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Cicero Stille Macht (Vorschau)

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www.cicero.de<br />

Dezember 2012<br />

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www.cicero.de<br />

<strong>Stille</strong><br />

<strong>Macht</strong><br />

Warum erfolgreiche Politiker uns<br />

das Wichtigste verschweigen<br />

Ist Gott ein Elefant?<br />

Über Sinn und<br />

Unsinn von Religion<br />

Die Kunst des Geldes<br />

Wie Millionäre den<br />

Museen Konkurrenz machen<br />

Sterben für Frankreich<br />

Was haben deutsche Soldaten in<br />

Mali zu suchen?<br />

Österreich: 8 EUR, Benelux: 9 EUR, Italien: 9 EUR<br />

Spanien: 9 EUR, Portugal (Cont.): 9 EUR, Finnland: 12 EUR


Barcelona, Dezember 1957.<br />

Die erste Seite<br />

In jenem Jahr brachen zur<br />

Weihnachtszeit alle Tage bleiern und raureifgetüncht<br />

an. Bläuliches Halbdunkel tönte die<br />

Stadt, und die bis zu den Ohren eingemummten<br />

Menschen zeichneten mit ihrem Atem Dampfspuren<br />

in die Kälte. In diesen Tagen blieben<br />

nur wenige vor dem Schaufenster von Sempere<br />

& Söhne stehen, um sich in seine Auslagen<br />

zu vertiefen, und noch weniger rafften sich<br />

dazu auf, einzutreten und nach dem verlorenen<br />

Buch zu fragen, das ein Leben lang auf sie<br />

gewartet hatte und dessen Verkauf, von<br />

seinem poetischen Rang einmal abgesehen,<br />

den misslichen Finanzen der Buchhandlung<br />

ein wenig hätte aufhelfen können.<br />

»Ich glaube, heute ist es so weit. Heute wird<br />

sich unser Schicksal wenden«, verkündete<br />

ich, beflügelt vom ersten Kaffee des Tages –<br />

reiner Optimismus in flüssiger Form. (…)<br />

Die Glocke über der Eingangstür klingelte<br />

träge. »Guten Tag«, hörte ich von der<br />

Schwelle her eine tiefe, schrundige Stimme.<br />

Im Gegenlicht glich seine Silhouette einem<br />

vom Wind gepeitschten Baumstamm. Er trug<br />

einen altmodisch geschnittenen dunklen<br />

Anzug und gab, wie er sich so auf einen Stock<br />

stützte, eine finstere Gestalt ab. Unübersehbar<br />

hinkend, tat er einen Schritt vorwärts. Im<br />

hellen Licht der Lampe über dem Ladentisch<br />

zeigte sich ein von der Zeit zerfurchtes Gesicht.<br />

Der Besucher musterte mich in aller Ruhe;<br />

sein geduldig berechnender<br />

Blick erinnerte an<br />

einen Raubvogel. »Sind<br />

Sie Señor Sempere?«<br />

Lesen Sie weiter…<br />

Aus dem Spanischen von Peter Schwaar,<br />

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C i c e r o | A t t i c u s<br />

Von: <strong>Cicero</strong><br />

An: Atticus<br />

Datum: 22. November 2012<br />

Thema: Die <strong>Macht</strong> der <strong>Stille</strong><br />

Schwätzer und Schweiger<br />

Titelbild: Olaf Hajek; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

E<br />

hrlich gesagt: Unsere Zunft lebt von den Schwätzern. Der politischpublizistische<br />

Betrieb belohnt das flotte Wort. Ganze Karrieren sind auf der<br />

Gabe aufgebaut, jederzeit das passende Bonmot ausstoßen zu können. Und<br />

das Phänomen ist beileibe nicht nur auf Politiker beschränkt.<br />

Auch wir journalistischen Wortarbeiter stehen immer in dieser Gefahr. <strong>Cicero</strong><br />

bemüht sich gleichwohl, jeden Monat das Geschwätz vom Gehalt zu trennen, wie<br />

den Dotter vom Eiweiß beim Plätzchenbacken. Zu Weihnachten, dem Fest der <strong>Stille</strong>,<br />

beschäftigen wir uns deshalb mit der Kunst des Schweigens in der Politik. Dafür<br />

hat der Illustrator unseres Titelbilds, Olaf Hajek, zwei, wie wir finden, bezaubernde<br />

Stillleben geschaffen, die in limitierter Auflage als <strong>Cicero</strong>-Kunstdruck erscheinen<br />

werden (Details Seite 27).<br />

Eines der beiden Motive Hajeks zeigt die Bundeskanzlerin als Schweigerin im<br />

Walde. Die Wahl des Künstlers ist kein Zufall. Niemand im politischen Betrieb<br />

hat das Konzept des kommunikativen Minimalismus so perfektioniert wie Angela<br />

Merkel. Das hat ihr den Tadel des Bundespräsidenten eingetragen, der von der<br />

Kanzlerin gefordert hat, sie müsse ihre Politik mehr erklären. Es stimmt ja auch:<br />

Merkel redet nicht gern, schon gar nicht pathetisch. Am Tag, als Barack Obama seine<br />

Wiederwahl als Präsident (ab Seite 58) mit einer fulminanten Rede selbst bejubelte,<br />

hielt Merkel einen ihrer öden Europa-Vorträge in Brüssel. Wieder keine „Erzählung“,<br />

wie sie einmal ihr Herausforderer Peer Steinbrück verlangt hat.<br />

Jetzt konkurrieren also zwei Modelle um das Amt des Kanzlers in Deutschland:<br />

Peer Steinbrück, flinkzüngiger Scharfredner, der keine Pointe auslässt, und Angela<br />

Merkel, die lieber einmal schlecht aussieht in einem Schlagabtausch, als sich zu<br />

einem unbedachten Wort hinreißen zu lassen. Thomas de Maizière, seit Jahren<br />

einer der engsten Vertrauten der Kanzlerin, bricht in <strong>Cicero</strong> sein Schweigen –<br />

und redet über die Vorzüge der Verschwiegenheit in der Politik (ab Seite 20),<br />

während Gertrud Höhler die demokratischen Schattenseiten des Merkel’schen<br />

Schweigekartells ausleuchtet.<br />

Georg Löwisch ruft Fälle in Erinnerung (ab Seite 36), in denen unbedachte Worte<br />

ganze Karrieren beendeten. „Si tacuisses …“, sagt der Lateiner in solchen Fällen.<br />

„Loose lips sink ships“, warnt der Angelsachse vor den Folgen der Geschwätzigkeit.<br />

Manchmal sinkt dabei eben sogar der eigene Kahn.<br />

In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />

der römische Politiker und Jurist<br />

Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />

Freund Titus Pomponius Atticus<br />

das Herz ausgeschüttet<br />

Mit besten Grüßen<br />

Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 5


C i c e r o | I n h a l t<br />

Titelthema<br />

20<br />

„Schweigen ist was schönes“<br />

Verteidigungsminister Thomas de Maizière über die Kunst der Diskretion<br />

Interview Georg Löwisch und Christoph Schwennicke<br />

28<br />

<strong>Stille</strong> <strong>Macht</strong><br />

In Angela Merkels Schweigekartell<br />

gelten zu viele Worte als Verrat<br />

von Gertrud Höhler<br />

36<br />

Fünf schlechte Schweiger<br />

Si tacuisses: Spitzenpolitiker, die sich<br />

selbst ins Verderben geredet haben<br />

von Georg Löwisch<br />

illustration: Olaf Hajek<br />

6 <strong>Cicero</strong> 12.2012


I n h a l t | C i c e r o<br />

50 Ende der Egopolitik<br />

90<br />

Öl in Brandenburg<br />

66<br />

Rebellen in Mali<br />

BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE kapital<br />

40 | Farblos mit Biss<br />

Der Sozialdemokrat Stephan Weil liegt<br />

im Rennen um Niedersachsen vorn<br />

Von Hartmut Palmer<br />

52 | rechtsaussen der Linken<br />

Frankreichs Innenminister Manuel Valls<br />

macht seinem Präsidenten Konkurrenz<br />

Von Stefan Brändle<br />

84 | Er setzt Energie frei<br />

Der Chemiker Robert Schlögl will mit<br />

Forschung das Energieproblem lösen<br />

Von Christian Schwägerl<br />

Fotos: Sebastien Dufour/DDP Images/SIPA, Jens Gyarmaty; Illustrationen: Jan Rieckhoff, Christoph Abbrederis<br />

42 | Der Mann fürs Atomklo<br />

Alt-Öko Michael Sailer kümmert sich für<br />

die Regierung um die Endlagerfrage<br />

Von Christian Schwägerl<br />

44 | Die Härte der Prinzessin<br />

Die künftige Mainzer Regierungschefin<br />

Malu Dreyer hat eine eiserne Disziplin<br />

Von Georg LÖwisch<br />

47 | Frau Fried fragt sich …<br />

… warum der Mythos von der guten<br />

Mutter noch solche Blüten treibt<br />

Von Amelie Fried<br />

48 | Braune Flecken<br />

Die Generalbundesanwälte Buback und<br />

Rebmann und ihre NS-Vergangenheit<br />

Von Michael Sontheimer<br />

50 | Vom ich zum wir<br />

Dem Höhenflug der Ich-Parteien folgt<br />

die Renaissance der Volksparteien<br />

Von Frank A. Meyer<br />

54 | Einzelkämpferin<br />

im Seidenkostüm<br />

Die Rebellin Mamphela Ramphele<br />

kritisiert die südafrikanische Regierung<br />

Von Claudia Bröll<br />

56 | geheimnisvoller Stratege<br />

Alex Salmond kämpft für ein<br />

unabhängiges Schottland<br />

Von Sebastian Borger<br />

58 | Die Welt sucht einen Manager<br />

Die außenpolitische Agenda des<br />

alten und neuen US-Präsidenten<br />

Von Jan Techau<br />

60 | Verhängnisvolle Affären<br />

Eine kurze Geschichte der US-Skandale<br />

66 | UNter Gangstern und Dschihadis<br />

Was geschieht wirklich in Mali?<br />

Von MArc Engelhardt<br />

74 | Die StraSSe der Götter<br />

Religiöse Vielfalt an der Soho Road<br />

im britischen Birmingham<br />

Von Liz Hingley<br />

82 | Mehr Religion Wagen<br />

Ein Loblied auf die Kraft des Glaubens<br />

Von Alexander Kissler<br />

83 | In die Schranken weisen<br />

Die Religionen müssen gezähmt werden<br />

Von Richard Herzinger<br />

86 | In Aller Munde<br />

Die Unternehmerin Margitta Siegel<br />

verkauft Zahnbürsten in die ganze Welt<br />

Von Steffen Uhlmann<br />

88 | Steinbrücks Gönner<br />

Bernd Wilmert, Bochums Stadtwerke-<br />

Chef, zahlte ein folgenreiches Honorar<br />

Von Stefan Laurin<br />

90 | Öl unterm Acker<br />

Nicht Texas, sondern Brandenburg:<br />

Ein Ort im Osten bohrt nach Erdöl<br />

Von Stefan Tillmann<br />

96 | Die verlorene Generation<br />

Radikalisiert sich Europas arbeitslose<br />

Jugend wie in der Weimarer Republik?<br />

Von Christoph Stölzl<br />

102 | Mathe mit Merkel<br />

Deutschland schurigelt Schuldner in<br />

Europa und gönnt sich selbst Wohltaten<br />

Von Eric Bonse<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 7


C i c e r o | I n h a l t<br />

cicero online<br />

116 Kunstsammler-Paar Boros<br />

Aktuell:<br />

CDU und SPD rüsten sich<br />

für den WahlkampF<br />

Erst trifft sich Anfang<br />

Dezember die CDU in<br />

Hannover zum Parteitag,<br />

anschließend die SPD. Lesen<br />

Sie bei <strong>Cicero</strong> Online, wie<br />

sich die beiden Parteien für<br />

das Wahljahr aufstellen.<br />

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Salon<br />

106 | Erfahren, um frei zu sein<br />

Achim Kaufmann ist einer der<br />

aufregendsten Jazzpianisten<br />

Von Tobias Lehmkuhl<br />

108 | Ein Clown fürs Leben<br />

Der Regisseur Herbert Fritsch ist mit<br />

60 Jahren ein großes Nachwuchstalent<br />

Von Irene Bazinger<br />

110 | „Lasst mich euer Monster sein“<br />

Emir Kusturica spricht im Interview über<br />

seine Verachtung für Hollywood<br />

Von Claas Relotius<br />

116 | Die <strong>Macht</strong> der Sammler<br />

Reiche Kunstliebhaber machen den<br />

Museen Konkurrenz<br />

Von Malte Herwig<br />

129 | Benotet<br />

Unser Kolumnist spürt seinem<br />

Instrument, der Geige, nach<br />

Von Daniel Hope<br />

130 | Man sieht nur, was man sucht<br />

Ghirlandaios Weihnachtsgemälde<br />

„Anbetung der Hirten“<br />

Von Beat Wyss<br />

132 | Europa sitzt im falschen Film<br />

Wie die Krise unseres Kontinents<br />

sich auf der Leinwand zeigt<br />

Von Christiane Peitz<br />

139 | Küchenkabinett<br />

Michelin-Sterne sagen wenig aus über<br />

den Zustand der Realgastwirtschaft<br />

Von Thomas Platt und Julius Grützke<br />

140 | Bibliotheksporträt<br />

Die legendäre Sammlung des<br />

Kölner Verlegers Walther König<br />

Von Ulrich Clewing<br />

144 | Das Schwarze sind<br />

die Buchstaben<br />

Zwei Romane und ein Comic helfen<br />

dabei, die Orientierung zu verlieren<br />

Von Robin Detje<br />

146 | Die letzten 24 Stunden<br />

Sex in der Hängematte, aufrecht stehend<br />

Von Denis Scheck<br />

Standards<br />

Atticus —<br />

Von Christoph Schwennicke — seite 5<br />

Stadtgespräch — seite 10<br />

Forum — seite 14<br />

Impressum — seite 136<br />

Postscriptum —<br />

Von Alexander Marguier — seite 148<br />

Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />

erscheint am 20. Dezember 2012<br />

Debatte:<br />

Kommt jetzt das<br />

Öko-Bürgertum?<br />

Die Sehnsucht nach Werten<br />

in der Gesellschaft wächst.<br />

Doch das neue Bürgertum<br />

setzt auf Nachhaltigkeit<br />

und nicht auf Wachstum,<br />

auf ökologische Politik<br />

und nicht auf christliche.<br />

Sind die Grünen die<br />

neuen Konservativen?<br />

www.cicero.de/Dossier/<br />

Oekobuergertum<br />

Unterhaltsam:<br />

Karikaturen der Woche<br />

Jeden Samstag präsentieren<br />

wir Ihnen den heiteren<br />

Wochenrückblick aus der<br />

Feder von Burkhard Mohr<br />

und Heiko Sakurai.<br />

www.cicero.de/Karikaturen<br />

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Sache:<br />

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Fotos: Oliver Mark, Archiv; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

8 <strong>Cicero</strong> 12.2012


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C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />

auch politiker erzählen gerne Märchen. Für Sinti und Roma gibt es ein neues<br />

Denkmal, sie werden aber weiter abgeschoben. Ein neues Gesetz schützt Pferde<br />

nicht vor dem Schenkelbrand, ein anderes warnt vor der Weihnachtspause<br />

NEUES VOM NEUBAU:<br />

BND-ZENTRALE FLOPPT<br />

A<br />

lle zerreissen sich das Maul über<br />

das Berliner Flughafen-Debakel<br />

und verspotten die lokalen Berliner<br />

Obrigkeiten, weil die es nicht geschafft<br />

haben, das Riesenbauwerk rechtzeitig fertigstellen<br />

zu lassen. Dass gleichzeitig das<br />

größte Bauvorhaben des Bundes, der Neubau<br />

des Bundesnachrichtendienstes BND<br />

an der Chausseestraße, floppt und immer<br />

teurer wird, geht im allgemeinen Gelächter<br />

über „die da oben“ unter.<br />

Nun aber ist es amtlich: Die neue Geheimdienstzentrale<br />

wird nicht nur später<br />

fertig als geplant, sondern auch deutlich<br />

teurer. Ursprünglich waren 720 Millionen<br />

Euro eingeplant, nun musste der Haushaltsausschuss<br />

des Bundestags – selbstverständlich<br />

in geheimer Sitzung – weitere<br />

100 Millionen bewilligen. Der Grund:<br />

Pfusch am Bau. Insgesamt zwölf Kilometer<br />

bereits eingebaute Lüftungskanäle müssen<br />

wieder herausgerissen und neu installiert<br />

werden, weil sie nicht fachgerecht verlegt<br />

worden sind.<br />

Dadurch verzögert sich natürlich auch<br />

die Fertigstellung. Nach neuesten Schätzungen<br />

werden die Geheimdienstleute<br />

nicht 2014, sondern frühestens 2015 dort<br />

einziehen können. Die Kosten für den Berliner<br />

Neubau und den Umzug aus dem<br />

bayerischen Pullach (bei München) werden<br />

inzwischen auf 1,4 Milliarden Euro geschätzt.<br />

Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach,<br />

Vorsitzender des Innenausschusses,<br />

rechnet sogar mit 1,5 Milliarden – mehr als<br />

doppelt so viel, wie ursprünglich geplant.<br />

Aber selbst wenn die Bauleute es schaffen,<br />

die neuen Termine einzuhalten: Von einer<br />

richtigen BND‐Zentrale kann dann immer<br />

noch nicht die Rede sein. 1000 der insgesamt<br />

4000 Agentenführer und Spione, die<br />

bislang weit abgelegen in einem eingezäunten<br />

Wald bei Pullach ihren Dienst versehen,<br />

bleiben auf jeden Fall in Bayern – Edmund<br />

Stoiber sei Dank.<br />

Der frühere Bayern-Premier setzte sich<br />

2006 nämlich mit seiner dringenden Bitte<br />

durch, nicht alle Beamten aus Bayern abzuziehen.<br />

Stoiber, der in Brüssel dafür sorgen<br />

soll, dass bei der EU überflüssige Bürokratie<br />

abgebaut und Kosten eingespart werden,<br />

verursachte dadurch Mehrkosten in Höhe<br />

von etwa 53 Millionen Euro. Denn der ursprüngliche<br />

Plan, die Baukosten durch den<br />

Verkauf der alten Pullacher Grundstücke<br />

zu mindern, ist dank seiner Intervention<br />

Makulatur. hp<br />

Mutiger Zwischenruf:<br />

Tränen und Taten<br />

E<br />

s wurden schöne Reden gehalten<br />

und auch Tränen vergossen bei der<br />

Einweihung des Berliner Denkmals<br />

für die vielen Hunderttausend Sinti,<br />

Roma und Jenische, die von den Nazis verfolgt,<br />

sterilisiert, deportiert und ermordet<br />

worden waren. Die Spitzen des Staates –<br />

Bundespräsident, Bundestagspräsident<br />

und Bundeskanzlerin – und der Stadt waren<br />

dabei, als in Anwesenheit von Überlebenden,<br />

Angehörigen und Nachkommen<br />

der Opfer das von dem israelischen<br />

Künstler Dani Karavan entworfene Mahnmal<br />

unweit des Reichstags feierlich seiner<br />

Bestimmung übergeben wurde. „Jedes einzelne<br />

Schicksal erfüllt uns mit tiefer Trauer<br />

und Scham“, sagte Angela Merkel. Dass ihr<br />

Innenminister gerade erst den „Asylmissbrauch“<br />

jener Roma beklagt hat, die aus<br />

Serbien und Mazedonien nach Deutschland<br />

eingewandert sind und massenweise<br />

wieder abgeschoben werden, kam in den<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

10 <strong>Cicero</strong> 12.2012


C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />

Nachlese<br />

Tick + Tack = Text<br />

Wir gratulieren den Kollegen von Focus, die sich von <strong>Cicero</strong> zu einer sehr schönen<br />

Reportage über Berliner Spitzenpolitiker und deren Uhren inspirieren ließen<br />

„Metronome der <strong>Macht</strong>“ überschrieb <strong>Cicero</strong> die Uhrenreportage im Augustheft (Ausriss links). Im November zog Focus nach (rechts)<br />

Wir können den Kollegen nicht böse<br />

sein, dass sie sich von uns zu einer<br />

schönen Reportage über Berliner Spitzenpolitiker<br />

und deren Uhren haben<br />

inspirieren lassen. Schließlich<br />

sind wir keine Universität, die darüber<br />

wachen muss, dass jede bei ihr abgelieferte<br />

Doktorarbeit eine wissenschaftliche<br />

Eigenleistung und frei von<br />

Plagiaten ist. Wir sind ein Monatsmagazin,<br />

das gekauft und gelesen werden<br />

will. Deshalb haben wir uns gefreut,<br />

dass das Münchener Nachrichtenmagazin<br />

Focus sich in seiner Ausgabe<br />

vom 5. November 2012 der Frage zugewandt<br />

hat, welche Uhren Berliner Spitzenpolitiker<br />

tragen und was diese über<br />

ihre Chronometer sagen. Die gleiche<br />

Idee hatten wir im Sommer auch, und<br />

nahezu alle Politiker, mit denen wir<br />

damals über ihre Uhren gesprochen<br />

hatten, kamen jetzt im Focus zu Wort,<br />

sogar mit denselben Antworten, wobei<br />

Focus an einer Stelle tatsächlich <strong>Cicero</strong><br />

als Quelle erwähnte. Die Münchener<br />

Kollegen fanden offenbar auch unsere<br />

Überschrift „Metronome der <strong>Macht</strong>“<br />

so einleuchtend, dass sie diese gleich<br />

mit übernahmen. Wir betrachten das<br />

publizistische Duplikat als Kompliment<br />

und danken recht herzlich. Wer<br />

das Original nachlesen will:<br />

www.cicero.de/Metronome hp<br />

Prophetische Meisterleistung<br />

Wie Bild es schaffte, eine Prügelei vorherzusehen<br />

Ende Oktober speist Griechenlands ehemaliger Ministerpräsident<br />

Giorgos Andrea Papandreou mit seiner Frau<br />

Ada im Berliner Restaurant „ChénChè“. Plötzlich stürmen<br />

wütende griechische Studenten herein, beschimpfen<br />

den Ex-Premier lautstark, prügeln ihn fast aus dem Lokal.<br />

So liest sich der Artikel von Paul Ronzheimer, erschienen<br />

am 30. Oktober 2012 in der Bild-Zeitung. Bemerkenswert,<br />

wie Deutschlands Boulevardblatt Nummer eins dieser<br />

Scoop gelang: hellseherisch, zur rechten Zeit am rechten<br />

Ort und dann auch noch mit gezückter Kamera, die gestochen<br />

scharfe Bilder von dem flüchtenden Papandreou und<br />

seinen Verfolgern einfing. Eine Reporter-Meisterleistung.<br />

Dass der diensthabende Kellner den in Bild wiedergegebenen<br />

Dialog zwischen Papandreou und den Griechen nicht<br />

bestätigen kann – geschenkt. Dass er außerdem nichts vom<br />

„spontanen Applaus“ der Gäste mitbekam – egal. Dass es<br />

nicht etwa 15 Randalierer waren, sondern höchstens sieben<br />

– man will mal nicht kleinlich sein. Und dass sich der<br />

Autor der Zeilen gar nicht in Berlin aufhielt, sondern – wie<br />

er selbst auf Nachfrage erklärt – in Athen, lässt aufhorchen.<br />

Insgesamt also eine prophetische Meisterleistung wie nur<br />

Bild sie zustande bringt – preisverdächtig! jill<br />

In eigener SaChe<br />

Multiminister Söder<br />

Der bayerische CSU-Politiker Markus Söder ist ein umtriebiger<br />

Mann mit vielen Eigenschaften. Er hatte schon einige<br />

Ämter inne. Dass wir ihn im Novemberheft einmal (zutreffend)<br />

als Finanz- und einmal (fälschlich) als Kultusminister<br />

tituliert haben, war eine bedauerliche, aber erklärbare Fehlleistung:<br />

Wir trauen ihm einfach alles zu.<br />

Die Redaktion<br />

12 <strong>Cicero</strong> 12.2012


offiziellen Reden nicht vor – bis sich eine<br />

Frau zu Wort meldete, die gar nicht auf der<br />

Rednerliste stand: „Aufhören mit den Abschiebungen“,<br />

rief sie laut und vernehmlich,<br />

als Bundeskanzlerin Angela Merkel<br />

ihre Ansprache beendet hatte.<br />

Der Zwischenruf war die kürzeste<br />

Rede des Tages. Und vielleicht die mutigste,<br />

weil plötzlich die Diskrepanz zwischen<br />

Tränen und Taten sichtbar wurde.<br />

„Die toten Sinti und Roma haben jetzt<br />

ein Denkmal“, schrieb auch die Süddeutsche<br />

Zeitung, „die lebenden Sinti und<br />

Roma haben fast nichts; sie haben keine<br />

Arbeit, keine Wohnung, keinen Schutz<br />

und keine Hilfe. In Ungarn, Rumänien<br />

und Bulgarien, Mazedonien und Serbien<br />

werden sie schikaniert und verfolgt, in<br />

Deutschland und Frankreich kaserniert<br />

und abgeschoben.“ hp<br />

bis sehr gut. Warum das so sei, wusste er<br />

auch: Zu Weihnachten, da sitzen die Menschen<br />

zusammen und reden. Schlecht über<br />

die, die schlecht dastehen, gut über die, die<br />

gut dastehen. Vor einem Wahljahr ist eben<br />

alles politisch – auch Weihnachten. swn<br />

Sieg der Pferdelobby:<br />

Das Brandzeichen bleibt<br />

Westerwelle sind bekennende Pferdeliebhaber<br />

und gern gesehene Gäste in einschlägigen<br />

Reiter- und Züchterzirkeln. Zwei<br />

Monate nach Westerwelles Intervention<br />

steht nun fest, dass sich die Pferdelobby<br />

im Kabinett durchgesetzt hat. Der Schenkelbrand<br />

wird nicht verboten. hp<br />

Politiker Erzählen:<br />

mein Lieblingsmärchen<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

Kauders Gesetz:<br />

Raus wie rein<br />

W<br />

er im politischen Berlin mitreden<br />

möchte, muss das Struck’sche<br />

Gesetz kennen. Der damalige<br />

SPD-Fraktionschef Peter Struck bezeichnete<br />

damit einmal den Umstand, dass kein<br />

Gesetz den Bundestag so verlasse, wie es<br />

hineingehe. Das Parlament könne Gesetzesvorhaben<br />

der rot-grünen Bundesregierung<br />

unter Gerhard Schröder jederzeit modifizieren.<br />

„Wir sind nicht deine Abnicker,<br />

Gerd“, hieß das. Während der Großen Koalition<br />

freundete sich Struck mit Unions-<br />

Fraktionschef Volker Kauder an. Und der<br />

hat jetzt seinerseits eine Regel formuliert,<br />

die eigentlich das Gegenteil besagt: das<br />

Kauder’sche Gesetz. Es gehe auf Weihnachten<br />

zu, mahnte Kauder kürzlich seine Fraktionskollegen,<br />

und nach seiner Erfahrung<br />

gehe jeder so aus der Weihnachtspause heraus,<br />

wie er in sie hineingegangen sei. Wer<br />

schlecht reingehe, komme schlecht bis<br />

noch schlechter raus, wer gut reingehe, gut<br />

E<br />

s War Ja schon auffällig genug,<br />

dass Guido Westerwelle sich im<br />

Bundeskabinett plötzlich für einen<br />

Gesetzentwurf der Verbraucherschutzministerin<br />

Ilse Aigner interessierte.<br />

Es ging um den Tierschutz im Allgemeinen<br />

und um Pferde im Besonderen. Die<br />

CSU‐Ministerin wollte dem Drängen von<br />

Tierschützern und der EU-Kommission<br />

nachgeben und das Anbringen von Brandzeichen<br />

bei jungen Pferden verbieten.<br />

Statt mit dem heißen Eisen sollten die<br />

Fohlen künftig gemäß einer EU-Richtlinie<br />

nur noch mit einem Chip markiert<br />

werden, der unter der Haut implantiert<br />

wird. Das hatte die Pferdezüchter in Rage<br />

gebracht. „Ein Pferd ohne Brand ist wie<br />

nackt“, wetterte der Verbandsvorsitzende<br />

der 185 Hannoveraner Züchter aus dem<br />

Pferdeland Niedersachsen. Auch Westerwelle,<br />

eigentlich für die Außenpolitik<br />

zuständig, gab zu bedenken, dass das<br />

Chippen junger Fohlen keineswegs so unbedenklich<br />

sei, wie die Verbraucherschutzund<br />

Landwirtschaftsministerin glaube.<br />

Die Sache wurde nicht entschieden,<br />

sondern an das Ministerium zur weiteren<br />

Beratung zurückverwiesen. Eingeweihte<br />

wissen, weshalb der FDP-Außenminister<br />

sich am Kabinettstisch als Pferdeflüsterer<br />

engagierte: Sein Lebensgefährte Michael<br />

Mronz ist Geschäftsführer der Aachen<br />

Reitturnier GmbH, die den Concours<br />

Hippique International Officiel (CHIO)<br />

in Aachen ausrichtet, das größte Reit- und<br />

Springturnier in Deutschland. Mronz und<br />

P<br />

olitiker erzählen gerne Märchen<br />

– und zwar auch die echten<br />

der Gebrüder Grimm, wie eine<br />

Umfrage von <strong>Cicero</strong> Online ergab. Norbert<br />

Röttgen liebt das Rumpelstilzchen,<br />

Andrea Nahles geht mit Hänsel und Gretel<br />

am liebsten in den Wald, um die Hexe<br />

zu besiegen, und Thomas de Maizière fühlt<br />

sich zum tapferen Schneiderlein hingezogen.<br />

Den kleinen Edmund Stoiber faszinierten<br />

Dornröschen und die Frage: Wie<br />

ist es, hundert Jahre auszublenden? Linken-<br />

Chefin Katja Kipping identifiziert sich mit<br />

Hans im Glück, weil Glück über materiellen<br />

Besitz hinausgeht. Sagt sie.<br />

Die CSU-Abgeordnete Dorothee Bär<br />

erkennt sich im Schneewittchen wieder,<br />

die über Jahre hinweg einzige dunkelhaarige<br />

Disney-Prinzessin. Wolfgang Kubicki<br />

mag am liebsten Dornröschen, weil<br />

es von einem Prinzen wachgeküsst wird.<br />

Und Christine Haderthauer von der CSU<br />

liest besonders gern Allerleihrauh vor.<br />

Denn die Königstochter mit dem goldenen<br />

Haar war nicht nur schön, sondern,<br />

sagt Haderthauer, „auch klug und listig,<br />

hat, zugegeben, etwas getrickst, super Kleider<br />

getragen und am Ende den Richtigen<br />

bekommen.“ Da können wir nur hoffen,<br />

dass ein bisschen Fantasie aus den Kinderzimmern<br />

wieder zurückfließt in die Politik.<br />

Aber wirklich nur ein bisschen. Das ganze<br />

Märchen finden Sie unter: www.cicero.de/<br />

Maerchen. ts<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 13


C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />

Forum<br />

Über Hitlers Buch, <strong>Cicero</strong>s Kolumnen und Meckels Amerika<br />

Zum titelthema „Hitlers<br />

letzte Bombe – Warum ‚Mein<br />

Kampf‘ freigegeben werden<br />

muss“ / November 2012<br />

Nützliche<br />

Information<br />

Ihre Argumente für eine (möglichst gut kommentierte) Ausgabe von Hitlers „Mein<br />

Kampf“ ist völlig richtig, ich habe sie schon seit langem verlangt. Ein Beispiel für<br />

die nützliche Information, die eine Lektüre dieses Buches vermittelt, ist Hitlers<br />

völlig irrige Unterstellung, eine Eroberung von „Lebensraum“ auf Kosten<br />

Russlands sei durch die Oktoberrevolution und die Vertreibung der „nordischdeutschen<br />

Führungsschicht“ Russlands leicht geworden. Seit Jahrhunderten habe<br />

Russland „von diesem germanischen Kern seiner oberen leitenden Schichten“<br />

gezehrt. „An seine Stelle ist der Jude getreten.“ Sowenig Russland in der Lage<br />

sei, die Herrschaft des Juden abzuschütteln, so wenig sei der Jude in der Lage, das<br />

mächtige Reich auf Dauer zu erhalten. Deshalb sei Russland „reif zum Zusammenbruch“.<br />

Hitler nennt das einen „Fingerzeig des Schicksals“ und führt weiter aus:<br />

„Wir sind vom Schicksal ausersehen, Zeugen einer Katastrophe zu werden, die die<br />

gewaltigste Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird.“<br />

Schon allein diese Textpassagen sind ein gutes Beispiel für die irreführende Folge<br />

des antisemitischen Glaubens.<br />

Prof. Dr. Dr. h.c. Iring Fetscher, Frankfurt<br />

überflüssige diskussion<br />

Da kam Freude auf! Mein erster <strong>Cicero</strong><br />

im neuen Abonnement und dann das!<br />

Hitler auf dem Titelbild. Das erinnert<br />

mich sehr an den Spiegel: Wenn die Auflage<br />

sinkt, schnell Hitler aufs Titelbild.<br />

Jetzt ist die Freude dahin. Diese Diskussion<br />

braucht absolut niemand und am<br />

wenigsten ich.<br />

Wolfgang Strubel, Neu-Anspach<br />

wider das vergessen<br />

Meiner Meinung nach ist die rechtlich<br />

abgesicherte Veröffentlichung von „Mein<br />

Kampf“ auch die einzige und wichtigste<br />

Vorgehensweise wider das Vergessen der<br />

schrecklichsten Jahre Europas. Das krude<br />

Buch kann somit als immerwährende<br />

Warnung stehen, selbst dann, wenn es<br />

gar keine Holocaust-Überlebenden mehr<br />

gibt. Auch zur systematischen Judenver-<br />

nichtung müssen wir stehen, selbst wenn<br />

meine, die 1970er Generation, diese<br />

Politik nicht zu verantworten hat. Zu den<br />

Rechten und Neonationalisten kann ich<br />

nur sagen: Ihr seid und bleibt dumm!<br />

Giovanni Deriu jun., Schwäbisch Gmünd<br />

abstossendes bild<br />

Als ich das Titelbild sah, war ich verärgert.<br />

Mit Hitler lässt sich wohl Geld<br />

verdienen beziehungsweise die Auflage<br />

eines Magazins steigern. Anders kann<br />

ich es mir nicht erklären, dass Sie das<br />

Porträt eines der größten Verbrecher, die<br />

die Welt je sah, als Titelbild Ihres Magazins<br />

wählten, und auch innen springen<br />

einen alle paar Seiten Hitler‐Bilder und<br />

Hakenkreuze an. Erst kürzlich erhielt<br />

ich zudem die aufwendige Werbebroschüre<br />

einer renommierten Frankfurter<br />

Verlagsgruppe, in der sich ganzseitig<br />

ein gut aussehender hochadliger Herr<br />

zusammen mit einem geschönten<br />

Hitler‐Porträt ablichten ließ als Anreiz,<br />

sein kultur- oder rezeptionsgeschichtliches<br />

Werk über Adolf Hitler (mit einem<br />

Vorwort von Kardinal Meisner!) zu<br />

erwerben. Das alles berührt seltsam. Ich<br />

drücke mich nicht vor der Thematik,<br />

aber die Aufmachung Ihres Heftes hat<br />

mich einfach gestört. Wie intensiv ich<br />

mich mit den Beiträgen befassen will,<br />

werde ich sehen.<br />

Marianne Weinmann, Ludwigsburg<br />

reiSSerischer Titel<br />

Die Titelankündigung „Hitlers letzte<br />

Bombe“ wird dem Anspruch eines<br />

Magazins für politische Kultur in keiner<br />

Weise gerecht. Sie ist auf unangenehme<br />

Weise reißerisch.<br />

Wieland Becker, Berlin<br />

illustration: cornelia von seidlein<br />

14 <strong>Cicero</strong> 12.2012


EINE WEGBEREITERIN,<br />

DIE AUF ANDERE ZUGEHT.<br />

INTERKULTURELLE ZUSAMMENARBEIT FÖRDERN.<br />

Mehtap-Buesra Mut weiß aus eigener Erfahrung, dass das<br />

Leben und Arbeiten in einer fremden Kultur mit Herausforderungen<br />

verbunden ist. Als eine von über 45 freiwilligen<br />

Gesundheitsbotschaftern im BMW Werk in München, in dem<br />

Menschen aus mehr als 50 Nationen zusammenarbeiten,<br />

spricht Mehtap deshalb gezielt Kolleginnen und Kollegen<br />

aus anderen Kulturkreisen an. Denn ihr ist aufgefallen,<br />

dass gerade sie Angebote zur gesundheitlichen Vorsorge<br />

weniger nutzen. Das liegt zum Teil an unterschiedlichen<br />

kulturellen Mentalitäten, oder auch schlicht an Verständigungsproblemen.<br />

Der Erfolg gibt ihr recht: Seit Einführung<br />

der Gesundheitsbotschafter ist die Beteiligung an Aktionen<br />

des Gesundheitsmanagements und der BMW BKK um 20 %<br />

gestiegen. Mehr Gesundheit durch mehr Verständigung.<br />

Die BMW Group ist zum achten Mal in Folge<br />

nachhaltigster Automobilhersteller der Welt.<br />

Erfahren Sie mehr über den Branchenführer<br />

im Dow Jones Sustainability Index auf<br />

www.bmwgroup.com/whatsnext<br />

Jetzt Film ansehen.


C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />

zu den Kolumnen von Amelie<br />

Fried / September, Oktober und<br />

November 2012<br />

Absolut überflüssig<br />

Schon seit einigen Jahren bin ich treue<br />

Leserin Ihres Magazins, habe also auch<br />

den redaktionellen Wandel miterlebt.<br />

Grundsätzlich bin ich nach wie vor ganz<br />

angetan von diesem Monatsmagazin,<br />

finde auch die inzwischen gelungene<br />

Erweiterung des Literaturmagazins<br />

(als ehemalige Buchhändlerin) immer<br />

wieder überraschend und gut. Und es<br />

ist natürlich auch klar, dass nicht jedes<br />

Heft immer ein Volltreffer sein kann.<br />

Das hängt ja auch sehr von den persönlichen<br />

Interessen und Themen ab. Ein<br />

weiteres Lob gilt der dem Oktoberheft<br />

beigelegten CD. Das kann ruhig gern<br />

fortgesetzt werden. Allerdings gibt es<br />

auch etwas, das mir nicht sonderlich<br />

gefällt. Die Kolumnen von Amelie<br />

Fried finde ich in Ihrem Magazin – mit<br />

Verlaub – absolut überflüssig. Sie passen<br />

meines Erachtens nicht zum Anspruch<br />

des <strong>Cicero</strong> und kommen sehr plump<br />

daher. Sehr unangenehm empfand ich<br />

die Kolumne aus dem Septemberheft<br />

zu den Bibelworten. Frau Fried hat<br />

wohl völlig verkannt, was die biblischen<br />

Gebote (ich bin übrigens Atheistin)<br />

bedeuten und dass es durchaus angebracht<br />

wäre, sich dieser Gebote hin und<br />

wieder zu besinnen … Die Kolumne im<br />

Oktoberheft zum Thema Sex … Wer<br />

braucht denn so was? Die Leserschaft<br />

des <strong>Cicero</strong> doch wohl nicht.<br />

Daniela Rencker-Grau, Dresden<br />

zum beitrag „Krankenhaus im<br />

Ausverkauf“ von Petra Sorge /<br />

Oktober 2012<br />

Zeitgeist bedient<br />

Als Aufsichtsratsvorsitzender einer<br />

größeren privaten Klinikkette muss ich<br />

feststellen, dass Sie in Ihrem Artikel eher<br />

opportunistisch den Zeitgeist bedienen,<br />

wonach im Gesundheitswesen das Private<br />

stets von Übel ist, als sich objektiv<br />

mit den Effekten der Privatisierung<br />

auseinanderzusetzen. Wäre dies der Fall<br />

gewesen, dann hätten Sie zum Beispiel<br />

herausgefunden, dass<br />

• die Privatisierung die Abhängigkeit vieler<br />

Patienten von schlecht ausgestatteten<br />

und wenig effektiven kommunalen<br />

Monopolkrankenhäusern verringert hat,<br />

• die privaten Träger wesentliche Treiber<br />

der Innovation im Krankenhaus wesen<br />

sind,<br />

• der von den Privaten initiierte Wettbewerb<br />

die Wahlmöglichkeiten der Patienten<br />

zwischen verschiedenen medizinischen<br />

Konzepten erhöht hat,<br />

• dieser Wettbewerb in den letzten zehn<br />

Jahren zu einer Produktivitätssteigerung<br />

der Kliniken geführt hat,<br />

• private Krankenhausträger durch die<br />

Übernahme zahlreicher, von Schließung<br />

bedrohter, kommunaler Kliniken<br />

die wohnortnahe medizinische Versorgung<br />

im ländlichen Raum und Arbeitsplätze<br />

erhalten haben (unsere Gruppe<br />

allein in Baden-Wüttemberg in drei<br />

Fällen),<br />

• private Krankenhäuser als Erste ihre<br />

medizinischen Qualitätsdaten einschließlich<br />

der Mängel aus den Expertenkreisen<br />

heraus in die Öffentlichkeit<br />

verlagert haben, um damit die Qualitätsdiskussion<br />

zu „demokratisieren“,<br />

• der geschilderte sehr bedauerliche und<br />

tragische Einzelfall in Marburg kein<br />

Spezifikum privater Kliniken ist,<br />

• Helios und Rhön zwar große Träger<br />

sind und Herr Münch ein eigenwilliger<br />

Unternehmer, dass aber ihre Strategien,<br />

ihre Ansichten und Äußerungen nicht<br />

repräsentativ für die sehr pluralistische<br />

private Krankenhauslandschaft sind.<br />

Lassen Sie, auch gegenüber den Hunderttausenden<br />

von Beschäftigten der<br />

Privatkliniken, die sich die größte Mühe<br />

geben, eine optimale Versorgung zu<br />

bieten, Fairness walten.<br />

Prof. Klaus Hekking, Aufsichtsratsvorsitzender<br />

der SRH-Kliniken, Heidelberg<br />

Zu den Beiträgen über den<br />

US‐Präsidentschaftswahlkampf /<br />

Oktober 2012<br />

Beschämende Torheit<br />

Leider erkennt das Gros der US‐amerikanischen<br />

Bevölkerung nicht die<br />

Tatsache, dass sie seit Bestehen der USA<br />

in Barack Obama den bisher besten<br />

Präsidenten haben, der in seinem Amt<br />

schon viel Gutes und Wertvolles erreicht<br />

hat, insbesondere zum Nutzen des Volkes<br />

und des Weltfriedens und so weiter.<br />

Seine Feinde im eigenen Volk und Land<br />

sind in Bezug auf den Verstand und<br />

die Vernunft ebenso als unfähig zu<br />

bezeichnen, wie auch seine Feinde in<br />

der US‐Regierung, die mit allen Mitteln<br />

ihre <strong>Macht</strong> ausspielen und machtbesessen<br />

sind. Dem besten Mann, den die<br />

USA jemals an der Regierung hatten,<br />

werden Knüppel in den Weg geworfen,<br />

um all das wieder abzusägen, was<br />

er an Gutem erreicht hat. Dies, damit<br />

wieder unfähige Figuren ans Ruder<br />

kommen, wie diese in den USA immer<br />

wieder das Land missregiert haben<br />

und die Kriege vom Stapel ließen, was<br />

unzählige Menschenleben gekostet und<br />

ungeheure Zerstörungen hervorgerufen<br />

hat, auch an der Natur und am Klima.<br />

Die Armen und die hart Arbeitenden<br />

werden verhöhnt, wie zum Beispiel<br />

durch die Absicht, die erlangte Reform<br />

in Bezug auf die Krankenversicherung<br />

wieder rückgängig zu machen, und dies<br />

alles aus einer beschämenden Torheit,<br />

Unvernunft und Verantwortungslosigkeit<br />

heraus.<br />

Achim Wolf, Mannheim<br />

Verstörte Autorin<br />

Was Sie in diesem Artikel dem Leser<br />

zumuten, lässt weniger auf eine verstörte<br />

USA schließen als auf eine verstörte<br />

Autorin. Frau Meckel bewegt sich wohl<br />

nur im Ostküstenmainstream. Schon<br />

die Bildauswahl lässt vermuten, dass<br />

hier antiamerikanische Propaganda das<br />

Ziel dieses Artikels war. Was ist nur aus<br />

<strong>Cicero</strong> geworden? Ein weiteres politisch<br />

korrektes Mainstreamblatt.<br />

Detlef Orth, Köln<br />

illustrationen: cornelia von seidlein<br />

16 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Energiewende. Wir fördern das.<br />

Fokussierung auf erneuerbare Energien, Klimawandel, Ressourcenschonung und Risikominimierung – es gibt viele Motive für die Energiewende.<br />

Die KfW hat den Umwelt- und Klimaschutz im ersten Halbjahr 2012 bereits mit mehr als 12 Mrd. EUR gefördert und somit<br />

vielen Einzelnen ermöglicht, einen Beitrag zur Energiewende zu leisten. Ganz gleich, ob Sie die Steigerung der Energieeffizienz Ihres Hauses<br />

anstreben oder Ihr Beitrag im Bau einer Offshore-Anlage besteht: Wir fördern das.<br />

Mehr Informationen erhalten Sie unter www.kfw.de<br />

Bank aus Verantwortung


C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />

zum beitrag „Was der<br />

Bundespräsident jetzt tun<br />

sollte“ von Gesine Schwan /<br />

September 2012<br />

ABSURDE AUSSAGEN<br />

Erst seit kurzer Zeit habe ich von der<br />

Existenz Ihres Blattes erfahren und<br />

seitdem hocherfreut stets die Veröffentlichungen<br />

… zur Kenntnis genommen.<br />

Natürlich wissen Sie auch, dass es zu<br />

einer Vielzahl Ihrer Beiträge Ansätze zu<br />

einem regen Meinungsstreit gäbe, die<br />

weit über die kurzen Leserbriefe hinausgehen.<br />

Deshalb auch hier nur ein Wort<br />

zu einigen absurden Aussagen Gesine<br />

Schwans mit ihrem Paket an geballten<br />

Ladungen an Aufträgen für den Bundespräsidenten.<br />

Wenn die linksgerichtete<br />

Dame erklärt, dass „mit den Schulden<br />

der Nachbarn deutsche Exporte bezahlt<br />

wurden“, also meint, dass zum Beispiel<br />

Spaniens Niedergang seines Staatshaushalts<br />

und seine Bankenkrise der deutschen<br />

Wirtschaft anzulasten sind, und<br />

dazu … vom Bundespräsidenten fordert,<br />

dieser „könnte überdies auch die Positionen<br />

unserer europäischen Nachbarn fair<br />

erläutern“, so braucht sie nur allein die<br />

Aussagen Ludwig Poullains im gleichen<br />

Heft zur Kenntnis zu nehmen, um aus<br />

dessen Hinweisen auf die politischen<br />

Versäumnisse bei der Einführung des<br />

Euro ihre Schlüsse zu ziehen.<br />

Dr. Josef Kretschmer, Weimar<br />

zu den Kommentaren von<br />

Frank A. Meyer über die SPD<br />

(„Renaissance von Recht und<br />

Ordnung“) und über die banker<br />

(„Zwei deutsche Sittenbilder“) /<br />

Juli und September 2012<br />

schöner traum<br />

Ach, das könnte schön sein … Die SPD<br />

stellte ihre Werte vom Reparaturkopf auf<br />

Visionsfüße, wäre, statt Steigbügelhalter<br />

des Kapitals, Vorreiter für die Erneuerung<br />

des wohlverstandenen „Bürgerlichen“,<br />

nicht zuletzt im Interesse unseres<br />

wichtigsten Kulturguts, unserer Rechtsordnung.<br />

Einst von – darf man das so<br />

noch sagen? – Deutschen für Deutsche<br />

auf deutschem Staatsgebiet gedacht und<br />

gemacht. Unser Präsident träfe auf Mutbürger<br />

in der SPD. Welch ein schöner<br />

Traum … Ihr Beitrag war große Klasse!<br />

Jürgen Kessler, Mainz<br />

Verwalter unserer gier<br />

Vielen Dank für dieses klare Bild, das<br />

Sie hier zeichnen, Herr Meyer. Ich<br />

denke, dass es in der Gegenwart nichts<br />

Wichtigeres gibt, als sich genau diesen<br />

Zusammenhang zu vergegenwärtigen,<br />

den Sie herstellen. Vielleicht kommen<br />

aber auch die Geldmächtigen deshalb so<br />

gut davon, weil sie die Verwalter unserer<br />

kumulierten Gier sind.<br />

Cedric Rossdeutscher, Landshut<br />

zur Kolumne „Prechts Prolog“<br />

von Richard David Precht /<br />

September 2012<br />

Nicht unter Kontrolle<br />

Gern mögen Sie Herrn Precht einen<br />

schönen Gruß von mir bestellen.<br />

Im Artikel in <strong>Cicero</strong> Heft 9 hatte er<br />

augenscheinlich seine Meinungsfreude<br />

nicht unter Kontrolle. Nirgendwo<br />

auf der Welt geht ein junger Mensch<br />

„100 000 Stunden“ zur Schule. Vielleicht<br />

wollen Sie das dem äußerst meinungsfreudigen<br />

Herrn Precht mitteilen … Ich<br />

fand Prechts Auslassungen deutlich<br />

unter dem ansonsten noblen Niveau<br />

Ihres Magazins. Nehmen Sie mein Lob<br />

bitte auch zur Kenntnis, selbst wenn ich<br />

mich als langjähriger innerlich dankbarer<br />

Leser erst bei Ihnen gemeldet habe,<br />

als auch Ihr Magazin Precht ein Forum<br />

angeboten hat, obwohl er nicht einmal<br />

die Basisdaten seines Objekts kennt.<br />

Michael Marx, Garbsen<br />

Mathe geschwänzt<br />

Der Philosoph Precht ist mir natürlich<br />

kein Unbekannter, aber offensichtlich<br />

hat er den „Rechenunterricht“<br />

geschwänzt; denn 100 000 Stunden geht<br />

wohl ein Kind in zwölf Jahren nicht zur<br />

Schule. Selbst bei einer Wochenstundenzahl<br />

von 50 ergibt das nicht einmal<br />

(50 x 40 x 12 = 24 000) ein Viertel von<br />

100 000.<br />

Als autodidaktischer Philosoph,<br />

in jungen Jahren von Schopenhauer<br />

„geschult“, bin ich der Überzeugung,<br />

dass Philosophen wohl das Vernünftige<br />

lehren, aber die Mehrzahl von uns Menschen<br />

sich nicht daran hält. Was Lehrer<br />

anbelangt, sollte man sich an Fritz Klatt<br />

„Die schöpferische Pause“ halten, wo es<br />

heißt, dass ein Lehrer zwischen Popanz<br />

und Tyrann schwankt. Die Schule<br />

bedarf eines Faches „Kritisches Denken“,<br />

damit die jungen Menschen sich nicht<br />

von „Abzockern“ aller Couleurs „ausnehmen“<br />

lassen.<br />

Ihre Zeitschrift spricht trotz der<br />

Anzeigenfriedhöfe für Qualität, führt<br />

aber ein Schattendasein im Vergleich<br />

zu der Auflagenhöhe der Illustrierten.<br />

Spricht das nicht eine überzeugende<br />

Sprache?<br />

Otto Dietze, Bad Sulza<br />

Mainstreamgeplauder<br />

Was habe ich mich auf das neue Heft<br />

gefreut – beim Durchblättern genau<br />

bis Seite 122 (Precht fordert Bildungsrevolution!!!)<br />

Welch große Worte aus<br />

dem Mund eines „Mainstreamphilosophen“,<br />

der zwar über alles plaudert,<br />

aber auf nichts eine Antwort findet.<br />

Also geben Sie ihm doch einfach nicht<br />

mehr die Plattform in Ihrem Magazin.<br />

Sendeplätze, die dieses Niveau „einfordern“,<br />

finden sich in Hülle und Fülle in<br />

den Nachmittagsprogrammen einiger<br />

Privatsender!<br />

Uta Hopperdietzel, Lörrach<br />

(Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.)<br />

illustrationen: cornelia von seidlein<br />

18 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Du hast es in der Hand.<br />

Tetra Pak Getränkekartons liefern gute Gründe, warum sie zu den ökologisch<br />

vorteilhaften Verpackungen zählen: Schon bei den Rohstoffen setzen Tetra Pak<br />

Getränkekartons auf Nachhaltigkeit, denn sie bestehen überwiegend aus dem<br />

nachwachsenden Rohstoff Holz aus verantwortungsvoll bewirtschafteten Wäldern.<br />

Für die Herstellung der Tetra Pak Getränkekartons wird in Deutschland Öko strom<br />

genutzt und ihre platzsparende Form ermög licht effiziente Transporte. Werden<br />

Tetra Pak Getränke kartons nach dem Gebrauch in gelben Tonnen oder Säcken<br />

gesammelt, sind sie im nächsten Schritt vielseitig wiederverwertbar: als Rohstoff<br />

und Energieträger für weitere Industrien. Dies sind nur einige Vorteile, die für<br />

Tetra Pak Getränkekartons sprechen. Und für unsere Umwelt.<br />

tetrapak.de


T i t e l<br />

„Schweigen<br />

ist was<br />

Schönes“<br />

Berlin lärmt, er arbeitet leise. Seine<br />

Beamten testet Thomas de MaiziÈre<br />

sogar heimlich auf Diskretion.<br />

Georg Löwisch und Christoph<br />

Schwennicke sprachen mit dem<br />

Verteidigungsminister über<br />

schnatternde Kinder und Pausen<br />

in der Musik, über sein Scheitern<br />

als Pressesprecher und Merkels<br />

Vertrauen, über Geräuschlosigkeit<br />

als Arbeitsprinzip – und über<br />

die Kunst, nichts zu sagen<br />

20 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Thomas de Maizière zählt<br />

zu Merkels wichtigsten<br />

Vertrauten. Auch, weil<br />

er schweigen kann.<br />

Sie lernte ihn 1989<br />

über seinen Ostcousin<br />

Lothar kennen. 2005<br />

machte sie ihn zu<br />

ihrem Kanzleramtschef,<br />

2009 zum Innenund<br />

2011 zum<br />

Verteidigungsminister<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 21


T i t e l<br />

Sitz des Verteidigungsministeriums in Berlin:<br />

Stauffenbergstraße, der Bendlerblock, dicke<br />

Wände, auf den Fluren ist es ruhig. Vor Thomas<br />

de Maizières Büro hängen Porträts seiner<br />

Vorgänger, Theodor Blank, Franz Josef Strauß,<br />

Helmut Schmidt. Der rustikale Struck und<br />

der glitzernde Guttenberg. De Maizière erscheint<br />

in der Tür, er führt in sein Ministerbüro,<br />

am Konferenztisch nimmt noch ein Kapitän<br />

zur See aus dem Pressestab Platz, der<br />

das Interview schweigend beobachtet.<br />

H<br />

err de Maizière, wo haben Sie<br />

das Schweigen gelernt?<br />

Unter anderem bei Kindergeburtstagen.<br />

Es gab Topfschlagen und später<br />

Schnitzeljagden, aber was wir auch<br />

gerne gespielt haben, war: Schweigenkönnen.<br />

Da sitzen schnatternde Kinder<br />

in einer Runde, und wer am längsten den<br />

Schnabel halten kann, bekommt einen<br />

kleinen Preis.<br />

Was war der Rekord?<br />

Das ging dann so 15 Sekunden, bis einer<br />

was gesagt oder losgelacht hat. Wir waren<br />

Kinder …<br />

erst daraus zu entwickeln. Eine wunderbare<br />

Schule.<br />

Warum fällt Schweigen Politikern so<br />

schwer?<br />

Geschwätzigkeit wird auf den ersten<br />

Blick prämiert. Sich Sachkenntnis anzueignen,<br />

ist dagegen mühsam. Das sorgfältig<br />

vorgetragene Argument oder die<br />

kluge Beschreibung eines Sachverhalts,<br />

das ist etwas für einen kleinen Zuhörerkreis.<br />

Aber der Mechanismus zwischen<br />

Medien und Politik belohnt das flotte<br />

Wort. Herr Steinbrück ist so ein Meister<br />

des flotten Wortes, unabhängig davon,<br />

dass gerade er durchaus auch was von der<br />

Sache versteht.<br />

Er pflegt eben keine Bürokratensprache.<br />

Na ja, neulich ist ihm auch mal was<br />

schiefgegangen, als er gesagt hat, dass<br />

ihm der Vorwurf mit den Nebeneinkünften<br />

wie ein Stein an den Kopf fliegen<br />

sollte, und aus dem Stein werde dann<br />

ein Bumerang, der zurückfliegt. Wenn<br />

er ein bisschen überlegt hätte, wäre das<br />

Gutes sagen kann. Ehrlich gesagt wundert<br />

es mich, dass manchen in Berlin jeden<br />

Tag was Neues einfällt. Viele konzentrieren<br />

sich darauf: Wie kann ich<br />

jetzt eine Bemerkung machen, die Aufmerksamkeit<br />

erzielt? Wie produziere ich<br />

einen Aufreger?<br />

Und da ist Schweigen auch ein Auftritt?<br />

Wenn so viel an Informationen und Meinungen<br />

in die Welt gesetzt wird, dass<br />

es kein Mensch mehr aufnehmen kann,<br />

dann ist die Nichtbeteiligung an der Geschwätzigkeit<br />

Ausdruck von Stärke. Für<br />

viele Menschen ist die Welt heute so, dass<br />

es mehr Fragen als Antworten gibt. Da<br />

ist das Bedürfnis, jeden Tag einen neuen<br />

Vorschlag zu hören, schwach ausgeprägt.<br />

Zumal ja spürbar ist, dass die allermeisten<br />

dieser Vorschläge nie Wirklichkeit<br />

werden.<br />

Ist es Ihre Strategie, sich nicht in zu viele<br />

Themen öffentlich einzumischen, weil<br />

Sie dann nicht dafür haftbar gemacht<br />

werden?<br />

Foto: Laurence Chaperon [M] (Seiten 20 bis 21)<br />

Hat Ihr Vater, der General Ulrich de<br />

Maizière, Sie und Ihre Geschwister am<br />

Mittagstisch schweigen lassen?<br />

Im Gegenteil. Wir haben unentwegt diskutiert.<br />

Aber bei uns zu Hause waren<br />

Argumente gefragt, und die kann man<br />

nur anbringen, wenn man vorher zugehört<br />

hat. Zum Zuhören gehört das aktive<br />

Schweigen. Man darf nicht unterbrechen.<br />

Es geht auch nicht einfach nur darum abzuwarten,<br />

bis der andere fertig ist, und<br />

dann quasselt man, was man schon die<br />

ganze Zeit im Kopf hatte, ohne sich mit<br />

den Gedanken des Gegenübers befasst zu<br />

haben.<br />

Kann man das trainieren?<br />

Ja. Wir haben im Studium Nacherzählen<br />

geübt, das war in der Begabtenförderung<br />

der Konrad-Adenauer-Stiftung. Keine Inhaltsangabe,<br />

sondern eine richtige Nacherzählung<br />

von kurzen Stücken. Das ist<br />

ganz schön schwer. Wer etwas nacherzählen<br />

will, muss vorher zuhören können.<br />

Der muss schweigen können. Sie müssen<br />

sich voll auf den Vorleser und seinen<br />

Text konzentrieren. Eine andere Übung<br />

war, zunächst das gegnerische Argument<br />

zu wiederholen und das eigene Argument<br />

„1989 war ich Pressesprecher.<br />

Furchtbar war das. Niemand wollte<br />

ein Stück Brot von uns. Da hätten<br />

wir gleich schweigen können“<br />

mit dem Bumerang ohne den Stein vielleicht<br />

ein schönes, stimmiges Bild geworden.<br />

Denn eigentlich ist Steinbrück<br />

bildermächtig.<br />

Nach Ihrem Studium sind Sie 1983 als<br />

Beamter in die Berliner Landesregierung<br />

von Richard von Weizsäcker eingestiegen,<br />

einem Mann des Wortes. Was haben Sie<br />

damals übers Schweigen gelernt?<br />

Von seinem Regierungssprecher und<br />

auch später in der Regierung von Kurt<br />

Biedenkopf in Sachsen wurde mir Verknappung<br />

beigebracht. „Willst du etwas<br />

gelten, mach dich selten.“ Ich bin vermutlich<br />

der Spitzenpolitiker, der quantitativ<br />

gesehen am wenigsten Pressearbeit<br />

macht – aus diesem Grund. Natürlich<br />

auch, weil ich nicht jeden Tag etwas<br />

Man kann nicht wegtauchen, wenn es einen<br />

Skandal gibt, das wäre feige. Und<br />

ich höre, den Eindruck mache ich auch<br />

nicht. Ich rede aber selten zu Dingen außerhalb<br />

meiner Zuständigkeit. Es ist interessant,<br />

dass wir da im Deutschen zwei<br />

Begriffe haben: „zuständig“ und „kompetent“.<br />

Im Englischen bedeutet „kompetent“<br />

sowohl, dass man zuständig ist, als<br />

auch, dass man etwas zu sagen hat.<br />

Vergangenes Jahr haben Sie sich auf dem<br />

CDU-Bundesparteitag in Leipzig zu Wort<br />

gemeldet und definiert, was konservativ<br />

ist. Zu Ihrer Definition gehört auch, dass<br />

ein Konservativer nicht herumtrompetet.<br />

Darüber referieren Sie mittlerweile auch<br />

anderswo vor CDU-Mitgliedern.<br />

Ja.<br />

22 <strong>Cicero</strong> 12.2012


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Lernen Sie in der Beziehung gerade das<br />

