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Juni 2013<br />
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<strong>Hurra</strong>,<br />
<strong>wir</strong> <strong>wachsen</strong>!<br />
Das Demografie-Wunder:<br />
Deutschland auf dem Weg zum<br />
100-Millionen-Volk<br />
Fracking<br />
Öko-Horror oder Energie-Hoffnung:<br />
Zerredet Berlin den neuen Rohstoff-Boom?<br />
NSU<br />
Der Weg des Nazi-Trios in den Untergrund<br />
Auf Du mit dem Gnu<br />
Das neue Verhältnis von Mensch und Tier<br />
„Wer flennt, fliegt raus“<br />
Uwe Ochsenknecht über den letzten Tag seines Lebens<br />
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Ein Buch,<br />
so einzigartig<br />
wie<br />
sein Autor<br />
Und dann ist da ja noch die Medaille!<br />
Die Fields-Medaille, die die Anwärter kaum zu nennen<br />
wagen, die FM. Die höchste Auszeichnung für einen<br />
Mathematiker, der in der Blüte seines Lebens steht.<br />
Sie <strong>wir</strong>d alle vier Jahre auf dem Internationalen<br />
Mathematikerkongress an zwei, drei oder vier Mathematiker<br />
verliehen, die jünger als 40 Jahre sind.<br />
Natürlich gibt es in der Mathematik schicke Preise!<br />
Der Abel-Preis, der Wolf-Preis, der Kyoto-Preis – sie<br />
alle sind zweifellos noch schwerer zu bekommen als<br />
die Fields-Medaille. Aber sie haben nicht denselben<br />
Widerhall, dasselbe Ansehen. Und sie kommen am<br />
Ende der Laufbahn und spielen nicht dieselbe Rolle<br />
als Sprungbrett und Ermutigung. Die FM hat eine<br />
viel größere Ausstrahlung.<br />
Man denkt nicht an sie, und man arbeitet nicht<br />
für sie. Das würde Unglück bringen. Man nennt sie<br />
nicht einmal, und ich vermeide es, ihren Namen<br />
auszusprechen. Ich schreibe FM, und der Empfänger<br />
versteht. (…) Die Altersgrenze von 40 Jahren, was<br />
für ein Druck! Ich bin zwar erst 35 … Aber die Regel<br />
wurde beim letzten Internationalen Kongress 2006<br />
in Madrid verschärft. In Zukunft muss man am<br />
1. Januar des Kongressjahres unter 40 sein. In dem<br />
Moment, als die neue Regel öffentlich verkündet<br />
wurde, habe ich verstanden, was das für mich bedeutete:<br />
2014 wäre ich 3 Monate zu alt; die FM kommt<br />
also 2010 oder nie. (…) Ich spreche mit niemandem<br />
darüber. Um meine Chancen zu vergrößern, die<br />
Medaille zu ergattern, darf ich nicht daran denken.<br />
Nicht an die FM denken, einzig<br />
und allein an ein mathematisches<br />
Problem denken,<br />
das mich mit Leib und Seele<br />
beschäftigt.<br />
Lesen Sie weiter…<br />
Cédric Villani<br />
Das lebendige Theorem<br />
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Der Büchersommer in<br />
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C i c e r o | A t t i c u s<br />
Von: <strong>Cicero</strong><br />
An: Atticus<br />
Datum: 23. Mai 2013<br />
Thema: Demografie, Fracking<br />
Der große Irrtum<br />
Titelbild: Jens Bonnke; Illustration: Christoph Abbrederis<br />
A<br />
lles war so weit fertig. Titelstrecke geplant und durchfotografiert, Cover-<br />
Illustration auf gutem Wege, die passende Schlagzeile im Kopf – und dann kam<br />
es anders. Als das bewährte <strong>Cicero</strong>-Autorenduo Andreas Rinke und Christian<br />
Schwägerl kurz vor Redaktionsschluss für diese Ausgabe seinen Text über das <strong>wachsen</strong>de<br />
Deutschland vorlegte, waren sich in der Redaktion ungewohnt schnell alle einig: Das ist neu,<br />
das ist wider alle Erwartung, das ist der Titel!<br />
Zu den Grundannahmen dieses Landes gehörte bislang: Deutschland schrumpft. Wir<br />
sind ein 80-Millionen-Volk und müssen eher fürchten, auf die 60 Millionen zu fallen,<br />
als die 100‐Millionen-Marke anzupeilen. Alle Politik gründet auf dieser Annahme, alle<br />
Steuerprognosen, alle Berechnungen der Entwicklung unserer sozialen Sicherungssysteme,<br />
alle Überlegungen der Regierung: „Wenn <strong>wir</strong> auf Deutschland schauen, ungeachtet<br />
möglicher Zuwanderungsraten, dann wissen <strong>wir</strong>, dass <strong>wir</strong> insgesamt weniger werden“, sagte<br />
Angela Merkel Ende April vor dem Deutschen Ethikrat. Ein Demografie-Gipfel folgt auf den<br />
nächsten, um dieser Malaise etwas entgegenzusetzen. Einspruch, Kanzlerin!, sagen nun Rinke<br />
und Schwägerl und liefern dafür eine beeindruckende Liste an Kronzeugen und Belegen<br />
(ab Seite 18). Deutschland wächst, es wächst signifikant. Das <strong>wir</strong>tschaftlich solide Land zieht<br />
vor allem junge, gut ausgebildete Europäer an, die ihre Zukunft bei uns suchen und finden.<br />
Fünf Teile Zuwanderung, ein Teil Hoffnung auf mehr Kinder, etwa in diesem Verhältnis<br />
setzt sich der neue deutsche Bevölkerungsboom zusammen. Der Fotograf Thomas Meyer<br />
hat dem Phänomen entlang dieses Mischungsverhältnisses in der Titelstrecke Gesichter und<br />
Namen gegeben.<br />
Nicht alle werden sagen: <strong>Hurra</strong>, <strong>wir</strong> <strong>wachsen</strong>! Manche werden rufen: Hilfe, <strong>wir</strong><br />
überfremden! Wie zu jener Zeit, als das deutsche Asylrecht viele Menschen nach Deutschland<br />
zog. Der stellvertretende CDU-Vorsitzende und frühere Integrationsminister Nordrhein-<br />
Westfalens, Armin Laschet, versucht im <strong>Cicero</strong>-Interview, diesem Reflex zu begegnen: „Es<br />
gibt für diese Neuzuwanderer selten Integrationsprobleme. Denn die Menschen haben den<br />
Willen, hier zu arbeiten, und haben die dafür nötige Qualifikation.“ (ab Seite 30)<br />
Ängste bestimmen auch die Debatte um das Fracking in Deutschland. Ist diese Methode<br />
der Energiegewinnung der Schlüssel der westlichen Welt, um sich vom Öl der arabischen<br />
Staaten und dem Gas aus Russland unabhängig zu machen? Oder bohren <strong>wir</strong> die Hölle an?<br />
Mike Gerritys Reportage vom Ground Zero des Fracking in Williston gibt hier Antworten<br />
(ab Seite 90) ebenso wie der Gewerkschaftschef und Fracking-Befürworter Michael<br />
Vassiliadis, der davor warnt, urdeutsch nur die Risiken, jedoch nicht die Chancen zu<br />
sehen (ab Seite 96).<br />
In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />
der römische Politiker und Jurist<br />
Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />
Freund Titus Pomponius Atticus<br />
das Herz ausgeschüttet<br />
Mit besten Grüßen<br />
Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 3
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I n h a l t | C i c e r o<br />
Titelthema<br />
Illustration: Peter Menne<br />
18<br />
Die 100-Millionen-Chance<br />
Einwanderer, Rückkehrer, Kinder – Deutschland<br />
schrumpft doch nicht. Die Politik muss umdenken<br />
von Andreas Rinke und Christian Schwägerl<br />
30<br />
„Eine Revolution im Denken“<br />
Der CDU-Vize Armin Laschet über den Magnet<br />
Deutschland und die Integration von Einwanderern<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 7
C i c e r o | I n h a l t<br />
54 Digitaler Pranger<br />
60 Sloweniens Krisenmanagerin 82<br />
Welt der Aktionärinnen<br />
BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE kapital<br />
32 | Mächtig Leise<br />
Die Hoeneß-Enthüllung stärkt den<br />
neuen Focus-Chefredakteur Jörg Quoos<br />
Von Thomas Schuler<br />
34 | Merkels Lafontaine<br />
Saarlands Ministerpräsidentin Kramp-<br />
Karrenbauer verkörpert eine neue CDU<br />
Von Alexander Marguier<br />
36 | Der Trümmermann<br />
Thorsten Schäfer-Gümbel hat beste<br />
Chancen, bald Hessen zu regieren<br />
Von Georg Löwisch<br />
40 | Für die Ermittler unsichtbar<br />
Das Leben des NSU-Trios im Untergrund<br />
Von Butz Peters<br />
47 | Frau Fried fragt sich …<br />
… warum sie mit Alterssex behelligt <strong>wir</strong>d<br />
Von Amelie Fried<br />
48 | Teufelsaustreibung<br />
Der NSU-Prozess muss unspektakulär<br />
verhandelt werden, nicht als Show<br />
Von Frank A. Meyer<br />
52 | Mein Schüler<br />
Gysis Lehrer berichtet, was geschah, als<br />
der Junge eine Beatles-Platte mitbrachte<br />
Von Constantin Magnis<br />
54 | Der ewige Fehler<br />
Mappus’ Mails, Cohn-Bendits Provokation:<br />
Das digitale Archiv des Versagens<br />
Von Bernhard Pörksen<br />
58 | Mein Wunschkabinett<br />
Wieder eine Regierung: Arbeit und<br />
Soziales? Klopp. Umwelt? Vettel!<br />
Von Jörg Thadeusz<br />
60 | Nur noch mit Hosen<br />
Die slowenische Ministerpräsidentin<br />
Alenka Bratušek muss ihr Land<br />
aus der Krise führen<br />
Von Adelheid Wölfl<br />
62 | Terror der Wölfe<br />
Die Bostoner Bomber töteten<br />
im Namen des Islam. Gibt es<br />
den typischen Attentäter?<br />
Von Wolfgang Sofsky<br />
64 | Emma Courage<br />
Emma Bonino ist Italiens neue<br />
Außenministerin. Und vor allem<br />
überzeugte Europäerin<br />
Von eric Bonse<br />
66 | Der Ingenieur von Aleppo<br />
In Syrien versucht ein Mann, inmitten<br />
der Zerstörung ziviles Leben zu erhalten<br />
Von Carsten Stormer<br />
74 | Goldmedaille in Schwermut<br />
Frankreich verfällt in nationale<br />
Depression, obwohl es gar nicht so<br />
schlecht dasteht<br />
Von Jacques Pilet<br />
76 | „Die NPD ist rechtsextrem,<br />
<strong>wir</strong> nicht“<br />
Marine Le Pen, die Vorsitzende des Front<br />
National, offenbart ihre Strategie<br />
Von Stefan Brändle<br />
78 | Sprosse für Sprosse<br />
Unter Fritz Straub wurden die Hellerauer<br />
Werkstätten zum Jachtenausstatter<br />
Von Stephan Locke<br />
80 | „Familie heiSSt Kündigung“<br />
Für ihre Söhne gab Anne-Marie Slaughter<br />
den Job im US-Außenministerium auf<br />
Von Jutta Falke-Ischinger<br />
82 | Geld gegen Geltung<br />
Eine Fotoreportage von der<br />
Hauptversammlung – der Basis der<br />
Aktionärsdemokratie<br />
Von Verena Brandt<br />
90 | Schwarzer Goldrausch<br />
In Williston <strong>wir</strong>d Öl aus dem Boden<br />
gesprengt, damit die Vereinigten Staaten<br />
energieautark sein können<br />
Von Mike Gerrity<br />
96 | „Ein Verbot hilft keinem“<br />
Der Gewerkschafter Michael Vassiliadis<br />
kämpft für das umstrittene Fracking<br />
Von Til Knipper<br />
Fotos: Joze Suhadolnik, Verena Brandt; Illustrationen: Jan Rieckhoff, Christoph Abbrederis<br />
8 <strong>Cicero</strong> 6.2013
102 Inszenierungsinstrument Schlips 118<br />
Das Internet der Tiere<br />
Stil<br />
Salon<br />
98 | GEWEIHE AN DIE WAND<br />
Zu Besuch im edlen Salon von<br />
Tätowiererin Sara Bolen<br />
Von Lena Bergmann<br />
100 | „Männerhaut ist sexy“<br />
Interview mit Designer Thom Browne,<br />
der die Herrenmode verknappte<br />
Von Claudia Steinberg<br />
102 | STRATEGISCHER stofflappen<br />
Obwohl sie weniger getragen <strong>wir</strong>d, ist<br />
die Krawatte wichtiger geworden<br />
Von Katrin wilkens<br />
107 | Warum ich trage, was ich trage<br />
Die Ehrlichkeit im Gesicht muss mit der<br />
in der Kleidung korrespondieren<br />
Von Barbara sukowa<br />
110 | radikal unentschieden<br />
Tim Bendzko bleibt ein junger Milder<br />
Von thomas Winkler<br />
112 | das Böse ist nie banal<br />
Rithy Panh dokumentiert den Terror der<br />
Roten Khmer, unter dem er selbst litt<br />
Von Claire-Lise Buis<br />
114 | „Wie ein Leeres Kino“<br />
Der Regisseur Luc Bondy verlässt Wien<br />
Von irene Bazinger<br />
118 | Sag du zum Gnu und<br />
Folge dem Vogel<br />
Das Internet der Tiere revolutioniert die<br />
Beziehung zwischen Mensch und Natur<br />
Von Alexander Pschera<br />
132 | bibliotheksporträt<br />
Die Entertainerin Gayle Tufts inhaliert<br />
die Worte und liebt ein Schweinchen<br />
Von claudia Rammin<br />
136 | die letzten 24 stunden<br />
Wer am Todestag Tränen vergießt,<br />
fliegt aus dem Sterbezimmer<br />
Von uwe Ochsenknecht<br />
Standards<br />
Atticus —<br />
Von Christoph Schwennicke — seite 3<br />
Stadtgespräch — seite 10<br />
Fotos: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong>, Johannes Fritz; Illustration: Christoph Abbrederis<br />
108 | Küchenkabinett<br />
Geiz oder Protz im Restaurant: Wer<br />
zahlt? Und wer schnappt sich den Beleg?<br />
Von Julius grützke und Thomas Platt<br />
124 | man sieht nur, was man sucht<br />
Gérômes „Der Schlangenbeschwörer“ ist<br />
aus Erotik und Kolonialismus gemacht<br />
Von Beat wyss<br />
126 | Wo das Wir entscheidet,<br />
<strong>wir</strong>d das Ich bevormundet<br />
Es ist Zeit für eine neue<br />
Philosophie der Freiheit<br />
Von alexander Kissler<br />
128 | Es waren 0,77 Prozent<br />
Die Volkszählung im Juni 1933 schuf die<br />
statistische Basis für den Judenmord<br />
Von PhiliPp Blom<br />
131 | Benotet<br />
Musiker auf Reisen müssen<br />
besonders kreativ sein<br />
Von daniel Hope<br />
Forum — seite 16<br />
Impressum — seite 45<br />
Postscriptum —<br />
Von Alexander Marguier — seite 138<br />
Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />
erscheint am 27. Juni 2013<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 9
C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />
Volker Kauder <strong>wir</strong>d als neuer Bundestagspräsident gehandelt, Gerhard<br />
Schröder trinkt nicht nur abends Wein, Berlins Theaterszene ist in Bewegung<br />
geraten und Bayern-München-Fan Merkel schwärmt von den Polen beim BVB<br />
Dompteur Kauder:<br />
Präsident im reichstag?<br />
A<br />
ls er klein war, wollte Volker<br />
Kauder Zirkusdirektor werden.<br />
Heute, so scherzt er gern, habe er<br />
als CDU/CSU-Fraktionschef einen vergleichbaren<br />
Job. Immer wieder Salti hinlegen,<br />
vor und zurück. Etwa bei der Nummer,<br />
die Arbeitsministerin Ursula von der<br />
Leyen ihm zugemutet hat, als sie eine feste,<br />
gesetzliche Frauenquote in Aufsichtsräten<br />
forderte. Dazu, sagt Kauder, „gibt es<br />
nichts mehr zu sagen“. Der Vorgang sei<br />
abgeschlossen. Aber wer ihn kennt, weiß,<br />
dass das nicht stimmt. Kauder fühle sich<br />
als „Opfer einer Erpressung“, heißt es, es<br />
„blubbert nach wie vor böse“ in ihm und<br />
in der Fraktion. „Da ist Druck drin wie<br />
in einem Dampfkochtopf“, sagt einer, der<br />
ihn sehr gut kennt. Trotzdem hält Kauder<br />
still. Denn er weiß, Streit in den eigenen<br />
Reihen schadet im Wahlkampf. Vergessen<br />
ist allerdings nichts.<br />
CDU-intern <strong>wir</strong>d bis ins Umfeld der<br />
Kanzlerin darüber spekuliert, wie Kauder<br />
für sein Stillhalten belohnt werden könnte.<br />
In der Fraktion kursieren E-Mails mit dem<br />
Hinweis, er könne doch Norbert Lammert<br />
im Amt des Bundestagspräsidenten beerben<br />
– was wiederum Lammert unruhig<br />
werden lässt. Merkel sagt dazu natürlich<br />
nichts. Sie baut aber auf Kauders Loyalität<br />
und verlässt sich auf sein sehr schwäbisches<br />
Prinzip, „nix hälinge“ (also: nichts hintenrum)<br />
gegen sie zu machen. Gelernt hat sie<br />
das 2002 vor der Bundestagswahl, als es<br />
Kauder war, der vor der Kür des Kanzlerkandidaten<br />
mit der Botschaft zu ihr kam,<br />
man werde Stoiber wählen, „denn <strong>wir</strong><br />
trauen es Ihnen nicht zu“. So geschah es<br />
dann ja auch. Merkel war beeindruckt von<br />
der Offenheit des Schwaben. Seitdem sind<br />
die beiden ein politisches Gespann.<br />
Nur ein einziges Mal ließ Kauder die<br />
Berliner Journalisten an seiner Loyalität zu<br />
Merkel zweifeln. Das war kurz nach seiner<br />
Wahl zum CDU-Generalsekretär. Da<br />
redete er von seiner „saumäßigen Übereinstimmung“<br />
mit der Chefin. Die Aufregung<br />
seiner Zuhörer war groß. Sie dachten:<br />
Kaum gewählt und schon so ein Zoff?<br />
Kauder beruhigte die Schreiber: „Ich habe<br />
leider nicht bedacht, dass die Preußen alles<br />
können außer Schwäbisch!“ Er übersetzte<br />
seine Worte ins Hochdeutsche: „Mein Verhältnis<br />
zu Angela Merkel ist saumäßig gut.“<br />
Das gilt immer noch. Obwohl sie Kauder<br />
einen politischen Traum bis heute nicht erfüllte:<br />
„Ich wollte einmal unbedingt Kanzleramtsminister<br />
werden.“ tz<br />
Weinfreund Schröder:<br />
„Abend ist immer“<br />
Z<br />
u den vom Spiegel eingeführten<br />
Usancen der Printmedien gehört<br />
es, Interviewpartnern vor Abdruck<br />
der Gespräche den Wortlaut vorzulegen.<br />
Nur das autorisierte Wort <strong>wir</strong>d gedruckt.<br />
Das hat den Vorteil, dass hinterher<br />
niemand behaupten kann, er sei falsch oder<br />
sinnentstellend zitiert worden. Allerdings<br />
besteht immer auch die Gefahr, dass der<br />
oder die Interviewte plötzlich einen Rückzieher<br />
macht. Häufig werden gerade die<br />
besonders interessanten, pointierten, polemischen<br />
oder witzigen Sätze gestrichen<br />
oder abgeschwächt, die das Interview anschaulich,<br />
lebendig und zitierfähig machen.<br />
Um dieser Gefahr zu entgehen, hat sich<br />
das Magazin aus Hamburg kürzlich einen<br />
feinen Trick einfallen lassen: In das Doppelinterview<br />
mit den beiden Altkanzlern<br />
Helmut Schmidt und Gerhard Schröder<br />
bauten die Redakteure eine zweite, kursiv<br />
gedruckte Erzählebene ein, die zwar<br />
zum Interview gehört, aber offensichtlich<br />
illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />
10 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Fit für den Wettbewerb auf einem smarten Planeten.<br />
Die Polizei von<br />
Memphis nutzt Big<br />
Data und Analytics, um<br />
Verbrechensmuster zu<br />
erkennen, und richtet ihre<br />
Strategie danach aus.<br />
Seit fünf Jahren entwickeln Unternehmen<br />
und Städte gemeinsam mit IBM Ideen für<br />
einen smarten Planeten. Führungskräfte<br />
nutzen dafür Big Data und Analytics, um<br />
ihre Unternehmen mit Hilfe von mobilen<br />
Technologien, Social Business und Cloud-<br />
Lösungen voranzubringen.<br />
Dabei haben Big Data und Analytics die<br />
Art und Weise verändert, wie Unterneh men<br />
auf die Wünsche ihrer Kunden reagieren.<br />
Und sind so zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil<br />
geworden.<br />
Analyse statt Instinkt.<br />
Bisher haben sich Führungskräfte auf ihre<br />
Intuition verlassen, wenn sie Strategien<br />
entwickelt haben und Risiken abschätzen<br />
mussten. Mit Big Data und Analytics gehört<br />
das jetzt der Vergangenheit an.<br />
Heute ist jeder Einzelne mit unzähligen<br />
anderen vernetzt. Da kann eine Fehlentscheidung<br />
verheerend sein. Aber dank Datenanalyse<br />
müssen sich Führungskräfte nicht<br />
mehr nur auf ihre Einschätzung verlassen,<br />
sondern können jetzt Verhaltensmuster<br />
erkennen und Entwicklungen vorhersehen.<br />
teile nicht mehr dadurch, dass Mitarbeiter<br />
Wissen anhäufen, sondern indem sie es<br />
teilen.<br />
Der Zementhersteller Cemex hat seine<br />
erste global vertriebene Beton-Marke mit<br />
Hilfe eines eigenen sozialen Netzwerks auf<br />
den Markt gebracht: Durch die Zusammenarbeit<br />
von Mitarbeitern aus 50 Ländern<br />
konnte das Produkt in einem Drittel der<br />
ursprünglich geplanten Zeit auf den Markt<br />
gebracht werden.<br />
Jeder Einzelne ist eine eigene<br />
Zielgruppe.<br />
Im Zeitalter der Massenmedien haben Marketer<br />
ihre Kunden in Bevölkerungs segmente<br />
unterteilt.<br />
Big Data und Analytics stellen Kunden jetzt<br />
als Individuen dar. Das bedeutet: maßgeschneiderte<br />
Services für jeden Einzelnen.<br />
Mit sozialen Netzwerken<br />
verlagert sich der Wert<br />
von Wissen: vom einzelnen<br />
Mitarbeiter hin zum<br />
Wissen, das sie nutzbringend<br />
teilen können.<br />
Soziale Netzwerke bei der Arbeit.<br />
Mit der Verbreitung sozialer und mobiler<br />
Technologien entstehen Wettbewerbsvor-<br />
Erfolg auf einem smarten Planeten.<br />
Unternehmen, die auf Big Data, Analytics<br />
und Cloud setzen sowie auf soziale und<br />
mobile Technologien, sind smarte Unternehmen.<br />
Ihre nächste Herausforderung:<br />
etablierte Arbeitsmethoden so zu verändern,<br />
dass die neuen Technologien optimal<br />
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demografische Zielgruppen<br />
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nicht dem Autorisierungszwang unterliegt.<br />
Auf diese Weise konnten sie erzählen, wie<br />
Helmut Schmidt sich in seinem Büro vor<br />
dem Gespräch einen Vorrat an Menthol-<br />
Zigaretten zurechtlegt, um nicht zwischendurch<br />
aufstehen und für Nachschub sorgen<br />
zu müssen. Außerdem gaben sie in indirekter<br />
Rede wieder, worüber sich die beiden<br />
außerhalb des Interviews unterhielten:<br />
„Dann geht es um Pubertät und Kindesmissbrauch<br />
und um die Gefahr von Drogen. Alkohol,<br />
sagt Schmidt, habe ihn nie interessiert.<br />
Schröder sagt, er habe einen Deal mit seiner<br />
Frau, mittags keinen Wein zu trinken, nur<br />
abends. Aber er sei ja viel unterwegs, und irgendwo<br />
sei schließlich immer Abend.“<br />
Zweifellos <strong>wir</strong>d er es so gesagt haben.<br />
Aber ob er es auch so stehen gelassen hätte,<br />
ist fraglich. Denn Doris Schröder-Köpf<br />
<strong>wir</strong>d nicht begeistert gewesen sein, als sie es<br />
las. Obwohl sie es vermutlich längst weiß.<br />
Der Deal, wissen Freunde der Familie, sei<br />
im Übrigen viel präziser, als Schröder es<br />
im Spiegel darstellte. Nicht „nur abends“,<br />
sondern: „Erst ab 20 Uhr Wein.“ Aber<br />
auch das sei relativ: „20 Uhr ist bei Schröder<br />
immer dann, wenn jemand zu Besuch<br />
kommt.“ hp<br />
spektakuläre wechsel:<br />
swing zur schaubühne<br />
D<br />
as Berliner Theatertreffen<br />
präsentiert jährlich nicht bloß<br />
ausgewählte Inszenierungen, es ist<br />
überdies eine turbulente Börse für Klatsch<br />
und Tratsch der Branche. Das war schon<br />
immer so und funktionierte natürlich auch<br />
beim 50-jährigen Jubiläum. Diesmal allerdings<br />
beschäftigte das Publikum und vor<br />
allem die Akteure vor, auf und hinter der<br />
Bühne nicht irgendwelcher Gossip, sondern<br />
eine echte Sensation: Nina Hoss, die<br />
wohl beste Schauspielerin ihrer Generation,<br />
gewiss mit Abstand die glamouröseste<br />
und ein Star auch auf der Leinwand, wechselt<br />
vom Deutschen Theater (DT), dessen<br />
Ensemble sie 14 Jahre angehörte, an die<br />
Schaubühne. Diese Nachricht drang bald<br />
nach der Eröffnung des großen Spektakels<br />
aus dem Festspielhaus in die umliegenden<br />
Bars und Restaurants und war auch in der<br />
Paris Bar, wo sich nach getaner Arbeit vor<br />
allem die Schauspieler treffen, Gesprächsthema<br />
Nummer eins.<br />
Steht der Schaubühne, die in den siebziger<br />
und achtziger Jahren mit den berühmten<br />
Inszenierungen von Peter Stein<br />
Triumphe feierte, um die es aber in den<br />
vergangenen Jahren eher still geworden war,<br />
nun eine Renaissance bevor? Seit 2012 ist<br />
dort schon Ingo Hülsmann engagiert, und<br />
außerdem <strong>wir</strong>d Nina Hoss dort auch Regine<br />
Zimmermann wiedertreffen – und<br />
den Regisseur Michael Thalheimer, in dessen<br />
legendärer „Emilia Galotti“-Inszenierung<br />
(2001) alle drei am DT spielten und<br />
der in Steins einstigem Musentempel bald<br />
zum zweiten Mal arbeiten <strong>wir</strong>d.<br />
Das Deutsche Theater dagegen verliert<br />
immer mehr an Attraktivität. Verantwortlich<br />
für den Aderlass ist Intendant Ulrich<br />
Khuon, der am Thalia Theater Hamburg<br />
bis 2009 erfolgreich war, seitdem in der<br />
Hauptstadt freilich überfordert <strong>wir</strong>kt. Nach<br />
außen zeigt er sich souverän, nach innen allerdings<br />
agiert er ob der Glücklosigkeit als<br />
nervöser Kontrollfreak und nicht nur menschenfreundlich,<br />
wie der jüngst verstorbene<br />
Schauspieler Sven Lehmann zunehmend<br />
grimmiger zu erzählen wusste. Thomas Ostermeier,<br />
oft gescholtener Leiter der Schaubühne,<br />
kann sich freuen: Ihm laufen die<br />
Theatergrößen jetzt die Bude ein – und mit<br />
ihnen die Zuschauer. baz<br />
tipp für schlapphüte:<br />
imagepflege am filmset<br />
C<br />
ia-Agentin will Bin Laden<br />
finden, es gelingt, Navy Seals<br />
töten ihn in der pakistanischen<br />
Garnisonsstadt Abbottabad. Solche Stoffe<br />
liebt Holly wood. Wir offensichtlich auch:<br />
Kürzlich stellte die American Academy<br />
in Berlin einem handverlesenen Publikum<br />
Kathryn Bigelows Film „Zero Dark<br />
Thirty“ vor. Ex-Außenminister Joschka Fischer<br />
und Ex-BND-Chef Ernst Uhrlau<br />
kommentierten – beide Herren betonten,<br />
Folter komme selbstverständlich nicht infrage,<br />
um an Informationen zu gelangen.<br />
Wie sich nun herausstellt, hat die CIA kräftig<br />
am Drehbuch mitge<strong>wir</strong>kt und ihr nicht<br />
genehme Szenen streichen lassen. So betreibt<br />
man Image arbeit. Da wäre doch sicher<br />
auch mehr drin für BND oder Verfassungsschutz:<br />
Tatkräftige Unterstützung<br />
etwa, wenn Nico Hofmann demnächst<br />
„Die ganze Wahrheit über die NSU-Morde“<br />
ins Kino bringen sollte. jh<br />
Tusk bremst merkel:<br />
„Lewandowski bleibt“<br />
S<br />
TEFAN KORNELIUS, dem Auslandschef<br />
der Süddeutschen Zeitung, gelang<br />
in Berlin ein echter Scoop:<br />
Zur Präsentation seines Buches „Angela<br />
Merkel – Die Kanzlerin und ihre Welt“ kamen<br />
gleich zwei amtierende Regierungschefs,<br />
Merkel selbst und ihr polnischer<br />
Kollege Donald Tusk. Man plauderte über<br />
Erwartetes wie Eurokrise (Tenor: „weiter<br />
wachsam sein“) und Überraschendes wie<br />
Merkels polnischen Großvater („Bin eine<br />
Viertelpolin“). Bevor das Publikum bei so<br />
viel Harmonie auf dem Podium wegzudösen<br />
drohte, kam beim Reizthema Fußball<br />
doch noch etwas Spannung auf. Merkel,<br />
eigentlich Fan von Bayern München,<br />
schwärmte nicht nur von den polnischen<br />
Fußballern bei Borussia Dortmund, deren<br />
Namen sie alle kannte und aufzählte, sondern<br />
auch von den deutschen Nationalspielern<br />
Lukas Podolski und Miroslav Klose.<br />
Die seien mit ihren polnischen Wurzeln<br />
doch ein Beleg für gute Nachbarschaft. Sofort<br />
grätschte Tusk, selbst Stürmer der polnischen<br />
Parlamentself, dazwischen: „Aber<br />
Robert Lewandowski bleibt bei uns.“ til<br />
illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />
12 <strong>Cicero</strong> 6.2013
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Über Berliner, Türken, Titelbilder, Homo-Ehen und Sehbehinderte<br />
Zum Interview mit<br />
Klaus Wowereit „Berlin <strong>wir</strong>d<br />
gezielt schlechtgeredet“<br />
und „Berlin in Zahlen“ von<br />
Til Knipper / Mai 2013<br />
abgründe<br />
Man mag es nicht mehr sagen und nicht mehr hören, aber es ist einfach ein Faktum:<br />
Die „Mauer“ in den Köpfen besteht weiterhin. Zwischen dem Zoo und dem<br />
Tierpark Friedrichsfelde, zwischen Hertha und Union, dem Müggelsee und dem<br />
Wannsee, dem KaDeWe und dem Einkaufszentrum Schöneweide, zwischen Cindy<br />
aus Marzahn und Udo aus der Uhlandstraße klaffen Abgründe! Die Berliner<br />
meckern, protestieren und demonstrieren weiterhin nach Kräften (und die vielen<br />
Medien <strong>wir</strong>ken gern als Verstärker und Multiplikatoren der Bürgerwut). Aber sie<br />
wissen auf der anderen Seite, dass sie trotz – oder auch wegen – aller Widersprüche,<br />
Mängel, Fehler und Unzulänglichkeiten in einer im doppelten Sinne äußerst<br />
reizvollen Stadt leben.<br />
Dr. Wolf Rüdiger Heilmann, Berlin<br />
populistische Neigung<br />
Bis jetzt hat sich der <strong>Cicero</strong> für mich<br />
durch eine gut recherchierte und stets<br />
professionelle Schreibweise ausgezeichnet,<br />
welche nicht zu populistischen<br />
Darstellungen neigt. In dem Artikel<br />
„Boom, Boom, Berlin“ bin ich doch sehr<br />
überrascht worden. Die Statistik „Berlin<br />
in Zahlen“ von Til Knipper verleitet<br />
stark dazu, den Länderfinanzausgleich<br />
mit den Kosten für einen Kindertagesstättenplatz<br />
zu verbinden. Bei dieser<br />
Gegenüberstellung von dem zahlenden,<br />
leidenden Bayern und dem ungerecht<br />
handelnden Berlin <strong>wir</strong>d ein klarer Bezug<br />
zwischen Länderfinanzausgleich und der<br />
Verfügbarkeit der Kita-Plätze geschaffen.<br />
Diese Verbindung ist meiner Meinung<br />
nach jedoch schlichtweg falsch. Der<br />
Länderfinanzausgleich hat die Funktion,<br />
die benötigten Mittel der Anzahl der<br />
Bürger in Relation zu der <strong>wir</strong>tschaftlichen<br />
Stärke zu setzen. Es ist also<br />
quasi ein Ausgleich, der im Sinne eines<br />
föderalistischen Bundes- und vor allem<br />
Sozialstaats geschieht. Dass in München<br />
jedoch zu wenig Kindergartenplätze zur<br />
Verfügung stehen, liegt an der Sozialpolitik<br />
der einzelnen Länder und Kommunen.<br />
Ein weiterer Faktor ist auch die<br />
geringe Anzahl von Kindertagesstätten<br />
und BetreuerInnen im Ballungsgebiet<br />
München. Es gibt noch viele weitere<br />
Gründe. Diese Statistik verwendet reine<br />
Zahlen. Jedoch impliziert sie für mich<br />
den Versuch, die Leserinnen und Leser<br />
uninformiert über die eigentlichen Hintergründe<br />
dieser Zustände zu lassen und<br />
vielmehr auf eine populistische Berichterstattung<br />
abzuzielen.<br />
Luca Messerschmidt, Darmstadt<br />
zum beitrag „Herzlich<br />
Willkommen!“ von Gerhard<br />
Schröder / April 2013<br />
„Rumgedreht“<br />
Unvoreingenommen, vom Titel angemacht,<br />
interessiert gelesen und von<br />
den Thesen überzeugt. Dass Gerhard<br />
Schröder der Autor war, habe ich erst<br />
hinterher bemerkt. Recht hat er, der<br />
nie Ideologe, sondern Pragmatiker war<br />
und das immer überzeugend begründen<br />
konnte. Und hier tut er es wieder.<br />
Mich hat er jedenfalls „rumgedreht“ mit<br />
Argumenten, die ich vorher nie vernommen<br />
hatte. Ist denn das Christentum<br />
des Westens toleranter als der Islam?<br />
Beste Grüße aus der schönsten Hansestadt<br />
Niedersachsens.<br />
Dr. Heinrich Barthel, Lüneburg<br />
zum beitrag „Vom Furor des<br />
Fortschritts“ von Reinhard<br />
Mohr / April 2013<br />
störendes spruchband<br />
Seit Jahren kaufe ich häufiger Ihre Zeitschrift<br />
<strong>Cicero</strong> und finde viele Beiträge gut.<br />
Störend finde ich häufig das Titelblatt.<br />
Sie haben es nicht nötig, auf „Bild-Zeitungs-Niveau“<br />
einzusteigen. Besonders<br />
verletzend finde ich Heft April 2013, wie<br />
Sie unseren Bundespräsidenten präsentieren.<br />
Ohne Spruchband in Ordnung –<br />
aber mit Spruchband verletzend.<br />
J. Kuhmann, Dülmen<br />
illustrationen: cornelia von seidlein<br />
16 <strong>Cicero</strong> 6.2013
unerträglich<br />
Mit großem Genuss habe ich Reinhard<br />
Mohrs Artikel gelesen. Die vom<br />
politischen Zeitgeist getragene Debatte<br />
über Sexismus und die damit einhergehende<br />
Forderung irgendwelcher Quoten<br />
sind in der Tat unerträglich. Und<br />
zwar, weil sie tatsächlich das Gegenteil<br />
dessen erreichen, was sie zu intendieren<br />
vorgeben, nämlich Gleichberechtigung.<br />
Vielleicht müssten <strong>wir</strong> diesen Begriff<br />
umbenennen in Gleichforderung.<br />
Somit hätte jeder, egal ob Mann, Frau,<br />
Schwuler oder Migrant, die Chance,<br />
einen Beitrag zu leisten. Dafür braucht<br />
es keine Quoten (die auch in anderen<br />
Ländern nie funktioniert haben, siehe<br />
die Affirmative Action). Das Einzige,<br />
was <strong>wir</strong> brauchen, ist mehr meritokratisches<br />
Denken und Urteilen. Das<br />
verhindert sowohl, dass fähige Frauen<br />
als Quotenfrauen diskriminiert werden,<br />
als auch, dass fähige Männer von der<br />
Quote benachteiligt werden. Aufgrund<br />
der Breite der Diskussion und<br />
der offensichtlichen Entfernung von<br />
einem rationalen Diskurs verliere ich<br />
allerdings langsam den Glauben daran,<br />
dass Deutschland diesen Irrweg noch<br />
verlassen <strong>wir</strong>d.<br />
Martin Stahl, München<br />
ZUM BEITRAG „KULTURKAMPF<br />
UM DIE HOMO-EHE“ VON UDO DI<br />
FABIO / APRIL 2013<br />
GEFÄHRDETE WERTE<br />
Unsere Verfassung schützt Ehe und<br />
Familie in besonderer Weise, weil ausschließlich<br />
dort die gemeinschaftserhaltenden<br />
Werte gepflegt und gleichzeitig<br />
an eine nächste Generation weitergegeben<br />
werden und somit Kontinuität und<br />
Zukunft der Gesellschaft sichergestellt<br />
sind. Entsprechend sagt das Grund-<br />
gesetz Artikel 6, Absatz 2: „Die Pflege<br />
und die Erziehung der Kinder sind das<br />
natürliche Recht der Eltern.“<br />
Mit dem natürlichen Recht der Eltern<br />
ist weit mehr gemeint als nur die<br />
„intime Nähe“ von Mann und Frau, die<br />
auch bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften<br />
möglich ist. Es ist gerade<br />
dieses unantastbare, dem Zeitgeist<br />
nicht unterworfene Recht als Grundlage<br />
jeder menschlichen Gemeinschaft,<br />
welches dabei ist, gegenwärtig diskriminiert<br />
zu werden zugunsten einer<br />
liberalen Ausgestaltung von Beziehungen<br />
und sexueller Lebensstile.<br />
Eduard Biedermann, Hamburg<br />
ZUM BEITRAG „Zwei deutsche<br />
Sittenbilder“ von Frank<br />
A. Meyer / September 2012<br />
Sehr geehrter Herr Meyer, ein wenig spät,<br />
aber doch habe ich Ihren Artikel gelesen.<br />
Die Banker nehmen ihre Verantwortung<br />
nicht wahr, die Politiker doch? Mit Ausnahme<br />
von Präsident Wulff, der einfach<br />
mit den Medien nicht umgehen konnte,<br />
wohl kaum. Berliner Flughafen? Ramsauer,<br />
Platzeck, Wowereit sitzen noch<br />
da. Hypo Real Estate? Die Bayern haben<br />
wieder einen Politiker in der Landesbank<br />
als Aufsichtsratsvorsitzenden eingesetzt.<br />
Ob der eine Ahnung von Banken hat?<br />
Hypo Adria? Wie bei der Mafia. Kostenüberschreitung<br />
beim Stuttgarter Bahnhof?<br />
Irgendwie erscheinen Sie mir auf<br />
dem politischen Auge blind, besonders<br />
auf dem linken.<br />
Wie es so schön ein Schweizer Blatt<br />
einmal geschrieben hat: Die Deutschen<br />
tun uns leid, sie haben die Linken, die<br />
Grünen und die Herz-Jesu-Sozialisten.<br />
Michael Novosad, Langenzenn<br />
(Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.)<br />
Rückblende<br />
Über das <strong>Cicero</strong>-Projekt, aus Berliner<br />
Geräuschen die „Sinfonie einer<br />
Hauptstadt“ zu komponieren, schrieb<br />
Ulrike Simon in der Berliner Zeitung:<br />
„Sinfonie einer<br />
Hauptstadt“<br />
nennt das Monatsmagazin<br />
<strong>Cicero</strong> die CD,<br />
die heute im<br />
Paket mit der<br />
neuen Ausgabe erscheint. Gewidmet<br />
ist das Heft Berlin, der „verschlunzten<br />
Hauptstadt“, wie neben<br />
dem in Öl gemalten Titelbild zu lesen<br />
ist. Es zeigt im frivolen Zwanzigerjahre-Stil<br />
Klaus Wowereit im<br />
Kreis von Hans-Christian Ströbele,<br />
Cindy aus Marzahn und weiteren<br />
Berliner Gestalten, rauchend, singend<br />
und saufend, wobei nicht auszumachen<br />
ist, ob das Bild nach der<br />
letzten oder vor der nächsten Party<br />
entstanden ist.<br />
Sonderhefte über Berlin gibt es<br />
wie Sand am Meer. Was es bisher<br />
nicht gab, ist der passende Soundtrack<br />
zur Stadt. Ernst Reuters „Völker,<br />
schaut auf diese Stadt“, mit<br />
Klaviermusik unterlegt, gefolgt vom<br />
„Suuurückbleibn bitte“ am U-Bahnhof<br />
Warschauer Straße. Mit Swing<br />
geht’s an den Potsdamer Platz, wo<br />
sich der Rhythmus trommelnd beschleunigt,<br />
begleitet vom Klackern<br />
vorbeieilender High Heels. „Niemand<br />
hat die Absicht, eine Mauer<br />
zu errichten“, hört man Walter Ulbricht<br />
sagen, bevor nach jiddischen<br />
Klängen am Alexanderplatz die<br />
Lautsprecherdurchsage die Einfahrt<br />
der Regionalbahn zum Flughafen<br />
Schönefeld über den Ostbahnhof<br />
ankündigt. Bisweilen braucht es<br />
ein wenig Fantasie, um die Plätze<br />
und Orte zu erkennen, aber auch<br />
das macht den Reiz dieser Hörkulisse<br />
aus, die der Berliner Jazzmusiker<br />
und Komponist Volker Schlott<br />
zusammengestellt hat. Also: die CD<br />
einfach noch mal anhören. Denn<br />
so klingt Berlin.<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 17
T i t e l<br />
Die 100-Millionen-<br />
Deutschland schrumpft, sagt die Kanzlerin. Alle Politik dreht sich nur darum, mit dem<br />
Schwund zu leben. Aber die Zukunft ist längst da. Deutschland wächst: im vergangenen Jahr<br />
um 200 000 Menschen. Und das ist erst der Anfang<br />
von Andreas Rinke und christian Schwägerl<br />
18 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Chance<br />
Livia kam aus Italien, Florent<br />
aus Frankreich. Ihre drei<br />
Kinder Massimo, Fulvio<br />
und Emilia (von links nach<br />
rechts) wurden hier geboren<br />
und haben deutsche Pässe<br />
Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />
E<br />
igentlich galt halle als schrumpfende,<br />
darbende Stadt, ein Symbol<br />
für das, was Deutschland bevorsteht.<br />
Seit vielen Jahren sagen<br />
Demografen der Stadt im Süden<br />
Sachsen-Anhalts voraus, dass sie kontinuierlich<br />
Einwohner verlieren, also langsam<br />
ausbluten <strong>wir</strong>d. Doch wer in diesen Tagen<br />
durch Halle läuft, bekommt einen ganz<br />
anderen Eindruck. In der Fußgängerzone<br />
schieben sich Jung und Alt dicht an dicht.<br />
Auf den Baustellen klopft und knattert es.<br />
Und die Statistik ist so überraschend wie<br />
eindeutig: Die Bevölkerung wächst – und<br />
das schon im dritten Jahr.<br />
Nun ist die Stadt wieder ein Symbol,<br />
aber nicht für den demografischen Niedergang,<br />
sondern für eine erstaunliche<br />
Trendumkehr. Deutschland wächst.<br />
Jedes Schulkind erfährt, dass die Bevölkerungszahl<br />
auf keinen Fall bei 80 Millionen<br />
bleiben <strong>wir</strong>d. Das Schrumpfen ist die Prämisse<br />
aller Politik. Auf jedem Parteitag <strong>wir</strong>d<br />
das „Demografie-Problem“ beschworen. Jeder<br />
Bürgermeister mahnt Ideen an, beruft<br />
Kommissionen ein und lässt Beschlüsse fassen,<br />
um die Schrumpfkrise zu bewältigen. In<br />
den Szenarien bleiben Wohnungen unvermietet,<br />
suchen Firmenchefs verzweifelt Mitarbeiter,<br />
bleiben Krankenhausbetten unbelegt,<br />
und Regionalzüge tingeln leer durch<br />
die Landschaft. Das Rentensystem, die<br />
Budgetpläne, der Energiebedarf – all das<br />
basierte in den vergangenen Jahren auf der<br />
Annahme, dass in Deutschland deutlich weniger<br />
Menschen leben. Auf einer Annahme,<br />
die voreilig war.<br />
Den Prognosen des Statistischen Bundesamts<br />
zufolge sollte die Zahl der Menschen<br />
in Deutschland von einem Höchststand<br />
von 82,5 Millionen seit 2002<br />
kontinuierlich sinken, bis im Jahr 2060<br />
nur noch 64 bis 70 Millionen Menschen<br />
übrig sind. Grund für die Prognose war vor<br />
allem, dass die deutschen Frauen schon seit<br />
Anfang der siebziger Jahre immer weniger<br />
Kinder bekommen, was dazu führt, dass<br />
auch die Zahl potenzieller Mütter sinkt.<br />
Um die Bevölkerung konstant zu halten,<br />
ist ohne massive Einwanderung mindestens<br />
ein Durchschnitt von 2,1 Kindern pro<br />
Frau nötig – real sind es derzeit etwa 1,4.<br />
Das Statistische Bundesamt rechnete die<br />
Zahlen hoch und kam zu dem Ergebnis,<br />
dass es binnen eines halben Jahrhunderts<br />
15 bis 20 Millionen Deutsche weniger geben<br />
dürfte.<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 19
T i t e l<br />
Das wäre in der Tat ein dramatischer<br />
Prozess mit weitreichenden Folgen. Doch<br />
schon 2011 wurde der Abwärtstrend gebrochen,<br />
mit einem großen Einwandererplus<br />
von 279 000 Menschen. 2012 gab es<br />
erneut einen starken Zuwachs von mehr<br />
als 369 000 Menschen. Die Bevölkerung<br />
stieg dadurch wieder auf über 82 Millionen<br />
Menschen an.<br />
Mit Staunen beobachten Bevölkerungsforscher,<br />
wie die reale Entwicklung von ihren<br />
Prognosen abzuweichen beginnt. Vor<br />
allem wandern aufgrund der EU-Erweiterung<br />
und der Eurokrise mehr Menschen<br />
ins <strong>wir</strong>tschaftlich starke Deutschland ein<br />
als aus. „Ein so starkes Plus in den letzten<br />
beiden Jahren ist eine <strong>wir</strong>klich erstaunliche<br />
und erfreuliche Entwicklung“, sagt James<br />
Vaupel, Direktor am Max-Planck-Institut<br />
für demografische Forschung in Rostock,<br />
einer der führenden Einrichtungen für Bevölkerungsforschung<br />
weltweit.<br />
Vaupel gehörte in den vergangenen<br />
Monaten zu den Leitfiguren der Demografie-Kampagne<br />
der Bundesregierung. Sein<br />
Alberto, 29, Architekt, seit drei Jahren in Berlin. Er stammt aus Udine<br />
in Italien: „Das Gefühl, das ich in Deutschland empfinde, ist Freiheit“<br />
Gesicht prangte von den Plakaten, mit denen<br />
die Bundesregierung das Land auf eine<br />
Zukunft des Schrumpfens und Alterns vorbereiten<br />
will. Doch ob die Schrumpfung<br />
<strong>wir</strong>klich so kommt wie prognostiziert, daran<br />
äußert der renommierte Demograf nun<br />
erhebliche Zweifel: „Die Bevölkerungsentwicklung<br />
<strong>wir</strong>d dadurch bestimmt, wie viele<br />
Menschen ein- und auswandern und wie<br />
viele Menschen geboren werden und sterben“,<br />
sagt Vaupel. Er sehe nun „Anzeichen<br />
dafür, dass die offiziellen Prognosen in allen<br />
diesen Bereichen danebenliegen“.<br />
Das Undenkbare <strong>wir</strong>d plötzlich denkbar:<br />
Warum sollte Deutschland im 21. Jahrhundert<br />
nicht einfach weiter 82 Millionen<br />
Einwohner haben, so wie heute. Oder<br />
könnte unter neuen Bedingungen die Bevölkerung<br />
gar <strong>wachsen</strong>, auf 90 Millionen?<br />
Auf 100 Millionen?<br />
Bis etwa zum Jahr 2000 war Demografie<br />
in Deutschland ein Tabu. Weil die Nazis<br />
ihre Ideologie stark mit demografischen Argumenten<br />
untermauert hatten, vom Volk<br />
ohne Raum über die Rassenlehre bis zum<br />
Mutterkreuz für Vielgebärerinnen war es<br />
verpönt, politische Strategien zu entwickeln,<br />
um die Bevölkerung zu vergrößern<br />
oder Familien zu mehr Kindern zu ermutigen.<br />
„Eine aktive Bevölkerungsplanung<br />
ist ein historisch belastetes Thema“, sagt<br />
Günter Stock, Präsident der Berlin-Brandenburgischen<br />
Akademie der Wissenschaften,<br />
der in den vergangenen Jahren eine<br />
Arbeitsgruppe der Nationalen Akademie<br />
Leopoldina zur Demografie geleitet hat.<br />
Vor etwa zehn Jahren brach das Tabu<br />
doch, weil die Zahlen zu Geburten und<br />
zum Bevölkerungsrückgang so dramatisch<br />
<strong>wir</strong>kten. Die „Demografie-Debatte“, an der<br />
sich bis hin zum Bundespräsidenten alle<br />
prominenten Denker beteiligten, nahm<br />
schnell fatalistische Züge an: Dass die Bevölkerung<br />
stark schrumpft, wurde landauf,<br />
landab erstaunlich schnell als gegeben hingenommen.<br />
Der Eindruck entstand, dass<br />
nichts und niemand etwas gegen die Macht<br />
der Zahlen tun kann. Das Schrumpfen entwickelte<br />
sich zum Mantra, das Kommunen,<br />
Unternehmen und Politik seither wiederholen<br />
und inzwischen all ihren Entscheidungen<br />
zugrunde legen. Städte lassen, wie<br />
zuletzt in Duisburg, mit Verweis auf „die<br />
Demografie“ ganze Wohnviertel abreißen.<br />
Kanzlerin Angela Merkel hielt Mitte<br />
Mai bereits ihren zweiten Demografie-Gipfel<br />
ab, bei dem es um die Entvölkerung<br />
des ländlichen Raumes und um Alterung<br />
ging. Sie will die empfundene Bedrohung<br />
zumindest als Chance interpretiert wissen.<br />
Aber auch sie glaubt noch an die Schrumpfung:<br />
„Wenn <strong>wir</strong> auf Deutschland schauen,<br />
ungeachtet möglicher Zuwanderungsraten,<br />
dann wissen <strong>wir</strong>, dass <strong>wir</strong> insgesamt weniger<br />
werden“, sagte sie Ende April vor dem<br />
Deutschen Ethikrat.<br />
Dass die Schrumpfungsprognosen so<br />
widerstandslos aufgenommen werden, hat<br />
neben historischen ökonomische Gründe.<br />
Für die Finanzminister sind die Zahlen<br />
das ideale Argument, um Ausgaben zurückzufahren,<br />
etwa im Wohnungsbau<br />
und in Schulen und Hochschulen. So will<br />
die Regierung von Sachsen-Anhalt ihren<br />
Hochschulen in den kommenden Jahren<br />
mehr als 50 Millionen Euro kürzen, was<br />
150 Professorenstellen entspricht. Offizielle<br />
Begründung: die Demografie-Prognosen.<br />
Ministerpräsident Reiner Haseloff entließ<br />
sogar die Wissenschaftsministerin, als<br />
die sich weigerte, den Kurs mitzutragen.<br />
Fotos. Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />
20 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Jessica, 24, Journalistin, kam<br />
vor anderthalb Jahren aus<br />
Großbritannien: „In London<br />
hätte ich mir ein Praktikum gar<br />
nicht leisten können. Hier wurde<br />
ich danach sogar übernommen“<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 21
T i t e l<br />
Guillermo, 26, Marketingexperte,<br />
seit Januar 2012 in Deutschland:<br />
„In Spanien herrscht ein negatives<br />
Grundgefühl. Ich habe meinen<br />
Job in Madrid aufgegeben und<br />
fühle mich hier bereits heimisch“<br />
22 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />
Die geschasste Ministerin hatte offenbar<br />
einen aktuelleren Eindruck von<br />
der Universitätsstadt Halle als ihr CDU-<br />
Kollege Haseloff. Wer die Stadt besucht,<br />
sieht, dass sie durch den Zuzug von Studenten<br />
im Vergleich zu den Nachwendejahren<br />
aufblüht. Am Sophienhafen direkt<br />
an der Saale zum Beispiel stehen orangefarbene<br />
Bauwagen bereit. Hier sollen bald<br />
„moderne Stadthäuser“ entstehen. In der<br />
Schimmelstraße, unweit des Zentrums,<br />
lässt die Stadt demnächst eine neue Kindertagesstätte<br />
errichten, so groß ist die Nachfrage<br />
junger Eltern. Noch näher an der<br />
historischen Innenstadt, in der Niemeyerstraße,<br />
will die Wohnungsbaugesellschaft<br />
„Freiheit“ eine riesige Brache im nächsten<br />
Jahr mit 110 neuen Wohnungen füllen.<br />
233 000 Hallenser gibt es heute, über<br />
2000 mehr als noch vor vier Jahren. Halle<br />
macht deshalb einen jungen Eindruck. Auf<br />
dem Rasen neben dem strahlend sanierten<br />
Universitätsplatz sitzen Studenten und skypen.<br />
Gegenüber, im Café „Wonnemond<br />
und Sterne“, debattiert an einem Tisch ein<br />
Professor mit seinen Assistenten, am nächsten<br />
sitzt eine Runde junger Mütter, draußen<br />
läuft eine Schulklasse vorbei. Den offiziellen<br />
Prognosen zufolge müssten schon heute<br />
nur noch 225 000 Menschen in Halle leben,<br />
im Jahr 2025 gar 206 000. „Alle Bevölkerungsprognosen<br />
gingen von einer anhaltenden<br />
Schrumpfung der Bevölkerungszahl in<br />
Halle aus“, sagt Uwe Stäglin, der Dezernent<br />
für Stadtentwicklung.<br />
Ihn freut der Aufschwung: „Das Ausmaß<br />
der positiven Entwicklung war bis vor<br />
wenigen Jahren nicht absehbar, nun wollen<br />
<strong>wir</strong> erreichen, dass das Wachstum weitergeht“,<br />
sagt er. Doch ausgerechnet die<br />
Landesregierung durchkreuzt dieses Vorhaben.<br />
Die Stadtoberen und die Universitätsleitung<br />
bekommen von ihr weiterhin<br />
die veralteten Bevölkerungsprognosen als<br />
unabwendbares Schicksal präsentiert. Wird<br />
an den Hochschulen gespart, dürfte es tatsächlich<br />
wieder bergab gehen. Das Beispiel<br />
Halle zeigt vor allem eins: dass Demografie<br />
in hohem Maß flexibel und gestaltbar ist –<br />
und dass Prognosen eine eigene, potenziell<br />
fatale Kraft entfalten können, weil sie flexibles<br />
Denken und Planen behindern.<br />
Eine ganze Generation von Beratern<br />
und Wissenschaftlern ist allein damit beschäftigt,<br />
Deutschland auf den demografischen<br />
Niedergang einzustimmen. So viele<br />
Wenn eine<br />
Republik,<br />
die aufs<br />
Schrumpfen<br />
getrimmt ist,<br />
wächst, <strong>wir</strong>d<br />
es schwierig<br />
und so grundsätzliche Entscheidungen<br />
gründen inzwischen auf dem Schrumpfungsmantra,<br />
dass es für Politiker schwer<br />
ist, den neuerlichen Bevölkerungszuwachs<br />
anzuerkennen und als Chance zu begreifen:<br />
Denn nicht nur für lokale und regionale,<br />
auch für die großen Fragen der Politik dient<br />
die prognostizierte Schrumpfung als grundlegendes<br />
Argument. Die gesamte Strategie<br />
von Kanzlerin Merkel in der Schuldenkrise<br />
beruht auf der tiefen, parteiübergreifenden<br />
Überzeugung, dass man einer kleiner werdenden<br />
Zahl junger Deutscher nicht noch<br />
mehr Schulden aufhalsen kann. Die ohnehin<br />
vernünftige Sparpolitik wurde dadurch<br />
gleich zur Schicksalsfrage: Deshalb hatte<br />
bereits die Große Koalition die Schuldenbremse<br />
im Grundgesetz verankert und als<br />
Zukunftssicherung verkauft.<br />
Im geburtenstarken Frankreich setzen<br />
die Regierungen dagegen seit Jahren<br />
auf Wachstum – und das erklärt mehr als<br />
jede Parteipolitik die derzeitigen deutschfranzösischen<br />
Differenzen. Ähnlich wie<br />
die USA glaubt man sich im <strong>wachsen</strong>den<br />
Frankreich mehr Schulden leisten zu können.<br />
Als im vergangenen Jahr das französische<br />
Demografie-Institut INED seine Vorausberechnungen<br />
vorlegte, jubelten die<br />
Medien im Nachbarland: Im Jahr 2055, so<br />
lautete die Botschaft, werde man endlich<br />
bevölkerungsreicher als der ewige Hass-<br />
Liebespartner sein – ein erklärtes Ziel der<br />
französischen Politik seit dem Ende des<br />
Zweiten Weltkriegs. Was jetzt in Deutschland<br />
passiert, muss aus französischer Sicht<br />
eine Schreckensnachricht sein: Der Koloss<br />
in der Mitte Europas wächst wieder.<br />
Viele Politiker und Experten erwischt<br />
die aktuelle Entwicklung auf dem falschen<br />
Fuß. Kein einziges der Szenarien, die bisher<br />
kursierten, spielte durch, was passieren<br />
könnte oder passieren müsste, damit<br />
die Bevölkerung stabil bleibt oder wieder<br />
wächst. Dabei sind die Folgen der aktuellen<br />
Entwicklung vor allem in den deutschen<br />
Städten gut zu beobachten. In Städten<br />
wie Berlin, Hamburg und München<br />
<strong>wir</strong>d Wohnraum knapp, am Samstag stehen<br />
die Wohnungssuchenden oftmals um<br />
Straßenecken herum Schlange, um eine<br />
der begehrten Appartements besichtigen<br />
zu können. In Berlin kurbelt die Landesregierung<br />
den sozialen Wohnungsbau wieder<br />
an.<br />
Wohnhäuser lassen sich relativ schnell<br />
bauen. Bis eine neue Schule gebaut ist, und<br />
dort der Unterricht beginnen kann, dauert<br />
es dagegen schon länger. Wenn eine Republik,<br />
die auf Schrumpfung getrimmt <strong>wir</strong>d,<br />
doch wieder wächst, <strong>wir</strong>ft das Probleme<br />
auf. Wenn milliardenschwere Infrastrukturpläne,<br />
ob für die Bahn oder den Autoverkehr,<br />
auf eine sinkende Bevölkerung<br />
eingestellt werden, kann das schnell zu<br />
überfüllten Zügen und Stau führen. Die<br />
Pläne für die ohnehin schon schwierige<br />
Energiewende wären falsch ausgelegt, da<br />
dann für deutlich mehr Menschen Windräder,<br />
Solarzellen und Stromnetze installiert<br />
werden müssten.<br />
Durch ein Wachstum gäbe es allerdings<br />
viele positive Effekte: In der Finanzpolitik<br />
könnte vor allem das Sparen, aber<br />
auch das staatliche Investieren, einfacher<br />
werden, weil es doch mehr Steuerzahler<br />
gäbe als bisher angenommen. In jedem<br />
Fall wäre ein <strong>wachsen</strong>des Deutschland für<br />
Investoren aus aller Welt attraktiver als eines,<br />
das als Markt schrumpft und unter<br />
einem ständigen Fachkräftemangel leidet.<br />
Die Finanzierung der Sozialsysteme würde<br />
einfacher und die ohnehin kommende Alterung<br />
der Gesellschaft könnte besser abgefedert<br />
werden.<br />
Nur langsam dämmert es den Fachleuten,<br />
dass ihre früheren Zahlensets überholt<br />
sein könnten und sie bei den Prognosen für<br />
Ein- und Auswanderung, bei den Geburten<br />
und bei der Lebenserwartung womöglich<br />
umdenken müssen.<br />
Treibende Kraft für den starken Bevölkerungszuwachs<br />
ist derzeit eindeutig<br />
die Zuwanderung. Nachdem 2009 noch<br />
mehr Menschen Deutschland den Rücken<br />
gekehrt hatten als zugezogen waren, dreht<br />
sich der Trend dramatisch in die andere<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 23
T i t e l<br />
Zuwanderung in Deutschland<br />
Menschen pro Jahr. Differenz von Ein- und Auswanderern<br />
800 000<br />
600 000<br />
400 000<br />
200 000<br />
Menschen<br />
782 071<br />
272 723<br />
0<br />
1990 1995 2000 2005 2010 2012<br />
-100 000<br />
- 55 743<br />
Bevölkerung in Deutschland<br />
Reale Bevölkerungsentwicklung und die Prognose des Statistischen Bundesamts<br />
Millionen Menschen<br />
82,5<br />
82<br />
81,5<br />
81<br />
80,5<br />
80<br />
79,5<br />
79<br />
Richtung. Nach einem positiven Saldo<br />
2011 vermeldete das Statistische Bundesamt<br />
Anfang Mai, dass 2012 ingesamt eine<br />
Million Menschen nach Deutschland gezogen<br />
ist, 369 000 mehr als auswanderten<br />
– das ist der höchste Nettozuwachs<br />
seit 17 Jahren.<br />
Zwar warnen erfahrene Statistikerinnen<br />
wie Bettina Sommer vom Statistischen<br />
Bundesamt davor, das Hoch der<br />
2009<br />
Prognose<br />
369 000<br />
Reale Bevölkerungszahlen<br />
1990 1995 2000 2005 2010 2015<br />
Quelle: Statistisches Bundesamt<br />
vergangenen beiden Jahre linear auf die<br />
Zukunft zu übertragen. Die Bevölkerungsexpertin<br />
verweist auf die Langfrist-Statistik,<br />
nach der es seit 1950 bereits 13 Mal<br />
ein positives Zuzugssaldo von mehr als<br />
300 000 Einwohnern gegeben hat. Der<br />
Rekord lag 1992 sogar bei 782 000 Menschen.<br />
