ich als normale Journalistin<br />

dieses Abenteuer wage, dann ist das<br />

auch eine starke Botschaft, die zeigt, dass<br />

das Unerwartete möglich ist“, sagt sie. Dass<br />

sie bislang keine Führungspositionen hatte,<br />

hält sie nicht für einen Nachteil. Sie sei<br />

schließlich Journalistin und gewohnt, sich<br />

in neue Felder einzuarbeiten.<br />

Das wird sie nun rasch müssen. Wie<br />

alle überregionalen französischen Tageszeitungen<br />

steckt auch Le Monde in einer Krise.<br />

Die Investoren erwarten von Nougayrède<br />

nichts Geringeres als ein Wunder: Sie soll<br />

mit einer ernst zu nehmenden Zeitung im<br />

digitalen Zeitalter Geld verdienen.<br />

Sascha Lehnartz<br />

ist Frankreichkorrespondent der<br />

Tageszeitung Die Welt<br />

Fotos: MIGUEL MEDINA/AFP/Getty Images, Privat (Autor)<br />

58 <strong>Cicero</strong> 5.2013


„Wenn ich<br />

als normale<br />

Journalistin<br />

dieses<br />

Abenteuer<br />

wage, dann<br />

zeigt das,<br />

dass das<br />

Unerwartete<br />

möglich ist“<br />

Natalie Nougayrède<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 59


| W e l t b ü h n e<br />

„Manchmal muss man den<br />

Bauch aufschneiden“<br />

Amadou Haya Sanogo putschte Malis Präsidenten weg und ist oberster Militär des Landes. Was hat er vor?<br />

C<br />

apitaine Sanogo, wie stürzt man<br />

eine Regierung in Afrika?<br />

Auf diese Frage gibt es keine eindeutige<br />

Antwort. Es ist zwar Hunderte<br />

Male geschehen, aber jedes Mal anders.<br />

Es hängt von der Situation, den Umständen<br />

und den Möglichkeiten ab.<br />

Wie haben Sie es gemacht?<br />

Das werde ich Ihnen vielleicht später einmal<br />

erzählen, aber noch ist es nicht zu<br />

Ende gebracht. Das Regime war krank,<br />

und ich habe ihm geholfen zu sterben.<br />

Im Grund war das sehr einfach. Ich<br />

habe Mali eine Chance gegeben, sich zu<br />

erneuern.<br />

Betrachten Sie es als das Recht der Armee,<br />

gegen die Regierung zu putschen?<br />

Ein Militärputsch ist niemals zu rechtfertigen.<br />

Aber im Fall Malis ist es wie mit<br />

der Arbeit eines Chirurgen. Manchmal<br />

muss man den Bauch aufschneiden, um<br />

den Patienten zu heilen. Das habe ich getan.<br />

Wenn man so will, war nicht ich es,<br />

der geputscht hat. Vielmehr war eine Situation<br />

entstanden, die es verlangte.<br />

Wie würden Sie diese Situation<br />

beschreiben?<br />

Ich begann, über einen Coup nachzudenken,<br />

als die Regierung bewaffnete<br />

Gruppen, die aus Libyen kamen, in unser<br />

Land gelassen hat. Es gab Minister,<br />

die haben diese Kämpfer auf unserem<br />

Territorium begrüßt. Das hätte niemals<br />

geschehen dürfen. Zur gleichen Zeit haben<br />

sie die Anführer unserer Armee bestohlen<br />

und geschwächt. Die Armee bekam<br />

so gut wie keine Ausrüstung, keine<br />

Fahrzeuge und keine Verpflegung. Der<br />

Sold wanderte in die Taschen korrupter<br />

Vorgesetzter. Als die Islamisten in den<br />

Norden einfielen, wurden Hunderte unserer<br />

Soldaten ohne Waffen und Munition<br />

im Stich gelassen. Das Geld, das<br />

für die Ausrüstung vorgesehen war, hatten<br />

korrupte Offiziere veruntreut. Jeder<br />

wusste davon.<br />

Wurde ein Soldat verwundet, der nicht<br />

aus einer wohlhabenden Familie stammt,<br />

dann wurde er nicht im Militärkrankenhaus<br />

versorgt. Gleichzeitig sind Kinder<br />

„Was wir nicht brauchen,<br />

sind Soldaten, die im Land<br />

herumsitzen und nichts tun“<br />

und Ehefrauen der Generäle auf Staatskosten<br />

zur medizinischen Behandlung in<br />

die USA oder nach Europa gereist. Manche<br />

Offiziere erhielten nach nur einer Woche<br />

Ausbildung das Kommando über eine Armee-Einheit<br />

– allein aufgrund von Vetternwirtschaft.<br />

Auf die Militärakademie kam<br />

man nur durch Beziehungen, nicht durch<br />

Qualifikation. Unter der gestürzten Regierung<br />

hatten wir nicht mehr die Armee, die<br />

dieses Land verdient.<br />

Was in Mali bisher geschah<br />

Unter der Führung von Capitaine Amadou Haya<br />

Sanogo marschieren am 21. März 2012 Soldaten<br />

in Malis Hauptstadt Bamako ein. Die Soldaten<br />

protestieren, weil sie ohne vernünftige Ausrüstung<br />

gegen viel stärkere Rebellen im Norden<br />

des Landes an die Front geschickt wurden.<br />

Schnell ist der Präsidentenpalast erobert und<br />

Präsident Amadou Toumani Touré geflohen.<br />

Islamisten und Tuareg-Rebellen nutzen das<br />

Chaos in der Hauptstadt, um den Norden des<br />

Landes unter ihre Kontrolle zu bringen. Die<br />

Tuareg-Rebellen, weil sie einen unabhängigen<br />

Staat anstreben, den sie am 6. April 2012<br />

auch ausrufen. Islamistische Gruppen, weil<br />

sie die Scharia, das strenge islamische Recht,<br />

durchsetzen wollen. Schnell werden aus<br />

Freunden Feinde: Die Islamisten vertreiben die<br />

Tuareg; ihr unabhängiger Staat ist Geschichte.<br />

Im Oktober 2012 einigen sich UN-Sicherheitsrat,<br />

die Westafrikanische Staatengemeinschaft<br />

Ecowas und die Afrikanische<br />

Union auf einen militärischen Einsatz „zum<br />

Erhalt der Einheit Malis“. Die französische<br />

Armee, Soldaten aus dem Tschad und<br />

Ecowas-Truppen drängen die Islamisten<br />

aus allen größeren Städten des Nordens und<br />

stoppen deren Vormarsch auf die Hauptstadt.<br />

Die Bundesrepublik stellt drei Transportflugzeuge<br />

zur Beförderung von Ecowas-Truppen<br />

aus den Nachbarstaaten nach Mali; mithilfe<br />

eines weiteren Flugzeugs werden französische<br />

Jets in der Luft betankt. Zudem beteiligt sich<br />

Deutschland seit April 2013 an der europäischen<br />

Ausbildungsmission: Der Bundestag<br />

hat die Entsendung von bis zu 330 Soldaten<br />

beschlossen. Sie sollen malische Soldaten<br />

schulen und Feldlazarette aufbauen.<br />

Der seit April 2012 amtierende Übergangspräsident<br />

Dioncounda Traoré bereitet derweil Wahlen<br />

vor. Am 7. Juli soll ein neuer Staatspräsident, am<br />

21. Juli ein neues Parlament gewählt werden. jh<br />

Foto: Martin Specht [M]<br />

60 <strong>Cicero</strong> 5.2013


In Amerika bestens<br />

geschult: Capitaine<br />

Amadou Haya Sanogo<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 61


| W e l t b ü h n e<br />

War es deshalb für die Rebellen so einfach,<br />

den Norden Malis zu erobern?<br />

Ja. In den Streitkräften gab es keine Ausrüstung,<br />

so gut wie keine Führung und<br />

keinerlei Motivation.<br />

Wie schätzen Sie die derzeitige Lage ein?<br />

Vieles ist jetzt in Bewegung geraten.<br />

Dank ausländischer Hilfe wurde der Norden<br />

zurückerobert. Aber wir müssen vorsichtig<br />

sein. Von meinen 24 Jahren in der<br />

Armee habe ich 13 im Norden verbracht,<br />

acht davon in Kidal. Es gibt heute kaum<br />

einen Soldaten in der Armee Malis, der<br />

länger im Norden war als ich. Ich kenne<br />

daher die Region aus eigener Anschauung<br />

sehr gut. Die Islamisten kämpfen einen<br />

anderen Krieg als moderne Armeen.<br />

Es geht ihnen nicht darum, eine Stadt<br />

wie Timbuktu einzunehmen. Das ist den<br />

Islamisten vollkommen egal. Wenn sie einen<br />

französischen oder westlichen Soldaten<br />

pro Woche töten, ist das für sie ein<br />

Erfolg. Tötet hingegen die französische<br />

Armee einen Terroristen pro Woche, ist<br />

das kein Erfolg.<br />

Es gibt Gerüchte, Sie seien gegen eine Intervention<br />

der französischen Streitkräfte<br />

gewesen?<br />

Das sind politisch motivierte Lügen mit<br />

dem Ziel, die Dinge zu komplizieren.<br />

Um die Situation im Norden zu klären,<br />

brauchen wir militärische Hilfe, brauchen<br />

wir Luftunterstützung, brauchen<br />

wir Ausbilder. Das Einzige, was wir nicht<br />

brauchen, sind Soldaten, die im Land herumsitzen<br />

und nichts tun. Das ergibt keinen<br />

Sinn.<br />

Bedeutet die französische Intervention<br />

nicht auch so etwas wie die Rückkehr der<br />

ehemaligen Kolonialmacht?<br />

Es ist nicht nur Frankreich. Es sind auch<br />

die USA, es sind Deutschland und viele<br />

andere, die uns militärisch helfen. Ich<br />

bin dafür, dass sie hierbleiben, solange sie<br />

gebraucht werden. Keine afrikanische Armee<br />

hätte den Norden ohne fremde Hilfe<br />

befreien können. Es ist für die malische<br />

Armee also keine Schande, zusammen<br />

mit ausländischen Truppen zu kämpfen.<br />

Wie beurteilen Sie die Präsenz der Truppen<br />

der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />

Ecowas?<br />

Die Soldaten aus dem Tschad kämpfen,<br />

während die Anwesenheit der Ecowas-Truppen<br />

eine Frage der Politik ist.<br />

Wenn ich ehrlich bin, weiß ich, dass wir<br />

es ohne die französischen Truppen nicht<br />

schaffen können.<br />

Deutschland hat nun Militärberater und<br />

Ausbilder nach Mali entsandt. Was halten<br />

Sie davon?<br />

Viel. Ich selbst bin in den USA ausgebildet<br />

worden. Daher weiß ich, wie wichtig<br />

„Für mich ist jeder, der sich<br />

mit den Islamisten verbündet,<br />

ein Terrorist“<br />

diese Kooperation ist. Mein größtes Interesse<br />

ist, dass Mali eine starke und professionelle<br />

Armee bekommt. Wenn also<br />

Ausbilder aus Deutschland, aus Frankreich,<br />

aus den USA zu uns kommen, begrüßen<br />

wir diese Hilfe. Wir können sie<br />

brauchen, um die Armee aufzubauen.<br />

Kann der Konflikt über die Grenzen Malis<br />

hinaus die Region destabilisieren? Könnte<br />

das, was in Mali geschehen ist, sich etwa<br />

auch im Niger ereignen?<br />

Vor der französischen Intervention war<br />

die Gefahr, dass sich der Konflikt auf die<br />

Nachbarländer ausbreitet, groß. Danach<br />

haben sich die Dinge geändert. Jedenfalls<br />

wird es stabil bleiben, solange die Militäroperation<br />

andauert. Ich gehe davon aus,<br />

dass es im Niger Schläfer beziehungsweise<br />

Zellen gibt, die darauf warten, auch<br />

dort die Lage zu destabilisieren.<br />

Besteht für Sie ein Unterschied zwischen<br />

den Tuareg, die Autonomie fordern, und<br />

den Islamisten, die einen religiösen Staat<br />

errichten wollen?<br />

Die Tuareg, die sich mit den Islamisten<br />

zusammentun, selbst wenn sie unterschiedliche<br />

Ziele verfolgen, sind für<br />

mich Terroristen. Für mich ist jeder, der<br />

sich mit den Islamisten verbündet, ein<br />

Terrorist.<br />

Ist Mali nicht eigentlich ein geteiltes Land,<br />

mit den Tuareg im Norden und den Bambara<br />

im Süden?<br />

Nein, überhaupt nicht. Es gab zwar immer<br />

wieder Unruhen – 1968, 1989 und<br />

1991 –, aber anschließend haben die Bevölkerungsgruppen<br />

wieder zueinandergefunden.<br />

Es gibt viele Tuareg, die im Süden<br />

leben, und wie gesagt, ich selbst habe<br />

lange im Norden gelebt.<br />

Wenn alles so harmonisch ist, warum<br />

kommt es dann immer wieder zu<br />

Aufständen?<br />

Darauf bekommen Sie von mir keine<br />

Antwort. Fragen Sie jemand anderen<br />

außerhalb Malis. Die Aufständischen<br />

kämpfen mit Waffen und Geld aus dem<br />

Ausland. Dort müssen Sie diese Fragen<br />

stellen.<br />

Was erwarten Sie von den Wahlen im<br />

Juli? Können die angesichts der angespannten<br />

Situation im Norden überhaupt<br />

stattfinden?<br />

Sicher können sie das. Nicht der Norden<br />

Malis, sondern Bamako ist wichtig<br />

für die Wahlen. Ich hoffe, das Land bekommt<br />

den Präsidenten, den es verdient.<br />

Er sollte im nationalen Interesse Malis<br />

denken und handeln.<br />

Werden Sie jeden gewählten Präsidenten<br />

akzeptieren?<br />

Ja. Ich erwarte eine freie und faire Wahl<br />

ohne Einmischung von außen. Ich hoffe,<br />

das wird möglich sein. Ich selbst bin kein<br />

Politiker. Hätte ich ein politisches Amt<br />

haben wollen, so hätte ich es nach dem<br />

Coup haben können. Als Offizier habe<br />

ich einen Eid geschworen, dieses Land<br />

zu beschützen. Ohne die Armee gibt es<br />

keine Demokratie in Mali.<br />

Das Gespräch führte Martin Specht<br />

62 <strong>Cicero</strong> 5.2013


welt.de/digital<br />

Die Welt gehört denen,<br />

die mutig genug sind,<br />

sie zu verändern.


| W e l t b ü h n e | G r o S S b r i t a n n i e n u n d E u r o p a<br />

Ein bisschen europa<br />

darf’s schon sein<br />

64 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Foto: Martin Parr/Magnum Photos/Agentur Focus<br />

Griechenland kämpft ums Überleben, Zypern droht die<br />

Staatspleite, Italien hat keine handlungsfähige Regierung.<br />

Wie hält es Großbritannien in diesen Zeiten mit der EU?<br />

von Sebastian Borger<br />

A<br />

ndrea Leadsom fröstelt. Eingemummt<br />

in Wintermantel<br />

und Schal sitzt die konservative<br />

Unterhausabgeordnete im Atrium<br />

von Portcullis House und<br />

nippt an ihrem Kaffee. Dem Verwaltungsgebäude<br />

des britischen Parlaments soll eine<br />

Gruppe wohlgepflegter Feigenbäume ein<br />

wenig mediterranes Flair verleihen. Doch<br />

draußen wehen die kalten Nordostwinde<br />

aus Skandinavien. Vom Kontinent kommt<br />

in diesem Frühjahr keine Wärme.<br />

Immerhin befeuert das Projekt Europa<br />

Leadsoms politische Fantasie. Sie ist Sprecherin<br />

einer informellen Fraktionsgruppe<br />

mit dem programmatischen Namen Fresh<br />

Start. Die EU, sagt die Konservative und<br />

lächelt freundlich, sei „eine großartige Gelegenheit<br />

zur Kooperation zwischen demokratischen<br />

Nationen, um als Block im<br />

globalen Wettbewerb zu bestehen“. Nur<br />

mache Brüssel viel zu viel falsch, es gebe<br />

erheblichen Reformbedarf, es sei nichts weniger<br />

nötig als ein Neustart. Dann zählt sie<br />

auf: zu wenig Hilfe für die Dienstleistungsbranche,<br />

zu viele Vorschriften für den Finanzsektor,<br />

überflüssige Arbeitsschutzgesetze,<br />

die Verrücktheiten der gemeinsamen<br />

Agrarpolitik. Und, und, und.<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 65


| W e l t b ü h n e | G r o S S b r i t a n n i e n u n d E u r o p a<br />

„Wir haben<br />

keine<br />

geheime<br />

Agenda,<br />

streben nicht<br />

den Austritt<br />

an. Der<br />

wäre eine<br />

Katastrophe<br />

für unsere<br />

Wirtschaft“<br />

Andrea Leadsom, Sprecherin von Fresh Start<br />

Redet die Sprecherin von etwa einem<br />

Drittel ihrer 304-köpfigen Fraktion wirklich<br />

von nötigen Reformen? Oder wird hier<br />

der Boden für Großbritanniens Austritt aus<br />

dem ungeliebten Brüsseler Club bereitet?<br />

Da kommt Bewegung in die Abgeordnete,<br />

ihr Lächeln verschwindet, jetzt fröstelt<br />

nur noch die Stimme. „Das ist schlicht<br />

und einfach falsch. Wir haben keine geheime<br />

Agenda, streben nicht den Austritt<br />

an. Der wäre eine Katastrophe für unsere<br />

Wirtschaft. Wir wollen erreichen, dass die<br />

EU sich global engagiert, den Freihandel<br />

befördert und gleichzeitig viele der wirklich<br />

dummen, ungewollten Auswirkungen früherer<br />

Beschlüsse revidiert.“<br />

Dazu hat Fresh Start im Juli nach einjähriger<br />

Vorbereitung ein detailliertes Papier<br />

von 260 Seiten vorgelegt. Ein Manifest<br />

von immer noch 40 Seiten fasste im<br />

Januar die wichtigsten Vorschläge zusammen,<br />

das Vorwort schrieb Außenminister<br />

William Hague. Dient Fresh Start also<br />

als Sprachrohr des konservativen Teils von<br />

David Camerons Koalitionsregierung?<br />

Auch diesmal hat Leadsom eine robuste<br />

Antwort parat. „Noch so ein Vorwurf, der<br />

uns gern gemacht wird. Wir sind eine unabhängige<br />

Gruppe und wollen keineswegs<br />

im Namen der Regierung die Diskussion<br />

abwürgen.“<br />

Das wäre allerdings überraschend.<br />

Seit ihre Partei bei der Unterhauswahl im<br />

Mai 2010 die absolute Mehrheit der Mandate<br />

verfehlte und mit den ungeliebten Liberaldemokraten<br />

koalieren musste, treiben<br />

die Europaskeptiker in unterschiedlichen<br />

Formationen ihren Parteichef in die Enge.<br />

Die parteiinterne Diskussion nimmt kein<br />

Ende. Bei Fresh Start gibt man sich Cameron<br />

gegenüber loyal. Doch Leadsoms<br />

Gruppe lässt auch keinen Zweifel an der<br />

Dringlichkeit, mit der die Insel dem 27er-<br />

Club Reformen abverlangen soll: „Der Status<br />

quo ist keine Option.“<br />

Weil der genervte Regierungschef das<br />

im Grunde genauso sieht, hat er im Januar<br />

die alte Forderung nach Reformen in Europa<br />

mit einem Versprechen verknüpft.<br />

Wenn die Briten sich bei der nächsten<br />

Wahl 2015 für eine konservative Alleinregierung<br />

entscheiden, dürfen sie 2017 über<br />

ihren Verbleib in der Europäischen Union<br />

abstimmen. Bis dahin wird nicht nur die<br />

amtierende Regierung ihre Analyse veröffentlichen,<br />

welche Kompetenzen die Briten<br />

aus Brüssel zurückhaben wollen. Cameron<br />

will die kommenden vier Jahre auch dazu<br />

nutzen, bei den Verbündeten um Sympathien<br />

zu werben.<br />

Es ist die vorläufig letzte Runde im endlos<br />

scheinenden Ringkampf um Großbritanniens<br />

Position im europäischen Einigungsprozess.<br />

Der Tod Margaret Thatchers<br />

hat in Erinnerung gerufen, welchen Wandel<br />

die eiserne Lady selbst ebenso wie ihr<br />

Land und ihre Partei in Bezug auf Brüssel<br />

vollzogen haben. Da ist zunächst jener Auftritt,<br />

bei dem die damalige Oppositionsführerin<br />

einen Pullover mit den Nationalflaggen<br />

der damals neun EU-Mitgliedstaaten<br />

trug und, wie alle wichtigen gesellschaftlichen<br />

Gruppen sowie die meisten Medien,<br />

für Großbritanniens Ja im Referendum<br />

1975 warb. Ihr unerbittliches Eintreten<br />

für die Reduzierung des überhöhten britischen<br />

Beitrags („I want my money back“).<br />

Die erbitterte Gegenwehr gegen die deutsche<br />

Wiedervereinigung und die Europäische<br />

Währungsunion. Zuletzt – da war die<br />

eiserne Lady schon im Ruhestand – der<br />

Wandel von der harten, pragmatischen Verantwortungsethikerin<br />

in eine Propagandistin<br />

des englischen Nationalismus.<br />

Maurice Fraser hat Thatchers letzte<br />

Amtsjahre aus der Nähe erlebt, schließlich<br />

diente er von 1989 bis 1995 drei Tory-Außenministern<br />

als Sonderberater. Im Jahr<br />

des Mauerfalls war dies zunächst Geoffrey<br />

Howe. Der langjährige Weggefährte Margaret<br />

Thatchers sollte im November 1990<br />

wegen deren immer schrilleren Anti-Europarhetorik<br />

den Sturz der eisernen Lady<br />

einläuten. Dann war drei Monate lang<br />

der spätere Premierminister John Major<br />

Frasers Boss. Schließlich erlebte er knapp<br />

sechs Jahre lang an der Seite von Douglas<br />

Hurd die Neuorientierung des europäischen<br />

Kontinents. Wie Fraser jetzt die<br />

Position seines Landes sieht, da er an der<br />

weltberühmten London School of Economics<br />

(LSE) lehrt?<br />

Fraser nimmt sich Zeit, bevor er antwortet.<br />

Draußen dämmert es, wieder einer dieser<br />

kühlen Frühlingstage. Drinnen, im Wohnzimmer,<br />

verbreitet ein zotteliger Hund frischen<br />

Park- und Schweißgeruch. Der Europakenner<br />

lebt in Notting Hill, jenem<br />

Viertel, das der gleichnamige Film mit Julia<br />

Roberts und Hugh Grant weltberühmt<br />

gemacht hat. Eine transatlantische Romanze<br />

wollen die Briten immer aufs Neue<br />

Foto: Horst Friedrichs für <strong>Cicero</strong><br />

66 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Foto: Horst Friedrichs für <strong>Cicero</strong><br />

erleben, fast rührend pochen sie auf ihre<br />

„special relationship“ mit Washington. Europa<br />

hingegen ist eine mühsam ertragene<br />

Pflichtehe. „Wir sehen Brüssel als Mittel<br />

zum Zweck“, sagt Fraser. „Wir schauen uns<br />

die Themen im kalten Tageslicht an, große<br />

Visionen sind nicht unsere Sache.“ Über<br />

Jahrzehnte hinweg hätten die Befürworter<br />

des gemeinsamen Europa ihre Pflicht sträflich<br />

vernachlässigt, den Briten die Vorteile<br />

ihrer Mitgliedschaft zu erläutern. Dass Europa<br />

auch mit gemeinsamer Herkunft und<br />

Kultur, Vergangenheit und Zukunft zu tun<br />

hat, wird auf der Insel überhaupt nicht thematisiert.<br />

„Der Letzte, der darüber in emotional<br />

anrührender Weise sprechen konnte,<br />

war Winston Churchill.“<br />

Das Staatsbegräbnis des legendären<br />

Kriegspremiers ist 48 Jahre her. Wer sich<br />

daran erinnern kann, gehört zur Minderheit<br />

des Landes, die 1975 über die EU-<br />

Mitgliedschaft abstimmen durfte. Die Umfragen<br />

prophezeiten damals ein Nein, am<br />

Ende stimmten zwei Drittel der Briten für<br />

ihren Verbleib. Heutzutage verhalte es sich<br />

mit den Briten und Europa etwa so, doziert<br />

Frasers LSE-Kollege Patrick Dunleavy:<br />

„Ungefähr ein Fünftel bis ein Viertel will<br />

lieber heute als morgen raus aus der EU.<br />

Ungefähr ein Fünftel findet Brüssel gut.<br />

Der große Rest denkt nicht viel darüber<br />

nach, ist aber instinktiv dagegen.“<br />

Was der Politikprofessor halb scherzhaft<br />

auf einen knappen Nenner bringt, bewertet<br />

Charles Grant ganz ähnlich: Seine<br />

Landsleute würden sich nicht viel aus<br />

der EU machen, die Diskussion über das<br />

schwierige Thema bleibt der Elite vorbehalten<br />

– und den rabiaten Boulevardblättern.<br />

Dass der Brüsseler Apparat sich erneuern<br />

muss, ist in Großbritannien ein<br />

solcher Allgemeinplatz, dass Grant schon<br />

1996 an der Gründung des Thinktanks<br />

Zentrum für Europareformen (CER) beteiligt<br />

war. 15 Jahre amtiert er nun als Direktor,<br />

hat von seinen Büroräumen mit Blick<br />

auf den Garten der feinen Privatschule<br />

Westminster aus die Reformbemühungen<br />

diverser Premierminister verfolgt. Cameron<br />

und dessen Hinterbänkler betrachtet<br />

Grant voller Argwohn. „Fresh Start, na ja,<br />

die geben sich sehr vernünftig und moderat.<br />

Aber sie reden immer von der Neuverhandlung<br />

europäischer Verträge. Das ist<br />

völlig unrealistisch. Das wollen weder die<br />

Franzosen noch die Deutschen.“<br />

Grant ist gerade aus <strong>Berlin</strong> zurückgekommen.<br />

In den Nuancen deutscher Europapolitik<br />

kennt er sich aus. Überhaupt<br />

kommt ganz schnell auf Deutschland zu<br />

sprechen, wer in London nach der Zukunft<br />

Europas fragt. Mit dem untrüglichen Gespür<br />

der Briten für Machtverhältnisse hat<br />

sich die Aufmerksamkeit von Paris und<br />

Brüssel auf die deutsche Hauptstadt verlagert.<br />

Genauer gesagt: auf die beiden Standorte,<br />

in denen derzeit europäische Politik<br />

entschieden wird, sagt Mats Persson vom<br />

Thinktank Open Europe. „Im Moment<br />

gibt es zwei Hauptstädte in Europa: <strong>Berlin</strong><br />

und Frankfurt. Was Deutschland beschließt,<br />

wird gemacht.“<br />

Schon schreiben nationalistische Kolumnisten<br />

wie Simon Heffer von der Daily<br />

Mail wieder vom „Vierten Reich“ – ein zu<br />

Zeiten der Wiedervereinigung gern an die<br />

Wand gemaltes Menetekel, das zwischendurch<br />

deutlich verblasst war. Diesen März<br />

erschreckte das linke Magazin New Statesman,<br />

das in diesem Jahr 100. Geburtstag<br />

feiert, seine Leser mit einer ähnlich anmutenden<br />

Titelseite. Da prangten Bismarck,<br />

Hitler, Kohl und Angela Merkel unter der<br />

düsteren Zeile „The German problem“.<br />

Nach dem Motto: Hitler verkauft sich<br />

immer?<br />

Dabei hat der derart reißerisch angekündigte<br />

Artikel des angesehenen Geschichtsprofessors<br />

Brendan Simms mit<br />

Hitler wenig zu tun, mit der suggerierten<br />

Verbindung zwischen ihm und der Kanzlerin<br />

überhaupt nichts. Ganz sachlich referiert<br />

Simms die „mehr als 600 Jahre alte<br />

Frage“ nach Deutschlands Platz in Europa –<br />

vom strategischen Vakuum des Spätmittelalters<br />

über Reformation und Dreißigjährigen<br />

Krieg bis hin zur Wiedervereinigung.<br />

400 Jahrhunderte lang sei das Land in der<br />

Mitte Europas zu schwach gewesen, resümiert<br />

der Historiker. „Heute ist Deutschland<br />

sowohl zu stark wie zu schwach,<br />

jedenfalls zu ungebunden.“ In der Tageszeitung<br />

The Guardian wurde das Problem<br />

kurz darauf in Frageform aufgeworfen: „Ist<br />

Deutschland zu mächtig für Europa?“ Antwort:<br />

Na ja, irgendwie schon, aber nicht<br />

so richtig.<br />

Die Macht deutscher Korrespondenten in<br />

London jedenfalls bleibt bis auf Weiteres<br />

eng begrenzt. Ob an der Regierung (1997<br />

bis 2010) oder wie zurzeit in der Opposition<br />

– die Europapolitischen Sprecher der<br />

„Wir sehen<br />

Brüssel als<br />

Mittel zum<br />

Zweck. Wir<br />

schauen uns<br />

die Themen<br />

im kalten<br />

Tageslicht<br />

an, große<br />

Visionen sind<br />

nicht unsere<br />

Sache“<br />

Maurice Fraser, London School of Economics<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 67


| W e l t b ü h n e | G r o S S b r i t a n n i e n u n d E u r o p a<br />

„Ich will<br />

nur nicht<br />

von Brüssel<br />

regiert<br />

werden. Wir<br />

halten den<br />

Nationalstaat<br />

für die<br />

richtige<br />

Einheit. Das<br />

schließt eine<br />

Kooperation<br />

mit anderen<br />

Europäern<br />

nicht aus“<br />

Harry Aldridge, UK Independence Party<br />

Labour-Party zu einem Gespräch zu bewegen,<br />

ist stets ein Ding der Unmöglichkeit.<br />

Vereinbarte Termine kommen doch nicht<br />

zustande, zugesagte Anrufe bleiben aus. Es<br />

scheint so zu sein, wie Thinktanker Persson<br />

vermutet: „Labour will möglichst wenig<br />

über Europa reden.“<br />

Da ist sie wieder, die Taktik aus den<br />

Regierungsjahren nach Tony Blairs überragenden<br />

Siegen von 1997 und 2001.<br />

Damals entzückte der Premier die Verbündeten<br />

vom Kontinent gelegentlich<br />

mit EU-freundlichen Reden, zu Hause<br />

herrschte Schweigen. In das Vakuum stießen<br />

die europafeindlichen Tageszeitungen,<br />

die Amerikanern wie Rupert Murdoch<br />

(Sun, Times) oder Steuerflüchtlingen wie<br />

den Barclay-Brüdern (Telegraph) gehören.<br />

Murdochs Lieblingskolumnist Trevor Kavanagh<br />

träufelt den Sun-Lesern seit Jahren<br />

das Gift der Euro-Paranoia ins Ohr: Die<br />

Europäische Union werde von „Mafia-Tyrannen“<br />

geleitet.<br />

So sei das eben, sagt Ulrich Storck:<br />

„Da wird den Stimmungsmachern gegen<br />

die EU der Raum überlassen.“ Storck leitet<br />

seit vergangenem Jahr das Büro der<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung in Sichtweite des<br />

Britischen Museums. Er hat also schon<br />

von Amts wegen viel Kontakt mit Labour-<br />

Leuten. In der Schlange beim Italiener um<br />

die Ecke – wenigstens die europäische Küche<br />

findet bei den kulinarisch darbenden<br />

Engländern Anklang – kommt der deutsche<br />

Beobachter schnell auf Camerons<br />

Volksabstimmung und deren Folgen für<br />

seine Partnerpartei zu sprechen. „Er hat<br />

sich als europäischer Erneuerer dargestellt<br />

und damit Labour in die Ecke des Stillstands<br />

gedrängt“, analysiert Storck. Dass<br />

Labour-Chef Edward Miliband erklärtermaßen<br />

das Referendum verweigern will,<br />

werde dieser im Vorfeld der nächsten<br />

Wahl kaum durchhalten können. Mats<br />

Persson von Open Europe sagt es drastischer:<br />

„Das Thema wird Labour wie eine<br />

Dampfwalze überrollen.“<br />

Nicht, dass der Schwede darüber glücklich<br />

ist. Ganz unbescheiden billigt er sich<br />

„einigen Einfluss“ auf Camerons Europarede<br />

zu, drei Vierteln von deren Inhalt<br />

könne er voll zustimmen. Nur das Versprechen<br />

eines Referendums über Großbritanniens<br />

EU-Mitgliedschaft hält er für<br />

falsch. „Wenn die Leute mit Ja stimmen,<br />

haben wir weiterhin den Status quo“, argumentiert<br />

Persson. „Wenn die Antwort<br />

Nein lautet – was passiert dann am Tag danach?“<br />

Darauf gebe niemand eine zufriedenstellende<br />

Antwort.<br />

Persson hat sein Büro im Dunstkreis<br />

der Westminster Abbey. Auf engstem<br />

Raum sitzen seine Mitarbeiter in einem<br />

schäbigen Büro unterm Dach, im Besprechungszimmer<br />

des Direktors wackelt jeder<br />

zweite Stuhl beängstigend. Dass seine<br />

Mitarbeiter aus mehreren europäischen<br />

Ländern kommen und Briten im Team<br />

in der Minderheit sind, sieht der Chef als<br />

Symbol. „Wir sind gute Europäer.“ Aber<br />

er identifiziert sich auch mit der Skepsis<br />

seiner schwedischen Heimat gegenüber<br />

grandiosen Luftschlössern. „Wir wollen<br />

kreativ über Europa nachdenken, konstruktive<br />

Kritik üben, auch die Vorteile<br />

benennen.“<br />

So viel Einfluss Open Europe auch ausübt<br />

auf Torys wie Cameron oder Andrea Leadsom<br />

– genau hier endet die Gemeinsamkeit.<br />

Positives über den Brüsseler Club bleibt auf<br />

Tory-Seite Mangelware. Beim Regierungschef<br />

und seiner Partei wächst die Angst vor<br />

einer neuen politischen Kraft auf der politischen<br />

Rechten. Die Nationalpopulisten<br />

von UK Independence Party (Ukip) unter<br />

dem früheren Tory Nigel Farage propagieren<br />

den Austritt aus der EU sowie harte<br />

Einwanderungsbeschränkungen. Bei Umfragen<br />

erzielen sie damit inzwischen kontinuierlich<br />

zweistellige Ergebnisse – 2010<br />

waren es nur 3 Prozent. Das ist kurz vor<br />

der Kommunalwahl in England und gut<br />

ein Jahr vor der nächsten Europawahl alarmierend,<br />

weshalb es in Camerons Parlamentsfraktion<br />

heftig brodelt. Dabei wirkt<br />

das Ukip-Programm „wie die Notizen von<br />

einem Thekengespräch im Vorstadt-Golfclub“,<br />

höhnt der Times-Kolumnist David<br />

Aaronovitch: weniger Steuern, Einwanderungsstopp,<br />

höhere Rüstungsausgaben,<br />

Nein zur Homo‐Ehe. Deutlich konservativer<br />

als die Konservativen also, dazu fiskalisch<br />

inkonsistent, wie es sich für Parteien<br />

gehört, die von der Macht nicht einmal<br />

träumen. Oder etwa doch?<br />

„Politik hat mit Einfluss zu tun“, sagt<br />

Harry Aldridge und lacht. „Euroskeptiker<br />

wie Leadsom haben die Europadiskussion<br />

in unserem Sinne angeschoben. Sie<br />

sind unsere Einflussagenten in der Konservativen<br />

Partei.“ Der 26-Jährige verdient<br />

sein Geld mit einem kleinen Import-Export-Geschäft<br />

und engagiert sich seit neun<br />

Fotos: Horst Friedrichs für <strong>Cicero</strong>, Privat (Autor)<br />

68 <strong>Cicero</strong> 5.2013


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<strong>Cicero</strong> Probe lesen<br />

Jahren bei Ukip, war sogar Vorsitzender der<br />

Jugendorganisation. Wir treffen uns am<br />

Bahnhof Waterloo, benannt nach der erfolgreichen<br />

Zusammenarbeit britischer mit<br />

preußischen Truppen gegen Frankreichs<br />

Vorherrschaft auf dem Kontinent, und gehen<br />

Pizza essen. Schließlich hat Aldridge<br />

nichts gegen Europa, wie er versichert. „Ich<br />

will nur nicht von Brüssel regiert werden.<br />

Wir halten den Nationalstaat für die richtige<br />

Einheit. Das schließt eine Kooperation<br />

mit anderen Europäern nicht aus.“<br />

Kein Zweifel: Mit solch maßvoll klingenden<br />

Parolen hat Ukip die britische Europapolitik<br />

verändert. Neuerdings darf<br />

Parteichef Farage sogar am Tisch des Medienzaren<br />

Murdoch speisen. Wie der von<br />

beiden angestrebte „Brixit“ (Austritt Großbritanniens<br />

aus der EU, Anmerkung der<br />

Redaktion) ablaufen soll, weiß niemand.<br />

Aber es träumt sich so schön davon.<br />

„Enorme Kosten“ werde es verursachen,<br />

sagt einer, dessen Job nüchterne<br />

Zahlen sind statt hochfliegender Träume.<br />

Der unabhängige Unternehmensberater<br />

Howard Wheeldon hat vier Jahrzehnte<br />

in der City of London gearbeitet, dem<br />

wichtigsten internationalen Finanzplatz<br />

der Welt. Dort sei tiefe Skepsis bis hin<br />

zu offener Feindschaft gegenüber der EU<br />

„weitverbreitet“, sagt Wheeldon. Er selbst<br />

klingt wie Andrea Leadsom, die streitbare<br />

Konservative. Die gemeinsame Agrarpolitik<br />

sei „nicht hilfreich“, die Sozialcharta<br />

mit ihren Beschränkungen für Arbeitszeiten<br />

„völliger Unsinn“, der dauernde Umzug<br />

des EU-Parlaments zwischen Brüssel<br />

und Straßburg „ein einziger Zirkus“. Vor<br />

allem aber, findet der Ökonom, „muss es<br />

uns möglich sein, die Zuwanderung aus<br />

neuen EU-Ländern zu begrenzen. Hier ist<br />

kein Platz mehr.“<br />

Da bleiben keine Fragen offen. Bei der<br />

bevorstehenden Volksabstimmung votiert<br />

Wheeldon doch gewiss gegen die EU?<br />

Weit gefehlt. Die Ungewissheit, die Kosten<br />

schrecken diesen Engländer ab. „Ich<br />

würde für unseren Verbleib stimmen. Aber<br />

die Entscheidung fällt knapp aus.“<br />

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Sebastian Borger<br />

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| W e l t b ü h n e | D e r P a p s t u n d d a s K a p i t a l<br />