Sprechen?<br />

Nein. Ich habe mich immer mal über<br />

meinen Bereich hinaus geäußert, wenn es<br />

nicht zu sehr in andere Kompetenzbereiche<br />

eingreift. Ich äußere mich zum Beispiel<br />

zu Religion, zum Staatsverständnis.<br />

In letzter Zeit ist es ein bisschen mehr geworden,<br />

das stimmt.<br />

<strong>Macht</strong> Regierung schweigsam und Opposition<br />

geschwätzig, weil man sich erst an<br />

die <strong>Macht</strong> reden muss?<br />

Ja, das trifft wahrscheinlich zu. Die Opposition<br />

muss in höherem Maße um<br />

Aufmerksamkeit werben. Vor allem in<br />

der ersten Zeit einer Legislaturperiode,<br />

wenn sie überwiegend destruktiv arbeitet.<br />

Aber in der Endphase wird eine Opposition<br />

nicht gewählt, weil sie gut kritisiert,<br />

sondern weil sie den Eindruck<br />

erweckt, dass sie die bessere Regierung<br />

sein könnte.<br />

Sie waren eigentlich nie Opposition. Ihr<br />

ganzes Berufsleben saßen Sie in der<br />

Regierung: Beamter, Staatssekretär, Landesminister,<br />

Bundesminister. Nur einmal,<br />

1989 wurde die Diepgen-Regierung in<br />

Berlin abgewählt – und Sie waren auf<br />

einmal Pressesprecher der CDU.<br />

Furchtbar war das. Keiner wollte ein<br />

Stück Brot vom Pressesprecher einer abgewählten<br />

Partei. Wir haben einmal ein,<br />

wie wir fanden, gigantisches neues Verkehrskonzept<br />

für Westberlin erarbeitet<br />

und präsentiert. Niemanden hat das auch<br />

nur im Entferntesten interessiert. Da hätten<br />

wir gleich schweigen können.<br />

Imponieren Ihnen Oppositionspolitiker, die<br />

sich Gehör verschaffen können?<br />

Ich finde es gut, wenn einer alleine dadurch,<br />

weil er etwas sagt oder wie er etwas<br />

sagt, Einfluss gewinnt. Der Aufstieg<br />

der FDP hatte sicher auch mit den rednerischen<br />

Begabungen von Guido Westerwelle<br />

zu tun. Und Renate Künast als<br />

Landwirtschaftsministerin hat die Grünen<br />

belebt.<br />

Moment, Renate Künast regierte doch<br />

damals.<br />

Sie war in der Opposition zu der herrschenden<br />

Gruppe ihres Politikfelds, der<br />

Landwirtschaft. Da musste sie wortmächtig<br />

sein.<br />

Schweigen bedeutet nicht nur, nicht alles<br />

zu sagen, was einem einfällt, sondern<br />

auch vertrauliche Informationen bei sich<br />

zu behalten. Nicht so leicht in Berlin, oder?<br />

Kurz nachdem ich 2005 Chef des Bundeskanzleramts<br />

geworden bin, habe ich<br />

bei einem Hintergrundgespräch mit<br />

Journalisten einen Unionskollegen kritisiert.<br />

Kurz nach dem Termin kam der<br />

Kollege und hat mir mitgeteilt, dass ich<br />

im Hintergrund schlecht über ihn geredet<br />

habe. Das war mir eine Lehre. Eigentlich<br />

ist bei solchen Gesprächen ja<br />

die Geschäftsgrundlage, dass Journalisten<br />

nicht darüber schreiben und erst recht<br />

nicht tratschen.<br />

„Vertrauen und<br />

Loyalität sind<br />

Führungsprinzipien<br />

der<br />

Kanzlerin. Ich<br />

versuche es auch<br />

so zu machen“<br />

Politiker tratschen ja wohl mindestens<br />

genauso gern wie Journalisten.<br />

Könnte so sein. Aber in der Politik muss<br />

es Gremien geben, in denen man vertraulich<br />

miteinander redet. Die Unbefangenheit<br />

im Gespräch, auch Fragen zu stellen<br />

und eine Schwäche zuzugeben, eine Position<br />

zu räumen, wird durch das Durchstechen<br />

von Gesprächen aus vertraulichen<br />

Runden erschwert. Ich habe oft<br />

erlebt, dass ein Partei- oder Fraktionsvorsitzender<br />

gesagt hat, es kann sein, dass<br />

dieser Kompromiss vernünftig wäre, ich<br />

kriege ihn in meinem Laden aber nicht<br />

durch. Ein solcher Satz ist eine ziemliche<br />

Offenbarung für einen Parteivorsitzenden,<br />

aber es muss möglich sein, ihn in einer<br />

vertrauten Runde vorzutragen, weil<br />

man dann leichter einen Kompromiss<br />

findet, mit dem er leben kann.<br />

Hat Ihr Schweigekonzept nicht undemokratische<br />

Züge? Es ist doch gut, wenn die<br />

Bürger den Gang der Dinge erfahren, bevor<br />

alles verpackt und verschnürt ist.<br />

Natürlich muss man Ergebnisse begründen<br />

und rechtfertigen, man muss auch<br />

den sachlichen Entscheidungsgang darlegen.<br />

Aber ein Ergebnis muss auch mal<br />

vertraulich zustande kommen können.<br />

Da spricht ein Regierender. Machiavelli rät:<br />

„Man darf nie seine Absicht zeigen.“<br />

Demokratie und Vertraulichkeit sind<br />

kein Gegensatz. Ich werbe nur dafür,<br />

dass es auch in Berlin Vertraulichkeit<br />

gibt, weil sie die Qualität eines Gesprächs<br />

entscheidend erhöhen kann.<br />

Im Familienkreis wird man sich das<br />

schwarze Schaf auch erst einmal vertraulich<br />

zur Brust nehmen. Ein guter<br />

Lehrer wird einen besonders schlechten<br />

Schüler nicht vor der ganzen Klasse<br />

abmeiern. Schon die Tatsache, dass ein<br />

solches Gespräch stattfindet, sollte vertraulich<br />

sein.<br />

Wer sind denn die Top 3 in der deutschen<br />

Politik, die über das Richtige reden und<br />

über das Vertrauliche schweigen?<br />

Och, da verweigere ich mal die Antwort,<br />

was die Top 3 sind. Aber sicher gehört<br />

der Bundesfinanzminister dazu, sicher<br />

gehört die Bundeskanzlerin dazu.<br />

… na, da sind Sie ja schon drei.<br />

Über mich rede ich jetzt nicht in dem<br />

Zusammenhang. Auch Herr Steinmeier<br />

zählt dazu. Und, das sage ich zum ersten<br />

Mal öffentlich: Ich habe als Chef des<br />

Bundeskanzleramts in Krisenfällen wie<br />

Geiselnahmen Wert darauf gelegt, auch<br />

die Opposition zu unterrichten, und<br />

das waren damals im Besonderen Guido<br />

Westerwelle und Renate Künast. Beide,<br />

die ja auch ein freches Wort führen können,<br />

haben mich nie enttäuscht, da ist<br />

kein einziges Mal eine vertrauliche Information<br />

missbraucht worden. Das rechne<br />

ich beiden hoch an, und das ist die Basis<br />

für eine gute Zusammenarbeit, die heute<br />

noch trägt.<br />

Ist der Grund für die Vertrautheit zwischen<br />

Ihnen und der Kanzlerin, dass die<br />

Vertraulichkeit garantiert ist?<br />

Eine wichtige Bedingung unseres vertrauensvollen<br />

Zusammenarbeitens, ja.<br />

Dass sie von Anfang an wusste: Der<br />

schwätzt nicht rum.<br />

Und umgekehrt.<br />

24 <strong>Cicero</strong> 12.2012


T i t e l<br />

Merkel steht ja im Ruf, dass sie Tag und<br />

Nacht kommuniziert. Wie schafft sie<br />

es, dass davon relativ wenig nach außen<br />

dringt? Sind die Strafen so hoch?<br />

Nein. Aber Vertrauen, genau wie Loyalität,<br />

ist ein wichtiges Führungsprinzip der<br />

Kanzlerin. Ich versuche das auch so zu<br />

machen. Das beste Mittel dazu ist eine<br />

kluge Personalauswahl.<br />

Stellen Sie Leute auf die Probe, ob die<br />

gute Schweiger sind?<br />

Ja.<br />

Wie?<br />

Ich sage dem Betreffenden: Ich erwäge,<br />

Sie hier in die und die Position zu bringen.<br />

Dann vollziehe ich diese Entscheidung<br />

erst mal nicht, sondern schaue, was<br />

passiert und wie schnell das herumerzählt<br />

wird. Wenn der Betroffene in dieser Situation<br />

schweigen kann, hat er die Probe<br />

bestanden.<br />

Bevor Sie Innen- und dann Verteidigungsminister<br />

wurden, haben Sie als Chef des<br />

Kanzleramts eine stille Regierungsarbeit<br />

ohne Fingerabdrücke propagiert.<br />

Die Frage ist, wessen Fingerabdruck<br />

sichtbar wird. Ein Bundeskanzleramt hat<br />

so zu arbeiten, dass es keinen großen öffentlichen<br />

Fingerabdruck hinterlässt. Ich<br />

habe ganz wenige öffentliche Stellungnahmen<br />

abgegeben als Chef des Bundeskanzleramts,<br />

und das gilt für den jetzigen<br />

Chef des Bundeskanzleramts ganz genauso<br />

wie für alle vorherigen.<br />

Sie meinen jetzt nicht zufällig die Äußerungen<br />

Ihres Nachfolgers Ronald Pofalla,<br />

der zu seinem Parteifreund Wolfgang Bosbach<br />

gesagt hat, er könne dessen Fresse<br />

nicht mehr sehen?<br />

Das war ja keine Pressearbeit des Bundeskanzleramts.<br />

Im Übrigen hat sich Ronald<br />

Pofalla dazu geäußert, und die Sache ist<br />

erledigt.<br />

Woran liegt es, dass diese Bundesregierung<br />

dauernd so viel Getöse veranstaltet?<br />

Es ist nicht eine Frage der inhaltlichen<br />

Differenzen, sondern eine Frage des zu<br />

weit ausgeprägten Individualismus vieler<br />

Beteiligter. Es muss nicht jede Initiative<br />

von Einzelnen aus Fraktionen gleich<br />

öffentlich werden, bevor man sich abspricht,<br />

ob das Aussicht auf Erfolg hat.<br />

Es muss auch nicht jeder seine Meinung<br />

vortragen und die als die Meinung eines<br />

Koalitionspartners ausgeben. Diese Formen<br />

von Individualismus gibt es bei allen<br />

Koalitionspartnern zu viel. Da hätte<br />

Schweigen einen Mehrwert.<br />

Das müssen Sie uns näher erklären.<br />

Nein. Das war’s jetzt zu dem Thema.<br />

Warum?<br />

Ja, weil es schlecht ist, wenn man sich<br />

über die Vielstimmigkeit der Koalition<br />

beklagt, indem man sich über die Koalition<br />

beklagt.<br />

„Mit meiner<br />

Frau habe ich<br />

mal ein ganzes<br />

Wochenende<br />

geschwiegen“<br />

Sie charakterisieren die Berliner Republik<br />

als geschwätzig. Wie hat sich Bonn<br />

angehört?<br />

Bonn war dröhnender. Die persönliche<br />

Verunglimpfung hatte damals mehr Erfolg<br />

als heute. Das gefällt mir sehr an<br />

Berlin. Franz Josef Strauß hätte es heute<br />

schwerer und Herbert Wehner auch.<br />

Über welche Äußerung sagen Sie heute:<br />

Wenn ich bloß geschwiegen hätte?<br />

2004 ist mir Derartiges widerfahren. Ich<br />

war erst seit kurzem Innenminister in<br />

Sachsen. Da hat ein Einsatzkommando<br />

eine Wohnung in Dresden gestürmt, und<br />

dabei sind zwei Hunde erschossen worden.<br />

Auch im Nachhinein glaube ich,<br />

dass die Aktion richtig war.<br />

Ein einziges Desaster. In der Wohnung<br />

wohnten ein Polizist und seine Frau, die<br />

im Innenministerium beschäftigt war. Sie<br />

wurden wie Verbrecher behandelt. Das<br />

Einsatzkommando suchte aber eigentlich<br />

einen Rotlichtkönig, den Bruder der Frau,<br />

der oben drüber wohnte.<br />

Die Aktion war gerechtfertigt. Aber ich<br />

habe damals gesagt: „Sage mir, mit wem<br />

du umgehst, und ich sage dir, wer du<br />

bist.“ Das ist mir übel genommen worden<br />

nach dem Motto: Ja, wie? Werde ich<br />

jetzt für meinen Nachbarn in Haftung<br />

genommen? Das war falsch. Da hätte ich<br />

besser den Mund gehalten.<br />

Worüber wird denn zu wenig gesprochen?<br />

Ich versuche landauf, landab eine Debatte<br />

über Deutschlands sicherheitspolitische<br />

Rolle in der Welt zu führen: Wo ist<br />

unser Interesse in der Welt? Was haben<br />

deutsche Soldaten irgendwo in der Welt<br />

zu suchen? Eigentlich eine verständliche<br />

Frage. Sie abschlägig zu beantworten,<br />

hieße im Grunde, die Uno abzuschaffen.<br />

Die ist ja darauf angewiesen, dass Staaten<br />

Soldaten zur Verfügung stellen und<br />

vielleicht gerade aus dem Motiv, dass sie<br />

keine unmittelbaren Interessen haben,<br />

sondern das aus internationaler Verantwortung<br />

tun. Das hat auch mit Abgabe<br />

von Souveränität zu tun. Wir können das<br />

nicht von kleinen Ländern verlangen und<br />

für uns ablehnen.<br />

Wie ist Ihre Position?<br />

Selbst in Fragen, wo es um Krieg und<br />

Frieden geht, ist Souveränitätsverzicht<br />

nichts Ungewöhnliches. Es ist exakt im<br />

Grundgesetz geregelt, im Artikel 24. Ich<br />

sage es Ihnen gleich.<br />

De Maizière steht vom Tisch auf, geht zu seinem<br />

Bücherregal und holt einen schweren juristischen<br />

Kommentar heraus, kehrt an den<br />

Tisch zurück, während er schon blättert.<br />

24/2. So, der Bund: „Der Bund kann<br />

sich zur Wahrung des Friedens einem<br />

System gegenseitiger kollektiver Sicherheit<br />

einordnen; er wird hierbei in die Beschränkung<br />

seiner Hoheitsrechte einwilligen“<br />

– das steht sonst nirgendwo –, „die<br />

eine friedliche und dauerhafte Ordnung<br />

in Europa und zwischen den Völkern<br />

der Welt herbeiführen und sichern.“ Für<br />

die Soldaten, für die militärische Führung<br />

und den Verteidigungsminister ist<br />

es als Teil der Friedenssicherung in der<br />

Welt schon etwas ganz Normales, dass<br />

die nationalen Souveränitätsrechte eingeschränkt<br />

sind. Die deutschen Soldaten in<br />

Afghanistan unterstehen mir operativ gesehen<br />

nicht, obwohl ich der Inhaber der<br />

Befehls- und Kommandogewalt bin. Sie<br />

unterstehen dem Kommandeur von Isaf.<br />

Das ist eine ziemliche Einschränkung<br />

von Souveränität. Diesen Gedanken<br />

26 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Anzeige<br />

müssen wir auch für andere Politikfelder<br />

in Europa zulassen – sogar im Budgetrecht.<br />

Wenn der Verteidigungsminister<br />

und der Bundestag aus guten Gründen<br />

ihre Rechte mit Verbündeten teilen, dann<br />

können der Finanzminister und das Parlament<br />

das auch tun. Was in Fragen von<br />

Krieg und Frieden möglich ist, sollte<br />

doch beim Geld auch gehen.<br />

Ziemlich ausführlich in einem Interview<br />

übers Schweigen!<br />

Es ist eben nötig. Notfalls können Sie<br />

ja ein bisschen kürzen. Ich finde es aber<br />

einfach schade, dass in dieser Frage nicht<br />

genug geredet wird.<br />

Bei der Eurorettung sagt Merkel zu heiklen<br />

Punkten so wenig, dass der Bundespräsident<br />

mehr Erklärung von ihr gefordert hat.<br />

Natürlich ist es die Aufgabe politischer<br />

Führung, Debatten anzustoßen: die Ostpolitik,<br />

die Nachrüstungsdebatte, die<br />

Einführung des Euro. Die Kanzlerin<br />

sucht die Debatte über Europa. Aber es<br />

bleibt dennoch seltsam leise.<br />

Thomas de Maizière, der Mann der Exekutive,<br />

muss eben einsehen, dass sich die<br />

Debatte nicht oktroyieren lässt.<br />

Wenn es einmal nicht gelingt, eine Debatte<br />

anzuregen, dann ist es eben so. Man<br />

kann das nicht verordnen, da haben Sie<br />

völlig recht.<br />

Kann man Schweigen genießen?<br />

Ja, es wäre unehrlich, wenn ich jetzt Nein<br />

sagen würde. Zum Beispiel: Als die Fusion<br />

zwischen den Rüstungsunternehmen<br />

EADS und BAE schon gescheitert<br />

war, wurden den ganzen Tag Erfolgsmeldungen<br />

verbreitet, wie gut die Gespräche<br />

vorankämen.<br />

Da haben Sie lustvoll geschwiegen.<br />

Da habe ich schweigend gestaunt und<br />

abends den Kopf geschüttelt über das,<br />

was tagsüber erzählt worden ist.<br />

Wir wollten etwas probieren, aber es ist<br />

jetzt eigentlich ein ungünstiger Moment.<br />

Weil die Zeit fast um ist, weil Sie den<br />

nächsten Termin haben und wir noch<br />

viele Fragen. Trotzdem: Zum Thema<br />

passt ein Musikstück von John Cage, es<br />

heißt: 4’33’’ – Four minutes, thirty-three<br />

seconds. Kennen Sie das?<br />

Können wir machen, wir können es<br />

schnell auflegen, haben Sie es da?<br />

Nein, es ist eben ein Werk der <strong>Stille</strong>.<br />

Und da passiert nichts?<br />

Die Musiker lassen ihre Instrumente<br />

schweigen, ja. Wir würden mit Ihnen<br />

zumindest gern den ersten Satz …<br />

… ich wollte Ihnen aber, bevor wir das<br />

vielleicht machen, sagen, dass in der Musik,<br />

und ich liebe Musik, die Pausen nicht<br />

das Schönste sind, aber sehr wichtig. Bei<br />

Bach kann man das sehen, aber auch anderswo<br />

– eine Pause kann etwas sehr Lautes<br />

und Markantes in der Musik sein. Sie<br />

gestaltet jedes Stück. Und ohne Pausen<br />

wäre große Musik schrecklich, ich meine<br />

nicht die Pause zwischen dem ersten und<br />

dem zweiten Satz, sondern im Stück.<br />

Sie baut das Thema auf, die Dramatik.<br />

Nach meiner Erinnerung waren Helmut<br />

Schmidt und Willy Brandt Künstler der<br />

Pausen. Bevor der wichtige Satz kam, haben<br />

sie lange Pausen gemacht. Die Politik<br />

kann von der Musik lernen.<br />

4’33’’ – wir fragen uns, ob ein Politiker<br />

zumindest den ersten Satz aushält.<br />

De Maizière nickt.<br />

Als 4’33’’ 1952 uraufgeführt wurde, dauerte<br />

der erste Satz 33 Sekunden.<br />

De Maizière lehnt sich im Stuhl zurück. Wir<br />

lassen eine Handy-Stoppuhr laufen. Er sucht<br />

nicht den Blickkontakt, Hände ineinander,<br />

er wirkt, als wären wir nicht da.<br />

33’’. War’s schwer?<br />

Kein Problem. Schweigen ist ja etwas<br />

Schönes. Meine Frau und ich haben einmal<br />

ein ganzes Schweigewochenende gemacht,<br />

in Berlin-Halensee. Es wurde<br />

gebetet und gesungen, aber sonst nur geschwiegen.<br />

Bis auf eine Stunde am Tag,<br />

da wurde über das Schweigen geredet.<br />

Das fiel mir sehr schwer am ersten Tag,<br />

und dann war es schön. Aber auch 33 Sekunden<br />

tun mal gut.<br />

Sie schweigen wirklich gern.<br />

Übertreiben Sie nur nicht. Ein Mönch,<br />

der sein Leben lang schweigt, der<br />

möchte ich auch nicht sein, das wäre ja<br />

schrecklich.<br />

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T i t e l<br />

<strong>Stille</strong><br />

<strong>Macht</strong><br />

Wer viel redet, macht sich angreifbar – diese<br />

Lektion hat Angela Merkel besser begriffen<br />

als alle anderen. Aber mit ihrem beharrlichen<br />

Schweigen untergräbt die Kanzlerin den<br />

demokratischen Diskurs. Und zwar mit voller<br />

Absicht. Wir erleben in Deutschland eine stille<br />

Revolution. Mit Folgen für ganz Europa<br />

von gertrud höhler<br />

W<br />

ann kommt das schweigen<br />

an die macht? Wenn Täter<br />

am Erfolg ihrer Taten<br />

zweifeln. Wenn Worte gefährlicher<br />

werden als unentdeckte<br />

Taten, wenn durchschlagender<br />

Erfolg vom Verstoß gegen die Spielregeln<br />

erwartet wird. Wenn „Aufklärung“ und<br />

„Transparenz“, zwei Grundmelodien der<br />

Demokratie, plötzlich brandgefährlich erscheinen.<br />

Im Stimmengewirr des politischen<br />

Basars geht es darum, Herrschaftswissen<br />

zu schützen. Im Schweigekartell der<br />

Mächtigen gelten Worte als Verrat.<br />

Der Kanzlerkandidat der SPD, Peer<br />

Steinbrück, gibt den Trendbrecher im<br />

Konsensdruck der schweigestarken Chefin.<br />

Sein Credo lautet: Regierung schweigt,<br />

Illustration: Olaf Hajek<br />

28 <strong>Cicero</strong> 12.2012


12.2012 <strong>Cicero</strong> 29


T i t e l<br />

Opposition redet. „Das wichtigste Handwerkszeug<br />

des Politikers ist das Wort“, sagt<br />

der Bewerber, der wegen virtuoser Erfolge<br />

als Wortunternehmer im Feuer steht. „Es<br />

ist geradezu die Mission des Politikers, sich<br />

zu erklären.“ Sich selbst, nicht seine Politik.<br />

Der Wortriese Steinbrück müsste als Rettungseuropäer<br />

das Schweigen lernen.<br />

Der deutsche Wahlkampf wird<br />

das Duell zweier Virtuosen bringen:<br />

die Kanzlerin auf dem Hochseil des<br />

Schweigens, vorsichtig einen Fuß vor<br />

den anderen setzend – und ihr Herausforderer<br />

unten in der Manege als<br />

Löwenbändiger mit dem blanken<br />

Wort unterwegs.<br />

Die Krise bringt das Schweigen<br />

an die <strong>Macht</strong>. Sie begünstigt Talente,<br />

die das Regelset des Nationalstaats<br />

ohne Anfälle von Heimweh versenken<br />

und das Regelwerk der europäischen<br />

Verträge situativ aushebeln.<br />

Führende Währungseuropäer sehen<br />

sich als Herolde eines Epochenwandels,<br />

der Verfassungsnormen außer<br />

Kraft setzt.<br />

<strong>Macht</strong> Schweigen mächtig? Der<br />

Amerikaner Robert Greene sagt: Es<br />

kommt auf die Dosierung an. Greenes<br />

Buch trägt den betörend schlichten<br />

Titel „Power“. Der Autor plädiert<br />

für strategische Sprachaskese: „Sage<br />

immer weniger als nötig.“ Und fügt<br />

an: „Versuchen Sie nicht, Menschen<br />

mit vielen Worten zu beeindrucken.<br />

Je mehr Sie reden, desto<br />

durchschnittlicher und machtloser<br />

wirken Sie.“ Greene geht noch weiter:<br />

„Glänze durch Abwesenheit, um<br />

Respekt und Ansehen zu erhöhen.“<br />

Damit ist das Partyhopping in der<br />

deutschen Hauptstadt als ein Irrtum von<br />

Mittelfeldspielern entlarvt. Greenes Rat:<br />

„Steigern Sie Ihren Wert durch Seltenheit.“<br />

Fast möchte man meinen, Robert<br />

Greene habe Angela Merkels Kunst des<br />

Schweigens studiert. „Wenn Sie sich deutlich<br />

konturieren und einen durchschaubaren<br />

Plan haben, machen Sie sich leichter<br />

angreifbar. (…) Am besten schützen Sie<br />

sich, indem sie so geschmeidig und formlos<br />

sind wie Wasser.“<br />

Schweigen ist das Understatement der<br />

Alphatiere. Es schafft Abstand und senkt<br />

die Kommunikationstemperatur. Steinbrücks<br />

neue Fotomimik – gewaltsam eingeklemmte<br />

Lippen – zeigt: Da will er hin,<br />

in den Olymp der Herrentiere, wo der<br />

Transparenzterror schweigt. Endlich wieder<br />

die Zähne fletschen: Vorsicht! Reißendes<br />

Raubtier!<br />

Schweigen ist die Rüstung der Erfolgreichen,<br />

mit der sie sich die Schwätzer vom<br />

Leibe halten.<br />

In totalitären<br />

Staaten kann man<br />

sich um Kopf und<br />

Kragen reden.<br />

Schweigen schützt<br />

Geheimnisse nicht bewegen, sondern<br />

bewahren: Das ist die Männerlektion, die<br />

weibliche Alphatiere widerwillig lernen.<br />

Angela Merkel hatte sie schon gelernt, als<br />

die Mauer fiel. Westfrauen üben heute<br />

noch: Immer wieder knacken sie den geheimnisarmen<br />

Smalltalk der Männer und<br />

erzwingen Nähe. Intimitätsterror, weiß jeder<br />

Manager, unterminiert die Glaubwürdigkeit.<br />

Hingegen öffnet die Fähigkeit, Geheimnisse<br />

zu bewahren, das Gatter zum<br />

Revier der Alphatiere.<br />

Warum macht Peer Steinbrück, was<br />

die Mädchen machen: „sich erklären“?<br />

Weil das Mädchen Angela den Männerpart<br />

okkupiert hat. Ihr Motto: Es spielt<br />

keine Rolle, was die anderen denken. Es<br />

spielt eine Rolle, wer die <strong>Macht</strong> hat. Im<br />

Transparenzterror der Quasselbude gefangen,<br />

kann Steinbrück die Schweigebastion<br />

der Kanzlerin nicht sprengen.<br />

Loose lips sink ships, sagen die Briten –<br />

Geschwätzigkeit versenkt Schiffe –, um<br />

den Transparenzterror zu entlarven.<br />

Der kluge Straßenjunge Peer hätte<br />

bei den Engländern vorbeischauen<br />

sollen, ehe er versuchte, gegen das<br />

Schweigen seiner Rivalin anzureden.<br />

Merkel kann sicher sein, dass er<br />

ihr wichtigstes Geheimnis nicht entdecken<br />

wird: dass auch in der Gemeinschaft<br />

der Staatschefs niemand<br />

ihr Geheimnis kennt. Keeping the<br />

secret heißt für Merkel: radikaler<br />

Alleingang. Genau diese Isolation<br />

könnte eines Tages die Glaubwürdigkeit<br />

der stählernen Königin<br />

zersetzen.<br />

Wenn Schweigen mächtig macht,<br />

was kostet dieser Zugang zur <strong>Macht</strong>?<br />

In totalitären Staaten kann man<br />

sich um Kopf und Kragen reden.<br />

Schweigen schützt, wo Meinungsfreiheit<br />

fehlt. Die Demokratie bietet<br />

Rede- und Meinungsfreiheit an.<br />

Sie garantiert eine freie Presse und<br />

lebt vom Wettbewerb der Meinungen<br />

und Märkte. Als soziale Marktwirtschaft<br />

ist sie mit diesen Zusagen<br />

nicht nur ab und zu, sondern<br />

„täglich von Entartung bedroht“, so<br />

Wilhelm Röpke, einer ihrer Väter.<br />

Solange das System gut läuft, haben<br />

Reden und Schweigen gleiche<br />

Chancen. Jeder kann sich durch Reden<br />

qualifizieren oder durch Schweigen.<br />

Auch Disqualifikation kann man in<br />

beiden Revieren holen: mit Schweigen,<br />

wo man reden sollte, oder mit Reden, wo<br />

man schweigen sollte. Reden und Schweigen<br />

sind scharfe Waffen. Sie treffen nicht<br />

nur andere – sie können auch den, der sie<br />

führt, verwunden. Beide Waffenkammern<br />

sind für Führungskräfte viel gefährlicher<br />

als für die Geführten.<br />

Helmut Kohl hat die Bedrohung in einem<br />

kurzen Satz beschrieben: „Werde nie<br />

von denen abhängig, die von dir abhängig<br />

sind.“ Was aber wäre geschehen, wenn<br />

der Schweiger Kohl 1999 seine Schweigebastion<br />

gesprengt und sein Ehrenwort gebrochen<br />

hätte? Seine spontane Antwort:<br />

Illustrationen: Olaf Hajek<br />

30 <strong>Cicero</strong> 12.2012


„Dann wäre ich ganz kaputt.“ Rainer Eppelmann,<br />

damals Chef der CDU-Sozialausschüsse,<br />

öffnete die tragische Bühne,<br />

um das Dilemma des Schweigers zu zeigen:<br />

„Der Ehrenvorsitzende“, so Eppelmann,<br />

„befindet sich in einer Situation, wie<br />

man sie aus griechischen Tragödien kennt:<br />

Wie immer der Held sich entscheidet,<br />

entscheidet er sich falsch.“ Wer<br />

so häufig das Schweigen wählt wie<br />

die deutsche Bundeskanzlerin, wird<br />

nicht nur diesen Gedanken, sondern<br />

die meisten anderen Argumente kennen,<br />

die das zweischneidige Schwert<br />

des Schweigens nicht unbedingt zur<br />

ersten Wahl für den <strong>Macht</strong>erhalt<br />

machen. Warum entscheidet sie<br />

sich trotzdem immer wieder dafür,<br />

schwer berechenbar zu bleiben, anstatt<br />

klare Positionen zu liefern?<br />

Selbst wenn sie redet, bleibt<br />

Merkel nah an der Auskunftsverweigerung.<br />

Ihr „Auf-Sicht-Fahren“<br />

strebt zur informationsfreien Wortbotschaft.<br />

Was die Kanzlerin damit<br />

beim Publikum erreicht, ist durchaus<br />

beachtlich für ihr Ziel des <strong>Macht</strong>erhalts:<br />

Die Erwartungen der Bürger<br />

haben sich längst dem nachrichtenlosen<br />

Gesamtbild angepasst. Das Publikum<br />

belohnt durch hohe Popularitätswerte,<br />

dass die Kanzlerin es nie<br />

erschreckt. Nicht allein Merkel, sondern<br />

die gesamte Rettungsbootscrew,<br />

die das Containerschiff Europa unsinkbar<br />

machen will, setzt auf die<br />

<strong>Macht</strong> des Schweigens. Niemand aus<br />

dem Publikum, die degradierten Parlamentarier<br />

eingeschlossen, springt<br />

auf die Bühne und fordert Auskunft<br />

zu dem Widerspruch. Während<br />

der Erklärungsbedarf steigt, wächst<br />

die Schweigezone mit, in der die Entscheider<br />

Deckung suchen. Die Währungseuropäer<br />

verzocken Kultur-Europa, so bemerken<br />

wir nebenbei. Ihr geheimbündlerisches<br />

Wirken macht sie zu Komplizen, die immer<br />

kühnere Abbrucharbeiten am europäischen<br />

Haus als Sanierungskonzept für das<br />

europäische Luftschloss der Zukunft ausgeben.<br />

Über solche Sprünge in rechtsfreie<br />

Räume muss strategisch geschwiegen werden,<br />

um den Einwänden der Verfassungsrechtler<br />

und Wettbewerbshüter zu entgehen.<br />

Rechtsunsicherheit muss uns das neue<br />

Europa schon wert sein, lautet die unausgesprochene<br />

Maxime.<br />

Die Kanzlerin hat<br />

viel dafür getan,<br />

um die Rechtsunsicherheit<br />

zu<br />

entdramatisieren<br />

Die Mutation der Europäischen Zentralbank<br />

zur multifunktionalen Megamachtzentrale<br />

mit widersprüchlichsten<br />

Befugnissen macht deutlich: Preisstabilität<br />

war gestern. Im europäischen Götterhimmel<br />

entsteht ein Edelcasino, das zugleich<br />

die Aufsicht im Circus Maximus der Gierigen<br />

und ihrer Gönner führt. Haftung und<br />

Kontrolle werden entkoppelt.<br />

Der „Europäische Stabilitätsmechanismus“,<br />

kurz und täuschend ESM genannt,<br />

leugnet seine destabilisierende Wirkung.<br />

ESM ist der Deus ex machina, der perfekte<br />

Maschinengott aus dem Casino der<br />

Retter, die keine demokratische Ermächtigung<br />

mehr benötigen. Die „Gouverneure“,<br />

Finanzminister aus 17 Ländern, sind von<br />

Anfang an strafimmun gestellt. Mit diesem<br />

Freibrief in der Tasche genehmigen sie<br />

sich enorme Durchgriffsrechte. Ihr Konstrukt,<br />

der ESM, ist in bester antidemokratischer<br />

Manier unkündbar, auf Ewigkeit<br />

angelegt. Die 17 schützen sich durch ein<br />

Schweigegebot vor Kontrolle. Die maximale<br />

Höhe der Geldtransfers, die sie auslösen,<br />

kann „gehebelt“ werden: Der EU-Rettungswortschatz<br />

segelt dicht am Schweigen.<br />

Die strukturelle Analogie des ESM zu Geheimbünden<br />

ist offenkundig: Ideologiefreie<br />

Mechanik statt Moral; Kartell des Schweigens;<br />

illegale Sickerströme zersetzen<br />

die legalen Strukturen. Stefan Homburg,<br />

Finanzwissenschaftler in Hannover,<br />

nennt den ESM „ein zutiefst<br />

korruptes Begünstigungssystem“.<br />

Er sieht die „Gefahr eines Systemwechsels“.<br />

Innovationen von dieser<br />

Dramatik können nur in einem<br />

Klima des konspirativen Schweigens<br />

durchgesetzt werden. Auch der Griff<br />

der Europäischen Zentralbank nach<br />

neuen Befugnissen, die im Rechtsstaat<br />

auf verschiedene Institutionen<br />

verteilt waren, und der Tausch ihrer<br />

Unabhängigkeit gegen eine Verstrickung<br />

in Widersprüche spiegelt eine<br />

bis dahin unbekannte <strong>Macht</strong>politik.<br />

Die Aufgabe der EZB, den Geldwert<br />

stabil zu halten, widerspricht nicht<br />

nur dem Kauf von Ramschanleihen,<br />

sie schließt auch die von den EU-<br />

Chefs beschlossene Aufsicht über<br />

immerhin 6000 europäische Banken<br />

aus. Das Schweigegelübde der EU-<br />

Spitzenpolitiker umfasst nun schon<br />

so viele Verstöße gegen EU-Recht,<br />

dass sich eine anmaßende Routine<br />

einstellt.<br />

Die deutsche Kanzlerin hat viel für<br />

die Entdramatisierung dieser neuen<br />

Rechtsunsicherheit in Europa getan.<br />

Relativierung ist ihre Stärke.<br />

Sie hat den Verlust von zwei deutschen<br />

Kandidaten für die Stabilitätspolitik<br />

von Internationalem Währungsfonds und<br />

Europäischer Zentralbank nicht nur billigend<br />

in Kauf genommen, sondern strategisch<br />

im Kalkül gehabt. Axel Weber kapitulierte<br />

als Präsident der Bundesbank vor<br />

ihrem Schweigen und wechselte über die<br />

USA in die Schweiz. Jürgen Stark, Chefvolkswirt<br />

der EZB, verließ die Zentralbank<br />

wegen der verdeckten Umpolung ihrer Aufgaben.<br />

Merkel entschleunigte die Prozesse,<br />

bis niemand mehr aufmerksam hinsah.<br />

Mit dem Verzicht auf Schlüsselstellungen<br />

für deutsche Kandidaten förderte sie den<br />

Glaubwürdigkeitsverlust der europäischen<br />

Institutionen. So kapert die Exekutive<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 31


T i t e l<br />

Entscheidungsräume der Parlamente. Das<br />

<strong>Macht</strong>mittel ist Schweigen. Konsensdruck<br />

treibt die Parteien über ihre bisher gehüteten<br />

Grenzen in ein Allparteiengelände,<br />

wo ein Lob der Kanzlerin für neue Mehrheiten<br />

die Preisgabe des eigenen Territoriums<br />

belohnt. Keine Deklaration propagiert<br />

diese autokratische Kurswende.<br />

Die verspätete Wahrnehmung garantiert<br />

Gefügigkeit. Der parlamentarische<br />

Wettbewerb, ein Verfassungsgebot,<br />

wird weggeschwiegen. Niemand<br />

weiß mehr, wann das angefangen hat.<br />

Und jeder will dabei sein, weil politische<br />

Karrieren neuerdings Jasagerlastig<br />

werden.<br />

Dominanz durch Schweigen<br />

knechtet wirksamer als autoritäre<br />

Reden der Führung. Wer schweigt,<br />

nährt die Vermutung, dass er oder<br />

sie mehr weiß und Gründe hat, das<br />

Reden aufzuschieben. Alle werden<br />

noch wachsamer, um dabei zu<br />

sein, wenn die Chefin ihr Schweigen<br />

bricht. Alle werden zugleich immer<br />

unsicherer, ob die Schweigerin<br />

bereits ein Urteil im Kopf hat, das<br />

sie zu Verlierern macht. Das Schweigen<br />

der Angela Merkel begleitet auch<br />

Untergebene, die, wie man später<br />

entdeckt, in ihrem Auftrag als Stimmungs-Scouts<br />

unterwegs sind. Merkel<br />

sorgt dafür, dass niemand weiß,<br />

ob ein Auftrag der Chefin einen Minister<br />

oder eine Ministerin in vermintes<br />

Gelände treibt, aus dem sie<br />

lädiert zurückkehren. Nur selten und<br />

meist viel später wird die Vermutung<br />

zur Gewissheit, dass da einer zum<br />

Prügelknaben wurde, weil die Vorsitzende<br />

eine Testfahrt ins Nachbarrevier<br />

oder ins Niemandsland angeordnet<br />

hatte. Die Prügelknaben schweigen mit;<br />

diese Garantie ist für schweigende Chefs<br />

immer verlässlich, weil niemand in die Loser-Ecke<br />

will. Vielleicht läuft’s beim nächsten<br />

Mal besser. So viel zum deutschen Spitzenplatz<br />

im Orden der Schweigebündler.<br />

Warum bricht keiner der Komplizen im<br />

Rettungsroulette das Schweigegelübde?<br />

Weil alle aus unterschiedlichen Gründen an<br />

der Bad Story von Europa festhalten müssen.<br />

Die einen, weil ihre Heimatländer die<br />

Hände schon tief in den Taschen der Geber‐Countrys<br />

haben, die anderen, weil sie<br />

nicht zugeben wollen, dass die europäische<br />

Währungsstory eine Bad Story bleiben wird.<br />

Alle miteinander schließlich, weil sie zu<br />

Komplizen geworden sind, die vertuschen<br />

müssen, wie viele Regeln sie gebrochen<br />

und wie viel Vertrauen sie verspielt haben.<br />

Wer einen Instabilitätsfonds wie den ESM<br />

als „Stabilitätsmechanismus“ verkauft und<br />

So kann der<br />

Systemwechsel<br />

sich anschleichen<br />

wie ein Dieb in der<br />

Nacht<br />

das demokratische Grundversprechen außer<br />

Kraft setzt, Irrtümer revidieren zu können,<br />

der steht auf schwankendem Boden.<br />

Der Bedarf an Verschwiegenheit wird jeden<br />

Tag größer.<br />

Angela Merkel hat, wie einige ihrer<br />

europäischen Mitspieler, die Vorläufigkeit<br />

von Systemen erlebt. Sie hat weniger<br />

Stress beim Systemwechsel unserer Tage als<br />

ihre Westkollegen, die nur Verluste sehen.<br />

Die Kanzlerin kann eine Gewinnerbilanz<br />

schrei ben, die neue Regeln setzt: immer<br />

mehr <strong>Macht</strong> für Merkel bei immer mehr<br />

Verlusten in Europa. Ihr Erfolgsmodell ist<br />

antizyklisch. Immer mehr Aufstiegspotenzial<br />

für die eigene Karriere – egal, wie das<br />

Rettungsroulette ausgeht. Nur auf eines<br />

muss sie achten, und dafür hat sie vorgesorgt:<br />

Wählbar muss sie bleiben. Zu diesem<br />

Zweck hat sie die Kernbotschaften<br />

der anderen Parteien auf CDU-Gelände<br />

angesammelt. Das Schweigen der Kanzlerin<br />

macht eine Ernte möglich, wie sie<br />

sonst keiner in Europa einfährt.<br />

Die grenzüberschreitend disponible<br />

Kanzlerin kann jedes europäische<br />

Amt übernehmen, weil sie für<br />

keine einzige Option einen Widerspruch<br />

mitbringt. Die multifunktionale<br />

Chefin von Deutschland ist<br />

grenzenlos vermittelbar. Ein schöner<br />

Lohn für einen Schweigemarsch der<br />

Sonderklasse.<br />

Die deutsche Kanzlerin erscheint<br />

der Mehrheit der Deutschen als „alternativlos“.<br />

Sie hat sich in die Köpfe<br />

der Bürger hineingeschwiegen und<br />

dieses Schweigen ab und zu kühl erklärt.<br />

Die Entscheidungen seien allesamt<br />

„alternativlos“ – was im Klartext<br />

heißt: Ihr braucht gar nicht<br />

nachzudenken, es gibt keine andere<br />

Lösung. <strong>Macht</strong> euch keine Sorgen,<br />

wir entscheiden für euch. Das Publikum<br />

atmet auf. Die meisten Deutschen<br />

glauben, dass ihre Kanzlerin<br />

nur das Unausweichliche mitmacht,<br />

und meistens stimmt das sogar. Nur<br />

die Fiskalunion, jene dem Privatleben<br />

entlehnte Idee, dass Sparkommandos<br />

und säckeweise transferierte<br />

Euros Investitionen begünstigen<br />

könnten, war ein Favorit der deutschen<br />

Kanzlerin. Dass die Zinslast<br />

der Schuldner die geliehenen Euros<br />

aufzehrt, wird nun seit Monaten als<br />

Überraschung diskutiert. Merkel<br />

profitiert von ihrer Schweigsamkeit mehr<br />

als die Wortgewandten von den Worten.<br />

Sie weiß, dass sie kein Wort zurückholen<br />

kann. Worte legen fest, Schweigen lässt alles<br />

offen. Schweigen liefert eine Aura, die<br />

der Sprecher kaum erreicht. Je mehr er redet,<br />

desto weniger bleibt offen. Der Redner<br />

konsumiert die Deutungsspielräume<br />

der Zuhörer. Wer ins Trommelfeuer von<br />

Peer Steinbrücks Wortsalven geraten ist,<br />

braucht Zeit, um mit dem Selberdenken<br />

wieder anzufangen.<br />

Angela Merkel hat einen Redestil entwickelt,<br />

der so nah am Schweigen liegt,<br />

dass die Spielräume fürs Selberdenken<br />

im Prinzip unermesslich bleiben. Aber<br />

Illustration: Olaf Hajek<br />

32 <strong>Cicero</strong> 12.2012


SEIT 1971 ÜBERZEUGT, DASS ES<br />

KEINE GESCHMACKVOLLERE<br />

FORTBEWEGUNG GIBT.<br />

NICHTS FÜR UNENTSCHLOSSENE. SEIT 1842.


T i t e l<br />

wer traut sich selbst schon zu, diese Spielräume<br />

kreativ zu füllen? Die Kanzlerin<br />

der kleinen Schritte stellt sicher, dass die<br />

Stürme der Epochenwende in Deutschland<br />

zur leichten Brise abflauen, sagt der<br />

Common Sense. So kann der Systemwechsel<br />

sich anschleichen wie ein Dieb<br />

in der Nacht.<br />

Die Strategie des Schweigens ist längst<br />

zur europäischen Infektion geworden. Die<br />

Statements nach den Konferenzen werden<br />

immer inhaltsärmer. Immerhin setzen die<br />

meisten „Retter“ auf das Geld der anderen,<br />

während das Risiko kaum vertretbar<br />

und der Erfolg sehr fraglich ist. Was alle<br />

in ein Kartell des Schweigens zwingt: Sie<br />

stehen auf der Bühne in einem Drama,<br />

dessen letzten Akt niemand zu entwerfen<br />

wagt. Keiner riskiert das Bekenntnis, das<br />

alle immer öfter zueinandertreibt: Wir haben<br />

keine Good Story für Europa. Wir kaufen<br />

Zeit und täuschen das Publikum. Wir<br />

brechen die Entscheidungsmacht der Parlamente,<br />

um Widerspruch zu zähmen. Wir<br />

lähmen den demokratischen Wettbewerb<br />

in Europa. Europa widerspricht dem Kanzler<br />

Willy Brandt mit einem eisigen neuen<br />

Slogan: „Weniger Demokratie wagen“.<br />

Genau dies sind die Voraussetzungen<br />

für das große planwirtschaftliche Abenteuer,<br />

das in Deutschland angezettelt wird.<br />

Nichts schützt einen Undercover-Umsturz<br />

besser als das Paradox: Eine quasi monarchische<br />

Rangordnung macht die deutsche<br />

Staatschefin zur „Königin von Europa“.<br />

Die Schmeichler setzen nach der berechnenden<br />

Nobilitierung der deutschen Wirtschaftskompetenz<br />

auf den Wertekanon<br />

der Demokraten und baggern Dukaten.<br />

Die königliche Chefin nutzt derweil den<br />

Schlagschatten des Eurodramas, um Schritt<br />

für Schritt die Grundlagen des ökonomischen<br />

Höhenflugs der Deutschen abzuräumen.<br />

Ein fast schrilles Paradox: Der gigantische<br />

internationale Marktplatz, auf den<br />

alle starren, zeigt die Epochensaga der Eurorettung<br />

– und alle wollen dabei sein. Der<br />

Hauptakteur Deutschland ist in Wahrheit<br />

ein zwiespältiger Mitläufer. Um das zu verdecken,<br />

wurde der Tarnanzug für die Herrin<br />

geliefert, der Hermelin für die Königin<br />

von Europa nach dem Motto: Schmeichle<br />

der Göttin, die du brauchst.<br />

Dieses Szenario der verdeckten Widersprüche<br />

liefert die beste Tarnung für<br />

das viel folgenreichere Drama, das die<br />

Meisterin des königlichen Schweigens nun<br />

im Aufmerksamkeitsschatten inszeniert: In<br />

Deutschland läuft der entschlossene Umbau<br />

einer erfolgreichen Marktwirtschaft in<br />

eine postdemokratische Staatswirtschaft.<br />

Dies ist das eigentliche revolutionäre Paradox<br />

dieser Jahre. Die Beweise häufen<br />

sich, aber die Bürger beharren auf politischer<br />

Arglosigkeit. Schlagartig begreifen<br />

wir, dass es „Erklärungen“ für diese Tarnkappenpolitik<br />

nicht geben kann. Schweigen<br />

als Mittel der <strong>Macht</strong> holt seine größten<br />

Erfolge nach der einfachen Regel: Handle,<br />

ohne die Ziele deines Handelns zu zeigen.<br />

Handle ohne Worte; Schweigen ist<br />

der zuverlässigste Schutzwall für revolutionäre<br />

Eingriffe in ein Konsenssystem. Demokratische<br />

Grundregeln lassen sich aushebeln,<br />

wenn sie ohne Kommentar außer<br />

Kraft gesetzt werden. Ist der Eingriff dramatisch,<br />

reichen Stichworte aus dem Wertekonsens<br />

der Demokraten. Drei Monate<br />

nach dem Tsunami in Japan reichte das<br />

Stichwort „Fukushima“ aus, kombiniert<br />

mit dem Griff in die Waffenkammer der<br />

Ethik, um die Verstaatlichung der Energiewirtschaft<br />

in Deutschland durchzusetzen.<br />

Kein Konzernchef, kein Wissenschaftler tadelte<br />

die Täuschungsmanöver der Kanzlerin<br />

bei den Begründungen. Dutzende Gesetze<br />

und Verfassungsgebote wurden vom<br />

Tisch gefegt. Subventionsversprechen garantierten<br />

das Schweigen der Enteigneten.<br />

Ehe der Willkürakt verstanden war, wurde<br />

er umgedeutet zur quasi metaphysischen<br />

Fügung: Die „Energiewende“ wurde mit<br />

dem Weihwasser der historischen „Wende“<br />

getauft und jeder Kritik entzogen. Die Erfinderin<br />

des Coups trat zurück ins Schweigen,<br />

und nach einem Jahr, während ihr Joker<br />

Peter Altmaier das Publikum anstelle<br />

des Sachkenners Norbert Röttgen unterhält,<br />

beruft die Schweigekönigin Versammlungen<br />

ein, in denen das Planungschaos anderen<br />

zur Last gelegt wird. Die Initiatorin<br />

des totalitären Alleingangs verschiebt die<br />

Verantwortung, und keiner widerspricht.<br />

Unterdessen nehmen die schweigenden<br />

Übernahmen in Deutschlands Wirtschaft<br />

Fahrt auf. Alle starren in Richtung Energie,<br />

nebenbei wird eine Megafusion im internationalen<br />

Rüstungsmarkt (EADS und<br />

BAE) verhindert: Die deutsche Staatsbeteiligung<br />

sei zu niedrig. Monatelang wurden<br />

Legenden gestreut, die andere Verhinderer<br />

benannten; die Kanzlerin erschien<br />

nicht auf der Bühne des groß inszenierten<br />

Scheiterns; sie diktierte und schwieg.<br />

Enteignung und Planwirtschaft bestimmen<br />

inzwischen das Bild in Deutschland. Die<br />

Nuklearwirtschaft wird über Jahre um minimale<br />

Entschädigungen für die Verletzung<br />

der Aktionärsrechte, der Eigentums- und<br />

Vertragsrechte kämpfen müssen: Rechtsunsicherheit<br />

wird national wie europäisch<br />

zum Alltagsklima. Der Staat tritt nicht nur<br />

als Superregulierer auf, er lähmt auch funktionierende<br />

Märkte, um seine <strong>Macht</strong> zu<br />

sichern: „Vater Staat als großer Monopolist,<br />

der alles regelt“, so das Handelsblatt am<br />

26. Oktober dieses Jahres. „Der Staat ist auf<br />

dem Vormarsch“, sagt der Vorsitzende der<br />

Monopol-Kommission, Daniel Zimmer.<br />

Eben erst haben staatliche Mitspieler in<br />

den Landesbanken den Beweis geliefert,<br />

dass sie keine Manager sind, schon sprengt<br />

die Selbstermächtigung der Politik die<br />

marktwirtschaftliche Arbeitsteilung weg.<br />

Mitten in der schwersten Krise des europäischen<br />

Projekts verspielt der deutsche Staat<br />

mit einer Serie von schweigenden Übernahmen<br />

die marktwirtschaftlichen Erfolge<br />

von Jahrzehnten. Wer will uns sagen, dieser<br />

Übernahmepoker hätte mit der politischen<br />

Führung dieses Landes nichts zu tun?<br />

Staatswirtschaft löst Fachkompetenz ab –<br />

das gilt für gute Unternehmensführung,<br />

für Flüge und Postsendungen, für Unisex-<br />

Versicherungen, Vorstandsqualifikationen,<br />

für Getreide im Tank und für Elektroautos,<br />

für Medikamente, Krankenkassen und Ladenöffnungszeiten.<br />

Ein heilloses Gemisch<br />

von Staatseingriffen mit ideologischer Einfärbung<br />

nimmt die Dynamik aus der Konjunktur<br />

und kostet Arbeitsplätze. Wo steht<br />

in diesem anmaßenden Zugriff der Politik<br />

auf marktwirtschaftliche Erfolge die<br />

Kanzlerin? Keiner soll es wissen. Wo etwas<br />

schiefgeht, war sie nicht dabei. Ihr Schweigen<br />

ermüdet die Führungskräfte der Wirtschaft,<br />

ihre Subventionsangebote legen die<br />

Kritiker an die Kette. Deutschland wird<br />

an Vorwärtsdrang verlieren, wenn immer<br />

mehr starke Players nur eine Hand zum<br />

Anpacken haben – und die andere zur Faust<br />

geballt in der Tasche.<br />

Gertrud Höhler ist Beraterin<br />

und Publizistin. Zuletzt<br />

erschien von ihr „Die Patin –<br />

Wie Angela Merkel Deutschland<br />

umbaut“ (Orell Füssli)<br />

Foto: Picture Alliance/DPA<br />

34 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Ihre Meinung zu „Ein Herz für Kinder“, Sabine Christiansen?<br />

Die Hilfsorganisation von BILD<br />

Große Spendengala am 15.12. live im ZDF.<br />

www.ein-herz-fuer-kinder.de


T i t e l<br />

Fünf schlechte<br />

Schweiger<br />

Wenn Sie nur geschwiegen hätten: Fünf Fallbeispiele aus der deutschen Politik, die zeigen, wie<br />

man sich ins Verderben stürzt – und wie viel <strong>Macht</strong> in der Dosierung der eigenen Worte liegt<br />

von Georg Löwisch<br />

Der Spruch geht auf den spätrömischen<br />

Gelehrten Boëthius zurück:<br />

„Si tacuisses, philosophus mansisses.“ –<br />

„Wenn du geschwiegen hättest, wärst<br />

du ein Philosoph geblieben.“ In<br />

Boëthius’ im 6. Jahrhundert verfassten<br />

Werk „Trost der Philosophie“ fragt<br />

ein Aufschneider sein Gegenüber:<br />

„Intellegis me esse philosophum?“ –<br />

„Siehst du ein, dass ich ein Philosoph<br />

bin?“ Die Antwort: „Intellexeram, si<br />

tacuisses.“ – „Ich hätte es erkannt,<br />

wenn du geschwiegen hättest.“ Daran<br />

werden in der heutigen Politik immer<br />

wieder Mächtige erinnert, die sich<br />

ins Abseits oder sogar um ihr Amt<br />

reden. Fünf Fälle aus den vergangenen<br />

Jahren haben wir uns genauer<br />

angesehen. Zudem haben wir – ziemlich<br />

erfolglos – die fünf Betreffenden um<br />

Stellungnahme gebeten. Von Boëthius’<br />

Sinnspruch existiert im Übrigen auch<br />

eine zeitgenössische Version des<br />

österreichischen Kabarettisten Josef<br />

Hader, die lautet: „Hätts’t die Pappn<br />

g’holtn, hätt kaner g’merkt, dass’d<br />

deppat bist.“<br />

„Spätrömische Dekadenz“<br />

G<br />

uido Westerwelles Artikel<br />

war kurz, aber heftig. Welt vom<br />

11. Februar 2010, Seite 6, sechs<br />

Absätze, Titel: „Vergesst die Mitte nicht“,<br />

Hinweis: „Der Autor ist Vizekanzler und<br />

FDP-Vorsitzender.“ Der Gastkommentar<br />

erschien nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts,<br />

das die Hartz‐IV‐Sätze<br />

für Kinder gekippt hatte. Schnell kam<br />

Westerwelle auf den Punkt, auf seine ewige<br />

Mehr-Netto-vom-Brutto-Botschaft. „Wie<br />

in einem pawlowschen Reflex wird gerufen,<br />

jetzt könne es erst recht keine Entlastung<br />

der Bürger mehr geben, das Geld<br />

brauche man für höhere Hartz‐IV‐Sätze.“<br />

Er kommentierte sich zum Anwalt der fleißigen<br />

Mitte und präsentierte dann den<br />

Hauptschlag: „Wer dem Volk anstrengungslosen<br />

Wohlstand verspricht, lädt zu<br />

spätrömischer Dekadenz ein.“<br />

Der Satz trägt eine seltsame Denkrichtung<br />

in sich, es geht von oben nach<br />

unten, vom Vorzeigen einer humanistischen<br />

Bildung direkt runter zu den<br />

Hartzern. Die Opposition hat das erkannt<br />

und sich den Satz gleich zur Empörung<br />

vorgenommen, die CSU hat ihn<br />

genutzt, um Westerwelle taktische Fehler<br />

vorzuwerfen, und Ursula von der Leyen<br />

hat sich auch noch ein bisschen profiliert.<br />

Die FDP tuschelte, was dieses Erdbeben<br />

bloß wieder bedeute.<br />

Zu besichtigen war hier ein Grundfehler,<br />

man kann sagen der Westerwelle‐Defekt.<br />

Eigentlich geht der Mechanismus<br />

so: Ein Oppositionsmann redet<br />

sich hoch. Oben angekommen, schaltet<br />

er um. Die Kraft liegt dann im Handeln,<br />

und ein guter Regierungspolitiker spart<br />

mit seinen Worten so, dass sogar Äußerungen<br />

wie Taten daherkommen.<br />

Westerwelle konnte nicht raus aus<br />

dem Oppositionsmodus, in dem er sich<br />

über ein Jahrzehnt befand, als er die Talkshows<br />

und Regionalzeitungen abgeklappert<br />

hat. Der Vizekanzler regierte nicht,<br />

er redete. Statt zu schweigen, hat er noch<br />

einmal das zelebriert, was er kannte und<br />

konnte. Und so bot er der Welt den Dekadenz-Kommentar<br />

an.<br />

Illustrationen: Olaf Hajek<br />

36 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Anzeige<br />

Es war nicht eine unmittelbare Folge,<br />

dass er die Ämter als Vizekanzler und<br />

FDP-Vorsitzender verlor, aber der Satz<br />

mit der spätrömischen Dekadenz ist der<br />

Moment, von dem sich eine Linie ziehen<br />

lässt, bis seine Parteifreunde ihn dann<br />

2011 vom Vorsitz verdrängt haben. Jetzt,<br />

am Ende seiner Amtszeit als Außenminister,<br />

bekommt er immer mal wieder gute<br />

Kritiken. Nicht, weil er viel tut. Weil er<br />

schweigt.<br />

Unsere Bitte um Stellungnahme beantwortet<br />

Westerwelles Ministerium so: „Vielen<br />

Dank für Ihre Anfrage, die wir leider absagen<br />

müssen. Mit freundlichen Grüßen<br />

Pressereferat“.<br />

„Der Bush macht das Gleiche,<br />

was der Adolf gemacht hat“<br />

E<br />

s kann schon sein, dass sie nicht<br />

nur dieses Zitat das Amt gekostet<br />

hat, sondern vor allem die<br />

furchtbare Rechthaberei danach. Am<br />

Ende hat es mindestens drei Grundversionen<br />

davon gegeben, was die damalige<br />

Bundesjustizministerin Herta Däubler-<br />

Gmelin über Hitler und Bush so geäußert<br />

hat an jenem 18. September, vier<br />

Tage vor der Bundestagswahl 2002, als<br />

sich Schröder und Stoiber ein knappes<br />

Rennen lieferten. Aber zunächst der<br />

Rahmen. Personen: die SPD-Politikerin<br />

Däubler-Gmelin; Michael Hahn, Wirtschaftsredakteur<br />

des Schwäbischen Tagblatts<br />

in Tübingen; Christoph Müller,<br />

Chefredakteur des Tagblatts. In Nebenrollen<br />

Gewerkschafter, Tagblatt-Redakteure,<br />

Berliner Journalisten. Szene eins:<br />

Mittagessen in der Sportgaststätte des<br />

TSV Derendingen, am Tisch Däubler-<br />

Gmelin, ihr gegenüber Hahn, dazu etwa<br />

30 Gewerkschafter. Diskussion über den<br />

deutschen Wahlkampf, die bösen USA,<br />

den Irakkonflikt, die sehr bösen USA,<br />

George W. Bush, die superbösen USA.<br />

Szene zwei: Hahn kommt in die Redaktion:<br />

Heilandsack, was er da im Block<br />

hat! Später telefoniert er mit einer aufgeregten<br />

Däubler-Gmelin. Noch später<br />

kommt Däubler-Gmelin in die Redaktion<br />

(noch aufgeregter). Szene drei:<br />

Däubler-Gmelin in der Bundespressekonferenz,<br />

Freitag vor der Wahl, Hitze<br />

des Gefechts.<br />

Nun die drei Versionen des Zitats.<br />

1. „Der Bush macht das Gleiche, was<br />

der Adolf auch gemacht hat. Er geht<br />

nach außen.“ So hat es der Redakteur<br />

Hahn nach eigenen Angaben in sein<br />

Notizbuch geschrieben.<br />

2. „Bush will von seinen innenpolitischen<br />

Problemen ablenken. Das ist eine beliebte<br />

Methode. Das hat auch Hitler<br />

schon gemacht.“ So hat es die Politikerin<br />

nach Darstellung des Redakteurs<br />

und seines Chefredakteurs während<br />

ihres aufgeregten Anrufs gesagt.<br />

3. Nachdem ein Teilnehmer darauf hingewiesen<br />

habe, dass Bush mit der<br />

Irakpolitik von innenpolitischen Problemen<br />

ablenken wolle, sagte sie:<br />

„Das kennen wir aus unserer Geschichte<br />

seit Adolf Nazi.“ So hat sie es<br />

am übernächsten Tag vor der Bundespressekonferenz<br />

erklärt.<br />

Im Laufe der Affäre hat Däubler-<br />

Gmelin noch viel mehr gesagt, grundsätzlich,<br />

aber auch zu den Details von<br />

den Details. Dass der Bericht Verleumdung<br />

sei. Dass sie nichts autorisiert habe.<br />

Dass sie gesagt habe, sie habe nicht Hitler<br />

mit Bush vergleichen wollen (was so<br />

auch im Tagblatt stand). Dass es ein internes<br />

Mittagessen war. Dass es sich um<br />

ein Wahlkampfmanöver handle. Dass der<br />

Fehler darin bestehe, dass hier nur Lokalreporter<br />

am Werk waren (wobei Pech<br />

war, dass Hahn Politologie in Washington<br />

studiert hat). Dass sie nicht zurücktreten<br />

werde.<br />

Däubler-Gmelin trägt einen Spitznamen.<br />

Schwäbische Schwertgosch. Das<br />

Bild führt in die Irre, wenn man sich darunter<br />

eine Kämpferin vorstellt, die das<br />

Schwert elegant führt, bevor sie zustößt.<br />

Däubler-Gmelin fuchtelte und stocherte<br />

herum. Sie hat sich nicht lösen können<br />

von ihrer Rechthaberei und nicht<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 37<br />

Foto: David Ausserhofer<br />

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Rechtssicherheit: Juli Zehs Appell<br />

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die Geschichte der Partei und<br />

ihrer Vorgänger, erkundet ihren<br />

Platz im deutschen Parteiensystem,<br />

erklärt Erfolge und Misserfolge<br />

bei Wahlen – und analysiert<br />

ihre Organisation, Strategie und<br />

Ideologie. Zu der umfassenden<br />

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T i t e l<br />

erkannt, dass es in der Politik darauf ankommt,<br />

wie etwas ankommt. Auch wenn<br />

es im Detail nicht so gemeint war. So<br />

verpasste sie die Chance zu einer schnellen,<br />

klaren Entschuldigung.<br />

Wir haben im Übrigen noch einen<br />

Akteur vergessen. Gerhard Schröder. Als<br />

die Affäre aufkommt, sagt er, dass er einerseits<br />

seiner Ministerin glaube, nicht<br />

Bush mit Hitler verglichen zu haben.<br />

Und zweitens, dass jemand, der so einen<br />

Vergleich anstelle, nicht in seiner Regierung<br />

sitzen könne. Er schreibt noch einen<br />

Brief an Bush. Dann wartet er bis<br />

zur Schließung der Wahllokale. Däubler-<br />

Gmelin hat viel später einmal erzählt, sie<br />

habe erwartet, dass der Kanzler noch eine<br />

Ehrenerklärung für sie abgibt. Hat er<br />

nicht. Erst als Däubler-Gmelin am Montag<br />

nach der Wahl erklärt, sie wolle nicht<br />

mehr Ministerin sein, äußert sich der<br />

Kanzler. „Menschlich hochanständig“ sei<br />

der Schritt. „Und politisch unglaublich<br />

konsequent.“<br />

Die <strong>Cicero</strong>-Anfrage an Herta Däubler-<br />

Gmelin blieb unbeantwortet.<br />

„Dann machen wir’s halt so“<br />

I<br />

m Hamburger Ratskeller hat<br />

Kurt Beck gespeist und mit den<br />

Journalisten geredet. Montagabend,<br />

Michael Naumann war anwesend,<br />

der gerade als Bürgermeister kandidierte,<br />

und Günter Grass, der damals<br />

schweigsamer war als heute. Eine Runde<br />

Journalisten saß dabei, das Gespräch<br />

kam auf Hessen. Die SPD hatte eine Zusammenarbeit<br />

mit der Linkspartei ausgeschlossen,<br />

die dortige Spitzenkandidatin<br />

Andrea Ypsilanti hatte ihr Wort<br />

gegeben. Die FDP wollte nicht in eine<br />

Ampelkoalition einsteigen, und jetzt war<br />

die Frage, ob Ypsilanti einfach ohne Koalition<br />

kandidiert im Landtag von Wiesbaden<br />

und sich zur Ministerpräsidentin<br />

wählen lässt – egal, ob die Stimmen von<br />

der Linkspartei kommen. Die Stimmung<br />

war aufgeladen wie nur was. Rechte SPD<br />

gegen linke SPD. Koch gegen Ypsilanti.<br />

Ächtung der Linken gegen Annäherung<br />

an die Linke. Würde er so ein Wahlszenario<br />

gutheißen?, wurde Beck gefragt. Völlig<br />

überraschend sagte er Ja.<br />

Der Termin im Ratskeller war zwar<br />

ein Hintergrundgespräch, aus dem Journalisten<br />

nicht gleich zitieren dürfen, aber<br />

im Prinzip kapiert jeder kleine Abgeordnete<br />

recht schnell, dass trotzdem Informationen<br />

aus so einem Gespräch<br />

herausquellen, schließlich treffen sich<br />

Journalisten und Politiker ja abends nicht<br />

aus reiner Eitelkeit, sondern auch, weil<br />

die eine Seite Informationen loswerden<br />

will. Bei den Hintergrundgesprächen<br />

läuft es dann manchmal so, dass die anwesenden<br />

Journalisten Vertraulichkeit geloben,<br />

und kaum, dass sie die Veranstaltung<br />

verlassen haben, tratschen sie die<br />

Chose abwesenden Kollegen weiter, die<br />

ja rein gar nichts versprochen haben. Die<br />

berichten dann und revanchieren sich<br />

beim nächsten Mal.<br />

Vielleicht gehört das zu den Sitten,<br />

die Kurt Beck an Berlin so aufgeregt haben.<br />

Vielleicht hat er aber einfach die<br />

Kunst nicht beherrscht, Nähe herzustellen<br />

und trotzdem seine Worte zu dosieren:<br />

ein schlechter Schweiger.<br />

Am übernächsten Tag liefen Ticker-<br />

Meldungen der Neuen Presse aus Hannover<br />

und des Wiesbadener Kuriers. Der<br />

Kölner Stadtanzeiger zitierte Beck im Originalton.<br />

Ypsilanti mit Stimmen der Linken?<br />

„Dann machen wir’s halt so.“<br />

Die CDU jubelte: Die linksfixierte<br />

Wortbruch-SPD, was für ein Wahlkampfhit<br />

für Hamburg! Der SPD-Kandidat Michael<br />

Naumann war wütend über – so<br />

wurde er hinterher zitiert – den LKW aus<br />

Mainz, der seinen Wahlkampf platt walzte.<br />

In Teilen der SPD-Führung setzte sich in<br />

diesen Tagen die Überzeugung fest, dass<br />

Beck dem Job nicht gewachsen ist. Nicht<br />

unbedingt, weil er die Linken zu tolerieren<br />

bereit war. Sondern vor allem, weil er das<br />

Berliner Spiel nicht kapierte.<br />

Wie Kurt Beck die Sache heute sieht?<br />

Er schwieg.<br />

Wein, Grappa, Grippe<br />

W<br />

as kann man Rudolf Scharping<br />

zugutehalten? Dass er erkältet<br />

war? Dass er Wein getrunken<br />

hatte? Und Grappa? Dass ihm beim<br />

Dementi noch das schöne Worte „Schafscheiße“<br />

eingefallen ist?<br />

1999 ging es Rot‐Grün schlecht.<br />

Nichts klappte, die Hessenwahl war verloren,<br />

von der Troika Lafontaine, Scharping<br />

und Schröder waren im Herbst nur<br />

noch die letzten beiden übrig. Scharping,<br />

Bundesverteidigungsminister, reiste<br />

nach Sardinien zu einer Sicherheitstagung.<br />

Im Casino eines Nato-Stützpunkts<br />

namens Decimomannu speiste er mit seinem<br />

Tross, der aus Offizieren und Journalisten<br />

bestand. Nach dem Essen fing<br />

er an: Schröder, seine Eignung als Kanzler,<br />

sein distanziertes Verhältnis zur SPD.<br />

Die Journalisten versammelten sich um<br />

ihn. Ein Verteidigungsminister, der seinen<br />

Kanzler angreift? Toll.<br />

Die Sache ist berichtet worden, zuerst<br />

natürlich von Journalisten, die nicht mit<br />

dabei und deshalb nicht an die Kautelen<br />

eines Hintergrundgesprächs gebunden<br />

waren. Schröder hat ein paar Tage später<br />

darauf reagiert.<br />

„In dem Moment, wo wir beginnen,<br />

Erfolg zu haben, in einem solchen Moment<br />

darf auf gar keinen Fall eine kontroverse<br />

Personaldebatte geführt werden.“<br />

Leise, aber scharf, klang diese Warnung.<br />

Vielleicht war der Vorfall der Anfang<br />

von Scharpings Abstieg als Minister, obwohl<br />

er noch bis 2002 im Kabinett geblieben<br />

ist. Er prägte jedenfalls das Bild<br />

von einem Politiker, der sich selber nicht<br />

kennt. Denn man muss wissen, was man<br />

sich leisten kann, was zur eigenen Rolle<br />

passt und zur Stärke der eigenen Position.<br />

Illustrationen: Olaf Hajek<br />

38 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Zum guten Schweigen gehört die gute<br />