Dann deutet sie auf andere Teile der<br />
zackigen Kurve: In fünf Phasen seit 1950<br />
gab es auch ein negatives Wanderungsaldo,<br />
verließen mehr Menschen Deutschland als<br />
zuzogen. „Wenn Sie langfristige Annahmen<br />
für die Zeit bis 2060 treffen, müssen Sie als<br />
Statistiker einen Durchschnitt annehmen<br />
und vorsichtig rechnen“, warnt Sommer.<br />
Sie ist ein gebranntes Kind. Denn als das<br />
Statistische Bundesamt 2009 seine neue<br />
12. Bevölkerungsvorausberechnung veröffentlichte,<br />
wurde es prompt dafür kritisiert,<br />
dass die damals verwendeten Annahmen<br />
mit einem durchschnittlichen jährlichen<br />
Zuzug von 100 000 und 200 000 Menschen<br />
viel zu optimistisch seien. 2008 und<br />
2009 glaubten auch viele Experten wegen<br />
der <strong>wir</strong>tschaftlichen Krise nicht mehr an<br />
eine Wende.<br />
Wie Sommer sieht auch der Demografie-Experte<br />
Reiner Klingholz, Leiter des<br />
Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung,<br />
„derzeit noch keine Anzeichen<br />
für eine demografische Trendwende“. Die<br />
starke Zuwanderung werde nicht zehn oder<br />
mehr Jahre anhalten, „weil dann irgendwann<br />
keiner mehr in Spanien oder Bulgarien<br />
ist, der auswandern könnte“.<br />
Doch viele sind anderer Meinung. Wegen<br />
der Krise in anderen EU-Staaten und der<br />
Stärke der deutschen Wirtschaft dürfte ihnen<br />
zufolge die Zuwanderung dauerhaft<br />
anhalten. Das Wirtschaftsforschungsinstitut<br />
Kiel Economics, eine Ausgründung<br />
des renommierten Instituts für Welt<strong>wir</strong>tschaft,<br />
rechnet damit, dass allein im Jahr<br />
2014 die Nettozahl der Zuwanderer auf<br />
über 500 000 steigen könnte. Bis 2020<br />
könnten insgesamt 2,2 Millionen Menschen<br />
hinzukommen, vor allem aus den<br />
<strong>wir</strong>tschaftlich kriselnden Ländern in Südund<br />
Osteuropa. Das wären 275 000 pro<br />
Jahr, fast ein Drittel mehr als angenommen.<br />
Der Chef der Bundesagentur für Arbeit,<br />
Frank-Jürgen Weise, rechnet allein aus Bulgarien<br />
und Rumänien mit einer Zuwanderung<br />
von 120 000 bis 180 000 Menschen –<br />
jährlich. „Die tiefgehende Wirtschaftskrise<br />
in Ländern wie Spanien und Griechenland<br />
lässt es plausibel erscheinen, dass die hohe<br />
Einwanderung anhält und dass viele der<br />
Einwanderer in Deutschland bleiben werden“,<br />
erwartet auch James Vaupel, Direktor<br />
am Max-Planck-Institut für demografische<br />
Forschung. Dass die Zuwanderung<br />
in das temperierte Deutschland noch stärker<br />
wächst, wenn in Afrika und Asien der<br />
Klimawandel <strong>wir</strong>klich zuschlägt, ist in diesen<br />
Prognosen noch nicht einmal beachtet.<br />
Grafik: Esther Gonstalla<br />
24 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Manches teilt man gern online.<br />
/ /S i e Spricht mit mama über alleS _<br />
// auSSer über ihren erSten Freund_<br />
Anderes nicht.<br />
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T i t e l<br />
Die vorsichtigen Annahmen hatten<br />
mit der früher üblichen Vermutung zu<br />
tun, höhere Zuwanderungszahlen seien in<br />
Deutschland aus politischen und kulturellen<br />
Gründen nicht machbar. Doch inzwischen<br />
hat sich die Lage auch mental zum<br />
Positiven verändert, die Integrationspolitik<br />
fruchtet. Zuwanderer sind heute in<br />
Medien und Politik sichtbarer vertreten als<br />
früher, nicht einmal die Union geriert sich<br />
mehr als Bewahrer reindeutscher „Leitkultur“.<br />
20 Jahre nach der erbitterten, teilweise<br />
naiven Multi-Kulti-Debatte ist die Bundesrepublik<br />
heute auf dem besten Wege,<br />
sich lautlos zu einem funktionierenden<br />
Schmelztiegel zu entwickeln. Von „Gastarbeitern“<br />
spricht heute kaum noch jemand,<br />
auch der sperrige „Mensch mit Migrationshintergrund“<br />
<strong>wir</strong>d im Sprachgebrauch seltener.<br />
Zuwanderung ist die neue Normalität,<br />
in der Breite der Gesellschaft ist eine „Willkommenskultur“<br />
am Entstehen.<br />
Peter Clever von der Bundesvereinigung<br />
der Deutschen Arbeitgeberverbände,<br />
plädiert für einen noch offensiveren Kurs:<br />
Mathieu, 27, Koch, verließ 2010 Frankreich: „Ich fühle<br />
mich wohl, habe Arbeit und werde bestimmt hierbleiben“<br />
„Wir haben unsere Behörden über Jahrzehnte<br />
in eine Abschottungskultur hinein<br />
entwickelt, man hat den zuständigen<br />
Beamten gesagt, haltet uns die Leute vom<br />
Hals, die wollen alle nur in unsere Sozialsysteme“,<br />
kritisiert er. Jetzt müsse aber umgeschaltet<br />
werden: „Wir benötigen Fachkräfte,<br />
die müssen <strong>wir</strong> umwerben.“ Die<br />
vielen Zuwanderer von heute kommen<br />
also trotz des Gegenwinds von Behörden.<br />
Was für ein Potenzial gäbe es erst, wenn<br />
Deutschland gezielt anwerben würde?<br />
Wie das aussehen kann, macht Jens Begemann<br />
deutlich, Chef des Start-ups und<br />
Spieleentwicklers „Woogaa“ im Berliner<br />
Viertel Prenzlauer Berg. Als der umtriebige<br />
Manager die Kanzlerin im März durch die<br />
Räume in der „Backfabrik“ schiebt, freut er<br />
sich besonders auf diesen Moment: Er platziert<br />
Merkel vor einer Gruppe von 40 Mitarbeitern<br />
– aus 40 verschiedenen Staaten.<br />
Das Foto <strong>wir</strong>d zum Symbol für das neue,<br />
boomende Deutschland: „Anderssein“<br />
stört nicht mehr, sondern <strong>wir</strong>d zum Plus<br />
in der globalisierten deutschen Wirtschaft.<br />
Hamburg und andere Städte haben „Welcome<br />
Center“ eingerichtet, um Migranten<br />
den Start zu erleichtern. Die Zukunft der<br />
Zuwanderung hat begonnen: Angesichts<br />
der Panik vor einem Fachkräftemangel veranstalten<br />
deutsche Auslandshandelskammern<br />
zunehmend Anwerbeveranstaltungen,<br />
auch in den angeschlagenen Eurostaaten.<br />
Die Goethe-Institute verzeichnen weltweit<br />
Rekordnachfragen nach deutschen<br />
Sprachkursen. Die Bundesagentur für Arbeit<br />
hat gerade eine Delegation nach Asien<br />
geschickt, die in China und einigen anderen<br />
Staaten die Chancen für die Anwerbung<br />
von Arbeitskräften für den Gesundheitssektor<br />
erkunden soll.<br />
Die Resonanz auf deutsches Werben ist<br />
meist positiv. Junge Menschen zieht es<br />
heute nicht nur nach Deutschland, weil<br />
es Jobs gibt. Hinzu kommen das moderate<br />
Klima, eine effiziente Infrastruktur,<br />
Krankenversicherung für alle, die saubere<br />
Umwelt und ein reiches Kulturleben.<br />
Wenn Wirtschaftsminister Philipp Rösler<br />
Deutschland „das coolste Land der Welt“<br />
nennt, <strong>wir</strong>d er von Deutschen dafür stärker<br />
belächelt als im Ausland.<br />
Attraktiv geworden ist Deutschland<br />
inzwischen auch wieder für Wissenschaftler<br />
aus aller Welt. War früher vom „brain<br />
drain“ gen USA die Rede, ist Deutschland<br />
nun begehrtes Ziel. Während in den USA,<br />
Großbritannien und in südeuropäischen<br />
Ländern die Forschungsbudgets teils drastisch<br />
schrumpfen und Hochqualifizierte<br />
ihre Arbeitsplätze verlieren, hat die Bundesregierung<br />
ihre Ausgaben für Bildung,<br />
Technologie und Forschung seit 2005<br />
um 60 Prozent erhöht. 2011 studierten<br />
252 000 Ausländer an deutschen Universitäten,<br />
knapp 29 000 ausländische Wissenschaftler<br />
arbeiteten an deutschen Forschungseinrichtungen.<br />
Das sind so viele<br />
wie nie zuvor, Tendenz steigend. Attraktiv<br />
<strong>wir</strong>d Deutschland auch für jene deutschen<br />
Wissenschaftler, die in den vergangenen<br />
Jahren in andere Länder abgewandert<br />
sind. Viele von ihnen kehren zurück, teils<br />
dank staatlicher Anreize für Heimkehrer.<br />
Auch die traditionell hohe Zahl deutscher<br />
Auswanderer könnte in Zukunft sinken,<br />
schon weil die USA längst nicht mehr<br />
das Land der unbegrenzten Möglichkeiten<br />
sind und das frühere Traumland Australien<br />
in den Nachrichten wahlweise mit Dürren<br />
oder Überschwemmungen vertreten ist.<br />
Fotos: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />
26 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Xenia, 29, Studentin, aus St. Petersburg: „Hier kann ich<br />
mich auf Gesetz und Recht verlassen, auch als Ausländerin“<br />
Wenn weniger Menschen auswandern,<br />
schlägt der Positivtrend bei der Zuwanderung<br />
stärker durch. Der Sachverständigenrat<br />
deutscher Stiftungen für Migration und<br />
Integration urteilt: „Zum ersten Mal seit<br />
15 Jahren hat die Zuwanderung ein Maß<br />
erreicht, das den demografischen Wandel<br />
und seine Aus<strong>wir</strong>kungen auf die sozialen<br />
Sicherungssysteme abfedern kann.“<br />
Niemand bezweifelt, dass der demografische<br />
Wandel gerade wegen der gesunkenen<br />
Kinderzahl und der <strong>wachsen</strong>den Zahl<br />
alter Menschen eine Herausforderung ist.<br />
Doch die Demografie-Debatte der vergangenen<br />
Jahre verlief zu starr, so als könnte<br />
man nur noch den Niedergang möglichst<br />
erträglich gestalten. Demografische Prognosen<br />
sind aber kein Naturgesetz, kein unabwendbares<br />
Schicksal. Das gilt selbst für<br />
die Geburtenrate, die Hauptursache dafür,<br />
dass die deutsche Bevölkerung geschrumpft<br />
ist. Von rund einer Million Geburten im<br />
Jahr 1970 ist die Zahl auf 663 000 im Jahr<br />
2011 gesunken. Die Gruppe der potenziellen<br />
Mütter, also von Frauen zwischen 15<br />
und 49 Jahren, wurde als Folge davon allein<br />
seit 2004 um rund eine Million kleiner.<br />
Weniger Mütter, weniger Kinder, das<br />
liegt auf der Hand, dazu kommt die große<br />
Anzahl kinderloser Frauen, die die durchschnittliche<br />
Kinderzahl drückt.<br />
Doch wie bei der Zuwanderung sehen<br />
Demografen sowohl am renommierten<br />
Max-Planck-Institut in Rostock als auch<br />
am französischen INED bei der Geburtenrate<br />
Anzeichen für eine Trendwende. Ende<br />
März veröffentlichten die Rostocker Forscher<br />
einen Aufsatz. Titel: „Endgültige Geburtenraten<br />
werden steigen.“ „Langfristig<br />
niedrige Annahmen der Periodenfertilität,<br />
wie etwa 1,4 für die mittlere Variante der<br />
deutschen Vorausberechnungen, erscheinen<br />
wenig realistisch“, schreiben die Demografen<br />
Mikko Myrskylä und Joshua Goldstein.<br />
Eine leichte Steigerung erwarten auch die<br />
Expertinnen im Statistischen Bundesamt,<br />
Bettina Sommer und Olga Pötzsch. „Den<br />
Tiefpunkt verzeichneten <strong>wir</strong> bei Frauen, die<br />
in den Jahren 1967 und 1968 geboren wurden.<br />
Seither zeigt sich wieder eine leichte<br />
Erholung auf einen Wert von 1,55 Kindern<br />
pro Frau“, sagt Pötzsch.<br />
Trendwenden bei der Geburtenzahl<br />
sind also möglich. Das zeigt auch Frankreich.<br />
In den neunziger Jahren, das <strong>wir</strong>d<br />
oft vergessen, war auch dort die Kinderzahl<br />
pro Frau auf durchschnittlich 1,7<br />
abgesackt. Durch eine Reihe von Einflüssen<br />
wie staatliche Förderung, verstärkte<br />
Einwanderung und einen Meinungswandel<br />
in der Bevölkerung ist die Geburtenrate<br />
in relativ kurzer Zeit wieder gestiegen.<br />
Aber kann die Geburtenrate auch in<br />
Deutschland nach einer so langen Phase<br />
sinkender Kinderzahlen wieder steigen?<br />
„Ja, daran glauben <strong>wir</strong> fest“, sagt Günter<br />
Stock, Präsident der Berlin-Brandenburgischen<br />
Akademie der Wissenschaften.<br />
„Wenn man Mädchen im Alter von 14 bis<br />
16 Jahren befragt, ist für sie das Thema<br />
Kinderbekommen eine Selbstverständlichkeit.“<br />
Später sinke der Wunsch, vor<br />
allem, weil viele junge Frauen eine Kollision<br />
zwischen Berufs- und Familienwünschen<br />
fürchten.<br />
Derzeit aber verbessern sich die Rahmenbedingungen<br />
für junge Eltern, etwa<br />
durch den Ausbau von Krippen- oder Kitaplätzen<br />
oder mehr familienpolitische<br />
Leistungen. Dazu kommt die in Deutschland<br />
ins Positive gedrehte Grundstimmung.<br />
Alle Experten räumen ein, dass sowohl die<br />
<strong>wir</strong>tschaftliche Entwicklung eines Landes<br />
als auch eine Zuversicht in der Bevölkerung<br />
den Kinderwunsch erhöht.<br />
Früher gaben sich junge Deutsche Zukunftsängsten<br />
hin etwa vor einem Atomkrieg<br />
– Kinder in eine vermeintlich untergehende<br />
Welt zu setzen, galt fast schon als<br />
moralischer Makel. Heute gibt die große<br />
Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland<br />
an, keine Angst vor der Zukunft zu haben –<br />
auch nicht vor Arbeitslosigkeit. 84 Prozent<br />
der Befragten zwischen 17 und 27 Jahren<br />
gaben in einer Studie „Jugend, Vorsorge,<br />
Finanzen“ des Versorgungswerks Metall-<br />
Rente vielmehr an, dass sie darauf vertrauten,<br />
einen guten Lebensstandard zu erreichen<br />
und sich viel leisten zu können.<br />
Am Demografie-Institut in Rostock<br />
führt James Vaupel Skandinavien als Beispiel<br />
an, wie die Geburtenrate wieder steigen<br />
kann. „Wenn nun in Deutschland die<br />
Kinderbetreuung ausgebaut ist und Väter<br />
sich stärker in die Versorgung der Kinder<br />
einbringen, sehe ich keinen Grund, warum<br />
es nicht auch in Deutschland zu einer<br />
Trendwende bei der Geburtenrate<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 27
T i t e l<br />
Matzaa, 25, Sängerin, aus Budapest: „In Ungarn war die<br />
Lage deprimierend. Hier gibt es Raum für Veränderungen“<br />
kommen sollte.“ Marion Kiechle, Direktorin<br />
der Frauenklinik der TU München,<br />
erklärte im Mai bei einem Treffen im Kanzleramt:<br />
„Gelebte Gleichstellung würde die<br />
Geburtenrate mit Sicherheit steigern.“<br />
Dazu kommen kleinere positive Effekte<br />
durch sinkende Abtreibungszahlen und<br />
die erhöhte staatliche Förderung für die<br />
künstliche Befruchtung. Selbst das zur Vorsicht<br />
verpflichtete Statistische Bundesamt<br />
hat eine „spekulative“ Berechnung angestellt,<br />
was eigentlich der Effekt wäre, sollte<br />
Deutschland im Jahr 2015 wieder eine Fertilitätsrate<br />
von 2,1 Kindern pro Frau erreichen.<br />
Unterstellt man die bisherige Lebenserwartung<br />
und einen durchschnittlichen<br />
positiven Zuzug von 100 000 Menschen<br />
pro Jahr, würde die deutsche Bevölkerung<br />
im Jahr 2060 trotz einer unvermeidlichen<br />
Babydelle schon wieder 82,9 Millionen betragen,<br />
etwas mehr als bisher.<br />
Zu einer Trendwende bei der Bevölkerungszahl<br />
könnte am Ende auch beitragen,<br />
dass die Lebenserwartung möglicherweise<br />
stärker steigt, als für solche Langfristannahmen<br />
bisher unterstellt. Zwar verschwinden<br />
derzeit viele besonders Langlebige aus den<br />
staatlichen Karteien. Der letzte Mikrozensus<br />
hat hier bei der absoluten Bevölkerungszahl<br />
und der Langlebigkeit mit statistischen<br />
Artefakten aufgeräumt. „Da gab<br />
es viele Ausländer, die in ihre Heimat zurückgehen,<br />
sich nicht abmelden und dann<br />
auf dem Papier in deutschen Behörden<br />
120 Jahre alt werden“, sagt Reiner Klingholz<br />
vom Berlin-Institut.<br />
Doch die Lebenserwartung könnte real<br />
deutlich steigen, wenn es in der Medizin<br />
Durchbrüche gibt oder wenn es zu weniger<br />
Herzinfarkten kommt, weil die Menschen<br />
sich gesünder ernähren und mehr Sport<br />
treiben. Das Statistische Bundesamt geht<br />
in seiner 2009 erstellten Annahme davon<br />
aus, dass das Lebensalter von Frauen bis<br />
2050 auf 89,2 Jahre und das von Männern<br />
auf 85 Jahre steigen <strong>wir</strong>d. „Dank medizinischem<br />
Fortschritt und gesünderem Lebenswandel<br />
kann die Lebenserwartung genauso<br />
gut deutlich stärker steigen, als in<br />
der Prognose angenommen“, sagt James<br />
Vaupel sogar. „Gerade bei der Entwicklung<br />
der Lebenserwartung haben Demografen<br />
systematisch danebengelegen und<br />
sie unterschätzt.“ Für die 13. Bevölkerungsvorausberechnung<br />
des Statistischen<br />
Bundesamts, die Ende 2014 erscheinen<br />
soll, dürften die Annahmen für die durchschnittliche<br />
Lebenserwartung nach oben<br />
korrigiert werden, sagt die Expertin des<br />
Amtes, Bettina Sommer.<br />
Niemand kann garantieren, dass es bei<br />
der demografischen Trendumkehr bleibt.<br />
Die harten Faktoren beim Geburtenrückgang<br />
<strong>wir</strong>ken, und es <strong>wir</strong>d weiter Schwankungen<br />
und unvorhersehbare Entwicklungen<br />
geben. Klar ist auch, dass es in vielen<br />
Regionen Deutschlands zu Schrumpfungsprozessen<br />
kommen <strong>wir</strong>d. Sofern nicht wie<br />
unter Friedrich dem Großen Siedlerbewegungen<br />
entstehen, werden sich abgelegene<br />
Regionen weiter leeren. Die „Gleichwertigkeit<br />
der Lebensverhältnisse“, die das<br />
Grundgesetz fordert, ist passé.<br />
Doch das noch vorherrschende Dogma<br />
der Schrumpfung ist fatal, weil es politische<br />
Entscheidungsprozesse in falsche Bahnen<br />
lenken kann – die Studenten in Halle<br />
und die Wohnungssuchenden in Berlin bekommen<br />
das zu spüren.<br />
Es ist nötig, dass in der Diskussion<br />
auch Szenarien debattiert werden, unter<br />
welchen Bedingungen die Bevölkerung<br />
auf 90 Millionen oder 100 Millionen<br />
Menschen <strong>wachsen</strong> könnte. Das mag<br />
nicht hochwahrscheinlich sein, aber möglich<br />
durchaus, wenn ein <strong>wir</strong>tschaftlich erfolgreiches,<br />
innovatives Deutschland dauerhaft<br />
zum Magneten und Schmelztiegel<br />
<strong>wir</strong>d und sich Optimismus, Umweltschutz<br />
und gesunde Lebensweisen mit Kinderfreundlichkeit<br />
vereinen. Platz gäbe es,<br />
aber das Land müsste sich auf Wachstum<br />
einstellen – politisch und emotional. Erst<br />
wenn Szenarien wie das eines „100-Millionen-Deutschlands“<br />
in der Debatte überhaupt<br />
vorkommen, <strong>wir</strong>d Demografie vom<br />
Abwicklungs- zum Gestaltungsprozess.<br />
James Vaupel, Leitfigur Regierungskampagne<br />
zur Demografie, sagt: „Gute Politik<br />
bereitet sich darauf vor, dass es doch anders<br />
kommt, als alle gedacht haben.“<br />
Andreas Rinke<br />
(rechts), Chefkorrespondent<br />
der Nachrichtenagentur<br />
Reuters, und der Biologe<br />
und Wissenschaftsjournalist<br />
Christian Schwägerl schreiben<br />
regelmäßig im <strong>Cicero</strong> über Zukunftsfragen<br />
Fotos: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong>, Maurice Weiss (Autor)<br />
28 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Deshalb müssen <strong>wir</strong> mehr für Bildung und frühkindliche Förderung tun<br />
Mit Sicherheit gerecht: Soziale Markt<strong>wir</strong>tschaft<br />
insm.de/Gerechtigkeit facebook.com/Markt<strong>wir</strong>tschaft
T i t e l<br />
„Eine Revolution<br />
im Denken“<br />
Der CDU-Politiker Armin Laschet über die neue Offenheit der Deutschen gegenüber<br />
Zuwanderern – und über notwendige Strategien für das Bevölkerungswachstum<br />
H<br />
err Laschet, Deutschland verzeichnet<br />
plötzlich wieder hohe<br />
Zuwanderungszahlen. Sehen<br />
Sie das als positive Entwicklung oder als<br />
Bedrohung?<br />
Das sind gute Zahlen. Es zeigt, dass sich<br />
der Trend der Jahre 2008 und 2009, als<br />
mehr Menschen aus Deutschland auswanderten<br />
als einwanderten, völlig umgekehrt<br />
hat. Zudem handelt es sich heute<br />
um viele qualifizierte Facharbeiter, die<br />
kommen. Dies ist ein Beitrag, um ein<br />
wenig die demografische Entwicklung in<br />
Deutschland abzufedern.<br />
Halten Sie die gestiegenen Zuwanderungszahlen<br />
für dauerhaft?<br />
Zunächst einmal ist die Zuwanderung<br />
gerade von Südeuropäern eine Reaktion<br />
auf die Krise in diesen Ländern. Niemand<br />
weiß, wie lange dies anhält. Es<br />
zeigt aber sehr stark, dass Deutschland<br />
auch hier ein Gewinner der Finanz- und<br />
Schuldenkrise ist. Dieser Trend, dass<br />
Deutschland Magnet für qualifizierte Zuwanderer<br />
ist, kann mittelfristig anhalten.<br />
Ob er <strong>wir</strong>klich dauerhaft ist, muss man<br />
abwarten.<br />
Viele Experten sagen, dass Deutschland<br />
einen dauerhaften Vorsprung als industrielles<br />
Zentrum Europas hat.<br />
Es stimmt, dass Deutschland sehr stark<br />
dasteht. Aber es kann keine Insel in Europa<br />
sein. Das heißt, dass die Wettbewerbsfähigkeit<br />
und die Forschungs- und<br />
Entwicklungsausgaben auch im südlichen<br />
Europa wieder steigen müssen. Es<br />
muss auch mit entsprechendem EU-Geld<br />
Der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Armin Laschet war erster Integrationsminister<br />
in Deutschland. 2011 leitete er zusammen mit dem SPD-Politiker Peter Struck die<br />
parteiübergreifende „Konsensgruppe Fachkräftebedarf und Zuwanderung im Jahr 2011“<br />
Foto: Action Press<br />
30 <strong>Cicero</strong> 6.2013
sichergestellt werden, dass diese Länder<br />
ihre Krise überwinden und sich wieder<br />
gut entwickeln. Das ist auch für unsere<br />
Wirtschaft wichtig.<br />
Wieso trifft die Zuwanderung heute auf so<br />
wenig Widerstand in einem Land, in dem<br />
früher eher die Ängste vor einer „Überfremdung“<br />
geschürt wurden?<br />
Es gibt zwei fundamentale Änderungen.<br />
Zum einen sind die Zuwanderer andere<br />
als in den neunziger Jahren, als 300 000<br />
bis 400 000 Asylbewerber ungesteuert<br />
kamen. Dies war eine ungeordnete Zuwanderung<br />
ohne Integrationsperspektive.<br />
Heute dagegen kommen durch die<br />
EU‐Freizügigkeit viele gut ausgebildete<br />
Fachkräfte aus anderen EU‐Staaten. Es<br />
gibt für diese Neuzuwanderer selten Integrationsprobleme.<br />
Denn die Menschen<br />
haben den Willen, hier zu arbeiten, und<br />
haben die dafür nötige Qualifikation.<br />
Sehr oft haben sie die deutsche Sprache<br />
schon in ihren Heimatländern gelernt<br />
und haben hier von Anfang an alle beruflichen<br />
Chancen. Zweitens hat sich mental<br />
etwas Grundlegendes geändert. Es<br />
gibt heute eigentlich quer durch fast alle<br />
Parteien den Konsens, dass Deutschland<br />
Zuwanderung braucht.<br />
Aber hat nicht gerade die Union früher von<br />
einer deutschen Leitkultur gesprochen<br />
und die Zuwanderung kritisch gesehen?<br />
Die Union hat sich sicher verändert. Unter<br />
Leitkultur versteht man heute den<br />
gemeinsamen Grundkonsens unserer<br />
Gesellschaft. Jeder muss die Werte des<br />
Grundgesetzes akzeptieren. Aber in der<br />
parteiübergreifenden Konsensgruppe<br />
Fachkräftebedarf und Zuwanderung im<br />
Jahr 2011 habe ich gemerkt, dass es auch<br />
bei den Gewerkschaften und dem linken<br />
Teil der SPD erhebliche Vorbehalte gab.<br />
Unter dem Schlagwort „billig und willig“<br />
wurde die Anwerbung ausländischer<br />
Fachkräfte als Wunsch der Wirtschaft<br />
verdammt. Damals galt noch, dass es<br />
keine Zuwanderung geben sollte, bevor<br />
nicht der letzte Arbeitslose vermittelt ist.<br />
Jetzt haben sich alle aufeinanderzubewegt,<br />
übrigens auch die Grünen. Dort ist die<br />
frühere Einstellung verschwunden, dass<br />
jede Form der Zuwanderung ohne jede<br />
Anforderung an die Migranten und ohne<br />
Deutschkenntnisse wünschenswert sei.<br />
Alle Parteien haben sich geändert – die<br />
Union sicher ein Stückchen mehr.<br />
Also kann Deutschland zum Schmelztiegel<br />
verschiedener Kulturen werden?<br />
Ich würde das Wort für Deutschland<br />
nicht verwenden, es passt nach wie vor<br />
eher für die USA. Für die Bundesrepublik<br />
war zumindest bisher eher typisch,<br />
dass es unterschiedliche Wellen und Arten<br />
der Zuwanderung gab, von den Polen<br />
in die Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts,<br />
der Aufnahme von zwölf Millionen<br />
Vertriebenen, über die sogenannten<br />
Gastarbeiter bis zu den Spätaussiedlern<br />
nach dem Zerfall der Sowjetunion. Aber<br />
es stimmt schon, dass in den großen<br />
Städten auch hier 50 Prozent der Kinder<br />
mittlerweile eine Zuwanderungsgeschichte<br />
haben. Jetzt gilt, dass der, der<br />
kommt, von vorneherein weiß, dass seine<br />
Arbeit und sein Leben hier ein dauerhafter<br />
Zustand sein können.<br />
Gibt es eine Grenze der Aufnahmefähigkeit<br />
des neuen Zuwanderungslands<br />
Deutschland?<br />
Die Einwanderung aus den südlichen<br />
EU‐Staaten <strong>wir</strong>d sicher als unproblematisch<br />
angesehen. Was Osteuropa angeht,<br />
„Wir müssen länger arbeiten,<br />
es müssen mehr Frauen ins<br />
Erwerbsleben kommen, Schüler<br />
ohne Schulabschluss können <strong>wir</strong><br />
uns nicht mehr erlauben“<br />
haben <strong>wir</strong> 2004 den Fehler gemacht,<br />
Übergangsregeln für die Freizügigkeit anzuwenden.<br />
Die hoch qualifizierten Polen,<br />
Tschechen und Ungarn sind deshalb<br />
nach Frankreich oder Großbritannien gegangen.<br />
Dadurch haben <strong>wir</strong> eine ganze<br />
Generation von mitteleuropäischen Zuwanderern<br />
verloren. Jetzt korrigiert sich<br />
das etwas. Sicher <strong>wir</strong>d es wieder einige<br />
Diskussionen geben, sollte es künftig<br />
mehr Zuwanderer aus Asien oder Afrika<br />
geben. Aber in den Köpfen ist nun<br />
verankert, dass Zuwanderung keine Bedrohung,<br />
sondern eine Chance ist. Wir<br />
müssen künftig um die klügsten Köpfe<br />
weltweit werben. Botschaften, Goethe-<br />
Institute und Auslandshandelskammern<br />
sollten sich darauf einstellen und ihre Arbeit<br />
weltweit verstärken.<br />
Das klingt eindeutig anders als früher.<br />
Es ist <strong>wir</strong>klich eine Revolution im Denken.<br />
Über 50 Jahre war die deutsche Politik<br />
darauf ausgelegt, Menschen aus anderen<br />
Teilen der Welt abzuschrecken. Jetzt<br />
entwickeln <strong>wir</strong> eine Willkommenskultur<br />
und ändern unsere kollektive Körpersprache.<br />
Mein Lieblingsbeispiel für das<br />
alte Denken war die „Anwerbestopp-Ausnahmeverordnung“.<br />
Das beschrieb die<br />
ganze Philosophie, weil nur Ausnahmen<br />
von dem 1973 verhängten Anwerbestopp<br />
definiert wurden. Heute muss das Werben<br />
um qualifizierte Zuwanderer die Regel<br />
sein.<br />
Kann die Zuwanderung die kommende<br />
„Baby-Delle“ ausgleichen?<br />
Das bezweifele ich eher. Allerdings hätte<br />
ich vor zwei Jahren auch nicht für möglich<br />
gehalten, wie stark die Zuwanderungszahlen<br />
tatsächlich ansteigen würden.<br />
Wir müssen abwarten, ob der Trend<br />
anhält. Wir müssen auf jeden Fall auch<br />
etwas im Inland tun, um den kommenden<br />
Arbeitskräftemangel zu beheben. Wir<br />
müssen länger arbeiten, es müssen mehr<br />
Frauen ins Erwerbsleben kommen, Schüler<br />
ohne Schulabschluss können <strong>wir</strong> uns<br />
nicht mehr erlauben. Und <strong>wir</strong> müssen etwas<br />
dafür tun, damit die Geburtenrate<br />
wieder steigt.<br />
Das Gespräch führten Andreas Rinke und<br />
Christian Schwägerl<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 31
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Mächtig Leise<br />
Der neue Focus-Chef Jörg Quoos hat sich mit seiner Enthüllung über Uli Hoeneß Spielraum verschafft<br />
von Thomas Schuler<br />
J<br />
örg Quoos zieht das JackeT aus,<br />
krempelt seine Hemdsärmel hoch<br />
und nimmt einen blauen Schnellhefter<br />
in die Hand. „Der Coup des Jahres –<br />
Focus deckt Steuerhinterziehung von Uli<br />
Hoeneß auf“, steht auf jeder der 36 Farbkopien.<br />
Quoos blättert und zählt auf: New<br />
York Times, BBC, Times of India; und das<br />
sei nur ein winziger Ausschnitt. Er zieht<br />
Bilanz, als stünde der Jahresrückblick an.<br />
Dabei ist es Mai, und er als Chefredakteur<br />
von Focus noch kein halbes Jahr im Amt.<br />
Als er im März seiner Redaktion eine<br />
Titelgeschichte über den FC Bayern vorschlug,<br />
gab es Bedenken. Wie sieht das aus?<br />
Focus sei ein nationales Nachrichtenmagazin,<br />
das sich auch in Dortmund verkaufen<br />
soll. Quoos setzte den Titel über den „FC<br />
Supermacht“ durch, eine Hymne, obwohl<br />
sie auch an den „Bayern-Dusel“ und „bittere<br />
Niederlagen“ erinnerte. Kurz vor Redaktionsschluss<br />
erhielt Quoos den Hinweis,<br />
dass Hoeneß in der Schweiz Steuern hinterzogen<br />
habe. Ausgerechnet Hoeneß, der<br />
sich in Talkshows als anständiger Steuerzahler<br />
inszenierte?<br />
Quoos wollte ihn sofort befragen, doch<br />
Hoeneß schwieg. Da ließ der Chefredakteur<br />
erst mal die Bayern-Titelgeschichte<br />
erscheinen. Als Focus Hoeneß zwei Wochen<br />
später mit weiteren Recherchen konfrontierte,<br />
bestätigte der den Steuerbetrug.<br />
Schriftlich. An so einen Knaller kann man<br />
sich bei Focus nicht erinnern. Ob Sportschau,<br />
Günther Jauch, Heute-Journal oder<br />
RTL – alle wollten Quoos plötzlich im Programm<br />
haben.<br />
„Diese Geschichte fiel mir vor die Füße“,<br />
sagt Quoos entschuldigend. „Wir führen<br />
keinen Feldzug gegen Hoeneß.“ Es <strong>wir</strong>kt<br />
fast, als schmerze ihn die eigene Enthüllung.<br />
Die Haltung ist klug. Denn Herausgeber<br />
Helmut Markwort, Gründer von Focus, sitzt<br />
seit 20 Jahren im Verwaltungs- und Aufsichtsrat<br />
des Fußballkonzerns und im Stadion<br />
gern neben Hoeneß. Eine Woche nach<br />
der Enthüllung bekannte er: „Der Freund<br />
erschrickt über das finanzielle Doppelleben.“<br />
Erst habe er an eine Falschmeldung geglaubt,<br />
dann „konnte ich nur professionell empfehlen:<br />
‚Geht fair mit ihm um.‘“<br />
Quoos versichert: „In der Redaktion ist<br />
keine einzige Flasche Wein oder Champagner<br />
wegen dieser Enthüllung geöffnet worden.<br />
Wir gehen sehr nüchtern vor. Ich habe<br />
keine Lust, mich auf den Marktplatz zu<br />
stellen und zu sagen, ‚Hoeneß ist ein Riesen-Schuft‘.“<br />
Als im ZDF bei Markus Lanz<br />
alle Gäste einen Sketch über Hoeneß beklatschten,<br />
ließ Quoos die Hände unten.<br />
Er gibt sich als journalistischer Handwerker,<br />
der tat, was er tun musste. Je stärker<br />
seine Stellung, desto leiser die Töne.<br />
Woher hatte Focus die Information zu<br />
Hoeneß? Von Markwort? Der dementiert,<br />
und Quoos sagt: „Es ist völlig absurd, dass<br />
Helmut Markwort diese Information aus<br />
dem Aufsichtsrat des FC Bayern an mich<br />
weiterreichte.“ Er habe mit Markwort beim<br />
Thema FC Bayern überhaupt nicht zusammengearbeitet.<br />
„Ich habe ihn lediglich über<br />
den Titel und zu einem frühen Zeitpunkt<br />
über den Steuerhinweis informiert. Er hat<br />
sich nicht eingeschaltet. Er war dem FC<br />
Bayern gegenüber loyal. Als Herausgeber<br />
hat er mir auch nicht gesagt: ‚Lass es sein!‘“<br />
Quoos, 49, kam an die Spitze von Focus,<br />
weil der Kurswechsel durch Wolfram<br />
Weimer, früher Chefredakteur von <strong>Cicero</strong>,<br />
misslang. Quoos ist 1963 in Heidelberg geboren.<br />
Sein Vater war dort Lokalchef der<br />
Rhein-Neckar-Zeitung, bei der Quoos volontierte<br />
und von 1985 an fünf Jahre lang<br />
als Redakteur arbeitete. Journalismus ist<br />
das beherrschende Thema in der Familie:<br />
Sein Bruder moderiert bei WDR 2, seine<br />
Frau schreibt für Bild. Nach dem Fall der<br />
Mauer ging Quoos nach Berlin zu Springers<br />
Boulevardblatt B.Z.. Mit dessen Chef<br />
Claus Larass wechselte er zu Bild, zuletzt<br />
fungierte er dort als Vize von Chefredakteur<br />
Kai Diekmann. Nach 20 Jahren Bild<br />
sei ihm nichts Menschliches fremd, sagt<br />
er. Das soll harmlos klingen. Man unterschätzt<br />
den Mann, der im Auftreten dezent<br />
ist, auch gerne. Dabei hat Quoos aus<br />
Somalia und Afghanistan berichtet, alle lebenden<br />
Kanzler interviewt; er war bei Putin<br />
und bei Berlusconi und bei George<br />
W. Bush. Er koordinierte bei Bild auch die<br />
Berichterstattung über Christian Wulff.<br />
Während die Auflage von Spiegel und<br />
Stern bei mehr als 900 000 beziehungsweise<br />
800 000 Heften liegt, rangiert Focus<br />
bei 532 000 Exemplaren. Quoos hofft jetzt<br />
auf mehr. „Die Hoeneß-Enthüllung hat uns<br />
sicher geholfen, damit der eine oder andere<br />
das Heft in die Hand nimmt.“ Vor allem<br />
festigt sie ihn intern. Er hat sich nicht nur<br />
Aufmerksamkeit, sondern insbesondere Respekt<br />
und Unabhängigkeit verschafft.<br />
Markwort dagegen lähmt seine Nähe<br />
zu Hoeneß. Das sagt Quoos natürlich<br />
nicht. Er spricht höflich davon, dass der<br />
Herausgeber stets bereitstünde, wenn er<br />
Rat benötige, sich aber nicht aufdränge.<br />
Die erste Anfrage an Hoeneß in seiner<br />
Steuersache lief nicht über Markwort;<br />
erst nach der Enthüllung bat Quoos ihn,<br />
ob er Hoeneß zum Interview überreden<br />
könne. Markwort fragte in seinem Auftrag<br />
an, doch Hoeneß lehnte ab. Er forderte<br />
von Focus eine Unterlassung und Richtigstellung,<br />
weil das Heft fälschlicherweise<br />
schrieb, die Staatsanwaltschaft habe schon<br />
seit August 2012 von der Steuerhinterziehung<br />
gewusst. Eine Woche später musste<br />
Focus dieses Detail korrigieren.<br />
Als Markwort einmal Quoos einlud,<br />
ihn zu einem Heimspiel der Bayern zu begleiten,<br />
sagte er wegen eines Termins ab.<br />
Jetzt sagt er: „Ob ich im Bayern-Stadion jemals<br />
im VIP-Bereich Platz nehmen werde,<br />
ist fraglich. Wenn ich ins Bayern-Stadion<br />
gehe, dann kaufe ich mir eine Karte und<br />
setze mich unter ganz normale Fans.“<br />
Dafür hat er jetzt bei Focus einen Platz<br />
mit exzellenten Aussichten.<br />
Thomas Schuler<br />
ist Medienjournalist in München<br />
Fotos: Dirk Bruniecki für <strong>Cicero</strong>, Susanne Weigand (Autor)<br />
32 <strong>Cicero</strong> 6.2013
„Die Geschichte mit Hoeneß fiel mir<br />
vor die Füße“ – Focus-Chefredakteur<br />
Jörg Quoos in München<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 33
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Merkels Lafontaine<br />
Quote, Steuern, Pragmatismus: Saarlands Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer verkörpert die neue CDU<br />
von Alexander Marguier<br />
F<br />
ür Rainer Brüderle ist sie jetzt<br />
eine „schwarz lackierte Sozialistin“.<br />
Dabei hatte Annegret<br />
Kramp-Karrenbauer nur dafür geworben,<br />
den Spitzensteuersatz auf ein Niveau zu heben,<br />
wo er zu Zeiten von Helmut Kohls<br />
schwarz-gelber Regierungskoalition schon<br />
einmal lag. Also bei 53 Prozent. Aber weil<br />
sogar die Grünen trotz des Linksrucks mit<br />
ihren Steuerplänen noch um 4 Prozentpunkte<br />
unter Kohl-Level liegen, ist die<br />
Forderung der saarländischen Ministerpräsidentin<br />
natürlich reines Wahlkampfgift.<br />
Zumindest aus Sicht der Liberalen, die<br />
bereits kräftig Front machen gegen die angekündigten<br />
Steuererhöhungen von Rot-<br />
Grün. Auch in Kramp-Karrenbauers eigener<br />
Partei, der CDU, hat ihr Vorstoß nicht<br />
gerade für einhellige Begeisterung gesorgt.<br />
Ebenso wenig wie das Engagement der<br />
50-jährigen Katholikin aus dem Saarland<br />
zugunsten einer festen Frauenquote. Aber<br />
sie lässt sich von dem Gegenwind nicht beeindrucken.<br />
Und bleibt ruhig.<br />
Denn Poltern ist nicht ihre Sprachmelodie.<br />
Die Anfeindungen wegen des Spitzensteuersatzes<br />
bezeichnet sie ganz sachlich<br />
als „eine verkürzte Diskussion“; es käme<br />
dabei ja noch auf ein paar andere Parameter<br />
an, etwa auf den Progressionsverlauf.<br />
Im Kern aber bleibt sie dabei, auch<br />
wenn Kramp-Karrenbauer die Zahl 53 „bewusst“<br />
nicht ausdrücklich nennt. Ihr Argument:<br />
„Wir werden in den nächsten Jahren<br />
sehr viel investieren müssen, auch in Infrastruktur.“<br />
Und wegen der Schuldenbremse<br />
komme der Staat sowieso nicht umhin, den<br />
deutschen Steuerzahlern in Zukunft einiges<br />
zuzumuten. „Das <strong>wir</strong>d auf Dauer aber<br />
nur Akzeptanz finden, wenn die Menschen<br />
das Gefühl haben, dass starke Schultern<br />
mehr tragen als schwache.“ Ein Satz, der<br />
genauso gut von einer Sozialdemokratin<br />
stammen könnte. Und wahrscheinlich ein<br />
erster Hinweis darauf, welche Richtung die<br />
Union einschlagen <strong>wir</strong>d, wenn es nach der<br />
Bundestagswahl zur Wiederauflage der großen<br />
Koalition kommen sollte.<br />
Annegret Kramp-Karrenbauer ist ein<br />
Musterbeispiel für die neue CDU: unideologisch,<br />
pragmatisch, ein bisschen links, ein<br />
bisschen liberal. „Modern“, würden manche<br />
in der Union dazu sagen. Andere eher:<br />
„beliebig“. Sie selbst formuliert es so: „Ich<br />
bin schwer in Schubladen einzuordnen.“<br />
Selbiges gilt für ihre Partei, zumindest für<br />
den Merkel-Flügel. Konservativ war gestern,<br />
Glaubwürdigkeit heißt stattdessen das neue<br />
Leitmotiv. Sagt auch Kramp-Karrenbauer<br />
über sich: „Man braucht ein Profil, das vor<br />
allem glaubwürdig ist.“ Im Saarland hat das<br />
gut funktioniert. Nachdem die Amtsnachfolgerin<br />
von Peter Müller dessen mühsam<br />
zusammenverhandeltes Jamaika-Bündnis<br />
im Januar vergangenen Jahres hatte platzen<br />
lassen, wurde sie im März darauf von den<br />
Wählern als Ministerpräsidentin bestätigt.<br />
Mit 35,2 Prozent der Stimmen. Die SPD,<br />
im Landtagswahlkampf noch gleichauf, landete<br />
bei schwachen 30,6 Prozent. Seitdem<br />
regiert Annegret Kramp-Karrenbauer das<br />
Saarland in einer großen Koalition. Und<br />
zwar derart geräuschlos und konfliktfrei,<br />
dass der örtlichen Presse die spannenden<br />
Themen ausgehen.<br />
Das war nicht immer so. Im Bündnis der<br />
Saar-CDU mit Liberalen und Grünen<br />
war es vor allem die FDP, die mit hanebüchenen<br />
Intrigen und Personalquerelen<br />
für permanente Reibereien in der Regierung<br />
von Deutschlands kleinstem Flächenstaat<br />
sorgte. Schon deswegen hatte<br />
Kramp-Karrenbauer allen Grund, diese<br />
Partei ins politische Niemandsland zu befördern.<br />
Inhaltlich aber auch, denn allzu<br />
forscher Marktliberalismus ist ganz gewiss<br />
nicht ihr Ding. Wenn Kramp-Karrenbauer<br />
nämlich ihre eigene Lesart von Konservatismus<br />
beschreiben soll, dann funktioniert<br />
das in erster Linie durch „Skepsis gegenüber<br />
den Heilslehren der Moderne“. Und<br />
dazu zählt sie eben entfesselte Märkte genauso<br />
wie den „Privatisierungs-Hype“,<br />
dem auch die Landesregierung ihres Vorgängers<br />
gefolgt sei.<br />
Und die Quote? Ist das nicht auch so<br />
eine moderne Heilslehre? Als junge Frau<br />
war Kramp-Karrenbauer noch strikt dagegen.<br />
Erst später im Beruf habe sie gemerkt,<br />
dass Frauen sogar bei besserer Qualifikation<br />
nicht die gleichen Karrierechancen hätten<br />
wie Männer. „Mit <strong>wachsen</strong>der Lebenserfahrung<br />
hat sich bei mir die Überzeugung<br />
durchgesetzt, dass <strong>wir</strong> die Quote als Hilfsmittel<br />
brauchen. Sie hilft, bei der Personalauswahl<br />
den Blick zu weiten.“<br />
Im Bundesrat hat die CDU-Ministerpräsidentin<br />
deshalb einem Gesetzentwurf der<br />
Sozialdemokraten für eine starre Frauenquote<br />
zur Mehrheit verholfen. Und damit einige<br />
Parteifreunde in Berlin in arge Bedrängnis<br />
gebracht. Im Nachhinein ein schlechtes Gewissen<br />
deshalb? Keineswegs. „Ich habe meine<br />
Position schon einige Wochen vor der Bundesratsabstimmung<br />
deutlich gemacht.“ Heißt<br />
so viel wie: selber schuld. Dass die Frauenquote<br />
jetzt im CDU-Wahlprogramm steht,<br />
sieht Annegret Kramp-Karrenbauer auch als<br />
ihr eigenes Verdienst an. Die Rolle der einsamen<br />
Heldin liegt ihr jedoch fern, lieber stellt<br />
sie ganz sachlich fest: „Die Quote <strong>wir</strong>d ins<br />
Regierungsprogramm kommen und ein ganz<br />
wichtiger Punkt bei den Koalitionsverhandlungen<br />
sein.“<br />
Aber mit wem soll die CDU überhaupt<br />
koalieren, wenn es nach der saarländischen<br />
Ministerpräsidentin geht? Angeblich<br />
schlägt ihr Herz ja insgeheim für<br />
Schwarz-Grün; ihrer eigenen Partei riet<br />
sie von einer klaren Koalitionsaussage zugunsten<br />
der Liberalen jedenfalls ab. Dennoch:<br />
„Die größten Schnittmengen bestehen<br />
mit der FDP, deswegen wäre es auch<br />
am sinnvollsten, diese Koalition fortzusetzen.“<br />
Es ist der einzige Satz in unserem Gespräch,<br />
bei dem Annegret Kramp-Karrenbauer<br />
nicht so richtig glaubwürdig <strong>wir</strong>kt.<br />
alexander marguier<br />
ist stellvertretender<br />
Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />
Fotos: Jens Gyarmaty für <strong>Cicero</strong>, Andrej Dallmann (Autor)<br />
34 <strong>Cicero</strong> 6.2013
„Ich bin schwer<br />
in Schubladen<br />
einzuordnen“<br />
Annegret Kramp-Karrenbauer<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 35
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Der Trümmermann<br />
Thorsten Schäfer-Gümbel hat die kaputte Hessen-SPD wieder aufgebaut. Bald könnte er sogar regieren<br />
von Georg Löwisch<br />
R<br />
oland Koch hat es geahnt.<br />
Als halb Deutschland Thorsten<br />
Schäfer-Gümbel noch verhohnepipelte,<br />
als Doppelnamendümpel mit der<br />
Flaschenbodenbrille, als den chancen losen<br />
Kandidaten der aufgeriebenen Hessen-<br />
SPD – da hat das Schlitzohr Koch schon<br />
gesehen, dass seine CDU einen starken<br />
Gegner bekommen hat. „Koch hat ihn nie<br />
unterschätzt“, sagt Dirk Metz, einst Regierungssprecher<br />
des Ministerpräsidenten und<br />
dessen Alter Ego.<br />
Im Winter 2008 war die SPD dabei<br />
gescheitert, Andrea Ypsilanti mithilfe der<br />
Linkspartei zur Ministerpräsidentin von<br />
Hessen zu machen. Neuwahlen wurden<br />
angesetzt, die SPD schob Schäfer-Gümbel<br />
nach vorn. In den 71 Tagen Notwahlkampf<br />
musste er sich als Spitzenkandidat verspotten<br />
oder bemitleiden lassen. Viereinhalb<br />
Jahre später lächeln die Zuschauer auf seinen<br />
Veranstaltungen bewundernd, die Politiker<br />
in Berlin loben ihn, die Lobbyisten<br />
schleimen schon mal. Koch regiert inzwischen<br />
den Baukonzern Bilfinger, sein ewiger<br />
Innenminister Volker Bouffier durfte<br />
doch noch Ministerpräsident werden und<br />
tritt bei der Landtagswahl am 22. September<br />
an. Nach den Umfragen liegt Rot-<br />
Grün vorn. Die SPD würde kräftig zulegen.<br />
Schäfer-Gümbel, 44 Jahre alt, wäre<br />
Ministerpräsident des Landes.<br />
Aber als er sich am 18. Januar 2009<br />
im Landtag von Wiesbaden durchs Gedränge<br />
des Wahlabends schiebt, da hat er<br />
erst mal verloren. Das Gesicht glänzt, die<br />
Haare kleben am Kopf, der 1,93-Meter-<br />
Mann <strong>wir</strong>kt erschöpft. Die SPD liegt in<br />
Trümmern. Vorne im Fraktionssaal steht er<br />
mit Ypsilanti, sie gibt die restlichen Ämter<br />
an ihn ab. Schäfer-Gümbel stößt ein paar<br />
kämpferische Worte aus, „Minus 18 Grad“,<br />
„Winterwahlkampf“. Dann stockt er für einen<br />
Moment, er drosselt das Sprechtempo<br />
und reduziert die Lautstärke. So kommt<br />
Schärfe in seine Worte. „Ich sage sehr klar,<br />
dass die Zeit der Spielchen vorbei ist.“ Er<br />
droht den Spöttern, er warnt jedoch auch<br />
die Genossen. Dann ruft er. „Morgen beginnt<br />
die Aufholjagd.“<br />
Mai 2013, ein Dienstagvormittag,<br />
11 Uhr, wieder der Fraktionssaal im Landtag<br />
von Wiesbaden. Die Tische stehen in<br />
Hufeisenform, die SPD-Abgeordneten<br />
versammeln sich zur Fraktionssitzung.<br />
Eigentlich haben sie schon letzte Woche<br />
auf einer Klausur in Leipzig die wichtigen<br />
Dinge besprochen. Aber Schäfer-Gümbel,<br />
Soldatensohn, lässt keine Sitzung ausfallen.<br />
Über dem Kopfende hat der Fraktionschef<br />
ein Willy-Brandt-Foto aufhängen lassen,<br />
und links hinterm Kopfende stehen nun<br />
vier Fahnen: Europa, Deutschland, Hessen,<br />
Sozialdemokratie.<br />
Er achtet auf Details. Er begrüßt viele<br />
Abgeordnete einzeln, reicht der neuen Praktikantin<br />
die Hand: „Ah, Sie sind auch aus<br />
Gießen. Schön, dass Sie hier sind.“ Er legt<br />
das Jackett ab und setzt sich neben Günter<br />
Rudolph, den Parlamentarischen Geschäftsführer,<br />
ein wuchtiger Mann, den er<br />
sich Anfang 2009 ausgesucht hat. Schäfer-<br />
Gümbel wurde bei den Parteilinken einsortiert,<br />
Rudolph bei den Rechten. Es war die<br />
erste Personalentscheidung, mit der sich der<br />
Neue auf Abstand zur Ära Ypsilanti brachte.<br />
Dann begann er den Wiederaufbau. „Jetzt<br />
müssen die Sozis wieder arbeiten“, hat Roland<br />
Koch damals gesagt.<br />
In der Fraktion hat jeder sein Mikrofon.<br />
Wenn ein Abgeordneter es einschaltet,<br />
leuchtet ein roter Ring auf. Schäfer-Gümbels<br />
Mikrofon leuchtet immer rot, obwohl<br />
er schweigt. Er lässt sie. Sie tüfteln Strategien<br />
aus, viele melden sich. „Thema setzen“,<br />
„Klappe halten“, „dranbleiben“.<br />
Das mag normal klingen, aber die<br />
alte Hessen-SPD war anders. Die Abgeordneten<br />
lauerten und lästerten, sie sabotierten<br />
und torpedierten, sie missgönnten<br />
sich noch den kleinsten Erfolg. Nord<br />
gegen Süd. Links gegen Rechts. Es war<br />
tatsächlich die Zeit der Spielchen: Im Jahr<br />
2008 spielten sie in der SPD in Hessen<br />
den Kampf der Systeme nach, als stünde<br />
in Berlin die Mauer noch. Sie taten es bis<br />
zur Selbstzerstörung.<br />
An diesem Dienstagvormittag reden sie<br />
frei. Ungeschützt. Sie hören sich zu. Die<br />
Sozis arbeiten wieder. Einer, ein Verfechter<br />
von Ypsilantis Plänen und den Kampagnen<br />
gegen sie ausgesetzt, fängt von damals<br />
an. Er würde es Schwarz-Gelb gern heimzahlen.<br />
Nun geschieht etwas Besonderes.<br />
Als die anderen ihre Argumente vorgetragen<br />
haben, erklärt er in verblüffender Offenheit,<br />
dass er gerade seine Meinung geändert<br />
hat.<br />
Schäfer-Gümbel hat Vertrauen in die<br />
SPD gebracht. Er hat seine Leute zusammen<br />
ins Fußballstadion geschleift und<br />
neulich in Leipzig auf der Fraktionsklausur<br />
in Auerbachs Keller. Zu einer Nachtwanderung<br />
auch noch. Er hat Einzelgespräche<br />
geführt wie ein Therapeut und sie auf<br />
Verschwiegenheit getrimmt. Wer ihn unter<br />
Druck setzen wollte, den blockte er ab.<br />
„Sortiert sein“, „auf die Reihe bringen“, so<br />
redet er gern. Dann streichelt er wieder. In<br />
der Fraktionssitzung fasst er die Wortmeldungen<br />
zusammen, er nennt sie namentlich,<br />
die Judith, die Petra, die Nancy, den<br />
Lothar. Und entscheidet. Das machen <strong>wir</strong>.<br />
Das machen <strong>wir</strong> nicht.<br />
In Schäfer-Gümbel verbindet sich der<br />
Führungsstil eines Konservativen mit einem<br />
sehr linken Standpunkt. Beides ist in<br />
seiner Biografie angelegt.<br />
Rolf Schäfer dient als soldat im<br />
Allgäu. Als sein Sohn Thorsten fünf ist,<br />
zieht die Familie nach Gießen, in die<br />
Nordstadt, in der Arbeiter und Arbeitslose<br />
wohnen. Der Vater fährt Lkw-Touren<br />
nach England und Frankreich. Die Mutter<br />
geht putzen. Vier Kinder, 75 Quadratmeter,<br />
drei Zimmer. Das Schlafzimmer der<br />
Eltern ist das Fernsehzimmer der Familie.<br />
Foto: Bernd Hartung für <strong>Cicero</strong><br />
36 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Hier will er<br />
am Wahlabend<br />
glänzen. Thorsten<br />
Schäfer-Gümbel<br />
im Wiesbadener<br />
Landtag<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 37
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Am Nikolaustag 1982 bricht der Vater<br />
zusammen. Intensivstation, insgesamt fünf<br />
Monate Krankenhaus. Die Mutter ist bei<br />
ihm. Thorsten, mit 13 der Älteste, muss<br />
die Dinge ordnen für sich und seine Geschwister.<br />
Schularbeiten, saubermachen,<br />
einkaufen. Das machen <strong>wir</strong>. Das machen<br />
<strong>wir</strong> nicht. Er muss entscheiden.<br />
„Unsortierte Situationen machen mich<br />
kiebig“, sagt er heute. „Genauso wie Leute,<br />
die sich nicht an Regeln halten.“<br />
Als Junge in der Schule hat er zu kämpfen.<br />
Die Klassenfahrt kostet 400 Mark. Zuschuss<br />
des Elternvereins: 40 Mark. Er bleibt<br />
daheim. Als der Vater krank ist, schenkt<br />
ihm eine Lehrerin seine ersten Bücher. Ein<br />
anderer Lehrer lotst ihn aufs Gymnasium.<br />
Er macht das Abitur.<br />
Die Schulgeschichten erzählt er bei<br />
Auftritten im ganzen Land. „Tischgespräch<br />
– ein Abend mit Thorsten Schäfer-<br />
Gümbel“. Es ist eine Art Wanderzirkus, vor<br />
„Keine Lust? Dann machst<br />
Du’s eben ohne Lust“<br />
Thorsten Schäfer-Gümbels Schwiegermutter<br />
Ort <strong>wir</strong>d eine Zimmerkulisse aufgebaut, in<br />
der ihn eine Moderatorin befragt. In dem<br />
Interviewzimmer gibt es ein Bücherregal<br />
(Bildung), ein Schanghai-Poster (Weltläufigkeit)<br />
und eine Schale mit Frischobst (Vitalität).<br />
Ganz schön dicke.<br />
Er will zeigen, woher er kommt. Ein<br />
Mann von unten. Das ist dann wieder politisch.<br />
Bei wie vielen SPD-Politikern war<br />
früher zu Hause das Geld <strong>wir</strong>klich knapp?<br />
Linker als er ist kein Landeschef seiner Partei.<br />
Nicht nur, weil er hohe Steuern fordert,<br />
sondern weil er mit seiner Biografie<br />
die SPD an ihren Ursprung zurückführt.<br />
Als Mitarbeiter des Gießener Sozialdezernats<br />
hat er sich um sein eigenes Viertel<br />
gekümmert, die Nordstadt. Die Aufgabe<br />
ist das Verbindungsglied zwischen der eigenen<br />
Geschichte und der Politik.<br />
Die eigenen gegen die anderen. Er trennt<br />
die Welt. „Der Herr der Ringe“ ist sein<br />
Lieblingsbuch. „Es ist die Auseinandersetzung<br />
zwischen Gut und Böse“, sagt er.<br />
Nach der Fraktionssitzung hält sein Dienst-<br />
Audi an einer Ampel. „Was ist gerecht?“,<br />
steht auf dem Plakat für eine Veranstaltung<br />
des FDP-Landeschefs Jörg-Uwe Hahn.<br />
„Das <strong>wir</strong>d sicher ein kurzer Abend“, entfährt<br />
es Schäfer-Gümbel. „Da kann ja Herr<br />
Hahn nicht viel dazu sagen.“<br />
Aber er beherrscht sich. Kochs Brutalität,<br />
Ypsilantis Hybris, die Schlacht um Wiesbaden:<br />
Wer das erlebt hat, sagt lieber „Gegner“<br />
als „Feind“. Wer aus den Trümmern kommt,<br />
meidet den Krieg. Er sucht die Stabilität.<br />
Sein eigenes Gleichgewicht musste er<br />
erst finden. Diese Geschichte erzählt er selten.<br />
Mit 20, er studiert Agrarwissenschaften,<br />
um Entwicklungshelfer zu werden,<br />
stimmt etwas mit den Augen nicht. Er geht<br />
zum Arzt. Netzhautablösung, Operation,<br />
Dunkelheit. Erst nach drei Wochen sieht er<br />
wieder. Von da an studiert er Politologie in<br />
Gießen. Er darf als Einziger in der Familie<br />
an die Uni, aber was soll er damit später anfangen?<br />
Mit wem? Er wiegt kaum 70 Kilo<br />
in dieser Phase, der 1,93-Meter-Mann.<br />
In einem Geschichtsseminar trifft er<br />
1996 Annette Gümbel. Nach drei Wochen<br />
fragt er sie, ob sie seine Frau werden will.<br />
Sie will nicht. Erst anderthalb Jahre später<br />
macht sie ihm den Antrag. Er nimmt ihren<br />
Namen an und ihren evangelischen Glauben<br />
dazu. Sie haben drei Kinder; wenn er<br />
sie anruft, sagt er: „Allerliebste“.<br />
Sie <strong>wir</strong>kt pragmatisch, ausgeglichen,<br />
eine promovierte Historikerin. Von ihr<br />
muss er die Zuversicht haben, das Zutrauen.<br />
Sie kommt von einem Bauernhof<br />
in Nordhessen. Keine Lust? „Dann machst<br />
Du’s eben ohne Lust“ – der Satz stammt<br />
von ihrer Mutter. In der Hessen-SPD ist<br />
das Zitat zum Standardspruch geworden.<br />
Jetzt hat er Lust. 13:35 Uhr, der Fahrer<br />
lässt den Audi über die Autobahn gleiten.<br />
Annette ist auf Fortbildung in Berlin.<br />
Schäfer-Gümbel telefoniert mit der Kinderfrau<br />
in Birklar bei Gießen, wo die Familie<br />
lebt. Er hat in der Früh zu Hause<br />
vergessen, einen Ablaufplan auf den Tisch<br />
zu legen, also gehen sie die Dinge durch.<br />
Schule, Reiten, Basketball. Gregor, Svenja,<br />
Charlotte. „Maike, ganz herzlichen Dank.“<br />
Er ruft das Büro an. Zwei Termine<br />
müssen im Juni, spätestens Mitte Juli für<br />
Reisen freigeräumt werden. Paris und Oslo.<br />
Abendessen mit den Botschaftern. Oslo:<br />
Besuch bei der Bildungsministerin, Gespräch<br />
mit Stoltenberg.<br />
Stoltenberg? Der Name des norwegischen<br />
Ministerpräsidenten taucht auf wie<br />
der eines Bürgermeisters aus der Wetterau.<br />
Vielleicht ist die Beiläufigkeit bewusst gesetzt<br />
für den Reporter. Das würde auch etwas<br />
sagen: Dass er sich wohlfühlt mit dem<br />
Erarbeiteten. Früher hat er geschuftet. Familie<br />
stützen, Nordstadt aufmöbeln, SPD<br />
aufrichten. Jetzt tritt er mit einer Leichtigkeit<br />
auf. Er schwelgt sogar. „Wir sind die<br />
Verfolger bei der Wahl, gut gelaunte Verfolger“,<br />
sagt er.<br />
Marburg. 14:50 Uhr. Ein Sozialprojekt<br />
für Arbeitslose, es heißt Bootswerft. In der<br />
Werkstatt ist ein Holzboot aufgebockt, das<br />
hier Arme für Reiche aufarbeiten. Um das<br />
Boot herum verteilen sich sechs Männer<br />
in dem großen Raum, dazu ihr Meister,<br />
die Geschäftsleiterin, der Spitzenkandidat.<br />
Seine Pressesprecherin schießt Fotos. Die<br />
Männer <strong>wir</strong>ken verlegen, ein Tätowierter<br />
stemmt die Hände in die Hüften. Schäfer-<br />
Gümbel umfasst seinen Kaffeebecher mit<br />
beiden Händen.<br />
Er versucht die Distanz zu überwinden,<br />
sich an sie heranzufragen. Es klappt nicht.<br />
Die Distanz bleibt. Er kann sich ihr nur<br />
aussetzen. Der Politiker, dunkelblauer Anzug,<br />