Opiate sind keine Lösung<br />

Die weltlichen Ideologien haben versagt. Weder Kommunismus noch Kapitalismus<br />

können den Weg aus der Krise weisen. Gelebtes Christentum aber schon<br />

von Papst Franziskus<br />

in der immanenten Vorstellung des<br />

kommunistischen Systems lähmt alles,<br />

was über das Diesseits hinausgeht<br />

und eine Hoffnung im Jenseits markiert,<br />

die Tätigkeit im Hier. Da es den<br />

Menschen lähmt, ist es folglich ein Opium,<br />

das ihn konformistisch macht, ihn aushalten<br />

lässt und vom Fortschritt abhält. Aber<br />

diese Vorstellung ist nicht nur dem kommunistischen<br />

System zu eigen. Das kapitalistische<br />

System hat ebenfalls seine geistige<br />

Perversion: die Religion zähmen zu wollen.<br />

Es zähmt sie, damit sie nicht zu sehr stört,<br />

es verweltlicht sie. Eine gewisse Transzendenz<br />

darf sein, aber nur ein bisschen.<br />

Für den religiösen Menschen bedeutet<br />

ein Akt der Anbetung Gottes, sich seinem<br />

Willen, seiner Gerechtigkeit, seinem<br />

Gesetz und seiner prophetischen Inspiration<br />

zu unterwerfen. Für den Weltmenschen<br />

hingegen, der die Religion manipuliert,<br />

ist dieser Akt völlig belanglos. In etwa<br />

wie: „Benimm dich gut, begeh’ ein paar<br />

Untaten, aber nicht zu viele.“ Das wären<br />

gute Umgangsformen und schlechte Angewohnheiten:<br />

eine Zivilisation des Konsumdenkens,<br />

des Hedonismus, der politischen<br />

Vetternwirtschaft, die Herrschaft des Geldes.<br />

Das sind alles Ausdrucksformen der<br />

Weltlichkeit.<br />

Das Christentum verurteilt mit derselben<br />

Stärke den Kommunismus wie den ungezähmten<br />

Kapitalismus. Es gibt Privateigentum,<br />

aber mit der Verpflichtung, es in<br />

gerechten Parametern gesellschaftlich zugänglich<br />

zu machen. Ein klares Beispiel für<br />

das, was vor sich geht, ist die Geldflucht ins<br />

Ausland. Auch das Geld hat ein Vaterland,<br />

und wer eine Industrie im Land betreibt<br />

und das Geld mitnimmt, um es außerhalb<br />

des Landes zu horten, der sündigt. Denn er<br />

ehrt mit diesem Geld nicht das Land, das<br />

ihm den Reichtum gibt, und auch nicht<br />

das Volk, das arbeitet, um diesen Reichtum<br />

hervorzubringen.<br />

In beiden antagonistischen Systemen<br />

gibt es die Vorstellung vom Opium, beim<br />

kommunistischen, weil es möchte, dass<br />

alle Arbeit dem Fortschritt des Menschen<br />

dient, eine Auffassung, die sich schon bei<br />

Eine Religion<br />

braucht Geld,<br />

um ihre<br />

Tätigkeiten<br />

auszuführen<br />

Nietzsche findet. Und beim kapitalistischen,<br />

weil es eine Art gezähmter Transzendenz<br />

toleriert, die sich im weltlichen<br />

Geist ausdrückt.<br />

Ein Prediger aus den ersten Jahrhunderten<br />

des Christentums sagte, hinter jedem<br />

großen Vermögen verberge sich ein<br />

Verbrechen. Ich glaube nicht, dass das immer<br />

wahr ist. Wir haben das siebte Gebot:<br />

Du sollst nicht stehlen. Mancher hat unredlich<br />

erworbenes Geld und möchte es<br />

mit einem wohltätigen Werk gewissermaßen<br />

zurückerstatten. Ich akzeptiere nie eine<br />

Rückerstattung, sofern es keine Verhaltensänderung<br />

gibt, eine erkennbare Reue. Sonst<br />

wäscht derjenige sein Gewissen rein, aber<br />

danach geht das Spielchen weiter.<br />

Ein religiöses Oberhaupt wurde einmal<br />

beschuldigt, Geld aus dem Drogenhandel<br />

zu empfangen; er sagte dazu, er setze das<br />

Geld für gute Zwecke ein und frage nicht,<br />

woher es komme. Das ist schlecht. Blutbeflecktes<br />

Geld kann man nicht annehmen.<br />

Die Beziehung zwischen Religion<br />

und Geld ist nie einfach gewesen. Es ist<br />

immer die Rede vom Gold des Vatikans,<br />

aber das ist ein Museum. Man muss auch<br />

zwischen dem Museum und der Religion<br />

unterscheiden. Eine Religion braucht Geld,<br />

um ihre Tätigkeiten auszuführen, und das<br />

macht man mittels Bankinstituten, daran<br />

ist nichts unzulässig. Die Frage ist, wie man<br />

das Geld nutzt, das man in Form von Zuwendungen<br />

oder als Unterstützung erhält.<br />

Die Bilanz des Vatikans ist öffentlich, sie<br />

ist immer im Defizit: Was durch Spenden<br />

oder Museumsbesuche hereinkommt, geht<br />

an Leprakranke, an Schulen, an afrikanische,<br />

asiatische, amerikanische Gemeinden.<br />

Das Schlimmste, was einem Kirchenmenschen<br />

passieren kann, ist ein Doppelleben,<br />

ob er nun Rabbiner, Priester oder<br />

Pastor ist. Bei einem gewöhnlichen Menschen<br />

kann es vorkommen, dass er hier sein<br />

Zuhause und dort sein Liebesnest hat und<br />

dies nicht weiter verwerflich erscheint, aber<br />

bei einem Mann der Religion ist es absolut<br />

verwerflich.<br />

Einen Vers aus dem Buch Jesaja machen<br />

auch wir im Christentum uns – als<br />

jüdisches Erbe – zu eigen: „Entzieh’ dich<br />

nicht deinen Verwandten, deinem Fleisch<br />

und Blut.“ Der Schlüssel liegt in der Parabel<br />

vom Jüngsten Gericht, wenn der Menschensohn<br />

die einen (die Guten) zu seiner<br />

Rechten und die anderen (die Schlechten)<br />

zur Linken versammelt. Der König wird<br />

dann zu denen auf der rechten Seite sagen:<br />

Foto: Mario Tama/Getty Images<br />

70 <strong>Cicero</strong> 5.2013


„Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet<br />

seid, nehmt das Reich in Besitz …<br />

Denn ich war hungrig, und ihr habt mir<br />

zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr<br />

habt mir zu trinken gegeben … ich war<br />

nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben;<br />

ich war krank, und ihr habt mich besucht;<br />

ich war im Gefängnis, und ihr seid<br />

zu mir gekommen.“ Sie fragen, wann sie<br />

das getan haben sollen, und der König antwortet<br />

ihnen, dass sie es jedes Mal, wenn<br />

sie es für einen der Geringsten seines Reiches<br />

taten, für ihn taten. Die anderen, die<br />

es nicht taten, verurteilt er.<br />

Im Christentum ist die Haltung der Armut<br />

und den Armen gegenüber – in ihrem<br />

Kern – eine wirkliche Verpflichtung. Diese<br />

Verpflichtung muss ganz aus nächster Nähe<br />

persönlich erfüllt werden. Es ist nicht damit<br />

getan, dass sie durch die Institutionen<br />

erledigt wird, was hilfreich ist, weil es einen<br />

Multiplikationseffekt hat; aber es genügt<br />

nicht, es befreit nicht von der Verpflichtung,<br />

in Kontakt mit den Bedürftigen zu<br />

treten. Man muss den Kranken pflegen –<br />

selbst wenn das Widerwillen, Ekel hervorruft<br />

–, man muss den Häftling besuchen.<br />

Ich finde es schrecklich schwer, in ein<br />

Gefängnis zu gehen, denn was man dort<br />

sieht, ist sehr hart. Aber ich gehe trotzdem,<br />

denn der Herr möchte, dass ich ganz nah<br />

am Bedürftigen bin, am Armen, am Leidenden.<br />

Die erste Aufmerksamkeit der<br />

Armut gegenüber ist unterstützender Art:<br />

„Hast du Hunger? Nimm, hier hast du etwas<br />

zu essen.“ Doch dort sollte die Hilfe<br />

nicht stehen bleiben, man muss Wege der<br />

Förderung und der Integration in die Gemeinschaft<br />

aufzeigen. Der Arme soll nicht<br />

für immer am Rande stehen bleiben.<br />

Wir können nicht akzeptieren, dass der<br />

zugrunde liegende Diskurs lautet: „Wir,<br />

denen es gut geht, geben dem etwas, dem<br />

es schlecht geht, doch er soll bloß dort bleiben,<br />

weit weg von uns.“ Das ist nicht christlich.<br />

Unbedingt muss man ihn so bald wie<br />

möglich in unsere Gemeinschaft eingliedern,<br />

mit Erziehung, mit Handwerksschulen.<br />

So, dass er da rauskommen kann.<br />

Diese Auffassung herrschte im 19. Jahrhundert<br />

mit den Schulen vor, die Don Bosco<br />

für alle bedürftigen Jugendlichen schuf, die<br />

er in seinem Oratorium versammelt hatte.<br />

Don Bosco dachte, dass es wenig Sinn habe,<br />

sie aufs Lyzeum zu schicken, weil ihnen das<br />

für ihr Leben nichts nutzen würde, daher<br />

schuf er Handwerksschulen.<br />

Etwas Ähnliches wiederholen gerade<br />

die Geistlichen in den Elendsvierteln von<br />

Buenos Aires; sie bemühen sich, dass die<br />

jungen Leute mit einem oder zwei Jahren<br />

Lehrzeit eine Ausbildung erhalten, die ihrem<br />

Leben einen anderen Lauf gibt: Sie<br />

Lange bevor er Papst wurde, gewann Jorge Mario Bergoglio als Bischof von Buenos Aires die Herzen der Menschen im Slum „Villa 21-24“<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 71


| W e l t b ü h n e | D e r P a p s t u n d d a s K a p i t a l<br />

papstprogramm<br />

wie man dem Satan ein Schnippchen schlägt<br />

Franziskus setzt die Lehre Benedikts XVI. trotz neuer Akzente weitgehend fort<br />

Von Alexander Kissler<br />

Benedikt XVI. argumentierte, Papst<br />

Franziskus appelliert. Das ist der<br />

größte Unterschied zwischen Vorgänger<br />

und Nachfolger. Mag manch erfrischender<br />

Umgangston das Amt in<br />

neuem Licht und den Pontifex wie einen<br />

Revoluzzer erscheinen lassen: Die<br />

Substanz der Verkündigung blieb unberührt.<br />

Die erste Botschaft nach der<br />

Wahl war ein Echo auf den letzten Satz<br />

Benedikts. Dieser hatte sich verabschiedet<br />

mit den Worten, „gehen wir<br />

miteinander weiter mit dem Herrn“;<br />

Franziskus betrat die Loggia des Petersdoms<br />

mit der Ankündigung, „jetzt<br />

beginnen wir diesen Weg, Bischof und<br />

Volk“: Christentum als Weggemeinschaft<br />

über Personalwechsel hinweg.<br />

Mehrfach stellte Franziskus sich in<br />

die Traditionsspur Benedikts, bekannte<br />

sich zu zwei dessen Pontifikat prägenden<br />

Begriffen. Vermutlich wäre Jorge<br />

Mario Bergoglio sogar zu Ostern wieder<br />

in Buenos Aires gewesen, hätte er<br />

nicht vor dem Konklave eine aufrüttelnde<br />

Rede wider die Verweltlichung<br />

der Kirche gehalten. Der für den gesamten<br />

Lebens gang Ratzingers typische<br />

Ausdruck kehrte in Bergoglios Mahnung<br />

wieder. Schluss müsse sein mit der<br />

„mundanidad espiritual“, einer spirituellen<br />

Weltlichkeit, die zu einer selbstbezüglichen,<br />

weltlichen Kirche führe.<br />

In seinen Büchern „Offener Geist<br />

und gläubiges Herz“ und „Über Himmel<br />

und Erde“ bekräftigt Bergoglio<br />

diesen Gedanken, wie beim Konklave<br />

unter Verweis auf Henri de Lubac.<br />

Wenn die Kirche weltlich wird, entwickele<br />

sie „Haltungen der Hoffnungslosigkeit,<br />

die im Reichtum, in der Eitelkeit<br />

und der Überheblichkeit wurzeln“.<br />

Das Schlimmste, was einem Priester<br />

widerfahren kann, sei, „nach den Kriterien<br />

der Welt zu leben statt nach<br />

den Kriterien, die der Herr durch die<br />

Gesetzestafeln und das Evangelium<br />

Gegen die „Irrlichter der Vernunft“<br />

aufgetragen hat“. In seiner ersten<br />

Messe als Papst wandte Franziskus sich<br />

gegen die „Weltlichkeit des Teufels“.<br />

Das zweite Schlüsselwort Ratzingers,<br />

die „Diktatur des Relativismus“,<br />

griff Franziskus vor dem diplomatischen<br />

Korps auf. Besagte „Diktatur“ sei<br />

Zeichen der „geistlichen Armut unserer<br />

Tage, die ganz ernstlich auch die Länder<br />

betrifft, die als die reichsten gelten“.<br />

Franziskus erinnerte an Benedikts Einsicht,<br />

dass – radikal antirelativistisch –<br />

kein Friede, kein innerer Reichtum<br />

ohne Wahrheit möglich sei.<br />

In der Ökumene will Franziskus,<br />

wie es EKD-Chef Nikolaus Schneider<br />

zu hören bekam, an die Impulse Benedikts<br />

und dessen Reden im Augustinerkloster<br />

Erfurt anknüpfen. Dort hatte<br />

Joseph Ratzinger Eschatologie, Gericht<br />

und Rechtfertigung als Themenfelder<br />

identifiziert. Wie Benedikt will Franziskus<br />

das Erbe der Märtyrer fruchtbar<br />

machen. Der Aufruf Franziskus’<br />

am Palmsonntag, „seid niemals traurige<br />

Menschen“, war die in den Imperativ<br />

übersetzte Einsicht Benedikts, die<br />

Freude sei jene Gabe, „in der alle anderen<br />

Gaben zusammengefasst sind“.<br />

Traurigkeit ist für Bergoglio „Satans<br />

Zauberkunst, die unser Herz verhärtet<br />

und verbittert“. Als er die Kathedra<br />

Petri in Besitz nahm und dort die<br />

menschliche Ungeduld von der Geduld<br />

Gottes abgrenzte, klangen die Sätze aus<br />

Benedikts Amtseinführung von 2005<br />

nach: „Die Welt wird durch die Geduld<br />

Gottes erlöst und durch die Ungeduld<br />

der Menschen verwüstet.“<br />

Die praktischen Folgen von Bergoglios<br />

katholischem Way of thinking<br />

überraschen nicht. Abtreibung lehnt<br />

er ebenso deutlich ab wie die Gleichstellung<br />

gleichgeschlechtlicher Partnerschaften<br />

mit der Ehe; das wäre ein „anthropologischer<br />

Rückschritt …, denn<br />

es hieße, eine jahrtausendealte Institution<br />

zu schwächen, die in Übereinstimmung<br />

mit der Natur und der Anthropologie<br />

herausgebildet wurde“.<br />

Akzentverschiebungen gibt es dennoch.<br />

Bergoglio ist, obwohl Jesuit, vernunftskeptischer.<br />

Er spricht von der<br />

„Versuchung, die Werte des Verstands<br />

über die des Herzens zu stellen. Das<br />

ist falsch. Nur das Herz eint und integriert.“<br />

Wer sich von den „Irrlichtern<br />

der Vernunft“ leiten lässt, werde zum<br />

„Intellektuellen, der nichts weiß“.<br />

Nicht die Vernunft, sondern die<br />

Zärtlichkeit ist das Leitmotiv des neuen<br />

Kapitels. Sechsmal kam das Wort in<br />

der Predigt zur Amtseinführung vor.<br />

Verbunden mit der von Benedikt übernommenen<br />

Theologie der Demut lauten<br />

die Koordinaten des franziskanischen<br />

Pontifikats: Arm soll die Kirche<br />

sein, unabhängig und entweltlicht, das<br />

menschliche Leben soll sie schützen,<br />

das Naturrecht verteidigen und auf diesem<br />

gemeinsamen Weg aller Getauften<br />

den Mut zur Zärtlichkeit sich bewahren<br />

und gerade so dem Teufel ein<br />

Schnippchen schlagen, wo auch immer,<br />

wie auch immer, von nun an.<br />

Alexander Kissler<br />

leitet das Ressort Salon. Von<br />

ihm erschien soeben „Papst im<br />

Widerspruch. Benedikt XVI.<br />

und seine Kirche 2005-2013“<br />

Fotos: Imago, Andrej Dallmann (Autor)<br />

72 <strong>Cicero</strong> 5.2013


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werden Elektriker, Köche, Schneider. Man<br />

muss fördern, dass sie sich ihre Brötchen<br />

verdienen können. Es setzt den Armen herab,<br />

nicht über dieses Öl zu verfügen, das<br />

einen mit Würde salbt: die Arbeit.<br />

Man darf sich vor dem Armen nicht<br />

ekeln, man muss ihm in die Augen sehen.<br />

Manchmal ist das unangenehm, aber wir<br />

müssen dafür einstehen, was unsere Lebensrealität<br />

ist. Die große Gefahr – oder<br />

die große Versuchung – bei der Unterstützung<br />

der Armen liegt darin, in protektionistischen<br />

Paternalismus zu verfallen, der<br />

sie letztlich nicht wachsen lässt. Die Verpflichtung<br />

des Christen ist es, selbst den<br />

Besitzlosesten in die Gemeinschaft zu integrieren,<br />

so gut es geht, ihn auf jeden Fall<br />

irgendwie zu integrieren.<br />

Die christliche Liebe ist die Liebe zu<br />

Gott und zum Nächsten. Sie kann mit der<br />

Unterstützung beginnen, doch darf sie sich<br />

nicht auf die Organisation von Teepartys<br />

beschränken. Es gibt Veranstaltungen, die<br />

sich wohltätig nennen und in Wirklichkeit<br />

gesellschaftliche Events sind. Diese Art<br />

von Aktionen werden durchgeführt, damit<br />

man sich selbst gut fühlt, doch die Liebe<br />

setzt immer voraus, aus sich herauszugehen,<br />

sich selbst zurückzustellen. Die geliebte<br />

Person verlangt, dass ich mich in ihren<br />

Dienst stelle. Aber es gibt Karikaturen<br />

der Nächstenliebe.<br />

Einmal, ich war schon Bischof, erhielt<br />

ich eine Einladung für ein Benefiz-Dinner<br />

der Caritas. An den Tischen saß, wie<br />

man so sagt, die Crème de la Crème. Ich<br />

entschied, nicht hinzugehen. An jenem<br />

Tag gehörte zu den Geladenen der damalige<br />

Präsident. Bei diesem Treffen wurden<br />

Sachen versteigert, und nach dem ersten<br />

Gang kam eine goldene Rolex unter den<br />

Hammer. Eine wirkliche Schande, eine<br />

Kränkung, ein schlechter Gebrauch der<br />

Nächstenliebe. Man suchte nach jemandem,<br />

der mit dieser Uhr eitel herumprotzen<br />

wollte, um die Armen zu speisen.<br />

Zum Glück werden bei der Caritas solche<br />

Sachen nicht mehr gemacht. Heute begleitet<br />

sie kontinuierlich die Förderung von<br />

Schulen, unterhält Häuser für alleinerziehende<br />

Mütter und Obdachlose, hat eine<br />

Bäckerei, wo auch das Kunsthandwerk verkauft<br />

wird, das die jungen Leute in den<br />

Handwerksschulen herstellen. Das ist Armenförderung<br />

durch den Armen selbst.<br />

Manchmal werden im Namen der Nächstenliebe<br />

Aktionen veranstaltet, die nicht<br />

karitativ sind, sie sind wie Karikaturen einer<br />

guten Absicht. Es gibt keine Wohltätigkeit<br />

ohne Liebe, und wenn bei der Unterstützung<br />

des Bedürftigen die eigene<br />

Eitelkeit genährt wird, ist da keine Liebe,<br />

dann täuscht man etwas vor.<br />

Wenn man das Handbuch der Soziallehre<br />

der Kirche aufschlägt, wundert man<br />

sich über die Anklagen darin. Zum Beispiel<br />

die Verurteilung des Wirtschaftsliberalismus.<br />

Alle denken, die Kirche sei gegen den<br />

Kommunismus; doch sie ist ebenso gegen<br />

dieses System wie gegen den ungezähmten<br />

Wirtschaftsliberalismus von heute. Das ist<br />

auch kein Christentum, wir können das<br />

nicht akzeptieren. Wir müssen die Gleichheit<br />

von Chancen und Rechten suchen, für<br />

soziale Vorrechte eintreten, würdige Renten,<br />

Urlaub, Ruhetage, die Freiheit zum<br />

Zusammenschluss. All diese Fragen machen<br />

die soziale Gerechtigkeit aus. Es darf<br />

keine Besitzlosen geben, und es gibt keine<br />

schlimmere Besitzlosigkeit, als sich seinen<br />

Lebensunterhalt nicht verdienen zu können,<br />

nicht die Würde der Arbeit zu haben.<br />

Eine Anekdote klärt vielleicht das Bewusstsein<br />

der Kirche zu diesem Thema:<br />

Als bei einer der vielen Verfolgungen der<br />

Kaiser von Laurentius, einem römischen<br />

Diakon, verlangte, er solle ihm kurzfristig<br />

die Schätze der Kirche herausgeben, kam<br />

Laurentius ein paar Tage später mit einer<br />

Gruppe Armer zu dem Treffen und sagte:<br />

„Diese Menschen sind der wahre Schatz<br />

der Kirche.“ Dieses Paradigma müssen wir<br />

pflegen, denn jedes Mal, wenn wir uns davon<br />

entfernen – sei es als Institution im<br />

Ganzen oder als kleine Gemeinschaft – verleugnen<br />

wir unser Wesen. Wir rühmen uns<br />

in der Schwäche unseres Volkes, dem wir<br />

helfen voranzukommen.<br />

Die Armen sind der Schatz der Kirche,<br />

man muss für sie sorgen; und wenn wir<br />

diese Vision nicht haben, werden wir eine<br />

mediokre, laue, kraftlose Kirche errichten.<br />

Unsere wahre Macht muss das Dienen<br />

sein. Man kann Gott nicht verehren,<br />

wenn in unserem Geist der Bedürftige keinen<br />

Platz hat.<br />

Papst Franziskus<br />

ist seit dem 13. März das Oberhaupt<br />

der katholischen Kirche.<br />

Dieser Beitrag ist ein Vorabdruck<br />

aus seinem Buch „Über Himmel<br />

und Erde“, das er noch als Erzbischof<br />

von Buenos Aires verfasste<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 73<br />

634 S., 33 Abb. Geb. € 29,95<br />

ISBN 978-3-406-64096-4<br />

„Jonathan Sperbers exzellenter<br />

Biographie gelingt es glänzend,<br />

unser Bild von Karl Marx neu<br />

zu gewichten.“ Ian Kershaw<br />

192 S.,Klappenbr. € 14,95 ISBN 978-3-406-64386-6<br />

„Dank Wehlers Buch habe ich<br />

endlich verstanden, dass der<br />

alte Stéphane Hessel seinen<br />

Aufruf ‚Empört euch‘ auch<br />

für die Deutschen geschrieben<br />

hat.“<br />

Klaus Harpprecht,<br />

DIE ZEIT<br />

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Renaissance der Atombombe<br />

Die erneute Eskalation in Nordkorea zeigt: Das Drohpotenzial der<br />

A-Waffe ist ungebrochen. Kein Wunder, dass immer mehr Staaten<br />

die Massenvernichtungswaffe haben wollen<br />

Von Karl-Heinz Kamp<br />

E<br />

in Relikt des Kalten Krieges? Von wegen! Die Angst<br />

vor dem Atomkrieg ist wieder allgegenwärtig. Auslöser<br />

sind nicht etwa die immer noch beachtlichen Kernwaffenbestände<br />

Russlands oder der USA, sondern die Äußerungen<br />

der bizarren Führung eines Steinzeitregimes, das nicht einmal<br />

die eigene Bevölkerung ernähren kann. Kim Jong Un, pausbäckiger<br />

Twen mit Vorliebe für Disney-Figuren und „Oberster<br />

Führer“ Nordkoreas, droht der Welt mit dem Einsatz seiner<br />

Atomwaffen und beherrscht damit die Schlagzeilen weltweit.<br />

Die Streitkräfte Südkoreas erhöhen ihre Bereitschaft, die USA<br />

verschiffen riesige Radaranlagen nach Asien, und Japan stationiert<br />

Abwehrraketen mitten in Tokio. Dabei weiß niemand, ob<br />

Nordkorea überhaupt Kernwaffen besitzt. Das Land hat zwar<br />

mehrere Atomtests durchgeführt – mit wechselndem Erfolg übrigens.<br />

Doch der Weg von einer turmhohen nuklearen Versuchsanlage<br />

zu einem kleinen Atomsprengkopf, der auf eine Rakete<br />

passt, ist weit.<br />

Was ist nur aus Barack Obamas Vision einer atomwaffenfreien<br />

Welt geworden, die der US-Präsident 2009 verkündet<br />

hatte und für die er nicht nur das Lob fast aller Nationen erntete,<br />

sondern auch mit dem Friedensnobelpreis belohnt wurde?<br />

Gesunken ist die Zahl der atomaren „Player“ in der Weltpolitik<br />

seither jedenfalls nicht. Neben Nordkorea arbeitet auch<br />

Iran mit Hochdruck an der Entwicklung von Atomwaffen und<br />

kommt dabei offenbar zügig voran. Sobald aber Teheran seine<br />

erste Kernwaffe erfolgreich testet und damit die Eintrittskarte in<br />

den Club der Atommächte präsentiert, werden andere diesem<br />

Beispiel folgen. Schon länger träumen Regime im Nahen und<br />

Mittleren Osten von der „islamischen Bombe“. Gleiches gilt für<br />

Ostasien. Die Kapriolen des „Obersten Führers“ werden nicht<br />

ohne langfristige Folgen bleiben, selbst wenn die nordkoreanischen<br />

Atomdrohungen eher hochgestapelt sind. Länder wie Japan<br />

oder Südkorea sind technisch hoch entwickelt und werden<br />

die Notwendigkeit eigener Atomarsenale künftig sehr intensiv<br />

diskutieren.<br />

Worin liegt aber der Reiz einer Waffe, die seit Hiroshima<br />

und Nagasaki im Jahr 1945 nicht mehr eingesetzt wurde und<br />

deren Wert offenbar nur darin besteht, andere Staaten vom Einsatz<br />

ihrer Kernwaffen abzuhalten? Warum nehmen Länder wie<br />

Iran heftige Kritik, schmerzhafte internationale Sanktionen und<br />

politische Isolation in Kauf, nur um in den Besitz dieser Waffe<br />

zu gelangen? Und wird Obamas Vision einer Welt ohne Atomwaffen<br />

ein Wunsch bleiben?<br />

Jedenfalls gibt es nicht nur einen Daseinszweck von Atomwaffen.<br />

Zu Beginn des Atomzeitalters glaubte man in Ost und<br />

West, Kernwaffen militärisch nutzen zu können. Während Kim<br />

Junior das vermutlich immer noch denkt, sind die Sowjetunion<br />

und die USA weiter. Sie lernten in so scharfen Konflikten wie<br />

der Kuba-Krise, dass die Atombombe nicht „just another weapon“<br />

ist, die sich in Kriegen einsetzen lässt. Kriegsverhinderung<br />

durch wechselseitige Abschreckung wurde das Ziel. Für andere<br />

Länder zählt eher der Status, den Atomwaffen verleihen. Frankreich<br />

gründet einen Teil seines nationalen Selbstbewusstseins auf<br />

die Tatsache, unabhängige Atommacht zu sein. Indien agiert auf<br />

Augenhöhe im Kreis der Weltmächte, seitdem es über Atomwaffen<br />

verfügt.<br />

Entscheidend aber ist der Umstand, dass Atomwaffen ihrem<br />

Besitzer in einer Krise politischen Handlungsspielraum verschaffen<br />

und ihn vor militärischen Interventionen schützen. Wäre<br />

Serbien 1999 Atommacht gewesen, hätte die Nato keinen Krieg<br />

um den Kosovo geführt. Hätte Saddam Hussein Atomwaffen<br />

besessen, als er Kuwait überfiel, hätten die USA tatenlos zusehen<br />

müssen. Libyens Muammar al-Gaddafi soll während seiner<br />

Flucht gegenüber Vertrauten bedauert haben, dass er nicht die<br />

Entwicklung eigener Kernwaffen vorangetrieben hatte – er säße<br />

vermutlich noch heute in seinem Regierungszelt. So gesehen,<br />

sind die iranischen Nuklearambitionen durchaus folgerichtig:<br />

Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: Privat<br />

74 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Man ist entweder selbst Atommacht oder zumindest mit einer<br />

Atommacht eng verbündet, wie die Nato-Staaten mit den USA.<br />

Wie steht es vor diesem Hintergrund mit der Idee einer<br />

atomwaffenfreien Welt? Obama war klug genug zuzugeben, dass<br />

sich seine Vision wohl kaum zu seinen Lebzeiten verwirklichen<br />

wird. Aus heutiger Sicht werden aber auch zwei oder drei Präsidentenleben<br />

nicht ausreichen, um die totale nukleare Abrüstung<br />

zu erreichen. Das liegt zunächst daran, dass viele Länder<br />

allen Bekenntnissen zum Trotz ihre Atomwaffen schlicht nicht<br />

aufgeben wollen. Israel versteht sie als Garant für das eigene<br />

Überleben – kein Wunder bei den vielen Wünschen aus der Region,<br />

Israel von der Landkarte tilgen zu wollen. Frankreich sieht<br />

sie vor allem als Insignien der Macht, während Indien sie auch<br />

als Mittel gegen chinesische Aggressionen versteht. Pakistan hat<br />

sie wiederum wegen Indien, und für Russland sind sie sowohl<br />

ein Gegengewicht zu der aus ihrer Sicht militärisch überlegenen<br />

Nato als auch ein Denkmal des vergangenen Ruhms einer<br />

Supermacht. China geht nicht einmal gegen die nuklearen Tiraden<br />

seines nordkoreanischen Schützlings entschieden vor. Nicht,<br />

dass man sein Spiel mit dem Feuer billigt, aber man will auch<br />

nicht, dass das Regime kollabiert. Der Status quo mit einem absonderlichen<br />

Führer ist aus Pekings Sicht immer noch besser als<br />

ein Ende der Kim-Dynastie und eine Wiedervereinigung unter<br />

südkoreanischen Vorzeichen.<br />

Selbst wenn sich alle Nuklearstaaten zu einem beispiellosen<br />

Akt der Selbstbeschränkung entschließen sollten und ihre Kernwaffen<br />

zur Verschrottung freigäben, so wäre der Globus nicht<br />

notwendigerweise sicherer. Das Wissen um den Bau von Kernwaffen<br />

ist in der Welt – der nukleare Geist ist aus der Flasche<br />

und lässt sich auch nicht wieder einsperren. In einem ernsten<br />

Konflikt würde ein entschlossener Aggressor nur wenige Monate<br />

brauchen, um die alten Blaupausen aus dem Safe zu holen und<br />

eine funktionsfähige Kernwaffe zu konstruieren. Andere würden<br />

versuchen gleichzuziehen. Ein solcher Rüstungswettlauf in einer<br />

Krise wäre kaum beruhigender als das derzeitige System gegenseitiger<br />

Abschreckung. Auch gibt es vermutlich schon heute geheime<br />

Nuklearprogramme in Staaten, die derzeit noch niemand<br />

auf dem Schirm hat. In Zeiten, in denen ein Smartphone eine<br />

höhere Computerleistung hat als die Großrechner amerikanischer<br />

Atomlabors der sechziger Jahre, ist man vor Überraschungen<br />

nicht sicher.<br />

Heißt das, den nuklearen Realitäten tatenlos zuschauen zu<br />

müssen und zu warten, bis in der kommenden multinuklearen<br />

Welt eine der vielen Tausend Kernwaffen detoniert – sei es geplant<br />

oder als tragische Fehlkalkulation? Keinesfalls, es muss dringend<br />

gehandelt werden. Allerdings hilft das Machbare mehr als<br />

die Vision. Machbar ist die Reduzierung der vorhandenen Bestände.<br />

Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum derzeit etwa<br />

4400 Atomwaffen weltweit einsatzbereit gehalten werden. Noch<br />

weniger ist zu verstehen, dass knapp 15 000 Atomsprengköpfe in<br />

Reserve lagern, teils montiert, teils in Einzelteilen. Die USA und<br />

Russland haben sich schon auf kleinere Arsenale geeinigt, andere<br />

Länder stehen noch außen vor. Allerdings ist die Umsetzung der<br />

beschlossenen Maßnahmen sehr zeitaufwendig.<br />

Hilfe bei der Rüstungskontrolle kommt von unerwarteter<br />

Seite: Die weltweite Finanzkrise macht es den Nuklearstaaten<br />

immer schwerer, ihre kostspieligen Atomarsenale zu erhalten.<br />

Hier wird es eine „kalte Abrüstung“ geben, auch ohne dass man<br />

sich auf komplizierte Abkommen einigt.<br />

Ein zweites Schlüsselwort ist Transparenz. Waffenbestände,<br />

die man kennt, sind weniger problematisch als verborgene Arsenale.<br />

Lässt man den vermeintlichen Gegner in den eigenen militärischen<br />

Hinterhof schauen, erweckt man Vertrauen und baut<br />

Fehleinschätzungen ab. Politisch ist die Forderung nach Transparenz<br />

nicht leicht durchzusetzen, da man immer gegen historische<br />

Ängste und gewachsene Bedrohungsvorstellungen ankämpfen<br />

muss. Vor allem geht auch dies nicht von heute auf morgen.<br />

Helfen uns diese Ideen bei der Bewältigung der unmittelbaren<br />

Krise in Ostasien? Vermutlich nicht – aber das tut der<br />

Traum von der atomwaffenfreien Welt ebenso wenig.<br />

Karl-Heinz Kamp<br />

ist Forschungsdirektor des Nato Defence College in Rom.<br />

Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder<br />

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| K a p i t a l<br />

Weniger ist meer<br />

Die griechische EU-Kommissarin Maria Damanaki kämpft erfolgreich gegen die Überfischung<br />

von Christian Schwägerl<br />

I<br />

hre Kampfbereitschaft hat Maria<br />

Damanaki früh bewiesen. 1973<br />

war sie die Stimme des Aufstands<br />

gegen die griechische Militärdiktatur. Damals<br />

21 Jahre alt, Studentin, angehende<br />

Chemieingenieurin, rief sie in einer Radiosendung<br />

vom Gelände der besetzten Polytechnischen<br />

Hochschule die Bevölkerung<br />

zum Widerstand gegen die Generäle auf.<br />

Diese schlugen den „Polytechnio-Aufstand“<br />

blutig nieder. Damanaki landete im Gefängnis<br />

und wurde gefoltert. Weniger als<br />

ein Jahr später brach die Militärdiktatur<br />

in sich zusammen, es war auch ein Sieg<br />

Damanakis.<br />

40 Jahre später ist Damanaki Athens<br />

Vertreterin in der EU-Kommission und dabei<br />

auf dem Weg, als die Fischereikommissarin<br />

in die Annalen Europas einzugehen,<br />

die die jahrzehntelange Überfischung der<br />

Meere durch bis zu 100 000 europäische<br />

Fangschiffe beendet hat. Dabei war ihr jetziges<br />

Amt alles andere als ihr Traumjob:<br />

„Wenn man als Grieche schon EU-Kommissar<br />

wird, kann man sich das Ressort<br />

nicht aussuchen“, hat sie einmal lakonisch<br />

gesagt. Die ehemalige Vorsitzende der sozialistischen<br />

Partei Synaspismos muss schon<br />

bis in ihre Kindheit auf Kreta zurückgehen,<br />

um etwas über ihre Beziehung zur Welt der<br />

Fische erzählen zu können. Und ihr EU-<br />

Amt sah zunächst auch tatsächlich nicht<br />

nach einem Gewinnerposten aus: Fischereipolitik<br />

galt bis zu Damanakis Amtsantritt<br />

2010 als sehr technisch, der zuständige<br />

Kommissar stand stets in der hinteren<br />

Reihe.<br />

Ihre Vorgänger waren darauf bedacht,<br />

die kurzfristigen Interessen der Fischereiwirtschaft<br />

zu schützen, vor allem die der<br />

Eigner großer, industrieller Fangschiffe.<br />

Milliardensubventionen flossen in den Aufbau<br />

einer übergroßen Flotte, die heute bis<br />

in den Südpazifik tuckert, um die Weltmeere<br />

zu leeren. In den Gewässern rund<br />

um Europa rächt sich die falsche Politik<br />

von früher bereits brutal: Der Fischfang<br />

ging von acht Millionen Tonnen 1995<br />

auf fünf Millionen Tonnen im Jahr 2012<br />

zurück – nicht wegen strikterer Auflagen,<br />

sondern weil nichts mehr zu holen ist.<br />

Damanaki hat sich vom ersten Tag an<br />

vorgenommen, die alten Strukturen aufzubrechen,<br />

und steht kurz vor dem Ziel.<br />

Bis spätestens Juni will sie sich mit dem<br />

Europaparlament und den 27 Mitgliedstaaten<br />

auf eine umfassende Reform der<br />

EU‐Fischereipolitik einigen.<br />

Damanaki sorgt sich dabei um mehr<br />

als die Fische. Es geht ihr eben nicht nur<br />

um Kabeljau, Hering und Makrelen, es<br />

geht auch um 400 000 Arbeitsplätze in<br />

der Fischereibranche, um viele Milliarden<br />

Euro Umsatz und rund drei Milliarden<br />

Euro Subventionen. Die Kritik der<br />

Fischereilobby, Damanakis Reformen schadeten<br />

der Wirtschaft, weist sie barsch zurück<br />

und sieht Parallelen zur Schuldenkrise<br />

in ihrer Heimat: „Unser Umgang<br />

mit den Meeren ist genauso verantwortungslos<br />

wie der griechische Umgang mit<br />

Geld. Wenn wir weiter zu viel Fisch-Kapital<br />

abheben, ist das Meereskonto bald leer.“<br />

Mit ihren Reformen strebt sie eine nachhaltige<br />

Regeneration der Fischbestände an.<br />

Der Branchenumsatz könne dadurch sogar<br />

um 1,8 Milliarden Euro wachsen, rechnet<br />

sie ihren Kritikern vor.<br />

Die kennen den kämpferischen Kurs<br />

der Kommissarin schon. Kaum im Amt,<br />

entließ sie einen EU-Spitzenbeamten, der<br />

als verkappter Lobbyist der großen Fischereifirmen<br />

galt, und sorgte gleichzeitig dafür,<br />

dass neue Stimmen in Brüssel Gehör<br />

finden. „Bei den ersten Sitzungen war niemand<br />

da, der die Besitzer kleiner Boote in<br />

den Küstengemeinden vertreten hat“, erzählt<br />

Damanaki, „das musste ich natürlich<br />

sofort ändern.“<br />

2011 legte sie den ersten Reformentwurf<br />

vor, mit dem sie seither durch Europa<br />

zieht, durch Hauptstädte und Küstendörfer,<br />

zu Wissenschaftskonferenzen und den Treffen<br />

der Fischereiwirtschaft. Mit einer einfachen,<br />

zugespitzten und zugleich warmen<br />

Sprache wirbt sie für ihren Plan. Die Rettung<br />

der Meere scheint ihr zur Herzensangelegenheit<br />

geworden zu sein, und ihre<br />

Kampagne hat Erfolg.<br />

„Am Anfang haben die Lobbyisten<br />

über den Reformplan gelacht, aber inzwischen<br />

ist ihnen das Lachen vergangen“,<br />

sagt Thilo Maack, Meeresexperte<br />

bei Greenpeace. Damanaki ging auf Konfrontationskurs<br />

mit den EU-Fischereiministern,<br />

als sie forderte, die Kungelei bei<br />

den Fangquoten zu beenden. Deren berüchtigte<br />

Dezembertreffen verliefen meist<br />

nach einem einfachen Prinzip: „Gibst du<br />

mir mehr Kabeljau, dann gebe ich dir<br />

mehr Thunfisch.“<br />

Künftig sollen wissenschaftliche Empfehlungen<br />

den Ausschlag geben. Zweitens<br />

geht sie das Thema „Beifang“ an. Europas<br />

Fischer werfen knapp ein Viertel ihres<br />

Fangs tot zurück ins Meer, weil die Tiere<br />

nicht zu den Fangplänen passen. Ab 2014<br />

soll schrittweise die Pflicht gelten, alle gefischten<br />

Tiere an Land zu bringen und zu<br />

verwerten. Drittens will sie Subventionen<br />

an strenge Kriterien knüpfen. Es sei unverantwortlich<br />

bei der anhaltenden Überfischung,<br />

den Bau immer größerer Schiffe<br />

zu fördern, die durch leere Meere schippern,<br />

schimpft Damanaki.<br />

Das EU-Parlament hat ihren Kurs Anfang<br />

Februar mit großer Mehrheit bestätigt.<br />

Nun muss sie einen Kompromiss mit den<br />

Regierungen finden, vor allem mit den Fischereinationen<br />

Spanien und Frankreich.<br />

Damanaki droht: „Wenn wir so weitermachen,<br />

sind die Meere bald leer.“<br />

Christian Schwägerl<br />

gehört zu den profilierten<br />

Fachjournalisten für<br />

Umweltthemen in Deutschland<br />

Fotos: Francois Lenoir/REUTERS, Maurice Weiss/Ostkreuz (Autor)<br />

76 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Fish’s Friend –<br />

Maria Damanaki<br />

ist zu stark für<br />

die schwächelnde<br />

Fischereilobby<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 77


| K a p i t a l<br />

Läckerläckerläcker<br />

Willi Pfannenschwarz hat mit seiner eigenwilligen Werbung das bekannteste Müsli Deutschlands kreiert<br />

von Benno Stieber<br />

M<br />

it Frühstücksflocken zu provozieren,<br />

das muss man erst mal<br />

schaffen. Für Willi Pfannenschwarz,<br />

Chef der Firma Seitenbacher,<br />

ist das kein Problem. Daheim im Keller<br />

produziert er grob zusammengezimmerte<br />

Spots, unterlegt sie mit harten Gitarrenriffs<br />

und preist „Bergsteigermüsli“, „Kakao-Düsis“<br />

und den „Feel-Good-Mix“ an.<br />

Selbst vor dem wenig werbewirksamen<br />

Wort „Verdauung“ schreckt er nicht zurück.<br />

Am Ende setzt er in seiner schwäbischen<br />

Mundart ein genüssliches „Läckerläckerläcker“<br />

obendrauf, und wieder ist einer<br />

dieser Spots fertig, die Werber und Radiohörer<br />

zur Verzweiflung bringen.<br />

Mit dieser, nun ja, Marketingstrategie<br />

hat Pfannenschwarz sein Müsli bundesweit<br />

bekannt gemacht. Hinter der hohen Stirn<br />

wallen lange schwarze Haare, er ist der Rocker<br />

unter Deutschlands Mittelständlern.<br />

Hausgemachte Produkte, bodenständige<br />

Unternehmensführung, selbst die Maschinen<br />

programmiert der Chef selbst. Vor allem<br />

an den selbst produzierten Werbespots,<br />

die er in der Analog-Ära gerne mal mit dem<br />

eigenen Hubschrauber an die Radiosender<br />

lieferte, hängt sein Herz: „Am Mischpult<br />

kann ich alles vergessen.“<br />

Es war Anfang der Achtziger, als sich<br />

Pfannenschwarz, Sohn einer Müllerdynastie<br />

im schwäbischen Waldenbuch, trotz<br />

hoffnungsvoller Ansätze gegen eine Karriere<br />

als Rockmusiker entschied und beschloss,<br />

die Menschheit zum Vollkorn<br />

zu bekehren. Abseits aller Ökoideologie<br />

mischte Pfannenschwarz nach Schweizer<br />

Vorbild seine ersten Frühstücksflocken<br />

und nannte sie nach dem heimischen Seitenbach,<br />

an dem die Mühle seines Vaters<br />

stand. „Die Idee war, ein Müsli zu machen,<br />

in dem alles drin ist, auch wenn man sich<br />

sonst von nichts anderem ernährt“, erinnert<br />

er sich. Doch der Verkauf lief anfangs<br />

schleppend. Die Leute auf dem Land kannten<br />

Vollkorn nur als Tierfutter, und die<br />

Ökoszene mixte sich ihren Frühstücksbrei<br />

damals lieber selbst. Da Pfannenschwarz<br />

sich eine professionelle Kampagne nicht<br />

leisten konnte, nahm er einen Kredit auf<br />

und buchte selbst Sendezeiten. Für den ersten<br />

Werbespot flötete damals eine seiner<br />

Töchter „läckerläckerläcker“ ins Mikrofon.<br />

Heute ist Seitenbacher<br />

das bekannteste Müsli<br />

in Deutschland. Pfannenschwarzs<br />

Unternehmen gehört<br />

zu den fünf großen<br />

Herstellern von Frühstücksflocken.<br />

Den Marktanteil<br />

seiner teuren Mischungen<br />

schätzen Experten aber auf<br />

unter 10 Prozent. „Für einen<br />

nationalen Anbieter<br />

im Lebensmittelgeschäft<br />

sind wir eigentlich ein ganz<br />

kleines Licht“, sagt Willi<br />

Pfannenschwarz.<br />

Mit den großen Handelsketten<br />

verhandelt er<br />

trotzdem hart. Als 2008 die<br />

Preise für Getreide stark anzogen,<br />

sah sich Seitenbacher<br />

gezwungen, ebenfalls mehr<br />

zu verlangen. Doch eine der<br />

großen Supermarktketten<br />

wollte dies nicht akzeptieren.<br />

„Wir standen vor der Alternative, die<br />

Preise nicht zu erhöhen und damit in den<br />

nächsten Monaten pleitezugehen, oder die<br />

Lieferung einzustellen“, erinnert sich Pfannenschwarz.<br />

Seitenbacher ging das volle Risiko<br />

ein, obwohl er auf Dauer nicht auf<br />

diesen Kunden hätte verzichten können.<br />

Wieder einmal zahlte sich die Beliebtheit<br />

der Marke aus. Nach einigen Wochen akzeptierte<br />

die Supermarktkette die Preiserhöhung<br />

per Fax. Zu viele Kunden hatten<br />

Pfannenschwarzs Produkte in den Regalen<br />

vermisst.<br />

Längst macht Seitenbacher an seinem<br />

heutigen Sitz in Buchen im Odenwald<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

„Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht<br />

haben? Den<br />

Mittelstand!“, sagt jetzt<br />

auch der Deutsche-<br />

Bank-Chef Anshu<br />

Jain. <strong>Cicero</strong> weiß das<br />

schon länger und stellt<br />

den Mittelstand in<br />

einer Serie vor. Die<br />

bisherigen Porträts aus<br />

der Serie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

mehr als nur Müsli aller Art. Vor zwei Jahren<br />

hat Pfannenschwarz eine Ölmühle gekauft<br />

und Sonnenblumen- und Kürbiskernöl<br />

ins Sortiment aufgenommen. In<br />

den USA kümmert sich sein Sohn Harry<br />

um den Vertrieb von Eiweiß-Riegeln<br />

und Protein-Nudeln für Fitnessanhänger.<br />

„Harry P.“ ist dabei gleichzeitig<br />

Werbefigur und Namensgeber.<br />

Die Produkte<br />

werden aus Buchen per<br />

Container in die USA verschifft.<br />

Die USA sind für<br />

Pfannenschwarz der ideale<br />

Testmarkt für seine Gesundheitsprodukte:<br />

„Anders, als<br />

in Europa viele glauben, ist<br />

der amerikanische Verbraucher<br />

der aufgeklärteste und<br />

kritischste der Welt.“<br />

Auch seine Zwillingstöchter<br />

Sarah und Liza mischen<br />

inzwischen im Unternehmen<br />

mit. Eine im<br />

Einkauf, die andere gestaltet<br />

als Grafikdesignerin<br />

das Erscheinungsbild der<br />

Marke neu. Die Etiketten<br />

auf den Ölflaschen sind bereits<br />

edler und moderner als<br />

der hausbackene Schriftzug,<br />

den man bisher kannte.<br />

Willi Pfannenschwarz wird dieses Jahr<br />

60 und führt seine drei erwachsenen Kinder<br />

Schritt für Schritt an die Geschäftsleitung<br />

heran. Bedeutet das auch das baldige<br />

Ende der nervigen Werbung? Die<br />

wichtigsten Entscheidungen treffe er noch<br />

immer selbst, sagt Pfannenschwarz. Seine<br />

Spots gehören definitiv dazu.<br />

Benno Stieber<br />

arbeitet seit zehn Jahren als freier<br />

Korrespondent in Karlsruhe<br />

Fotos: Oliver Rüther für <strong>Cicero</strong>, privat (Autor)<br />

78 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Als Willi<br />

Pfannenschwarz<br />

anfing, Müsli<br />

zu verkaufen,<br />

galt Vollkorn<br />

als Viehfutter<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 79


| K a p i t a l | M a r k e t i n g - m i l l i a r d ä r<br />

80 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Scheuer<br />

Roter<br />

Bulle<br />

Der Energydrink Red Bull lebt vom Spektakel. Dahinter liegt<br />

die abgeriegelte Welt des Milliardärs Dietrich Mateschitz.<br />

Eine DDR, sagen manche: „Didis Dosenrepublik“.<br />

Wie tickt der Mann hinter der Inszenierung?<br />

von Stefan Tillmann<br />

Foto: Sutton Images/Corbis<br />

D<br />

er Milliardär hat einen Mann<br />

ins Weltall geschossen und von<br />

dort auf die Erde fallen lassen.<br />

Er hat Fußballvereine übernommen,<br />

einen Formel-1-Rennstall<br />

aufgebaut, er lässt Propellermaschinen im<br />

Slalom um aufblasbare Riesenkegel fliegen<br />

und baut nebenbei ein Medienimperium<br />

auf. Dietrich Mateschitz, 68 Jahre alt,<br />

Gründer von Red Bull, reichster Mann Österreichs,<br />

will Aufmerksamkeit erzeugen.<br />

Er ist ein Meister des Spektakels, und über<br />

so einen müsste viel zu erfahren sein: Geschichten<br />

aus der Jugend, Kabinettsstückchen,<br />

Rekorde. Aber in Sankt Marein im<br />

Mürztal, wo Mateschitz geboren und aufgewachsen<br />

ist, schweigen die Leute.<br />

Sankt Marein ist ein 2500-Einwohner-Ort<br />

in der Steiermark. Die Sonne<br />

scheint auf die Berge, die hier kaum höher<br />

als 1000 Meter sind und nur wenige Touristen<br />

anlocken. Dietrich Mateschitz’ Geburtsort<br />

ist klein, aber geschäftig: Direkt<br />

neben der Autobahn, eine große Einfallstraße<br />

mit Tankstellen, Billig-Supermarkt<br />

und Baumärkten führt durch den Ort. Ein<br />

Stahlwerk, ein Flugplatz, eine Volksschule,<br />

eine Hauptschule. Letztere leitete jahrelang<br />

Franz Pichler, ein Schulfreund von Mateschitz.<br />

Am Telefon sagt er: „Ich habe ihm<br />

mein Wort gegeben, dass ich nicht über ihn<br />

rede.“ Die Leiterin der Volksschule, Elfriede<br />

Luttenberger, erst ein paar Monate im Amt,<br />

ist etwas offener, sie zeigt die Schul- und<br />

Ortschroniken aus Zeiten, als der Ort noch<br />

ein Dorf war – und die Schule noch sehr<br />

jung. Als im Schulhaus ein Mann vorbeikommt,<br />

fragt sie ihn, ob er nicht etwas über<br />

Mateschitz erzählen könne. Er schreckt zusammen:<br />

„Wir dürfen nichts sagen. Und du<br />

eigentlich auch nicht.“<br />

Im Gemeindeamt erklären sie, dass sie<br />

gerne etwas sagen würden, aber nicht dürfen,<br />

dass sie ihm eine Ehrenbürgerschaft<br />

verleihen wollten, die er nicht haben wollte,<br />

und dass sie ihn zur 900-Jahr-Feier einluden,<br />

er aber nicht kam.<br />

Die Feier ist nun zehn Jahre her, aber<br />

das Sprechverbot ist seither strikt befolgt<br />

worden. Der Milliardär, der Millionen in<br />

Aufmerksamkeit für sein Produkt investiert,<br />

minimiert den Informationsfluss über sich<br />

selbst.<br />

Bekannt ist die Firmengeschichte. Auf<br />

einer Asienreise 1982 entdeckt der damals<br />

38 Jahre alte Marketing-Direktor der Zahncreme-Firma<br />

Blendax zufällig den Markt für<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 81


| K a p i t a l | M a r k e t i n g - M i l l i a r d ä r<br />

Energydrinks, der in Europa noch unterentwickelt<br />

ist. „Krating Daeng“ aus Thailand<br />

heißt übersetzt „Roter Stier“. Mit seinen<br />

Ersparnissen von fünf Millionen Schilling<br />

– damals 350 000 D-Mark – bringt er<br />

das Produkt auf den europäischen Markt,<br />

zusammen mit der thailändischen Industriellenfamilie<br />

Yoovidhya, die bis heute<br />

zu 51 Prozent beteiligt ist. Mateschitz’<br />

Das Stadion von Red Bull Salzburg heißt,<br />

wenig überraschend, Red Bull Arena, zwei<br />

weitere gibt es in Leipzig und New Jersey<br />

Nur Bandenwerbung reicht nicht, Red Bull<br />

kauft lieber ganze Vereine. Zur Sammlung<br />

gehören auch die Salzburger Eishockeyspieler<br />

Motto lautet von Beginn an: „Marketing<br />

ist alles.“ Er erzeugt um ein Getränk, das<br />

nicht viel mehr ist als angereichertes Zuckerwasser,<br />

eine Aura aus künstlichen Geschichten.<br />

Abenteurertum, Leistung, Lässigkeit.<br />

2012 war wieder ein Erfolgsjahr:<br />

Über fünf Milliarden verkaufte Dosen, ein<br />

Plus von fast 13 Prozent, 8966 Mitarbeiter<br />

in 165 Ländern, nebenbei wurde Red Bull<br />

Salzburg österreichischer Fußballmeister<br />

und Red-Bull-Pilot Sebastian Vettel zum<br />

dritten Mal Formel-1-Weltmeister. Mateschitz<br />

belegt in der jüngsten Forbes-Liste der<br />

reichsten Menschen Platz 162, Vermögen:<br />

7,1 Milliarden Dollar.<br />

Seinen Aufstieg kann man ohne Übertreibung<br />

als einmalig bezeichnen. Er ist<br />

Ein kleiner Sprung für die Menschheit, ein<br />

großer für Red Bull: 200 Sender zeigten<br />

Felix Baumgartners Sprung aus dem All live<br />

Seit 2010 dominiert ein Energydrink die<br />

Formel 1: Red Bull Racing gewann in der<br />

Zeit alle Fahrer- und Konstrukteurstitel<br />

kein Computer-Nerd wie Bill Gates oder<br />

Steve Jobs, die als junge Erwachsene neue<br />

Technologien entdeckten. Er hat keine Fabriken<br />

aufgebaut wie andere. Das Getränk<br />

produziert vom ersten Tag an die österreichische<br />

Firma Rauch. Mateschitz konzentriert<br />

sich auf Marketing und Vertrieb eines<br />

Produkts, das andere erfunden haben.<br />

Wer sich heute auf die Suche nach dem<br />

Menschen Mateschitz macht, wer ihn verstehen<br />

will, der stößt nicht nicht nur in<br />

Sankt Marein auf Schweigen. Sein Unternehmen<br />

solle im Mittelpunkt stehen, nicht<br />

er als Person, begründet die Firmenzentrale<br />

die Entscheidung, dass der Chef keinen<br />

Gesprächstermin gewährt. Wenn er Interviews<br />

gibt, spricht er über Fußball und<br />

Formel 1, jedoch kaum über sich. Auf Fotos<br />

präsentiert er sich mit dem immergleichen<br />

Abenteurerlächeln: ein Mann mit silbergrauem<br />

kurzen Haar und Dreitagebart,<br />

der offene Hemden und Lederjacken trägt,<br />

dessen Haut aussieht, als sei er den ganzen<br />

Tag an der frischen Luft.<br />

Um sich hat er Mitarbeiter installiert,<br />

die oft mehr als zehn Jahre in der Firma<br />

sind. Es herrscht eine extreme, fast zwanghafte<br />

Loyalität. Selbst wenn man aktuellen<br />

und ehemaligen Mitarbeitern oder<br />

Geschäftspartnern verspricht, sie nicht zu<br />

zitieren, sagt niemand etwas Negatives. Die<br />

Welt von Red Bull scheint perfekt, schnell<br />

und doch voller Ruhe. Der Chef: charismatisch,<br />

heißt es, klar in der Ansage, immer<br />

informiert. Mitarbeiter witzeln selbst,<br />

dass die Verschworenheit sie an eine Sekte<br />

erinnere.<br />

Für seine Jünger im Unternehmen ist<br />

er eine Ikone des modernen Managements:<br />

Im Alter von 38, wenn andere Familien<br />

gründen, sich niederlassen und ein Häuschen<br />

bauen, hat er eine neue Welt begründet,<br />

eine, in der seine Regeln gelten, die er<br />

kontrollieren kann, eine schnelle Welt, in<br />

der er aber seine Ruhe hat. Von der Außenwelt<br />

hat er sich verabschiedet.<br />

Johannes Kastner ist einer der wenigen,<br />

die sich keine Genehmigung holen müssen,<br />

wenn sie über Dietrich Mateschitz<br />

reden. Der 66-Jährige studierte mit dem<br />

Firmengründer Welthandel in Wien. Mit<br />

seiner Werbeagentur Kastner & Partner war<br />

er von Anfang an dabei: Er hat den Red-<br />

Bull-Erfolg mit geschaffen – und doch hat<br />

er sich seine Unabhängigkeit einigermaßen<br />

bewahrt. Seine Agentur sitzt auch nicht wie<br />

die Red Bull GmbH in Fuschl am See bei<br />

Salzburg, sondern in einem siebenstöckigen<br />

Hochhauskasten in einem Vorort von Zürich.<br />

Als Besprechungsraum dient die Teeküche,<br />

auf dem Boden stehen Getränkekästen<br />

und ein Red-Bull-Pappaufsteller.<br />

Kastner kommt aus Osttirol. Dietrich<br />

Mateschitz und er nennen sich „Didi“ und<br />

Fotos: Helmut Fohringer/Picture Alliance/DPA, Picture Alliance/DPA/AP Photo, Picture Alliance/DPA (2)<br />

82 <strong>Cicero</strong> 5.2013


„Hansl“. Als Didi aus Asien mit der Idee für<br />

einen Energydrink kam, rief er Hansl an,<br />

der nach dem Studium eine Werbeagentur<br />

in Frankfurt führte. Didi bat Hansl, sich<br />

um die Kommunikation dieses Getränks<br />

zu kümmern, das noch gar nicht existierte.<br />

Anderthalb Jahre lang werkelte Hansl<br />

Kastner an einem Werbeslogan. 50 Vorschläge<br />

brachte er, 50 lehnte Mateschitz<br />

ab. „Ich war alle, kaputt, leer“, sagt Kastner.<br />

Dann kam ihm in der Nacht die Idee: „Red<br />

Bull verleiht Flüüügel.“ Als er Didi anrief,<br />

sagte der nur: „Passt.“ Kastner sagt heute:<br />

„Die Gedanken sind irgendwann deckungsgleich.<br />

Und wenn der Satz kommt, dann<br />

weißt du als Texter, das ist es.“<br />

Mateschitz saß zu dieser Zeit noch<br />

in Wiesbaden und ließ das Getränk entwickeln<br />

– in leicht veränderter Rezeptur<br />

zur „Krating Daeng“-Vorlage aus Thailand.<br />

Wasser, Zitronensäure, über 11 Prozent Zucker,<br />

0,03 Prozent Koffein und 0,4 Prozent<br />

Taurin, eine Aminosulfonsäure, die<br />

ursprünglich aus der Galle von Ochsen<br />

stammt und stimulierend wirken soll. Red<br />

Bull hätte ein deutsches Unternehmen werden<br />

können, aber die deutschen Behörden<br />

waren Mateschitz zu bürokratisch bei der<br />

Zulassung des Getränks. Ende 1986 zog er<br />

nach Salzburg. Kastner erzählt, dass Mateschitz<br />

ihm damals einen Zettel mit einer<br />

Hochrechnung zeigte: „Österreich hat sieben<br />

Millionen Einwohner, wenn jeder nur<br />

eine Dose im Jahr trinkt, à 14 Schilling,<br />

also zwei Mark, haben wir schon 14 Millionen<br />

Mark Jahresumsatz.“ So kam es.<br />

Am 1. April 1987 kam das Getränk in<br />

Österreich auf den Markt. Bereits 1988<br />

verkaufte Mateschitz 1,2 Millionen Dosen.<br />

Der Journalist Wolfgang Fürweger schreibt<br />

in dem Buch „Die Red-Bull-Story“, dass<br />

Mateschitz mal gesagt habe: „Der Hansl<br />

ist der kreative Vater von Red Bull.“ Kastner<br />

schrieb die humoristischen Comics, die<br />

eine möglichst breite Zielgruppe erschließen<br />

sollten. Mit Red Bull wuchs auch Kastners<br />

Agentur, die weltweit alle Werbekampagnen<br />

begleitet. Dennoch stieg er nie in<br />

Mateschitz’ Firma ein. Zwei Alphatiere in<br />

einer Firma – das wäre vielleicht auch nicht<br />

gut gegangen. Als Red Bull noch in der Planungsphase<br />

war, versuchten sie nebenher,<br />

ein paar Werbekunden zu akquirieren. Sie<br />

bekamen keinen Auftrag.<br />

Zu Studienzeiten kannten sie sich nur<br />

flüchtig, „wie sich Jungs so kennen, die zusammen<br />

fortgehen und Mädels aufreißen“,<br />

wie Kastner sagt. Inzwischen seien sie sehr<br />

gute Freunde. Beide sähen sich als kreative<br />

Nonkonformisten, liebten die Unabhängigkeit.<br />

Und doch unterscheiden sie sich.<br />

Johannes Kastner ist ein rundlicher, gemütlicher<br />

Typ, drei Töchter, inzwischen Großvater.<br />

Er sagt, er sei großzügig, loyal und<br />

faul. Überstunden findet er schrecklich.<br />

„Diejenigen, die sich damit brüsten, viel<br />

gearbeitet zu haben, sind entweder fremdgegangen<br />

oder sie schaffen ihren Job nicht“,<br />

sagt er. Wenn Red Bull Geist und Körper<br />

bewegen soll, dann sei es bei ihm eher der<br />

Geist. „Einen besonderen Bewegungsdrang<br />

habe ich nie gehabt.“<br />

Kastner liebt Oldtimer, Mateschitz<br />

Sportwagen. Auch Mateschitz wohne diese<br />

Sehnsucht nach Ruhe inne, die viele haben,<br />

die zwischen den Bergen groß geworden<br />

sind. Aber er liebte immer schon auch<br />

den Sport und die Geschwindigkeit. Vor<br />

allem, sagt Kastner, verbinde Mateschitz<br />

zwei Eigenschaften, die man selten in einer<br />

Person vereint findet: ein Analytiker<br />

mit Bauchgefühl.<br />

Zu dieser Mischung musste er sich<br />

erst selbst ein passendes Unternehmen<br />

aufbauen. Über seine Arbeit bei Blendax<br />

sagte er der Neuen Zürcher Zeitung vor<br />

Jahren, dass er wegwollte von einem Job<br />

in einem multinationalen Konzern, da sei<br />

er „stets ein Exot“ gewesen. Zudem habe<br />

er „ein sehr ausgeprägtes Bedürfnis nach<br />

Freiheit und Unabhängigkeit“. Mateschitz<br />

war nie verheiratet, führte diverse längere<br />

Beziehungen, aus einer stammt sein Sohn<br />

Mark, der heute 20 Jahre alt ist.<br />

Das ganze Red-Bull-Reich, das sich<br />

Dietrich Mateschitz aufgebaut hat, ist betont<br />

anders als die Wirtschaftswelt, in die er<br />

hineinwuchs. Es gibt Menschen, die nennen<br />

es „Österreichs DDR“: Didis Dosenrepublik.<br />

Er hat viele kleine Orte geschaffen,<br />

zwischen denen er pendelt: der<br />

Hangar 7 am Salzburger Flughafen, wo<br />

Red Bull alte und neue Flugzeuge und<br />

Rennautos auffährt, aber auch feines Essen,<br />

Kunst und eine Bar bietet. Die Zentrale<br />

in Fuschl am See, die mit den gläsernen<br />

Pyramidendächern an einen Vulkan erinnern<br />

soll und dennoch hinter Bäumen fast<br />

am Seeufer verschwindet. Die Mitarbeiter<br />

nennen das Gebäude „das Auge“, weil der<br />

Ort so geheimnisvoll sei. Die Produkte präsentiert<br />

Red Bull gerne in Las Vegas, wo es<br />

laut ist, in Fuschl am See prangt nicht mal<br />

das Bullen-Logo am Firmengebäude.<br />

Anzeige<br />

© Foto Cohn-Bendit: European Union 2011 PE-EP; Meyer, Marguier: Antje Berghäuser<br />

Scheitert Europa<br />

an Deutschland?<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer und<br />

Alexander Marguier, stellvertretender<br />

<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur, im Gespräch<br />

mit Daniel Cohn-Bendit.<br />

Sonntag, 28. April 2013, 11 Uhr<br />

<strong>Berlin</strong>er Ensemble,<br />

Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 <strong>Berlin</strong><br />

Tickets: Telefon 030 28408155<br />

www.berliner-ensemble.de<br />

BERLINER<br />

ENSEMBLE<br />

28. APRIL<br />

In Kooperation<br />

mit dem <strong>Berlin</strong>er Ensemble<br />

Daniel<br />

Cohn-Bendit


| K a p i t a l | M a r k e t i n g - M i l l i a r d ä r<br />

Die Mitarbeiter sehen Mateschitz eher<br />

selten. Aber eine Begegnung ist jedem sicher.<br />

In unregelmäßigen Abständen lädt<br />

Red Bull neue Mitarbeiter ein. Eine Art<br />

Willkommenstag für Neulinge. Die Orte<br />

wechseln. Sicher ist nur, dass beim Abendessen<br />

der Chef erscheint und ein bisschen<br />

über die Firma plaudert. Dann geht ein<br />

Mikrofon rum und jeder der manchmal<br />

100 neuen Mitarbeiter muss sich kurz vorstellen,<br />

sagen, was er macht, was er will.<br />

Auch eine Frage an den Chef ist möglich.<br />

Diese Prozedur dauert oft ein, zwei Stunden.<br />

Mateschitz begutachtet die neuen Einwohner<br />

seiner Welt.<br />

Aber eins ist „DM“, wie ihn einige<br />

Mitarbeiter nennen, bisher nicht gelungen:<br />

neue starke Männer um sich herum<br />

aufzubauen. 2003 installierte er Kellogg-<br />

Manager Flemming Sundo, der ist aber<br />

inzwischen genauso weg wie Dany Bahar,<br />

zeitweise Nummer zwei hinter Mateschitz.<br />

Er wechselte zum Autobauer Lotus.<br />

Mateschitz pendelt zwischen einer<br />

Villa in Salzburg, der Haflingerzucht auf<br />

dem Bauernhof in Zell am See und dem<br />

entlegenen Annaberg, wo er eine Hütte auf<br />

einem Bergplateau zu einem Spitzenrestaurant<br />

ausgebaut hat. Manchmal feiert er Geburtstag<br />

auf seiner Südseeinsel Laucala, wo<br />

er ansonsten Ferienvillen vermietet.<br />

„Solange in Moskau eine perforierte<br />

Kniescheibe 500 Dollar kostet, sind<br />

Sie nicht mehr sicher“, drohte<br />

Mateschitz einem Journalisten.<br />

Später entschuldigte er sich per Brief<br />

Die Zukunft liegt hinter drei Torbögen: Red Bull hat kürzlich eine 17,8 Hektar große Kaserne<br />

bei Salzburg erworben und eine „schrittweise Verlegung eines Teiles der Konzernverwaltung“<br />

bestätigt. In Fuschl am See geht man davon aus, den Firmensitz 2014 zu verlieren<br />

In Sankt Marein, seinem Heimatdorf, ist<br />

er lange nicht gesehen worden. Dabei liegt<br />

dort vermutlich der Ursprung für seine<br />

Sehnsucht nach Unabhängigkeit, aber<br />

auch Ruhe. In seiner alten Volksschule<br />

unterrichtete ihn seine Mutter. Die Alten<br />

im Dorf sagen, sie sei eine strenge Lehrerin<br />

gewesen. Viel mehr erfährt man nicht.<br />

Als der österreichische Wirtschaftsjournalist<br />

Michael Nikbakhsh vor Jahren in Sankt<br />

Marein recherchierte, ließ Mateschitz ihm<br />

ausrichten, „solange in Moskau eine perforierte<br />

Kniescheibe 500 Dollar kostet“,<br />

werde er nicht mehr sicher sein. Später entschuldigte<br />

er sich in einem Brief.<br />

Die Volksschule Sankt Marein ist ein<br />

schlichter zweigeschossiger Bau, seit dem<br />

Umbau 1961 ist nicht mehr viel gemacht<br />

worden. In den Bänden der Schulchronik<br />

lässt sich nachvollziehen, in welcher Zeit<br />

Mateschitz, Jahrgang 1944, groß wurde.<br />

Zwei Fotos zeigen die erste und fünfte<br />

Klasse von damals. Die 32 Erstklässler auf<br />

dem Bild lachen, die Zehn- und Elfjährigen<br />

gucken entschlossen. Mit Tinte haben<br />

Lehrer auf liniertem Papier für jedes<br />

Jahr die Ereignisse im Ort notiert, aufgelistet<br />

nach Verkehrsunfällen, Todesfällen,<br />

Bautätigkeiten, Geschäftseröffnungen,<br />

aber auch die Erlebnisse der Schüler wie<br />

die Suche nach Kartoffelkäfern, die Kriegerdenkmalweihe<br />

oder die Altstoffsammlung<br />

am 26. Mai 1951, bei der die Schüler<br />

293,20 Schilling einnahmen. Die Schule<br />

war ein kleiner, heiler Ort in einer Welt,<br />

die sich im Aufbruch befand.<br />

Dietrich Mateschitz wuchs bei seiner<br />

Mutter auf, über den Vater ist nur bekannt,<br />

dass er Lehrer war und aus Maribor kam.<br />

Vielleicht braucht der Sohn deswegen sein<br />

Unternehmen als Ersatzfamilie. Es gibt jedenfalls<br />

Menschen, die ihn als „Familienoberhaupt“<br />

anerkennen. Hannes Arch zum<br />

Beispiel. Der 45-Jährige ist Extremsportler<br />

und einer von mehr als 600 Sportlern, die<br />

der Konzern unter Vertrag hat. Er ist der<br />

einzige, der in fünf verschiedenen Sportarten<br />

aktiv war: Klettern, Basejump, Kunstflug,<br />

Air-Race und Paragliding.<br />

Die Red-Bull-Zentrale vermittelt ihn<br />

gerne bei Presseanfragen, weil er so loyal ist.<br />

Arch sitzt auf Hawaii und sagt übers Internettelefon<br />

artig, dass Red Bull mehr sei als<br />

ein Getränk: „wie eine Familie“, „ein Lebensgefühl“.<br />

Es klinge vielleicht komisch,<br />

aber: „Durch meine Venen fließt Red Bull.“<br />

Früher habe er jeden Tag fünf bis zehn Dosen<br />

getrunken. Heute seien es weniger, vor<br />

allem zum Frühstück und verdünnt zum<br />

Sport. Als Familienmitglied genießt er das<br />

Privileg, dass ihm seine Lieblingslimo an<br />

jeden Ort der Welt geliefert wird.<br />

Hannes Arch sagt, er spüre, dass Mateschitz<br />

die Leistung der Sportler respektiere.<br />

Das mag sein, aber der Marketingstratege<br />

kalkuliert auch kühl den Werbewert jedes<br />

einzelnen Athleten. Seinen größten Coup<br />

landete Red Bull im vergangenen Oktober,<br />

als mehr als 200 Fernsehsender weltweit<br />

live von Felix Baumgartners Sprung<br />

aus dem Weltall berichteten. Die für die<br />

Menschheit verzichtbare Aktion hatte nach<br />

Schätzungen von Experten einen Werbewert<br />

jenseits der Milliarden-Euro-Grenze.<br />

Auch der Einstieg in den Fußball war<br />

für Mateschitz in erster Linie eine Marketingentscheidung,<br />

nachdem das Geschäft<br />

Fotos: Luckyprof, Privat (Autor)<br />

84 <strong>Cicero</strong> 5.2013


mit den selbst kreierten Events und Extremsportarten<br />

weitgehend ausgereizt<br />

scheint. Fans, die gegen die Übernahme<br />

ihrer Vereine protestieren, spielen deswegen<br />

kaum eine Rolle. Mateschitz kauft, was<br />

in seine Welt hineinpasst. Seinen Heimatverein<br />

SV St. Marein-St. Lorenzen in die<br />

erste Liga bringen? Niemals, Mateschitz ist<br />

kein Mäzen, wie SAP-Gründer und Milliardärskollege<br />

Dietmar Hopp, der den Provinzklub<br />

TSG Hoffenheim mit seinem<br />

Geld in die Bundesliga brachte. Nur Bandenwerbung<br />

bei Spitzenvereinen buchen<br />

oder Hauptsponsor werden? Zu konventionell.<br />

Zuletzt kaufte er sich stattdessen<br />

beim Eishockeyclub EHC München ein.<br />

Aus dem Fußballoberligisten SSV Markranstädt<br />

hat er RB Leipzig gemacht. Die<br />

Abkürzung steht für Rasen-Ballsport, weil<br />

eine Umbenennung in Red Bull Leipzig im<br />

deutschen Fußball nicht erlaubt ist.<br />

Mateschitz will die Kontrolle. Deswegen<br />

gehört zum Unternehmen auch der<br />

Fernsehsender Servus TV, aus dem sich<br />

ein weltweiter Red-Bull-Sender entwickeln<br />

könnte. Eigenes Fernsehen, eigene Magazine<br />

wie das Red Bulletin, Websites, Social<br />

Media – das Unternehmen nutzt alle Kanäle,<br />

um mit selbst produzierten Inhalten<br />

die Marke populärer zu machen.<br />

Alles immer größer – dafür wird sogar<br />

die Zentrale verlegt. Die Zukunft<br />

von Red Bull liegt südlich von Salzburg<br />

hinter einer Einfahrt mit weißen Torbögen.<br />

Der Konzern hat den Zuschlag für<br />

die 17,8 Hektar große Rainer-Kaserne in<br />

Elsbethen-Glasenbach erhalten. Eine Red-<br />

Bull-Sprecherin will nur eine „schrittweise<br />

Verlegung eines Teils der Konzernverwaltung“<br />

bestätigen.<br />

Ungewiss bleibt, wie lange Dietrich<br />

Mateschitz seine Dosenrepublik noch<br />

selbst lenkt. Einen Verkauf an Coca-Cola<br />

oder Pepsi, die mit eigenen Energydrinks<br />

bisher erfolglos blieben, gilt als ausgeschlossen.<br />

Sein Sohn Mark ist seit kurzem Geschäftsleiter<br />

einer Verwaltungsgesellschaft<br />

im Imperium. Ob er die Nachfolge antreten<br />

wird? Auf persönliche Anfragen meldet<br />

sich die Red-Bull-Zentrale und sagt, dass<br />

er nichts sagt. Ganz der Vater.<br />

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Unser Wein des Monats<br />

<strong>Cicero</strong> empfiehlt: Grüner Veltliner, 2012<br />

Weißwein je Flasche für 5,90 EUR<br />

(zzgl. Versandkostenpauschale von 7,95 EUR)<br />

Helles Gelbgrün. In der Nase reifer, gelber Apfel. Feine Fruchtsüße,<br />

etwas Blütenaromen. Am Gaumen saftig, würzig. Bestens als Begleiter<br />

zu Spargel geeignet. Restzucker: trocken, Säurewert 5,9 g/l.<br />

Bestellnummer: 982066 (Einzelflasche); 982065 (Paket)<br />

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<strong>Cicero</strong>-Leserservice<br />

20080 Hamburg<br />

Online-Shop:<br />

www.cicero.de/wein<br />

Stefan Tillmann<br />

schreibt für <strong>Cicero</strong> Reportagen<br />

über Köpfe der Wirtschaft


| K a p i t a l | D a t e n s a m m l e r<br />

„neue Rasterfahndung“<br />

Der Autor Rudi Klausnitzer erklärt das Phänomen der Datensammelwut, warum<br />

Supermärkte wissen, wer schwanger ist, und Steakmesser nicht verboten werden müssen<br />

H<br />

err Klausnitzer, möchten Sie<br />

von Ihrem Supermarkt erfahren,<br />

dass Ihre Frau oder Ihre<br />

Tochter schwanger ist?<br />

Nein, natürlich nicht, aber ich muss<br />

zur Kenntnis nehmen, dass Supermärkte<br />

in der Lage sind, allein aus<br />

dem Einkaufsverhalten ihrer Kundinnen<br />

mit hoher Treffsicherheit auf eine<br />

Schwangerschaft zu schließen.<br />

Wie funktioniert das konkret?<br />

In den USA hat eine Supermarktkette<br />

mithilfe der Daten, die sie durch Kundenkarten-<br />

oder Kreditkartenabrechnungen,<br />

Befragungen und Tests gesammelt<br />

und mit eigens entwickelten<br />

Algorithmen ermittelt haben, herausgefunden,<br />

dass eine hohe Korrelation<br />

zwischen einer Schwangerschaft und<br />

dem Kauf von rund 25 Produkten besteht.<br />

Zum Beispiel fangen Frauen im<br />

zweiten Drittel der Schwangerschaft<br />

an, unparfümierte Körperlotions zu<br />

kaufen, und greifen plötzlich zu Spurenelementen<br />

wie Kalzium, Zink und<br />

Magnesium.<br />

Was macht der Supermarkt mit dieser<br />

gewonnenen Erkenntnis?<br />

Er lässt dann den Algorithmus über<br />

seine Datenbank laufen und hat anschließend<br />

eine Liste mit Tausenden<br />

von schwangeren Frauen, die regelmäßig<br />

bei ihm einkaufen. Die Auswertung<br />

ist inzwischen so genau, dass<br />

das Unternehmen nicht nur mit einer<br />

Wahrscheinlichkeit von mehr als<br />

80 Prozent sagen kann, dass eine Kundin<br />

schwanger ist, sondern auch mit<br />

relativ hoher Genauigkeit den Geburtstermin<br />

vorhersagen kann. Mit<br />

Rudi Klausnitzer, 65, hat seine Karriere beim Radio in Österreich begonnen, war Sat1-<br />

Programmdirektor und Intendant der Vereinigten Bühnen Wien. Jetzt hat er das Buch<br />

„Das Ende des Zufalls“ zu den Folgen des digitalen Datensammelns herausgebracht<br />

