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Cicero Hurra, wir wachsen! (Vorschau)

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Juni 2013<br />

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<strong>Hurra</strong>,<br />

<strong>wir</strong> <strong>wachsen</strong>!<br />

Das Demografie-Wunder:<br />

Deutschland auf dem Weg zum<br />

100-Millionen-Volk<br />

Fracking<br />

Öko-Horror oder Energie-Hoffnung:<br />

Zerredet Berlin den neuen Rohstoff-Boom?<br />

NSU<br />

Der Weg des Nazi-Trios in den Untergrund<br />

Auf Du mit dem Gnu<br />

Das neue Verhältnis von Mensch und Tier<br />

„Wer flennt, fliegt raus“<br />

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so einzigartig<br />

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sein Autor<br />

Und dann ist da ja noch die Medaille!<br />

Die Fields-Medaille, die die Anwärter kaum zu nennen<br />

wagen, die FM. Die höchste Auszeichnung für einen<br />

Mathematiker, der in der Blüte seines Lebens steht.<br />

Sie <strong>wir</strong>d alle vier Jahre auf dem Internationalen<br />

Mathematikerkongress an zwei, drei oder vier Mathematiker<br />

verliehen, die jünger als 40 Jahre sind.<br />

Natürlich gibt es in der Mathematik schicke Preise!<br />

Der Abel-Preis, der Wolf-Preis, der Kyoto-Preis – sie<br />

alle sind zweifellos noch schwerer zu bekommen als<br />

die Fields-Medaille. Aber sie haben nicht denselben<br />

Widerhall, dasselbe Ansehen. Und sie kommen am<br />

Ende der Laufbahn und spielen nicht dieselbe Rolle<br />

als Sprungbrett und Ermutigung. Die FM hat eine<br />

viel größere Ausstrahlung.<br />

Man denkt nicht an sie, und man arbeitet nicht<br />

für sie. Das würde Unglück bringen. Man nennt sie<br />

nicht einmal, und ich vermeide es, ihren Namen<br />

auszusprechen. Ich schreibe FM, und der Empfänger<br />

versteht. (…) Die Altersgrenze von 40 Jahren, was<br />

für ein Druck! Ich bin zwar erst 35 … Aber die Regel<br />

wurde beim letzten Internationalen Kongress 2006<br />

in Madrid verschärft. In Zukunft muss man am<br />

1. Januar des Kongressjahres unter 40 sein. In dem<br />

Moment, als die neue Regel öffentlich verkündet<br />

wurde, habe ich verstanden, was das für mich bedeutete:<br />

2014 wäre ich 3 Monate zu alt; die FM kommt<br />

also 2010 oder nie. (…) Ich spreche mit niemandem<br />

darüber. Um meine Chancen zu vergrößern, die<br />

Medaille zu ergattern, darf ich nicht daran denken.<br />

Nicht an die FM denken, einzig<br />

und allein an ein mathematisches<br />

Problem denken,<br />

das mich mit Leib und Seele<br />

beschäftigt.<br />

Lesen Sie weiter…<br />

Cédric Villani<br />

Das lebendige Theorem<br />

304 Seiten, geb.,<br />

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C i c e r o | A t t i c u s<br />

Von: <strong>Cicero</strong><br />

An: Atticus<br />

Datum: 23. Mai 2013<br />

Thema: Demografie, Fracking<br />

Der große Irrtum<br />

Titelbild: Jens Bonnke; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

A<br />

lles war so weit fertig. Titelstrecke geplant und durchfotografiert, Cover-<br />

Illustration auf gutem Wege, die passende Schlagzeile im Kopf – und dann kam<br />

es anders. Als das bewährte <strong>Cicero</strong>-Autorenduo Andreas Rinke und Christian<br />

Schwägerl kurz vor Redaktionsschluss für diese Ausgabe seinen Text über das <strong>wachsen</strong>de<br />

Deutschland vorlegte, waren sich in der Redaktion ungewohnt schnell alle einig: Das ist neu,<br />

das ist wider alle Erwartung, das ist der Titel!<br />

Zu den Grundannahmen dieses Landes gehörte bislang: Deutschland schrumpft. Wir<br />

sind ein 80-Millionen-Volk und müssen eher fürchten, auf die 60 Millionen zu fallen,<br />

als die 100‐Millionen-Marke anzupeilen. Alle Politik gründet auf dieser Annahme, alle<br />

Steuerprognosen, alle Berechnungen der Entwicklung unserer sozialen Sicherungssysteme,<br />

alle Überlegungen der Regierung: „Wenn <strong>wir</strong> auf Deutschland schauen, ungeachtet<br />

möglicher Zuwanderungsraten, dann wissen <strong>wir</strong>, dass <strong>wir</strong> insgesamt weniger werden“, sagte<br />

Angela Merkel Ende April vor dem Deutschen Ethikrat. Ein Demografie-Gipfel folgt auf den<br />

nächsten, um dieser Malaise etwas entgegenzusetzen. Einspruch, Kanzlerin!, sagen nun Rinke<br />

und Schwägerl und liefern dafür eine beeindruckende Liste an Kronzeugen und Belegen<br />

(ab Seite 18). Deutschland wächst, es wächst signifikant. Das <strong>wir</strong>tschaftlich solide Land zieht<br />

vor allem junge, gut ausgebildete Europäer an, die ihre Zukunft bei uns suchen und finden.<br />

Fünf Teile Zuwanderung, ein Teil Hoffnung auf mehr Kinder, etwa in diesem Verhältnis<br />

setzt sich der neue deutsche Bevölkerungsboom zusammen. Der Fotograf Thomas Meyer<br />

hat dem Phänomen entlang dieses Mischungsverhältnisses in der Titelstrecke Gesichter und<br />

Namen gegeben.<br />

Nicht alle werden sagen: <strong>Hurra</strong>, <strong>wir</strong> <strong>wachsen</strong>! Manche werden rufen: Hilfe, <strong>wir</strong><br />

überfremden! Wie zu jener Zeit, als das deutsche Asylrecht viele Menschen nach Deutschland<br />

zog. Der stellvertretende CDU-Vorsitzende und frühere Integrationsminister Nordrhein-<br />

Westfalens, Armin Laschet, versucht im <strong>Cicero</strong>-Interview, diesem Reflex zu begegnen: „Es<br />

gibt für diese Neuzuwanderer selten Integrationsprobleme. Denn die Menschen haben den<br />

Willen, hier zu arbeiten, und haben die dafür nötige Qualifikation.“ (ab Seite 30)<br />

Ängste bestimmen auch die Debatte um das Fracking in Deutschland. Ist diese Methode<br />

der Energiegewinnung der Schlüssel der westlichen Welt, um sich vom Öl der arabischen<br />

Staaten und dem Gas aus Russland unabhängig zu machen? Oder bohren <strong>wir</strong> die Hölle an?<br />

Mike Gerritys Reportage vom Ground Zero des Fracking in Williston gibt hier Antworten<br />

(ab Seite 90) ebenso wie der Gewerkschaftschef und Fracking-Befürworter Michael<br />

Vassiliadis, der davor warnt, urdeutsch nur die Risiken, jedoch nicht die Chancen zu<br />

sehen (ab Seite 96).<br />

In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />

der römische Politiker und Jurist<br />

Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />

Freund Titus Pomponius Atticus<br />

das Herz ausgeschüttet<br />

Mit besten Grüßen<br />

Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 3


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I n h a l t | C i c e r o<br />

Titelthema<br />

Illustration: Peter Menne<br />

18<br />

Die 100-Millionen-Chance<br />

Einwanderer, Rückkehrer, Kinder – Deutschland<br />

schrumpft doch nicht. Die Politik muss umdenken<br />

von Andreas Rinke und Christian Schwägerl<br />

30<br />

„Eine Revolution im Denken“<br />

Der CDU-Vize Armin Laschet über den Magnet<br />

Deutschland und die Integration von Einwanderern<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 7