Selbstbeobachtung.<br />

„Meine Antwort ist, dass aus meiner Sicht<br />

kein Grund besteht, eine Verfälschung meiner<br />

damaligen Äußerungen (zudem unter<br />

Bruch journalistischer Regeln über ein Hintergrundgespräch)<br />

noch einmal zu kommentieren.<br />

Mit der Bitte um Verständnis<br />

und mit besten Grüßen. Rudolf Scharping“.<br />

„Militärischer Einsatz für<br />

freie Handelswege“<br />

H<br />

orst Köhler hatte in einem<br />

Ledersessel des Präsidentenflugzeugs<br />

gesessen, als er sich aus<br />

dem Amt redete. In einem fliegenden Besprechungsraum<br />

der „Theodor Heuss“<br />

fand das Interview mit einem Redakteur<br />

des Deutschlandradios statt – Thema abgesprochen,<br />

Pressesprecher dabei, alles<br />

hochoffiziell. Auf dem Band von damals<br />

hört man die Düsen der Maschine summen.<br />

Als der Redakteur fragt, ob ein neuer<br />

Diskurs über den Afghanistaneinsatz nötig<br />

sei, holt Köhler aus. Die Antwort dauert<br />

schon über eine Minute, als er diesen<br />

verschachtelten Satz sagt: „Meine Einschätzung<br />

ist aber, dass insgesamt wir auf<br />

dem Wege sind, doch auch in der Breite<br />

der Gesellschaft zu verstehen, dass ein<br />

Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung<br />

und damit auch Außenhandelsabhängigkeit<br />

auch wissen muss,<br />

dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer<br />

Einsatz notwendig ist, um unsere<br />

Interessen zu wahren, zum Beispiel freie<br />

Handels wege, zum Beispiel ganze regionale<br />

Instabilitäten zu verhindern, die mit<br />

Sicherheit dann auch auf unsere Chancen<br />

zurückschlagen negativ durch Handel,<br />

Arbeits plätze und Einkommen.“<br />

Deutschlandradio Kultur sendet das<br />

Interview am nächsten Morgen, es ist der<br />

22. Mai, ein Samstag. Im Berliner Betrieb<br />

wird das Zitat zunächst praktisch ignoriert.<br />

Eine einzige Nachrichtenagentur<br />

bringt den Satz im letzten Absatz einer<br />

müden Meldung. Und der Politbetrieb,<br />

auf dessen Kosten sich Köhler ganz gern<br />

profiliert hat, verschläft die Gelegenheit,<br />

es mal andersherum zu machen. Im<br />

Grunde bringen den selbst inszenierten<br />

Bürgerpräsidenten die Bürger zu Fall. Sie<br />

schicken jede Menge Mails ans Deutschlandradio.<br />

„Ist ja wirklich harter Tobak,<br />

was der Köhler da loslässt“, schimpft ein<br />

Hörer: „Wir bomben uns zum Exportweltmeister.“<br />

Es wird Sonntag, es wird<br />

Montag, keine Medienlawine. Nur Blogger<br />

greifen das Zitat auf, sozusagen die<br />

Netzbürger. Dienstag, Mittwoch. Am<br />

Donnerstagmorgen schließlich reagiert<br />

der Deutschlandfunk, der Kölner Bruder<br />

des Deutschlandradios, auf die ganze Hörerpost<br />

und befragt den CDU-Politiker<br />

Ruprecht Polenz. Der Präsident habe sich<br />

missverständlich ausgedrückt, sagt der.<br />

Und unglücklich.<br />

Erst dann ist die Hölle über Köhler<br />

hereingebrochen. SPD, Linke,<br />

Grüne spucken Feuer. Unkenntnis, Ungeschicklichkeit,<br />

Wirtschaftskriege,<br />

Kanonen bootpolitik, lose rhetorische<br />

Deckskanone. Parteichefs, Fraktionsgeschäftsführer<br />

und Fachpolitiker melden<br />

sich. Und das ist neu, denn bis zu diesem<br />

Zeitpunkt ist auch die Berliner Republik<br />

sanft mit ihren Bundespräsidenten<br />

umgegangen. Nun aber wollen alle<br />

mal, und vielleicht hat das ja daran gelegen,<br />

dass Köhler sich so gern auf Kosten<br />

der Berliner Politik profiliert hat. Nur<br />

die Bundeskanzlerin hat in diesen Tagen<br />

nichts gesagt, was Köhler auch nicht so<br />

besonders motiviert haben wird. Er selbst<br />

hat sich dann am Montagmorgen, zehn<br />

Tage nach dem Flugzeuginterview, noch<br />

mal zu Wort gemeldet. Er sprach in kurzen<br />

Hauptsätzen – von denen der wichtigste<br />

dieser war: „Ich erkläre hiermit<br />

meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten.“<br />

Köhlers Sicht? Das Büro des Altbundespräsidenten<br />

teilte <strong>Cicero</strong> mit: „Haben Sie herzlichen<br />

Dank für die Anfrage an Herrn Bundespräsidenten<br />

a. D. Köhler. Leider kann<br />

er zur nächsten Ausgabe des <strong>Cicero</strong> keinen<br />

Beitrag beisteuern.“<br />

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Was Europa und Deutschland tun<br />

müssen, um zu einer neuen Einheit<br />

zu gelangen.<br />

2. Dezember<br />

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Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer und<br />

<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur Christoph Schwennicke,<br />

im Gespräch mit Peer Steinbrück.<br />

Sonntag, 2. Dezember 2012, 11 Uhr<br />

Berliner Ensemble,<br />

Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />

Tickets: Telefon 030 28408155<br />

www.berliner-ensemble.de<br />

BERLINER<br />

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In Kooperation<br />

mit dem Berliner Ensemble<br />

© Foto Steinbrück: Daniel Biskup; Meyer: Antje Berghäuser; Schwennicke: Andrej Dallmann<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 39


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Farblos mit Biss<br />

Stephan Weil von der SPD hat gute Chancen, im Januar die Landtagswahl in Niedersachsen zu gewinnen<br />

von Hartmut Palmer<br />

N<br />

ur der schwarze Mercedes, der<br />

dem roten Audi auf der Fahrt<br />

durch Niedersachsen folgt, lässt<br />

vermuten, dass ein wichtiger Mensch unterwegs<br />

sein muss. Bei jedem Überholmanöver<br />

klebt er ihm an der hinteren Stoßstange,<br />

und als der Audi auf dem Gelände<br />

der Siag-Nordseewerke in Emden hält,<br />

springen aus dem Mercedes zwei Männer<br />

mit Sprechfunk im Ohr und Pistole unter<br />

der Jacke und sichern die Umgebung.<br />

Dabei käme niemand auf die Idee, dem<br />

freundlich lächelnden Herrn mit der Aktentasche<br />

und dem schon etwas schütteren<br />

Haar etwas zuleide zu tun, der jetzt aus<br />

dem Auto steigt, sein Jackett zuknöpft, den<br />

Schlips und die Brille richtet und Hände<br />

schüttelt. Stephan Weil sieht aus wie ein<br />

farbloser Büroangestellter. Aber er wird beschützt,<br />

als sei er bereits Ministerpräsident.<br />

Manchmal redet er auch schon so.<br />

Der Firma geht es schlecht, 1000 Arbeitsplätze<br />

stehen auf dem Spiel, man sucht einen<br />

Investor, man braucht einen Massekredit.<br />

Den muss die Landesregierung in<br />

Brüssel beantragen. Weil sagt, was auch der<br />

CDU‐Ministerpräsident David McAllister<br />

gesagt hätte: Er freue sich, „dass es Investoren<br />

gibt, die diesem Unternehmen erst<br />

mal ein entsprechendes Potenzial zutrauen“<br />

und dass „wir diese Chance nutzen müssen“.<br />

Genauso wird es später der FDP-<br />

Wirtschaftsminister Jörg Bode im Landtag<br />

in Hannover vortragen.<br />

In Emden aber entlarvt Weil die schönen<br />

Worte als leere Versprechungen: Er<br />

höre, dass dieser Kredit in Brüssel noch<br />

gar nicht beantragt worden sei. „Es zeigt<br />

sich immer deutlicher, dass die Landesregierung<br />

nicht nur ohne Plan, sondern auch<br />

ohne Willen an der Rettung des Unternehmens<br />

arbeitet oder eben nicht arbeitet.“ Das<br />

sitzt. Die Lokalpresse hat ihren Aufmacher,<br />

die Fernsehkamerateams ihre Bilder – mit<br />

zwei Sätzen hat der freundliche Herr Weil<br />

Zähne gezeigt und Punkte gemacht.<br />

Er ist unterwegs, um sich in dem Land<br />

bekannt zu machen, das er demnächst regieren<br />

will. Man kennt ihn zwar in Hannover,<br />

wo er neun Jahre Stadtkämmerer<br />

war und seit sechs Jahren ein erfolgreicher<br />

Oberbürgermeister ist. Aber außerhalb<br />

der Landeshauptstadt sinkt sein Bekanntheitsgrad,<br />

und auf dem platten Lande<br />

ist er nahezu unbekannt. Trotzdem hat er<br />

gute Chancen, Ministerpräsident zu werden.<br />

FDP, Linkspartei, Piraten und Sonstige<br />

werden nach neuesten Umfragen auf<br />

jeweils 3 Prozent taxiert und kämen nicht<br />

mehr in den Landtag. Die CDU bekäme<br />

zwar 41 Prozent, aber SPD (34 Prozent)<br />

und Grüne (13 Prozent) hätten mit zusammen<br />

47 Prozent die Mehrheit der Sitze und<br />

könnten regieren. Was vor einem Jahr, als<br />

die SPD ihren Spitzenkandidaten kürte,<br />

keiner für möglich gehalten hätte, scheint<br />

also greifbar nahe: Der Unscheinbare aus<br />

dem Rathaus vertreibt den Hoffnungsträger<br />

aus der Staatskanzlei, Frosch wird Prinz,<br />

Nobody schlägt Superstar – Stoff für Hollywood,<br />

großes Kino.<br />

Weil „personifiziert wie kein Zweiter jenes<br />

Motto, das sozialdemokratische Kandidaten<br />

zuletzt erfolgreich gemacht hat: ordentliches<br />

Regieren, keine Experimente,<br />

Seriosität, Erfahrung, keine Versprechungen“,<br />

schrieb die Welt schon vor einem Jahr.<br />

„Wenn Olaf Scholz in Hamburg der Prototyp<br />

dieses Modells war, dann ist Stephan<br />

Weil in Niedersachsen die serienreife Fassung.“<br />

Als Nächsten in dieser Reihe könnte<br />

man sich durchaus den ebenso unbekannten<br />

hessischen SPD-Vorsitzenden Thorsten<br />

Schäfer-Gümbel vorstellen. Auch ihm prophezeihen<br />

die Demoskopen für den Herbst<br />

2013 eine klare rot-grüne Mehrheit.<br />

Stephan Weil hat keine typische SPD-<br />

Karriere hinter sich. Er kommt nicht aus<br />

einem Arbeiterhaushalt, hat sich nicht<br />

auf dem zweiten Bildungsweg nach oben<br />

gearbeitet, war keine große Nummer<br />

bei den Jusos. Die Privatisierungs- und<br />

Steuersenkungsbeschlüsse der rot-grünen<br />

Schröder-Regierung hat er heftig kritisiert,<br />

aber er ist kein Linker, sondern bezeichnet<br />

sich selbst als „bekennenden Pragmatiker“.<br />

Er ist im Hindenburgviertel von Hannover<br />

aufgewachsen, wo die etwas besser Verdienenden<br />

wohnen, hat ein humanistisches<br />

Gymnasium besucht, Latein und Griechisch<br />

gelernt und ist dann Jurist geworden.<br />

Richter war er und Staatsanwalt auch, bevor<br />

er Sachbearbeiter im Justizministerium<br />

und später Stadtkämmerer wurde. Als der<br />

Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg<br />

2006 nach 36 Amtsjahren aufhörte, war<br />

Weil wie selbstverständlich sein Nachfolger.<br />

Und heute ist er, wie Ex-Kanzler Gerhard<br />

Schröder anerkennend urteilt, „ganz<br />

eindeutig der Boss in der Stadt“.<br />

Dass die Leute ihn für farblos halten,<br />

wundert Weil zwar, aber er hält es nicht<br />

für einen Nachteil: „Ich glaube sogar, dass<br />

das in Niedersachsen besser ankommt. Wir<br />

Niedersachsen sind eher nüchtern und mögen<br />

es nicht, wenn einer sich spreizt wie<br />

ein Pfau.“ Er hat sich nicht gedrängt, er<br />

wurde gedrängt. Wolfgang Jüttner, der einige<br />

Jahre die Partei führte, hat ihn geschoben,<br />

und auch Sigmar Gabriel ermunterte<br />

ihn, den Aufstieg in die Bundesliga zu wagen.<br />

Er hat sich kein Hintertürchen offen<br />

gehalten: Wenn es nicht klappt am 20. Januar,<br />

wird er Oppositionsführer werden.<br />

Eine Rückkehr ins Rathaus schließt er aus:<br />

„Ich habe ganz bewusst alle Brücken hinter<br />

mir abgerissen.“ Erschrickt ihn die Aussicht,<br />

demnächst vielleicht Ministerpräsident<br />

zu sein? Stephan Weil blickt aus dem<br />

Auto auf das flache Land, durch das er fährt.<br />

„Nein“, sagt er dann. „Ich habe mich an den<br />

Gedanken gewöhnt.“<br />

Hartmut Palmer<br />

ist politischer Chefkorrespondent<br />

von <strong>Cicero</strong>. Er lebt und arbeitet<br />

in Bonn und in Berlin<br />

Foto: Stefan Kröger, Privat (Autor)<br />

40 <strong>Cicero</strong> 12.2012


„Ich habe mich<br />

an den Gedanken<br />

gewöhnt, demnächst<br />

Ministerpräsident<br />

zu sein“<br />

Stephan Weil<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 41


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Der Mann fürs AtomklO<br />

Für die Regierung bearbeitet Michael Sailer die Endlagerfrage. Die Sache stockt, da rechnet er jetzt mal ab<br />

von CHRISTIAN SCHWÄGERL<br />

M<br />

ichael Sailer hat Einiges unternommen,<br />

um sich von der beängstigenden<br />

Last abzulenken:<br />

Er hat sein Zuhause von Büchern gesäubert,<br />

die von Atomkraft handeln. Er hat<br />

eine Modelleisenbahn gebaut, die – so erzählt<br />

er es – eine historische Kulturlandschaft<br />

zeigt. Sailers kleine Flucht ist das,<br />

er beamt sich in eine Zeit ohne Kernkraft.<br />

„Das Atomthema hält man eigentlich nur<br />

aus, wenn man sich auch mit anderen Sachen<br />

beschäftigt“, sagt er.<br />

Doch trotz aller Bemühungen schafft<br />

Sailer es nie lange, jene verflixten Reizwörter<br />

aus dem Kopf zu kriegen, die die<br />

meisten Deutschen so effektiv verdrängen:<br />

Atommüll, Entsorgung, Gorleben. Während<br />

Umweltschützer, Stromerzeuger und<br />

Verbraucher über erneuerbare Energien<br />

diskutieren, gerät die Hinterlassenschaft<br />

der Kernkraft-Ära aus dem Blick. Knapp<br />

18 000 Tonnen stark strahlenden Mülls<br />

werden in provisorischen Zwischenlagern<br />

verstaut sein, wenn 2022 der letzte Reaktor<br />

vom Netz geht. 225 Gramm pro Bundesbürger.<br />

Ob der Salzstock in Gorleben zum<br />

Endlager taugt, bleibt umstritten. Und die<br />

Öffentlichkeit entsorgt ihre Sorgen bei Sailer,<br />

denn er leitet die „Entsorgungskommission“<br />

der Bundesregierung, eine Expertengruppe,<br />

und die soll es richten.<br />

An Sailer fallen die langen, wallenden<br />

Haare auf. Andere Umweltbewegte mögen<br />

mittlerweile im glatten Businesslook<br />

unterwegs sein, er tritt mit seinen 59 Jahren<br />

noch auf, als käme er gerade aus dem<br />

Tipi. Es ist eine Reminiszenz daran, dass<br />

sein Leben, privat und in seinem Beruf als<br />

technischer Chemiker, untrennbar mit der<br />

ökologischen Subkultur verbunden ist. Er<br />

war früher einer der schärfsten Atomkritiker,<br />

später machte er sich als Forscher im<br />

Darmstädter Öko-Institut einen Namen,<br />

das einst als wissenschaftlicher Flügel der<br />

deutschen Umweltbewegung entstand. Inzwischen<br />

leitet er das Institut mit knapp<br />

150 Mitarbeitern, die ihr Geld mit Gutachten<br />

und Beratungsarbeit verdienen.<br />

Im Februar 2011 berief ihn der damalige<br />

Bundesumweltminister Norbert<br />

Röttgen zum Chef der Entsorgungskommission.<br />

Es war – noch vor Fukushima –<br />

ein Friedensangebot des CDU-Politikers<br />

an die Anti-Atom-Bewegung. „Wissenschaftlich,<br />

unabhängig, effizient“, sagt<br />

Sailer, wolle er den Weg für ein deutsches<br />

Endlager ebnen. Wenn nur die Politik mitmachen<br />

würde. SPD und Grüne haben im<br />

Oktober eine parteienübergreifende Einigung<br />

darüber verhindert, wie die Suche<br />

nach einem Endlager ablaufen soll.<br />

Eigentlich waren die Chancen auf einen<br />

Konsens hoch wie nie. Den Boden bereitet<br />

hatten der Grüne Wilfried Kretschmann<br />

für Baden-Württemberg und der<br />

Schwarze Horst Seehofer für Bayern, als<br />

sie einwilligten, dass auch in ihren Ländern<br />

nach einem Endlagerstandort gesucht<br />

wird. Die Fixierung auf Gorleben<br />

wäre beendet gewesen. Dann blockierten<br />

SPD-Chef Sigmar Gabriel und Grünen-<br />

Fraktionschef Jürgen Trittin. Beide haben<br />

als Bundesumweltminister keinen Konsens<br />

gefunden. Nun wollten sie ihrem Nachfolger<br />

Peter Altmaier von der CDU den Erfolg<br />

kurz vor der Wahl im Gorleben-Land<br />

Niedersachsen wohl nicht gönnen.<br />

Sailer spricht darüber in einem ruhigen,<br />

fast gemächlichen Ton. Aber der äußere<br />

Eindruck täuscht. Gerade weil es um<br />

Jahrmillionen geht, über die der Müll sicher<br />

im Untergrund eingeschlossen sein<br />

muss, geht er ungeduldig an das Thema<br />

heran. „Dass nun politische Manöver von<br />

SPD und Grünen dazwischenkamen, hätte<br />

aus meiner Sicht nicht sein müssen.“ Die<br />

Fragen, deretwegen die Verhandlungen gestoppt<br />

sind, würden in einigen Jahren nur<br />

Kopfschütteln auslösen. Seine Analyse fällt<br />

hart aus: „Manche leben und denken zu<br />

sehr von einem Tag auf den anderen und<br />

sind zu sehr darauf konzentriert, was ihnen<br />

kurzfristig zum Beispiel vor Wahlen nützt.“<br />

Die deutschen Zwischenlager seien „völlig<br />

ungeeignet“. An der Erdoberfläche sei das<br />

Risiko am höchsten: „Jeder Umweltpolitiker,<br />

der sich nicht darum kümmert, dass es<br />

zu einer guten Lösung kommt, macht sich<br />

schuldig, wenn die Abfälle irgendwann in<br />

der Umgebung verstreut sind.“<br />

Er schlägt sich also auf die Seite des<br />

Umweltministers von der Union. Dessen<br />

Gesetzentwurf zur Endlagersuche hält er<br />

für eine gute Grundlage. Die Kritik von<br />

Gabriel und Trittin, Gorleben werde darin<br />

fokussiert, weist Sailer zurück. Am Anfang<br />

werde die ganze Republik gescannt, dann<br />

würden die besten Standorte in Ton-, Granit‐<br />

und Salzgestein vom Schreibtisch aus<br />

untersucht, und schließlich werde an wenigen<br />

Standorten gebohrt. „Gorleben ist mit<br />

im Pool, aber es kann in der ersten, zweiten<br />

oder dritten Runde rausfliegen“, sagt<br />

er. Für den zweiten Entsorgungs-Hotspot,<br />

das havarierte Lager Asse, fordert er Vorbereitungen<br />

dafür, den Müll unter Tage zu<br />

lassen, statt ihn zu bergen.<br />

Mit diesen Positionen erzürnt er die<br />

Anti-Atom-Szene. „Bei der Entsorgung<br />

trennen uns Welten“, sagt Jochen Stay, einer<br />

der Wortführer der Szene. Das Altmaier-Papier<br />

gebe Gorleben faktisch<br />

Vorrang. Der frühere Mitstreiter bei Anti-<br />

Atom-Protesten? Das kann Stay sich nicht<br />

mehr vorstellen. „Der würde ausgepfiffen.“<br />

Sailer sitzt zwischen allen Stühlen. „Irgendwann<br />

wird man sich bei der Entsorgung<br />

einigen müssen“, sagt er, „ich will auf<br />

jeden Fall noch miterleben, dass es eine vernünftige<br />

Lösung gibt.“<br />

Es muss eine Lösung sein, die eine Million<br />

Jahre trägt.<br />

Christian Schwägerl<br />

ist freier Journalist in Berlin und<br />

Autor der Bücher „Menschenzeit“<br />

und „11 drohende Kriege“<br />

Fotos: Edgar Schöpal, Maurice Weiss (Autor)<br />

42 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Michael Sailer, Chef der<br />

Entsorgungskommission:<br />

„Wer sich nicht kümmert,<br />

macht sich schuldig“<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 43


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Die HärtE der Prinzessin<br />

Hinter dem Lächeln der künftigen Ministerpräsidentin Malu Dreyer stecken Methodik und Disziplin<br />

von GEORG LÖWISCH<br />

D<br />

ie Ministerin kommt aus der<br />

Wand. Ganz plötzlich, die Tür<br />

gehört zum Wandschrank hinter<br />

dem Schreibtisch, sie ist leicht zu übersehen,<br />

grau wie die Fächer und Regale, wie<br />

der Teppich des Amtszimmers, das Malu<br />

Dreyer, gestützt auf ihre Pressesprecherin,<br />

nun betritt. Sie nimmt den ganzen Raum<br />

ein. Ihre Wirkung entsteht aus der tastenden<br />

Behutsamkeit, mit der sie zum Konferenztisch<br />

geht und dem sicheren Auftritt<br />

einer Frau, die seit zehn Jahren Ministerin<br />

ist und in wenigen Wochen Ministerpräsidentin<br />

von Rheinland-Pfalz. Man fragt<br />

sich, was hinter diesem Wandschrank liegt,<br />

wie groß der Raum ist, ob er eine Couch<br />

hat, vielleicht ein Bad?<br />

Sie übergeht die Frage und lächelt. Eine<br />

Fotografin will Bilder machen. Während<br />

sich die Politikerin auf die Kante des Konferenztischs<br />

setzt und posiert, wechselt sie<br />

Kontrollblicke mit der Pressesprecherin:<br />

okay so?<br />

Seit Kurt Beck Ende September verkündet<br />

hat, dass er geht und seine 51 Jahre<br />

alte Sozialministerin Dreyer als Nachfolgerin<br />

benannt hat, ist sie eine Geschichte geworden.<br />

Die Fotos von ihr hoben sich sofort<br />

ab vom alten Regierungschef, den die<br />

Millionen aus der Pleite des Freizeitparks<br />

am Nürburgring herunterziehen und der in<br />

der Fußgängerzone ausrastet, wenn ihm einer<br />

dumm kommt. Angesichts all der Anwärter<br />

auf Becks Erbe in der SPD hatte<br />

keiner mit ihr gerechnet. Sie war plötzlich<br />

da, so wie sie gerade eben aus der Wand<br />

gekommen ist. Weiblich, gut aussehend,<br />

unbelastet. Der Landtagspräsident von der<br />

SPD hat sie gleich die „Königin der Herzen“<br />

genannt.<br />

Dreyer leidet an Multipler Sklerose.<br />

Das macht ihren Fall für viele zu einer Art<br />

Märchen. Von Politikern wird verlangt,<br />

dass sie perfekt sind, unbestechliche, starke<br />

Helden. Wenn so eine dann noch mit einer<br />

Krankheit fertig wird, wird sie zur Prinzessin:<br />

Die schöne Malu, zart, aber mutig, die<br />

„Sie ringen darum: Werden Sie als<br />

gute Ministerin wahrgenommen<br />

oder als Frau mit Erkrankung?“<br />

Malu Dreyer über die Politik und ihre Multiple Sklerose<br />

im Mehrgenerationendorf wohnt und für<br />

Gerechtigkeit eintritt. Es ist eine Zuschreibung,<br />

eine Rolle. Das Besondere an Malu<br />

Dreyer ist etwas anderes: Sie vermag es,<br />

Schwächen wegzuorganisieren und Härte<br />

mit Liebenswürdigkeit zu überspielen. Sie<br />

ist keine Illusionistin, sie spielt nicht falsch.<br />

Sie will die Dinge beherrschen. Vor allem<br />

beherrscht diese Frau sich selbst.<br />

Wie sie jetzt am Konferenztisch ihres<br />

Büros sitzt, wirkt sie nicht mächtig. Fast<br />

das ganze Gespräch hindurch lächelt sie.<br />

Ihre Gesichtszüge wirken dabei offen und<br />

unverstellt, aber dieses Lächeln macht auch<br />

etwas zu. Sie sagt kaum etwas, das sie nicht<br />

durchdacht hat. Die Pressesprecherin sitzt<br />

neben ihr und beobachtet die Chefin.<br />

Man kann versuchen, die Freundlichkeit<br />

zu durchbrechen, indem man sie angeht.<br />

Gefallen Sie sich in der Rolle der<br />

Prinzessin, die König Kurt auf seinen<br />

Thron setzt? „Erstens bin ich keine Prinzessin.<br />

Zweitens hat mich die SPD nominiert.“<br />

Keine Spur von Schärfe. Wäre es nicht eine<br />

größere Leistung, wenn sie sich den Job<br />

erkämpft hätte, statt ihn zu erben? Becks<br />

Vorschlag sei eine große Ehre. „Ob ich Erfolg<br />

habe, hat nichts mit dieser Ehre zu tun.<br />

Sondern mit der Frage, ob ich das gut oder<br />

schlecht mache.“ Das Lächeln ist die ganze<br />

Zeit im Gesicht geblieben.<br />

Ulla Schmidt kennt Malu Dreyer lange.<br />

Schmidt war Bundesgesundheitsministerin,<br />

gemeinsam verhandelten sie für die SPD<br />

die Gesundheitsreformen. Ihr Ressort ist<br />

vielleicht das härteste der Politik. Für die<br />

Bürger geht es um Gesundheit, für die Interessenvertreter<br />

geht es um Geld. „In dem<br />

Geschäft gibt’s keine Beißhemmung“, sagt<br />

Ulla Schmidt. Sie muss darauf eigentlich<br />

nicht hinweisen, sie hat Jahre des Beißens<br />

und Bellens ertragen, sie hat zurückgeschnappt.<br />

Schmidt würde eine durchinszenierte<br />

Prinzessin niemals ernst nehmen.<br />

Über Dreyer sagt sie anerkennend: „Sie arbeitet<br />

hart und gibt nie auf.“<br />

In den Verhandlungsrunden haben sie<br />

sich unterschieden. Der Ton wurde immer<br />

mal rau, erzählt Schmidt, da konnte<br />

sie selbst ausflippen. Dreyer dagegen habe<br />

stets ausgeglichen reagiert und werde nie jemanden<br />

persönlich angreifen. „Auf sie passt<br />

das Aachener Sprichwort: ‚Willst du jemandem<br />

die Zähne zeigen, dann lächele.‘“<br />

Julia Klöckner muss damit klarkommen.<br />

Die CDU-Landeschefin hat ihrer Partei in<br />

Rheinland-Pfalz eine Grundreinigung verpasst.<br />

Geschwindigkeit hoch, Sprache knallig.<br />

Mit ihrer Aggressivität hatte sie es sogar<br />

geschafft, den alten Beck in Bedrängnis zu<br />

bringen. Sie war fast am Ziel. Dann präsentierte<br />

Beck Malu Dreyer. Wie soll Klöckner<br />

bloß eine Konkurrentin angreifen, die<br />

selbst gar nicht angreift?<br />

Klöckner ist schon jetzt vorsichtig, als<br />

wäre sie hinter einem Fairnesspreis her.<br />

Es werde nicht schwieriger, sondern nur<br />

Foto: Angelika Zinzow<br />

44 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Malu Dreyer: Sagt, was sie<br />

durchdacht hat. Bewegt sich in<br />

Strukturen, die sie organisiert hat<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 45


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Ihn nannten sie „König Kurt“. Sie sagt: „Ich bin keine Prinzessin.“<br />

Im Januar übergibt Beck das Ministerpräsidentenamt an Dreyer<br />

anders. Für sie selbst ergebe sich sogar die<br />

Möglichkeit, eine andere Facette zu zeigen:<br />

Menschen und Meinungen an einen Tisch<br />

holen, wie in Berlin, als sie Staatssekretärin<br />

für Verbraucherschutz war, fair im Umgang<br />

und klar in der Sache. Für eine Herausforderin<br />

hört sich das ganz schön brav<br />

an. Vielleicht findet sie das selbst, denn sie<br />

stichelt wenigstens indirekt gegen die Konkurrentin.<br />

„Kommende Generationen interessiert<br />

es nicht, ob immer schön gelächelt<br />

und sich gut verstanden wurde, sondern<br />

was bei Problemstellungen rauskam.“<br />

Es wird schwer für die Gegner der<br />

künftigen Ministerpräsidentin. Eine Frau<br />

mit Behinderung ist fast unberührbar.<br />

Harte Attacken gelten da schnell als fies.<br />

Auch wenn Dreyer sagt, dass sie nicht anders<br />

behandelt werden will wegen ihrer<br />

Erkrankung.<br />

Multiple Sklerose greift das zentrale<br />

Nervensystem an. Die Ursache ist nicht<br />

erforscht. Ein Teil des Immunsystems arbeitet<br />

falsch, die Abwehr richtet sich gegen<br />

den eigenen Körper. In Gehirn und<br />

Rückenmark kommt es zu Entzündungen.<br />

Die Krankheit variiert, es heißt, dass sie<br />

1000 Gesichter hat. Die Sehkraft kann gestört<br />

werden, oder die Muskeln geben nach,<br />

oder der Körper fühlt sich geschwächt an.<br />

Mal verläuft die Krankheit in Schüben,<br />

mal schleichend, aber hier gibt es ebenso<br />

Mischformen der MS. Die Erkrankten belastet<br />

auch, dass kaum vorhersehbar ist, wie<br />

die Krankheit verläuft.<br />

Vom ersten Kribbeln, von den ersten<br />

Sehstörungen kann es Jahre dauern, bis die<br />

ärztliche Diagnose feststeht. Malu Dreyer<br />

bekam sie 1996, sie war damals 35, gerade<br />

erst in die SPD eingetreten und zur Bürgermeisterin<br />

der Stadt Bad Kreuznach gewählt<br />

worden. Sie hat eine schleichende MS, es<br />

kommt nicht zu Schüben.<br />

Lange erzählte sie nur Vertrauten von<br />

der Krankheit und machte weiter, wurde<br />

Sozialdezernentin in Mainz, dann Sozialministerin.<br />

Zehn Jahre lang schwieg sie in<br />

der Öffentlichkeit. Die Krankheit ist ja<br />

erst sichtbar geworden, als ihr das Gehen<br />

schwerfiel.<br />

Nicht über eine Behinderung zu sprechen,<br />

kann schwierig werden für einen Politiker.<br />

Wer über seine Schwächen selbst<br />

redet, über den wird vielleicht weniger<br />

schlecht geredet. Wie diese Mechanik funktioniert,<br />

kann man an Wolfgang Schäuble<br />

sehen. Nachdem der Minister nach dem<br />

Attentat querschnittsgelähmt war, hat<br />

er sich konsequent geöffnet, hat die Reporter<br />

ins Krankenhaus bestellt und später<br />

berichtet, wie ihn sein Hund im Rollstuhl<br />

nicht erkannte, als er an Weihnachten<br />

nach Hause kam. Wie er im Rollstuhl friert,<br />

wie bei Stehempfängen Bier auf ihn runterschwappt,<br />

wie es war, als er umgekippt ist,<br />

was er träumt. Er gibt viel preis, aber dafür<br />

wird ihm auch Sympathie entgegengebracht.<br />

Weil er so radikal in die Offensive<br />

geht mit der Behinderung und auch mit<br />

seinen politischen Forderungen als Minister,<br />

wird er aber auch nicht geschont. Vielleicht<br />

wird das Dreyer genauso passieren,<br />

wenn sie sich stärker exponiert.<br />

Bei Schäuble hat ein Kommentator<br />

einmal eine Verbindung zwischen der Sicherheitspolitik<br />

des damaligen Innenministers<br />

und der Behinderung hergestellt.<br />

Die These galt damals als unfair. Trotzdem<br />

erzählt Schäuble auch gegen solche<br />

Geschichten an, gegen die Schwäche, gegen<br />

ein Raunen vom bitteren Alten.<br />

2006 hat sich Malu Dreyer entschieden,<br />

dass es klug ist zu reden. „Es ist eine<br />

Gratwanderung, wenn man eine chronische<br />

Erkrankung hat, die nicht so sichtbar<br />

ist“, sagt sie. „Weil Sie immer darum<br />

ringen: Werden Sie als gute Ministerin<br />

wahrgenommen oder als Frau mit einer<br />

Erkrankung?“<br />

Über die Krankheit, sagt sie, habe sie<br />

geredet, als sie sich stark genug fühlte. Dort<br />

musste sie erst hinkommen. 2002 hat Kurt<br />

Beck sie eines Tages angerufen, er gab ihr<br />

30 Minuten, um zu entscheiden, ob sie den<br />

Job will. Aber man steigt nicht so leicht auf<br />

von der Sozialdezernentin zur Ministerin.<br />

Die ersten Jahre waren hart.<br />

Im November 2003 brachen Jugendliche<br />

aus einem Erziehungsheim in Rodalben<br />

in der Pfalz aus und erstachen dabei eine<br />

junge Erzieherin. Es war eine neue Einrichtung,<br />

ein neues Konzept des Justiz- und<br />

des Sozialministeriums: Heim statt U-Haft.<br />

Die CDU machte Dreyer für den Tod der<br />

Erzieherin verantwortlich, ein Untersuchungsausschuss<br />

wurde eingerichtet. Nun<br />

flocht die Union ein Netz aus Zeitdruck,<br />

konzeptionellen Fragen, Aufsichtspflichten<br />

zwischen den Ministerien, dem Landesjugendamt<br />

und dem Träger des Heimes. Im<br />

Juni 2005 im Landtag verlangte sie Dreyers<br />

Rücktritt. Sie übernahm die politische Verantwortung,<br />

aber sie trat nicht zurück. Sie<br />

erklärte, die Sicherheit des Personals liege<br />

in der Verantwortung des Trägers.<br />

Im Protokoll von damals liest sich ihre<br />

Argumentation sperrig, Subsidiaritätsprinzip,<br />

Ablaufverantwortung: Eine Juristin<br />

kämpft um ihr Amt. Spricht man sie heute<br />

Foto: Torsten Selz/DDP Images/DAPD


Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: Andrej Dallmann<br />

auf die Ereignisse an, bricht die Selbstkontrolle<br />

für einen Moment auf. „Das war eine<br />

unglaublich tragische Geschichte mit dieser<br />

jungen Frau, die mir persönlich sehr<br />

nahegegangen ist. Und das Zweite ist: Es<br />

war die größte Sauerei von der damaligen<br />

CDU-Opposition zu versuchen, mich dafür<br />

verantwortlich zu machen.“<br />

2006 wird die SPD wiedergewählt, sogar<br />

mit absoluter Mehrheit. Dreyer ist in<br />

einer sicheren Position. Am 4. Oktober gibt<br />

sie eine Pressekonferenz, sie sagt es im Kabinett,<br />

ihren Mitarbeitern, der SPD-Fraktion,<br />

alles an einem Tag. Die Kommunikation<br />

hat sie bestimmt. „Das war gut<br />

organisiert“, sagt sie heute zufrieden.<br />

Dreyer ist eine Systematikerin geworden.<br />

Die SPD in Trier hat sie umgebaut,<br />

Nervensägen schaltete sie aus, ihr Mann<br />

wurde Oberbürgermeister: Bloß nicht ohne<br />

<strong>Macht</strong>basis dastehen. Sie hat reiflich überlegt,<br />

ob sie das Amt der Regierungschefin<br />

übernehmen würde, seit im Sommer Kurt<br />

Beck das erste Mal gefragt hat: nie mehr<br />

so eine Entscheidung in nur 30 Minuten<br />

treffen. In ihrem Ministerium hat sie dafür<br />

gesorgt, dass Mitarbeiter Probleme früh erkennen<br />

und keine Angst haben, Fehler ihren<br />

Chefs zu gestehen: Nur nicht noch mal<br />

einer Katastrophe begegnen wie 2003, als<br />

in Rodalben die Erzieherin starb.<br />

Die vermeintliche Prinzessin arbeitet<br />

methodisch und diszipliniert. Alles gut organisiert.<br />

Aber sie schafft es dabei, ihr Handeln<br />

nach Leichtigkeit aussehen zu lassen.<br />

Sie will die Dinge im Griff haben. In<br />

den Wochen bis zur Wahl im Januar führt<br />

sie ein Fachgespräch nach dem nächsten,<br />

eine Ministerpräsidentin muss von allen<br />

Ressorts Ahnung haben. Sie bereitet sich<br />

vor, sichert sich ab. Sie hat früher ihre Juraexamen<br />

mit Prädikat gemacht, warum<br />

soll sie den neuen Aufgaben nicht gewachsen<br />

sein? Sie will ja sogar ihre Krankheit<br />

kontrollieren.<br />

Die MS sei nicht das Thema, das im<br />

Mittelpunkt ihres Lebens stehe, sagt sie.<br />

„Die Krankheit tritt zurück.“ Der Satz ist<br />

formuliert wie ein Befehl. Aber natürlich<br />

ist sofort das Lächeln da.<br />

... warum der Mythos von der<br />

guten Mutter bei uns immer<br />

noch solche Blüten treibt<br />

I<br />

ch Bin eine Egoistische, kaltherzige<br />

Rabenmutter, denn ich bin<br />

nicht rund um die Uhr für meine<br />

Kinder da, sondern übe einen Beruf aus.<br />

Ich besitze außerdem die Unverfrorenheit,<br />

dies angesichts einer Scheidungsrate von<br />

40 Prozent und des neuen Unterhaltsrechts<br />

für vernünftig zu halten und<br />

diese Meinung auch noch öffentlich<br />

kundzutun. Damit diffamiere<br />

ich all die selbstlosen, warmherzigen<br />

Mütter, die ihren Kindern zuliebe<br />

auf einen Beruf verzichten –<br />

in Deutschland immerhin fast<br />

30 Prozent. Dieses Vergehens bezichtigte<br />

mich eine Frau während<br />

einer Lesung meines neuen Buches, in<br />

dem das Thema gestreift wird. Sie stand<br />

auf, holte Luft und richtete mich.<br />

Der heftigste Kulturkampf in unserem Land tobt zwischen Vollzeit- und berufstätigen<br />

Müttern. Alle Waffen sind erlaubt, keine Gefangenen. Es treten an:<br />

trutschige Hausfrauen mit sandkastengroßem Horizont, die Fortpflanzung für die<br />

einzig wahre Bestimmung halten und parasitär vom Gehalt ihres Mannes leben,<br />

gegen ehrgeizige Karriereweiber, die ihre Kinder drei Stunden nach der Geburt in<br />

eine Krippe stecken und dort bis zur Volljährigkeit fremdbetreuen lassen, während<br />

sie sich rücksichtslos selbst verwirklichen.<br />

Die Blauhelme in diesem Krieg sagen: Jede Frau sollte das für sich selbst<br />

entscheiden.<br />

Ich sage: Rennt doch in euer Unglück, ihr tollen Supermütter. Aber beklagt<br />

euch später nicht, wenn die Kinder aus dem Haus sind, euer Mann mit einer Jüngeren<br />

durchgegangen ist und die nette Dame in der Arbeitsagentur vor Lachen<br />

Schluckauf bekommt, wenn ihr nach einem Job fragt. Wenn euer Rentenbescheid<br />

bei ungefähr 70 Euro liegt – so viel könnt ihr nach der Scheidung mit Minijobs<br />

nämlich noch erwirtschaften. Ach stimmt, ihr habt ja den Versorgungsausgleich.<br />

Vorausgesetzt, ihr wart verheiratet, hattet keinen Ehevertrag und keinen Mann, der<br />

vor der Trennung schnell seine Altersversorgung auflöst und eine Immobilie davon<br />

erwirbt. Alles schon da gewesen.<br />

Vielleicht schießen eure Kinder ja ein bisschen Geld zu, schließlich habt ihr<br />

euch jahrelang für sie aufgeopfert. Vielleicht fragen die euch aber auch, warum ihr<br />

ihnen ständig gute Schulnoten abverlangt habt, damit sie Chancen im Beruf haben,<br />

während ihr als Hausmütterchen all eure beruflichen Chancen verspielt habt.<br />

Stirbt dieser verdammte Gute-Mutter-Mythos in diesem Lande denn nie<br />

aus? Warum wollen so viele junge Frauen in der gleichen Abhängigkeit leben wie<br />

ihre Mütter und Großmütter? Und warum wird als egoistisch und kaltherzig beschimpft,<br />

wer sie vor dieser Idiotie bewahren will?<br />

Georg Löwisch<br />

ist Textchef von <strong>Cicero</strong><br />

Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />

Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen aufwirft<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 47


| B e r l i n e r R e p u b l i k | J u s t i z G E S C H I C H T E<br />

Braune Flecken<br />

Die Generalbundesanwälte Siegfried Buback und Kurt Rebmann waren in jungen Jahren<br />

NSDAP-Mitglieder. Ihre Personalakten zeigen, wie beide Ermittler das verbargen<br />

von Michael Sontheimer<br />

A<br />

ls Stefan Wisniewski im März<br />

vergangenen Jahres als Zeuge<br />

vor das Oberlandesgericht Stuttgart<br />

trat, verweigerte er jegliche<br />

Aussage. Eine Botschaft jedoch<br />

wollte das einstige Mitglied der Roten Armee<br />

Fraktion übermitteln, auch wenn er<br />

sie ziemlich kryptisch formulierte. Auf der<br />

Rückseite seines dunklen Kapuzenpullovers<br />

stand der polnische Satz: „Scigajcie<br />

ten slad“, – „verfolgt diese Spur“ –, und<br />

die Zahl 8179469.<br />

Wisniewskis Vater war Pole und wurde<br />

von Deutschen bei der Zwangsarbeit und<br />

im Konzentrationslager derart misshandelt,<br />

dass er bald nach dem Krieg starb.<br />

Generalbundesanwalt Siegfried Buback<br />

trug als junger Mann die Mitgliedsnummer<br />

8179469 der NSDAP.<br />

Um die Ermordung von Buback und<br />

seiner beiden Begleiter im April 1977 aufzuklären,<br />

war Wisniewski in Stuttgart als<br />

Zeuge vorgeladen; gegen den 59-Jährigen<br />

selbst ermittelt die Bundesanwaltschaft<br />

bis heute wegen des Attentats auf den<br />

Generalbundesanwalt.<br />

Der Versuch des einstigen Terroristen,<br />

den Mord der RAF zu legitimieren, ist absurd<br />

und zynisch, doch die Fakten stimmen.<br />

Buback war Mitglied der Nazi-Partei.<br />

Und nicht nur er, auch sein Nachfolger,<br />

Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, war<br />

als junger Mann der NSDAP beigetreten.<br />

Die braunen Flecken in der Vergangenheit<br />

der beiden obersten Strafverfolger der Republik<br />

waren zu ihren Lebzeiten nicht bekannt.<br />

Sie zogen es vor, sie zu beschweigen.<br />

Jetzt lassen sich, dank des seit 2006 geltenden<br />

Informationsfreiheitsgesetzes, die<br />

Personalakten der beiden einsehen. Aus ihnen<br />

geht hervor, dass sie gegenüber ihren<br />

Dienstherren mit ihrer NS-Vergangenheit<br />

unterschiedlich umgingen.<br />

Zwei Generalbundesanwälte – und zwei, die ihre Vergangenheit als<br />

NSDAP‐Mitglieder beschwiegen: Kurt Rebmann (links) und Siegfried Buback<br />

Buback, der als Student zur Wehrmacht<br />

eingezogen worden war und es bis zum<br />

Leutnant gebracht hatte, spielte zunächst<br />

mit offenen Karten. Einem Gesuch, mit<br />

dem er sich beim Oberlandesgerichtspräsidenten<br />

in Celle um die Übernahme in den<br />

Justizdienst bewarb, legte er im Juni 1947<br />

einen Lebenslauf bei. Handschriftlich<br />

führte er darin aus: „Im April 1934 trat<br />

ich in die Hitler-Jugend ein. Am 1. 1. 1937<br />

erfolgte meine Ernennung zum Rottenführer.“<br />

Im November 1938 sei er Mitglied<br />

des NSDStB geworden, des Nationalsozialistischen<br />

Deutschen Studentenbunds.<br />

„1943 erhielt ich in Frankreich die Mitteilung,<br />

dass ich seit dem 1. 7. 1940 in die<br />

NSDAP übernommen worden sei.“<br />

Die Übernahme in die Partei ohne eigenes<br />

Zutun ist allerdings äußerst fraglich.<br />

Laut den Parteistatuten war ein eigenhändig<br />

unterschriebener Antrag für die Aufnahme<br />

in die NSDAP erforderlich.<br />

Buback hatte, nach zwei Jahren aus<br />

der Kriegsgefangenschaft entlassen, erlebt,<br />

dass sein Vorleben als Parteigenosse<br />

seiner Karriere nicht mehr förderlich war.<br />

„Nur aufgrund der Tatsache, dass ich automatisch<br />

aus der HJ 1940 in die ehemalige<br />

NSDAP übernommen wurde“, klagte<br />

er im Juni 1948, könne er in seiner sächsischen<br />

Heimat, die nun in der sowjetischen<br />

Besatzungszone lag, seine Juristenausbildung<br />

nicht fortsetzen. Deshalb habe<br />

er sich entschlossen, „mich mit meiner<br />

Fotos: Darchinger Archiv/Friedrich Ebert Stiftung, DDP Images/AP<br />

48 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Foto: Sabine Sauer (Autor)<br />

Familie später in Niedersachsen anzusiedeln“.<br />

Die britischen Besatzer gingen bei<br />

der „Denazification“ weniger streng vor als<br />

die Russen.<br />

Bubacks Nachfolger Rebmann musste<br />

im Mai 1950 als junger Gerichtsassessor<br />

beim Landgericht Heilbronn einen Personalbogen<br />

ausfüllen. Der promovierte Jurist<br />

listete penibel sämtliche Stationen seines<br />

Referendariats auf, vom Amtsgericht<br />

Öhringen bis zur Landesstrafanstalt Hohenasperg.<br />

Auch was seinen Militärdienst<br />

betraf, ging der spätere Generalbundesanwalt<br />

ins Detail: „Stammkompanie II, Gebirgsjäger-Ersatz-Bataillon<br />

98, Garmisch;<br />

Frankreich, Kroatien, Bulgarien, Albanien.<br />

Am 12. 9. 1943 Oberschenkelschussbruch.“<br />

Was Rebmann allerdings seinem<br />

Dienstherrn lieber nicht mitteilte: Er hatte<br />

am 30. März 1942, kurz vor dem Abschluss<br />

der Oberschule, in Heilbronn<br />

die Aufnahme in die Nationalsozialistische<br />

Deutsche Arbeiterpartei<br />

beantragt. So lässt<br />

es sich in der Mitgliedskartei<br />

der NSDAP nachlesen, über<br />

die das Bundesarchiv verfügt.<br />

Die Ortsgruppe Heilbronn,<br />

Gau Württemberg-Hohenzollern,<br />

nahm ihn am 1. September<br />

1942 auf.<br />

In Rebmanns Personalakte<br />

ist das nicht zu finden.<br />

Unter dem Stichwort „Ergebnis<br />

der politischen Prüfung“<br />

ist nur vermerkt, das Verfahren<br />

sei entsprechend der „Jugendamnestieverordnung<br />

vom<br />

6. 8. 1946“ eingestellt worden.<br />

Diese Verordnung sah vor, dass nach dem<br />

1. Januar 1919 geborene Personen nur mit<br />

„Sühnemaßnahmen“ bestraft werden können,<br />

„wenn sie Hauptbeschuldigte, Belastete<br />

oder Minderbelastete sind“.<br />

Als Rebmanns Vorgänger Buback<br />

1959 zur Bundesanwaltschaft abgeordnet<br />

wurde, fanden die neuen Dienstherren<br />

seine NS‐Vergangenheit in der Personalakte<br />

dokumentiert. Auch das Bundesjustizministerium<br />

erwähnte sie 1974 in seinem<br />

Vorschlag für die Ernennung Bubacks zum<br />

Generalbundesanwalt. Doch dann wurde<br />

wohl auch intern wieder geschwiegen.<br />

Der Sozialdemokrat Hans-Jochen Vogel<br />

wurde kurz darauf Bundesjustizminister<br />

und damit Bubacks Vorgesetzter. Heute<br />

Gerhart<br />

Baum, damals<br />

Innenminister,<br />

sagt heute,<br />

er hätte<br />

Rebmanns<br />

Ernennung<br />

blockiert,<br />

wenn er von<br />

dessen Nazi-<br />

Vergangenheit<br />

gewusst hätte<br />

kann er sich nicht erinnern, jemals von der<br />

NSDAP-Mitgliedschaft seines obersten<br />

Strafverfolgers gehört zu haben. Auch Michael<br />

Buback, das einzige Kind des Generalbundesanwalts,<br />

wollte es zunächst nicht<br />

glauben, als er vor zehn Jahren im Spiegel<br />

las, dass sein Vater Mitglied der Nazi-Partei<br />

war. Der Generalbundesanwalt hatte<br />

auch zu Hause in der Familie über diesen<br />

Punkt in seiner Vergangenheit kein Wort<br />

verloren.<br />

Mit ihrem Vorleben fallen Buback und<br />

Rebmann bei der Bundesanwaltschaft allerdings<br />

nicht aus dem Rahmen, im Gegenteil.<br />

Der erste Oberbundesanwalt Carl<br />

Wiechmann hatte in den Nazi-Jahren am<br />

Berliner Kammergericht NS‐Recht gesprochen.<br />

Sein Nachfolger Max Güde war ein<br />

vormaliges NSDAP-Mitglied.<br />

Ihm folgte Wolfgang Fränkel, der abtreten<br />

musste, weil Beweise für seine Beteiligung<br />

an Todesurteilen<br />

als Reichsanwalt veröffentlicht<br />

wurden. Sein Nachfolger<br />

und Bubacks direkter<br />

Vorgänger im Amt, Ludwig<br />

Martin, hatte der Reichsanwaltschaft<br />

vor 1945 als wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter<br />

gedient und blieb nach dem<br />

Ende der NS‐Zeit ein Anhänger<br />

der Todesstrafe.<br />

„Die Suche nach einem<br />

Nachfolger für Buback im<br />

Sommer 1977 war quälend“,<br />

erinnert sich Hans-Jochen<br />

Vogel. Als Ressortchef gelang<br />

es ihm nach der Ermordung<br />

des Generalbundesanwalts<br />

nur schwer, Interessenten für<br />

den lebensgefährlichen Job zu finden.<br />

Kurt Rebmann war dazu bereit und mit<br />

dem Hauptfeind der Bundesanwaltschaft<br />

vertraut. Als Ministerialdirektor im Justizministerium<br />

Baden-Württembergs war er<br />

für die RAF‐Gefangenen in Stammheim<br />

zuständig.<br />

Er habe erst jetzt erfahren, sagt Hans-<br />

Jochen Vogel, dass der neue oberste Ankläger<br />

NSDAP-Mitglied gewesen sei.<br />

Gerhart Baum war damals Bundesinnenminister<br />

von der FDP und somit Vogels<br />

Kabinettskollege in der sozialliberalen Koalition.<br />

Er wusste zu jener Zeit auch nichts<br />

von der NS‐Vergangenheit Rebmanns.<br />

„Mich wundert allerdings gar nichts mehr<br />

in dieser Beziehung“, sagt Baum heute.<br />

Regierungschef Konrad Adenauer habe<br />

mit Hans Globke einen Kommentator der<br />

Nürnberger Rassegesetze zum Chef seines<br />

Kanzleramts ernannt. Der Bundeskanzler<br />

und CDU-Bundesvorsitzende Kurt Georg<br />

Kiesinger sei schon 1933 in die NSDAP<br />

eingetreten.<br />

War deshalb die Ernennung einstiger<br />

Nationalsozialisten als führende Vertreter<br />

des demokratischen Rechtsstaats folgerichtig<br />

oder gar zwangsläufig? Wenn er von der<br />

NSDAP-Mitgliedschaft von Rebmann gewusst<br />

hätte, sagt Gerhart Baum, hätte er<br />

seiner Ernennung nicht zugestimmt. „Der<br />

Vertrauensverlust der Strafverfolger, besonders<br />

bei der jungen Generation, wäre zu<br />

groß gewesen“, sagt er.<br />

Hans-Jochen Vogel dagegen sieht als<br />

entscheidendes Kriterium, ob Buback<br />

und Rebmann nur einfache Parteimitglieder<br />

waren, oder ob sie in der NSDAP<br />

oder anderen NS-Organisationen Ämter<br />

innehatten. Davon aber ist in den Akten<br />

nichts zu finden: Buback brachte es in<br />

der Hitler-Jugend nur zum „Rottenführer“,<br />

dem zweitniedrigsten Rang in der Organisation;<br />

Rebmann war 18, als er in die<br />

Nazi-Partei eintrat, und 21, als sie 1945<br />

zugrunde ging.<br />

Schweigen erschien den beiden Generalbundesanwälten<br />

offenbar als beste Option –<br />

für die obersten Ermittler, deren wichtigste<br />

Aufgabe das Finden der Wahrheit ist, eine<br />

moralisch zweifelhafte Entscheidung. Pragmatisch<br />

betrachtet hat ihr Schweigen die<br />

von ihnen beabsichtigte Wirkung erzielt<br />

und ihnen Ärger erspart.<br />

Wenn zu ihrer Zeit in Amt und Würden<br />

bekannt gewesen wäre, dass sie als<br />

junge Männer Nazis waren, hätte die DDR<br />

einmal mehr die personelle Kontinuität<br />

vom „Dritten Reich“ zur Bundesrepublik<br />

anprangern und propagandistisch nutzen<br />

können; jüdische Organisationen hätten<br />

möglicherweise protestiert. Solches Ungemach<br />

ersparten die beiden Juristen lieber<br />

sich und den ihnen vorgesetzten Politikern.<br />

Sie bekamen beide ein Bundesverdienstkreuz<br />

mit Stern.<br />

Michael Sontheimer<br />

ist Journalist und Historiker.<br />

Zuletzt erschien von ihm das<br />

Buch „Natürlich kann geschossen<br />

werden“ zur Geschichte der RAF<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 49


| B e r l i n e r R e p u b l i k | K o m m e n t a r<br />

Vom Ich zum Wir<br />

Dem Höhenflug der Ego-Parteien folgt eine Renaissance der<br />

Volksparteien. Das ist eine gute Nachricht für die Demokratie<br />

Von Frank A. Meyer<br />

V<br />

or einem Jahr zogen die Piraten mit 9 Prozent Wähleranteil<br />

ins Berliner Abgeordnetenhaus. Welch ein<br />

Sieg! Welch ein Bohei um die neue Partei!<br />

Dann die Erfolge in Nordrhein-Westfalen, in Schleswig-Holstein,<br />

im Saarland! Die Neuen aus dem Nichts pflügten im Nu<br />

die Parteienlandschaft um. Mühelos, wie es scheint.<br />

War da was?<br />

Nach neueren Umfragen dümpeln die Piraten unter der parlamentarischen<br />

Wahrnehmungsschwelle von 5 Prozent: in Niedersachsen<br />

bei 3 Prozent, in Hessen wie auf Bundesebene bei 4.<br />

Aus solcher Untiefe kriegt man kein Schiff mehr flott.<br />

Also nichts gewesen, nicht einmal Spesen?<br />

Doch, denn das Wiederabtauchen der Piraten hinter ihre<br />

Laptops ist bedeutender als ihr unerwartetes Auftauchen vor<br />

Jahresfrist. Es signalisiert das Ende der Schimäre von einer<br />

Ich-Gesellschaft.<br />

1968 schmachteten radikale Bürgersöhnchen noch nach Revolution.<br />

2012 wollen die Piraten nur spielen: Kita-Kids des<br />

World Wide Web, das die Welt per Mausklick als Game auf ihren<br />

Bildschirm zaubert, gegenstandslos, geräuschlos, geruchlos<br />

und gratis.<br />

Angeblich geht es in diesem Reich ohne Sonnenuntergang<br />

um „communities“, „social networking“ und „liquid democracy“,<br />

um virtuelle Gesellschaften also. In Wirklichkeit geht es nur um<br />

den vereinzelten Einen, der mit all den anderen Vereinzelten<br />

nichts gemeinsam hat als das verspielte Herumpalavern im Netz.<br />

Die britische Premierministerin Margaret Thatcher hat es –<br />

lang vor Internet und Piraten – so formuliert: „Es gibt keine<br />

Gesellschaft, es gibt nur Einzelne.“ Damit beschrieb die kalte<br />

Königin des Marktradikalismus ziemlich präzis die Kommunikationskakophonie,<br />

die heute der wirklichen Welt aus den binären<br />

Gefilden des Shitstorms entgegenschwappt.<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

50 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Foto: privat<br />

Die Piraten verkörpern die deutsche Vollendung der fatalen<br />

Vision: Nerds nennen sie sich, Narzissten sind sie – „Ich, ich,<br />

ich!“ lautet ihr Schlachtruf.<br />

Die Flüchtigkeit ihrer politischen Existenz ist Folge dieses<br />

Narzissmus. Die Piratenpartei besteht aus Parteien, und zwar<br />

aus exakt gleich vielen, wie sie Mitglieder hat: jeder Pirat seine<br />

eigene Partei – Auflösung als Lösung.<br />

Ihr Pech, sie operieren in einer Phase des globalen Paradigmenwechsels:<br />

vom Ich zum Wir, vom egoistisch getrimmten<br />

Homo oeconomicus hin zur solidarischen Gesellschaft.<br />

In den USA siegte gerade der Präsident, dem Gemeinsinn<br />

und Gemeinschaft zentrales Anliegen sind. Barack Obama behauptete<br />

seinen Wertekanon gegen einen Kandidaten, der die<br />

47 Prozent sozial schwächerer Amerikaner als Staatsschmarotzer<br />

verunglimpfte.<br />

Und in Deutschland? Hier wendet sich das Volk wieder verstärkt<br />

den Parteien zu, deren Mitglieder die ganze Gesellschaft<br />

abdecken. Seien sie nun sozial oder christlich oder grün: Volksparteien<br />

mit Flügeln links und rechts.<br />

Parteien dagegen, die auf Egozentrik und Egoismus fokussieren,<br />

verlieren an Boden: neben den Piraten auch die Steuersenkungspartei<br />

FDP, die ihr einst sozialliberales Credo auf den<br />

marktradikalen Liberalismus verengt hat.<br />

Amerika verändert sich. Deutschland verändert sich. Die demokratische<br />

Welt wird von einer Wende erfasst.<br />

Die Mär vom üppig gedeckten Tisch der Reichen, deren<br />

Brotkrumen auch das einfache Volk darunter nähren, hat ihren<br />

Zauber verloren. Sie ist entlarvt als das perverse Abendmahl neoliberaler<br />

Apostel.<br />

Gleichzeitig erleben wir eine Renaissance der Politik, eine<br />

Wiedergeburt der Demokratie. Bürgerinnen und Bürger, angewidert<br />

vom <strong>Macht</strong>gebaren der Marktfetischisten, nehmen ihr<br />

Schicksal in die eigenen Hände: Gesellschaft statt Markt.<br />

Ja, es wird ein mühseliges Unterfangen. Besonders angesichts<br />

einer Zeit, die geradezu rast, da das Netz die Lichtgeschwindigkeit<br />

bereitstellt, mit der finanzwirtschaftliche Fakten vor allen<br />

anderen geschaffen werden können – und die Demokratie zeitaufwendig<br />

ihre dicken Bretter bohren muss.<br />

Der Spekulant ist schnell, netzschnell – der Bürger ist<br />

langsam.<br />

Doch die Entschleunigung gehört zum Wesen des Wertewandels.<br />

Die bewährten demokratischen Institutionen repräsentieren<br />

das große Ganze in all seinen Widersprüchen. Und sie funktionieren<br />

nach der Vorstellung des Philosophen Karl Popper von der<br />

offenen Gesellschaft: Versuch und Irrtum und Entscheidung und<br />

erneuter Versuch und erneuter Irrtum. Aufwendig ist dieses Verfahren,<br />

aber auch lustvoll, sogar unterhaltend, Demokratietheater<br />

wie aus der Feder des Dramatikers Friedrich Dürrenmatt.<br />

Das Erwachen der Gesellschaft ist das Ende der Täuschung,<br />

wonach ein jeder seines Glückes Schmied sei, also auch seines<br />

Unglückes Schmied – und daher selber schuld an Bedürftigkeit<br />

und Armut.<br />

Es ist das Ende der Täuschung, wonach eine Zivilisation der<br />

Vereinzelung keine Parteien der Versammlung mehr benötige.<br />

Die klassischen Parteien der bürgerlichen Demokratie –<br />

gibt’s eine unbürgerliche? – bilden nach wie vor die Agora der<br />

modernen Gesellschaft, auch der computergestützten.<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 51<br />

Zwar versuchen die Illusionskünstler der elektronischen Medien<br />

mit ihren Talks und Chats und Blogs diese Rolle zu substituieren.<br />

Doch das Parlieren vor der Kamera oder auf der Tastatur<br />

ist noch lange nicht die politische Arbeit. Selbst wenn sich<br />

das Publikum nur allzu gern dem Trugschluss hingibt, geredet<br />

sei gehandelt, gesagt sei getan.<br />

Auch hier naht das Ende der Täuschung, der zufolge die rhetorischen<br />

Regatten auf Schaumkrönchen der elektronischen<br />

Windmacher bereits reine, weil unmittelbare Politik seien. Was<br />

Hand und Fuß hat, wird in Parteigremien entworfen, auf Parteitagen<br />

debattiert und vom Parlament beschlossen, diesem Stiefkind<br />

journalistischer Aufmerksamkeit.<br />

Angela Merkel sehnte sich völlig demokratievergessen nach<br />

„marktkonformer Demokratie“. Die Piraten sehnen sich nach<br />

laptopkonformer, nach „flüssiger“ Demokratie. Aus all dem aber<br />

wird wohl nichts.<br />

Denn die Bürgerinnen und Bürger sehnen sich nach etwas<br />

ganz und gar anderem – nach Demokratie.<br />

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Frank A. Meyer<br />

ist Journalist und Gastgeber der politischen<br />

Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />

»Selten hat man eine derartig gut<br />

geschriebene historische Biographie<br />

gelesen.« literarische welt<br />

Gebunden mit Schutzumschlag<br />

752 Seiten mit 16 Seiten s/w-Abbildungen<br />

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ISBN 978-3-549-07416-9<br />