Gutscheinen für unparfümierte Seife<br />

oder Coupons für Windeln kann es dann<br />

maßgeschneiderte Marketingmaßnahmen<br />

ergreifen.<br />

In Ihrem neuen Buch „Das Ende des Zufalls“<br />

beschreiben Sie das Phänomen „Big<br />

Data“: Wir produzieren und veröffentlichen<br />

bewusst und unbewusst immer mehr<br />

Daten, gleichzeitig werden Unternehmen,<br />

Staaten, Geheimdienste und andere<br />

Institutionen immer besser darin, diese<br />

gewaltigen Mengen auszuwerten und<br />

für sich nutzbar zu machen. Ist das eher<br />

Segen oder Fluch?<br />

Beides, wenn man ehrlich ist. Es gibt beispielsweise<br />

die QS-Bewegung. Das steht<br />

für Quantified Self: Selbsterkenntnis<br />

durch Selbstbeobachtung lautet das<br />

Motto. Deren Anhänger messen die Zahl<br />

ihrer Schritte pro Tag, mehrfach ihren<br />

Blutdruck und -zucker, wie viele Liegestütze<br />

sie machen, wann sie Sex haben<br />

und stellen sich morgens und abends auf<br />

die Waage. Letztere ist direkt mit dem<br />

Internet verbunden, die anderen Daten<br />

werden mithilfe von Smartphone-Anwendungen<br />

festgehalten und über Facebook<br />

oder andere Netzwerke mit anderen<br />

geteilt.<br />

Ist dieser Kontrollzwang nicht krankhaft?<br />

Ab einem gewissen Punkt sicherlich,<br />

aber diese spielerische Form der Datensammlung<br />

hat, die Experten sprechen<br />

von Gamifizierung, auch einen hoch<br />

Foto: Picture Alliance/Picturedesk<br />

86 <strong>Cicero</strong> 5.2013


motivierenden Effekt, der bei vielen Fitnessprogrammen<br />

genutzt wird. Und alle<br />

diese Daten stehen dank digitaler Speicherung<br />

auch für wissenschaftliche Zwecke<br />

zur Verfügung. Das gehört für mich<br />

in die Abteilung Segen, weil es mir heute<br />

eher Angst und Bange macht, dass die<br />

medizinische Forschung mit kleinen<br />

Stichproben auskommen muss.<br />

Gut, aber wenn meine Waage meldet, dass<br />

ich zu dick bin, meine Toilette online ist<br />

und mitteilt, dass in meinem Urin Drogen<br />

sind oder ich eine chronische Krankheit<br />

habe, sind wir dann nicht auf dem Weg in<br />

die Gesundheitsdiktatur?<br />

Wenn Sie infolgedessen aus der Krankenversicherung<br />

fliegen, gehört das in<br />

die Abteilung Fluch, weil Datenanalyse<br />

dann gesellschaftliche Benachteiligung<br />

und Ausgrenzung zur Folge hat. Besonders<br />

problematisch ist es da, wo Daten<br />

aus verschiedenen Bereichen akkumuliert<br />

werden und daraus Rückschlüsse mit einer<br />

gewissen Wahrscheinlichkeit gezogen<br />

werden können. Da landen sie dann<br />

plötzlich in der Schublade „psychisch instabil“<br />

aufgrund der Musik, die sie bei<br />

iTunes heruntergeladen, und der Bücher,<br />

die Sie bei Amazon gekauft haben. Aber<br />

gerade deswegen brauchen wir einen gesellschaftlichen<br />

Diskurs über den Umgang<br />

mit diesen Datenmengen.<br />

Wie könnte ein vernünftiger Umgang mit<br />

Big Data aussehen?<br />

Ich plädiere für die freie Verfügbarkeit<br />

anonymisierter Daten. Wer die zu Forschungszwecken<br />

oder auch mit Gewinnerzielungsabsicht<br />

analysieren will, muss<br />

sich strengen Richtlinien unterwerfen. Jeder<br />

Versuch, sensible anonymisierte Daten<br />

zu reidentifizieren, also wieder einer<br />

Person zuzuordnen, muss empfindlich<br />

bestraft werden.<br />

Aber es bleibt doch eine Wiederauferstehung<br />

der Rasterfahndung, die wir vor<br />

allem aus der Terrorbekämpfung kennen?<br />

Das stimmt, mit dem feinen Unterschied,<br />

dass die Rasterfahndung heute nicht<br />

mehr nur vom Staat, sondern auch von<br />

börsennotierten Unternehmen eingeleitet<br />

werden kann. Ich finde es aber grundsätzlich<br />

in Ordnung, wenn zum Beispiel<br />

der Staat modernste algorithmusgestützte<br />

Datenanalyse bei der Steuerfahndung<br />

einsetzt. Das kann er zunächst mit anonymisierten<br />

Datensätzen machen. Wer<br />

im Raster hängen bleibt, muss dann natürlich<br />

auch reidentifiziert werden können.<br />

Dessen Steuererklärung prüft man<br />

genauer und setzt so die Steuerfahnder<br />

gezielter und effizienter ein, was die Steuergerechtigkeit<br />

erhöht.<br />

Und bei privaten Unternehmen?<br />

Die dürfen mit den Daten all das machen,<br />

wozu die Kunden ihre Einwilligung<br />

gegeben haben. Aber wenn ein E‐Commerce-Händler<br />

versucht, auf diese Weise<br />

die Kundengruppen herauszufiltern, die<br />

nicht bezahlen oder extrem hohe Retourquoten<br />

haben, finde ich das auch legitim.<br />

„Man kann<br />

sich den<br />

Datensammlern<br />

nicht entziehen,<br />

wenn man sich in<br />

der digitalen Welt<br />

bewegt“<br />

Wer sind denn dann die großen Gewinner<br />

dieser Entwicklung?<br />

Menschen mit mathematisch-statistischem<br />

Hintergrund, die die digitale<br />

Welt verstehen und ein Gefühl für<br />

die Bandbreite der Einsatzmöglichkeiten<br />

moderner Datenanalyse haben, sind<br />

extrem gefragt. Aber auch in den Medien<br />

ist ein neuer Typ von Journalist gefragt,<br />

der komplexe Daten analysieren<br />

und verständlich aufbereiten kann. Und<br />

der Bereich der Markt- und Meinungsforschung<br />

muss sich einem drastischen<br />

Wandel unterziehen. Es wird viel wichtiger<br />

zu analysieren, was die Leute tatsächlich<br />

tun, statt auszuwerten, was sie zum<br />

Beispiel in einer Befragung sagen. Denn<br />

dazwischen gab es schon immer eine Diskrepanz.<br />

Die Prognosen werden daher<br />

präziser, wenn es gelingt, aus der Datenflut<br />

direkt herauszufiltern, was die Leute<br />

tatsächlich machen oder haben wollen,<br />

wie das Beispiel mit den Schwangeren<br />

zeigt.<br />

Aber woher rührt dieses manische Bedürfnis,<br />

den Zufall abzuschaffen und alles<br />

präzise vorherzusagen?<br />

Zum einen ist es bares Geld wert, zum<br />

anderen entspricht es der Arbeitsweise<br />

unseres Gehirns. Das macht ständig Vorhersagen<br />

und prüft dann, ob die von den<br />

Sinnesorganen gelieferten Daten mit der<br />

Vorhersage übereinstimmen. Das ist der<br />

effizienteste Umgang mit unseren Energieressourcen.<br />

Zufälle stören da nur.<br />

Wenn das, was wir erwarten, auch eintritt,<br />

wird das Glückshormon Dopamin<br />

ausgeschüttet.<br />

Wird das Leben nicht entsetzlich langweilig,<br />

wenn nichts Unvorhergesehenes mehr<br />

passiert?<br />

Keine Angst, Überraschungen wird es<br />

noch genug geben. Dafür ist die Welt<br />

komplex genug. Aber eine Studie der Unternehmensberatung<br />

McKinsey sagt voraus,<br />

dass man mit besseren Prognosen<br />

allein in den OECD-Ländern im Bereich<br />

der öffentlichen Verwaltung rund<br />

150 Milliarden Euro im Jahr einsparen<br />

könnte. Für den US-Gesundheitsbereich<br />

wurde das Potenzial sogar mit 300 Milliarden<br />

Dollar im Jahr veranschlagt. Wenn<br />

diese Beträge in die Bildung investiert<br />

würden, wäre das doch ein guter Deal.<br />

Und entziehen kann man sich der Datensammelwut<br />

ohnehin nicht, oder?<br />

Kaum, wir produzieren jeden Tag das<br />

Zwölfeinhalbfache der Datenmenge aller<br />

jemals gedruckten Bücher. Man kann<br />

nicht zum Digitalaussteiger werden, wenn<br />

man gleichzeitig die Vorteile der Digitalisierung<br />

nutzen will. Wichtig ist, dass wir<br />

uns die Mechanismen bewusst machen,<br />

die dahinterstehen. Sonst sind wir leichte<br />

Beute für die Datensammler, weil wir uns<br />

zu schnell verführen lassen durch Gegenleistung<br />

oder einfach aus Bequemlichkeit<br />

Informationen preisgeben, die wir eigentlich<br />

gar nicht mitteilen wollten. Mir geht<br />

es aber auch darum, die Chancen zu zeigen,<br />

die sich aus dieser Entwicklung ergeben.<br />

Wir neigen in Europa häufig dazu,<br />

nur die Gefahren zu sehen und darauf mit<br />

Verboten zu reagieren. Man kann auch<br />

mit einem Steakmesser jemanden töten,<br />

aber deswegen käme keiner auf die Idee,<br />

es zu verbieten.<br />

Das Gespräch führte Til Knipper<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 87


Rettungswache in Gräfenhainichen,<br />

Sachsen-Anhalt. Was passiert,<br />

nachdem man 110 gewählt hat?<br />

Not macht<br />

erfinderisch<br />

In der Notfallmedizin geht es um Minuten. Aber es<br />

fehlen Ärzte, und die Wege werden weiter. Für die<br />

Patienten ein Bett zu ergattern, wird auch schwieriger –<br />

besonders auf dem Land. Wie löst man solche<br />

Probleme? Unterwegs mit einem Rettungsteam<br />

von Petra Sorge<br />

S<br />

amstagmorgen, 6:32 Uhr. Über<br />

der Wache des Deutschen Roten<br />

Kreuzes in Gräfenhainichen<br />

hängt eine schläfrige Stille, als<br />

der Alarm losgeht. Es ist ein<br />

schrilles Piepen, in Intervallen.<br />

Bettina von Gebhardt eilt aus ihrem<br />

Zimmer, drahtige Figur, blonde Kurzhaarfrisur,<br />

unter ihren Augen zeichnen<br />

sich Schatten ab. Es war eine lange Nachtschicht,<br />

bis halb eins. Sie drückt auf den<br />

Funkmeldeempfänger, dann ist Ruhe. Auf<br />

dem Display steht: männlich, 70 Jahre,<br />

Verdacht auf Herzinfarkt. Bad Schmiedeberg.<br />

„Das ist am Rand des Einsatzgebiets“,<br />

murmelt von Gebhardt.<br />

Sie springt in die Garderobe: Thermohose,<br />

Fleece-Pulli, Stiefel, eine Montur wie<br />

für die Skipiste. Sie hastet durchs Treppenhaus.<br />

Auf ihrer Jacke steht in schwarzen<br />

Buchstaben „Notarzt“. In der Garage im<br />

Erdgeschoss wartet der Einsatzwagen. Am<br />

Steuer sitzt Andy Richter, Rettungsassistent,<br />

rote Hose, sehniger Hals.<br />

Richter ist im Landkreis Wittenberg<br />

zu Hause. Hier hat er seine Ausbildung<br />

88 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Ä r z t e m a n g e l | K a p i t a l |<br />

Sie sticht eine<br />

Spritze in die<br />

Infusionstüte.<br />

„Morphium.<br />

Mein Lieblingsmedikament“<br />

Die Notärztin Bettina von<br />

Gebhardt im Einsatz<br />

Fotos: Christoph Busse für <strong>Cicero</strong><br />

gemacht, hier duzt er den Metzgermeister.<br />

Dr. von Gebhardt kommt aus <strong>Berlin</strong>,<br />

in Sachsen-Anhalt arbeitet sie nur zeitweise.<br />

Man kann sie im Internet buchen – tageoder<br />

wochenweise, auf notarzt-boerse.de<br />

oder auf hireadoctor.de. Einer ihrer Auftraggeber<br />

ist das DRK Gräfenhainichen.<br />

Andy Richter, 39, muskulös, früher Zeitsoldat,<br />

und Bettina von Gebhardt, grazil,<br />

58, Kinderchirurgin, sind ein ungleiches<br />

Duo. Zusammen müssen sie an diesem<br />

Samstagmorgen um kurz nach halb sieben<br />

ein Leben retten.<br />

Der Notarzt mit seinem Rettungsteam:<br />

Wo auch immer jemand die 112 wählt, ist er<br />

da, seit Jahrzehnten wird das erwartet. Sterbende<br />

sehen ihn als letztes Gesicht, Überlebende<br />

verdanken ihm alles, Angehörige<br />

richten ihre Hoffnungen auf seine Künste.<br />

Doch die Notfallmedizin, jener Bereich,<br />

in dem Minuten zählen, hat Probleme, besonders<br />

auf dem Land. Junge Ärzte ziehen<br />

hier gar nicht erst hin, die alternde Patientenstruktur<br />

verteuert alles, Kassen und Kliniken<br />

rechnen brutal. Die einst gut ausgestattete<br />

Hilfsstruktur ist zerschnitten. Die<br />

Rettungsdienste müssen damit klarkommen,<br />

sie müssen erfinderisch sein.<br />

6:35 Uhr. Das Auto kurvt lautlos aus der<br />

Garage. Blaulicht. Vorne knackt das Funkgerät,<br />

hinten rechts surrt ein Kühlschrank.<br />

Es nieselt. Andy Richter tritt aufs Gaspedal.<br />

In Sachsen-Anhalt muss der Rettungswagen<br />

nach zwölf, der Notarzt nach 20 Minuten<br />

eintreffen. Die gesetzliche Vorgabe<br />

variiert von Bundesland zu Bundesland. Im<br />

dünn besiedelten Kreis Wittenberg sind die<br />

20 Minuten an vielen Orten nicht zu schaffen.<br />

In Bad Schmiedeberg wird die Frist<br />

häufig überschritten.<br />

6:43 Uhr. Dübener Heide, über der Landstraße<br />

dämmert es. Die Tachonadel wandert<br />

nach rechts. 100 km/h, ein Überholmanöver<br />

mit Sirene, 130 km/h. Bettina<br />

von Gebhardt starrt aus dem Fenster. Ihr<br />

Blick streift über den Fahrbahnrand, heftet<br />

sich ans Dickicht.<br />

Notärztin sein, das ist für sie kein Beruf,<br />

sondern eine Leidenschaft. Die hat<br />

sie ihr Leben lang verfolgt, zielstrebig.<br />

Sie studierte erst Biologie, dann Medizin.<br />

Während der chirurgischen Facharztausbildung<br />

fuhr sie in Bremerhaven in ihrer Freizeit<br />

Notarztdienste. Sie wollte „die ganze<br />

Bandbreite“ erleben. Sie blieb dabei, als sie<br />

nach <strong>Berlin</strong> zog: von Freitag, 19 Uhr, bis<br />

Sonntag, 19 Uhr, neben der regulären Arbeitszeit,<br />

acht Jahre lang. Zeit für Familie<br />

blieb da nicht.<br />

Zuletzt war sie in der Kinderurologie.<br />

Doch es wurde ihr zu viel – 15 Bereitschaftsdienste<br />

monatlich. Sie kündigte,<br />

machte sich selbstständig. Sie wurde lieber<br />

Honorarärztin, eine Unternehmerin,<br />

die für wechselnde Auftraggeber arbeitet.<br />

6:48 Uhr. Der VW erreicht Bad Schmiedeberg.<br />

Jetzt noch die genaue Adresse. Die<br />

Straße hat mehrere Seitenarme, das Auto<br />

tuckert umher. „Laut Navi müssten wir da<br />

sein“, sagt die Ärztin. Minuten verstreichen.<br />

Endlich, ein Mann wedelt mit den<br />

Armen und brüllt: „Hinten rum.“<br />

Wer in Sachsen-Anhalt krank wird,<br />

dem kann es passieren, dass er warten<br />

muss, und das nicht nur auf den Notarzt.<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 89


| K a p i t a l | Ä r z t e m a n g e l<br />

Wanderärztin. Bettina von Gebhardt bekommt 700 Euro für 24 Stunden. Sie lebt eigentlich in <strong>Berlin</strong>, aber<br />

Rettungswachen in Ostdeutschland buchen sie per Internetbörse, weil es dort an Ärzten mangelt<br />

In keinem anderen Bundesland gibt es so<br />

wenige Mediziner pro Einwohner wie hier.<br />

Zugleich war es nach Angaben der Bundesärztekammer<br />

2010 das einzige Land mit<br />

einer Unterdeckung von Hausärzten. Im<br />

Kreis Wittenberg liegt der Versorgungsgrad<br />

bei 86 Prozent. 13 Hausarztstellen sind unbesetzt.<br />

Bundesweit liegt die Abdeckung<br />

dagegen bei 108 Prozent. Es mangelt nicht<br />

an Ärzten in Deutschland, sagen auch Experten,<br />

sie sind nur ungleich verteilt. In<br />

den Großstädten drängeln sie sich, auf dem<br />

Land fehlen sie.<br />

Die Kassenärztliche Vereinigung nennt<br />

die Lage „angespannt“. Die Krankenhausgesellschaft<br />

warnte im September, die notärztliche<br />

Versorgung in Sachsen-Anhalt sei<br />

„in Gefahr“, denn mehr als 200 Rettungsärzte<br />

fehlten an den Kliniken.<br />

So ist ein neuer Markt entstanden.<br />

Die Betreiber der Rettungsdienste werben<br />

ihr Personal über Internet-Agenturen<br />

wie die „Notarzt-Börse“ oder „Hire a doctor“<br />

an. Dort gibt es mittlerweile fast ein<br />

Dutzend Anbieter für mobile Mietmedizin.<br />

Ihre Kunden: Kliniken, Landkreise,<br />

Krankenkassen, private Rettungsdienste.<br />

An Feiertagen kletterten die Stundensätze<br />

schon mal um bis zu 70 Prozent, sagt Erik<br />

Björk, kaufmännischer Leiter der „Notarzt-<br />

Börse“. Im armen Sachsen-Anhalt werden<br />

Spitzenhonorare von bis zu 85 Euro die<br />

Stunde gezahlt.<br />

„Die Kosten liegen über denen für einen<br />

angestellten Arzt“, sagt auch der Geschäftsführer<br />

der Agentur Hire a doctor,<br />

Michael Weber. Teuer für die Kliniken, die<br />

aber auch nicht bereit sind, Ärzte durch<br />

höhere Gehälter dauerhaft in die Provinz<br />

zu locken. Das hat den absurden Effekt,<br />

dass viele Westdeutsche in Sachsen-Anhalt<br />

als Mietärzte arbeiten, während Ärzte aus<br />

Sachsen-Anhalt nach Hessen oder Baden-<br />

Württemberg pendeln, wo sie besser bezahlte<br />

Festanstellungen gefunden haben.<br />

Bettina von Gebhardt bekommt<br />

700 Euro für 24 Stunden. Das Internet<br />

hat ihr die neue Karriere überhaupt erst<br />

ermöglicht. Sie musste einmal ihr Profil<br />

bei den Vermittlungsagenturen einstellen –<br />

seitdem laufen die Aufträge ein, deutschlandweit.<br />

Die Wanderärztin beschränkt<br />

sich auf den Osten, weil es dann von <strong>Berlin</strong><br />

nicht so weit ist. In diesem Monat hat<br />

sie noch Dienste in Brandenburg, Neustrelitz/Mecklenburg<br />

und auf der Insel Rügen.<br />

6:53 Uhr. Das Notarztauto hat die richtige<br />

Hausnummer gefunden. Der Rettungswagen<br />

steht schon da. Von Gebhardt blickt<br />

auf die Uhr. 21 Minuten vom Eingang des<br />

Notrufs bis zur Ankunft. Eine Minute zu<br />

spät – gesetzliche Hilfsfrist überschritten.<br />

In der Wohnung liegt der Patient, grauschütteres<br />

Haar, Freizeithose, eingesunken<br />

auf der Couch. Sein Gesicht schimmert<br />

bläulich, die Stirn glitzert, der Körper<br />

zuckt. Seine Finger bohren sich in die Polster.<br />

Daneben zwei Johanniter-Rettungsassistenten<br />

in orange-blauer Uniform. Auf<br />

dem Parkettboden haben sie ihr Medizintäschchen<br />

aufgerollt: mit Spritzen, Röhrchen,<br />

Fläschchen. Ein EKG liegt bereit, ein<br />

Blutdruckmessgerät.<br />

Da, wo Notärzte fehlen, müssen die<br />

Rettungsassistenten einspringen. Während<br />

sie in der Großstadt bessere Taxifahrer<br />

sind, übernehmen sie auf dem Land die<br />

Fotos: Christoph Busse für <strong>Cicero</strong><br />

90 <strong>Cicero</strong> 5.2013


„Man will helfen,<br />

und es geht<br />

nicht, weil es<br />

Engpässe gibt“<br />

Andy Richter, Rettungsassistent<br />

Tempo. Andy Richter lebt im Kreis Wittenberg. Der ist groß. Nicht immer schafft es Richter, in den vorgeschriebenen 20 Minuten den<br />

Einsatzort zu erreichen. Und finden muss man den auch erst einmal<br />

komplette Erstversorgung. Im Kreis Wittenberg<br />

sind von den sechs Rettungswachen<br />

nur zwei mit Notärzten besetzt. Meistens<br />

fahren nur die Assistenten raus. Wird<br />

dennoch ein Mediziner benötigt, wie an<br />

diesem Morgen in Bad Schmiedeberg, wird<br />

der aus Wittenberg oder Gräfenhainichen<br />

dazubestellt – das „Rendezvous-System“.<br />

In Zukunft erhalten die Assistenten noch<br />

mehr medizinische Kompetenzen und eine<br />

längere Ausbildung. Aus Rettungsassistenten<br />

werden dann Notfallsanitäter. Das hat<br />

der Bundestag gerade erst beschlossen.<br />

6:54 Uhr. Im Wohnzimmer stehen zwei riesige<br />

Esstische. Ringsum sind Stühle aufgereiht.<br />

„Heute ist sein 70. Geburtstag“,<br />

flüstert die Ehefrau. Sie guckt unschlüssig.<br />

„Die Feier kann jetzt wohl abbestellt<br />

werden.“<br />

Von Gebhardt lächelt: „Dann wird<br />

nachgefeiert.“ Sie erkundigt sich nach<br />

einer Patientenverfügung. Kopfschütteln.<br />

Sie setzt sich auf die Couch, nimmt<br />

die Hand des Mannes, fragt nach seiner<br />

Vorgeschichte.<br />

Er hustet, kaum vernehmungsfähig.<br />

Seine Verwandten helfen aus: Zwei Lungenembolien<br />

und einen Herzinfarkt hat<br />

der Patient bereits hinter sich. Jetzt sind<br />

Symptome hinzugekommen – asthmatische<br />

Bronchitis, ein Lungenödem, Herzinsuffizienz,<br />

Schweißausbrüche, Atemnot.<br />

Dazu ein Stechen in der Brust. Ein<br />

„internistisches Polytrauma“ nennen die<br />

Fachleute so eine Vielzahl an Leiden. „Betroffene<br />

können irgendwann bewusstlos<br />

werden“, erklärt Bettina von Gebhardt später.<br />

„Absolut lebensgefährlich.“<br />

Die Ärztin greift seinen rechten Arm,<br />

schnürt ihn oben ab, fährt mit ihrem Finger<br />

die Beuge entlang. Bei einer blauen<br />

Vene hält sie an, desinfiziert, sticht eine Nadel<br />

hinein. Sie schiebt einen dünnen Plastikschlauch<br />

hinterher. Der springt wieder<br />

heraus. Blut entweicht. Zweiter Versuch,<br />

der Zugang in die Vene ist gelegt. Sie zieht<br />

die Nadel wieder heraus.<br />

Durch den Schlauch pulsiert eine<br />

klare Flüssigkeit – der Blutdrucksenker.<br />

Ein paar Minuten, dann folgen weitere<br />

Medikamente: eine Elektrolytlösung, ein<br />

Entwässerungsmittel, etwas gegen Übelkeit.<br />

Die Notärztin sticht eine Spritze in die Infusionstüte.<br />

Morphium. „Mein Lieblingsmedikament“,<br />

sagt sie.<br />

Der Mann entspannt sich. Doch viel<br />

Zeit lassen sie ihm nicht. Andy Richter und<br />

die zwei Johanniter stehen schon mit der<br />

Trage da. Zu dritt hieven sie ihn hinein. Das<br />

Beutelchen mit der Infusion muss der Patient<br />

selbst halten. Vor der Wohnungstür legen<br />

sie ihn auf eine fahrbare Trage, über eine<br />

Laderampe geht es in den Rettungswagen.<br />

7:04 Uhr. Das Team zurrt ihn fest. Ein Assistent<br />

schiebt das T-Shirt des Patienten<br />

hoch, klebt Elektroden auf die Brust. Das<br />

EKG. Ein anderer setzt ihm eine Maske auf<br />

Mund und Nase, dreht das Rädchen an einer<br />

Sauerstoffflasche. Es zischt leise. Über<br />

die Luftzufuhr erhält der Herzkranke weitere<br />

Medikamente: Er wird vernebelt, heißt<br />

das im Sanitäterjargon. Die Ärztin füllt das<br />

Protokoll aus. Der Patient ist intensivfertig.<br />

Notarzt sein, das heißt nicht nur, medizinisch<br />

alles richtig zu machen, schnell<br />

zu sein, zu improvisieren. Das heißt auch,<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 91


| K a p i t a l | Ä r z t e m a n g e l<br />

Sicherheit zu geben. Die Angehörigen zu<br />

beruhigen. Psychologe sein und Seelsorger.<br />

Aber viel zu oft auch nur: Servicekraft, rollender<br />

Spritzendienst. Denn häufig rufen<br />

Menschen die 112, obwohl sie gar nicht in<br />

Lebensgefahr sind. Sie rufen an, weil der<br />

Hausarzt im Urlaub ist oder weil sie nicht<br />

wissen, dass es für einfachere Fälle einen<br />

kassenärztlichen Notdienst unter der Telefonnummer<br />

116 117 gibt.<br />

Der Notarzteinsatz kostet zehnmal<br />

mehr als der klassische Hausbesuch. Geld<br />

erwirtschaftet das Rettungsteam nur, wenn<br />

auch tatsächlich ein Patient transportiert<br />

wird. Andernfalls erstatten die Krankenkassen<br />

dem Betreiber des Rettungswagens – in<br />

Gräfenhainichen dem DRK – die Kosten<br />

nicht. Reicht es, den Kranken vor Ort zu<br />

behandeln, wird die Fahrt auch nicht bezahlt.<br />

Im vergangenen Jahr passierte das<br />

nach offiziellen Angaben bei etwa einem<br />

von 16 Notarzteinsätzen im Landkreis.<br />

Bei den Rettungswagen gab es sogar für<br />

jede sechste Fahrt kein Geld von der Kasse.<br />

Bundesweit sind rund 40 Prozent der Einsätze<br />

notfallmedizinisch nicht erforderlich,<br />

schätzt Michael Burgkhardt von der Bundesvereinigung<br />

der Arbeitsgemeinschaften<br />

der Notärzte: „Der allseits verwöhnte deutsche<br />

Patient nutzt das System grundlos aus.“<br />

Die Träger der Rettungsdienste kalkulieren<br />

diese Fahrten aber in ihre Jahresplanung<br />

ein – was das Notarztwesen am Ende für<br />

alle teurer macht.<br />

Bettina von Gebhardt muss vieles sein,<br />

auch Detektivin: Wenn jemand stirbt,<br />

muss sie zweifelsfrei ermitteln, ob es ein<br />

natürlicher Tod war. „Kann ich das nicht,<br />

kreuze ich an: nicht geklärt“, sagt sie. Dann<br />

steht die Kriminalpolizei vor der Tür.<br />

Als Wander-Notärztin braucht sie außerdem<br />

ein Gespür für Menschen, wenn<br />

sie von Wache zu Wache zieht und ständig<br />

neue Teams trifft.<br />

In <strong>Berlin</strong> geht die Chirurgin oft ins<br />

Theater, in die Schaubühne, oder plaudert<br />

Italienisch, die Sprache Puccinis und Verdis,<br />

verarztet das <strong>Berlin</strong>er Ensemble. Als<br />

Regisseur Christoph Schlingensief noch<br />

Richter hat Angst, dass einer<br />

im Wagen stirbt. Keine Klinik<br />

nimmt eine Leiche an<br />

lebte und mit seinen behinderten Schauspielern<br />

auftrat, war sie die Medizinerin im<br />

Hintergrund.<br />

In Gräfenhainichen schaut die Wache<br />

nachmittags TV-Soaps, der Humor ist<br />

derb, bisweilen zotig. Als sie vor zehn Jahren<br />

hier anfing, hätten die Kollegen noch<br />

gelästert: „Jetzt räumt die Wessi-Frau unseren<br />

alten Leuten hier den Hintern aus.“ In<br />

dem Moment, in dem sie das erzählt, sitzt<br />

sie mit den Männern vom DRK gerade um<br />

den Mittagstisch bei Fleischklößchen mit<br />

Mischgemüse. Bettina von Gebhardt legt<br />

nach, deutet auf einen Wittenberg-Kalender,<br />

der an der weißen Wand hängt: „Hattet<br />

ihr nicht mal einen mit nackten Damen,<br />

so im Stil der Lkw-Fahrer?“ Andy Richter<br />

und die anderen Assistenten lachen.<br />

Hier die Intellektuelle mit dem Adelszusatz<br />

im Namen, die gern lateinische Sprichwörter<br />

zitiert, dort die Raubeine vom Land:<br />

Sie haben sich gefunden. Die Ärztin putzt,<br />

die Männer kochen. „Manchmal ist es wie<br />

Klassenfahrt“, sagt Bettina von Gebhardt.<br />

7:14 Uhr. Der Rettungswagen ist startklar,<br />

der Motor läuft, die Scheibenwischer quietschen.<br />

Aber Andy Richter, der Rettungsassistent,<br />

telefoniert noch. Sohn und Schwiegertochter<br />

des Patienten stehen angespannt<br />

daneben, ohne Schirm oder Mütze. Der<br />

Regen prasselt.<br />

Richter ruft: „Wittenberg ist voll!“ Im<br />

dortigen Paul-Gerhardt-Stift sind alle Intensivbetten<br />

belegt. Der Assistent tippt<br />

die nächste Nummer in sein Mobiltelefon.<br />

Er registriert die Blicke der Angehörigen,<br />

verschwindet im Notarzteinsatzwagen.<br />

Er spricht, legt auf, wählt erneut. Sieben<br />

Mal. Bitterfeld, Dessau – alles voll.<br />

7:19 Uhr. Richter sagt, in so einer Situation<br />

brauche man „Vitamin B“. Direkten Kontakt<br />

zum Klinikpersonal. Deshalb führt<br />

er die Gespräche, und nicht die auswärtige<br />

Notärztin. Die tröstet so lange ihren<br />

Patienten. Richter dagegen fleht, erklärt,<br />

feilscht. Verhandelt. „Es ist manchmal wie<br />

ein Verkaufsgespräch.“<br />

Es gibt Momente, da fühlt er sich in seinem<br />

Job als Lebensretter behindert. „Man<br />

will helfen und es geht nicht. Weil es Versorgungsengpässe<br />

gibt.“ Einmal habe ihn<br />

ein Krankenhaus abgewiesen mit der Begründung,<br />

nur noch ein Bett sei frei. „Aber<br />

gibt es einen Patienten, der mehr Anrecht<br />

auf dieses Bett hat als der Patient, der jetzt<br />

gerade ankommt?“<br />

Es geht auch um Geld. Dr. von<br />

Gebhardt, die selbst einmal für die Dokumentation<br />

der Fallpauschalen, also der einzelnen<br />

Klinikbehandlungen, zuständig war,<br />

drückt es so aus: „Aus Sicht der Klinik ist<br />

es nicht so toll, wenn man einen Schwerkranken,<br />

der wochenlang liegt, letztlich nur<br />

als Embolie abrechnen kann. Aus Sicht des<br />

Arztes ist dieses Fallpauschalen-System allerdings<br />

schrecklich.“<br />

Als Notärztin habe sie schon Situationen<br />

erlebt, wo sie ihren Kranken einfach<br />

nicht losbekam. „Dann sage ich: So, Kollege,<br />

es reicht! Und lade den Patienten einfach<br />

in der Notaufnahme ab.“ Bei ihr habe<br />

das stets geklappt.<br />

Andy Richters Angst ist, dass ein Patient<br />

in seinem Rettungswagen stirbt. Keine<br />

Klinik nimmt eine Leiche an. Dafür gibt<br />

es keine Vorschrift. Das Team muss dann<br />

warten, bis der Bestatter kommt, was Stunden<br />

dauern kann. Stunden, in denen das<br />

Einsatzfahrzeug blockiert ist.<br />

7:25 Uhr. Das Bangen in Bad Schmiedeberg<br />

dauert nun schon fast eine halbe Stunde.<br />

Der Patient liegt noch immer im Wagen<br />

auf der Pritsche. Dann ruft Richter endlich:<br />

„Es geht nach Bitterfeld.“<br />

7:50 Uhr. Eine Stunde und 18 Minuten<br />

nach dem Notruf, das Gesundheitszentrum<br />

Bitterfeld-Wolfen. Andy Richter und<br />

die Johanniter schieben den Herzkranken<br />

in die Notaufnahme. Bettina von Gebhardt<br />

geht mit dem leitenden Stationsarzt die<br />

Zahlen durch. Einen Platz in der Intensivstation<br />

gibt es trotzdem nicht. Dafür ein<br />

Bett in der Stufe darunter: „Intermediate<br />

Care“. Das Klinikpersonal wird genau hinschauen<br />

müssen.<br />

Wieder eine Notlösung.<br />

Petra Sorge<br />

ist Redakteurin bei <strong>Cicero</strong><br />

Online<br />

Foto: Andrej Dallmann<br />

92 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Lisa Simpson, Tochter<br />

Dahinter steckt<br />

immer ein kluger Kopf.<br />

www.faz.net


Solange<br />

Deutschland<br />

liest, werden<br />

wir schreiben.


| S t i l<br />

DIE BILDERMACHERIN<br />

Grace Coddington, seit drei Dekaden Kreativchefin der Vogue, beeinflusst die Modewelt wie keine andere<br />

von ANNE WAAK<br />

S<br />

IE SAGT VON SICH: „Ohne meine<br />

Haare wäre ich nicht wiederzuerkennen.“<br />

Tatsächlich kommt<br />

keine Beschreibung ihrer Person ohne die<br />

ellenbogenlangen, karottenfarbenen Kraushaare<br />

aus. Seit drei Jahrzehnten ist Grace<br />

Coddington die Kreativchefin der amerikanischen<br />

Vogue und mitverantwortlich dafür,<br />

welche Designer es in das wichtigste<br />

Modemagazin der Welt schaffen und damit<br />

in den Olymp der milliardenschweren<br />

Luxusmodenindustrie. Wer hingegen von<br />

der Vogue ignoriert wird, kann buchstäblich:<br />

einpacken. Aber da sie nur darin kreativ<br />

sei, die Kleider ihrer Modestrecken auszuwählen<br />

und zu arrangieren, nennt sich<br />

Coddington selbst schlicht „Stylistin“. Andere<br />

hingegen nennen sie die größte lebende<br />

Vertreterin ihrer Zunft.<br />

Grace Coddington, 72, wäre kaum jemandem<br />

außerhalb ihrer Branche bekannt,<br />

gäbe es nicht die aus dem Jahr 2009 stammende<br />

Dokumentation „The September Issue“.<br />

Da sieht man sie auf ihren immerflachen<br />

Sohlen wie ein hoch aufgeschossener<br />

Teenager mit schlenkernden Armen durch<br />

die Redaktion schlappen, fluchen und mit<br />

ihrer als ultrastreng und unnahbar geltenden<br />

Chefredakteurin Anna Wintour, „der<br />

mächtigsten Frau der Branche“, um jedes<br />

einzelne Bild ihrer aufwendig inszenierten<br />

Modegeschichten kämpfen. Wenn der<br />

Teufel Prada trägt, wie es ein Enthüllungsroman<br />

über Wintour nahelegt, dann ist<br />

Coddington so etwas wie die sympathische<br />

linke Hand des Teufels. Ihre ungehorsame<br />

Emotionalität macht sie zum heimlichen<br />

Star der Redaktion. Schaut man<br />

ihr bei der Arbeit zu, versteht man, dass<br />

es hier nicht nur um Fotos von ein paar<br />

Kleidern geht. Sondern immer auch um<br />

die entschiedene Feier von Schönheit. Und<br />

die hat bei Coddington immer auch etwas<br />

mit Eskapismus zu tun. Bis sie 18 Jahre alt<br />

war, hatte sie die pittoreske Einöde ihrer<br />

regnerischen nordwalisischen Heimatinsel<br />

Anglesey noch kein einziges Mal verlassen.<br />

Ihre Eltern führten ein plüschiges kleines<br />

Hotel, was die Familie in der Nachkriegszeit<br />

jedoch nicht vor der Armut bewahren<br />

konnte. Aus der transportierte sich Grace<br />

mithilfe der Vogue gedanklich in schönere,<br />

aufregendere Welten.<br />

Heute erschafft sie diese Welten selbst.<br />

Für eine ihrer liebsten Arbeiten verkleidete<br />

sie Designergrößen wie Karl Lagerfeld,<br />

Tom Ford und Marc Jacobs als weißen<br />

Hasen, rote Königin und Raupe aus<br />

dem Kinderbuch „Alice im Wunderland“.<br />

Anders als viele Modemenschen zieht<br />

es Coddington nicht in die Öffentlichkeit.<br />

Menschenansammlungen ängstigten<br />

sie schon als Kind dermaßen, dass sie<br />

ihr Mittagessen, statt in der Kantine ihrer<br />

Klosterschule, allein in einem nahe gelegenen<br />

Café zu sich nehmen durfte. Model<br />

wurde sie deswegen, weil sie nun einmal<br />

groß und schlank war und der Job ihr die<br />

Möglichkeit bot, ins London der Petticoats,<br />

Bienenkorbfrisuren und bleich angemalten<br />

Lippen zu ziehen.<br />

Als sie dann zunächst als Moderedakteurin<br />

bei der britischen Vogue anfing, verabschiedete<br />

sie sich fast vollständig von<br />

Make-up. Mit ihren blassen Lidern, ihrer<br />

hohen Stirn und eben diesen Haaren galt<br />

sie immer eher als präraffaelitisch-interessant<br />

denn als klassisch schön. So viel Wert<br />

Coddington darauf legt, ihre schwelgerischen<br />

modischen Visionen hochglänzende<br />

Wirklichkeit werden zu lassen, so uneitel<br />

ist sie selbst. Sie konstatiert, dass die Leute<br />

vor kosmetischen Operationen immer viel<br />

besser aussähen als hinterher. In den Sechzigern<br />

musste sie nach einem Autounfall<br />

mehrmals am Augenlid operiert werden.<br />

Geblieben ist eine Abneigung gegen jeden<br />

nicht lebensnotwendigen Eingriff.<br />

Modefotografie ist für Coddington –<br />

ebenso wie die Mode selbst – keine Kunstform.<br />

Ihre Aufgabe sei es vielmehr, wahlweise<br />

poetisch, provokant oder intelligent<br />

zu sein. Immer aber sollte sie die Kleidung<br />

selbst zur Geltung bringen. Die beiden<br />

Auszeichnungen für ihr Lebenswerk, die<br />

ihr sowohl die Briten als auch die Amerikaner<br />

verliehen haben, dienen ihren geliebten<br />

Katzen als Türstopper. Was keineswegs bedeutet,<br />

sie nähme ihre Branche nicht ernst.<br />

Schließlich gehören ihre Freunde sämtlich<br />

der Modewelt an, ebenso wie ihr langjähriger<br />

Lebensgefährte, der Friseur Didier Malige.<br />

Coddington verachtet es regelrecht,<br />

wenn der Betrieb der Lächerlichkeit preisgegeben<br />

wird.<br />

Den modisch härtesten Prüfungen sah<br />

sie sich während der Neunziger ausgesetzt,<br />

als Gianni Versace mit seinen kreischenden<br />

Farben und goldenen Ornamenten<br />

plakative Sexyness sozusagen salonfähig<br />

machte. Vulgarität widerstrebt ihrer Zurückhaltung<br />

– ein Erbe der viktorianisch<br />

geprägten Mutter und ihres geliebten introvertierten<br />

Vaters. Der starb an Lungenkrebs,<br />

als sie erst elf Jahre alt war.<br />

Ihr großes Trauma erlebte Coddington<br />

jedoch 1968 in London, als sie in ihrem<br />

Mini sitzend in eine Gruppe wild gewordener<br />

Fußballfans geriet. Diese rüttelten dermaßen<br />

an ihrem Auto, dass es mit ihr darin<br />

umkippte. Sie selbst blieb unverletzt, ihr<br />

ungeborenes Kind aber verlor sie. „Es war<br />

das einzige Mal, dass ich schwanger war“,<br />

konstatiert sie in ihren Memoiren und lässt<br />

den erlittenen Schmerz nur erahnen. Gerade<br />

eine halbe Seite räumt sie dem Vorfall<br />

ein. Kaum mehr Platz gesteht sie der langwierigen<br />

Adoption des Sohnes ihrer früh<br />

verstorbenen Schwester Rosie zu.<br />

Diese Wortkargheit passt zu einer, die<br />

freimütig zugibt, in ihrem Leben keine<br />

zwei Bücher gelesen zu haben, in denen<br />

nicht die Bilder dominierten. Es ist Grace<br />

Coddingtons Begehr, allein die schönen<br />

Geschichten zu erzählen.<br />

Anne Waak<br />

ist freie Journalistin in <strong>Berlin</strong>.<br />

Sie schreibt am liebsten über<br />

Mode und Pop<br />

Fotos: Danielle Levitt, Joachim Bessing (Autorin)<br />

96 <strong>Cicero</strong> 5.2013


In der Vogue erschafft<br />

sich Grace Coddington<br />

ihre Welten selbst – und<br />

beeinflusst damit die<br />

Luxusmodenindustrie<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 97


| S t i l<br />

„Eine dramatische GestE“<br />

Das neue Münchner Lenbachhaus eröffnet im Mai. Architekt Norman Foster über Bilder, Licht und Ökologie<br />