C i c e r o | I n h a l t<br />

54 Digitaler Pranger<br />

60 Sloweniens Krisenmanagerin 82<br />

Welt der Aktionärinnen<br />

BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE kapital<br />

32 | Mächtig Leise<br />

Die Hoeneß-Enthüllung stärkt den<br />

neuen Focus-Chefredakteur Jörg Quoos<br />

Von Thomas Schuler<br />

34 | Merkels Lafontaine<br />

Saarlands Ministerpräsidentin Kramp-<br />

Karrenbauer verkörpert eine neue CDU<br />

Von Alexander Marguier<br />

36 | Der Trümmermann<br />

Thorsten Schäfer-Gümbel hat beste<br />

Chancen, bald Hessen zu regieren<br />

Von Georg Löwisch<br />

40 | Für die Ermittler unsichtbar<br />

Das Leben des NSU-Trios im Untergrund<br />

Von Butz Peters<br />

47 | Frau Fried fragt sich …<br />

… warum sie mit Alterssex behelligt <strong>wir</strong>d<br />

Von Amelie Fried<br />

48 | Teufelsaustreibung<br />

Der NSU-Prozess muss unspektakulär<br />

verhandelt werden, nicht als Show<br />

Von Frank A. Meyer<br />

52 | Mein Schüler<br />

Gysis Lehrer berichtet, was geschah, als<br />

der Junge eine Beatles-Platte mitbrachte<br />

Von Constantin Magnis<br />

54 | Der ewige Fehler<br />

Mappus’ Mails, Cohn-Bendits Provokation:<br />

Das digitale Archiv des Versagens<br />

Von Bernhard Pörksen<br />

58 | Mein Wunschkabinett<br />

Wieder eine Regierung: Arbeit und<br />

Soziales? Klopp. Umwelt? Vettel!<br />

Von Jörg Thadeusz<br />

60 | Nur noch mit Hosen<br />

Die slowenische Ministerpräsidentin<br />

Alenka Bratušek muss ihr Land<br />

aus der Krise führen<br />

Von Adelheid Wölfl<br />

62 | Terror der Wölfe<br />

Die Bostoner Bomber töteten<br />

im Namen des Islam. Gibt es<br />

den typischen Attentäter?<br />

Von Wolfgang Sofsky<br />

64 | Emma Courage<br />

Emma Bonino ist Italiens neue<br />

Außenministerin. Und vor allem<br />

überzeugte Europäerin<br />

Von eric Bonse<br />

66 | Der Ingenieur von Aleppo<br />

In Syrien versucht ein Mann, inmitten<br />

der Zerstörung ziviles Leben zu erhalten<br />

Von Carsten Stormer<br />

74 | Goldmedaille in Schwermut<br />

Frankreich verfällt in nationale<br />

Depression, obwohl es gar nicht so<br />

schlecht dasteht<br />

Von Jacques Pilet<br />

76 | „Die NPD ist rechtsextrem,<br />

<strong>wir</strong> nicht“<br />

Marine Le Pen, die Vorsitzende des Front<br />

National, offenbart ihre Strategie<br />

Von Stefan Brändle<br />

78 | Sprosse für Sprosse<br />

Unter Fritz Straub wurden die Hellerauer<br />

Werkstätten zum Jachtenausstatter<br />

Von Stephan Locke<br />

80 | „Familie heiSSt Kündigung“<br />

Für ihre Söhne gab Anne-Marie Slaughter<br />

den Job im US-Außenministerium auf<br />

Von Jutta Falke-Ischinger<br />

82 | Geld gegen Geltung<br />

Eine Fotoreportage von der<br />

Hauptversammlung – der Basis der<br />

Aktionärsdemokratie<br />

Von Verena Brandt<br />

90 | Schwarzer Goldrausch<br />

In Williston <strong>wir</strong>d Öl aus dem Boden<br />

gesprengt, damit die Vereinigten Staaten<br />

energieautark sein können<br />

Von Mike Gerrity<br />

96 | „Ein Verbot hilft keinem“<br />

Der Gewerkschafter Michael Vassiliadis<br />

kämpft für das umstrittene Fracking<br />

Von Til Knipper<br />

Fotos: Joze Suhadolnik, Verena Brandt; Illustrationen: Jan Rieckhoff, Christoph Abbrederis<br />

8 <strong>Cicero</strong> 6.2013


102 Inszenierungsinstrument Schlips 118<br />

Das Internet der Tiere<br />

Stil<br />

Salon<br />

98 | GEWEIHE AN DIE WAND<br />

Zu Besuch im edlen Salon von<br />

Tätowiererin Sara Bolen<br />

Von Lena Bergmann<br />

100 | „Männerhaut ist sexy“<br />

Interview mit Designer Thom Browne,<br />

der die Herrenmode verknappte<br />

Von Claudia Steinberg<br />

102 | STRATEGISCHER stofflappen<br />

Obwohl sie weniger getragen <strong>wir</strong>d, ist<br />

die Krawatte wichtiger geworden<br />

Von Katrin wilkens<br />

107 | Warum ich trage, was ich trage<br />

Die Ehrlichkeit im Gesicht muss mit der<br />

in der Kleidung korrespondieren<br />

Von Barbara sukowa<br />

110 | radikal unentschieden<br />

Tim Bendzko bleibt ein junger Milder<br />

Von thomas Winkler<br />

112 | das Böse ist nie banal<br />

Rithy Panh dokumentiert den Terror der<br />

Roten Khmer, unter dem er selbst litt<br />

Von Claire-Lise Buis<br />

114 | „Wie ein Leeres Kino“<br />

Der Regisseur Luc Bondy verlässt Wien<br />

Von irene Bazinger<br />

118 | Sag du zum Gnu und<br />

Folge dem Vogel<br />

Das Internet der Tiere revolutioniert die<br />

Beziehung zwischen Mensch und Natur<br />

Von Alexander Pschera<br />

132 | bibliotheksporträt<br />

Die Entertainerin Gayle Tufts inhaliert<br />

die Worte und liebt ein Schweinchen<br />

Von claudia Rammin<br />

136 | die letzten 24 stunden<br />

Wer am Todestag Tränen vergießt,<br />

fliegt aus dem Sterbezimmer<br />

Von uwe Ochsenknecht<br />

Standards<br />

Atticus —<br />

Von Christoph Schwennicke — seite 3<br />

Stadtgespräch — seite 10<br />

Fotos: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong>, Johannes Fritz; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

108 | Küchenkabinett<br />

Geiz oder Protz im Restaurant: Wer<br />

zahlt? Und wer schnappt sich den Beleg?<br />

Von Julius grützke und Thomas Platt<br />

124 | man sieht nur, was man sucht<br />

Gérômes „Der Schlangenbeschwörer“ ist<br />

aus Erotik und Kolonialismus gemacht<br />

Von Beat wyss<br />

126 | Wo das Wir entscheidet,<br />

<strong>wir</strong>d das Ich bevormundet<br />

Es ist Zeit für eine neue<br />

Philosophie der Freiheit<br />

Von alexander Kissler<br />

128 | Es waren 0,77 Prozent<br />

Die Volkszählung im Juni 1933 schuf die<br />

statistische Basis für den Judenmord<br />

Von PhiliPp Blom<br />

131 | Benotet<br />

Musiker auf Reisen müssen<br />

besonders kreativ sein<br />

Von daniel Hope<br />

Forum — seite 16<br />

Impressum — seite 45<br />

Postscriptum —<br />

Von Alexander Marguier — seite 138<br />

Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />

erscheint am 27. Juni 2013<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 9


C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />

Volker Kauder <strong>wir</strong>d als neuer Bundestagspräsident gehandelt, Gerhard<br />

Schröder trinkt nicht nur abends Wein, Berlins Theaterszene ist in Bewegung<br />

geraten und Bayern-München-Fan Merkel schwärmt von den Polen beim BVB<br />

Dompteur Kauder:<br />

Präsident im reichstag?<br />

A<br />

ls er klein war, wollte Volker<br />

Kauder Zirkusdirektor werden.<br />

Heute, so scherzt er gern, habe er<br />

als CDU/CSU-Fraktionschef einen vergleichbaren<br />

Job. Immer wieder Salti hinlegen,<br />

vor und zurück. Etwa bei der Nummer,<br />

die Arbeitsministerin Ursula von der<br />

Leyen ihm zugemutet hat, als sie eine feste,<br />

gesetzliche Frauenquote in Aufsichtsräten<br />

forderte. Dazu, sagt Kauder, „gibt es<br />

nichts mehr zu sagen“. Der Vorgang sei<br />

abgeschlossen. Aber wer ihn kennt, weiß,<br />

dass das nicht stimmt. Kauder fühle sich<br />

als „Opfer einer Erpressung“, heißt es, es<br />

„blubbert nach wie vor böse“ in ihm und<br />

in der Fraktion. „Da ist Druck drin wie<br />

in einem Dampfkochtopf“, sagt einer, der<br />

ihn sehr gut kennt. Trotzdem hält Kauder<br />

still. Denn er weiß, Streit in den eigenen<br />

Reihen schadet im Wahlkampf. Vergessen<br />

ist allerdings nichts.<br />

CDU-intern <strong>wir</strong>d bis ins Umfeld der<br />

Kanzlerin darüber spekuliert, wie Kauder<br />

für sein Stillhalten belohnt werden könnte.<br />

In der Fraktion kursieren E-Mails mit dem<br />

Hinweis, er könne doch Norbert Lammert<br />

im Amt des Bundestagspräsidenten beerben<br />

– was wiederum Lammert unruhig<br />

werden lässt. Merkel sagt dazu natürlich<br />

nichts. Sie baut aber auf Kauders Loyalität<br />

und verlässt sich auf sein sehr schwäbisches<br />

Prinzip, „nix hälinge“ (also: nichts hintenrum)<br />

gegen sie zu machen. Gelernt hat sie<br />

das 2002 vor der Bundestagswahl, als es<br />

Kauder war, der vor der Kür des Kanzlerkandidaten<br />

mit der Botschaft zu ihr kam,<br />

man werde Stoiber wählen, „denn <strong>wir</strong><br />

trauen es Ihnen nicht zu“. So geschah es<br />

dann ja auch. Merkel war beeindruckt von<br />

der Offenheit des Schwaben. Seitdem sind<br />

die beiden ein politisches Gespann.<br />

Nur ein einziges Mal ließ Kauder die<br />

Berliner Journalisten an seiner Loyalität zu<br />

Merkel zweifeln. Das war kurz nach seiner<br />

Wahl zum CDU-Generalsekretär. Da<br />

redete er von seiner „saumäßigen Übereinstimmung“<br />

mit der Chefin. Die Aufregung<br />

seiner Zuhörer war groß. Sie dachten:<br />

Kaum gewählt und schon so ein Zoff?<br />

Kauder beruhigte die Schreiber: „Ich habe<br />

leider nicht bedacht, dass die Preußen alles<br />

können außer Schwäbisch!“ Er übersetzte<br />

seine Worte ins Hochdeutsche: „Mein Verhältnis<br />

zu Angela Merkel ist saumäßig gut.“<br />

Das gilt immer noch. Obwohl sie Kauder<br />

einen politischen Traum bis heute nicht erfüllte:<br />

„Ich wollte einmal unbedingt Kanzleramtsminister<br />

werden.“ tz<br />

Weinfreund Schröder:<br />

„Abend ist immer“<br />

Z<br />

u den vom Spiegel eingeführten<br />

Usancen der Printmedien gehört<br />

es, Interviewpartnern vor Abdruck<br />

der Gespräche den Wortlaut vorzulegen.<br />

Nur das autorisierte Wort <strong>wir</strong>d gedruckt.<br />

Das hat den Vorteil, dass hinterher<br />

niemand behaupten kann, er sei falsch oder<br />

sinnentstellend zitiert worden. Allerdings<br />

besteht immer auch die Gefahr, dass der<br />

oder die Interviewte plötzlich einen Rückzieher<br />

macht. Häufig werden gerade die<br />

besonders interessanten, pointierten, polemischen<br />

oder witzigen Sätze gestrichen<br />

oder abgeschwächt, die das Interview anschaulich,<br />

lebendig und zitierfähig machen.<br />

Um dieser Gefahr zu entgehen, hat sich<br />

das Magazin aus Hamburg kürzlich einen<br />

feinen Trick einfallen lassen: In das Doppelinterview<br />

mit den beiden Altkanzlern<br />

Helmut Schmidt und Gerhard Schröder<br />

bauten die Redakteure eine zweite, kursiv<br />

gedruckte Erzählebene ein, die zwar<br />

zum Interview gehört, aber offensichtlich<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