Ray-Ban im Gesicht, neben dem Arbeitslosen,<br />
weiße Arbeitshosen, Tätowierung<br />
bis unters Gesicht. Man kann nicht<br />
zugleich oben und unten sein.<br />
Marburg. 18:55 Uhr. Bürgerhaus Cappel,<br />
der TSG-Wanderzirkus gastiert. Im<br />
Nebenraum hakelt ein Mitarbeiter dem<br />
Spitzenkandidaten ein Kopfmikro hinters<br />
Ohr. Am Fenster gehen Leute vorbei,<br />
die sich fein gemacht haben für die<br />
Veranstaltung. Im Saal warten schon über<br />
100 Menschen, auf der Bühne ist das Interviewzimmer<br />
aufgebaut, die Bücher, das<br />
Schanghai-Poster, die Obstschale. Im Nebenraum<br />
stellt sich der Politiker abseits. Er<br />
sammelt sich, spannt sich, strafft sich. Der<br />
Trümmermann will etwas glänzen.<br />
Georg Löwisch<br />
ist Textchef von <strong>Cicero</strong>. Schäfer-<br />
Gümbel lernte er Ende 2008 bei<br />
Minusgraden auf dem Flughafen<br />
Kassel-Calden kennen<br />
Foto: Andrej Dallmann<br />
38 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Das geht besser!<br />
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Zwickau, Frühlingsstraße 26: Am<br />
4. November 2011 <strong>wir</strong>d dieses Wohnhaus<br />
durch eine Explosion zerstört. Dort<br />
hatten Böhnhardt, Mundlos und<br />
Zschäpe ihre konspirative Wohnung<br />
Für die Ermittler<br />
unsichtbar<br />
40 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Der NSU-Prozess in München soll klären, wie eine<br />
rechte Terrorzelle 13 Jahre lang praktisch unbehelligt<br />
in Deutschland morden und rauben konnte. Eine<br />
Rekonstruktion dreier Existenzen im Untergrund<br />
Illustration: Leif Heanzo<br />
von Butz Peters<br />
D<br />
er Tag null war bitterkalt. Mit<br />
dicken Stiefeln, die Kapuzen<br />
tief ins Gesicht gezogen, stapfen<br />
Männer durch den Schnee<br />
auf einem Garagenhof in<br />
Jena – es ist noch dunkel. 26. Januar 1998,<br />
7:25 Uhr: Kripobeamte auf der Suche nach<br />
Rohren, Kabeln und anderen Teilen, aus<br />
denen sich Bombenattrappen bauen lassen,<br />
vielleicht auch Bomben – in der Stadt<br />
sind einige Bombenattrappen aufgetaucht,<br />
die für Unruhe sorgten. Für die Polizisten<br />
ist es ein Routineeinsatz. Nichts Aufregendes.<br />
Einen Durchsuchungsbeschluss haben<br />
sie für drei Garagen, einen Verdächtigen<br />
gerade bei seinen Eltern abgeholt, schräg<br />
gegenüber, in der Richard-Zimmermann-<br />
Straße 11: Der 20-Jährige geht ruhig und<br />
gelassen neben ihnen durch die eisige Kälte.<br />
Er trägt Bomberjacke, ist hager und schlaksig,<br />
hat raspelkurze Haare und Segelohren.<br />
Uwe Böhnhardt schließt das Tor der Garage<br />
auf. Die Beamten durchsuchen seinen<br />
roten Hyundai mit dem Kennzeichen<br />
J - RE 76, finden nichts. Böhnhardt fährt<br />
den Wagen auf den Garagenhof. Die Beamten<br />
nehmen die Regale in der Garage<br />
unter die Lupe.<br />
Kurz nach halb neun steigt Böhnhardt<br />
in den roten Hyundai und fährt weg. Der<br />
Einsatzleiter lässt ihn, weil, wie er meint,<br />
die Durchsuchung bislang nichts brachte<br />
und Böhnhardt sie friedlich über sich ergehen<br />
ließ. Eine halbe Stunde später gibt<br />
es Alarm: Per Funk von Kollegen aus einer<br />
anderen Garage – sie sind spät dran, weil<br />
sie ein Vorhängeschloss nicht aufbekamen<br />
und auf die Feuerwehr warten mussten. In<br />
der Garage, angemietet von Beate Zschäpe,<br />
liegen zwei Rohrbomben, Bauteile für<br />
Bomben und 1,4 Kilo TNT. Sprengstoff.<br />
Mit dem Hyundai in den Untergrund<br />
Aber da ist Böhnhardt schon über alle<br />
Berge. Im Morgengrauen rollte er von<br />
dem Garagenhof direkt in den Untergrund.<br />
Auch Uwe Mundlos und Beate Zschäpe<br />
verschwinden an diesem Montagvormittag.<br />
Das Thüringer Landeskriminalamt<br />
stellt drei Greifkommandos zusammen,<br />
die sich auf die Suche nach ihnen machen.<br />
Ohne Erfolg.<br />
Verschwunden für die Polizei bleiben<br />
Bönhardt & Co 13 Jahre, neun Monate<br />
und neun Tage. Am 4. November 2011 finden<br />
Polizisten Böhnhardts Leiche in Eisenach:<br />
in einem ausgebrannten Wohnmobil<br />
– getötet durch einen Kopfschuss von<br />
seinem Komplizen Uwe Mundlos, bevor<br />
der den Fiat Capron in Brand steckte und<br />
sich selbst in den Mund schoss. In den Wagen<br />
waren die beiden nach einem Banküberfall<br />
am Nordplatz mit ihren Fahrrädern<br />
geflüchtet. Beute: über 70 000 Euro.<br />
Als Polizisten vor dem Fenster auftauchen,<br />
greift Mundlos zur Pumpgun. Das Wohnmobil<br />
ist ein Waffenlager: Zwei Pumpguns,<br />
eine Maschinenpistole, vier Pistolen und<br />
eine Handgranate.<br />
Drei Stunden später brennt in Zwickau<br />
ein Wohnhaus, Frühlingsstraße 26 –<br />
ausgelöst durch eine Explosion. Die<br />
konspirative Wohnung von Böhnhardt,<br />
Mundlos und Beate Zschäpe – am<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 41
| B e r l i n e r R e p u b l i k | N a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e r U n t e r g r u n d<br />
Türschild steht „Dienelt“: Die 36-Jährige<br />
ist geflüchtet. Vier Tage später stellt<br />
sie sich der Polizei.<br />
Anhand der gefundenen Waffen stellen<br />
Kriminaltechniker des Bundeskriminalamts<br />
fest: Auf das Konto von Böhnhardt<br />
& Co geht eine in Deutschland<br />
einzigartige Mordserie, die keiner im rechten<br />
Lager verortet hatte. Sie ermordeten<br />
zehn Menschen in den Jahren 2000 bis<br />
2007 – neun Mitbürger türkischer beziehungsweise<br />
griechischer Herkunft mit einer<br />
Ceska 83, die in den Trümmern in Zwickau<br />
lag – und eine deutsche Polizistin. Die<br />
Blutspur zieht sich durch die ganze Republik.<br />
Tatorte: Hamburg, Rostock, Kassel,<br />
Köln, Dortmund, Heilbronn, Nürnberg,<br />
München.<br />
Der groSSe Irrtum<br />
Die Nachricht aus der BKA-Kriminaltechnik<br />
macht die deutschen Sicherheitsstrategen<br />
baff: Bei Verfassungs- und<br />
Staatsschützern, Politikern und auch Extremismusforschern<br />
war bislang nahe zu<br />
einhellige Auffassung, dass es keinen<br />
deutschen Rechtsterrorismus gibt. Ihn<br />
hielt das Bundesamt für Verfassungsschutz<br />
schon deshalb für ausgeschlossen,<br />
weil „keine rechtsterroristischen Organisationen<br />
oder Strukturen“ in dieser Republik<br />
bestünden, wie es bereits Anfang<br />
1999 erklärte – zu diesem Zeitpunkt waren<br />
Böhnhardt & Co seit einem Jahr abgetaucht.<br />
Zudem fehle es praktisch an allen<br />
Voraussetzungen für Rechtsterror: an „einer<br />
auf die aktuelle Situation in Deutschland<br />
bezogene Strategie zur gewaltsamen<br />
Überwindung des Systems“, am Führungspersonal,<br />
an finanziellen Mitteln,<br />
an einer Unterstützerszene und auch an<br />
den logistischen Voraussetzungen. Zudem<br />
passe Gewalt als Mittel der Politik nicht<br />
ins Weltbild der deutschen Rechtsextremisten,<br />
erklärte der Verfassungsschutz,<br />
weil sie „befürchten, dass terroristische<br />
Aktionen den Staat eher stärken würden“.<br />
Und schließlich wurde als „Beleg“<br />
für den nichtexistierenden Terrorismus<br />
ins Feld geführt, dass es keine Tatbekennungen<br />
gebe – weil Terrorismus gerade<br />
auf die „Propaganda der Tat“ abziele. Die<br />
Selbstbezichtigung.<br />
Diese glückselige Vorstellung bestand<br />
weit über ein Jahrzehnt – exakt bis zum<br />
11. November 2011. Dem Schwarzen Freitag<br />
der Staatsschutzstrategen. Dem Tag, an<br />
Ein Polizist<br />
beschreibt<br />
Uwe<br />
Böhnhardt<br />
als „einfach<br />
gestrickt“ und<br />
„brutal“<br />
dem die Nachricht von den BKA-Waffentechnikern<br />
kam.<br />
Braune Ideologen aus dem Westen<br />
Als die drei Ende Januar 1998 abtauchen,<br />
sind sie zwischen 20 und 24. Auf<br />
die Welt gekommen waren sie Mitte der<br />
siebziger Jahre. Alle wuchsen in Jena auf,<br />
einer Universitätsstadt an der Saale mit<br />
100 000 Einwohnern.<br />
Uwe Böhnhardt ist Jahrgang 1977. Die<br />
Schule bereitet ihm Schwierigkeiten. Er<br />
schließt sich älteren Jugendlichen aus der<br />
rechten Szene an und rutscht in dieses Milieu<br />
hinein. Nach einer Lehre als Hochbaufacharbeiter<br />
ist er mehrfach arbeitslos – ist<br />
es auch, als ihn die Polizei bei seinen Eltern<br />
abholt und zur Garage bringt. Ein Kripo-<br />
Mann, der Böhnhardt im Jahr zuvor vernahm,<br />
beschreibt ihn als „einfach gestrickt“,<br />
„brutal“, „ausführendes Organ“. Ein rücksichtsloser<br />
Vollstrecker. Er schlägt schnell<br />
zu, tritt mit seinen Stahlkappen-Springerstiefeln.<br />
Das Vorstrafenregister des 20-Jährigen<br />
ist lang: Autodiebstahl, Fahren ohne<br />
Fahrerlaubnis, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte,<br />
Erpressung, Volksverhetzung.<br />
Ein Intensivtäter.<br />
Beate Zschäpe, Jahrgang 1975, wächst<br />
überwiegend bei ihrer Großmutter auf –<br />
sie selbst nennt sich ein „Oma-Kind“. Ihren<br />
Vater kennt sie nicht. Ihre Mutter ließ<br />
sie oft allein, das Verhältnis ist gespannt:<br />
kein Vertrauen, keine Zuneigung. Nach<br />
dem Hauptschulabschluss macht sie eine<br />
Lehre als Gärtnerin, Fachrichtung Gemüsebau.<br />
Mehrfach arbeitslos – auch schon<br />
seit vier Monaten, als sie im Januar 1998<br />
in den Untergrund verschwindet.<br />
Uwe Mundlos, der Älteste, Jahrgang<br />
1973: Sein Vater ist Professor an der Fachhochschule.<br />
Nach der zehnten Klasse<br />
lernt Uwe Datenverarbeitungskaufmann<br />
bei Carl Zeiss. Er gilt als der „Schlaue“ der<br />
Gruppe, will das Abitur nachholen. Bis zu<br />
seinem Abtauchen besuchte er das Illmenau-Kolleg.<br />
Er verehrt Rudolf Hess, bezeichnet<br />
sich selbst als „deutsch national<br />
denkend“ und „Verfolgter des Staates“.<br />
Anfang, Mitte der neunziger Jahre verkehren<br />
die drei im „Winzerclub“ in Jena-<br />
Winzerla, einem Treffpunkt der Neonaziszene<br />
inmitten von Plattenbauten. Zschäpe<br />
ist mit Mundlos zusammen, später mit<br />
Böhnhardt. In dieser Zeit erlebt Thüringen<br />
ein Klima des aufkeimenden Rechtsextremismus.<br />
Braune Ideologen aus dem<br />
Illustration: Leif Heanzo<br />
42 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Westen ziehen durchs Land, wollen Neubundesbürger<br />
werben. Ein fruchtbarer Boden:<br />
Für die Medien in der DDR war der<br />
real existierende Rechtsextremismus im<br />
Arbeiter- und Bauernstaat ein Tabuthema.<br />
So ist für manchen nun der rechte Hass so<br />
etwas wie eine Protestreaktion gegen den<br />
verordneten Antifaschismus zu DDR-Zeiten.<br />
Und viele „Kinder der Einheit“ sind<br />
durch die Umbrüche verunsichert. Ihr<br />
Heil suchen sie in rechtsextremen Cliquen.<br />
Zum Ventil für den Nachwendefrust der<br />
Zukurzgekommenen <strong>wir</strong>d der Hass auf<br />
Ausländer. So steigt die Zahl der Rechtsextremisten<br />
in Thüringen rapide; sie verdoppelt<br />
sich in den Jahren 1994 bis 1998<br />
beinahe und klettert auf 1200. Rund die<br />
Hälfte der Braunen gehört rechtsextremistischen<br />
Parteien an – der NPD, der<br />
DVU und den Republikanern. Die anderen<br />
tummeln sich in der „nicht organisierten“<br />
Neonaziszene. Hier ist der Rechtsextremismus<br />
jünger, frecher, aktionistischer<br />
und militanter. Böhnhardt, Mundlos und<br />
Zschäpe machen mit: so richtig ab 1995,<br />
in der „Kameradschaft Jena“.<br />
Leitwolf der braunen Szene:<br />
V-Mann „Otto“<br />
„Führer“ der Kameradschaft ist André Kapke.<br />
Seine „Stellvertreter“ werden Böhnhardt<br />
und Mundlos. Beate Zschäpe ist „aktives<br />
Mitglied“. Das Konzept der „Freien Kameradschaften“<br />
ist eine Reaktion auf die Verbote<br />
mehrerer rechtsextremistischen Vereinigungen<br />
in der ersten Hälfte der neunziger<br />
Jahre – Nationale Front, Deutsche Alternative,<br />
Nationale Offensive. Für sie gilt das<br />
Prinzip der „Organisierung ohne Organisation“.<br />
Der Leitgedanke: „Wo keine erkennbare<br />
Organisation vorhanden ist, kann<br />
diese auch nicht zerschlagen werden.“ Es<br />
gibt keine Mitgliedsausweise und auch sonst<br />
nichts, was zu einer klassischen „Vereinigung“<br />
gehört. So agieren kleine autonome<br />
Einheiten auf regionaler Ebene.<br />
Angeleitet werden die Kameradschaften<br />
von Führungsfiguren, die untereinander<br />
in Kontakt stehen. „Leitwolf“ der<br />
Thüringer Szene ist Tino Brandt, ein charismatischer<br />
Typ mit Milchbubigesicht und<br />
Nickelbrille, zugleich „geheimer Mitarbeiter“<br />
des Thüringer Verfassungsschutzes<br />
unter dem Decknamen „Otto“; ab 1997 ist<br />
er sogar förmlich verpflichteter V‐Mann.<br />
Sechs Jahre lang, bis zum Jahr 2000, arbeitet<br />
er im verdeckten Staatsdienst und<br />
kassiert vom Freistaat Thüringen rund<br />
200 000 Mark.<br />
Das Netzwerk, innerhalb dessen Böhnhardt<br />
& Co in der Kameradschaft agieren,<br />
nennt sich – quasi als Dachmarke – „Anti-<br />
Antifa Ostthüringen“. Vorgestellt worden<br />
war das „Anti-Antifa“-Konzept 1992 vom<br />
Hamburger Neonazi Christian Worch; mit<br />
ihm sollte auf die angeblich <strong>wachsen</strong>den<br />
Angriffe militanter Linksextremisten gegen<br />
Gesinnungsgenossen aus der rechtsextremistischen<br />
Szene reagiert werden. Später,<br />
von 1996 an, nennt sich das braune<br />
Netzwerk im Freistaat „Thüringer Heimatschutz“.<br />
Die Zahl der Aktivisten steigt von<br />
20 auf 120, zu Spitzenzeiten gar auf 170.<br />
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe erscheinen<br />
zu den allwöchentlichen „Mittwochstreffen“,<br />
plakatieren in Jena die Losung:<br />
„8. Mai 1945 bis 8. Mai 1995 – Wir<br />
feiern nicht! Schluss mit der Befreiungslüge!“<br />
Böhnhardt und Zschäpe bestellen in einem<br />
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Blumengeschäft für einen Trauerkranz eine<br />
Schleife: „In Gedenken an Rudolf Hess,<br />
deine Jenaer Kameraden.“<br />
Im November 1996 marschieren Böhnhardt<br />
und Mundlos durch die Gedenkstätte<br />
Buchenwald in SA-ähnlichen Uniformen,<br />
erhalten Hausverbot. Zwei Monate später,<br />
im Januar 1997, betreten sie den Parkplatz<br />
der Polizeidirektion in Jena und notieren<br />
sich Kennzeichen ziviler Einsatzfahrzeuge.<br />
„Eine neue Qualität der Aktionen Rechtsradikaler“,<br />
blickt Kriminalhauptkommissar<br />
Roberto Tuche zurück, damals Staatsschützer<br />
in Jena. Beide werden festgenommen.<br />
Zwei Tage später melden sie in Jena eine<br />
Versammlung an. Thema: „Für eine stärkere<br />
Kontrolle der Polizei.“<br />
Für die Kameradschaft sind die politischen<br />
Gegner in erster Linie die Linken,<br />
in zweiter ist es der Rechtsstaat. Böhnhardt<br />
& Co verharmlosen das Dritte Reich.<br />
Aber ihr eigentliches Ziel bleibt nebulös.<br />
Ein Mitglied des Netzwerks berichtete<br />
1996, in der Szene werde oft vom „Tag X“<br />
gesprochen; dies sei der „Tag der Machtergreifung“.<br />
Wenn man so weit sei, solle<br />
ein nationalsozialistischer Volksaufstand<br />
stattfinden.<br />
„Bombenspuk“ in Jena<br />
Dass die politische Sozialisation von Böhnhardt,<br />
Mundlos und Zschäpe in diesen Jahren,<br />
1995 bis 1997, einen starken Radikalisierungsschub<br />
bekommt und sie immer<br />
militanter werden, zeigen auch die Ermittlungen<br />
zum „Bombenspuk“. Zwischen<br />
September 1996 und Dezember 1997 wurden<br />
in Jena sechs Bombenattrappen gefunden.<br />
Im Ernst-Abbe-Stadion liegt eine rote<br />
Holzkiste, versehen mit Hakenkreuzen und<br />
der Aufschrift „Bombe“. Koffer, ähnlich<br />
aufgemacht, stehen vor dem Theater und<br />
auf dem Nordfriedhof. Briefbombenimitate<br />
gehen bei der Lokalredaktion der thüringer<br />
Landeszeitung, der Stadtverwaltung<br />
und der Polizei ein.<br />
Diese sechs Konstruktionen – von<br />
schlichten Bombenimitaten bei den drei<br />
Briefen bis zur zündfertigen, aber nicht<br />
zündfähigen Theaterbombe – deuten für<br />
die Ermittler im Thüringer Landeskriminalamt<br />
auf eine „sich steigernde Gewaltbereitschaft“<br />
hin. Als Täter vermuteten sie<br />
Personen aus der „Kameradschaft Jena“.<br />
Insbesondere richtete sich der Verdacht<br />
gegen Uwe Böhnhardt. Ein unberechenbarer<br />
Waffennarr, so sein Ruf.<br />
Beate Zschäpe<br />
sorgt für den<br />
Zusammenhalt<br />
in der Gruppe,<br />
sie führt die<br />
Haushaltskasse<br />
und erledigt<br />
die Einkäufe<br />
Dazu beigetragen hatte auch das Puppentorso-Verfahren<br />
– im April 1997 verurteilte<br />
ihn das Amtsgericht Jena zu einer<br />
Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren. An<br />
einer Autobahnbrücke bei Jena hatte ein<br />
Jahr zuvor ein Puppentorso mit zwei Davidsternen<br />
und der Aufschrift „Jude“ gehangen.<br />
Elektrokabel auf der Brücke führten<br />
zu zwei Bombenattrappen. Auf einem<br />
Karton: Böhnhardts Fingerabdruck.<br />
Von diesem Vorwurf allerdings spricht<br />
ihn das Landgericht Gera im Berufungsverfahren<br />
frei, verurteilt ihn aber aus einem<br />
anderen Grund wegen Volksverhetzung: In<br />
seiner Wohnung hatte die Polizei zum Verkauf<br />
vorgesehene Tonträger der Gruppen<br />
„NSDAP“ und „Landser“ gefunden. Das<br />
Landgericht verkündet die „Jugendstrafe“<br />
im Oktober 1997, also drei Monate vor<br />
der Garagendurchsuchung: zwei Jahre und<br />
drei Monate Gefängnis.<br />
In der Hoffnung, dem „Bombenspuk“<br />
ein Ende machen zu können, heftet sich<br />
ein Observationstrupp des Thüringer Verfassungsschutzes<br />
an Böhnhardts Fersen. Im<br />
November 1997 sehen die Beamten, wie er<br />
zusammen mit Uwe Mundlos Brennspiritus<br />
kauft und in eine der Garagen schafft.<br />
Und so erlässt das Amtsgericht Jena einen<br />
Durchsuchungsbeschluss. Gefunden<br />
werden sollen „Vergleichsmaterialien“,<br />
die Uwe Böhnhardt als Bombenattrappenbastler<br />
überführen. Das Vergleichsmaterial<br />
<strong>wir</strong>d auch tatsächlich entdeckt. Zudem<br />
1,4 Kilo TNT. Aber Böhnhardt ist<br />
weg. Gerade abgehauen.<br />
In dieser Zeit, Anfang 1998, kommen<br />
er, Mundlos und Zschäpe überein, sich „zu<br />
einer eigenständigen Gruppierung zusammenzuschließen“,<br />
wie der dritte Strafsenat<br />
des Bundesgerichtshofs seinen Kenntnisstand<br />
zum NSU im vergangenen Jahr zusammenfasste.<br />
Die drei hätten beschlossen,<br />
sich „dem gemeinsamen Ziel der Veränderung<br />
der gesellschaftlichen Verhältnisse<br />
in der Bundesrepublik Deutschland hin<br />
zu einem an der nationalsozialistischen<br />
Ideologie ausgerichteten System unterzuordnen<br />
und dieses Ziel künftig aus dem<br />
Untergrund heraus mit Waffengewalt<br />
weiterzuverfolgen“.<br />
Im Untergrund in Sachsen<br />
Der Weg in den Untergrund führte das Trio<br />
von Thüringen nach Sachsen. Dort lebt es<br />
13 Jahre lang unerkannt – insgesamt in sieben<br />
Wohnungen. Die ersten zweieinhalb<br />
Illustration: Leif Heanzo<br />
44 <strong>Cicero</strong> 6.2013
I m p r e s s u m<br />
Jahre in Chemnitz, Mitte 2000 ziehen die<br />
drei nach Zwickau. Eine überschaubare<br />
Stadt in einer Talaue am Eingang zum<br />
West erzgebirge. 90 000 Einwohner.<br />
Was sie sich für den Untergrund vorgenommen<br />
haben, zeigt ein Text über das<br />
Selbstverständnis der Truppe, es ist wohl<br />
der einzige, den es gibt – gefunden in den<br />
Trümmern in Zwickau, abgespeichert das<br />
letzte Mal auf dem Computer am 5. März<br />
2002: „Der Nationalsozialistische Untergrund<br />
(NSU) verkörpert die neue politische<br />
Kraft im Ringen um die Freiheit der<br />
deutschen Nation.“ Keine Partei, kein<br />
Verein sei „Grundlage des Nationalsozialistischen<br />
Untergrunds“, sondern „die Erkenntnis,<br />
nur durch wahren Kampf dem<br />
Regime und seinen Helfern entgegentreten<br />
zu können“. Die „Aufgaben des NSU“<br />
bestünden „in der energischen Bekämpfung<br />
der Feinde des deutschen Volkes“ sowie<br />
„der bestmöglichen Unterstützung von<br />
Kameraden und nationalen Organisationen“.<br />
Das Selbstüberschätzung des Trios ist<br />
maßlos. Allen Ernstes sehen sich die drei<br />
abgetauchten Ex-Arbeitslosen als die „neue<br />
politische Kraft“ in Deutschland.<br />
Von Ende Januar 1998 an organisieren<br />
sie ihr Leben im Untergrund. Zunächst finden<br />
sie Unterschlupf in der Wohnung eines<br />
Bekannten an der Richard-Viertel-Straße<br />
in Chemnitz. Acht Monate später beziehen<br />
sie ihre erste eigene Wohnung in der<br />
Altchemnitzer Straße, angemietet von einem<br />
Gesinnungsgenossen. Gesinnungsgenossen<br />
bringen ihnen auch Kleidung, Geld<br />
und was sonst noch für sie wichtig ist. Die<br />
nächsten 13 Jahre leben sie unter fremden<br />
Identitäten – Beate Zschäpe jongliert mit<br />
einem Dutzend, stellt sich vor als Mandy,<br />
Bärbel, Silvia, Liese, Lisa oder Susann. Im<br />
Übrigen ist aber fast alles bürgerlich normal,<br />
so wie es scheint. Einschließlich regelmäßiger<br />
Sommerurlaube auf der Insel<br />
Fehmarn mit dem Wohnwagen „Hobby<br />
Prestige“ auf dem Campingplatz Wulfener<br />
Hals. Mit Satellitenschüssel. Eine unauffällige<br />
Fassade. Die Rollen dahinter: Mundlos<br />
ist der Kopf, Böhnhardt die Faust. Beate<br />
Zschäpe sorgt für den „emotionalen Zusammenhalt“,<br />
führt die Haushaltskasse, erledigt<br />
Hausarbeit und Einkäufe.<br />
Böhnhardt und Mundlos gehen „jobben“<br />
Nach den ersten Monaten im Untergrund<br />
<strong>wir</strong>d das Geld knapp. Aber im folgenden<br />
Jahr, November 1999, stellen Thüringer<br />
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6.2013 <strong>Cicero</strong> 45
| B e r l i n e r R e p u b l i k | N a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e r U n t e r g r u n d<br />
Verfassungsschützer fest, dass die Geldsorgen<br />
verflogen sind. Einer ihrer V-Männer<br />
bot einem der mutmaßlichen Kontaktleute<br />
zu den dreien eine „Spende“ für sie an.<br />
Aber der lehnt ab. Erklärt, dass sie keine<br />
Spenden „mehr brauchen, weil sie jobben“.<br />
Damals war der Grund für die Antwort unklar,<br />
heute ist er es nicht mehr. Einen Monat<br />
zuvor hatten Böhnhardt und Mundlos<br />
in Chemnitz zwei Postfilialen überfallen<br />
und dabei fast 70 000 Mark erbeutet.<br />
Von da an gehen die beiden regelmäßig<br />
„jobben“, um für den Lebensunterhalt<br />
im Untergrund zu sorgen. Insgesamt ziehen<br />
sie 15 Mal los, um Kassen zu leeren.<br />
Die Beute beläuft sich auf 634 000 Euro.<br />
Das Geld dürfte ausgereicht haben für das<br />
WG-ähnliche Leben – rund 18 000 Euro<br />
pro Kopf und Jahr.<br />
Die Chemnitzer Raubermittler hatten<br />
nicht die geringste Ahnung, wer in ihrem<br />
Revier und anderswo bei der Serie zuschlug;<br />
an den Tatorten finden sie keine<br />
brauchbaren Spuren. Mit den Fotos aus<br />
den Überwachungskameras ist nicht viel<br />
anzufangen. Die Maskerade der Räuber<br />
ist gut.<br />
Im September 2000, mehr als zweieinhalb<br />
Jahre nach dem Abtauchen, begehen<br />
Böhnhardt und Mundlos ihren ersten<br />
Mord, den zehnten mehr als vier Jahre<br />
vor ihrem Auffliegen. Zwei Sprengstoffanschläge<br />
in Köln, 2001 und 2004, verletzten<br />
23 Menschen, darunter viele Türken.<br />
Ziel der Anschläge sei es gewesen, so<br />
die Erkenntnis der Bundesanwaltschaft,<br />
dass ausländische Mitbürger „Deutschland<br />
aus Angst um ihre Sicherheit verlassen“.<br />
Deshalb hätte der NSU die Taten<br />
„auch ohne ausdrückliche Tatbekennung<br />
für die Öffentlichkeit eindeutig als Mordserie“<br />
kenntlich gemacht, „der sich Mitbürger<br />
ausländischer Herkunft schutzlos<br />
ausgesetzt fühlen sollten“: Stets feuerten<br />
die Mörder aus derselben Ceska 83 mit<br />
Schalldämpfer.<br />
Eine neue Dimension des Terrors<br />
Wäre dieses Motiv zutreffend – und<br />
nichts spricht bislang dagegen –, hätte es<br />
Deutschland mit einer neuen Dimension<br />
des Terrorismus zu tun. Eine Dimension,<br />
die die Sicherheitsbehörden bis November<br />
2011 nicht für möglich gehalten haben.<br />
Mord als nonverbale Kommunikation: Die<br />
Tat soll Angst und Unsicherheit bei Migranten<br />
erzeugen sowie unausgesprochene<br />
Uwe Mundlos<br />
gilt als der<br />
„Schlaue“ in<br />
der Gang, der<br />
Sohn eines<br />
Professors<br />
will das Abitur<br />
nachholen<br />
Sympathie in der rechtsextremistischen<br />
Szene wecken. Terrorismus also nicht mehr<br />
als „Propaganda der Tat“ – sondern ohne<br />
Tatbekennung. Die schweigende Zelle ist<br />
möglich.<br />
Frappierend ist, dass die Gruppe<br />
27 schwere Verbrechen republikweit verübte<br />
– Morde, Mordversuche und Banküberfälle<br />
–, ohne dass die Polizei auch nur<br />
einen Hauch von Verdacht gegen die Akteure<br />
schöpfte. Mehr als zehn Jahre lang betrieb<br />
der NSU sein Terrorhandwerk ähnlich<br />
„perfekt“ wie die dritte Generation der<br />
RAF – keine Spuren bei den Morden und<br />
den Beschaffungstaten, null Hinweise darauf,<br />
wo die Terroristen wohnen. Die Enkel<br />
von Baader & Meinhof ermordeten in den<br />
Jahren 1985 bis 1993 ebenfalls zehn Menschen.<br />
Von über einem Dutzend Akteuren<br />
wurden gerade einmal zwei verurteilt.<br />
Zu der Methode des NSU gehörte auch,<br />
dass die Gruppe, die durchgängig in Sachsen<br />
lebte, ausschließlich in Westdeutschland<br />
Anschläge verübte. Hunderte Kilometer<br />
liegen zwischen den Tatorten und dem<br />
Wohnort. Und nachdem 2006 ein Sparkassenüberfall<br />
in Zwickau gescheitert war,<br />
der Wahlheimat des Trios, rauben Böhnhardt<br />
und Mundlos nur noch außerhalb<br />
Sachsens, in Mecklenburg-Vorpommern<br />
und in Thüringen.<br />
Unsichtbar für die Ermittler blieb das<br />
Trio aber auch deshalb über die Jahre, weil<br />
es konsequent alle Neonazi-Treffs mied,<br />
einschließlich der braunen Szene vor der<br />
Haustür in Zwickau. Einige wenige Helfershelfer,<br />
langjährige „Spezis“, beschafften<br />
Fahrzeuge, Ausweise, Unterkünfte<br />
und Waffen, meint die Bundesanwaltschaft.<br />
Und deshalb sitzen vier von ihnen<br />
nun auf der Anklagebank neben Beate<br />
Zschäpe. Zur Last gelegt <strong>wir</strong>d ihnen<br />
Beihilfe zu Straftaten oder Unterstützung<br />
der terroristischen Vereinigung NSU, nicht<br />
aber Mittäterschaft. Der derzeitige Stand<br />
der Anklage, unjuristisch formuliert: Der<br />
NSU bestand ausschließlich aus dem Trio<br />
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Außer<br />
ihnen war niemand an den Anschlägen als<br />
Täter beteiligt.<br />
Drei parallele Handlungsstränge:<br />
unerkannt<br />
Überraschend ist in der Gesamtschau vor<br />
allem, dass deutsche Sicherheitsbehörden<br />
drei Handlungsstränge mit erheblichem<br />
Aufwand verfolgten, aber niemand auf die<br />
Illustration: Leif Heanzo<br />
46 <strong>Cicero</strong> 6.2013
F r a u F r i e d f r a g t s i c h …<br />
Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: Bettina Keller/Fischer Verlag<br />
Idee kam, dass diese etwas miteinander zu<br />
tun haben könnten. Wäre das geschehen,<br />
hätte ein Terrorverdacht nicht fern gelegen.<br />
Denn bei neun Morden stand eine „Serie“<br />
außer Frage, weil alle Opfer mit derselben<br />
Ceska 83 erschossen worden waren – von<br />
den „Döner-Morden“ schrieben Zeitungen<br />
seinerzeit. Ebenso klar war die „Serie“ bei<br />
über einem Dutzend Banküberfällen. Und<br />
die Suche nach dem Trio betrieben Polizei<br />
und Verfassungsschutz bis 2003 ebenso<br />
aufwendig wie erfolglos. Um auf seine Spur<br />
zu kommen, nahmen sie alle möglichen<br />
Kontaktpersonen ins Visier. Allein die Thüringer<br />
Polizei hörte 37 Telefonanschlüsse<br />
ab. Auch mehr als ein Dutzend Observationen<br />
führten nicht zum Ziel. Die drei waren<br />
weg – und blieben es.<br />
Die Suche der Ermittler galt drei abgetauchten<br />
Bastlern von Bombenattrappen<br />
– Durchgeknallten, nicht mehr und<br />
nicht weniger, dachte so mancher Fahnder.<br />
Nicht aber mordende Terroristen. Das<br />
wäre ein anderes Kaliber gewesen. 2003<br />
stellt die Staatsanwaltschaft die Fahndung<br />
nach dem Trio ein. Der Tatvorwurf ist verjährt<br />
– „Vorbereitung eines Explosionsund<br />
Sprengstoffverbrechens“. Die fünf<br />
Jahre sind rum. Nur Böhnhardt bleibt bis<br />
2007 in den Fahndungscomputern, weil<br />
er der „Ladung zum Strafantritt“ wegen<br />
seiner Volksverhetzungsstrafe nicht gefolgt<br />
war.<br />
Von den Zusammenhängen dieser drei<br />
Handlungsstränge wüsste bis heute vermutlich<br />
niemand, wenn die Polizei-Einsatzleitstelle<br />
in Eisenach nach dem Bankraub im<br />
November 2011 nicht an alle Streifenwagen<br />
die Order ausgegeben hätte, ganz besonders<br />
auf größere Fahrzeuge zu achten,<br />
in die Fahrräder passen.<br />
Das Ende des NSU folgte nicht, anders<br />
als bei der RAF 1998, aus eigener<br />
Einsicht, sondern war der Erfolg einer Polizeifahndung<br />
– nach Räubern, nicht nach<br />
Terroristen. Von denen ahnte niemand etwas.<br />
Und noch einen wesentlichen Unterschied<br />
zur RAF gibt es: Die drei Buchstaben<br />
NSU wurden erst zu einem Begriff<br />
des Schreckens, als es die Truppe nicht<br />
mehr gab.<br />
butz peters<br />
ist Rechtsanwalt, Journalist und<br />
Buchautor. Er schrieb unter<br />
anderem den Bestseller „Tödlicher<br />
Irrtum – Die Geschichte der RAF“<br />
… warum sie neuerdings mit<br />
Alterssex behelligt <strong>wir</strong>d<br />
M<br />
eine oma ist dieses jahr 99<br />
geworden. Sie wäre überrascht,<br />
wenn ich ihr sagen<br />
würde, dass sie ein „Silver Ager“ ist.<br />
Sie selbst würde sagen, sie sei eine alte<br />
Schachtel und ich solle sie mit dem<br />
neumodischen Kram in Ruhe lassen.<br />
Früher durfte man einfach alt<br />
werden. Heute muss man seine Kompetenz<br />
in Beraterverträgen ausbeuten,<br />
an seinem Golfhandicap arbeiten,<br />
Kulturworkshops belegen oder bei<br />
Sturm Kap Horn umsegeln – und dabei<br />
ständig betonen, wie toll man sich<br />
fühlt. Viele Alte von heute benehmen<br />
sich wie Kinder, die unbedingt auf<br />
dem Abenteuerspielplatz herumtollen<br />
möchten, statt ihren Enkeln beim<br />
Herumtollen zuzusehen. Altwerden ist das neue Jungsein: ein Zustand der Freiheit,<br />
in dem alles möglich scheint, solange man es schafft, die Wirklichkeit erfolgreich<br />
zu ignorieren.<br />
Für Frauen verlängert sich der Attraktivitätsdruck nahezu ins Unendliche. Wie?<br />
Sie sind erst 68 und tragen keine Leggings und bauchfreien T-Shirts mehr? Sie haben<br />
sich als Frau wohl völlig aufgegeben! Einer mir bekannten alten Dame, die<br />
ihren Alltag längst nicht mehr alleine bewältigt, wurde zweimal die Pflegestufe<br />
verweigert, weil sie darauf bestand, den Gutachter frisch vom Friseur, perfekt geschminkt<br />
und im flotten Kostümchen zu empfangen – schließlich „lässt man sich<br />
als Frau nicht gehen“. Kurz darauf irrte sie orientierungslos durch ihren Heimatort<br />
und entging nur um ein Haar dem Unfalltod.<br />
Besonders schlimm ist es geworden, seit auch Alterssex kein Tabu mehr ist. In<br />
jedem zweiten Kinofilm muss ich mir ansehen, wie faltige Hautlappen aneinanderschlagen<br />
und zahnlose Münder sich aufeinanderpressen. Ich will das nicht! Ich will<br />
kein welkes Fleisch in Ekstase sehen! Sex sei jedem gegönnt, solange er ihn praktizieren<br />
kann – aber ich will, bitte schön, nicht dabei sein. Ebenso wenig, wie Pornografie<br />
zu einem entspannten Umgang mit Sex führt, dient die Darstellung körperlichen<br />
Verfalls einem entspannten Umgang mit dem Alter.<br />
Könnten <strong>wir</strong> nicht einfach zu den geordneten Verhältnissen von früher<br />
zurückkehren?<br />
Ab 65 tragen Frauen Gesundheitsschuhe und beigefarbene Windjacken, und<br />
Männer versuchen nicht mehr, ihr Hörgerät als iPod-Stöpsel auszugeben. Neben<br />
Seniorentellern und Seniorenermäßigung gibt es Seniorenhandys mit großem Display,<br />
und im Supermarkt hängen Lupen an den Regalen, damit man die Preise lesen<br />
kann und nicht junge Leute belästigen muss. Männer dürfen alte Säcke werden<br />
und Frauen alte Schachteln. Und Werbefuzzis, die den Begriff „Silver Ager“ verwenden,<br />
werden bei Sturm vor Kap Horn ausgesetzt.<br />
Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />
Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen auf<strong>wir</strong>ft<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 47
| B e r l i n e r R e p u b l i k | K o m m e n t a r<br />
Teufelsaustreibung<br />
Im NSU-Prozess <strong>wir</strong>d Beate Zschäpe zum Satan stilisiert.<br />
Denn Teufel entlasten die Nichtteufel<br />
Von Frank A. Meyer<br />
L<br />
ange Zeit schien Beate Zschäpe, die Frau des NSU-<br />
Mordtrios, ein unlösbares Rätsel. Bild – wer sonst? –<br />
hat es für uns gelöst. Mit der Schlagzeile zum Prozessauftakt:<br />
„Der Teufel hat sich schick gemacht.“<br />
Die Angeklagte als Teufel, als teuflischer Teufel sogar, der<br />
sich, zur Tarnung, auch noch schick macht: Davon versteht<br />
Bild etwas, gilt das Blatt doch manchem als Zeitungsteufel, der<br />
sich selber gern schick macht und mit Nikolaus Blome, dem<br />
schönsten und schlawinerigsten seiner Redakteure, die Talkshows<br />
beschickt.<br />
Warum Teufel und nicht Teufelin? Die weibliche Form klingt<br />
einerseits nach Diminutiv, verkleinert Zschäpe phonetisch, entspricht<br />
auch nicht der kirchlichen Wahrheit, die den Teufel bis<br />
heute auf Teufel komm raus männlich sieht, wie übrigens auch<br />
den lieben Gott. Und Bild nimmt die Bibel ernst.<br />
Warum nicht einfach Hexe? Weil der Begriff durch Hexenprozesse<br />
und Hexenverbrennungen historisch belastet ist, sich<br />
zudem auch Emanzen heute gerne Hexen nennen – was also,<br />
angewendet auf die mutmaßliche Mittäterin von zehn Morden,<br />
verharmlosend <strong>wir</strong>ken würde.<br />
Bild hat gefunden, was andere lange suchten: den Schlüssel<br />
zu den Mordtaten an andersgläubigen, anderssprechenden, andersdenkenden<br />
Menschen.<br />
So etwas kann nur das Werk des Teufels sein.<br />
Den Teufel in Frauengestalt beschreiben auch andere Blätter.<br />
Focus weiß zu berichten: „Selten hat man eine Angeklagte,<br />
noch dazu bei solch schwerwiegenden Vorwürfen, so entspannt<br />
gesehen, so cool.“ Die Welt schildert akribisch die „Mädchenohrringe“,<br />
viel „Mascara auf den Wimpern“, die „puppenhaften<br />
Züge“, die „sorgfältig getönten Haare“, die auch noch „auf<br />
Hochglanz gefönt“ sind. Gipfel der Diabolik.<br />
Des Teufels Anwälte tragen verräterische Namen, wie Georg<br />
M. Oswald in einem Beitrag für das Welt-Feuilleton enthüllt:<br />
„Stahl, Heer, Sturm.“ Der Schriftsteller hellsichtig: „Die Namen<br />
der drei Verteidiger lesen sich, als habe sie Frau Zschäpe sich<br />
ausgesucht, um zu provozieren. Sicher ist das nicht bewiesen.<br />
Aber es ist auch nicht auszuschließen, was in diesem Fall schon<br />
ausreicht, um die gewünschte Wirkung zu erzielen.“<br />
Gottlob findet sich die Vizepräsidentin des Bundestags,<br />
Katrin Göring-Eckart, nicht unter den Zschäpe-Anwälten.<br />
Göring! Es wäre schon fast der Beweis.<br />
Auch die Haltung Zschäpes ist natürlich exegetisch interessant.<br />
Zum Beispiel die verschränkten Arme: „Nazi-Braut in Hitler-Pose“,<br />
titelte die türkische Zeitung Habertürk. Und so fiel<br />
denn bei der Demonstration vor dem Münchner Gericht ganz<br />
folgerichtig auch der Begriff „Hitlerin“.<br />
Hitler und Hitlerin, Teufel und Teufelin. So fügt es sich. So<br />
muss es sein. So schließt sich der deutsche Teufelskreis.<br />
Welches Outfit der 38-Jährigen hätte das Gericht der<br />
Publizisten wohl ohne Empörung durchgehen lassen? Skinhead-<br />
Look? Sack und Asche?<br />
Für Deutsche muss der Teufel erkennbar sein. Das ist ihr historisches<br />
Problem. Erkennbare Teufel entlasten die Nichtteufel.<br />
Wer aber den Teufel vor Gericht sehen will, der wünscht sich<br />
keinen profanen Prozess, der ausschließlich der Rechtsfindung<br />
dient. Den Teufel treibt man aus. Seit dem deutschen Pontifikat<br />
Ratzinger/Benedikt ist auch das religiöse Ritual dazu, der Exorzismus,<br />
wieder abgesegnet.<br />
Aus türkischer Sicht ist ohnehin der Scheitan in den deutschen<br />
Staat gefahren, weshalb der Prozess nur zu genügen vermag,<br />
wenn er, möglichst stracks, zur Aufdeckung eines staatlichen<br />
Komplotts und zur „Höchststrafe“ führt. So jedenfalls<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
48 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Foto: Privat<br />
Anzeige<br />
fordert es Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde<br />
in Deutschland, vom Gericht.<br />
Wo findet dieser Prozess eigentlich statt? In Ankara? Dort ist<br />
die politische Zurichtung von Richtern gang und gäbe.<br />
Doch der Prozess findet statt im Rechtsstaat Deutschland,<br />
dem vielleicht modernsten Rechtsstaat der Welt. Was auch bedeutet:<br />
dem vielleicht unspektakulärsten Rechtsstaat von allen.<br />
Die spektakulärste Mordserie seit den Taten der RAF – wie<br />
lässt sie sich unspektakulär verhandeln?<br />
Genau dies ist die Pflicht des Gerichts. Es hat sich vor niemandem<br />
zu verbeugen. Nicht einmal vor den Medien, und zwar<br />
selbst dann nicht, wenn ihm Fehler unterlaufen, wie bei der Zuweisung<br />
der Medienplätze im Gerichtssaal. Es hat sich auch<br />
nicht zu verbiegen, um außergerichtliche Erwartungen zu erfüllen.<br />
Der deutsche Rechtsstaat kennt keinen Schauprozess. Auch<br />
nicht den Showprozess.<br />
Trat Adolf Eichmann anders auf als Beate Zschäpe, 1961 vor<br />
dem Gericht in Jerusalem? Er sah aus, wie Nazi-Täter normalerweise<br />
aussehen: normal.<br />
Hannah Arendt beschrieb ihn für die Zeitschrift The New<br />
Yorker so: Er sei ein „normaler Mensch“, kein „Dämon oder Ungeheuer“.<br />
Daraus leitete die jüdische Denkerin den Begriff von<br />
der „Banalität des Bösen“ ab. Was einen Proteststurm entfachte,<br />
im jüdischen Opfervolk wie im deutschen Tätervolk.<br />
Nazis müssen Teufel sein! Menschen? Das sind <strong>wir</strong>. Die<br />
anderen.<br />
Vielleicht liegt diese Sichtweise sogar dem Versagen des Verfassungsschutzes<br />
zugrunde, der die NSU-Mordserie partout<br />
nicht erkennen wollte: Ganz normale Nazi-Taugenichtse – auf<br />
Serienmörder kam keiner.<br />
Mit diesem Reflex wurden viele Verdachtsmomente verdrängt.<br />
Für weitere Verwischung der Spuren sorgte die historisch<br />
notorische Blindheit vieler deutscher Polizisten auf dem rechten<br />
Auge.<br />
Doch auch das hat das Gericht nicht zu beschäftigen. Es<br />
hat Recht zu sprechen. In einem sehr schwierigen Fall, wie die<br />
Frankfurter Allgemeine zu bedenken gibt: „Die Anklage gegen<br />
Beate Zschäpe beruht zu großen Teilen auf Indizien (…). Ihre<br />
Verurteilung gilt keineswegs als sicher.“<br />
Ja, was weiten Teilen der Öffentlichkeit als sicher gilt, der<br />
deutschen wie der türkischen, muss sich das Gericht erst mühselig<br />
erarbeiten: Gewissheit über Beate Zschäpes konkretes Mittun<br />
bei der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“.<br />
Dies gegen eine Verteidigung, die mit allen Kniffen kämpft, weil<br />
sie eben zu verteidigen hat. Aber auch gegen Nebenkläger, die<br />
jede denkbare Emotionalität in das Verfahren einbringen, weil<br />
sie eben die Angehörigen der Opfer sind.<br />
Schade, dass türkischen Politikern und Juristen nicht möglichst<br />
viele Sonderplätze im Gerichtssaal zur Verfügung gestellt<br />
werden konnten. Sie hätten Nützliches über den deutschen<br />
Rechtsstaat gelernt. Über den Rechtsstaat überhaupt.<br />
Frank A. Meyer<br />
ist Journalist und Gastgeber der politischen<br />
Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 49
<strong>Cicero</strong>-Leser<br />
wählen früher<br />
Wissen Sie bereits, was Sie bei der Bundestagswahl am 22. September 2013 wählen<br />
werden? <strong>Cicero</strong>, Ihr Magazin für politische Kultur, begleitet Sie vor und nach der Wahl<br />
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Republik, Weltbühne, Kapital, Stil und Salon das aktuelle Zeitgeschehen.<br />
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Monate lang frei Haus und bleiben so – vor und nach der Wahl – bestens informiert.<br />
Wahljahr 2013<br />
Der Countdown<br />
DAS CICERO WAHLABO<br />
<strong>Cicero</strong> begleitet in sechs Ausgaben die Phasen vor und nach der Wahl<br />
87 Tage vor der Wahl<br />
LETZTE CHANCE<br />
Bis zum 17. Juni müssen Parteien,<br />
die nicht im Bundestag vertreten sind,<br />
ihre Wahlteilnahme beim Bundeswahlleiter<br />
anzeigen. Der Bundestag tritt<br />
am 28. Juni zu seiner letzten regulären<br />
Plenarsitzung der aktuellen Wahlperiode<br />
zusammen.<br />
<strong>Cicero</strong> 7/2013<br />
59 Tage vor der Wahl<br />
NEUE UMFRAGEWERTE<br />
In der heißen Phase des Wahlkampfs<br />
veröffentlichen die Meinungsforschungsinstitute<br />
nahezu täglich neue<br />
Umfragewerte. Ab sechs Wochen<br />
vor der Wahl dürfen allerorten Wahlplakate<br />
im öffentlichen Straßenland<br />
aufgestellt werden.<br />
<strong>Cicero</strong> 8/2013<br />
31 Tage vor der Wahl<br />
BRIEFWAHL BEANTRAGEN<br />
Spätestens bis zum<br />
1. September erhalten alle<br />
Wahlberechtigten eine Wahlbenachrichtigung.<br />
Von diesem<br />
Zeitpunkt an, ist auch die<br />
Stimmabgabe per Briefwahl<br />
möglich.<br />
<strong>Cicero</strong> 9/2013<br />
VOR DER WAHL<br />
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Cuvée aus Chenin Blanc und Chardonnay stammt aus dem<br />
traditionsreichen Schaumweinhaus Bouvet-Ladubay an der<br />
Loire. Sie überzeugt durch die Feinheit ihres Körpers und zart<br />
schmelzende Tannine.<br />
2. <strong>Cicero</strong> Wahl-Spezial<br />
Das Spezial zur Wahl: Alle Duelle, alle<br />
Wahlkreise, alle Argumente. Wie führen<br />
Merkel und Steinbrück ihre Kampagnen?<br />
Welche Strategien, welche Kniffe <strong>wir</strong>ken?<br />
<strong>Cicero</strong> präsentiert die Akteure vor und hinter<br />
der Bühne. Erscheinungstag: 14. Juni.<br />
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Am 22.9.<br />
ist Bundestagswahl<br />
4 Tage nach der Wahl<br />
NACH DER WAHLNACHT<br />
Noch in der Wahlnacht<br />
verkündet der Bundeswahlleiter<br />
das vorläufige amtliche Endergebnis.<br />
Und bereits vier Tage<br />
nach der Wahl erscheint <strong>Cicero</strong><br />
mit einer ausführlichen Analyse<br />
des Wahlergebnisses.<br />
<strong>Cicero</strong> 10/2013<br />
32 Tage nach der Wahl<br />
BUNDESKANZLERWAHL<br />
Spätestens 30 Tage nach der Wahl<br />
tritt der neu gewählte Bundestag<br />
zu seiner konstituierenden Sitzung<br />
zusammen. Üblicherweise findet<br />
an diesem Tag auch die Wahl des<br />
Bundeskanzlers bzw. der Bundeskanzlerin<br />
statt.<br />
<strong>Cicero</strong> 11/2013<br />
60 Tage nach der Wahl<br />
DIE NEUE REGIERUNG<br />
Die neue Bundesregierung<br />
ist im Amt und muss sich<br />
auf ihre ersten Bewährungsproben<br />
einstellen: Steuerdebatte,<br />
Familienpolitik, Eurokrise,<br />
soziale Gerechtigkeit und<br />
vieles mehr …<br />
<strong>Cicero</strong> 12/2013<br />
NACH DER WAHL
| B e r l i n e r R e p u b l i k | M e i n S c h ü l e r<br />
„Gregor hatte<br />
die Beatles“<br />
Berlin, Hauptstadt der DDR, Oberschule Adlershof:<br />
Gregor Gysi bringt Westmusik mit. Sein Lehrer<br />
klaus siegel, 85, legt die Platte auf. Das gibt Ärger<br />
Wahljahr 2013<br />
Der Countdown<br />
Bisher berichteten in<br />
<strong>Cicero</strong> Lehrer von:<br />
Peer Steinbrück<br />
Angela Merkel<br />
Jürgen Trittin<br />
Philipp Rösler<br />
Sigmar Gabriel<br />
Ich war Musiklehrer an der Ostberliner Oberschule Adlershof, die<br />
später Heinrich-Hertz-Oberschule hieß, insgesamt 40 Jahre Schuldienst,<br />
und davon nur zehn Tage krank! Ich bin heute 85 und seit<br />
1991 nicht mehr im Dienst. Aber Gregor Gysi, der bei mir im Musikunterricht<br />
war, habe ich noch in guter Erinnerung.<br />
Gysi hatte damals die erste Schallplatte der Beatles an der<br />
Schule. Die haben <strong>wir</strong> bei mir im Unterricht auch mal angespielt.<br />
Da gab es in der Partei dann Stirnrunzeln. Aber ich habe mich gegen<br />
den offiziellen Parteiwiderstand für die Beatles ausgesprochen,<br />
und bei dieser Meinung bin ich auch geblieben.<br />
Gregor war kein Streber, aber ein im besten Sinne strebsamer<br />
Schüler, der seine Pflichten erfüllt hat und lernwillig war.<br />
Sehr vielseitig interessiert, besonders an Musikgeschichte. Er war<br />
schon damals ein cleverer Redner, so wie heute im Bundestag.<br />
Wenn es bei uns Diskussionen gab, war er immer Gesprächsführer<br />
und hatte regelmäßig Geistesblitze. Es stimmte also bei Gysi<br />
immer die Richtung, das galt übrigens auch für seine Schwester<br />
Gabriele. Die war ja auch bei uns an der Schule und ging dann<br />
später zum Schauspiel, ich glaube heute ist sie in Westdeutschland<br />
an der Bühne.<br />
Wenn an der Schule Elternversammlung war, kreuzte auch immer<br />
wieder Mal Gregors Vater Klaus Gysi bei uns auf, der spätere<br />
Kulturminister. Den kannte ich noch aus meiner Zeit als Musikredakteur<br />
im Verlag Volk und Wissen, damals war Klaus Gysi Sektionsvorsitzender<br />
und damit mein Vorgesetzter, bis er dann zum Aufbau-Verlag<br />
wechselte. Wenn der keine Zeit hatte, kam eben seine<br />
Frau an die Schule, eine sehr nette und aktive Dame.<br />
Leider wollte Gregor nie Mitglied bei uns im Schulchor werden.<br />
Er hat sich selbstkritisch eingestanden, dass er keine gute Stimme<br />
dafür hatte. Er hat sich von Anfang an geweigert, und es gar nicht<br />
erst darauf ankommen lassen.<br />
Als <strong>wir</strong> uns dann vor einigen Jahren bei einer Wahlveranstaltung<br />
in Eichenwalde mal wieder gesehen haben, hat er mich gefragt,<br />
ob ich ihm das noch übel nehme, dass er damals nicht mitsingen<br />
wollte. Ach Quatsch, um Gottes willen, habe ich ihm gesagt.<br />
In der <strong>Cicero</strong>-Serie „Mein Schüler“ zur Bundestagswahl<br />
spürt Constantin Magnis Lehrer unserer Spitzenpolitiker auf.<br />
Ein Klassenfoto war in diesem Fall nicht aufzufinden<br />
Grafik: <strong>Cicero</strong><br />
52 <strong>Cicero</strong> 6.2013
In Deutschland leben ca. 600.000 junge Witwen<br />
und Witwer. Fast 1 Million Kinder müssen den<br />
schmerzhaften Verlust eines Elternteils erleben.<br />
Die Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit<br />
einem professionellen und umfassenden Hilfsangebot<br />
Betroffene in dieser schwierigen Lebenssitu-<br />
Design: Marco Weißenberg | Konzeptlabor<br />
ation zu begleiten. Einen Schwerpunkt legen<br />
<strong>wir</strong> in die Betreuung trauernder Kinder und Jugendlicher<br />
mit dem Projekt, das uns besonders<br />
am Herzen liegt: der Online-Beratungsstelle<br />
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Der Ewige<br />
Fehler<br />
Die neue Welt vergisst nicht. Stoibers Gestammel nicht,<br />
Mappus’ Mails nicht und auch nicht Cohn-Bendits Sätze<br />
über Flirts mit Kindern. Im Netz entsteht ein Archiv des<br />
Versagens, das einen Politiker jederzeit vernichten kann<br />
von Bernhard Pörksen<br />
E<br />
ines Tages muss der Politiker Daniel<br />
Cohn-Bendit bemerkt haben,<br />
dass er einen unheimlichen Doppelgänger<br />
besitzt. Es ist ein Informationszombie,<br />
der im Netz<br />
als Kinderschänder auftritt, als Päderast.<br />
Dieser Zombie ist nur aus ein paar Datensplittern<br />
der Vergangenheit entstanden,<br />
und doch verfolgt und jagt er den Grünen.<br />
Immer wieder taucht er irgendwo auf, zuletzt<br />
vor ein paar Wochen in Stuttgart.<br />
1975 hat Daniel Cohn-Bendit in dem<br />
autobiografischen Buch „Der große Basar“<br />
sieben Sätze gesagt, die von Sex mit<br />
Kindern handeln. Kleine Kinder in einem<br />
Frankfurter Kindergarten hätten ihm den<br />
Hosenlatz geöffnet; man habe sich gestreichelt,<br />
so berichtete er. 1982 hat er – erkennbar<br />
berauscht von der eigenen Lockerheit<br />
– in einer Talkshow im französischen<br />
Fernsehen noch einmal für ein paar Minuten<br />
nachgelegt. Lange war all dies vergessen.<br />
Seit der Jahrtausendwende sind die<br />
sieben Sätze aus seinem Buch („Mein ständiger<br />
Flirt mit allen Kindern nahm bald<br />
erotische Züge an …“) im Netz. Auch die<br />
paar Talkshowminuten findet man mit einigen<br />
wenigen Klicks. Irgendwer hat sie<br />
übersetzt. Manchmal gibt man den Namen<br />
„Daniel Cohn …“ ein – und hat noch<br />
nicht zu Ende geschrieben, da schlägt einem<br />
Google ergänzende Suchbegriffe wie<br />
„Kinderschänder“ vor.<br />
Im Wahlkampf des Jahres 2001 in<br />
Frankreich tauchten die sieben Sätze auf.<br />
Ungarische Politiker, FPÖ-Parlamentarier<br />
in Österreich, christliche Fundamentalisten<br />
aus Deutschland und der Schweiz haben<br />
sie zu neuem Leben erweckt, sie kopiert,<br />
verbreitet, zitiert. Wo auch immer<br />
der Europapolitiker erscheint, muss er damit<br />
rechnen, dass jemand die Skandalmeldung<br />
ausfindig macht, das Video verlinkt.<br />
Bis heute gibt es kein Opfer, das sich zu erkennen<br />
gegeben hätte. Cohn-Bendit selbst<br />
bezeichnet die Sätze stets als dümmliche,<br />
dem Zeitgeist geschuldete Provokation und<br />
hat sich inzwischen vielfach öffentlich für<br />
sie entschuldigt. Das alles hat ihm nichts<br />
genützt. Die Sätze von einst haben im digitalen<br />
Zeitalter ihr eigenes Leben entfaltet<br />
und ihm die Online-Identität eines<br />
Verbrechers beschert; man solle ihn „aufhängen“,<br />
seinen „Körper mit Blei vollpumpen“,<br />
ihn „an die Wand stellen“ – das fordern<br />
anonyme Kommentatoren. Und jeder,<br />
der pöbelt und wütet, kopiert und verlinkt,<br />
lässt den Informationszombie mächtiger<br />
werden.<br />
Am 20. April 2013 sollte Daniel Cohn-<br />
Bendit mit dem Theodor-Heuss-Preis geehrt<br />
werden. Aber der Festredner Andreas<br />
Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts,<br />
sagte mit der Begründung<br />
ab, dass der Geehrte sich „in nicht unproblematischer<br />
Weise zur Sexualität zwischen<br />
Er<strong>wachsen</strong>en und Kindern“ geäußert habe.<br />
Die CDU ließ verlauten, ein „Pädophiler“<br />
sei „nicht preiswürdig“. Es gab eine erhitzte<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
54 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Debatte im Landtag. Wütende Proteste begleiteten<br />
die Preisverleihung. Der Informationszombie<br />
aus der Vergangenheit hatte<br />
die Gegenwart mit seiner Präsenz besetzt,<br />
wieder mal.<br />
Man kann nicht feststellen, was in dem<br />
Kindergarten in Frankfurt geschehen ist.<br />
Aber unabhängig davon ist die Mechanik<br />
der Kommunikation aufschlussreich. Das<br />
Muster ähnelt anderen Fällen, in denen<br />
es mal um Patzer und Aussetzer, mal um<br />
schwerwiegende Grenzverletzungen geht.<br />
Antisemitische Entgleisungen eines Piratenpolitikers.<br />
Wolfgang Schäubles wütende<br />
Auseinandersetzung mit seinem Sprecher<br />
Michael Offer. Edmund Stoibers Gestammel<br />
in einer Talkshow. Vieles <strong>wir</strong>d sichtbar.<br />
Und bleibt.<br />
Es zeigt sich, dass sich im Netz ein vom<br />
Einzelnen kaum noch beherrschbares Anarchiv<br />
der politischen Biografien herausgebildet<br />
hat. Entstanden ist eine riesenhafte,<br />
nach dem Prinzip eines permanenten Plebiszits<br />
funktionierende Kopier- und Erinnerungsmaschine,<br />
die einen einzigen bizarren<br />
Fehler emporspülen kann – und<br />
dieser <strong>wir</strong>d im Extremfall zur Chiffre eines<br />
Lebens, zur öffentlichen Bilanz einer<br />
komplexen Biografie, die auf den einen<br />
Moment zusammenschrumpft. Relevant<br />
erscheint, was fasziniert, empört und erheitert.<br />
Bestand hat, was von vielen kopiert,<br />
verlinkt, gepostet und kommentiert<br />
<strong>wir</strong>d. Erinnerung <strong>wir</strong>d damit zu einem anarchistisch<br />
funktionierenden Spiel: Mal sehen,<br />
was interessiert. Günther Oettingers<br />
Englisch-Karaoke bei einer Rede vor internationalem<br />
Publikum. Gerhard Schröders<br />
Krawall-Auftritt nach der Bundestagswahl<br />
von 2005. Mitt Romneys heimlich von einem<br />
Barkeeper bei einem Spenden-Dinner<br />
aufgenommene Abrechnung mit den<br />
Obama-Wählern.<br />
Niemand vermag abzuschätzen, was<br />
schon morgen fasziniert und irritiert. Die<br />
plötzliche Totalausleuchtung der eigenen<br />
politischen Existenz und die Ad-hoc-Attacke<br />
erscheinen den Politikern zwar prinzipiell<br />
denkbar, aber sie <strong>wir</strong>ken doch mehr<br />
als eine diffus bedrohliche Eventualität –<br />
nichts, worauf man sich einstellen oder<br />
strategisch vorbereiten könnte. Das liegt<br />
auch daran, dass die digitalen Medien auf<br />
seltsame Weise allgegenwärtig und damit<br />
fast unsichtbar erscheinen. Sie sind so dominant,<br />
dass man sie kaum bemerkt. Sie<br />
haben den Alltag derart durchdrungen,<br />
dass man sie mit fröhlicher Sorglosigkeit<br />
benutzt – bis der Skandal explodiert und<br />
sich aus dem Zusammenspiel alter und<br />
neuer Medien ein plötzlich aufschäumender<br />
Aufmerksamkeitsexzess ergibt.<br />
Oft macht schon die sprunghafte, flapsige,<br />
unüberlegte Wortwahl deutlich, dass<br />