L<br />

ord Foster, Sie sind bekannt dafür,<br />

sich auf Aufträge intensiv vorzubereiten.<br />

Nun haben Sie einen<br />

Anbau an die berühmte Städtische Galerie<br />

im Lenbachhaus konzipiert. Was war das<br />

Besondere an der Situation in München?<br />

Ursprünglich war das Museum 1891 als<br />

Wohn- und Atelierhaus für den Maler<br />

Franz von Lenbach gebaut worden. Aber<br />

die verschiedenen Umbauten im vergangenen<br />

Jahrhundert haben daraus eine<br />

komplexe Abfolge von Räumen aus unterschiedlichen<br />

Zeiten gemacht. Wir haben<br />

viel mit den Kuratoren geredet, über<br />

die Sammlung, das historische Ensemble<br />

und seine Lage im städtebaulichen<br />

Zusammenhang.<br />

Ihr Anbau steht in scharfem Kontrast zu<br />

den übrigen Gebäuden am Königsplatz,<br />

den viele für einen der schönsten Plätze<br />

Deutschlands halten – und das in München,<br />

wo jeder mittelhohe Neubau Bürgerproteste<br />

hervorruft. Sind Sie Masochist?<br />

Der Umbau des Lenbachhauses ging völlig<br />

ohne Kontroversen über die Bühne.<br />

Wir haben von Anfang an nicht nur sehr<br />

eng mit den Behörden zusammengearbeitet,<br />

sondern auch mit den Konservatoren<br />

und der Öffentlichkeit. Ich finde, dass<br />

unsere zeitgenössische Ergänzung mit<br />

dem Altbau in Farbe, Textur und Maßstab<br />

gut harmoniert.<br />

Haben Sie je mit dem Gedanken gespielt,<br />

den Neubau historisch oder wenigstens<br />

neutral aussehen zu lassen?<br />

Nein, nie. Architektur sollte die Zeit reflektieren,<br />

in der sie errichtet wurde, anstatt<br />

sich in Nachahmungen zu flüchten.<br />

Jedes Gebäude war zu seiner Entstehungszeit<br />

ein moderner Bau in einer historischen<br />

Umgebung. Außerdem bestand<br />

ein Großteil unserer Arbeit am Lenbachhaus<br />

in der Erhaltung und Bewahrung.<br />

Wir haben viel Mühe darauf verwendet,<br />

die alten Strukturen der Villa wiederherzustellen,<br />

die Anbauten aus den siebziger<br />

Jahren zu entfernen und die unterschiedlichen<br />

Gebäudeteile an der Richard-Wagner-Straße<br />

durch einen neuen Flügel zu<br />

vereinen. Selbst die goldfarbenen Metallstäbe<br />

an der Fassade des Neubaus sind als<br />

zeitgenössische Variation von Farbe und<br />

Bauschmuck des Altbaus gedacht.<br />

Das Museum beherbergt eine heterogene<br />

Sammlung, vom Symbolismus des<br />

19. Jahrhunderts bis Beuys, von Kandinsky<br />

bis zu Dan Flavins Neonarbeiten. Wie<br />

muss eine Architektur aussehen, die keinen<br />

dieser Bereiche vernachlässigt?<br />

Als Architekten ist es nicht unsere Aufgabe,<br />

die kuratorische Strategie zu diktieren.<br />

Wir müssen einem solchen Haus<br />

Freiheit und räumliche Flexibilität geben.<br />

Das bedeutete, die Räume in einer gewissen<br />

Vielfalt zu gestalten, in der sowohl<br />

die Zeitgenossen als auch die älteren<br />

Meister zur Geltung kommen. Wir haben<br />

bewegliche Wände eingezogen, um<br />

Galerien bei Bedarf vergrößern zu können.<br />

Auch die Beleuchtung erlaubt eine<br />

Reihe von unterschiedlichen Szenarios,<br />

von reinem Tageslicht bis zu dunklen Kabinetten<br />

für Videos.<br />

Im Lenbachhaus haben Sie erstmals mit<br />

LED-Licht gearbeitet. Warum?<br />

LED ist kompakt und präzise zu steuern,<br />

wirkt natürlich und verbraucht wenig<br />

Energie. Dadurch wird die Beleuchtung<br />

sehr gleichmäßig, auch in Räumen,<br />

die dem Tageslicht ausgesetzt sind. Und<br />

LED-Licht ist für ältere und neuere<br />

Kunst gleichermaßen geeignet. Dieses<br />

System wurde von der Stadt München<br />

in Auftrag gegeben. Das Lenbachhaus ist<br />

das erste Museum weltweit, in dem es zur<br />

Anwendung kommt.<br />

Das Lenbachhaus war immer das<br />

schönste Museum Münchens, zumindest<br />

von außen. Drinnen war die Raumsituation<br />

allerdings verwirrend. Jetzt gibt<br />

es dort nur 500 Quadratmeter mehr an<br />

Ausstellungsfläche – war das den Aufwand<br />

wert?<br />

Wir wollten nicht nur den Raum für Ausstellungen<br />

vergrößern. Die Wege, die Sie<br />

durch das Museum gehen, sind jetzt ganz<br />

andere. Da haben wir versucht, mehr<br />

Klarheit zu erreichen. Der neue gläserne<br />

Eingangsbereich schließt die Lücke zwischen<br />

Atrium und Villa, wo das Alte und<br />

das Neue in einer ziemlich dramatischen<br />

Geste aufeinandertreffen. Und dass wir<br />

den Altbau als „Gebäude im Gebäude“<br />

akzentuiert haben, erleichtert die Orientierung<br />

und macht ihn im Ganzen viel<br />

besser lesbar als früher.<br />

Sie haben schon öfter in Deutschland<br />

gebaut. Wie unterscheidet sich die Arbeit<br />

hier von anderen Ländern?<br />

Die Deutschen sind besonders aufgeschlossen,<br />

was Ökologie und Energiefragen<br />

angeht. Es ist kein Zufall, dass wir einige<br />

unserer avanciertesten Lösungen auf<br />

dem Gebiet zusammen mit deutschen<br />

Bauherren entwickelt haben, etwa beim<br />

Reichstag oder bei der Umgestaltung des<br />

Binnenhafens in Duisburg.<br />

Haben Architekten eigentlich eine besondere<br />

soziale Verantwortung, weil ihre<br />

Werke im Alltag so präsent sind?<br />

Unsere Entwürfe sind von der Überzeugung<br />

geleitet, dass die Qualität der Umgebung<br />

direkte Auswirkungen auf die<br />

Lebensqualität hat. Deshalb haben Architekten<br />

eine doppelte Verantwortung –<br />

einmal dem Bauherrn und zum anderen<br />

der Öffentlichkeit gegenüber. Und wenn<br />

Sie sich vor Augen halten, dass Wohnen,<br />

Arbeiten und Verkehr heute 70 Prozent<br />

des weltweiten Energieverbrauchs beanspruchen,<br />

dann stehen Architekten auch<br />

in der Pflicht, energieeffizient zu bauen<br />

und Transportwege durch stadtplanerische<br />

Eingriffe zu verkürzen.<br />

Das Gespräch führte Ulrich Clewing<br />

Foto: Alfredo Caliz/Panos Pictures/VISUM<br />

98 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Norman Foster gehört<br />

zu den renommiertesten<br />

Architekten weltweit. Jüngst<br />

hat er mit seinem Büro,<br />

das mehr als tausend<br />

Mitarbeiter beschäftigt, den<br />

internationalen Flughafen<br />

der jordanischen Hauptstadt<br />

Amman fertiggestellt<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 99


| S t i l | K l e i d e r o r d n u n g<br />

Warum ich trage, was ich trage<br />

ANDREAS RUMBLER, TOP-VERSTEIGERER bei Christie’s<br />

I<br />

CH BIN NOSTALGISCH. Kleidung<br />

lade ich emotional auf. Diesen<br />

taubenblauen Anzug hatte ich zu<br />

meiner Hochzeit im April 2011 an. Ich<br />

trage ihn zu besonderen Anlässen, zum Beispiel<br />

bei Auktionen. Beim Versteigern hat<br />

er mir schon Glück gebracht. Letzten November<br />

habe ich darin das Spitzenlos, eines<br />

der Seerosenbilder von Monet, für knapp<br />

44 Millionen Dollar versteigert.<br />

Während einer Auktion schauen alle<br />

auf mich, es geht aber nicht wirklich um<br />

mich, in erster Linie geht es um das Kunstwerk.<br />

Daran muss ich mich immer wieder<br />

erinnern, auch bei der Kleiderwahl.<br />

Während einer Auktion trage ich Dezentes.<br />

Trotzdem muss ich den Raum kontrollieren.<br />

Es können sich Momente ergeben,<br />

in denen die Stimmung kippt. Ich erreiche<br />

mehr Aufmerksamkeit, wenn ich beim<br />

Sprechen eine Pause mache oder die Lautstärke<br />

variiere, als wenn ich zum Beispiel<br />

eine grelle Krawatte anziehe.<br />

Der Anzug ist von meinem Zürcher<br />

Schneider, da kaufe ich einmal im Jahr ein.<br />

Die Krawatte der britischen Firma „Hackett“<br />

ist eine Hommage an meine zehn<br />

Jahre in London.<br />

Wenn ich aufstehe und weiß, das muss<br />

heute klappen, müssen mir die Sachen,<br />

die ich anziehe, Sicherheit geben. Ich sage<br />

dann: „Mit der Uhr wird’s klappen, mit<br />

den Manschettenknöpfen, mit deinem<br />

Lieblingshemd wird’s klappen und mit<br />

dem Anzug und der Krawatte, also da kann<br />

eigentlich nichts mehr schiefgehen. Vorbereitet<br />

bist du auch, also los geht’s!“<br />

Ich würde mich als gesund eitel beschreiben,<br />

professionell eitel. Das hat für<br />

mich mit Anstrengung zu tun. Wer eitel<br />

ist, strengt sich an. Wenn ich morgens<br />

aufwache, könnte ich mir auch oft sagen:<br />

„Ach, ist doch eh alles egal. Heute begegne<br />

ich keinem wichtigen Menschen und was<br />

soll’s.“ Es geht um die Einstellung: „Auch<br />

heute am Freitag, ohne Kundentermine,<br />

betreibst du die Anstrengung, einfach weil<br />

du an deinen Arbeitsplatz gehst.“ Ich lebe<br />

ja in Zürich, und bei den Schweizern gibt<br />

es dieses interessante Wort „adrett“. Etwas<br />

Urschweizerisches. Sie müssen hier nicht<br />

unbedingt einen Anzug und eine Krawatte<br />

tragen, aber adrett muss es sein. Alle<br />

Schweizer wissen, was damit gemeint ist.<br />

Aufgezeichnet von Lena Bergmann<br />

Der gebürtige Frankfurter, 46, ist<br />

heute Christie’s Chefauktionator<br />

und Vizevorstand der Abteilung<br />

Kunst des 20. Jahrhunderts. Bei<br />

der New Yorker Abendauktion<br />

im vergangenen November hat<br />

ihm dieser Anzug bereits Glück<br />

gebracht. „Adrett“, wie er gerne<br />

ist, erzielt er darin vielleicht auch<br />

diesen Monat wieder Weltrekorde<br />

Foto: Noë Flum/13 Photo für <strong>Cicero</strong><br />

100 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Diese Marken treffen Sie vor Ort:<br />

inside<br />

BASEL GENF 2013<br />

Hinter den Kulissen von<br />

SIHH und Baselworld<br />

Panerai in Hamburg, Stuttgart und München<br />

DAS FEINSTE<br />

UHREN-DINNER<br />

DEUTSCHLANDS<br />

Juni 2013 in Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt,<br />

Stuttgart und München<br />

24. Juni: Hamburg, Hotel Atlantic<br />

25. Juni: Düsseldorf, Steigenberger Parkhotel<br />

26. Juni: Frankfurt, Villa Kennedy<br />

27. Juni: Stuttgart, Cube im Kunstmuseum<br />

28.Juni: München, Charles Hotel<br />

Die Nr. 1 der deutschen Uhrenjournalisten,<br />

Gisbert L. Brunner, präsentiert die<br />

Top-Neuheiten 2013 des Uhrensalons<br />

SIHH/Genf und der Baselworld. Da sich in<br />

Genf die Türen des Uhrensalons nur für<br />

Fachbesucher öffnen und in Basel Uhrenfans<br />

die schönsten Preziosen meist nur<br />

in der Vitrine betrachten können, hat<br />

Gisbert L. Brunner erneut eine einmalige<br />

Uhren-Präsentation – für echte Uhrenkenner<br />

und -liebhaber – ausgearbeitet.<br />

Sie können im Juni mit dabei sein.<br />

Jedes Event beginnt mit einem 90-minütigen<br />

Cocktail-Empfang, bei dem sich Uhrenaficionados,<br />

Sammler und Vertreter der<br />

ausstellenden Marken begegnen und erste<br />

Erfahrungen und Meinungen austauschen.<br />

Dann startet das festliche Dinner.<br />

Zwischen den drei Gängen – begleitet von<br />

edlen Weinen – verrät Deutschlands führender<br />

Uhrenjournalist Gisbert L. Brunner,<br />

was sich auf dem Genfer Uhrensalon und<br />

der Baselworld abgespielt hat. Vor und<br />

nach dem Dinner haben die Gäste die<br />

Möglichkeit, an den Tischen der teilnehmenden<br />

Uhrenmarken die neuen Modelle<br />

und Kollektionen persönlich in Augenschein<br />

zu nehmen. Die Markenbeauftragten<br />

werden so dem Gast ganz persönlich<br />

die Philosophie und das Besondere der<br />

Kollektion darlegen und Fragen beantworten.<br />

Jeder Teilnehmer begleicht für dieses<br />

exklusive Dinnerereignis einen Beitrag von<br />

150 Euro (inkl. aller Speisen und Getränke).<br />

Die Zahl der Gäste ist, dem besonderen<br />

Anlass entsprechend, limitiert.<br />

Willkommen zu „Inside Basel.Genf 2013“.<br />

Vorregistrierung<br />

www.watchtime.net/ibg<br />

Medienpartner:<br />

Video des 2012-Events<br />

www.watchtime.net/ibg/ibg-2012<br />

In Kooperation mit


| S t i l | F U N D U S<br />

Die Stilhalde<br />

Den Stuhl zum Wirtschaftswunder, die erste Sofalandschaft der Welt, eine Antilope von<br />

Honecker: In einer <strong>Berlin</strong>er Halle lagert das Design des Jahrhunderts. Die Geschichten<br />

dahinter erzählt der Sammler Stephan Schilgen – zu Fotos von Achim Hatzius<br />

102 <strong>Cicero</strong> 5.2013


„Ich habe kein Sammelgebiet und<br />

auch nicht den Anspruch, meine<br />

Sammlung bis zum Prototypen<br />

zu vervollständigen. Es geht mir<br />

in der Sekunde der Entscheidung<br />

nur um diesen einen Gegenstand<br />

und ob ich ihn besitzen<br />

möchte. Dieses Lager sollte jeden<br />

einzelnen sichtbar machen“<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 103


| S t i l | F U N D U S<br />

104 <strong>Cicero</strong> 5.2013


„Mir geht es darum, Dinge, deren Schönheit und Funktionalität einmal geachtet<br />

wurden, die aber irgendwann in einer Ecke außerhalb der Wahrnehmung gelandet<br />

sind, zurückzuholen aus dem Schattenreich, wenn auch nur für mich. Diese Koffer und<br />

Reisetruhen mit Aufklebern sind zum Beispiel frühe Dokumente touristischen Ehrgeizes“<br />

Stephan Schilgen hat in den<br />

Neunzigern einen Gastronomie-<br />

Club betrieben. Heute<br />

vermietet er seine Möbel<br />

an Produktionsfirmen und<br />

Veranstalter oder stellt sie als<br />

Leihgabe in Einrichtungsprojekte.<br />

Gerade hat er in <strong>Berlin</strong>-Kreuzberg<br />

das Restaurant „Ö“ ausgestattet.<br />

Verkaufen will er nichts aus dem<br />

Fundus. Doch Besichtigungen<br />

kann man per Mail vereinbaren:<br />

info@kstar-setdesign.de<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 105


| S t i l | F U N D U S<br />

„Bei Oldtimern schätzt man den Urzustand. Dies sollte auch für Möbel<br />

gelten. Designklassiker wie diese Originale von Harry Bertoia aus den<br />

Fünfzigern würde jeder Möbelhändler heute neu beziehen. Für mich steht<br />

das Dokumentarische im Vordergrund, auch bei großen Stückzahlen“<br />

106 <strong>Cicero</strong> 5.2013


„Das ist Sowjet Art aus den Kasernen um <strong>Berlin</strong>, die habe ich nach der Wende in den frühen Neunzigern<br />

in Nacht- und Nebelaktionen zusammengestöbert. Am Wachschutz vorbei vor dem Verfall gerettet. Durch<br />

die Ignoranz der neuen Mächte sind hier unglaubliche Schätze unter dem Schutt der Abrissbirnen<br />

verloren gegangen. Areale, die heute komplett verschwunden sind oder zu Investorenruinen verkommen“<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 107


| S t i l | F U N D U S<br />

„Die Sofa-Units von de Sede waren in den Siebzigern Kult. Berühmtheit hatten sie erlangt,<br />

weil John Lennon und Yoko Ono sich nackt darauf fotografieren ließen. Diese weißen Leder-<br />

Einheiten sollen bei Bubi Scholz durch die Wohnung gegangen sein, als er seine wilde Drogenzeit<br />

hatte. Sie lassen sich beliebig zu Berg- und Talinseln, aber auch zu Linien verbinden“<br />

„Die Wand- und Stehlampen sind<br />

nach Sujet geordnet. Einige stammen<br />

aus markanten <strong>Berlin</strong>er Gebäuden,<br />

wie aus dem Bauministerium der<br />

DDR oder der Teppichabteilung<br />

des Kaufhauses des Westens. Für<br />

mich ist es wichtig, die Modelle<br />

sämtlicher Größen, Materialitäten,<br />

Epochen und Provenienzen auf<br />

einen Blick erfahrbar zu machen.<br />

Ohne Ordnung kein Sammler“<br />

108 <strong>Cicero</strong> 5.2013


5.2013 <strong>Cicero</strong> 109


| S t i l | F U N D U S<br />

„Zwischen Hardcore-Sammlern und Messies ist es<br />

nur ein schmaler Grat. Bei mir stehen Hunderte<br />

Objekte von Designikonen neben Dingen,<br />

die andere als Ramsch bezeichnen würden.<br />

Natürlich macht Sammeln süchtig, aber was gibt<br />

es Schöneres, als nach etwas süchtig zu sein?“<br />

110 <strong>Cicero</strong> 5.2013


S<br />

TEPHAN SCHILGEN, 46, kann sich heute<br />

noch jedes Detail der elterlichen Wohnung<br />

vor Augen führen. „Stundenlang<br />

habe ich als Kleinkind Möbel und andere<br />

Gegenstände betrachtet. Deren<br />

Stille und beruhigende Ausstrahlung haben lange<br />

meine kindliche Langeweile begleitet. Spielkonsolen<br />

oder Gameboys gab es ja damals noch nicht.“<br />

Seit er laufen kann, hat er Muscheln, Schneckenhäuser<br />

und Steine gesammelt. Als Zehnjähriger<br />

dann der erste spektakuläre Fund: menschliche<br />

Schädelfragmente und Beinknochen, die er nach<br />

Baggerarbeiten auf einem mittelalterlichen Friedhof<br />

entdeckte. Heimlich arrangierte er mit einem<br />

Freund Ausstellungen, die Erwachsenen durften<br />

nichts wissen.<br />

Was macht einen Menschen zum besessenen<br />

Sammler? „Es geht sicher auch um den Reiz, etwas<br />

Seltenes zu besitzen, das kein anderer hat. Aber<br />

mir geht es vor allem darum, Dinge zurückzuholen,<br />

die Jahre oder jahrzehntelang ein Dasein außerhalb<br />

jeder Wahrnehmung gefristet haben, da<br />

sie irgendwann in die Ecke gelegt wurden.“ Der<br />

stets wachsende Fundus verteilte sich auf Dachböden,<br />

Keller oder sonstige Zwischenlager. Seit<br />

Anfang dieses Jahres hat er zum ersten Mal einen<br />

vorzeigbaren Fundus unter einem Dach, in<br />

einer Halle auf dem ehemaligen Gelände der Modemesse<br />

„Bread & Butter“. Doch ist die Gesamtfläche<br />

von 3000 Quadratmetern bereits wieder<br />

vollgestellt. Dem <strong>Berlin</strong>er, der neben wertvollen<br />

Objekten von namhaften Designern auch Bundesrepublikana<br />

und Ostalgie-Klassiker lagert, ging es<br />

dabei nie um Geld. In den Neunzigern betrieb er<br />

den Club „Kurvenstar“, den er selbst ausgestattet<br />

hatte, was ein solcher Erfolg war, dass die öffentliche<br />

Wahrnehmung zu Aufträgen im Bereich Interior<br />

Design führte. Kunden wie MTV, Telekom<br />

International oder das Label Schumacher schätzen<br />

ihn als Idealisten, dem es auch beim Einrichten<br />

um Authentizität und leidenschaftlichen Einsatz<br />

geht.<br />

Ein absurder Moment seines Sammlerlebens<br />

ereignete sich kurz nach der Wende, als einer seiner<br />

Zulieferer anrief und ihm nervös von einem<br />

Fund im Keller der Honecker-Villa berichtete.<br />

Man vereinbarte als Treffpunkt die Grillstelle im<br />

Garten. Nachdem Schilgen den auf eine Wandplatte<br />

montierten Antilopenkopf entgegengenommen<br />

und das Geschäft abgewickelt hatte, las er<br />

die Widmung, mit der Unterschrift: „Idi Amin<br />

Abu Dada, President of Uganda“. In solchen Momenten<br />

ist er überwältigt: „Dieser Völkerschlächter,<br />

der bei aller Grausamkeit etwas Clowneskes<br />

hatte, schenkte dem Chef der staubigen DDR ein<br />

Bambi mit langen Wimpern. Was für eine bizarre<br />

Konstellation.“<br />

Lena Bergmann<br />

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5.2013 <strong>Cicero</strong> 111


| S t i l | U H R E N<br />

mehr als ein Tick<br />

Gisbert L. Brunner<br />

besitzt heute noch<br />

circa 150 mechanische<br />

Uhren. Von den<br />

anderen hat er sich<br />

in München sein<br />

Haus gekauft<br />

112 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Vom ersten Geld als Zeitungsjunge kaufte sich unser<br />

Autor eine Uhr mit wunderschönem Handaufzug. Dann<br />

war es um ihn geschehen. Geschichte einer Leidenschaft<br />

von GISBERT L. BRUNNER<br />

Fotos: Dirk Bruniecki für <strong>Cicero</strong><br />

U<br />

HREN SPIELEN IN meinem Leben<br />

seit 1964 eine Rolle. Damals,<br />

als Schüler, träumte ich von einem<br />

echten, aber leider viel zu<br />

teuren Armbandchronografen.<br />

Zur Aufbesserung des Taschengelds verteilte<br />

ich freitags im Münchner Stadtteil<br />

Harlaching 800 Exemplare eines Anzeigenblatts.<br />

An Weihnachten gab es Trinkgeld.<br />

Mehr als 500 Deutsche Mark zählte ich<br />

am Ende des besagten Jahres – genug, um<br />

den neuen Heuer „Carrera“ mit dem wunderschön<br />

fein bearbeiteten Handaufzugskaliber<br />

Valjoux 72 zu erwerben. 311 Mark<br />

machten mich quasi über Nacht zu einer<br />

Art Star. Jeder in der Schule wollte die Drücker<br />

der Uhr bedienen und sehen, wie die<br />

Zeiger starteten, anhielten und wieder in<br />

die Senkrechte sprangen.<br />

Solcherart bestätigt, kaufte ich 1965<br />

einen „Memovox“-Wecker von Jaeger-Le-<br />

Coultre, im Jahr darauf eine Omega „Constellation“.<br />

1970 hatte ich auf der Münchner<br />

„Auer Dult“, einem Traditions-Trödelmarkt,<br />

gleich dreifaches Glück. Ich entdeckte ein<br />

Trio aus Rolex „Prince“, Omega „Speedmaster“<br />

und Angelus „Chronodato“, Gesamtpreis:<br />

600 Mark. Bei drei guten Uhren,<br />

heißt es, beginnt eine ernsthafte Sammlung.<br />

Mir gehörten sechs, und ich wollte<br />

mehr. Mich faszinierte die technische<br />

Komplexität, die in dem kleinen Gehäuse<br />

Platz findet. Darüber hinaus waren Uhren<br />

für mich sympathische, weil dezente Statussymbole,<br />

anders als zum Beispiel Autos.<br />

Allmählich verbreiteten sich die schwingenden<br />

Quarze an den Handgelenken. Bei<br />

Quarzuhren erfolgt die Zeitmessung durch<br />

einen elektronisch angeregten Schwingquarz,<br />

ohne die Räder im Laufwerk. Als<br />

James Bond 1973 in „Leben und sterben<br />

lassen“ das feuerrote Display einer Hamilton<br />

„Pulsar“ aufleuchten ließ, war auch ich<br />

zunächst angefixt. Doch mir wurde schnell<br />

klar, dass mich auf Dauer nur die mechanischen<br />

Modelle faszinieren können, ohne<br />

Batteriebetrieb und ohne jeglichen CO 2<br />

-<br />

Ausstoß. Mechanische Uhren können<br />

Modelle mit Handaufzug sein oder Automatikfunktion,<br />

bei denen die Unruh, ein<br />

Bauteil des Uhrwerks, bestehend aus Unruhreif<br />

und Unruhspirale, als Energiequelle<br />

dient. Seit über 700 Jahren wird so die Zeit<br />

erfasst. Die elektronische Zeitmessung dagegen<br />

entwickelte sich erst in den Zwanzigern.<br />

Ich konzentrierte mich als Sammler<br />

auf die altehrwürdige Mechanik.<br />

Heute, als Uhrenjournalist, bestätigen<br />

mir immer wieder Experten, dass ich damit<br />

richtig lag, wie gerade wieder Stephen<br />

Urquhart, Direktor der Uhrenmanufaktur<br />

Omega: „Wir bekommen inzwischen<br />

viele Quarz-Armbanduhren aus den siebziger<br />

und achtziger Jahren zur Reparatur. Oft<br />

müssen wir passen, da es keine Teile mehr<br />

gibt. Mechanische Uhrwerke hingegen<br />

können wir immer instand setzen. Notfalls<br />

fertigen wir das defekte Teil eben an.“<br />

Ähnlich verhält es sich bei anderen Traditionsmarken.<br />

Und genau das sollten sich<br />

potenzielle Sammler hinter die Ohren schreiben.<br />

Da die Quarzwelle in den Siebzigern<br />

das traditionelle Handwerk förmlich<br />

überrollte, blieben feine mechanische<br />

Armbanduhren in den Läden liegen. Offiziell<br />

zertifizierte Chronometer von Junghans<br />

oder Laco, Modelle mit Selbstaufzug,<br />

auch wunderbare Chronografen wanderten<br />

zu kräftig reduzierten Preisen über den<br />

Tresen. Breitling offerierte ausdrucksstarke<br />

Klassiker vom Schlag eines „Navitimer“ im<br />

Discounter für ein Drittel ihres offiziellen<br />

Ladenpreises.<br />

Als inzwischen Uhren-Süchtiger entdeckte<br />

ich auch die Flohmärkte. Hier ließ<br />

jedoch der Zustand teilweise sehr zu wünschen<br />

übrig. Heftige Gebrauchsspuren<br />

mahnen zur Vorsicht. Permanent führte<br />

Dieses Schnäppchen vom Antiquitätenmarkt<br />

in Buenos Aires ist einer der frühesten<br />

Chronografen überhaupt und<br />

heute Brunners Lieblingsuhr<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 113


| S t i l | U H R E N<br />

TIPPS vom Profi<br />

WAS SAMMLER WISSEN SOLLTEN<br />

Wissen ist Macht<br />

Bücher über alte Uhren, die wichtigen Marken und Technisches gibt es<br />

zuhauf. Wer mit dem Sammeln beginnt, braucht keinesfalls Detailwissen.<br />

Aber das Aneignen eines groben Überblicks würde ich sehr empfehlen.<br />

Wertvolle Hinweise können auch Sammler- oder Markenforen im Internet<br />

liefern. Empfehlen kann ich die Seiten von „Dr. Crott“, „Antiquorum“,<br />

„Christie’s“, „Sotheby’s“ oder auch www.chrono24.com.<br />

Wo kaufen, wo verkaufen?<br />

Für alte Uhren gibt es zahlreiche Einkaufsquellen: Auktionen, Flohmärkte,<br />

Internetportale, Pfandleihen, „Rent a Jeweller“, Uhrenbörsen und natürlich<br />

einschlägig spezialisierte Fachhändler mit Ladengeschäft. Letztere sind<br />

naturgemäß teurer, bieten dafür aber auch Service. Beispielsweise offerieren<br />

sie überholte Uhren mit Garantie. Manche nehmen auch Gekauftes zum<br />

Einstandspreis zurück, wenn man etwas Höherwertiges erwirbt. Vorsicht<br />

empfehle ich bei Ebay-Auktionen, wenn sich die Uhren nicht vor Ort<br />

besichtigen und Geld gegen Ware tauschen lässt. Bei den genannten Stellen<br />

kann man seine Uhren im Fall des Falles auch wieder loswerden.<br />

Preisfindung<br />

Als absolut sinnvoll und notwendig erachte ich eine gewisse Preisvorstellung.<br />

Wegen der Komplexität des Marktes gibt es jedoch keine genauen Regeln.<br />

Das einschlägige Auktionsgeschehen samt den erzielten Zuschlagspreisen<br />

verfolge ich regelmäßig im Internet. Außerdem suche ich immer wieder<br />

Portale auf, die alte Uhren verkaufen. Auch sie verschaffen mir eine<br />

gewisse Orientierung. Bei Auktionen setze ich mir stets ein persönliches<br />

Limit, das die klein gedruckten Aufgelder beinhaltet. Das vermeidet böse<br />

Überraschungen.<br />

Zertifizierung<br />

Beim Kauf einer gebrauchten Armbanduhr für beispielsweise 500 Euro<br />

erwarte ich keine Dokumente. Bei teuren Stücken jedoch schon. Vor<br />

allem, wenn sie aus nicht näher bekannter Quelle stammen. Schließlich<br />

kann man in Deutschland an Gestohlenem kein Eigentum erwerben. Hier<br />

erscheint für mich die Frage nach Kaufbelegen oder sonstigen Zertifikaten<br />

nicht nur erlaubt, sondern zwingend geboten. Das gilt insbesondere für<br />

sogenannte Kult-Uhren wie beispielsweise die Rolex „Daytona“ mit dem<br />

preistreibenden Paul-Newman-Zifferblatt. Manipulation, um aus normalen<br />

Zifferblättern die sehr begehrten zu machen, ist an der Tagesordnung.<br />

Was kaufen, was sammeln?<br />

Genau das ist eine echte Gewissensfrage, die selbst ich als langjähriger<br />

Sammler nicht beantworten kann. Neben der Analyse des finanziellen<br />

Spielraums gilt es zu überlegen, ob man lieber in wenige, aber sehr<br />

gute Exemplare oder eher in Mannigfaches auf bescheidenerem Niveau<br />

investieren möchte. Der Markt bietet sehr viele Möglichkeiten. Persönlich<br />

plädiere ich für Klasse statt Masse, wobei sich Klasse nicht zwangsläufig in<br />

Tausenden von Euro definiert.<br />

ich Uhrmacherlupe und Gehäuseöffner<br />

mit. Armbanduhren bis in die Achtziger<br />

hinein besitzen nämlich in aller Regel keinen<br />

Sichtboden, durch den man ihr mechanisches<br />

Werk betrachten kann. Verständlicherweise<br />

war nicht jeder Händler<br />

begeistert, wenn ich ins Innere seiner<br />

Ware vordringen wollte. Gegenstände heißer<br />

Sammlerdiskussionen sind in diesem<br />

Kontext auch die Zifferblätter. Lässt man<br />

verblichene, oxidierte oder angekratzte Exemplare,<br />

wie sie sind, oder gibt man sie einem<br />

Spezialisten zum Erneuern? Mit dem<br />

Auffrischen, wie Fachleute sagen, geht die<br />

Patina verloren. Genau daran können sich<br />

Interessenten beim späteren Wiederverkauf<br />

stören. In diesem Sinne waren die Zifferblätter<br />

meiner Uhren absolut tabu.<br />

Der wohlmeinende Rat meiner Lebensgefährtin<br />

und Freunde, die Finger von derart<br />

unnützem, kostspieligem Zeug zu lassen,<br />

störte einen Süchtigen wie mich nicht.<br />

In Proportion zu meiner Sammlung wuchsen<br />

meine Schulden. Freunde fuhren mit<br />

schicken neuen Autos ins Bade- oder Skiwochenende,<br />

ich mit einem ehemaligen<br />

Taxi, einem Diesel mit 55 Pferdestärken<br />

und 480 000 Kilometern auf dem Buckel<br />

dorthin, wo es eventuell Armbanduhren,<br />

aber auch Fachzeitschriften und Bücher<br />

zum Thema zu kaufen geben könnte. Einschlägige<br />

Literatur war damals nämlich rar.<br />

Eines Freitags im Jahr 1981 war ich in<br />

Augsburg. Wie es der Zufall wollte, öffnete<br />

exakt an diesem Nachmittag das zuvor<br />

jahrelang geschlossene Geschäft eines<br />

angesehenen Juweliers. Nach dem Eintreten<br />

traute ich meinen Augen kaum. In flachen<br />

schwarzen Schachteln lag, was mein<br />

Herz sehnlichst begehrte: mechanische<br />

Armbanduhren von Breitling, Ebel, IWC,<br />

Jaeger-LeCoultre, Omega, Longines oder<br />

auch Vacheron & Constantin. Meist aus<br />

den vierziger, fünfziger und frühen sechziger<br />

Jahren. Alle mit Original-Preisschildern<br />

aus ihrer Zeit versehen. Zur Eröffnung gab<br />

es darauf nochmals 30 Prozent Rabatt. Eine<br />

IWC mit dem legendären Kaliber 89 war<br />

für 40 Mark wohlfeil, eine IWC „Ingenieur“<br />

mit Goldhaube für 250 Mark und ein<br />

Breitling „Duograph“ mit Schleppzeiger-<br />

Chronograf für 400 Mark. Zu allem Überfluss<br />

stand vieles doppelt und dreifach zur<br />

Verfügung. Dass ich anschließend überhaupt<br />

noch heil nach Hause kam, grenzt<br />

an ein Wunder. Im Auto verteilten sich<br />

114 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Fotos: Dirk Bruniecki für <strong>Cicero</strong><br />

über 50 mit Scheck bezahlte Armbanduhren.<br />

Stolz musste ich laufend darauf blicken.<br />

Meine Freundin und spätere Ehefrau<br />

hingegen war entsetzt, als sie abends vor<br />

das uhrenübersäte Bett trat. „Musste das<br />

wirklich sein? Du weißt doch um deine<br />

Finanzen.“<br />

Flohmarkt-Sternstunden und andere<br />

Glücksgriffe ließen die Sammlung bis<br />

1982, damals war ich 34 Jahre alt, auf über<br />

800 Armbanduhren anwachsen. Mehr als<br />

90 Prozent davon waren ungetragen. Besonders<br />

freute mich eine Kollektion rechteckiger<br />

Modelle aus den dreißiger Jahren,<br />

alle mit unterschiedlichen Gehäusen<br />

und feinen Formwerken von IWC, Jaeger-<br />

Mich fasziniert, was<br />

für eine Komplexität<br />

in diesen kleinen<br />

Gehäusen Platz findet<br />

LeCoultre, Movado, Longines und Urofa.<br />

Oder ein breites Spektrum an Uhren, welches<br />

gleichzeitig die Geschichte des automatischen<br />

Aufzugs, der Chronografen und<br />

der Armbandchronometer deutscher Provenienz<br />

abbildete.<br />

Inzwischen war ich schleichend vom<br />

Mitarbeiter eines wissenschaftlichen Instituts<br />

zum Uhren-Journalisten geworden.<br />

1982/83 verfasste ich mit zwei Koautoren<br />

eines der weltweit ersten Bücher über Armbanduhren,<br />

meine Bibel. Die Tantiemen<br />

für das Buch gestatteten weitere Uhrenkäufe,<br />

die das Budget schließlich wieder<br />

kräftig überstiegen. Dann kam der Dämpfer:<br />

Weihnachten 1986, zwei Kleinkinder<br />

auf dem Schoß, bemängelte meine Frau<br />

mit trauriger Miene unsere wenig großzügige<br />

Wohnsituation. Als sich kurz darauf<br />

ein Reihenhaus in einem alten Münchner<br />

Stadtteil anbot, empfand ich dies als<br />

Chance, die kein Zögern erlaubte.<br />

Viele Armbanduhren gehabt und in einem<br />

Buch verewigt zu haben, war wunderbar.<br />

Nun gab es andere Prioritäten. An<br />

Kaufinteressenten für meine Uhrensammlung<br />

mangelte es nicht. Bücher machen<br />

bekannt und schaffen Vertrauen. Der Ruf<br />

eilte bis nach Japan. Ein Sammler aus Tokio<br />

interessierte sich für die Modelle mit<br />

Selbstaufzug. Ein anderer Freak nahm die<br />

rechteckigen Armbanduhren mit. Auch<br />

viele Chronografen waren schnell weg,<br />

und schließlich hatte ich den Hauptteil verkauft<br />

– bis auf 150 Exemplare, von denen<br />

ich mich bis heute nicht trennen konnte.<br />

Ins neue Haus kam ein Tresor für den<br />

chronometrischen Wochenbedarf, der Rest<br />

wanderte konsequent in die Bank. Das war<br />

zwar umständlich, ließ mich aber ruhig<br />

schlafen. Versicherungen spielen bei häuslicher<br />

Verwahrung nämlich nur in begrenztem<br />

Umfang mit. Oder die Prämien sind<br />

schier unbezahlbar.<br />

Meine Frau gestand mir nun wieder<br />

feierlich zu, Geld für Uhren auszugeben.<br />

Doch das Weitersammeln gestaltete sich<br />

schwierig. Reize und Werte interessanter<br />

Sammlerarmbanduhren aus vergangenen<br />

Epochen hatten sich herumgesprochen.<br />

Die Preise kletterten und kletterten. 1983<br />

bekam man eine IWC Fliegeruhr „Mark<br />

11“ je nach Erhaltungszustand für 200 bis<br />

300 Mark. Heute geht unter 2500 Euro<br />

kaum noch etwas. Ähnlich verhält es sich<br />

beispielsweise mit dem Omega Chronometer<br />

Kaliber 30T2 oder einem Kaliber 135<br />

von Zenith. Die Nachfrage übersteigt das<br />

Angebot und diktiert damit den Preis.<br />

Ansichtssache ist und bleibt, welche Art<br />

von Armbanduhren man sammeln sollte.<br />

Marken, Material, Designs, Werke, Zusatzfunktionen,<br />

Epochen – die Möglichkeiten<br />

sind endlos. Spezialisierung bringt<br />

unbestreitbare Vorteile. Chronometrisches<br />

Kraut-und-Rüben-Sammeln besitzt aber<br />

auch seine Reize. Wer vieles sucht, wird<br />

womöglich leichter etwas finden. So ging<br />

es mir 2011 in San Telmo, Buenos Aires.<br />

Aus einem der vielen „Antiquitäten-Käfige“<br />

strahlte das weiße Emaillezifferblatt eines<br />

45 Millimeter großen Armband-Chronografen,<br />

signiert „Geneva Timing and Repeating<br />

Company“. 300 Dollar war die<br />

nach Aussagen des Verkäufers umgebaute<br />

Taschenuhr allein schon wegen des traumhaften<br />

Innenlebens wert. In meinen Augen<br />

hatte die heute völlig unbekannte Firma<br />

das stattliche Gerät allerdings schon Ende<br />

des 19. Jahrhunderts fürs Handgelenk gefertigt<br />

– eine Pioniertat. Ich behielt recht:<br />

Es handelte sich, wie sich herausstellte, um<br />

einen der frühesten Armband-Chronografen<br />

überhaupt. Dieser zeitschreibende<br />

Jumbo begleitet mich derzeit fast täglich.<br />

Nach fast 50 Sammlerjahren bereitet er mir<br />

heute ähnliche Freude wie der Heuer „Carrera“<br />

von 1964.<br />

Inzwischen hat Brunner zahlreiche Bücher<br />

über Uhren verfasst. Das Trio entdeckte er<br />

1970 auf einem Münchner Flohmarkt. Seine<br />

allererste Uhr hat er inzwischen verkauft,<br />

den Beleg hebt er sich zur Erinnerung auf.<br />

Die 311 DM hatte er sich als Schüler mit<br />

dem Austragen von Zeitungen verdient<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 115


| S t i l | K ü c h e n k a b i n e t t<br />

Spargel statt<br />

Sauerkraut<br />

Wenn der Spargel reift, zeigt sich<br />

Deutschland von einer Seite, die gar nicht<br />

dem Klischee entspricht<br />

Von Julius Grützke und Thomas Platt<br />

I<br />

MMER WIEDER SAUERKRAUT. Wenn Deutschland in die<br />

Kritik gerät, erscheinen stets die gleichen Bilder auf den<br />

Kundgebungen der enttäuschten Freunde – Stereotypen<br />

mit Stahlhelm, Swastika und dem unausweichlichen Sauerkraut,<br />

das immer noch zur Charakterisierung unseres Landes verwendet<br />

wird, obwohl es mit dem heutigen Deutschland wenig zu tun hat.<br />

Die Suche nach anderen und zeitgemäßen Symbolen bringt allerdings<br />

kaum etwas zutage. Den Deutschen war nach dem Krieg<br />

eher daran gelegen, nicht auf bestimmte Eigenschaften festgelegt<br />

zu werden, um die Spuren der eigenen Vergangenheit zu verwischen.<br />

Das hat auch und gerade in der Küche seinen Niederschlag<br />

gefunden, wo das Mediterrane und Asiatische den nationalen Speiseplan<br />

bestimmt.<br />

Es gibt allerdings eine Zeit, in der etwas Einzigartiges in deutschen<br />

Küchen geschieht. Das ganze Land lässt sich davon mitreißen.<br />

Kurz nach Ostern beginnt die Spargelsaison, und dieses<br />

eigentlich recht schmucklose Gemüse dominiert plötzlich die Teller<br />

in der ganzen Republik. Menüfolgen werden um die weißen<br />

Stangen herum geplant, und nicht nur Feinschmecker streiten<br />

über die richtigen Methoden der Zubereitung und des Verzehrs.<br />

Denn der Spargel eint Bürger quer durch alle Schichten, ohne<br />

dass es viele Abstufungen bei der Darreichung gäbe. Die frisch<br />

geschnittenen Triebe aus dem Sandboden werden in Wasser gekocht<br />

und mit viel Butter serviert, ob sie nun als Hollandaise daherkommt,<br />

flüssig mit Semmelbröseln oder aber auf badische Art<br />

im Pfannkuchen – in jedem Fall sind sie die Hauptattraktion auf<br />

dem Teller und verweisen Schnitzel oder Schinken als Beilage in<br />

die ungewohnte Rolle des Gemüses. Das ist für eine Nation, die<br />

einen Teil ihrer traditionellen Identität aus dem Fleisch und seiner<br />

Verwurstung bezieht, eine verblüffende Wendung. Erstaunlich<br />

mutet es an, dass die wachsende Fraktion der Vegetarier diesen<br />

Umstand nicht für ihre Ziele nutzt. Vielleicht spricht sie dem<br />

Spargel den Rang als Gemüse ab, sondern erblickt in ihm eher<br />

einen Fleischersatz, der korrumpiert ist, weil gerade Fleischesser<br />

ihn so sehr verehren, dass sie seinetwegen ausnahmsweise auf das<br />

tote Tier verzichten. Außerdem stört es den Fortschrittsgedanken<br />

des Vegetarismus, sich an eine ausgeformte Tradition anzulehnen<br />

– Tofu wirkt moderner.<br />

Auch unter konventionellen Essern hat der Spargel viele Gegner,<br />

die zu erbitterten Feinden werden, weil er ihnen ständig unter<br />

die Nase gehalten wird. Die Spargelkarte im Restaurant, der dauernde<br />

Diskurs über die Preisschwankungen, die Qualitätsvergleiche<br />

der Anbaugebiete – die Gleichschaltung am Esstisch belästigt<br />

die Außenstehenden. Der durchdringende Geruch in den Gaststuben,<br />

der sich im Abtritt wiederholt, erzeugt für sie eine Atmosphäre<br />

fortdauernder Nötigung, und sie sehnen den Johannistag<br />

herbei, der traditionell der Spargelsaison von heute auf morgen<br />

ein Ende setzt. Dann verschwinden auch die Marktstände an den<br />

Straßenrändern, und Wallfahrtsorte wie Beelitz, Schrobenhausen<br />

und Schwetzingen sinken wieder in den Dornröschenschlaf. Darin<br />

ähnelt die Spargelzeit einem Wahlkampf: Einem formlosen<br />

Beginn folgen Wochen propagandistischer Völlerei weit über die<br />

Sättigung hinaus bis zu einem Stichtag, an dem vieles vergeben<br />

und manches vergessen ist. Sie könnte uns lehren, die Aufregungen<br />

der politischen Kampagnen genauso wenig ernst zu nehmen<br />

wie den Streit, ob der Spargel mit dem Messer zerstückelt oder im<br />

Ganzen in den Mund geschoben werden sollte.<br />

Doch auch dem Bild von Deutschland könnte das weiße Stangengemüse<br />

eine neue Färbung geben. Eine Nation, die überall dafür<br />

verschrien ist, Belehrungen zu erteilen und Exempel zu statuieren,<br />

zeigt sich von einer anderen Seite, wenn sie sich selbstvergessen<br />

dem Genuss der ersten Frühlingssprossen hingibt – womöglich,<br />

weil sie vom Spargel nichts abgeben will.<br />

Julius Grützke und Thomas Platt<br />

sind Autoren und Gastronomiekritiker.<br />

Beide leben in <strong>Berlin</strong><br />

illustration: Thomas Kuhlenbeck/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser<br />