10 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Fit für den Wettbewerb auf einem smarten Planeten.<br />

Die Polizei von<br />

Memphis nutzt Big<br />

Data und Analytics, um<br />

Verbrechensmuster zu<br />

erkennen, und richtet ihre<br />

Strategie danach aus.<br />

Seit fünf Jahren entwickeln Unternehmen<br />

und Städte gemeinsam mit IBM Ideen für<br />

einen smarten Planeten. Führungskräfte<br />

nutzen dafür Big Data und Analytics, um<br />

ihre Unternehmen mit Hilfe von mobilen<br />

Technologien, Social Business und Cloud-<br />

Lösungen voranzubringen.<br />

Dabei haben Big Data und Analytics die<br />

Art und Weise verändert, wie Unterneh men<br />

auf die Wünsche ihrer Kunden reagieren.<br />

Und sind so zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil<br />

geworden.<br />

Analyse statt Instinkt.<br />

Bisher haben sich Führungskräfte auf ihre<br />

Intuition verlassen, wenn sie Strategien<br />

entwickelt haben und Risiken abschätzen<br />

mussten. Mit Big Data und Analytics gehört<br />

das jetzt der Vergangenheit an.<br />

Heute ist jeder Einzelne mit unzähligen<br />

anderen vernetzt. Da kann eine Fehlentscheidung<br />

verheerend sein. Aber dank Datenanalyse<br />

müssen sich Führungskräfte nicht<br />

mehr nur auf ihre Einschätzung verlassen,<br />

sondern können jetzt Verhaltensmuster<br />

erkennen und Entwicklungen vorhersehen.<br />

teile nicht mehr dadurch, dass Mitarbeiter<br />

Wissen anhäufen, sondern indem sie es<br />

teilen.<br />

Der Zementhersteller Cemex hat seine<br />

erste global vertriebene Beton-Marke mit<br />

Hilfe eines eigenen sozialen Netzwerks auf<br />

den Markt gebracht: Durch die Zusammenarbeit<br />

von Mitarbeitern aus 50 Ländern<br />

konnte das Produkt in einem Drittel der<br />

ursprünglich geplanten Zeit auf den Markt<br />

gebracht werden.<br />

Jeder Einzelne ist eine eigene<br />

Zielgruppe.<br />

Im Zeitalter der Massenmedien haben Marketer<br />

ihre Kunden in Bevölkerungs segmente<br />

unterteilt.<br />

Big Data und Analytics stellen Kunden jetzt<br />

als Individuen dar. Das bedeutet: maßgeschneiderte<br />

Services für jeden Einzelnen.<br />

Mit sozialen Netzwerken<br />

verlagert sich der Wert<br />

von Wissen: vom einzelnen<br />

Mitarbeiter hin zum<br />

Wissen, das sie nutzbringend<br />

teilen können.<br />

Soziale Netzwerke bei der Arbeit.<br />

Mit der Verbreitung sozialer und mobiler<br />

Technologien entstehen Wettbewerbsvor-<br />

Erfolg auf einem smarten Planeten.<br />

Unternehmen, die auf Big Data, Analytics<br />

und Cloud setzen sowie auf soziale und<br />

mobile Technologien, sind smarte Unternehmen.<br />

Ihre nächste Herausforderung:<br />

etablierte Arbeitsmethoden so zu verändern,<br />

dass die neuen Technologien optimal<br />

genutzt werden können. Erfahren Sie mehr<br />

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Effektives Marketing<br />

richtet sich nicht länger an<br />

demografische Zielgruppen<br />

– sondern führt den Dialog<br />

mit dem Individuum.<br />

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IBM, das IBM Logo, ibm.com und das Bildzeichen des Planeten sind Marken oder eingetragene Marken der International Business Machines Corporation in den Vereinigten Staaten und/oder anderen Ländern.<br />

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C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />

nicht dem Autorisierungszwang unterliegt.<br />

Auf diese Weise konnten sie erzählen, wie<br />

Helmut Schmidt sich in seinem Büro vor<br />

dem Gespräch einen Vorrat an Menthol-<br />

Zigaretten zurechtlegt, um nicht zwischendurch<br />

aufstehen und für Nachschub sorgen<br />

zu müssen. Außerdem gaben sie in indirekter<br />

Rede wieder, worüber sich die beiden<br />

außerhalb des Interviews unterhielten:<br />

„Dann geht es um Pubertät und Kindesmissbrauch<br />

und um die Gefahr von Drogen. Alkohol,<br />

sagt Schmidt, habe ihn nie interessiert.<br />

Schröder sagt, er habe einen Deal mit seiner<br />

Frau, mittags keinen Wein zu trinken, nur<br />

abends. Aber er sei ja viel unterwegs, und irgendwo<br />

sei schließlich immer Abend.“<br />

Zweifellos <strong>wir</strong>d er es so gesagt haben.<br />

Aber ob er es auch so stehen gelassen hätte,<br />

ist fraglich. Denn Doris Schröder-Köpf<br />

<strong>wir</strong>d nicht begeistert gewesen sein, als sie es<br />

las. Obwohl sie es vermutlich längst weiß.<br />

Der Deal, wissen Freunde der Familie, sei<br />

im Übrigen viel präziser, als Schröder es<br />

im Spiegel darstellte. Nicht „nur abends“,<br />

sondern: „Erst ab 20 Uhr Wein.“ Aber<br />

auch das sei relativ: „20 Uhr ist bei Schröder<br />

immer dann, wenn jemand zu Besuch<br />

kommt.“ hp<br />

spektakuläre wechsel:<br />

swing zur schaubühne<br />

D<br />

as Berliner Theatertreffen<br />

präsentiert jährlich nicht bloß<br />

ausgewählte Inszenierungen, es ist<br />

überdies eine turbulente Börse für Klatsch<br />

und Tratsch der Branche. Das war schon<br />

immer so und funktionierte natürlich auch<br />

beim 50-jährigen Jubiläum. Diesmal allerdings<br />

beschäftigte das Publikum und vor<br />

allem die Akteure vor, auf und hinter der<br />

Bühne nicht irgendwelcher Gossip, sondern<br />

eine echte Sensation: Nina Hoss, die<br />

wohl beste Schauspielerin ihrer Generation,<br />

gewiss mit Abstand die glamouröseste<br />

und ein Star auch auf der Leinwand, wechselt<br />

vom Deutschen Theater (DT), dessen<br />

Ensemble sie 14 Jahre angehörte, an die<br />

Schaubühne. Diese Nachricht drang bald<br />

nach der Eröffnung des großen Spektakels<br />

aus dem Festspielhaus in die umliegenden<br />

Bars und Restaurants und war auch in der<br />

Paris Bar, wo sich nach getaner Arbeit vor<br />

allem die Schauspieler treffen, Gesprächsthema<br />

Nummer eins.<br />

Steht der Schaubühne, die in den siebziger<br />

und achtziger Jahren mit den berühmten<br />

Inszenierungen von Peter Stein<br />

Triumphe feierte, um die es aber in den<br />

vergangenen Jahren eher still geworden war,<br />

nun eine Renaissance bevor? Seit 2012 ist<br />

dort schon Ingo Hülsmann engagiert, und<br />

außerdem <strong>wir</strong>d Nina Hoss dort auch Regine<br />

Zimmermann wiedertreffen – und<br />

den Regisseur Michael Thalheimer, in dessen<br />

legendärer „Emilia Galotti“-Inszenierung<br />

(2001) alle drei am DT spielten und<br />

der in Steins einstigem Musentempel bald<br />

zum zweiten Mal arbeiten <strong>wir</strong>d.<br />

Das Deutsche Theater dagegen verliert<br />

immer mehr an Attraktivität. Verantwortlich<br />

für den Aderlass ist Intendant Ulrich<br />

Khuon, der am Thalia Theater Hamburg<br />

bis 2009 erfolgreich war, seitdem in der<br />

Hauptstadt freilich überfordert <strong>wir</strong>kt. Nach<br />

außen zeigt er sich souverän, nach innen allerdings<br />

agiert er ob der Glücklosigkeit als<br />

nervöser Kontrollfreak und nicht nur menschenfreundlich,<br />

wie der jüngst verstorbene<br />

Schauspieler Sven Lehmann zunehmend<br />

grimmiger zu erzählen wusste. Thomas Ostermeier,<br />

oft gescholtener Leiter der Schaubühne,<br />

kann sich freuen: Ihm laufen die<br />

Theatergrößen jetzt die Bude ein – und mit<br />

ihnen die Zuschauer. baz<br />

tipp für schlapphüte:<br />

imagepflege am filmset<br />

C<br />

ia-Agentin will Bin Laden<br />

finden, es gelingt, Navy Seals<br />

töten ihn in der pakistanischen<br />

Garnisonsstadt Abbottabad. Solche Stoffe<br />

liebt Holly wood. Wir offensichtlich auch:<br />

Kürzlich stellte die American Academy<br />

in Berlin einem handverlesenen Publikum<br />

Kathryn Bigelows Film „Zero Dark<br />

Thirty“ vor. Ex-Außenminister Joschka Fischer<br />

und Ex-BND-Chef Ernst Uhrlau<br />

kommentierten – beide Herren betonten,<br />

Folter komme selbstverständlich nicht infrage,<br />

um an Informationen zu gelangen.<br />

Wie sich nun herausstellt, hat die CIA kräftig<br />

am Drehbuch mitge<strong>wir</strong>kt und ihr nicht<br />

genehme Szenen streichen lassen. So betreibt<br />

man Image arbeit. Da wäre doch sicher<br />

auch mehr drin für BND oder Verfassungsschutz:<br />

Tatkräftige Unterstützung<br />

etwa, wenn Nico Hofmann demnächst<br />

„Die ganze Wahrheit über die NSU-Morde“<br />

ins Kino bringen sollte. jh<br />

Tusk bremst merkel:<br />

„Lewandowski bleibt“<br />

S<br />

TEFAN KORNELIUS, dem Auslandschef<br />

der Süddeutschen Zeitung, gelang<br />

in Berlin ein echter Scoop:<br />

Zur Präsentation seines Buches „Angela<br />

Merkel – Die Kanzlerin und ihre Welt“ kamen<br />

gleich zwei amtierende Regierungschefs,<br />

Merkel selbst und ihr polnischer<br />

Kollege Donald Tusk. Man plauderte über<br />

Erwartetes wie Eurokrise (Tenor: „weiter<br />

wachsam sein“) und Überraschendes wie<br />

Merkels polnischen Großvater („Bin eine<br />

Viertelpolin“). Bevor das Publikum bei so<br />

viel Harmonie auf dem Podium wegzudösen<br />

drohte, kam beim Reizthema Fußball<br />

doch noch etwas Spannung auf. Merkel,<br />

eigentlich Fan von Bayern München,<br />

schwärmte nicht nur von den polnischen<br />

Fußballern bei Borussia Dortmund, deren<br />

Namen sie alle kannte und aufzählte, sondern<br />

auch von den deutschen Nationalspielern<br />

Lukas Podolski und Miroslav Klose.<br />

Die seien mit ihren polnischen Wurzeln<br />

doch ein Beleg für gute Nachbarschaft. Sofort<br />

grätschte Tusk, selbst Stürmer der polnischen<br />

Parlamentself, dazwischen: „Aber<br />

Robert Lewandowski bleibt bei uns.“ til<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

12 <strong>Cicero</strong> 6.2013


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C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />

Forum<br />

Über Berliner, Türken, Titelbilder, Homo-Ehen und Sehbehinderte<br />

Zum Interview mit<br />

Klaus Wowereit „Berlin <strong>wir</strong>d<br />

gezielt schlechtgeredet“<br />

und „Berlin in Zahlen“ von<br />

Til Knipper / Mai 2013<br />

abgründe<br />

Man mag es nicht mehr sagen und nicht mehr hören, aber es ist einfach ein Faktum:<br />

Die „Mauer“ in den Köpfen besteht weiterhin. Zwischen dem Zoo und dem<br />

Tierpark Friedrichsfelde, zwischen Hertha und Union, dem Müggelsee und dem<br />

Wannsee, dem KaDeWe und dem Einkaufszentrum Schöneweide, zwischen Cindy<br />

aus Marzahn und Udo aus der Uhlandstraße klaffen Abgründe! Die Berliner<br />

meckern, protestieren und demonstrieren weiterhin nach Kräften (und die vielen<br />

Medien <strong>wir</strong>ken gern als Verstärker und Multiplikatoren der Bürgerwut). Aber sie<br />

wissen auf der anderen Seite, dass sie trotz – oder auch wegen – aller Widersprüche,<br />