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| W e l t b ü h n e<br />

Rechtsaussen der Linken<br />

Frankreichs Innenminister Manuel Valls hat sich zum beliebtesten Politiker seines Landes entwickelt<br />

von Stefan Brändle<br />

F<br />

rankreich ist konservativ, wählt<br />

aber gerne links. Dieses „french<br />

paradox“ geht zurück bis ins<br />

18. Jahrhundert, als die Revolution das betuliche<br />

Ancien Régime ablöste. Im 21. Jahrhundert<br />

verkörpert Manuel Valls dieses<br />

Paradoxon; er ist die Lichtgestalt der französischen<br />

Linken.<br />

Während die Zustimmung für Präsident<br />

François Hollande und Premierminister<br />

Jean-Marc Ayrault schwindet, steigen Valls<br />

Zustimmungswerte kontinuierlich. Mittlerweile<br />

ist der 50 Jahre alte Innenminister der<br />

populärste Politiker der Franzosen.<br />

Wer nach dem Erfolgsrezept des stets<br />

grimmig dreinblickenden und zum rechten<br />

Flügel seiner Partei zählenden Sozialisten<br />

fragt, bekommt zur Antwort: Sicherheit,<br />

Autorität, republikanische Ordnung.<br />

Und Valls greift hart durch – gegen islamistische<br />

Terrornetze, gegen illegal errichtete<br />

Roma-Lager, gegen Drogenbanden in<br />

den Banlieues.<br />

Viele seiner Gegner, vor allem am linken<br />

politischen Rand, sehen in ihm in erster<br />

Linie einen neuen Nicolas Sarkozy. Der<br />

war schließlich vor seinem Einzug in den<br />

Élysée-Palast auch aus dem Innenministerium<br />

gestartet. Dennoch hinkt der Vergleich.<br />

Während Valls elf Jahre als Bürgermeister<br />

von Évry amtierte, einer farbigen,<br />

aber enorm diffizilen Immigrantenvorstadt<br />

im Süden von Paris, verwaltete Sarkozy den<br />

Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine, wo die<br />

Bourgeoisie der Nation lebt.<br />

Valls sei „kein linker Sarkozy“, sagt<br />

daher der bekannte französische Journalist<br />

Hervé Gattegno. Der medienbewusste<br />

Valls trete zwar wie einst Sarkozy gerne an<br />

Verbrechensschauplätzen vor die Kameras.<br />

„Aber Valls kündigt nicht jedes Mal gleich<br />

ein neues Gesetz an; er poltert nicht gegen<br />

die laschen Richter, er überbietet sich nicht<br />

mit dem Thema Sicherheit.“<br />

Und er lästert nicht – wie einst Sarkozy<br />

– über den „Abschaum“ in der Banlieue.<br />

Valls ist politisch konsequenter als<br />

der ehemalige französische Präsident, aber<br />

auch differenzierter. Er lehnt das von den<br />

Sozialisten versprochene Ausländerstimmrecht<br />

auf Gemeindeebene als politische<br />

Dummheit ab – gleichzeitig plädiert er für<br />

eine erleichterte Einbürgerung.<br />

Als Valls jüngst eine Razzia unter Islamisten<br />

anordnete, warnte er gleichzeitig<br />

vor jeder „Gleichsetzung“ von Islam und<br />

„Valls kündigt nicht jedes Mal<br />

gleich ein neues Gesetz an“<br />

Hervé Gattegno, französischer Journalist<br />

Terror. „Sie (die Terroristen) kommen<br />

nicht aus dem Ausland, sie kommen aus<br />

unseren Vorstädten“, hält Valls der französischen<br />

Gesellschaft den Spiegel vor. „Es<br />

sind keine Ausländer, es sind konvertierte<br />

Franzosen!“<br />

Valls sieht die Probleme Frankreichs<br />

präziser und zugleich distanzierter als<br />

viele Politiker. Vielleicht weil er von außen<br />

kommt? 1962 in Barcelona geboren,<br />

ist er erst im Alter von 20 Jahren Franzose<br />

geworden. Der Sohn eines spanischen Malers<br />

und einer Schweizer Architektentochter<br />

spricht außer Spanisch und Italienisch<br />

auch fließend Katalanisch. Vor allem aber<br />

Klartext. Kompromisslos klar prangert er<br />

auch die Korruption in der eigenen Polizei<br />

an, vor der Sarkozy stets die Augen<br />

verschlossen hatte. In Marseille löste er<br />

eine Banlieue-Brigade kurzerhand auf, als<br />

bekannt wurde, dass einige der Beamten<br />

selbst mit Drogen gedealt hatten.<br />

Viele Franzosen erinnern sich auch<br />

an Valls’ zornrotes Gesicht, als seine<br />

Parteifreundin Ségolène Royal 2008 mutmaßlich<br />

Opfer eines parteiinternen Wahlbetrugs<br />

wurde, der sie um den Parteivorsitz<br />

brachte. Während die meisten Genossen<br />

nur die Schultern zuckten, wollte Valls<br />

Klage gegen die eigene Parteiführung einreichen.<br />

Erst im letzten Moment machte<br />

der Sozialist einen Rückzieher, um es sich<br />

nicht mit der neuen Parteichefin Martine<br />

Aubry zu verscherzen. Auch das ist Valls:<br />

Sein Temperament hindert ihn nicht, an<br />

seine Karriere zu denken.<br />

Aubry vergaß den Zwischenfall ebenso<br />

wenig und forderte Valls 2009 auf, die Partei<br />

zu verlassen, nachdem er sich seinen<br />

bisher einzigen Schnitzer leistete: In Évry<br />

forderte er bei einem Auftritt einen Mitarbeiter<br />

auf, „ein paar Weiße“ ins Publikum<br />

zu stellen – nicht wissend, dass er gerade<br />

gefilmt wurde.<br />

Valls blieb in der Partei. 2011 kandidierte<br />

er gar bei den Vorwahlen des Parti<br />

Socialiste für die Präsidentschaftswahl<br />

2012. Doch die Zeit war noch nicht reif<br />

für ihn: Mit 6 Prozent der Stimmen schied<br />

er bereits nach dem ersten Wahlgang aus.<br />

Der interne Sieger Hollande aber erkannte<br />

Valls Talente und machte ihn zu<br />

seinem Kampagnensprecher. Der hatte<br />

maßgeblichen Anteil am späteren Wahlsieg<br />

des blassen Sozialisten, und dieser<br />

belohnte ihn wiederum mit dem<br />

Innenministerposten.<br />

Das hätte der Präsident vielleicht besser<br />

gelassen. Fünf Monate später sieht es<br />

für Hollande düster aus – Valls hingegen<br />

wird als zukünftiger Premierminister gehandelt,<br />

zumal der steife Regierungschef<br />

Ayrault immer mehr zu einer Hypothek<br />

wird. Und auch diesen Posten betrachtet<br />

Valls wohl lediglich als Zwischenstation –<br />

auf seinem Weg in den Élysée.<br />

Stefan Brändle<br />

arbeitet in Paris als Frankreichkorrespondent<br />

unter anderem für<br />

die Schweizer Weltwoche und<br />

den Standard aus Wien<br />

Foto: Lea Crespi/LUZphoto/fotogloria, Privat (Autor)<br />

52 <strong>Cicero</strong> 12.2012


1962 in Barcelona<br />

geboren, ist Manuel<br />

Valls erst im Alter<br />

von 20 Jahren<br />

Franzose geworden<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 53


| W e l t b ü h n e<br />

Einzelkämpferin im<br />

Seidenkostüm<br />

Die Südafrikanerin Mamphela Ramphele rebelliert gegen die Politik ihrer einstigen Weggefährten<br />

von Claudia Bröll<br />

E<br />

iNen solchen ansturm hat der<br />

kleine Buchladen in Kapstadts<br />

Zentrum nicht oft erlebt. Bis auf<br />

die Straße hinaus stehen die Besucher, argwöhnisch<br />

beäugt von zwei Bodyguards im<br />

Innern. Angekündigt ist Mamphela Ramphele.<br />

Ehemalige Kämpferin gegen das<br />

Apartheidsregime und heute eine der angesehensten<br />

Intellektuellen im Land. Eine<br />

moralische Autorität, von Weißen wie von<br />

Schwarzen geschätzt. Sie ist bekannt dafür,<br />

Missstände anzuprangern und mit den<br />

Verantwortlichen schonungslos ins Gericht<br />

zu gehen. Auch sich mit dem Staatspräsidenten<br />

anzulegen, schreckt sie nicht. Das<br />

kommt bei den Mächtigen im Land nicht<br />

immer gut an. Womöglich hat sie auch deswegen<br />

die Bodyguards dabei.<br />

In einem eleganten türkisfarbenen Seidenkostüm<br />

sitzt sie auf dem Podium, eine<br />

zierliche ältere Dame mit einem freundlichen<br />

Lächeln. Schnell aber wird klar, dass<br />

sie nicht jedem freundlich zugetan ist. „Wir<br />

haben eine Regierung, die auf jedem Gebiet,<br />

an dem demokratische Regierungen<br />

gemessen werden, versagt hat: im Bildungswesen,<br />

im Gesundheitswesen, in der<br />

Sicherheit, dem Arbeitsmarkt“, wettert sie<br />

mit einer durchdringenden Stimme. „Dennoch<br />

ist diese Regierung davon überzeugt,<br />

wiedergewählt zu werden. Warum? Weil in<br />

diesem Land die Parteibosse und nicht die<br />

Bürger regieren.“<br />

Ramphele ist 64 Jahre alt und hat in<br />

ihrem Leben eigentlich genug gekämpft.<br />

In den siebziger Jahren gründete sie an<br />

der Seite des noch heute als Held verehrten<br />

Bürgerrechtlers Steve Biko die „Black<br />

Consciousness Bewegung“ mit. Mehrere<br />

Jahre wurde sie deswegen in ein Dorf<br />

verbannt. Sie brachte Bikos Sohn auf die<br />

Welt, kurz nachdem der Aktivist an den<br />

Folgen von Folterung im Gefängnis ums<br />

Leben gekommen war.<br />

Die Großmutter, die sich weigert, einer<br />

Partei beizutreten, wird nicht müde. Es<br />

geht wieder um den alten Traum. Doch<br />

diesmal zieht sie nicht gegen eine weiße<br />

Minderheitsregierung zu Felde. Es sind<br />

die eigenen früheren Genossen, von denen<br />

viele vergessen zu haben scheinen,<br />

wofür sie einst ihr Leben aufs Spiel setzten.<br />

„Unser Fehler war es, die <strong>Macht</strong> an<br />

unsere Freiheitskämpfer zu übergeben, statt<br />

die Dinge selbst in die Hand zu nehmen“,<br />

sagt sie, „so sind wir in der Rolle der Almosenempfänger<br />

geblieben, abhängig, ohne<br />

Selbstbewusstsein.“<br />

Nach solchen deutlichen Worten lechzen<br />

viele Menschen in Südafrika. 18 Jahre<br />

seit dem Ende der Rassentrennung ist die<br />

Frustration über die enorme Einkommensungleichheit<br />

groß. Fast täglich finden in<br />

Armenvierteln Proteste wegen schlechter<br />

staatlicher Leistungen statt. Gleichzeitig<br />

ist von immer neuen Skandalen zu lesen<br />

– ob sich Staatspräsident Jacob Zuma<br />

eine Luxusresidenz bauen lässt, oder der<br />

frühere Chef der ANC-Jugendliga, Julius<br />

Malema, sich an öffentlichen Aufträgen in<br />

seiner Heimatprovinz bereichert.<br />

„Für die normalen Leute hat sich nicht<br />

viel geändert, nur haben die Weißen immer<br />

mehr Schuldgefühle, und die Schwarzen<br />

empfinden immer mehr Wut“, bilanziert<br />

Ramphele. „Die meisten von uns sind<br />

nicht frei. Warum? Weil wir eine Regierung<br />

haben, die zwar aus der Freiheitsbewegung<br />

hervorgegangen ist, aber in die Fußstapfen<br />

ihrer Vorgänger tritt.“<br />

Ramphele selbst wuchs in armen Verhältnissen<br />

mit sechs Geschwistern auf.<br />

Die Mutter spornte die Kinder frühzeitig<br />

zu Leistung an. Die junge schwarze Frau<br />

studierte Medizin, arbeitete auch in der<br />

Verbannung als Ärztin. Nach der Wende<br />

erlebte sie eine steile Karriere, wurde zur<br />

Rektorin der Universität in Kapstadt und<br />

gehörte später als erste Südafrikanerin dem<br />

Direktorium der Weltbank an. Heute sitzt<br />

sie in den Aufsichtsräten von Rohstoffkonzernen,<br />

schreibt Bücher, tritt in der Öffentlichkeit<br />

auf.<br />

Die Medizinerin belässt es jedoch nicht<br />

bei der Diagnose. Vor kurzem hat Ramphele<br />

die Organisation „Citizens Movement<br />

for Social Change“ gegründet, welche<br />

die junge konstitutionelle Demokratie<br />

Südafrika „aus den Teenagerjahren“ ins Erwachsenenalter<br />

befördern soll. „Wir haben<br />

in diesem Land Bürger ohne <strong>Macht</strong>, weil<br />

sie ihre Rechte nicht kennen und ihnen<br />

nie jemand beigebracht hat, diese Rechte<br />

auszuüben.“<br />

Viele aber wünschen sich mehr. Immer<br />

wieder wird sie gefragt, ob sie für das Präsidentenamt<br />

kandidieren will. Doch immer<br />

wieder lehnt sie ab. „Was soll das bewirken?<br />

Wir suchen wieder einen Messias, anstatt<br />

dass sich jeder selbst fragt, was er heute tun<br />

kann, damit dieses Land wirklich frei ist.“<br />

Gut 1000 Kilometer von dem Buchladen<br />

entfernt gehen die außer Kontrolle geratenen<br />

Arbeitskämpfe weiter, auch in den<br />

Minen eines Goldförderers, dem Ramphele<br />

vorsteht. Streikbrecher werden systematisch<br />

verfolgt und gelyncht. Ihre Beschreibung<br />

einer wohlgeordneten Demokratie<br />

könnte kaum gegensätzlicher sein. Doch<br />

die Einzelkämpferin im Seidenkostüm lässt<br />

sich die Zuversicht nicht nehmen. „Ich<br />

glaube an diese Nation, es ist eine großartige<br />

Nation“, ruft sie zum Abschied. „Und<br />

eine Krise ist eine wertvolle Gelegenheit,<br />

die man nie ungenutzt verstreichen lassen<br />

sollte.“<br />

Claudia Bröll<br />

ist Journalistin und lebt seit fünf<br />

Jahren in Südafrika<br />

Fotos: JAMES OATWAY, privat (Autorin)<br />

54 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Gemeinsam mit dem<br />

Bürgerrechtler Steve Biko<br />

gründete Mamphela Ramphele<br />

in den Siebzigern die<br />

„Black‐Consciousness‐Bewegung“ –<br />

ihr Kampf ist immer<br />

noch nicht zu Ende<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 55


| W e l t b ü h n e<br />

Geheimnisvoller Stratege<br />

Alex Salmond will Schottland von Englands Joch befreien. Dafür hat er ein Referendum durchgesetzt<br />

von Sebastian Borger<br />

N<br />

eulich reiste David Cameron<br />

nach Edinburgh. In der schottischen<br />

Hauptstadt galt es zu besiegeln,<br />

was der Londoner Premierminister<br />

eigentlich hatte vermeiden wollen: Per Unterschrift<br />

stimmte der Konservative offiziell<br />

der Abstimmung über Schottlands Unabhängigkeit<br />

zu, dem größten verfassungspolitischen<br />

Wagnis Großbritanniens seit Bildung<br />

der Republik Irland vor 90 Jahren.<br />

Dass es so weit gekommen ist, geht vor<br />

allem auf das Konto eines Mannes: Alex<br />

Salmond, den Ministerpräsidenten der britischen<br />

Nordprovinz, zählen selbst eingefleischte<br />

Gegner zur Handvoll herausragender<br />

Politiker auf der Insel. In mittlerweile<br />

18 Jahren als Vorsitzender hat der 57-Jährige<br />

seine kleine, belächelte und unterfinanzierte<br />

schottische Nationalpartei SNP<br />

zur bestimmenden Kraft der stolzen Nation<br />

gemacht. Das hat Auswirkungen auf<br />

das ganze Land, in dem normalerweise<br />

die Interessen der Regionen keine wichtige<br />

Rolle spielen.<br />

Bei der Zeremonie in St. Andrews<br />

House, dem Sitz der schottischen Regionalregierung,<br />

erinnerte der Gastgeber seinen<br />

Besucher David Cameron ebenso subtil<br />

wie boshaft an die politische Realität nördlich<br />

des Hadrianwalls: An der Wand über<br />

den beiden Politikern hing eine Schottlandkarte,<br />

weitgehend in Gelb, mit einigen<br />

roten und blauen Tupfern: Sie stellt<br />

das Ergebnis der Landtagswahl 2011 dar,<br />

bei der die SNP (gelb) einen Erdrutschsieg<br />

errang über Labour (rot) und die Konservativen<br />

(blau).<br />

Seither regiert Salmond mit absoluter<br />

Mehrheit im Edinburgher Parlament und<br />

verfügt über das Mandat, seiner 1934 gegründeten<br />

Partei ihren uralten Wunsch zu<br />

erfüllen: Im Herbst 2014 sollen die Schotten<br />

den 1707 freiwillig geschlossenen Bund<br />

mit England auflösen und ihren eigenen<br />

Weg gehen. „Wir wollen lieber guter Nachbar<br />

sein als mürrischer Mieter“, beschreibt<br />

der Chef das Ziel.<br />

Der Sohn zweier Verwaltungsbeamter<br />

trat als Student der SNP bei. Anfang der<br />

achtziger Jahre wurde er wegen seiner Propaganda<br />

für „die schottische sozialistische<br />

Republik“ kurzzeitig aus der Partei ausgeschlossen.<br />

1987 zog Salmond ins Unterhaus<br />

ein, 1990 übernahm er den Parteivorsitz,<br />

den er seither – mit einer vierjährigen<br />

Unterbrechung – innehat. In dieser Zeit ist<br />

aus dem Linksaußen längst ein national gesinnter<br />

Sozialdemokrat geworden, der die<br />

Eroberung der <strong>Macht</strong> vor das Ziel rascher<br />

Unabhängigkeit setzte. Auch die Monarchie<br />

will er neuerdings erhalten. Dieser<br />

Kurswechsel liegt an der hohen Popularität<br />

der Amtsinhaberin Elizabeth II, mit der<br />

Salmond zudem eine Leidenschaft verbindet:<br />

Wie die Königin ist auch der Ministerpräsident<br />

ein Pferdenarr, einer kleinen<br />

Wette auf der Rennbahn nicht abgeneigt.<br />

Es gehört zu Salmonds Qualitäten, dass<br />

ihn die Aura des Geheimnisvollen umgibt.<br />

Auch von seinem Biografen David Torrance<br />

ließ sich der begeisterte Bridgespieler<br />

nicht in die Karten sehen. Dass er sich<br />

für Poesie und Geschichte begeistert, seine<br />

eigenen Memoiren schreiben will, Asthmatiker<br />

und stark übergewichtig, aber mit einem<br />

hervorragenden Schneider gesegnet ist,<br />

gehört in Edinburgh fast schon zum Allgemeinwissen.<br />

Der Regierungschef hatte<br />

denn auch, außer einem Telefonat „im Stil<br />

eines enttäuschten Oberlehrers“ (Torrance),<br />

nur Spott übrig für den Biografen und dessen<br />

Buch: „Mir war gar nicht klar, wie langweilig<br />

ich bin.“<br />

Selbstironie kommt immer gut an auf<br />

der Insel – mehr jedenfalls als die Arroganz<br />

und Launenhaftigkeit, für die Salmond<br />

auch bekannt ist. Für sein breites,<br />

selbstgefälliges Grinsen wollte ihm die konservative<br />

Sunday Times vor Wut gar „ein<br />

paar Ohrfeigen mit einem feuchten Fisch<br />

verpassen“. In den vier Jahren als Chef einer<br />

Minderheitsregierung in Edinburgh<br />

von 2007 bis 2011 musste der frühere<br />

Ökonom bei der Royal Bank of Scotland<br />

stets auf Kompromisssuche gehen. Dabei<br />

hat Salmond entscheidend dazugelernt –<br />

und Eigenschaften wie Verhandlungsgeschick<br />

und Einfühlungsvermögen gezeigt,<br />

die man dem gelegentlich allzu selbstbewussten<br />

SNP-Chef nicht zugetraut hatte.<br />

Zu Salmonds Erfolg trägt bei, dass er<br />

sich als national gesinnter Sozialdemokrat<br />

geriert und damit dem schottischen<br />

Mainstream entspricht. Sein Nationalismus<br />

gibt sich modern und weltoffen. Fotos<br />

des kinderlosen, seit 31 Jahren mit seiner<br />

17 Jahre älteren Frau Moira verheirateten<br />

SNP-Chefs im Kilt sucht man vergeblich –<br />

solch traditionelle Auftritte überlässt der<br />

Politiker lieber dem telegenen James-Bond-<br />

Darsteller Sean Connery, der die SNP von<br />

seinem Wohnsitz auf den Bahamas aus unterstützt.<br />

Von Moira, die einst im schottischen<br />

Agraramt Salmonds Chefin war, gibt<br />

es hingegen kaum Fotos. Dabei werde sie<br />

sicher zu allen wichtigen Entscheidungen<br />

konsultiert, mutmaßt man im Politbetrieb.<br />

Genau weiß man das aber nicht. Wie es<br />

sich für eine frühere Spitzenbeamtin gehört,<br />

hält sich Salmonds Frau stets diskret<br />

im Hintergrund.<br />

Von dort aus dürfte sie die Kampagne<br />

über „die wichtigste politische Entscheidung<br />

seit 300 Jahren“, zu der Salmond<br />

die Volksabstimmung hochjazzt,<br />

begleiten. Einstweilen liegen in den Umfragen<br />

die Gegner der Unabhängigkeit<br />

(53 Prozent) deutlich vor den Befürwortern<br />

(28 Prozent), der Rest der Schotten<br />

ist unentschlossen. Alex Salmond wird alles<br />

daransetzen, dass sich dieses Verhältnis<br />

in den kommenden zwei Jahren umkehrt<br />

und aus Großbritannien ein kleineres Britannien<br />

wird.<br />

Sebastian BoRger<br />

schreibt als freier Korrespondent<br />

aus London, unter anderem für<br />

Financial Times Deutschland<br />

und die Basler Zeitung<br />

Foto: Martin Hunter/Camera Press/Picture Press, Privat (Autor)<br />

56 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Eine frühere Chefin<br />

hat er geheiratet.<br />

Vom jetzigen Chef<br />

will er sich scheiden<br />

lassen. Zielstrebig<br />

arbeitet Schottlands<br />

Ministerpräsident<br />

Alex Salmond an<br />

der Unabhängigkeit<br />

für Großbritanniens<br />

Nordprovinz<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 57


| W e l t b ü h n e | A m e r i k a s A u s s e n p o l i t i k<br />

Das Lächeln könnte<br />

Barack Obama<br />

schnell vergehen<br />

angesichts der<br />

schier nicht zu<br />

bewältigenden<br />

Aufgaben<br />

58 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Die Welt sucht<br />

einen Manager<br />

In Syrien herrscht Bürgerkrieg, China erhebt Weltmachtansprüche, Afghanistan<br />

ist unsicherer denn je, und Amerikas Beziehungen zu Russland sind auch nicht die<br />

besten. Es gibt reichlich zu tun für den wiedergewählten US-Präsidenten<br />

von Jan Techau<br />

W<br />

ie nach der Sommerpause<br />

am Stadttheater kommt<br />

in diesen Tagen das geneigte<br />

außenpolitische<br />

Publikum der Welt zusammen.<br />

Nach dem Ende der schier endlosen<br />

Wahlkampfzeit in den USA wartet<br />

es gespannt auf den globalen Spielplan<br />

der neuen Saison. Nachdem die internationale<br />

Öffentlichkeit innerlich zu weiten<br />

Teilen Barack Obama gewissermaßen<br />

mitgewählt hat, will sie nun wissen,<br />

was der Commander in Chief mit seiner<br />

zweiten Amtszeit anfangen will.<br />

Wie selbstverständlich wird angenommen,<br />

dass es vor allem am US-Präsidenten<br />

liegt, welche Themen global<br />

angepackt werden. Diese Annahme hat<br />

mit der Realität zwar weniger zu tun als<br />

früher, sie zeigt aber, wie sehr die Vereinigten<br />

Staaten trotz aller <strong>Macht</strong>verschiebungen<br />

weiterhin als die einzige<br />

Supermacht und als Schlüssel zu internationalem<br />

Wohl oder Wehe angesehen<br />

werden. Sie zeigt auch, dass das Publikum<br />

einen guten Instinkt dafür hat, dass<br />

trotz der relativen Schwächung Amerikas<br />

durch den „Aufstieg der anderen“ nach<br />

wie vor nur die USA international unentbehrlich<br />

sind. Solange die angeblich so<br />

aufstrebenden Mächte der Zukunft sich<br />

nicht nur als instabil erweisen, wie dies<br />

derzeit immer mehr offenbar wird, und<br />

solange sie auch den Schritt in die Verantwortung<br />

eines globalen Stabilitätsgaranten<br />

verweigern, wie dies vor allem<br />

Russland und China mit Entschlossenheit<br />

tun, wird sich daran auch nicht viel<br />

ändern. Zwar beginnen nicht mehr alle<br />

globalen politischen Debatten mit Amerika,<br />

aber fast alle enden mit dem fragenden<br />

Blick nach Washington: Can you please<br />

do something?<br />

Die Frage, was der Präsident sich<br />

vornehmen wird, ist dabei fast müßig.<br />

Obamas außenpolitischer Aufgabenzettel<br />

schreibt sich angesichts der Weltlage praktisch<br />

von allein. Neben den Dauerkrisen<br />

und anderen Hauptaufgaben – Syrien,<br />

Iran, China, Afghanistan, Nordkorea, Al<br />

Qaida, Eurokrise, Israel-Palästina, „Pivot“<br />

nach Asien – wird die außenpolitische<br />

Agenda seit jeher vor allem vom<br />

improvisierten Reagieren auf „Breaking<br />

News“ bestimmt. Ob da Zeit für die Kür<br />

bleibt, also ein selbst gewähltes Projekt,<br />

wie es sich beispielsweise Amtsvorgänger<br />

George W. Bush mit der Bekämpfung von<br />

Aids in Afrika gesucht hatte, ist zweifelhaft.<br />

Dies umso mehr, als das Hauptaugenmerk<br />

Obamas ohnehin auf der Bewältigung<br />

der hauseigenen amerikanischen<br />

Wirtschafts-, Schulden-, Arbeitsmarkt-,<br />

Politsklerose-, Strukturwandelkrise liegen<br />

wird. Und ob der wiedergewählte<br />

Präsident sich das außenpolitische Feld<br />

vornehmen wird, um ein „legacy project“,<br />

ein politisches Vermächtnis zu hinterlassen,<br />

wie es Bill Clinton mit der Lösung<br />

des Nahostkonflikts versucht hatte, ist<br />

nicht abzusehen. Bleibt also vor allem<br />

das, was getan werden muss.<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 59


| W e l t b ü h n e | A m e r i k a s A u s s e n p o l i t i k<br />

Skandale<br />

Verhängnisvolle Affären<br />

Der Fall des David Petraeus ist das jüngste Kapitel einer<br />

langen Reihe von Skandalen, die die USA erschütterten.<br />

Eine kurze Übersicht<br />

Filmreif ist gar kein Ausdruck.<br />

Was sich in diesen<br />

Tagen rund um den<br />

hochdekorierten Ex-General<br />

David Petraeus abspielt, hätte sich<br />

kein Hollywood-Drehbuchautor ausdenken<br />

können. Der zurückgetretene<br />

CIA‐Chef stürzte über eine Affäre mit<br />

seiner Biografin, die wiederum eifersüchtig<br />

gewesen sein soll auf eine vermeintliche<br />

Konkurrentin, die sie mit<br />

E-Mails bedroht habe. Mit der wiederum<br />

habe der Kommandant der internationalen<br />

Isaf-Schutztruppe in Afghanistan,<br />

General John R. Allen, einen<br />

„unangemessenen“ E-Mail-Verkehr unterhalten.<br />

FBI und Pentagon ermitteln.<br />

Bereits Präsident Thomas<br />

Jefferson (1801 bis 1809)<br />

strauchelte über den Vorwurf<br />

einer außerehelichen<br />

Beziehung. 1802 wurde der dritte Präsident<br />

der USA beschuldigt, eine Affäre<br />

und ein uneheliches Kind mit seiner<br />

Sklavin Sally Hemings zu haben.<br />

Jefferson stritt alles ab und blieb im<br />

Amt. Rund 200 Jahre später brachte<br />

eine DNA-Analyse Klarheit: Die Vaterschaft<br />

Jeffersons gilt bei mindestens<br />

einem der Hemings-Kinder als mehr<br />

als wahrscheinlich.<br />

Nicht immer war bei den<br />

Skandalen Sex im Spiel.<br />

Gegen Abraham Lincolns<br />

Nachfolger Andrew<br />

Johnson (1865 bis 1869) etwa wurde<br />

1868 wegen Missachtung der Rechte<br />

des Kongresses ein – erfolgloses –<br />

Amtsenthebungsverfahren eingeleitet.<br />

Johnson wollte Pläne des Kongresses<br />

vereiteln, die von Lincoln erweiterte<br />

<strong>Macht</strong> des Präsidenten wieder einzuschränken.<br />

Außerdem wurde ihm Alkoholmissbrauch<br />

vorgeworfen.<br />

1867, erschütterte der erste<br />

große Korruptionsskandal<br />

die Nation. Zahlreiche republikanische<br />

Kongressabgeordnete<br />

erhielten oder kauften Aktien<br />

von „Credit Mobilier of America“<br />

zu besseren Konditionen als marktüblich.<br />

Die Politiker bekamen aber auch<br />

andere Zuwendungen der Tarnfirma,<br />

die an der Gründung und dem Ausbau<br />

der Union Pacific Railroad beteiligt<br />

war. Besonders pikant wurde die Angelegenheit,<br />

weil die Abgeordneten aus<br />

dem Kreis zweier späterer Präsidenten<br />

stammten: Ulysses S. Grant (1869 bis<br />

1877) und James A. Garfield (4. März<br />

1881 bis 19 September 1881).<br />

Grover Cleveland (1893<br />

bis 1897) geriet in Verruf,<br />

weil seine Gegner während<br />

des Wahlkampfs verbreiteten,<br />

er habe zehn Jahre zuvor die Vaterschaft<br />

für ein uneheliches Kind angenommen.<br />

Cleveland begegnete den<br />

Anfeindungen mit Ehrlichkeit, gab die<br />

Vaterschaft zu und gewann die Wahl.<br />

Warren G. Harding (1921<br />

bis 1923) gilt vielen Amerikanern<br />

als schlechtester<br />

Präsident der USA. Zum einen<br />

wegen seiner Frauenaffären. Zum<br />

anderen steht seine Amtszeit im Ruf,<br />

eine der korruptesten in der Geschichte<br />

der Vereinigten Staaten zu sein. Harding<br />

hatte gleich mehrere langjährige<br />

Liebschaften mit Freundinnen der Familie.<br />

Eine unterhielt er sogar zu Carrie<br />

Fulton Phillips, der Ehefrau eines<br />

alten Freundes. Um einen Skandal im<br />

Vorfeld der Präsidentschaftswahlen zu<br />

verhindern, spendierte er der Geliebten<br />

nebst deren Gatten eine ausgedehnte<br />

Urlaubsreise, zusätzlich zahlte die Republikanische<br />

Partei Frau Phillips mehrere<br />

Jahre lang ein monatliches „Gehalt“.<br />

Schwerwiegender dürfte aber sein, dass<br />

Harding nach seiner Amtseinführung<br />

unter anderem Freunden einträgliche<br />

Ämter zuschanzte.<br />

Watergate schließlich ist<br />

zum Inbegriff des Polit-<br />

Skandals geworden. Einer<br />

der am Einbruch in<br />

die Wahlkampfzentrale der Demokratischen<br />

Partei Beteiligten stellte sich<br />

als Mitarbeiter der CIA und als Leiter<br />

des „Komitees für die Wiederwahl<br />

des Präsidenten“ heraus. Der Einbruch<br />

war nur ein winziger Teil des groß angelegten<br />

Versuchs, die politische Konkurrenz<br />

in Misskredit zu bringen. Die<br />

Spuren führten direkt ins Weiße Haus,<br />

der amtierende republikanische Präsident<br />

Richard Nixon (1969 bis 1974)<br />

musste zurücktreten.<br />

Ronald Reagan (1981 bis<br />

1989) kam ins Schleudern,<br />

als bekannt wurde, dass die<br />

CIA jahrelang tatenlos zugesehen<br />

hatte, wie sich die Contras in<br />

Nicaragua durch Kokainschmuggel in<br />

die USA finanziert hatten. Während der<br />

Anhörungen vor dem US-Kongress kam<br />

heraus, dass die Reagan-Regierung nicht<br />

nur Waffen an den Iran verkauft, sondern<br />

die Gewinne aus diesen Geschäften<br />

dazu verwendet hatte, die Contra-<br />

Rebellen in Nicaragua zu unterstützen.<br />

Inwieweit Reagan darin verwickelt war,<br />

konnte nie ganz geklärt werden.<br />

Wenn es einen Satz von<br />

Bill Clinton (1993 bis<br />

2001) gibt, der Geschichte<br />

gemacht hat, so ist das neben<br />

„It’s the economy, stupid“ sicherlich<br />

der Ausspruch: „I did not have sexual<br />

relations with that woman.“ Wie<br />

jeder heute weiß, war das eine faustdicke<br />

Lüge, die der Präsident schließlich<br />

mit der Bemerkung einräumte, die Beziehung<br />

zu der Praktikantin Monica<br />

Lewinsky sei „nicht angemessen“ gewesen.<br />

Einem Amtsenthebungsverfahren<br />

konnte Clinton durch dieses Eingeständnis<br />

zwar nicht entgehen, er überstand<br />

die Affäre aber dennoch. jh<br />

Fotos: Action Press/Zuma Press, Inc. (Seiten 58 bis 59), Picture Alliance/DPA/Abaca (2),White House Historical Association, Picture Alliance/Everett Collection (4), Library of Congress (2),<br />

60 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Zu allem Unglück muss der Präsident<br />

gleich zu Beginn der neuen Amtszeit sein<br />

außenpolitisches Kernteam neu zusammenstellen.<br />

In Europa, in dem starke und<br />

beharrliche Verwaltungen einen großen Teil<br />

des Politikbetriebs absorbieren, wird oft unterschätzt,<br />

wie entscheidend die Personalauswahl<br />

in den USA fürs Funktionieren<br />

der Regierung ist – und wie lange dieser<br />

Prozess dauern kann. Obama muss nicht<br />

nur auf absehbare Zeit einen Ersatz für<br />

die scheidende Außenministerin Hillary<br />

Clinton finden. Auch Verteidigungsminister<br />

Leon Panetta, eine Schlüsselfigur beim<br />

höchst ambitionierten und höchst komplexen<br />

Umbau der amerikanischen Streitkräfte<br />

(auch dies ein Kernprojekt), gilt als<br />

amtsmüde. Hinzu kommt, dass der Präsident<br />

nur Tage nach seiner Wiederwahl<br />

Je brutaler die<br />

Nachrichten aus<br />

Syrien werden, desto<br />

größer könnte die<br />

Versuchung werden,<br />

doch einzugreifen<br />

einen seiner fähigsten, loyalsten und über<br />

Partei grenzen hinweg anerkannten Berater<br />

in einer Schlüsselposition eingebüßt hat.<br />

CIA-Chef David Petraeus, vormals Vier-<br />

Sterne-General und Amerikas militärischintellektueller<br />

Vorzeigefeuerwehrmann für<br />

die harten Fälle im Irak und in Afghanistan,<br />

trat nach einer Liebesaffäre von seinem Amt<br />

zurück. Gleich drei der vier Hauptfiguren<br />

seines Außenpolitikteams zu verlieren (der<br />

vierte ist der nationale Sicherheitsberater),<br />

ist ein schwerer Schlag für Obama. Die Personalien<br />

werden intensiv beobachtet werden,<br />

denn Neubesetzungen bedürfen der<br />

Zustimmung des Senats, was sich bei manchem<br />

Kandidaten als höhere Hürde herausstellen<br />

könnte, als vorher geahnt.<br />

Grundsätzlich wird es wohl eine gewisse<br />

Kontinuität in der US-Außenpolitik<br />

geben, aber neue Personen werden neue<br />

Akzente setzen wollen. Unklar ist auch, ob<br />

alle zukünftigen Spitzenleute einem Präsidenten,<br />

der nicht wiedergewählt werden<br />

kann, so loyal dienen werden, wie dies<br />

Clinton, Panetta und Petraeus getan haben.<br />

Während all dies noch nicht entschieden<br />

ist, können die eigentlichen Themen<br />

kaum warten. An erster Stelle steht die Entwicklung<br />

rund um das iranische Atomprogramm.<br />

Während die offiziellen Verhandlungen<br />

der fünf ständigen Mitglieder des<br />

UN-Sicherheitsrats und Deutschlands mit<br />

Iran wegen der US-Präsidentenwahl mehr<br />

oder weniger auf Eis lagen (das europäische<br />

Verhandlungsteam um die EU-Beauftragte<br />

Catherine Ashton hatte in der Zwischenzeit<br />

die Aufgabe, die Tür nicht ganz zufallen<br />

zu lassen, was auch gelang), gab es hinter<br />

den Kulissen fieberhafte Aktivitäten. Die<br />

Amerikaner haben es mit enormem Druck<br />

(und weil der israelische Regierungschef<br />

Benjamin Netanjahu sein Blatt überreizt<br />

hatte) geschafft, Israel von einem militärischen<br />

Alleingang gegen Teheran abzuhalten.<br />

Gleichzeitig streckten Obamas Diplomaten<br />

die Fühler Richtung Iran aus, um die Möglichkeiten<br />

direkter Verhandlungen auszuloten.<br />

Mit den kommenden Wahlen in Israel<br />

(Januar) und in Iran (Juni) ist die Lage zwar<br />

politisch aufgeladen. Dennoch wird erwartet,<br />

dass die Amerikaner den Mullahs ein<br />

neues Angebot machen werden, um zu einer<br />

friedlichen Lösung im Atomstreit zu<br />

kommen. So ein Angebot könnte den Iranern<br />

die Anreicherung von zivil nutzbarem<br />

atomarem Brennstoff bis zu einer gewissen<br />

Obergrenze zugestehen und dafür<br />

im Gegenzug den Verzicht auf weiter gehende<br />

Anreicherung und Ausrüstung einfordern,<br />

vor allem aber echte internationale<br />

Inspektionen iranischer Anlagen. Gegner<br />

einer diplomatischen Lösung würden das<br />

zwar als Einknicken des Westens werten,<br />

doch ein solches Angebot hätte zwei wichtige<br />

Nebenaspekte. Erstens würde es enormen<br />

innenpolitischen Druck auf Iran ausüben,<br />

wo hinter den Kulissen ein erbitterter<br />

interner Kampf um den richtigen Kurs des<br />

Landes entbrannt ist. Zweitens würde das<br />

Ausschlagen eines ernst gemeinten und substanziellen<br />

Angebots durch die Führung in<br />

Teheran die Psychologie in der Nuklearfrage<br />

deutlich verändern. Ein militärisches<br />

Eingreifen würde dann vermutlich auf weitaus<br />

weniger weltweiten Widerstand treffen,<br />

als dies derzeit der Fall wäre.<br />

Mindestens so dringlich, und mit der<br />

Iranfrage auf ungute Art verwoben, ist das<br />

Thema Syrien. Obama sah sich im Wahlkampf<br />

dem Vorwurf ausgesetzt, auf die entsetzliche<br />

Lage im Bürgerkriegsland nicht<br />

entschieden genug reagiert zu haben. Lange<br />

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12.2012 <strong>Cicero</strong> 61


| W e l t b ü h n e | A m e r i k a s A u s s e n p o l i t i k<br />

Die Taliban, die sich für die wahren <strong>Macht</strong>haber im Land<br />

halten, warten nur auf den Abzug der westlichen Truppen<br />

Amerikas wirtschaftliche Verknüpfung mit China ist so existenziell,<br />

dass es für die USA keine Alternative zu guten Beziehungen gibt<br />

Zeit setzte Washington darauf, dass Syriens<br />

Präsident Baschar al Assad eher früher<br />

als später fallen müsse, und versuchte vor<br />

allem diplomatisch, die Exil opposition zu<br />

unterstützen. Nachdem klar wurde, dass<br />

diese bei den Gruppierungen, die in Syrien<br />

selbst den militärischen Kampf gegen<br />

das Regime führten, kaum über Legitimation<br />

verfügt, vollzog Washington eine<br />

Kehrtwende. Nun will man sich intensiver<br />

direkt mit den Rebellen koordinieren, obwohl<br />

dies ein extrem heikles Unterfangen<br />

ist, da die kämpfende Opposition multipel<br />

gespalten ist, teils dubiose Ziele verfolgt,<br />

mit sehr unterschiedlichen (und oft inakzeptablen)<br />

Methoden zu Werke geht und<br />

über Unterstützer im Ausland verfügt, mit<br />

denen man sich nicht gemeinmachen will.<br />

Eine „reguläre“ militärische Intervention<br />

auf der Basis eines Mandats des UN-Sicherheitsrats<br />

scheint wegen der starren Haltung<br />

Moskaus und Pekings derzeit nicht möglich<br />

und wird von den westlichen Mächten insgeheim<br />

auch nicht herbeigesehnt.<br />

So bleibt als praktische Option nur das<br />

Eingreifen an der Peripherie des Konflikts,<br />

beispielsweise durch Einrichten von Flugverbotszonen<br />

im türkisch-syrischen Grenzgebiet.<br />

Diese müssten dann allerdings auch<br />

durchgesetzt werden, was die Schutzmacht<br />

automatisch zum Kombattanten in einem<br />

höchst diffizilen Konfliktgemenge machen<br />

würde. Bisher schrecken vor allem westliche<br />

Militärs vor einem solchen Szenario<br />

zurück, weil sie eine unübersichtliche<br />

Lage mit unkalkulierbarem Ausgang fürchten.<br />

Nicht zuletzt auch, weil man bei Flugverbotszonen<br />

nie weiß, wen genau man<br />

da eigentlich schützt, und wer dann unter<br />

westlichem Schutzschirm welche Politik<br />

verfolgt.<br />

Je brutaler die Nachrichten aus Syrien<br />

aber werden, und je größer die Gefahr eines<br />

Flächenbrands in der Region wird, der<br />

die ohnehin fragilen Staaten Libanons und<br />

Jordaniens sowie Israel, Iran, die Palästinensergebiete<br />

und vielleicht sogar Ägypten<br />

und den Golf erfassen könnte, desto größer<br />

könnte die Versuchung werden, doch<br />

einzugreifen. Hier wird Obama schwere<br />

Entscheidungen treffen müssen, die auch<br />

für Europa von Bedeutung sein werden,<br />

nicht zuletzt über die enge Verflechtung<br />

und Allianz mit der Türkei. Viel wird davon<br />

abhängen, ob eine weitere Eskalation<br />

in Syrien als Gesichts- und Prestigeverlust<br />

Amerikas gedeutet würde. Schon jetzt aber<br />

Fotos: Bulls Press/Mirrorpix, DDP Images/AP/Imaginechina<br />

62 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Hello<br />

my name is<br />

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NOUGAT<br />

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| W e l t b ü h n e | A m e r i k a s A u s s e n p o l i t i k<br />

ist eins deutlich: Amerikas hat in der Region<br />

weniger Gewicht als noch vor zehn<br />

Jahren.<br />

Auf niedrigerer Flamme, aber mit dem<br />

Potenzial für extrem negative Entwicklungen,<br />

kocht das Dauerthema Afghanistan.<br />

Barack Obama hat sich bereits vor einiger<br />

Zeit auf einen Abzug der verbliebenen<br />

68 000 US-Soldaten bis Ende 2014 festgelegt<br />

und diesen Termin auch gegen alle<br />

Kritik verteidigt. Nun muss dieser Abzug<br />

gestaltet werden. Zum einen müssen die<br />

Etappen, in denen das nicht nur logistisch<br />

äußerst anspruchsvolle Unterfangen vollzogen<br />

werden soll, festgelegt werden. Dies<br />

muss eng mit den Partnern der Isaf-Mission<br />

abgestimmt sein. Zum anderen muss<br />

zusammen mit dem afghanischen Präsidenten<br />

Hamid Karzai das Sicherheitskonzept<br />

für die Zeit nach dem Abzug erarbeitet<br />

werden. Daraus wird sich ergeben, wie<br />

viele amerikanische Soldaten als Berater,<br />

Ausbilder und als Notfallreserve im Land<br />

verbleiben sollen.<br />

Das Ganze spielt sich ab vor dem Hintergrund<br />

einer sich zusehends verschlechternden<br />

Sicherheitslage in Kabul und im<br />

Rest des Landes. Die Taliban warten nur<br />

auf den Abzug der westlichen Truppen,<br />

und das äußerst selbstbewusste Auftreten<br />

ihrer Guerillakämpfer zeigt deutlich, wer<br />

sich für die wahren <strong>Macht</strong>haber im Land<br />

hält. Die Übergabe der Verantwortung an<br />

die afghanischen Sicherheitskräfte gestaltet<br />

sich mühsam, zuletzt zusätzlich erschwert<br />

durch die zunehmende Zahl von Angriffen<br />

afghanischer Soldaten auf ihre westlichen<br />

Ausbilder.<br />

Während Obama und Amerikas Alliierten<br />

die Erbmasse ihres mehr als zehn Jahre<br />

dauernden Einsatzes am Hindukusch sortieren,<br />

positionieren sich im Hintergrund<br />

die Anrainer. Vor allem Pakistan, formal<br />

Partner des Westens, spielt sein eigenes<br />

Spiel. Dabei geht es vor allem darum, den<br />

möglichen Einfluss des Erbfeinds Indien in<br />

einem Post-Isaf-Afghanistan klein zu halten.<br />

Natürlicher Partner Pakistans sind dabei<br />

die Taliban, die seit jeher enge Bande<br />

zu Teilen der pakistanischen Regierung<br />

pflegen. Islamabad hat ein Interesse am<br />

Erstarken der Gotteskrieger. Der Westen<br />

fürchtet nichts mehr als das. Im Grunde<br />

hat sich Afghanistan schon jetzt von einem<br />

gut begründbaren Waffengang zu einem<br />

Verlustspiel des Westens gewandelt. Zwar<br />

wurde das ursprüngliche Ziel, das Land als<br />

Barack Obama<br />

möchte mit den<br />

Russen vor allem<br />

bei der nuklearen<br />

Abrüstung<br />

vorankommen<br />

Rückzugsort islamischer Terroristen zu säubern,<br />

leidlich erreicht. Der dann draufgesattelte<br />

Auftrag, aus Afghanistan ein selbsttragendes,<br />

stabiles Gebilde zu machen, das<br />

den Rückfall in alte Zeiten selbst verhindern<br />

kann, ist hingegen gescheitert. Von<br />

Obamas Entscheidungen hängt nun „nur<br />

noch“ ab, ob der Rückzug ohne Gesichtsverlust<br />

erfolgen kann oder zum Fanal westlicher<br />

<strong>Macht</strong>losigkeit wird.<br />

Solch ein Fanal würde auch – und vor<br />

allem – in China genau zur Kenntnis genommen<br />

werden. Das Verhältnis Amerikas<br />

zur Volksrepublik ist von tief sitzender<br />

Schizophrenie geprägt. Zum einen sieht ein<br />

verunsichertes Amerika in 1,3 Milliarden<br />

Chinesen einen geopolitischen Rivalen, andererseits<br />

ist die wirtschaftliche Verknüpfung<br />

der beiden größten Volkswirtschaften<br />

der Erde so existenziell, dass es für beide<br />

Seiten zu guten Beziehungen keine Alternative<br />

gibt.<br />

Es wird viel vom diplomatischen Geschick<br />

des Präsidenten und seines neuen<br />

Teams abhängen, ob Amerika einen Mittelweg<br />

findet zwischen seiner Rolle als Sicherheitsgarant<br />

im Pazifik und seinen wirtschaftlichen<br />

Interessen. Noch viel mehr<br />

wird allerdings wohl davon abhängen, wie<br />

sich die neue chinesische Partei- und Staatsführung<br />

politisch ausrichten wird. Obwohl<br />

die Personen, die in China dieser Tage das<br />

Ruder übernehmen, bekannt sind, ist unklar,<br />

wie sie die durchaus heikle interne Situation<br />

der Kommunistischen Partei, den<br />

zunehmenden Druck aus der Bevölkerung<br />

und die Rivalität zwischen Partei- und Armeeführung<br />

in praktische Politik umsetzen<br />

werden. Obama wird sich, nach der<br />

von ihm eingeleiteten strategischen Neuausrichtung<br />

Amerikas nach Asien, die in<br />

Peking nicht als freundlicher Akt aufgenommen<br />

wurde, sehr intensiv mit asiatischer<br />

Diplomatie (auch im Verhältnis zu<br />

Korea, Japan, den Philippinen und nicht<br />

zuletzt Taiwan) auseinandersetzen müssen.<br />

Und auch Russland steht auf der To‐do-<br />

Liste des Präsidenten. Hier hatte sich Obama<br />

von dem durch ihn eingeläuteten<br />

„Reset“ der – durch Misstrauen gekennzeichneten<br />

– Beziehungen hervorgetan.<br />

Doch trotz einiger praktischer Kooperationsvorhaben<br />

zu Afghanistan und zur Rüstungsbegrenzung<br />

ist kein grundlegender<br />

Schwenk im Verhältnis der beiden Altrivalen<br />

eingetreten. Was Beobachter in erster<br />

Linie der russischen Seite anlasten. Ob<br />

ein geschwächter russischer Präsident die<br />

Kraft aufbringt, in den russisch-amerikanischen<br />

Beziehungen in Vorleistung zu gehen<br />

oder ob das Feindbild Amerika für Wladimir<br />

Putin an der Heimatfront allzu nützlich<br />

ist, bleibt bislang eine offene Frage. Barack<br />

Obama jedenfalls möchte mit den Russen<br />

vor allem bei der nuklearen Abrüstung vorankommen<br />

und ist dafür unter Umständen<br />

bereit, beim geplanten Raketenabwehrsystem<br />

in Europa Abstriche zu machen.<br />

Womit das Zauberwort gefallen ist:<br />

Europa. Was hat der alte Kontinent von<br />

Obama II zu erwarten? Die Antwort ist klar:<br />

Obama erwartet von den Europäern, dass<br />

sie schnellstmöglich ihre Wirtschaftskrise<br />

in den Griff bekommen, die Sicherheit in<br />

ihren geografischen Hinterhöfen auf dem<br />

Balkan und in Nordafrika selbst garantieren<br />

und im Nato-Bündnis größeres Engagement<br />

zeigen. Auf keiner dieser Baustellen<br />

sind schnell Fortschritte zu erwarten.<br />

Ein echtes Gewinnerthema könnte<br />

hingegen die transatlantische Freihandelszone<br />

werden. Ein Bericht mit Empfehlungen<br />

dazu wird noch vor Jahresfrist erwartet,<br />

Verhandlungen sollen schon im kommenden<br />

Jahr beginnen. Sie könnten bis zu<br />

zwei Jahre dauern – sofern der US-Kongress<br />

dem Präsidenten das entsprechende<br />

Mandat erteilt. Sollte das Vorhaben gelingen,<br />

wäre dies ein Paukenschlag im heraufziehenden<br />

pazifischen Jahrhundert.<br />

Es wäre nicht ohne Ironie, wenn es ausgerechnet<br />

das von vielen in Washington<br />

schon abgeschriebene Europa wäre, das dem<br />

Präsidenten und den USA einen so substanziellen<br />

geopolitischen Triumph bescherte.<br />

Jan techau<br />

ist Direktor von Carnegie<br />

Europe, einem außenpolitischen<br />

Forschungsinstitut in Brüssel<br />

Foto: privat<br />

64 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Unter Gangstern<br />

und Dschihadis<br />

Hinter der Fassade islamistischer Gruppen, die den Norden Malis besetzt haben, bündeln<br />

sich widersprüchliche Interessen. Es geht um Drogenhandel, Öl und die Vormacht im Sahel.<br />

Ausgerechnet hier soll die Bundeswehr für Ordnung sorgen?<br />

von Marc Engelhardt<br />

66 <strong>Cicero</strong> 12.2012


W a s g e s c h i e h t i n M a l i ? | W e l t b ü h n e |<br />

Milizionäre der Bewegung für die<br />

Einheit und den heiligen Krieg in<br />

Westafrika haben sich in Gao festgesetzt<br />

M A U R E T A N I E N<br />

A L G E R I E N<br />

Von Rebellen<br />

k ontrolliertes Gebiet<br />

Aguelhok<br />

Timbuktu<br />

Kidal<br />

Gao<br />

S E N E G A L<br />

G U I N E A<br />

M A L I<br />

Bamako<br />

Niger<br />

Douentza<br />

Mopti<br />

B U R K I N A F A S O<br />

G H A N A<br />

N I G E R<br />

B E N I N<br />

N I G E R I A<br />

E L F E N B E I N K Ü S T E<br />

T O G O<br />

Foto: SEBASTIEN DUFOUR/DDP Images/SIPA; Grafik: Mick Klaack<br />

D<br />

ie Männer, jeder von Ihnen mit<br />

langem, buschigem Bart, trugen<br />

Kalaschnikow-Gewehre<br />

und Schaufeln. Um kurz nach<br />

fünf am Sonntagmorgen, der<br />

Himmel färbte sich hellblau, führten sie<br />

den Mann und die Frau zu den ausgehobenen<br />

Löchern mitten in Aguelhok, einem<br />

Marktflecken im Norden Malis, nicht weit<br />

von der Grenze zu Algerien entfernt. Bis zu<br />

den Schultern wurde das Paar eingegraben.<br />

Dann erhob einer der Männer die Stimme.<br />

„Er sagte, Allah habe diese Strafe befohlen“,<br />

berichtet später ein Augenzeuge. Andere<br />

sprechen davon, wie sie vor Angst versteinert<br />

zusahen, als die Islamisten mit Steinbrocken<br />

nach den beiden Köpfen warfen.<br />

„Die Frau hat laut geschrien, aber schon<br />

bald hing sie nur noch da – beim Mann<br />

hat es 15 Minuten gedauert, bis er tot war.“<br />

Viele der 2000 Einwohner Aguel hoks flohen<br />

nach dem Exempel, das die neuen Herren<br />

im Norden Malis Ende Juli statuierten<br />

– aus Angst davor, die nächsten Opfer<br />

zu sein. Wer blieb, gehorchte.<br />

Seit einem Militärputsch im März dieses<br />

Jahres ist der Norden Malis in der Hand<br />

von Rebellen und radikalen Islamisten. Die<br />

Autorität der neuen Übergangsregierung in<br />

der Hauptstadt Bamako beschränkt sich<br />

auf den Süden des Landes. Ein militärischer<br />

Einsatz der Europäischen Union<br />

könnte für Ordnung sorgen. Frankreich<br />

drängt zur Eile, will französische Sicherheitsinteressen<br />

in seinem „afrikanischen<br />

Hinterhof“ wahren. Die Bundesregierung<br />

versichert, es gehe nicht um einen Kampfeinsatz,<br />

sondern um eine Ausbildungsmission,<br />

an der sich Bundeswehrsoldaten<br />

beteiligen sollen. Eine militärische Intervention<br />

im Norden Malis obliege den Regierungstruppen<br />

und Soldaten der Westafrikanischen<br />

Wirtschaftsgemeinschaft<br />

Ecowas.<br />

Vor drei Jahren galt Mali noch als<br />

westafrikanische Vorzeigedemokratie, die<br />

Hauptstadt Bamako als Boomtown im Sahel.<br />

Überall wird gebaut, mit chinesischem<br />

Geld und auch mit Einnahmen aus dem<br />

Goldexport – Mali ist nach Südafrika und<br />

Ghana der drittgrößte Produzent des Edelmetalls.<br />

Die Stimmung in den Bars über<br />

dem träge dahinfließenden Niger-Fluss ist<br />

in dieser Zeit noch gut: Uranfunde und<br />

jüngst entdeckte Ölvorkommen lassen Geschäftsleute<br />

auf einen lang anhaltenden<br />

Aufschwung hoffen, und auch das Tourismusgeschäft<br />

wächst. In einem der pompösen<br />

Hotelneubauten aus Beton, Stahl und<br />

Glas treffe ich Mohamud al Faroukh. Er<br />

stammt aus dem Norden Malis, ein Tuareg.<br />

„Wir Tuareg bekommen vom neuen<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 70<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 67


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| W e l t b ü h n e | w a s g e s c h i e h t i n M a l i ?<br />

„Die Terroristen haben immer<br />

mehr an Stärke gewonnen: Sie<br />

haben Leute entführt, Lösegelder<br />

kassiert und sich damit Kapital<br />

für ihren Kampf beschafft“<br />

Gilles Olakounlé Yabi, International Crisis Group<br />

Extremisten der Ansar Dine haben im Norden Malis die „göttliche Ordnung“<br />

ausgerufen und setzen mit allen Mitteln islamisches Recht durch<br />

Mehr als 200 000 Malier sind vor den Kämpfen im Norden des Landes in den<br />

Süden geflohen, fast ebenso viele Menschen haben sich in Nachbarländer gerettet<br />

Reichtum Malis nichts ab“, erzählt er verbittert.<br />

„Unter dem Wüstensand liegen die<br />

Reichtümer, die die Politiker hier in Bamako<br />

verschachern, aber wir leben in absoluter<br />

Armut.“ Sosehr al Faroukh in dieser<br />

warmen Nacht von der Sahara schwärmt,<br />

so desillusioniert ist er von Malis politischer<br />

Klasse. „Das Einzige, was etwas ändern<br />

kann, ist eine Revolution“, sagt er.<br />

Anfang 2012 ist es so weit. Die Zeichen<br />

für einen Aufstand der Tuareg stehen<br />

so günstig wie nie. „Nach dem Fall<br />

Gaddafis sind militärisch gut ausgebildete<br />

Tuaregkämpfer aus Libyen nach Mali zurückgekehrt“,<br />

erklärt Gilles Olakounlé<br />

Yabi, Westafrika-Direktor der International<br />

Crisis Group. „Sie kamen mit sehr vielen<br />

Waffen, mit Munition und Fahrzeugen<br />

– für die Tuareg im Norden Malis war<br />

das das entscheidende Signal.“ Als die Armee<br />

in Bamako den scheidenden Präsidenten<br />

Amadou Touré Ende März aus dem<br />

Amt putscht, besetzen die Tuaregkämpfer<br />

der Nationalen Bewegung für die Befreiung<br />

Azawads innerhalb eines langen Wochenendes<br />

den Norden Malis und rufen<br />

ihren eigenen Staat aus. „Azawad“ beginnt<br />

nördlich der Stadt Mopti und ist größer als<br />

der verbleibende Rest Malis. Eine Fluchtwelle<br />

setzt ein. Mehr als 200 000 Vertriebene<br />

innerhalb des Landes zählt die<br />

Uno, fast ebenso viele Malier fliehen in<br />

Nachbarländer.<br />

Doch selbst Sympathisanten der Tuaregbewegung,<br />

die in den Städten Timbuktu,<br />

Gao und Kidal und den spärlich besiedelten<br />

Landstrichen dazwischen die Rebellion<br />

begrüßt haben, feiern nicht lange. Gaddafis<br />

Ex-Söldner erwerben sich schnell einen<br />

Ruf als Diebe, Plünderer und Vergewaltiger.<br />

Andere Tuaregverbündete agieren disziplinierter,<br />

etwa jene islamistischen Gruppen,<br />

die mit der Al Qaida im Islamischen Maghreb<br />

verbandelt sind. Seit gut zehn Jahren<br />

haben es sich die aus den algerischen Salafisten<br />

hervorgegangenen Al‐Qaida‐Zellen<br />

im Norden Malis eingerichtet. „Im malischen<br />

Exil haben die Terroristen, deren Anführer<br />

zum ganz überwiegenden Teil aus<br />

Algerien stammen, immer mehr an Stärke<br />

gewonnen: Sie haben Leute entführt, Lösegelder<br />

kassiert und sich damit Kapital für<br />

ihren Kampf beschafft“, sagt Gilles Olakounlé<br />

Yabi. „Zudem profitieren sie vom<br />

Schmuggel von Drogen, Waffen und Menschen<br />

durch die Sahara – wenn sie das Geschäft<br />

nicht selbst betreiben, verlangen sie<br />

Fotos: Reuters<br />

70 <strong>Cicero</strong> 12.2012


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zumindest Schutzgelder.“ Die im Bürgerkrieg<br />

in Algerien gestählten Terroristen<br />

nutzen die erste Chance, die sich ihnen<br />

bietet, um die vermeintlich siegreichen<br />

Tuareg zurück in die Wüste zu schicken.<br />

Nach nicht einmal einem Vierteljahr ist der<br />

Traum vom Tuaregstaat ausgeträumt.<br />

Was seitdem genau im Norden Malis<br />

geschieht, ist schwer herauszufinden. Nur<br />

wenige Journalisten, die meisten von ihnen<br />

Malier, trauen sich noch in den von<br />

Islamisten kontrollierten Norden. Einer<br />

von ihnen pendelt zwischen Bamako und<br />

Gao, aus Sicherheitsgründen nennen wir<br />

ihn Yusuf. Mit SMS-Kurznachrichten und<br />

E-Mails über seinen französischen Yahoo-<br />

Account schickt er Nachrichten aus der<br />

größten Stadt im Norden Malis. Knapp<br />

70 000 Menschen lebten hier bis zum<br />

Einmarsch der Rebellen; heute ist es noch<br />

knapp die Hälfte.<br />

Gao gilt heute als Basis der Bewegung<br />

für die Einheit und den heiligen Krieg in<br />

Westafrika, kurz Mujao. Ihre Kämpfer sind<br />

es, die die letzten Tuareg‐Truppen der Nationalen<br />

Bewegung für die Befreiung Azawads<br />

Ende Juni endgültig aus der Stadt<br />

gejagt haben. Seitdem beherrschen die Islamisten<br />

Gao. „Vor zwei Monaten hat ein<br />

Scharia-Gericht eine Bande von Straßenräubern<br />

verurteilt“, berichtet Yusuf. „Sie<br />

haben den fünf Männern je einen Fuß und<br />

eine Hand amputiert, einem davon öffentlich<br />

auf dem Marktplatz.“<br />

Danach brachten die neuen Herrscher<br />

die Straßenräuber in eine Klinik, um Beinund<br />

Armstümpfe behandeln zu lassen.<br />

„Wir haben ihnen neue Kleider gegeben,<br />

und wenn sie entlassen werden, geben wir<br />

ihnen Geld, weil sie unsere Brüder sind“,<br />

wird der Kommandant der neuen Religionspolizei<br />

zitiert, die in die Wachen der<br />

staatlichen Sicherheitskräfte eingezogen ist.<br />

Bei weitem nicht alle der strengen Sittenwächter<br />

(und der Kämpfer) sind Malier:<br />

Nigerianer sollen unter ihnen sein, Mitglieder<br />

der islamistischen Terrorbewegung<br />

Boko Haram; Mauretanier, Nigerer, Senegalesen<br />

und nicht zuletzt Männer aus<br />

der Westsahara, die seit Mitte der siebziger<br />

Jahre gegen die marokkanische Besatzung<br />

kämpfen – weitgehend unbeachtet<br />

von der Welt.<br />

Gut 300 Westsaharer sollen in den<br />

Reihen der malischen Islamisten kämpfen,<br />

die meisten für die Bewegung für die Einheit<br />

und den heiligen Krieg in Westafrika.<br />

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W a s g e s c h i e h t i n M a l i ? | W e l t b ü h n e |<br />