116 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Mehr politische<br />

Kultur wagen<br />

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| S a l o n<br />

harmlos ist Niemand<br />

Philip Seymour Hoffman, König der Nebendarsteller, spielt in einem neuen Film lustvoll die zweite Geige<br />

von Björn Eenboom<br />

E<br />

s gibt Schauspieler, die funkeln<br />

mit ihren immer gleichen<br />

Hochglanz-Gesichtern durch jeden<br />

Hollywoodfilm. Bei Philip Seymour<br />

Hoffman glänzt allenfalls der Schweiß, den<br />

ihm seine Rollen abverlangen. Er ist ein<br />

Meister aus der zweiten Reihe, ist König<br />

der Nebendarsteller – und dieser Kategorie<br />

zugleich entwachsen.<br />

Gerade eben spielte er in Paul Thomas<br />

Andersons „The Master“ einen an L. Ron<br />

Hubbard angelehnten Sektengründer, wofür<br />

er prompt für den Oscar nominiert<br />

wurde: seine dritte Nominierung in Folge<br />

in der Rubrik „Nebendarsteller“. Nun erscheint<br />

die Rolle als zweiter Geiger im Kinofilm<br />

„Die Saiten des Lebens“ wie eine<br />

Blaupause der eigenen Karriere, des eigenen<br />

Schicksals. Frustriert als ewiger Sekundant<br />

Robert in einem weltberühmten<br />

Streichquartett an der Seite der Violaspielerin<br />

Jules (Catherine Keener) und des Cellisten<br />

Peter (Christopher Walken), versucht er<br />

kurz vor dem 25-jährigen Bühnenjubiläum<br />

aus dem Korsett des Ensembles auszubrechen<br />

und die erste Geige Daniel (Mark Ivanir)<br />

mit allen Mitteln streitig zu machen.<br />

In einer Schlüsselszene des nuancenreichen<br />

Künstlerdramas von Yaron Zilberman<br />

probt das Quartett, als Robert erfährt, dass<br />

Daniel mit seiner jungen Tochter eine Liaison<br />

eingegangen ist. Er ist konsterniert,<br />

den Tränen nahe, nur um dann wie aus<br />

dem Nichts die Wut eines Berserkers hervorzustemmen.<br />

Er schlägt Daniel zu Boden.<br />

Der ganze Frust einer zweiten Geige entlädt<br />

sich – ansatzlos, hinterrücks, wie es Hoffmans<br />

Art ist. Sein Schauspiel ist immer Körpersprache<br />

und lässt so die Verzweiflung der<br />

Figur physisch werden. Er weiß zu überwältigen.<br />

Dabei ist die zweite Geige der ersten<br />

nicht untergeordnet, sondern nimmt lediglich<br />

eine andere Position ein; die wichtigere<br />

sogar, weil sie die Soli vorbereitet und<br />

das Quartettspiel zusammenhält. Doch wer<br />

möchte nicht die erste Geige sein, der Star,<br />

dem die anderen zuarbeiten?<br />

Aus einer anderen Perspektive hat Hoffman<br />

den Durchbruch zum Hauptdarsteller<br />

schon vollzogen. 2006 wurde er für<br />

sein feinsinniges Porträt Truman Capotes<br />

als bester Hauptdarsteller mit dem Oscar<br />

bedacht. Ihm gelang dabei das Kunststück,<br />

seine massige Statur in den 17 Zentimeter<br />

kleineren und zierlich wirkenden Schriftsteller<br />

zu verwandeln. So weit können metamorphische<br />

Kräfte tragen.<br />

Hoffman gilt als Spezialist für das Absonderliche.<br />

So spielte er in Todd Solondz’<br />

bitterböser Tragikomödie „Happiness“ einen<br />

übergewichtigen, beständig transpirierenden<br />

Telefon-Stalker, der seine Nachbarin<br />

mit Obszönitäten überhäuft, um dabei<br />

im Dunkeln zu masturbieren. In „Cold<br />

Mountain“ gab er einen triebhaften Pastor,<br />

in „Punch Drunk Love“ einen schmierigen<br />

Matratzenhändler. Hoffman, dreifacher<br />

Vater, verwahrt sich jedoch gegen das<br />

Vorurteil, er bediene sich lediglich im Kuriositätenkabinett.<br />

Sein Anspruch sei es,<br />

Normalität zu dekonstruieren und gerade<br />

so Menschlichkeit herzustellen. Schließlich<br />

habe jeder Mensch ein Quantum Leid zu<br />

tragen: „Ich denke, tief im Inneren wissen<br />

die Menschen, mit wie vielen Makeln<br />

sie behaftet sind. Je harmloser man einen<br />

Charakter spielt, desto unglaubwürdiger<br />

wirkt er.“<br />

Anfänglich sah alles danach aus, als<br />

sollte Philip Seymour Hoffman nie auf<br />

einer Leinwand erscheinen. Der heute<br />

45-Jährige wuchs mit drei Geschwistern<br />

im 5000-Seelen-Nest Fairport am Ontariosee<br />

im Staat New York auf. Das Scheidungskind<br />

begeisterte sich für Baseball<br />

und Wrestling, bis ihn im 15. Lebensjahr<br />

eine Halsverletzung außer Gefecht setzte.<br />

Nach der Scheidung wuchs Hoffman bei<br />

seiner Mutter auf. Sie, Menschenrechtsaktivistin<br />

und Familienrichterin, begeisterte<br />

ihren Sohn für das Theater. Nach seinem<br />

Abschluss an der Tisch School of Arts der<br />

New York University jobbte er als Kellner<br />

und Rettungsschwimmer.<br />

Damals lebte er exzessiv, nahm Drogen,<br />

litt an einer Alkoholsucht. „Mit 22 Jahren<br />

geriet ich in Panik um mein Leben. Hätte<br />

ich so weitergemacht, wäre ich daran gestorben“,<br />

gestand er einem TV-Sender. Seit<br />

einer Therapie ist er trocken. In Interviews<br />

ist Hoffman einsilbig, wenn Fragen persönlich<br />

werden. „Eine der Aufgaben eines<br />

Schauspielers ist es, privat zu bleiben.<br />

Wenn man den Leuten alles aus seinem Privatleben<br />

erzählt, fangen sie an, es auf die<br />

Arbeit zu projizieren.“<br />

Dem Theater bleibt Hoffman treu. Im<br />

West Village in Lower Manhattan besitzt er<br />

ein Off-Broadway-Theater. Dort führt er<br />

Regie oder ist auf der Bühne zu sehen. Am<br />

Broadway spielte er vergangenes Jahr Willi<br />

Loman in Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“.<br />

In Deutschland führte ihn<br />

der Weg an das Bochumer Schauspielhaus.<br />

Dort gab er 2009 in einer internationalen<br />

Produktion des Star-Regisseurs Peter Sellars<br />

in Shakespeares „Othello“ die Rolle des<br />

diabolischen Fähnrichs Jago – eine, wen<br />

wundert’s, Nebenrolle. Auch der Bochumer<br />

Teilzeit-Schauspieler Harald Schmidt<br />

ist von Hoffman beeindruckt. „Ich gehe ins<br />

Kino und sehe Philip Seymour Hoffman.<br />

Und sage: Donnerwetter, es ist ja irre, was<br />

der kann, ich kann es nicht. Warum sollte<br />

ich es dann überhaupt versuchen, wenn er<br />

es schon kann.“<br />

Doch Hollywood will Hoffman nicht<br />

den Rücken kehren. Er wird 2013 in der<br />

Fortsetzung der „Tribute von Panem“-Trilogie<br />

und in John le Carrés „Marionetten“<br />

zu sehen sein. Eigentlich, sagte er einmal,<br />

will er nur noch für seine Familie da sein.<br />

Die Erfüllung dieses Traumes muss auf sich<br />

warten lassen. Hoffman weiß: Die zweite<br />

Geige hält alles zusammen.<br />

björn Eenboom<br />

ist freier Journalist und<br />

Filmkritiker<br />

Fotos: Nicolas Guerin/Contour by Getty Images, Magdalena Gajewski (Autor)<br />

118 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Gilt als Spezialist für das<br />

Absonderliche und beharrt<br />

auf dessen Normalität:<br />

Philip Seymour Hoffman<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 119


| S a l o n<br />

Da Stehst Du doch drauf<br />

Sie nerven, sind kindisch, quälen sich und bergen einen Traum: Neues vom Klamaukduo Joko und Klaas<br />

von Daniel Haas<br />

W<br />

enn ich mit ihm fertig bin, wird<br />

er sich wünschen, er wäre Friseur<br />

geblieben“, sagt der junge<br />

Mann und lacht. Dann kommt sein Mitspieler,<br />

der ebenfalls gluckst, obwohl ihm<br />

das Lachen doch gleich vergehen soll, und<br />

beide betreten einen mit Plastikplanen ausgeschlagenen<br />

Raum. Hier soll der Mann,<br />

der früher tatsächlich einmal Friseur gewesen<br />

und nun im Fernsehen ein Star geworden<br />

ist, hier soll Klaas Heufer-Umlauf<br />

Brechmittel trinken, möglichst viel. Das<br />

Spiel heißt „Aushalten“. Und so trinken<br />

der ehemals als Coiffeur tätige Umlauf und<br />

sein Kollege Joko Winterscheidt, der sich<br />

in einem früheren, weniger amüsanten Leben<br />

als Werbekaufmann versuchte, aus einer<br />

Flasche Brechmittel.<br />

So sieht die vermeintliche Avantgarde<br />

der deutschen Fernsehunterhaltung aus.<br />

Joko, 34, und Klaas, 29, gelten als die<br />

großen Gewinner der Ironisierungswelle,<br />

wie sie seit Jahren unaufhaltsam durch<br />

die deutschen Medien rollt. Was Stefan<br />

Raab mit den mittlerweile schwächelnden<br />

Formaten „Schlag den Raab“ und „Wok-<br />

WM“ begann, setzen die beiden Moderatoren<br />

brachial fort. Es gibt so ziemlich keine<br />

Geschmacklosigkeit, die sich hier nicht mit<br />

einem Augenzwinkern als Entertainment<br />

verwerten ließe, und wenn das Zwinkern<br />

zur epileptischen Zuckung wird, umso besser.<br />

Umlauf und Winterscheidt haben den<br />

Körper zur Kampf- und Spaßzone erklärt.<br />

Bei MTV waren sie nur bessere Pausenclowns,<br />

aber dann kam, nach einem Boxenstopp<br />

bei ZDFneo, Pro Sieben und erkannte<br />

in ihnen Quotenbringer.<br />

Nun wird in wechselnden Formaten<br />

Flatulenzspray eingeatmet, man zerschlägt<br />

sich Eier am Kopf („Russisch Omelette“),<br />

lässt sich von einem Eishockeyspieler in<br />

voller Montur umrennen. Gehirnerschütterung<br />

auf beiden Seiten des Bildschirms:<br />

Eine Klaas- und Joko-Sendung bedeutet<br />

Ad-hoc-Regression in den Bereich pubertärer<br />

Gehässigkeit. Was dir wehtut, macht<br />

mir Spaß und umgekehrt; der Witz ist unmittelbar<br />

an die Physis gekoppelt. Zerebral<br />

verrenken sollen sich die Leute bei Harald<br />

Schmidt, der bei Sky jedoch fast unter Ausschluss<br />

der Öffentlichkeit witzelt.<br />

Für Kulturbürger ist diese Art der Komödie<br />

bestenfalls irrelevant, schlimmstenfalls<br />

sozial flurschädigend. Konventionelle<br />

Witzdramaturgie sieht eine Geschichte vor<br />

und am Ende Erkenntnisgewinn, Pointe<br />

genannt. Diese Showmaster aber sind<br />

keine Erzähler, ihr Humor zerstreut sich<br />

in klamaukigen Momentaufnahmen: Klaas<br />

bei der Karussellfahrt in einer Zentrifuge<br />

für Raumfahrttraining; Joko, der einen Alligator<br />

am Schwanz zieht.<br />

Das Prinzip ist nicht neu, es hat im angelsächsischen<br />

Raum sogar eine eminente<br />

Tradition. Slapstick war eine der Grundlagen<br />

des Vaudeville-Theaters. Joe Keaton,<br />

der Vater von Buster, bekämpfte bereits<br />

1895 einen Tisch, mit Hechtsprüngen,<br />

Fausthieben und Rempeleien. Der Kampf<br />

mit der Dingwelt zeigte den Zivilisationsbewohner<br />

als paradoxen Akteur, der sich<br />

mit den von ihm geschaffenen Sachen<br />

überwerfen muss. Eine späte Blütezeit erreichte<br />

die Pein- und Peinlichkeitsartistik<br />

dann bei der Künstlertruppe „Jackass“.<br />

Ehemalige Skateboarder pervertierten<br />

Ende der neunziger Jahre die Happening-<br />

Idee zur Sadismussause. Man schnupfte<br />

Wasabi, inhalierte Pfefferspray oder legte<br />

sich mit Steaks behängt auf einen Grill.<br />

Und nun Klaas und Joko. Auch in der<br />

aktuellen Sendung „Circus Halligalli“, der<br />

„Manege des Wahnsinns“ von Pro Sieben,<br />

greift die bewährte Methode: Schmerzsketche,<br />

Demütigungsgags, dazwischen ein<br />

paar Showgäste. Sido war schon da, Lena,<br />

Detlev Buck. Die Gespräche sind wirre<br />

Simulationen von Unterhaltung. Geistreicher<br />

sind die Untertitel zum jeweiligen<br />

Gast. Jürgen von der Lippe wird als „Entertainer,<br />

Moderator, Hawaiianer“ vorgestellt,<br />

weil er vorzugsweise Hawaiihemden trägt.<br />

Das bezeichnet exakt die Grundidee dieses<br />

Humors: Alles wird mit ironischer Fußnote<br />

versehen, eigentliches Sprechen ist etwas<br />

für Spießer, Beamte oder Programmchefs,<br />

die bei Pro Sieben nicht müde werden,<br />

ihre beiden Stars als Wunderwaffe für die<br />

Rekrutierung junger Zuschauer zu loben.<br />

Nun kann man sich fragen, ob die Generation<br />

der unter 40-Jährigen wirklich<br />

noch so ironieverliebt ist oder ob sich in<br />

diesem Gesellschaftssegment nicht längst<br />

ein neuer Lebensernst breitgemacht hat,<br />

mit Yogakursen, Bioläden und dem Flirten<br />

mit einer schwarz-grünen Koalition. Man<br />

kann auch fragen, wie lange Deutsche unter<br />

30 noch fernsehen werden oder ob sie<br />

nicht lieber durchs Internet surfen. Eine<br />

60-Minuten-Sendung am Abend muss<br />

Smartphone-Junkies wie ein Wachkoma<br />

vorkommen.<br />

Die ordentlichen, wenngleich nicht<br />

herausragenden Quoten für „Circus Halligalli“<br />

und Artverwandtes haben womöglich<br />

einen ganz anderen Grund: Es gibt einen<br />

wertkonservativen Zug im ironischen<br />

Overdrive von Klaas und Joko. Die beiden<br />

sind eine Solidargemeinschaft en miniature.<br />

Sie haben sich gegenseitig permanent im<br />

Blick, auch wenn er gespielt, hämisch und<br />

gehässig ist. Wie bei Dick und Doof, Ernie<br />

und Bert, Pat und Patachon setzt sich<br />

hier eine Verbindlichkeit in Szene, die in<br />

hochflexiblen, konkurrenzverschärften Zeiten<br />

nicht selbstverständlich ist.<br />

Klaas und Joko gehören zusammen. Sie<br />

sind aneinandergekettet, aufeinander verwiesen.<br />

Ihr Spiel ist, so narzisstisch es daherkommt,<br />

nicht Ego-Entertainment, sondern<br />

der Traum von Kumpelei. Wer seinen<br />

Nächsten triezen will, muss erst mal einen<br />

haben. Das wissen die Sammler virtueller<br />

Friends und Follower nur zu gut.<br />

Daniel Haas<br />

ist Autor und Spezialist für<br />

populäre Medien<br />

Fotos: Urban Zintel/Laif, Privat (Autor)<br />

120 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Klaas Heufer-Umlauf (links)<br />

und Joko Winterscheidt bei der<br />

Arbeit: Sie verlachen die Welt<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 121


| S a l o n<br />

Liebe, ein pendelschlag<br />

Der australische Schriftsteller Peter Carey verbindet Schönheit mit Komik und mit der Kuckucksuhr<br />

von hannes Stein<br />

W<br />

ussten Sie schon immer, dass<br />

Sie Schriftsteller werden wollten?<br />

Ich weiß nicht mehr genau,<br />

wann ich Peter Carey mit dieser Frage behelligte<br />

– war es beim Puntarelle, dem römischen<br />

Salat, der aussieht wie grüne Würmer,<br />

oder hatte uns der Kellner schon Teller<br />

voll dampfender Pasta serviert? Jedenfalls<br />

waren wir beim ersten Glas Hauswein (rot).<br />

Die Frühlingssonne brach schräg durch die<br />

Fensterscheiben. Das kleine italienische Restaurant<br />

in Greenwich Village war gefüllt<br />

mit lauten, fröhlichen Menschen.<br />

Nein, sagt Carey, der zweimal den<br />

Man-Booker-Prize gewann, den begehrtesten<br />

Literaturpreis der angelsächsischen<br />

Welt. Aber nicht doch. Seine Familie sei<br />

von Literatur unbeleckt. „Meine Eltern<br />

waren Autoverkäufer in einer Kleinstadt<br />

westlich von Melbourne.“ Literarische Bildung:<br />

null, wenn man von Shakespeare<br />

und der Bibel absieht. Er war das erste<br />

Kind in der Familie, das auf eine bessere<br />

Schule durfte: Peter Carey besuchte also<br />

die „Geelong Grammar School“, weil seine<br />

Eltern das Geld zusammenkratzen konnten.<br />

Auf dieselbe Schule gingen auch der<br />

Zeitungstycoon Rupert Murdoch sowie<br />

mehrere australische Premierminister. Allerdings<br />

hat er diese hohen Herrschaften<br />

nicht getroffen.<br />

Später verdiente Carey sein Geld als<br />

Werbetexter, gleichzeitig begann er, ernsthaft<br />

zu schreiben. Seine erste Veröffentlichung:<br />

ein Band mit Kurzgeschichten anno<br />

1974, auf die er heute nur noch halb stolz<br />

ist. Peter Carey grinst spitzbübisch und erzählt:<br />

„Wenn Leute mich damals auf Partys<br />

nach dem Beruf fragten, sagte ich, ich<br />

arbeite für die Werbung. Dann fingen sie<br />

meistens an, mich zu beschimpfen. Zur<br />

Rechtfertigung schob ich nach, eigentlich<br />

sei ich Schriftsteller. Das hatte zur Folge,<br />

dass sie noch stärker schimpften. Ich revanchierte<br />

mich mit ein paar Kraftausdrücken,<br />

und so wurden wir auf sehr australische<br />

Weise schnell Kumpels.“<br />

Was hat ihn, den Ur-Australier, vor<br />

20 Jahren nach New York verschlagen?<br />

„Meine erste Frau wollte hier leben. Ich<br />

nicht, aber ich habe nachgegeben. Wir<br />

sind längst geschieden, sie lebt in Brooklyn,<br />

zum Glück laufen wir einander nie<br />

über den Weg. Meine zweite Frau ist Engländerin.<br />

Komische Sache, das Leben.“<br />

Peter Carey hat mehrere weltweite Bestseller<br />

geschrieben, etwa „Mein Leben als<br />

Fälschung“ oder „Liebe. Eine Diebesgeschichte“.<br />

Trotzdem ist er kein Schriftsteller<br />

für jedermann. Seine Romane drohen –<br />

wie es im Guardian einmal sehr hübsch<br />

hieß – jeden Augenblick zu explodieren<br />

und bunte Flecken auf dem Teppich zu<br />

hinterlassen. Jene, die ihre Literatur gern<br />

sauer und schal haben, nehmen ihn darum<br />

nicht ganz ernst; aber auch jene, die gern<br />

Leseschnellfutter wollen, kommen bei Carey<br />

kaum auf ihre Kosten.<br />

Sein neuer Roman „Die Chemie der<br />

Tränen“ ist soeben auf Deutsch erschienen.<br />

Die Geschichte spielt halb im modernen<br />

London und halb im Schwarzwald des<br />

19. Jahrhunderts, wo die Kuckucksuhr erfunden<br />

wurde. Von ihr ist Carey fasziniert.<br />

Auf der einen Ebene geht es um Catherine,<br />

Angestellte eines Museums für Kunsthandwerk,<br />

die einen fatalen Verlust erleidet:<br />

Ihr Boss, zugleich ihr Liebhaber, stirbt<br />

an einem Herzinfarkt. Wie bekämpft man<br />

Kummer? Mit Arbeit. Catherine, Spezialistin<br />

für komplizierte Uhrwerke, setzt etwas<br />

Altmodisches zusammen, ein Artefakt,<br />

von dem sie glaubt, es sei eine mechanische<br />

Ente. Sie folgt Jacques de Vaucanson und<br />

dessen weltberühmter „Canard Digérateur“<br />

von 1739.<br />

Auf der zweiten Ebene handelt „Die<br />

Chemie der Tränen“ von Henry, einem verrückten<br />

Engländer mit einem Sohn, der<br />

an einer seltsamen, potenziell tödlichen<br />

Krankheit leidet. Mitten im 19. Jahrhundert<br />

reist Henry in den Schwarzwald, wo<br />

es besonders deutsch und dunkel ist, um<br />

ein mechanisches Spielzeug in Auftrag zu<br />

geben. Nur mithilfe jenes Spielzeugs, davon<br />

ist er überzeugt, kann sein krankes<br />

Kind genesen. Am Ende des Romans entpuppt<br />

sich die Ente, die Henry bestellt hat,<br />

als majestätischer Schwan mit silbernem<br />

Hals – wie im Märchen von Hans Christian<br />

Andersen. Und die Liebe ist mächtig<br />

wie der Tod: Catherine findet Trost. Ein<br />

komisches, ein ergreifendes Kabinettstück<br />

ist Peter Carey gelungen. Man denkt über<br />

den Roman noch sehr lange nach, wenn<br />

man ihn aus der Hand gelegt hat.<br />

Warum also schreiben Sie? Diese Frage<br />

habe ich dem Schriftsteller wohl nicht vor<br />

dem zweiten Glas Hauswein gestellt. Ganz<br />

bestimmt stellte ich sie erst, nachdem Carey<br />

mir gestanden hatte, auch er sitze noch<br />

jedes Mal mit dem blanken Gefühl der Verzweiflung<br />

vor dem Bildschirm – mit der<br />

Furcht, er sei ein Versager und Hochstapler,<br />

und jetzt werde der Schwindel auffliegen.<br />

„Bevor ich einen Roman schreibe, ist<br />

das Gefühl immer noch: Wie kannst du es<br />

wagen! Wie kannst du allen Ernstes glauben,<br />

du dürftest dich auf das Terrain begeben,<br />

auf dem sich ein James Joyce herumgetrieben<br />

hat. Was für eine Anmaßung!“<br />

Am Anfang der Schriftstellerkarriere<br />

habe ihn Unwissenheit vor solchen Selbstzweifeln<br />

geschützt. Aber jetzt – im Mai<br />

wird er 70 Jahre alt – schütze ihn leider gar<br />

nichts mehr. Also bitte: Warum schreiben<br />

Sie? „Stellen Sie diese Frage jedem Autor,<br />

den Sie treffen?“ Nein. Nur von ihm, von<br />

Peter Carey, will ich es dann doch gern wissen.<br />

Der Australier mit dem Lausbubengesicht<br />

denkt lange nach. Dann bestellen wir<br />

einen doppelten Espresso und einen Cappuccino.<br />

Und endlich sagt er: „Um etwas<br />

Schönes zu erschaffen, das es vorher noch<br />

nicht auf der Welt gegeben hat.“<br />

Hannes Stein<br />

ist Schriftsteller und lebt in New<br />

York. Sein Roman „Der Komet“<br />

erschien im Galiani-Verlag<br />

Fotos: Andrew Kelly/Insider Images, Chanah Brenenson (Autor)<br />

122 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Bestsellerautor Peter Carey<br />

wird am 7. Mai 70 Jahre<br />

alt. Er kennt noch immer<br />

die Furcht, er sei ein<br />

Versager und Hochstapler<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 123


| S a l o n | b a y r e u t h i m W a g n e r - J a h r<br />

Walhall bröselt<br />

Im Richard-Wagner-Jahr 2013 schaut die Welt nach Bayreuth. Und was sieht sie?<br />

Baugerüste, bröckelnden Putz, marode Inszenierungen und mittelmäßige<br />

Sänger. Ein Ortstermin auf der Suche nach dem Mythos<br />

von Michael Stallknecht<br />

124 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Wo einst des „Meisters“<br />

Bücher standen, im Saal<br />

der Villa Wahnfried,<br />

soll bald wieder ein<br />

Museum sein, heißt es<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 125


| S a l o n | b a y r e u t h i m W a g n e r - J a h r<br />

W<br />

as ist er nicht alles gewesen,<br />

dieser eigentlich so<br />

schlichte Bau! Walhall und<br />

Gralsburg, Gründungstempel<br />

einer Kunstreligion der<br />

Zukunft und letzter Hort im großen deutschen<br />

Untergang. Doch nun steht er da, als<br />

hätten die Riesen Walhall nicht fertig gebaut,<br />

als seien die Gralsritter ausgezogen.<br />

Eingerüstet mit grünen Bauplanen, da oben<br />

am Grünen Hügel. Walhall bröselt.<br />

„Man kann die Steine teilweise zwischen<br />

den Fingern zerreiben, die Fenster könnten<br />

dann rausfallen“, sagt Peter Emmerich. Der<br />

Sprecher der Bayreuther Festspiele wirkt,<br />

als habe er in seinen bald 25 Dienstjahren<br />

Schlimmeres erlebt. In seinem Büro seien<br />

die Fenster schon lange zugig, die jüngste<br />

Heizung im Haus stamme aus den zwanziger<br />

Jahren. Das Fachwerk an den Längsseiten<br />

sei seit langem durch Sichtbeton ersetzt.<br />

Doch nun geht es an die Substanz, an<br />

die verbliebenen Teile aus der Bauzeit des<br />

Hauses vor 140 Jahren. Auf 48 Millionen<br />

Euro und eine mögliche Laufzeit von zehn<br />

Jahren veranschlagen erste Schätzungen die<br />

vollständige Sanierung.<br />

Angela Merkel wird zu den Festspielen<br />

Ende Juli also unter Gerüsten nach Walhall,<br />

ins Festspielhaus einziehen müssen. Dabei<br />

ist 2013 ein besonderes Jahr. Die ganze Welt<br />

feiert den 200. Geburtstag Richard Wagners,<br />

die Opernhäuser spielen Wagner am laufenden<br />

Band. Drinnen probt Frank Castorf,<br />

Chef der <strong>Berlin</strong>er Volksbühne, seine Neuinszenierung<br />

des „Ring des Nibelungen“, mit<br />

dem Richard Wagner 1876 die ersten Festspiele<br />

eröffnet hatte. Bis zu den diesjährigen<br />

Festspielen müssen selbst die notwendigsten<br />

Restaurierungen warten. Das Haus,<br />

von Wagnerianern „Scheune“ genannt, ist<br />

so hellhörig, dass es jeder Hammerschlag<br />

von draußen locker mit den Schlägen des<br />

Germanengottes Donner drinnen auf der<br />

Bühne aufnehmen kann. Nur bedruckte<br />

Planen sollen noch kommen, um die Architektur<br />

abzubilden.<br />

Als seine eigene Attrappe wird sich<br />

das Festspielhaus dann immerhin im Einheitslook<br />

mit Haus Wahnfried präsentieren,<br />

dem am häufigsten besuchten Gedenkort<br />

zu Wagner. Rund um Richard Wagners<br />

ehemalige Villa am Hofgarten – „Hier wo<br />

mein Wähnen Frieden fand, Wahnfried sei<br />

dieses Haus von mir benannt“ – hängen<br />

die Planen schon, die Bagger rollen fleißig.<br />

Die Büste von König Ludwig II., der es mit<br />

kostenintensiven Neubauten bekanntlich<br />

nicht so genau nahm, blickt stoisch über<br />

den Bauzaun. Vielleicht amüsiert er sich ja,<br />

dass es selbst die Preußen trifft. Denn, man<br />

glaubt es kaum, als Drittes im Bunde wird<br />

auch das Markgräfliche Opernhaus, erbaut<br />

in Bayreuth unter Markgräfin Wilhelmine,<br />

der Schwester Friedrichs des Großen, seit<br />

vergangenem Herbst renoviert. Ironie der<br />

Geschichte: Erst wenige Monate zuvor<br />

hatte die Unesco das Haus, eines der wenigen<br />

original erhaltenen Barocktheater,<br />

zum Weltkulturerbe erklärt.<br />

„Wer den Schaden hat, spottet jeder<br />

Beschreibung“, übt sich Sven Friedrich<br />

in Galgenhumor und schimpft über das<br />

„Von Richard Wagners<br />

Villa stehen derzeit nur<br />

noch die Außenmauern<br />

und die Zwischendecke“<br />

Sven Friedrich, Direktor des<br />

Richard-Wagner-Museums<br />

„dämliche Jubiläumsjahr“. Der Direktor<br />

des Richard-Wagner-Museums, das im<br />

Haus Wahnfried beheimatet ist, berichtet,<br />

er habe die nötige Neukonzeption bereits<br />

seit 2001 vorbereitet. Doch im Jahr 2009<br />

beschlossen Stadt und Freistaat einen ehrgeizigen<br />

Neubau im Garten des Hauses.<br />

Inzwischen laufe es gut, nur sehen könne<br />

man von außen eben nichts. „Von Richard<br />

Wagners Villa stehen derzeit nur noch die<br />

Außenmauern und die Zwischendecke.“<br />

Um Wagnerianern und Touristen zur<br />

Festspielzeit irgendetwas zu bieten, will<br />

man kurzfristig ein paar Räume zugänglich<br />

machen und eine Ausstellung über Ludwig<br />

II. zeigen. Doch „Götterdämmerung“,<br />

wie die Ausstellung passenderweise heißt,<br />

tourt schon seit zwei Jahren durch alle bayerischen<br />

Regierungsbezirke. Bereits in ihrer<br />

ursprünglichen Variante als Bayerische<br />

Landesausstellung des Jahres 2011 war sie<br />

vor allem durch multimedialen Kitsch und<br />

forcierte Plakativität aufgefallen.<br />

„Es hat seinen eigenen Charme, das<br />

Haus trotz Baustelle zugänglich zu machen“,<br />

versucht es Brigitte Merk-Erbe, die<br />

Oberbürgermeisterin von Bayreuth und<br />

Geschäftsführerin der für das Museum<br />

verantwortlichen Richard-Wagner-Stiftung,<br />

mit trotzigem Optimismus. „Spätestens<br />

Ende 2011 war absehbar, dass Wahnfried<br />

2013 nicht fertig werden würde.“<br />

Sven Friedrich klagt indes über hohe<br />

Reibungsverluste in öffentlichen Strukturen,<br />

zieht Parallelen zu anderen öffentlichen<br />

Unternehmen wie der Hamburger Elbphilharmonie<br />

oder dem <strong>Berlin</strong>er Flughafen. Ein<br />

Nachbar erwirkte hier eine einstweilige Verfügung,<br />

die Bayreuther erregten sich über<br />

den Entwurf des prominenten <strong>Berlin</strong>er<br />

Architekturbüros Volker Staab, Umweltschützer<br />

darüber, in Richard Wagners Garten<br />

würden die Baumschutzordnung und<br />

die Vogelschutzbestimmungen missachtet.<br />

Dass auch die Familie des „Meisters“, wie<br />

man hier sagt, sich immer wieder einschaltete,<br />

verrät Toni Schmid vom Kultusministerium<br />

des Freistaats Bayern. „Wir wollten<br />

niemanden übergehen“, so der Leiter der<br />

Kunstabteilung, „der noch als Kind in dem<br />

Haus aufgewachsen ist.“<br />

Das Gespräch mit Sven Friedrich findet<br />

in jenem Teil des Hauses statt, in dem<br />

bis 1980 Richard Wagners Schwiegertochter<br />

Winifred lebte. Im Nebenzimmer steht<br />

der Steinway-Flügel des Meisters. Als glühende<br />

Nationalsozialistin hatte Winifred<br />

die Festspiele mit dem „Dritten Reich“ nah<br />

an den Untergang geführt. Auf diese ideologischen<br />

Verstrickungen ging das alte Richard-Wagner-Museum<br />

aus dem Jahr 1976<br />

kaum ein, was sich nun ändern soll.<br />

Indem Winifred den Familienbesitz in<br />

die Richard-Wagner-Stiftung überführte,<br />

gab sie ihm zum ersten Mal eine öffentliche<br />

Rechtsform. Dennoch bleiben die Wagners<br />

Fotos: Jürgen Holzenleuchter für <strong>Cicero</strong> (Seiten 124 bis 127)<br />

126 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Grüne Planen auf dem<br />