Mängel, Fehler und Unzulänglichkeiten in einer im doppelten Sinne äußerst<br />

reizvollen Stadt leben.<br />

Dr. Wolf Rüdiger Heilmann, Berlin<br />

populistische Neigung<br />

Bis jetzt hat sich der <strong>Cicero</strong> für mich<br />

durch eine gut recherchierte und stets<br />

professionelle Schreibweise ausgezeichnet,<br />

welche nicht zu populistischen<br />

Darstellungen neigt. In dem Artikel<br />

„Boom, Boom, Berlin“ bin ich doch sehr<br />

überrascht worden. Die Statistik „Berlin<br />

in Zahlen“ von Til Knipper verleitet<br />

stark dazu, den Länderfinanzausgleich<br />

mit den Kosten für einen Kindertagesstättenplatz<br />

zu verbinden. Bei dieser<br />

Gegenüberstellung von dem zahlenden,<br />

leidenden Bayern und dem ungerecht<br />

handelnden Berlin <strong>wir</strong>d ein klarer Bezug<br />

zwischen Länderfinanzausgleich und der<br />

Verfügbarkeit der Kita-Plätze geschaffen.<br />

Diese Verbindung ist meiner Meinung<br />

nach jedoch schlichtweg falsch. Der<br />

Länderfinanzausgleich hat die Funktion,<br />

die benötigten Mittel der Anzahl der<br />

Bürger in Relation zu der <strong>wir</strong>tschaftlichen<br />

Stärke zu setzen. Es ist also<br />

quasi ein Ausgleich, der im Sinne eines<br />

föderalistischen Bundes- und vor allem<br />

Sozialstaats geschieht. Dass in München<br />

jedoch zu wenig Kindergartenplätze zur<br />

Verfügung stehen, liegt an der Sozialpolitik<br />

der einzelnen Länder und Kommunen.<br />

Ein weiterer Faktor ist auch die<br />

geringe Anzahl von Kindertagesstätten<br />

und BetreuerInnen im Ballungsgebiet<br />

München. Es gibt noch viele weitere<br />

Gründe. Diese Statistik verwendet reine<br />

Zahlen. Jedoch impliziert sie für mich<br />

den Versuch, die Leserinnen und Leser<br />

uninformiert über die eigentlichen Hintergründe<br />

dieser Zustände zu lassen und<br />

vielmehr auf eine populistische Berichterstattung<br />

abzuzielen.<br />

Luca Messerschmidt, Darmstadt<br />

zum beitrag „Herzlich<br />

Willkommen!“ von Gerhard<br />

Schröder / April 2013<br />

„Rumgedreht“<br />

Unvoreingenommen, vom Titel angemacht,<br />

interessiert gelesen und von<br />

den Thesen überzeugt. Dass Gerhard<br />

Schröder der Autor war, habe ich erst<br />

hinterher bemerkt. Recht hat er, der<br />

nie Ideologe, sondern Pragmatiker war<br />

und das immer überzeugend begründen<br />

konnte. Und hier tut er es wieder.<br />

Mich hat er jedenfalls „rumgedreht“ mit<br />

Argumenten, die ich vorher nie vernommen<br />

hatte. Ist denn das Christentum<br />

des Westens toleranter als der Islam?<br />

Beste Grüße aus der schönsten Hansestadt<br />

Niedersachsens.<br />

Dr. Heinrich Barthel, Lüneburg<br />

zum beitrag „Vom Furor des<br />

Fortschritts“ von Reinhard<br />

Mohr / April 2013<br />

störendes spruchband<br />

Seit Jahren kaufe ich häufiger Ihre Zeitschrift<br />

<strong>Cicero</strong> und finde viele Beiträge gut.<br />

Störend finde ich häufig das Titelblatt.<br />

Sie haben es nicht nötig, auf „Bild-Zeitungs-Niveau“<br />

einzusteigen. Besonders<br />

verletzend finde ich Heft April 2013, wie<br />

Sie unseren Bundespräsidenten präsentieren.<br />

Ohne Spruchband in Ordnung –<br />

aber mit Spruchband verletzend.<br />

J. Kuhmann, Dülmen<br />

illustrationen: cornelia von seidlein<br />

16 <strong>Cicero</strong> 6.2013


unerträglich<br />

Mit großem Genuss habe ich Reinhard<br />

Mohrs Artikel gelesen. Die vom<br />

politischen Zeitgeist getragene Debatte<br />

über Sexismus und die damit einhergehende<br />

Forderung irgendwelcher Quoten<br />

sind in der Tat unerträglich. Und<br />

zwar, weil sie tatsächlich das Gegenteil<br />

dessen erreichen, was sie zu intendieren<br />

vorgeben, nämlich Gleichberechtigung.<br />

Vielleicht müssten <strong>wir</strong> diesen Begriff<br />

umbenennen in Gleichforderung.<br />

Somit hätte jeder, egal ob Mann, Frau,<br />

Schwuler oder Migrant, die Chance,<br />

einen Beitrag zu leisten. Dafür braucht<br />

es keine Quoten (die auch in anderen<br />

Ländern nie funktioniert haben, siehe<br />

die Affirmative Action). Das Einzige,<br />

was <strong>wir</strong> brauchen, ist mehr meritokratisches<br />

Denken und Urteilen. Das<br />

verhindert sowohl, dass fähige Frauen<br />

als Quotenfrauen diskriminiert werden,<br />

als auch, dass fähige Männer von der<br />

Quote benachteiligt werden. Aufgrund<br />

der Breite der Diskussion und<br />

der offensichtlichen Entfernung von<br />

einem rationalen Diskurs verliere ich<br />

allerdings langsam den Glauben daran,<br />

dass Deutschland diesen Irrweg noch<br />

verlassen <strong>wir</strong>d.<br />

Martin Stahl, München<br />

ZUM BEITRAG „KULTURKAMPF<br />

UM DIE HOMO-EHE“ VON UDO DI<br />

FABIO / APRIL 2013<br />

GEFÄHRDETE WERTE<br />

Unsere Verfassung schützt Ehe und<br />

Familie in besonderer Weise, weil ausschließlich<br />

dort die gemeinschaftserhaltenden<br />

Werte gepflegt und gleichzeitig<br />

an eine nächste Generation weitergegeben<br />

werden und somit Kontinuität und<br />

Zukunft der Gesellschaft sichergestellt<br />

sind. Entsprechend sagt das Grund-<br />

gesetz Artikel 6, Absatz 2: „Die Pflege<br />

und die Erziehung der Kinder sind das<br />

natürliche Recht der Eltern.“<br />

Mit dem natürlichen Recht der Eltern<br />

ist weit mehr gemeint als nur die<br />

„intime Nähe“ von Mann und Frau, die<br />

auch bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften<br />

möglich ist. Es ist gerade<br />

dieses unantastbare, dem Zeitgeist<br />

nicht unterworfene Recht als Grundlage<br />

jeder menschlichen Gemeinschaft,<br />

welches dabei ist, gegenwärtig diskriminiert<br />

zu werden zugunsten einer<br />

liberalen Ausgestaltung von Beziehungen<br />

und sexueller Lebensstile.<br />

Eduard Biedermann, Hamburg<br />

ZUM BEITRAG „Zwei deutsche<br />

Sittenbilder“ von Frank<br />

A. Meyer / September 2012<br />

Sehr geehrter Herr Meyer, ein wenig spät,<br />

aber doch habe ich Ihren Artikel gelesen.<br />

Die Banker nehmen ihre Verantwortung<br />

nicht wahr, die Politiker doch? Mit Ausnahme<br />

von Präsident Wulff, der einfach<br />

mit den Medien nicht umgehen konnte,<br />

wohl kaum. Berliner Flughafen? Ramsauer,<br />

Platzeck, Wowereit sitzen noch<br />

da. Hypo Real Estate? Die Bayern haben<br />

wieder einen Politiker in der Landesbank<br />

als Aufsichtsratsvorsitzenden eingesetzt.<br />

Ob der eine Ahnung von Banken hat?<br />

Hypo Adria? Wie bei der Mafia. Kostenüberschreitung<br />

beim Stuttgarter Bahnhof?<br />

Irgendwie erscheinen Sie mir auf<br />

dem politischen Auge blind, besonders<br />

auf dem linken.<br />

Wie es so schön ein Schweizer Blatt<br />

einmal geschrieben hat: Die Deutschen<br />

tun uns leid, sie haben die Linken, die<br />

Grünen und die Herz-Jesu-Sozialisten.<br />

Michael Novosad, Langenzenn<br />

(Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.)<br />

Rückblende<br />

Über das <strong>Cicero</strong>-Projekt, aus Berliner<br />

Geräuschen die „Sinfonie einer<br />

Hauptstadt“ zu komponieren, schrieb<br />

Ulrike Simon in der Berliner Zeitung:<br />

„Sinfonie einer<br />

Hauptstadt“<br />

nennt das Monatsmagazin<br />

<strong>Cicero</strong> die CD,<br />

die heute im<br />

Paket mit der<br />

neuen Ausgabe erscheint. Gewidmet<br />

ist das Heft Berlin, der „verschlunzten<br />

Hauptstadt“, wie neben<br />

dem in Öl gemalten Titelbild zu lesen<br />

ist. Es zeigt im frivolen Zwanzigerjahre-Stil<br />

Klaus Wowereit im<br />

Kreis von Hans-Christian Ströbele,<br />

Cindy aus Marzahn und weiteren<br />

Berliner Gestalten, rauchend, singend<br />

und saufend, wobei nicht auszumachen<br />

ist, ob das Bild nach der<br />

letzten oder vor der nächsten Party<br />

entstanden ist.<br />

Sonderhefte über Berlin gibt es<br />

wie Sand am Meer. Was es bisher<br />

nicht gab, ist der passende Soundtrack<br />

zur Stadt. Ernst Reuters „Völker,<br />

schaut auf diese Stadt“, mit<br />

Klaviermusik unterlegt, gefolgt vom<br />

„Suuurückbleibn bitte“ am U-Bahnhof<br />

Warschauer Straße. Mit Swing<br />

geht’s an den Potsdamer Platz, wo<br />

sich der Rhythmus trommelnd beschleunigt,<br />

begleitet vom Klackern<br />

vorbeieilender High Heels. „Niemand<br />

hat die Absicht, eine Mauer<br />

zu errichten“, hört man Walter Ulbricht<br />

sagen, bevor nach jiddischen<br />

Klängen am Alexanderplatz die<br />

Lautsprecherdurchsage die Einfahrt<br />

der Regionalbahn zum Flughafen<br />

Schönefeld über den Ostbahnhof<br />

ankündigt. Bisweilen braucht es<br />

ein wenig Fantasie, um die Plätze<br />

und Orte zu erkennen, aber auch<br />

das macht den Reiz dieser Hörkulisse<br />

aus, die der Berliner Jazzmusiker<br />

und Komponist Volker Schlott<br />

zusammengestellt hat. Also: die CD<br />

einfach noch mal anhören. Denn<br />

so klingt Berlin.<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 17


T i t e l<br />

Die 100-Millionen-<br />

Deutschland schrumpft, sagt die Kanzlerin. Alle Politik dreht sich nur darum, mit dem<br />

Schwund zu leben. Aber die Zukunft ist längst da. Deutschland wächst: im vergangenen Jahr<br />