der twitternde, simsende oder mailende<br />
Politiker an die Flüchtigkeit und den privaten<br />
Charakter seiner Äußerungen glaubt,<br />
die ihn aber eben doch in anderen, gänzlich<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 55
| B e r l i n e r R e p u b l i k | E m p ö r u n g<br />
neuen Kontexten einholen. Man twittert<br />
drauflos – warum denn auch nicht?<br />
Im Frühsommer 2012 bekommt man von<br />
der in der Disziplin der medialen Selbstverstümmelung<br />
geübten Piratin Birgit Rydlewski<br />
folgende Kurzbotschaft zu lesen:<br />
„So: Allen einen lieben Dank, die wegen<br />
des gerissenen Kondoms mitgezittert haben:<br />
Alle Tests negativ! (Also HIV, Hep. B.,<br />
Hep. C).“ Ihr fröhlicher Tweet schafft es –<br />
ein Beispiel für den sich selbst verstärkenden<br />
Medienmix – bis in die Bild-Zeitung<br />
und bringt ihr das Etikett „Twitter-Luder“<br />
ein. Man postet auf Facebook, nicht immer<br />
im Stil der Hochsprache – das machen<br />
doch alle, könnte man meinen. Daniel<br />
Rousta, Amtschef des Wirtschaftsministers<br />
in Baden-Württemberg, schrieb über<br />
„FDPisser“ auf seiner Facebook-Seite, polterte<br />
noch ein paar Mal in ähnlicher Ton-<br />
EDF am Parlament vorbei einfädelte. Sie<br />
zeigen den heute der Untreue verdächtigen<br />
Ministerpräsidenten als eine etwas hilflos<br />
<strong>wir</strong>kende Marionette, abhängig von den<br />
Sprechzetteln und Argumentationshilfen<br />
eines gewieften Strategen. Kleine Kostprobe<br />
aus einer Notheis-Mail an Mappus,<br />
die von einem möglichen Termin von Angela<br />
Merkel bei dem französischen Staatspräsidenten<br />
Nicolas Sarkozy handelt: „Du<br />
fragst Mutti“, so dekretiert der Investmentbanker,<br />
„ob sie dir das arrangieren kann.“<br />
Was sich hier, bei aller Kuriosität der<br />
Einzelbeispiele, zeigt, ist ein Wesenszug<br />
des Menschen, der sich schlicht nicht vorstellen<br />
kann, welche öffentlichen Effekte<br />
sich eines Tages aus dem eigenen Mediengebrauch<br />
ergeben, ergeben könnten. Man<br />
muss da kein Mitleid haben – das gewiss<br />
nicht. Aber die tapsigen Fehlleistungen, die<br />
blamablen Aussetzer und die echten Skan-<br />
es bis auf die Titelseiten deutscher Tageszeitungen<br />
schaffte?<br />
Es ist die Allgegenwart der Aufzeichnungsgeräte,<br />
die im politischen Alltag ihre<br />
Existenz vergessen lässt. Und es ist der Kulturbruch<br />
der Digitalisierung, der das digitalisierte<br />
Material in die neue Zeitstufe<br />
der permanenten Gegenwart hineinkatapultiert.<br />
Dieses Material ist – einmal im<br />
Netz – auf Dauer vorhanden, lässt sich<br />
problemlos durchsuchen, ohne Unkosten<br />
kopieren, endlos kombinieren und in immer<br />
neuen Schüben revitalisieren. Ganz<br />
anders hingegen erscheint jene Welt, in<br />
der die bedruckte Seite – zum Beispiel als<br />
einzelner Artikel, Zeitung oder Buch – im<br />
Zentrum steht. Es ist eine Welt der sich<br />
selbst begrenzenden Reichweite und der<br />
prinzipiell immerhin möglichen Informationskontrolle.<br />
Zeitungen und Bücher<br />
verschwinden im Archiv und in Bibliothe-<br />
lage vor sich hin. Und wurde gefeuert. Man<br />
formuliert gerne flapsige Mails – Hauptsache,<br />
man weiß, mit wem man sich schreibt,<br />
so sollte man glauben.<br />
Als Stefan Mappus, einst Ministerpräsident<br />
von Baden-Württemberg, aus dem<br />
Amt gewählt wurde, ließ er vorsorglich<br />
die Festplatte seines Computers vernichten<br />
– womöglich ein versuchter Akt des<br />
vorausschauenden Skandalmanagements.<br />
Dumm nur, dass eine externe Firma wegen<br />
irgendwelcher Probleme mit dem<br />
elektronischen Kalender des Ministerpräsidenten<br />
eine Sicherheitskopie hatte anfertigen<br />
lassen, über die sich inzwischen<br />
die Ermittler beugen. Dumm auch, dass<br />
kompromittierende Mails des Investmentbankers<br />
Dirk Notheis – ein langjähriger<br />
Freund von Stefan Mappus und führender<br />
Kopf des ENBW-Deals – aufgetaucht<br />
sind. Diese Mails machen deutlich, wie<br />
man das umstrittene Milliardengeschäft<br />
mit dem französischen Energiekonzern<br />
dale – sie alle kommen auch deshalb ans<br />
Tageslicht, weil das menschliche Vorstellungsvermögen<br />
nicht zu der kaum verstandenen<br />
Medienumwelt des digitalen Zeitalters<br />
passt. Menschen, so zeigt sich, denken,<br />
fühlen und leben in begrenzten Räumen<br />
und scheinbar klar definierten Kontexten.<br />
Sie verstehen Kommunikation als kontrollierbares<br />
Geschehen – und sind doch lange<br />
schon mit einer Informationsumwelt konfrontiert,<br />
die eben gerade keine zeitlichen,<br />
örtlichen und kulturellen Grenzen mehr<br />
kennt. Barrierefrei und blitzschnell lässt<br />
sich heute Privates oder Halbprivates veröffentlichen<br />
– und der gerade noch als gegeben<br />
angenommene Kontext aufsprengen.<br />
Manchmal scheint selbst die ganz offensichtliche<br />
Präsenz einer Kamera nicht weiter<br />
zu irritieren. Was mag sich der tschechische<br />
Staatspräsident Václav Klaus gedacht<br />
haben, als er vor der Kamera einen Kugelschreiber<br />
stahl und auf diese Weise selbst<br />
einen peinlichen Youtube-Hit landete, der<br />
ken – und sind nicht mehr sofort verfügbar.<br />
Sie lassen sich schwärzen, einstampfen,<br />
verbrennen. Einmal digitalisiertes Material<br />
hat sich hingegen von der Fesselung an Zeit<br />
und Raum, an Geschichte und Kontext gelöst,<br />
es besitzt eine neue Leichtigkeit und<br />
Beweglichkeit, erreicht im Extremfall ein<br />
Weltpublikum und <strong>wir</strong>d – für alle zugänglich<br />
– dezentral und in den unendlichen<br />
Verzweigungen des Netzes archiviert.<br />
Dieses Archiv ist zur Allmende geworden,<br />
das jeder benutzen kann. Die Realitätspartikel,<br />
die sich im Datenuniversum leicht<br />
auffinden lassen, bilden den Stoff, aus dem<br />
sich heute das öffentliche Bild eines Politikers<br />
zusammensetzt; sie sind das Material,<br />
aus dem sich auch seine soziale Identität,<br />
aber eben auch die böse Botschaft des Versagens<br />
und Vergehens formen lassen.<br />
Dabei ist es falsch zu behaupten, dass<br />
das Netz nicht vergisst. Selbst bei Großund<br />
Weltereignissen sind, wie eine Studie<br />
Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />
56 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Foto: Privat<br />
von US-Informatikern zeigt, nach zweieinhalb<br />
Jahren fast 30 Prozent aller Quellen<br />
wieder verschwunden. Jeder macht Tag für<br />
Tag die Erfahrung, dass Links nicht mehr<br />
funktionieren, Programme veralten und<br />
Texte, Fotos und Filme mit einem Mal<br />
unwiederbringlich verloren sind. Das Netz<br />
vergisst sehr viel – und erinnert sich umso<br />
intensiver an das, was kollektiv interessiert.<br />
Wichtig bleibt, was Aufmerksamkeit erregt,<br />
was Klicks bringt und Links und Tweets<br />
und Posts. Technischer Fortschritt und<br />
plötzliche Informationsverluste durch unzuverlässig<br />
gewordene Speichermedien, die<br />
Geschäfts- und Werbeinteressen von Netzgiganten<br />
wie Google, Facebook, Amazon<br />
und schließlich die kaum vorhersagbaren<br />
Zeitstimmungen, das sich wandelnde Tabuempfinden,<br />
die Publikumsinteressen –<br />
sie alle programmieren die große Gedächtnismaschine<br />
auf eine Weise, die dem<br />
Einzelnen die Kontrolle über das Image seiner<br />
digitalen Zweitpersönlichkeit entzieht.<br />
Was aber geschieht, wenn sich die Identität<br />
in eine beständig aufpoppende Online-Fratze<br />
verwandelt? Mancher Netzexperte<br />
will in dieser Situation die große<br />
Lösung – und fordert eine andere Kultur<br />
des Vergebens und Vergessens, die anerkennt,<br />
dass selbst ein Totschlag verjährt<br />
und irgendwann aus dem polizeilichen<br />
Führungszeugnis getilgt <strong>wir</strong>d. Andere propagieren<br />
eine Art Selbstzerstörung von Daten,<br />
die ihr eigenes Verfallsdatum in sich<br />
tragen – eine technisch grundsätzlich umsetzbare,<br />
aber noch nicht befriedigend realisierte<br />
Idee. Und mancher setzt darauf,<br />
dass sich im digitalen Panoptikum der<br />
Gegenwart Gewöhnungseffekte einstellen.<br />
Das Motto der Post-Privacy-Enthusiasten:<br />
In einer Welt der Transparenz ist der<br />
einzelne Fehler irgendwann unspektakulär,<br />
weil die Abweichung längst zur Normalität<br />
geworden ist; alles ist sichtbar und<br />
damit auch irgendwie egal. Aber auf die<br />
Einkehr einer neuen Toleranz kann man<br />
zumindest im politischen Milieu nicht hoffen,<br />
weil nach dem Ende der großen ideologisch-weltanschaulichen<br />
Konfrontation<br />
individuelle Glaubwürdigkeit und persönliche<br />
Integrität zu Leitwerten der Politik<br />
geworden sind. Der Skandalschrei funktioniert<br />
hier – auch aus nichtigem Anlass –<br />
nach wie vor und ist für manches Medium<br />
schlicht ein gutes Geschäft im härter werdenden<br />
Kampf um Aufmerksamkeit.<br />
Was also kann man tun? Wäre es womöglich<br />
sinnvoll, sich gleich zu Beginn einer<br />
politischen Karriere einmal pauschal für alles<br />
zu entschuldigen? Kann das überhaupt<br />
funktionieren? Es war ein amerikanischer<br />
Reporter, der Anthony Weiner, den Shootingstar<br />
der Demokraten, einmal nach<br />
seinem offensiven Umgang mit Facebook<br />
und Twitter fragte – und eine vorauseilende<br />
Entschuldigung provozierte. Der Politiker<br />
sagte, er könne schon heute mit „metaphysischer<br />
Gewissheit“ sagen, dass er Fehler<br />
machen werde. Gerne wolle er deshalb prophylaktisch<br />
alle um Verzeihung bitten, die<br />
er womöglich eines Tages verletzen werde.<br />
Wenig später zerstörte Anthony Weiner<br />
seine Karriere, weil er ein Handyfoto seiner<br />
vor Erregung ausgebeulten Unterhose<br />
an eine Studentin von Washington, D.C.<br />
nach Seattle schickte – aber für das sogenannte<br />
„Sexting“ den falschen Verteiler<br />
wählte und die als „package.jpg“ betitelte<br />
Datei für Tausende von Menschen in seiner<br />
Twitter-Timeline sichtbar war. Weiner trat<br />
zurück, unterlegt vom kreischenden Spottgesang<br />
der Boulevardpresse.<br />
Nun möchte er, so heißt es, nach Jahren<br />
der Abstinenz gerne in die politische Arena<br />
zurückkehren und für das Amt des New<br />
Yorker Bürgermeisters kandidieren. Das<br />
Problem ist nur: Seine Ankündigungen haben<br />
die Cybersex-Affäre wieder aktuell werden<br />
lassen. Kein Artikel, der nicht seine Unterhosenfotos<br />
erwähnen würde, kein Text<br />
ohne süffige Anspielungen. Auch Weiner<br />
kommt nicht frei. Es geht gar nicht mehr<br />
um ihn. Es geht um den Zombie aus dem<br />
Netz. Und Bürgermeister <strong>wir</strong>d der nie.<br />
Bernhard Pörksen<br />
ist Professor für Medienwissenschaft<br />
in Tübingen und forscht<br />
über die Empörungsdemokratie<br />
im digitalen Zeitalter<br />
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Für alle, die es wissen wollen.<br />
Wie trennt<br />
man sich<br />
von dem,<br />
was war?<br />
Susanna Filbingers Vater <strong>wir</strong>ft einen<br />
langen Schatten. Die Vorwürfe über<br />
seine Tätigkeit als Marinerichter in<br />
der NS-Zeit zwingen den Ministerpräsidenten<br />
zum Rücktritt. Was für den<br />
Vater das Ende bedeutet, <strong>wir</strong>d für<br />
seine Tochter zum Anfang. Sie geht<br />
erfolgreich ihren Weg. Dann macht<br />
Susanna Filbinger eine Entdeckung:<br />
die Tagebücher ihres Vaters. Eine<br />
bewegende Aufarbeitung beginnt.<br />
2013. 283 Seiten, gebunden. € 19,99<br />
Auch als E-Book erhältlich<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 57
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5 6 7<br />
8 9<br />
10 11 12<br />
Wahljahr 2013<br />
Der Countdown<br />
13 14 15 16<br />
Wen hätten Sie gern an der Macht? Bis zur Bundestagswahl im September<br />
lädt <strong>Cicero</strong> Persönlichkeiten ein, sich die perfekte Regierung zu wünschen.<br />
Diesmal hat der Moderator Jörg Thadeusz das Kanzleramt und die<br />
Ministerposten besetzt. Die Regierung in der Juliausgabe des <strong>Cicero</strong> <strong>wir</strong>d<br />
die Buchautorin und frühere Fußballmanagerin Katja Kraus auswählen<br />
Illustration: Jan Rieckhoff; Fotos: Picture Alliance/dpa (16), Thomas Meyer/Ostkreuz<br />
58 <strong>Cicero</strong> 6.2013
(1) Bundeskanzlerin<br />
Caren Miosga. Kann das Land mit klugen<br />
Fragen regieren. Eine polyglotte Schöne mit<br />
einem harten Kern. Übrigens katholisch<br />
und aus dem Westen. Also mal was anderes.<br />
(2) Auswärtiges<br />
Gayle Tufts. Sprachkompetent und schlagfertig.<br />
Mit dem Überschreiten aller möglichen<br />
Grenzen sehr erfahren. Eine deutsche<br />
Außenministerin, deren Humor unübersehbar<br />
ist, <strong>wir</strong>d ausländische Repräsentanten<br />
mit offenem Mund staunen lassen.<br />
3) Innen<br />
Nina Kunzendorf. Hat als „Tatort“-<br />
Kommissarin Conny Mey bewiesen, wie<br />
gut sie als Aufpasserin ist. Beschützt<br />
Deutschland gewiss umsichtig.<br />
(4) Justiz<br />
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.<br />
Bewährt, erfahren, couragiert. Wer soll das<br />
besser machen? Vor allem: Warum? Außerdem<br />
haben <strong>wir</strong> schon mal miteinander im<br />
Fernsehen getanzt.<br />
(5) Finanzen<br />
Beatrice Weder di Mauro. Was für eine<br />
Biografie, was für eine beeindruckende<br />
Frau. Und was für eine Repräsentantin<br />
überall in der Welt.<br />
(6) Arbeit und Soziales<br />
Jürgen Klopp. Keine Mannschaft ackert<br />
wie die von Borussia Dortmund. Versteht<br />
sich aber als Freundeskreis von Menschen,<br />
die Spaß am Fußball haben. Dahinter<br />
steckt der Mann, der Gruppen jeder Größe<br />
motivieren kann.<br />
Eine Besetzung, die auch absichtsvoll die<br />
Anal-Charaktere ignorieren soll, die in ihrer<br />
und in anderen Doktorarbeiten wühlten.<br />
(10) Gesundheit<br />
Gerald Asamoah. Gründete in Hannover<br />
die Gerald-Asamoah-Stiftung für herzkranke<br />
Kinder. Etabliert eine ähnliche<br />
Einrichtung in Accra, Ghana. Bisher<br />
neben dem Beruf als Fußballspieler.<br />
(11) Verkehr<br />
Wolfgang Mayrhuber. Nach 40 Jahren<br />
bei der Lufthansa kennt er sich mit<br />
Verkehr gut aus. Erhält aber auch die<br />
Gelegenheit, Probleme kennenzulernen,<br />
über die sich nicht hinwegfliegen lässt.<br />
(12) Umwelt<br />
Sebastian Vettel. Kann nach dem ewigen Im-<br />
Kreis-Fahren auch mal etwas Vernünftiges<br />
und vergleichsweise Schadstoffarmes tun.<br />
(13) Bildung<br />
Helge Malchow. Wann liest der Verleger<br />
von Kiepenheuer und Witsch all das, was er<br />
liest? Ein charismatischer Buch-Fundamentalist.<br />
Ebenso leidenschaftlicher Anhänger<br />
des 1. FC Köln. Sprechchorkompentent.<br />
(14) Wirtschaft<br />
Horst Brandstätter. Begründer von<br />
Playmobil. Schön markant in seinen<br />
Ansagen. Absolut unbestechlich.<br />
(15) Entwicklung<br />
Herbert Grönemeyer. Sein Engagement<br />
für Afrika ging über PR weit hinaus.<br />
Glaubwürdiger Weltreisender, aber<br />
auch Bochumer Pragmatiker.<br />
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80. GEBURTSTAG VON<br />
CLAUDIO ABBADO<br />
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Symphonie Nr. 2<br />
Ouvertüren zu Manfred & Genoveva<br />
Orchestra Mozart<br />
(7) Land<strong>wir</strong>tschaft<br />
Friedrich-Wilhelm Graefe zu<br />
Baringdorf. Überzeugender Politiker<br />
mit europäischer Expertise. Aber<br />
auch leidenschaftlicher Bauer.<br />
(8) Verteidigung<br />
Thomas Gottschalk. Für mich der Zivilist<br />
schlechthin. Somit der beste Mann für<br />
diesen Posten. Würde Soldaten im Ausland<br />
bei Besuchen gewiss eine Freude sein.<br />
(9) Familie<br />
Silvana Koch-Mehrin. Hat sich für die<br />
Gründung der eigenen Familie neben der<br />
Politik hässlich anfeinden lassen müssen.<br />
(16) Chef des Bundeskanzleramts<br />
Frank-Walter Steinmeier. Da ich so viele<br />
Polit-Amateure ausgesucht habe, braucht es<br />
einen Profi. Aber eben einen, der auch mit<br />
Künstlern kann. Ich kenne mehrere Künstler,<br />
die über Herrn Steinmeier nur Gutes sagen.<br />
Jörg Thadeusz, 44,<br />
moderiert in Radio und<br />
Fernsehen des Rundfunks<br />
Berlin-Brandenburg.<br />
Träger des Grimme-Preises.<br />
Romanautor. Erste<br />
berufliche Erfahrungen<br />
als Rettungssanitäter,<br />
Müllpresser und<br />
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gibt es CLAUDIO ABBADO«<br />
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6.2013 <strong>Cicero</strong> 59<br />
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| W e l t b ü h n e<br />
Nur noch mit Hosen<br />
Slowenien ist der nächste Euro-Wackel-Kandidat. Kann Alenka Bratušek ihr Land aus eigener Kraft retten?<br />
von Adelheid Wölfl<br />
S<br />
ie ist umgeben von Fallen und<br />
Minen, der Boden unter ihr<br />
schwankt. Die slowenische Regierungschefin<br />
hat einen Hindernislauf angetreten,<br />
den man nicht gewinnen kann.<br />
Die staatsnahen Banken sind von faulen<br />
Krediten in Milliardenhöhe unterhöhlt.<br />
Der Schuldenstand wächst immer rascher.<br />
Viele Ökonomen prophezeien, dass Slowenien<br />
als nächstes Land unter den Euro-Rettungsschirm<br />
flüchten muss.<br />
Das aber sind längst nicht die einzigen<br />
Probleme, die Alenka Bratušek plagen.<br />
Auch das Fundament ihrer Macht<br />
ist hauchdünn. Ihre Partei „Positives Slowenien“<br />
liegt mittlerweile in den Umfragen<br />
nur an dritter Stelle. Viele Slowenen<br />
halten Bratušek für eine Marionette des<br />
Partei gründers und charismatischen Bürgermeisters<br />
von Ljubljana, Zoran Janković.<br />
Zumindest habe er die Ministerliste erstellt<br />
und übe weiterhin Einfluss auf die Regierungschefin<br />
aus. Unterdessen versucht<br />
Bratušek, Unabhängigkeit zu demonstrieren,<br />
und <strong>wir</strong>d nicht müde zu wiederholen:<br />
„Ich treffe meine Entscheidungen ganz alleine.<br />
Niemand beeinflusst mich.“<br />
Innerhalb ihrer Koalition ist sie jedenfalls<br />
von den Sozialdemokraten abhängig,<br />
die – in der Gewissheit, in Umfragen vorn<br />
zu liegen – sie jederzeit mit der Androhung<br />
von Neuwahlen erpressen können. Bratušek<br />
ist geduldet von anderer Mächte Gnaden<br />
und eine Regierungschefin auf Zeit: In zehn<br />
Monaten muss sie sich einer Vertrauensabstimmung<br />
stellen. Außerdem könnte die<br />
Universität Ljubljana ihr demnächst den<br />
Magistertitel wegen Plagiatsvorwürfen entziehen.<br />
Dann müsste sie ohnehin zurücktreten.<br />
Die brünette Bürokratin kann in vielen<br />
Bereichen scheitern, andererseits hat sie genau<br />
deshalb wenig zu verlieren.<br />
Als der konservative Premier Janez Janša<br />
und der Parteichef Janković im Januar durch<br />
einen Bericht der Antikorruptionsbehörde<br />
diskreditiert wurden, konnte der eine nicht<br />
an der Macht bleiben, der andere nicht<br />
nach dieser greifen. Man suchte nach jemanden<br />
aus der zweiten Reihe, vor dem<br />
sich die Koalitionspartner nicht fürchten<br />
müssten, nach einer Frau als Symbol<br />
des Wandels, nach einer Unbescholtenen,<br />
Unbeschriebenen.<br />
„Wenn mich jemand vor einem halben<br />
Jahr gefragt hätte, ob Alenka Bratušek Premierministerin<br />
werden könnte, hätte ich<br />
ihn zum Arzt geschickt“, sagt der Journalist<br />
Ali Žerdin. Andererseits hätten Politiker, die<br />
aus dem Nichts auftauchten, in Slowenien<br />
Tradition. Žerdin traut Bratušek durchaus<br />
zu, an Einfluss zu gewinnen, weil sie „Talent<br />
zur Kompromissbildung“ gezeigt habe.<br />
Es waren andere, die Bratušek in die<br />
Position hievten, nicht ihr Ehrgeiz oder<br />
Selbstdarstellungstrieb – schon gar nicht<br />
ihre rhetorischen Fähigkeiten. Seit einem<br />
CNN-Interview, das wegen ihrer mangelnden<br />
Sprachfähigkeiten vollkommen misslang,<br />
ist sie auch medienscheuer geworden.<br />
In Slowenien macht man sich seither<br />
über ihr Englisch lustig. Die 43-Jährige gilt<br />
weder als intellektuell noch als sprachgewandt,<br />
aber als energiegeladen, schnell und<br />
intelligent.<br />
Als Krisenmanagerin berufen, hatte sie<br />
bisher auch keine Zeit, sich als Gestalterin<br />
darzustellen. Sie feilte stattdessen an Reformplänen<br />
für Brüssel und versuchte, auf<br />
Kapitalmärkten Geld heranzuschaffen. In<br />
Slowenien, das auf Ramschniveau herabgestuft<br />
wurde, droht jede falsche Bewegung<br />
die Märkte zu irritieren. Bratušek weiß zumindest<br />
um ihre Grenzen, delegiert und<br />
holt Expertenrat ein. Außenpolitisch hat<br />
sie das Feld ohnehin Präsident Borut Pahor<br />
überlassen, der die internationale Bühne<br />
liebt, auf der Bratušek so wenig Übung hat.<br />
Die Textilingenieurin kommt aus einer<br />
Mittelschichtfamilie, gut eingebettet,<br />
aber ohne Elitebewusstsein. Der Vater, ein<br />
Bezirksrichter, war in Bratušeks Geburtsort<br />
Žalec beliebt, weil er die Fähigkeit hatte,<br />
Streit zu schlichten und dabei auf die Beziehungen<br />
zu achten, nicht nur auf das Gesetz.<br />
Die Tochter scheint es dem Vater gleichzutun.<br />
„Sie will Differenzen ausräumen“, sagt<br />
jemand aus ihrer nächsten Umgebung. „Es<br />
geht ihr um Kooperation.“<br />
Vom Vater hat sie wohl auch gelernt,<br />
die Familie herauszuhalten. Weder ihr Partner<br />
Mitja Cvjetičanin noch ihre 18-jährige<br />
Tochter Nuša, die gerade Abitur macht,<br />
und der 15-jährige Sohn Oskar tauchen in<br />
der Öffentlichkeit auf. „Sie hat eine Wand<br />
geschaffen zwischen Politik und Familie“,<br />
sagt Borut Mekina vom Magazin Mladina.<br />
Selbst in ihrem Wohnort Stražišče ist sie<br />
relativ unbekannt. Die Nachbarn wissen<br />
nur dann, dass die Politikerin gerade zu<br />
Hause ist, wenn die Bodyguards um das<br />
graue Haus schleichen. Oder wenn sie sie<br />
zufällig beim Joggen zwischen den Obstbäumen<br />
erspähen.<br />
Bratušek ist keine Frau großer Entwürfe<br />
und Meinungen, sondern eine ideologiefreie<br />
Pragmatikerin. Sie findet auch<br />
nichts dabei, dass sie nun Maßnahmen<br />
propagiert, die sie vor kurzem, in der Opposition,<br />
noch bekämpfte: etwa die Schuldenbremse<br />
in der Verfassung zu verankern<br />
oder Referenden einzudämmen.<br />
In Ljubljana war man bisher nicht an<br />
Frauen an der Spitze der Politik gewöhnt.<br />
Die Opposition prophezeite Bratušek per<br />
Twitter, dass ihre Amtszeit so kurz werden<br />
würde wie ihre Röcke. Sie selbst möchte<br />
nicht nach ihrem Geschlecht beurteilt werden,<br />
sondern nach ihrem Erfolg. Bei ihrem<br />
Amtsantritt trug sie jedenfalls Hosen.<br />
Adelheid Wölfl<br />
ist Korrespondentin für<br />
Südosteuropa mit Sitz in<br />
Zagreb für die österreichische<br />
Tageszeitung Der Standard<br />
Fotos: Joze Suhadolnik, Privat (Autorin)<br />
60 <strong>Cicero</strong> 6.2013
„Ich treffe meine<br />
Entscheidungen ganz alleine.<br />
Niemand beeinflusst mich“<br />
Alenka Bratušek<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 61
| W e l t b ü h n e<br />
Der Terror der Wölfe<br />
Die Brüder Zarnajew wollten mit ihrer Tat „den Islam verteidigen“. Sind sie der Prototyp des Attentäters?<br />
von Wolfgang Sofsky<br />
A<br />
m Abend des 12. Februar 1894<br />
warf Émile Henry im Café Terminus<br />
am Gare Saint-Lazare einen<br />
Blechtopf voller Sprengstoff in die Luft.<br />
Von den Angestellten, Arbeitern und kleinen<br />
Ladenbesitzern, die gerade ihr Bier<br />
tranken, wurden 20 verletzt, eine Frau<br />
tödlich. Als man ihm vorwarf, unschuldige<br />
Menschen verletzt zu haben, rief der<br />
selbst ernannte Anarchist aus: „Il n’y a pas<br />
d’innocents!“ – es gibt keine Unschuldigen.<br />
An drei Wochenenden im April 1999<br />
zündete David Copeland in London drei<br />
Sprengsätze, die er in Sporttaschen versteckt<br />
hatte. Die Tatorte waren Treffpunkte<br />
von Einwanderern und Homosexuellen.<br />
Drei Menschen starben, 129 wurden verwundet.<br />
Der „Nagelbomber“ hatte seine<br />
Pläne mit niemandem abgesprochen. Neben<br />
politischen Gründen gab er an: „Wenn<br />
sich niemand daran erinnert, wer du warst,<br />
hast du niemals existiert.“<br />
Den Brüdern Zarnajew, die in Boston<br />
jüngst drei Menschen töteten und 264 verletzten,<br />
sagt man nach, sie hätten den Islam<br />
verteidigen wollen. Tamerlan, dem älteren,<br />
hatte seine Mutter vor Jahren empfohlen,<br />
sich in Palästina am globalen Dschihad zu<br />
beteiligen. Bei der Zielauswahl zeigten sich<br />
die Brüder flexibel. Da die Bomben vorzeitig<br />
fertig waren, zogen sie den Explosionstermin<br />
vor. Die Eingebung, weitere<br />
Sprengsätze am New Yorker Times Square<br />
zu zünden, ereilte sie während der Flucht.<br />
Der terroristische Einzeltäter ist keine<br />
Erfindung des offenen Netzwerks Al Qaida.<br />
Die ideologischen Versatzstücke sind<br />
ebenso austauschbar wie die Motive. Der<br />
„einsame Wolf“, wie er im Jargon der Geheimdienste<br />
heißt, kann Blutbäder im Namen<br />
der Gerechtigkeit anrichten, unter der<br />
Fahne „rassischer Reinheit“ oder des globalen<br />
Kalifats. Doch bedürfen große Verbrechen<br />
weder großer Ideen noch extremer<br />
Wutanfälle. Massaker sind auch keine<br />
Massenkommunikation. Wer sie als Botschaft<br />
missversteht, tappt geradewegs in die<br />
Propagandafalle der Bedeutung, die der Täter<br />
dem Publikum aufgestellt hat.<br />
Die Tat soll Angst, Entsetzen, kopflose<br />
Panik hervorrufen. Im Gegensatz zum politischen<br />
Mörder hat es der Terrorsolist weniger<br />
auf einen Tyrannen noch einen Polizeioffizier<br />
oder eine Kaiserin abgesehen<br />
als vielmehr auf die Menschheit schlechthin.<br />
Je mehr Opfer, desto besser. Je lauter<br />
der Widerhall, desto leuchtender das Fanal.<br />
Häufig wählt er belebte Plätze, an denen es<br />
die Opfer wahllos trifft.<br />
Der Solist handelt auf eigene Faust. Er<br />
gehört keiner Gruppe, keiner Zelle, Sekte<br />
oder Miliz an. Sogar ferne Gesinnungsfreunde<br />
sind überrascht von seiner Existenz.<br />
Er erhält keine Anweisung und keinen<br />
Befehl. Der Treibsatz liegt im Täter<br />
selbst. Niemand hat ihn überredet oder<br />
verführt. Entweder hat er sich die Phrasen,<br />
mit denen er sein Tun rechtfertigt,<br />
selbstständig zusammengesucht oder sich<br />
von Parolen bereitwillig überzeugen lassen.<br />
Nicht wenige haben eine Lieblingslektüre.<br />
Verstreute Islamisten erbauen sich im Netz<br />
an den Fernpredigten radikaler Vorbeter;<br />
Copeland oder Timothy McVeigh, der<br />
„Oklahoma-Bomber“, ließen sich von den<br />
„Turner Diaries“ inspirieren, einer Novelle<br />
des Neonazis William Pierce.<br />
Dennoch montiert der Einzeltäter sein<br />
Hassbild aus eigenen Stücken. Er lebt in einer<br />
abgeschirmten Gedankenwelt. Intellektuell<br />
ist er ein Eigenbrötler oder Autodidakt.<br />
Konvertiten, welche die Frömmigkeit rasch<br />
nachholen wollen, meinen es mit sich und<br />
der Welt oft besonders streng. Keineswegs<br />
kopiert der Einzelgänger blind die Stereotype,<br />
die in einer Gruppe sozial verbindlich<br />
sind. Sein Denkraum liegt nicht in einem<br />
Chatroom, sondern in seiner Einbildungskraft.<br />
In der Imagination lässt sich ungestraft<br />
alles vorstellen und planen. Die Fantasie<br />
befreit von Bedenken und Wankelmut.<br />
Da er für sich ist, kann der Terrorsolist<br />
seine eigene Gewalttechnik erfinden.<br />
Mancher baut lediglich bewährte Vorlagen<br />
aus Handbüchern oder Zeitschriften nach.<br />
Doch weil niemand seine Kreativität einschränkt,<br />
ist er in der Wahl der Ziele und<br />
Mittel frei. Mehrere Innovationen gehen<br />
auf sein Konto. Einzeltäter sind verantwortlich<br />
für die erste Autobombe, die erste<br />
Flugzeugentführung, die erste Vergiftung<br />
von Nahrungsmitteln, den ersten Anthrax-<br />
Brief und – wie im Falle des Norwegers<br />
Anders Breivik – den ersten Anschlag, der<br />
Explosion und Amoksturm kombinierte.<br />
Während der Vorbereitung ist der Solist<br />
wenig mitteilsam. Nur Verschwiegenheit<br />
schützt ihn zuverlässig. Einige rechnen<br />
sich einer Protestbewegung oder welthistorischen<br />
Mission zu. Doch dies sind nur<br />
Fantasiegebilde. Vereinzelte Bemerkungen<br />
werden kaum als Vorzeichen wahrgenommen.<br />
Auf die Weltbühne tritt er erst mit der<br />
Tat. Das Blut der Opfer beglaubigt seine<br />
Existenz. Nun explodiert sein Geheimnis,<br />
und er <strong>wir</strong>d seltsam gesprächig. Breivik<br />
versandte stolz ein obskures Machwerk<br />
von über 1500 Seiten kurz vor dem Osloer<br />
Anschlag. Theodore Kaczynski, der „Unabomber“,<br />
der zwischen 1978 und 1995 mit<br />
16 Briefbomben drei Menschen tötete und<br />
23 verletzte, ließ in der New York Times ein<br />
Manifest von 35 000 Wörtern gegen die industrielle<br />
Zivilisation veröffentlichen. Sein<br />
Bruder erkannte den Schreibstil und verriet<br />
ihn an das FBI. Émile Henry verfasste<br />
für den Gefängnisdirektor einen Essay<br />
über den Anarchismus. Auf der Anklagebank<br />
trug er seine Konfession so überzeugend<br />
vor, dass nicht wenige Sympathisanten<br />
ihn klammheimlich bewunderten. Von<br />
Dschochar Zarnajew, der die Verfolgungsjagd<br />
überlebte, dürften keine großen Reden<br />
zu erwarten sein. Er hat weiter nichts<br />
zu sagen.<br />
Wolfgang Sofsky war bis<br />
2000 Professor für Soziologie.<br />
Seitdem arbeitet er als Privatgelehrter.<br />
Er beschäftigt sich<br />
mit Phänomenen der Gewalt<br />
Fotos: Stefanie Holthaus/Plainpicture, Privat (Autor)<br />
62 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Der Solist handelt auf<br />
eigene Faust. Er gehört<br />
keiner Gruppe, keiner<br />
Zelle, Sekte oder Miliz an<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 63
| W e l t b ü h n e<br />
Emma Courage<br />
Die Ernennung von Emma Bonino zur Außenministerin ist Italiens Bekenntnis zu Europa<br />
von eric Bonse<br />
S<br />
ie war die erste Radikale im<br />
öffentlichen Dienst in Brüssel.<br />
Schon an ihrem ersten Arbeitstag<br />
als EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe<br />
flog Emma Bonino nach Sarajevo, um die<br />
Untätigkeit der Europäer im Bürgerkrieg<br />
in Ex-Jugoslawien anzuprangern. Das war<br />
im Januar 1995, der Balkan stand in Flammen.<br />
Die EU-Granden waren empört. Wer<br />
war diese zierliche Frau aus Rom, die es<br />
wagte, sich mit ihrer prägnanten Stimme<br />
in die stille Kunst der hohen Diplomatie<br />
einzumischen?<br />
18 Jahre danach fragt das niemand<br />
mehr. „La Bonino“, wie man sie fast zärtlich<br />
nennt, ist zu einer europäischen Ikone<br />
geworden. Daniel Cohn-Bendit liebt sie,<br />
Joschka Fischer schätzt sie, Silvio Berlusconi<br />
fördert sie. Der Cavaliere war es, der<br />
die prominente Politikerin der Partito Radicale<br />
nach Brüssel schickte. Später sagte<br />
sich Bonino von dem Macho los. Doch das<br />
hinderte sie nicht daran, als Außenministerin<br />
in die neue römische Regierung einzutreten,<br />
die wieder von Berlusconi mitgetragen<br />
<strong>wir</strong>d.<br />
Es ist nicht der einzige Widerspruch<br />
in Boninos Leben. Begonnen hat alles in<br />
den siebziger Jahren, natürlich mit einer<br />
Provokation. Die damals 27-Jährige lehnt<br />
sich gegen die strengen Sitten im katholischen<br />
Italien auf, gründet ein Selbsthilfezentrum<br />
für die damals noch verbotene<br />
Abtreibung – und lässt sich nach dem eigenen<br />
Abbruch verhaften. Zwei Wochen<br />
bleibt sie im Gefängnis, danach ist sie ein<br />
Star. Der Papst nennt sie „Hexe“, die Feministin<br />
ist geboren.<br />
Danach geht es Schlag auf Schlag.<br />
1976 Einzug ins italienische Parlament,<br />
drei Jahre später Beginn der EU-Karriere<br />
im Europaparlament. „Ich bin aus Neugier<br />
nach Straßburg gegangen, ich wusste praktisch<br />
nichts von Europa“, räumte sie später<br />
freimütig ein. Bonino engagiert sich für<br />
die Menschenrechte, gegen Atomkraft und<br />
Todesstrafe. „In den achtziger Jahren war<br />
Europa noch ein faszinierendes Projekt –<br />
keine christliche Festung wie heute“, erinnert<br />
sie sich. Dennoch stimmt sie gegen<br />
den Maastricht-Vertrag, der den Euro begründet.<br />
Er geht ihr nicht weit genug, die<br />
politische Integration fehlt.<br />
Bonino ist nicht nur eine überzeugte<br />
Europäerin, sondern auch eine engagierte<br />
Föderalistin. Sie tritt für die „Vereinigten<br />
Staaten von Europa“ ein, aber gegen einen<br />
allmächtigen europäischen Superstaat. Sie<br />
hat die Austeritätspolitik in Italien kritisiert,<br />
aber auch die Einhaltung der Sparzusagen<br />
versprochen. Wie passt das zusammen?<br />
Für Bonino kein Problem – es sei<br />
alles nur eine Frage des politischen Willens<br />
und des Mutes.<br />
Dass sie Mut besitzt, hat „Emma Courage“,<br />
so nennt sie ihr Mitstreiter Cohn-<br />
Bendit, immer wieder bewiesen. In Brüssel<br />
erinnert man sich vor allem an ihr Engagement<br />
für Afghanistan. Einmal bringt sie<br />
eine verschleierte Afghanin zu einer Pressekonferenz<br />
in die EU-Kommission mit. Die<br />
Frau – eine Ärztin – sei nicht religiös, sondern<br />
habe sich aus Angst vor den Taliban<br />
verhüllt, sagt sie den verblüfften Journalisten.<br />
Man müsse den Frauen in Afghanistan<br />
helfen, es gehe um Leben und Tod.<br />
Vier Monate zuvor wäre Bonino beinahe<br />
selbst Opfer der Taliban geworden.<br />
Sie war nach Afghanistan gereist, um europäische<br />
Hilfsprojekte zu besichtigen. Als sie<br />
ein Krankenhaus besuchen will, <strong>wir</strong>d die<br />
EU-Kommissarin von den radikalen Islamisten<br />
festgehalten. Einige Stunden verbringt<br />
sie in Geiselhaft der Taliban, danach<br />
ist der Spuk vorbei. Es hätte auch anders<br />
ausgehen können, doch Bonino hat die riskante<br />
Reise bis heute nicht bereut.<br />
Sie muss eben immer ganz vorne mitmischen<br />
– da, wo die Action ist, da, wo die<br />
Kameras sind. Bonino ist ständig in Bewegung,<br />
immer unterwegs, selbst für Partnersuche<br />
und Familiengründung blieb keine<br />
Zeit. „Wenn ich mich mit anderen vergleiche,<br />
denke ich manchmal, ich sollte etwas<br />
ruhiger werden“, sagt die allein lebende<br />
65-Jährige, greift zur Zigarette und plant<br />
schon das nächste Projekt. Der Kampf geht<br />
weiter, trotz mancher Rückschläge.<br />
Der härteste Schlag war wohl der Sturz<br />
der EU-Kommission 1999. Wegen einer<br />
Korruptionsaffäre um die französische<br />
Kommissarin Édith Cresson trat die gesamte<br />
Kommission zurück, auch Bonino<br />
musste ihren Sessel räumen. Vom neuen<br />
Kommissionschef Romano Prodi, einem<br />
Landsmann, wurde sie nicht zurückgeholt –<br />
Prodi zog Mario Monti ihr vor, der zum<br />
„Superkommissar“ und später zum Premier<br />
in Rom wurde. Bonino zog sich enttäuscht<br />
ins Europaparlament zurück.<br />
Dort ging sie ausgerechnet mit dem<br />
französischen Rechtsextremen Jean-Marie<br />
Le Pen ein Zweckbündnis ein, um für<br />
ihre kleine radikale Truppe den Fraktionsstatus<br />
zu erhalten. Ein „Pakt mit dem Teufel“<br />
sei dies, schimpften Kollegen. Doch<br />
er sollte nicht lange währen – ebenso wenig<br />
wie ihr Versuch, eine zweite politische<br />
Karriere in Rom zu beginnen. Die Wahlkampagne<br />
„Emma for President“ scheiterte,<br />
die populäre Politikerin musste sich mit<br />
einem Posten als Vizepräsidentin im Senat<br />
begnügen.<br />
Dass sie es nun in die Villa Farnesina –<br />
den Sitz des italienischen Außenministeriums<br />
– geschafft hat, ist eine späte Genugtuung.<br />
Ähnlich wie Joschka Fischer hat sich<br />
Emma Bonino von der gefürchteten Rebellin<br />
zur geachteten Diplomatin gewandelt.<br />
Einst wollte sie die Welt aus den Angeln<br />
heben – heute steht sie für Kontinuität.<br />
„Emma Courage“ will dafür sorgen, dass<br />
Europa heil aus der Krise kommt – auch<br />
die italienischen Radikalen sind bescheiden<br />
geworden.<br />
eric Bonse<br />
berichtet für <strong>Cicero</strong> aus Brüssel<br />
und betreibt den Blog „Lost in<br />
Europe“. Bevor er 2004 nach<br />
Brüssel kam, schrieb er aus Paris<br />
Fotos: Carlos Jones/Contrasto/Laif, Privat (Autor)<br />
64 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Fast wie<br />
Joschka Fischer<br />
hat sich Emma<br />
Bonino von der<br />
gefürchteten<br />
Rebellin zur<br />
geachteten<br />
Diplomatin<br />
gewandelt<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 65
| W e l t b ü h n e | S y r i e n<br />
Der Ingenieur von Aleppo<br />
Der Krieg in Syrien kennt keinen Alltag – nur Ausnahmezustand. Einer will<br />
das nicht hinnehmen. Abd al Nasr stellt die Ordnung gegen das Chaos<br />
von Carsten Stormer<br />
66 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Mit Ausbruch des<br />
Bürgerkriegs in Syrien<br />
hat sich Abd al<br />
Nasrs (rechts) Leben<br />
radikal geändert. Mit<br />
Gleichgesinnten versucht<br />
er, die zivile Ordnung<br />
aufrechtzuerhalten<br />
Foto: Carsten Stormer<br />
W<br />
ie sie den beutel an sich<br />
drückt. Das schwarze Plastik<br />
umklammert, als hielte<br />
sie sich an der Tüte fest. „La<br />
ilaha illa Allah“, flüstert die<br />
Frau im schwarzen Mantel und Hijab. Es<br />
gibt keinen Gott außer Gott; aber Neider<br />
gibt es. Sechs Hände greifen gleichzeitig<br />
nach der Tüte, reißen an ihr. Sie bedeutet<br />
hier im Zentrum Aleppos einen weiteren<br />
Tag des Überlebens: ein Kilo Reis, Speiseöl,<br />
Bohnen, Zucker, Salz, zwei Dosen Thunfisch,<br />
trockenes Fladenbrot, Kekse.<br />
Die Frau tritt einen Schritt zurück,<br />
schüttelt sich frei und rennt los. Zurück<br />
bleibt ein Mann, umringt von Dutzenden<br />
verschleierten Frauen. Was soll ich denn<br />
machen, sagen seine hilflosen Gesten. Den<br />
ganzen Vormittag hat der bullige Mann in<br />
der schwarzen Galabija und dem Vollbart,<br />
der an den Rändern grau ausfranst, in der<br />
ausgebombten Schule über Tabellen und<br />
Bestandslisten gebrütet. 223 Hilfspakete<br />
für 654 Bedürftige.<br />
Jetzt drängen ihn Frauen gegen die<br />
Wand seiner kleinen Lagerhalle, sie fordern,<br />
betteln, bitten. „Wir haben Hunger!“,<br />
schreien sie. Eine Frau hebt ihre<br />
Tochter hoch, drückt sie Abd al Nasr gegen<br />
die Brust: „Hier, bitte nimm meine<br />
Tochter bei dir auf.“ Da zischt eine Kugel<br />
über seinen Kopf hinweg, abgefeuert<br />
irgendwo von einer der vielen Fronten in<br />
Aleppo. War es nur eine verirrte Kugel oder<br />
ein Scharfschütze, der gezielt in die Menge<br />
schießt? Panik bricht aus. Alle werfen sich<br />
auf den Boden.<br />
Abd al Nasr nutzt die Gelegenheit,<br />
springt hinaus, läuft links in eine Seitengasse,<br />
dann ist er zu Hause. Mit hängenden<br />
Schultern, als würde ein unsichtbares<br />
Gewicht sie nach unten ziehen, steigt er<br />
die Treppen zu seiner Wohnung hinauf, in<br />
der es seit Wochen weder Strom noch fließend<br />
Wasser gibt.<br />
Scheich Nasr ist einer jener Revolutionäre,<br />
die ohne Waffe gegen das syrische<br />
Regime kämpfen. Anstatt auf Menschen<br />
zu schießen, organisiert der 46-Jährige<br />
das Gemeinwesen, baut mit am Syrien<br />
von morgen, während das Regime wankt,<br />
aber noch längst nicht fällt. Der Staat führt<br />
Krieg gegen seine Bürger, zieht sich zurück<br />
und hinterlässt Löcher. Menschen wie Abd<br />
al Nasr machen sich daran, diese Lücken<br />
zu füllen.<br />
„Ich bin eigentlich Elektroingenieur,<br />
kein Politiker“, sagt der Mann mit Händen<br />
so groß wie Bratpfannen, als er die Tür zur<br />
Wohnung aufschließt. „Ich hatte einen kleinen<br />
Laden, wo ich Computer und Radios<br />
reparierte.“ Es klingt, als spräche er von einem<br />
anderen Zeitalter. Er benetzt Gesicht<br />
und Nacken mit braunem Wasser aus einem<br />
Eimer. „Anfangs, als noch nicht die<br />
Waffen sprachen und <strong>wir</strong> uns erstmals mit<br />
Demonstrationen auf die Straße trauten,<br />
traf man sich in konspirativen Wohnungen.“<br />
Nachbarschaftsvertreter, ehemalige<br />
Regierungsbeamte, Islamgelehrte, Lehrer,<br />
Ärzte, Studenten, Moslembrüder, Akademiker,<br />
die im Frühling 2012 darüber diskutierten,<br />
wie eine moderate islamische Republik<br />
aussehen könnte, wie Wahlen zu<br />
organisieren seien oder welche Strafen gerecht<br />
wären für die Schergen des Diktators.<br />
„Damals hat kaum jemand daran geglaubt,<br />
dass <strong>wir</strong> unser Ziel erreichen könnten.“<br />
Als dann der Krieg im vergangenen<br />
Sommer nach Aleppo kam, die Müllabfuhr<br />
nicht mehr fuhr und die Geschäfte<br />
schlossen, da dachte er: Du musst etwas<br />
unternehmen. Abd al Nasr wurde ein Führer<br />
ohne Amt.<br />
Sein Alltag: Er sammelt Geld, Lebensmittel<br />
und Medikamente bei reichen syrischen<br />
Geschäftsleuten, Freunden und<br />
islamischen Hilfsorganisationen. Stellt<br />
Freiwilligenkommandos zusammen, die<br />
zuweilen meterhohen Müll wegräumen,<br />
besorgt Feuerholz und Petroleum gegen die<br />
Kälte, beerdigt namenlose Tote, schlichtet<br />
Streitigkeiten unter Nachbarn. Gemeinsam<br />
mit anderen Führern ohne Amt in anderen<br />
Stadtteilen eröffnet er Schulen und Gerichte,<br />
die ein Mindestmaß an Recht herstellen.<br />
Als Nächstes ist der Aufbau einer<br />
Polizei geplant, um die Plünderungen zu<br />
stoppen und den Einwohnern Aleppos<br />
ein Gefühl der Ordnung und Sicherheit<br />
zu vermitteln.<br />
Die Frage, was ausgerechnet diesen<br />
unbedeutenden Radiotüftler zu einen zivilen<br />
Helden im syrischen Krieg machte,<br />
führt zurück zu einem anderen Syrien, in<br />
dem die Menschen über Jahrzehnte in Frieden<br />
lebten. Gemordet und gefoltert wurde<br />
auch damals; aber nur hinter dicken Mauern<br />
und nur jene, die nicht schwiegen. Einen<br />
Mittelweg zu finden zwischen totaler<br />
Unterordnung und Tod oder Exil – das fiel<br />
schwer. Abd al Nasrs Vater gelang es.<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 67
| W e l t b ü h n e | S y r i e n<br />
Der setzte sich in Aleppo als Vorsitzender<br />
der Bauerngewerkschaft in den achtziger<br />
Jahren für bessere Preise und die Belange<br />
der Bauern ein. Er hätte Karriere<br />
machen können, aber er nutzte seine Position<br />
nicht aus. Nahm keine Bestechungsgelder<br />
an, gab niemandem den Vorzug. Vor<br />
allem aber bemühte er sich nicht um eine<br />
Mitgliedschaft in der Baath-Partei Hafiz<br />
al Assads, dem Vater des jetzigen Präsidenten.<br />
Seine Kollegen lachten ihn wegen<br />
seiner Einstellung aus. So verharrte er in<br />
bescheidenen Verhältnissen, und die Menschen<br />
respektierten ihn dafür. Der Respekt,<br />
der heute Abd al Nasr als ältestem Sohn gezollt<br />
<strong>wir</strong>d, hat viel mit der Erinnerung an<br />
den Vater zu tun. Zu dessen Beerdigung<br />
kamen 3000 Trauergäste aus ganz Syrien,<br />
erzählt man.<br />
Schlaflos in Aleppo<br />
Abd al Nasr gähnt halb, zuckt plötzlich wie<br />
ertappt zusammen und springt auf. Eine<br />
Stunde ist er schon daheim, jetzt geht es<br />
wieder los. Zwei Uhr am Nachmittag, in<br />
einem klapprigen Toyo ta rast er zu einem<br />
unscheinbaren Wohnblock im Hanano-<br />
Viertel Aleppos, zum Hauptquartier der<br />
„Islamischen Front zur Befreiung Syriens“.<br />
Eine Art Zivilrat aus moderaten Muslimen,<br />
Islamisten und Säkularen, die sich zusammengeschlossen<br />
haben, um in der Stadt für<br />
Ordnung zu sorgen. Mehrfach wurde das<br />
Gebäude Ziel von Luftangriffen, ein Krater<br />
im Hinterhof und Narben im Beton<br />
zeugen davon. Am schmiedeeisernen Eingangstor<br />
stehen bewaffnete Rebellen, die<br />
Hunderte von Bedürftigen, hauptsächlich<br />
Frauen mit Kindern, davon abhalten, das<br />
Gebäude zu stürmen. „Geduld! Wartet, bis<br />
ihr an der Reihe seid“, ruft ein Wächter<br />
und versperrt einer alten Frau den Zugang<br />
mit seiner Kalaschnikow. „Bitte lasst uns<br />
ein“, sagt die Alte. „Wir haben Angst vor<br />
den Flugzeugen.“<br />
Scheich Nasr schiebt sich durch die<br />
Menge, wimmelt Menschen ab. „Wir haben<br />
eine Ladung Mehl aus der Türkei bekommen.“<br />
Die Spenden müssen nun gerecht<br />
verteilt, Streit und Missbrauch<br />
vermieden werden. Im Hauptflur füllt ein<br />
junger Mann Milchpulver in Plastiktüten.<br />
„Und die Reparatur elektrischer Leitungen<br />
werden <strong>wir</strong> heute verhandeln.“<br />
Doch zuerst muss Abd al Nasr Recht<br />
sprechen; die Gerichte arbeiten ja auch<br />
nicht mehr. In einem Nebenraum stehen<br />
Fotos: Carsten Stormer<br />
Zerstörung, wo<br />
man hinsieht:<br />
Aleppo mit seinen<br />
zerschossenen<br />
und zerbombten<br />
Fassaden<br />
erinnert an das<br />
Nachkriegsberlin<br />
68 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Die Zivilisten<br />
sind zwischen<br />
die Fronten<br />
geraten,<br />
Bauernopfer<br />
in einem<br />
Schachspiel, das<br />
im Patt festhängt<br />
Scharfschützen der Rebellen nehmen<br />
Assads Truppen ins Visier<br />
zwei Jungen, 18 und 19 Jahre alt. Sie zittern<br />
am ganzen Körper. Scheich Nasr mustert<br />
sie, setzt sich an ein Pult, blättert in einer<br />
Akte, mustert die Jungs wieder. „Aha,<br />
was haben <strong>wir</strong> hier? Diebe also. Hmm“,<br />
murmelt er, ohne die Angeklagten eines<br />
Blickes zu würdigen. „Hat man euch also<br />
erwischt.“<br />
„Scheich, bitte lass es mich erklären …“,<br />
bettelt einer der beiden. Scheich Nasr hebt<br />
die Hand, dass er schweigen soll. Der Junge<br />
verstummt sofort.<br />
„Was soll ich denn jetzt mit euch machen?“<br />
Abd al Nasr legt eine Kunstpause<br />
ein. „Ich weiß es. Ich übergebe euch Jabhat<br />
al Nusra, die hacken euch die Hand ab.<br />
Wie findet ihr das?“, sagt er und zwinkert<br />
seinem Protokollschreiber zu, der leise in<br />
sich hineinkichert.<br />
„Scheich, bitte, bitte nicht. Es <strong>wir</strong>d nie<br />
wieder vorkommen. Es tut uns leid. Bitte.“<br />
„Und Waffen hat man bei euch auch gefunden“,<br />
erwidert al Nasr und fuchtelt mit<br />
einem Taschenmesser vor den beiden herum.<br />
„Eindeutig ein Fall für al Nusra. Verabschiedet<br />
euch von euren Händen.“<br />
Daraufhin beginnen die beiden Jugendlichen<br />
zu weinen. Bis Scheich Nasr<br />
dem grausamen Spiel ein Ende bereitet. Er<br />
hält noch eine Standpauke, einen 20-minütigen<br />
Monolog darüber, dass Diebstahl<br />
die Revolution untergräbt, die Seele vergiftet<br />
und gegen die Lehren des Koran verstößt.<br />
Dann fällt er sein Urteil: „30 Stunden<br />
Arbeitsdienst hier im Center, und ich<br />
spreche mit euren Eltern. Morgen um zehn<br />
Uhr meldet ihr euch zum Dienst. Und jetzt<br />
verschwindet!“ Mit vor Scham gesenkten<br />
Häuptern schlurfen die beiden aus dem<br />
Zimmer. Als die Tür zufällt, schlägt sich<br />
Scheich Nasr vor Lachen auf die Schenkel.<br />
„Ich hätte sie natürlich niemals den Islamisten<br />
übergeben.“<br />
Mit Kung fu und Koran<br />
Abd al Nasr lernte schon als Kind, sich<br />
nicht zu verstecken. Verliebte sich erst in<br />
die Kampfsportart Kung Fu und später in<br />
die Lehren des Koran. „Kampfsport und<br />
Religion haben meinen Verstand geschärft“,<br />
sagt er und erzählt, wie er sich wie Bruce<br />
Lee kleidete und so auch in die Moschee<br />
ging. Er folgte dem Gebot des Propheten,<br />
ständig den Geist zu schulen. Lernen, ein<br />
Leben lang, um das Wissen weiterzugeben.<br />
So studierte er erst Biologie und Elektroingenieurwissenschaften,<br />
später schulte er<br />
seinen Glauben an den Universitäten von<br />
Damaskus, Aleppo und Tripolis, studierte<br />
dort den Koran und lernte ihn auswendig,<br />
machte einen Abschluss in Islamwissenschaften.<br />
Er war jetzt ganz nah bei seinem<br />
Gott, und die Menschen begannen,<br />
ihn Scheich zu nennen. Die Kinder seines<br />
Viertels unterrichtete er in Kung Fu und<br />
gab Nachhilfe in Biologie, Englisch und<br />
Physik. Kostenlos, weil „der Koran es verbietet,<br />
für Unterricht bezahlt zu werden“.<br />
Freitags predigte er in der Moschee. „Es ist<br />
meine Pflicht, Gutes zu tun. So steht es im<br />
Koran, so will es Allah.“ Vor der Revolution<br />
hielt er seine Familie mit dem kleinen<br />
Reparaturladen über Wasser. Es reichte für<br />
eine kleine Wohnung und eine Reise nach<br />
Mekka. „Es war ein einfaches, gutes Leben.“<br />
Seine neue Rolle nahm er an, weil er<br />
ein Vorbild sein wollte. Übernahm Verantwortung<br />
und hoffte, weder an ihr zu zerbrechen<br />
noch sie zu missbrauchen.<br />
Das mit dem Zerbrechen ist indes so<br />
eine Sache. Abd al Nasr setzt sich am frühen<br />
Abend erschöpft ins Wohnzimmer.<br />
Der Tag war lang. Er <strong>wir</strong>ft die letzten Holzscheite<br />
in einen Ofen. Seitdem es keinen<br />
Strom mehr gibt, schlagen Anwohner die<br />
Bäume Aleppos zu Brennholz. Sein Sohn<br />
Mustafa begrüßt den Vater, küsst ihm die<br />
Hand, nimmt ihm die Jacke ab und berichtet<br />
die neuesten Schreckensmeldungen:<br />
Eine Rakete traf ein Wohnviertel im<br />
benachbarten Stadtteil Hanano, eine Granate<br />
tötete neun Kinder in einer Gasse,<br />
und in Bustan al Qasr haben Anwohner<br />
die Leichen von 110 Männern aus dem<br />
Fluss Queiq gezogen. „Allen wurde in den<br />
Kopf geschossen, und sie hatten die Hände<br />
auf den Rücken gefesselt, Baba“, berichtet<br />
Mustafa. Wie ein irrwitziger Kontrast<br />
dringt von der Straße Kinderlachen in die<br />
Wohnung. Abd al Nasrs jüngster Sohn<br />
Qusai spielt mit Nachbarkindern eine Art<br />
Murmeln. Nur, dass sie keine Murmeln haben,<br />
sondern leere Patronenhülsen, die auf<br />
die Straße prasselten, als ein Regierungshubschrauber<br />
das Viertel beschoss. Ein<br />
Kampfjet donnert im Tiefflug über Tarik<br />
al Bab; Qusai kommt weinend in die Wohnung<br />
gelaufen und schmiegt sich an das<br />
Bein seines Vaters.<br />
Abd al Nasr ist ein großer, schwerer<br />
Mann mit gütigen Augen, die den<br />
massigen Mann zerbrechlich <strong>wir</strong>ken lassen.<br />
Ein frommer Moslem, gemäßigt,<br />
aber traditionell konservativ in seiner<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 69
| W e l t b ü h n e | S y r i e n<br />
Glaubensinterpretation, der sich ständig<br />
die Frage stellt, wie er Lehren und Werte<br />
aus dem 7. Jahrhundert in eine moderne<br />
Gesellschaft integrieren, Glaube und Vernunft<br />
vereinen kann. Nach dem Krieg, natürlich.<br />
Aber: „Allah hat mir darauf noch<br />
keine Antwort gegeben“, sagt er und legt<br />
den Kopf in den Nacken, schließt die Augen,<br />
schläft ein und schreckt hoch, als der<br />
vierjährige Qusai mit einem Satz auf seinen<br />
Bauch hüpft und „Assad ist ein Esel“<br />
und „Gott ist groß!“ ruft. Der Vater lächelt<br />
müde.<br />
Hochburg des Widerstands<br />
Aleppo 2013. Der Krieg hat sich festgebissen,<br />
das Leben atmet nur schwach in<br />
der Stadt: Aus den Basaren sind die Händler<br />
verschwunden, die Gewürze, Zuckergebäck,<br />
Datteln und Stoffe anbieten. In<br />
den alten verwinkelten Gassen der historischen<br />
Altstadt herrscht ein Häuserkampf,<br />
er schließt die Menschen ein in einem Kokon<br />
aus verirrten Kugeln, Raketen und<br />
Granaten. Zivilisten rennen über Straßen,<br />
an deren Ende Scharfschützen auf jeden<br />
schießen, der sich auf die andere Seite wagt.<br />
Sie kriechen durch in Wände geschlagene<br />
Löcher von Haus zu Haus.<br />
Seitdem die Rebellen den Krieg nach<br />
Aleppo getragen haben, hat sich die Stadt<br />
in eine Hochburg des Widerstands verwandelt.<br />
Die Regierungstruppen nehmen die<br />
von den Rebellen gehaltenen Viertel unter<br />
Dauerbeschuss. Die Zivilisten sind zwischen<br />
die Fronten geraten, Bauernopfer in<br />
einem Schachspiel, das im Patt festhängt.<br />
Der Tod kommt willkürlich und überall.<br />
Jede Besorgung, jeder Gang zum Bäcker,<br />
eine Fahrt ins nächste Viertel birgt unkalkulierbare<br />
Risiken und kann tödlich enden.<br />
Wer kann, flieht aus der Stadt. Wer<br />
Arbeit hat, arbeitet. Wer keine hat, döst<br />
die Zeit weg oder klaubt Informationen<br />
zusammen, die Leben retten können: Wo<br />
haben sich die Scharfschützen eingenistet,<br />
welche Straße ist sicher, wo gibt es Brot?<br />
Früher beschäftigten Abd al Nasr Fragen,<br />
die weniger existenziell waren. Angestaubt<br />
liegen jetzt seine Romane in einem<br />
Umzugskarton im Schlafzimmer: Der Graf<br />
von Monte Christo, Les Misérables, Krieg<br />
und Frieden, Dostojewski, Hemingway,<br />
Agatha Christie, Sir Arthur Conan Doyle<br />
– Luxus aus vergangenen Tagen. Heute<br />
fallen Bomben vom Himmel, und Kugeln<br />
zischen über seinen Kopf. Seine Familie<br />
ist vom Dauerbeschuss traumatisiert, die<br />
Söhne wachen nachts schreiend auf, die<br />
Tochter schläft manchmal tagelang nicht,<br />
und seine Frau traut sich nicht mehr auf<br />
die Straße. Ist Versöhnung unter diesen<br />
Umständen überhaupt möglich?<br />
„Wir haben keine Alternative, wenn <strong>wir</strong><br />
Syrien retten wollen“, erwidert Abd al Nasr.<br />
„Eine Kugel tötet schnell. Aber die<br />