Grünen Hügel: Das<br />

Bayreuther Festspielhaus<br />

ist innen wie außen<br />

eine große Baustelle<br />

bis heute so etwas wie die letzte Monarchie<br />

auf deutschem Boden: völlig degeneriert<br />

und doch mit stolzem Erbe, eine der<br />

wenigen echten Institutionen hierzulande<br />

und in den Einzelpersonen immer wieder<br />

untragbar. Hätte sie sich woanders als Produzentin<br />

beworben, ihr wäre innerhalb einer<br />

Viertelstunde die Tür gewiesen worden,<br />

schrieb der Journalist Moritz Wirth<br />

schon über Richards Witwe und „Nachfolgerin“<br />

Cosima.<br />

Was die nicht davon abhielt, in Wahnfried<br />

ein quasimonarchisches Zeremoniell<br />

mit grotesken Formen einzuführen. Dummerweise<br />

war die Thronfolge immer ungesichert<br />

– die innerfamiliären Streitigkeiten<br />

füllen bis heute ganze Zeitungsarchive.<br />

Zuletzt regierte Winifreds Sohn Wolfgang<br />

Wagner, anfangs mit seinem Bruder, dann<br />

alleine, ganze 57 Jahre lang, die gesamte<br />

deutsche Nachkriegszeit. Rechtlich funktionierte<br />

das über eine GmbH, deren einziger<br />

Gesellschafter wiederum er selber war.<br />

Als solcher mietete Wolfgang Wagner dann<br />

das Festspielhaus von der Richard-Wagner-<br />

Stiftung und setzte – Überraschung – sich<br />

selbst als Geschäftsführer auf Lebenszeit ein.<br />

Brüchige Steine an den Fassaden klopfte er<br />

als sein eigener Hausmeister notfalls einfach<br />

runter. „Der hat alles gemacht, wie er<br />

meinte“, sagt Toni Schmid vom Ministerium.<br />

„Wir als Freistaat waren zufrieden,<br />

wenn am Ende keine Schulden entstanden,<br />

und in alles andere waren wir nicht involviert.<br />

Das war viel angenehmer.“<br />

Dass das alles spätestens seit Wolfgang<br />

Wagners Tod im Jahr 2010 nicht mehr einfach<br />

so geht – das ist die eigentliche, die<br />

grundlegende Baustelle in Bayreuth. Denn<br />

weil dieser unbedingt seine eigentlich viel<br />

zu junge Lieblingstochter Katharina zur<br />

Nachfolgerin wollte, bestanden die bisherigen<br />

Geldgeber – Bund, Freistaat, Stadt und<br />

die Mäzenatengesellschaft der „Freunde von<br />

Bayreuth“ – auf Anteilen in der GmbH.<br />

Bayreuth ist damit in der konstitutionellen<br />

Monarchie angekommen.<br />

Katharina und ihre Partnerin in der<br />

Festspielleitung, die ältere Halbschwester<br />

Eva Wagner-Pasquier, regieren seitdem als<br />

Geschäftsführerinnen in einem öffentlichrechtlichen<br />

Konstrukt, das indes ziemlich<br />

auf Sand gebaut scheint. Ein „undurchsichtiges<br />

Geflecht von Bestimmungen<br />

und Regelungen“, diagnostizierte kürzlich<br />

ein rechtswissenschaftliches Symposion<br />

der EBS Law School in Wiesbaden.<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 127


| S a l o n | b a y r e u t h i m W a g n e r - J a h r<br />

Die Struktur sei der Öffentlichkeit kaum<br />

vermittelbar, Einzelteile der aus Wolfgang<br />

Wagners Zeiten einfach fortgeführten Regelungen<br />

seien ungültig oder mindestens<br />

zweifelhaft. Ihre beiden Cousinen Katharina<br />

und Eva arbeiteten „im Zustand der<br />

Illegalität“, die Nachfolge sei „sittenwidrig“<br />

verlaufen, fauchte danach öffentlich<br />

Nike Wagner und verdeutlichte damit, woran<br />

das dynastische Prinzip scheitert. Die<br />

Leiterin des Kunstfests Weimar hatte 2008<br />

selbst Festspielleiterin werden wollen.<br />

Als reiner Staatsbetrieb funktionieren<br />

die Festspiele freilich auch nicht unbedingt.<br />

Vor allem Bayern und der Bund,<br />

hört man, kriegten sich in der GmbH gern<br />

in die Haare. Für die Bayern seien die Preußen<br />

kontrollwütig, aber finanziell unzuverlässig.<br />

Man werde sich vom Bund im Festspielhaus<br />

nicht die Buntstifte nachzählen<br />

lassen, schimpfte der bayerische Kunstminister<br />

Wolfgang Heubisch. Die rechtlichen<br />

Abhängigkeiten und personellen Identitäten<br />

zwischen Stiftung und GmbH – Toni<br />

Schmid ist Verwaltungsratsvorsitzender in<br />

beiden – wirken wie die Fortschreibung<br />

bayerischer Stammtischtraditionen.<br />

Andererseits hat sich der Freistaat bei der<br />

fälligen Sanierung des Festspielhauses zum<br />

Erbe Ludwigs II. bekannt, der beim Bau<br />

mit einem rettenden Kredit eingesprungen<br />

war. 16 Millionen sind in den Haushalt<br />

eingestellt. Für die übrigen 32 Millionen<br />

stehen die anderen Gesellschafter unter<br />

Zugzwang. „Alle Beteiligten werden sich finanziell<br />

engagieren“, hört man nur von der<br />

Oberbürgermeisterin, deren Kommune so<br />

pleite ist wie alle anderen.<br />

„Die Moderne greift nach Bayreuth“,<br />

sagt Peter Emmerich mit süffisantem Lächeln.<br />

Plötzlich, so der Sprecher der Festspiele,<br />

sei „Erfolgskontrolle“ zentral, die<br />

Zahl von Klicks auf Homepages und Ähnliches.<br />

Als vor zwei Jahren der Bund seinen<br />

Rechnungshof schickte, rügte der die<br />

Kartenvergabepraxis. 60 Prozent der Festspielkarten<br />

waren nie in den freien Verkauf<br />

gelangt. Wie es eben im Feudalismus so üblich<br />

ist, waren viele Karten über Privilegien<br />

und langjährige Gewohnheitsrechte immer<br />

schon vergeben. Die berühmte zehnfache<br />

Überbuchung erwies sich als Mythos.<br />

In den vergangenen Wochen suchten<br />

die beiden Festspielleiterinnen händeringend<br />

nach einem kaufmännischen Geschäftsführer,<br />

der einen simplen Jahresabschluss<br />

zustande bringt. Dass die beiden<br />

Damen zuweilen überfordert sind, spürt<br />

man als Journalist, wenn man – wie für diesen<br />

Beitrag – mehrfach um ein Gespräch<br />

bittet: tagelang keinerlei Reaktion.<br />

Vielleicht passen Mythen nicht in die<br />

verwaltete Welt. Richard Wagner gestaltete<br />

das Festspielhaus bewusst als provisorischen,<br />

rein funktionalen Bau. Er hatte genau gespürt,<br />

dass die Schere zwischen Provinzialismus<br />

und Anspruch, Talmi und Heiligkeit<br />

in Bayreuth von Anfang an weit offen<br />

stand. Die Festspiele blieben in den ersten<br />

Jahrzehnten finanzielle Kompletthavarien.<br />

Von Anfang an stand hier<br />

die Schere zwischen<br />

Provinzialismus und<br />

Anspruch, Talmi und<br />

Heiligkeit weit offen<br />

Und dass der Festspielbesuch oft als Pilgerfahrt<br />

beschrieben wurde, hat mit den begleitenden<br />

Strapazen ebenso zu tun wie<br />

mit der Kunstreligion. Bis heute nächtigen<br />

traditionsbewusste Festspielgäste mangels<br />

Hotellerie bei Bayreuther Bürgern, die<br />

zur Festspielzeit ein Bett anbieten. Nach<br />

der Vorstellung essen sie am Fuß des Hügels<br />

in den „Holländer-Stuben“, obwohl es<br />

dort neben Sängerfotos an den Wänden nur<br />

verranzte Möbel und fettige Ćevapčići gibt.<br />

Besser gesagt: gab. Vor zwei Jahren haben<br />

die „Holländer-Stuben“ dichtgemacht.<br />

Tempel können in die Jahre kommen,<br />

bei der Liturgie aber muss die Sache stimmen.<br />

Auch hier bröselt es schon lange. Kein<br />

Komponist ist in den vergangenen Jahren<br />

stärker demokratisiert worden als Wagner,<br />

auch die kleinen Bühnen spielen seine Stücke<br />

inzwischen. Die Exklusivität ist dahin.<br />

Bei den Sängerbesetzungen können die<br />

Festspiele seit Jahren kaum noch mit den<br />

großen Häusern mithalten, auch die Besetzung<br />

des kommenden „Rings“ wirkt bis auf<br />

ein paar Namen glanzlos. Dass die Inszenierung<br />

für das Mittelmaß entschädigt, glaubt<br />

in Branchenkreisen kaum jemand.<br />

Einst prägend für eine ganze Generation,<br />

zeigen die Schauspielproduktionen<br />

von „Ring“-Regisseur Frank Castorf seit<br />

Jahren schwere Ermüdungserscheinungen.<br />

Castorf ist das lebendige Symbol der Legitimationskrise,<br />

in der das Regietheater<br />

deutscher Prägung unübersehbar steckt.<br />

Wolfgang Wagner hatte zu dessen Blütezeiten<br />

die brillantesten Köpfe nach Bayreuth<br />

einladen können. Zugleich aber betrieb<br />

er eine Mischkalkulation, indem seine<br />

eigenen, reichlich bodenständigen Inszenierungen<br />

das Ritual bedienten. Denn die<br />

Spaltung zwischen dem Progressiven und<br />

dem Sakralen steckt tief in Richard Wagners<br />

Werk.<br />

Urenkelin Katharina dagegen nutzte<br />

2007 ihre erste eigene Bayreuther Inszenierung,<br />

um mit den „Meistersingern von<br />

Nürnberg“ eine Avantgarde von vorgestern<br />

als alternativlos zu feiern. Im vergangenen<br />

Jahr durfte der 31-jährige Regisseur<br />

Jan Philipp Gloger den „Fliegenden Holländer“<br />

grandios im Meer versenken. 2015 ist<br />

wieder Katharina dran, 2016 soll der fachfremde<br />

Bildende Künstler Jonathan Meese<br />

den „Parsifal“ inszenieren. Wie viele Kleinstadtintendanten<br />

versprechen sich die Festspielleiterinnen<br />

von „frischem Blut“ die<br />

große Zukunft. Dazu passt die jährliche<br />

Kinderoperproduktion, die Katharina<br />

Wagner einführte, als müsse sie wie in Ingolstadt<br />

oder Rostock den Nachwuchs ins<br />

Theater locken. Das Problem ist nur, dass<br />

im gegenwärtigen Theaterbetrieb nichts gewöhnlicher<br />

geworden ist als das Experiment.<br />

Die Eintrittskarten und Programmhefte der<br />

Festspiele sind ein Menetekel: Nach einer<br />

Modernisierung sehen sie aus wie in jedem<br />

anderen Theater auch.<br />

In diesem Herbst stehen die Verhandlungen<br />

über die erste Vertragsverlängerung<br />

der beiden Halbschwestern in der Festspielleitung<br />

an. Sollte man sich irgendwann gegen<br />

das dynastische Prinzip entscheiden,<br />

wäre Bayreuth endgültig ein Staatstheaterbetrieb<br />

unter vielen. Toni Schmid wird<br />

die Verhandlungen wahrscheinlich führen.<br />

„Es ist auch ein Zeichen des Optimismus,<br />

wenn ein Gerüst steht“, sagt er mit<br />

Blick auf das Festspielhaus. „Es ist ein Signal,<br />

dass wir uns um die Zukunft des Hauses<br />

kümmern.“<br />

michael Stallknecht<br />

ist Kulturwissenschaftler,<br />

Musikkritiker und freier<br />

Publizist<br />

Foto: privat<br />

128 <strong>Cicero</strong> 5.2013


B e n o t e t | S a l o n |<br />

illustration: anja stiehler/jutta fricke illustrators<br />

Der Hund ist nur<br />

ein Rezensent<br />

Musik und Musikkritik sind heute oft<br />

geschiedene Leute. Doch es gibt Ausnahmen<br />

Von Daniel Hope<br />

E<br />

s war anno 2001: In der Lobby des Hotels, wo ich einchecken<br />

wollte, stand zufällig eine Kollegin vor mir, eine<br />

brillante amerikanische Musikerin, damals am Anfang ihrer<br />

Weltkarriere. Kopfschüttelnd gestikulierte sie, während sie in<br />

eine Tageszeitung schaute. „Ich fasse es nicht!“, sagte sie zu ihren<br />

Eltern, die neben ihr standen: „Ein ganzes Jahr arbeite ich an diesem<br />

Programm, und das Einzige, was diesem MANN einfällt, ist,<br />

mich ein ‚loliteskes Persönchen‘ zu nennen! Ich möchte ihn einmal<br />

auf der Bühne erleben!“<br />

Darf man reagieren, wenn eine Kritik unter die Gürtellinie<br />

trifft? Legendär ist Max Regers Antwort: „Ich sitze im kleinsten<br />

Raum des Hauses. Ihre Kritik habe ich vor mir. Bald werde ich sie<br />

hinter mir haben.“ Als ich mit 15 begann, öffentlich aufzutreten,<br />

habe ich mit pochendem Herzen geblättert, um zu erfahren, wie<br />

der Rezensent meine Leistung bewertet hatte. Inzwischen kann<br />

ich behaupten, dass ich jede Art von Kritik erlebt habe. Neben<br />

köstlichen Verwechslungen wie „Donald Hope, der australische<br />

Pianist“ sind die Urteile mal so übertrieben positiv, mal so unglaublich<br />

schlecht, dass ich sicher bin: Dies kann einfach nicht<br />

sein. Trotzdem frage ich mich jeweils nach einer negativen Kritik,<br />

ob etwas davon stimmt. Der Dirigent Leopold Stokowski sagte:<br />

„Am gefährlichsten sind jene Kritiker, die von der Sache nichts verstehen,<br />

aber gut schreiben.“ Ich würde es anders formulieren: Eine<br />

schlechte Kritik, wenn sie kenntnisreich und fundiert ist, kann einem<br />

Künstler helfen und ihn weiterbringen.<br />

Einer der gefürchtetsten Musikkritiker seiner Zeit war Eduard<br />

Hanslick (1825-1904), berühmt für seine von Ironie und Wortwitz<br />

sprühenden Rezensionen. Manche Künstler haben sich für<br />

die bösen Auslassungen revanchiert. Richard Wagner hat es seinem<br />

Widersacher heimgezahlt, indem er ihn in den „Meistersingern<br />

von Nürnberg“ in Gestalt des „Merkers“ Sixtus Beckmesser verewigte.<br />

Am berühmtesten ist Goethes Gedichtzeile: „Schlagt ihn<br />

tot, den Hund! Er ist ein Rezensent.“ Ein Schauspieler im Frankfurter<br />

Theater tat 2006 fast genau das: Er sprang von der Bühne<br />

runter, entriss dem Kritiker den Notizblock und beschimpfte ihn.<br />

Es gab Zeiten, da die Leute Kritiken fasziniert gelesen haben,<br />

weil sie unbedingt etwas über die jeweils aufgeführten Werke und<br />

die mitwirkenden Musiker erfahren wollten. Damals waren die<br />

Zeilen informativ, kompetent, manchmal mit einer gesunden Dosis<br />

Ironie – aber niemals persönlich. Leider beherrschen nur noch<br />

wenige diese Kunst. Symptomatisch war eine Begegnung mit einem<br />

Studienfreund, der mir nach dem Besuch eines Konzerts erzählte,<br />

dass er nun Musik- statt Filmkritiken schreibe. Ich fragte<br />

ihn, wie er über das Konzert berichten wolle. Er bat mich, ihm<br />

zu raten, er selbst wisse nämlich nicht weiter. Heute kommt noch<br />

hinzu, dass viele Zeitungen, bedingt durch die rapide Abnahme<br />

von Werbeeinnahmen, bei der Musikredaktion radikal sparen müssen.<br />

Und mit dem Internet-Blogging scheint der Sofa-Kritiker endgültig<br />

etabliert zu sein. Jetzt muss sich der Rezensent sogar vor der<br />

ganzen Welt verteidigen: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er selber<br />

im Netz beurteilt wird. Die Spielregeln ändern sich.<br />

Im November 2012 las ich einen bizarren Artikel mit der Überschrift<br />

„Unter dem Röckchen der Hure Klassik“. Zielscheibe dieser<br />

Tirade waren viele geschätzte Kollegen, die neben ihren Musikkarrieren<br />

andere Tätigkeiten wie das Schreiben oder Moderieren mit<br />

Erfolg ausüben. Der Artikel richtete sich auch gegen mich, wobei<br />

die trashigen Bemerkungen in meinem Fall ausschließlich mein<br />

Aussehen betrafen, und erinnerte mich eher an „Dschungelcamp“-<br />

Journalismus. Im Übrigen war der Autor derselbe, dem es gelungen<br />

war, sein Klassik-Vokabular in den elf Jahren von „lolitesk“<br />

auf „Hure“ zu steigern.<br />

Eine würzige Rezension, die hingegen wirklich saß, war von einem<br />

Kritiker, den ich sehr schätze. Sie erschien nach meinem ersten<br />

Auftritt mit dem Beaux Arts Trio in Boston. In der Kritik las<br />

ich, dass ein Newcomer eingesprungen sei, ein (immerhin!) feinfühliger<br />

Musiker, bei dem man es aber leider mit dem lautesten<br />

Fußstampfer seit Rudolf Serkin zu tun habe. Er habe bei Schumann<br />

so laut gestampft, dass man sich gewünscht habe, im Publikum<br />

säße ein Chirurg, der den fraglichen Fuß umgehend amputierte.<br />

Ein Jahr später spielte ich wieder in Boston und achtete<br />

peinlichst darauf, meine Füße keinesfalls zu bewegen. Anschließend<br />

schrieb derselbe Kritiker: „Vor einem Jahr hat Mr. Hope mit<br />

seinem lauten Gestampfe beinahe das ganze Schumann-Trio ruiniert.<br />

Diesmal hielt er seine Füße exemplarisch ruhig. Halleluja!“<br />

Manchmal bewirken Kritiken doch etwas.<br />

Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband<br />

„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch<br />

„Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt)<br />

und die CD „Spheres“ (Deutsche Grammophon). Er lebt in Wien<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 129


| S a l o n | 1 9 3 3 – u n t e r w e g s i n d i e D i k t a t u r<br />

Im Flammenmeer<br />

der Niedertracht<br />

Mit der Bücherverbrennung verabschiedete sich Deutschland im Mai 1933 aus der Welt<br />

der Wissenschaft und Kultur. Die Folgen sind bis heute spürbar. Vierte Folge einer Serie<br />

von Philipp Blom<br />

W<br />

enn es ein Datum gibt, an<br />

dem Deutschland aufhörte,<br />

die größte Wissenschaftsnation<br />

und die wichtigste<br />

Kulturnation der Welt zu<br />

sein, dann war es der Abend des 10. Mai<br />

1933, an dem Studenten, Professoren, Burschenschaftler<br />

in voller Montur und Mitglieder<br />

von SA und Hitlerjugend einen<br />

Schritt in Richtung eines der Scheiterhaufen<br />

machten, die in mehr als 70 deutschen<br />

Städten brannten, und mit einem „Feuerspruch“<br />

auf den Lippen Bücher von „undeutschen“<br />

Autoren in die Flammen warfen.<br />

Das ehemalige Land der Dichter und<br />

Denker bekannte sich damit endgültig zu<br />

einem neuen Barbarismus.<br />

Die ersten Scheiterhaufen im Rahmen<br />

der Aktion hatten im Februar gelodert.<br />

Kurz darauf hatte die deutsche Studentenschaft<br />

unter dem Motto „Wider den<br />

undeutschen Geist“ zu einer Großaktion<br />

aufgerufen, die nicht nur „zersetzende Literatur“<br />

zerstören, sondern auch den universitären<br />

Machtanspruch der studentischen<br />

Funktionäre festigen sollte.<br />

Schon der „Judenboykott“ am 1. April,<br />

der alle Geschäfte und Betriebe in jüdischem<br />

Besitz betraf, hatte die Absichten<br />

der Nationalsozialisten deutlich gemacht.<br />

Mit dem im April erlassenen „Gesetz zur<br />

Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“<br />

wurde die Machtergreifung auch an den<br />

Universitäten vollzogen. Beamte mussten<br />

von jetzt ab einen „Ariernachweis“ erbringen<br />

und konnten ohne Angabe von<br />

Gründen entlassen werden. Hunderte<br />

von jüdischen und politisch unliebsamen<br />

Hochschullehrern, mehr als 20 Prozent der<br />

Lehrkräfte, waren so entfernt worden. Die<br />

Proteste von Professorenseite hielten sich in<br />

Grenzen, denn die frei gewordenen Stellen<br />

boten Karrieremöglichkeiten.<br />

Mit der Bücherverbrennung sollte nun<br />

auch das Gedankengut im akademischen<br />

„Ich übergebe<br />

dem Feuer …“:<br />

So klang der<br />

böse Refrain in<br />

vielen Städten.<br />

Deutschland<br />

verbrannte<br />

sich da selbst<br />

130 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Fotos: Picture Alliance/DPA, Peter Rigaud (Autor); Grafik: <strong>Cicero</strong><br />

Bereich symbolisch „gereinigt“ werden. In<br />

Anlehnung an Luthers 95 Thesen publizierte<br />

die deutsche Studentenschaft zwölf<br />

Thesen, in denen sie forderte, „die Lügen“<br />

der „jüdischen Literatur“ auszumerzen.<br />

Was am 10. Mai 1933 geschah, beschrieb<br />

ein rhetorisch beseelter Redakteur<br />

der Greifswalder Zeitung: „Die Fackeln entzündeten<br />

den Holzstoß, auf dem die roten<br />

Fahnen und Transparente, die 14 Jahre<br />

lang durch die Straßen getragen wurden<br />

und zum Klassenkampf die Volksgenossen<br />

aufhetzten, in Flammen aufgingen. In<br />

dieses aufzüngelnde Flammenmeer flogen<br />

in hohem Bogen die Bücher, die<br />

auf der schwarzen Liste der nationalen<br />

Bewegung standen. Von<br />

Remarques ‚Im Westen nichts<br />

Neues‘ bis hin zu Heinrich<br />

Heine flogen die zersetzenden<br />

Zeitschriften und Flugblätter<br />

russischer und kommunistischer<br />

Funktionäre. Der<br />

aufsteigende Rauch entführte die<br />

brennenden Blätter weit zum Nachthimmel<br />

hinauf, dass sie wie entschwebende<br />

Geister erscheinen mochten. Und das ist<br />

wohl auch der Sinn dieser symbolischen<br />

Handlung, den Geist der Zersetzung, den<br />

Geist des Zwiespalts, kurz den Geist des<br />

Marxismus und Kommunismus auszutreiben,<br />

nicht bloß aus den Bücherschränken,<br />

sondern aus Gedanken und Herzen aller<br />

Volksgenossen.“<br />

Das Privileg, verbrannt zu werden, teilten<br />

die Bücher jüdischer Autoren wie Karl<br />

Marx, Heinrich Heine, Sigmund Freud,<br />

Alfred Kerr und Franz Kafka mit denen<br />

nichtjüdischer Autoren von den Brüdern<br />

Mann über Erich Kästner, Kurt Tucholsky<br />

und Hermann Hesse. Aber nicht nur die<br />

Bücherschränke und die Herzen der Volksgenossen<br />

leerten sich. Bis zum Kriegsbeginn<br />

verließen eine halbe Million von Intellektuellen,<br />

Wissenschaftlern, Künstlern,<br />

Journalisten und Schriftstellern Deutschland<br />

und Österreich und emigrierten ins<br />

Exil. Die Hälfte von ihnen ließ sich in den<br />

Vereinigten Staaten nieder.<br />

Kulturell und wissenschaftlich hat sich<br />

Deutschland von diesem Exodus nie erholt.<br />

Zwischen 1901 und 1933 ging ein Drittel<br />

aller Nobelpreise für Wissenschaften nach<br />

Deutschland. Zwischen 1933 und 1960<br />

waren es noch acht. Vor dem Krieg nahmen<br />

Chemiker und Physiker in der ganzen<br />

Welt Kurse in Deutsch, um wichtige<br />

1933<br />

Anno<br />

Als Deutschland die<br />

Demokratie verlor<br />

wissenschaftliche Publikationen zu verstehen.<br />

Heute schreiben deutsche Naturwissenschaftler<br />

lieber gleich auf Englisch. Die<br />

Liste der Exilierten gibt eine Ahnung von<br />

dem intellektuellen Potenzial, das verloren<br />

ging, von Hollywood bis zum militärpolitischen<br />

Manhattan-Programm der USA, von<br />

Bertolt Brecht bis zu Leo Strauss, dem Vater<br />

der ursprünglichen Neoliberalen Ökonomie<br />

in Chicago, Max Horkheimer, Hannah<br />

Arendt und Arnold Schönberg.<br />

Viel schlimmer als der Verlust seiner<br />

intellektuellen und kulturellen Weltstellung<br />

aber war die endgültige Perversion<br />

einer moralischen und kulturellen<br />

Tradition, die zumindest dem<br />

akademischen Selbstverständnis<br />

nach an den Universitäten<br />

besonders verankert sein<br />

sollte. Am 10. Mai 1933 kam<br />

es trotzdem kaum zu Reaktionen<br />

von Professorenseite.<br />

In <strong>Berlin</strong> hielt ein Philosophieprofessor,<br />

der zu Recht vergessene<br />

Alfred Baeumler, seine Antrittsvorlesung<br />

zu dieser Gelegenheit und marschierte<br />

dann mit den Studenten zum Scheiterhaufen.<br />

Der Rektor der Universität, Eduard<br />

Kohlrausch, trat zwar aus Protest zurück,<br />

wurde aber danach zu einem hochrangigen<br />

Juristen in der NS-Hierarchie. Hitler persönlich<br />

zeichnete ihn 1944 aus.<br />

Nur an der Universität Marburg fand<br />

sich kein Professor, der am Scheiterhaufen<br />

sprechen oder mit den Studenten<br />

marschieren wollte. Dort hatte sich<br />

nur wenige Tage zuvor der angesehene<br />

Sprachwissenschaftler Hermann Jacobsohn,<br />

als Nichtarier aus dem Dienst entlassen,<br />

das Leben genommen. Wenn es<br />

auch vielleicht nicht aus humanistischen<br />

Prinzipien geschehen war, bewegte diese<br />

Verzweiflungstat ihres Kollegen die Marburger<br />

Professoren augenscheinlich zum<br />

passiven Widerstand.<br />

Wir werden Deutschlands Weg in die Diktatur<br />

weiterhin nachzeichnen. In der nächsten<br />

Ausgabe wenden wir uns der Volkszählung<br />

von Juni 1933 zu.<br />

Philipp Blom ist Historiker<br />

und Autor. Seine Bücher „Der<br />

taumelnde Kontinent“ und<br />

„Böse Philosophen“ wurden<br />

mehrfach ausgezeichnet<br />

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5.2013 <strong>Cicero</strong> 131


| S a l o n | M a n s i e h t n u r , w a s m a n s u c h t<br />

Kunst als Abfall<br />

und Abgeltung<br />

Xu Bing schuf zwei gigantische Eisenvögel aus Schrott, die das<br />

neue Peking an den Preis seines Reichtums erinnern sollten. Zu<br />

sehen aber ist der doppelte Phönix nur in den USA<br />

Von Beat Wyss<br />

132 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Alte Feuerlöscher, gebrauchte Schutzhelme und aufgeschnittene Ölfässer sind hier<br />

der Stoff, aus dem die Vögel sind: Xu Bing bringt das Abgelegte zum Schweben<br />

D<br />

Fotos: Massachusetts Museum of Contemporary Art, artiamo (Autor)<br />

ie zwei Schrottskulpturen sind<br />

rund 30 Meter lang und wiegen<br />

zusammen zwölf Tonnen. Gegenwärtig<br />

hängen sie in Halle 5 des „Massachusetts<br />

Museum of Contemporary Art“,<br />

dem MASS MoCA von North Adams,<br />

Massachusetts. Der Künstler Xu Bing war<br />

von einem chinesischen Immobilieninvestor<br />

beauftragt worden, ein monumentales<br />

Kunstwerk zu schaffen: zum Schmuck<br />

der prächtigen Plaza zwischen den beiden<br />

Türmen des China World Trade Center,<br />

Tower III. Der Bau steht in Pekings<br />

Geschäftsviertel, deren Skyline die großen<br />

Namen zeitgenössischer Architektur zitiert.<br />

Den Künstler beeindruckten 2008<br />

beim Ortstermin auf der Baustelle die Arbeits-<br />

und Lebensbedingungen der Wanderarbeiter,<br />

die hier unter schäbigsten<br />

Bedingungen die glitzernden Kolosse<br />

ökonomischer und politischer Prachtentfaltung<br />

in die Höhe treiben. Xu Bing kam<br />

die Idee, diesen Ort mit einem Phönix-<br />

Paar zu überhöhen, dem mythischen Vogel<br />

der Erneuerung. In der Han-Dynastie,<br />

der Zeit unserer hellenistischen Antike,<br />

wurde das Fabeltier paarweise dargestellt,<br />

weiblich und männlich, als Metapher für<br />

den Kreislauf von Yin und Yang.<br />

So wie sich der Phönix selber erneuert,<br />

entstand das Kunstwerk aus den Abfällen,<br />

aus denen sich die Architektur des<br />

Geschäftsviertels geschält hat: den schadhaften<br />

Bambusstangen der Baugerüste,<br />

gebrauchten Feuerlöschern, Kreissägen,<br />

Polierkreisel, Abdeckmaterial aller Art.<br />

Kraus gerollte, aufgeschnittene Ölfässer<br />

bilden die Hälse, Schutzhelme und Ventilatoren<br />

die Federhauben der Königsvögel.<br />

Die Schwanzfedern sind aus gelochten<br />

Stahlträgern, farbigen Abdeckplanen und<br />

Blech zusammenmontiert. Grüne Akkordeonrohre<br />

aus Plastik schlängeln sich<br />

unter den Monstern und bringen diese<br />

gleichsam im Fahrtwind zum Schweben.<br />

Im Halbdunkel glimmen im Schrottgefieder<br />

Myriaden kleiner Niedervoltlämpchen<br />

wie die Milchstraße am Firmament<br />

einer Sommernacht. Die Köpfe<br />

und Schnäbel der Riesenvögel werden geformt<br />

von Baggerschaufeln mit Bohrkopf,<br />

womit das alte Peking abgerissen worden<br />

war, um das neue entstehen zu lassen:<br />

Phönix aus der Asche. Das Kunstwerk<br />

hätte das Handelszentrum Chinas an die<br />

Verschleißspuren der Arbeit erinnert, die<br />

seinen Glanz ermöglichen.<br />

Diese Aussage zu verkraften, war die<br />

Kommission der chinesischen Handelskammer<br />

jedoch nicht reif; ihr war die<br />

Schrottplastik nicht repräsentativ genug.<br />

Der Künstler wurde gebeten, die Vögel<br />

in Kristallglas zu gestalten, prunkvoll<br />

glitzernd wie die Halle, wofür sie vorgesehen<br />

waren. In Gestalt einer monströs<br />

gleißenden Chinoiserie wäre die Aussage<br />

des Werkes aber korrumpiert worden:<br />

dass Kunst ein Kompensationsgeschäft ist,<br />

eine symbolische Abfindung an die Opfer<br />

der Gesellschaft. Der Phönix heißt im<br />

Chinesischen Fenghuang; er gleicht dem<br />

Fasan oder Pfau und verkörpert die kaiserlichen<br />

Tugenden von Güte, Gerechtigkeit,<br />

Anstand und Weisheit. Sich mit solchen<br />

Tugenden zu schmücken, hat der<br />

zynische Raubtierkapitalismus kommunistischer<br />

Prägung nicht verdient.<br />

Xu war 34-jährig, als im Juni 1989<br />

der Volksaufstand auf dem Platz des<br />

Himmlischen Friedens niedergeschlagen<br />

wurde. Er emigrierte nach New York,<br />

von wo aus er seit 2007 wieder ein Atelier<br />

auch in Peking unterhält. Nur im transkulturellen<br />

Grenzgang ist Kunst in den<br />

Schwellenländern möglich. Es ist Ethnozentrismus<br />

wider Willen: So global sich<br />

das Kunstsystem auch versteht, es ruht<br />

auf politischen Wertvorstellungen des<br />

Westens. In jedem Kunstwerk ist die Erklärung<br />

der Menschenrechte als Kleingedrucktes<br />

eingeschrieben. Kunst der Gegenwart<br />

kann nur da entstehen, wo das<br />

Kapital zur Selbstkritik fähig ist.<br />

Momentan gehört das Skulpturenpaar<br />

Barry Lam, einem Computermagnaten<br />

aus Taiwan, der das Werk dem MASS<br />

MoCA auslieh, damit, so nebenher, seiner<br />

Neuerwerbung Markt- und Diskurswert<br />

nachgetankt werde. Gegenwartskunst<br />

bleibt unterwegs. Die riesigen Holzcontainer,<br />

in denen die zwei Phönixe von China<br />

nach Massachusetts verschifft wurden, stehen<br />

bereit in der Halle 5, selber ein Phönix:<br />

Die zur Kunsthalle umgebaute Elektrofabrik<br />

hatte in den besten Zeiten mehr<br />

als 4000 Arbeiter beschäftigt – bis die Produktion<br />

von Elektronik in Billiglohnländer<br />

wie China abwanderte. Hier, in einer<br />

neuenglischen Industriebrache, hängen<br />

jetzt zwei Abfallassemblagen, gefertigt aus<br />

Werkzeugen chinesischer Wanderarbeiter,<br />

und klagen den Ort ein, für den sie bestimmt<br />

waren.<br />

B e at W y s s<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt in Karlsruhe<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 133


| S a l o n | M a c h t k r i t i k u n d V e r s c h w ö r u n g s t h e o r i e<br />

kapitale Ignoranz<br />

Linker Antikapitalismus ist gerade sehr en vogue. Er hat jedoch – zwischen<br />

David Graeber, Sahra Wagenknecht, Dietmar Dath und Frank Schirrmacher – viele<br />

blinde Flecken. Die Linke versteht nichts von der Macht, die sie kritisiert<br />

von ernst-Wilhelm Händler<br />

134 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Illustration: Jens Bonnke<br />

N<br />

ach Ansicht der Linken ist der Kapitalismus am Ende,<br />

moralisch bankrott und funktioniert nicht mehr. Dabei<br />

sind die Linken traditionell zersplittert in ihrem<br />

Bestreben, ihn abzuschaffen und durch etwas anderes<br />

zu ersetzen. Aber in jüngster Zeit gibt es doch<br />

etwas, worauf sich die unterschiedlichsten linken Strömungen<br />

einigen können: die Analyse des kapitalistischen Ist-Zustands<br />

durch David Graebers „Schulden – Die ersten 5000 Jahre“. Dieses<br />

durchaus mittelmäßige Buch dient als neue Bibel des linken<br />

Antikapitalismus.<br />

Die Funktion des Geldes besteht bei Graeber darin, Unterordnungsverhältnisse<br />

zu schaffen. Der Gläubiger hat die Macht, und<br />

er gebraucht sie, um den Schuldner zu einem<br />

bestimmten Verhalten zu zwingen. Graebers<br />

Leitgedanke ist die Verschränkung von finanziellen<br />

Schuldverhältnissen mit individueller<br />

und kollektiver Gewalt. Er formuliert: „Kapitalismus<br />

… ist grundsätzlich ein System von<br />

Macht und Ausschluss.“ Diese Beschreibung<br />

trifft zu, gilt aber keineswegs ausschließlich<br />

für den Kapitalismus, wie Graeber behauptet.<br />

In jeder dauerhaften Gesellschaftsform, die<br />

der Planet bisher gesehen hat, gibt es Mitglieder<br />

mit mehr und solche mit weniger Macht.<br />

Die illiteraten Gesellschaften am Anfang der<br />

Menschheitsgeschichte waren in hohem Maß<br />

durch situativen physischen Zwang reguliert.<br />

Der Stärkste hatte das Sagen und machte von<br />

seiner Stärke Gebrauch. Die Geldbeziehungen<br />

emanzipierten den Menschen auch von<br />

der Anwendung kurzsichtiger, unmittelbarer<br />

körperlicher Gewalt. Geld erschloss von Beginn<br />

an individuelle Freiheitsräume. Pasion etwa, von 400 v. Chr.<br />

bis zu seinem Tod 370 v. Chr. der bekannteste Bankier Athens,<br />

war ein freigelassener Sklave. Diese Freiheitskarriere kommt in<br />

„Schulden“ nicht vor.<br />

Das Buch „Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und<br />

Idee “ von Dietmar Dath und Barbara Kirchner trifft sich mit<br />

„Schulden“ in der Betonung der Unfreiheit. Die Gesellschaft besteht<br />

nach Auffassung der Autoren aus zwei Klassen. Eine kleine<br />

Minderheit von Besitzenden verfügt über die Güter, mit denen<br />

andere Güter erzeugt werden können, Grund und Boden sowie<br />

Hardware-Technologie. Die große Mehrheit der Nichtbesitzenden<br />

hat nur ihre Arbeitskraft. Allein Besitz verleiht Macht und<br />

Unabhängigkeit. Nichtbesitz ist gleichbedeutend mit Ohnmacht.<br />

Diese klassische marxistische Analyse ist jedoch unbedingt<br />

zu ergänzen um den im linken Antikapitalismus oft ausgesparten<br />

Faktor Information. Software, Patente und andere Rechtstitel,<br />

überhaupt Know-how, stellen ebenfalls Produktionsmittel<br />

dar, mit denen Gewinne erzielt werden können. Mit dieser<br />

Die linke<br />

Gleichung<br />

„Mehr Besitz<br />

gleich mehr<br />

Macht“<br />

stimmt<br />

eben nicht<br />

automatisch<br />

unerlässlichen Anpassung stimmt die Behauptung: Die Mitglieder<br />

der Klasse der Besitzenden verfügen über mehr Möglichkeiten<br />

als die Mitglieder der Klasse der Nichtbesitzenden.<br />

Aber welchen Nutzen bringt denn diese Begrifflichkeit? Gar<br />

nicht selten lassen sich die besitzende und die nichtbesitzende<br />

Klasse nur mit erheblicher Willkür abgrenzen. Im Manchester-<br />

Kapitalismus war klar, wem die Fabrik gehörte. In unserem Jahrhundert<br />

investiert eine Venture-Capital-Gesellschaft in 20 Startups.<br />

Es gehört zum Geschäftsmodell, dass 18 Firmen nach zwei<br />

Jahren liquidiert werden, zwei Firmen dafür jedoch explosionsartig<br />

wachsen. Welche Gründer gehören zum Zeitpunkt der Investition<br />

zu den Besitzenden? Der technische Fortschritt sorgt<br />

dafür, dass ständig neue, profitable Firmen<br />

entstehen und alte Firmen unprofitabel werden.<br />

Aus Nichtbesitzenden werden Besitzende,<br />

aber es werden auch Besitzende zu<br />

Nichtbesitzenden.<br />

Die Gleichung „Mehr Besitz gleich mehr<br />

Macht“ stimmt nicht automatisch. Der Halter<br />

eines Aktienpakets an einer Publikumsgesellschaft<br />

hat keinen Einfluss auf den Geschäftsgang,<br />

wenn sein Anteil unterhalb einer<br />

Sperrminorität liegt. Der angestellte Manager<br />

der Publikumsgesellschaft besitzt ungleich<br />

mehr Macht als der Aktionär, auch wenn er<br />

kein Vermögen aufbaut, sondern nur teure<br />

Autos kauft.<br />

Die Linke hat einen unfruchtbaren Begriff<br />

von Gesellschaft. Sie konstruiert das Verhältnis<br />

von Gesellschaft und Einzelnen als<br />

Beziehung zwischen einem Ganzen und dessen<br />

Teilen. Die Gesellschaft wird lediglich als<br />

die Summe der Einzelmenschen gedacht. Diese reduktionistische<br />

Vorstellung wird mit einer ungeeigneten Konzeption von<br />

Kausalität kombiniert. Die Gesellschaft soll kausal geschlossen<br />

sein in dem Sinn, dass sich alle gesellschaftlichen Phänomene<br />

als Wirkungen zurechenbarer Handlungen von Einzelnen ergeben.<br />

Dabei ist die Annahme der kausalen Geschlossenheit keine<br />

Hypothese, die durch Erfahrung widerlegt werden könnte, sondern<br />

eine Verfahrensregel.<br />

Nach dem vermeintlichen Vorbild der Naturwissenschaften ist<br />

im linken Antikapitalismus eine Erklärung dann besonders sachhaltig,<br />

wenn kleine Ursachen große Wirkungen haben. Tatsächlich<br />

aber führt Reichtum allein weder zu Bedeutung noch zu<br />

Einfluss. Der Missbrauch des Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses<br />

aus moralischer Sicht ist keine anthropologische Konstante.<br />

Die Aufklärung, die Ideale des Rechtstaats und der Menschenrechte<br />

haben viel dazu beigetragen, dieses ökonomische Verhältnis<br />

ethisch zu regulieren.<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 135


| S a l o n | M a c h t k r i t i k u n d v e r s c h w ö r u n g s t h e o r i e<br />