um 200 000 Menschen. Und das ist erst der Anfang<br />

von Andreas Rinke und christian Schwägerl<br />

18 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Chance<br />

Livia kam aus Italien, Florent<br />

aus Frankreich. Ihre drei<br />

Kinder Massimo, Fulvio<br />

und Emilia (von links nach<br />

rechts) wurden hier geboren<br />

und haben deutsche Pässe<br />

Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

E<br />

igentlich galt halle als schrumpfende,<br />

darbende Stadt, ein Symbol<br />

für das, was Deutschland bevorsteht.<br />

Seit vielen Jahren sagen<br />

Demografen der Stadt im Süden<br />

Sachsen-Anhalts voraus, dass sie kontinuierlich<br />

Einwohner verlieren, also langsam<br />

ausbluten <strong>wir</strong>d. Doch wer in diesen Tagen<br />

durch Halle läuft, bekommt einen ganz<br />

anderen Eindruck. In der Fußgängerzone<br />

schieben sich Jung und Alt dicht an dicht.<br />

Auf den Baustellen klopft und knattert es.<br />

Und die Statistik ist so überraschend wie<br />

eindeutig: Die Bevölkerung wächst – und<br />

das schon im dritten Jahr.<br />

Nun ist die Stadt wieder ein Symbol,<br />

aber nicht für den demografischen Niedergang,<br />

sondern für eine erstaunliche<br />

Trendumkehr. Deutschland wächst.<br />

Jedes Schulkind erfährt, dass die Bevölkerungszahl<br />

auf keinen Fall bei 80 Millionen<br />

bleiben <strong>wir</strong>d. Das Schrumpfen ist die Prämisse<br />

aller Politik. Auf jedem Parteitag <strong>wir</strong>d<br />

das „Demografie-Problem“ beschworen. Jeder<br />

Bürgermeister mahnt Ideen an, beruft<br />

Kommissionen ein und lässt Beschlüsse fassen,<br />

um die Schrumpfkrise zu bewältigen. In<br />

den Szenarien bleiben Wohnungen unvermietet,<br />

suchen Firmenchefs verzweifelt Mitarbeiter,<br />

bleiben Krankenhausbetten unbelegt,<br />

und Regionalzüge tingeln leer durch<br />

die Landschaft. Das Rentensystem, die<br />

Budgetpläne, der Energiebedarf – all das<br />

basierte in den vergangenen Jahren auf der<br />

Annahme, dass in Deutschland deutlich weniger<br />

Menschen leben. Auf einer Annahme,<br />

die voreilig war.<br />

Den Prognosen des Statistischen Bundesamts<br />

zufolge sollte die Zahl der Menschen<br />

in Deutschland von einem Höchststand<br />

von 82,5 Millionen seit 2002<br />

kontinuierlich sinken, bis im Jahr 2060<br />

nur noch 64 bis 70 Millionen Menschen<br />

übrig sind. Grund für die Prognose war vor<br />

allem, dass die deutschen Frauen schon seit<br />

Anfang der siebziger Jahre immer weniger<br />

Kinder bekommen, was dazu führt, dass<br />

auch die Zahl potenzieller Mütter sinkt.<br />

Um die Bevölkerung konstant zu halten,<br />

ist ohne massive Einwanderung mindestens<br />

ein Durchschnitt von 2,1 Kindern pro<br />

Frau nötig – real sind es derzeit etwa 1,4.<br />

Das Statistische Bundesamt rechnete die<br />

Zahlen hoch und kam zu dem Ergebnis,<br />

dass es binnen eines halben Jahrhunderts<br />

15 bis 20 Millionen Deutsche weniger geben<br />

dürfte.<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 19


T i t e l<br />

Das wäre in der Tat ein dramatischer<br />

Prozess mit weitreichenden Folgen. Doch<br />

schon 2011 wurde der Abwärtstrend gebrochen,<br />

mit einem großen Einwandererplus<br />

von 279 000 Menschen. 2012 gab es<br />

erneut einen starken Zuwachs von mehr<br />

als 369 000 Menschen. Die Bevölkerung<br />

stieg dadurch wieder auf über 82 Millionen<br />

Menschen an.<br />

Mit Staunen beobachten Bevölkerungsforscher,<br />

wie die reale Entwicklung von ihren<br />

Prognosen abzuweichen beginnt. Vor<br />

allem wandern aufgrund der EU-Erweiterung<br />

und der Eurokrise mehr Menschen<br />

ins <strong>wir</strong>tschaftlich starke Deutschland ein<br />

als aus. „Ein so starkes Plus in den letzten<br />

beiden Jahren ist eine <strong>wir</strong>klich erstaunliche<br />

und erfreuliche Entwicklung“, sagt James<br />

Vaupel, Direktor am Max-Planck-Institut<br />

für demografische Forschung in Rostock,<br />

einer der führenden Einrichtungen für Bevölkerungsforschung<br />

weltweit.<br />

Vaupel gehörte in den vergangenen<br />

Monaten zu den Leitfiguren der Demografie-Kampagne<br />

der Bundesregierung. Sein<br />

Alberto, 29, Architekt, seit drei Jahren in Berlin. Er stammt aus Udine<br />

in Italien: „Das Gefühl, das ich in Deutschland empfinde, ist Freiheit“<br />

Gesicht prangte von den Plakaten, mit denen<br />

die Bundesregierung das Land auf eine<br />

Zukunft des Schrumpfens und Alterns vorbereiten<br />

will. Doch ob die Schrumpfung<br />

<strong>wir</strong>klich so kommt wie prognostiziert, daran<br />

äußert der renommierte Demograf nun<br />

erhebliche Zweifel: „Die Bevölkerungsentwicklung<br />

<strong>wir</strong>d dadurch bestimmt, wie viele<br />

Menschen ein- und auswandern und wie<br />

viele Menschen geboren werden und sterben“,<br />

sagt Vaupel. Er sehe nun „Anzeichen<br />

dafür, dass die offiziellen Prognosen in allen<br />

diesen Bereichen danebenliegen“.<br />

Das Undenkbare <strong>wir</strong>d plötzlich denkbar:<br />

Warum sollte Deutschland im 21. Jahrhundert<br />

nicht einfach weiter 82 Millionen<br />

Einwohner haben, so wie heute. Oder<br />

könnte unter neuen Bedingungen die Bevölkerung<br />

gar <strong>wachsen</strong>, auf 90 Millionen?<br />

Auf 100 Millionen?<br />

Bis etwa zum Jahr 2000 war Demografie<br />

in Deutschland ein Tabu. Weil die Nazis<br />

ihre Ideologie stark mit demografischen Argumenten<br />

untermauert hatten, vom Volk<br />

ohne Raum über die Rassenlehre bis zum<br />

Mutterkreuz für Vielgebärerinnen war es<br />

verpönt, politische Strategien zu entwickeln,<br />

um die Bevölkerung zu vergrößern<br />

oder Familien zu mehr Kindern zu ermutigen.<br />

„Eine aktive Bevölkerungsplanung<br />

ist ein historisch belastetes Thema“, sagt<br />

Günter Stock, Präsident der Berlin-Brandenburgischen<br />

Akademie der Wissenschaften,<br />

der in den vergangenen Jahren eine<br />

Arbeitsgruppe der Nationalen Akademie<br />

Leopoldina zur Demografie geleitet hat.<br />

Vor etwa zehn Jahren brach das Tabu<br />

doch, weil die Zahlen zu Geburten und<br />

zum Bevölkerungsrückgang so dramatisch<br />

<strong>wir</strong>kten. Die „Demografie-Debatte“, an der<br />

sich bis hin zum Bundespräsidenten alle<br />

prominenten Denker beteiligten, nahm<br />

schnell fatalistische Züge an: Dass die Bevölkerung<br />

stark schrumpft, wurde landauf,<br />

landab erstaunlich schnell als gegeben hingenommen.<br />

Der Eindruck entstand, dass<br />

nichts und niemand etwas gegen die Macht<br />

der Zahlen tun kann. Das Schrumpfen entwickelte<br />

sich zum Mantra, das Kommunen,<br />

Unternehmen und Politik seither wiederholen<br />

und inzwischen all ihren Entscheidungen<br />

zugrunde legen. Städte lassen, wie<br />

zuletzt in Duisburg, mit Verweis auf „die<br />

Demografie“ ganze Wohnviertel abreißen.<br />

Kanzlerin Angela Merkel hielt Mitte<br />

Mai bereits ihren zweiten Demografie-Gipfel<br />

ab, bei dem es um die Entvölkerung<br />

des ländlichen Raumes und um Alterung<br />

ging. Sie will die empfundene Bedrohung<br />

zumindest als Chance interpretiert wissen.<br />

Aber auch sie glaubt noch an die Schrumpfung:<br />

„Wenn <strong>wir</strong> auf Deutschland schauen,<br />

ungeachtet möglicher Zuwanderungsraten,<br />

dann wissen <strong>wir</strong>, dass <strong>wir</strong> insgesamt weniger<br />

werden“, sagte sie Ende April vor dem<br />

Deutschen Ethikrat.<br />

Dass die Schrumpfungsprognosen so<br />

widerstandslos aufgenommen werden, hat<br />

neben historischen ökonomische Gründe.<br />

Für die Finanzminister sind die Zahlen<br />

das ideale Argument, um Ausgaben zurückzufahren,<br />

etwa im Wohnungsbau<br />

und in Schulen und Hochschulen. So will<br />

die Regierung von Sachsen-Anhalt ihren<br />

Hochschulen in den kommenden Jahren<br />

mehr als 50 Millionen Euro kürzen, was<br />

150 Professorenstellen entspricht. Offizielle<br />

Begründung: die Demografie-Prognosen.<br />

Ministerpräsident Reiner Haseloff entließ<br />

sogar die Wissenschaftsministerin, als<br />

die sich weigerte, den Kurs mitzutragen.<br />

Fotos. Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

20 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Jessica, 24, Journalistin, kam<br />

vor anderthalb Jahren aus<br />

Großbritannien: „In London<br />

hätte ich mir ein Praktikum gar<br />

nicht leisten können. Hier wurde<br />

ich danach sogar übernommen“<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 21