Situation, in der <strong>wir</strong> uns befinden,<br />
foltert den Verstand, tötet von innen<br />
und vergiftet uns“<br />
Abd al Nasr<br />
Am nächsten Morgen vertreibt er mit dem<br />
zweiten Aufguss schwarzen Tees seine Müdigkeit<br />
für einen Moment. Schlecht schläft<br />
er seit langem – so viele Pläne im Kopf und<br />
so viele Gespenster in der Nacht. Wie genau<br />
Versöhnung machbar ist und was nach<br />
Assad kommt, weiß auch er nicht. Demokratische<br />
Wahlen? Ein gemäßigter islamischer<br />
Staat nach türkischem Vorbild? Scharia?<br />
Wer weiß. „Im Augenblick sind die<br />
Menschen damit beschäftigt zu überleben.<br />
Aber auf keinen Fall dürfen <strong>wir</strong> es zulassen,<br />
dass die Diktatur Assads von einer islamischen<br />
Diktatur abgelöst <strong>wir</strong>d, wie es die<br />
Islamisten wollen.“ Um ihn herum knallt<br />
und kracht es. Abd al Nasr lächelt zuversichtlich<br />
in den Morgen.<br />
es waren fünf brüder<br />
„Gott hat einen Plan für mich. Und ich<br />
muss ihn erfüllen“, sagt er. Doch dieser<br />
Plan lastet schwer auf seinen Schultern.<br />
Besonders wenn wie heute Kriegswitwen<br />
vor seiner Haustür stehen und er sie nach<br />
Hause schicken muss, weil er nichts mehr<br />
zu geben hat. Hat er Angst? Pause. Nachdenken.<br />
Dann ein schwaches Nicken.<br />
Um gleich darauf in den Toyota zu steigen,<br />
der ihn an die Front bringt, drei seiner<br />
vier Brüder kämpfen dort. Sein Fahrer<br />
ist geübt darin, den Tod zu umfahren,<br />
weiß, wo die Heckenschützen lauern, wo<br />
gerade gekämpft <strong>wir</strong>d. Auf der Rückbank<br />
sitzt Scheich Nasrs Leibwächter Yusuf, ein<br />
schmächtiger 22-Jähriger, der seine Kalaschnikow<br />
so fest umklammert, dass seine<br />
Knöchel weiß hervortreten.<br />
Das Viertel Karm al Dschabal, unweit<br />
der historischen Altstadt, <strong>wir</strong>d seit Monaten<br />
verbissen von halbwüchsigen Rebellen<br />
gehalten, oft mit nicht mehr als ein paar<br />
Patronen in den Magazinen ihrer Gewehre.<br />
Karm al Dschabal ist nach sechs Monaten<br />
Häuserkampf eine Ruinenlandschaft, in<br />
der die Scharfschützen auf beiden Seiten<br />
den Tagesrhythmus bestimmen und in der<br />
mal die Rebellen ein paar Meter gewinnen,<br />
mal die Regierungssoldaten. Zerschossene<br />
Fassaden, gespickt mit Einschusslöchern,<br />
eingestürzte Stockwerke, Schuttberge,<br />
ausgebrannte Geschäfte, entmenschtes<br />
Niemandsland. Immer wieder explodieren<br />
Granaten, und in den ausgebombten<br />
Straßenzügen rosten Panzerwracks und liegen<br />
Tote, die niemand bergen kann. Noch<br />
immer desertieren Regierungssoldaten und<br />
schließen sich der Freien Syrischen Armee<br />
an. Als ein junger Mann in Uniform über<br />
eine Straße läuft, durchschlägt eine Kugel<br />
seine Wade. Er krümmt sich am Boden, ein<br />
Rebell zieht ihn aus der Schusslinie.<br />
Der Familienbesuch ist gefährlich, drei<br />
Straßenzüge muss Abd al Nasr überqueren,<br />
die von feindlichen Heckenschützen<br />
gehalten werden. „Wir sehen uns auf der<br />
anderen Seite, Insch’allah“, sagt er, und <strong>wir</strong><br />
rennen geduckt hinüber. Wann immer es<br />
geht, besucht er seine Brüder, die eine andere<br />
Form des Widerstands gewählt haben<br />
als er. Zwei von ihnen arbeiten als Läufer<br />
und Kuriere, rennen von Einheit zu Einheit,<br />
die sich in den zerschossenen Wohnungen<br />
verschanzt haben, und versorgen<br />
sie mit Munition. Der andere ist Kommandeur<br />
eines kleinen Trupps, der Stellungen<br />
und Checkpoints der Regierung angreift,<br />
Hinterhalte plant oder Panzer beschießt.<br />
„Salam Aleikum“, begrüßen sich die Brüder,<br />
Friede sei mit dir.<br />
Sie sitzen in einem Eckhaus, das im toten<br />
Winkel der Scharfschützen liegt, um<br />
einen Ofen herum. Draußen peitschen<br />
70 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Lisa Simpson, Tochter<br />
Dahinter steckt<br />
immer ein kluger Kopf.<br />
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| W e l t b ü h n e | S y r i e n<br />
„Aha, was haben <strong>wir</strong> hier? Diebe also.<br />
Hmm. Hat man euch also erwischt“<br />
Abd al Nasr<br />
Abd al Nasr versucht für Recht und Ordnung zu sorgen und<br />
jugendliche Straftäter wieder auf den rechten Weg zu bringen<br />
Schüsse und explodieren Granaten. Drinnen<br />
trinken sie gezuckerten Tee, beten gemeinsam<br />
und reden über die Toten der<br />
vergangenen Tage. Dass den Kämpfern<br />
langsam die Munition ausgeht. Seine Brüder<br />
glauben, der Sieg sei nah. Aber das tun<br />
sie schon seit Monaten. Seit einigen Wochen<br />
setzt das Regime auch Scud-Raketen<br />
ein, um den Willen der Aufständischen zu<br />
brechen. Stehend ist diese Waffe so hoch<br />
wie ein Reihenhaus und kann ganze Wohnviertel<br />
zerstören. Hunderte Menschen sind<br />
durch sie in den vergangenen Wochen ums<br />
Leben gekommen. Immer mehr Väter beweinen<br />
ihre Söhne, Frauen ihre Ehemänner.<br />
70 000 Tote in zwei Jahren, wie soll<br />
ein Land das verkraften? Schweigen. Ratloses<br />
Schulterzucken. Zum Abschied schreibt<br />
Abd al Nasr mit einem Filzstift „Allah U<br />
Akbar“ an die Wand, Gott ist groß. „Es<br />
soll meine Brüder beschützen. Insch’allah.“,<br />
sagt er. „Insch’allah“, murmeln die Brüder.<br />
Es klingt hilflos.<br />
„Ich sehe, wie unsere jungen Männer<br />
kämpfen, aber ich sehe nicht, wie sie den<br />
Armen helfen“, flüstert er auf dem Rücksitz<br />
des alten Toyotas wie zu sich selbst. „Eine<br />
Kugel tötet schnell. Aber die Situation, in<br />
der <strong>wir</strong> uns befinden, foltert den Verstand,<br />
tötet von innen und vergiftet uns mit Angst<br />
und Hass.“<br />
Leben mit der Angst<br />
Der Krieg hat Abd al Nasr verändert. Er<br />
hat gelernt, seine Angst zu unterdrücken,<br />
das Grauen auf Distanz zu halten. Handlungsfähig<br />
zu bleiben und die Töne des<br />
Krieges zu unterscheiden. Am Klang kann<br />
er abschätzen, wie weit entfernt eine Granate<br />
explodiert, wie eine Rakete oder ein<br />
Panzer klingt. Der Kriegslärm ist zum<br />
Soundtrack seines Lebens geworden, Gefechte<br />
bestimmen seinen Tagesrhythmus.<br />
Seine Anzüge hat er gegen das schwarze<br />
Gewand der Dschalabija getauscht. Er<br />
kleidet sich jetzt so wie der Prophet vor<br />
1400 Jahren. Und er ließ sich einen Bart<br />
<strong>wachsen</strong>, wie es der Koran vorschreibt.<br />
Religion als Schutzschild gegen den Irrsinn.<br />
Traditionelle Kleidung als Ausdruck<br />
des Widerstands gegen die Diktatur der<br />
säkularen Herrscher in Damaskus. Und<br />
trotzdem, zum ersten Mal in seinem Leben<br />
fühle er sich frei, sagt er auf dem<br />
Rückweg von der Front. „Ich muss nicht<br />
mehr im Stillen rebellieren.“<br />
Die Anzüge hängen nun vakuumverpackt<br />
in einem Kleiderschrank. Das alte<br />
Leben versinkt im Dunstschleier der Erinnerung.<br />
Er kann es sich nicht leisten, an ihnen<br />
festzuhalten. Mit dem Krieg <strong>wachsen</strong><br />
seine Aufgaben. Warum tut er sich das alles<br />
an? „Weil ich andere zum Nachahmen<br />
anregen möchte. Nur so können <strong>wir</strong> als<br />
Gesellschaft überleben.“ Und die nächste<br />
Aufgabe wartet schon.<br />
In einem Zimmer ohne Fenster im<br />
Shaar-Distrikt von Aleppo dämmert am<br />
Nachmittag Hussein, ein junger Mann Anfang<br />
20, in einem winzigen Zimmer auf<br />
einer schimmeligen Matratze, stöhnt hin<br />
und wieder unter Schmerzen. Ein ausgemergelter<br />
Körper mit bandagierten Beinen,<br />
die dick wie Baumstämme sind, weil in ihnen<br />
Infektionen toben. Aus den schmutzigen<br />
Verbänden sickert Eiter. Rücken,<br />
Arme und Schultern sind wund gelegen,<br />
die Matratze hat sich in den Monaten der<br />
Bewegungslosigkeit in Haut und Fleisch<br />
gefressen.<br />
Im September vergangenen Jahres trafen<br />
ihn die Splitter einer Granate in beide<br />
Beine; stecken im Knie fest, im Oberschenkel,<br />
in den Füßen. Er wollte Gemüse für<br />
seine Mutter einkaufen. Ein ganz normaler<br />
junger Mann, kein Kämpfer, kein Rebell.<br />
Die Ärzte im einzigen Krankenhaus<br />
von Aleppo sagten seiner Mutter, dass sie<br />
nichts für ihn tun könnten, weil der für<br />
diese Art von Verletzungen spezialisierte<br />
Arzt geflohen sei. Er müsse in die Türkei<br />
gebracht werden oder an einen anderen<br />
Ort in Syrien, an dem es noch Ärzte gibt.<br />
Doch für den Transport hatte die Mutter<br />
kein Geld. Seitdem liegt er hier in diesem<br />
dunklen Loch.<br />
Ein Nachbar erzählte Scheich Nasr<br />
vor einigen Tagen vom Schicksal des jungen<br />
Mannes, seitdem hängt er an seinem<br />
Mobiltelefon, schimpft, wenn die Verbindung<br />
mal wieder für Stunden lahmgelegt<br />
ist. Drei Tage später hat er einen<br />
befreundeten Arzt in der Provinz Idlib<br />
in der Leitung und einen Krankenwagen<br />
organisiert.<br />
Mit Martinshorn braust die Ambulanz<br />
durch das Gassenge<strong>wir</strong>r Aleppos und dann<br />
hinaus aus der Stadt. Es ist eine lange und<br />
gefährliche Reise in die umkämpfte Provinz<br />
Idlib, auf Straßen, die von Scharfschützen<br />
beschossen und mit Granaten<br />
belegt werden. Zwei Mal schlagen Geschosse<br />
in der Nähe ein. Der Wagen rast<br />
72 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Fotos: Carsten Stormer, privat (Autor)<br />
mit 120 Stundenkilometern durch das syrische<br />
Flachland, um den Kugeln zu entkommen,<br />
umkurvt auf Schleichwegen<br />
Checkpoints der Regierung. Bei jedem<br />
Schlagloch schleudert es Hussein im Fond<br />
von der Trage, er brüllt vor Schmerzen. Er<br />
hat den Kopf im Schoß seiner Mutter vergraben,<br />
die beruhigend ihre Finger durch<br />
sein Haar gleiten lässt und ihm warme<br />
Cola einflößt, während Tränen über ihr<br />
Gesicht laufen.<br />
Bei Einbruch der Dunkelheit erreicht<br />
der Rettungstransport das geheime Krankenhaus,<br />
dessen Name aus Sicherheitsgründen<br />
nicht genannt werden darf, umgeben<br />
von Olivenhainen und weit weg von Assads<br />
Armee. Ein Chirurg sieht sich Husseins<br />
offene Wunden an und schüttelt den<br />
Kopf. Hier könne man nicht mehr viel tun<br />
außer Amputieren. Husseins Mutter bricht<br />
zusammen. Der Arzt verspricht ihr, den<br />
Sohn in einigen Tagen in ein Krankenhaus<br />
in der Türkei zu bringen.<br />
Erst spät nachts macht sich Abd al Nasr<br />
auf den Rückweg nach Aleppo. Statt eines<br />
Verwundeten sitzen nun bewaffnete Kämpfer<br />
im Wagen, zum Schutz, falls sie in eine<br />
Kontrolle der Regierung geraten. „Gott<br />
steh uns bei“, flüstert Scheich Nasr. Der<br />
Tod kommt meistens nachts.<br />
In der Nacht fliegt die syrische Luftwaffe<br />
wieder Angriff um Angriff. Die Rebellen<br />
schießen mit Mörsern auf Stellungen<br />
der Regierung und versuchen Flugzeuge<br />
mit schweren Maschinengewehren vom<br />
Nachthimmel zu holen. Ein Zwiegespräch<br />
der Waffen, stundenlang. Abd al Nasr hat<br />
die ganze Nacht kein Auge zugetan. Aus<br />
müden Augen blickt er auf sein Frühstück,<br />
schaufelt Fladenbrot und Humus in sich<br />
hinein, lächelt seine Söhne an. Plötzlich ein<br />
Zischen, gefolgt von einer Explosion. Staub<br />
und Gesteinsbrocken dringen durch das<br />
geöffnete Fenster. Abd al Nasr <strong>wir</strong>ft sich<br />
schützend vor seine Kinder. Eine Granate<br />
hat das Nachbarhaus getroffen, keine fünf<br />
Meter entfernt, und das oberste Stockwerk<br />
weggerissen. „La ilaha illa Allah“, flüstert<br />
er. Es gibt keinen Gott außer Gott. Kurz<br />
darauf verlässt er seine Wohnung. Sein Lächeln<br />
ist verschwunden.<br />
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| W e l t b ü h n e | E i n J a h r F r a n ç o i s H o l l a n d e<br />
Goldmedaille in Schwermut<br />
Frankreichs Präsident ist unbeliebt, der internationale Einfluss perdu und der<br />
Citroën DS von den Straßen verschwunden. Aber die Depression wurzelt tiefer<br />
von Jacques Pilet<br />
I<br />
ch liebe mein Frankreich, ich liebe<br />
die Franzosen“, hatte François Hollande<br />
bei seinem Amtsantritt vollmundig<br />
erklärt. Seine öffentliche<br />
Liebeserklärung ist nach einem anfänglichen<br />
Strohfeuer unerwidert geblieben.<br />
Die Franzosen wenden sich desillusioniert<br />
ab von ihrem Präsidenten. Ihn<br />
machen sie für die höchste Arbeitslosenquote,<br />
die es je gab, verantwortlich, für die<br />
stagnierende Wirtschaft, die <strong>wachsen</strong>den<br />
Staatsschulden und für das schwindende<br />
politische Gewicht des Landes. Ist das fair,<br />
ist Hollande an allem schuld? Oder liegen<br />
die Ursachen des Niedergangs womöglich<br />
viel tiefer?<br />
Mögen die Franzosen in vielem ins<br />
Hintertreffen geraten sein, in einem sind<br />
sie unübertroffen: im Pessimismus. 70 Prozent<br />
malen die Zukunft der französischen<br />
Gesellschaft schwarz. Die Nation <strong>wir</strong>kt als<br />
werde sie von Depressionen heimgesucht.<br />
Der ungarische Denker István Bibó<br />
(1911 – 1979) konstatierte bereits vor<br />
dem Zweiten Weltkrieg, wie „Seelenzustände,<br />
die mit Neurosen und Hysterien<br />
beim Menschen verwandt sind, im Leben<br />
ganzer Nationen auftauchten und deren<br />
Politik entscheidend mitbestimmten“.<br />
Damals bezog er sich auf das Deutschland<br />
und die osteuropäischen Länder der zwanziger<br />
Jahre. Heute lesen sich seine Zeilen<br />
wie eine Analyse des heutigen Frankreich.<br />
Die Ursachen von Depressionen sind<br />
vielschichtig. Viele Menschen haben eine<br />
Menge Ärger und bleiben dennoch bei<br />
Laune. Andere sind von materiellen Sorgen<br />
weitgehend verschont und leiden unter<br />
Melancholie. Ja, Frankreich hat Probleme.<br />
Aber erklärt das allein, warum Franzosen<br />
sich als pessimistischer bezeichnen als Iren<br />
oder Belgier, Vietnamesen oder Ghanaer?<br />
„Bei den Franzosen herrscht im Unterschied<br />
zu anderen Ländern ein Gefühl des<br />
Niedergangs“, erklärt Gaël Sliman vom<br />
Meinungsforschungsinstitut BVA, das der<br />
französischen Bevölkerung die Goldmedaille<br />
in Schwermut verliehen hat.<br />
Indessen gilt es, wie in der Psychoanalyse,<br />
tief zu bohren. Den Ursprung kollektiver<br />
Hysterie sah schon István Bibó in einer<br />
„Verkennung der Wirklichkeit“, in „übersteigerter<br />
Selbsteinschätzung“ und „unrealistischen,<br />
unverhältnismäßigen Reaktionen auf<br />
Einflüsse aus der Umgebung“. Dies trifft<br />
recht gut die Gemütsverfassung der französischen<br />
Gesellschaft, ihre lustlose, reizbare, resignierte<br />
und zugleich aufgeregte Stimmung.<br />
Auch auf die Last der Geschichte wies<br />
der scharfsichtige Ungar hin, auf verlorene<br />
Kriege und schicksalhafte Enttäuschungen.<br />
Frankreich leidet in der Tat an seinen Erinnerungen.<br />
Lange hat das nationale Ego<br />
dem Land Flügel verliehen. „Vaterland<br />
der Menschenrechte“, „Weltmacht“, dann<br />
„Motor Europas“. Die heutige Wirklichkeit<br />
ist weniger ruhmreich. Von der früheren<br />
Überschätzung der eigenen Rolle ist Frankreich<br />
in bittere Desillusion verfallen.<br />
Man muss weit zurückgehen. Bis zur Niederlage<br />
von 1870 gegen Preußen. Bis zum<br />
Ersten Weltkrieg, den Frankreich zwar gewann,<br />
aber erst nach einem grauenvollen<br />
Gemetzel, das die Nation ausblutete, und<br />
letztlich dank des Eingreifens der USA, das<br />
in den französischen Geschichtsbüchern<br />
nur sehr zurückhaltend erwähnt <strong>wir</strong>d.<br />
Auch die Niederlage von 1940 und die<br />
deutsche Besatzung haben schwere Traumata<br />
hinterlassen. Die Scham angesichts<br />
Karikatur: Burkhard Mohr; Foto: Privat (Autor)<br />
74 <strong>Cicero</strong> 6.2013
der Kollaboration des Staates mit den Nazis<br />
wurde zwar offen behandelt. Doch bis<br />
heute schwingt eine lange vom Gaullismus<br />
und vom Kommunismus genährte Legende<br />
in den Erinnerungen mit. Die Rolle<br />
der durchaus heroischen Résistance war in<br />
Wirklichkeit längst nicht so entscheidend<br />
für den Kriegsverlauf. Der französische Widerstand<br />
war schwächer, hilfloser als in Filmen<br />
und Dokumentationen dargestellt, in<br />
denen er bis heute verherrlicht <strong>wir</strong>d.<br />
Auch die Nachkriegsjahre hatten ihre<br />
dunklen Seiten, die unausgesprochen blieben.<br />
Von 1944 an verfolgte General de<br />
Gaulle neben dem Wiederaufbau des Landes<br />
wie besessen zwei weitere Ziele: die<br />
Eindämmung des angloamerikanischen<br />
Einflusses und die Rekonstruktion des<br />
französischen Kolonialreichs.<br />
Dort aber wurde der Wunsch<br />
nach Unabhängigkeit immer<br />
lauter. Demonstrationen<br />
wurden im Blut erstickt.<br />
In Setif in Algerien fanden<br />
nach dem 8. Mai 1945<br />
Tausende Algerier den Tod.<br />
Am 29. März 1947 kam es<br />
auf Madagaskar zu Massakern.<br />
Es folgte die schwierige<br />
Rückkehr nach Indochina.<br />
Selbst in Syrien, das 1920<br />
durch ein Völkerbundsmandat<br />
unter französische Kontrolle<br />
gelangt war, brachen Kämpfe aus. Im<br />
Mai 1945 bombardierte die französische<br />
Armee Damaskus, Homs und Hama, bevor<br />
sie unter dem Druck der Rebellen sowie<br />
der Briten und Amerikaner das Land<br />
verlassen musste. Ein völlig vergessenes Kapitel<br />
der jüngeren französischen Geschichte.<br />
Von den Unabhängigkeitskriegen ganz<br />
zu schweigen. Von der Niederlage bei Dien<br />
Bien Phu in Vietnam (1954) bis zum verlorenen<br />
Kampf um Französisch-Algerien<br />
(1954 – 1962) hat die französische Entkolonialisierung<br />
unendlich schmerzlichere<br />
Spuren hinterlassen als der Rückzug der<br />
Briten aus ihrem Empire.<br />
Doch die nächste Phase, geprägt von<br />
der starken Persönlichkeit de Gaulles, belebte<br />
die Hoffnungen der Franzosen erneut.<br />
Auf die Wiederversöhnung mit Deutschland<br />
reagierte man erleichtert. Den Aufbau<br />
Europas verstand man als Schritt nach<br />
vorne, vielleicht sogar als Ersatz für vergangene<br />
Größe. Dann erlebte sich das<br />
Land unter de Gaulle als stolzer Besitzer<br />
Der Weg<br />
aus der<br />
Depression<br />
führt über<br />
die Auseinandersetzung<br />
mit der<br />
Vergangenheit<br />
der Atombombe, die der Staatschef als Zeichen<br />
der Zugehörigkeit Frankreichs zum<br />
Club der Mächtigen sah. 50 Jahre später<br />
verblasst eine weitere Illusion.<br />
Die Fortsetzung ist bekannt. Deutschland<br />
wurde größer, gewann an Stärke, behauptete<br />
sich besser auf der internationalen<br />
Bühne. In Frankreich löste dies nicht Eifersucht<br />
oder Rache aus, sondern Bitterkeit.<br />
Denn gleichzeitig erstarrte die französische<br />
Gesellschaft in einem kostspieligen Modell<br />
und musste mit ansehen, wie die nationale<br />
Industrie zu bröckeln begann. Der Absturz<br />
der Concorde, jenes kühnen, prächtigen<br />
Vorzeigeobjekts der französischen Luftfahrt,<br />
nahm symbolische Dimensionen an.<br />
Selbst der legendäre, in der ganzen Welt begehrte<br />
Citroën DS ist heute verschwunden.<br />
Zum Glück haben in Sachen<br />
Prestige die Weltraumrakete<br />
Ariane und der europäische<br />
Airbus die Nachfolge angetreten.<br />
Doch wo sind die<br />
neuen Flaggschiffe?<br />
Die Eurokrise warf ein<br />
schonungsloses Licht auf<br />
die Schwächen der Nation.<br />
Nun schwenkte Frankreich<br />
von übersteigertem Stolz zu<br />
zermürbender Selbstkritik<br />
über. Ein Auf und Ab, das<br />
Psychologen gut kennen.<br />
So braucht es denn<br />
schon fast Mut und Nonkonformismus,<br />
um von Frankreichs Trümpfen zu sprechen.<br />
Beides hat der Essayist und Geograf<br />
Emmanuel Todd, der gemeinsam<br />
mit Hervé Le Bras ein Buch gegen den<br />
Strom geschrieben hat. „Le Mystère français“<br />
(„Rätselhaftes Frankreich“) lautet<br />
die mit Ziffern und Landkarten gespickte<br />
Studie, die ein eher positives Bild Frankreichs<br />
zeichnet. Sie hebt die beachtlichen<br />
Anstrengungen hervor, die dort in den vergangenen<br />
Jahrzehnten in der Bildung unternommen<br />
wurden (40 Prozent der Franzosen<br />
haben studiert), die Emanzipation<br />
der Frauen, die Garantie medizinischer<br />
Versorgung für alle Bürger. Zudem weist<br />
die soziologische Untersuchung die Stabilität<br />
familiärer Strukturen sowie des kulturellen<br />
und religiösen Erbes nach.<br />
Die Leier, dass „alles den Bach heruntergeht“,<br />
hält den Fakten nicht stand. „Die<br />
Krise macht uns pessimistisch“, sagt Todd.<br />
„Dabei vergisst man, wie jenes angeblich<br />
so wunderbare Frankreich der ,Trente<br />
Glorieuses‘, der glorreichen 30 Jahre zwischen<br />
1945 und 1975, aussah … Auch<br />
unsere Zeit hat ihre Leiden, doch sind es<br />
Leiden einer wesentlich komplizierteren<br />
Welt. So schlecht geht es Frankreich gar<br />
nicht, es könnte leicht wieder auf die Beine<br />
kommen.“<br />
Was braucht das Land, damit dies gelingt?<br />
Um das Handikap einer leidvollen<br />
Geschichte zu überwinden, <strong>wir</strong>d Frankreich<br />
nichts anderes übrig bleiben, als<br />
echte Vergangenheitsbewältigung zu betreiben<br />
und sich von der Last der Mythen<br />
zu befreien. Bei seinem Algerienbesuch anlässlich<br />
des 50-jährigen Jubiläums der algerischen<br />
Unabhängigkeit hat François Hollande<br />
Schritte in diese Richtung getan. Er<br />
hat die „blutige Niederschlagung“ der Demonstration<br />
für die algerische Unabhängigkeit<br />
am 17. Oktober 1961 eingestanden,<br />
bei der Dutzende von Algeriern in<br />
die Seine geworfen wurden.<br />
Der Weg aus der Depression führt<br />
über die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit,<br />
aber auch über Selbstachtung<br />
und einen versöhnlichen Blick auf die<br />
Welt. „Die Franzosen sehen sich als eine<br />
nur vorübergehende Glücksinsel in einer<br />
Welt voller Katastrophen. Frankreich verfügt<br />
über viele Fähigkeiten zur Bewältigung<br />
seiner Probleme, aber es sieht sie nicht“,<br />
resümiert der Generaldirektor der Welthandelsorganisation,<br />
Pascal Lamy. Dieses<br />
anspruchsvolle Volk sehne sich nach einer<br />
neuen Perspektive, wartete auf ein sich andeutendes<br />
Zukunftsprojekt. Auf eine neue<br />
Erfolgsgeschichte.<br />
Doch weder Linke noch Rechte sind<br />
derzeit in der Lage, sich ein starkes, modernes<br />
Frankreich von morgen vorzustellen.<br />
Dies birgt Gefahren, da immer mehr<br />
ratlose Bürger sich den Verfechtern vergangener<br />
Ideale zuwenden, dem Front National<br />
oder der Linksfront „Front de gauche“.<br />
Beide Extreme idealisieren die Geschichte<br />
in jeweils entgegengesetzter Richtung und<br />
nutzen sie zur Beschwichtigung der Bürger.<br />
Damit aber vernebeln sie eine Zukunft, die<br />
so schlecht gar nicht aussieht.<br />
Übersetzung: Maria Hoffmann-Dartevelle<br />
Jacques pilet<br />
ist Journalist und Frankreich-<br />
Experte des Ringierverlags<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 75
| W e l t b ü h n e | F r o n t N a t i o n a l<br />
„Die NPD ist<br />
rechtsextrem,<br />
<strong>wir</strong> nicht“<br />
Die Vorsitzende der Front National polarisiert wie<br />
kaum eine andere Politikerin. <strong>Cicero</strong> befragte<br />
Marine Le pen zu Populismus, Nationalismus und<br />
ihrer Angst vor Frankreichs „Überfremdung“<br />
Frau Le Pen, wann gedenken Sie in den<br />
Élysée-Palast einzuziehen?<br />
Ziemlich bald.<br />
Was veranlasst Sie zu dieser Annahme?<br />
Die öffentliche Meinung entwickelt sich<br />
sehr rasch. Als ich vor zwei Jahren in Italien<br />
war, gab es dort keine einzige euroskeptische<br />
Partei – jetzt stellen sie schon<br />
die Mehrheit. In Frankreich dominiert<br />
der Front National nicht mehr nur Themen<br />
wie Immigration oder Sicherheit,<br />
sondern auch Euro und Wirtschaft.<br />
Sind Sie also die große Profiteurin der<br />
Krise?<br />
Wir sind nicht an der Krise schuld – anders<br />
als die Regierungsparteien, die uns<br />
in den Schlamassel geritten haben. Wir<br />
gewinnen an Glaubwürdigkeit.<br />
„In Wahrheit kosten die Immigranten Milliarden. Wie soll es auch<br />
anders sein, wenn sie nicht arbeiten?“: Marine Le Pen<br />
Drei Frankreichflaggen prangen neben ihrem<br />
Chefsessel. Marine Le Pen ist Nationalistin<br />
bis in ihre Seele – und bis in ihr<br />
Büro in Paris-Nanterre, wo sie zum Interviewtermin<br />
empfängt. Die 44-jährige Anwältin<br />
hat vor zwei Jahren die Leitung<br />
des Front National von ihrem Vater Jean-<br />
Marie Le Pen übernommen und versucht<br />
seither, der Partei einen präsentableren, populistischen<br />
Anstrich zu geben. Seit ihrem<br />
Spitzenresultat (18 Prozent der Stimmen)<br />
bei der Präsidentenwahl 2012 ist sie<br />
aus der politischen Debatte ihres Landes<br />
nicht mehr wegzudenken. 32 Prozent der<br />
Franzosen können sich laut einer Umfrage<br />
heute mit ihren Ideen anfreunden.<br />
Wirklich? Populisten wie Sie oder Beppo<br />
Grillo in Italien sind nicht gerade das, was<br />
man seriöse Politiker nennen würde.<br />
Was heißt schon Populisten? Der Begriff<br />
soll uns als unseriös, verrückt abtun.<br />
Aber ich bin damit einverstanden, wenn<br />
Populismus „Regierung durch das Volk<br />
und für das Volk“ meint.<br />
Bevorzugen Sie das Etikett rechtsextrem,<br />
wie ihr Vater Jean-Marie Le Pen, der die<br />
Gaskammern der Nazis verharmloste?<br />
Der Front National steht für die Nation<br />
und gegen die Globalisierung ein. Das ist<br />
weder rechts noch links.<br />
Das scheinen nicht alle zu denken: Zu<br />
Ihren Wahlerfolgen gratulieren Ihnen stets<br />
rechtsextreme Parteien wie etwa die deutsche<br />
NPD.<br />
Die NPD will sich an unseren Erfolg anhängen.<br />
Diese Partei ist unglaubwürdig,<br />
fast ohne Stimmen. Sie ist rechtsextrem,<br />
<strong>wir</strong> nicht.<br />
Das Programm der NPD gleicht aber dem<br />
Ihren: gegen Immigration, Islam, EU, die<br />
Weltfinanz und gegen die Eliten …<br />
Die NPD hat es nie geschafft, aus ihrer<br />
Ecke zu kommen. Wir pflegen keine Beziehungen<br />
zu ihr. Wir fühlen uns eher den<br />
neuen Kräften nahe, etwa der euroskeptischen<br />
„Alternative für Deutschland“. Deren<br />
Problem ist, dass die Meinungsfreiheit<br />
in Deutschland seit dem Krieg nicht mehr<br />
total ist. Für die Nation und gegen die EU<br />
Foto: Chamussy/ddp images/Sipa<br />
76 <strong>Cicero</strong> 6.2013
einzustehen, fällt den Deutschen schwer,<br />
obwohl das ein ehrenwertes Anliegen ist.<br />
Sie geben sich präsentabel und klopfen<br />
keine rassistischen Sprüche wie einst Ihr<br />
Vater. Doch weisen Sie auch rassistische<br />
Wähler zurück?<br />
Durchaus. Rassisten, die in den Front<br />
National kommen, haben sich in der Partei<br />
geirrt. Wir definieren uns nicht über<br />
die Rasse oder die Hautfarbe, sondern<br />
nach der Nationalität.<br />
Also nach Franzosen und anderen – und<br />
Letztere wollen Sie vor die Tür setzen.<br />
Wir wollen keine Leute aufnehmen, denen<br />
<strong>wir</strong> keine Arbeit anbieten und die<br />
<strong>wir</strong> nicht unterhalten können. Dann bilden<br />
sie Ghettos, und die sind nicht multikulturell,<br />
sondern multikonfliktuell.<br />
Für Sie sind immer die anderen an der<br />
Misere Frankreichs schuld – die Ausländer<br />
und die Moslems, Brüssel und die<br />
Handelskonkurrenten.<br />
Als Französin verteidige ich die Freiheit<br />
und die Souveränität Frankreichs. Aber<br />
ich habe keine Angst vor den anderen,<br />
ich bin für transnationale Kooperationen,<br />
wie Airbus oder die Ariane-Trägerrakete.<br />
Das funktioniert, im Unterschied<br />
zur Europäischen Sowjetunion. Im EU-<br />
Gefängnis dürfen <strong>wir</strong> gerade noch die<br />
Farbe des Fußabtreters bestimmen. Das<br />
will ich nicht.<br />
Sprechen <strong>wir</strong> vom Kern jeder heutigen<br />
Politik – der Wirtschaft. Sie machen den<br />
Euro für so ziemlich alle Probleme Frankreichs<br />
verantwortlich. Deutschland zieht<br />
sich aber mit der gleichen Währung gut<br />
aus der Affäre.<br />
Das hat spezifische Gründe. Deutschlands<br />
Exporte profitierten von der Abwertung<br />
des Euro gegenüber der Mark,<br />
während der Euro für Frankreich zu stark<br />
war. Zudem kann Deutschland viele Produkte<br />
im osteuropäischen „Hinterland“<br />
billig herstellen lassen. Frankreich setzte<br />
dagegen, um sich günstig zu industrialisieren,<br />
fälschlicherweise auf eine massive<br />
Einwanderung.<br />
In Deutschland leben auch Millionen<br />
Türken.<br />
Deutschland offeriert aber den illegal<br />
Zugereisten keine 100-prozentige<br />
Sozialhilfe und Gratisbildung, wie das<br />
Frankreich tut.<br />
Konjunkturell sind die Immigranten insgesamt<br />
ein Nettogewinn für Frankreich.<br />
Das behaupten unsere Gegner mit ihren<br />
Berichten. Doch die basieren auf falschen<br />
Zahlen und Annahmen, etwa einer Arbeitslosigkeit<br />
von 5 Prozent. In Wahrheit<br />
kosten die Immigranten Milliarden. Wie<br />
soll es auch anders sein, wenn sie nicht<br />
arbeiten?<br />
Die meisten arbeiten. Was wäre das<br />
Asylland Frankreich ohne Immigranten wie<br />
Zinedine Zidane, Charles Aznavour, Yves<br />
Montand?<br />
Bloß kommen auf einen Zidane hunderttausend<br />
andere, die ohne Arbeit in<br />
Frankreich leben und für die <strong>wir</strong> aufkommen<br />
müssen. Gehen Sie mal nach Barbès<br />
(ein Pariser Einwandererviertel, die Red.)!<br />
Wenn Sie lebend zurückkommen, werden<br />
Sie eingesehen haben, dass dort Leute leben,<br />
die nicht einmal Französisch sprechen,<br />
die ihren Platz nicht finden und arbeitslos<br />
sind.<br />
Das ist auch die Schuld einer Politik, welche<br />
die Banlieues um Paris ausgrenzt und<br />
verlottern lässt.<br />
Selbst wenn man ganz Frankreich urbanisieren<br />
würde, ließe sich nicht ganz Afrika<br />
aufnehmen. Irgendwo muss man eine<br />
Grenze ziehen. Wir haben fünf Millionen<br />
Arbeitslose, neun Millionen Arme, drei<br />
Millionen Leute in prekärer Wohnlage.<br />
Was berechtigt uns, noch mehr Leute ins<br />
Land zu lassen? Deshalb wollen <strong>wir</strong> den<br />
Zuzug von Immigranten von jährlich<br />
200 000 auf 10 000 senken.<br />
Sie geben vor, die „kleinen Leute“ zu<br />
verteidigen. Diese würden aber als Erste<br />
leiden, wenn Sie aus dem Euro aussteigen<br />
und Europa in eine noch schwerere Krise<br />
stürzen würden.<br />
Warum das? Frankreich lebte ganz gut<br />
mit dem Franc. Der Euro funktioniert<br />
hingegen nicht. Rettungspläne verschlingen<br />
Hunderte von Milliarden, die Sozialkosten<br />
sind extrem hoch, und jetzt<br />
beginnen sich die Europäer auch noch<br />
zu zerstreiten. Angela Merkel kann sich<br />
nur noch mithilfe der Nationalgarde in<br />
Südeuropa bewegen. Haben die Deutschen<br />
<strong>wir</strong>klich Lust, es so weit kommen<br />
zu lassen? Wollen sie nach der Versöhnung<br />
Europas wieder als dessen Häscher<br />
dastehen?<br />
Ein Euro-Ausstieg hätte eine massive Abwertung,<br />
Inflation und Rezession zur Folge.<br />
Also höhere Preise und weniger Jobs für<br />
die kleinen Leute, denen Sie das Paradies<br />
verheißen.<br />
Man darf natürlich nicht brutal zu den<br />
nationalen Währungen zurückkehren;<br />
das gehört organisiert. Aber es ist auf jeden<br />
Fall besser, als wenn Zypern, dann<br />
Griechenland und dann Slowenien unter<br />
Zwang und in Panik den Euro über Bord<br />
werfen.<br />
Der Front National vertritt heute zum Teil<br />
linksextreme Positionen: Der Sozialist<br />
François Hollande, der die Millionäre<br />
zu 75 Prozent besteuern will, ist für Sie<br />
beispielsweise ein Ultraliberaler.<br />
Die 75-Prozent-Steuer ist Hollandes<br />
Alibi. Es soll verbergen, dass er sich von<br />
der internationalen Finanz unterjochen<br />
lässt und deren Austeritätskurs befolgt.<br />
Hollande sagte im Wahlkampf, er werde<br />
gegen die Finanzwelt „Krieg führen“ – jawohl,<br />
mit einem Zahnstocher!<br />
Sie wettern auch gegen die Globalisierung.<br />
Wo liegt da der Unterschied zu den von Ihnen<br />
verhöhnten „Sozialo-Kommunisten“?<br />
Jean-Luc Mélenchon, der Anführer der<br />
französischen Linksfront, ist für eine „andere“<br />
Globalisierung, ich bin gegen die<br />
Globalisierung an sich.<br />
Immerhin stimuliert der Freihandel auch<br />
das Wirtschaftswachstum, das heute den<br />
Kern jeder Wirtschaftspolitik ausmacht.<br />
Freihandel ist Unsinn. Er kann nur<br />
funktionieren zwischen Ländern, die<br />
ähnliche Sozial- und Umweltstandards<br />
haben, sonst <strong>wir</strong>d es Dumping. Um<br />
die französische Produktion zu schützen,<br />
würde ich gegenüber Ländern wie<br />
China einen intelligenten Protektionismus<br />
betreiben.<br />
Und sofort Vergeltungsmaßnahmen<br />
auslösen?<br />
Alle schützen sich, die Kanadier, die<br />
Amerikaner, Brasilianer, Chinesen. Nur<br />
<strong>wir</strong> Europäer tun nichts.<br />
Das Gespräch führte Stefan Brändle<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 77
| K a p i t a l<br />
Sprosse für Sprosse<br />
Fritz Straub hat die Hellerauer Werkstätten zum Luxusausstatter für Yachten und Firmenzentralen gemacht<br />
von Stefan Locke<br />
A<br />
uf zwei Holzböcken lagert<br />
eine polierte Platte wie ein Stillleben.<br />
Jugendstil, geschwungener<br />
Rahmen, Blumen in einer Vase. Doch es<br />
ist kein Gemälde, sondern feinstes australisches<br />
Lacewood, helle Flecken mit dunklen<br />
Schatten, handgeschliffen, zehn Mal lackiert.<br />
Das Kunstwerk ist eine von mehreren<br />
Türen für eine 180-Meter- Yacht – der bisher<br />
größte Auftrag in der Hellerauer Firmengeschichte.<br />
Fritz Straub, Chef der<br />
Deutschen Werkstätten, erzählt das nicht<br />
ohne Genugtuung. Vor mehr als einem<br />
Jahrzehnt begann das kleine Unternehmen<br />
im Norden von Dresden, sich neben Designmöbeln<br />
auf den Ausbau von Yachten<br />
zu spezialisieren. Heute macht die Sparte<br />
40 Prozent des Umsatzes aus.<br />
Schildert Straub den Weg der vergangenen<br />
zwei Jahrzehnte, verwendet er gern<br />
das Bild einer Leiter, bei der immer die<br />
Sprosse, auf der das Unternehmen gerade<br />
stand, wegbrach und es sich eine weiter<br />
nach oben retten musste. Er selbst stand<br />
1992 zum ersten Mal auf dem Gelände der<br />
Deutschen Werkstätten. Den Namen hatte<br />
Straub da noch nie gehört. „Wem seine<br />
Werkstätten?“, fragte er die Treuhand. „Das<br />
ist so wie Bauhaus“, lautete die Antwort.<br />
Vorher war Straub knapp 30 Jahre in<br />
der Pharmaindustrie tätig, für Hoechst in<br />
Bangkok, Karatschi und Barcelona gewesen.<br />
Mit 49 Jahren fing er noch mal ganz neu an,<br />
weil ihn die Hellerauer Historie faszinierte.<br />
Die Firma hat eine lange Tradition.<br />
Gründer Karl Schmidt begann Anfang<br />
des 20. Jahrhunderts, elegante Möbel im<br />
minimalistischen Design zu fertigen, die<br />
Geburtsstunde des Mythos Hellerau. Der<br />
überstand auch 40 Jahre Sozialismus, in<br />
denen hier Spanplatten mit Furnier beklebt<br />
wurden.<br />
In der Abteilung Sonderanfertigungen<br />
arbeiteten auch zu DDR-Zeiten<br />
80 Tischler, die die Dresdner Semperoper,<br />
das Gewandhaus in Leipzig und<br />
Regierungsgebäude in Ostberlin ausbauten.<br />
Zusammen mit diesen Spezialisten<br />
wollte Straub vom Aufbauboom nach der<br />
Wende profitieren. Aber die Standardabsage<br />
der westdeutschen Planer lautete: „Wir<br />
machen doch nichts mit Ostfirmen!“<br />
Auch der Architekt Peter Kulka lehnte<br />
ab, als sich die Werkstätten um den Bau<br />
einer Akustikwand, die im<br />
Sächsischen Landtag Plenarsaal<br />
und Foyer trennen<br />
sollte, bewarben. Straub<br />
blieb hartnäckig und weit<br />
unter dem Preis der Wettbewerber.<br />
Seine besten Tischler<br />
schufen eine geschwungene<br />
Holzwand, die der Firma<br />
zum Durchbruch verhalf.<br />
Die Werkstätten bauten<br />
das Auswärtige Amt in Berlin,<br />
das Willy-Brandt-Haus<br />
und die Dresdner Bank am<br />
Pariser Platz aus, experimentierten<br />
mit ungewöhnlichen<br />
Formen und integrierten<br />
neue Materialien<br />
wie Leder, Metall, Pergament<br />
und Stein für Repräsentanzen<br />
der Telekom und<br />
Vorstandsetagen von Eon,<br />
Tui und KfW.<br />
„Aber dieses Haus hat<br />
mehr verdient“, sagt Straub. Die nächste<br />
Sprosse auf der Leiter war ein Auftrag der<br />
Deutschen Bahn, die mit dem Architekten<br />
Meinhard von Gerkan den Businesszug<br />
„Metropolitan“ entwickelte – Birnbaumholz,<br />
schwarzes Leder, kratzfeste Oberflächen.<br />
Die Bahn ließ dann nur zwei Züge<br />
bauen, finanziell ein herber Verlust, aber<br />
gut investiertes Lehrgeld. Sie wussten jetzt,<br />
wie man bewegte Räume ausbaut. Davon<br />
überzeugte Straub auch die Lürssen-Werft<br />
in Bremen. Seit 2001 haben die Hellerauer<br />
zusammen mit den Bremern 17 Yachten<br />
gefertigt, für Milliardäre aus Russland, den<br />
MYTHOS<br />
MITTELSTAND<br />
„Was hat Deutschland,<br />
was andere nicht<br />
haben? Den<br />
Mittelstand!“, sagt<br />
selbst der Deutsche-<br />
Bank-Chef Anshu<br />
Jain. <strong>Cicero</strong> weiß das<br />
schon länger und stellt<br />
den Mittelstand in<br />
einer Serie vor. Die<br />
bisherigen Porträts aus<br />
der Serie unter:<br />
www.cicero.de/mittelstand<br />
USA oder den Vereinigten Arabischen<br />
Emiraten.<br />
Namen nennt Straub nicht, Diskretion<br />
gehört zum Geschäft. Ohnehin ist das<br />
Geschäft mit den Superreichen schwierig,<br />
weil äußerst schwankungsanfällig. In der<br />
Finanzkrise brach auf einmal die Hälfte<br />
des Umsatzes von 40 Millionen Euro weg.<br />
Inzwischen hat sich<br />
das Unternehmen von diesem<br />
heftigen Schock erholt.<br />
Gerade in Russland, wo die<br />
Hellerauer mit 25 Mitarbeitern<br />
in der Moskauer Filiale<br />
vertreten sind, investieren<br />
vermögende Kunden wieder<br />
gerne in deutsche Wertarbeit<br />
und edle Materialien.<br />
Die Fertigung mit<br />
200 Mitarbeitern aber bleibt<br />
in Dresden-Hellerau, hier<br />
<strong>wir</strong>d entwickelt, konstruiert,<br />
gehobelt, geschliffen und lackiert<br />
– Eichenbibliotheken<br />
für Villen in London, Möbel<br />
für die Tate Britain, die<br />
Inneneinrichtung für ein<br />
Chalet in St. Moritz oder<br />
der Ausbau der Privatwohnung<br />
eines Pariser Galeristen.<br />
Auch aus China gibt es<br />
erste Anfragen.<br />
Die Leiter <strong>wir</strong>d immer stabiler, aber<br />
Straub will noch höher hinaus: „Kann gut<br />
sein, dass <strong>wir</strong> noch in diesem Jahr in den<br />
Flugzeugbau einsteigen.“ Gespräche mit<br />
der Fluglinie Air New Zealand, die Boeing-<br />
Business-Jets für Privatleute ausbaut, laufen<br />
bereits. Auf der obersten Sprosse wähnt<br />
sich der 70-Jährige noch lange nicht.<br />
Stefan Locke hörte von<br />
den Hellerauer Werkstätten erstmals<br />
als DDR-Kind, wo sich<br />
Er<strong>wachsen</strong>e den Namen immer<br />
nur ehrfürchtig zuraunten<br />
Fotos: Christoph Busse für <strong>Cicero</strong>, Privat (Autor)<br />
78 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Nach der Wende<br />
kaufte Fritz Straub<br />
die Firma – seine<br />
Kunden: Telekom,<br />
Tui und russische<br />
Milliardäre<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 79
| K a p i t a l<br />
„Familie heiSSt kündigung“<br />
Für ihre Söhne verließ Anne-Marie Slaughter, Ex-Beraterin von Hillary Clinton, ihren Top-Job in Washington<br />
F<br />
rau Slaughter, Sie waren Planungschefin<br />
im US-Außenministerium<br />
unter Hillary Clinton,<br />
gingen dann wegen Ihrer Söhne zurück<br />
nach Princeton und veröffentlichten vor<br />
einem Jahr in dem Magazin „The Atlantic“<br />
den Text „Why women can’t have it all“.<br />
Aktuell tourt Facebook-Vorstand Sheryl<br />
Sandberg mit ihrem Buch „Lean in“ um<br />
die Welt, um Frauen zu erklären, dass man<br />
doch alles haben kann, nämlich Familie<br />
und Spitzenjob. Wer hat denn nun recht?<br />
Wir liegen gar nicht so weit auseinander.<br />
Wenn Sandberg sagt, dass sich Frauen<br />
auf dem Weg nach oben nicht abschrecken<br />
lassen sollen und reinhängen müssen,<br />
gebe ich ihr recht. Mich beschäftigt<br />
aber eine andere Frage viel mehr: Warum<br />
ist in unserer Gesellschaft die Wertschätzung<br />
für Menschen so gering, die für andere<br />
da sind, sie betreuen oder pflegen.<br />
Wir leben in einer Kultur, in der die Idee,<br />
dass man jemand anderen über sich selbst<br />
stellt, abwegig erscheint.<br />
Übertreiben Sie jetzt nicht etwas?<br />
Nein, wenn im politischen Washington<br />
über jemanden gesagt <strong>wir</strong>d, er oder sie<br />
höre auf, „um mehr Zeit mit der Familie<br />
zu verbringen“, ist das ein Euphemismus<br />
für die Tatsache, dass er gefeuert wurde.<br />
Es gilt der Grundsatz: Wer sich voll auf<br />
seine Karriere konzentriert, <strong>wir</strong>d befördert.<br />
Wer sich auch noch um die Familie<br />
kümmern will, ist unprofessionell.<br />
Sie haben sich trotzdem gegen die Karriere<br />
in der US-Außenpolitik und für Ihre<br />
Kinder entschieden.<br />
Ja, aber ich habe damit ein Tabu gebrochen.<br />
Als Feministin, und als solche betrachte<br />
ich mich, stellt man die Wahlfreiheit<br />
zwischen Familie und Beruf nicht<br />
infrage. Meine Entscheidung hat bei vielen<br />
erfolgreichen Frauen meiner Generation<br />
einen Schock ausgelöst, weil sie<br />
nicht in ihr eigenes Lebensmodell passte.<br />
Erhielten Sie auch Unterstützung?<br />
Von jungen Frauen zwischen 18 und 22,<br />
die ich in Princeton an der Universität<br />
unterrichte oder bei Vortragsreisen getroffen<br />
habe. Sie wurden selbst als Kinder<br />
von doppelverdienenden Eltern rund<br />
um die Uhr von Kindermädchen erzogen.<br />
Für die spielt das Thema Work-Life-<br />
Balance eine große Rolle, weil sie Familie<br />
haben wollen, aber nicht für den Job die<br />
Kinder komplett outsourcen möchten.<br />
Haben Sie eine Lösung?<br />
Ich werde bei diesem Punkt oft bewusst<br />
missverstanden. Ich habe nie gesagt:<br />
Frauen, bleibt zu Hause. Aber <strong>wir</strong> müssen<br />
es berufstätigen Frauen und Männern<br />
leichter machen, sich auch um ihre<br />
Kinder kümmern zu können. Wir brauchen<br />
gleichen Lohn für gleiche Arbeit,<br />
bezahlten Elternurlaub und betriebliche<br />
Kinderbetreuung.<br />
Macht die Politik genug dafür?<br />
Präsident Obama müsste sich für all diese<br />
Dinge noch stärker einsetzen, aber wahrscheinlich<br />
hat er Angst, wieder als Sozialist<br />
gebrandmarkt zu werden.<br />
Was kann die Wirtschaft selbst tun?<br />
Moderne Unternehmen treten für eine<br />
radikale Flexibilisierung ein. Der Trend<br />
geht in Richtung ergebnisorientierter Arbeit.<br />
Die sagen zu ihrem Mitarbeiter: Das<br />
ist die Aufgabe, diese Qualitätsstandards<br />
müssen eingehalten werden, bis dahin<br />
brauchen <strong>wir</strong> es, der Rest ist deine Sache.<br />
Was haben die Unternehmen davon?<br />
Sie werden als Arbeitgeber attraktiver, gerade<br />
auch für kreative Frauen. Sie tun<br />
sich leichter, die besten Leute zu rekrutieren<br />
oder Mitarbeiterinnen zurückzugewinnen.<br />
Zahlreiche Unternehmen haben<br />
viel Zeit und Geld in deren Weiterbildung<br />
investiert. Die wollen diese doch<br />
nicht gleich wieder verlieren, nur weil<br />
die Frauen aus familiären Gründen eine<br />
Weile kürzer treten wollen.<br />
Gibt es konkrete Beispiele für solche<br />
Maßnahmen?<br />
Viele haben das Problem erkannt. Die<br />
Unternehmensberatung McKinsey sucht<br />
gezielt nach sogenannten „alumnae“, also<br />
Frauen, die das Unternehmen vor mehr<br />
als zehn Jahren verlassen haben. Die will<br />
man zurückholen, weil sie das Geschäft<br />
kennen und inzwischen Netzwerke aufgebaut<br />
haben, die ein junger Uniabsolvent<br />
kaum bieten kann. Diese Entwicklung<br />
könnte auch dazu führen, dass die<br />
politisch und sozial unsinnige Diskriminierung<br />
der über 45-Jährigen auf dem<br />
Arbeitsmarkt der Vergangenheit angehört.<br />
Wenn <strong>wir</strong> in Deutschland über Frauen<br />
in Führungspositionen diskutieren, <strong>wir</strong>d<br />
sofort nach Quotenregelungen gerufen.<br />
In den USA haben <strong>wir</strong> eine Phobie gegen<br />
Quoten. Unsere Gerichte würden so<br />
etwas wahrscheinlich auch sofort kassieren.<br />
Ich kann dem allerdings schon etwas<br />
abgewinnen. Man braucht nämlich einen<br />
Frauenanteil von 20 bis 30 Prozent, um<br />
die Strukturen dauerhaft zu verändern.<br />
In Bezug auf Frauen in Führungspositionen<br />
wäre das aber dringend nötig, da weder<br />
hier noch in Deutschland in den vergangenen<br />
20 Jahren viel passiert ist.<br />
Kritiker halten das für eine Elitendebatte?<br />
Klar, wenn man über Führungspositionen<br />
spricht, ist das ein Elitenthema. Aber<br />
die Hälfte der Absolventen der US-Top-<br />
Universitäten sind Frauen, der Anteil der<br />
Frauen in Führungspositionen liegt jedoch<br />
unter 20 Prozent. Der Vorwurf, es<br />
handle sich um eine Elitendiskussion,<br />
kommt immer von denen, die dieses Problem<br />
nicht sehen wollen.<br />
Das Gespräch führte Jutta Falke-Ischinger<br />
Foto: Javier Sirvent<br />
80 <strong>Cicero</strong> 6.2013
„Wer sich auf die Karriere<br />
konzentriert, <strong>wir</strong>d befördert. Wer<br />
sich um die Familie kümmern<br />
will, gilt als unprofessionell“,<br />
kritisiert Anne-Marie Slaughter<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 81
| K a p i t a l | S o s e h e n Z o c k e r a u s<br />
„An der Börse“, weiß der<br />
Kleinaktionär, „geht’s ums<br />
Sitzen.“ Hauptversammlungen<br />
großer Aktiengesellschaften<br />
können sich endlos hinziehen<br />
82 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Geld gegen<br />
Geltung<br />
Hier locken Rederecht und Buffet: Die Welt der<br />
Kleinaktionäre ist ebenso skurril wie demokratiepolitisch<br />
wertvoll. Die Fotografin Verena Brandt hat sie besucht<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 83
| K a p i t a l | S o s e h e n Z o c k e r a u s<br />
Tierlieb: 40 Jahre lang war Frau Wessel Kostümbildnerin, seit<br />
25 Jahren besitzt sie eine Namensaktie des Zoologischen Gartens Berlin<br />
München – Fürth, 150 km: Herr Pauli ist mit dem<br />
Rennrad zur Adidas-Hauptversammlung gekommen<br />
Kurzärmelig: Für Herrn Hahn zählt nur die Rendite. Er investiert<br />
in Tabak und in Südafrika. Von den Dividenden kann er leben<br />
Provinziell: Die Firma Zapf verkauft Babypuppen plus Zubehör. Für<br />
Herrn Hahn ein KniF-Unternehmen: „Kommt nicht in Frage!“<br />
84 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Im Sonntagsputz: Für manche Aktionäre ist<br />
die Hauptversammlung ihres Unternehmens<br />
ein wichtiger gesellschaftlicher Anlass<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 85
| K a p i t a l | S o s e h e n Z o c k e r a u s<br />
Die ersten der knapp<br />
6000 Besucher warten<br />
darauf, dass Daimler<br />
um acht Uhr das<br />
Messegelände öffnet<br />
86 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Den Aktionärinnen des Berliner Zoos geht es um Stolz, Heimatgefühl und freien Eintritt für sich und zwei weitere Personen<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 87
| K a p i t a l | S o s e h e n Z o c k e r a u s<br />
Mobiler Urnengang: Nach Geschäftsbericht und Generaldebatte stimmen die Aktionäre über die Tagesordnungspunkte ab<br />
Übernahmeschlacht: Schokolade allein macht nicht satt. Beim Pralinenhersteller Halloren in Halle endet die Hauptversammlung am Buffet<br />
88 <strong>Cicero</strong> 6.2013
A<br />
ktionärshauptversammlungen sind allen zugänglich,<br />
und doch ist diese Welt so vielen unbekannt. Die Aktie<br />
ist die Eintrittskarte in diesen Mikrokosmos, und<br />
manche Aktie kostet nur wenige Euro. Macht und Geld<br />
treffen hier auf Hoffnungen und Sehnsüchte aus dem<br />
„kleinen Leben“, auf Abstaubermentalitäten vor und hinter der<br />
Bühne, aber auch auf Tradition, Herzblut, fangleiche Hingabe<br />
zum Unternehmen.<br />
Theoretisch geht es um jede einzelne Aktie, in der Praxis regieren<br />
internationale Großaktionäre. Es ist eine nur dem Prinzip<br />
nach basisdemokratische, durchinszenierte Parallelwelt. Was den<br />
Klein(st)aktionären bleibt, ist die Bühne, ist Aufmerksamkeit –<br />
in der Mediengesellschaft eine Währung, die vielen wertvoller erscheint<br />
als Macht und Geld.<br />
Das deutsche Aktienrecht ist streng: Jedes Jahr kosten die vorgeschriebenen<br />
Mammutveranstaltungen die großen Unternehmen<br />
mehrere Millionen Euro. Was auf der Bühne gesagt <strong>wir</strong>d, muss<br />
jederzeit an jedem Ort des Gebäudes zu hören sein, auch auf den<br />
Toiletten. Und jeder, der auch nur eine einzige Aktie besitzt, hat<br />
das Recht zu reden. Wird dieses Rederecht verletzt, sind die in der<br />
Abstimmung gefassten Beschlüsse nichtig. Die Deutsche Bank hat<br />
deshalb in diesem Frühjahr die erste außerordentliche Hauptversammlung<br />
ihrer Firmengeschichte abhalten müssen.<br />
Laut deutschem Aktienrecht gilt eine Art Zensuswahlrecht,<br />
eine Stimmengewichtung nach Vermögen, wie sie für die deutsche<br />
Politik seit 1918 abgeschafft ist. In der Aktienwelt verbindet<br />
sich dieses alte Prinzip mit einem neueren demokratietheoretischen<br />
Ansatz: Nach Jürgen Habermas braucht die deliberative<br />
Demokratie die öffentliche Diskussion unter Beteiligung aller. Im<br />
immer gleichen Ablauf deutscher Hauptversammlungen folgt daher<br />
nach den Berichten des Vorstands und des Aufsichtsrats zwingend<br />
die Generaldebatte.<br />
Während der Aussprache für alle sind die Aufnahmegeräte<br />
der Journalisten ausgeschaltet, die Kameras weggepackt. Das<br />
Hin und Her von Fragen, Anmerkungen, Kritik, das oft rasch<br />
in einen quälenden Trott aus Angriffen, Rechtfertigungen und<br />
Abbügeleien fällt, darf nicht aufgezeichnet oder abgebildet werden.<br />
Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Aktionäre. Die<br />
Medien dürfen zwar berichten, aber sie dürfen die Generaldebatte<br />
nicht zeigen: eine selten gewordene Form der Halböffentlichkeit,<br />
heute, da Dinge, die nicht in den Medien abgebildet<br />
werden, quasi nicht existieren.<br />
Der erfahrene Kleinaktionär verspricht sich von der kritischen<br />
Aussprache nicht viel: „Was da gesagt <strong>wir</strong>d, geht da rein und da<br />
raus. Das ist so frustrierend, da geht einem das Klappvisier auf!“<br />
Trotzdem kommen viele jedes Jahr, manche bilden Fahrgemeinschaften,<br />
um Hauptversammlungen in der ganzen Republik zu<br />
besuchen. Sie kommen, „um die Dividende in Form von Essen<br />
mitzunehmen“. Es gibt Aktiensportler, die fachsimpeln und sich<br />
mit Geheimwissen und Anlageerfolgen zu übertrumpfen versuchen.<br />
Für die meisten sind die Hauptversammlungen ein willkommener<br />
Anlass für einen Ausflug an den Neckar oder zum Kölner<br />
Dom. Oder einfach nur „ein bisschen Abwechslung, wenn man<br />
in Rente ist …“<br />
Anzeige<br />
© Foto Necla Kelek: privat; Meyer, Marguier: Antje Berghäuser<br />
Angst vor dem<br />
Islam – berechtigt<br />
oder verwerflich?<br />
Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />
<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer und<br />
Alexander Marguier, stellvertretender<br />
<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur, im Gespräch<br />
mit Necla Kelek.<br />
Sonntag, 9. Juni 2013, 11 Uhr<br />
Berliner Ensemble,<br />
Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />
Tickets: Telefon 030 28408155<br />
www.berliner-ensemble.de<br />
BERLINER<br />
ENSEMBLE<br />
9. JUNI<br />
Necla Kelek<br />
In Kooperation<br />
mit dem Berliner Ensemble<br />
Nadine Schmid ist freie Journalistin und hat sich gemeinsam mit<br />
verena Brandt eine Saison lang unters Aktionärsvolk gemischt<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 89
| K a p i t a l | F r a c k i n g<br />
schwarzer Goldrausch<br />
Es <strong>wir</strong>d geschuftet, geschossen und Geld gescheffelt. In Williston beginnt<br />
ein neuer Abschnitt des Ölzeitalters. Eine neue Technik lässt die Stadt im<br />
Wilden Westen boomen. Eindrücke vom Ground Zero des Frackings<br />
von Mike Gerrity<br />
90 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Foto: Evelyn Hockstein/Polaris/Laif<br />
D<br />
er zweispurige Highway<br />
führt durch das vertrocknete,<br />
braune Grasland der nördlichen<br />
Weiten von Montana, es geht<br />
durch eine stille Einsamkeit.<br />
Aber als die Straße die Grenze zu North<br />
Dakota passiert, brummt und dröhnt und<br />
wimmelt es. Da multiplizieren sich die<br />
Dinge zu einem Geschiebe und Getöse,<br />
aus zwei Fahrspuren werden vier, aus einem<br />
gewaltigen Laster werden 50, aus einem<br />
Pick-up werden 100.<br />
Schotterpisten durchstechen den Highway,<br />
verstopft mit Tanklastern, deren Fahrer<br />
nervös auf eine Lücke warten, um die<br />
große Straße zu überqueren. Weit und breit<br />
steht keine Ampel, die den Verkehr regeln<br />
könnte. Linker Hand ragen die Skelette<br />