In der Gesellschaft handeln<br />

keineswegs nur Einzelne, sondern<br />

auch Zusammenschlüsse von Einzelnen<br />

wie etwa Firmen und Institutionen.<br />

Man kann von Netzwerken<br />

sprechen, zu denen nicht<br />

nur die Menschen, sondern auch<br />

Dinge – etwa Maschinen – und<br />

Ideen – etwa Programme – gehören.<br />

Die Linke vollzieht einen logischen<br />

Fehlschluss vom Sollen zum<br />

Sein. Gemäß westlichen Moralvorstellungen<br />

ist der Einzelmensch das<br />

mit Abstand wichtigste Element<br />

von oder für Gesellschaft. Aber deswegen<br />

muss die Gesellschaft nicht<br />

ausschließlich aus Einzelnen bestehen.<br />

So, wie die Linke es sich vorstellt,<br />

funktioniert Gesellschaftsanalyse<br />

nicht. Die Linke übersieht:<br />

Zusammenschlüsse von Einzelnen<br />

entwickeln grundsätzlich ein<br />

Eigenleben. Eine Institution und<br />

eine Firma sind immer mehr als<br />

die Summen ihrer Mitglieder. Das<br />

gilt auch für das Ganze der Gesellschaft.<br />

Sie ist immer mehr als der<br />

Wille der ökonomischen Elite.<br />

Wo will die Linke hin? Graeber<br />

legt eine Maxime nahe: Schulden,<br />

die durch irgendeine Art von<br />

Zwang zustande gekommen sind,<br />

müssen nicht beglichen werden. Niemand hat jedoch bekanntlich<br />

die griechischen Regierungen gezwungen, Geld aufzunehmen,<br />

das der Staat nicht zurückzahlen kann. Wenn jemand eine<br />

Schuldenlast trägt, die ihm unter Zwang aufgebürdet wurde,<br />

dann ist es nach jeder ethischen Intuition gerecht, ihm die Schulden<br />

zu erlassen. Die Schulden, die die momentane Krise ausmachen,<br />

sind aber nicht unter Zwangsbedingungen zustande<br />

gekommen. Aus der historischen Analyse Grae bers folgt nichts<br />

Wegweisendes für die Gegenwart, geschweige denn für die Zukunft<br />

des Kapitalismus.<br />

Das Vakuum zwischen Ist- und Sollzustand der Gesellschaft<br />

wird gern auf krude Weise gefüllt. Modellhaft sind die Vorstellungen<br />

Sahra Wagenknechts. Egal, ob es eine besitzende Klasse<br />

gibt, die die ganze Macht hat oder nicht, man muss sie abschaffen.<br />

Das Mittel ist eine Erbschaftsteuer von 100 Prozent auf alles, was<br />

im Erbschaftsfall den Betrag von einer Million Euro übersteigt.<br />

Eine solche Regelung würde dazu führen, dass es keine ökonomischen<br />

Werte von über einer Million mehr gibt. Warum sollte<br />

ein Unternehmer eine Firma für zehn Millionen kaufen, wenn<br />

er weiß, dass die Firma sowieso, mit oder ohne Besitzwechsel, in<br />

ein paar Jahren an die Belegschaft oder an den Staat fällt – sofern<br />

sie weiterexistiert?<br />

Mit seinem Buch „Ego“ hat auch Frank Schirrmacher um<br />

Aufnahme in den ziemlich großen Club der fundamentalen<br />

Die Linke übersieht:<br />

Gesellschaft ist<br />

immer mehr als<br />

der Wille der<br />

ökonomischen Elite<br />

Kapitalismuskritiker angesucht,<br />

dafür jedoch als Mitherausgeber<br />

der FAZ einen exklusiven Mitgliedstatus<br />

erhalten. Die „informationskapitalistische“<br />

Gesellschaft besteht<br />

bei ihm aus zwei Sorten von<br />

Akteuren: „Nummer 2“ soll der<br />

Nachfolger des bisher bekannten<br />

Einzelmenschen sein, die fleischgewordene<br />

Version von mathematischen<br />

Modellen wie demjenigen<br />

des Homo oeco nomicus. Seine<br />

Analyse ist nicht mehr der Idee<br />

der kausalen Geschlossenheit der<br />

Gesellschaft verhaftet, lässt Raum<br />

für unvorhersehbare Ereignisse und<br />

führt so tatsächlich in die Zukunft.<br />

Die Bestandteile der Gesellschaft<br />

aber sollen bei Schirrmacher<br />

immer Agenten sein, die nach Eigennutz<br />

streben. Der Eigennutz<br />

soll den Élan vital aller sozialen<br />

Konfigurationen bilden. Das ist<br />

empirisch nicht einzulösen. Der<br />

Mensch ist nicht nur ein egoistisches,<br />

sondern auch ein altruistisches<br />

Wesen. Es kann keine Rede<br />

davon sein, dass man menschliches<br />

Verhalten nur dann in die Sprache<br />

der Mathematik übersetzen kann,<br />

wenn man von der Prämisse des Eigennutzes<br />

ausgeht.<br />

Der Kapitalismus hat fundierte Kritik dringend nötig. Der<br />

demokratisch verfasste Kapitalismus westlicher Ausprägung<br />

weist der Entfaltung aller Einzelmenschen einen sehr hohen<br />

Stellenwert zu. Was die Verwirklichung dieses Zieles angeht,<br />

genügt er allerdings seinen eigenen Maßstäben nicht. Ein Kapitalismus,<br />

der sich nicht selbst destabilisieren will, muss massiv<br />

in Regeln und Anreize investieren, die rücksichtsloses Verhalten<br />

begrenzen.<br />

Die Voraussetzung für wirksame Regulierungen ist eine adäquate<br />

Erfassung der tatsächlichen gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge.<br />

Theoretische Machtanalysen gibt es, von Foucault<br />

bis Luhmann, im Überangebot. Was jetzt nottut, sind empirische<br />

Machtanalysen: Welche Elemente der Gesellschaft haben in<br />

der Gegenwart aufgrund welcher Voraussetzungen welche Macht,<br />

nach welchen Maßgaben handhaben sie diese? Wie können diese<br />

Maßgaben nach den erlebten Auswüchsen verändert werden? Intellektuell<br />

unscharfe Pauschalkritik am Geld und Verschwörungstheorien,<br />

die alle Macht bei einer kleinen, geschlossenen Gruppe<br />

von Vermögenden sehen, sind nicht hilfreich.<br />

ernst-Wilhelm Händler<br />

ist Schriftsteller. Soeben erschien sein Roman<br />

„Der Überlebende“ (S. Fischer)<br />

Illustration: Jens Bonnke; Foto: Thomas Dashuber/Agentur Focus<br />

136 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Jetzt<br />

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| S a l o n | Z ü l f ü L i v a n e l i<br />

Erdogans Stachel<br />

Der Künstler Zülfü Livaneli kämpft gegen die Einschränkung von Demokratie<br />

und Meinungsfreiheit in der Türkei. Nach Deutschland kommt er nicht gerne<br />

von Necla Kelek<br />

E<br />

s war im Sommer 2006 auf dem<br />

von Salman Rushdie organisierten<br />

Literaturfestival in New York.<br />

Ich las im Goethe-Institut aus<br />

meinem Buch „Die fremde Braut“<br />

und sprach über muslimische Frauen in<br />

Deutschland und der Türkei und über<br />

den Islam. Zülfü Livaneli sollte mit mir<br />

diskutieren. Er kam zu spät, wusste nicht,<br />

was ich gelesen hatte, und sagte, die türkische<br />

Frau sei modern und selbstbewusst.<br />

Livaneli argumentierte wie die meisten türkischen<br />

Intellektuellen, wenn sie im Ausland<br />

sind. Er erklärte die Ehrenmorde zu<br />

einem „internationalen Problem“. Das erregte<br />

meinen Widerspruch. Livaneli wollte<br />

den Fortschritt sehen, ich auf die Probleme<br />

und Missstände hinweisen.<br />

Was ich damals nicht wusste, war, dass<br />

Livaneli einen Roman über Ehrenmorde<br />

in der Türkei geschrieben hatte. „Glückseligkeit“<br />

handelt davon, wie in Anatolien<br />

die junge Meryem von ihrer Familie in einem<br />

Stall gefangen gehalten wird. Ihr Onkel,<br />

der Clanchef, hat sie vergewaltigt. Jetzt<br />

soll sie sterben, damit die „Ehre“ der Familie<br />

wiederhergestellt wird. Umbringen soll<br />

sie ihr vom Militär zurückgekehrter Cousin.<br />

Livaneli schafft es bereits in dieser inzwischen<br />

verfilmten Geschichte, aktuelle<br />

gesellschaftliche Themen in eine stimmige<br />

Dramaturgie zu bringen. Auch sein gerade<br />

erschienener Roman „Serenade für Nadja“<br />

ist solch ein Thesenroman, der menschlich<br />

anrührende Schicksale in Figuren kleidet<br />

und sie politisch existenzielle Dinge verhandeln<br />

lässt.<br />

In „Serenade für Nadja“ nimmt sich<br />

Livaneli, obwohl es sich im Kern um ein<br />

Zwei-Personen-Stück handelt, mehrerer<br />

großer Themen der Weltgeschichte an. Der<br />

alte deutschstämmige Professor Wagner<br />

„Die AKP-Leute erwarten, dass die Menschen dankbar sind. Wer sie kritisiert,<br />

bekommt Probleme“: Zülfü Livaneli, Sänger, Schriftsteller und Regisseur<br />

kommt aus den USA zu einem Kongress<br />

nach Istanbul und wird von Maja, die an<br />

der Universität für die Betreuung ausländischer<br />

Gäste zuständig ist, begleitet. Wagner<br />

will sich mit einer auf der Geige gespielten<br />

Serenade von seiner Frau Nadja verabschieden,<br />

die 1942 zusammen mit über 700 anderen<br />

jüdischen Flüchtlingen im Schwarzen<br />

Meer vor Sile ertrunken ist.<br />

Es geht in dem Buch um heimatlose<br />

deutsche Professoren in der Türkei in den<br />

Dreißigern, um die von den Deutschen<br />

verfolgten Juden, die türkische Regierung,<br />

die die Flüchtlinge nicht an Land ließ, um<br />

die Engländer, die eine Weiterfahrt des<br />

Schiffes nach Palästina verhinderten, und<br />

um die Russen, die die „Struma“ schließlich<br />

versenkten.<br />

Foto: Jens Gyarmaty/VISUM, picture alliance (Autorin)<br />

138 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Maja wird durch diese Reminiszenz<br />

auch mit der Vergangenheit ihrer Familie<br />

konfrontiert. Sie erfährt, dass eine Großmutter<br />

Armenierin, die andere eine Krimtatarin<br />

war. Diese und andere Geheimnisse<br />

werden auf über 300 Seiten langsam<br />

wie die Schalen einer Zwiebel enthäutet.<br />

Das ist spannend bis zum letzten Satz, der<br />

gleichzeitig das Credo des Romans ist:<br />

„Denn überleben kann nur ein Mensch,<br />

dessen Geschichte erzählt wird.“<br />

Warum treffen diese Fragen erst jetzt<br />

auf so großes Interesse? Es sei der „Zeitgeist“,<br />

sagt Zülfü Livaneli, der sich in der<br />

Türkei geändert habe. Die Leute würden<br />

wieder mehr lesen, seien neugieriger und<br />

ließen sich nicht mehr mit den Atatürk-<br />

Parolen über die Geschichte abspeisen.<br />

Offenbar hat er mit seinen Büchern einen<br />

Weg gefunden, die Menschen zu berühren<br />

und dieses Bedürfnis zu stillen.<br />

Für die Leser sei die deutsch-türkische<br />

Verstrickung im Zweiten Weltkrieg auch<br />

so etwas wie ein zarter Hinweis, dass die<br />

gemeinsame Geschichte nicht erst mit den<br />

Gastarbeitern begonnen habe, sagt Livaneli.<br />

Muss er darauf besonders hinweisen?<br />

„Wenn ich ehrlich bin, komme ich nicht<br />

gerne nach Deutschland“, sagt er. Es gebe<br />

hier fertige Bilder von den Türken. „Demnach<br />

ist der Mann aus Anatolien und Gastarbeiter.<br />

Seine Frau trägt Kopftuch, und<br />

er betet.“ Die Türken wiederum glaubten,<br />

die Deutschen würden ihre Töchter<br />

die schlimmsten Dinge machen lassen und<br />

bezeichneten das als „Freiheit“. Halb amüsiert,<br />

halb erschrocken reagiert Livaneli<br />

darauf, wie er selbst in Deutschland gesehen<br />

wird. Eine große Tageszeitung wollte<br />

ein Interview und Fotos mit ihm machen.<br />

Der Fotograf hatte die Idee, Livaneli in einem<br />

Dönerladen zu fotografieren. „Warum<br />

soll ich einen Döner in der Hand halten“,<br />

fragte sich Livaneli, „wo ich doch Vegetarier<br />

bin? Wenn Bob Dylan nach <strong>Berlin</strong><br />

kommt, fotografieren Sie ihn doch auch<br />

nicht bei McDonalds.“<br />

In der Türkei ist der 66-Jährige seit<br />

Jahrzehnten eine Legende und der Vergleich<br />

mit Bob Dylan nicht kokett, sondern<br />

legitim. 1974 veröffentlichte Livaneli<br />

sein erstes von bisher fast 30 Alben als Liedermacher<br />

mit revolutionären Liedern. Es<br />

waren die Zeiten, als rechte und linke Organisationen<br />

darum stritten, wer in der<br />

Türkei für die Revolution zuständig sei,<br />

und schließlich das Militär mit mehreren<br />

Putschen allen zeigte, wer Herr im Land<br />

ist. Livaneli verlegte kritische Bücher, kam<br />

ins Gefängnis und musste fliehen. Mehrere<br />

Jahre lebte er in Schweden, Frankreich und<br />

Griechenland. Als er 1984 in die Türkei zurückkehren<br />

konnte, erlebte das Land das<br />

bisher größte Konzert seiner Geschichte.<br />

Mehr als eine Million Menschen hießen<br />

den Sänger willkommen.<br />

Was er mit der griechischen Sängerin<br />

Maria Farantouri begonnen hatte, setzte er<br />

mit dem Komponisten Mikis Theodorakis<br />

fort. Jeder sang die Lieder des anderen, sie<br />

komponierten füreinander, traten in Griechenland<br />

und der Türkei zusammen auf,<br />

nahmen gemeinsam Platten auf, die bald in<br />

jedem türkischen wie griechischen Haushalt<br />

gespielt wurden, der über einen Plattenspieler<br />

verfügte. Ihnen gelang, was die<br />

Politiker nicht schafften: eine neue Freundschaft<br />

zwischen Griechen und Türken zu<br />

begründen.<br />

Trotz Büchern, Filmen und Konzerten<br />

wollte Livaneli immer auch das Schwierigste<br />

wagen und die Welt verändern. Er<br />

ließ sich daher 1994 überreden, zur Bürgermeisterwahl<br />

in Istanbul anzutreten. Er kandidierte<br />

für die kleine sozialdemokratische<br />

SHP, lag in den Umfragen vorn und verlor<br />

dennoch. Man sprach von Wahlmanipulationen.<br />

Gewonnen hatte der Kandidat der<br />

Wohlfahrtspartei: Recep Tayyip Erdoğan,<br />

heute als AKP-Vorsitzender und Ministerpräsident<br />

mächtigster Mann der Türkei.<br />

Wie beurteilt Livaneli die Lage im Land<br />

und Erdoğans Politik? „Die türkische Gesellschaft<br />

driftet in drei große Blöcke auseinander.“<br />

Zum einen seien da die bisher<br />

bestimmenden Säkularen, die weltlich und<br />

westlich orientierten Eliten in den Großstädten<br />

und an der Ägäis. Zum anderen die<br />

islamisch orientierte Landbevölkerung, die<br />

es auch in die Städte ziehe, und schließlich<br />

die Kurden, die sich von beiden Gruppen<br />

absetzten.<br />

Der Türkei geht es aber doch wirtschaftlich<br />

besser, seit die AKP regiert,<br />

oder? „Ja, Erdoğans Leute in Verwaltung<br />

und Wirtschaft machen eine kluge Politik.<br />

Sie erfüllen die Erwartungen des Volkes,<br />

gewähren großzügig Kredite, bauen Straßen,<br />

haben das Gesundheitswesen und die<br />

Rente reformiert.“ Gleichzeitig finde eine<br />

Art ziviler Putsch statt. Still und leise würden<br />

an den entscheidenden Stellen die Verantwortlichen<br />

ausgetauscht und mit Parteigängern<br />

der AKP besetzt. „Demokratie<br />

und Meinungsfreiheit werden immer stärker<br />

eingeschränkt. Die AKP-Leute erwarten,<br />

dass die Menschen dankbar sind. Wer<br />

sie kritisiert, bekommt Probleme.“ Hunderte<br />

Journalisten und über 9000 Kurden<br />

seien in Haft. Wer in der Türkei angeklagt<br />

wird, für den gelte nicht wie in Deutschland<br />

die Unschuldsvermutung, sondern der<br />

gelte vom ersten Tag an als schuldig.<br />

Ist Erdoğan ein kluger Staatsmann oder<br />

ein Islamist? „Er ist klüger, als wir alle gedacht<br />

haben“, sagt Livaneli lächelnd. „Er<br />

hat eine Vision, er weiß, was er will, und<br />

ist tief in seinem Herzen ein traditioneller<br />

Muslim.“ Er wolle als der Führer der muslimisch-arabischen<br />

Welt anerkannt werden<br />

und deren Interessen durchsetzen. „Von<br />

den Europäern will er technischen Fortschritt<br />

und Geld. Die Europäer wiederum<br />

akzeptieren ihn, weil er ihnen den Türken<br />

gibt, den einfachen Anatolier, wie man ihn<br />

hier erwartet und kennt. Die andere Türkei,<br />

die Goethe oder Kleist liebt, und die<br />

Türkei von Yaşar Kemal treten hinter diesem<br />

Bild zurück.“<br />

Und die politische Opposition? Hängt<br />

ihr Unvermögen mit Erdoğans autoritärer<br />

Politik zusammen, oder ist die AKP so<br />

stark, weil die republikanische CHP so<br />

schwach ist? „Die CHP, die jahrzehntelang<br />

die türkische Politik in Atatürks Sinne<br />

dominiert hat“, sagt Livaneli, „ist eigentlich<br />

Geschichte.“ Mit ihr sei ein Eintreten<br />

für Menschen- oder Frauenrechte oder der<br />

EU-Beitritt nicht zu machen. Sie gebe sich<br />

zwar immer noch sozialdemokratisch, sei<br />

aber nationalistisch. „Die SPD in Deutschland<br />

hatte die Arbeiterbewegung im Hintergrund,<br />

die Basis der CHP sind das Militär<br />

und der Kemalismus.“<br />

Was ist mit den Türken in Deutschland?<br />

„Wenn unsere Landsleute, anstatt an<br />

ihren Traditionen und archaischen Sitten<br />

und Bräuchen festzuhalten, die Chance genutzt<br />

hätten, etwas von der Kultur in diesem<br />

Land aufzunehmen, dann hätte auch<br />

die Türkei etwas davon.“ Aber auch den<br />

Deutschen scheine das egal zu sein. „Können<br />

Sie mir sagen“, fragt Livaneli, „warum<br />

die Deutschen von den Türken nicht mehr<br />

erwarten?“<br />

Necla kelek ist Sozialwissenschaftlerin<br />

und Frauenrechtlerin.<br />

Zuletzt erschien von ihr:<br />

„Hurriya heißt Freiheit. Die arabische<br />

Revolte und die Frauen“<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 139


| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

Eine Fackel,<br />

die nie<br />

verlöscht<br />

Der österreichische Essayist und Schriftsteller<br />

Karl-Markus Gauß lebt, schläft und arbeitet<br />

in einer Welt der Bücher. Sie erinnern ihn an<br />

sich selbst und halten das Denken im Fluss<br />

Von Vladimir Vertlib<br />

V<br />

on ihrem ersten Gehalt als Lehrerin kaufte Maresi, damals<br />

23 Jahre alt, ihrem Freund, dem Studenten Karl-<br />

Markus, eine 13-bändige Reprint-Ausgabe der legendären<br />

Zeitschrift Die Fackel. Karl-Markus erinnert sich<br />

noch gut, wie ihm Maresi das 35 Kilo schwere Paket<br />

überreichte. Sie hatte es mit dem Fahrrad von der Buchhandlung<br />

zu seiner Wohnung transportiert. Inzwischen sind die beiden seit<br />

35 Jahren ein Paar. Der einstige Student der Geschichte und Germanistik<br />

ist der bekannte österreichische Kritiker, Schriftsteller<br />

und preisgekrönte Essayist Karl-Markus Gauß. In der gemeinsamen<br />

Fünf-Zimmer-Wohnung im gutbürgerlichen Salzburger<br />

Bezirk Riedenburg stehen etwa 11 000 Bücher, eine stattliche<br />

Bibliothek, die „ganz eng mit der Beziehung“ zusammenhänge,<br />

haben doch Maresi und er in ihrer Jugend das meiste Geld für<br />

Bücher ausgegeben – und für Wein. Heute bekomme er die meisten<br />

neuen Bücher als Rezensionsexemplare zugeschickt, was den<br />

„kompakten, biografisch bedingten, persönlich gefärbten Charakter<br />

der Bibliothek“ etwas zerstöre. Denn auch jene Bücher,<br />

die ihm nicht gefallen oder die er nicht liest, könne er niemals<br />

wegwerfen …<br />

Die 13 weinrot gebundenen Fackel-Bände bilden den Kern der<br />

Gauß’schen Bibliothek. Durch die Lektüre der von Karl Kraus in<br />

den Jahren 1899 bis 1936 herausgegebenen satirischen Zeitschrift<br />

entwickelte Gauß sein besonderes Verhältnis zur Sprache: „Es war<br />

die Erkenntnis, dass man in der Kritik, auch wenn es um die Kritik<br />

von Haltungen geht, Ross und Reiter nennen muss, weil sich<br />

140 <strong>Cicero</strong> 5.2013


Vorteile des Altbaus: Bis zu zehn Buchreihen kann Karl-Markus Gauß in seiner Wohnung übereinander anbringen, der hohen Decke sei Dank<br />

Foto: Dirk Bruniecki für <strong>Cicero</strong><br />

Missstände in bestimmten Personen manifestieren. Man darf nicht<br />

drum herumreden.“<br />

In seinem Fackel-Jahr 1981 las Gauß alle 922 Nummern der<br />

Zeitschrift. In einem „Fackel-Fahrplan“ – Notizbüchern in A5-<br />

Format mit hartem Einband – kommentierte er mit jugendlichem<br />

Eifer jede einzelne Nummer, exzerpierte besonders glänzende Gedanken<br />

und Formulierungen, schärfte seinen eigenen Stil an jenem<br />

von Kraus. „Zu Kraus“, erklärt Gauß, „kann man jedoch nur<br />

dann eine sinnvolle Beziehung bewahren, wenn man ihn und seinen<br />

unglaublich autoritären Habitus zu kritisieren weiß.“<br />

Das deutliche, pointierte Formulieren ist ein Markenzeichen des<br />

1954 in Salzburg geborenen Autors Gauß. Seine Auseinandersetzung<br />

mit der modernen Gesellschaft und den politischen Verhältnissen<br />

in Österreich und anderswo (etwa im Essay-Tagebuch von 2012,<br />

„Ruhm am Nachmittag“), mit sozialen Missständen, mit nationalen<br />

Minderheiten an den Rändern Europas oder den Roma in der<br />

Slowakei („Die Hundeesser von Svinia“, 2004) öffnet trotz der oftmals<br />

bitterbösen Kommentare Denkräume, in denen der Leser zum<br />

Mitgestalten der Welt angeregt wird. Im kommenden Herbst wird<br />

„Das Erste, was ich sah“ erscheinen – ein autobiografischer Bericht<br />

mit 45 Bildern und Szenen einer Kindheit.<br />

Dass solche Texte entstehen können, ist nicht zuletzt dem<br />

Wohn-, Arbeits- und Bibliotheksraum zu verdanken, in dem der<br />

Bonvivant und luzide Denker zu Hause ist. Die einzelnen Bereiche<br />

sind nicht voneinander zu trennen. Der Schreibtisch des Autors<br />

steht im Schlafzimmer, welches gleichzeitig – wie auch drei<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 141


| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

Dumme Menschen und böse Absichten, sagt Gauß, kann man an der Sprache erkennen. Theodor Kramer hat da<br />

nichts zu befürchten. Die Erstausgabe von 1936 trägt eine Widmung des klugen und leidenschaftlichen Lyrikers<br />

der vier anderen Räume der Wohnung – als Bibliothek genutzt<br />

wird. Die hohen Decken im Altbau aus dem Jahre 1894 schaffen<br />

Raum für Regale mit bis zu zehn Buchreihen übereinander. „Ich<br />

baue meine Bibliothek nach etwas auf, das ich sonst ablehne, nach<br />

nationalen Kriterien“, erklärt der Autor. Die Zuordnung ist jedoch<br />

eigenwillig. So gibt es einen Bereich, der „Jugoslawien“ gewidmet<br />

ist, weil Gauß, dessen Eltern Donauschwaben waren, den Zerfall<br />

des Vielvölkerstaats bibliothekarisch nicht zur Kenntnis nehmen<br />

möchte. Der seichte Unterhalter Ephraim Kishon wurde „mit einer<br />

gewissen Gehässigkeit“ nicht ins israelische, sondern ins deutsche<br />

Regal gestellt, weil „er dort besser hineinpasst“.<br />

Im Wohnzimmer ist eine ganze Wand ausschließlich der österreichischen<br />

Literatur gewidmet. Ordentlich gereiht und alphabetisch<br />

geordnet, findet man alte und moderne Klassiker neben<br />

weniger Bekannten (zum Beispiel dem Expressionisten Robert<br />

Müller), vor allem aber die Werke vieler Exilautoren oder jener,<br />

die im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewesen waren,<br />

wie Franz Kain oder Ernst Lothar. Die Deutschen wurden weit<br />

nach oben, auf die wenigen Regalbretter über der Tür oder oberhalb<br />

der zahlreichen Bilder verbannt. „Da kommt man schwer hinauf“,<br />

meint Gauß augenzwinkernd, bekennt aber, dass er Autoren<br />

wie Wilhelm Genazino oder Peter Weiss zu den ganz Großen<br />

ihres Faches zählt. Wie Weiss in seinen avantgardistischen Texten<br />

„Abschied von den Eltern“ oder „Fluchtpunkt“ seine persönliche<br />

Geschichte mit den großen gesellschaftlichen Problemen in<br />

Verbindung bringt und in einen historischen Kontext stellt, habe<br />

auch seine eigene Haltung geprägt.<br />

In vielen seiner Essays versucht Gauß, subjektive Erfahrungen<br />

und Erlebnisse festzuhalten, hat dabei aber stets den Ehrgeiz, dass<br />

alles, was sich in der Welt ereignet, auf seine Persönlichkeit zurückwirkt:<br />

„Ich versuche stets, meine Stellung zur und in der Welt zu<br />

begreifen.“ Dass das Stöbern in der Bibliothek dazugehört, versteht<br />

sich von selbst. Für Bücher, die ihm zugeschickt werden, nimmt<br />

sich Gauß Zeit. Bis zu acht Stunden lang studiert er regelmäßig –<br />

Rotwein trinkend – ohne Unterbrechung die Neuerscheinungen.<br />

Manchmal kommen ihm Ideen, die durch „irgendetwas angeregt<br />

werden“. Eines ist für ihn jedenfalls gewiss: „Dummheit und böse<br />

Absichten von Menschen kann man an ihrer Sprache erkennen.“<br />

Die Gauß’sche Wohnung nimmt zwei Stockwerke ein. Die<br />

Wand neben der Treppe, die vom Esszimmer in den oberen Bereich<br />

führt, ist zwar zu einem großen Teil den „kleineren“ Literaturen,<br />

jenen Islands, Norwegens oder der Schweiz, vorbehalten. In einer<br />

„österreichischen Ecke“ befindet sich jedoch eine echte Rarität, eine<br />

wunderbare Erstausgabe von Theodor Kramers Lyrikband „Mit<br />

der Ziehharmonika“ aus dem Jahre 1936 mit einer Widmung des<br />

Autors an den Schriftstellerkollegen Michael Guttenbrunner vom<br />

12. Oktober 1957 und dessen Weiterwidmung mit den knappen<br />

Worten „Meinen Dankesruf, lieber Gauß!“ aus dem Jahre 1998.<br />

Der Dank galt einem Porträt, das Gauß für die Neue Zürcher<br />

Zeitung über den damals noch stark unterschätzten Guttenbrunner<br />

geschrieben hatte. So nahm das Buch schließlich auf Umwegen<br />

den ihm gebührenden Platz ein, zu dem man allerdings über die<br />

Treppe emporsteigen muss – eine stimmige Symbolik, war doch<br />

der Lebensweg des aus Niederösterreich stammenden jüdischen<br />

„Heimatdichters“ Theodor Kramer, dessen sozialkritische Außenseitergedichte<br />

lange Zeit in Vergessenheit geraten waren, voller<br />

Umwege. Sie führten ihn unter anderem 1939 ins englische Exil<br />

und schließlich 1957 nach Österreich zurück, wo er 1958 verstarb.<br />

Erst in den achtziger Jahren wurde Kramer wiederentdeckt<br />

und auf den ihm angemessenen Platz in der österreichischen Literatur<br />

emporgehoben.<br />

Gauß hat zu seiner Lektüre eine „stark assoziative Verbindung“,<br />

die sich jedoch von den Büchern selbst oder deren Inhalten emanzipiert<br />

hat. Jedes wichtige Buch ordnet er einer bestimmten Phase<br />

seines Lebens zu. Mit dem erwähnten Theodor-Kramer-Band assoziiert<br />

er jene Zeit Ende der neunziger Jahre, als die beiden Kinder<br />

alt genug waren, dass die Eltern sie allein zu Hause lassen<br />

konnten, um ins Wirtshaus oder ins Kino zu gehen. „Wenn ich<br />

dieses Buch in die Hand nehme, fällt mir das ein“, sagt er. „Maresi<br />

und ich hatten auf einmal wieder viel mehr Zeit füreinander.“<br />

So ist für den Autor das Abschreiten der eigenen Bibliothek immer<br />

auch eine Reise in die eigene Vergangenheit, ein emotionales<br />

literarisch-biografisches Wiederfinden, das den Blick in die Zukunft<br />

ermöglicht.<br />

Vladimir Vertlib<br />

ist Schriftsteller. Er veröffentlichte unter anderem die<br />

Romane „Letzter Wunsch“ und „Schimons Schweigen“<br />

und den Essayband „Ich und die Eingeborenen“<br />

Fotos: Dirk Bruniecki für <strong>Cicero</strong>, Privat (Autor)<br />

142 <strong>Cicero</strong> 5.2013


ZEIG FLAGGE FÜR<br />

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Ägyptens Frauen kämpfen für<br />

gleiche Rechte.<br />

Du kannst sie unterstützen.<br />

amnesty.de/aegypten<br />

FÜR ÄGYPTENS ZUKUNFT.


144 <strong>Cicero</strong> 5.2013


D i e l e t z t e n 2 4 S t u n d e n | S a l o n |<br />

Ab nach Kassel<br />

Am Ende braucht Hubertus Meyer-Burckhardt Ahle Worschd und<br />

gute Freunde, Neil Diamond und Rod Stewart. Und er wird auf<br />

seine Mutter anstoßen. Weil Glück eine Frage der Entscheidung ist<br />

Foto: David Maupilé für <strong>Cicero</strong><br />

T<br />

homas Hermanns, las ich im <strong>Cicero</strong>,<br />

geht nach New York, wenn<br />

der finale Countdown beginnt.<br />

Bei mir muss es Kassel sein. Ich war zu<br />

lange unterwegs; ich will, wenn’s zu Ende<br />

geht, nach Hause. Ich schiebe also Neil<br />

Diamonds Spätwerk „Home before dark“<br />

in den CD-Player und fahre mit dem<br />

Wagen die 340 Kilometer von Hamburg<br />

nach Kassel, in meine Geburtsstadt. Unterwegs<br />

rufe ich meinen Freund Sandro<br />

Convertino an und bitte ihn, sein „La<br />

Bruschetta“ für 24 Stunden von Hamburg-Winterhude<br />

nach Kassel-Wilhelmshöhe<br />

umzusiedeln. Ich werde ihn bitten,<br />

mitten im Habichtswald, nahe der Löwenburg<br />

einen langen Tisch aufzustellen,<br />

an dem 25 Personen Platz finden können.<br />

Da kommen dann Menschen zusammen,<br />

die mir gutgetan haben. Manche<br />

kommen inkognito, andere dürfen genannt<br />

werden, Marianne Sägebrecht etwa,<br />

Harald Wieser, in jedem Fall Wolfgang<br />

Rademann, vielleicht Hermine Zehl, Stefan<br />

Hunstein. Und die drei Ritter der Tafelrunde,<br />

die engsten der Engen, deren<br />

Namen nichts zur Sache tun. Ich werde<br />

sie bitten, Dorothee in ihre Mitte zu nehmen,<br />

meine Kinder zu umarmen und gemeinsam<br />

meine drei All-Time-Favourites<br />

von Rod Stewart zu üben: „I was only joking“,<br />

„Hard lesson to learn“ und „Gasoline<br />

alley“. Sandro muss sich an die Vorstellung<br />

gewöhnen, dass es neben Pasta<br />

auch Ahle Worschd gibt, eine nordhessische<br />

Spezialität. Wir werden das Leben<br />

feiern und über Bücher reden, die<br />

man lesen sollte. Wahrscheinlich werde<br />

ich den Text nennen, der wohl irrtümlich<br />

Als Fernsehproduzent hat<br />

Hubertus Meyer-Burckhardt<br />

viele Preise gewonnen, zuletzt<br />

für den Film „Blaubeerblau“. Als<br />

Autor veröffentlichte er den Roman<br />

„Die Kündigung“. Gemeinsam<br />

mit Barbara Schöneberger ist er<br />

Gastgeber der „NDR Talk Show“.<br />

www.cicero.de/24stunden<br />

Jorge Luis Borges zugeschrieben wird:<br />

„Wenn ich mein Leben noch einmal leben<br />

könnte ..., im nächsten Leben würde<br />

ich versuchen, mehr Fehler zu machen.“<br />

Wahrscheinlich gehe ich den Freunden<br />

auf die Nerven, wenn sie mindestens zwei<br />

jener drei Produktionen anschauen müssen,<br />

auf die ich als Produzent am meisten<br />

stolz bin: „Das Urteil“ (Klaus Löwitsch<br />

sehe ich ja in wenigen Stunden wieder),<br />

„Mein letzter Film“ (vielleicht kommt<br />

Hannelore Elsner auch im Wald vorbei,<br />

um „Lebewohl“ zu sagen – auf diesen Abschiedsgruß<br />

bestehe ich) und „Blaubeerblau“<br />

von Rainer Kaufmann, dem Bruder<br />

in der Seele. Ein besonderer Mensch, ein<br />

besonderer Regisseur.<br />

Ich glaube, in den letzten Stunden<br />

nimmt bei mir die Aufregung zu. Irgendetwas<br />

wird ja danach passieren. Langeweile<br />

wäre verdrießlich. Zur Sicherheit<br />

würde ich mit den Freunden ein paar<br />

Formalitäten besprechen, sofern der Rotweinkonsum<br />

das noch zulässt: ein Grab<br />

im Wald, bitte an einen Luftschacht<br />

denken, durch den man zur Not einmal<br />

im Monat den neuen Rolling Stone durchwerfen<br />

kann, und, falls mal Damenbesuch<br />

kommt, gerne auch das Magazin<br />

Emotion. Und Reiseliteratur.<br />

Wenn ich schon selbst nicht mehr on<br />

the road bin, dann will ich zumindest wissen,<br />

was Merian publiziert. Verleger Thomas<br />

Ganske stammt auch aus Nordhessen.<br />

Dieser wunderbare Mann müsste ab<br />

und zu an meinem Grab vorbeischauen.<br />

Ich bin sicher, dass ich mich da auf ihn<br />

verlassen kann.<br />

Da wir beim Reisen sind: Ich würde<br />

die Runde auffordern zu erzählen, wo<br />

„ihre“ Plätze auf der Welt sind. Wo waren<br />

sie glücklich? Wo ging alles zusammen,<br />

Seele, Schönheit der Landschaft,<br />

Reisebegleitung, Architektur, Kunst? Und<br />

ich würde ihnen empfehlen, diese Plätze<br />

noch häufig aufzusuchen. Ach, könnte<br />

ich noch einmal nach Monforte d’Alba,<br />

Panama City, Kalkutta. Aber ich will<br />

nicht klagen, im Gegenteil. Ich würde jubelnd<br />

danken für das Leben, das ich hatte.<br />

Ich täte gut daran, das Glas auf meine<br />

Mutter zu erheben, die nach der Devise<br />

lebte: „Glücklich zu sein, ist eine Entscheidung,<br />

nicht Schicksal.“ Das habe ich<br />

verinnerlicht. Ich danke für Begegnungen,<br />

für Freunde in der Not, für die wunderbarsten<br />

Kinder, die man haben kann. Es<br />

war ein besterntes Leben.<br />

So, Freunde, ihr hattet nun genug<br />

Zeit, die drei Rod-Stewart-Songs zu üben.<br />

Legt los. Ich trinke meine letzte Flasche.<br />

Kann es mir leisten. Muss morgen<br />

nicht früh raus. Kann etwas länger liegen<br />

bleiben.<br />

5.2013 <strong>Cicero</strong> 145


C i c e r o | P o s t S c r i p t u m<br />

Mitleid<br />

Von Alexander Marguier<br />

N<br />

ach der Vertreibung aus dem Paradies seiner Präsidentschaft<br />

wird Christian Wulff schon wieder gedemütigt.<br />

Jetzt aber auf eine ganz andere, vielleicht sogar<br />

perfidere Weise als während der öffentlichen Treibjagd vor<br />

gut einem Jahr. Denn die neue Form der Demütigung zeigt sich<br />

im blütenweißen Kleid des menschlichen Mitgefühls. Ob Wulff<br />

sich am Ende tatsächlich vor Gericht wird verantworten müssen,<br />

spielt da kaum noch eine Rolle. Rehabilitiert ist er nämlich<br />

bereits – und zwar ausgerechnet von denen, die sich über das<br />

angebliche Fehlverhalten des damaligen Hausherrn von Bellevue<br />

gar nicht genug empören konnten. Die Dämonisierung<br />

Christian Wulffs hat sich binnen weniger Monate verwandelt in<br />

mediale Mitleidsbekundungen, deren Adressat sich allerdings<br />

kaum mit der ihm neuerdings zugeschriebenen Rolle eines bedauerlichen<br />

Opfers widriger Umstände anfreunden dürfte. Der<br />

Fall Wulff war eben keine harmlose Verwechslungskomödie,<br />

sondern ein Trauerspiel in Sachen politischer Kultur, an dem<br />

alle Beteiligten fleißig mitgeschrieben haben – der Hauptdarsteller<br />

genauso wie der Chor seiner Kritiker in der veröffentlichten<br />

Meinung. Wulff aber hat alles verloren, wohingegen die mediale<br />

Jagdgesellschaft von Anfang an ohne eigenes Risiko spielte.<br />

Nun jammert sie dem toten Hasen hinterher – und macht ihn<br />

dadurch erst recht lächerlich. Sich selbst natürlich auch, aber<br />

damit kann sie leben.<br />

Mitleid ist in der Politik ohnehin keine angemessene Ausdrucksform,<br />

schon aus diesem Grund hat Christian Wulff es<br />

nicht verdient. Was er jedoch sehr wohl verdient und deshalb<br />

auch selbst anstrebt, ist eine faire juristische Aufklärung der gegen<br />

ihn erhobenen Vorwürfe. Ein von der Staatsanwaltschaft<br />

vorgeschlagener „Deal“ – 20 000 Euro für die Einstellung des<br />

Verfahrens – wäre allerdings das exakte Gegenteil einer rechtsstaatlich<br />

sauberen Aufarbeitung dieses Skandals gewesen, der<br />

immerhin den Rücktritt des Bundespräsidenten zur Folge hatte.<br />

Dass ein sogenanntes Organ der Rechtspflege überhaupt auf die<br />

Idee kommt, von ihr als strafrechtlich relevant angesehene Mauscheleien<br />

Wulffs mit einer zusätzlichen Mauschelei aus der Welt<br />

zu schaffen, macht deutlich, wie wenig die Staatsanwälte aus<br />

Hannover die Tragweite ihres eigenen Handelns überblicken.<br />

Ihre Anklageerhebung wirkt nach dem geplatzten Ablasshandel<br />

beinahe trotzig; so sorgt man (ohne Not?) schon im Voraus für<br />

einen schlechten Nachgeschmack.<br />

Dabei hätte die Affäre Wulff bereits am Anfang ein halbwegs<br />

gutes Ende nehmen können, und zwar ganz ohne Zutun<br />

der Justiz. Oder war Christian Wulff tatsächlich der Meinung,<br />

vergünstigte Hauskredite, undurchsichtige Geschäfte mit dubiosen<br />

Partymanagern und von halbseidenen Filmproduzenten<br />

gesponserte Oktoberfestbesuche vertrügen sich mit höchsten<br />

politischen Ämtern? Ein früher Rücktritt des Bundespräsidenten<br />

wäre ein Signal der Einsichtsfähigkeit gewesen; er aber entschied<br />

sich lieber für die Hängepartie. Als käme es beim Staatsoberhaupt<br />

darauf an, ob ein Straftatbestand erfüllt ist oder<br />

nicht. Dabei war es Christian Wulff selbst, der schließlich in seiner<br />

Rücktrittsrede „unserem Land von ganzem Herzen eine politische<br />

Kultur“ wünschte, „in der die Menschen die Demokratie<br />

als unendlich wertvoll erkennen“.<br />

Der Wert einer Demokratie bemisst sich für „die Menschen“<br />

aber eben vor allem an der Unabhängigkeit ihrer gewählten Repräsentanten.<br />

Deswegen ist es aus dem Verständnis der Politik<br />

auch gar nicht so wichtig, ob die Staatsanwaltschaft mit ihrer<br />

Anklage vor Gericht Erfolg hat. Dass Wulff ihr durch sein<br />

Verhalten überhaupt erst die Möglichkeit dazu gegeben hat, darin<br />

besteht das eigentliche Problem. Denn die von ihm eingeforderte<br />

politische Kultur ist bereits dann in Gefahr, wenn auch nur<br />

der Anschein von Kungelei besteht. Es gibt übrigens tatsächlich<br />

Männer und Frauen in der Politik, die das nicht nur wissen, sondern<br />

auch beherzigen. Eine davon heißt Angela Merkel.<br />

Alexander Marguier<br />

ist stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

Illustration: Christoph Abbrederis; Foto: Andrej Dallmann<br />

146 <strong>Cicero</strong> 5.2013


MANCHMAL MUSS<br />

ES EBEN MUMM SEIN.<br />

Statt Blumen mitzubringen, gleich im Grünen dinieren.<br />

Den Chefkoch in die eigene Küche einladen. Und das<br />

Kochen zum eigentlichen Event machen. Beim Starfriseur<br />

alle Plätze reservieren. Und gemeinsam den besten<br />

Schnitt machen. Manchmal muss es eben Mumm sein.


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