T i t e l<br />

Guillermo, 26, Marketingexperte,<br />

seit Januar 2012 in Deutschland:<br />

„In Spanien herrscht ein negatives<br />

Grundgefühl. Ich habe meinen<br />

Job in Madrid aufgegeben und<br />

fühle mich hier bereits heimisch“<br />

22 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

Die geschasste Ministerin hatte offenbar<br />

einen aktuelleren Eindruck von<br />

der Universitätsstadt Halle als ihr CDU-<br />

Kollege Haseloff. Wer die Stadt besucht,<br />

sieht, dass sie durch den Zuzug von Studenten<br />

im Vergleich zu den Nachwendejahren<br />

aufblüht. Am Sophienhafen direkt<br />

an der Saale zum Beispiel stehen orangefarbene<br />

Bauwagen bereit. Hier sollen bald<br />

„moderne Stadthäuser“ entstehen. In der<br />

Schimmelstraße, unweit des Zentrums,<br />

lässt die Stadt demnächst eine neue Kindertagesstätte<br />

errichten, so groß ist die Nachfrage<br />

junger Eltern. Noch näher an der<br />

historischen Innenstadt, in der Niemeyerstraße,<br />

will die Wohnungsbaugesellschaft<br />

„Freiheit“ eine riesige Brache im nächsten<br />

Jahr mit 110 neuen Wohnungen füllen.<br />

233 000 Hallenser gibt es heute, über<br />

2000 mehr als noch vor vier Jahren. Halle<br />

macht deshalb einen jungen Eindruck. Auf<br />

dem Rasen neben dem strahlend sanierten<br />

Universitätsplatz sitzen Studenten und skypen.<br />

Gegenüber, im Café „Wonnemond<br />

und Sterne“, debattiert an einem Tisch ein<br />

Professor mit seinen Assistenten, am nächsten<br />

sitzt eine Runde junger Mütter, draußen<br />

läuft eine Schulklasse vorbei. Den offiziellen<br />

Prognosen zufolge müssten schon heute<br />

nur noch 225 000 Menschen in Halle leben,<br />

im Jahr 2025 gar 206 000. „Alle Bevölkerungsprognosen<br />

gingen von einer anhaltenden<br />

Schrumpfung der Bevölkerungszahl in<br />

Halle aus“, sagt Uwe Stäglin, der Dezernent<br />

für Stadtentwicklung.<br />

Ihn freut der Aufschwung: „Das Ausmaß<br />

der positiven Entwicklung war bis vor<br />

wenigen Jahren nicht absehbar, nun wollen<br />

<strong>wir</strong> erreichen, dass das Wachstum weitergeht“,<br />

sagt er. Doch ausgerechnet die<br />

Landesregierung durchkreuzt dieses Vorhaben.<br />

Die Stadtoberen und die Universitätsleitung<br />

bekommen von ihr weiterhin<br />

die veralteten Bevölkerungsprognosen als<br />

unabwendbares Schicksal präsentiert. Wird<br />

an den Hochschulen gespart, dürfte es tatsächlich<br />

wieder bergab gehen. Das Beispiel<br />

Halle zeigt vor allem eins: dass Demografie<br />

in hohem Maß flexibel und gestaltbar ist –<br />

und dass Prognosen eine eigene, potenziell<br />

fatale Kraft entfalten können, weil sie flexibles<br />

Denken und Planen behindern.<br />

Eine ganze Generation von Beratern<br />

und Wissenschaftlern ist allein damit beschäftigt,<br />

Deutschland auf den demografischen<br />

Niedergang einzustimmen. So viele<br />

Wenn eine<br />

Republik,<br />

die aufs<br />

Schrumpfen<br />

getrimmt ist,<br />

wächst, <strong>wir</strong>d<br />

es schwierig<br />

und so grundsätzliche Entscheidungen<br />

gründen inzwischen auf dem Schrumpfungsmantra,<br />

dass es für Politiker schwer<br />

ist, den neuerlichen Bevölkerungszuwachs<br />

anzuerkennen und als Chance zu begreifen:<br />

Denn nicht nur für lokale und regionale,<br />

auch für die großen Fragen der Politik dient<br />

die prognostizierte Schrumpfung als grundlegendes<br />

Argument. Die gesamte Strategie<br />

von Kanzlerin Merkel in der Schuldenkrise<br />

beruht auf der tiefen, parteiübergreifenden<br />

Überzeugung, dass man einer kleiner werdenden<br />

Zahl junger Deutscher nicht noch<br />

mehr Schulden aufhalsen kann. Die ohnehin<br />

vernünftige Sparpolitik wurde dadurch<br />

gleich zur Schicksalsfrage: Deshalb hatte<br />

bereits die Große Koalition die Schuldenbremse<br />

im Grundgesetz verankert und als<br />

Zukunftssicherung verkauft.<br />

Im geburtenstarken Frankreich setzen<br />

die Regierungen dagegen seit Jahren<br />

auf Wachstum – und das erklärt mehr als<br />

jede Parteipolitik die derzeitigen deutschfranzösischen<br />

Differenzen. Ähnlich wie<br />

die USA glaubt man sich im <strong>wachsen</strong>den<br />

Frankreich mehr Schulden leisten zu können.<br />

Als im vergangenen Jahr das französische<br />

Demografie-Institut INED seine Vorausberechnungen<br />

vorlegte, jubelten die<br />

Medien im Nachbarland: Im Jahr 2055, so<br />

lautete die Botschaft, werde man endlich<br />

bevölkerungsreicher als der ewige Hass-<br />

Liebespartner sein – ein erklärtes Ziel der<br />

französischen Politik seit dem Ende des<br />

Zweiten Weltkriegs. Was jetzt in Deutschland<br />

passiert, muss aus französischer Sicht<br />

eine Schreckensnachricht sein: Der Koloss<br />

in der Mitte Europas wächst wieder.<br />

Viele Politiker und Experten erwischt<br />

die aktuelle Entwicklung auf dem falschen<br />

Fuß. Kein einziges der Szenarien, die bisher<br />

kursierten, spielte durch, was passieren<br />

könnte oder passieren müsste, damit<br />

die Bevölkerung stabil bleibt oder wieder<br />

wächst. Dabei sind die Folgen der aktuellen<br />

Entwicklung vor allem in den deutschen<br />

Städten gut zu beobachten. In Städten<br />

wie Berlin, Hamburg und München<br />

<strong>wir</strong>d Wohnraum knapp, am Samstag stehen<br />

die Wohnungssuchenden oftmals um<br />

Straßenecken herum Schlange, um eine<br />

der begehrten Appartements besichtigen<br />

zu können. In Berlin kurbelt die Landesregierung<br />

den sozialen Wohnungsbau wieder<br />

an.<br />

Wohnhäuser lassen sich relativ schnell<br />

bauen. Bis eine neue Schule gebaut ist, und<br />

dort der Unterricht beginnen kann, dauert<br />

es dagegen schon länger. Wenn eine Republik,<br />

die auf Schrumpfung getrimmt <strong>wir</strong>d,<br />

doch wieder wächst, <strong>wir</strong>ft das Probleme<br />

auf. Wenn milliardenschwere Infrastrukturpläne,<br />

ob für die Bahn oder den Autoverkehr,<br />

auf eine sinkende Bevölkerung<br />

eingestellt werden, kann das schnell zu<br />

überfüllten Zügen und Stau führen. Die<br />

Pläne für die ohnehin schon schwierige<br />

Energiewende wären falsch ausgelegt, da<br />

dann für deutlich mehr Menschen Windräder,<br />

Solarzellen und Stromnetze installiert<br />

werden müssten.<br />

Durch ein Wachstum gäbe es allerdings<br />

viele positive Effekte: In der Finanzpolitik<br />

könnte vor allem das Sparen, aber<br />

auch das staatliche Investieren, einfacher<br />

werden, weil es doch mehr Steuerzahler<br />

gäbe als bisher angenommen. In jedem<br />

Fall wäre ein <strong>wachsen</strong>des Deutschland für<br />

Investoren aus aller Welt attraktiver als eines,<br />

das als Markt schrumpft und unter<br />

einem ständigen Fachkräftemangel leidet.<br />

Die Finanzierung der Sozialsysteme würde<br />

einfacher und die ohnehin kommende Alterung<br />

der Gesellschaft könnte besser abgefedert<br />

werden.<br />

Nur langsam dämmert es den Fachleuten,<br />

dass ihre früheren Zahlensets überholt<br />

sein könnten und sie bei den Prognosen für<br />

Ein- und Auswanderung, bei den Geburten<br />

und bei der Lebenserwartung womöglich<br />

umdenken müssen.<br />

Treibende Kraft für den starken Bevölkerungszuwachs<br />

ist derzeit eindeutig<br />

die Zuwanderung. Nachdem 2009 noch<br />

mehr Menschen Deutschland den Rücken<br />

gekehrt hatten als zugezogen waren, dreht<br />

sich der Trend dramatisch in die andere<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 23


T i t e l<br />

Zuwanderung in Deutschland<br />

Menschen pro Jahr. Differenz von Ein- und Auswanderern<br />

800 000<br />

600 000<br />

400 000<br />

200 000<br />

Menschen<br />

782 071<br />

272 723<br />

0<br />

1990 1995 2000 2005 2010 2012<br />

-100 000<br />

- 55 743<br />

Bevölkerung in Deutschland<br />

Reale Bevölkerungsentwicklung und die Prognose des Statistischen Bundesamts<br />

Millionen Menschen<br />

82,5<br />

82<br />

81,5<br />

81<br />

80,5<br />

80<br />

79,5<br />

79<br />

Richtung. Nach einem positiven Saldo<br />

2011 vermeldete das Statistische Bundesamt<br />

Anfang Mai, dass 2012 ingesamt eine<br />

Million Menschen nach Deutschland gezogen<br />

ist, 369 000 mehr als auswanderten<br />

– das ist der höchste Nettozuwachs<br />

seit 17 Jahren.<br />

Zwar warnen erfahrene Statistikerinnen<br />

wie Bettina Sommer vom Statistischen<br />

Bundesamt davor, das Hoch der<br />

2009<br />

Prognose<br />

369 000<br />

Reale Bevölkerungszahlen<br />

1990 1995 2000 2005 2010 2015<br />

Quelle: Statistisches Bundesamt<br />

vergangenen beiden Jahre linear auf die<br />

Zukunft zu übertragen. Die Bevölkerungsexpertin<br />

verweist auf die Langfrist-Statistik,<br />

nach der es seit 1950 bereits 13 Mal<br />

ein positives Zuzugssaldo von mehr als<br />

300 000 Einwohnern gegeben hat. Der<br />

Rekord lag 1992 sogar bei 782 000 Menschen.<br />

Dann deutet sie auf andere Teile der<br />

zackigen Kurve: In fünf Phasen seit 1950<br />

gab es auch ein negatives Wanderungsaldo,<br />

verließen mehr Menschen Deutschland als<br />

zuzogen. „Wenn Sie langfristige Annahmen<br />

für die Zeit bis 2060 treffen, müssen Sie als<br />

Statistiker einen Durchschnitt annehmen<br />

und vorsichtig rechnen“, warnt Sommer.<br />

Sie ist ein gebranntes Kind. Denn als das<br />

Statistische Bundesamt 2009 seine neue<br />

12. Bevölkerungsvorausberechnung veröffentlichte,<br />

wurde es prompt dafür kritisiert,<br />

dass die damals verwendeten Annahmen<br />

mit einem durchschnittlichen jährlichen<br />

Zuzug von 100 000 und 200 000 Menschen<br />

viel zu optimistisch seien. 2008 und<br />

2009 glaubten auch viele Experten wegen<br />

der <strong>wir</strong>tschaftlichen Krise nicht mehr an<br />

eine Wende.<br />

Wie Sommer sieht auch der Demografie-Experte<br />

Reiner Klingholz, Leiter des<br />

Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung,<br />

„derzeit noch keine Anzeichen<br />

für eine demografische Trendwende“. Die<br />

starke Zuwanderung werde nicht zehn oder<br />

mehr Jahre anhalten, „weil dann irgendwann<br />

keiner mehr in Spanien oder Bulgarien<br />

ist, der auswandern könnte“.<br />

Doch viele sind anderer Meinung. Wegen<br />

der Krise in anderen EU-Staaten und der<br />

Stärke der deutschen Wirtschaft dürfte ihnen<br />

zufolge die Zuwanderung dauerhaft<br />

anhalten. Das Wirtschaftsforschungsinstitut<br />

Kiel Economics, eine Ausgründung<br />

des renommierten Instituts für Welt<strong>wir</strong>tschaft,<br />

rechnet damit, dass allein im Jahr<br />

2014 die Nettozahl der Zuwanderer auf<br />

über 500 000 steigen könnte. Bis 2020<br />

könnten insgesamt 2,2 Millionen Menschen<br />

hinzukommen, vor allem aus den<br />

<strong>wir</strong>tschaftlich kriselnden Ländern in Südund<br />

Osteuropa. Das wären 275 000 pro<br />

Jahr, fast ein Drittel mehr als angenommen.<br />

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit,<br />

Frank-Jürgen Weise, rechnet allein aus Bulgarien<br />

und Rumänien mit einer Zuwanderung<br />

von 120 000 bis 180 000 Menschen –<br />

jährlich. „Die tiefgehende Wirtschaftskrise<br />

in Ländern wie Spanien und Griechenland<br />

lässt es plausibel erscheinen, dass die hohe<br />

Einwanderung anhält und dass viele der<br />

Einwanderer in Deutschland bleiben werden“,<br />

erwartet auch James Vaupel, Direktor<br />

am Max-Planck-Institut für demografische<br />

Forschung. Dass die Zuwanderung<br />

in das temperierte Deutschland noch stärker<br />

wächst, wenn in Afrika und Asien der<br />

Klimawandel <strong>wir</strong>klich zuschlägt, ist in diesen<br />

Prognosen noch nicht einmal beachtet.<br />

Grafik: Esther Gonstalla<br />

24 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Manches teilt man gern online.<br />