von Hotelneubauten in die Höhe, rechts<br />
bohren sich Förderanlagen in die Erde, darüber<br />
schimmern Gasflammen. Am Himmel<br />
schwebt ein Jet, der eine Ladung Arbeiter<br />
bringen <strong>wir</strong>d. Der nächste folgt zehn<br />
Minuten später. Einst starteten und landeten<br />
auf dem hiesigen Flugplatz 6000 Flugzeuge<br />
im Jahr. Heute sind es 60 000.<br />
Seit die Erdölindustrie ausgerechnet<br />
hat, dass die Schieferölvorkommen unter<br />
der Bakken-Formation im Norden der<br />
USA mit der Fracking-Technik rentabel<br />
ausgebeutet werden können, boomt die<br />
Ölförderung. Im Dezember 2012 wurden<br />
in North Dakota 770 000 Barrel pro<br />
Tag gefördert, mehr als doppelt so viel wie<br />
2010, ein neuer Rekord. Nur Texas produziert<br />
mehr Öl in den USA. Tausende Arbeitslose<br />
kamen, und die Bevölkerung der<br />
einzigen Stadt in der Gegend verdoppelte<br />
sich auf 33 000 Einwohner. Inmitten der<br />
flachen, endlosen Landschaft ist ein Industriekessel<br />
entstanden, in dem es nach Öl<br />
und Diesel riecht.<br />
Willkommen in Williston, North Dakota,<br />
Ground Zero des Fracking. Hier<br />
zeigt sich, wie eine Technik alles verändern<br />
kann: nicht nur das Leben der Menschen<br />
vor Ort, sondern auch den Energiemarkt<br />
Fracking in Deutschland<br />
Fracking, bei dem zur Öl- und<br />
Gasgewinnung Wasser, Sand und<br />
Chemikalien unter hohem Druck<br />
in tiefe Gesteinsschichten gepresst<br />
werden, ist in Deutschland<br />
kaum geregelt. Gesetzentwürfe<br />
der schwarz-gelben Bundesregierung<br />
trafen auf Widerstand. Umweltverbände,<br />
aber auch Deutschlands<br />
Bierbrauer fürchten eine<br />
Verunreinigung des Wassers. Nicht<br />
nur SPD und Grüne, sondern<br />
auch Unionspolitiker fordern<br />
Fracking-Verbote. Sie fürchten<br />
das Thema im Bundestagswahlkampf.<br />
Bürgerinitiativen planen<br />
für den 31. August sogar einen<br />
Anti-Fracking-Tag.<br />
der Vereinigten Staaten. In Williston hat<br />
ein neuer Abschnitt des Erdölzeitalters<br />
begonnen.<br />
Am Highway 85 stehen Unterkünfte,<br />
die aussehen wie Schiffscontainer mit Fenstern,<br />
umgeben von Maschendrahtzaun. Jeder<br />
Container hat zwei Einheiten aus zwei<br />
Einbettzimmern, die sich jeweils eine Dusche<br />
und eine Toilette teilen. Dort erholt<br />
sich der Ingenieur Ryan Frey von den kürzeren<br />
Zwölf- oder den langen 24-Stunden-Schichten.<br />
Die Wohneinheiten, hergestellt<br />
von Target Logistics, waren schon<br />
anderswo im Einsatz: In Basra beherbergten<br />
sie irakische Polizisten.<br />
Dies ist eines der Männercamps, die<br />
entstanden sind, um die Wohnungsnot in<br />
Williston zu lindern. Noch vor kurzem waren<br />
sie für Sauforgien und Schlägereien zu<br />
jeder Tag- und Nachtzeit bekannt. Heute<br />
erinnert die Atmosphäre eher an ein mormonisches<br />
Studentenwohnheim. Am<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 91
| K a p i t a l | F r a c k i n g<br />
Tor sorgt ein Wächter dafür, dass nicht<br />
ein Tropfen Alkohol in die Unterkünfte<br />
gelangt.<br />
Frey marschiert frisch geduscht über<br />
den Kiesschotter zur Kantine. Auf einem<br />
blauen Tablett bekommt er einen Riesenteller<br />
Steakstreifen, Spargel und Reis. Er<br />
lächelt, sagt „bitte“ und „danke“ und benimmt<br />
sich nicht, wie man es von einem<br />
erwartet, der gerade eine 24-Stunden-<br />
Schicht hinter sich hat. Arbeiter, die hier<br />
wohnen, können sich zu jeder Tages- und<br />
Nachtzeit in der Kantine den Bauch vollschlagen,<br />
bevor sie weiterschuften.<br />
Frey, 29 Jahre alt, hat an der University<br />
of Montana in Missoula Geowissenschaften<br />
studiert. Missoula ist jener Ort, in dem<br />
Robert Redfords Film „Aus der Mitte entspringt<br />
ein Fluss“ spielt, ein beschauliches<br />
Städtchen in paradiesischer Natur. Frey<br />
verdiente nach dem Diplom sein Geld damit,<br />
Touristen zum Fliegenfischen mitzunehmen.<br />
Aber vor anderthalb Jahren beschloss<br />
er, es mit seinem erlernten Beruf<br />
zu versuchen. „Ich wollte nicht als ergrauter<br />
Berufsangler enden“, sagt er.<br />
Er wechselte die Welten. Die Firma Liberty<br />
Oilfield Services stellte ihn ein, um<br />
Fracking-Anlagen rund um Williston zu<br />
überwachen. Sein Job kostet so viel Zeit,<br />
dass er selten auf ein Bier ins Stadtzentrum<br />
fährt. „Wir sind hier, um zu arbeiten“, sagt<br />
er. „Ich würde sagen, von uns hier oben<br />
geht keiner in die Kneipe. Wir haben einfach<br />
keine Zeit dafür.“<br />
Der Schatz der Bakken-Formation<br />
befindet sich zwischen zwei Schieferschichten,<br />
etwa drei Kilometer unter der Erdoberfläche,<br />
in einer dünnen, aber ausgedehnten<br />
Schicht aus Dolomitgestein. Jüngsten Prognosen<br />
zufolge könnten dort bis zu sieben<br />
Milliarden Barrel Öl lagern, doppelt so viel<br />
wie noch vor einigen Jahren angenommen.<br />
Die traditionelle Senkrechtbohrung erwies<br />
sich als zu teuer und zu ungenau, um<br />
die Dolomitschicht mit dem Öl zu erreichen.<br />
Doch nach einer Weile fanden die<br />
Ölleute heraus, dass sie den Dolomit horizontal,<br />
also von der Seite her aufbrechen<br />
können. Sobald die horizontale Bohrung<br />
angelegt ist, werden Millionen Liter Wasser,<br />
mit Sand und diversen Chemikalien versetzt,<br />
in das poröse Gestein gepresst, um<br />
das Öl absaugen zu können wie Mark aus<br />
dem Knochen. Dieser Prozess <strong>wir</strong>d hydraulische<br />
Frakturierung oder Fracking genannt.<br />
Die Unterkünfte der Arbeiter sehen aus wie Schiffscontainer mit Fenstern, zwei Einbettzimmer,<br />
Dusche und Toilette werden geteilt. Vorher beherbergten sie irakische Polizisten in Basra<br />
In den USA werden mit dieser Technik bereits<br />
riesige Mengen an Öl und Erdgas gefördert.<br />
Die größte Industrienation der<br />
Welt strebt per Fracking-Boom nach der<br />
Energieautarkie. Nach Prognosen der Internationalen<br />
Energieagentur könnten die<br />
USA bereits 2015 der weltgrößte Erdgasproduzent<br />
sein und bis 2017 auch die Spitzenposition<br />
bei der Förderung von Erdöl<br />
einnehmen. Schon dieses Jahr werden die<br />
Amerikaner erstmals mehr Öl im eigenen<br />
Land fördern, als sie importieren.<br />
Kritik am Fracking durch Umweltschützer<br />
findet hier, anders als in Deutschland,<br />
erst langsam Gehör. In den USA<br />
herrscht bisher die Einschätzung vor, dass<br />
Fracking keine Gefahr für das Grundwasser<br />
darstellt, solange es sorgfältig ausgeführt<br />
<strong>wir</strong>d. Gesetzliche Regeln gibt es kaum. Die<br />
Bush-Regierung hatte im Energiegesetz von<br />
2005 das Fracking sogar ausdrücklich von<br />
den Vorschriften des Clean-Water-Gesetzes<br />
der US-Umweltschutzbehörde EPA befreit.<br />
Die entsprechende Klausel erhielt den<br />
Spitznamen „Cheney-Halliburton-Schlupfloch“,<br />
weil der damalige Vizepräsident vor<br />
seinem Amtsantritt den texanischen Energiekonzern<br />
Halliburton geleitet hatte.<br />
Inzwischen wurden jedoch in mehreren<br />
US-Bundesstaaten in der Nähe von<br />
Fracking-Anlagen Brunnen entdeckt,<br />
die mit Chemikalien wie Arsen und Barium<br />
verseucht waren. Die meisten Bundesstaaten<br />
verlangen deshalb von den<br />
Ryan Frey kam<br />
aus Montana nach<br />
Williston. „Ich<br />
bin hier, um zu<br />
arbeiten“, sagt er.<br />
Seine kürzeren<br />
Schichten dauern<br />
12 Stunden, die<br />
langen 24<br />
Fotos: William Campbell/Corbis, Mike Gerrity<br />
92 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Bohrgesellschaften die Offenlegung der<br />
verwendeten Chemikalien. Um dies zu umgehen,<br />
deklarieren einige Firmen die Stoffe<br />
als Geschäftsgeheimnisse.<br />
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Sean Dutton hat Früh die Chancen<br />
gesehen, die Fracking bietet. Er kam<br />
vor mehr als einem Jahr aus Great Falls<br />
in Montana nach North Dakota. Der<br />
25-Jährige kannte einen, der sich mit einem<br />
Pick-up voller Werkzeug aufgemacht<br />
und in Williston ein Geschäft aufgebaut<br />
hatte. Der Kumpel stellte Leute aus Montana<br />
ein. Heute verdient Dutton mehrere<br />
Tausend Dollar in der Woche. Vor kurzem<br />
hat er daheim in Great Falls ein Haus für<br />
seine Lebensgefährtin und den gemeinsamen<br />
sechs Monate alten Sohn gekauft.<br />
Dutton und seine Kollegen reparieren<br />
Leitungen und andere marode Anlagen,<br />
die der raschen Ausdehnung der Stadt<br />
sonst nicht standhalten könnten. Ihr Arbeitsplatz<br />
liegt oft genug draußen, in der<br />
offenen Steppe. Der Winter in North Dakota<br />
kann gnadenlos sein, wenn die Ausrüstung<br />
bei Schnee, eisigem Wind und minus<br />
40 Grad schlappmacht.<br />
Duttons blaue Augen und sein blonder<br />
Schopf verbergen die Anstrengung. Doch<br />
wenn er nach zwölf oder 18 Stunden nach<br />
Hause kommt, klingt seine Stimme wie die<br />
eines alten Mannes. Er teilt sich ein Wohnmobil<br />
mit einem Mitbewohner. Der eine<br />
schläft auf einem schmalen Bett, der andere<br />
auf der Couch. „Wir gehen rüber und<br />
duschen alle in dem anderen Trailer, weil<br />
unser Wasser nicht funktioniert.“<br />
Die meisten Arbeiter in Williston<br />
ackern im Wechsel: zwei bis drei Wochen<br />
Dienst, dann eine Woche frei. In ihrer Freizeit<br />
fahren oder fliegen die meisten nach<br />
Hause, um Zeit mit ihren Familien zu verbringen.<br />
Dutton fährt die sieben Stunden<br />
nach Hause, wann immer er kann. Es ist<br />
eine anstrengende Fahrt. Aber er will die<br />
wenigen Gelegenheiten nutzen, seinen<br />
Sohn auf<strong>wachsen</strong> zu sehen. Und mit dem<br />
Geld aus Williston möchte er zugleich der<br />
Familie etwas bieten. Dutton will sich ein<br />
finanzielles Polster anlegen, einen neuen<br />
Pick-up kaufen, und seine Freundin soll<br />
auch ein neues Auto bekommen. „Aber so<br />
weit sind <strong>wir</strong> noch nicht“, sagt er. „Wir<br />
nennen es den Dreijahresplan.“<br />
Seine Frau und er streiten häufig darüber,<br />
dass er so lange weg ist. Er hadert<br />
mit dem Stress. „Bier und Whisky helfen<br />
Aus einer der besten Lagen der Pfalz stammend, zeigt sich dieser<br />
herrliche Riesling rassig frisch, mit perfekt eingebundener Säure,<br />
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manchmal“, sagt er. „Und manchmal machen<br />
sie alles noch schlimmer.“ Er würde<br />
keinem Menschen raten, nach Williston<br />
zu ziehen. „Das hier ist das Arschloch von<br />
Amerika.“<br />
Duttons Einsatzorte liegen normalerweise<br />
mehrere Meilen von Williston entfernt.<br />
Meist kommt er nur zum Einkaufen<br />
in die Stadt, dann steht er anderthalb<br />
Stunden bei Wal-Mart an der Kasse in der<br />
Schlange. Wer einen draufmachen will,<br />
muss sich auf ein gewisses Maß an Chaos<br />
gefasst machen, sagt Dutton. Ungefähr einmal<br />
pro Woche gebe es eine Messerstecherei<br />
oder eine Schießerei.<br />
Die beiden Striptease-Klubs der Stadt,<br />
das Whispers und das Heartbreakers, dürfen<br />
nicht mehr mit Waffen betreten werden.<br />
„Einmal kamen <strong>wir</strong> gerade von der Arbeit,<br />
also mussten <strong>wir</strong> unsere Messer abliefern“,<br />
sagt Dutton. „Und da war dieser <strong>wir</strong>klich<br />
dubiose Typ, der packte ungefähr, ich sag<br />
mal, sechs Messer aus. Er gab sie ab, und<br />
<strong>wir</strong> dachten: Scheiße, Mann.“<br />
Im Zentrum von Williston beobachtet<br />
eine Angestellte der Handelskammer einen<br />
Mann in staubigen Arbeitskleidern,<br />
der das Büro verlässt. Sie hebt die Augenbrauen,<br />
geht zu einem Nebenraum und<br />
schließt die Tür ab. Könnte ja einer den<br />
Fernseher klauen, sagt sie. Die Angestellte<br />
und ihre Kollegin, Lee, wollen ihre Nachnamen<br />
nicht veröffentlicht sehen. Eigentlich<br />
darf nur ihr Boss mit Journalisten reden.<br />
Und der ist diese Woche auf Urlaub.<br />
Wenn Lee von Leuten hört, die mit<br />
dem Gedanken spielen, nach Williston<br />
zu ziehen, rät sie ihnen stets, sich erst<br />
mal nach einer Bleibe umzusehen. In der<br />
Stadt leben geschätzte 15 000 Menschen<br />
auf Zeit. Eine Dreizimmerwohnung kostet<br />
2200 Dollar Miete im Monat und mehr.<br />
Bevor die ersten neuen Hotels eröffnet wurden,<br />
wohnten die meisten Zugezogenen in<br />
Autos, Zelten und Wohnmobilen. Dann<br />
fing die Polizei an, sich die Camper genauer<br />
anzuschauen. „Da standen sechs bis<br />
sieben Wohnmobile in einem Hinterhof,<br />
ans öffentliche Stromnetz gekoppelt, und<br />
die Leute pinkelten in die Gasse, und das<br />
Ganze wurde zur Gefahr für die öffentliche<br />
Gesundheit. Das haben die dann abgestellt.<br />
Zu Recht.“<br />
Lee freut sich auf die Zukunft. Jüngsten<br />
Schätzungen zufolge <strong>wir</strong>d die Einwohnerzahl<br />
von Williston bis 2017 auf 44 000<br />
Die beiden<br />
Striptease-Klubs<br />
der Stadt dürfen<br />
nicht mehr mit<br />
Waffen betreten<br />
werden. „Einmal<br />
war da dieser<br />
<strong>wir</strong>klich dubiose<br />
Typ, der packte<br />
ungefähr sechs<br />
Messer aus, und<br />
<strong>wir</strong> dachten:<br />
Scheiße, Mann“,<br />
sagt Dutton<br />
steigen. „Es ist doch toll zuzuschauen, wie<br />
hier eine echte Stadt heranwächst“, sagt<br />
Lee. Die Sorgen hält sie für übertrieben.<br />
Die Menschen verbreiteten eben gern Geschichten<br />
über Schießereien. Ihr habe der<br />
Sheriff neulich geholfen, einen platten Reifen<br />
zu wechseln. Solche Geschichten erzähle<br />
aber niemand. „Lieber stricken alle<br />
am Wildwest-Mythos Williston.“<br />
Auf der anderen Straßenseite, wenige<br />
Schritte von der Handelskammer entfernt,<br />
befinden sich die Oben-ohne-Bars, wo das<br />
Waffenverbot herrscht. Vor ein paar Wochen<br />
verloren sie auch noch die Schanklizenz,<br />
nachdem ein 28-Jähriger auf dem<br />
Parkplatz erschossen worden war.<br />
Am anderen Ende der Stadt, in einer<br />
Kneipe namens DK’s Lounge and Casino,<br />
grölt ein Haufen Jungs in sauberen Jeans<br />
und T-Shirts. Sie fotografieren sich mit ihren<br />
iPhones. Ein Typ im weißen Hemd, das<br />
unter dem Schwarzlicht blau glüht, geht<br />
zur Bar und bestellt sechs Wodka Red Bull.<br />
„Aber mit Grey Goose!“, verlangt er, also<br />
den Premium-Wodka aus Frankreich.<br />
Ein Aushang für das Gericht des Tages<br />
ist nirgends zu sehen. Sonderangebote gibt<br />
es nicht. Die Kunden, alles junge Männer<br />
und Frauen in den Zwanzigern, zahlen bar.<br />
Geld haben sie genug.<br />
Ein paar Frauen, die Blackjack spielen,<br />
werden von einem Schrei abgelenkt. Alle<br />
Augen richten sich aufs andere Ende der<br />
Kneipe, wo zwei Jungs gerade dabei sind,<br />
sich in die Haare zu kriegen. Für den Moment<br />
herrscht gespannte Ruhe. Ein Rausschmeißer<br />
geht auf die Kampfhähne zu, die<br />
setzen ein Lächeln auf – und alle widmen<br />
sich wieder ihren Drinks.<br />
Für den Sheriff von Williams County,<br />
Scott Busching, gehören Schlägereien in<br />
der Innenstadt zur Routine. „Autounfälle<br />
beschäftigen uns. Kneipenschlägereien.<br />
Häusliche Gewalt. Diebstähle“, sagt er.<br />
„Und, natürlich, Alkohol am Steuer.“ Busching<br />
berichtet, die Zahl der Verbrechen<br />
sei zwar gestiegen, entspreche aber vergleichbaren<br />
Landkreisen von 50 000 Einwohnern.<br />
Im Sommer, wenn weitere Bohrtürme<br />
errichtet werden, muss er vielleicht<br />
noch Hilfssherrifs einstellen, aber momentan<br />
läuft sein Laden. „Wir können uns<br />
behaupten.“<br />
Und die Natur? Die US-Umweltbehörde<br />
EPA hat für 2014 die Veröffentlichung<br />
einer Studie zu möglichen Aus<strong>wir</strong>kungen<br />
von Fracking auf Wasserquellen<br />
angekündigt. Der Bundesstaat New York<br />
hat bis dahin ein Moratorium gegen Fracking-Projekte<br />
verhängt. In North Dakota<br />
dagegen wurde bekannt, dass einer der<br />
Kandidaten für den Senatssitz des Bundesstaats,<br />
Rick Berg, beträchtliche Spenden<br />
von Ölfirmen bekam. Er war schon immer<br />
ein Verfechter von Ölinteressen. Gewonnen<br />
hat er den Senatssitz nicht.<br />
Ryan Frey, der Ingenieur, der nicht<br />
als Fliegenfischer alt werden wollte, hat<br />
keine Bedenken. Das Fracking in North<br />
Dakota werde nicht so nah an Grundwasser<br />
vorkommen, dass man sich Sorgen machen<br />
müsse. „Zu anderen Gegenden kann<br />
ich nichts sagen“, sagt er. „Aber ich hoffe<br />
doch, dass die schlau genug sind, so etwas<br />
zu verhindern.“<br />
Mit zwei Joghurtbechern in der Hand<br />
schlurft Frey über den staubigen Kies zurück<br />
zu seinem Lager. Derweil biegt ein leuchtend<br />
weißer Bus auf den Parkplatz hinter<br />
ihm ein, bereit, eine neue Ladung Arbeiter<br />
hinaus in die Nacht zu befördern.<br />
Mike Gerrity<br />
ist Reporter in Missoula, Montana.<br />
In Williston erwog er kurz, als Ölarbeiter<br />
reich zu werden. Aber die<br />
Hektik des Ortes schreckte ihn ab<br />
Foto: Privat<br />
94 <strong>Cicero</strong> 6.2013
| K a p i t a l | F r a c k i n g<br />
„Ein VErbot hilft keinem“<br />
Der Chemie-Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis kämpft gemeinsam mit dem<br />
Arbeitgeberverband BDI für die umstrittene Förderung von Schiefergas in Deutschland<br />
H<br />
err Vassiliadis, sind Sie eigentlich<br />
Biertrinker?<br />
Ich trinke lieber Wein.<br />
Haben Sie deshalb kein Problem damit,<br />
das deutsche Reinheitsgebot zu gefährden<br />
durch den Einsatz der umstrittenen<br />
Fracking-Technologie zur Gasförderung in<br />
Deutschland?<br />
Ich mag auch Bier, und ich habe gar kein<br />
Interesse daran, das Reinheitsgebot zu<br />
gefährden. Wir nehmen die Sorgen aller<br />
Beteiligten, auch der Bierbrauer um die<br />
Sauberkeit des Brauwassers, sehr ernst.<br />
Der Schutz des Wassers hat allerhöchste<br />
Priorität. Die Problematik ist aber auch<br />
nicht ganz neu, denn <strong>wir</strong> betreiben schon<br />
seit 750 Jahren Bergbau in Deutschland<br />
und hatten auch dabei immer die Sicherung<br />
der Wasserqualität auf dem Schirm.<br />
Dabei wurde aber bisher darauf verzichtet,<br />
mit hohem Druck Wasser, Sand und giftige<br />
Chemikalien in tiefe Gesteinsschichten<br />
zu pumpen, um dort vorhandenes<br />
Erdgas oder Öl förderbar zu machen.<br />
Der Einsatz chemischer Mittel ist schon<br />
heute eindeutig gesetzlich geregelt und<br />
sollte beim Fracking meines Erachtens<br />
so weit wie möglich minimiert werden.<br />
Man muss aber auch die geologischen<br />
Voraussetzungen für Fracking sehen. In<br />
Deutschland liegen die Gesteinsebenen,<br />
aus denen das Schiefergas gelöst<br />
werden soll, sehr weit unterhalb der<br />
Grundwasserebene.<br />
Welches <strong>wir</strong>tschaftliche Potenzial hat das<br />
Fracking in Deutschland?<br />
Nennenswerte Vorkommen gibt es vor<br />
allem in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.<br />
Das ist nicht vergleichbar<br />
mit den riesigen Vorkommen in den<br />
USA, wo die Förderung von Schiefergas<br />
Michael Vassiliadis steht seit<br />
2009 an der Spitze der IG<br />
Bergbau, Chemie, Energie. Als<br />
Arbeitnehmervertreter sitzt er im<br />
Aufsichtsrat von BASF und Henkel<br />
und Schieferöl die Energiepreise deutlich<br />
hat sinken lassen. Aber der Wert des in<br />
Deutschland vorhandenen unkonventionellen<br />
Erdgases, das nur per Fracking förderbar<br />
ist, <strong>wir</strong>d immerhin auf rund eine<br />
Billion Euro geschätzt.<br />
Das Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung<br />
in Mannheim argumentiert<br />
genau andersherum. Fracking in Deutschland<br />
sei bei den günstigen Gaspreisen<br />
überhaupt nicht <strong>wir</strong>tschaftlich.<br />
Wenn es sich nicht rechnet, <strong>wir</strong>d es keiner<br />
machen. Wir dürfen aber nicht vergessen,<br />
dass <strong>wir</strong> ein rohstoffarmes Land<br />
sind. Das Fördern eigener Gasvorkommen<br />
gäbe uns grundsätzlich die Möglichkeit,<br />
unsere Abhängigkeit von Importen<br />
aus Russland und Norwegen zu<br />
verringern und die Energieversorgung<br />
des Industriestandorts Deutschland zu<br />
stabilisieren.<br />
Aber warum konzentrieren <strong>wir</strong> uns nicht<br />
lieber auf die konsequente Umsetzung der<br />
Energiewende, statt uns der Illusion hinzugeben,<br />
dass <strong>wir</strong> per Fracking das fossile<br />
Zeitalter verlängern können?<br />
Sie klammern einen entscheidenden Aspekt<br />
der Energiewende aus. Wir sind das<br />
einzige Land der Welt, das sich eine so<br />
fundamentale Wende verordnet hat. Die<br />
Entscheidung gegen den Einsatz von<br />
Kernenergie, die ich richtig finde, hat<br />
eine 30 Jahre währende Debatte in diesem<br />
Land beendet. Damit ist das Thema<br />
aber nicht erledigt, weil eine Lücke von<br />
22 Prozent bei der Energieversorgung<br />
entstanden ist.<br />
Die <strong>wir</strong> mit erneuerbaren Energien füllen<br />
wollen.<br />
Ja, aber das geht nicht von heute auf<br />
morgen. Mir <strong>wir</strong>d über diese gewaltigen<br />
Foto: Andrej Dallmann für <strong>Cicero</strong><br />
96 <strong>Cicero</strong> 6.2013
sozialen, technischen, <strong>wir</strong>tschaftlichen<br />
und politischen Herausforderungen, die<br />
sich daraus ergeben, zu wenig diskutiert.<br />
Die AKW-Gegner überspringen diese<br />
Debatte einfach und verlangen jetzt den<br />
sofortigen Ausstieg aus Kohle und Gas<br />
und stellen mit diesen Fundamentalforderungen<br />
die größte Gefahr für die Umsetzung<br />
der Energiewende dar. Wir brauchen<br />
Brückentechnologien wie effiziente<br />
neue Gas- oder Kohlekraftwerke, um das<br />
Ziel einer Energieversorgung aus erneuerbaren<br />
Energien längerfristig überhaupt<br />
erreichen zu können.<br />
Aber ist Fracking Teil einer sinnvollen<br />
Brückentechnologie? Wollen <strong>wir</strong> nicht die<br />
in Deutschland im Zusammenhang mit der<br />
Energiewende entwickelten Technologien<br />
auch exportieren? In den USA hat der<br />
Fracking-Boom dafür gesorgt, dass der<br />
Ausbau von Wind- und Sonnenenergiegewinnung<br />
fast vollständig zum Erliegen<br />
gekommen ist.<br />
Das stimmt, aber <strong>wir</strong> müssen in Deutschland<br />
realistisch bleiben. Wir haben es<br />
nicht geschafft, unsere klima- und umweltpolitischen<br />
Vorstellungen international<br />
gegen die Interessen von Ländern<br />
wie China, Indien oder den USA<br />
durchzusetzen.<br />
Heißt das, <strong>wir</strong> können den Klimaschutz<br />
aus den Augen verlieren?<br />
Nein, überhaupt nicht. Aber <strong>wir</strong> müssen<br />
erkennen, dass <strong>wir</strong> nicht alleine auf der<br />
Welt sind. Unsere Rolle in Deutschland<br />
muss es sein, den technologischen Fortschritt<br />
in der Energieversorgung zu entwickeln.<br />
Wir haben das Know-how für<br />
eine weltweite Modernisierung, ob es um<br />
die Gewinnung, die Erzeugung oder den<br />
Einsatz von Energie geht. Das kann auch<br />
unser wesentlicher Beitrag zum Klimaschutz<br />
sein. Das wäre viel wichtiger, als<br />
nur Vorbild und Zielweltmeister bei der<br />
CO2-Reduktion zu sein. Auf dem Gebiet<br />
könnten uns die Amerikaner ohnehin<br />
bald überholen.<br />
Wie das denn?<br />
Durch den Einsatz von Fracking haben<br />
sie viel Erdgas, das in der CO2-Bilanz<br />
besser ist als Steinkohle, die sie ebenfalls<br />
fördern. Die Kohle werden sie exportieren,<br />
das Gas nutzen sie selbst. Hinzu<br />
kommt, dass sie trotz aller Risiken und<br />
ungeachtet der ungelösten Endlagerung<br />
weiterhin auf Kernenergie setzen, was<br />
ebenfalls die CO2-Bilanz verbessert. Am<br />
Ende werden sie uns vorhalten, dass ihr<br />
Beitrag zur Klimaerwärmung pro Kopf<br />
niedriger ist als bei uns.<br />
Aber warum setzt sich die IG BCE als<br />
Gewerkschaft so sehr für das Fracking in<br />
Deutschland ein, dass Sie selbst mit dem<br />
Präsidenten des Arbeitgeberverbands BDI<br />
Ulrich Grillo einen gemeinsamen Brief an<br />
die Bundesregierung geschrieben haben?<br />
Die IG BCE ist fachlich und inhaltlich<br />
zuständig für das Thema. Der Brief sollte<br />
einen Impuls zu einer sachlichen Debatte<br />
geben. Wir haben uns zu dem Schreiben<br />
mit dem BDI entschieden, weil ein Fracking-Verbot<br />
in Deutschland niemandem<br />
hilft.<br />
Was genau erwarten Sie von der Politik?<br />
Sie sollte sich hüten, durch ein generelles<br />
Verbot dauerhaft die Weiterentwicklung<br />
dieser Technologie zu blockieren. Nordrhein-Westfalen<br />
hat bereits Mitte Dezember<br />
eine vernünftige Entschließung zum<br />
Fracking in den Bundesrat eingebracht.<br />
Mittlerweile gibt es dazu auch einen gemeinsamen<br />
Referentenentwurf des Wirtschafts-<br />
und Umweltministeriums. Der<br />
sieht Bohrverbote in Wasserschutzgebieten<br />
vor sowie strenge Umweltverträglichkeitsprüfungen<br />
und eine Minimierung<br />
des Einsatzes von Chemikalien. Das unterstützt<br />
die IG BCE – und nun auch der<br />
BDI. Die Industrie hatte sich ja lange für<br />
eine uneingeschränkte Erlaubnis von Fracking<br />
eingesetzt.<br />
Wird das noch in dieser Legislaturperiode<br />
entschieden?<br />
Das hoffe ich, aber <strong>wir</strong> befinden uns im<br />
Wahlkampf, und die Vertreter der Regierungsfraktionen<br />
räumen überraschend offen<br />
ein, dass sie das Thema deshalb am<br />
liebsten auf Eis legen würden. Aber das<br />
geht nicht, weil es sich um eine wichtige<br />
energiepolitische Frage für unser<br />
Land handelt. Wir müssen die Sorgen der<br />
Leute ernst nehmen, die Technologie vor<br />
Ort erläutern und dürfen der Diskussion<br />
nicht aus dem Weg gehen.<br />
Entstehen bei einer Genehmigung des<br />
Frackings neue Arbeitsplätze in Ihrer<br />
Branche?<br />
Öl- und Gasförderung ist sehr technikintensiv,<br />
da ist kein Jobwunder zu erwarten.<br />
Aber es geht trotzdem auch um Arbeitsplätze<br />
in diesem Land, weil dahinter<br />
Technologie- und Wertschöpfungsketten<br />
stehen. Wir sind führend im Bergbauingenieurwesen,<br />
in der Explorations- und<br />
Bohrtechnologie, diese Stellung müssen<br />
<strong>wir</strong> als Industrienation verteidigen. Es<br />
gibt eine latente Bereitschaft in unserer<br />
Gesellschaft, diese Kompetenzen leichtfertig<br />
aufzugeben. Das ist falsch.<br />
Fürchten Sie um die Wettbewerbsfähigkeit<br />
der Chemiebranche aufgrund der<br />
Energiekosten?<br />
Die Wettbewerbsfähigkeit speist sich aus<br />
verschiedenen Quellen, von denen die<br />
Energiekosten gerade in der Chemieindustrie<br />
eine der wichtigsten sind. Höhere<br />
Energiepreise und ein ordentliches Lohnniveau<br />
haben <strong>wir</strong> bisher mithilfe technologischer<br />
Kompetenz kompensiert. Aber<br />
wenn <strong>wir</strong> das Beispiel Gas nehmen, <strong>wir</strong>ken<br />
sich die viel niedrigeren Preise in den<br />
USA doppelt aus, weil Gas in der Chemieindustrie<br />
nicht nur Energieträger ist,<br />
sondern auch Rohstoff, den <strong>wir</strong> veredeln.<br />
Das kann schnell zu einem gravierenden<br />
Standortnachteil werden. Jede Investitionsentscheidung,<br />
auf die der Gaspreis einen<br />
wesentlichen Einfluss hat, <strong>wir</strong>d im<br />
Moment neu berechnet. Die Unternehmen<br />
werden deswegen nicht sofort deutsche<br />
Anlagen schließen, aber die nächste<br />
Investition vielleicht eher in den USA tätigen.<br />
Wir müssen aufpassen, sonst wandert<br />
Zug um Zug die Industrie ab.<br />
Warum setzen die Unternehmen nicht auf<br />
eine Verbesserung der Energieeffizienz?<br />
Machen sie ja. Aber es geht nicht alles auf<br />
einmal. Natürlich benötigt die Chemieindustrie<br />
in der Herstellung viel Energie.<br />
Aber ohne Chemieindustrie gibt es auch<br />
keine Energiewende. Wir entwickeln die<br />
Hochleistungskunststoffe für Windräder,<br />
die Lackierungen, die sie offshoretauglich<br />
machen, und auch in der Solarenergie<br />
steckt viel Chemie. Das sind Kernkompetenzen,<br />
die auch in Zukunft unverzichtbar<br />
sind. Wir können es uns als Industrienation<br />
nicht erlauben, nur noch<br />
bei einer Disziplin vorne zu sein: dem<br />
Aussteigen aus Technologien.<br />
Das Gespräch führte Til Knipper<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 97
| S t i l<br />
GEWEIHE AN DIE WAND<br />
Eine gutbürgerliche Straße, Blümchentapete, Schmerzen. Zu Besuch bei der Tätowiererin Sara Bolen<br />
von LENA BERGMANN<br />
D<br />
as ältere Paar aus dem Schwabenland<br />
versucht, durch die Fensterfront<br />
ins Innere des Ladenlokals<br />
zu spähen. „Isch des a Reschdoront?“ Der<br />
rote Samtvorhang und der geschwungene<br />
Schriftzug haben sie offenbar neugierig gemacht.<br />
Der Name „Black Mirror Parlour“<br />
weist allerdings in keine offensichtliche kulinarische<br />
Richtung. Die Kreuzberger Fichtestraße<br />
ist nämlich vor allem für ihre Restaurants<br />
bekannt. Touristen zieht es ins<br />
„Hartmanns“, ein österreichisches Sternelokal,<br />
oder ins „Le Cochon Bourgeois“, wo<br />
auch Jürgen Trittin gelegentlich gesichtet<br />
<strong>wir</strong>d. Gerne zeigen Taxifahrer ihren Kunden,<br />
wo Walter Momper wohnt, Berlins<br />
ehemaliger Bürgermeister.<br />
Bei Momper schräg gegenüber, im Ladenlokal<br />
mit der Hausnummer 25, ist nun<br />
seit ein paar Monaten der „Black Mirror<br />
Parlour“ zu Hause, der von außen so einladend<br />
wie ein Restaurant oder ein hochwertiges<br />
Antiquariat <strong>wir</strong>kt. Stilsichere Blumentapete,<br />
ein geschwungenes Sofa, davor<br />
ein großer Strauß auf dem Biedermeiertisch.<br />
Doch hinter den schwarz lackierten<br />
Flügeltüren legt sich hier täglich eine internationale<br />
Klientel auf eine Holzliege mit<br />
Lederbezug, um sich stundenlang unter<br />
Schmerzen feine Nadeln in die Haut stechen<br />
zu lassen.<br />
Hätte das schwäbische Rentnerpaar<br />
die Betreiberin im Türrahmen stehen sehen,<br />
in knappen Shorts und ärmelfreiem<br />
Top, hätte es wohl nicht weiter nach der<br />
Menükarte gesucht. Von weitem sieht Sara<br />
Bolen so aus, als trüge sie einen Ganzkörperanzug<br />
aus zarter schwarzer Spitze. Bei<br />
näherem Hinschauen ziehen sich über ihre<br />
nackten Gliedmaßen Schiffe in rauem Wellengang,<br />
Vögel mit gebogenen Schnäbeln<br />
und scherenschnittartige Menschenköpfe,<br />
eingefasst in ornamentale Rahmen. Von<br />
ihrem Kehlkopf mustert das Gegenüber<br />
ein Auge. Natürlich war auch der Vermieter<br />
zu Beginn von ihrem Aussehen irritiert,<br />
erzählt Bolen, „und wie alle anderen<br />
Vermieter war er von der Idee eines Tattoo-<br />
Studios in seinem Haus nicht begeistert.“<br />
Doch als die Kanadierin während der Besichtigung<br />
in holprigem Deutsch von der<br />
Bausubstanz schwärmte und radebrechend<br />
darlegte, wie sie die triste Zahnarztpraxis<br />
in ein optisches Schmuckkästchen verwandeln<br />
würde, war er gerührt. Es dürfte auch<br />
eine Rolle gespielt haben, dass Bolen, wenn<br />
man die Tattoos ausblendet, wie ein braves<br />
Vorstadtmädchen <strong>wir</strong>kt, das ein wenig lispelt<br />
und viel kichert.<br />
„Ich wollte Tätowiererin werden, seit<br />
ich mich als Kind für Musik interessiert<br />
habe“, erinnert sich Bolen. „Alle, die ich<br />
cool fand, waren tätowiert. Ich war immer<br />
das einzige Mädchen, das sich im örtlichen<br />
Tattoo-Studio rumgetrieben hat.“ Jedes<br />
Tattoo auf ihrem heute beinahe vollends<br />
bedeckten Körper symbolisiert für sie etwas<br />
Persönliches – wie viele ihrer Kunden nutzt<br />
sie das Tattoo auch als Markierung eines<br />
Lebensabschnitts. Mit 22 griff sie erstmals<br />
selbst zur Nadel, mittlerweile praktiziert<br />
sie die Kunst am Körper seit zwölf Jahren.<br />
Unter Tätowierern gibt es eine Faustregel:<br />
Nach zehn Jahren ist man gut. Und wer gut<br />
ist, kann auch gut verdienen.<br />
Die Branche hat sich zu einer Edelindustrie<br />
entwickelt. Tattoos waren schon immer<br />
subkulturelle Statussymbole, doch<br />
Berühmtheiten tragen sie heute wie Designer-Taschen.<br />
Auf den Internetseiten großer<br />
Salons werden Meisterstecher selbstbewusst<br />
als Künstler vermarktet, es gibt<br />
Fachzeitschriften und internationale Messen.<br />
Gute Motive landen auf Online-Plattformen<br />
wie Instagram und Pinterest, wo<br />
man Detail aufnahmen findet. So verbreitet<br />
sich auch die Arbeit von Bolen. Der Darwin,<br />
den sie einem Holländer in die Haut<br />
gebrannt hat, erregte zum Beispiel viel Aufsehen.<br />
Das gleiche Motiv sticht sie jedoch<br />
nie. Wenn ein Kunde sich meldet, hat er<br />
meist schon eine ungefähre Vorstellung.<br />
Bolen setzt sich dann hin und macht eine<br />
Skizze – die der Kunde erst sieht, wenn er<br />
das Studio betritt.<br />
Mit dem Berliner Kreativprekariat, seinen<br />
Co-Working-Spaces und Dumping-<br />
Preisen hat Bolens Berufsalltag wenig zu<br />
tun. Sie wacht morgens ohne Wecker auf,<br />
zeichnet sich ein paar Stunden warm und<br />
ent<strong>wir</strong>ft Motive, bevor sie ab ein Uhr im<br />
Laden ihre Kunden empfängt. Sie konzentriert<br />
sich auf eine Person am Tag und richtet<br />
sich zeitlich nach ihren Kunden und deren<br />
Ankunftszeiten – denn meist fliegen sie<br />
von irgendwo ein. Der Preis für ein einfaches<br />
Tattoo beginnt bei 250 Euro. Doch in<br />
der Regel sticht sie komplexe, ineinander<br />
übergehende Motive, bei denen sich die<br />
Honorare schnell summieren.<br />
So hat sich die Ästhetin eine komplette<br />
Renovierung des Ladens finanzieren können.<br />
Es half, dass sie auch einen Abschluss<br />
in Interior Design hat: „Als ich vor Jahren<br />
eine Phase hatte, in der ich beim Tätowieren<br />
nicht besser wurde, schrieb ich mich<br />
zum Studium in Vancouver ein.“ Dort<br />
zeichnete sie alles mit der Hand, während<br />
ihre Kommilitonen digital planten. Die<br />
vornehm-anrüchige, in bestem Sinne altmodische<br />
Einrichtung des Studios trägt<br />
dazu bei, dass ihre Kunden, meist im Alter<br />
von 20 bis 45, sich trotz Schmerzen beim<br />
Stechen wohl fühlen. Kein Neonlicht über<br />
einem Plastiksitz auf Fliesenboden wie in<br />
anderen Studios. Bolen serviert Kaffee mit<br />
Biomilch, Musik spielt gegen das Surren der<br />
Tätowiernadeln an. Das Altmodische setzt<br />
sich fort in ihrer Arbeit: Im Trend sind wieder<br />
Motive aus den Anfängen der Tätowier-<br />
Kultur, Seemannsmotive wie Anker, Rosen<br />
mit Schriftzügen oder Herzen. Geweihe, so<br />
viel ist klar, gibt es bei Sara Bolen nicht am<br />
A., sondern nur an der Wand.<br />
LENA BERGMANN<br />
leitet bei <strong>Cicero</strong> das Stil-Ressort<br />
Fotos: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong>, Privat (Autorin)<br />
98 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Eine Freundin hat<br />
Sara Bolen geraten:<br />
„Du bist jung, du bist<br />
kreativ, du musst nach<br />
Berlin.“ Hier sitzt<br />
sie in ihrem Salon<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 99
| S t i l<br />
„Männerhaut ist sexy“<br />
Der New Yorker Designer Thom Browne über Uniformen, Michelle Obama und die Mode der Verknappung<br />
H<br />
err Browne, Sie tragen einen engen<br />
grauen Anzug mit schmaler<br />
grauer Krawatte und weißem<br />
Hemd – wie immer?<br />
So ziehe ich mich jeden Tag an. Diese Sachen<br />
mache ich nur für mich, die Kollektionen<br />
sind für die anderen. Der klassische<br />
graue Anzug – das bin ich, das ist<br />
meine Uniform. Ich mag die Idee der<br />
Uniformität und des Selbstvertrauens,<br />
das die Uniform verlangt. Sie ist ein sehr<br />
mächtiges Kleidungsstück.<br />
Soll die Uniform nicht eher Selbstvertrauen<br />
verleihen statt es vorauszusetzen?<br />
Es liegt eine ganz reale Macht darin, seiner<br />
Identität zu trauen und sich darauf<br />
zu verlassen, dass man interessanter ist als<br />
das, was man anhat.<br />
Die Kluft für den Mann, der Anzug, wurde<br />
vor rund 200 Jahren etabliert und hat<br />
sich kaum verändert, wohingegen sich<br />
die weibliche Kleidung ungeheuren<br />
Wandlungen unterzogen hat. Wo finden<br />
Sie Ihren klassischen Ansatz für die<br />
Frauenmode?<br />
Mein Ansatz ist der gleiche für Männerund<br />
Frauenmode: Ausgangspunkt sind<br />
klassische Hemden und Jacken, die ich<br />
dann weiterentwickle. Ich verwende auch<br />
sehr gerne typische Herrenstoffe wie Flanell<br />
in der Frauenmode und umgekehrt,<br />
zum Beispiel Brokat für Herren.<br />
Ihr Vater trug seinen Anzug ganz souverän<br />
und hat Sie stark beeinflusst – gibt es für<br />
Frauen auch ein Kleidungsstück, das so<br />
selbstverständlich Macht vermittelt?<br />
Das Ensemble aus Kleid und Mantel, das<br />
ich für Michelle Obama entworfen habe,<br />
sollte diese Power vermitteln, und das<br />
ist mir auch gelungen. Ein präzise geschneidertes<br />
Kleidungsstück strahlt immer<br />
mehr Macht aus als lose, weniger definierte<br />
Garderobe.<br />
Die Macht sitzt also in den exakten<br />
Nähten. Aber unterminieren Sie mit Ihren<br />
kurzen Hosenbeinen und den knappen,<br />
kurzen Jacketts nicht die traditionelle<br />
Autorität des Herrenanzugs?<br />
Ich sehe das eher unter dem Gesichtspunkt<br />
des Selbstvertrauens, das sich<br />
durch individuelle und ungewöhnliche<br />
Sachen überträgt. Mir geht es darum,<br />
dass die Sachen sitzen. Die meisten<br />
Leute tragen sie nicht so eng wie ich,<br />
aber grundsätzlich kreiere ich einen Anzug,<br />
der nicht so überwältigend und damit<br />
so unmodisch ist, wie die traditionelle<br />
Version es nun schon so lange ist.<br />
Mit seiner Masse passt der gängige Anzug<br />
nur zur Arbeit, zum Ausgehen ist er nicht<br />
gedacht. Mein Anzug funktioniert immer.<br />
Europäer assoziieren mit kurzen Anzughosen<br />
das Image des typischen Amerikaners<br />
aus Filmen der fünfziger und sechziger<br />
Jahre – einer Ära, die Sie inspiriert.<br />
Ich beziehe mich gern auf eine Zeit, die<br />
einfacher war als die unsere. Und ich<br />
finde dieses knappe Stückchen Haut bei<br />
Männern auch sexy.<br />
Nicht für Frauen – die wurden wieder in<br />
die häusliche Sphäre verbannt, nachdem<br />
sie sich während des Krieges in der Berufswelt<br />
bewährt hatten.<br />
Ich politisiere meine Arbeit nicht. Für<br />
mich ist es interessanter, ein Kleid aus<br />
dieser Epoche für eine zeitgenössische<br />
junge Frau so zu gestalten, dass es ihr Power<br />
gibt, als davor zurückzuschrecken,<br />
was es einmal bedeutet haben mag. Michelle<br />
Obama ist das perfekte Beispiel:<br />
Sie trägt köpernah geschnittene, taillierte<br />
Kleider mit einem etwas weiteren Rock<br />
voller Selbstbewusstsein, und sie ist zweifelsohne<br />
eine mächtige Frau.<br />
Was hat Sie dazu bewogen, in die Frauenmode<br />
einzusteigen?<br />
Ich brauchte Zeit, um eine Kollektion<br />
zu entwickeln. Das Letzte, was die Welt<br />
braucht, ist mehr weibliche Mode: Ich<br />
empfinde es als Herausforderung, Kleider<br />
mit einer hieb- und stichfesten Existenzberechtigung<br />
zu entwerfen. Ich wünsche<br />
mir, dass Frauen diese Kleider ihr Leben<br />
lang besitzen. Das tue ich mir an.<br />
Sie sehen sich als Provokateur?<br />
Ich konfrontiere Leute gern mit Ideen,<br />
die sie herausfordern. Das ist meine Aufgabe.<br />
Wie meine weißen Tennissocken,<br />
die aus den Schuhen herausgucken. Und<br />
wenn auf einmal meine Sachen allen gefielen,<br />
würde ich mir auch Sorgen machen.<br />
Schließlich will ich meinen Stachel<br />
nicht verlieren.<br />
Sie leben in einem spartanischen Apartment<br />
und zugleich aber arbeiten Sie für<br />
eine höchst materialistische Industrie.<br />
Wie passt das zusammen?<br />
Ich will nur ein paar wenige, gut konzipierte<br />
und gut gemachte Dinge besitzen.<br />
Viel zu haben und zu konsumieren, interessiert<br />
mich nicht.<br />
Sie haben keine exzessiven Tendenzen?<br />
Ich trinke manchmal zu viel. Ich lebe gut,<br />
aber ich kann mich kontrollieren.<br />
Humor ist die schwierigste Attitüde in der<br />
Mode – es ist nur ein kleiner Schritt von<br />
der Ironie zur Lächerlichkeit.<br />
Ironie und Lächerlichkeit liegen dicht nebeneinander,<br />
ebenso wie Mode und Kostümierung<br />
nicht weit voneinander entfernt<br />
sind. Ich nehme alle meine Ideen<br />
und Bezugspunkte ernst, aber ich will es<br />
mit leichter Hand tun – wenn man die<br />
Dinge zu ernst nimmt, <strong>wir</strong>d alles sehr<br />
langweilig.<br />
Das Gespräch führte Claudia Steinberg<br />
Foto: Karin Kohlberg für <strong>Cicero</strong><br />
100 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Zeigt her eure Knöchel.<br />
Thom Browne im Flagship<br />
Store in Manhattan. Wenige<br />
Modemacher werden<br />
derzeit so häufig kopiert<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 101
| S t i l | K R A W A T T E<br />
102 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Strategischer<br />
Stofflappen<br />
Spitzenpolitiker weltweit trauen sich, die Krawatte<br />
auch mal wegzulassen. Wann ist sie verzichtbar?<br />
von Katrin Wilkens<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 103
| S t i l | K R A W A T T E<br />
S<br />
ie baumelt herab, engt den Kehlkopf<br />
ein und titscht in die Suppe,<br />
wenn man nicht aufpasst. Die<br />
Krawatte ist eigentlich das lächerlichste<br />
aller westlichen Männer-Machtsymbole,<br />
schlimmer als militärische<br />
Schulterklappen. Schon die Synonyme<br />
zeigen, dass man zu ihr allenfalls eine ambivalente<br />
Beziehung unterhält: Schlips, Binder,<br />
Senkel – respektvoll hört sich das alles nicht<br />
an. Für fahrige Frauenhände ist ein Krawattenknoten<br />
ähnlich schlecht zu lösen wie für<br />
Männer der BH-Verschluss.<br />
Aber <strong>wir</strong> haben uns an sie gewöhnt, und<br />
so sehen bisweilen die Männer lächerlich<br />
aus, die meinen, ohne sähen sie besser aus:<br />
Philipp Rösler mit der Figur einer Aluminiumleiter,<br />
steif, wetterfest, aber am sinnvollsten<br />
eingesetzt, wenn er irgendwo anlehnt:<br />
Ohne Krawatte <strong>wir</strong>kt er teilangezogen,<br />
als trage er nur einen Socken. Frank-Walter<br />
Steinmeier, der gern mal krawattenfrei in<br />
den Medien auftritt, macht den Eindruck,<br />
als hätte ihn eine Brandschutzübung zu früh<br />
aus der Ankleide getrieben. Horst Seehofer,<br />
beim traditionellen Sommerempfang des<br />
Landtags ohne hängendes Schmuckwerk,<br />
symbolisierte mit seinem Casual Look eher<br />
Unzuverlässigkeit als Lässigkeit.<br />
Trotzdem ist es ein Signal, dass sich Politiker<br />
aller Parteien überhaupt trauen, die<br />
Krawatte wegzulassen. Wie verzichtbar ist<br />
sie? Und wann?<br />
Es sind wenige, die ohne Krawatte ausnahmslos<br />
gut angezogen <strong>wir</strong>ken. Beileibe<br />
sind es nicht per se die Grünen, die einst<br />
im Pullover in den Bundestag einzogen.<br />
Einer der überzeugten Krawattenträger ist<br />
Winfried Kretschmann.<br />
Während die meisten erfolgreichen Revolutionen<br />
von unten beginnen, ist der<br />
Schlips-Streit nur von oben zu gewinnen.<br />
In 20 Jahren <strong>wir</strong>d man von Barack Obama<br />
einige ikonografische Bilder im Gedächtnis<br />
haben: ein paar von ihm mit seiner Frau im<br />
ärmellosen Kleid, ein paar von ihm selbst<br />
im nachtblauen Anzug – und eben jenes,<br />
das ihn im Weißen Haus zeigt, als er live<br />
Osama bin Ladens Erschießung verfolgt:<br />
krawattenlos. Auch während des Wirbelsturms<br />
Sandy 2012 zeigte sich der Präsident<br />
der Vereinigten Staaten auffällig leger. „Ich<br />
bin einer von euch“, tröstete das ausgewaschene<br />
blaue Hemd, das er trug.<br />
Worte riechen leicht nach PR-Strategie,<br />
so lässt Obama lieber die Kleidung sprechen,<br />
die zwar mindestens ebenso sorgfältig<br />
ausgewählt wurde, aber immer noch den<br />
Ruch von Individualität und Spontaneität<br />
vermittelt. Als könne sich ein US-Präsident<br />
aussuchen, wann und zu welchem Anlass<br />
er Krawatte trägt!<br />
Während früher das Kleidungsprotokoll<br />
gouvernantenhaft von der strengen<br />
Erica Pappritz („Das Buch der Etikette“)<br />
verfolgt wurde, sind heute hauptsächlich<br />
Die Bedeutung<br />
der Krawatte hat<br />
sich potenziert,<br />
obwohl sie weniger<br />
getragen <strong>wir</strong>d. Sie ist<br />
Inszenierungsinstrument<br />
eines sozialen<br />
Bildungsspiels<br />
104 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Fotos: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong> (Seiten 102 bis 105)<br />
die Ehefrauen dafür zuständig zu entscheiden,<br />
was protokollarisch erlaubt und was<br />
schlichtweg daneben ist. Die Frage, wann<br />
eine Krawatte kleidet und wann der freie<br />
Kragen das richtige Signal aussendet, gehört<br />
zu einer klugen Inszenierung.<br />
„Wenn heute Politiker ohne Krawatten<br />
auftreten, dann tun sie das aus sehr strategischen<br />
Gründen“, erklärt Silke Frink.<br />
„ Obama in aufgekrempelten Ärmeln demonstriert:<br />
Trotz Freizeitlook ist er im Arbeitsmodus.<br />
Die fehlende Krawatte ist als<br />
Nicht-Symbol fast noch stärker als eine<br />
vorhandene.“<br />
Silke Frink ist Imagedramaturgin, auf<br />
Deutsch: Stilberaterin. Die Friseurmeisterin<br />
und jahrelange Maskenbildnerin von<br />
ARD und ZDF lebt heute davon, Unternehmer,<br />
Politiker und Medienmenschen zu<br />
beraten, wie sie sich individuell und dennoch<br />
angepasst an die jeweilige Unternehmenskultur<br />
kleiden, um einen souveränen<br />
Auftritt vor der Kamera oder auf dem Podium<br />
zu absolvieren. Wer zu ihrem Kundenkreis<br />
gehört, verrät sie nicht, kaum<br />
etwas wäre für einen Politiker so demütigend<br />
wie das Eingeständnis: „Früher hat<br />
mir Mami die Hemden rausgelegt, heute<br />
gehe ich zu einer Imagedramaturgin.“<br />
„Es ist vielfach schwieriger geworden<br />
als früher, sich in der modernen Arbeitswelt<br />
angemessen zu kleiden“, sagt Frink.<br />
Früher sei das anders gewesen: Der Mann<br />
über 21 Jahre hatte im öffentlichen Raum<br />
eine Krawatte zu tragen. Anders kam man<br />
nicht einmal in ein Restaurant. Also gab<br />
es auch nicht besonders originelle Varianten.<br />
Man band sich das Ding um – und<br />
gut. „Die Krawatte war früher ein männliches<br />
Rangordnungs- und Fruchtbarkeitssymbol“,<br />
sagt Frink, „es wurde nicht nur<br />
als Schmuck getragen, sondern war ein gesellschaftliches<br />
Diktat. Heute hat sich die<br />
Bedeutung der Krawatte, obwohl sie weniger<br />
getragen <strong>wir</strong>d, potenziert. Die Krawatte<br />
ist zum Inszenierungsinstrument eines<br />
sozialen Bildungsspiels geworden. Die<br />
Verantwortung, es zu beherrschen, liegt bei<br />
jedem Einzelnen. Warnung der Imagedramaturgin:<br />
„Es ist viel schlimmer, eine billige<br />
Krawatte zu tragen oder den Knoten<br />
nicht perfekt binden zu können, als keine<br />
Krawatte zu tragen.“ Politiker mit einem<br />
jungen Image à la Obama – selbst in der<br />
zweiten Amtszeit und mit 51 Jahren profitiert<br />
er noch von seinem Ruf, sportlich<br />
und deshalb tatkräftig zu sein – dürfen sich<br />
selbstverständlich auch krawattenlos zeigen,<br />
„vorausgesetzt, sie haben einen trainierten<br />
Oberkörper“.<br />
Daraus kann man schlussfolgern: Die<br />
Krawatte an sich ist wichtiger geworden,<br />
obwohl sie seltener getragen <strong>wir</strong>d. Das ist<br />
wohl so ähnlich wie mit dem englischen<br />
Königshaus: kaum noch was zu sagen – aber<br />
eine Mordssymbolkraft in den Medien.<br />
Königshaus und Krawatten: Sie sind<br />
keine Pflicht mehr, sondern Gestaltungsoptionen.<br />
Wenn man sich schon zu ihnen<br />
bekennt – dann auch mit einem gewissen<br />
Spaß am Pomp.<br />
Was für eine Wendung in der Geschichte<br />
eines Stofflappens, der ursprünglich<br />
lediglich eine reinigungsarme Erkennungsfunktion<br />
für Soldaten hatte. Zwar<br />
findet man schon beim ersten chinesischen<br />
Kaiser Halsbinden als Grabbeilage (circa<br />
200 v. Chr.) und auch die Römer schützten<br />
ihren Hals durch Toga-Umwicklungen,<br />
aber so richtig zum Einsatz kamen sie erst<br />
im Dreißigjährigen Krieg. Damals benutzten<br />
die kroatischen Söldner („ cravate“ =<br />
„Kroate“) sie statt der pflegeaufwendigen<br />
Halskrausen. Ähnlich wie bei den Parteibändern<br />
im Sportunterricht sah man auf<br />
den ersten Blick: Wer ist Freund, wer ist<br />
Feind?<br />
Männer, die diese Mode übernahmen,<br />
demonstrierten mit der Krawatte von Anfang<br />
an ihre reale oder vorgebliche Verbundenheit<br />
zum Militär.<br />
Sehr schnell nach Einführung der Krawatte<br />
im Militär trugen die Hauptleute der<br />
Kompanie Krawatten aus besserem Stoff als<br />
die bloßen Söldner. Von Anfang an signalisierte<br />
der Knoten also auch den Rang. Das<br />
ist so geblieben, nur sind die Stoffe heute<br />
edler, das Design und die Funktion durchdachter.<br />
Krawatten müssen fernsehtauglich<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 105
| S t i l | K R A W A T T E<br />
sein (kein Blau, kein wildes Muster), erkennbar<br />
teuer (Hermès), aber dennoch<br />
ganz und gar durchindividualisiert. Wäre<br />
die Krawatte ein Getränk, wäre sie heute<br />
ein edler Himbeerbrandwein. Ein destilliertes<br />
Hochkaräter-Getränk, das maßgeblich<br />
über Genuss oder Verdruss einer guten<br />
Mahlzeit entscheidet.<br />
Der bunte Hund der Krawattenindustrie<br />
sitzt in Berlin-Kreuzberg und leitet<br />
Deutschlands einzige Krawattenmanufaktur<br />
„Edsor“, kontrastreich zwischen Dönerbude<br />
und Telefonladen. Zwanziger-Jahre-<br />
Chic über einem verranzten Hinterhof.<br />
Es gibt in der Politik<br />
wenige, die ohne<br />
Krawatte immer<br />
gut angezogen sind.<br />
Der Casual Look<br />
symbolisiert dann<br />
eher Unzuverlässigkeit<br />
statt Lässigkeit<br />
Jan-Henrik Scheper-Stuke sieht aus<br />
wie ein gepellter Abtanzballschüler. Muttis<br />
Liebling, Gelfrisur, Handkuss. „Natürlich<br />
geht der Kulturtrend, Krawatten zu kaufen,<br />
zurück. Aber langsamer als von der Industrie<br />
befürchtet“, bilanziert auch er. „Was zunimmt,<br />
ist der Wunsch, auch mit Krawatten<br />
eine Geschichte zu erzählen.“<br />
Das tun seine Krawatten. Zu jedem<br />
Stoff kann er Anekdoten liefern, dieser<br />
Z<strong>wir</strong>n kommt aus Mailand, jener ist dreifach<br />
verschieden gewebt, und besonders<br />
gut laufen bei ihm – Motivkrawatten. Jene<br />
Scheußlichkeiten, von denen <strong>wir</strong> hofften,<br />
seit zu Guttenberg sei keiner je wieder darauf<br />
gekommen, Binder mit Gämsen oder<br />
Ziegen zu tragen.<br />
Gibt es Männer, die gewinnen, wenn<br />
sie Bärchen auf ihrer Krawatte haben? Die<br />
man für erotischer, charmanter, gar intelligenter<br />
hält, als sie sind, wenn man die<br />
Tierchen-Motive auf dem Stoff zwischen<br />
Hals und Gürtel betrachtet?<br />
„Aber natürlich gehen auch Bärchen.<br />
Diese hier sogar besonders gut – kein<br />
Blau, kein Grün, fernsehtauglich, von weitem<br />
<strong>wir</strong>kt es wie ein geometrisches Muster.“<br />
Scheper-Stuke sagt das mit einer Verve,<br />
mit der auch keiner Reich-Ranicki widersprechen<br />
würde, wenn er von Charlotte<br />
Roche schwärmen würde.<br />
Und dann zeigt er noch all die anderen<br />
Tiere aus seiner Kollektion, die gut funktionieren,<br />
daher viel gekauft werden: Elefanten,<br />
na klar, Dickhäuter-Symbol, der FDP-<br />
Generalsekretär Patrick Döring habe sogar<br />
die gesamte Elefantenkollektion bei sich zu<br />
Hause im Schrank, Libellen – selbst Marienkäfer.<br />
„Das ist eine Art Verspieltheit, die<br />
man sich erst verdienen muss. Ein Praktikant<br />
sieht damit lächerlich aus. Ein Chef<br />
bricht spielerisch das Macht-Image, das man<br />
von ihm hat“, sagt Scheper-Stuke. Er selbst<br />
ist so eine Mischung aus Lars Windhorst<br />
und Dorian Gray und hegt sein mediales<br />
Image wie ein ganz und gar kostbares Straußenei,<br />
das noch lange nicht ausgebrütet ist.<br />
Früher hat er Politikerfahrung gesammelt,<br />
saß für die CDU im Gemeinderat<br />
von Lohne in Niedersachsen, dicker sei er<br />
damals gewesen, schnaubt er verächtlich,<br />
unattraktiver, das viele Essen, das Zusammenhocken.<br />
Na, und modisch gesehen war<br />
es ein Desaster. Politiker sind alles, aber<br />
keine ästhetischen Vorbilder! „Spitzenpolitiker<br />
kommen oft aus kleinen Dörfern.<br />
Da hat man keine Ahnung von Geschmack<br />
und darf auch um Gottes willen nicht aus<br />
der Reihe tanzen. Sonst <strong>wir</strong>d man nicht gewählt“,<br />
erklärt er die Melange aus Fantasielosigkeit<br />
und Opportunismus.<br />
Politiker wollen nicht damit in Verbindung<br />
gebracht werden, dass sie Geld für<br />
etwas vermeintlich Oberflächliches ausgeben,<br />
man erinnere sich an den Eklat, als<br />
der damalige Verteidigungsminister Rudolf<br />
Scharping in Verdacht geriet, sich Anzüge<br />
von einem PR-Berater kaufen zu lassen.<br />
Gleichzeitig wollen Politiker so seriös<br />
wie möglich erscheinen. Diese Mischung<br />
kriegen sie nur hin, wenn sie sich konsensorientiert<br />