Foto: Privat<br />

„Viele Westsaharer sind im Flüchtlingslager<br />

geboren und dort aufgewachsen“, beschreibt<br />

der westsaharische Lyriker Limam<br />

Boisha die Lebensbedingungen seines Volkes<br />

nach fast vier Jahrzehnten Vertreibung.<br />

Mehr als 110 000 Flüchtlinge leben alleine<br />

in den Wüstenlagern rund um die algerische<br />

Stadt Tindouf. „Wir Saharer pflegen<br />

traditionell einen toleranten Islam“, sagt<br />

Boisha. „Aber in den Lagern gibt es nichts<br />

zu tun, die Männer wissen nicht, was sie<br />

mit sich anfangen sollen.“ Aus Frust und<br />

Perspektivlosigkeit schließen vor allem<br />

junge Männer sich Al Qaida an.<br />

Islamismus ist unter den Westsaharern<br />

kein neues Phänomen: Schon in den neunziger<br />

Jahren rekrutierten algerische Salafisten<br />

in den Lagern rund um Tindouf. Sowohl<br />

in Mauretanien als auch im Norden<br />

Malis wurden seit 2007 Westsaharer, die<br />

der Al Qaida im Islamischen Maghreb nahe<br />

standen, als mutmaßliche Terroristen verhaftet.<br />

Im Oktober 2011 schließlich wurden<br />

humanitäre Helfer – zwei Spanier und<br />

ein Italiener – in einem westsaharischen<br />

Flüchtlingslager entführt. Als sie im Juli dieses<br />

Jahres freigelassen werden, wird in Gao<br />

ausgelassen gefeiert. „Angeblich soll die Bewegung<br />

für die Einheit und den heiligen<br />

Krieg in Westafrika 15 Millionen Euro Lösegeld<br />

erhalten haben“, sagt Yusuf.<br />

Es ist Geld, das die Islamisten klug investieren.<br />

„Die Leute fliehen nicht mehr,<br />

viele kommen sogar zurück“, beobachtet<br />

Yusuf. „Die Angst hat nachgelassen, mit ihrem<br />

Geld kauft die Mujao nicht nur neue<br />

Rekruten, sondern auch Unterstützung<br />

in der Bevölkerung.“ Statt mit der Peitsche,<br />

herrschen die Islamisten in Gao inzwischen<br />

mit viel Zuckerbrot. „Die Mujao<br />

achtet zum Beispiel genau darauf, dass<br />

die Krankenhäuser offen sind und funktionieren“,<br />

berichtet Hannes Stegemann,<br />

Afrika experte der Caritas. Stegemann, der<br />

mit Bewohnern von Gao, Timbuktu und<br />

Kidal in Verbindung steht, sieht auch sonst<br />

eine weitgehende Rückkehr von Normalität<br />

im Alltag. „Die Märkte sind voll, frische<br />

Lebensmittel und Benzin werden aus Algerien<br />

importiert. Die Islamisten bemühen<br />

sich erfolgreich um Rückhalt in der Bevölkerung,<br />

und die Bevölkerung hat sich mit<br />

den neuen <strong>Macht</strong>habern weitgehend arrangiert.“<br />

Zwar gelten nach wie vor drakonische<br />

Strafen für jeden, der raucht, Alkohol<br />

trinkt oder auch nur Musik hört. Dafür<br />

gibt es praktisch keine Kriminalität mehr.<br />

Offiziell sind es drei Gruppen, die<br />

heute den Norden unter sich aufgeteilt<br />

haben: Die Bewegung für die Einheit und<br />

den heiligen Krieg in Westafrika hält Gao,<br />

Al Qaida im islamischen Maghreb Timbuktu,<br />

und Kidal im Nordosten Malis wird<br />

von der Ansar Dine-Miliz kontrolliert. Die<br />

Miliz bezeichnet sich selbst als islamistische<br />

Abspaltung der Nationalen Bewegung zur<br />

Im Norden<br />

Malis liegt ein<br />

großer Abschnitt<br />

des Taoudeni-<br />

Beckens, in dem<br />

reiche Öl- und<br />

Gasvorkommen<br />

vermutet werden<br />

Befreiung Azawads. Was und wer genau<br />

hinter diesen Gruppen steckt, ist unklar.<br />

Nicht wenige glauben, dass die Bewegung<br />

für die Einheit und den heiligen Krieg in<br />

Westafrika in Wirklichkeit eine Zelle von<br />

Al Qaida im Islamischen Maghreb ist. Ansar<br />

Dine betont unterdessen immer wieder<br />

seine engen Verflechtungen nach Algerien,<br />

das nach Gaddafis Sturz im Sahel die neue<br />

Vormacht werden will. „Algerien kennt uns<br />

gut und weiß, dass wir keine terroristische<br />

Gruppe sind“, sagt etwa der Ansar Dine-<br />

Unterhändler Scheikh Awisa. Der Sprecher<br />

der Miliz, Sanda Ould Bouamama, betont<br />

dagegen: „Wir sind eine islamistische Bewegung<br />

und pflegen eine brüderliche Beziehung<br />

zu Al Qaida.“<br />

Der Anführer von Ansar Dine, Iyad Ag<br />

Ghaly, hat den Ruf eines Wüsten-Wendehalses.<br />

Welchen Bestand die Verhandlungen<br />

haben, die er im November in Burkina<br />

Faso begonnen hat, ist unklar. Viele<br />

glauben, dass Ansar Dine eher einen neuen<br />

Führer bekommt, als dass die Gruppe ein<br />

Friedensabkommen mitträgt. Außerhalb<br />

der Städte sind die Kämpfer vor allem denjenigen<br />

verpflichtet, die am besten zahlen.<br />

Doch woher stammt das Geld, mit dem<br />

die Islamisten um sich werfen? Manche<br />

Analysten wie Gilles Olakounlé Yabi glauben,<br />

dass sich die Kämpfer am ehesten als<br />

„Gangster-Dschihadis“ charakterisieren lassen<br />

– Kriminelle, die mit dem Putsch ihre<br />

illegalen Geschäfte fördern wollen. Hannes<br />

Stegemann, der 17 Jahre in Afrika gelebt<br />

hat, hält das kriminelle Geschäft dagegen<br />

für nebensächlich. „Es gibt viel logischere<br />

Drogenrouten von Südamerika nach Europa<br />

als den Weg durch die Sahara –, und<br />

bisher habe ich noch keinen Beleg dafür gesehen,<br />

dass in der Sahara Drogenschmuggel<br />

im großen Stil stattfindet.“<br />

Für stichhaltiger hält Stegemann Gerüchte<br />

über Geld, das aus dem Emirat Katar<br />

in den Norden Malis fließen soll. Auch<br />

Yusuf hat Gerüchte über Waffen und Millionen<br />

in bar gehört, die an alle drei islamistischen<br />

Bewegungen geflossen sein sollen.<br />

Das Motiv: Öl. Im Norden Malis liegt ein<br />

großer Abschnitt des Taoudeni-Beckens, in<br />

dem reiche Öl- und Gasvorkommen vermutet<br />

werden. Angebliche Vorabsprachen<br />

mit dem französischen Staatskonzern Total<br />

wären gegenstandslos, wenn der Norden<br />

Malis unter Kontrolle der Rebellen bliebe –<br />

was seinerseits das Interesse Frankreichs an<br />

einer militärischen Intervention erklärt. Interessen<br />

am Öl hat auch Algerien, das über<br />

seinen Staatskonzern Sonatrach an der Exploration<br />

beteiligt ist. Paris ist zudem sehr<br />

an möglichen Uranvorkommen interessiert:<br />

Die Ausbeute im Norden des Nachbarlands<br />

Niger reicht dem französischen<br />

Konzern Areva nicht aus.<br />

Einer europäischen Einmischung sieht<br />

man in Mali eher skeptisch entgegen – sicher<br />

auch, weil die aus dem Putsch hervorgegangene<br />

Regierung in Bamako nur wenig<br />

Vertrauen in der Bevölkerung genießt.<br />

„In Mopti sammeln sich bereits Freiwillige,<br />

um selber den Norden zu befreien“, sagt<br />

Yusuf. Die „Ganda Koy“ ist eine traditionelle<br />

Miliz der Songhai, einer der bedeutendsten<br />

Ethnien im Norden Malis. Es sind<br />

Männer und Frauen, die ihre Heimatstädte<br />

von den Islamisten befreien wollen. Ob sie<br />

nach einem Sieg bereit sein werden, die<br />

<strong>Macht</strong> wieder an Bamako abzugeben, ist<br />

fraglich. „In der Vergangenheit hat ihnen<br />

das nichts Gutes gebracht“, sagt Yusuf.<br />

Marc Engelhardt<br />

ist langjähriger Afrikakorrespondent<br />

und Autor zahlreicher Bücher.<br />

Zuletzt erschien: „Somalia –<br />

Piraten, Warlords, Islamisten“<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 73


| W e l t b ü h n e | V i e l f a l t u n d E i n t r a c h t<br />

Die Straße der Götter<br />

Rat der Religionen<br />

Alljährlich treffen sich Vertreter aller<br />

Konfessionen zu einem Abendmahl<br />

74 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Soho Road, Birmingham, Großbritannien. Menschen aus<br />

90 Nationen mit unterschiedlichsten Religionen leben hier.<br />

Liz Hingley hat diese Vielfalt in ihren Fotos festgehalten<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 75


| W e l t b ü h n e | V i e l f a l t u n d E i n t r a c h t<br />

Katholiken<br />

In der Weihnachtszeit proben<br />

polnischstämmige junge Katholiken<br />

für ihren Auftritt als Sternsinger<br />

Sikhs<br />

Mit Turban und Trainingsanzug<br />

konzentrieren sich Sikhs auf<br />

ihre Atemübungen beim Yoga<br />

76 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Hare Krishna<br />

Manchem Hare-<br />

Krishna-Anhänger<br />

dient der Körper als<br />

Glaubensbekenntnis,<br />

und er lässt sich<br />

religiöse Texte in<br />

Sanskrit auf den<br />

Körper tätowieren<br />

Muslime<br />

Der erste Gebetsteppich ist für<br />

Muslime etwas Besonderes –<br />

egal wie jung man ist<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 77


| W e l t b ü h n e | V i e l f a l t u n d E i n t r a c h t<br />

Jain<br />

Anhänger des Jainismus beten mit<br />

einem Mundschutz, damit sie<br />

dabei nicht versehentlich einen<br />

lebenden Organismus töten<br />

Anglikaner<br />

Hausbesuche sind für<br />

den anglikanischen<br />

Geistlichen Reverend Greg<br />

eine Herzensangelegenheit<br />

78 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Baptisten<br />

Zweimal im Jahr werden<br />

die Gläubigen dieser<br />

Baptistengemeinde in<br />

einem „Pool“ getauft<br />

Rastafaris<br />

In den Siebzigern hatten die<br />

Rastafaris ihre Hochzeit. Durch die<br />

Zuwanderung aus Asien wurden sie<br />

seither mehr und mehr verdrängt<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 79


| W e l t b ü h n e | V i e l f a l t u n d E i n t r a c h t<br />

G<br />

ibt es das wirklich? Menschen unterschiedlicher Herkunft<br />

und Religion leben Tür an Tür, und es kommt<br />

nicht regelmäßig zu gegenseitigen Anfeindungen? An<br />

der Soho Road im britischen Birmingham ist das gelebte Realität.<br />

Auf etwa drei Kilometern erstreckt sich die Straße der Religionen,<br />

die Muslime und Buddhisten, Rastafaris und Christen,<br />

Sikhs und Hare-Krishna-Anhänger und viele andere ihr Zuhause<br />

nennen.<br />

Ein Hort des friedlichen Mit- und Nebeneinanders ausgerechnet<br />

in Birmingham, mag man sich fragen? Ausgerechnet<br />

die ehemals schmutzige Kohle- und Stahlstadt, die Zentrum<br />

der industriellen Revolution war, die in den achtziger Jahren<br />

des vergangenen Jahrhunderts zum Mittelpunkt gewalttätiger<br />

Rassenunruhen wurde und sich heute rühmt, ein Dienstleistungszentrum<br />

zu sein?<br />

Ja, gerade da, sagt die Fotografin Liz Hingley über die Straße<br />

ihrer Kindheit: „Ich bin als Tochter zweier anglikanischer Geistlicher<br />

in Birmingham aufgewachsen, eine der buntesten Städte<br />

Großbritanniens, wo Menschen aus 90 Nationen leben. Ich war<br />

das einzige weiße Mädchen in meinem Kindergarten, ich aß indische<br />

Süßigkeiten auf den Geburtstagsfeiern meiner Freunde<br />

und besuchte Sikh-Festivals im Gemeindepark.“ Erst Jahre später,<br />

nachdem sie ihre Heimat längst verlassen und an unterschiedlichen<br />

Orten gelebt hatte, wurde ihr die Besonderheit ihrer<br />

Kindheit in Birmingham bewusst. Hingley kehrte mit ihrer<br />

Kamera zurück, um die reiche Vielfalt der Religionen zu dokumentieren.<br />

In einer Zeit, da der Glaube auch dazu benutzt<br />

werde, um Ängste und Vorurteile zu schüren, hofft die Fotografin<br />

zeigen zu können, welche Bereicherung unterschiedliche<br />

Glaubensrichtungen für den Alltag einer Stadt bedeuten können.<br />

80 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Anzeige<br />

One of a kind<br />

Entspannen Sie im belebenden Spa,<br />

Buddhisten<br />

Tagtäglich kocht Preacher für<br />

die thaistämmigen Mönche<br />

des Buddhisten-Tempels<br />

Also ein Paradies auf Erden? Nicht ganz. Auch<br />

hier kommt es durchaus zu Spannungen – beispielsweise<br />

zwischen Sikhs und muslimischen<br />

Gruppen. Doch die unterschiedlichen Ethnien und<br />

Religionen finden auch wieder einen Weg, aufeinander<br />

zuzugehen – manchmal unter der Vermittlung<br />

von buddhistischen Mönchen. „Das hier ist<br />

weder Pakistan noch Indien, weder Kaschmir noch<br />

Bangladesch“, sagt der Vorsitzende einer Moschee,<br />

„wir leben in England, und hier sind wir viel friedlicher.“<br />

In der Soho Road von Birmingham sind die<br />

Sikhs, Muslime, Hindus, die Christen, Buddhisten<br />

und Rastafaris, die alteingesessenen Briten und<br />

zugewanderten Pakistanis am Ende doch alle auch:<br />

Engländer. jh<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 81<br />

schlendern Sie durch den angrenzenden Park<br />

oder genießen Sie einfach erlesene Gaumenfreuden<br />

in unserem mit zwei Michelin-Sternen<br />

ausgezeichneten Park-Restaurant. Wer stilvolle<br />

Entspannung in einer eleganten Umgebung sucht,<br />

ist hier genau am richtigen Ort.<br />

Brenners Park-Hotel & Spa · Schillerstraße 4/6<br />

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| W e l t b ü h n e | G l a u b e g i b t O r i e n t i e r u n g<br />

Mehr Religion wagen<br />

Ein gottgefälliges Leben heißt, vernünftig zu denken und dem Gewissen gemäß zu handeln<br />

von Alexander Kissler<br />

R<br />

eligionen sind das gedächtnis<br />

der Menschheit, Schulen der<br />

Demut, Räume der Selbstvergewisserung,<br />

sind Wissensspeicher<br />

und Trostmaschine zugleich. Sie<br />

reißen das Individuum heraus aus den Bedingungen<br />

der Gegenwart, die es mal nach<br />

dieser, mal nach jener Pfeife tanzen lassen<br />

will. Sie machen Monaden zu Menschen,<br />

machen die berühmten „kohlenstoffbasierten<br />

Entitäten“ zu Personen, denn Religion<br />

gibt es nie nur für mich. Sie ist das<br />

Band, das für Spannkraft sorgt in senkrechter<br />

wie waagerechter Richtung. Wer glaubt,<br />

steht in der langen Reihe derer, die vor ihm<br />

waren und die neben ihm sind – und hat<br />

Tuchfühlung mit dem, was kommen wird,<br />

dem, was er erhofft am Ende seiner Tage.<br />

Es ist modisch geworden in unseren<br />

Breitengraden, den Religiösen als einen<br />

„Religioten“ zu verspotten. Wer noch<br />

glaube, der denke nicht und sei also ein<br />

Idiot. Dieses auf Auguste Comte zurückgehende<br />

Vorurteil erinnert an den Geisterfahrer,<br />

der sich auf der richtigen Spur wähnt<br />

und alle anderen für Geisterfahrer hält. Die<br />

große Mehrheit nämlich der Weltbevölkerung<br />

ist gläubig – aus guten Gründen. Den<br />

allermeisten Menschen ist es unmittelbar<br />

einsichtig, dass das Universum eine Schöpfung<br />

ist und dass es einen Schöpfer geben<br />

muss. Dass diese ganze wunderbare Erzählung<br />

namens Leben einen Erzähler braucht,<br />

einen Gott. Ebenso mehrheitsfähig ist die<br />

Auffassung, dass in den heiligen Schriften<br />

alles Wesentliche über den Homo sapiens<br />

ausgesagt ist. Dort und nicht bei den<br />

„Vollstreckern des Zeitgeists“ (Feridun Zaimoglu)<br />

mit ihrer Jenseitsphobie wird der<br />

Sinnsucher Zuflucht finden. Man lese zum<br />

Vergleich die furchtbar bitteren, lichtlosen,<br />

in sich gekrümmten Philippiken, die der<br />

Neoatheismus hervorbringt. Die Freude<br />

wohnt dort nicht und nicht die Hoffnung<br />

und der Trost. Was aber bräuchten wir<br />

dringender denn diese drei?<br />

Die heiligen Schriften enthalten die<br />

farbigsten Erzählungen vom Los des Menschen<br />

überhaupt. Grau und traurig wäre<br />

die Welt ohne Eschu, den Narrengott Nigerias,<br />

ohne den hinduistischen Elefantengott<br />

Ganesha, der Süßigkeiten mag,<br />

Hindernisse aus dem Weg räumt und die<br />

Gelehrsamkeit verkörpert, ohne die Veden<br />

und die Upanishaden und das Rad des Lebens,<br />

ohne Altes und Neues<br />

Testament, ohne den Talmud<br />

und die Hadithe. Immer ist<br />

der Mensch in diesen Erzählungen<br />

ein unvollkommenes,<br />

vielfach angefochtenes<br />

Wesen, das der Barmherzigkeit<br />

bedarf und das sich eines<br />

Tages für seine Taten<br />

wird rechtfertigen müssen.<br />

Religionen haben im Gegensatz<br />

zum Aberglauben und<br />

zum Fundamentalismus der<br />

Atheisten einen realistischen Blick. Sie wissen,<br />

dass im Menschen unfassbar Großes<br />

wohnt – und dass diese Größe jederzeit zuschanden<br />

gehen kann.<br />

Darum sind Religionen der beste<br />

Schutz vor der Selbstüberhebung des gegenwärtigen<br />

Menschen, wie sie die Spätmoderne<br />

kennzeichnet. Bekanntlich glaubt,<br />

wer an nichts glaubt, nicht nichts, sondern<br />

alles Mögliche. Das berühmte Wort Gilbert<br />

Keith Chestertons entfaltet heute<br />

seine volle Wahrheit. Alles Mögliche bedeutet<br />

2012 ff.: den Irrglauben an die Ökonomisierbarkeit<br />

aller Lebensbezüge, die<br />

Ausrufung des Ichs zum unumschränkten<br />

Herrscher, dessen Willen sich die Welt zu<br />

fügen habe, den Trugschluss, die Zukunft<br />

sei komplett berechenbar, das ganze Leben<br />

ein einziges Projekt, der Staat ein Agent des<br />

Glücks und jede Beziehung von Mensch<br />

zu Mensch ein interessenpolitisches Kräftemessen.<br />

Der gläubige Mensch wird immer<br />

eine innere Reserve haben gegenüber allen<br />

diesseitigen Heilsversprechungen. Er weiß:<br />

„Es gibt<br />

keinen Gott<br />

außer in der<br />

Freiheit, wie<br />

es keine<br />

Freiheit gibt<br />

außer in Gott“<br />

Alle Politik, alle Wirtschaft, alle Staatlichkeit<br />

behandelt nur vorletzte Dinge.<br />

Gewiss, Religionen können erkranken.<br />

Der militante Islam und der militante Hinduismus,<br />

diese durch und durch modernen<br />

Erscheinungen, sind faule Früchte am<br />

Baum der Religion. Papst Benedikt XVI<br />

wird deshalb nicht müde, vor einem Abdriften<br />

der Religion ins Irrationale zu warnen.<br />

Wenn Gott den Menschen<br />

mit Vernunft begabt<br />

und mit einem Gewissen<br />

ausgestattet hat, dann bedeutet<br />

ein gottgefälliges Leben<br />

genau das: vernünftig zu<br />

denken und gemäß dem Gewissen,<br />

dem „hörenden Herzen“,<br />

zu handeln.<br />

Von „Menschen mit jenseitigen<br />

Idealen“, so abermals<br />

Chesterton, geht „in der Tat<br />

eine Fanatismusgefahr“ aus –<br />

„von Menschen mit diesseitigen Idealen hingegen<br />

die ununterbrochene und nie nachlassende<br />

Fanatismusgefahr“. Wir sehen den<br />

Fanatismus der „Glaubensfeinde“, folgen<br />

wir noch einmal Zaimoglu, am „giftgeifernden<br />

Wort“, an „der Unterstellung, der<br />

bloßen Behauptung, der Selbstbesoffenheit.<br />

Die heutigen Akteure der Religionskritik<br />

sind Profilneurotiker. Sie wollen abschaffen,<br />

verfolgen, zerstören, verunglimpfen, zensieren.“<br />

Natürlich sind die Gläubigen dieser<br />

Erde vor dieser wie vor jeder Versuchung<br />

ebenso wenig gefeit. Sie aber wissen, dass<br />

sie darauf nicht stolz sein dürfen, ja, dass sie<br />

fehlen. Sie wissen, was Hugo Ball an Heiligabend<br />

1918 niederschrieb: „Es gibt keinen<br />

Gott außer in der Freiheit, wie es keine<br />

Freiheit gibt außer in Gott.“<br />

Alexander Kissler<br />

ist Publizist und Sachbuchautor.<br />

Er schrieb unter anderem: „Der<br />

aufgeklärte Gott. Wie die Religion<br />

zur Vernunft kam“<br />

Foto: Privat<br />

82 <strong>Cicero</strong> 12.2012


G l a u b e v e r w i r r t d i e S i n n e | W e l t b ü h n e |<br />

In die Schranken weisen<br />

Die Konfessionen haben nichts verloren im politischen und rechtsstaatlichen Raum<br />

Foto: privat<br />

von Richard Herzinger<br />

R<br />

eligion sei das Opium des Volkes,<br />

schrieb Karl Marx in seiner<br />

„Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“.<br />

Dahinter steckte<br />

die Vorstellung, dass, herrschten<br />

erst einmal rationale gesellschaftliche Verhältnisse,<br />

die Menschen des Rausches und<br />

der Betäubung nicht mehr bedürften. Mit<br />

diesem Gedanken aber legte Marx bereits<br />

den Keim für die totalitäre Entwicklung<br />

des Kommunismus. War der doch von der<br />

Idee besessen, den Menschen alle Einbildungen,<br />

Selbsttäuschungen, Wunsch- und<br />

Traumbilder austreiben zu können, die sie<br />

von der Erkenntnis einer vermeintlich objektiven<br />

Wirklichkeit ablenkten.<br />

Als Marx den Kommunismus „das aufgelöste<br />

Rätsel der Geschichte“ nannte, entging<br />

dem selbst ernannten Meisterdialektiker<br />

freilich die Pointe, damit seinerseits<br />

religiösem Denken verfallen zu sein. Nur<br />

dass der sich am jüngsten Tag zu offenbarende<br />

und alle Rätsel lösende Gott bei ihm<br />

„die Geschichte“ hieß. Indem der „materialistische“<br />

Religionskritiker dergestalt selbst<br />

zum Religionsstifter wurde, bewies er wider<br />

Willen die anhaltende <strong>Macht</strong> religiöser<br />

Bedürfnisse über das Bewusstsein auch des<br />

modernen, aufgeklärten Menschen.<br />

Was an Marxens Urteil über die Religion<br />

gleichwohl zutrifft, ist die Beobachtung,<br />

dass es sich bei ihr um eine Art intellektuelles<br />

Rauschmittel handelt. Es soll<br />

dem Bewusstsein die Kluft zwischen dem<br />

menschlichen Erkenntnisstreben und der<br />

Einsicht in die Unergründlichkeit alles Seienden<br />

erträglich machen.<br />

Diese Kluft wird auch die Wissenschaft<br />

nie schließen können – im Gegenteil, sie<br />

führt uns in immer gewaltigere Dimensionen<br />

des Unvorstellbaren. Selbst wenn wir<br />

den Urknall als Anfang des unfassbar weit<br />

ausgedehnten Universums bestimmen und<br />

berechnen können, wann und wie es dereinst<br />

enden wird, scheitern wir doch an<br />

der Frage, was denn gewesen sein könnte,<br />

bevor es Raum, Zeit und Materie gab. Die<br />

Religion erzählt uns dazu eine Geschichte,<br />

die alles rationale Grübeln verscheuchen<br />

soll, wenn man sich nur in<br />

ihre Wahrheit fallen lässt<br />

wie ein Kind in die Wirklichkeit<br />

des Märchens. Menschen<br />

diesen Halt in einer Illusion<br />

von Sinn nehmen zu<br />

wollen, wäre ein ebenso vergebliches<br />

wie anmaßendes<br />

Unterfangen.<br />

Wie bei jedem Gift<br />

kommt es bei der Religion<br />

jedoch auf die Dosierung an.<br />

In Maßen genossen, kann<br />

sie eine heilsame, beruhigende<br />

Wirkung haben, überdosiert<br />

entfaltet sie ihre aufputschende,<br />

zerstörerische<br />

Kraft. Die moderne westliche<br />

Zivilisation beruht auf<br />

der Kunst, die Wirkung der<br />

Religion zu begrenzen und<br />

sie sich als Sedativum gegen<br />

ausufernde politisch-ideologische<br />

Leidenschaften nutzbar zu machen.<br />

Nicht aus der Religion sind freiheitliche<br />

Errungenschaften wie die Menschenrechte,<br />

die Herrschaft des unparteiischen<br />

Gesetzes, die Trennung von Staat und Kirche,<br />

der Pluralismus des Glaubens und der<br />

Überzeugungen erwachsen, sondern aus ihrer<br />

Zähmung. Die Unterwerfung der Kirche<br />

unter die weltliche <strong>Macht</strong>, die Beendigung<br />

blutiger Religionskriege durch die<br />

Aufgabe des Alleingültigkeitsanspruchs eines<br />

einzigen Glaubens, und schließlich die<br />

säkulare, pluralistische Ordnung, wie sie<br />

die Gründerväter der amerikanischen Demokratie<br />

vorgezeichnet haben, waren Meilensteine<br />

auf diesem Weg.<br />

Ihr geniales Konzept, die Vielfalt der<br />

Religionen zu schützen, indem man sie allesamt<br />

aus dem Raum der allen gemeinsamen<br />

öffentlichen Institutionen heraushält,<br />

Religion<br />

lässt sich mit<br />

humanen,<br />

freiheitlichen<br />

Zuständen<br />

nur<br />

vereinbaren,<br />

wenn ihr der<br />

Giftzahn des<br />

Anspruchs<br />

auf das<br />

Absolute<br />

gezogen ist<br />

leiteten die amerikanischen Gründungsväter<br />

nicht aus ihrem eigenen christlichen<br />

Glauben ab, sondern aus den Idealen<br />

der Freimaurerei. Wer<br />

den Tempel der Freimaurer<br />

betritt, gibt seinen jeweiligen<br />

Glauben nicht auf, lässt<br />

ihn aber für die Dauer der rituellen<br />

Exerzitien gleichsam<br />

an der Garderobe zurück. Er<br />

tritt dann in einen Raum, in<br />

dem sich Gleiche unter Gleichen,<br />

gewissermaßen in ihrem<br />

bloßen Menschsein begegnen.<br />

Das ist ein Sinnbild<br />

für die Sphäre des von religiösen<br />

Einflüssen abgeschirmten<br />

politischen und rechtsstaatlichen<br />

Raumes, wie er<br />

sich als Kernstück der pluralistischen<br />

Demokratie bewährt<br />

hat.<br />

Wer heute suggeriert, ein<br />

stärkerer Einfluss der Religion<br />

auf Staat und Gesellschaft<br />

sei notwendig, um deren<br />

Zusammenhalt zu sichern, legt Hand an<br />

dieses Wunderwerk säkularer Ausbalancierung<br />

getrennter Sphären. In der islamischen<br />

Welt liefert die Religion gegenwärtig den<br />

Treibstoff für einen Aufstand gegen die fragmentierte,<br />

entsubstanzialisierte Moderne.<br />

Wenn sich nun auch in anderen Konfessionen<br />

Kräfte regen, die sich mit der Einhegung<br />

der Religion ins Private nicht mehr<br />

zufriedengeben wollen, ist das alarmierend.<br />

Denn Religion lässt sich mit humanen,<br />

freiheitlichen Zuständen nur vereinbaren,<br />

wenn ihr der Giftzahn des Anspruchs<br />

auf das Absolute gezogen ist.<br />

Richard Herzinger<br />

ist politischer Korrespondent der<br />

Welt-Gruppe<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 83


| K a p i t a l<br />

Er Setzt Energie Frei<br />

Der Chemiker Robert Schlögl will mit Spitzenforschung das deutsche Energieproblem lösen<br />

von Christian Schwägerl<br />

A<br />

ls junger Mann hatte Robert<br />

Schlögl nur einen Berufswunsch:<br />

Förster im heimatlichen Oberbayern<br />

zu werden. Seine Abiturnote war<br />

aber zu schlecht, als dass er sofort mit dem<br />

Studium der Forstwissenschaft hätte beginnen<br />

können. Um die Wartezeit zu nutzen,<br />

wollte er ein Fach belegen, das er ohnehin<br />

brauchen würde. Biologie oder Chemie?<br />

„Ich war mir nicht sicher und habe gewürfelt“,<br />

sagt Schlögl.<br />

Heute zieht es den 58-Jährigen noch<br />

immer in den Wald und in seine geliebten<br />

bayerischen Alpen. Und aus dem Würfelergebnis<br />

ist eine steile Karriere in der Chemie<br />

geworden. Inzwischen zählt Schlögl zu<br />

den renommiertesten Wissenschaftlern in<br />

Deutschland, die Liste seiner Patente und<br />

Publikationen ist lang. Zu seinen Erfindungen<br />

zählt ein Verfahren, mit dem sich mithilfe<br />

von Kohlenstoff-Nanomaterialien der<br />

Energieverbrauch in der Chemieindustrie<br />

deutlich senken ließe.<br />

Schlögl ist in der elitären Max-Planck-<br />

Gesellschaft gleich an zwei Instituten Direktor,<br />

und das ist absolut ungewöhnlich.<br />

In Berlin-Dahlem gehört er zur Spitze des<br />

traditionsreichen Fritz-Haber-Instituts und<br />

in Mülheim an der Ruhr baut er das neue<br />

Max-Planck-Institut für chemische Energiekonversion<br />

auf.<br />

Neuerdings ist Schlögl auf der energiepolitischen<br />

Bühne zu sehen. Schon als<br />

Jungforscher spezialisierte er sich darauf,<br />

wie bestimmte Stoffe chemische Reaktionen<br />

beschleunigen und wie Energie in chemischen<br />

Verbindungen gespeichert wird.<br />

Mit diesem Spezialgebiet sieht der Professor<br />

sich nun in einer Schlüsselposition für<br />

die deutsche Energiewende.<br />

Der Max-Planck-Direktor wirkt unprätentiös.<br />

Er verabschiedet sich auch<br />

im tiefsten Preußen am Telefon mit einem<br />

geschmetterten „Servus“. Sein Markenzeichen<br />

ist ein leicht schäbiger Beutel,<br />

den er stets um den Bauch geschnallt hat.<br />

Er trägt darin Geldbörse, Handy, Kleinkram.<br />

„Ich werde dafür belächelt, aber so<br />

habe ich immer beide Hände zum Reden<br />

frei“, sagt er. Auf Podien und im Gespräch<br />

mit Politikern nutzt Schlögl die Hände vor<br />

allem für warnende Gesten. Die Energiewende<br />

findet er goldrichtig. Er ist überzeugt,<br />

dass das Projekt langfristig den deutschen<br />

Wohlstand mit Technologieexporten<br />

sichert. „Wenn ein Land in der Welt vormachen<br />

und davon leben kann, wie die<br />

Energieversorgung nachhaltig wird, dann<br />

ist es Deutschland, weil wir zugleich reich<br />

sind und stark in der Wissenschaft.“<br />

Doch der Forscher macht sich Sorgen.<br />

Wenn er über die Energiewende spricht,<br />

wird er unruhig. Er knetet seine Hände,<br />

legt sie wie zum Gebet zusammen, dann<br />

reißt er sie plötzlich in die Höhe. Der deutsche<br />

Öko-Alleingang werde ohne wissenschaftliche<br />

Durchbrüche scheitern. „Die<br />

heutigen Ziele beim Ausbau erneuerbarer<br />

Energien sind derzeit technisch nicht<br />

machbar.“ Als oberste Priorität sieht er es<br />

an, die starken Schwankungen im Angebot<br />

von Wind- und Sonnenstrom durch neuartige<br />

Energiespeicher auszugleichen, doch<br />

noch gebe es keinen Aufbruch zur Entwicklung<br />

dieser neuen Technologien: „Umweltschützer<br />

reden die Lage schön, in der Politik<br />

erlebe ich viel Naivität, und die Lobby<br />

der Gegner nutzt die Probleme weidlich<br />

aus, um das Vorhaben zu sabotieren.“<br />

Die Energiewende beschreibt er als einen<br />

ähnlich tief greifenden und positiven<br />

Prozess „wie den Übergang von der Diktatur<br />

zur Demokratie“. Spricht er über die<br />

Gegner erneuerbarer Energien, gerät er in<br />

Rage. „Wenn wir in den Ölpreis die Kosten<br />

der Kriege im Nahen Osten und bei der<br />

Kohle die Kosten des Meeresspiegelanstiegs<br />

einrechnen würden, wird klar, dass Sonnenenergie<br />

nicht wirklich teuer ist.“ Die<br />

Energiewende werde später gigantische<br />

Ersparnisse bei den Brennstoffen bringen,<br />

„das ist eben ein Generationenvertrag“.<br />

Hier will Schlögl etwas bewegen. Zum<br />

einen hat er in den vergangenen Monaten<br />

für die Nationalakademie Leopoldina,<br />

die Technikakademie acatech und<br />

die Berlin-Brandenburgische Akademie<br />

der Wissenschaften eine Tafelrunde von<br />

Top-Forschern zusammengestellt, die bis<br />

zum Frühjahr 2013 einen Fahrplan für die<br />

Energiewende ausarbeiten sollen. Zum anderen<br />

richtet er die Arbeit seiner beiden<br />

Max-Planck-Institute auf die Energiespeicherung<br />

aus. Dort entwickelt er Verfahren,<br />

wie sich überschüssiger Wind- und Solarstrom<br />

in Wasserstoff, Methanol oder Methan<br />

speichern lassen und wie CO 2<br />

als Rohstoff<br />

genutzt werden kann.<br />

Allerdings hat er bei seiner letzten Entwicklung<br />

eine ernüchternde Erfahrung gemacht:<br />

Sein neues Verfahren, mit dem sich<br />

der allgegenwärtige Chemiegrundstoff Styrol<br />

mithilfe von Nanotechnologie deutlich<br />

energiesparender produzieren lässt als bisher,<br />

hat die deutsche Chemie-Industrie<br />

nicht gewollt. Dafür verwenden die Chinesen<br />

die Methode, während in Deutschland<br />

die Branche lieber über hohe Energiepreise<br />

klagt. „Wenn wir nicht aufpassen, kaufen<br />

wir künftig Technologien aus China ein<br />

und nicht umgekehrt“, warnt der Forscher.<br />

Schlögl sagt, er sei „kein Öko-Mensch“.<br />

Von einem Chemiker erwartet man das irgendwie.<br />

Dann aber stellt sich heraus, dass<br />

er in der Stadt die meisten Wege radelt,<br />

zwischen seinen beiden Arbeitsplätzen<br />

in Berlin und Mülheim mit seiner Bahncard<br />

100 unterwegs ist, und ein Auto besitzt<br />

er auch nicht. Aus Überzeugung. Da<br />

ist er immer noch der Naturliebhaber, der<br />

früher Förster werden wollte und heute die<br />

deutsche Energiewende vorantreibt.<br />

Christian Schwägerl<br />

ist freier Journalist in Berlin und<br />

Autor der Bücher „Menschenzeit“<br />

und „11 drohende Kriege“<br />

Fotos: Julia Zimmermann, Maurice Weiss (Autor)<br />

84 <strong>Cicero</strong> 12.2012


„Wie der<br />

Übergang von<br />

Diktatur zu<br />

Demokratie“<br />

Der Chemiker Robert Schlögl<br />

über die Energiewende<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 85


| K a p i t a l<br />

In aller Munde<br />

Zahnbürsten von Margitta Siegel aus Stützengrün im Erzgebirge werden in der ganzen Welt verkauft<br />

von Steffen Uhlmann<br />

E<br />

ine Bürste ist eine Bürste, und<br />

Kehrschaufeln, Schrubber oder<br />

Besen sind schlichte Handwerkszeuge<br />

für den Hausgebrauch, die sich in<br />

Form, Funktion und Fertigung über Jahrhunderte<br />

hinweg dem technologischen<br />

Zeitgeist verweigern. „Von wegen“, sagt<br />

Margitta Siegel. „Wir fertigen hier intelligente<br />

Reinigungssysteme auf hochmodernen<br />

Anlagen.“<br />

Man glaubt es der Chefin der Bürstenmann<br />

GmbH aus dem kleinen erzgebirgischen<br />

Ort Stützengrün, wenn man mit<br />

ihr durch den blitzsauberen Betrieb geht.<br />

Hier läuft fast alles vollautomatisch, computergestützt<br />

und präzise. Eine Massenfertigung,<br />

die dennoch individuelle Wünsche<br />

der Kunden berücksichtigt. Selbst<br />

Form und Farbe der Verpackung können<br />

sie sich aussuchen. Und das bei einer Auswahl<br />

von über 1500 Artikeln, darunter<br />

auch Zahnbürsten.<br />

Die gibt es inzwischen in unzähligen<br />

Varianten: als Kurzkopf- oder Reisezahnbürsten,<br />

als Vier-Komponenten-Bürste<br />

in drei Borstenstärken oder als Sonderanfertigung<br />

für interdentale Pflegesets – in<br />

den verschiedensten Farben und Formen.<br />

Deutsche und internationale Kunden lassen<br />

in Stützengrün in Klein- bis Großserie<br />

Kunststoffgriffe spritzen, Borsten ein- und<br />

ihren Markennamen aufbringen. Selbst<br />

Bayern München ist Kunde bei Bürstenmann.<br />

Über 50 000 Zahnbürsten in den<br />

Farben Rot‐Weiß ordert der Fußballclub<br />

jedes Jahr für sein Fanartikelsortiment.<br />

„Trotz der unterschiedlichen Aufträge<br />

und Wünsche produzieren wir die Zahnbürsten<br />

vollautomatisch“, erklärt die Bürstenmann-Chefin<br />

und zeigt auf drei neue<br />

Fertigungsstraßen, in der Roboter Spritzguss-,<br />

Beborstungs- und Verpackungsmaschinen<br />

miteinander verbinden: „Vorne<br />

kommt das Kunststoffgranulat rein und<br />

hinten die verpackte Zahnbürste raus. So<br />

einfach ist die Bürstenmacherei.“<br />

So einfach ist sie natürlich nicht. Dahinter<br />

steckt nicht nur viel Erfindergeist,<br />

sondern auch der Behauptungswille eines<br />

ganzen Teams. Als der Genossenschaftsbetrieb<br />

mit damals noch fast 900 Beschäftigten<br />

in die Marktwirtschaft zog, schien<br />

sein Schicksal besiegelt. Die Traditionsfirma,<br />

die in den zwanziger<br />

Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />

im „Bürstenland“<br />

Erzgebirge gegründet worden<br />

war, stand vor dem Aus.<br />

„Beinahe über Nacht hatten<br />

wir kaum noch Kunden<br />

und Märkte.“<br />

Siegel ist Betriebswirtin.<br />

Sie hat schon 1974<br />

bei Bürstenmann als Assistentin<br />

angefangen. 1994<br />

wurde sie Geschäftsführerin.<br />

„Wir Erzgebirgler sind<br />

zäh und bisweilen trotzig“,<br />

sagt sie. „Und wir haben<br />

uns durchgesetzt.“<br />

Das aber hatte Bürstenmann<br />

kurz nach der Wende<br />

fast niemand mehr zugetraut.<br />

Schon 1991 empfahl<br />

die Münchner Unternehmensberatung<br />

Roland Berger,<br />

den Genossenschaftsbetrieb<br />

für eine D‐Mark zu verkaufen<br />

oder gleich ganz dichtzumachen. Genau<br />

das aber hat der ostdeutsche Konsumverband<br />

nicht getan. Martin Bergner, Vorstandssprecher<br />

der Berliner Zentralkonsum<br />

eG, zu der Stützengrün nun gehört,<br />

ist heute noch froh über diese „waghalsige<br />

wie sentimentale“ Entscheidung, den Betrieb<br />

weiterzuführen. „Bürstenmann ist<br />

eine Erfolgsgeschichte geworden“, sagt<br />

er. „Für den Zentralkonsum, den Osten<br />

überhaupt und auch für das im Aufwind<br />

befindliche gesamtdeutsche Genossenschaftsmodell.“<br />

Zur erfolgreichen Neuausrichtung<br />

von Bürstenmann gehört auch der<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

„Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht<br />

haben? Den<br />

Mittelstand!“, sagt jetzt<br />

auch der Deutsche-<br />

Bank-Chef Anshu<br />

Jain. <strong>Cicero</strong> weiß das<br />

schon länger und stellt<br />

den Mittelstand in<br />

einer Serie vor. Die<br />

bisherigen Porträts aus<br />

der Serie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

Betrieb Denta Bross, den man schon Anfang<br />

der neunziger Jahre mit dem westdeutschen<br />

Bürstenmulti M + C Schiffer, Neustadt/Wied,<br />

gegründet hat und der nun in<br />

Stützengrün für die Zahnbürstenproduktion<br />

zuständig ist.<br />

Über Schiffer habe die gemeinsame<br />

Tochter 2011 den<br />

Großauftrag vom britischen<br />

Pharma-Konzern<br />

Glaxo Smith Kline erhalten,<br />

erzählt Siegel. Das<br />

sei für Bürstenmann der<br />

„Ritterschlag“.<br />

Glaxo Smith Kline,<br />

eine der größten Arzneimittelfirmen<br />

der Welt, lässt<br />

nun jährlich 40 Millionen<br />

Zahnbürsten seiner Marke<br />

„Dr. Best“ in Stützengrün<br />

fertigen. Statt 70 Millionen<br />

Zahnbürsten, rechnet<br />

die Geschäftsführerin<br />

hoch, fertigt das Unternehmen<br />

nun 110 Millionen<br />

pro Jahr an. „Das ist schon<br />

ein gewaltiger Sprung, wir<br />

sind jetzt die Nummer<br />

zwei unter Deutschlands<br />

Zahnbürstenherstellern.“<br />

Margitta Siegel, inzwischen<br />

62, denkt nicht daran, die Zügel bei<br />

Bürstenmann schleifen oder gar ganz loszulassen.<br />

Dabei liegt sie gern mal in der<br />

Sonne und sucht sich dafür Plätze, wo sie<br />

beinahe immer scheint. Und kommt auch<br />

dort nicht von ihrer Arbeit los. „Unlängst“,<br />

sagt sie, „habe ich doch tatsächlich Bürsten<br />

und Besen von uns in einem Laden auf<br />

Mauritius entdeckt.“<br />

Steffen Uhlmann<br />

ist freier Wirtschaftsjournalist.<br />

Er lebt und arbeitet in Berlin<br />

Fotos: Christoph Busse, Privat (Autor)<br />

86 <strong>Cicero</strong> 12.2012


„Wir Erzgebirgler<br />

sind zäh und<br />

zuweilen trotzig“ –<br />

„Bürstenmann“‐<br />

Geschäftsführerin<br />

Margitta Siegel<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 87


| K a p i t a l<br />

Steinbrücks Gönner<br />

Bochums Stadtwerke-Chef Bernd Wilmert muss das Honorar für den SPD-Kanzlerkandidaten verantworten<br />

von Stefan Laurin<br />

D<br />

er 16. Februar 2012 war für Bernd<br />

Wilmert, den Chef der Bochumer<br />

Stadtwerke, ein ganz besonderer<br />

Tag. Wilmert feierte in der Jahrhunderthalle<br />

Bochum, einem Industriedenkmal, in<br />

dem sonst Veranstaltungen wie das Kulturfestival<br />

Ruhr-Triennale stattfinden, seine<br />

Auszeichnung als „Energiemanager des Jahres“<br />

durch die Zeitschrift Energie & Management.<br />

Oberbürgermeisterin Ottilie<br />

Scholz (SPD) und weitere sozialdemokratische<br />

Granden der Ruhrgebietsstadt ließen<br />

Wilmert hochleben, die Kapelle „Kölscher<br />

Klüngel“ spielte Karnevalsschlager, die für<br />

diese Ehrung eigens umgedichtet wurden.<br />

Statt „Wir lassä dä Dom in Kölle“ sang<br />

die feucht-fröhliche Runde „Wir lassä dä<br />

Bernd in Bochum“ und intonierte voller<br />

Begeisterung „Die Karawane zieht weiter,<br />

der Bernd, der, der bleibt hier.“ Um die<br />

Textsicherheit der in der Regel mit dem<br />

rheinischen Frohsinn fremdelnden Bochumer<br />

zu gewährleisten, waren die Texte<br />

vorher verteilt worden. Es gibt ein Video<br />

der Feierstunde, heimlich gedreht und<br />

unscharf. Es zeigt Bernd Wilmert, wie er<br />

sich gerne sieht: jovial, großzügig, umgeben<br />

von Freunden.<br />

Wilmert tritt ansonsten meist bescheiden<br />

auf, ist ein freundlicher Mann. Jemand,<br />

der ungern aneckt und der in Bochum geschätzt<br />

wird. Seine Beliebtheit ist sein Kapital,<br />

und er weiß es zu mehren. 4,5 Millionen<br />

Euro geben die Bochumer Stadtwerke<br />

jedes Jahr für die Unterstützung von Schulen,<br />

Kindergärten und Vereinen in Bochum<br />

aus. Das ist viel Geld in einer Stadt, die<br />

von Nothaushalt zu Nothaushalt schlingert,<br />

Schulen und Schwimmbäder schließen<br />

muss. Auch der marode städtische<br />

Haushalt profitiert in Millionenhöhe von<br />

den Gewinnen der Stadtwerke.<br />

Viele von Wilmerts Freunden gehören<br />

wie er selbst der SPD an. Sein eigener Aufstieg<br />

begann in den achtziger Jahren nach<br />

einem Wirtschaftsstudium in Herten; die<br />

Wahl zum „Energiemanager des Jahres“<br />

dürfte er als beruflichen Höhepunkt erlebt<br />

haben. Wilmert machte eine typische SPD-<br />

Karriere im Ruhrgebiet. Sie begann bei den<br />

Jusos und führte ihn später stets in Jobs, die<br />

im Ruhrgebiet nach Parteibuch vergeben<br />

werden. Mit einem Jahresgehalt von weit<br />

über 200 000 Euro verdient Wilmert nun<br />

mehr als die Kanzlerin; die Oberbürgermeisterin<br />

von Bochum bekommt knapp<br />

die Hälfte. „Die guten Leute gehen nicht<br />

mehr in die Politik, die gehen in die städtischen<br />

Betriebe, da verdienen sie mehr“,<br />

sagen Kommunalpolitiker im Ruhrgebiet.<br />

Wilmert hatte nie politische Ambitionen,<br />

hielt sich aus den Ränkespielen der Politik<br />

heraus und hatte nur ein Zeil: sein Unternehmen<br />

auszubauen. Unter ihm beteiligten<br />

sich die Stadtwerke an Gelsenwasser, einem<br />

der größten Trinkwasserversorgungsunternehmen<br />

Deutschlands, sowie am Energieunternehmen<br />

Steag. Die Politik ließ ihn<br />

gewähren, im Gegenzug half er mit dem<br />

Geld der Stadtwerke aus, wenn in Bochum<br />

die Kassen leer waren.<br />

Als Wilmert im November vor den Rat<br />

der Stadt Bochum tritt, um sich für die Affäre<br />

um den 25 000 Euro teuren Atrium-<br />

Talk mit Peer Steinbrück zu entschuldigen,<br />

und gleichzeitig erklärt, nicht streng genug<br />

alle Abmachungen kontrolliert zu haben,<br />

wirkt seine Betroffenheit echt. Wilmert<br />

weiß, dass er der Stadt, den Stadtwerken<br />

und seiner Partei mit den Promitalks geschadet<br />

hat. Denn nicht die Auftritte von<br />

Senta Berger, Uli Hoeneß und Joachim<br />

Gauck brachten die üppigen Plauderei-Honorare<br />

von 20 000 Euro und mehr in die<br />

Schlagzeilen; es war der Auftritt des späteren<br />

SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück,<br />

der das Geld kassierte und erst spendete,<br />

als die Sache publik wurde – und er<br />

kurze Zeit später in den Umfragen einbrach.<br />

Wilmert hat also durchaus seinen<br />

Anteil daran, dass der Start Steinbrücks<br />

als Merkel-Herausforderer zum Flop geriet.<br />

Reden möchte er darüber nicht. Eine<br />

Interviewanfrage lehnte er ab. Auch die<br />

Bochumer SPD-Spitze will sich zu dem<br />

Thema nicht äußern. So gern die Sozialdemokraten<br />

in Bochum gemeinsam bei Feiern<br />

singen – gegenüber der Presse halten<br />

sich die Genossen zuweilen lieber an das<br />

Gesetz des Schweigens.<br />

An der Basis ist man gesprächiger.<br />

Der Ortsverein Bochum-Ehrenfeld trifft<br />

sich Anfang November in der Melanchthon-Kirche<br />

in der Nähe des Schauspielhauses.<br />

Steinbrück und dessen kostspieliger<br />

Atrium-Talk bei den Stadtwerken sind<br />

kein Thema an diesem Abend, zumindest<br />

nicht offiziell. Wie so oft in Bochum geht<br />

es um Opel, ein Betriebsratsmitglied wird<br />

von den Verhandlungen über die Zukunft<br />

des Standorts berichten – es sieht nicht gut<br />

aus. Später am Abend, in den Kneipen der<br />

Stadt, trifft man Genossen, die namentlich<br />

lieber nicht zitiert werden wollen. Sie sind<br />

verärgert – aber nicht so sehr wegen Steinbrück.<br />

Sondern vielmehr wegen der Stadtwerke<br />

und wegen ihres Genossen Bernd<br />

Wilmert, der das Geld mit beiden Händen<br />

aus dem Fenster geworfen hat für all die<br />

Prominenten, damit ein wenig von deren<br />

Glanz auf ihn abfällt. Berlin, die Bundestagswahl,<br />

das ist alles weit weg. „Wir regieren<br />

in Bochum und erklären den Bürgern<br />

seit Jahren, dass gespart werden muss.<br />

Wie sollen wir das machen, wenn für so<br />

einen Quatsch wie den Atrium-Talk das<br />

Geld verblasen wird?“<br />

Peinlich sei das alles, fürchterlich peinlich.<br />

Stefan Laurin<br />

ist freier Journalist und lebt in<br />

Bochum. Er betreibt den Blog<br />

ruhrbarone.de<br />

Foto: Stadtwerke Bochum, Privat (Autor)<br />

88 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Mit einem Jahresgehalt<br />

von weit über<br />

200 000 Euro verdient<br />

Bernd Wilmert mehr<br />

als die Kanzlerin; die<br />

Oberbürgermeisterin<br />

von Bochum bekommt<br />

knapp die Hälfte<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 89


| K a p i t a l | Ö l B o h r u n g i n B r a n d e n b u r g<br />

Öl Unterm Acker<br />

Energiewende? Weg vom Öl? Von wegen. Auf einem Brandenburger Feld wird<br />

nach Erdöl gebohrt. Zwei Männer treiben die Suche nach dem Rohstoff voran<br />

von Stefan Tillmann<br />

B<br />

ürgermeister Wolfgang Gliese<br />

fährt zum Bohrturm, parkt seinen<br />

Jeep, postiert sich hinter<br />

der rot-weißen Schranke und<br />

besichtigt seinen Traum. Zweimal<br />

die Woche ist er hier, während die<br />

Probebohrungen laufen. Natürlich weiß<br />

er, dass der Bohrturm bald verschwindet,<br />

dass er vielleicht nie wiederkommt. Aber<br />

jetzt will er nichts verpassen, er möchte sichergehen,<br />

dass das hier läuft, auch wenn<br />

er nicht genau weiß wie. Gliese ist kein<br />

Mann von Welt, neben dem Bürgermeisteramt<br />

arbeitet er als Versicherungsmakler.<br />

Er sagt: „Das hier ist ein Sechser im<br />

Lotto, kommunal gesehen.“<br />

Wolfgang Gliese, Oberhaupt der Gemeinde<br />

Schwielochsee im Südosten Brandenburgs,<br />

träumt vom schwarzen Gold.<br />

Auf einem Acker am Waldrand, zwischen<br />

den Ortsteilen Guhlen und Ressen, hat<br />

die kanadische Ölfirma Central European<br />

Petroleum – kurz CEP – Anfang des Jahres<br />

eine Betonwanne asphaltiert, groß wie<br />

ein Fußballfeld. Im August haben Arbeiter<br />

den Bohrturm aufgebaut, 54 Meter, ein<br />

Stück hinter der Schranke, vor der Gliese<br />

steht. Ein Bohringenieur sagt gerade, dass<br />

der Bohrkopf auf „über 2000 Meter Teufe“<br />

sei. Er sagt „Teufe“, nicht Tiefe, Bergmannsprache.<br />

Ab dieser Tiefe könnte Gas austreten,<br />

Betreten verboten. Gliese blickt auf die<br />

Männer, die Helme tragen, rote und blaue<br />

Overalls. In den Beintaschen stecken rote<br />

Gasmasken. Bohringenieure und Bohrgeologen,<br />

Klempner und Elektriker. Auf den<br />

Helmen haben sie bunte Aufkleber aus<br />

den Ländern, in denen sie waren: Venezuela,<br />

Nigeria, Kanada.<br />

Die Probebohrungen sind inzwischen<br />

abgeschlossen. Bis auf 2830 Meter Tiefe<br />

gingen sie runter. Seit November wertet<br />

CEP die Daten aus, ein Jahr lang. Die<br />

Firma hat keine Zweifel mehr, dass da unten<br />

Öl ist. Grob kalkuliert, könnte es drei<br />

Milliarden Euro wert sein, auf Jahrzehnte<br />

verteilt. Die Frage ist, ob es sich auch fördern<br />

lässt, ob das Gestein passt, und ob all<br />

90 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Der Bohrturm von Guhlen. Bis<br />

in 2830 Meter Tiefe ging es<br />

runter. Probebohrungen, vorerst<br />

Foto: Jens Gyarmaty<br />

die Behörden die neue Bohrung und den<br />

Transport genehmigen. All das weiß noch<br />

niemand. So lange müssen in Guhlen vor<br />

allem zwei Männer bangen: Bürgermeister<br />

Gliese und Thomas Schröter, der Leiter des<br />

Projekts, ein Ölveteran.<br />

Es sind diese beiden Männer, die aus<br />

dem 230-Einwohner-Dorf Guhlen eine<br />

deutsche Erdölmetropole machen wollen.<br />

Und die zum Schrecken von Umweltaktivisten<br />

geworden sind. Zwei Männer, sehr<br />

unterschiedlich und doch verbindet sie<br />

viel. Thomas Schröter, 56 Jahre alt, Berliner,<br />

seit 30 Jahren ist er unterwegs, fünf<br />

Kontinente, zwölf Mal Geschäftsführer in<br />

acht verschiedenen Ländern. Wolfgang<br />

Gliese, auch 56, Brandenburger, ist in seinem<br />

Leben erst einmal umgezogen, 1979<br />

für seine Frau von Beeskow nach Siegadel,<br />

30 Kilometer.<br />

Gliese gehört der CDU an, er will den<br />

Erfolg für sich und seine Kommune. Die<br />

blüht nicht gerade – und da ist das Öl eine<br />

Chance. Schröter geht es vor allem um Anerkennung.<br />

Der promovierte Bohrgeologe<br />

will zeigen, dass sich auch in Deutschland<br />

Öl fördern lässt, und dass seine Profession<br />

noch gebraucht wird in einer Zeit, in der<br />

das Land weg will von fossilen Rohstoffen<br />

und kein Mensch mehr von Ölförderung<br />

spricht.<br />

An den Wänden von Schröters Büro in<br />

Berlin-Mitte hängen Karten von Ölfeldern<br />

aus der ganzen Welt, hinter der Tür stehen<br />

Sicherheitsschuhe, am nächsten Tag will er<br />

wieder raus nach Guhlen. Mit dem Zeigefinger<br />

fährt er über eine Karte und schildert<br />

seine Ölkarriere: Golf von Louisiana,<br />

Libyen, Kasachstan, Venezuela, parallel Indonesien,<br />

irgendwann Kuwait und Aserbaidschan.<br />

Auf dem Schreibtisch stehen drei<br />

Schnapsflaschen, gefüllt mit leichtem und<br />

schwerem Öl. „Von meinen chinesischen<br />

und ukrainischen Abenteuern“, sagt er.<br />

Schröter wollte ein Geologenleben: zerbeulte<br />

Jeans tragen, in Jeeps durch die Wüsten<br />

dieser Erde fahren. Er hat seine Ehe<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 91


| K a p i t a l | Ö l B o h r u n g i n B r a n d e n b u r g<br />

Venezuela, Indonesien,<br />

Libyen, Brandenburg.<br />

Thomas Schröter hat<br />

auf der ganzen Welt<br />

nach Öl gebohrt. Jetzt<br />

will er es in seiner<br />

Heimat fördern<br />

Öl? Bürgermeister<br />

Wolfgang Gliese war<br />

erst skeptisch. „Was<br />

springt da für uns<br />

raus?“, fragte er.<br />

Inzwischen träumt<br />

auch er vom Ölboom<br />

strapaziert, der Sohn wurde in den USA geboren,<br />

erst kurz vor der Geburt der Tochter<br />

haben sie Libyen verlassen. Und jetzt soll<br />

ausgerechnet in Brandenburg ein Ölfeld<br />

liegen. 100 Kilometer entfernt von seiner<br />

Geburtsstadt Berlin. Es hat beinahe etwas<br />

Tragisches.<br />

Die Geschichte vom Brandenburger Öl begann<br />

vor Schröters Zeit bei CEP. Sie klingt<br />

fast wie ein Witz: Ein Äthiopier und ein<br />

Kanadier gehen zu einem Holländer, das<br />

war im Jahr 2005. Der Holländer, Jacobus<br />

Bouwman, war deutscher Honorarkonsul<br />

im kanadischen Calgary. Die anderen<br />

kamen von der Ölfirma CEP und<br />

hatten eine Karte dabei: mit geophysikalischen<br />

Daten und Ölvorkommen, in Polen<br />

und der Nordsee. Bouwman sollte den weißen<br />

Fleck in der Mitte erklären und sagte<br />

sofort: Es gibt keine geologischen Gründe,<br />

es ist das alte DDR-Gebiet, da fehlen einfach<br />

die Daten – 20 Jahre Lücke.<br />

Bouwman heuerte bei CEP an, er<br />

fragte den Geologen Schröter zum ersten<br />

Mal 2010, ob in seiner Heimat nicht vielleicht<br />

Öl liegen könnte. „Da ist doch jeder<br />

Stein umgedreht und ausgewertet, da<br />

finden sie nichts mehr“, sagte Schröter damals.<br />

Heute sagt er: „Öl wird im Kopf gefunden.“<br />

Er ist Vice-President von CEP,<br />

die Firma hat 35 Mitarbeiter, zwölf davon<br />

in Berlin. Er leitet die Probebohrung in<br />

Guhlen und drei weitere in Mecklenburg.<br />

„Es gibt überhaupt keinen Zweifel. Brandenburg<br />

schwimmt auf Öl, Mecklenburg<br />

auch.“ Er habe keine befriedigende Erklärung<br />

gefunden, warum 20 Jahre lang keine<br />

Firma gebohrt hat, auch keine deutsche. Er<br />

hat einen Atlas, herausgegeben vom Brandenburger<br />

Landesamt für Bergbau, Geologie<br />

und Rohstoffe. „Trebatsch-Mittweide:<br />

Ölfeld, Schlepzig: Ölfeld, Tauer: Öl, die<br />

Wellmitzer Lagune: voll mit Öl, Pilgram:<br />

Öl – ringsherum bekannte Ölfelder.“ Dass<br />

die DDR die Erkundung und Förderung<br />

in den achtziger Jahren fast einstellte, habe<br />

wohl eher politische Gründe gehabt.<br />

Das Ölfeld in Guhlen könnte rund fünf<br />

Millionen Tonnen liefern, das ist fünfmal<br />

Es geht um<br />

Milliarden für<br />

die Ölfirma<br />

und Millionen<br />

für den Ort<br />

mehr als der durchschnittliche Fund in Europa<br />

in den vergangenen Jahren. Auf 30,<br />

40 Jahre verteilt, könnte doppelt so viel gefördert<br />

werden wie im Jahr 2011 in ganz<br />

Deutschland, wo vor allem in der Nordsee<br />

gebohrt wird. Es geht um Milliarden für<br />

CEP – und um zig Millionen an Gewerbesteuer<br />

für Bürgermeister Glieses Gemeinde.<br />

Es war ein langer Weg, bis der Ölveteran<br />

Schröter und der Bürgermeister Gliese<br />

merkten, was sie verbindet: Beide mögen<br />

es, wenn Dinge funktionieren, Schröter<br />

aus wissenschaftlicher Sicht, Gliese auf<br />

der menschlichen Ebene. Schröter rechnet<br />

gerne um, spricht von „aufmetern“, Glieses<br />

Lieblingswort ist „richtig“. Schröter<br />

kann lange über salziges Formationswasser<br />

sprechen, über Sporen- und Kluftspeicher.<br />

Gliese sagt Sätze wie: „Natürlich gibt es immer<br />

Betroffene, das bleibt nicht aus, aber<br />

sie müssen das so machen, dass der größte<br />

Teil nicht betroffen ist, und dass der größte<br />

finanzielle Nutzen rauskommt.“<br />

Wolfgang Glieses Büro liegt versteckt<br />

im Gemeindehaus, ein Schild ist notdürftig<br />

an die Tür geklebt: „Bürgermeister“.<br />

Gliese erzählt Geschichten aus seiner Gemeinde:<br />

Dass früher die Kleinbahn aus<br />

Cottbus kam, in Goyatz die Kähne belud<br />

und dann über die Spree Berlin versorgte.<br />

Dass zu DDR-Zeiten Sachsen in den Ferien<br />

kamen, weil sie hier Westfernsehen<br />

gucken konnten. Heute leben 1700 Menschen<br />

in seiner Gemeinde, verteilt auf elf<br />

Ortschaften, zu weit von Berlin. „Nur vom<br />

Tourismus können sie die Region nicht unterhalten.<br />

Wirtschaftlich ist hier überhaupt<br />

nichts, ein Landwirtschaftsbetrieb, kleine<br />

Handwerker, sonst nichts.“<br />

Von einem möglichen Ölfeld hörte Gliese<br />

noch vor Schröter. Vor rund vier Jahren<br />

landete eine Einladung zu einer CEP-Veranstaltung<br />

in seinem Briefkasten. Jacobus<br />

Bouwman, da schon in Diensten von CEP,<br />

stellte seine Pläne vor. An jenem Abend<br />

im Café am See ging es um Seismik, um<br />

die Vermessung des Bodens mithilfe von<br />

Signalen. Die einen dachten an unterirdische<br />

CO 2<br />

‐Speicher und ans Grundwasser,<br />

andere an Bilder von schlammigen Ölraffinerien<br />

in Texas. Gliese fragte nur: „Was<br />

springt da für uns raus?“<br />

Fotos: Patrick Raczek<br />

92 <strong>Cicero</strong> 12.2012


| K a p i t a l | Ö l B o h r u n g i n B r a n d e n b u r g<br />

Die Auskunft war ernüchternd. Dem<br />

Land Brandenburg stünden 10 Prozent<br />

der Förderquote zu, immer am Fördertag<br />

zum aktuellen Marktpreis. Die Gemeinde<br />

hätte nur auf Umwegen etwas davon.<br />

Gliese war dagegen. Er hatte gerade<br />

als Bürgermeister angefangen und sich viel<br />

vorgenommen. Er dachte an erneuerbare<br />

Energien. In der Umgebung sind bis zu<br />

38 Windräder geplant, bis zu 140 Meter<br />

hoch. Die Windräder bringen Geld,<br />

aber auch Ärger mit den Anwohnern. Was<br />

würde erst Öl für ein Theater geben, einen<br />

Lärm, einen Schmutz?<br />

So blieb Gliese stur, wie Brandenburger<br />

eben stur bleiben können. Jahrelang.<br />

Auch später, als er Thomas Schröter kennenlernte.<br />

Der war inzwischen an Bord<br />

und hatte ihm einen Aktenordner geschickt,<br />

den „Hauptbetriebsplan“, Hunderte<br />

Seiten voller Daten und Tabellen.<br />

CEP hatte eine sogenannte Aufsuchungserlaubnis<br />

für Guhlen beantragt. Alle Träger<br />

öffentlicher Belange mussten befragt<br />

werden: jede Gemeinde, jeder Kreis, jedes<br />

Amt, egal ob Umwelt, Bundeswehr, Wasserschutz.<br />

Gliese verstand nichts aus dem<br />

Aktenordner und sagte: „Wozu sollen wir<br />

zustimmen?“ Antrag abgelehnt. Für einen<br />

Moment war das Projekt gestorben.<br />

Doch Schröter gab den Traum vom Öl<br />

in Brandenburg nicht so schnell auf, drei<br />

Tage später rief er Gliese an. Er lud ihn<br />

und zehn Gemeindevertreter nach Usedom-Lütow<br />

ein, wo CEP bereits bohrte.<br />

Kein Lärm, kein Schmutz, weil die Pumpe<br />

ein geschlossenes System ist. Damals ließ<br />

Schröter auch die Zahl fallen, um die es gehen<br />

sollte: rund drei Milliarden Euro. Als<br />

er Gliese versprach, dass CEP im Erfolgsfall<br />

eine Niederlassung in Guhlen eröffnen<br />

würde und die Gemeinde die ganzen Gewerbesteuern<br />

bekäme, da hatten sich die<br />

zwei gefunden. Heute sagt Gliese, die Zusammenarbeit<br />

sei „inzwischen, wie man es<br />

sich wünscht“, und Schröter sagt, dass man<br />

sich erst finden musste. Heute steht der<br />

„Hauptbetriebsplan“ im Regal von Glieses<br />

Büro. Er ist nur ehrenamtlicher Bürgermeister,<br />

die „Bestandskundenprovision“<br />

in seinem Job als Versicherungsmakler sichert<br />

ihm das Einkommen. So kann er viel<br />

Zeit für Schwielochsee aufwenden. Er redet<br />

schon vom Straßennetz, das er sanieren<br />

würde, von Radwegen, der Ganztagsschule,<br />

der Strandpromenade – ja, wenn die Probebohrung<br />

ein Erfolg wird und alle Genehmigungen<br />

klappen.<br />

Das ist noch ein weiter Weg. Öl hat<br />

keinen guten Ruf. Deutschland war ein<br />

Land der Kohle, des Stahls, heute soll es<br />

das Land der erneuerbaren Energien werden,<br />

auch Erdgas wird zu 16 Prozent im<br />

Inland produziert. Ein Land des Öls ist es<br />

In Brandenburg Öl fördern?<br />

Greenpeace hält das Projekt für<br />

verrückt, sogar für gefährlich<br />

nie gewesen, 2,6 Prozent seines Erdölbedarfs<br />

produziert Deutschland selbst. Der<br />

Rest kommt vielfach aus politisch heiklen<br />

Ländern wie Venezuela, Libyen, Nigeria<br />

oder Saudi-Arabien.<br />

Umweltorganisationen wollen die Abhängigkeit<br />

vom Öl überwinden. Christoph<br />

Lieven, Energieexperte bei Greenpeace,<br />

hält es angesichts des Klimawandels „für<br />

verrückt, weiter auf fossile Energieträger zu<br />

setzen“. Ölförderung sei riskant. Bei einer<br />

Bohrung müsse eine Gasblase angestochen<br />

werden, die sich über dem Öl befindet, sagt<br />

er. Dabei könne es sogar zum Blowout<br />

kommen, bei dem Gas und Öl unkontrolliert<br />

austreten. „Es gibt weltweit nur sehr<br />

wenige Ölbohrungen, bei denen es nicht<br />

zu Umweltverschmutzung durch Öl oder<br />

Produktionswasser kommt.“ Zudem findet<br />

es der Greenpeace-Mann unverantwortlich,<br />

eine kleine Firma wie CEP bohren zu lassen.<br />

„Die hat gar nicht ausreichend Substanz,<br />

um für eventuell entstehende Schäden<br />

auch geradezustehen.“ Schröter räumt<br />

ein, CEP sei „in der Tat überschuldet“, aber<br />

das sei normal, schließlich sei in Deutschland<br />

noch kein Öl geflossen. Dass sie für<br />

Schäden aufkommen könnten, hätten sie<br />

beim Bergamt nachweisen müssen.<br />

Wenn Schröter über Öl redet, ist es immer<br />

ein bisschen so, als müsste er sein Leben<br />

verteidigen. In seinem Büro zeigt er auf<br />

den Stuhl und den Teppichboden. „In fast<br />

allen Sachen aus Plastik steckt Erdöl drin“,<br />

sagt er, „auch in Windradrotoren“. Öl als<br />

Energieträger? Dummes Zeug, das Öl sei<br />

eigentlich viel zu schade zum Verbrennen.<br />

Menschen, die den Stoff für nicht mehr<br />

zeitgemäß halten, solle man die Weihnachtskerzen<br />

wegnehmen.<br />

Schröter sagt, es sei ein Riesenvorteil,<br />

in Deutschland zu bohren. Es gebe<br />

Rechtssicherheit, die führende Umweltgesetzgebung.<br />

„Und keine durchgeknallten<br />

Scheichs.“ So musste CEP einige Dinge regeln,<br />

bevor dieses Jahr die Probebohrungen<br />

begannen. Bereits 2009 räumten Spezialfahrzeuge<br />

Panzergranaten, Fliegerbomben<br />

und Tellerminen weg, dafür brauchten sie<br />

keine Genehmigung. Ein Biologe suchte<br />

nach Fledermauskolonien und Ameisenhaufen.<br />

Und in einer alten Windmühle<br />

wohnt die Familie Müller, nur 700 Meter<br />

neben der Bohrstelle. Sie wollte nicht, dass<br />

insgesamt 1200 Lkw vorbeifahren. Ihr kleiner<br />

Hund würde hinter jedem Wagen hinterherlaufen<br />

und irgendwann totgefahren<br />

werden. Schröter und Gliese haben einen<br />

alten Waldweg ausfindig gemacht und so<br />

ausgebaut, dass die Transporter kein Haus<br />

passieren mussten.<br />

Schließlich, im August, hat CEP innerhalb<br />

von zwölf Tagen einen Bohrturm<br />

in Usedom abgebaut, auf 150 Lkw geladen<br />

und in Brandenburg wieder aufgebaut.<br />

Zwölf Millionen Euro hat das Projekt<br />

bislang gekostet. Einiges bleibt in der<br />

Region, 34 der 40 Arbeiter schlafen in Pensionen,<br />

der Rest in Containern am Turm,<br />

30 Handwerker aus der Gemeinde waren<br />

im Einsatz. Was wäre erst los, wenn es<br />

klappt. Wenn der Rohstoff sprudelt, wenn<br />

die alte Bahnlinie Lübben-Beeskow wieder<br />

eröffnet, wenn eine Pipeline gebaut wird<br />

und wenn dann das Öl zu den Raffinerien<br />

strömt. Weltweit führt im Schnitt nur jede<br />

zehnte Probebohrung zum Erfolg. Thommas<br />

Schröter sieht für Guhlen die Wahrscheinlichkeit<br />

bei 30 Prozent, die Chance,<br />

dass sich der Traum erfüllt.<br />

Stefan TillmAnn<br />

ist Redakteur beim<br />

Berlin‐Magazin Zitty und freier<br />

Autor für Wirtschaftsthemen<br />

Foto: Privat<br />

94 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Elegant durch das Jahr 2013<br />