kleiden. Ähnlich uniform wie der<br />
weiße Kittel beim Arzt, die schwarze Soutane<br />
beim Priester, erwarten <strong>wir</strong> von Politikern<br />
eine Vertrauensuniform, eine Kleidung,<br />
die Ernsthaftigkeit und Schwere<br />
symbolisiert. Offenbar erwarten das Politiker<br />
auch untereinander.<br />
Obwohl es keine vorgeschriebene Kleiderordnung<br />
für Abgeordnete gibt, verweigerte<br />
2011 Bundestagspräsident Lammert<br />
zwei Politikern von Linkspartei und Grünen<br />
das Amt des Schriftführers, weil sie<br />
ohne Krawatten nicht angemessen gekleidet<br />
seien. Absurde Strafe maulten welche,<br />
Willkür! Der Ältestenrat des Bundestags<br />
verteidigte jedoch Lammerts Sanktion: „Es<br />
geht weder um freie Entfaltung der Persönlichkeit<br />
noch um das Selbstbestimmungsrecht<br />
der Abgeordneten.“ Also gilt zumindest<br />
für bestimmte Aufgaben weiterhin ein<br />
ungeschriebener Uniformzwang im Bundestag.<br />
In anderen Ländern, England, Spanien,<br />
Italien, Türkei, ist das Tragen der Krawatte<br />
eine Selbstverständlichkeit, mal mit<br />
mehr, mal weniger Synthetikanteil. Aber<br />
ausgerechnet Deutschland ist seit den<br />
Achtundsechzigern Vorreiter im Casual<br />
Friday Look am Montag.<br />
Laufen aber Ärzte ohne Kittel herum,<br />
Politiker ohne Krawatte, Geschäftsleute<br />
ohne Anzug, nimmt das den Berufen ihren<br />
Identifikation stiftenden Wiedererkennungswert.<br />
Die Funktion, die optische<br />
Rollenzuschreibung fällt weg, alles<br />
ersäuft in Jack-Wolfskin-Pfötchen-Mode.<br />
Und: die optische Trennung zwischen Beruf<br />
und Privatleben verschwindet ebenfalls.<br />
In den Sechzigern und Siebzigern wussten<br />
Kinder frühzeitig, dass sich ertragreicher<br />
ums Taschengeld verhandeln ließ, wenn<br />
der Vater zuerst den strengen Knoten am<br />
Hals mit zerrender Geste gelockert hatte.<br />
Heute ist das Ignorieren der Krawatte<br />
ein Indiz, dass sich Arbeit und Freizeit miteinander<br />
vermischen. Da die Symbolik immer<br />
wichtiger <strong>wir</strong>d, <strong>wir</strong>d man eines Tages<br />
Krawattenmuster womöglich kunsthistorisch<br />
deuten wie heute die roten Schuhsohlen<br />
von Ludwig XIV. Freilich entstehen<br />
nach und nach neue Signale für Macht und<br />
Profession. Handy, Smartphone oder Tablet-PC<br />
zum Beispiel jeweils mit der individuellen<br />
Hülle. Die Lederkleidung fürs iPad<br />
kommt bestimmt. Mit Bärchenmotiv.<br />
Katrin wilkens<br />
ist Journalistin in Hamburg. Sie<br />
lernte von ihrem Vater früh, den<br />
doppelten Windsor zu binden<br />
Foto: Simone Scardovelli (Autorin)<br />
106 <strong>Cicero</strong> 6.2013
K l e i d e r o r d n u n g | S t i l |<br />
Warum ich trage, was ich trage<br />
BARBARA SUKOWA, SCHAUSPIELERIN<br />
Fotos: Karin Kohlberg für <strong>Cicero</strong><br />
W<br />
AS ich mag, das steht mir nicht:<br />
Heitere Kleider mit großen Blumen<br />
in leuchtenden Farben, die<br />
machen mich fröhlich. Dafür müsste ich<br />
aber eine schwarzhaarige, rassige Frau<br />
sein, wie die Zirkusprinzessin namens Elvira,<br />
von der ich als Kind träumte. Glücklicherweise<br />
habe ich nur Söhne, ein Mädchen<br />
wäre in Rüschen erstickt.<br />
Früher habe ich oft am Drehort eingekauft,<br />
aber die Sachen sind dann unweigerlich<br />
von meiner Rolle beeinflusst: Bei Lola<br />
waren es Nuttenstiefel, bei Rosa Luxemburg<br />
graues Sozialistenzeug. Bei Hannah Arendt<br />
wären es Kleider gewesen, wie sie meine<br />
Mutter in den sechziger Jahren getragen hat,<br />
schlicht, mit ein wenig Schmuck. Hannah<br />
war kein Fashion Victim, aber es war ihr sehr<br />
wichtig, die Form zu wahren. Sie nahm Lippenstift<br />
und besaß einen Pelzmantel, den sie<br />
im Sommer sorgfältig einmotten ließ. Seit<br />
Jahren hängt ein Pelz von meiner Mutter<br />
in meinem Schrank, ich habe mir immer<br />
wieder mal überlegt, ihn als Futter in einen<br />
Mantel nähen zu lassen – das Tier ist ja nun<br />
schon so lange tot, aber man will ja nicht damit<br />
herumlaufen und dafür werben.<br />
In den achtziger Jahren hatte ich das<br />
Angebot, mich von Horst P. Horst fotografieren<br />
zu lassen, ich habe es damals abgelehnt,<br />
weil ich Pelze hätte tragen müssen.<br />
Am besten sehe ich in schmal geschnittenen<br />
Kleidern mit guter Schulter aus, aber<br />
die finde ich unbequem. In diesem Kleid<br />
von Burberry will ich dagegen am liebsten<br />
von morgens bis abends leben. Man kann<br />
sogar darin schlafen, denn es hat den Knitter<br />
schon in sich. Mit einem schönen Schal<br />
und einer großen Kette ist es sogar abendlich.<br />
Nur kann ich nicht immer Schwarz<br />
tragen, das macht mich depressiv. Dann<br />
brauche ich zumindest ein rotes Tuch oder<br />
helle Unterwäsche.<br />
Ich schaue mir gerne Modemagazine<br />
an, vor allem wegen der Fotografie, aber<br />
natürlich auch wegen der Kleider. Die<br />
schönsten Sachen haben allerdings meist<br />
keine Ärmel, das finde ich für mich nicht<br />
mehr schmeichelhaft, und dann sage ich<br />
mir: Das hättest du getragen, als du 20<br />
warst. Zugleich bin ich mir meines Aussehens<br />
bewusster als früher und trage ab<br />
und zu auch Make-up. Aber irgendwann<br />
hat man ein Gesicht bekommen, zu dem<br />
man stehen muss, und die Ehrlichkeit im<br />
Gesicht muss mit Ehrlichkeit in der Kleidung<br />
korrespondieren.<br />
Aufgezeichnet von Lena Bergmann<br />
Barbara Sukowa ist<br />
Schauspielerin und Sängerin.<br />
Zuletzt spielte sie die Rolle<br />
der Hannah Arendt im<br />
gleichnamigen Film. Sie<br />
lebt in New York<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 107
| S t i l | K ü c h e n k a b i n e t t<br />
Halbe-halbe<br />
Rechnungen werden oft geteilt, doch<br />
Be<strong>wir</strong>tungsbelege nicht. Die neuen<br />
Fettnäpfchen beim Restaurantbesuch<br />
Von Julius Grützke und Thomas Platt<br />
W<br />
er zahlt? Für viele Restaurantbesucher klang diese<br />
Frage, die ihnen ein ganzes Menü vergällen konnte,<br />
lange wie ein bitteres Dessert. Gerade unter frischen<br />
Bekanntschaften und befreundeten Ehepaaren schwebte das Problem<br />
der Zechbewältigung wie eine dunkle Wolke über dem gemeinsamen<br />
Abend: Beim Begleichen konnte es zu Zerwürfnissen<br />
kommen. Wer darauf bestand, alles zu übernehmen, brachte<br />
sich in den Verdacht, ein Großkotz zu sein, wer alles bis auf Heller<br />
und Cent aufteilte, galt als Pfennigfuchser. Das Problem des<br />
Trinkgelds war dabei noch gar nicht erörtert.<br />
Seit die meisten Frauen über eigene Einkommen verfügten und<br />
die preislose „Damenspeisekarte“ verschwunden war, herrschte<br />
ohnehin Unsicherheit über das korrekte Verhalten bei der Liquidation.<br />
Doch inzwischen haben sich neue Konventionen herausgebildet,<br />
und man teilt die Summe mittels überschlägiger Kalkulation,<br />
ohne Streit zu verursachen. Ungemach droht erst, wenn<br />
der Kellner mit dem Geld gegangen ist und den Be<strong>wir</strong>tungsbeleg<br />
zurückgelassen hat. Denn dieses unteilbare Dokument weckt<br />
Begehrlichkeiten. Wer jetzt seinen Anspruch darauf aus der Höhe<br />
seines möglichen Steuervorteils ableitet, sorgt für Verstimmungen<br />
– nicht nur bei Tisch.<br />
Dass es sich bei der Einreichung von privaten Restaurantquittungen<br />
faktisch um eine Steuerhinterziehung handelt, kommt gerade<br />
denen nicht in den Sinn, die sich am Stammtisch moralisch<br />
über jene dicken Fische ereifern, die den Behörden ins Netz gegangen<br />
sind. Dabei bietet sich in der Gastronomie jedem aufmerksamen<br />
Beobachter der Anblick einer Schatten<strong>wir</strong>tschaft, die zum<br />
großen Teil auf Steuervermeidung aufgebaut ist.<br />
Besonders Restaurants der Spitzenklasse zittern davor, dass die<br />
Absetzbarkeit von Be<strong>wir</strong>tungsbelegen aus dem Steuerrecht gestrichen<br />
<strong>wir</strong>d. Die kulinarischen Kreuzzüge von Spesenrittern würde<br />
dies mit einem Schlag beenden. Ohne diese Gäste aber wären die<br />
aufwendigen Soupers der Haute Cuisine nicht finanzierbar, denn<br />
die Zahl der Gourmets, die sich so etwas leisten können und wollen,<br />
ist außerordentlich klein. Dazu kommt noch, dass diese Genießer<br />
gar nicht so viel Interesse an dem Rüstungswettlauf um immer<br />
wertvollere Zutaten haben wie jene Steuerfüchse, denen die<br />
Rechnung gar nicht hoch genug sein kann.<br />
So werden Kompositionen aus geangeltem und dann höchstbietend<br />
versteigertem Steinbutt oder Wagyu-Rind zu Bauherrenmodellen<br />
auf dem Teller und ihre Architekten zu Profiteuren eines<br />
Aufschwungs in der Gast<strong>wir</strong>tschaft. Jeder Finanzminister, der<br />
diesen Mechanismus durchbrechen will, ist zum Scheitern verurteilt,<br />
denn Politik <strong>wir</strong>d zum großen Teil in Restaurants auf Spesen<br />
gemacht und insbesondere die Prominenten<strong>wir</strong>te haben dadurch<br />
einen Draht zu den Mächtigen. Die Drohung vieler Lokalschließungen<br />
und des Verfalls der kulinarischen Kultur verhindert, dass<br />
sich etwas ändert. Dass dabei die Sterneküche zu einem schützenswerten<br />
Kulturgut gemacht <strong>wir</strong>d, lässt Schlimmes ahnen: Wie das<br />
Subventionstheater könnte auch die Spitzengastronomie sich in<br />
Experimenten verlieren, die auf Geschmack und Publikum nicht<br />
mehr angewiesen sind.<br />
Doch während eine solche Entwicklung nur droht, hat sich<br />
eine andere bereits vollzogen. Die Schere zwischen der Hochgastronomie<br />
und dem Fraß aus dem Discounter ist in den vergangenen<br />
Jahren kontinuierlich auseinandergegangen – ohne dass sich<br />
die Politik abseits von Willenserklärungen anlässlich von Skandalen<br />
darum gekümmert hätte. Während Spitzenköche eine abgehobene<br />
Esskultur zelebrieren, in der Prahlhans Küchenmeister<br />
ist, nimmt der Rest der Republik mit Gammelfleisch und Ekeleiern<br />
vorlieb. So <strong>wir</strong>d die kulinarische Situation zur Karikatur einer<br />
in Arm und Reich zersprengten Gesellschaft, deren Unterschicht<br />
ruchlosen Geschäftemachern ausgesetzt <strong>wir</strong>d. Die oberen Zehntausend<br />
laben sich derweil an steuersparenden Spezialitäten. Wem<br />
so etwas nicht schmeckt, der könnte ein Zeichen setzen und den<br />
Zahlungsbeleg im Restaurant liegen lassen. Zumal man so auch<br />
Streit vermeidet.<br />
Julius Grützke und Thomas Platt<br />
sind Autoren und Gastronomiekritiker.<br />
Beide leben in Berlin<br />
illustration: Thomas Kuhlenbeck/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser<br />
108 <strong>Cicero</strong> 6.2013
DIE ENTSCHEIDUNG DES JAHRES – BUNDESTAGSWAHL AM 22. SEPTEMBER<br />
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Radikal unentschieden<br />
Tim Bendzko, Star der „jungen Milden“, singt neue Lieder mit Locken und Gefühl und wundert sich sehr<br />
von thomas Winkler<br />
G<br />
eorge Clooney wohnt hier,<br />
wenn er in Berlin dreht. Madonna<br />
mietet gerne zwei Etagen.<br />
Das Soho House ist die Herberge der internationalen<br />
Stars, die sich in die deutsche<br />
Hauptstadt bequemen. Heute steht ein aus<br />
Funk und Fernsehen bekannter Tanzlehrer<br />
namens Detlef Soost in der Lobby, und<br />
Tim Bendzko weilt im vierten Stock.<br />
Dort oben hat die Plattenfirma eine<br />
Suite angemietet. Der 28-Jährige wohnt<br />
nicht hier, er ist gebürtiger Berliner. Die<br />
Suite dient nur dazu, den Interview-Marathon<br />
abzuwickeln, der nötig <strong>wir</strong>d, wenn<br />
ein erfolgreicher Sänger wie Bendzko ein<br />
neues Produkt lanciert. Es heißt „Am seidenen<br />
Faden“ und ist sein zweites Album.<br />
Bendzko singt: „Es ist ein Wunder, dass<br />
ich lebe und Lieder drüber singen kann.“<br />
Tatsächlich darf man sich fragen, weshalb<br />
ausgerechnet Bendzko solche Erfolge<br />
feiert. Für sein Debütalbum „Wenn Worte<br />
meine Sprache wären“ bekam er drei Mal<br />
Gold, die Single „Nur noch kurz die Welt<br />
retten“ war der bestverkaufte deutsche<br />
Song 2011. Anschließend räumte er Echos,<br />
Bambis und alle verfügbaren Preise ab. Momentan<br />
entkommt man ihm im Fernsehen<br />
kaum, weil er in der erfolgreichen Castingshow<br />
„The Voice Kids“ die gesanglichen<br />
Leistungen Halbwüchsiger beurteilt. Er erzählt,<br />
dass nach jeder Show die alten Lieder<br />
in den Charts nach oben klettern. Demnächst<br />
<strong>wir</strong>d er in der Jury für den Eurovision<br />
Song Contest sitzen und im kommenden<br />
Sommer die 22 000 Plätze der<br />
Berliner Waldbühne füllen: nicht schlecht<br />
für jemanden, der vor drei Jahren neben<br />
dem Studium der evangelischen Theologie<br />
und der nichtchristlichen Religionen sein<br />
Glück bei Talentwettbewerben versuchte.<br />
Das Studium hat Bendzko aufgegeben.<br />
Er ist ein Star ohne Starqualitäten oder Allüren.<br />
Die Plattenfirma hat ihm zwar eine<br />
Visagistin mitgeschickt, aber deren Aufgabe<br />
besteht darin, Bendzkos Gesicht so zu<br />
schminken, dass es auf den Fotos möglichst<br />
ungeschminkt aussieht. Zum Fotoshooting<br />
trägt er ein ausgewaschenes T-Shirt und<br />
Jeans gerade so auf halb acht, dass die Unterwäsche<br />
zu sehen ist wie bei vielen Altersgenossen.<br />
Während die Fotos geschossen<br />
werden, windet er sich und fragt, wohin er<br />
gucken soll. Später sagt er: „Ich versuche,<br />
mir keine Gedanken darüber zu machen,<br />
wie ich in der Öffentlichkeit <strong>wir</strong>ke, weil<br />
ich sonst nicht mehr der wäre, der ich bin.“<br />
Ja, wer ist dieser Tim Bendzko? Man<br />
weiß, dass er in Berlin-Kaulsdorf geboren<br />
wurde, in Köpenick aufwuchs und vielleicht<br />
Profifußballer hätte werden können. Dass<br />
er Gitarrenunterricht bekam, mit 16 Jahren<br />
anfing, Lieder zu schreiben und seine<br />
Stunde schlug, als er im September 2011<br />
Stefan Raabs Bundesvision Song Contest<br />
gewann. Von da an war Bendzko der sichtbarste<br />
einer ganzen Welle von jungen Sängern,<br />
die Philipp Poisel, Max Prosa oder<br />
Andreas Bourani hießen, gefühlige bis<br />
schmalzige Lieder sangen und als „Die jungen<br />
Milden“ in die bundesdeutsche Popgeschichte<br />
eingingen. Man weiß also eigentlich<br />
allerhand über Tim Bendzko, aber<br />
trotzdem bleibt er seltsam konturlos.<br />
Das mag an den Liedern liegen, die er<br />
schreibt. Die sind schlau, aber nicht besonders<br />
clever, manchmal intelligent, dabei<br />
leise und vorsichtig und bestimmt nicht<br />
provokant. Oft übernehmen Streicher oder<br />
Klaviere die Führung, während die Liebste<br />
„nur einen Herzschlag entfernt“ wartet, der<br />
Protagonist „ein Gefühl im Bauch“ hat<br />
oder aus Tränen Brücken gebaut werden.<br />
„Ich will Lieder schreiben“, sagt Bendzko,<br />
„weil sich das für mich richtig anfühlt.“<br />
Es gab Kritiker, die nannten diese Lieder<br />
Schlager. „Es ist mutig, über Gefühle<br />
zu singen“, kontert Bendzko. Wie er über<br />
Gefühle singt, ziemlich unverstellt und ungeschützt,<br />
das gefällt, wie er gerne zugibt,<br />
vor allem Frauen Anfang zwanzig. Denen<br />
gefällt auch die Frisur des Sängers. „Es ist<br />
schon erstaunlich“, sagt Bendzko, „was so<br />
ein paar Locken auslösen können.“<br />
Unter den Locken sitzt ein schlauer<br />
Kopf. Aber auch einer, der sich grundsätzlich<br />
scheut, Stellung zu beziehen. „Ich will<br />
niemandem meine Meinung aufdrücken“,<br />
sagt er. In seinem größten Hit verabschiedete<br />
sich Bendzko, um die Welt zu retten,<br />
und checkte dann doch nur 148 Mails. Das<br />
war natürlich ironisch gemeint, auch wenn<br />
es nicht jeder so verstanden hatte und der<br />
Song als Ausdruck einer Generation interpretiert<br />
wurde, die sich von Praktikum zu<br />
Praktikum hangelt, irgendwas mit Medien<br />
machen will und trotz eines Lebens in sozialen<br />
Netzwerken das Gefühl nicht los<strong>wir</strong>d,<br />
dass niemand auf sie wartet.<br />
Bendzko wollte nie der Klassensprecher<br />
dieser Generation werden. Deshalb sagt er<br />
Talkshows ab, in denen er nicht zur Musik<br />
befragt werden soll. Deshalb sagt er: „Ich<br />
habe keine konkrete Botschaft.“ Und deshalb<br />
lacht er, als man den Verdacht äußert,<br />
der neue Song „Wo sollen <strong>wir</strong> nur hin“ sei<br />
womöglich politisch. Bendzko singt: „Wir<br />
haben es satt, in eurem Takt zu marschieren.“<br />
Wer hinter dem „Wir“ steht und wer<br />
„die“ sind, die „unseren Stolz gekauft“ und<br />
„unseren Mut geraubt“ haben, will Bendzko<br />
nicht erklären: „Ich will mit dem Song einfach<br />
ein Grundgefühl ausdrücken, ein Gefühl,<br />
dass ich irgendwie unzufrieden bin<br />
mit diesem blinden Mitmarschieren.“<br />
Irgendwie dagegen sein, irgendwie<br />
auch nicht. Ein Star sein, aber sich nicht<br />
wie einer benehmen. Lieder schreiben, weil<br />
man sie schreiben muss, obwohl man nicht<br />
so genau weiß, was man eigentlich sagen<br />
will. Diese Unentschiedenheit ist das Geheimnis<br />
des Erfolgs von Tim Bendzko. Sie<br />
macht ihn zu dem, was er ist: einem Star,<br />
der keiner sein will. Und genau deshalb einer<br />
geworden ist.<br />
Thomas Winkler<br />
schrieb schon über Popmusik,<br />
Film und Sport, als Tim<br />
Bendzko noch keine Lieder<br />
schrieb<br />
Fotos: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong>, Privat (Autor)<br />
110 <strong>Cicero</strong> 6.2013
„Ich bin irgendwie<br />
unzufrieden mit<br />
diesem blinden<br />
Mitmarschieren“<br />
Tim Bendzko sucht auf seinem neuen Album<br />
den „seidenen Faden“ der Gegenwart<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 111
| S a l o n<br />
Das Böse ist nie banal<br />
Der Künstler Rithy Panh dokumentiert den Terror der Roten Khmer, unter dem er selbst litt<br />
von Claire-Lise Buis<br />
E<br />
r spricht wie jemand, der nicht<br />
vergisst. Im Französischen – seiner<br />
Sprache, seit er Kambodscha<br />
verlassen hat – benutzt Rithy Panh oft die<br />
Präsensform, selbst wenn die Fakten Jahrzehnte<br />
zurückliegen. Auffällig sind auch<br />
die leise Stimme und das sanfte Lächeln<br />
des ruhigen Mannes. Mit der Vergangenheit<br />
hat er zwar nicht abgeschlossen, sie<br />
scheint ihn jedoch nicht mehr zu quälen.<br />
Der Filmer und Schriftsteller, dessen<br />
Buch „Auslöschung“ nun in deutscher<br />
Übersetzung vorliegt, gehört zu den Opfern<br />
der Roten Khmer. Als 1975 die Clique<br />
von Pol Pot in Kambodscha an die Macht<br />
kommt, ist Rithy Panh elf Jahre alt. Mit seiner<br />
Familie muss er am 17. April Phnom<br />
Penh verlassen. Für das „neue Volk“ aus der<br />
urbanen Mittel- und Oberschicht beginnen<br />
Vertreibung, Zwangsarbeit, Hungersnot<br />
und – für rund 1,8 Millionen Menschen<br />
– eine Reise in den Tod. Der kleine<br />
Rithy sieht, wie sein Vater die Nahrungsaufnahme<br />
verweigert und stirbt. Der Lehrer<br />
will sich dem kommunistischen Terror,<br />
der sogar das Tragen von Brillen verbietet,<br />
nicht unterwerfen. Rithy Panhs Mutter, die<br />
Schwester und die Neffen, überleben ihn<br />
nur um wenige Monate. 1979 erreicht der<br />
zum Waisen gewordene Junge ein Flüchtlingslager<br />
an der thailändischen Grenze<br />
und darf nach Frankreich zu den mittlerweile<br />
ausgewanderten Brüdern fliehen.<br />
„Auslöschung“ ist die eindrucksvolle<br />
Erinnerung an dieses dunkle Kapitel der<br />
Weltgeschichte. Panh, der sich als Dokumentarfilmer<br />
einen Namen gemacht hat,<br />
befindet sich mitten in Dreharbeiten zu<br />
dem 2003 veröffentlichten Film „S21:<br />
Die Todesmaschine der Roten Khmer“,<br />
als er den Schritt zur Literatur wagt. Seine<br />
Interviews mit Duch, dem Chef des berüchtigten<br />
Gefängnisses S21, bereiten ihm<br />
schlaflose Nächte. Bei eigentlich harmlosen<br />
Arztbesuchen überfallen ihn Bilder der<br />
dort als besonders sadistische Tötungsmethode<br />
eingesetzten Blutentnahmen. „Es<br />
ging mir nicht gut“, erzählt er heute. Der<br />
Schriftsteller Christophe Bataille, der als<br />
Lektor beim Pariser Verlag Grasset arbeitet,<br />
schlägt ihm vor, die Erfahrungen zu Papier<br />
zu bringen. Weil die Literatur mehr Intimität<br />
zulässt? „Im Kino kann man das Zögern,<br />
das Schweigen der Täter oder der Opfer<br />
zeigen. Doch einiges kann man nicht filmen.“<br />
So macht zum Beispiel die Kamera<br />
an der Türschwelle Halt, wenn ein ehemaliger<br />
Peiniger vor Panhs Kamera eine Zelle<br />
von S21 betritt.<br />
Das Buch ist nie aufdringlich, larmoyant<br />
oder schaurig. Die Ko-Autoren Panh<br />
und Bataille finden schlichte Worte, um<br />
das Unfassbare zu beschreiben. Bedrückt<br />
erfährt man von den letzten Stunden des<br />
Vaters oder dem Appell der Mutter, die<br />
zum Abschied ihrem am Fuß erkrankten<br />
Sohn zuruft: „Du musst gehen im Leben,<br />
Rithy. Was auch passiert, du musst gehen.“<br />
Ergreifend ist die Szene, in der eine Soldatin<br />
ihn beim Singen eines verbotenen Kinderlieds<br />
erwischt. Sie ist davon so gerührt,<br />
dass sie ihn nicht bestraft. Der junge Rithy<br />
verliert weder Lebensmut noch Fantasie:<br />
Trotz Todesangst erzählt er gerne Geschichten,<br />
zeigt sich erfinderisch, um zu<br />
überleben. Nach der Lektüre versteht man<br />
Claude Lanzmann besser: „Ich habe Rithy<br />
Panh bisher für seine Arbeit bewundert“,<br />
sagte der Regisseur von „Shoah“ nach der<br />
Veröffentlichung des Buches in Frankreich,<br />
„nun hat sich diese Bewunderung in eine<br />
tiefe Freundschaft verwandelt.“<br />
Wenn „Auslöschung“ durchaus mit Erinnerungen<br />
an den Holocaust, mit Primo<br />
Levis „Ist das ein Mensch?“ etwa, verglichen<br />
werden kann, liegt es daran, dass<br />
das Buch über das Persönliche hinaus einen<br />
Einblick in das Terrorsystem der Roten<br />
Khmer gewährt. Die dämonische Kraft<br />
der Ideologie <strong>wir</strong>d durch das Gespräch mit<br />
Duch deutlich – dem klugen Henker, der<br />
gewissenhaft mordete und vor der Kamera<br />
lacht oder französische Gedichte deklamiert.<br />
„Duch bringt einen zum Zweifeln<br />
darüber, was menschlich ist“, erinnert sich<br />
Panh und bedauert, dass Duch heute noch<br />
eine Art Faszination ausübt, sogar auf Intellektuelle.<br />
„Menschen, die von ihren Ideen<br />
besessen sind und Geschichte schrei ben<br />
wollen, findet man überall und immer wieder“,<br />
fügt der Schriftsteller hinzu.<br />
Dennoch müsse die Erinnerungsarbeit<br />
vorangetrieben werden. Der Filmemacher,<br />
der in Phnom Penh ein audiovisuelles Dokumentationszentrum<br />
mit gründete, freut<br />
sich über neue Entwicklungen in seiner<br />
Heimat: „Der Massenmord <strong>wir</strong>d nun in<br />
Schulen thematisiert. Die junge Generation<br />
fragt nach.“ Auch das 2006 eingesetzte<br />
Rote-Khmer-Tribunal, das Duch zur lebenslangen<br />
Strafe verurteilt hat, leiste wichtige<br />
Arbeit, damit die Opfer „einen Status<br />
bekommen“: „Erinnerung ist keine kollektive<br />
Pflicht, keine Aufforderung zur Versöhnung,<br />
sondern eine tägliche Aufgabe.“<br />
Panh weiß: „Die Wahrheit gehört nur<br />
den Toten.“ Die Form spiele eine untergeordnete<br />
Rolle, nicht aber die ethische Frage,<br />
wenn er die Logik eines Massenmords zu<br />
verstehen versucht. „Die Mechanik, die<br />
sich im Kopf der Mörder abspielt“, beschäftigt<br />
Rithy Panh. An die „Banalität des<br />
Bösen“ glaubt er nicht: „Dass jeder böse<br />
sein kann, ist keine interessante Erkenntnis.<br />
Bedeutender ist die Tatsache, dass einige<br />
sich trotzdem für das Gute entscheiden.“<br />
Rithy Panh muss oft an seine Eltern<br />
denken und an Bophana – eine junge Frau,<br />
die in S21 aufgrund ihrer Liebe zu einem<br />
vermeintlichen Verräter gefoltert wurde.<br />
Ihre Geschichte erzählt er in einem seiner<br />
Filme. Er zählt sie zu „meinen Lichtgestalten“.<br />
Die Erinnerung an sie hält die Vergangenheit<br />
gegenwärtig und macht sie erträglich.<br />
Claire-Lise Buis<br />
ist Kulturkorrespondentin<br />
und schreibt über die Welt,<br />
in der sie lebt, momentan<br />
von Kamerun aus<br />
Fotos: Thomas Kierok für <strong>Cicero</strong>, Privat (Autorin)<br />
112 <strong>Cicero</strong> 6.2013
„Die Wahrheit<br />
gehört nur<br />
den Toten“<br />
Rithy Panh, kambodschanischer<br />
Filmer und Schriftsteller<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 113
| S a l o n<br />
„Wie ein leeres Kino“<br />
Der Regisseur Luc Bondy verlässt Wien. Ein Gespräch über Europa, Ängste und die Sprache der Träume<br />
Schmal, wach, neugierig sitzt Luc Bondy<br />
vor dem Café Sperl im 6. Wiener Gemeindebezirk<br />
und genießt die Sonne. Vor ihm<br />
liegen zwei Smartphones, eines für Frankreich,<br />
eines für Österreich. Er hat heute<br />
„Tartuffe“ geprobt und ist jetzt hungrig.<br />
Nachdem er eine Leberknödelsuppe bestellt<br />
hat, fragt er nach „Das Duell“, Frank<br />
Castorfs letzter Inszenierung an der Berliner<br />
Volksbühne. Er hat ihn mehrfach zu<br />
den Wiener Festwochen eingeladen. Castorf<br />
sei so angenehm uneitel, sagt Bondy, und<br />
kramt gedankenverloren in dem Rucksack<br />
auf dem freien Stuhl. Als er bemerkt, dass<br />
es meiner ist, lacht er und entschuldigt sich,<br />
dass seine Gedanken immer noch bei Molière<br />
sind.<br />
H<br />
err Bondy, wie eitel sind denn<br />
Sie?<br />
Auch wenn das jetzt eitel klingen<br />
mag: Ich glaube, ich bin nicht sehr<br />
eitel. Bestimmt verhalte ich mich manchmal<br />
eitel oder fühle mich in meiner Eitelkeit<br />
gekränkt, aber das ist auch alles.<br />
Die Tatsache, dass ich bekannt bin,<br />
hat mich noch nie interessiert. Natürlich<br />
spüre ich es, wenn mich Leute erkennen<br />
und irgendwie für etwas Besonderes<br />
halten, aber das ist mir <strong>wir</strong>klich<br />
nicht wichtig. Ich hoffe höchstens auf einen<br />
gewissen Prominentenbonus in den<br />
Krankenhäusern und dass man mich dort<br />
dann besser behandelt, aber leider klappt<br />
das eigentlich nie.<br />
Eine Zeitlang sah man Sie mit einem<br />
speziellen Sitzkissen, das die Nasa gegen<br />
die Belastungen in Raumfahrzeugen<br />
entwickelt hatte. Ihnen half es, Ihre lädierten<br />
Bandscheiben zu schonen und die<br />
Rückenschmerzen zu lindern.<br />
Ja, aber das brauche ich inzwischen nicht<br />
mehr. Ich mache jetzt viel Sport – außer<br />
Yoga gehe ich dreimal pro Woche<br />
schwimmen. Bei mir in Paris gibt es ein<br />
paar öffentliche Bäder in der Nähe, aber<br />
manchmal sind so viele Leute da, dass ich<br />
sage, ich gehe nicht im Wasser, sondern<br />
in den Menschen schwimmen.<br />
Was werden Sie, wenn Sie im Sommer<br />
Ihren Intendantenstuhl räumen, von Wien<br />
am meisten vermissen?<br />
Ohne dass es sich missgünstig anhört,<br />
werde ich im Grunde nichts vermissen,<br />
weil ich immer nach vorne schaue. Nur<br />
manchmal erinnere ich mich zurück,<br />
das ist aber etwas anderes als zurückzuschauen.<br />
Wahrscheinlich werde ich eines<br />
Tages, wenn ich nicht mehr inszenieren<br />
kann, diese Tätigkeit auch nicht vermissen.<br />
Ich versuche, mich nie von Gefühlen<br />
wie Trauer oder Mutlosigkeit dominieren<br />
zu lassen.<br />
Wird man Sie, typisch wienerisch, erst so<br />
richtig lieben, wenn Sie weggegangen sein<br />
werden?<br />
Ich hoffe nicht. Was macht man mit<br />
Liebe, von der man weiß, die man aber<br />
nicht spürt, weil man nicht mehr da ist?<br />
Barrie Kosky, der Intendant der Komischen<br />
Oper Berlin, hat jahrelang in Wien gearbeitet<br />
und, wie er sagt, sehr viel Antisemitismus<br />
erlebt. Wie sind Ihre Erfahrungen?<br />
Mein Vater hat mir immer gesagt, wenn<br />
ich irgendwohin komme und man mir<br />
höflich begegnet und mich zuvorkommend<br />
fragt, was ich möchte, ein Brötchen<br />
oder ein Handtuch oder sonst<br />
etwas, obwohl dieser Mensch dabei<br />
gleichzeitig das Schlimmste über die Juden<br />
denkt, soll es mir egal sein – solange<br />
ich es nicht zu spüren kriege (lacht). Natürlich<br />
weiß ich vom Antisemitismus in<br />
Österreich. Aber ich habe ihn nie abgekriegt,<br />
höchstens hier und da für einen<br />
Moment. Ich habe in meinem Leben<br />
schon andere Erfahrungen gemacht.<br />
Wann und wo denn?<br />
Als junger Mann wurde ich in Nürnberg<br />
in der Straßenbahn massiv angepöbelt.<br />
Und als ich an der Hamburgischen<br />
Staatsoper 1981 Alban Bergs „Wozzeck“<br />
inszenierte, fand ich einen großen Zettel<br />
auf der Bühne: „Hau ab, du Judensau,<br />
bevor <strong>wir</strong> dich umbringen!“ Er stammte<br />
von einem Chorsänger, denn der Chor<br />
sollte echt alte Soldatenschuhe tragen,<br />
und das war die nette Antwort dazu.<br />
Antisemitismus hat es immer gegeben<br />
und <strong>wir</strong>d es immer geben, fürchte ich.<br />
Sie nennen sich einen nichtgläubigen<br />
Juden.<br />
Ja, ich wurde atheistisch erzogen und bin<br />
es auch immer geblieben. Aber ich habe<br />
jüdische Freunde, die mich einladen,<br />
wenn sie Pessach feiern. Da gehe ich gern<br />
hin. Zu Chanukka zünde ich auch Kerzen<br />
an und mache ein paar solcher traditionellen<br />
Dinge, denn eine bestimmte<br />
Zugehörigkeit ist immer angenehm.<br />
Wie bereiten Sie sich auf eine Inszenierung<br />
vor?<br />
Die Vorbereitung ist für mich ein bestimmter<br />
Zustand, in den ich mich als<br />
Mensch mit all meinen Gedanken, Gefühlen,<br />
Ideen, Zweifeln, Hoffnungen<br />
begebe, ehe die Proben beginnen. Und<br />
wie ein Talmudist lese ich den jeweiligen<br />
Text immer und immer wieder, um ihm<br />
nahe zu kommen, indem ich Schicht<br />
um Schicht abtrage. Diesmal habe ich<br />
außerdem zum Beispiel mit meinem<br />
Freund, dem Schriftsteller Peter Stephan<br />
Jungk, eine neue Übersetzung gemacht<br />
und eine Stückfassung erstellt.<br />
In Hölderlins „Hyperion“ heißt es, „Religion<br />
ist Liebe der Schönheit“.<br />
Das gefällt mir, das ist toll. In „Tartuffe“<br />
ist Religion die Liebe der Hässlichkeit.<br />
Oder der Hass auf die Schönheit.<br />
Foto: Peter Rigaud für <strong>Cicero</strong><br />
114 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Luc Bondy<br />
leitete von<br />
1985 bis 1988<br />
die Berliner<br />
Schaubühne,<br />
seit 2001 ist<br />
er Intendant<br />
der Wiener<br />
Festwochen.<br />
Mit Molières<br />
„Tartuffe“<br />
endet jetzt<br />
seine Wiener<br />
Amtszeit<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 115
| S a l o n<br />
Sie inszenieren, seit Sie 19 Jahre alt sind.<br />
Hat es sich gelohnt?<br />
Das kann ich nicht beantworten, denn<br />
ich kenne nichts anderes. Ich weiß nur,<br />
dass ich jedes Mal, wenn ich eine Inszenierung<br />
plane, Angst habe, richtige, tiefe<br />
Angst – vor dem Abenteuer des Theaters,<br />
dem Begehren des Textes, der konkreten<br />
Umsetzung mit den Schauspielern. Wenn<br />
ich keine Angst hätte, wäre meine Arbeit<br />
reine Routine. Was für eine schreckliche<br />
Vorstellung! Ich will jedes Mal etwas ausprobieren,<br />
etwas erforschen, etwas Neues<br />
finden. Immer wieder möchte ich die<br />
Worte, die Dialoge, das Spiel ganz normal,<br />
ganz unverstellt erscheinen lassen.<br />
Alles soll selbstverständlich <strong>wir</strong>ken, auch<br />
die kompliziertesten Sachverhalte. Das<br />
möchte ich vor allen Dingen erreichen.<br />
eine künstlerische Form, die dem Publikum<br />
zeigt, dass es auch andere Kommunikationsweisen<br />
gibt als jene, die es<br />
normalerweise pflegt, und es kann bei<br />
den Zuschauern Gedanken, Erinnerungen,<br />
Emotionen freilegen und auslösen –<br />
und zwar live. Es geht dabei nicht um bestimmte<br />
Inhalte und einen Kanon von<br />
Stücken, „das Medium ist die Botschaft“.<br />
„Alles sieht ziemlich gleich aus.<br />
Es gibt mehr Theater als Talente“<br />
halt leider mehr Theater als Talente und<br />
auch viele Menschen, die Künstler sein<br />
wollen, ohne über die Begabungen zu<br />
verfügen, die dafür nötig sind.<br />
Sie sind Kosmopolit und haben Europa immer<br />
als den für Sie relevanten Kulturraum<br />
bezeichnet. Was machen Sie, wenn dieser<br />
Raum beim Zusammen<strong>wachsen</strong> seine<br />
Besonderheiten immer mehr verliert?<br />
Dieser Prozess verläuft schleichend, man<br />
bemerkt ihn kaum. Irgendwann ist Europa<br />
wie ein leeres Kino, in dem ein toller<br />
Film gezeigt <strong>wir</strong>d, den niemand sehen<br />
will. Ich bleibe angesichts dieser politischen<br />
wie ästhetischen Entwicklungen<br />
gelassen, denn ich kann mich gut anpassen.<br />
Das ist vielleicht sehr jüdisch. Wenn<br />
Leute aggressiv über Multikultur reden,<br />
verstehe ich das nicht, weil ich mehr<br />
oder weniger multikulturell groß geworden<br />
bin, ohne dass daraus ein Zwang gemacht<br />
wurde. Ich wurde in Zürich geboren,<br />
wuchs in Frankreich auf, arbeitete in<br />
Deutschland. Es war einfach so.<br />
Man soll meine Inszenierungen nicht nur<br />
sehen, sondern auch spüren.<br />
Können Sie sich ein anderes Leben denn<br />
als Regisseur vorstellen?<br />
Ein kleines bisschen schon, ja. Denn<br />
wenn ich nicht immer Probleme mit meinem<br />
Rücken und mehr Sitzfleisch hätte,<br />
wäre ich gern Schriftsteller geworden.<br />
Literatur ist für Sie eine Frage von Sitzfleisch?<br />
Dennoch haben Sie den hoch<br />
gelobten Roman „Am Fenster“ (2009),<br />
Erzählungen und Gedichte veröffentlicht.<br />
Ich habe keine Geduld mit mir beim<br />
Schreiben. Wenn man inszeniert, muss<br />
man sich zwar auch sehr konzentrieren,<br />
aber anders, nicht so isoliert. Ich<br />
weiß nicht, ob mir die Einsamkeit, die<br />
man beim Schreiben einfach braucht, auf<br />
Dauer bekommen würde, obwohl ich<br />
sehr gern schreibe.<br />
Hat das Theater heute noch eine gesellschaftliche<br />
Wirkung?<br />
Es hat bestimmt nicht eine so unmittelbare<br />
Wirkung, wie sie die Rede eines<br />
Politikers in einer Versammlung oder<br />
vielleicht einer der Filme von Michael<br />
Moore haben kann. Aber das Theater ist<br />
Apropos Marshall McLuhan, der ja diese<br />
Formel prägte: Wird auch das Theater<br />
allmählich ein „globales Dorf“?<br />
Aber ja. Es gibt überall eine große Skepsis<br />
gegenüber durcherzählten Stücken<br />
und bestimmten, nicht nur geschlossenen,<br />
aber vielleicht auf Augenhöhe mit<br />
den Zuschauern entwickelten Dramaturgien.<br />
Ansonsten ist alles ziemlich orientierungslos,<br />
nach dem Motto: Anything<br />
goes. Der Einsatz von elektronischem<br />
Zubehör, wie Mikroports, Videobeamern,<br />
Livekameras und möglichst neuer Technik<br />
ist sehr gestiegen. Dadurch sieht alles<br />
überall ziemlich gleich aus.<br />
Unterliegt das Theater bald, wie Äpfel oder<br />
Gurken, in Brüssel bürokratisch ausgetüftelten<br />
EU-Normen?<br />
Vielleicht passiert diese Vereinheitlichung<br />
auch schon ganz von allein. Über die<br />
Landesgrenzen hinaus kann man feststellen,<br />
wie etwa die Lautstärke in den Theatern<br />
zugenommen hat. Die Schauspieler<br />
stehen oft nahe der Rampe und brüllen<br />
nach vorne, die Beleuchtung ist egal, die<br />
Kostüme wurden bei H&M gekauft. Vieles,<br />
was Regisseure meiner Generation<br />
früher bekämpft hatten, kommt unglückseligerweise<br />
zurück.<br />
Woran denken Sie?<br />
Wir dachten in einer geradezu stanislawskischen<br />
Art an die Tiefenstaffelung einer<br />
Szene, an die Gestaltung bis zum Hintergrund<br />
der Bühne und dass alles, was<br />
da passiert, eine eigene Wirklichkeit und<br />
Glaubwürdigkeit bekommt. Aber die<br />
Dinge sind derzeit eben nicht so. Es gibt<br />
Die verschiedenen europäischen Kulturen<br />
sollen oder können in ihrer Vielfalt nebeneinander<br />
weiterleben?<br />
Natürlich, sie können nebeneinander<br />
und miteinander existieren, aber sie sollen<br />
nicht so tun, als gäbe es keine Unterschiede<br />
zwischen ihnen.<br />
Sie haben in Deutschland, Österreich,<br />
England, Frankreich, der Schweiz und den<br />
USA inszeniert, aber nie in einer Sprache,<br />
die Sie nicht sprechen. Warum?<br />
Ich halte das für ein Unding. Wie soll<br />
man denn da den Schauspielern auf der<br />
Probe helfen können? Meines Erachtens<br />
inszeniert man am besten in jener<br />
Sprache, in der man träumt. Wobei es<br />
schön ist, dass ich, oder jemand anderer<br />
in meinen Träumen, manchmal eine andere<br />
Sprache beherrsche als in der Realität.<br />
Hin und wieder sind meine Träume<br />
auch stumm oder ich habe beim Erwachen<br />
schon vergessen, ob und was geredet<br />
wurde.<br />
Fahren Sie im Traum manchmal Auto?<br />
Sie meinen, weil ich nie einen Führerschein<br />
gemacht habe? (lacht) Na, da sollten<br />
Sie mich aber mal erleben!<br />
Das Gespräch führte Irene Bazinger<br />
116 <strong>Cicero</strong> 6.2013
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118 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Der Waldrapp war<br />
in Mitteleuropa<br />
ausgestorben. Dank<br />
Mensch und Internet<br />
gewinnt er neue<br />
Lebensräume<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 119
| S a l o n | i n t e r n e t d e r t i e r e<br />
Ich Habe einen neuen Freund. Er heißt<br />
Shorty. Shorty kann fliegen, Shorty ist<br />
ein Waldrapp. Da er vom Aussterben<br />
bedroht ist, trägt er einen 30 Gramm<br />
leichten GPS-Sender am Körper. Er ist<br />
also „getaggt“. Wenn Shorty vom Brutrevier<br />
Burghausen ins italienische Winterquartier<br />
wechselt, kann ich das auf seiner Facebook-Seite<br />
verfolgen (www.facebook.com/<br />
Waldrappteam). Im vergangenen Herbst<br />
machte ich mir ernsthaft Sorgen. Shorty<br />
hatte sich verflogen. Statt in der südlichen<br />
Toskana landete er in der kalten Schweiz.<br />
Aber Shorty hat es geschafft. Herr B., ein<br />
anderer Shorty-Freund, hatte ihn gesichtet.<br />
Er postete: „Nachdem es gestern den<br />
ganzen Tag geschneit hat und heute 15 cm<br />
Schnee liegt, machte ich mich auf die Suche<br />
nach Waldrapp Shorty. Meine Sorge<br />
war umsonst: Shorty geht es ausgezeichnet.<br />
Immer noch ernährt er sich in der Schafweide<br />
Dersbach. Ich beobachtete ihn um<br />
10:30 Uhr und sah ihn eine Stunde später<br />
zum Golfplatz hinüberfliegen und die vom<br />
Schnee geräumten Rasenflächen besichtigen.“<br />
Aber nicht nur Shorty hat gute Facebook-Freunde,<br />
die ihn schützen und beobachten,<br />
sondern auch das Storchenpaar<br />
Clara und Dexter aus Wilhelmsglücksbrunn,<br />
die See-Elefantin Penelope, die im<br />
dunklen Nordpazifik lebt, und erst recht<br />
die Lederrückenschildkröte Champira.<br />
Wildtiere als Facebook-Freunde? Ist das<br />
nicht eine verkehrte Welt? Mehr Naturnähe<br />
ist ein weithin akzeptiertes Ziel. Kaum ein<br />
Städter kann heute einen Frosch von einer<br />
Kröte unterscheiden. Aber muss das Zurück<br />
zur Natur sich auf digitalen Pfaden ereignen?<br />
Geht man nicht besser in den Wald<br />
und sammelt Pilze? Ist das Netz nicht weit<br />
eher Teil des Problems als Teil der Lösung?<br />
Der Ameisenforscher E. O. Wilson hat<br />
in seinem Buch „Biophilia“ bereits 1984<br />
schlüssig gezeigt, dass der Mensch sich mit<br />
lebenden Systemen verbinden muss, um<br />
geistig und körperlich gesund zu bleiben.<br />
Zu viel Künstlichkeit schadet. Nur in der<br />
unmittelbaren Begegnung mit der Natur<br />
ver<strong>wir</strong>klicht sich Lebenssinn. Jüngere Autoren<br />
wenden die Biophilie-These nun strikt<br />
gegen das Netz. Der US-amerikanische<br />
Bestsellerautor Richard Louv („Das letzte<br />
Kind im Wald“, „Das Prinzip Natur“) stellte<br />
jüngst apodiktisch fest: „Je mehr <strong>wir</strong> uns<br />
technisieren, desto mehr Natur benötigen<br />
<strong>wir</strong>.“ Daraus resultiere ein klinisches Krankheitsbild<br />
mit eigenem Namen, nature deficit<br />
disorder. Statt World Wide Web empfiehlt<br />
Louv das Web of Live.<br />
Bin ich also naturdefizitär und behandlungsbedürftig,<br />
wenn ich mit Waldrapp<br />
Shorty maile? Ganz und gar nicht, springt<br />
mir der Zoologe Josef Reichholf bei und widerspricht<br />
so Louv und Wilson. Natürlich<br />
sei es besser, die Grasmücke im Wald zirpen<br />
zu hören, als ihre Stimme im Internet-Lautarchiv<br />
anzuklicken (www.tierstimmenarchiv.<br />
de). Aber vor viele Pflanzen und Tiere hat<br />
die deutsche Politik den Naturschutz gesetzt,<br />
der uns Menschen, so Reichholfs provokante<br />
These, systematisch von der Natur<br />
abhält, uns von ihr entfremdet. Das Netz<br />
ist für ihn ein einziger großer Befreiungsschlag:<br />
„Wenn das Internet uns mehr virtuellen<br />
Kontakt zur Natur eröffnet, kann<br />
ich eine solche Entwicklung nur begrüßen.<br />
Besser ist das allemal als unsere bisherige<br />
Vorgehensweise im Naturschutz, der alles<br />
daransetzt, den Menschen von der Natur<br />
fernzuhalten, und ihn als Störung einstuft.<br />
Wer sich wenigstens virtuell mit den Tieren<br />
befassen kann, <strong>wir</strong>d das eher auch in<br />
der Realität wollen als jene Menschen, die<br />
durch Schutzbestimmungen von der lebendigen<br />
Natur abgeblockt werden.“<br />
In der Beziehung zur Natur und vor allem<br />
zum Tier geht es also nicht um abstraktes<br />
Verstehen, sondern um den Aufbau<br />
einer emotionalen Beziehung. Erst<br />
wenn <strong>wir</strong> Menschen zu einem Tier nicht<br />
als Vertreter einer Art, sondern als lebendiges<br />
Individuum in Kontakt treten, kommen<br />
<strong>wir</strong> der Natur näher. Reichholf vertritt<br />
eine sympathische These: „Tiere, auch solche<br />
in freier Wildbahn, müssen zu Individuen<br />
mit besonderen Eigenheiten werden.<br />
Zu lange wurden sie lediglich als Vertreter<br />
ihrer Art betrachtet, sogar von Verhaltensforschern.<br />
Das machte sie austauschbar<br />
und normierte sie zum ‚arttypischen Verhalten‘,<br />
aus dem die ‚artgerechte Haltung‘<br />
abgeleitet wurde. Das ist falsch. Erst eine<br />
ausgeprägte Individualität erzeugt Nähe.“<br />
Die Verhaltensforscherin Carola Otterstedt,<br />
Leiterin der 2009 gegründeten<br />
Stiftung „Bündnis Mensch & Tier“, geht<br />
noch einen Schritt weiter. Otterstedt arbeitet<br />
mit tiergestützten Therapien. Für sie ist<br />
es essenziell, das Tier wie den Menschen<br />
konkret anzureden: „Uns berührt immer<br />
eine Persönlichkeit. Auch die eines Tieres.<br />
Erst wenn <strong>wir</strong> ein Tier individuell als Du<br />
ansprechen, <strong>wir</strong>d es interessant.“ Otterstedt<br />
Das Denken<br />
in Biotopen,<br />
die eine<br />
Trennungslinie<br />
zwischen<br />
Mensch und<br />
Natur ziehen,<br />
könnte schon<br />
bald der<br />
Vergangenheit<br />
angehören<br />
120 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Fotos: Johannes Fritz (Seiten 118 bis 121)<br />
Ibisvögel sehen dich an: Johannes Fritz (rechtes Bild) leitet das Waldrapp-Projekt.<br />
Ohne Computer, Internet und menschengeführte Migration (linkes Bild) bliebe das<br />
Schnabeltier hier ausgestorben<br />
verweist auf Martin Bubers Schrift „Ich und<br />
Du“ und sagt: „Nur wenn ein Tier einen<br />
Namen trägt und ich zu ihm Du sagen<br />
kann, ist es für mich relevant.“<br />
Die Buber’sche Du-Evidenz kann ich jeden<br />
Abend mit meiner Katze erleben – aber<br />
mit einem frei lebenden Waldrapp, diesem<br />
seltenen und seltsamen Vogel? Hier kommt<br />
das Internet ins Spiel. Die sozialen Medien<br />
mit ihrer starken Personalisierung können<br />
Anreize schaffen, das Tier als ein Du zu begreifen.<br />
Das Internet erzeugt durch seine<br />
Bilder Empathie, die das Fundament legt<br />
für eine soziale Beziehung. Das Internet als<br />
immer auch visueller Beziehungsstifter zwischen<br />
Mensch und Natur – davon ist Josef<br />
Reichholf überzeugt. Er sieht einen emotionalen<br />
Fortschritt vom starren Foto zum<br />
bewegten Echtzeitbild: „Der Eisbär, der<br />
auf eine treibende Eisscholle springt, be<strong>wir</strong>kte<br />
sicherlich mehr als alle warnenden<br />
Appelle der Klimaforscher mit ihren Grafiken,<br />
die keiner versteht. Tierbilder als Sympathieträger<br />
nutzt der Naturschutz seit langem.<br />
Doch selbst mitzuzittern, ob das per<br />
Livestream begleitete Tier überlebt, und<br />
zu erleben, wer oder was sein Dasein konkret<br />
bedroht, entwickelt eine ganz andere<br />
Größenordnung von Empfindungen, als<br />
es noch so eindringliche Worte oder Fotos<br />
vermögen.“<br />
Doch wie kommen die Tiere ins Internet?<br />
Diese Frage führt zur Disziplin der<br />
Wildtier-Telemetrie. Immer mehr Wildtiere<br />
werden wie Shorty mit leistungsstarken<br />
GPS-Sendern ausgerüstet, mit denen<br />
sie in Echtzeit geortet werden können:<br />
Thunfische, Wildpferde, Störche, Haie,<br />
Meeresschildkröten. Die Tiere senden via<br />
GSM-Modul Daten als SMS an eine Empfangsstation.<br />
Die Sender sind so klein und<br />
robust, dass sich selbst Libellen oder Monarchfalter<br />
technisch aufrüsten lassen. Die<br />
gesendeten Daten liefern wertvolle Informationen<br />
über das Verhalten und die Bewegung<br />
der Tiere. Mit ihnen kann die Außentemperatur<br />
ebenso übertragen werden<br />
wie Herzschlag, Blutdruck, Nierenfunktion<br />
und andere physiologische Daten des Tieres.<br />
Was fühlt eine Schwalbe, wenn sie in<br />
einen Wirbelsturm gerät? Erlebt sie Stress?<br />
Diese Fragen lassen sich bald beantworten.<br />
Der Abgleich zwischen dem inneren<br />
Status des Tieres und der äußeren Situation,<br />
in der es sich befindet, erlaubt – und<br />
das ist eine revolutionäre Neuigkeit – einen<br />
Einblick in das animalische Entscheidungsverhalten<br />
in freier Wildbahn. „Über<br />
die Bewegungsmuster der Tiere können<br />
<strong>wir</strong> verstehen, wie sie denken und wie sie<br />
sich in einer konkreten Situation entscheiden“,<br />
sagt Martin Wikelski, Professor an<br />
der Universität Konstanz, zudem Tiermigrations-Forscher<br />
und Direktor des<br />
Max-Planck-Instituts für Ornithologie in<br />
Radolfzell. Er verantwortet die Icarus-Initiative,<br />
das weltweit größte Projekt zur globalen,<br />
GPS-gestützten Beobachtung von<br />
Tierbewegungen.<br />
Hinter der Initiative stehen renommierte<br />
Universitäten. Unterstützung erhält<br />
Wikelski auch von der Europäischen Weltraumbehörde<br />
Esa und dem Deutschen Zentrum<br />
für Luft- und Raumfahrt. Das Zusammenspiel<br />
der Disziplinen und der Einsatz<br />
neuer technischer Mittel könnten die Verhaltensforschung<br />
revolutionieren: „Früher<br />
konnte man tierisches Verhalten nur dann<br />
beobachten, wenn man in der Nähe war.<br />
Heute erlaubt die Technik ein globales Monitoring<br />
der Tiere rund um die Uhr.“<br />
Die wissenschaftlichen Rohdaten reichen<br />
natürlich nicht aus, um das Tier zu<br />
einem Du aus Fleisch und Blut werden zu<br />
lassen. Der Blutzuckerspiegel einer Galapagos-Riesenschildkröte<br />
ist ein schlechter<br />
Gesprächspartner. Die Daten müssen von<br />
Menschen bearbeitet und gestaltet werden.<br />
Es gilt, die Lebensgeschichte des konkreten<br />
Tieres zu erzählen. Dazu muss man es<br />
taufen. Reichholf: „Erst mit der Namensgebung<br />
<strong>wir</strong>d das Leben eines wild lebenden<br />
Tieres zu einem Schicksal, an dem <strong>wir</strong><br />
Anteil nehmen.“ Er hat auch ein schlagendes<br />
Beispiel parat: „Der ohne zwingende<br />
Notwendigkeit abgeschossene Braunbär<br />
Bruno würde wahrscheinlich heute noch<br />
leben, hätte eine Videoübertragung den<br />
Bären begleitet – das Gleiche gilt für den<br />
Fuchs im Großstadtgarten, den Löwen in<br />
der Kalahari, den Jaguar im brasilianischen<br />
Pantanal oder den Wolf in Brandenburg.“<br />
Nach 30 Jahren rigidem Umwelt- und<br />
Artenschutz, Betretungsverboten und Roten<br />
Listen zuckt man zusammen. Bis gestern<br />
traute man sich nicht, einen Blumenstrauß<br />
am Wegrand zu pflücken, heute<br />
soll man See-Elefanten duzen? Führt das<br />
nicht schnurstracks in genau jenen anthropomorphen<br />
Weltentwurf, aus dem uns das<br />
ökologische Bewusstsein der Moderne eigentlich<br />
befreien sollte? Das bis heute vorherrschende<br />
Denken in Biotopen, die eine<br />
Trennungslinie ziehen zwischen Mensch<br />
und Natur, galt jahrzehntelang als rundum<br />
fortschrittliche Überwindung der unwissenschaftlichen,<br />
weil vermenschlichenden<br />
„Flipper“-Ideologie. Wer mit Delfinen<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 121
| S a l o n | i n t e r n e t d e r t i e r e<br />
reden wollte, zeigte sich als hoffnungsloser<br />
Romantiker.<br />
Josef Reichholf hält dagegen. Er plädiert<br />
für eine Einbettung der Wildtiere in<br />
die Realität der menschlichen Gesellschaft:<br />
„Wir sollten die Personalisierung von Tieren,<br />
wie <strong>wir</strong> sie in den sozialen Medien erleben<br />
können, nicht einfach als Vermenschlichung<br />
abtun. Sehr vielen Tieren käme es<br />
doch sehr zugute, wenn sie tatsächlich emotional<br />
vermenschlicht würden!“<br />
Zum Beispiel meinem Freund Shorty.<br />
Kaum ein Tier hat menschliche Anteilnahme<br />
so nötig wie der archaische Ibisvogel.<br />
Denn er hat weder kuscheliges Fell<br />
noch große Kulleraugen, kein Kindchenschema<br />
weit und breit. Er sieht aus wie ein<br />
zerrupfter Truthahn. Der Zoologe Johannes<br />
Fritz liebt die schwarzen Gesellen dennoch<br />
über alles. Darum leitet er das unter<br />
anderem von der Heinz-Sielmann-Stiftung,<br />
dem Bund Naturschutz in Bayern und der<br />
Universität Wien geförderte europäische<br />
Waldrapp-Projekt.<br />
Der Waldrapp, sagt Fritz, „ist ein Tier,<br />
das längst aus dem kollektiven Bewusstsein<br />
verschwunden ist“. Er starb in Mitteleuropa<br />
vor gut 400 Jahren aus und lebt nur noch<br />
in wenigen Exemplaren in Krisenregionen<br />
des Nahen Ostens. Das Waldrapp-Projekt<br />
soll der Wiederansiedlung dieses imposanten<br />
Vogels in Europa dienen. Da die Tiere<br />
die Routen in die europäischen Sommerquartiere<br />
verlernt haben, müssen sie vom<br />
Menschen dorthin gebracht werden, mit<br />
Ultraleichtflugzeugen. Menschengeführte<br />
Migration nennt sich dieses schwierige Manöver.<br />
Hier entsteht ein ganz neuer Dialog<br />
zwischen Mensch und Wildtier, bekräftigt<br />
Reichholf: „Der mitfliegende Begleiter <strong>wir</strong>d<br />
dabei zum direkten Vermittler des sozialen<br />
Dialogs Tausender Menschen mit den glänzend<br />
schwarzen Ibissen, um deren Überleben<br />
es geht. Ihre Bedürfnisse und Nöte<br />
werden sichtbar und damit nachvollziehbar.<br />
Und auch ihre Fähigkeiten, mit Menschen<br />
zu kommunizieren.“<br />
Im ersten Jahr schon nach der menschengeführten<br />
Migration schaffen die Vögel den<br />
Weg alleine und nehmen Jungvögel mit auf<br />
die Reise – sofern sie heil aus dem Winterquartier<br />
zurückkommen. Das ist keineswegs<br />
sicher. In Italien schießen Jäger<br />
gern auf alles, was nach einem lohnenden<br />
Ziel ausschaut, illegal und unbemerkt.<br />
Doch mit den Sendern <strong>wir</strong>d es möglich,<br />
In den sozialen Medien verbinden sich Menschen, die einzelne Tiere kontinuierlich<br />
beobachten und schützen. Sonst wäre Waldrapp Shorty vielleicht nicht mehr am Leben<br />
eine Öffentlichkeit für den raren Vogel zu<br />
schaffen. Facebook <strong>wir</strong>d zur digitalen Echtzeit-Strategie<br />
gegen Wilderei. Auf der Facebook-Seite<br />
des Waldrapp-Projekts kann<br />
man im März verfolgen, wie Bima, Julio,<br />
Gonzo und Pepe in Tagesetappen von<br />
50 Kilometern nach Österreich zurückkehren.<br />
Je mehr Menschen sich mit den vier<br />
schwarzen Gesellen auf Facebook „befreunden“<br />
und mit ihnen chatten, desto größer<br />
<strong>wir</strong>d der Druck auf die Jagdverbände und<br />
Behörden, hofft Johannes Fritz.<br />
Genau deshalb soll die soziale Vernetzung<br />
mit den kahlen Ibisvögeln Schritt für<br />
Schritt ausgebaut werden. In der nächsten<br />
Stufe will Fritz eine Mobilfunk-App programmieren,<br />
die die Position der Tiere in<br />
Echtzeit angibt. Vorbild ist die App Sharknet,<br />
mit deren Hilfe man das Treiben weißer<br />
Haie im Pazifik direkt verfolgen kann:<br />
„Wenn <strong>wir</strong> so etwas haben, kann man sich<br />
mit einem Klick auf das jeweilige Tier dessen<br />
Lebensgeschichte anzeigen lassen“,<br />
schwärmt der Waldrapp-Experte. „So werden<br />
aus den Tieren echte Persönlichkeiten,<br />
mit denen <strong>wir</strong> kommunizieren können,<br />
mit denen <strong>wir</strong> uns anfreunden – und<br />
das kommt letztlich der Natur zugute.“ Biocaching<br />
nennt sein Max-Planck-Kollege<br />
Wikelski die neue Disziplin. „Damit werden<br />
Menschen in Zukunft die Natur in ihrer<br />
konkreten Umgebung Individuum für<br />
Individuum kennenlernen – und sie werden<br />
durch ihre Beobachtungen zur weiteren<br />
Kenntnis der Tiere beitragen.“<br />
Die Tiere<br />
mischen sich<br />
wieder ein<br />
in ein Leben,<br />
aus dem der<br />
Mensch sie<br />
im Namen<br />
des Tier- und<br />
Artenschutzes<br />
verdrängt<br />
hatte<br />
Foto: Screenshot Facebook<br />
122 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Foto: Privat<br />
Anzeige<br />
Menschen und Tiere rücken dank Internet<br />
wieder zusammen. Und das ist gerade<br />
bei Arten wie dem Wolf entscheidend.<br />
Auch hier funktioniert das Prinzip Nähe.<br />
Markus Bathen ist Wolfsbeauftragter des<br />
Naturschutzbunds Deutschland, Nabu. Er<br />
hat es sich zur Aufgabe gemacht, die umstrittene<br />
Rückkehr des Wolfes in die deutsche<br />
Kulturlandschaft zu moderieren. Ihm<br />
leisten soziale Medien wertvolle Dienste,<br />
um Meister Isegrim dem Kleintierzüchter<br />
verständlich zu machen: „Das Wissen über<br />
den Wolf ist gering, die Ängste sind umso<br />
größer. Wölfe sind nachtaktiv. Man sieht sie<br />
nicht. 364 Tage sind sie nicht präsent. Am<br />
365. Tag hinterlassen sie ein blutiges Knäuel.<br />
Dann kommt der Schock. Wenn Menschen<br />
einzelne Wölfe über Social-Media-Kanäle<br />
verfolgen, kann die Nacht eines solchen<br />
Tieres nacherlebt und ein möglicher Problemfall<br />
besser eingeordnet werden.“<br />
Durch Wissen allein gelingt es nicht,<br />
Vorurteile abzubauen. Dazu sind Erlebnisse<br />
nötig. Getaggte Wölfe, deren Biografie<br />
man im Internet verfolgt, ermöglichen<br />
ein ökologisches Denken. Bathen bilanziert:<br />
„Die ökologische Allgemeinbildung hat mit<br />
den Möglichkeiten des Internets zugenommen.<br />
Das ökologische Prinzip <strong>wir</strong>d besser<br />
verstanden, weil man das konkrete Leben<br />
einzelner Tierindividuen kennt.“ Bathens<br />
These scheint sich zu bewahrheiten. Als im<br />
vergangenen Jahr ein Wolf illegal im Westerwald<br />
geschossen wurde, verbreiteten sich<br />
die Bilder des toten Tieres in Windeseile<br />
über Facebook. Die Medien griffen die Bilder<br />
auf, die allgemeine Entrüstung führte<br />
dazu, dass der Jäger seinen Jagdschein verlor.<br />
Wo der weiße Junghai Sicklefin (männlich,<br />
782 Kilo, 4 Meter) seine Echtzeitspur<br />
über den Flatscreen zieht, da ist Natur 2.0.<br />
Die Tierbiografie tritt mit den animalischsozialen<br />
Medien in eine neue Phase. Facebook<br />
hat das Verhältnis der Menschen zueinander<br />
verändert. Jetzt transformiert es<br />
die Mensch-Tier-Relation. In Zeiten, in<br />
denen sich ein Papst den Namen „Franziskus“<br />
gibt, ist ein solcher Wandel beachtenswert.<br />
Der Wunsch, Tiere zu verstehen,<br />
ja mit ihnen zu sprechen, ist ein<br />
uralter Traum der Menschheit. Er beginnt<br />
mit König Salomo und ist mit dem Pferdeflüsterer<br />
längst nicht am Ende angelangt.<br />
Salomo und der „Horse Whisperer“ Tom<br />
Booker, Daktari und Dr. Doolittle verfügten<br />
über prophetische Fähigkeiten. Sie<br />
hatten ein Geheimwissen. Das Internet<br />
demokratisiert diesen elitären Zugang nun.<br />
Es macht uns zu Tierverstehern.<br />
Der ehemalige Rockstar Peter Gabriel<br />
(„Genesis“) und Vint Cerf, Urvater des Netzes,<br />
mittlerweile bei Google angestellt, gehen<br />
noch einen Schritt weiter. Auf der diesjährigen<br />
Ted-Konferenz, dem Stelldichein<br />
der digitalen Elite, kündigten sie die Gründung<br />
von „The Interspecies Internet“ an.<br />
Das Massachusetts Institute of Technology,<br />
MIT, unterstützt diese ambitionierte Initiative.<br />
Ein artenübergreifendes Internet soll<br />
die Kommunikation zwischen Menschen,<br />
Tieren und anderen intelligenten Wesen<br />
möglich machen: „Alle Arten fühlender Wesen“,<br />
so Cerf, „können verbunden werden.<br />
Wir beginnen zu erforschen, was es bedeutet,<br />
mit jemandem zu kommunizieren, der<br />
keine Person ist.“ Peter Gabriel hofft, schon<br />
bald mit Primaten musizieren zu können.<br />
Die Tiere mischen sich wieder ein in<br />
unser Leben, aus dem <strong>wir</strong> sie im Namen<br />
des Tier- und Artenschutzes verdrängt haben.<br />
Wollen <strong>wir</strong> das? Martin Wikelski kann<br />
genau sagen, warum es elementar wichtig<br />
ist, Tiere besser zu verstehen: „Wir müssen<br />
wieder lernen, welche Bedeutung die Tiere<br />
für uns haben. Es sind nicht nur die Blindenhunde,<br />
die uns helfen. Tiere können<br />
auch echtes Disaster Forecasting leisten – <strong>wir</strong><br />
können größere Vulkanausbrüche am Ätna<br />
mehrere Stunden voraussagen, weil sich die<br />
Ziegen da oben zuvor in Sicherheit bringen.<br />
Elefanten haben ausgeprägte Sensoren für<br />
das Nahen eines Erdbebens oder Tsunamis.“<br />
Seeschlangen hingegen verlassen fluchtartig<br />
Lagunen. Würde man Tierbewegungen systematisch<br />
auswerten, könnte man Katastrophen<br />
wie die von Phuket oder Fukushima<br />
besser bewältigen.<br />
Die Beziehung von Mensch und Tier<br />
steht dank Internet an einem Wendepunkt.<br />
Ein ganz neues ökologisches Denken beginnt,<br />
das mit den grünen Mythen der Vergangenheit<br />
bricht und einen Ausgleich von<br />
Natur und Technik finden will. Das sollten<br />
sich alle schießwütigen toskanischen Jäger<br />
hinter die Ohren schreiben und den Finger<br />
vom Abzug nehmen, wenn mein Freund<br />
Shorty über ihrem Revier auftaucht.<br />
alexander Pschera<br />
ist Medientheoretiker und<br />
Waldgänger und arbeitet derzeit<br />
an einem Buch über „Das<br />
Internet der Tiere“<br />
Foto: Barbara Dietl<br />
Foto: plainpicture / C & P<br />
ISBN 978-3-89684-097-4<br />
Auch als E-Book erhältlich.<br />
Weiter weg ist näher dran:<br />
die irische Journalistin Judy<br />
Dempsey über Merkels Politikstil.<br />
www.edition-koerber-stiftung.de<br />
Der Terror<br />
hat ein neues<br />
Gesicht<br />
464 S., ISBN 978-3-7466-2917-9. € [D] 9,99<br />
Mehr Infos, Coderätsel und<br />
Trailer unter karl-olsberg.de<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 123
| S a l o n | M a n s i e h t n u r , w a s m a n s u c h t<br />
Kulissenzauber<br />
Jean-Léon Gérômes Gemälde „Der<br />
Schlangenbeschwörer“ ist eine<br />
raffinierte Mixtur aus Exotik und Erotik<br />
und zugleich ein zentraler Ausdruck des<br />
französischen Kolonialismus<br />
Von Beat Wyss<br />
Um 1878<br />
entstand<br />
Gérômes<br />
präzise<br />
Fantasie<br />
E<br />
in bunter Haufen von Knaben<br />
und Männern jeden Alters hat<br />
sich im Schutz einer reich verzierten<br />
Wand hingekauert. Vor ihnen<br />
steht auf einem Gebetsteppich der nackte<br />
Junge. Eine Riesenschlange windet sich,<br />
begleitet vom Flötenspiel eines hageren<br />
Greises, um den kindlichen Leib. Beherzt<br />
hält sie der Junge an Kopf und Schwanz.<br />
Obwohl einige der Männer Waffen tragen,<br />
wohnen sie wie wehrlos diesem<br />
Spektakel bei: als entdeckten sie darin<br />
eine bisher ungekannte, verbotene Lust.<br />
Die sich aufreckende Schlange, der bloße<br />
Hintern des Knaben, die verschleierten<br />
Blicke der Krieger – was für ein wunderliches<br />
Bild.<br />
Im Blick der gemalten Orientalen<br />
spiegelt sich aber nichts anderes als der<br />
Blick des Malers selber; und im Blick des<br />
Malers wiederum spiegelt sich die Weltsicht<br />
Frankreichs als Kolonialmacht. Zwar<br />
hatte man nach dem Deutsch-Französischen<br />
Krieg 1871 das Elsass und einen<br />
Teil von Lothringen an Preußen verloren.<br />
Die Dritte Republik aber kompensierte<br />
diesen Verlust am Rhein mit massiven<br />
Kolonisierungskampagnen in Indochina<br />
und Afrika.<br />
Nach damaliger Auffassung galt der<br />
maghrebinische Mensch als ältestes Kind<br />
des französischen Mutterlands, in Anspielung<br />
darauf, dass Algerien Frankreichs<br />
älteste Kolonie war. 1876 wurde<br />
den Algeriern das zweifelhafte Privileg erteilt,<br />
französische Bürger zweiter Klasse<br />
sein zu dürfen. Besonders beliebt waren<br />
die Berber, handelt es sich doch um<br />
ein indigenes Volk in Nordafrika, das der<br />
Christ aus der Lektüre des Alten Testaments<br />
schon kennt. Jean-Léon Gérôme<br />
sah in den Orientalen „lebende Antike“.<br />
Geboren 1824 und aufge<strong>wachsen</strong> in<br />
der idyllischen Kleinstadt Vesoul in der<br />
Franche Comté, hatte der Künstler das<br />
Gymnasium besucht, wo sein Weltbild<br />
durch die Fächer Latein, Griechisch und<br />
alte Geschichte geprägt wurde.<br />
Altersmäßig zwischen Gustave Courbet<br />
und Édouard Manet stehend, dem<br />
Realisten und dem Vorreiter des Impressionismus,<br />
hat Gérôme mit beiden nichts<br />
gemein. Er trägt den romantischen Klassizismus<br />
von Jean-Auguste-Dominique<br />
Ingres noch bis über die Schwelle zum<br />
20. Jahrhundert. Im Gegensatz zu jenen<br />
modischen Schlawinern erhob der<br />
Fotos: Bridgemanart.com, artiamo (Autor)<br />
124 <strong>Cicero</strong> 6.2013
akademische Salonmaler den Anspruch<br />
auf historisch und kulturgeografisch korrekte<br />
Darstellung. Damit malte Gérôme<br />
durchaus im Zeitgeist der Ethnologie, die<br />
sich damals als neue Wissenschaft herausbildete.<br />
Während das Gemälde entstand,<br />
fand die dritte Pariser Weltausstellung<br />
von 1878 statt, die den Künstler mit einer<br />
Ehrenmedaille bedachte.<br />
Mehrere Reisen in den Maghreb,<br />
nach Ägypten und in die Türkei haben<br />
im „Schlangenbeschwörer“ Spuren<br />
hinterlassen. Ausgeführt wurde das Gemälde<br />
im Pariser Atelier nach Bildquellen<br />
aus zweiter Hand. Das Mosaik der<br />
Rückwand ist inspiriert vom Topkapi-Palast<br />
in Istanbul. Doch in der Hauptstadt<br />
des Osmanischen Reiches gab es keine<br />
Schlangenbeschwörer.<br />
Dass Schlangen von nackten jungen<br />
Männern vorgeführt wurden, ist vielmehr<br />
im Ägypten des 19. Jahrhunderts belegt.<br />
Der marmorne Fußboden erinnert denn<br />
auch an die Kairoer Moschee Amr ibn al<br />
As. Der sakrale Charakter des Bildraums<br />
<strong>wir</strong>d unterstrichen von jenem Spruchband<br />
mit Koranversen über den türkisfarbenen<br />
Scheinarkaden. So <strong>wir</strong>d gerade<br />
die Genauigkeit im Detail zur Falle: Eine<br />
Szene, die allenfalls in den Bazar gehört,<br />
spielt in einer Kulisse zwischen Palast und<br />
Sakralraum.<br />
Ebenso hybrid ist die kunterbunte<br />
Mischung von männlichen Beobachtern<br />
in Kriegertrachten aus dem Maghreb,<br />
Ägypten und dem Nahen Osten. Kolonialmessen<br />
boten damals Ethnofolklore von<br />
Schaustellern aus aller Welt. 1893 wurde<br />
Gérômes „Schlangenbeschwörer“ an die<br />
Weltausstellung von Chicago geschickt<br />
und landete so in der New Yorker Kunstsammlung<br />
von Sterling Clark, dem Erben<br />
des Singer-Nähmaschinenimperiums.<br />
Seinen analytischen Platz fand das<br />
Gemälde „Der Schlangenbeschwörer“<br />
hundert Jahre, nachdem es gemalt worden<br />
war, als Umschlagbild von Edward<br />
Saids Buch über Orientalismus, einer<br />
wegweisenden Studie über exotische und<br />
erotische Projektionen im Geist des Postkolonialismus.<br />
B e at W y s s<br />
ist einer der bekanntesten<br />
Kunsthistoriker des Landes.<br />
Er lehrt in Karlsruhe<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 125
| S a l o n | E s s a y<br />
Wenn das Wir entscheidet,<br />
<strong>wir</strong>d das Ich bevormundet<br />
Die inflationäre Rede vom Wir bemäntelt oft ein großes Ego.<br />
Es ist Zeit für eine neue Philosophie der Freiheit<br />
Von Alexander Kissler<br />
S<br />
ofern sich 2013 nichts Umwerfendes mehr ereignen<br />
sollte, stehen Wort und Unwort des Jahres bereits<br />
fest: das Wir und das Ich. Letzteres hat gute Chancen,<br />
auf die Liste der bedrohten Wörter zu gelangen. Denn wer Ich<br />
sagt, ist ein Egoist und Ellenbogenmensch, ein Raffke und Gierschlund.<br />
Das Wir hingegen ist die neue Zeit. Es verheißt Aufbruch<br />
und Aufstieg, ein Zeitalter der Menschlichkeit und Solidarität.<br />
So lauten die Slogans überall, mit denen derzeit Herz<br />
und Hirn verkleistert werden.<br />
Einmal wollte die SPD mit der Zeit gehen und lieh sich für<br />
den Bundestagswahlkampf das Motto einer Leiharbeitsfirma<br />
und behauptet nun, „Das Wir entscheidet“. Wer dieses absolut<br />
souveräne, radikal dezisionistische Wir sein soll, wen es umfasst,<br />
wen es ausschließt, lässt sie im Dunkeln. Der Verdacht liegt<br />
nahe, es könnte mit dem Wir ein sozialdemokratisch verwalteter<br />
Staatsapparat sein.<br />
Jeder Appell an ein Wir trägt diesen definitorischen Makel.<br />
Der Wir-Rausch schwemmt die Begriffe hinweg. Er basiert auf<br />
einer hochverdichteten, hochproblematischen Redefigur, die nie<br />
auskommt ohne Kasernenton – das Wir braucht oder muss –<br />
und nie ohne den meist verschwiegenen Zusatz „… und die anderen“.<br />
Das Wir gemeindet ein und verstößt im Namen eines<br />
kraftmeierischen Ich, das scheinbar von sich absieht, um desto<br />
größer sich aufzublähen, bis hin zum Praeceptor Germaniae, der<br />
im Pluralis Majestatis verkündet, wo es langgehen soll.<br />
Sanfte Töne, in denen das Wir sich ausspricht, sind kein Widerspruch.<br />
Jedes öffentlich eingeklagte Wir ist ein Peitschenknall,<br />
mit dem das Individuum zurechtgestutzt werden soll. Auch Altbischöfin<br />
Margot Käßmann steht da nicht abseits. In ihrem<br />
neuen Buch annociert sie Wege, wie „<strong>wir</strong> die Welt verbessern<br />
können“. Die Käuferschar liest von „Bildern der Zukunft, die<br />
<strong>wir</strong> dringend brauchen“, auch „brauchen <strong>wir</strong> Alternativen und<br />
ermutigende Beispiele“, sollten <strong>wir</strong> „gegen das Unrecht“ antreten<br />
und könnten etwa „das Auto abschaffen, bewusst einkaufen,<br />
Unterschriften gegen Rüstungsexporte sammeln, uns bei<br />
der ‚Tafel‘ ehrenamtlich engagieren“. Margot Käßmann sieht<br />
es so. Bei der Volte aber vom Ich, das <strong>wir</strong>bt, zum Wir, das fordert<br />
und Unterschiede einebnet, bleiben die Freiheitsrechte des<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
126 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Foto: Andrej Dallmann<br />
Individuums gerne auf der Strecke. Das Ich, das sich zum Wir<br />
verkleidet, ist sich selbst nicht genug. Es ist auf Gefolgschaft aus<br />
und Akklamation, nicht auf Diskurs und Dialog. Es ist ein Imperator<br />
in der Hosentasche.<br />
So viel Wir war selten. Autoren und -innen wissen genau,<br />
„warum <strong>wir</strong> uns vom Kapitalismus befreien müssen“ (Jutta Ditfurth),<br />
„warum <strong>wir</strong> uns ändern müssen“ (Alois Glück), „warum<br />
<strong>wir</strong> wieder lernen müssen zu empfinden“ (Arno Gruen), „warum<br />
<strong>wir</strong> in die Natur zurückfinden müssen“ (Helmut Schreier),<br />
„warum <strong>wir</strong> einen neuen Generationenvertrag brauchen“ (Claus<br />
Hipp). Gewiss, auch das Marketing führt Regie. Wer den Eindruck<br />
erweckt, die Menschheit, das maximale Wir, hinter sich<br />
zu scharen, erscheint als Kassandra mit Kennermiene, als globaler<br />
Kümmerer. Gerade die Deutschen schätzen es oft, wenn man<br />
sich um sie kümmert und sie bei der Hand nimmt. Wenn indes<br />
nun auch der ehemalige Daimler-Benz-Vorstandsvorsitzende<br />
Edzard Reuter in der Beletage des Schurigelns angekommen ist,<br />
eine „Republik der Egoisten“ verurteilt und „unsere Denk- und<br />
Handlungsweisen“ zu ändern befiehlt, denn „<strong>wir</strong> sind drauf<br />
und dran, unsere Zukunft aufs Spiel zu setzen“, – dann klopft<br />
der Unernst an die Tür. Weit eher ist Deutschland bekanntlich<br />
das Land des sozialen Engagements, unbeschadet individueller<br />
Ego-Exzesse.<br />
Weit fortgeschritten in der Disziplin des entgrenzten Wir-<br />
Geredes ist das erfolgreiche Autorenduo Michael Hardt und Antonio<br />
Negri. Die Vordenker der „Occupy“-Bewegung versprechen<br />
in ihrem neuen Buch Aufschluss: „Wofür <strong>wir</strong> kämpfen“.<br />
Dieses Wir, das laut Titel einer (natürlich mit Ausrufezeichen hinausposaunten)<br />
„Demokratie!“ den Weg bahnen will, ist über<br />
die erste Person Plural der Professoren hinaus die Avantgarde des<br />
Volkes, „Multitude“ geheißen. Ihr rufen die beiden zum Wir erhöhten<br />
Iche zu: „Wir können nicht heilen, solange die am Hebel<br />
sitzen“ – die Mächtigen aller Couleur. Damit „das Gemeinschaftliche“<br />
herrsche, „müssen <strong>wir</strong> die Freude an der politischen<br />
Beteiligung neu entdecken“ und die parlamentarische Demokratie<br />
überwinden. Dazu gebe es „keine Alternative. Wir sind<br />
auf der Titanic, und Verarmung und Vereinzelung machen unser<br />
Leben grau und leer.“ Pardon: Jedes Leben lebt sich individuell,<br />
„unser Leben“ kann nicht grau und leer sein – wer also ist Wir?<br />
Kein ganz neuer Hut ist die Feier des Wir bei tendenzieller<br />
Abwertung des Ich, das doch Ort sämtlicher Weltwahrnehmung<br />
und -gestaltung bleibt. Der Journalist Christian Schüle skizzierte<br />
2009 einen Weg „Vom Ich zum Wir“, forderte „Rückbindung<br />
an die Gemeinschaft“ und eine „Charta des Gemeinwohls“, eine<br />
neue „Wir-Norm“. Auch Hardt/Negri wünschen sich eine „Verfassung<br />
für das Gemeinsame“. Der Rede vom Wir ist die Liebe<br />
zum Kodex fest eingeschrieben. Ein Jahr nach Schüle verlangte<br />
der Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski schlicht, doch mit<br />
Ausrufezeichen mehr „Wir!“ Der „Solitär“ müsse sich zum „Solidär“<br />
entwickeln, das „Zeitalter gemeinsamen Lebens“ beginnen.<br />
Opaschowski verschwieg die Abgründe nicht. Das Wir-Bewusstsein<br />
sei nötig „im Kampf ums Leben und Überleben in<br />
schwierigen Zeiten“. Im Wir-Gefühl werde „das Vertraute über<br />
alles andere gestellt und das Bodenständige und das Immer-so-<br />
Gewesene wieder geschätzt“. Im Zentrum eines solchen Denkens<br />
stünden „Heim und Heimat“ und „die Gleichgesinnten“.<br />
Hardt/Negri sprechen dann aus, was Nicht-Gleichgesinnten<br />
droht: „Wir müssen die Kirchen der Linken räumen, ihre Türen<br />
verrammeln und sie niederbrennen!“<br />
Derlei Aufruf ist gewiss nicht für bare Münze zu nehmen,<br />
die Rhetorik aber lässt tief blicken. Wo ein Wir herrscht, hat jedes<br />
Ich, das nicht mitmacht, schlechte Karten. Maximilien de<br />
Robespierre rief im Namen des großen Wir und der ihm unterstellten<br />
Tugenden einen „Despotismus der Freiheit“ aus. „Wir“,<br />
sagte er am 5. Februar 1794 vor dem Konvent, „wollen in unserem<br />
Lande die Moral gegen den Egoismus (…), die Grundsätze<br />
gegen die Gewohnheiten, die Pflicht gegen die Höflichkeit (…)<br />
eintauschen“. Bedroht sei dieses brachiale Wir von Menschen,<br />
die er für vogelfrei erklärte, namentlich dem „Schwarm von Ausländern,<br />
Priestern, Adligen und Intriganten, die sich heute auf<br />
dem Boden der Republik breitmachen“. Kein anderes Wort als<br />
das abgründige Wir ist deshalb auch der Refrain jener zutiefst<br />
deutschen Collage, die Elfriede Jelinek 1990 unter dem Titel<br />
„Wolken. Heim.“ aus Texten Hegels, Hölderlins, Fichtes zusammenstellte.<br />
„Wir sind bei uns“, hieß es da immer wieder, „<strong>wir</strong><br />
sind <strong>wir</strong> und wohnen gut in uns.“<br />
Natürlich: Niemand <strong>wir</strong>d sich einen grenzen- und verantwortungslosen<br />
Egoismus wünschen, und nicht jeder, der zur<br />
Herrschaft des Wir aufruft, trägt den Dolch im Gewande. Alle<br />
Rede vom Wir aber vernebelt das Subjekt, grenzt aus und beschneidet<br />
die Freiheit. Zudem – darauf hat der Philosoph Michael<br />
Pauen hingewiesen – „stammt die Ablehnung des Egoismus<br />
aus Zeiten, die auch der individuellen Entfaltung skeptisch<br />
gegenüberstanden“.<br />
Was heute nottut, scheint mir, ist nicht der zwiespältige und<br />
oft verlogene Appell an ein diffuses Wir, der eigene Interessen<br />
bemäntelt. Was heute nottut, scheint mir, sind eine neue Philosophie<br />
und eine neue Praxis der Freiheit, die eben immer eine<br />
hochindividuelle Sache ist. Nur dann kann Platz geschaffen werden<br />
für eine vom moralistischen Wir-Radau verhinderte neue<br />
Moral. Alle Moralität, wusste schon der große liberale Historiker<br />
Lord Acton, beruht auf Freiheit. Nicht vom Wir der Politik,<br />
dem Wir einer Partei, dem Wir eines Staates, dem Wir einer Nation<br />
oder dem Wir eines frei schaffenden Missionars wächst der<br />
Weltgesellschaft Freiheit zu, sondern vom einzelnen Menschen,<br />
der Person.<br />
Darum plädiere ich dafür, weniger Käßmann, Hardt, Negri<br />
und SPD zu lesen und mehr Jens Bjørneboe. Der weithin<br />
vergessene norwegische Freiheitsdenker sagte schon 1956, das<br />
„Zeitalter des Bevormundermenschen“ sei angebrochen. Dagegen<br />
gebe es aber ein Kraut: den einzelnen Menschen. Viele Zeitgenossen<br />
hätten die eigentliche Idee der Freiheit leider vergessen,<br />
das Bewusstsein, dass Freiheit täglich erobert werden muss.<br />
Stattdessen werde „das Zeitalter des Bevormundermenschen als<br />
etwas Natürliches anerkannt, sogar von denen, die darunter leiden“.<br />
Der nächsten Generation, schloss Bjørneboe, sei es deshalb<br />
aufgegeben, „Ritter und Verteidiger des Menschen zu werden.“<br />
Die Zeit ist da.<br />
Alexander Kissler<br />
leitet das Ressort Salon. Von ihm erschien zuletzt<br />
„Papst im Widerspruch. Benedikt XVI. und seine<br />
Kirche 2005 – 2013“ (Pattloch-Verlag)<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 127
| S a l o n | 1 9 3 3 – u n t e r w e g s i n d i e D i k t a t u r<br />
Es waren 0,77 Prozent<br />
Die Volkszählung im Juni 1933 schuf die statistische Grundlage für die<br />
spätere Vertreibung und Ermordung der Juden. Fünfte Folge einer Serie<br />
von Philipp Blom<br />
E<br />
r sieht direkt in die Kamera.<br />
Etwas töricht sieht er aus und<br />
selbstzufrieden, fast, als wäre<br />
er überzeugt, dass keine Frau<br />
ihm widerstehen kann. Das<br />
Foto ist ein offizielles Porträt des Leiters<br />
der „Dienststelle des Sachverständigen für<br />
Rasseforschung beim Reichsinnenministerium“,<br />
Achim Gercke. Er ist blond. Obwohl<br />
das Foto schwarz-weiß ist, darf man<br />
annehmen, dass er blaue Augen hat.<br />
Für Gercke war die Volkszählung vom<br />
Juni 1933 ein karrierefördernder Meilenstein,<br />
obwohl sie nicht die Idee der Nationalsozialisten<br />
gewesen war. Sie hätte schon<br />
drei Jahre früher stattfinden sollen, aber die<br />
Weimarer Republik hatte dafür nicht genügend<br />
Geld gehabt. Nun aber lagen genaue<br />
Daten über Deutschlands Bevölkerung vor,<br />
auch und besonders über den jüdischen<br />
Teil. Laut diesen neuesten Zahlen waren<br />
502 799 Menschen im Deutschen Reich<br />
Juden, davon 144 000 in Berlin, 3,8 Prozent<br />
der dortigen Einwohner. Der größte<br />
Teil der deutschen Juden lebte in Städten,<br />
nur 15,5 Prozent in Orten von weniger<br />
als 10 000 Einwohnern. Etwa 65 Millionen<br />
Menschen insgesamt lebten im Deutschen<br />
Reich, der jüdische Anteil an der Bevölkerung<br />
betrug also gerade 0,77 Prozent.<br />
Deutsche Juden waren mit überwältigender<br />
Mehrheit urban und bildungsorientiert.<br />
Ein Drittel von ihnen arbeitete in<br />
Handel und Gewerbe, nur knapp 2 Prozent<br />
in der Land<strong>wir</strong>tschaft. In Preußen waren<br />
11 674 Anwälte zugelassen, 3370 von<br />
ihnen waren Juden. Unter den Ärzten in<br />
Deutschland betrug der jüdische Anteil<br />
etwa 16 Prozent.<br />
Der Reichssachverständige Gercke<br />
hatte darauf bestanden, im Rahmen der<br />
Volkszählung neben der Religionszugehörigkeit<br />
auch Geburtsorte außerhalb des<br />
Ein Denker und<br />
Forscher im Stil<br />
der Zeit: Der<br />
Biologe Achim<br />
Gercke gründete<br />
1926 ein privates<br />
„Archiv für<br />
berufsständische<br />
Rassenstatistik“.<br />
Die Nationalsozialisten<br />
beförderten<br />
ihn 1933 zum<br />
Leiter der „Dienststelle<br />
für Rasseforschung“<br />
im<br />
Innenministerium<br />
Reiches nachzufragen, um sich ein besseres<br />
Bild über mögliche jüdische Wurzeln<br />
der Befragten zu machen. Ein Geburtsort<br />
in einem Gebiet mit überdurchschnittlich<br />
hoher jüdischer Bevölkerung, besonders in<br />
Osteuropa, galt sofort als verdächtig.<br />
Gercke war durchdrungen vom Rassendenken<br />
des frühen 20. Jahrhunderts.<br />
Sein Vater war Professor für Altphilologie<br />
und hatte gemeinsam mit einem jüdischen<br />
Kollegen an einem Standardwerk<br />
über die Antike gearbeitet. Sohn Achim<br />
kam aus einem humanistischen und toleranten<br />
Haus. Er selbst aber hatte seinem<br />
Leben von Anfang an eine ganz andere Orientierung<br />
gegeben. Schon als Student der<br />
Naturwissenschaften in Breslau, Göttingen<br />
und Freiburg hatte der gebürtige Greifswalder<br />
begonnen, Daten über jüdische Akademiker<br />
zu sammeln. 1926 gründete er<br />
das „Archiv für berufsständische Rassenstatistik“<br />
und arbeitete ab 1931 direkt für<br />
128 <strong>Cicero</strong> 6.2013
Anzeige<br />
Fotos: DDP Images/United Archives, Peter Rigaud (Autor); Grafik: <strong>Cicero</strong><br />
die NSDAP. Seine Kartei umfasste damals<br />
70 000 Namen.<br />
Ein Bewunderer beschrieb 1937 Gerckes<br />
Arbeitsweise: „Der wichtigste Teil war<br />
die Hauptdatei, die den Bestand an jüdischen<br />
Versippungen enthielt und aus circa<br />
50 000 Karten bestand. Bemerken möchte<br />
ich, dass auf mancher Karteikarte die Namen<br />
von drei bis fünf Familienangehörigen<br />
verzeichnet waren. Dieser Bestand bildet<br />
auch heute noch die Grundlage der Gesamtkartei,<br />
ohne die ein weiteres Arbeiten<br />
unmöglich wäre. Anfänglich musste<br />
mit größter Mühe jede einzelne Karte<br />
neu erstellt werden. Für jede Karte waren<br />
eingehende Untersuchungen und Nachforschungen<br />
bei den Pfarr- und Standesämtern<br />
notwendig, ein Verfahren, das<br />
große Mittel und viel Zeit in Anspruch<br />
nahm … Daneben wurde aber all<br />
die Jahre hindurch noch eine<br />
Reihe von jüdischen Zeitungen<br />
gehalten, zum Beispiel die<br />
Frankfurter Zeitung, die Vossische<br />
Zeitung und das Berliner<br />
Tageblatt. Die Familiennachrichten<br />
dieser Zeitungen<br />
wurden ausgeschnitten, aufgeklebt<br />
und karteimäßig eingeordnet.“<br />
Die Kartei wurde Gerckes Machtbasis,<br />
die er mit den Ergebnissen der Volkszählung<br />
weiter ausbauen konnte. Mit<br />
der Machtergreifung verlief der Aufstieg<br />
des rassischen Reinheitswächters steil. Er<br />
machte keinen Hehl aus seinen Überzeugungen<br />
und Absichten. Das im April<br />
1933 erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung<br />
des Berufsbeamtentums“, das von<br />
allen Beamten einen Abstammungsnachweis<br />
verlangte und die fristlose Entlassung<br />
von jüdischen und ideologisch missliebigen<br />
öffentlichen Angestellten ermöglichte,<br />
machte Gerckes Position strategisch noch<br />
wichtiger. Seine Dienststelle war letzte Instanz<br />
in „Rassenfragen“.<br />
Im Mai 1933 schrieb Dienststellenleiter<br />
Gercke in den Nationalsozialistischen<br />
Monatsheften unter dem Titel „Lösung der<br />
Judenfrage“: „Durch den Sieg der nationalsozialistischen<br />
Revolution ist die Judenfrage<br />
als Problem … erkennbar geworden.“<br />
Er sprach von einem „Gegenschlag gegen<br />
die Kriegserklärung Judas“: „Die Juden,<br />
wenn sie auf ewig bei ihren Wirtsvölkern<br />
schmarotzen können, bleiben ein ständiger<br />
Brandherd, an dem das offene, zerstörende<br />
Feuer des Bolschewismus leicht<br />
1933<br />
Anno<br />
Als Deutschland die<br />
Demokratie verlor<br />
immer wieder angezündet werden kann …<br />
Staatlich geregelt werden kann und darf<br />
nur der planmäßige Ausmarsch …“. Seine<br />
Bücher trugen Titel wie „Das Gesetz der<br />
Sippe“ und „Rasse und Schrifttum“.<br />
Die Ergebnisse der Volkszählung 1933<br />
wurden direkt für die Vorbereitung der<br />
großen Volkszählung 1939 verwendet, bei<br />
der auch gezielt nach „Mischlingen“ und<br />
„jüdisch Versippten“ im gesamten Reichsgebiet,<br />
also einschließlich des „heimgekommenen“<br />
Österreichs, gefragt wurde –<br />
eine Datei, die zur Todesliste werden sollte.<br />
Gerckes kometenhafter Aufstieg setzte<br />
sich fort. Er wurde zum Verantwortlichen<br />
für Abstammungsfragen an Universitäten<br />
und Hochschulen und in der<br />
NSDAP und untersuchte prominente<br />
Fälle wie den SS-Obergruppenführer<br />
und Schlächter Reinhard Heydrich.<br />
Sein Wort konnte Karrieren<br />
beenden oder beflügeln.<br />
Im November 1933 wurde<br />
Gercke Reichstagsabgeordneter<br />
und arbeitete an einem<br />
„Sippenamtsgesetz“.<br />
Vielleicht war Gerckes Karriere<br />
zu steil für die Parteigenossen.<br />
1935 wurde er wegen Verstößen gegen<br />
Paragraf 175, den berüchtigten Homosexuellenparagrafen,<br />
verhaftet und aller Ämter<br />
enthoben. Es ist möglich, dass er Opfer einer<br />
Intrige wurde. Er kam in ein Strafbataillon<br />
an der Ostfront und kehrte 1945<br />
aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück.<br />
Danach arbeitete er im Landeskirchlichen<br />
Archiv der Evangelisch-lutherischen<br />
Landeskirche Hannover und als Standesbeamter.<br />
Augenscheinlich betrachteten<br />
die bundesrepublikanischen Vorgesetzten<br />
ihn als geeignet für solche Aufgaben, viele<br />
jüdische Paare gab es ja damals nicht zu<br />
trauen. Bis zu seinem Tod 1997 veröffentlichte<br />
Gercke weiterhin Bücher zur Heimatkunde<br />
und zur fachkundigen Führung<br />
rassisch reiner Völker: zur Imkerei.<br />
Wir werden den Weg in die Diktatur von<br />
1933 weiterhin nachzeichnen. In der nächsten<br />
Ausgabe wenden <strong>wir</strong> uns den Reichskonkordaten<br />
mit den Kirchen zu.<br />
Philipp Blom ist Historiker<br />
und Autor. Seine Bücher „Der<br />
taumelnde Kontinent“ und<br />
„Böse Philosophen“ wurden<br />
mehrfach ausgezeichnet<br />
Ihr Monopol<br />
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6.2013 <strong>Cicero</strong> 129
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GEO. Die Welt mit anderen Augen sehen
B e n o t e t | S a l o n |<br />
illustration: anja stiehler/jutta fricke illustrators<br />
Doch Frau Cello<br />
ist er immer treu<br />
Musiker geben ihre Instrumente ungern aus der<br />
Hand. Auf Reisen ist da Kreativität gefragt<br />
Von Daniel Hope<br />
A<br />
ls Reisender Musiker führen mich Tourneen um den<br />
ganzen Erdball. Die vielen Hürden, die mir und meinen<br />
Kollegen das Reisen erschweren, verlangen eine enorme<br />
Kreativität. Wir Streicher geben unsere Instrumente nie aus der<br />
Hand. Deshalb brauchen Cellisten, wenn sie per Flugzeug unterwegs<br />
sind, nicht nur ein Ticket für sich selber, sondern auch<br />
noch ein zweites für „Mrs. Cello“, die für die Gepäckablage zu<br />
dick ist und einen eigenen Sitzplatz in der Kabine benötigt. Manche<br />
verlangen von der Stewardess sogar eine Extramahlzeit für<br />
ihre Begleitung.<br />
Vor kurzem kam es zu einem Eklat beim berühmten amerikanischen<br />
Cellisten Lynn Harrell. Harrell hatte seine „Mrs. Cello“<br />
bereits vor Jahren als Person beim Meilenprogramm einer amerikanischen<br />
Luftlinie registriert und somit auch Meilen für das<br />
Extraticket kassiert. Eine völlig legitime Angelegenheit, schließlich<br />
muss der Musiker für sein Instrument den vollen Tarif zahlen,<br />
selbst wenn er sein eigenes Ticket reduziert ergattert. Harrell<br />
staunte nicht wenig, als die Fluggesellschaft ihn schließlich ganz<br />
aus ihrem Meilenprogramm warf, seine Meilen konfiszierte und<br />
ihn auf Lebenszeit sperrte.<br />
Bei Geigern ist es in letzter Zeit häufig zu Problemen beim<br />
deutschen Zoll gekommen. Kurz hintereinander sind einige Solisten<br />
bei der Ankunft am Frankfurter Flughafen festgehalten und<br />
ihre Instrumente beschlagnahmt worden, obwohl sie außerhalb<br />
Deutschlands leben oder nur umsteigen wollten. Jeder Musiker,<br />
der von außerhalb der EU einfliegt, muss nämlich sein Instrument<br />
beim Zoll deklarieren, ob es ihm gehört oder nicht. Ansonsten<br />
droht ihm eine hohe Geldstrafe. Allerdings scheinen gewisse Beamte<br />
an den verschiedenen Flughäfen nicht immer informiert zu<br />
sein, wie die Regeln tatsächlich lauten. So werde ich öfters mit<br />
fassungslosen Blicken konfrontiert, wenn ich morgens um 5 Uhr,<br />
gerade aus Amerika gelandet, den Herrschaften zu erklären versuche,<br />
dass das Instrument nicht „Neuware“ ist, die im Drittland<br />
günstig eingekauft wurde, sondern ziemlich alt.<br />
Nur in Russland gibt es immer wieder interessante Begegnungen<br />
beim roten Zolldurchgang. Die Unterhaltung verläuft etwa so:<br />
„Guten Tag, ich bin Geiger.“<br />
Der Beamte sagt: „Moment.“<br />
Danach kommt der nächste und fragt: „Was wollen Sie?“<br />
„Ja, ich bin Geiger, ich spiele hier ein Konzert.“<br />
„Aha, Konzert! Geiger. Moment.“<br />
Dann kommt wieder ein anderer, und irgendwann <strong>wir</strong>d man<br />
an eine Frau weitergereicht, eine ziemlich massive Frau in Uniform.<br />
Die sagt: „Skripka, aha. Auspacken. Sofort!“<br />
Man steht am Flughafen, die Leute gehen an einem vorbei,<br />
und du musst die Geige herausnehmen. Du bist ganz vorsichtig.<br />
Und die Frau in Uniform packt sie mit dicken, tintenbeklecksten<br />
Fingern, reißt sie an sich, schüttelt sie und dreht sie. „Stradivari?“<br />
„Nein.“<br />
Sie guckt noch einmal. „Guadagnini?“<br />
„Nein.“ Jetzt guckt sie die Geige fast herablassend an.<br />
Und dann fängt sie an, die ganze Palette von Geigenbauern<br />
aufzusagen. „Ruggieri?“<br />
„Nein.“<br />
„Testore?“<br />
„Nein.“<br />
Es ist schon erstaunlich. In anderen Ländern kennt ein Zollbeamter<br />
höchstens die „Stradivari“. Aber sie, die russische Dame<br />
vom Zoll, kennt fast alle. Gereizt fragt sie: „Ja, was ist es denn?“<br />
„Es ist eine Guarneri.“<br />
Augenrollend fotografiert sie die Geige, notiert und stempelt<br />
alles. Das Procedere dauert fast eine halbe Stunde.<br />
Russen besitzen übrigens einen wunderbaren, skurrilen Humor.<br />
Eine Musikeranekdote der ehemaligen Leningrader Philharmoniker<br />
gefällt mir besonders: Eines Abends, während einer Tournee<br />
durch die Vereinigten Staaten, bei einer Feier im Hotelzimmer der<br />
Musiker, ließ jemand eine brennende Zigarette auf das Sofa fallen.<br />
Anstatt ein Kissen auf den Brandfleck zu legen, um die Beschädigung<br />
zu verbergen, beschlossen die Musiker, dass einer von ihnen<br />
mitten in der Nacht in einem Baumarkt, der 24 Stunden geöffnet<br />
hatte, eine Axt kaufen sollte. Gesagt, getan. Dann wurde das<br />
Sofa in Stücke gehackt und in Kleinteilen im Gepäck herausgeschmuggelt.<br />
Als der Manager des Hotels irgendwann fragte, wo<br />
bitte sehr das schöne Sofa aus Zimmer 413 geblieben sei, zuckten<br />
alle die Schultern und sagten nur: „Welches Sofa?“ Reisende<br />
Musiker sind eben besonders erfinderisch.<br />
Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband<br />
„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch<br />
„Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt)<br />
und die CD „Spheres“ (Deutsche Grammophon). Er lebt in Wien<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 131
| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />
132 <strong>Cicero</strong> 6.2013
This is<br />
doch kein<br />
vergnügen<br />
hier<br />
Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />
Die Entertainerin Gayle Tufts sucht das<br />
Lustige am Leben und das Heitere in<br />
Büchern, auch wenn diese sehr ernst sind:<br />
Zu Besuch bei einer Frau, die Worte inhaliert<br />
Von claudia Rammin<br />
S<br />
ie schwärmt von olivia, dem frechen Ferkel, das Kunst<br />
und Kultur liebt. Das gerne tanzt, von einer großen<br />
Karriere als Bühnenstar träumt und abends im Bett<br />
Bücher geradezu verschlingt, statt zu schlafen. Olivia<br />
ist dick, zwängt sich in schrille Kostüme und torkelt<br />
selbstbewusst durchs Leben. Die hyperaktive Heldin ihres Lieblingskinderbuchs<br />
erinnert sie an das kleine Mädchen, das sie selbst<br />
einmal war, erzählt Gayle Tufts. Das Buch liegt aufgeschlagen<br />
vor ihr. Geschrieben und gezeichnet hat „Olivia“ der amerikanische<br />
Designer und Illustrator Ian Falconer, der auch Titelblätter<br />
für den New Yorker gestaltet. Die ursprünglich als Geschenk für<br />
seine Nichte gedachte feinsinnige Bildergeschichte über Kinderträume<br />
wurde ein Welterfolg.<br />
Ihrem Alter Ego steht Gayle Tufts in nichts nach. Sie gilt als<br />
eine der besten Entertainerinnen der deutschen Comedy-Szene.<br />
Die 52-Jährige mit dem dunklen Struwwelpeterhaar und der markanten<br />
Nase kniet in Jeans und Sneakern auf dem Parkettboden<br />
im Arbeitszimmer ihrer Berliner Altbauwohnung mit Blick auf<br />
das Schöneberger Rathaus. Die Kinderbücher stehen im untersten<br />
Regal der schlichtweißen Bücherwand, leicht zugänglich für kleine<br />
Besucher, denen Gayle Tufts gerne vorliest. Sie fahndet nach einem<br />
weiteren Schatz ihrer Kindheit: „One Fish Two Fish Red Fish<br />
Blue Fish“, einem Klassiker des amerikanischen Kinderbuchautors<br />
Dr. Seuss, mit dem sie lesend groß geworden ist. „Alles ein bisschen<br />
anarchisch, aber irgendwie auch mein Lebensmotto: From<br />
there to here, from here to there, funny things are everywhere.“<br />
Gayle Tufts war früh auf der Suche nach den lustigen Dingen<br />
im Leben, schon damals in dem trostlosen Nest Brockton in<br />
Massachusetts, „einer Art Ruhrpott am Meer“, wie sie sagt. Die<br />
Tochter einer Supermarkt-Kassiererin und eines Barkeepers entdeckte<br />
dank ihrer stets vorlesenden Mutter schon als 4-Jährige die<br />
örtliche Bibliothek als ihr Abenteuerland. Das Eintauchen in die<br />
Traum- und Gefühlswelten anderer Menschen habe sie wie eine<br />
Offenbarung empfunden. Noch heute ergehe es ihr so, „Bücher<br />
sind für mich Nahrung und Inspiration“ – für sie als Autorin autobiografischer<br />
Sketche und Bücher wie „Miss Amerika“. Ihre<br />
Sehnsucht, zu schreiben, habe sie dann mit John Updike entdeckt.<br />
Die gesammelten „Rabbit“-Bände und weitere Updike-Werke<br />
stehen fast am Ende der alphabetisch geordneten Belletristik-Abteilung<br />
mit T. C. Boyle, William Boyd, Ian McEwan, John Irving,<br />
vor allem „Garp und wie er die Welt sah“, ihr „erstes Er<strong>wachsen</strong>en-<br />
Buch“. In ekstatische Bewunderung gerät Gayle Tufts, wenn sie<br />
über ihre Neuentdeckung „Vom Ende einer Geschichte“ spricht.<br />
Sie habe Bleistift, Papier und Notizbuch wegpacken wollen, weil<br />
Julian Barnes ihr das eigene Unvermögen vor Augen führe. „Das<br />
ist Schreiben, da ist kein Stück Fett, nichts Überflüssiges“, sagt<br />
sie, mit Betonung auf Fett. Auch die „Neun Erzählungen“ von<br />
J. D. Salinger seien Juwelen, in denen sie sich Futter und Anleitung<br />
für ihren – noch zu schreibenden – Roman holt.<br />
Es sind Geschichten über die skurrilen Wunder des Alltags, die<br />
sie geradezu inhaliert, wie auch in „Middlesex“ von Jeffrey Eugenides<br />
oder in „Letzte Nacht“ von Stewart O’Nan, einem ihrer<br />
amerikanischen Lieblingsautoren. Wort- und gestenreich schildert<br />
sie, wie traurig sie am Ende der jeweiligen Lektüre war. Besonders<br />
bei „Emily, allein“, ebenfalls von O’Nan. Er beschreibe einfühlsam<br />
die Seelenlage einer Witwe, die überlegt, was sie mit der<br />
Zeit machen soll, aus der sie gefallen zu sein scheint. Es erinnere<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 133
| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />
Dieses Ferkel ist so frei: An die quietschfidele Olivia verlor Gayle Tufts früh schon ihr Herz. Das mit seinen<br />
Proportionen hadernde Borstenvieh ist unbeirrbar frohgemut und unheilbar süchtig nach Büchern. Auch<br />
Gayle Tufts lässt sich in ihrem Drang nach Gedrucktem von keinem Höhenmeter abschrecken<br />
sie an ihre verstorbene irisch-amerikanische Mutter, über die sie<br />
in ihrer One-Woman-Show „Some like it Heiß (sic!)“ und in einem<br />
gleichnamigen Buch berichtet: Die habe sich mit 80 Jahren<br />
das Rauchen abgewöhnt und nur noch Hummer sowie die Verstreuung<br />
ihrer Asche am Atlantikstrand verlangt.<br />
Ihre Jugend verbringt Gayle Tufts lesend und später in der Theatergruppe<br />
einer Highschool für Hochbegabte in ihrer Heimatstadt.<br />
Tanzend kompensiert sie ihre Körperfülle. „Ich war ein dickes,<br />
sehr dickes Kind, das perfekt sein wollte und aus Angst vor<br />
dem Versagen alles in sich hineingestopft hat“, sagt sie. Die Jüngste<br />
von drei Geschwistern will raus aus Brockton, macht als einzige<br />
mit einem Stipendium einen Abschluss am New York University’s<br />
Experimental Theatre Wing, wo sie Schauspiel, Gesang und Tanz<br />
studiert hat. Tagsüber wechselt sie Windeln in einem Montessori-<br />
Kindergarten, abends tingelt sie mit einer Truppe durch die Off-<br />
Szene der Metropole. Sie arbeitet mit Regisseurinnen wie Anne<br />
Bogart und Yoshiko Chuma zusammen, Bette Midler ist ihr großes<br />
Vorbild.<br />
Zahlreiche Biografien starker Frauen wie Monroe, Garland,<br />
Dietrich, „all those divas“, aber auch Madeleine Albright und<br />
Hillary Clinton thronen im Regal über den Kinderbüchern und<br />
neben den Krimis. Mangelndes Selbstbewusstsein kann der bekennenden<br />
Streberin Tufts nicht nachgesagt werden, „<strong>wir</strong> wissen,<br />
wie man Entertainment macht“, auch wenn sie ihren Erfolg mit<br />
den Worten „I could have done better“ zu schmälern versucht.<br />
Als Gayle Tufts nach 13 Jahren in New York mit leeren Taschen<br />
Anfang der neunziger Jahre nach Berlin kommt, kennt sie<br />
nur wenige deutsche Worte wie Kindergarten, Volkswagen, Blitzkrieg.<br />
Die ersten zwei Jahre seien wie ein bizarrer Stummfilm gewesen.<br />
Auf einen Sprachkurs hatte sie keine Lust. Sie verfolgt<br />
Nachrichten im Fernsehen, hört Radio und lernt durch Freunde<br />
und als Backup-Sängerin von Max Goldt. Ihm verdankt sie auch<br />
ihr erstes intensives Deutschtraining. Nie werde sie den Satz eines<br />
wunderschönen Liedes von ihm vergessen: „Schimmliges Brot<br />
ist selten ein Vergnügen.“ Aber auch heute tut sie sich schwer mit<br />
den Umlauten und mit der Tatsache, dass es seltsamerweise „der<br />
Büstenhalter“ heißt. „Die Artikel machen mich fertig“, seufzt sie<br />
und rollt mit den Augen.<br />
Inzwischen hat sie sich dem Land und seiner Sprache angenähert,<br />
ohne „den Blick von außen auf das andere, auch auf sich<br />
selbst und ihre Eigenheiten zu verlieren“. Und sie hat gelernt,<br />
nicht zuletzt mithilfe ihres norddeutschen Mannes und Managers,<br />
ihren typisch amerikanischen, ahnungslosen Enthusiasmus<br />
mit deutschem Pragmatismus zu zügeln. „Er gibt mir Bodenständigkeit,<br />
ich gebe ihm Pfeffer“, schmunzelt sie. Den hat sie<br />
zur Genüge im Blut. Sie spricht so schnell, als treibe sie jemand<br />
an. Auch auf der Bühne parliert die Botschafterin der „You can<br />
talk“-Kampagne eines deutschen Schulbuchverlags blitzgescheit<br />
und in Stakkato in schönstem „Dinglish“. Dem selbst erfundenen<br />
Sprachzwitter zwischen Deutsch und Englisch werden sogar<br />
didaktische Potenziale nachgesagt.<br />
Sie liebt die deutsche Sprache und liest dennoch Bücher überwiegend<br />
in der Muttersprache. Ein- bis zweimal im Jahr fährt sie<br />
mit einem Packen Bücher auf die Insel Föhr oder nach Rügen.<br />
Handy, Computer und Fernseher bleiben in der Lese-Enklave<br />
stumm. Sie hofft, eines Tages das umfängliche Meisterwerk von<br />
David Foster Wallace „Infinite Jest“ bewältigen zu können. Der<br />
„Unendliche Spaß“ lässt sie nicht los, obwohl mehrfache Versuche<br />
kläglich gescheitert seien.<br />
Dann greift sie kompensatorisch zur „Chick-Lit“, geschmeidiger<br />
Literatur für Frauen, geschrieben von Bridget Jones oder Candace<br />
Bushnell. Das sei keine Vollwertkost, sondern eine Pralinenschachtel.<br />
Nur wenn sie übermüdet ist, darf es die Vogue sein, wenn<br />
es ganz schlimm ist, auch die Gala. Immerhin habe sie durch das<br />
sehr gute Kreuzworträtsel darin ihr Deutsch verbessert, sagt sie<br />
und verschluckt sich fast am Lachschwall. Perfekt werde sie die<br />
Sprache wohl nie beherrschen. Aber sie freue sich schon sehr darauf,<br />
eines Tages einer namhaften Zeitung einen Leserbrief schreiben<br />
zu können, weil sie einen Grammatikfehler entdeckt habe.<br />
Claudia Rammin<br />
ist freie Journalistin in Hamburg und hat<br />
sich in den Humor des österreichischen<br />
Kabarettisten Viktor Gernot verknallt<br />
Fotos: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong>, Privat (Autorin)<br />
134 <strong>Cicero</strong> 6.2013
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136 <strong>Cicero</strong> 6.2013
D i e l e t z t e n 2 4 S t u n d e n | S a l o n |<br />
Wer flennt, fliegt raus!<br />
Schauspieler Uwe Ochsenknecht ist keiner Religion hörig, glaubt<br />
aber an die Reinkarnation. In seinen letzten 24 Stunden würde er<br />
meditieren – und hoffen, nicht zur Heuschrecke zu werden<br />
Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />
W<br />
enn man jung ist, verschwendet<br />
man ja keinen Gedanken<br />
an so etwas. Aber jetzt? Ein<br />
Unfall, ein Koma, eine plötzliche Ohnmacht<br />
– das wäre schlimm. Lieber liege<br />
ich schön auf dem Sterbebett, bei vollem<br />
Bewusstsein, und habe keine Schmerzen.<br />
Wofür gibt es Morphium? Für dieses<br />
letzte riesige Abenteuer, die letzte große<br />
Reise – ein geiler Trip, munkelt man. Am<br />
schönsten wäre es, wenn man dann sagen<br />
kann: Okay, kann losgehen, ich bin bereit!<br />
Dann hat man alles richtig gemacht.<br />
Alles andere ist dann auch völlig unerheblich.<br />
Ob man hübsch ist, Geld hat oder<br />
berühmt ist – alles wurscht!<br />
Angst vor dem Tod zu haben, finde<br />
ich dämlich und kindisch. Sobald man<br />
auf die Welt kommt, weiß man, dass die<br />
Uhr läuft. Und plötzlich tut man so, als<br />
hätte man nichts davon gewusst. Aber am<br />
Tod gibt es nun mal nichts zu rütteln. Da<br />
kommt keiner drum herum. Das <strong>wir</strong>d<br />
auch alles seine Ordnung so haben. Ich<br />
möchte nur nicht daliegen und denken,<br />
scheiße, hätte ich doch das oder das noch<br />
gemacht. Das Leben ist einfach zu kurz,<br />
und ich habe noch viel zu wenig von der<br />
Welt gesehen …<br />
Die Asiaten befassen sich seit Jahrtausenden<br />
mit diesem Thema. Es gibt<br />
Wenn Uwe Ochsenknecht auf<br />
dem Bildschirm erscheint, ist es<br />
Zeit für liebenswerte Schussel und<br />
überforderte Männer. Doch auch<br />
den Prinzen Luitpold im Kinofilm<br />
„Ludwig II.“ gab er schon. Und mit<br />
seiner Band lässt er es ordentlich<br />
krachen, auf mittlerweile schon fünf<br />
Alben, ein sechstes ist in Arbeit.<br />
www.cicero.de/24stunden<br />
ein tibetisches Totenbuch, das lange im<br />
Verborgenen gehalten wurde. In diesem<br />
Buch <strong>wir</strong>d der Sterbevorgang genau erklärt,<br />
mit seinen verschiedenen Phasen<br />
und Stufen. Die Buddhisten glauben, so<br />
lange reinkarniert zu werden, bis man ein<br />
bestimmtes Bewusstseinslevel erreicht hat,<br />
auf dem man sich nicht mehr abhängig<br />
macht von materiellen Dingen.<br />
Ich habe vier Wochen in einem tibetischen<br />
Kloster gelebt und bin durch die<br />
Meditation zu mir selbst gekommen. Alles<br />
beruhigt sich, man lebt in Harmonie<br />
mit sich und seiner Umwelt. Sollte ich<br />
das nächste Mal auf die Welt kommen,<br />
erreiche ich hoffentlich eine höhere Stufe.<br />
Als Ameise kann ich nicht wiedergeboren<br />
werden, der Unterschied wäre zu krass.<br />
Zur Strafe zur Heuschrecke werden, so<br />
funktioniert das nicht. Glaube ich. Meine<br />
Schwester war vielleicht mal meine Mutter,<br />
und im nächsten Leben werde ich<br />
vielleicht ihr Onkel. Aber man bewegt<br />
sich immer im selben Zirkel – und lebt<br />
so ewig weiter.<br />
Ich bin keiner Religion hörig. Wenn<br />
man negativ ist, zieht man Negatives an.<br />
Wenn man positiv ist, zieht man Positives<br />
an. Das hat mit Glauben nichts zu tun,<br />
das sind einfache Fakten. Es gibt auch<br />
keine Zufälle oder Schicksal. Das wäre<br />
zu einfach. Sein Leben muss man schon<br />
selbst leben, mit eigenen Taten und Gedanken.<br />
Darauf zu warten, bis einer<br />
kommt, der einem das abnimmt, ist feige.<br />
Bevor es zu Ende geht, möchte ich<br />
keine Leute dabei haben, die mich nerven<br />
mit ihrer Flennerei und ihrer Traurigkeit.<br />
Und um Gottes willen bitte<br />
nichts Schwarzes. Alles müsste lustig<br />
und bunt sein, man isst noch ein bisschen<br />
was, trinkt noch einen – immerhin<br />
ist es ein Abschied für eine längere Reise.<br />
Schade, das war ein bisschen kurz, denke<br />
ich mir dann. Aber wenn einer flennt,<br />
dann fliegt er!<br />
Aufgezeichnet von Sarah-Maria Deckert<br />
6.2013 <strong>Cicero</strong> 137
C i c e r o | P o s t S c r i p t u m<br />
Mix and Match<br />
Von Alexander Marguier<br />
W<br />
er mit der Mode geht, will sich natürlich nicht festlegen<br />
– vor allem nicht zu früh. Könnte ja sein, dass der<br />
schicke neue Ringelpulli in ein paar Monaten schon<br />
wieder alt aussieht. Und alt aussehen, darauf haben Deutschlands<br />
modernste Parteien verständlicherweise gar keine Lust.<br />
Deswegen warten CDU und CSU derzeit einfach noch in aller<br />
Ruhe ab, mit welchen Farben und Schnitten man sich in der<br />
nächsten Saison von seiner besten Seite zeigen kann. Sollen die<br />
anderen doch mal machen, in der Union haben sie es mit der<br />
Präsentation ihrer nächsten politischen Herbst-Winter-Kollektion<br />
nicht so eilig. Denn je näher die Öffentlichmachung des<br />
Wahlprogramms am Termin für die Bundestagswahl liegt, desto<br />
geringer die Gefahr, dass irgendein Trend verpasst <strong>wir</strong>d.<br />
CDU/CSU orientieren sich derweil am Geschäftsmodell<br />
von H & M: Der schwedische Bekleidungskonzern ist ja bekannt<br />
dafür, mit seiner Produktion in Windeseile auf unvorhergesehene<br />
modische Entwicklungen reagieren zu können. Wenn<br />
die werte Kundschaft über Nacht ihre Leidenschaft für halterlose<br />
Tops mit Tigermuster entdeckt, dann werden ein paar Tage<br />
später die H & M-Shops mit der begehrten Ware geflutet. Flexibilität<br />
als Basis für den Erfolg. In der Union funktioniert die<br />
Methode H & M (dort steht die Abkürzung dem Vernehmen<br />
nach für „Horst & Mutti“) so ähnlich, es heißt nur ein bisschen<br />
anders. Nämlich „Mitmach-Aktion“. Klingt ja auch ganz sympathisch,<br />
wenn die Parteimitglieder noch bis Ende Mai im Internet<br />
darüber abstimmen dürfen, „welche Forderungen ihnen<br />
besonders wichtig sind und in das Regierungsprogramm<br />
der Union einfließen sollen“, wie CDU-Generalsekretär Hermann<br />
Gröhe in einer offiziellen Verlautbarung mitteilen lässt.<br />
„Dabei geht es beispielsweise um die Stabilisierung des Euro,<br />
<strong>wir</strong>tschaftliches Wachstum und Beschäftigung, eine familiengerechte<br />
Arbeitswelt, tarifliche Mindestlöhne, medizinische Versorgung<br />
auf dem Land oder Lebensmittelsicherheit.“<br />
Die neue digitale Volkstümlichkeit hat nur einen Haken:<br />
Beschlossen <strong>wir</strong>d das gemeinsame Wahlprogramm von CDU<br />
und CSU am 23. Juni während einer Sitzung der beiden Parteivorstände.<br />
Ganz so flüssig ist die liquid democracy in ihrer<br />
schwarzen Variante dann wohl doch nicht. Aber ein bisschen basispiratischer<br />
Geist macht sich eben auch in der Union ganz gut.<br />
Wie gesagt: bloß nicht alt aussehen!<br />
Was von Hermann Gröhes gönnerhafter Mitmach-Aktion<br />
am Ende übrig bleibt, darüber entscheiden denn auch weniger<br />
die Mitglieder der CDU. Sondern wie üblich die Entwürfe<br />
und Schnittmuster aus dem Lager der politischen Konkurrenz.<br />
Da allerdings haben die Designer des grün-roten Gesellschaftsmodells<br />
den Trend bereits vorgegeben: Steuererhöhungen sind<br />
en vogue, bei der Umverteilung ist Schluss mit kleinem Karo,<br />
bürgerliche Beinfreiheit war gestern. Weil das Wir entscheidet,<br />
kann man sich im liberalen Outfit bald auf keiner Party mehr<br />
sehen lassen. Denn it’s so Nineties! Es müsste also schon mit dem<br />
Teufel oder Friedrich Merz höchstpersönlich zugehen, wenn<br />
die Union ihre programmatische Konfektion früher oder später<br />
nicht entsprechend anpasst. Vorausgesetzt natürlich, die Grünen<br />
behaupten sich auch mit ihren Steuerplänen weiterhin als<br />
It‐Partei.<br />
„Der Look dieses Sommers ist lässig, besitzt aber einen<br />
Hauch von Eleganz. Er lässt sich einfach mit anderen Favoriten<br />
Ihrer Garderobe kombinieren.“ Mit diesen Worten be<strong>wir</strong>bt<br />
H & M seine aktuelle Herren-Sommerkollektion. Sie<br />
könnten auch als Leitmotiv über dem künftigen Wahlprogramm<br />
von CDU und CSU stehen. Die postideologische<br />
Union hat schließlich hart genug an ihrem lässigen Image gearbeitet;<br />
der Hauch von Eleganz kam in der Ära nach Oggersheim<br />
fast von allein dazu. Dass sie sich inzwischen auch inhaltlich<br />
umstandslos mit allen möglichen Weltanschauungen<br />
kombinieren lässt, ist da nur konsequent. CDU/CSU, das ist<br />
die neue Mix-and-Match-Partei. Nicht <strong>wir</strong>klich modern. Aber<br />
immerhin modisch.<br />
Alexander Marguier<br />
ist stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />
Illustration: Christoph Abbrederis; Foto: Andrej Dallmann<br />
138 <strong>Cicero</strong> 6.2013
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