Der <strong>Cicero</strong>-Kalender<br />

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des Widerrufs. <strong>Cicero</strong> ist eine Publikation der Ringier Publishing GmbH, Friedrichstraße 140, 10117 Berlin, Geschäftsführer Rudolf<br />

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| K a p i t a l | j u g e n d o h n e a r b e i t<br />

Die verlorene<br />

Generation<br />

In der EU sind fast 25 Prozent aller Jugendlichen arbeitslos,<br />

in manchen Ländern sogar die Hälfte. Drohen Verhältnisse<br />

wie in der Weimarer Republik? Ein historischer Vergleich<br />

von Christoph Stölzl<br />

W<br />

ie man die Statistik auch<br />

dreht und wendet, es sieht<br />

so aus, als sei in der Europäischen<br />

Union fast ein<br />

Viertel aller Jugendlichen<br />

zwischen 14 und 25 arbeitslos. Von einer<br />

„verlorenen Generation“ ist deshalb<br />

die Rede. In Griechenland und Spanien<br />

ist jeder zweite ohne Job. Aber selbst in<br />

einem traditionellen Musterland gerechter<br />

Arbeitswelt wie Schweden ist die Jugendarbeitslosigkeit<br />

dreimal so hoch wie<br />

die allgemeine.<br />

Schon 2008, also noch vor der Finanzkrise,<br />

warnte die Europäische Zentralbank,<br />

Jugendarbeitslosigkeit sei ein Menetekel für<br />

die langfristigen Perspektiven jeder betroffenen<br />

Volkswirtschaft. Nur in Deutschland<br />

steht die Sache anders: Hier sank die Jugendarbeitslosigkeit<br />

im Frühjahr auf erstaunlich<br />

niedrige 5,4 Prozent. Das liegt<br />

an der Stabilität der deutschen Konjunktur,<br />

aber auch an Besonderheiten der deutschen<br />

Ausbildungstraditionen – allem voran am<br />

deutschen System der gleichzeitigen („dualen“)<br />

Berufsausbildung in Betrieben und<br />

Schulen, wodurch vor allem Jüngere zwischen<br />

15 und 19 Jahren selten arbeitslos<br />

sind (3,2 Prozent). Die EU-Kommission<br />

hat deshalb im Sommer 2012 eine Initiative<br />

gestartet, um die Vermittlung junger<br />

Menschen europaweit in Schwung zu bringen;<br />

das bisherige Netzwerk nationaler Arbeitsagenturen<br />

soll zu einer neuen gesamteuropäischen<br />

Arbeitsverwaltung ausgebaut<br />

werden.<br />

Wegen der Misere am Arbeitsmarkt verändert<br />

sich auch die politische Stimmung<br />

unter den jungen Europäern. Dass die Akzeptanz<br />

demokratischer Institutionen gerade<br />

bei den Jungen davon abhängt, ob<br />

die Gesellschaft ihnen die Aussicht auf<br />

Arbeit, Wohlstand und ein erfülltes Leben<br />

Illustration: Otto<br />

96 <strong>Cicero</strong> 12.2012


12.2012 <strong>Cicero</strong> 97


| K a p i t a l | j u g e n d o h n e a r b e i t<br />

bieten kann, ist eine der einschneidenden<br />

Erfahrungen europäischer Geschichte. In<br />

der Bundesrepublik etwa waren der ökonomische<br />

Erfolg der sozialen Marktwirtschaft<br />

und die parlamentarische Demokratie<br />

zwei Seiten derselben Medaille. Das<br />

erschreckende Gegenbeispiel zeigt sich<br />

beim Blick auf die Weimarer Republik,<br />

der es gerade in der jungen Generation an<br />

Rückhalt fehlte.<br />

Das deutsche Kaiserreich, seit seiner<br />

Gründung demografisch ungebremst<br />

wachsend, schien um das Jahr 1914 in<br />

Sachen Vitalität und Altersstruktur „der“<br />

junge europäische Staat zu werden. Dass<br />

eine derartige Generationendynamik tiefe<br />

gesellschaftliche Konflikte nach sich zieht,<br />

versteht sich von selbst. Die<br />

„Jugendbewegung“ und die<br />

Krise des Patriarchats wurden<br />

gerade in Deutschland<br />

besonders dramatisch erlebt.<br />

Mit dem Ersten Weltkrieg<br />

und der Niederlage<br />

folgte ein radikaler Bruch.<br />

Herrschte im kaiserlichen<br />

Deutschland die Gewissheit,<br />

„herrlichen Zeiten“ (so die<br />

Formulierung Wilhelms II)<br />

entgegenzugehen, erwies sich<br />

die Weimarer Republik als<br />

das genaue Gegenteil: Nachkriegsnot-,<br />

Bürgerkriegs-,<br />

Krisen- und Inflationsjahre,<br />

eine kurze Erholung zwischen<br />

1924 und 1929, danach die katastrophische<br />

Depression von 1930 an. In der<br />

Weimarer Republik hat es nie „Vollbeschäftigung“<br />

gegeben, auch nicht während der<br />

kurzen Erholungsphase nach 1924. In all<br />

den Jahren bis 1931 lag die Arbeitslosigkeit<br />

nur vier Monate lang unter einer halben<br />

Million – aber 48 Monate zwischen einer<br />

Million und drei Millionen. So die akribische<br />

Bestandsaufnahme in Hans-Ulrich<br />

Wehlers monumentaler „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“(2003),<br />

in der Statistiken<br />

zu aufregenden Momentaufnahmen<br />

werden.<br />

Die geburtenstarken Jahrgänge der Vorkriegsjahre<br />

erlebten die Weimarer Republik<br />

als schicksalhaft; es waren die früh desillusionierten<br />

Kinder jener Eltern, die in der<br />

„guten alten Zeit“ des Kaiserreichs noch<br />

besonders optimistisch in die Zukunft geblickt<br />

hatten. Zahlen sind abstrakt, man<br />

muss sich die Biografien dazudenken: 1926<br />

Die Weimarer<br />

Republik<br />

stand der<br />

Großen Krise<br />

mit ihren<br />

Instrumenten<br />

des<br />

Sozialstaats<br />

völlig hilflos<br />

gegenüber<br />

strömten 503 000 Berufsanfänger in den<br />

Markt, 1929 bis 1932 zwischen 358 000<br />

und 406 000. Sie trafen auf eine Wirtschaft,<br />

die wenig Einstiegschancen zu bieten<br />

hatte. Die neue Republik musste den<br />

jungen Arbeitssuchenden als ein abweisendes,<br />

vielleicht sogar feindseliges System erscheinen.<br />

Die matte, immer wieder durch<br />

Konjunkturschwankungen erlahmende<br />

Nachfrage nach jungen Arbeitskräften<br />

traf nicht nur die Jugend aus dem Arbeiter-<br />

und Handwerkermilieu. Auch in den<br />

akademisch ausgebildeten Schichten gab<br />

es ein krasses Missverhältnis von Angebot<br />

und Nachfrage. Zuerst bewirkte ab 1919<br />

der plötzliche Rückstrom von demobilisierten<br />

Soldaten eine heftige Hochschulexpansion.<br />

Man sprach vom<br />

„Studentenberg“. Dann produzierten<br />

die geburtenstarken<br />

Jahrgänge der vor 1914<br />

Geborenen eine stark anschwellende<br />

Woge von Abiturienten.<br />

Aus Abiturienten<br />

werden Examinierte, die natürlich<br />

darauf hoffen, ihre<br />

Mühen des Studiums (oft<br />

als „Werkstudent“, so die<br />

neue Erfahrung vermögensloser<br />

Bürgerkinder) würden<br />

mit einer angemessenen Arbeit<br />

belohnt. Aber die krisengeschüttelte<br />

deutsche Wirtschaft<br />

konnte auch vor der<br />

Großen Krise niemals genug<br />

passende Positionen bieten. Um 1930 war<br />

das Angebot an Uni-Absolventen zwei- bis<br />

dreimal so groß wie die Nachfrage.<br />

Hätte es das Wort schon gegeben,<br />

man hätte auch damals von einer „Generation<br />

Praktikum“ sprechen können: Eine<br />

ganze Alterskohorte arbeitsloser Akademiker<br />

harrte notgedrungen bei den Eltern<br />

aus und entwickelte einen fundamentalen<br />

Groll gegen „das System“ der Republik, die<br />

offenbar außerstande war, ihrem qualifizierten<br />

Nachwuchs angemessene Entfaltungsmöglichkeiten<br />

zu bieten.<br />

Im Februar 1928, also lange vor dem Schock<br />

des „Schwarzen Freitags“ im Oktober 1929,<br />

gab es in Deutschland erstmals drei Millionen<br />

Arbeitslose. Anfang 1930 begann<br />

dann die Höllenfahrt in den Abgrund einer<br />

bis dahin unvorstellbaren Depression.<br />

Auf deren Tiefpunkt zählte man acht Millionen<br />

Arbeitslose (wenn man der offiziellen<br />

Statistik die plausible Dunkelziffer hinzufügt).<br />

Am schwersten traf die Arbeitslosigkeit<br />

die 18- bis 30-Jährigen. Aber auch<br />

die ganz Jungen sahen sich in hoffnungsloser<br />

Lage: 1931 standen 717 000 Volksschulabsolventen<br />

nur 160 000 Lehrstellen<br />

offen. 1932 konstatierten Sozialhygieniker<br />

eine verschleierte Hungersnot in den<br />

Großstädten.<br />

Die Weimarer Republik stand mit ihrem<br />

sozialstaatlichen Instrumentarium<br />

der Großen Krise völlig hilflos gegenüber.<br />

Ausgelegt auf 800 000 Fälle, erlebte die<br />

1927 geschaffene Arbeitslosenversicherung<br />

ihr vorhersehbares Desaster. Die panikartigen<br />

Notverordnungen der Reichsregierung<br />

von 1931 an trafen ganz besonders<br />

die jungen Arbeitslosen, weil sie weitgehend<br />

auf Familienunterstützung verwiesen<br />

wurden. 1932 lebte ein Großteil der<br />

jungen Generation zwischen Existenzminimum<br />

und Armut.<br />

Über die seelische Landschaft der Krisen-Jugend<br />

gibt es eindrucksvolle literarische<br />

Zeugnisse: Erich Kästners Roman<br />

„Fabian“ (1931) und Ödön von Horváths<br />

Drama „Kasimir und Karoline“ (1932)<br />

handeln beide vom Scheitern privater<br />

Liebesbeziehungen wegen Arbeitslosigkeit<br />

der jungen Generation. Auch Siegfried<br />

Sommers stark autobiografisch geprägter<br />

Krisenroman „Und keiner weint<br />

mir nach“ (1953) erzählt drastisch von<br />

der Hoffnungslosigkeit junger Arbeitsloser<br />

um 1932: „Der Leo hatte schon zwei<br />

Karten vollgestempelt. Seit einem Jahr bekam<br />

er jetzt am Freitag fünf Mark sechzig.<br />

Das heißt, für ihn waren es nur eine Mark<br />

sechzig, weil ja die blinde Großmutter daheim<br />

auch ihren Anteil an der Arbeitslosigkeit<br />

vom Leo haben musste. Das verstand<br />

er schon. Für eine Mark und sechzig<br />

Pfennig wöchentlich kann sich aber ein<br />

junger Mensch nur wenig vom Leben<br />

kaufen.“<br />

Siegfried Sommers Protagonist, der<br />

Elektrolehrling Leo Knie, nimmt sich am<br />

Ende das Leben. Tatsächlich schnellte in<br />

Deutschland die Zahl der Suizide von 1930<br />

an dramatisch nach oben.<br />

Als Antwort auf die Hoffnungslosigkeit<br />

der arbeitslosen jungen Leute entwickelte<br />

die deutsche Jugendbewegung die Idee<br />

des „Freiwilligen Arbeitsdiensts“, den die<br />

Reichsregierung ab 1931 in ihre Arbeitsbeschaffungspolitik<br />

integrierte. Was aber<br />

nichts daran änderte, dass die Entfremdung<br />

98 <strong>Cicero</strong> 12.2012


von der Demokratie weiter fortschritt: Die<br />

extrem republikfeindlichen Flügelparteien,<br />

die KPD und Hitlers NSDAP, übten mit<br />

ihren totalitären Lebensentwürfen vom<br />

Jahr 1930 an eine enorme Anziehungskraft<br />

auf die Altersjahrgänge zwischen 20<br />

und 35 aus. Zumal beide Strömungen in<br />

der Großen Krise zunehmend als „junge“<br />

Parteien galten.<br />

Insbesondere die „Hitlerbewegung“<br />

vermittelte eine kampfeslustige Jugendlichkeit.<br />

Ihre Propaganda richtete sich<br />

offensiv gegen die als hilflos denunzierten<br />

Honoratioren der Republik. Besonderen<br />

Anklang fand die betonte Jugendlichkeit<br />

der NSDAP bei den Studenten.<br />

Noch vor den großen Erfolgen bei den<br />

allgemeinen Wahlen hatte der Nationalsozialistische<br />

Studentenbund an fast allen<br />

deutschen Universitäten die Mehrheit in<br />

den Studentenausschüssen erobert. Und<br />

die SA bestand vor 1933 zu zwei Dritteln<br />

aus jungen Arbeitern. Zum politischen<br />

Schicksal mit welthistorischen Folgen<br />

wurde das Zusammenspiel von Krise, Jugendarbeitslosigkeit<br />

und NS-Propaganda<br />

mit dem Jahr 1930: Es rückten zum ersten<br />

Mal geburtenstarke Jahrgänge in die<br />

Wählerschaft ein, die in der Weimarer Zeit<br />

politisch sozialisiert worden waren. Die<br />

NSDAP holte unter ihnen den Löwenanteil<br />

an Erstwählern.<br />

Was dann folgte, ist bekannt. Es ist Teil<br />

des deutschen Verhängnisses, auch wenn<br />

es von der Mehrzahl der Deutschen zunächst<br />

als positive Wende missverstanden<br />

worden war. Hitler, einmal an der <strong>Macht</strong><br />

seit dem 30. Januar 1933, nutzte alle Instrumente<br />

seiner Diktatur zur Überwindung<br />

der Arbeitslosigkeit – wohl wissend,<br />

dass nur dies, nicht das abstruse Programm<br />

der NSDAP, ihn legitimieren konnte. Von<br />

der Militarisierung zur expansiven Kreditschöpfung,<br />

von der Arbeitsbeschaffung<br />

durch große Staatsbauten bis zur Aufüstung,<br />

vom erzwungenen Lohnstopp bis zur<br />

Manipulation von Statistiken, vom exzessiven<br />

Aufblähen des Staats- und Parteiapparats<br />

bis zur pausenlosen propagandistischen<br />

Zukunftsbeschwörung reichte der<br />

Katalog der NS-Konjunkturpolitik. Und<br />

der Diktator hatte auch noch Glück: Schon<br />

Ende 1932 hatte die Depression in Europa<br />

ihren Tiefpunkt erreicht; ganz unabhängig<br />

von Staatsinterventionen kam die europäische<br />

Wirtschaft langsam wieder in Fahrt.<br />

Als die Arbeitslosigkeit binnen dreier Jahre<br />

verschwand und Vollbeschäftigung einkehrte,<br />

verschaffte dies der Hitler-Diktatur<br />

einen Loyalitätsfundus, aus dem sie bis<br />

tief in den Krieg hinein zehren konnte.<br />

„Die Wirtschaft ist unser Schicksal“:<br />

Das hat Walther Rathenau 1921 dem Jahrhundert<br />

ins Stammbuch geschrieben. Der<br />

Satz ist heute so wahr wie damals. Bedeutet<br />

er deshalb auch, dass sogar die starken<br />

europäischen Demokratien der Gegenwart<br />

gefährdet werden könnten durch verzweifelte<br />

Jugendliche? Am 6. Oktober 2012 jedenfalls<br />

wandte sich der griechische Ministerpräsident<br />

Antonis Samaras mit einem<br />

dramatischen Appell an die europäischen<br />

Geldgeber. Was er sagte, zielte auf das historische<br />

Gewissen Deutschlands. Samaras<br />

warnte vor einem Absturz Griechenlands<br />

ins Chaos, sollte seine Regierung scheitern.<br />

Er verglich die griechische Situation<br />

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mit jener am Ende der Weimarer Republik.<br />

Ohne europäisches Entgegenkommen<br />

sei die griechische Gesellschaft bedroht<br />

vom Aufstieg einer „rechtsextremistischen,<br />

man könnte auch sagen faschistischen<br />

Neonazi-Partei“.<br />

Droht „Weimar“, drohen Aufstände,<br />

droht das Erstarken totalitärer Kräfte, weil<br />

wir uns einer neuen „verlorenen Generation“<br />

gegenübersehen? Ein Rundblick über<br />

die Brennpunkte der Jugendarbeitslosigkeit<br />

ergibt ein anderes, widersprüchliches Bild.<br />

2011, im Jahr des arabischen Frühlings,<br />

flackerten in den europäischen Wohnzimmern<br />

die Fernsehbilder erregter Demonstrationen.<br />

Manche Beobachter orakelten danach<br />

vom Überspringen des<br />

rebellischen Funkens und<br />

von einer kommenden Jugendrevolution<br />

in den Krisenländern.<br />

Dafür sprach:<br />

Nach einem Internetappell<br />

gingen am 15. Mai 2011 in<br />

ganz Spanien Hunderttausende<br />

auf die Straße, um gegen<br />

die hohe Arbeitslosigkeit,<br />

gegen Korruption, Bankenmacht<br />

und das Versagen der<br />

großen Parteien zu demonstrieren.<br />

Zwei Tage später besetzten<br />

Demonstranten trotz<br />

Verbots die symbolträchtige<br />

Puerta del Sol in Madrid – jenen<br />

Platz, auf dem 1931 die<br />

zweite Republik ausgerufen worden war.<br />

Vier Wochen hielten die Besetzer durch,<br />

angefeuert durch Ermutigungen auf Facebook<br />

und Twitter. Aber die spanische Gesellschaft<br />

im Ganzen schloss sich nicht an.<br />

Als sich dies offenbarte, wurden die<br />

Zelte abgebrochen, wurde der Müll aufgeräumt<br />

und der Boden geschrubbt. Dieser<br />

zivilgesellschaftliche Schlusspunkt scheint<br />

symptomatisch für den Charakter der politischen<br />

Jugendbewegung in den europäischen<br />

Ländern. Auch in Frankreich spielte<br />

sich der Unmut innerhalb der eingeübten<br />

demokratischen Protestformen ab. Ende<br />

Mai 2011 versammelten sich Tausende junger<br />

Franzosen am legendären Revolutionsort<br />

Place de la Bastille und forderten eine<br />

„Weltrevolution“ gegen den „internationalen<br />

Finanzkapitalismus“ und seine „Vollstrecker“<br />

in den europäischen Regierungen.<br />

Ein schmales Büchlein, der Ende Oktober<br />

2010 veröffentlichte Aufruf „Indignezvous“<br />

(„Empört euch“) des 93-jährigen<br />

Keine Krise<br />

wird das<br />

Bewusstsein,<br />

„einer Welt“<br />

anzugehören,<br />

aus den<br />

Köpfen der<br />

europäischen<br />

Jugend<br />

verbannen<br />

können<br />

Résistance-Helden Stéphane Hessel, befeuerte,<br />

millionenfach verbreitet, die Lust am<br />

zivilen Ungehorsam. Gleichwohl verebbte<br />

die Aufregung, trotz allerlei Scharmützeln<br />

mit der Polizei, nach einigen Wochen. Im<br />

Kern ging es den Bastille-Demonstranten<br />

auch nicht um den Griff nach der <strong>Macht</strong><br />

(wie noch im Pariser Mai des Jahres 1968),<br />

sondern viel eher um den Ausbau des französischen<br />

Sozialstaats.<br />

Das GroSSreinemachen an der Puerta del<br />

Sol und das Versickern der „Empörung“ in<br />

Paris sprechen eine deutliche Sprache. Die<br />

Geschichte der deutschen zwanziger Jahre<br />

wiederholt sich nicht. Trotz allen Zorns wegen<br />

der Arbeitslosigkeit weiß<br />

auch der harte Kern der politisch<br />

mobilen jungen Leute,<br />

dass der Sturm auf irgendein<br />

Gebäude, eine „Bastille“,<br />

nichts am globalen Wirtschaftssystem<br />

ändern kann.<br />

Anonyme Wirtschaftsmacht,<br />

die sich in Sekundenbruchteilen<br />

durch Glasfasernetze<br />

verbreitet und die Welt der<br />

Industriekulturen beherrscht,<br />

kann man nicht mit Hausbesetzungen<br />

bedrohen. Aus<br />

den Parteien gibt es für den<br />

Jugendzorn keine Allianzangebote.<br />

Und keine europäische<br />

Partei bietet glaubwürdige<br />

ideologische Alternativen zur Mixtur<br />

aus globaler Wirtschaft und nationalem<br />

Sozialstaat an. Anders als in der Weimarer<br />

Republik gibt es weit und breit keine<br />

Partei, die offen für eine Abschottung der<br />

nationalen Wirtschaft, geschweige denn<br />

für eine Diktatur wirbt. Die großen extremen<br />

Bewegungen des 20. Jahrhunderts<br />

sind diskreditiert: Verbrechen und Katastrophe<br />

des Nationalsozialismus sind im Gedächtnis<br />

der ganzen Welt ebenso präsent<br />

wie der unrühmliche Zusammenbruch des<br />

Kommunismus.<br />

Unverblümte Demokratiefeindschaft,<br />

ob von links oder rechts, ist in Europa gesellschaftlich<br />

verpönt und widerspricht den<br />

Verfassungen. Darum bedienen sich die extremistischen<br />

Parteien – auch wenn sie im<br />

Inneren offenkundig antidemokratisch<br />

sind – zumeist eines populistischen Potpourris.<br />

Jedoch haben es diese Polemiken<br />

gegen die Globalisierung, gegen das postnationale<br />

Zeitalter, den gesellschaftlichen<br />

Wandel und die Migration nirgendwo<br />

vermocht, ein Zukunftsbild zu formen,<br />

das milieuübergreifend attraktiv werden<br />

konnte – auch dies ein krasser Unterschied<br />

zur deutschen Situation der zwanziger<br />

Jahre. Gerade die junge Generation<br />

ist durch die digitalen Medien, durch eine<br />

Mobilität über Staatengrenzen hinweg, zutiefst<br />

globalisiert. Keine Krise wird das Bewusstsein,<br />

„einer Welt“ anzugehören, aus<br />

den Köpfen der europäischen Jugend vertreiben<br />

können.<br />

Bisher hat keine extremistische Partei<br />

eine Brücke zum Jugendprotest bauen<br />

können – was sicher auch am schlechten<br />

Image solcher Organisationen im heutigen<br />

Europa liegt. In keinem Staat und zu<br />

keinem Zeitpunkt konnten rechts- oder<br />

linksextremistische Parteien seit 1990<br />

aufgrund ihrer Wahlergebnisse den Bestand<br />

der demokratischen Verfassungsstaaten<br />

gefährden. Stets hatten demokratische<br />

Parteien einen Vorsprung von über<br />

70 Prozentpunkten vor „Antisystemparteien“<br />

– was temporäre Koalitionen mit<br />

extremistischen Kräften leider nicht überall<br />

verhindert. Aber regelmäßig zerbrachen<br />

die unheiligen Allianzen mit Rechtsextremen<br />

nach etwa der Hälfte ihrer Amtszeiten<br />

an der Regierungsunfähigkeit der Juniorpartner.<br />

Linksextreme Parteien wiederum<br />

erlangten nach 1990 in fünf Ländern Regierungsbeteiligung,<br />

allerdings ohne den<br />

Nimbus einer „großen Alternative“ wie der<br />

messianische Kommunismus der zwanziger<br />

Jahre.<br />

Die jungen Europäer verbindet eine<br />

tiefe Skepsis gegenüber allen politischen<br />

Angeboten. Das macht sie immun gegen<br />

die Botschaften aller Parteien. Wenn man<br />

niemandem die Lösung unserer großen<br />

Probleme zutraut, können auch die Extremen<br />

nicht profitieren.<br />

Vielleicht existiert bei aller Skepsis gegenüber<br />

den Verhältnissen aber auch ein<br />

instinktiver Optimismus. Die demografische<br />

Entwicklung in den europäischen<br />

Ländern wird über kurz oder lang dazu<br />

führen, dass jeder junge Europäer dringend<br />

gebraucht wird – mag die Wartezeit<br />

bis dahin noch so unbefriedigend sein.<br />

Christoph Stölzl<br />

ist Historiker und leitet die<br />

Hochschule für Musik Franz Liszt<br />

in Weimar<br />

Foto: privat<br />

100 <strong>Cicero</strong> 12.2012


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| K a p i t a l | K o m m e n t a r<br />

Mathe mit Merkel<br />

Deutschland fordert harte<br />

Einschnitte für Schuldensünder –<br />

und gönnt sich selbst soziale<br />

Wohltaten. Der Wahnsinn hat<br />

Methode: In Brüssel tut Berlin<br />

derzeit alles, um eigene Fehler<br />

zu verbergen<br />

Von Eric Bonse<br />

E<br />

uropa spricht deutsch. Dieser vorlaute Ausspruch<br />

von Unions-Fraktionschef Volker Kauder ist mittlerweile<br />

zum geflügelten Wort geworden. Zwar versucht<br />

Kanzlerin Angela Merkel, die deutsche Dominanz in der Eurokrise<br />

mit netten Worten an die Hilfsempfänger in Athen oder<br />

Madrid vergessen zu machen. Doch spätestens, seit die britische<br />

Financial Times Berlin zur heimlichen Hauptstadt Europas erklärte,<br />

ist klar, dass Kauder recht hatte.<br />

Wie sehr Europa der deutschen Agenda folgt, wird sich wieder<br />

beim EU-Gipfel Mitte Dezember zeigen. Merkel will noch<br />

schärfere Kontrollen für Schuldensünder einführen. Obwohl der<br />

umstrittene neue Fiskalpakt noch nicht einmal in Kraft ist, sollen<br />

die Eurostaaten ihre Budgethoheit weiter einschränken. Von<br />

einem Supersparkommissar ist die Rede und davon, dass es Finanzhilfen<br />

nur noch gegen Reformen geben soll. „Konditionalität“<br />

nennt Merkel das.<br />

Nur Deutschland soll von der Überwachung ausgenommen<br />

werden. Offiziell werden die strengen neuen Regeln natürlich<br />

auch für das größte und mächtigste Land der Eurozone gelten.<br />

Doch hinter den Kulissen hat Bundesfinanzminister Wolfgang<br />

Schäuble dafür gesorgt, dass Berlin keine Auflagen oder gar<br />

Strafen fürchten muss. Deutschland rechnet sich schön – und<br />

gefährdet damit die Glaubwürdigkeit der eigenen Politik.<br />

Hier ist nicht vom Budgetdefizit die Rede, das pünktlich zur<br />

Wahl gegen null streben soll. Das sieht zwar schön aus, ist jedoch<br />

unrealistisch, wie Schäuble selbst einräumte. Die milliardenschweren<br />

Wahlgeschenke dürften ihm einen Strich durch die<br />

Rechnung machen. Die Rede ist vielmehr von dem Versuch, Finanzrisiken<br />

durch Rechentricks zu verschleiern.<br />

Deutlich wurde dies zum ersten Mal im Frühjahr, als die<br />

EU‐Kommission ihren Bericht über wirtschaftliche Ungleichgewichte<br />

vorlegte. Zwölf Länder bekamen Rügen, weil sie mehr<br />

importieren als exportieren und das Leistungsbilanzdefizit mehr<br />

als 4 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachte. Doch Deutschland<br />

blieb ungeschoren, obwohl der deutsche Überschuss in<br />

derselben Größenordnung liegt. Ein Überschuss sei nicht so<br />

schlimm wie ein Defizit, argumentierte Währungskommissar<br />

Olli Rehn.<br />

Was war passiert? Auf Drängen Schäubles hatte Rehn für<br />

Überschussländer eine andere Grenze gezogen als für die Defizitländer.<br />

Wie es der Zufall so will, liegt sie bei 6 Prozent – Berlin<br />

blieb 2011 mit 5,9 Prozent knapp darunter. Das Handelsblatt<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

102 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Foto: privat<br />

klagte über „zweierlei Maß“. Schließlich sei das Zuviel des einen<br />

das Zuwenig des anderen – auch Berlin hätte eine Rüge verdient.<br />

Doch Rehn sah darüber hinweg. Das könnte sich schon bald<br />

rächen. Denn im laufenden Jahr ging der deutsche Überschuss<br />

nochmals in die Höhe – in US‐Dollar gerechnet ist er sogar größer<br />

als in China. Das ruft nicht nur Ökonomen auf den Plan,<br />

die den ungehemmten deutschen Exporten eine Mitschuld an<br />

den Defiziten des Südens geben. Es dürfte auch Brüssel alarmieren,<br />

denn wahrscheinlich wird die Sechs-Prozent-Hürde gerissen.<br />

Schon im Februar 2013 droht deshalb ein Rüffel der<br />

EU‐Kommission. Deutschland, das das gesamtwirtschaftliche<br />

Gleichgewicht sogar im Grundgesetz verankert hat, stünde<br />

dann als Überschusssünder am Pranger. Doch mit Strafen rechnet<br />

im Wahljahr niemand. Merkel und Schäuble scheint der<br />

deutsche Regelverstoß denn auch nicht zu stören, im Gegenteil:<br />

Dem ersten Sündenfall folgt nun, wenn nicht alles täuscht,<br />

gleich der zweite.<br />

Diesmal geht es an die Substanz: die öffentlichen Finanzen.<br />

Gemeinsam mit Frankreich hat Deutschland einen Entwurf der<br />

EU‐Kommission verwässert, der für mehr Transparenz in der<br />

Schuldenstatistik sorgen sollte. Ausgerechnet das Land, das sich<br />

sonst gern als Schulmeister geriert und größtmögliche Transparenz<br />

fordert, will nun eigene Risiken vertuschen.<br />

Der Vorschlag der Kommission sah vor, nicht nur wie bisher<br />

die aktuellen staatlichen Finanzlöcher zu melden, sondern endlich<br />

auch Schattenhaushalte auszuleuchten. Künftig sollen die<br />

EU‐Länder ihre Daten über Staatsgarantien für wackelige Banken,<br />

öffentliche Zuschüsse für private Bauprojekte sowie „implizite<br />

Pensionsverpflichtungen“ in den Sozialkassen vorlegen. Nur mit<br />

diesen Zahlen sei eine nachhaltige Finanzpolitik möglich, sagen<br />

die Experten von der Statistikbehörde Eurostat in Luxemburg.<br />

Für eine nachhaltige Finanzpolitik sind natürlich auch Merkel<br />

und Schäuble. Dennoch sträubten sie sich gegen die neuen<br />

Regeln. Man habe nichts dagegen, Daten über abgeschlossene<br />

Perioden zu liefern, hieß es in Berlin. Pensionszahlungen seien<br />

dagegen mit Unsicherheiten behaftet; schließlich gehe es um<br />

Projektionen in die Zukunft. Eine „seriöse Verwendung“ dieser<br />

Zahlen sei nicht möglich.<br />

Noch steht Deutschland in der EU‐Schuldenstatistik relativ<br />

gut da. Doch als Land mit der ältesten Bevölkerung und der geringsten<br />

Geburtenrate könnte sich dies bald ändern. Die Bundesregierung<br />

hat die Folgen vermutlich längst berechnet – doch<br />

die EU‐Kommission in Brüssel soll davon vorerst nichts wissen.<br />

0012_anz_210x70_herreweghe_X3.pdf 05.11.2012 14:16:58 Uhr<br />

Erst 2015 sollen auch implizite Pensionsverpflichtungen offengelegt<br />

werden. Die Zahlen zu „Public Private Partnerships“<br />

(PPP) werden erst 2018 folgen – und dann auch nur im Drei-<br />

Jahres-Rhythmus und nicht, wie sonst üblich, jedes Jahr. Der<br />

deutsche Europaabgeordnete Sven Giegold spricht von einem<br />

„Rückschritt“. Gerade hier, fürchtet der grüne Finanzexperte, ticke<br />

eine Zeitbombe.<br />

Denn viele Autobahnen, Flughäfen und Verwaltungsgebäude<br />

werden zwar von privaten Unternehmen betrieben, aber<br />

von der öffentlichen Hand vorfinanziert. Und das ist oft mit<br />

erheblichen Risiken verbunden, wie das Debakel um die Elbphilharmonie<br />

in Hamburg gezeigt hat. Giegold warnt, dass der<br />

Steuerzahler nicht nur mit versteckten Lasten aus deutschen<br />

Projekten rechnen muss. Auch die Rettung von Krisenländern<br />

wie Portugal oder Spanien könnte sich wegen kostspieliger und<br />

intransparenter von Staat und Privatwirtschaft mischfinanzierter<br />

Projekte verteuern.<br />

Berlin rechnet also nicht nur die eigenen Schulden schön,<br />

sondern auch versteckte Risiken der Eurokrise. Die deutsche<br />

Bundesregierung verhindert eine ehrliche europäische Schuldenstatistik<br />

– und fordert gleichzeitig, Schuldensünder strenger zu<br />

kontrollieren und härter zu bestrafen. Berlin gönnt sich kurz<br />

vor der Wahl ein paar kostspielige Wohltaten – und verschweigt<br />

beharrlich die Risiken, die in der eigenen Bilanz lauern. Auf<br />

Dauer kann das nicht gut gehen.<br />

Merkel und Schäuble müssen sich entscheiden: Entweder<br />

wollen sie maximale Kontrolle und Transparenz – dann muss<br />

auch Deutschland seine verdeckten Risiken offenlegen und das<br />

chronische wirtschaftliche Ungleichgewicht abbauen. Oder sie<br />

beanspruchen eine Vorzugsbehandlung. Dann sollten sie aber<br />

auch aufhören, die Partner ständig zu schurigeln. Andernfalls<br />

werden die nämlich eines Tages anfangen, die Ursache für die eigenen<br />

Defizite in den deutschen Überschüssen zu suchen. Ganz<br />

falsch lägen sie damit nicht.<br />

Europa spricht deutsch, okay. Aber dass es auch deutsch<br />

rechnet, ist dann wohl doch zu viel verlangt.<br />

Eric Bonse<br />

überzeugter Europäer aus Düsseldorf, beobachtet seit 2004<br />

das Raumschiff Brüssel als Korrespondent<br />

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EIN BESONDERER TAG VERDIENT<br />

EINE BESONDERE ZEITUNG:


| S a l o n<br />

Erfahren, um frei zu sein<br />

Achim Kaufmann ist einer der aufregendsten Jazzpianisten – trotzdem gibt es kaum Aufnahmen von ihm<br />

von Tobias Lehmkuhl<br />

D<br />

as Klavier ist im modernen Jazz in<br />

den Hintergrund getreten. Klar,<br />

da sind die Helden von einst,<br />

Chick Corea oder Herbie Hancock oder<br />

der unerschöpfliche Keith Jarrett; es gibt<br />

die Riege der smarten, jungen Hipster, die<br />

mit ihrer nicht immer sehr originellen, eklektischen<br />

Musik regelmäßig Kammermusiksäle<br />

füllen; Brad Mehldau mit Namen,<br />

Jason Moran oder Vijay Iyer.<br />

Geht man dagegen an jene Orte, an<br />

denen neue Wege beschritten werden, wo<br />

kompromisslos nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten<br />

gesucht wird, ob in Berlin<br />

oder Brooklyn, dann fällt doch auf, dass –<br />

wie schon zu Zeiten Louis Armstrongs oder<br />

Charlie Parkers – die wichtigen Impulse<br />

von Bläsern ausgehen, von Klarinettisten<br />

wie Rudi Mahall oder von Trompetern wie<br />

Thomas Heberer.<br />

Einer aber fällt da aus dem Rahmen,<br />

ein Pianist, der sich dem Mainstream strikt<br />

verweigert und stetig an einer eigenständigen<br />

musikalischen Handschrift arbeitet:<br />

Achim Kaufmann. So ist es auch nicht verwunderlich,<br />

dass er, wenn man ihn in seiner<br />

Wohnung im Berliner Wedding zwischen<br />

riesigen Zimmerpflanzen nach seinen Helden,<br />

nach pianistischen Vorbildern fragt,<br />

fast abwehrend reagiert: „Natürlich Bud<br />

Powell, Monk oder Herbie Nichols, aber<br />

eigentlich alle. Alle, die gut sind.“ Was aber<br />

ist gut? „Das kann auch afrikanische Musik<br />

sein oder Bob Dylan. Wenn es vielschichtig<br />

ist, wenn man immer wieder Neues in ihr<br />

entdecken kann. Klang, Rhythmus. Das<br />

kann man natürlich auch durch Komposition<br />

erreichen. Aber mein Mittel ist eben<br />

die Improvisation.“<br />

Wobei, wenn man die Ohren aufspannt,<br />

auch der Einfluss klassischer Musik<br />

in Kaufmanns Spiel erkennbar ist: Haydn,<br />

Schönberg, Messiaen. Mit Anfang zwanzig<br />

habe ihn, als er in Dortmund Zivildienst<br />

leistete, sein dortiger Lehrer Frank Wunsch<br />

auch an vorbarocke Klavierliteratur herangeführt.<br />

Von Haus aus hätte er ohnehin<br />

die besten Voraussetzungen gehabt,<br />

Vater wie Mutter seien klassische Pianisten,<br />

aber als Kind habe es mit dem Unterricht<br />

nie so recht geklappt. Erst als er<br />

mit 15 Jahren den Jazz für sich entdeckte,<br />

begann er ernsthaft, sich mit dem Klavier<br />

auseinanderzusetzen.<br />

Jetzt steht ein Flügel der Firma Ibach<br />

in seiner Wohnung, ein schönes Stück<br />

aus den zwanziger Jahren, mit warmem<br />

Klang, „ziemlich heruntergespielt allerdings,<br />

ich müsste ihn mal aufarbeiten lassen.<br />

Oder eben doch ein modernes Instrument<br />

kaufen.“<br />

Kaufmann spricht ruhig und zurückhaltend.<br />

Er gehört zu jenen, die erst einmal<br />

hören, was die anderen so machen, anstatt<br />

sofort selbst in die Tasten zu hauen.<br />

Ein Beobachter, der den Dingen geduldig<br />

beim Wachsen zusieht. So ist, obwohl er in<br />

diesem Jahr 50 wurde, sein Oeuvre doch<br />

recht überschaubar. Einige hochgelobte<br />

Trio- und Quartetteinspielungen, eine Soloplatte,<br />

und gerade ist eine neue CD erschienen,<br />

„Geäder“ (gligg records), die<br />

vierte Einspielung mit zwei langjährigen<br />

Weggefährten, dem Saxofonisten Frank<br />

Gratkowski und dem Bassisten Wilbert<br />

de Joode.<br />

Vollständig frei improvisiert, wie diese<br />

Aufnahme ist, hat man über weite Strecken<br />

doch den Eindruck, dass das alles geplant<br />

und durchdacht sein muss, so organisch<br />

wirkt die Musik, so selbstverständlich entwickelt<br />

sich das eine aus dem anderen, so<br />

eng verzahnt ist das Zusammenspiel.<br />

Achim Kaufmann lebt ein Paradox: Er<br />

ist Perfektionist und setzt sich doch mit jedem<br />

Konzert wieder dem Neuen aus, der<br />

stetigen Überraschung. Man brauche viel<br />

Erfahrung, um frei spielen zu können, sagt<br />

er. So habe es zum Beispiel lange gedauert,<br />

bis er begriffen habe, dass man zuweilen<br />

auch offensiv gegen das Spiel der Mitmusiker<br />

anspielen müsse, damit insgesamt etwas<br />

Gutes entstehe.<br />

Diese Erfahrungen hat Kaufmann vor<br />

allem in Amsterdam gesammelt, wo er<br />

13 Jahre lang lebte, bevor er 2009 nach<br />

Berlin ging. Weil es größer ist, wie er sagt,<br />

weil es hier größere Wohnungen gebe, die<br />

man sich auch als Jazzpianist leisten könne,<br />

und natürlich, weil die Szene hier so lebendig<br />

sei, weil so viele Freunde in Berlin<br />

lebten. Dabei stützt er sein Kinn auf die<br />

Pianistenhand, den langen weißen Daumen<br />

fast bis zum Ohr gespreizt. Im Hintergrund<br />

steht die riesige Schallplattensammlung<br />

im Regal, bemalte Holztafeln<br />

hängen an den Wänden, und von draußen<br />

scheint die Weddinger Sonne hinein.<br />

Ein Fotograf kommt und bittet den Pianisten,<br />

seine Nase doch bitte etwas weiter<br />

nach rechts zu wenden. „Nur die Nase“,<br />

sagt Kaufmann, „das dürfte schwer werden.“<br />

Später setzt er sich an den Ibach und<br />

spielt für die Besucher ein paar Takte. Erst<br />

klingt es nach Fingerübungen, die chromatische<br />

Tonleiter rauf und runter. Dann<br />

aber nehmen Kaufmanns Finger eine seltsame<br />

Abzweigung, ein paar Töne prallen<br />

zusammen, und es klingt so, als seien sie<br />

selbst erstaunt, einander hier zu treffen. Da<br />

aber sind die Hände schon weitergewandert.<br />

Für lange Abschiede bleibt keine Zeit.<br />

Und auch wir müssen wieder gehen.<br />

Tobias Lehmkuhl<br />

ist Literaturkritiker und Autor.<br />

Zuletzt erschien sein Reiseessay<br />

„Land ohne Eile – Ein Sommer<br />

in Masuren“ (Rowohlt Berlin)<br />

Fotos: Andreas Pein, privat (Autor)<br />

106 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Sein Ibach-Flügel sei<br />

„ziemlich heruntergespielt“,<br />

meint Achim Kaufmann.<br />

Als Kulisse für ein Foto<br />

taugt das gute Stück<br />

jedoch allemal<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 107


| S a l o n<br />

Ein Clown fürs Leben<br />

Herbert Fritsch, mit 60 Jahren höchst erfolgreicher Nachwuchsregisseur, inszeniert den „Revisor“ in München<br />

von irene bazinger<br />

L<br />

achen im Theater? Kann schon mal<br />

passieren, aber normalerweise gilt<br />

es als suspekt und der Hochkultur<br />

unwürdig. Allerdings nicht für Herbert<br />

Fritsch, der sich in seinen Inszenierungen<br />

kein bisschen davor fürchtet, dort als Unterhaltungskünstler<br />

und Boulevardtheatermacher<br />

zu gelten. Er findet nämlich, dass<br />

es kein besseres Mittel als Lachen gibt, um<br />

die Zuschauer aufzuwecken, anzusprechen,<br />

mitzureißen. Und Fritsch muss es wissen,<br />

war er doch jahrelang einer der wüstesten<br />

deutschen Schauspieler, der seit den neunziger<br />

Jahren an der Berliner Volksbühne<br />

als exhibitionistische Rampensau vom<br />

Dienst so berühmt wie berüchtigt wurde.<br />

Natürlich sei dieser wilde Erfolg toll gewesen,<br />

sagt er heute, und rührt ganz gesittet<br />

in seinem koffeinfreien Cappuccino<br />

in einem unauffälligen Berliner Café, aber<br />

eigentlich beruhte er auf einem Missverständnis.<br />

Denn was er da als Extremschauspieler<br />

zeigte, hatte bald mehr mit Druck<br />

als mit Lust zu tun, mehr mit Fremdbestimmung<br />

als mit Spielfreude, und das ertrug<br />

er kaum: „Die wollten von mir immer<br />

den Wahnsinn haben und riefen: ‚Los,<br />

Herbert, dreh durch!‘“ Längst hält Fritsch<br />

nichts mehr von solchen sinnfreien Exzessen:<br />

„Meine Inszenierungen haben zwar<br />

auch eine gewisse Obszönität, doch die<br />

ist hochgeschlossen.“<br />

Eine tiefe Krise, in die er 2007 nach<br />

dem unschönen Abschied von der Volksbühne<br />

geriet, bewältigte er, indem er selbst<br />

zu inszenieren begann. Es waren kleine<br />

Provinzhäuser zwischen Halle und Luzern,<br />

die ihn erstmals nach Jahren wieder stolz<br />

auf das machten, was er so trieb: „Seit ich<br />

Regie führe, habe ich das Gefühl, dass ich<br />

endlich im Theater angekommen bin. Ich<br />

fühle mich da jetzt unglaublich wohl und<br />

bin bei der Arbeit sehr glücklich. Das war<br />

ich als Schauspieler nie wirklich!“ Gleich<br />

zwei seiner Inszenierungen – Ibsens „Nora“<br />

aus Oberhausen und Hauptmanns „Der<br />

Biberpelz“ aus Schwerin – wurden 2011<br />

zum Theatertreffen eingeladen, ein Jahr<br />

später dann „Die (s)panische Fliege“, ein<br />

Schwankklassiker von Franz Arnold und<br />

Ernst Bach, den er als gefeierter Heimkehrer<br />

an der Volksbühne mit grandioser wie<br />

disziplinierter Komik in Szene gesetzt hatte.<br />

Herbert Fritsch galt mit seinen 60 Jahren<br />

plötzlich als der erfolgreichste Nachwuchsregisseur<br />

aller Zeiten.<br />

Nichts auf seinem langen Weg dahin<br />

war freilich geradlinig. 1951 in Augsburg<br />

geboren, hatte es ihn als Jugendlichen mit<br />

katholischer Prägung gehörig aus der Bahn<br />

geworfen. Er nahm Drogen, lebte auf der<br />

Straße, brach in Apotheken ein, um an<br />

seinen Stoff zu kommen. Ein kluger Jugendrichter<br />

verschonte ihn vor allzu langer<br />

Haft und formulierte die Bewährungsauflage,<br />

unverzüglich eine Ausbildung anzufangen.<br />

Fritsch bewarb sich an der Otto-<br />

Falckenberg-Schule in München, wurde<br />

aufgenommen und nach dem Abschluss<br />

an große Häuser engagiert. Deshalb ist<br />

es nicht pathetisch, wenn er erklärt: „Das<br />

Theater hat mir das Leben gerettet.“<br />

Auch andere Künste haben es ihm inzwischen<br />

angetan, er zeichnet, fotografiert, hat<br />

das intermediale Kunstprojekt „hamlet x“ –<br />

Shakespeares Drama in 111 Videoskulpturen<br />

– realisiert, erfand eine patentierte<br />

Kamera zur dreidimensionalen analogen<br />

Verzerrung. Er ist ein hinreißend kreativer<br />

Grenzüberschreiter, der auf die Frage<br />

nach seinem Beruf ohne Zögern mit „Ein<br />

Spieler!“ antwortet. Die Komödien und<br />

Tragödien und zunehmend auch Opern,<br />

die ihm angeboten werden, will er nicht<br />

interpretieren, sondern theatralisch überhöht<br />

und physisch entfesselt auskosten.<br />

Er möchte die Zuschauer nicht belehren.<br />

Sie sollen nicht beifällig mit den Köpfen<br />

nicken, weil er über die Krise oder die<br />

Globalisierung auch nicht mehr weiß als<br />

sie: „Ich bin ein Komödiant, ein Clown,<br />

ich kann nur mit Lust auf die Welt reagieren.<br />

Wenn es mir gelingt, die Leute zum<br />

Lachen oder Weinen zu bringen und vielleicht<br />

sogar in einen Rausch zu versetzen,<br />

bin ich glücklich.“<br />

Darum interessiert ihn an Nikolai Gogols<br />

Gesellschaftssatire „Der Revisor“ das<br />

stücktragende Thema Korruption überhaupt<br />

nicht, denn alles Nötige dazu könne<br />

man täglich in der Zeitung lesen. Das 1836<br />

uraufgeführte Werk hat schließlich in all<br />

der Zeit nichts an den Missständen in<br />

Russland oder sonstwo geändert. Da wäre<br />

es absurd zu erwarten, ihm würde das gelingen,<br />

wenn es in seiner Regie am Münchner<br />

Residenztheater vor Weihnachten Premiere<br />

haben wird.<br />

Lieber denkt Herbert Fritsch an Ernst<br />

Bloch, der einmal gesagt hat, dass der kürzeste<br />

Weg der Umweg ist, und überlegt sich<br />

für die Inszenierung in seinem Bühnenbild<br />

mit Lichteffekten und Musik eine Laborsituation.<br />

Darin lässt er die Darsteller<br />

dann wie Chemikalien aufeinander reagieren:<br />

„Mal sehen, was passiert!“ Und wenn<br />

sie stürzen und fallen und ausrutschen und<br />

stolpern und gegen die Wände rennen und<br />

durch und durch zum Lachen sind, wird<br />

er sie – „so ist ja das Leben schlechthin“ –<br />

euphorisch ermuntern, statt sie zu bremsen<br />

wie die von ihm mittlerweile gehassten<br />

Konzeptregisseure seiner früheren Jahre:<br />

„Die Schauspieler sollen sich präsentieren<br />

und den Leuten zeigen, dass man Lust<br />

empfinden kann an dem, was man tut –<br />

nicht bloß im Porno, sondern auch einfach<br />

so.“<br />

Irene Bazinger<br />

ist Theaterkritikerin und<br />

veröffentlichte Bücher über die<br />

Regisseurinnen Andrea Breth<br />

und Ruth Berghaus<br />

Fotos: Thomas Meyer/Ostkreuz, Max Lautenschläger (Autorin)<br />

108 <strong>Cicero</strong> 12.2012


„Das Theater<br />

hat mir das<br />

Leben gerettet“<br />

Herbert Fritsch<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 109


| S a l o n<br />

„Lasst mich euer<br />

Monster sein“<br />

Der Regisseur Emir Kusturica über den Bau einer serbischen Idealstadt und seine Verachtung für Hollywood<br />

Seit mehr als fünf Jahren hat Emir Kusturica<br />

keinen Film mehr gedreht. Was die Kunst betrifft,<br />

ist es ruhig geworden um den Mann,<br />

der das osteuropäische Kino seit Mitte der<br />

Achtziger geprägt hat wie kaum ein anderer.<br />

Dafür fällt „Kusto“, so nennen sie ihn auf<br />

dem Balkan, immer häufiger durch politische<br />

Provokationen auf, die bisweilen auch vor<br />

dumpfem Nationalismus nicht Halt machen.<br />

Noch am Vorabend ist er mit seiner Rockband<br />

„No Smoking Orchestra“ in einem Budapester<br />

Club aufgetreten, hat Schlagzeug gespielt, gesungen,<br />

getanzt und sich zum Abschluss vom<br />

Publikum für großserbische und antiamerikanische<br />

Parolen feiern lassen. Am Morgen<br />

danach schleicht der 57-Jährige in Jeans und<br />

Holzfällerhemd wie ein müder Bär über den<br />

Hotelflur. Zum Interview in der Lobby bestellt<br />

er zwei doppelte Espressi und ein großes<br />

Glas Wasser. „Um die Maschine in Gang zu<br />

kriegen“, wie er sagt.<br />

H<br />

err Kusturica, Sie besitzen in<br />

den serbischen Bergen eine<br />

eigene kleine Ortschaft namens<br />

Küstendorf, wo Sie sich gerade selbst zum<br />

Bürgermeister auf Lebenszeit ernannt haben.<br />

Wie lebt es sich als Alleinherrscher?<br />

Sehr gut. Es gibt keine Wahlen und keine<br />

Demokratie in meinem Reich. Ziemlich<br />

totalitaristisch, oder? Ich würde trotzdem<br />

sagen, dass ich ein relativ liebenswerter<br />

Diktator bin. Aber das behaupten wohl<br />

alle Diktatoren von sich.<br />

Küstendorf wurde 2004 zunächst als<br />

Kulisse für Ihren Film „Das Leben ist ein<br />

Wunder“ erbaut. Danach haben Sie sich<br />

selbst dort niedergelassen.<br />

Das Dorf liegt umringt von Bergen irgendwo<br />

im Niemandsland Serbiens, und<br />

es ist komplett unabhängig von der Außenwelt.<br />

Es gibt ein paar Geschäfte und<br />

Restaurants, wir betreiben Fischzucht<br />

und bauen Gemüse an. Von McDonald’s<br />

und Coca-Cola keine Spur – man<br />

kommt sich vor wie in einer verrückten<br />

Parallelwelt.<br />

Ihre Idealwelt?<br />

Vielleicht. Für die Dreharbeiten habe ich<br />

50 Häuser aus Pinienholz restaurieren<br />

und in die Berge transportieren lassen.<br />

Natürlich bestimme ich als Bürgermeister,<br />

wer darin leben darf. Küstendorf ist<br />

mein persönliches Utopia. Ein traditioneller<br />

serbischer Ort, der sich der Globalisierung<br />

widersetzt.<br />

Sie sind doch Weltbürger, haben jahrelang<br />

in den USA und Frankreich gelebt. Verbinden<br />

Sie mit dem Begriff Globalisierung nur<br />

Schlechtes?<br />

Natürlich, was soll gut daran sein? Ich<br />

will nicht, dass unsere kulturelle Vielfalt<br />

stirbt. Ich bin für ein Europa der Regionen,<br />

in dem jede Kultur ihre Eigenheiten<br />

behält. Außerdem bedeutet Globalisierung<br />

für mich, dass wir dem Warenuniversum<br />

Amerikas verfallen. Vor lauter<br />

verlockenden Dingen, die es zu kaufen<br />

gibt, weiß der Mensch immer weniger,<br />

wo ihm der Kopf steht. Früher ging<br />

man in die Kirche, um zu Gott zu beten,<br />

heute rennt man zum nächsten Einkaufszentrum<br />

wie die Kuh zum Futtertrog.<br />

Dies allein Amerika in die Schuhe zu schieben,<br />

ist doch sehr plakativ.<br />

Aber die Amerikaner haben irgendwann<br />

das Patent für die Erzeugung von Bedürfnissen<br />

entwickelt. Erst zeigten sie all die<br />

Verlockungen im Fernsehen, dann boten<br />

sie die Dinge im wahren Leben an.<br />

Und schon war der Mensch süchtig danach.<br />

Die Sowjets konnten im Rüstungswettstreit<br />

mithalten, aber wenn es darum<br />

ging, Marken zu entwickeln und die<br />

Menschen abhängig zu machen, haben<br />

sie versagt.<br />

Sie veranstalten in Küstendorf jeden<br />

Winter ein großes Filmfestival, um die<br />

Kultur des Balkans zu feiern. Wollen Sie<br />

dem kommerziellen Blockbusterkino damit<br />

auch eine Art osteuropäisches Independent-Kino<br />

entgegensetzen?<br />

Ja, warum nicht? Hollywood bekommt<br />

schon viel zu viel Aufmerksamkeit. Bei<br />

uns wird Hollywood im wahrsten Sinne<br />

des Wortes zu Grabe getragen. In diesem<br />

Jahr haben wir feierlich die Filmrollen<br />

von „Stirb Langsam 4“ beerdigt, dem<br />

schlechtesten Film aller Zeiten.<br />

Hollywood und Kusturica – das hat nie zusammengepasst.<br />

1986 war sein Film „Papa<br />

ist auf Dienstreise“ für einen Oscar nominiert,<br />

aber der Regisseur machte schon damals einen<br />

großen Bogen um die sogenannte Traumfabrik.<br />

Anfang der Neunziger drehte Kusturica<br />

seinen bis heute einzigen US-Kinofilm,<br />

„Arizona Dream“, der den American Way of<br />

Life aus der Sicht eines Europäers karikiert<br />

und an den Kinokassen entsprechend floppte.<br />

Seither verbindet ihn zwar eine enge Freundschaft<br />

mit seinem damaligen Hauptdarsteller<br />

Johnny Depp, doch Hollywood erzürnt ihn offenbar<br />

bis heute. Während des Gesprächs jedenfalls<br />

erwacht Kusturica bei diesem Thema<br />

plötzlich zum Leben.<br />

Warum verachten Sie Hollywood?<br />

Foto: Marcel Hartmann/Contour by Getty Images<br />

110 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Emir Kusturica stammt aus<br />

Sarajewo, wo er als „Indianer“<br />

oder „Zigeuner“ beschimpft<br />

wurde. Aber „für mich war<br />

das nie eine Beleidigung“<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 111


| S a l o n<br />

Weil es ein riesiger Zirkus ist. Dieser<br />

ganze Starkult geht mir auf die Nerven.<br />

Ich bin in einem der ärmsten Stadtteile<br />

Sarajewos aufgewachsen, wo man Kinder<br />

wie mich als „Indianer“ oder „Zigeuner“<br />

beschimpft hat. Für mich war das nie<br />

eine Beleidigung, denn ich wusste, dass<br />

alle in der Stadt Angst vor den Zigeunern<br />

hatten. Aber ich war immer Außenseiter,<br />

habe mich deshalb auch später nie als<br />

Star gefühlt. Wenn ich Leute auf dem roten<br />

Teppich sehe, möchte ich noch heute<br />

lieber Teil einer Gang sein, die Steine auf<br />

diese Leute schmeißt, anstatt selbst über<br />

den Teppich laufen zu müssen.<br />

Schauen Sie sich überhaupt noch<br />

Hollywood-Filme an?<br />

Kaum. Das meiste von dem, was Hollywood<br />

produziert, ist dumpf und oberflächlich.<br />

Es ist Müll, nichts als Unterhaltungsware.<br />

Und als solche macht es leider<br />

ebenfalls süchtig, nur leider nach den falschen<br />

Dingen.<br />

Was meinen Sie damit?<br />

Ich meine Geld, <strong>Macht</strong>, Ruhm – in Filmen<br />

wird suggeriert, dass all dies glücklich<br />

macht. Und die Leute glauben das.<br />

Sogar die einfache Putzfrau aus Belgrad<br />

träumt heute davon, ein Star zu sein.<br />

Was ist falsch daran? Ging es im Kino<br />

nicht schon immer darum, Träume zu<br />

wecken?<br />

Wozu, wenn es die falschen Träume sind?<br />

Auch ich bin mit Hollywood aufgewachsen.<br />

Aber auch mit den Filmen von Lubitsch<br />

und Bergman, Männer, die sich<br />

bei aller Fantasie immer auch mit gesellschaftlichen<br />

Realitäten auseinandergesetzt<br />

haben. Vergleicht man die heutigen<br />

Blockbuster mit den Werken von damals,<br />

dann ist Hollywood gestorben. Das Sinnbild<br />

für Hollywood ist heute der Arsch<br />

von Angelina Jolie.<br />

Diese Frau scheint es Ihnen angetan zu<br />

haben. Als Jolie Anfang des Jahres ihr Regiedebüt<br />

„In the Land of Blood and Honey“<br />

in Belgrad vorstellen wollte, drohten Sie<br />

damit, sich nach Südamerika abzusetzen.<br />

Weil ihr Film eine einzige Katastrophe ist.<br />

Er ist das typische Beispiel für den missratenen<br />

Versuch eines Hollywood-Stars,<br />

der nach Europa kommt, um einen Film<br />

über europäische Geschichte zu drehen.<br />

Emir Kusturicas Idyll in den serbischen Bergen: In Küstendorf ist er Alleinherrscher und<br />

widersetzt sich standhaft den ästhetisch-kulturellen Zumutungen der Globalisierung<br />

Ich will nicht schlecht über sie als Person<br />

reden. Wenn ich in Cannes bin, dann<br />

sehe ich, wie Brad Pitt ihr die Tür aufhält.<br />

Sie ist eine hübsche Frau. Aber sie sollte<br />

keine Filme über Themen drehen, von<br />

denen sie keine Ahnung hat. Haben Sie<br />

den Streifen gesehen?<br />

Ja. Er handelt von der Beziehung eines<br />

serbisch-orthodoxen Soldaten und einer<br />

bosnisch-muslimischen Künstlerin, die<br />

während des Bürgerkriegs in Jugoslawien<br />

zwischen die Fronten geraten.<br />

Wobei Jolie die Rollen von Gut und Böse<br />

klar verteilt: Die Bosnier sind die Opfer,<br />

während die Serben Zivilisten erschießen,<br />

Babys aus Fenstern schmeißen und<br />

Frauen vergewaltigen. Das ist wie in einem<br />

Western – hier sind die unschuldigen<br />

Indianer und dort die skrupellosen<br />

Cowboys. Wer einen Film über einen<br />

Bürgerkrieg dreht, der muss doch beide<br />

Seiten beleuchten, dem Drama wenigstens<br />

eine Shakespear’sche Dimension geben<br />

– und so einen Konflikt nicht einfach<br />

in Schwarz-Weiß-Malerei auflösen.<br />

Einen Film zu drehen, ist wie ein Haus<br />

zu bauen: Man muss genau wissen, welchen<br />

Stein man auf den anderen setzt. Jolie<br />

ist keine gute Architektin.<br />

Das allein hätte Sie wohl kaum zu der<br />

Überlegung veranlasst, medienwirksam<br />

die Flucht vor ihr zu ergreifen.<br />

Das Drehbuch dieses Filmes ist nicht nur<br />

unfassbar dumm, sondern auch politisch<br />

gefährlich, weil es vorgibt, sich an historischen<br />

Ereignissen zu orientieren – dabei<br />

aber die Geschichte falsch erzählt. Es beruht<br />

auf einer historischen Lüge.<br />

Leugnen Sie, dass es die systematischen<br />

Vergewaltigungen, Konzentrationslager<br />

und Massenerschießungen durch die<br />

serbische Armee gegeben hat?<br />

Nein. Aber ich verstehe auch nicht, warum<br />

sich alle Welt bis heute nur auf die<br />

Verbrechen der Serben stürzt. Ich hätte<br />

mir gewünscht, dass auch die Verbrechen<br />

bosnischer Politiker und Soldaten gezeigt<br />

werden. So ist der Film nichts weiter als<br />

jene probosnische und imperialistische<br />

Foto: White Writer<br />

112 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Propaganda, die man in Westeuropa<br />

und in den USA seit Jahren zu hören<br />

bekommt.<br />

Den umgekehrten Vorwurf müssen Sie<br />

sich von bosnischer Seite gefallen lassen.<br />

Ihrem mehrfach prämierten Film „Underground“,<br />

der ebenfalls vom Jugoslawienkrieg<br />

handelt, wird bis heute eine zu<br />

serbienfreundliche Haltung unterstellt.<br />

In Bosnien gibt es viele Leute, die Lügen<br />

über mich erzählen.<br />

Auch in anderen Ländern wird Kusturica<br />

Nationalismus vorgeworfen. Er selbst<br />

tut nichts, um diesen Vorwurf zu entkräften.<br />

Als ein kroatischer Journalist ihn 2009<br />

auf sein Verhältnis zu Jugoslawiens ehemaligem<br />

Präsidenten Milošević ansprach, verprügelte<br />

und verjagte er diesen eigenhändig<br />

aus seinem Dorf. Soweit kommt es diesmal<br />

nicht. Kusturica übt sich zunächst sogar in<br />

so demonstrativer Gelassenheit, dass es fast<br />

an Pose grenzt.<br />

Stört es Sie nicht, in den vergangenen<br />

Jahren häufiger aufgrund politischer Haltungen<br />

im Gespräch zu sein als aufgrund<br />

Ihrer Arbeit als Regisseur?<br />

Nicht mehr. Eine Zeit lang habe ich<br />

mich damit abgestrampelt, all diese Lügen<br />

richtig zu stellen. Aber irgendwann<br />

habe ich mir gesagt: Okay, hier bin ich.<br />

Denkt und redet über mich, was ihr<br />

wollt. <strong>Macht</strong> mich und meine Filme<br />

schlecht. Lasst mich euer Monster sein.<br />

Man stellt mich als Nationalisten dar?<br />

Wie soll jemand wie ich, dessen Familie<br />

die unterschiedlichsten Ursprünge hat,<br />

denn Nationalist sein?<br />

Mit Ihrer Band „No Smoking Orchestra“<br />

besingen Sie den mutmaßlichen<br />

serbischen Kriegsverbrecher Radovan<br />

Karadžić. Eine Zeile in dem Song „Wanted<br />

Man“ lautet: „Wer Dabić nicht mag, der<br />

kann uns mal“. Dabić ist bekanntermaßen<br />

der Deckname, unter dem Karadžić bis zu<br />

seiner Verhaftung untergetaucht war.<br />

Wir besingen ihn nicht. Wir nehmen<br />

bei jedem Konzert einen anderen Namen.<br />

Mal ist es Dabić, mal ist es Chávez,<br />

mal Gaddafi. Der Song handelt von Aussätzigen.<br />

Und Karadžić war ohne jeden<br />

Zweifel ein Aussätziger, spätestens seit er<br />

untergetaucht war. Mich haben solche<br />

Typen immer in den Bann gezogen.<br />

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| S a l o n<br />

Sie sind fasziniert von einem Mann, der für<br />

Kriegsverbrechen wie das Massaker von<br />

Srebrenica verantwortlich gemacht wird?<br />

Noch mal: Ich glorifiziere Karadžić überhaupt<br />

nicht. Ich habe ihn auch nie getroffen.<br />

Aber mich fasziniert, wie er es<br />

geschafft hat, sich eine neue Identität zuzulegen,<br />

sogar als Arzt zu arbeiten und<br />

jahrelang wie ein ganz normaler Bürger<br />

unter Leuten zu sein, obwohl ihn die<br />

ganze Welt gesucht hat.<br />

Kusturica zieht genüsslich an seiner Zigarette.<br />

Er scheint sich in der Rolle des Provokateurs<br />

zu gefallen. Manchmal so sehr, dass<br />

man Zweifel haben muss, ob er selbst wirklich<br />

glaubt, was er sagt. Doch auf die Kritik<br />

an seinem neuesten Projekt Andrićgrad angesprochen,<br />

wird Kusturica auf einmal so laut,<br />

dass Hotelgäste am Nebentisch mithören können.<br />

Er meint jedes Wort ernst.<br />

„Mich fasziniert,<br />

wie Karadžić es<br />

geschafft hat, sich<br />

eine neue Identität<br />

zuzulegen und als<br />

Arzt zu arbeiten“<br />

Mehr noch als mit Ihrer Band provozieren<br />

Sie derzeit durch den Bau einer weiteren<br />

Fantasiestadt namens Andrićgrad, die<br />

bald am Ufer der Drina eröffnet wird.<br />

Sie ist benannt nach meinem Idol, dem<br />

berühmten Nobelpreisträger Ivo Andrić,<br />

dessen Buch „Die Brücke über die Drina“<br />

ich dort verfilmen möchte. Im Gegensatz<br />

zu Küstendorf wird diese Stadt deshalb<br />

nicht aus Holz, sondern komplett aus authentischem<br />

Stein bestehen.<br />

Und sie wird nicht auf serbischem, sondern<br />

auf bosnischem Boden erbaut. Eine<br />

historische serbische Stadt ausgerechnet<br />

in Višegrad, jenem Ort, der vor dem Krieg<br />

vor allem von Muslimen bewohnt wurde.<br />

Wollen Sie die Geschichte nachträglich<br />

umschreiben?<br />

Nein, dieser Vorwurf ist Propaganda<br />

bosnischer Politiker. Er stammt von all<br />

den Klageweibern, die sich noch immer<br />

nicht von der Kriegsvergangenheit lösen<br />

können und mal wieder gegen mich<br />

hetzen. Sie sagen, ich würde ein potemkinsches<br />

Dorf errichten, hinter dem<br />

mein serbischer Größenwahn steckt. Ich<br />

baue dort ein Kino, ein Theater, ein Hotel,<br />

ein Einkaufszentrum. Was ist daran<br />

nationalistisch?<br />

Beim Werben für das Projekt haben Sie<br />

die Stadt, genau wie Küstendorf, als ein<br />

ideales Miniserbien beschrieben.<br />

Bei Andrićgrad geht es nicht nur um Serbien.<br />

Beim Bau wurden sämtliche Kulturen<br />

und Stilrichtungen vom Klassizismus<br />

bis heute berücksichtigt.<br />

Die Stadt beherbergt ausschließlich eine<br />

serbisch-orthodoxe Kirche. Eine Moschee<br />

sucht man vergebens.<br />

Weil es an diesem Ort nie eine Moschee<br />

gegeben hat. Genauso wenig wie eine katholische<br />

Kirche.<br />

Während des Krieges wurden im Rahmen<br />

ethnischer Säuberungen Tausende bosnischer<br />

Muslime von diesem Ort vertrieben,<br />

Hunderte Menschen in der Drina ertränkt.<br />

Auch von serbischen Kriegsverbrechen an<br />

diesem Ort erzählt Andrićgrad nichts.<br />

Ich wollte eine Stadt erschaffen, die so<br />

ist, wie Ivo Andrić sie einst beschrieben<br />

hat. Wissen Sie, warum es auf dem ganzen<br />

Balkan bis heute kaum öffentliche<br />

Plätze gibt? Weil die griechische Tradition<br />

der öffentlichen Plätze, an denen sich das<br />

Volk trifft, unter der Herrschaft der Osmanen<br />

abgeschafft wurde. Andrićs Buch<br />

handelt von dem Leben in Višegrad, bevor<br />

die Osmanen kamen. Ich will den<br />

Menschen zeigen, wie diese Zeit war.<br />

Und nicht, was während des Krieges dort<br />

geschehen ist.<br />

Einige Ihrer Geldgeber für das Projekt<br />

leugnen die Kriegsverbrechen der<br />

serbischen Armee bis heute. Haben Sie<br />

nicht das Gefühl, mit den falschen Leuten<br />

Geschäfte zu machen?<br />

Nein, denn Andrićgrad ist ein Ort, der<br />

für etwas Gutes stehen soll. Der Schriftsteller<br />

Andrić dachte weltoffen und völkerverbindend,<br />

und in dieser Tradition<br />

soll auch Andrićgrad stehen. Es soll eine<br />

multikulturelle Stadt sein. Ein Treffpunkt<br />

für alle Menschen dieser Region.<br />

Kusturica wurde als Sohn einer muslimischbosniakischen<br />

Familie in Sarajewo geboren<br />

und dort jahrelang als Held hofiert – bis er<br />

sich vom Milošević-Regime vereinnahmen<br />

ließ und später zum serbisch-orthodoxen<br />

Glauben konvertierte. In seiner Autobiografie<br />

notiert er hierzu: „Mein Vater war ein<br />

Atheist und hat sich immer als ein Serbe beschrieben.<br />

Meine Familie wurde nur zu Muslimen,<br />

weil sie es mussten, um die Herrschaft<br />

der Türken zu überleben. In der Tiefe sind<br />

wir immer Serben geblieben.“<br />

Sie haben die längste Zeit Ihres Lebens<br />

im Vielvölkerstaat Jugoslawien verbracht.<br />

Heute leben die verschiedenen Ethnien<br />

dort weitgehend voneinander getrennt.<br />

Ein brüchiger Frieden?<br />

Man muss sich nichts vormachen: Die<br />

Beziehungen sind noch immer vergiftet.<br />

Die ganze Region bleibt ein Pulverfass.<br />

Die muslimische Elite in Bosnien hat den<br />

Ausgang des Krieges nie akzeptiert. Wenn<br />

wir eines Tages wieder einen Krieg erleben,<br />

dann von dieser Seite.<br />

Als prominenter Serbe gießen Sie damit<br />

zusätzlich Öl ins Feuer.<br />

Ich sage nur, was ich denke. Und ich<br />

denke, dass viele <strong>Macht</strong>haber in Bosnien<br />

nie einverstanden waren mit der politischen<br />

Lösung, die nach dem Krieg gefunden<br />

wurde. Das Land ist wirtschaftlich<br />

am Boden, die Unterstützung westeuropäischer<br />

Staaten schwindet. Selbstverständlich<br />

wird die Zivilbevölkerung nie<br />

wieder Krieg wollen, und hoffentlich<br />

wird es auch nie dazu kommen. Aber ich<br />

glaube, dass einige <strong>Macht</strong>haber durchaus<br />

ein Interesse daran hätten.<br />

Sie haben einmal angekündigt, nie wieder<br />

in Ihre Heimatstadt Sarajewo zurückzukehren.<br />

Bleiben Sie dabei?<br />

Als vor 20 Jahren die Belagerung Sarajewos<br />

begann, war ich in Paris, um meinen<br />

Film „Arizona Dream“ zu drehen. Wäre<br />

ich zu dieser Zeit zurückgekehrt, hätte<br />

man mich vermutlich erschossen, weil<br />

ich mich weder zur einen noch zur anderen<br />

Seite bekennen wollte. Seitdem herrschen<br />

in meinem Heimatort vor allem<br />

Lügen über meine Person. Warum soll<br />

ich noch einen Fuß in eine Stadt setzen,<br />

wo man mich permanent dämonisiert?<br />

Ich habe eine neue Heimat gefunden. Da<br />

will ich bleiben.<br />

Das Gespräch führte Claas Relotius<br />

114 <strong>Cicero</strong> 12.2012


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| S a l o n | k u n s t m a r k t<br />

Die <strong>Macht</strong><br />

der Sammler<br />

Mit viel Geld, hoher Sachkenntnis und noch größerem Selbstbewusstsein rollen<br />

einige Privatleute den Kunstmarkt von hinten auf. Sie diktieren die Preise, bestimmen<br />

die Trends – und machen inzwischen sogar den Museen Konkurrenz<br />

von malte herwig<br />

116 <strong>Cicero</strong> 12.2012


„Wir kaufen die<br />

Sachen frisch und<br />

feucht“: Christian<br />

Boros und seine<br />

Frau Karen in<br />

ihrem Berliner<br />

Kunstbunker<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 117


| S a l o n | k u n s t m a r k t<br />

„Das Schöne, Gute und Wahre in der Kunst ist mir egal“: Der Hamburger Unternehmer<br />

Harald Falckenberg ist das Paradebeispiel des selbstbewussten Sammlers<br />

Kathrin Weishaupt-Theopold ist<br />

in Ulm, die als Public-Private-<br />

A<br />

us dem alten Reichsbahnbunker<br />

an der Reinhardtstraße dringen<br />

seltsame Geräusche. Es brummt,<br />

es tickt, es knallt. Die Tür ist angelehnt.<br />

Was ist da los?<br />

So richtig laut war es hier zuletzt in<br />

den neunziger Jahren, als sich im Bunker<br />

noch die Berliner Techno-Szene zu Houseund<br />

Breakbeat-Partys traf. Davor diente<br />

das Gebäude den Alliierten als Gefängnis<br />

und der DDR-Regierung als Bananenspeicher.<br />

2003 kauften der Wuppertaler Werbefachmann<br />

Christian Boros und seine<br />

Frau Karen das Ungetüm. Sie ließen sich<br />

ein Penthouse aufs Dach stellen und die<br />

Räume darunter umbauen, um dort fortan<br />

auf 3000 Quadratmetern in 80 Räumen<br />

ihre Sammlung zeitgenössischer Kunst zu<br />

präsentieren.<br />

Jetzt hört man hier Leuchtstoffröhren<br />

summen, deren Sound die Künstlern<br />

Alicja Kwade mit Mikrofonen und Lautsprechern<br />

verstärkt hat. Auch abgebrühten<br />

Ravern dürfte in Klara Lidéns „Teenage<br />

Room“ noch ein Schauer über den Rücken<br />

laufen, wenn nach dem Schließen der Tür<br />

eine Axt herunterknallt. In einem anderen<br />

Raum schleift ein Autorad geräuschvoll<br />

an der Bunkerwand entlang. Titel des<br />

Werks von Michael Sailstorfer: „Zeit ist<br />

keine Autobahn“.<br />

Kunst kann ganz schön laut sein.<br />

Ein Stockwerk höher hämmert eine<br />

Schlagbohrmaschine. Doch das ist reine<br />

Handwerkskunst. Zwei Arbeiter installieren<br />

Sailstorfers „Wolken“: ein Knäuel aus<br />

riesenhaften Autoschläuchen, die von der<br />

niedrigen Decke baumeln. Keine leichte<br />

Aufgabe angesichts der meterdicken Wände<br />

des 1943 erbauten Hochbunkers, einer architektonischen<br />

Kreuzung aus Nazibeton<br />

und Neorenaissance. „Mit dem richtigen<br />

Werkzeug ist das kein Problem“, sagt Hausmeister<br />

Kasimir und wiegt seine Bohrmaschine<br />

liebevoll in den Händen.<br />

Nach vier Jahren, 7500 Führungen und<br />

120 000 Besuchern wird nun die neue Ausstellung<br />

eröffnet, und mit dem Bohren dicker<br />

Bunkerwände war es nicht getan. Um<br />

den sechs Meter hohen Baum des chinesischen<br />

Künstlers Ai Weiwei ins Gebäude<br />

hieven zu können, mussten sogar die Balkonbrüstungen<br />

abgeschraubt werden.<br />

Wer tut so etwas und warum?<br />

Christian Boros erwartet von der Kunst<br />

Aufschluss über die Gegenwart: „Wenn ich<br />

heute durch Galerien gehe, dann ist das für<br />

Fotos: Oliver Mark (Seiten 116 bis 117)<br />

118 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Direktorin der Kunsthalle Weishaupt<br />

Partnership betrieben wird<br />

Frieder Burda, dessen Sammlung in dem nach ihm benannten Museum in Baden‐Baden<br />

gezeigt wird, vor Sigmar Polkes Bild „Amerikanisch-Mexikanische Grenze“<br />

Fotos: Heike Ollertz/Agentur Focus/Jonathan Meese: Balthys Zimmer/<br />

Max Bill: Werke/Sigmar Polke: Amerikanisch-Mexikanische/ © The Estate of<br />

Sigmar Polke, Cologne/© VG Bild-Kunst, Bonn 2012, (Seiten 118 bis 119)<br />

mich, als ob ich die Tagesthemen sehe.“ Boros<br />

war einer der Ersten, die sich für den<br />

heute längst etablierten Olafur Eliasson interessierten.<br />

Zeitgenössische Kunst, glaubt<br />

der 47-Jährige, sei „ein tool, um die Gegenwart<br />

zu verstehen“. Was zum Zeitpunkt<br />

des Kaufes älter als ein Jahr ist, das ist für<br />

ihn und seine Frau Schnee von gestern.<br />

„Wir kaufen die Sachen frisch und feucht,<br />

schließlich sind wir keine Briefmarkensammler.“<br />

Dafür wird er in Kunstkreisen<br />

schon mal als „Trüffelschwein“ bezeichnet.<br />

Die Kunst soll ihn zum Nachdenken und<br />

Hinterfragen anregen – ein Ziel, das im Einklang<br />

mit den kreativen Herausforderungen<br />

von Boros’ Arbeit als Werber steht: „Ich<br />

sammle Kunst, die ich nicht verstehe.“<br />

Kunstsammler gab es schon immer.<br />

Aber noch nie stellten so viele ihre Schätze<br />

in eigenen, privat finanzierten Museumsbauten<br />

aus wie heute. Der Boros-Bunker<br />

ist vielleicht der verrückteste, auf jeden<br />

Fall aber einer der spektakulärsten privaten<br />

Kunsttempel, wie sie in den vergangenen<br />

Jahren auch in der Bundesrepublik aus<br />

dem Boden geschossen sind.<br />

„Noch nie zuvor wurden so viele Ausstellungshäuser<br />

von Privatpersonen gegründet<br />

wie heute“, konstatiert Gerda Ridler.<br />

Die Kuratorin hat gerade ein wegweisendes<br />

Buch veröffentlicht, in dem sie am Beispiel<br />

von zehn renommierten Sammlungen<br />

die Erfolgsrezepte privater Kunstinitiativen<br />

untersucht.<br />

In der Öffentlichkeit genießen Sammler<br />

geradezu mythischen Status. Wer sein<br />

Geld nicht für vulgäre Luxusjachten oder<br />

Sportwagen ausgibt, sondern für Kunst,<br />

beweist schon allein durch diese Wahl<br />

kultivierte Kennerschaft. Das Ansehen des<br />

Sammlers zehre nicht allein von dessen Besitz,<br />

schreibt der Kunstwissenschaftler Walter<br />

Grasskamp, sondern auch von seiner<br />

„Konsumkompetenz“.<br />

„Als Sammler werde ich behandelt wie<br />

ein Professor“, sagt der Immobilienmagnat<br />

Hans Grothe, „nach dem Motto: Das ist ein<br />

kultureller Mensch, nicht ein Kaufmann!“<br />

Geld ist quantifizierbar, Kunstwerke<br />

hingegen sind etwas Besonderes – der exklusive<br />

Charakter einer Kunstsammlung<br />

vermittelt die Authentizität der Sammlerpersönlichkeit.<br />

Wer seine Werke dann<br />

öffentlich ausstellt, mag noch so bescheiden<br />

sein – eine Portion Exhibitionismus<br />

gehört im wahrsten Wortsinne dazu.<br />

„Wenn ein Sammler sagt, er sei nicht eitel“,<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 119


| S a l o n | k u n s t m a r k t<br />

Bettina Würth und ihr Vater Reinhold in der Johanniterhalle,<br />

einer Dependance der „Kunsthalle Würth“ in Schwäbisch-Hall<br />

„Wenn ein Sammler sagt, er<br />

Julia Stoschek, eine der<br />

findet Julia Stoschek, eine der jüngsten<br />

deutschen Sammlerinnen, „dann lügt er<br />

wahrscheinlich.“<br />

Der Berliner Museumsdirektor Wilhelm<br />

Bode wusste sich die Sehnsucht reich<br />

gewordener Bürger nach gesellschaftlichem<br />

Aufstieg schon früh zunutzezumachen.<br />

1883 organisiert<br />

Bode anlässlich der Silberhochzeit<br />

des Kronprinzenpaars<br />

in Berlin eine Ausstellung<br />

mit 300 Kunstwerken<br />

aus dem Besitz von 50 Privatsammlern.<br />

Bodes Strategie<br />

war klar: Die Sammler hatten<br />

das Kapital, die Kompetenz<br />

lag beim Museum. Nun<br />

musste man die beiden nur<br />

noch zusammenführen. So<br />

beriet der Museumsdirektor den Unternehmer<br />

James Simon erst beim Ankauf seiner<br />

Kunstschätze, um ihn dann zu überreden,<br />

seine komplette Sammlung den Staatlichen<br />

Museen von Berlin zu schenken. Simon<br />

75 Prozent der<br />

Objekte in<br />

kommunalen<br />

Museen sind<br />

Schenkungen<br />

oder Dauerleihgaben<br />

wurde zum größten Mäzen, den die Berliner<br />

Museen je hatten.<br />

Bode war dabei durchaus bereit, den<br />

edlen Spendern entgegenzukommen. Er<br />

präsentierte die Sammlung meist nicht<br />

in neuer Hängung, sondern so, wie sie<br />

im privaten Umfeld des jeweiligen<br />

Stifters aussah. Auf<br />

diese Weise wurde dessen<br />

Privatgeschmack zum Maß<br />

aller Dinge geadelt und der<br />

Stifter zum Repräsentanten<br />

einer kulturellen Elite. Ein<br />

Zugeständnis, das schon<br />

damals bei Kritikern nicht<br />

immer auf Gegenliebe stieß,<br />

die von Museen eine größere<br />

Eigenständigkeit erwarteten.<br />

Einer Statistik des Deutschen<br />

Städtetags zufolge sind mindestens<br />

75 Prozent der Objekte in kommunalen<br />

Museen Schenkungen, Überlassungen,<br />

Stiftungen oder Dauerleihgaben. Allein<br />

im Jahr 2010 fanden 370 000 Besucher<br />

den Weg in private Kunstmuseen – mit<br />

steigender Tendenz. Auf dem Markt zeitgenössischer<br />

Kunst laufen private Sammler<br />

den öffentlichen Museen bald den Rang<br />

ab. 100 Jahre nach der ersten Blütezeit der<br />

Berliner Museen erlebt der Stiftergeist in<br />

ganz Deutschland eine Renaissance. Diesmal<br />

allerdings profitieren die öffentlichen<br />

Museen weniger davon, denn immer mehr<br />

Sammler suchen ihr Glück auf eigene Faust.<br />

Seit 2000 sind allein im deutschsprachigen<br />

Raum knapp 40 Institutionen von<br />

internationalem Renommee entstanden.<br />

Sie konkurrieren auf Augenhöhe mit den<br />

Privatmuseen von Charles Saatchi in London,<br />

Viktor Pinchuk in Kiew oder François<br />

Pinault in Venedig. Für Robert Fleck,<br />

den Ausstellungsmacher und Intendanten<br />

der Bundeskunsthalle Bonn, ist Deutschland<br />

gar eine „Großmacht“ auf dem Weltmarkt<br />

zeitgenössischer Kunstsammlungen<br />

und gilt nach den USA als das Land mit<br />

den einflussreichsten und kaufkräftigsten<br />

Sammlern.<br />

Foto: Oliver Mark<br />

120 <strong>Cicero</strong> 12.2012


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Foto: Oliver Mark/Julia Stoschek Collection, Düsseldorf/<br />

©Paul Pfeiffer/Courtesy of the artist and the project, New York<br />

sei nicht eitel, dann lügt er wahrscheinlich“:<br />

jüngsten deutschen Sammlerinnen<br />

Sie besitzen Baumärkte, Werbeagenturen,<br />

Medienhäuser, kommen aus der Autozulieferungsindustrie,<br />

Medizintechnik,<br />

Biotechnologie oder haben geerbt. So vielfältig<br />

wie die Persönlichkeiten der Stifter<br />

sind auch die Rechtsformen, die Sammler<br />

ihren Kunstunternehmungen geben. Ob<br />

sie als Verein (Julia Stoschek), gemeinnützige<br />

GmbH (Boros), Aktiengesellschaft<br />

(Daros Latinamerica AG), Privatsammlung<br />

(Rolf und Erika Hoffmann, Sammlung<br />

FER Collection) oder gemeinnützige<br />

Stiftung (Museum Frieder Burda, Museum<br />

Essl) auftreten, eines haben alle Privatinstitutionen<br />

gemeinsam: Sie machen den etablierten<br />

öffentlichen Museen zunehmend<br />

Konkurrenz.<br />

Ein Grund dafür liegt in der Finanzkraft<br />

privater Sammler. Während die Ankaufsetats<br />

öffentlicher Museen immer<br />

weiter sinken, können wohlhabende Privatsammler<br />

nach eigenem Gutdünken Geld<br />

ausgeben. Der österreichische Unternehmer<br />

Karlheinz Essl eröffnete 1999 in der<br />

Nähe von Wien sein Privatmuseum, in<br />

dem unter anderem Werke von Hermann<br />

Nitsch, Georg Baselitz, Markus Oehlen,<br />

Gottfried Helnwein und Gerhard Richter<br />

gezeigt werden. Als Besitzer einer erfolgreichen<br />

Baumarktkette kann Essl beim<br />

Kunstkauf aus dem Vollen schöpfen und<br />

schätzt, „dass unser Ankaufsetat so hoch<br />

ist wie der Etat aller österreichischen Museen<br />

zusammen“.<br />

Ein anderer Grund für den Erfolg privater<br />

Kunstsammler ist ihre Unabhängigkeit.<br />

Sie brauchen keine Gremien, keine<br />

Besserwisser, keine Zeitverschwender:<br />

Sammler sind ihre eigenen Chefs und können<br />

machen, was sie wollen, wann sie wollen.<br />

Kurz: Sie können sich einen eigenen<br />

Geschmack leisten.<br />

Margit Biedermann erwarb mit 18 Jahren<br />

ihr erstes Bild im Tausch gegen eine<br />

Armbanduhr und eine Schachtel Zigaretten.<br />

Seitdem hat sie eine beachtliche<br />

Sammlung sowohl mit Werken abstrakter<br />

Kunst als auch der „Neuen Wilden“ zusammengetragen.<br />

Im 2009 eröffneten Museum<br />

Biedermann in Donaueschingen stellt die<br />

Sammlerin nicht nur etablierte Künstler<br />

wie Paolo Serra oder David Nash aus,<br />

sondern auch die Werke junger Künstler<br />

wie Andreas Kocks, Sebastian Kuhn und<br />

May Cornet.<br />

Der Mainstream interessiere sie dabei<br />

gar nicht, bekennt die Sammlerin freimütig<br />

in einem Interview: „Ich brauche kein<br />

Name-Dropping und muss keinen Gerhard<br />

Richter in meinem Museum hängen<br />

haben. Die Leute sollen bei uns Kunst entdecken,<br />

die sie in anderen Museen nicht<br />

finden können.“<br />

Auch für Peter W. Klein, der zusammen<br />

mit seiner Frau Alison das Museum<br />

Kunstwerk in Eberdingen-Nußdorf gegründet<br />

hat, richtet sich die Kaufentscheidung<br />

allein nach persönlichen Vorlieben:<br />

„Wir kaufen nur, was uns gefällt. Eine Arbeit<br />

muss uns unmittelbar berühren; das<br />

ist uns wichtiger als ein berühmter Name<br />

oder aktuelle Trends auf dem Kunstmarkt.“<br />

Nirgendwo sind Sammler dabei so<br />

frei in ihren Entscheidungen wie auf dem<br />

Markt für zeitgenössische Kunst, die noch<br />

gar nicht legitimiert ist. Nirgendwo sind<br />

Abenteuer, Entdeckungslust, Risiko so<br />

groß. Was heute entsteht, darüber muss die<br />

Geschichte erst noch ihr Urteil fällen. Einen<br />

Rembrandt kann man nur kaufen, einen<br />

jungen Künstler kann man entdecken.<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 121<br />

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„Thielemann öffnet dem Leser die<br />

Tür zum Bayreuther Festspielgraben,<br />

stellt ihm Wolfgang Wagner<br />

vor … Tiefe Einblicke.“<br />

Lucas Wiegelmann,<br />

Welt am Sonntag<br />

„Auch für Kenner keineswegs langweilig.“<br />

Kathrin Zeilmann, dpa<br />

416 S., 14 Abb., 2 Ktn. Ln. f 24,95<br />

ISBN 978-3-406-63969-2<br />

„Geniale Mischung aus Biografie<br />

über Montaigne, Auszügen aus<br />

den Essays des Philosophen und<br />

seinen Empfehlungen, wie man<br />

sein Leben am besten führt.“<br />

Westdeutsche Allgemeine Zeitung<br />

C.H.BECK<br />

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| S a l o n | k u n s t m a r k t<br />

„Als Sammler werde ich behandelt wie ein Professor, nach<br />

dem Motto: Das ist ein kultureller Mensch, nicht ein<br />

Kaufmann“: der Immobilienmagnat Hans Grothe<br />

Ingvild Goetz eröffnete 1993 in München als eine der<br />

Ersten einen privaten Museumsbau. Ihre Sammlung<br />

umfasst rund 5000 Werke zeitgenössischer Kunst<br />

Wer früh in unbekannte Künstler investiert,<br />

beeinflusst mitunter sogar den Gang der<br />

Kunstgeschichte.<br />

Dass er in den siebziger Jahren als einer<br />

der ersten das Talent von Jungkünstlern<br />

wie Joseph Kosuth erkannte, brachte dem<br />

Kunstsammler und Unternehmer Friedrich<br />

Erwin Rentschler den Spitznamen<br />

„Kolumbus der Kunst“ ein. Für Rentschler<br />

bietet gerade die Zeitgenossenschaft einen<br />

besonderen Erkenntnisreiz, wie er im Gespräch<br />

mit Gerda Ridler erklärt: „Das ist<br />

es, was ich auch in der heutigen Kunst suche.<br />

Ich will unsere Zeit kennenlernen, will<br />

wissen, was los ist. Deshalb habe ich mich<br />

schon früh nach vorne gewagt.“<br />

Weiterkommen, Neuland betreten,<br />

Grenzen ausloten. Heute suchen Sammler<br />

nicht allein soziales Prestige, sie schürfen<br />

auch nach Selbsterkenntnis. Dekoratives<br />

ist verpönt, Provokation ist gefragt – und<br />

heute geradezu eine Voraussetzung, um in<br />

gut situierten, bürgerlichen Sammlerkreisen<br />

anerkannt zu werden.<br />

Beispiel Baden-Württemberg. Keine<br />

Region hat mehr Privatmuseen als das<br />

Epizentrum mittelständischen Arbeitsfleißes<br />

und braver Bodenständigkeit. Dass<br />

sie auch Kunst können, beweisen die Unternehmer<br />

im Südwesten mit zahlreichen<br />

eindrucksvollen Museumsbauten: Burda in<br />

Baden-Baden, Würth in Künzelsau, Rentschler<br />

und Weishaupt in Ulm, Bürkle in<br />

Freiburg, Grässlin in St. Georgen, Ritter in<br />

Waldenbuch.<br />

Die 2007 eingeweihte Kunsthalle<br />

Weishaupt wird als Public-Private-Partnership<br />

betrieben. Die Stadt Ulm überließ<br />

Weishaupt das Grundstück für<br />

66 Jahre in Erbpacht, bezahlt das Museumspersonal<br />

und kassiert das Eintrittsgeld.<br />

Der Sammler suchte sich den Architekten<br />

Wolfram Wöhr aus und finanzierte<br />

den Bau des so kühnen wie kühlen Kastens<br />

aus Beton und Glas, der mit wechselnden<br />

Ausstellungen bespielt wird. Dabei<br />

verkneifen sich der Heiztechnik-Industrielle<br />

Weishaupt und seine Tochter, die als<br />

Direktorin der Kunsthalle fungiert, auch<br />

manch hintersinnige Geste nicht, wie die<br />

aktuelle Ausstellung beweist. In der wie<br />

ein riesiges Schaufenster auf den Platz hinausgehenden<br />

Glasfassade spiegeln sich<br />

die Türme des Münsters. Dahinter hängt<br />

Frank Stellas Skulptur „Crotch“ – eine<br />

fünf mal zweieinhalb Meter große Vagina<br />

aus Aluminium. Ein Schelm, wer Böses<br />

dabei denkt.<br />

Auch im Museum Ritter in Waldenbuch<br />

geht es nicht immer jugendfrei zu, obwohl<br />

schon durch die räumliche Nähe zur<br />

gleichnamigen Schokoladenfabrik Unmengen<br />

junger und jüngster Besucher angezogen<br />

werden. Aus Anlass des hundertjährigen<br />

Jubiläums der Firma Ritter Sport war<br />

gerade die Ausstellung „Kunst mit Schokolade“<br />

zu sehen. Auf die Frage, ob der niedliche<br />

„Chocolate Santa with Butt Plug“ von<br />

Paul McCarthy einen Weihnachtsbaum in<br />

der Hand halte, antwortete die Führerin,<br />

das sei kein Weihnachtsbaum, das gehe in<br />

Richtung Sexspielzeug.<br />

Fotos: Winfried Rothermel/DDP Images/DAPD, Thomas Schmidt<br />

122 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Sammlern gehe es immer auch darum,<br />

erkannte schon der französische Philosoph<br />

Jean Baudrillard, durch die eigenwillige<br />

Zusammenstellung von Objekten ihre eigene<br />

Einzigartigkeit zu unterstreichen. „Im<br />

Endergebnis sammelt man immer nur sich<br />

selbst“, folgerte Baudrillard.<br />

So entstehen im Laufe der Zeit ganz<br />

unterschiedliche Kollektionen, die nicht<br />

dem kuratorischen Expertenkonsens öffentlicher<br />

Museen verpflichtet sind, sondern<br />

einzig und allein den Vorlieben ihrer<br />

Sammler. „Während das staatlich subventionierte<br />

Museum der allgemeinen und objektiven<br />

Wissensvermittlung dient“, stellt<br />

Gerda Ridler fest, „leistet sich der private<br />

Kunstsammler den Luxus von Subjektivität<br />

und Individualität.“ Die Museumsexpertin<br />

diagnostiziert gar eine neue „Emanzipation<br />

der Sammler“. Diese seien viel selbstbewusster<br />

geworden und hätten sich durch<br />

ihren Kenntnisreichtum von der Abhängigkeit<br />

öffentlicher Museen gelöst: „Wurde der<br />

Sammler früher als Amateur gesehen, so<br />

gilt er heute als Connaisseur, der seinem<br />

eigenen Urteil vertraut.“<br />

Heute kaufen Sammler nicht nur, manche<br />

kuratieren auch gleich selbst. Wer sich<br />

in der Szene nach denen umhört, die nicht<br />

nur wegen des Geldbeutels, sondern ihres<br />

Kunstverstands wegen geschätzt werden,<br />

der stößt schnell auf den Namen Ingvild<br />

Goetz. Von ihr sprechen<br />

alle mit Hochachtung. Ihre<br />

rund 5000 Werke umfassende<br />

Sammlung zeitgenössischer<br />

Kunst reicht von der Arte Povera<br />

der sechziger Jahre bis in<br />

die unmittelbare Gegenwart.<br />

1993 eröffnete Ingvild<br />

Goetz in München als eine<br />

der Ersten einen privaten<br />

Museumsbau, in dem sie<br />

ihre Sammlung der Öffentlichkeit<br />

präsentieren konnte.<br />

Auch bei den Architekten, die sie mit dem<br />

Bau ihres Museums beauftragte, bewies die<br />

Sammlerin Pioniergeist, indem sie auf ein<br />

damals kaum bekanntes, aber inzwischen<br />

weltberühmtes Team setzte. Die Architekten<br />

Jacques Herzog und Pierre de Meuron<br />

schufen ihr erstes Museum als einen<br />

geschlossenen, oberflächenbündigen Körper<br />

aus Birkenholzplatten, unbehandeltem<br />

Aluminium und mattiertem opalinweißen<br />

Glas. Durch eine Glastür gelangt man in<br />

das Büro, das zugleich als Empfangsraum<br />

Das Selbstbewusstsein<br />

der Sammler<br />

verkleinert<br />

die Kanonkompetenz<br />

der Museen<br />

dient. Die Sammlerin ist gerade auf der<br />

Berlin Art Week. Das Telefon klingelt, es<br />

ist Frau Goetz, die sich nach der Adresse einer<br />

Berliner Galerie erkundigt. Sie ist wieder<br />

auf der Jagd.<br />

Eine Auswahl ihrer Funde präsentiert<br />

Goetz in ihrem Museum, das einem auf<br />

den ersten Blick erstaunlich klein vorkommt:<br />

Der Künstler Paweł Althamer belegt<br />

drei Räume im ersten Stock und drei<br />

im Untergeschoss, die Werke von Ulrike<br />

Ottinger findet man in einem unterirdischen<br />

Anbau und im Garten. Die Konzentration<br />

auf zwei Künstler und wenige Objekte<br />

stellt jedoch eine Intimität zwischen<br />

Betrachter und Kunstwerk her, die in überfüllten<br />

Museen gar nicht erst aufkommt.<br />

Die Werke kommen ohne prätentiöse Kuratorenbeipackzettel<br />

aus, stattdessen führen<br />

Kunststudenten durch die kleine Ausstellung.<br />

Da können die Besucher genau das<br />

tun, was auch die Sammlerin tut: sich ihr<br />

eigenes Urteil über die Kunst bilden.<br />

Das gestiegene Selbstbewusstsein der<br />

Sammler bedeutet aber auch: die „Kanon-<br />

Kompetenz“ (Ridler) für zeitgenössische<br />

Kunst geht langsam von den Museumskuratoren<br />

auf die Sammler über. Mit ihren<br />

Ankaufstrategien üben sie inzwischen mehr<br />

Einfluss auf die zeitgenössische Kunstproduktion<br />

aus als die öffentlichen Museen.<br />

Zeit, sich so einen Sammler-Kurator mal<br />

aus der Nähe anzuschauen.<br />

An einem Septemberabend<br />

sitzt der Hamburger<br />

Unternehmer Harald Falckenberg<br />

in kleiner Runde<br />

im Steakhouse und macht<br />

seinem Herzen Luft, während<br />

er ein Rumpsteak verschlingt.<br />

„International ist<br />

nur noch Kitsch angesagt.<br />

Die Preise sind verrückt geworden.<br />

Da tauchen Leute<br />

aus Kasachstan auf und<br />

zahlen einfach das Siebenfache.“ <strong>Stille</strong> am<br />

Tisch. Dann erzählt Falckenberg einen<br />

Witz aus New York: Zwei Hedgefonds-<br />

Manager stehen auf einer Party vor einem<br />

Bild. Fragt der eine. „Von wem ist die Arbeit?“<br />

Der andere: „Von Gagosian.“<br />

Der Witz illustriert ganz gut, was Falckenberg<br />

am internationalen Kunstmarkt<br />

stört. Galerien wie Gagosian nehmen unbedarften,<br />

aber reichen Kunden nicht nur<br />

das Geld ab, sondern auch die Entscheidung,<br />

was als wichtige Kunst gelten soll.<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 123<br />

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Der Name der Galerie wird zur eigenen<br />

Kunstmarke, wird wichtiger als der Name<br />

der Künstler.<br />

Wer Kunst nur auf Zuruf des Galeristen<br />

und nicht nach eigenem Urteil kauft,<br />

der hat irgendwann die gleiche, gut sortierte<br />

Sammlung von internationalen Künstlernamen<br />

wie alle anderen. Superkunst von der<br />

Stange. Wer eine repräsentative Kollektion<br />

sein Eigen nennen will, braucht dann nur<br />

noch Scheckbuch und Checkliste: Richter<br />

– abgehakt! Kiefer – hab ich! Rauch –<br />

gebongt! Die Sammlung als Ausdruck der<br />

eigenen Persönlichkeit? Fehlanzeige.<br />

Auch im Kellergewölbe der Phoenix-<br />

Werke in Hamburg-Harburg findet man<br />

den einen oder anderen Warhol oder Kippenberger.<br />

Man kann Werke der Richters<br />

(Daniel und Gerhard) aus langen Magazinschüben<br />

ziehen, Dieter<br />

Roth und die Oehlen-Brüder.<br />

Auch ein großes Ölgemälde<br />

von Jonathan Meese steht<br />

da, das offensichtlich frisch<br />

von der Staffelei weg gekauft<br />

wurde: Am unteren Rand<br />

steckt noch eine Pappe mit<br />

festgetrockneten Farbrinnen.<br />

Harald Falckenberg hat<br />

innerhalb von knapp zwei<br />

Jahrzehnten eine der angesehensten<br />

Sammlungen zeitgenössischer<br />

Kunst aufgebaut. Platz genug<br />

hat er in der ehemaligen Fabrikhalle mit<br />

über 6000 Quadratmetern Ausstellungsfläche<br />

auf fünf Stockwerken, die durch<br />

eine grandiose Kaskadentreppe miteinander<br />

verbunden sind. Aber wer an diesem<br />

Sonntag im September die großen Namen<br />

sehen will, der muss im Keller nach ihnen<br />

suchen. Denn Harald Falckenberg ist<br />

längst mit anderem beschäftigt.<br />

„Wo ist Fuck the police?“, ruft der bullige<br />

Unternehmer im zweiten Stock. Neben<br />

ihm steht, oben schwarz und unten<br />

weiße Stiefel, die Künstlerin Monica Bonvicini.<br />

In einer Woche eröffnet hier die<br />

Ausstellung „Desire Desiese Devise“ mit<br />

Zeichnungen der Berliner Künstlerin aus<br />

den Jahren 1986 bis 2012. Ein halbes Dutzend<br />

Handwerker schleppen Rahmen, nageln,<br />

schrauben und richten. Mehr als<br />

400 Werke müssen gehängt werden, und<br />

Falckenberg hat ein Auge fürs Detail. „Eine<br />

gut gehängte Ausstellung ist wie ein guter<br />

Golfplatz“, verrät der Sammler, „man erinnert<br />

sich an jede Bahn.“<br />

Grund für<br />

das Zerwürfnis<br />

war der<br />

Wunsch der<br />

Sammlerin,<br />

selbst zu<br />

kuratieren<br />

Seinen Reichtum verdankt der 69‐Jährige<br />

dem Geschäft mit Benzineinfüllstutzen.<br />

Noch heute gehören seine Tage dem<br />

Unternehmen. Die Nächte aber verbringt<br />

er am liebsten im „Maschinenraum der<br />

Kunst“, wie eine seiner Essaysammlungen<br />

heißt. Und die folgt anderen Gesetzen als<br />

das Geschäftsleben. „Political correctness<br />

habe ich im Büro, das ist das allerletzte,<br />

was mich in meiner Freizeit interessiert“,<br />

sagt Falckenberg. Der promovierte Jurist<br />

ist ein so polemischer wie glänzender<br />

Stilist. Sein Motto: „Das Schöne, Gute<br />

und Wahre in der Kunst ist mir egal. Den<br />

Künstlern geht es ja um die Auseinandersetzung<br />

mit der Gesellschaft. Und die<br />

kann hässlich ausfallen.“<br />

Der Hamburger Unternehmer ist das<br />

Paradebeispiel des selbstbewussten Sammlers,<br />

der es sich leisten kann,<br />

eine eigene Position im<br />

Kunstmarkt einzunehmen.<br />

Vergangenes Jahr ging er<br />

eine Kooperation mit den<br />

Hamburger Deichtorhallen<br />

ein, die nun für Betrieb und<br />

Marketing der Sammlung<br />

zuständig sind. Dabei wollte<br />

Falckenberg seine Sammlung<br />

eigentlich komplett in<br />

einem öffentlichen Museum<br />

unterbringen. Doch die Verhandlungen<br />

mit der Hamburger Kunsthalle<br />

scheiterten nach langem Hin und Her.<br />

Konflikte zwischen Sammlern und<br />

öffentlichen Institutionen sind einer der<br />

Hauptgründe für den Boom privater Museen.<br />

2004 zog der Sammler und Galerist<br />

Paul Maenz nach nur fünf Jahren seine<br />

Leihgaben aus dem Neuen Museum in<br />

Weimar ab und warf der Klassik Stiftung<br />

Weimar vor, seine Sammlung stiefmütterlich<br />

behandelt zu haben. 2007 kam es<br />

in Bonn zum Zerwürfnis zwischen dem<br />

Kunstmuseum und der Sammlerin Sylvia<br />

Ströher, die zwei Jahre zuvor für 50 Millionen<br />

Euro die Sammlung Grothe gekauft<br />

und dem Museum zur Verfügung gestellt<br />

hatte. Grund für die baldige Trennung war<br />

der Wunsch der Sammlerin, selbst als Kuratorin<br />

zu wirken, was das Museum jedoch<br />

strikt ablehnte.<br />

Wer sein eigenes Haus und sein eigenes<br />

Budget hat, der kann schalten und walten,<br />

wie er will. Museen dagegen gelten Sammlern<br />

oft als „pragmatische Verwaltungsapparate<br />

der Kunst“, glaubt der Intendant<br />

Robert Fleck. Das Misstrauen beruht auf<br />

Gegenseitigkeit, wenn die Museen fürchten,<br />

von Sammlern nur zur Wertsteigerung<br />

der eigenen Kollektion missbraucht<br />

zu werden. „Für einzelne Sammler ist das<br />

Museum sogar lediglich eine ‚Durchgangsstation‘<br />

geworden“, urteilt die Museumsexpertin<br />

Ridler, „in der private Kunstwerke<br />

aufbewahrt, ausgestellt, wissenschaftlich<br />

bearbeitet und auch im Wert gesteigert<br />

werden.“ Doch auch die Verwalter öffentlicher<br />

Museen sind nicht immer selbstlos.<br />

Sie setzen aufgrund sinkender Budgets auf<br />

spektakuläre Publikumsmagneten und lassen<br />

sich dafür auch von Sammlern hofieren.<br />

In der Szene ist von gestandenen Museumsdirektoren<br />

die Rede, die über Schenkungen<br />

nur in Pariser Drei-Sterne-Restaurants diskutieren<br />

wollten – auf Kosten des zukünftigen<br />

Spenders, versteht sich.<br />

Fünf von zehn Sammlern, die Ridler<br />

in ihrer Studie untersucht, strebten zuerst<br />

eine Zusammenarbeit mit der öffentlichen<br />

Hand an: „Scharfe Proteste und Kritik von<br />

Presse und Öffentlichkeit sowie mangelnde<br />

Unterstützung auf politischer und musealer<br />

Ebene brachten alle Bemühungen zum<br />

Scheitern. Die erfolglosen Versuche, mit<br />

öffentlichen Museen zusammenzuarbeiten,<br />

haben die Gründung eigener Kunstinitiativen<br />

befördert.“<br />

Ulla und Heiner Pietzsch sind noch<br />

nicht so weit. Bereits in den achtziger Jahren<br />

haben sie im Berliner Grunewald eine<br />

weiße Villa für sich und ihre Kunst gebaut.<br />

Dort empfängt einen gleich hinter<br />

der Eingangstür ein grimmig schauender<br />

US‐Cop von Duane Hanson. Dann öffnet<br />

sich der Raum zu einem lichten Atrium<br />

mit Blick auf den See und eine beeindruckende<br />

Bildergalerie.<br />

Die Kunst, sinniert Heiner Pietzsch, sei<br />

ein bisschen wie Rauschgift: nicht schädlich<br />

für die Gesundheit, aber für das Portemonnaie.<br />

„Wir können einfach nicht aufhören“,<br />

sagt seine Frau Ulla und gießt<br />

unter dem Picasso Kaffee nach.<br />

Er habe sein Leben lang nur mit Kunst<br />

zu tun gehabt, erzählt ihr Mann. Mit<br />

Kunststoffen hat er sein Geld verdient und<br />

es für Kunst ausgegeben. Wenn er abends<br />

aus der Firma nach Hause kam, setzte er<br />

sich in die Sammlung und beschäftigte sich<br />

mit den Werken. „Ich mag keine Sammler,<br />

die mit den Ohren sammeln“, sagt der<br />

Unternehmer. „Aber das Auge kriegt man<br />

wahrscheinlich erst nach vielen Jahren.“<br />

124 <strong>Cicero</strong> 12.2012


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| S a l o n | k u n s t m a r k t<br />

„Unser Ankaufsetat ist so hoch wie der Etat aller österreichischen<br />

Museen zusammen“: Der Unternehmer Karlheinz Essl<br />

eröffnete 1999 sein Privatmuseum in der Nähe von Wien<br />

Als sie vor 45 Jahren anfingen, zeitgenössische<br />

Kunst von Richter, Kiefer, Penck<br />

und Baselitz zu kaufen, da hätten die Leute<br />

noch gelacht: schöne Wohnung, wenn da<br />

nicht die hässlichen Bilder wären. „Heute<br />

haben die alle die gleichen Bilder an der<br />

Wand“, amüsiert sich Ulla Pietzsch.<br />

Inzwischen hat das Ehepaar die beträchtlich<br />

im Wert gestiegene Gegenwartskunst<br />

wieder verkauft, um das Geld ganz in<br />

Surrealisten wie Tanguy, Dalí und Miró zu<br />

investieren. „Fernando Botero war so beleidigt,<br />

dass wir sein Bild verkauft haben, der<br />

hat uns danach gar nicht mehr beachtet.“<br />

Ihre bedeutende Sammlung mit Werken<br />

von Max Ernst, Paul Delvaux, Magritte,<br />

Dalí und vielen anderen soll einmal in<br />

einem öffentlichen Museum stehen. „Wir<br />

wollen kein eigenes Museum“, sagt Heiner<br />

Pietzsch. „Kleine Museen haben keine<br />

Haltbarkeit.“<br />

Vor zwölf Jahren beteiligte sich das Ehepaar<br />

Pietzsch zum ersten Mal mit Leihgaben<br />

an einer Ausstellung im Dresdner<br />

Schloss. Doch seine Geburtsstadt schien<br />

dem heute 82‐jährigen Heiner Pietzsch<br />

nicht als der beste Ort, um die Sammlung<br />

dauerhaft unterzubringen. „Dresden<br />

ist eine Barockstadt, eine Stadt der Musik,<br />

nicht des Surrealismus.“<br />

Ihre Wahl fiel schließlich auf die Neue<br />

Nationalgalerie in Berlin, der sie vor zwei<br />

Jahren die Schenkung von 100 Werken aus<br />

ihrer Sammlung anboten. Seitdem tobt ein<br />

Streit, wie es ihn vielleicht nur in der Bundeshauptstadt<br />

geben kann. Die deutschen<br />

Feuilletons laufen Sturm gegen das Vorhaben,<br />

die Alten Meister vom Kulturforum<br />

am Potsdamer Platz ins Bode-Museum<br />

umzupflanzen und das Kulturforum mit<br />

Gemäldegalerie und Neuer Nationalgalerie<br />

zu einem Stützpunkt der Kunst des<br />

20. Jahrhunderts auszubauen. Die Kritiker<br />

argwöhnen, dass ein Großteil der renommierten<br />

Werke des 13. bis 18. Jahrhunderts<br />

erst einmal im Depot verschwindet, bis ein<br />

Neubau auf der Museumsinsel zur Verfügung<br />

steht.<br />

„Wir wollen kein eigenes Museum. Kleine Museen<br />

haben keine Haltbarkeit“: das Berliner Kunstsammler-<br />

Ehepaar Heiner und Ulla Pietzsch<br />

So fanden sich die großzügigen Spender<br />

auf einmal im Zentrum eines großen<br />

Berliner Museumskrachs. „Berlin fehlt<br />

ein Museum für die Kunst der Moderne“,<br />

sagt Heiner Pietzsch, „und durch unsere<br />

Schenkung ist ein Stein ins Wasser geworfen<br />

worden.“ Einzige Bedingung für die<br />

Schenkung: Die Stadt soll sich verpflichten,<br />

die Bilder nicht nur zu verwalten, sondern<br />

sie auch der Öffentlichkeit zugänglich<br />

zu machen. „Kirchner, Dix und Grosz stehen<br />

in der Nationalgalerie im Keller. Das<br />

sollen unsere Bilder nicht“, sagt Heiner<br />

Pietzsch. Die Stadt könne sich die Werke<br />

ja frei aussuchen.<br />

Und die Ehre? Und der Ruhm? In amerikanischen<br />

Museen wird inzwischen jeder<br />

Klappstuhl nach Sponsoren benannt. „Das<br />

wollen wir auf keinen Fall“, wiegelt Ulla<br />

Pietzsch entsetzt ab, und ihr Mann ergänzt:<br />

„In 20 Jahren weiß doch keiner mehr, wer<br />

Ulla und Heiner Pietzsch waren. Aber die<br />

Leute sollen sagen: Mensch, in Berlin gibt’s<br />

ein tolles Museum des 20. Jahrhunderts.“<br />

Fotos: Picture Alliance/DPA/APA/picturede, Britta Pedersen/Picture Alliance/DPA/Neo Rauch: Grenze, 1984, Fluchtversuch/©Courtesy Galerie Eigen+Art/Leipzig/Berlin/VG Bild-Kunst, Bonn 2012<br />

126 <strong>Cicero</strong> 12.2012


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Foto: privat<br />

Und doch: Ist so eine Sammlung nicht<br />

auch ein Lebenswerk? Zurück ins Bode-<br />

Museum. Noch heute stehen hier die Holzbüsten<br />

von Willibald Imhoff und seiner<br />

Frau Anna. Der Nürnberger Kaufmann<br />

war im 16. Jahrhundert einer der ersten<br />

bürgerlichen Privatsammler. Er verfügte,<br />

dass die Erben seine bedeutende Kunstsammlung<br />

nicht teilen dürften. Doch daraus<br />

wurde nichts: Bereits kurz nach dem<br />

Tod des Sammlers verscherbelten die Nachkommen<br />

den Kunstschatz. Was kommt<br />

nach mir? Das ist bis heute eine der Sorgen,<br />

die Sammler bei der Bestellung ihres<br />

Lebenswerks umtreibt. „Alle wollen in den<br />

Himmel“, sagt Heiner Pietzsch, „aber sterben<br />

will keiner.“<br />

Auch Reinhold Würth spricht über<br />

den Tod, als er an einem Septembermorgen<br />

im überfüllten Gobelinsaal des Bode-<br />

Museums steht. „Nach der Sterbetabelle<br />

wäre ich in zwei Jahren und drei Monaten<br />

tot“, sagt der 77‐Jährige und erklärt,<br />

dass ihm die schönen Künste immer eine<br />

Kraftquelle gewesen seien. Gerade haben<br />

er und seine Frau Carmen den James-Simon-Preis<br />

verliehen bekommen. Der Präsident<br />

der Stiftung Preußischer Kulturbesitz,<br />

Hermann Parzinger, hat in seiner Laudatio<br />

die Stiftungstätigkeit des Ehepaars gelobt<br />

und von einem „Museumsimperium<br />

Würth“ gesprochen.<br />

Das ist nicht übertrieben: Mit seiner<br />

Sammlung aus mehr als 14 000 Kunstwerken<br />

gehört der schwäbische Schrauben-Unternehmer<br />

zu den reichsten Sammlern<br />

Europas. Die Unternehmenszentrale<br />

in Künzelsau war 1985 weltweit der erste<br />

Firmenbau, in dem eine Kunstgalerie mit<br />

dem Verwaltungstrakt verbunden wurde.<br />

Hier probten schon Christo und Jeanne-<br />

Claude, bevor sie in Berlin den Reichstag<br />

verhüllten. Sogar der wilde Alfred Hrdlicka<br />

stellte seine Werke aus. Der Bildhauer sei<br />

zwar „kommunistisch bis ins Innerste“, urteilte<br />

Konzernlenker Würth damals, „aber<br />

auch er war aufs Geld aus“. Hrdlicka gab<br />

das Kompliment an den Sammler zurück,<br />

wie es sich für einen Künstler gehört: „Ich<br />

mag Herrn Würth, weil er die Kunst nicht<br />

nur anschaut, sondern auch kauft.“<br />

Tipp: Beim Kauf<br />

von 11 Flaschen<br />

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Col de L’Orb AOC Saint-Chinian rouge 2010,<br />

Cave de Roquebrun, Südfrankreich<br />

Ein weihnachtlicher Wein. Im Glas faszinierendes Granatrot. Üppiger Duft<br />

nach reifen Beeren und Gewürzen. Im Mund vollmundig, samtig, mit<br />

guter Struktur, sehr harmonisch und ausgewogen. Ein kräftiger, gleichzeitig<br />

eleganter Wein, der sowohl festliche Speisen vorzüglich begleitet, als auch<br />

allein für sich höchsten Genuss bietet. Dieser Wein wurde mit zwei Gold-,<br />

einer Silber- und einer Bronzemedaille ausgezeichnet.<br />

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Malte Herwig<br />

ist Reporter und lebt in<br />

Hamburg. Zuletzt erschien seine<br />

Handke-Biografie „Meister der<br />

Dämmerung“


Ich brauche Capital, weil ich 1 Firma,<br />

35 Angestellte, 150 Kunden, 1000 Pläne,<br />

aber nur einen Kopf habe.<br />

Wer etwas vorhat, braucht Capital.


B e n o t e t | S a l o n |<br />

illustration: anja stiehler/jutta fricke illustrators<br />

Gute Geige,<br />

böse Fidel<br />

Unser Kolumnist spürt seinem<br />

Instrument nach – und gelangt vom<br />

Himmel direkt in die Hölle<br />

Von Daniel Hope<br />

G<br />

eige oder Fidel? Ich weiß nicht mehr, wie oft ich gefragt<br />

wurde, was der Unterschied sei. Für mich hat es irgendwie<br />

mit Himmel und Hölle zu tun. Dieses uralte Gegensatzpaar<br />

menschlicher Träume und Ängste kann sich manchmal<br />

auch auf die Musikwelt beziehen. Und natürlich auf die Geige,<br />

ein Instrument, um das sich viele Legenden ranken: Die einen sagen,<br />

niemand habe sie so gut spielen können wie der Teufel in der<br />

Hölle, andere schreiben ihr märchenhafte Zauberkräfte zu, die den<br />

Menschen glauben lassen, dass der „Himmel voller Geigen hängt“,<br />

wie es in der Operette heißt. Für jede singende Geige gibt es eine<br />

tanzende Fidel. Und in der Tat, seit Jahrhunderten haftet der Fidel<br />

ein etwas schäbiger oder gar gefährlicher Ruf an: ein Instrument<br />

der „unteren Klassen“, das verführt und becirct. In Jonathan Swifts<br />

„Gullivers Reisen“ etwa freut sich der Protagonist: „Ich war im Körper<br />

vollkommen gesund, und meine Seele genoss größte Heiterkeit<br />

... keine Lords, Fiedler, Richter und Tanzmeister.“<br />

Dabei weiß niemand wirklich, wer die Geige erfunden hat. In<br />

Europa kann man den Werdegang der Geige bis ins 8. Jahrhundert<br />

zurückverfolgen, wo sie tatsächlich Fidel hieß; sehr wahrscheinlich<br />

liegt ihr Ursprung jedoch in Asien. Es hat nicht weniger<br />

als 450 Jahre gedauert, ehe sie ihre heutige Form angenommen<br />

hat. Die Erfindung von Instrumenten wie des Rebab, welches<br />

durch das Streichen seiner Saiten gespielt wird, kann man mit<br />

dem Auftauchen des Bogens, der von den Arabern oder von nordischen<br />

Stämmen aus Asien eingeführt wurde, in Verbindung bringen.<br />

Ob die Entwicklung zur Fidel und dann weiter zur Geige allerdings<br />

in Europa, dem Nahen Osten, Indien oder Zentralafrika<br />

stattfand, bleibt ein Rätsel. Die Fidel wurde vor der Brust, am<br />

Knie, im Schoß oder an der Schulter gehalten – im Gegensatz<br />

zur Geige, die unters Kinn gehört.<br />

Die frühesten Formen von Saiteninstrumenten sind das Ravanastron<br />

(es soll einem indischen Herrscher im Jahre 5000 v. Chr.<br />

gehört haben) und die Sarangi, Letztere der Geige am ähnlichsten,<br />

gedrungen und kastenförmig, mit einer verwirrenden Anzahl<br />

von bis zu 40 Metallsaiten. Dank ihrer Handlichkeit bedeutete<br />

dies für den Vorreiter der Geige auch Mobilität. Es wird vermutet,<br />

dass die Geige zusammen mit der „Roma“-Wanderung um<br />

das Jahr 300 v. Chr. in Nordwestindien ihre Reise begann; von<br />

dort ging sie um circa 100 n. Chr. nach Persien und weiter nach<br />

Europa. Das Auftauchen der Roma im Europa des 14. Jahrhunderts<br />

(vor allem in Ungarn, wo jeder ungarische Edelmann einen<br />

Roma als Geiger in seinem Gefolge hatte) scheint ein Grund zu<br />

sein, weshalb die Italiener und insbesondere Andrea Amati, der<br />

Quasi-Erfinder der Geige, auf das Instrument aufmerksam wurden.<br />

Ob die Geige vom Teufel erfunden wurde? Viele Legenden besagen<br />

jedenfalls das Gegenteil, zum Beispiel ein Märchen der Sinti<br />

und Roma: Darin wird von einem armen Bauernburschen erzählt,<br />

der sich in eine schöne Prinzessin verliebte, sie aber nur haben<br />

durfte, wenn er dem König etwas bringen würde, das es noch nie<br />

gegeben hatte. Die Feen-Königin Matuya wusste Rat, gab ihm einen<br />

Stab und ein hölzernes Kästchen mit einem Loch in der Mitte<br />

und bespannte beides mit langen Haaren von ihrem Kopf. Dann<br />

ließ sie erst ihr silberhelles Lachen in das Loch fallen und danach<br />

ein paar Tränen. Und als der Junge mit dem Stab über das Kästchen<br />

fuhr, klang es so schön und lieblich wie ihr Lachen und so<br />

wehmütig und traurig wie ihr Weinen. Der König war begeistert<br />

und gab dem Burschen seine Tochter zur Frau.<br />

Wenn aber von Hölle die Rede ist, darf er natürlich auch nicht<br />

fehlen: Niccolò Paganini, der „Teufelsgeiger“, der vor 230 Jahren<br />

in Genua geboren wurde. Wir wissen nicht, wie er gespielt hat,<br />

doch es muss höllisch aufregend gewesen sein. Die Leute gerieten<br />

jedenfalls überall, wo er auftrat, in Ekstase, und viele meinten,<br />

dass er beim Teufel höchstpersönlich in die Lehre gegangen sei.<br />

Paganini selbst pflegte dieses Image durch sein Outfit: „Wenn er,<br />

ganz in Schwarz, auf die Bühne kam“ – so hat es Heinrich Heine<br />

beschrieben – „sah er aus, als sei er der Unterwelt entstiegen.“<br />

Umso skurriler ist es, dass Anfang des 19. Jahrhunderts die<br />

Geige offiziell in Indien „eingeführt“ wurde, als der Kapellmeister<br />

der britischen Armee das Instrument Baluswami Dikshitar in<br />

Fort St. George in Madras übergab. Die Folge: Es gibt kein anderes<br />

westliches Instrument, das sich in der indischen Musik so<br />

gut integriert hat wie die Geige, sodass ein Konzert vokaler Musik<br />

ohne Geigenbegleitung in Indien kaum mehr vorstellbar wäre.<br />

So hat die Geige – pardon, die Fidel – nach knapp 2000 Jahren<br />

zurück zu ihren Wurzeln gefunden.<br />

Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband<br />

„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch „Toi,<br />

toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt) und die<br />

CD „Recomposed by Max Richter – Vivaldi, The four Seasons“ (Deutsche<br />

Grammophon). Er lebt in Wien<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 129


| S a l o n | M a n s i e h t n u r , w a s m a n s u c h t<br />

Ochs und Esel<br />

Domenico Ghirlandaios Weihnachtsgemälde „Anbetung der<br />

Hirten“ aus dem Jahr 1485 verweist auf ein theologisches<br />

Problem der Missionierung – mit durchaus aktuellem Bezug<br />

Von beat wyss<br />

E<br />

s grenzt an Selbstkasteiung, für<br />

ein Gemälde nur eine Kolumne<br />

lang Platz zu haben, worauf jeder<br />

Quadratdezimeter von Bedeutung durchtränkt<br />

ist. Es wimmelt von guten Nachrichten<br />

und versteckten Botschaften, welche<br />

die Gelehrsamkeit des Betrachters auf die<br />

Probe stellen. Aber so war es ja wohl wirklich<br />

gewesen bei der Geburt Jesu: begleitet<br />

von himmlischem Raunen, da die Engel in<br />

der Nacht über Bethlehem ihren Chor anstimmten.<br />

Dabei wird der Blick nicht unbedingt<br />

gefesselt von dem etwas förmlich<br />

wirkenden Hauptgeschehen, wo, wie geschnitzt,<br />

die schöne Gottesmutter in ihrem<br />

weiten, blauen Mantel vor dem Christkind<br />

kniet. Doch um sie herum erfüllt sich der<br />

Raum mit prallem Leben. Die ersten Gäste<br />

sind eingetroffen, die Hirten vom Berg vor<br />

den Toren. Der Stimme des Engels sind sie<br />

gefolgt: „Fürchtet euch nicht, ich verkündige<br />

euch eine große Freude.“<br />

Das Strahlen im Gesicht des ersten<br />

Hirten steckt uns an. Freudig ergriffen<br />

legt er seine Rechte an die Brust, zeigt<br />

mit der Linken auf den Neugeborenen<br />

und schaut sich um nach seinen Genossen,<br />

ob auch sie seine Freude teilen. Wir<br />

glauben dem Kunstchronisten Vasari, der<br />

Künstler habe diesem Augenzeugen von<br />

Christi Geburt seine eigenen Züge gegeben.<br />

Malend nimmt Ghirlandaio teil an<br />

einem Weihnachts spiel: Als Chorführer<br />

zeigt er den Hirten den Weg zur Krippe,<br />

als Maler führt er uns diese Szene mit seinem<br />

Pinsel vor.<br />

Wer gläubig so malen kann – was für<br />

ein Fest!<br />

Seite an Seite mit jenen Männern, die<br />

soeben von der Arbeit auf dem Feld hereingeschneit<br />

scheinen, stehen Ochs und<br />

Esel. Die beiden Tiere sind weit mehr als<br />

nur die zufällig anwesenden Stallbewohner.<br />

Ochs und Esel an der Krippe bilden<br />

das älteste Symbol der Christenheit.<br />

Lange bevor Maria und Joseph im Bild<br />

auftraten, ja sogar bevor das Kreuz als öffentliches<br />

Erkennungs- und Schmuckzeichen<br />

in Gebrauch kam, zieren Ochs und<br />

Esel einen römischen Sarkophag aus dem<br />

dritten Jahrhundert. Das Bildzeichen verweist<br />

auf ein theologisches Problem der<br />

Missionierung, das schon zur Zeit von<br />

Apostel Paulus diskutiert wurde. Muss<br />

ein Heide zuerst beschnitten werden, bevor<br />

er Christ werden kann? Es setzte sich<br />

die tolerante Auffassung durch, dass Heiden<br />

und Juden gleichberechtigt die Taufe<br />

empfangen können. So stehen bis heute<br />

in jeder Krippe im Dorf der beschnittene<br />

Ochs und der unbeschnittene Esel einträchtig<br />

nebeneinander beim Abendmahl,<br />

symbolisiert mit der Futterkrippe.<br />

Diese Bedeutung war schon zur Zeit<br />

Ghirlandaios längst vergessen; das Motiv<br />

aber ist erhalten geblieben, indem es semantisch<br />

überschrieben wurde. Die Tiere<br />

in Bethlehems Stall werden landläufig auf<br />

einen Spruch des Jesaias (1, 2-3) bezogen:<br />

„Ich habe Kinder aufgezogen, und jetzt<br />

sind sie von mir abgefallen. Jeder Ochs<br />

kennt seinen Herrn und jeder Esel die<br />

Krippe seines Herrn. Aber Israel erkennt<br />

mich nicht.“ Damit ist ein frühchristliches<br />

Zeichen toleranten Einschlusses zum<br />

Argument des Ausschlusses geworden.<br />

Man deutet jetzt Ochs und Esel als jene<br />

Tiere, die im richtigen Glauben dem alleinigen<br />

Gott huldigen. Die Juden indes<br />

trifft jene Klage des Propheten, den wahren<br />

Glaubensweg verlassen zu haben.<br />

Ghirlandaios Weihnachtsgemälde<br />

zeigt ein Christentum, das triumphiert.<br />

Ein heidnischer Sarkophag dient als<br />

Futterkrippe im Stall. Das Grab des alten<br />

wurde zum Schoß des neuen Bundes.<br />

Der Stall mit dem verwitterten<br />

Dach wird jetzt renoviert. Schon ragen<br />

zwei neue Säulen auf, die den Bau der<br />

kämpfenden Kirche tragen. Unumstritten<br />

blieb indes zur Zeit Ghirlandaios die<br />

Tatsache, dass das Christkind nach jüdischem<br />

Brauch acht Tage nach seiner Geburt<br />

im Tempel beschnitten wurde. Der<br />

Feiertag, begangen am 1. Januar, ist in der<br />

postreligiösen Welt überlagert von den<br />

Nachwehen der Silvesterparty. Von dieser<br />

Seite müssen Maria und Joseph sich<br />

heute dem Vorwurf stellen, das Recht<br />

Jesu Christi auf körperliche Unversehrtheit<br />

verletzt zu haben.<br />

B e at W y s s<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt in Karlsruhe<br />

Fotos: Interfoto/Super Stock, artiamo (Autor)<br />

130 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Domenico Ghirlandaio: „Anbetung der Hirten“, 1485,<br />

Öl auf Holz, Florenz, Santa Trinità, Sassetti-Kapelle<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 131


Von links: „Ziemlich beste Freunde“ / Olivier Nakache und Éric Toledano, „Die fabelhafte Welt der Amélie“ /<br />

Jean‐Pierre Jeunet, „Die Haut, in der ich wohne“ / Pedro Almodóvar, „Barbara“ / Christian Petzold<br />

„Liebe“ / Michael Haneke, „Melancholia“ / Lars von Trier, „To Rome with Love“ / Woody Allen, „Le Havre“ / Aki Kaurismäki<br />

europa sitzt im<br />

falschen film<br />

132 <strong>Cicero</strong> 12.2012


K i n o | S a l o n |<br />

Ein Kontinent steckt in der Krise. Aber was bedeutet<br />

die wirtschaftliche und politische Malaise eigentlich<br />

für den europäischen Film? Einigen außergewöhnlichen<br />

Produktionen gelingt es tatsächlich, das Kino in einen<br />

Ort von therapeutischer Qualität zu verwandeln<br />

von Christiane Peitz<br />

E<br />

r ist Tiefenschürfer und Moralphilosoph,<br />

einer, der so klug<br />

wie genau das Wesen des Menschen<br />

ergründet. Typisch europäisch,<br />

heißt es gern über Michael<br />

Haneke. In München geboren, spricht er<br />

breites Wienerisch, arbeitet meistens in<br />

Frankreich mit französischen Schauspielern,<br />

dreht auch mal in Deutschland, unter<br />

anderem mit italienischem Geld. Der Österreicher<br />

Haneke hat gute Aussichten, Anfang<br />

Dezember in Malta zum dritten Mal<br />

den Europäischen Filmpreis zu gewinnen,<br />

diesmal mit „Liebe“. Es geht um ein greises<br />

Musikprofessoren-Ehepaar in einer Pariser<br />

Altbauwohnung, sie hat zwei Schlaganfälle,<br />

er kümmert sich rührend und löst<br />

sein Versprechen ein, sie niemals ins Heim<br />

zu schicken. Ernste Sache, typisch für das<br />

Kino des alten Kontinents.<br />

Aber da ist auch der europäische Superblockbuster<br />

„Ziemlich beste Freunde“,<br />

eine ausgesprochen lustige Angelegenheit.<br />

19 Millionen Zuschauer sahen die Melokomödie<br />

im Herkunftsland Frankreich; auf<br />

der deutschen Kinohitliste steht sie ebenfalls<br />

ganz oben, mit knapp neun Millionen<br />

verkauften Tickets. In Spanien und Italien<br />

bringt sie es auf beachtliche 2,5 Millionen.<br />

Ein Überraschungserfolg, schließlich geht<br />

es um einen vom Hals an gelähmten Multimillionär,<br />

der einen schwarzafrikanischen<br />

Krankenpfleger aus den Banlieues anheuert.<br />

Philippe und Driss, der Superreiche und<br />

der Kleinkriminelle, der Bildungsbürger<br />

und der Unterschichtler, sind die Helden<br />

eines sozialutopischen Buddy-Movies, dessen<br />

Unbekümmertheit schier unüberwindliche<br />

Gegensätze vereint. Womit wir wieder<br />

bei Europa wären, denn auch die Versöhnung<br />

der Klassen, Kulturen und Nationen<br />

ist ein traditionelles europäisches Projekt.<br />

Europa steckt in der Krise, jeden<br />

Tag steht es in der Zeitung. Im Oktober<br />

wurde Angela Merkel in Athen als Nazi<br />

beschimpft, wenige Tage später bekam die<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 133


| S a l o n | k i n o<br />

EU den Nobelpreis, als weltweit erfolgreichstes<br />

Friedensprojekt seit 1945. Die<br />

einen fanden das komisch, die anderen<br />

wurden pathetisch und erinnerten daran,<br />

wie Europa, diese Region der Kriegsgegner<br />

und Erzfeinde, ein Wunder der Versöhnung<br />

vollbracht hat.<br />

Europa, sagt der Filmemacher Wim<br />

Wenders, war „eine Wahnsinnsidee“, als<br />

er nach dem Krieg aufwuchs. Die jungen<br />

Leute von heute lässt die Idee weitgehend<br />

kalt. Weil aus Europa eine Normalität<br />

wurde, etwas, das sich in Zeiten der Billigflieger<br />

und Erasmus-Studienprogramme<br />

von selbst versteht? Weil es sich kalt präsentiert,<br />

meint Wenders. Der 67‐Jährige ist<br />

seit 1996 Präsident der Europäischen Filmakademie,<br />

er weiß, wovon er redet. Und ist<br />

sich mit EU-Präsident José Manuel Barroso<br />

einig, der schon länger findet, man<br />

müsse sich „mehr um die emotionale Seite<br />

Europas kümmern“.<br />

Also her mit den europäischen Filmen.<br />

Denn bewegte Bilder schaffen „90 Minuten<br />

lang Nähe“, sagt Marion Döring, Geschäftsführerin<br />

der European Film Academy.<br />

Das Kino als Therapie in der Krise?<br />

Ein gewagter Gedanke, denn die goldenen<br />

Zeiten des europäischen Films mit Bergman<br />

und Buñuel, Antonioni und Fellini,<br />

Truffaut, Godard, Fassbinder sind lange<br />

vorbei. Auch die Zahlen stimmen nicht optimistisch.<br />

Zwar lag der seit Jahren konstante<br />

Marktanteil europäischer Filme in<br />

Europa auch 2011 bei gut 28 Prozent. Aber<br />

die Zahl verdankt sich vor allem dem anhaltenden<br />

Erfolg nationaler Produktionen;<br />

die Filme der europäischen Nachbarn<br />

schaffen es kaum noch über die Grenzen.<br />

Zwischen Hollywood und den einheimischen<br />

Filmen fristen sie ein Nischendasein.<br />

Ein Beispiel: Gerade mal 3,7 Prozent der<br />

europäischen Kinobesucher sahen 2011 einen<br />

deutschen Film.<br />

Dass die 49 Staaten und 2700 Mitglieder<br />

umfassende Akademie mit Sitz in Berlin<br />

nun zum 25. Mal ihre Preise vergibt,<br />

ist dennoch ein guter Anlass, die Bilder in<br />

In Amerika laborieren Helden an<br />

ihrer Unsterblichkeit, in Europa<br />

an der eigenen Hinfälligkeit<br />

Augenschein zu nehmen, die sich Europa<br />

von sich selbst macht. Was haben die Geschichten,<br />

Mythen und Helden mit den<br />

politischen Turbulenzen zu tun? Man sagt<br />

gern, jede Fiktion sei auch biografisch,<br />

denn sie erlaubt einen Blick in die Seele.<br />

Wie ist es um Europas Seele bestellt, wenn<br />

„Ziemlich beste Freunde“ einen Nerv trifft?<br />

Handicaps sind allemal in Mode. Daniel<br />

Auteuil als schwerstbehinderter Franzose<br />

dreht in „Ziemlich beste Freunde“<br />

Pirouetten mit seinem Rollstuhl. Die europäischen<br />

Protagonisten der jüngsten Oscar‐Gewinner<br />

sind ebenfalls mit Handicaps<br />

geschlagen, der stotternde britische König<br />

in „The King’s Speech“ genauso wie der<br />

französische Stummfilmstar in „The Artist“,<br />

dem für die Tonfilmära eine brauchbare<br />

Stimme fehlt. Vielleicht lässt sich das Kino<br />

der westlichen Industrienationen ja grob in<br />

zwei Kategorien teilen: In der einen laborieren<br />

die Helden an ihrer Unsterblichkeit<br />

(Amerika), in der anderen wissen sie nur zu<br />

gut um die eigene Hinfälligkeit (Europa).<br />

Die Amerikaner sind Weltmeister der Fantasie,<br />

die Europäer gelten seit den Neorealisten<br />

als die Meister des Wirklichkeitssinns.<br />

Europa, der versehrte Kontinent, der<br />

sich ehrlich macht und sich trotzdem nicht<br />

unterkriegen lässt? Dass ausgerechnet der<br />

Oscar sich neuerdings selber europäisch<br />

gibt, hat gewiss mit einer Sehnsucht nach<br />

Authentizität zu tun, die krisenbedingt<br />

auch die USA ereilt hat. Hinzu kommt<br />

die Nostalgie, der Blick zurück in jene<br />

Zeiten, als Mensch und (Film-)Welt noch<br />

unvollkommen sein durften, schwarz-weiß,<br />

ohne Ton – und mit öffentlichkeitsscheuen<br />

Staatsmännern. So etwas kann sich selbst<br />

die kühnste amerikanische Fantasie nur im<br />

guten alten Europa vorstellen.<br />

Apropos Unsterblichkeit: Den Euro-<br />

Preis 2011 gewann Lars von Triers Weltuntergangsdrama<br />

„Melancholia“, eine<br />

Ode an die Unweigerlichkeit des Todes.<br />

Große Oper, in der ein mythischer Wind<br />

weht, archaisch, unerbittlich und zugleich<br />

hochartifiziell: Auch Lars von Trier ist ein<br />

Tiefenschürfer, ein Existenzialist – und mit<br />

Michael Haneke das Beste, was das europäische<br />

Kino derzeit zu bieten hat.<br />

Wird bei so viel Apokalypse jeder<br />

Film zum Pfeifen im finsteren Wald? Die<br />

Liste der diesmal nominierten Produktionen<br />

lässt auch andere Schlüsse zu. Neben<br />

„Liebe“ und „Ziemlich beste Freunde“ geht<br />

Christian Petzolds „Barbara“ aus Deutschland<br />

ins Rennen, eine Liebesgeschichte im<br />

Spitzelstaat DDR mit Nina Hoss in der<br />

Hauptrolle; ein sensibles, versöhnlich endendes<br />

Politmelodram. Ebenfalls dabei: die<br />

tapferen Strafgefangenen aus „Cäsar muss<br />

sterben“, dem italienischen Gefängnisdrama<br />

der Gebrüder Taviani. Sie proben<br />

Shakespeare hinter Gittern und finden in<br />

der Theaterfiktion die Freiheit, die ihnen<br />

verwehrt ist.<br />

Filme, die sich keine Illusionen machen<br />

und dennoch von Menschlichkeit handeln,<br />

von Anstand und Solidarität: Glaubt man<br />

all diesen Moralparabeln und Sozialdramen,<br />

ist auch das typisch europäisch. Letztes<br />

Jahr hatte ausgerechnet Europas Chefmelancholiker<br />

Aki Kaurismäki in seinem<br />

Flüchtlingsmärchen „Le Havre“ einen Hafen<br />

der Brüderlichkeit ausgemalt, mitten<br />

in der Festung Europa. Utopia in bonbonbunter<br />

Tristesse: Kaurismäki ist dann<br />

doch so realistisch, seine Solidargemeinschaft<br />

in komplett unwirklichem Ambiente<br />

anzusiedeln.<br />

Womit wir bei den kleinen Filmwundern<br />

aus der Peripherie wären. Früher kamen<br />

sie aus Finnland oder Portugal, heute<br />

sind es Rumänien, Bosnien oder, ja, Griechenland.<br />

„In den marginalisierten Ländern<br />

ist Europa am europäischsten“, meint<br />

Regisseur Volker Schlöndorff, einer der<br />

drei Vorsitzenden der Akademie. Es sei<br />

kein Zufall, dass die Jubiläumsparty für<br />

den 25. Jahrgang ausgerechnet in Malta<br />

steigt. 2010 hatte Tallinn die Gala ausgerichtet,<br />

auch übers Jahr engagieren sich<br />

Länder wie Mazedonien mehr als Frankreich<br />

oder Italien.<br />

Klein, aber fein, auch das ist Europa,<br />

nicht zuletzt dank der Osterweiterung. Seit<br />

ein paar Jahren kommen hin und wieder<br />

rumänische Filme in die deutschen Kinos:<br />

stille, markerschütternde Geschichten<br />

meist über Frauen, die im Sozialismus<br />

und Postsozialismus zu überleben versuchen.<br />

Auf der Berlinale riss das ungarische<br />

Drama „Just the Wind“ den Schleier<br />

von jeder Schönfärberei über die Lage der<br />

Fotos: A1Pix-Yourphototoday, Interfoto, Cinetext, DDP Images/Tobis Film, Cinetext/Allstar/Adopt Film, Picture Alliance/DPA (2), Cinetext/Allstar/Magnolia Pict, Cinetext/Allstar/Sony Pict. Clas (Seiten 132 bis 133)<br />

134 <strong>Cicero</strong> 12.2012


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chefredakteur Christoph Schwennicke (V.i.S.d.P.)<br />

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(Kapital), Daniel Schreiber (Salon), Constantin Magnis<br />

(Reportagen), Christoph Seils (<strong>Cicero</strong> Online)<br />

politischer Chefkorrespondent Hartmut Palmer<br />

Assistenz der Chefredaktion Ulrike Gutewort<br />

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seinem Großhändler nachzubestellen. <strong>Cicero</strong> ist<br />

dann in der Regel am Folgetag erhältlich.<br />

Roma in Europa, auch das ein leiser Film<br />

und zugleich ein Schrei der Verzweiflung.<br />

2006 hatte die Bosnierin Jasmila Žbanić<br />

den Goldenen Bären 2006 erstmals nach<br />

Sarajewo getragen, für ihr Vergewaltigungsdrama<br />

„Esmas Geheimnis“. 2010 folgte die<br />

Türkei mit dem Wald- und Kindheitspoem<br />

„Bal/Honig“. Neuerdings macht ausgerechnet<br />

das griechische Kino von sich reden,<br />

mit wunderbar lakonischen Low-budget-<br />

Werken wie „Alpen“ und „Attenberg“,<br />

die gleichsam aus dem Nichts auftauchen,<br />

aus einem Land, in dem es praktisch keine<br />

Filmförderung gibt. Was übrigens schon<br />

vor der Schuldenkrise so war.<br />

In „Alpen“ bieten die Mitglieder eines<br />

Geheimbunds Hinterbliebenen ihre<br />

Dienste an. Sie trösten Trauernde über<br />

den Verlust ihrer Liebsten hinweg, indem<br />

sie deren Stelle einnehmen: Rollenspiel als<br />

Schmerztherapie, mit subversivem Symbolwert.<br />

In „Attenberg“ trainiert eine junge<br />

Frau die Liebe, als handele es sich um eine<br />

skurrile Sportart. Wie Fremdlinge bewegen<br />

sich die Protagonisten im eigenen Körper<br />

und im eigenen Land, die Kamera schaut<br />

still vergnügt zu. Der Mensch, ein Tier im<br />

Zivilisationszoo. Ein Film, der den Subtext<br />

der Krise zutage befördert, die griechische<br />

Mangelwirtschaft in Sachen Freiheit.<br />

Und das merkwürdige Phänomen, dass<br />

die Wiege der Demokratie heute so wenig<br />

praktische Erfahrung mit der Demokratie<br />

aufweisen kann. „Alpen“ und „Attenberg“<br />

zeichnen Gehversuche auf, in immer noch<br />

fremdherrschaftlich anmutendem Terrain.<br />

Ihre Filme, sagte „Attenberg“-Regisseurin<br />

Athina Rachel Tsangari der Zeit, seien ein<br />

„verzweifelter Partisanenkampf gegen den<br />

Zerfall“.<br />

Aber wer bitte nimmt diese feinen,<br />

kleinen Filme überhaupt wahr, jenseits<br />

von Festivals und Cineastenzirkeln? Rund<br />

1280 Filme wurden 2011 in Europa produziert,<br />

das klingt gut. Aber in Deutschland<br />

kam „Alpen“ auf gerade mal 4000 Zuschauer,<br />

„Attenberg“ auf beschämende<br />

2000. Selbst bei den Filmpreis-Nominierungen<br />

tauchen die Kleinode so gut wie<br />

nicht auf. Und seit der Gründung der European<br />

Film Academy im Herbst 1988 in<br />

der Atlantic Suite des Berliner Hotels Kempinski<br />

ist der europäische Marktanteil konstant<br />

gesunken. Ausnahmen wie der Erfolg<br />

von Petzolds „Barbara“ in Frankreich<br />

mit mehr als 300 000 Zuschauern bestätigen<br />

die Regel.<br />

136 <strong>Cicero</strong> 12.2012


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Foto: Kai-Uwe Heinrich/Tagesspiegel<br />

Volker Schlöndorff, dessen Laufbahn<br />

in Frankreich begann, wählt drastische<br />

Worte: „Das europäische Kino gibt es nicht<br />

mehr.“ Der gemeinsame Esprit, mit dem<br />

Filmemacher überall in Europa Papas Kino<br />

für tot erklärten und die Kamera auf die<br />

Straße holten, der frische Wind der Nouvelle<br />

Vague, des New British Cinema, des<br />

neuen deutschen Films oder der spanischen<br />

Movida ist längst verweht. Das liegt<br />

nicht nur am Verlorenheitsgefühl in der<br />

globalisierten Welt, das eine Regionalisierung<br />

der Kultur zur Folge hatte, den Boom<br />

der Provinzkrimis oder eben den gestiegenen<br />

nationalen Filmmarktanteil. Selbstkritisch<br />

spricht Schlöndorff auch über die<br />

Europäisches<br />

Kino, das<br />

sind Filme für<br />

Erwachsene,<br />

die auf<br />

eigensinnige<br />

Bilder beharren<br />

von den Autorenfilmern vollzogene Trennung<br />

von Filmkunst und Unterhaltung.<br />

Europäisches Kino, das sind Filme für Erwachsene,<br />

die mit einer gewissen Sturheit<br />

auf eigensinnige Bilder beharren, auf<br />

künstlerische Unschuld und Unabhängigkeit<br />

vom Markt. Aber vor lauter Unabhängigkeitsstreben,<br />

sagt der 72-jährige<br />

„Blechtrommel“-Regisseur, haben sie sich<br />

vom Zuschauer abgekoppelt, was auch die<br />

Nachbarn entfremdet hat. Und der Humor<br />

der Popcorn-Komödien lässt sich ohnehin<br />

schwer exportieren – Spanier finden Bully<br />

Herbig nun mal nicht komisch, umgekehrt<br />

kommen die derben Pointen der Italiener<br />

bei uns nicht gut an.<br />

Nur Frankreich hat sich dieser Trennung<br />

in Teilen verweigert. Schon Bertrand<br />

Tavernier fragte den jungen Schlöndorff,<br />

warum er eigentlich nicht die Filme drehe,<br />

die er selber sehen wolle. Heute setzt<br />

„Ziemlich beste Freunde“ die Tradition<br />

des „Amélie“-Melodrams fort, und die intelligent-unterhaltsamen<br />

Sittenbilder eines<br />

François Ozon tragen Claude Chabrols<br />

Erbe weiter.<br />

Europa und seine Bilder, am Ende ist<br />

es ein Paradox. Denn neben dem allgegenwärtigen<br />

Krisendiskurs existiert ja durchaus<br />

ein kulturelles nachbarschaftliches<br />

Bewusstsein. „Man ist gegen Brüssel, vielleicht<br />

auch gegen den Euro, aber für Europa.“<br />

Überraschenderweise, sagt Schlöndorff,<br />

bekennen sich „normale Wähler mit<br />

gesundem Menschenverstand zu Europa,<br />

auch wenn es sie womöglich Geld kostet“.<br />

Bloß fehlen die kulturellen Produkte<br />

dazu, im Kino, im Fernsehen oder in der<br />

Literatur.<br />

Bleiben die Solitäre, versprengte Mitglieder<br />

einer Familie, die einmal im Jahr<br />

beim Filmpreis den eigenen Zusammenhalt<br />

beschwört: Pedro Almodóvar, Kaurismäki<br />

und Ozon, Ken Loach und Mike<br />

Leigh, Haneke und Lars von Trier. Immer<br />

wieder flackert die Hoffnung auf, dass Phänomene<br />

wie Fatih Akins One-Hit-Wonder<br />

„Gegen die Wand“ oder die Berliner Schule<br />

rund um Petzold, Ulrich Köhler und Christoph<br />

Hochhäusler in breitere Fahrwasser<br />

münden, ein europäisches Migrantenkino<br />

oder eine neue Nouvelle Vague mit Publikumspotenzial.<br />

Aber es gibt keine Familienbande<br />

mehr, keine kommunizierenden<br />

Röhren. Und alle Kollektivanstrengungen<br />

wie europäische Verleihförderprogramme<br />

oder zeitgleiche europäische Filmstarts waren<br />

bislang vergeblich. Schlöndorff grinst:<br />

„Also spielen wir weiter Sisyphos und hoffen<br />

darauf, dass der Stein irgendwann oben<br />

liegen bleibt.“<br />

Oder wir gehen ins Kino und schauen<br />

uns das Europa der Träume an. Unermüdlich<br />

reist sein Regisseur von Metropole zu<br />

Metropole und stattet die Stereotypen der<br />

alten Welt mit Charme und Chuzpe aus,<br />

die Londoner Upper Class, die Pariser<br />

Boheme, Roms dolce vita. In den Filmen<br />

von Woody Allen ist Europa ein Reich der<br />

Sehnsucht und der Schönheit, der Freiheit<br />

und der Kunst, bei aller Moral das Savoirvivre<br />

nicht zu vergessen. Dafür sollte Brüssel<br />

ihm die Ehrenbürgerschaft verleihen.<br />

Christiane Peitz<br />

ist Filmkritikerin und leitet das<br />

Ressort Kultur beim Berliner<br />

Tagesspiegel<br />

»Wunderbar zu lesen,<br />

das reinste Vergnügen.«<br />

JOHN IRVING<br />

»Debütromane von solcher<br />

Vollkommenheit sind sehr,<br />

sehr selten.«<br />

JONATHAN FRANZEN<br />

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Die Kunst des Feldspiels<br />

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K Ü c h e n k a b i n e t t | S a l o n |<br />

illustration: Thomas Kuhlenbeck/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser<br />

Trügerische Sterne<br />

Die Prädikate der einschlägigen<br />

Gastronomieführer sorgen zwar für Ruhm<br />

und Reservierungen – aber über den Zustand<br />

der Realgastwirtschaft sagen sie praktisch<br />

nichts aus. In der Politik ist das so ähnlich<br />

Von Thomas Platt und Julius Grützke<br />

W<br />

elches ist das beste Restaurant der Stadt? Selten gibt es<br />

auf diese Frage eine eindeutige Antwort. Im Gegenteil:<br />

Gerade beim Essen ist das Spektrum des Appetits sehr<br />

weit und schwer zu überschauen. Wer gerade Lust auf ein Butterbrot<br />

mit Schnittlauch hat, wird an einem anderen Ort seinen<br />

Hunger stillen als jemand, dem ein Kaisergranat im Tempurateig<br />

an Mango-Chili-Espuma die höchste Befriedigung verschafft. Und<br />

doch gibt es eine Sehnsucht nach einer Hierarchie der Restaurants.<br />

Vielleicht ist es gerade die Vielzahl der kulinarischen Richtungen<br />

und gastronomischen Einrichtungen, die nach einer strukturierten<br />

Übersicht verlangt. Und so erwarten nicht nur die betroffenen<br />

Köche, sondern die ganze Öffentlichkeit den Richtspruch von<br />

Experten. Unter den verschiedenen Publikationen, die alljährlich<br />

die örtlichen Lokale prüfen und bewerten, ragt dabei der älteste<br />

Gastronomieführer Michelin heraus, dessen Gefolgschaft die für<br />

unbestechlich gehaltene Klassifizierung nach Sternen als Maß aller<br />

Dinge ansieht. Meisterköche hoffen und bangen vor dem Erscheinungstermin<br />

im November, wenn die neuen Klassifikationen bekannt<br />

gegeben werden, denn jeder weiß, dass ein Stern mehr oder<br />

weniger über Wohl und Wehe einer Gastwirtschaft entscheiden<br />

kann. Das Prädikat des französischen Reifenherstellers sorgt für<br />

Ruhm und Reservierungen – jedenfalls, was die Beköstigung der<br />

Oberklasse angeht. Gerade Manager und Honoratioren bestimmen<br />

ihr eigenes Prestige analog zu den Sternen der Lokale, in die<br />

sie von ihren Geschäftspartnern eingeladen werden. Und auch die<br />

wenigen, die für sich selbst die Rechnung begleichen und einen<br />

Abend mit dem Monatslohn einer Putzkraft zahlen, wollen dafür<br />

mit dem Gefühl nach Hause gehen, auf anerkannt hochklassige<br />

Art bewirtet worden zu sein.<br />

Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung nicht einmal die Absicht<br />

hat, jemals bei einem der gefeierten Köche zu Gast zu sein, ist<br />

das Interesse an den Ranglisten erstaunlich groß – als wenn beim<br />

Fußball die Aufmerksamkeit lediglich auf die Tabelle gerichtet<br />

würde, aber nicht auf das Geschehen im Stadion. Vielleicht liegt<br />

es daran, dass ein im Grunde banales System aus Punkten, Hauben<br />

oder Mützen auch für kulinarische Laien leicht verdaulich ist.<br />

So können Städte mit der Anzahl der Sterne für ihre ausgezeichneten<br />

Restaurants werben und daraus falsche Schlussfolgerungen<br />

für die Esskultur innerhalb ihrer Mauern ziehen. Denn die Edelgastronomie<br />

ist derart abgehoben vom alltäglichen Geschehen,<br />

dass man tatsächlich von einem Firmament sprechen könnte, an<br />

dem die Sterne nur von oben herab glitzern – Lichtjahre von den<br />

Herden und Speisekammern am Boden entfernt, die sie so wenig<br />

beeinflusst wie die Horoskope in der Tageszeitung.<br />

Abseits des Rummels um die Sterne existiert eine Parallelwelt,<br />

die man analog zum Finanzwesen als Realgastwirtschaft bezeichnen<br />

könnte. In dieser Sphäre genießen Menschen vielleicht völlig<br />

andere Speisen zu ganz anderen Preisen und stillen ihren Hunger.<br />

Hier wird der größte Teil des Umsatzes erzielt, ohne großes<br />

Aufsehen zu machen. Der schwelgenden Mehrheit sind Sterne<br />

schnuppe. Damit verhält es sich ähnlich wie in der Politik. Auch<br />

hier gibt es Lichtgestalten, auf denen die Hoffnung vor allem der<br />

Journalisten ruht. Es sind Redetalente, die auf alle Fragen eine<br />

Antwort geben können und denen in Talkshows und auf Titelseiten<br />

jederzeit Platz eingeräumt wird – und wenn Orden zu verteilen<br />

sind, halten sie bereitwillig ihre Brust hin. Doch obwohl<br />

es in einer Demokratie naheliegt, den Volkstribun als den König<br />

der Republik aufzufassen, ist er selten maßgeblich an der Ausgestaltung<br />

der Geschicke des Landes beteiligt. An den Fleischtöpfen<br />

der Politik sind andere Köche tätig, deren Rezepte sich auch<br />

umsetzen lassen, wenn nur Kraut und Rüben vorrätig sind. Das<br />

mag unscheinbar sein, aber es ist wirkungsvoll und mehrheitsfähig.<br />

Denn am Wahltag entscheiden sich die Bürger zumeist gegen<br />

die Sterne, die man ihnen vom Himmel holen will, sondern<br />

für eine Kost, die sie auch sättigt.<br />

Julius Grützke und Thomas Platt<br />

sind Autoren und Gastronomiekritiker.<br />

Beide leben in Berlin<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 139


| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

Faible für<br />

Sonderlinge<br />

Über die Privatsammlung des Verlegers und Buchhändlers Walther König kursieren in Köln<br />

Legenden – hinter Vitrinen findet sie Schutz vor dem Qualm seiner Roth-Händle-Zigaretten<br />

Von ulrich clewing<br />

E<br />

in rot verklinkertes Haus an einer belebten Straßenecke<br />

in der Kölner Innenstadt. Vier Stockwerke hoch,<br />

an der Tür gibt es ein Graffito mit dem Konterfei des<br />

Eigentümers. Der Künstler hat es ungefragt angebracht,<br />

aber entfernen lassen mochte es Walther König auch<br />

nicht. Zu viel Aufwand. Und wahrscheinlich wäre es ein paar<br />

Tage später wieder da. Porträtköpfe sind das Markenzeichen des<br />

Sprayers.<br />

Eigentlich hatte Walther König Jurist werden wollen, damals<br />

nach dem Abitur in Münster. Er hatte einen Onkel, den er „einen<br />

guten Typen“ fand, der war Rechtsanwalt. Im Rückblick ein<br />

klarer Fall von jugendlichem Leichtsinn. Denn hätte er den Plan<br />

weiter verfolgt als nur zwei Semester, wäre er, statt Jura zu studieren,<br />

nicht bei dem Kunstkritiker und Buchhändler Albert Schulze<br />

Vellinghausen in die Lehre gegangen in dessen „Bücherstube am<br />

Dom“: Nicht auszudenken, was das für die Bücher, für die Kunst,<br />

für Köln, für die Region und überhaupt für Deutschland bedeutet<br />

hätte. Womöglich hätte es dann das rote Haus in der Ehrenstraße 4<br />

nicht gegeben. Und das wäre – mit Verlaub – eine echte Katastrophe.<br />

Es fällt schwer, sich eine schönere Kunstbuchhandlung vorzustellen<br />

als die, die Walther König dort mit westfälischer Dickschädeligkeit<br />

seit mehr als 30 Jahren führt. Andere hätten längst<br />

das Sortiment verkleinert, das Antiquariat in der obersten Etage<br />

rausgeschmissen, weil sich das Ganze nicht lohnt und es dort eh<br />

nur staubt. König dagegen scheint der Ansicht zu sein, dass das<br />

Verkaufen von deutschen, englischen, amerikanischen, italienischen,<br />

spanischen, französischen, portugiesischen und japanischen<br />

Kunstbänden nur eine Frage der Zeit ist. Und Zeit nur eine Frage<br />

von Jahren und Jahrzehnten. Wer hier nicht das Buch findet, das<br />

er nie gesucht hat, der kann an dieser Stelle aufhören zu lesen.<br />

Der ältere Bruder des scheidenden Kölner Museumsdirektors Kasper<br />

König hat nämlich auch noch einen Verlag, in dem Bücher<br />

verlegt werden, nach denen man sich die Finger leckt. Aber da<br />

die Buchhandlung nur das Präludium ist, steigen wir zu ihm ins<br />

Auto und fahren die zehn Minuten bis zu dem Stadthaus, das er<br />

und Jutta, seine Lebensgefährtin, seit langer Zeit (siehe oben) gemeinsam<br />

bewohnen.<br />

Über Walther Königs private Bibliothek kursieren in Köln<br />

Legenden. Menschen, die sie kennen, leugnen, jemals dort gewesen<br />

zu sein, damit sie nicht in die Verlegenheit geraten, Fremden<br />

gegenüber etwas von den Schätzen preiszugeben, die ihnen<br />

da gezeigt wurden. Zwei Museumsausstellungen haben König<br />

und seine Frau damit schon bestritten. Eine dritte ist gerade in<br />

Vorbereitung, diesmal zusammen mit Beständen anderer Sammler,<br />

aber das ist so neu, dass König darüber noch nicht mehr erzählen<br />

kann.<br />

Mit dem Aufzug geht es hoch bis unters Dach. Neben dem<br />

Eingang steht eine Figur von Stefan Balkenhol, und auch sonst<br />

liegt und hängt hier einiges an Kunst. Doch das Zentrum der<br />

Maisonette-Wohnung ist eindeutig der Raum, in dem die Bücher<br />

verwahrt werden. Er ist höher als die anderen und hat einen<br />

fast quadratischen Grundriss. Darin befinden sich ein großer alter<br />

Schreibtisch, dazu noch zwei Stühle und ein grünes Ledersofa, ein<br />

Zweisitzer. Für mehr ist kein Platz, denn an den Wänden erheben<br />

Foto: Bettina Flitner<br />

140 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Der König in seinem Reich:<br />

Zwei Museumsausstellungen<br />

haben Walther König und seine<br />

Frau mit den Beständen ihrer<br />

Bibliothek bereits bestritten<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 141


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Drei Mal Dieter Roth: links eines seiner Buchkunstwerke mit in Plastikfolie eingeschweißten Seiten; in der Mitte die Korrespondenz<br />

zwischen Dieter Roth und Walther König aus der Zeit, in der Roth in London lebte. Rechts ein Exemplar von „Scheisse“, der 1972 von<br />

Hansjörg Mayer verlegten ersten Sammlung von Gedichten des Künstlers (der sich manchmal auch „Rot“ statt Roth schrieb)<br />

sich rundum bis zur Decke – nein, keine einfachen Regale: Vitrinen,<br />

die schädliche Umwelteinflüsse wie Hausstaub oder den<br />

Qualm von Walther Königs Roth-Händle fernhalten.<br />

Natürlich hat er hier auch „normale“ Ausgaben (freilich erstaunlich<br />

wenige aus dem eigenen Verlag). Doch seine Leidenschaft<br />

sind Künstlerbücher, das heißt Kunstwerke in Buchform<br />

und in den meisten Fällen Unikate.<br />

Er tritt an einen Schrank und öffnet den Glasverschlag. „Einer<br />

der Künstler, die für mich sehr wichtig sind, ist Dieter Roth“,<br />

sagt König, während er aus einem der unteren Fächer eine dicke<br />

Kladde hervorzieht. „Und das hier ist eine absolute Rarität.“ Roth,<br />

in Hannover geborener Schweizer, war Dichter, Fluxus-Künstler,<br />

einer der Erfinder der „Eat Art“ und mit seinen Bricolage-Installationen<br />

für die Generation der heute 30- bis 40-Jährigen so<br />

einflussreich wie wenige andere. Er war aber auch Alkoholiker,<br />

depressiv und voller Angst. Walther König erzählt: „In seinen<br />

letzten zehn Jahren hat er angefangen, sein Leben festzuhalten.<br />

Alles, was für ihn jemals eine Rolle spielte, hat er dokumentiert,<br />

kopiert oder fotografiert und daraus Bücher wie dieses gemacht.“<br />

Er schlägt ein paar Seiten um, und man sieht Postkarten, mit<br />

der Maschine geschriebene Briefe und handschriftliche Notizen,<br />

Fotos von Orten und Gegenständen, einen eingeschweißten Joghurtbecher.<br />

Es ist ein Wirrwarr der Eindrücke und Erinnerungen,<br />

leicht verrückt und auch melancholisch in seinem Versuch,<br />

einem chaotischen Leben dadurch Herr zu werden, indem man<br />

Beweise sammelt für die eigene Existenz. „Was mich daran interessiert“,<br />

sagt jedoch Walther König, „ist Dieter Roths große Erfindungsgabe.<br />

Er hat als Einzelgänger die Geschichte der Buchkunst<br />

revolutioniert.“<br />

Auch sonst besitzt er ein offenkundiges Faible für Außenseiter<br />

und Sonderlinge, für die Maniker und die Sendungsbewussten.<br />

Eigentlich strebt Walther König nicht nach Vollständigkeit, aber<br />

von Künstlern wie Marcel Broodthaers und Martin Kippenberger<br />

hat er praktisch jedes Buch, das jemals erschienen ist. Bei den beiden<br />

macht das jeweils fast einen ganzen Schrank für sich aus. Er<br />

besitzt Klassiker wie Otto Dix’ Mappenwerk „Krieg“ („ein wirklich<br />

eindringliches Antikriegsdokument“) und hätte gern Matisse’<br />

„Jazz“ („leider zu teuer“). „Im Grunde“, sagt Walther König, „ist<br />

meine Sammlung eng verknüpft mit meiner Tätigkeit als Buchhändler.“<br />

Der Umkehrschluss träfe wohl genauso zu. Seine Tätigkeit<br />

als Buchhändler ist eng verknüpft mit seiner speziellen Art<br />

der Bibliophilie. So hat er in seinem Verlag, obwohl er nicht für<br />

Faksimilie schwärmt, vor ein paar Jahren einen Nachdruck des<br />

Bändchens „Mr. Knife and Miss Fork“ herausgebracht, das Man<br />

Ray 1931 mit Max Ernst veröffentlicht hat. „Eines der schönsten<br />

surrealistischen Bücher, die ich kenne.“<br />

Dabei gibt sich der 73-Jährige große Mühe, vor seinen Besuchern<br />

nicht selber als Sonderling dazustehen. Womöglich liegt<br />

es daran, dass er aus Westfalen stammt, wo man bei aller Metaphysik<br />

darauf achtet, in den Dingen stets auch den bodenständigen<br />

Sinn zu sehen. Jedenfalls ist ihm sehr darum getan, nicht das<br />

Missverständnis entstehen zu lassen, als sei das Büchersammeln<br />

für ihn ein Spleen. Immerhin ist er Kaufmann und darin auch<br />

ziemlich erfolgreich: „Ich habe das Kaufen von Büchern auch immer<br />

als Spekulation betrieben“, behauptet König, was nun doch<br />

ein bisschen überraschend kommt. Und holt die nächsten Raritäten<br />

aus dem Schrank, zwei, drei schmale kleine Hefte, die der<br />

inzwischen weltberühmte Maler Ed Ruscha in den sechziger Jahren<br />

im Selbstverlag herausbrachte, als er noch völlig unbekannt<br />

war und mit Mitte zwanzig wie ein Hobo in einem lädierten<br />

Straßenkreuzer durch Kalifornien fuhr, um dem auf die Spur zu<br />

kommen, was Amerika im Innersten zusammenhält – und Fotos<br />

von Tankstellen oder Swimmingpools zu machen. Die Hefte<br />

kosteten damals ein paar Dollar, mittlerweile liegen die Preise bei<br />

mehreren Tausend Euro pro Exemplar. „Immer, wenn Ed Ruscha<br />

ein neues Büchlein fertig hatte, rief er mich an und fragte, ob ich<br />

ihm eines abkaufen würde. Ich wusste genau, dass die mal etwas<br />

wert sein würden“, sagt Walther König – und erweckt nicht im<br />

Mindesten den Eindruck, als würde er sich davon jemals wieder<br />

trennen wollen.<br />

Ulrich Clewing<br />

ist Journalist und lebt in Berlin<br />

Fotos: Bettina Flitner, Guido Ohlenbostel (Autor)<br />

142 <strong>Cicero</strong> 12.2012


Das perfekte Weihnachtsgeschenk<br />

Das Beste aus 15 Jahren mare<br />

Der preisgekrönte mare-<br />

Kalender „Meeresblicke 2013“<br />

mit 12 ausdrucksstarken Motiven<br />

der Fotografen Gueorgui Pinkhassov,<br />

Heike Ollertz, Robert Voit, Thomas Lerch,<br />

Harry Gruyaert und Richard Schultz<br />

für alle Meeresliebhaber<br />

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Der mare-Bildband „Island“<br />

mit Fotografien von Heike Ollertz und Edgar Herbst<br />

Format: 28 mal 30 Zentimeter<br />

144 Seiten<br />

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Kalender und Bildband erhältlich im Fachhandel oder unter www.mare.de


| S a l o n | D a s S c h w a r z e s i n d d i e B u c h s t a b e n<br />

Böse Moderne,<br />

offene Stadt<br />

Zwei Romane und ein Comic, die uns helfen, ganz<br />

modern die Orientierung zu verlieren<br />

Die Bücherkolumne von Robin Detje<br />

W<br />

eltekel muss sein. In regelmäßigen<br />

Abständen müssen wir<br />

raus aus der Affirmationsspirale,<br />

uns auf dem Teppich herumwälzen,<br />

um uns schlagen und rufen: Die Moderne<br />

ist schuld! Die Aufklärung! Der technische<br />

Fortschritt! Die Smartphones sind<br />

schuld! Früher war alles besser, da waren<br />

wir nämlich noch jung. Heute bekommen<br />

wir bestimmt bald Daumenkrebs<br />

vom vielen Simsen und müssen jämmerlich<br />

verrecken.<br />

Das ist natürlich alles Unsinn. In der<br />

guten alten Zeit gab es Mammuts und<br />

Säbelzahntiger, Ofenheizung und frühen<br />

Tod. Und wenn man die Kritiker der Moderne<br />

dorthin zurückbeamen würde, gäbe<br />

es ein einziges Heulen und Zähneklappern.<br />

Der große Hassanfall auf den Fortschritt<br />

ist nur als Pose cool. „Die enthemmte Moderne<br />

meistern und den Rest seines Lebens<br />

retten in 25 einfachen Schritten“ heißt der<br />

„Ratgeberroman“ des frankokanadischen<br />

Autors Nicolas Langelier. Er dekliniert mit<br />

Verve und Esprit den Hass auf die Moderne<br />

durch und dann noch den auf die<br />

Postmoderne und die sogenannte Hypermoderne,<br />

die uns alle nur systematisch<br />

davon abhalten wollen, zu uns selbst und<br />

zurück zur Scholle zu finden. Zurück zur<br />

Unschuld der Kindheit, zum guten einfachen<br />

Leben der guten einfachen Menschen<br />

vom Lande.<br />

Dem Erzähler, einem 35-jährigen großstädtischen<br />

Popmusikkritiker, ist der Vater<br />

an Lungenkrebs gestorben, und er windet<br />

sich in den Krämpfen einer nur zu allzu<br />

verständlichen Krise. Sein Leben kommt<br />

ihm schal und verlogen vor, die Drogen,<br />

die verkorkste Beziehung, die leeren Affären,<br />

all das will er nicht mehr. Das Ganze<br />

ist als Anleitung geschrieben, als Aufforderung,<br />

in der zweiten Person. Ständig rammt<br />

der Autor uns den Zeigefinger in die Rippen:<br />

Tun Sie dies, tun Sie das, dann werden<br />

Sie wieder gesund! Das ist oft poetisch<br />

und schön und wird von Diskursschnipseln<br />

und Unterhaltungen mit Philosophen<br />

durchsetzt, die uns beweisen sollen, dass<br />

hier eins aus dem anderen hervorgeht: Dass<br />

die Lebenskrise des Erzählers ein direktes<br />

Resultat der von der Moderne und ihren<br />

bösen Kindern erzeugten Entfremdung<br />

darstellt. Dabei schuldet dieses Buch der<br />

Moderne seine ganze offene, satirisch-parodistische<br />

Form, sein ganzes formales Feuer,<br />

weshalb man es unbedingt als E‐Book auf<br />

dem Smartphone lesen sollte. Aber am<br />

Ende fürchtet man leider wirklich, dass der<br />

Autor das alles auch so meint. Dem Buch<br />

fehlt ein doppelter Boden, ein unverlässlicher<br />

Erzähler, der uns an der Nase herumführt.<br />

(Nicolas Langelier: „Die enthemmte<br />

illustration: cornelia von seidlein<br />

144 <strong>Cicero</strong> 12.2012


foto: Loredana Fritsch<br />

Moderne meistern und den Rest seines Lebens<br />

retten in 25 einfachen Schritten“; Ratgeberroman,<br />

Deutsch von Andreas Jandl; Bloomsbury,<br />

Berlin 2012; 176 Seiten, 16,99 Euro,<br />

als E‐Book 11,99 Euro.)<br />

***<br />

Teju Coles Roman „Open City“ ist ein sehr<br />

kompliziertes Buch. Es hat einen so unverlässlichen<br />

Erzähler, dass man manchmal<br />

ganz die Orientierung verliert. Wer spricht<br />

hier? Wann spricht der Autor, wann die<br />

Hauptfigur? Dabei ist Orientierungslosigkeit<br />

vermutlich eines der Themen des Buches,<br />

und ein anderes ist die Überforderung<br />

durch zu viele einander überlagernde<br />

Biografien in einer Weltstadt, in der globalisierten<br />

Welt überhaupt. Der Held ist<br />

ein Psychiater in der Ausbildung in New<br />

York. Zur Erholung streift er ziellos durch<br />

die Stadt. Er bewegt sich dabei in einem<br />

Kokon aus Hochkultur, getragen vom<br />

klassischen Ressentiment der Gegenmoderne.<br />

Ein selbstgefälliger Bildungsbürger<br />

offenbar.<br />

Erst später erfahren wir, dass es sich<br />

bei dem Mann um einen Einwanderer<br />

handelt, mit einer deutschen Mutter und<br />

einem nigerianischen Vater. Und nachdem<br />

sich dieser erste Bruch aufgetan hat, erleben<br />

wir nun seine Versuche, sich mit seinen<br />

Immigranten-„Brüdern“ zu solidarisieren<br />

(was nicht gelingt) oder sich dem<br />

Furor von Islamisten im Larvenstadium<br />

auszusetzen. Die schöne Hochkulturwelt<br />

hat sich plötzlich in eine beunruhigende<br />

Welt aus Zerrissenen und Entwurzelten<br />

verwandelt.<br />

Als Psychiater müsste man diesem Erzähler<br />

zweierlei diagnostizieren. Einerseits<br />

eine Unfähigkeit, sich gegen den Ansturm<br />

der Geschichten von Fremden und der eigenen<br />

Erinnerungen abzugrenzen. Andererseits<br />

eine Unfähigkeit, ihnen gegenüber<br />

eine klare Haltung einzunehmen. Er bewegt<br />

sich mit einer gespenstischen Gleichmut<br />

durch diesen Roman, der ihn auch<br />

nach Brüssel führt und artig einer älteren<br />

Tschechin den Rocksaum lüpfen lässt.<br />

Seine letzte Zuflucht ist Mahler. Das hat<br />

immer etwas leicht Seifiges, und man wird<br />

sich als Leser nie ganz darüber klar, ob dieses<br />

Parfüm vom Erzähler ausgeht und vom<br />

Autor beabsichtigt ist, oder ob er das ganze<br />

Buch umweht. Da gibt es einen irritierenden<br />

Hang zum intellektuellen Edelkitsch,<br />

wie wir ihn auch aus dem Werk von Teju<br />

Coles Vorbild W. G. Sebald kennen. Man<br />

bleibt ratlos zurück, mit großem Unbehagen<br />

und gleichzeitig dem Gefühl, viel über<br />

die Welt von heute gelernt zu haben, das<br />

man eigentlich nicht wissen wollte. (Teju<br />

Cole: „Open City“; Roman, Deutsch von<br />

Christine Richter-Nilsson; Suhrkamp, Berlin<br />

2012; 334 Seiten, 22,95 Euro.)<br />

***<br />

Der Comic, diese Kinder- und Kindheitsform<br />

zwischen Kino und Literatur, will<br />

einfach nicht alt werden. Vielleicht, weil<br />

sie fliegen kann. Sie hängt so schön dazwischen,<br />

das hält jung. Ihre Frames sind einfacher<br />

zu produzieren als Kinobilder, das<br />

macht sie federleicht. Und Comiczeichner<br />

wissen einfach besser als Literaten, dass<br />

man in Sprüngen erzählen darf, im Zickzack,<br />

hin und zurück. Sie beherrschen dieses<br />

Erbe der Moderne mit einer Eleganz,<br />

die am Literaturinstitut Leipzig einfach<br />

noch nicht gelehrt wird.<br />

„Hicksville“ von Dylan Horrocks ist<br />

ein Metacomic – ein Comic über einen<br />

berühmten Comiczeichner und einen Comickritiker,<br />

der dessen bescheidenes Heimatdorf<br />

besucht. Das ist alles wild verschachtelt<br />

mit vielen Comics im Comic,<br />

und man kann in dem ganz schön dicken<br />

Buch die Orientierung verlieren wie Teju<br />

Coles Erzähler in New York. Aber bei Horrocks<br />

ist das alles eine reine Lust. Das Buch<br />

ist aus verstreut veröffentlichten Geschichten<br />

zusammengestückelt, und die Rahmenhandlung<br />

erzählt von der verlorenen, leicht<br />

verzauberten Heimat Neuseeland. Horrocks<br />

verarbeitet in „Hicksville“ auch seine<br />

eigene Vergangenheit als Superheldenzeichner.<br />

„Für die kommerzielle Comicindustrie<br />

zu arbeiten, war eine faszinierende Erfahrung“,<br />

sagt er heute, „aber sie hat mich als<br />

Comiczeichner beinahe vernichtet.“ Vielleicht<br />

erzählt „Hicksville“ deshalb auch<br />

immer von der Unschuld des schöpferischen<br />

Tuns, vielleicht sind hier deshalb<br />

das Zeichnen und Erzählen selbst das Verzauberndste.<br />

(Dylan Horrocks: „Hicksville“;<br />

Deutsch von Marion Herbert; Reprodukt,<br />

Berlin 2012; 248 Seiten, 24 Euro.)<br />

Robin Detje<br />

lebt als Autor, Übersetzer und<br />

Performancekünstler in Berlin<br />

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Mit der<br />

Unsicherheit<br />

leben<br />

Auf vieles in unserem Leben<br />

ist kein Verlass mehr: Arbeitsplatz,<br />

Rente, Ehe, Euro …<br />

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146 <strong>Cicero</strong> 12.2012


D i e l e t z t e n 2 4 S t u n d e n | S a l o n |<br />

Sex in der Hängematte,<br />

aufrecht stehend<br />

Der Literaturkritiker Denis Scheck beginnt seinen letzten Tag mit<br />

einem Balance-Akt und geht dann ins Landwirtschaftsmuseum<br />

Foto: Marcus Gloger<br />

I<br />

ch stelle mir vor aufzuwachen,<br />

in einem sonnendurchfluteten<br />

Schlafzimmer, um mich der Lösung<br />

einer wissenschaftlichen Frage zu<br />

widmen, die Generationen von Menschen<br />

umgetrieben hat: Ist es möglich,<br />

aufrecht stehend in einer Hängematte<br />

Sex zu haben? Natürlich muss es warm<br />

sein, in einem alten Garten muss es sein,<br />

mit alten Bäumen. Sehr gerne möchte<br />

ich diese naturwissenschaftliche Frage,<br />

diese Frage der Physik, der Körperbeherrschung,<br />

der Balance mit meiner lieben<br />

Frau austesten. Und ich hoffe, dass<br />

wir mit über 100 Jahren dazu überhaupt<br />

noch in der Lage sein werden.<br />

Wenn wir diesen uralten Traum gelöst<br />

haben, möchte ich in das Deutsche Landwirtschaftsmuseum<br />

in Stuttgart fahren,<br />

den Tag in einer Ausstellung verbringend,<br />

die aus 192 Apfel- und 94 Birnensorten<br />

besteht. Hat die Verwechslung von Äpfeln<br />

und Birnen oder zumindest der Vergleich<br />

derselben doch einen Großteil meiner Tätigkeit<br />

als Literaturkritiker ausgemacht.<br />

Dort möchte ich an diesen Obstsorten riechen,<br />

sie verköstigen, den Horneburger<br />

Pfannkuchenapfel, die Landshäuser Brunnenbirne,<br />

den Gelbmöstler. Der Duft in<br />

diesem kleinen Ausstellungsraum schlägt<br />

einem direkt ins Stammhirn: ein Wahnsinn!<br />

Und dort, mit dem Verlöschen des<br />

Lichts – weil dieses Museum selbst sterblich<br />

ist –, wird auch das eigene Leben verlöschen.<br />

Da gibt es kein Weiter.<br />

Er ist einer der bekanntesten<br />

deutschen Literaturkritiker, vor allem<br />

aber einer der meinungsfreudigsten:<br />

Denis Scheck, Moderator des<br />

monatlichen Büchermagazins<br />

„Druckfrisch“ im ARD-Fernsehen<br />

sowie Literaturredakteur<br />

beim Deutschlandfunk<br />

www.cicero.de/24stunden<br />

Ich habe kein Aussöhnungsbedürfnis.<br />

Ich möchte auch niemanden sehen. Vielen<br />

Dank. All I want, is to be alone! Bücher<br />

sollte man nicht mit ins Grab nehmen.<br />

Sie haben ein ganz eigenes Schicksal.<br />

Meine Bücher gebe ich daher der Mitwelt<br />

gerne frei, die sollen andere Leser finden.<br />

Als Henkersmahlzeit muss etwas Aufwendiges,<br />

Kompliziertes her, wie gefülltes<br />

Kamel.<br />

Der Tod ist eine Unverschämtheit. Er<br />

ist der Feind und gehört zu meinem Leben<br />

sicher nicht dazu. Gäbe es ein Unsterblichkeitsserum,<br />

mit ihm würde ich<br />

mich dem Ennui der Unendlichkeit<br />

gerne aussetzen. Wahrscheinlich halte ich<br />

den Tod deshalb für unverschämt, weil<br />

der Roman selbst eine unverschämte<br />

Kunstform ist, weil die Literatur Ansprüche<br />

an uns Leser stellt, die wir zu<br />

Lebzeiten niemals erfüllen können. Um<br />

halbwegs kompetent über die deutsche<br />

Nationalliteratur zu sprechen, müsste ich<br />

die nächsten 400 bis 500 Jahre lesen. Als<br />

Komparatist bräuchte ich gleich ein paar<br />

Tausend Jährchen mehr. Im Vergleich<br />

zu „Zettels Traum“ oder dem Werk von<br />

Thomas Pynchon, Werke, die einem allein<br />

schon Wochen an Lesezeit abverlangen,<br />

kommt mir unsere irdische Zeit von<br />

70, 80 Jahren unverschämt kurz vor. Deshalb<br />

kann ich mich mit meiner Sterblichkeit<br />

nicht abfinden.<br />

Ein Leben nach dem Tod? Daran<br />

glaube ich nicht. Keine Sekunde. Ich<br />

habe auch nicht das unglaubliche Bedürfnis,<br />

auf einer Wolke Vergil zu treffen.<br />

Den treffe ich ja schon in seinen Büchern.<br />

Tatsächlich steht die Kenntnis des Menschen<br />

mitunter dem Genuss der Literatur<br />

sogar im Wege. Die persönliche Bekanntschaft<br />

mit jemandem ist sicher nicht der<br />

Königsweg zu seinem Werk, nicht immer,<br />

nicht unbedingt. Natürlich gibt es unglaublich<br />

geistreiche, charmante, wunderbare<br />

Menschen, wie Harry Rowohlt. Es<br />

gibt aber auch viel öfter jenen schäbigen<br />

Rest, wie das Arno Schmidt einmal benannt<br />

hat, den man sich nach all der Zeit<br />

lieber nicht mehr ganz so direkt beschaut.<br />

Und wenn, dann ginge ich schon lieber<br />

gleich in die Hölle. Da ist die Gesellschaft<br />

amüsanter.<br />

Aufgezeichnet von Sarah-Maria Deckert<br />

12.2012 <strong>Cicero</strong> 147


C i c e r o | P o s t S c r i p t u m<br />

Streit tut gut<br />

Von Alexander Marguier<br />

Z<br />

um Glück ist die wahl jetzt vorbei, ich konnte es kaum<br />

noch hören. Am Schluss war mir beinahe egal, ob<br />

Obama oder Romney das Rennen machen würde –<br />

Hauptsache, keine deutschen Fernsehkorrespondenten mehr,<br />

die ihr heimisches Publikum mit sorgenvollem Blick darüber in<br />

Kenntnis setzen, dass Amerika ein „gespaltenes Land“ sei. Dabei<br />

ist die Nachricht von der angeblichen Spaltung der Vereinigten<br />

Staaten zunächst mal gar nicht so schlecht. Denn sie läuft<br />

ja in logischer Konsequenz darauf hinaus, dass die USA keine<br />

einmalige Sache sind, sondern in doppelter Ausführung existieren.<br />

Es gibt sozusagen immer noch ein Reserve-Amerika, falls<br />

der andere Teil gerade nicht funktionieren sollte. Ist das denn<br />

kein Grund zur Freude? Der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger<br />

François Mauriac beispielsweise bekannte ja einst<br />

in launiger Offenheit, er liebe Deutschland so sehr, „dass ich zufrieden<br />

bin, dass es zwei davon gibt“. Wobei Mauriac taktvollerweise<br />

verschwieg, ob ihm die DDR mehr ans Herz gewachsen<br />

war als die Bundesrepublik oder umgekehrt. Vielleicht hatte er<br />

ja auch einfach – auf seine Weise – beide Teile gleich gern.<br />

Die Tränen, mit denen in Deutschland der Umstand beweint<br />

wird, dass die Vereinigten Staaten eine Nation voll widerstreitender<br />

Interessen und entsprechend unterschiedlicher Politikentwürfe<br />

sind, schmecken verdächtig streng nach Krokodil.<br />

Aber von der klammheimlichen Freude über den vermeintlichen<br />

Niedergang eines mächtigen Bündnispartners abgesehen, spricht<br />

aus dem wohligen Grusel angesichts der polarisierten amerikanischen<br />

Bevölkerung vor allem eine miefige Sehnsucht nach Konformität.<br />

Ein Volk, ein Land, eine Kanzlerin: So ungefähr malen<br />

wir uns das biedermeierliche Gesellschaftsideal im Jahr 22 nach<br />

der Wiedervereinigung aus. Alles so schön pastos hier, alles so<br />

wunderbar Ton in Ton. Und wenn zwischendurch zum Ergötzen<br />

des Publikums ein nicht mehr ganz so junger Wilder auftaucht<br />

und mit heftigem Pinselstrich ein bisschen dazwischenkleckert,<br />

dröhnt es von höchster Stelle mahnend: „Nicht hilfreich!“<br />

Streit ist kein Wert an sich. Aber mit umgekehrten Vorzeichen<br />

wird aus diesem Satz auch keine Gleichung; wenn Eintracht<br />

zur ersten Bürgertugend erhoben wird, bleibt der politische<br />

Wettbewerb zwangsläufig auf der Strecke (und der potenzielle<br />

Wähler nicht ohne Grund zu Hause). Das ständige Ringen um<br />

das bessere Argument ist gerade keine lästige Nebenwirkung der<br />

Demokratie, sondern ganz im Gegenteil deren eigentlicher Kern.<br />

Die Absurdität einer Partei als Gemischtwarenladen mit weltanschaulichem<br />

Vollsortiment hat der Komiker Hape Kerkeling<br />

vor drei Jahren wunderbar in Szene gesetzt: Kerkelings Alter Ego<br />

Horst Schlämmer bewarb seine Kanzlerkandidatur mit der beherzten<br />

Botschaft, er sei „liberal, konservativ und links“ zugleich.<br />

Wer will dazu schon Nein sagen? Sind wir nicht alle ein bisschen<br />

bluna? Da ist es eigentlich seltsam, dass damals laut Umfragen<br />

nur 18 Prozent der Wähler bekannten, dem Kandidaten Schlämmer<br />

ihre Stimme geben zu wollen; inzwischen dürften diese<br />

Leute ihre politische Heimat bei der CDU gefunden haben.<br />

Peer Steinbrück steht in unserem konsensverliebten Land vor<br />

der fast unmöglichen Aufgabe, Angela Merkel im Wahlkampf<br />

herauszufordern, ohne einen Streit mit ihr vom Zaun zu brechen.<br />

Da dies erkennbar nicht seinem Naturell entspricht, wird<br />

er die Wahl verlieren. Das ist sehr schade – nicht, weil Steinbrück<br />

der bessere Kanzler wäre. Sondern weil der demokratische<br />

Prozess seine Vitalität einbüßt, wenn nur noch handzahme Kandidaten<br />

eine Chance haben. Sollte das Wort „Streitkultur“ nicht<br />

zu einer läppischen Floskel verkommen, müssen wir diese Kultur<br />

auch pflegen – und damit eben den Streit. Für Widerspruch<br />

bin ich übrigens dankbar.<br />

Alexander Marguier<br />

ist stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

Illustration: Christoph Abbrederis; Foto: Andrej Dallmann<br />

148 <strong>Cicero</strong> 12.2012


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