/ /S i e Spricht mit mama über alleS _<br />

// auSSer über ihren erSten Freund_<br />

Anderes nicht.<br />

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T i t e l<br />

Die vorsichtigen Annahmen hatten<br />

mit der früher üblichen Vermutung zu<br />

tun, höhere Zuwanderungszahlen seien in<br />

Deutschland aus politischen und kulturellen<br />

Gründen nicht machbar. Doch inzwischen<br />

hat sich die Lage auch mental zum<br />

Positiven verändert, die Integrationspolitik<br />

fruchtet. Zuwanderer sind heute in<br />

Medien und Politik sichtbarer vertreten als<br />

früher, nicht einmal die Union geriert sich<br />

mehr als Bewahrer reindeutscher „Leitkultur“.<br />

20 Jahre nach der erbitterten, teilweise<br />

naiven Multi-Kulti-Debatte ist die Bundesrepublik<br />

heute auf dem besten Wege,<br />

sich lautlos zu einem funktionierenden<br />

Schmelztiegel zu entwickeln. Von „Gastarbeitern“<br />

spricht heute kaum noch jemand,<br />

auch der sperrige „Mensch mit Migrationshintergrund“<br />

<strong>wir</strong>d im Sprachgebrauch seltener.<br />

Zuwanderung ist die neue Normalität,<br />

in der Breite der Gesellschaft ist eine „Willkommenskultur“<br />

am Entstehen.<br />

Peter Clever von der Bundesvereinigung<br />

der Deutschen Arbeitgeberverbände,<br />

plädiert für einen noch offensiveren Kurs:<br />

Mathieu, 27, Koch, verließ 2010 Frankreich: „Ich fühle<br />

mich wohl, habe Arbeit und werde bestimmt hierbleiben“<br />

„Wir haben unsere Behörden über Jahrzehnte<br />

in eine Abschottungskultur hinein<br />

entwickelt, man hat den zuständigen<br />

Beamten gesagt, haltet uns die Leute vom<br />

Hals, die wollen alle nur in unsere Sozialsysteme“,<br />

kritisiert er. Jetzt müsse aber umgeschaltet<br />

werden: „Wir benötigen Fachkräfte,<br />

die müssen <strong>wir</strong> umwerben.“ Die<br />

vielen Zuwanderer von heute kommen<br />

also trotz des Gegenwinds von Behörden.<br />

Was für ein Potenzial gäbe es erst, wenn<br />

Deutschland gezielt anwerben würde?<br />

Wie das aussehen kann, macht Jens Begemann<br />

deutlich, Chef des Start-ups und<br />

Spieleentwicklers „Woogaa“ im Berliner<br />

Viertel Prenzlauer Berg. Als der umtriebige<br />

Manager die Kanzlerin im März durch die<br />

Räume in der „Backfabrik“ schiebt, freut er<br />

sich besonders auf diesen Moment: Er platziert<br />

Merkel vor einer Gruppe von 40 Mitarbeitern<br />

– aus 40 verschiedenen Staaten.<br />

Das Foto <strong>wir</strong>d zum Symbol für das neue,<br />

boomende Deutschland: „Anderssein“<br />

stört nicht mehr, sondern <strong>wir</strong>d zum Plus<br />

in der globalisierten deutschen Wirtschaft.<br />

Hamburg und andere Städte haben „Welcome<br />

Center“ eingerichtet, um Migranten<br />

den Start zu erleichtern. Die Zukunft der<br />

Zuwanderung hat begonnen: Angesichts<br />

der Panik vor einem Fachkräftemangel veranstalten<br />

deutsche Auslandshandelskammern<br />

zunehmend Anwerbeveranstaltungen,<br />

auch in den angeschlagenen Eurostaaten.<br />

Die Goethe-Institute verzeichnen weltweit<br />

Rekordnachfragen nach deutschen<br />

Sprachkursen. Die Bundesagentur für Arbeit<br />

hat gerade eine Delegation nach Asien<br />

geschickt, die in China und einigen anderen<br />

Staaten die Chancen für die Anwerbung<br />

von Arbeitskräften für den Gesundheitssektor<br />

erkunden soll.<br />

Die Resonanz auf deutsches Werben ist<br />

meist positiv. Junge Menschen zieht es<br />

heute nicht nur nach Deutschland, weil<br />

es Jobs gibt. Hinzu kommen das moderate<br />

Klima, eine effiziente Infrastruktur,<br />

Krankenversicherung für alle, die saubere<br />

Umwelt und ein reiches Kulturleben.<br />

Wenn Wirtschaftsminister Philipp Rösler<br />

Deutschland „das coolste Land der Welt“<br />

nennt, <strong>wir</strong>d er von Deutschen dafür stärker<br />

belächelt als im Ausland.<br />

Attraktiv geworden ist Deutschland<br />

inzwischen auch wieder für Wissenschaftler<br />

aus aller Welt. War früher vom „brain<br />

drain“ gen USA die Rede, ist Deutschland<br />

nun begehrtes Ziel. Während in den USA,<br />

Großbritannien und in südeuropäischen<br />

Ländern die Forschungsbudgets teils drastisch<br />

schrumpfen und Hochqualifizierte<br />

ihre Arbeitsplätze verlieren, hat die Bundesregierung<br />

ihre Ausgaben für Bildung,<br />

Technologie und Forschung seit 2005<br />

um 60 Prozent erhöht. 2011 studierten<br />

252 000 Ausländer an deutschen Universitäten,<br />

knapp 29 000 ausländische Wissenschaftler<br />

arbeiteten an deutschen Forschungseinrichtungen.<br />

Das sind so viele<br />

wie nie zuvor, Tendenz steigend. Attraktiv<br />

<strong>wir</strong>d Deutschland auch für jene deutschen<br />

Wissenschaftler, die in den vergangenen<br />

Jahren in andere Länder abgewandert<br />

sind. Viele von ihnen kehren zurück, teils<br />

dank staatlicher Anreize für Heimkehrer.<br />

Auch die traditionell hohe Zahl deutscher<br />

Auswanderer könnte in Zukunft sinken,<br />

schon weil die USA längst nicht mehr<br />

das Land der unbegrenzten Möglichkeiten<br />

sind und das frühere Traumland Australien<br />

in den Nachrichten wahlweise mit Dürren<br />

oder Überschwemmungen vertreten ist.<br />

Fotos: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

26 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Xenia, 29, Studentin, aus St. Petersburg: „Hier kann ich<br />

mich auf Gesetz und Recht verlassen, auch als Ausländerin“<br />

Wenn weniger Menschen auswandern,<br />

schlägt der Positivtrend bei der Zuwanderung<br />

stärker durch. Der Sachverständigenrat<br />

deutscher Stiftungen für Migration und<br />

Integration urteilt: „Zum ersten Mal seit<br />

15 Jahren hat die Zuwanderung ein Maß<br />

erreicht, das den demografischen Wandel<br />

und seine Aus<strong>wir</strong>kungen auf die sozialen<br />

Sicherungssysteme abfedern kann.“<br />

Niemand bezweifelt, dass der demografische<br />

Wandel gerade wegen der gesunkenen<br />

Kinderzahl und der <strong>wachsen</strong>den Zahl<br />

alter Menschen eine Herausforderung ist.<br />

Doch die Demografie-Debatte der vergangenen<br />

Jahre verlief zu starr, so als könnte<br />

man nur noch den Niedergang möglichst<br />

erträglich gestalten. Demografische Prognosen<br />

sind aber kein Naturgesetz, kein unabwendbares<br />

Schicksal. Das gilt selbst für<br />

die Geburtenrate, die Hauptursache dafür,<br />

dass die deutsche Bevölkerung geschrumpft<br />

ist. Von rund einer Million Geburten im<br />

Jahr 1970 ist die Zahl auf 663 000 im Jahr<br />

2011 gesunken. Die Gruppe der potenziellen<br />

Mütter, also von Frauen zwischen 15<br />

und 49 Jahren, wurde als Folge davon allein<br />

seit 2004 um rund eine Million kleiner.<br />

Weniger Mütter, weniger Kinder, das<br />

liegt auf der Hand, dazu kommt die große<br />

Anzahl kinderloser Frauen, die die durchschnittliche<br />

Kinderzahl drückt.<br />

Doch wie bei der Zuwanderung sehen<br />

Demografen sowohl am renommierten<br />

Max-Planck-Institut in Rostock als auch<br />

am französischen INED bei der Geburtenrate<br />

Anzeichen für eine Trendwende. Ende<br />

März veröffentlichten die Rostocker Forscher<br />

einen Aufsatz. Titel: „Endgültige Geburtenraten<br />

werden steigen.“ „Langfristig<br />

niedrige Annahmen der Periodenfertilität,<br />

wie etwa 1,4 für die mittlere Variante der<br />

deutschen Vorausberechnungen, erscheinen<br />

wenig realistisch“, schreiben die Demografen<br />

Mikko Myrskylä und Joshua Goldstein.<br />

Eine leichte Steigerung erwarten auch die<br />

Expertinnen im Statistischen Bundesamt,<br />

Bettina Sommer und Olga Pötzsch. „Den<br />

Tiefpunkt verzeichneten <strong>wir</strong> bei Frauen, die<br />

in den Jahren 1967 und 1968 geboren wurden.<br />

Seither zeigt sich wieder eine leichte<br />

Erholung auf einen Wert von 1,55 Kindern<br />

pro Frau“, sagt Pötzsch.<br />

Trendwenden bei der Geburtenzahl<br />

sind also möglich. Das zeigt auch Frankreich.<br />

In den neunziger Jahren, das <strong>wir</strong>d<br />

oft vergessen, war auch dort die Kinderzahl<br />

pro Frau auf durchschnittlich 1,7<br />

abgesackt. Durch eine Reihe von Einflüssen<br />

wie staatliche Förderung, verstärkte<br />

Einwanderung und einen Meinungswandel<br />

in der Bevölkerung ist die Geburtenrate<br />

in relativ kurzer Zeit wieder gestiegen.<br />

Aber kann die Geburtenrate auch in<br />

Deutschland nach einer so langen Phase<br />

sinkender Kinderzahlen wieder steigen?<br />

„Ja, daran glauben <strong>wir</strong> fest“, sagt Günter<br />

Stock, Präsident der Berlin-Brandenburgischen<br />

Akademie der Wissenschaften.<br />

„Wenn man Mädchen im Alter von 14 bis<br />

16 Jahren befragt, ist für sie das Thema<br />

Kinderbekommen eine Selbstverständlichkeit.“<br />

Später sinke der Wunsch, vor<br />

allem, weil viele junge Frauen eine Kollision<br />

zwischen Berufs- und Familienwünschen<br />

fürchten.<br />

Derzeit aber verbessern sich die Rahmenbedingungen<br />

für junge Eltern, etwa<br />

durch den Ausbau von Krippen- oder Kitaplätzen<br />

oder mehr familienpolitische<br />

Leistungen. Dazu kommt die in Deutschland<br />

ins Positive gedrehte Grundstimmung.<br />

Alle Experten räumen ein, dass sowohl die<br />

<strong>wir</strong>tschaftliche Entwicklung eines Landes<br />

als auch eine Zuversicht in der Bevölkerung<br />

den Kinderwunsch erhöht.<br />

Früher gaben sich junge Deutsche Zukunftsängsten<br />

hin etwa vor einem Atomkrieg<br />

– Kinder in eine vermeintlich untergehende<br />

Welt zu setzen, galt fast schon als<br />

moralischer Makel. Heute gibt die große<br />

Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland<br />

an, keine Angst vor der Zukunft zu haben –<br />

auch nicht vor Arbeitslosigkeit. 84 Prozent<br />

der Befragten zwischen 17 und 27 Jahren<br />

gaben in einer Studie „Jugend, Vorsorge,<br />

Finanzen“ des Versorgungswerks Metall-<br />

Rente vielmehr an, dass sie darauf vertrauten,<br />

einen guten Lebensstandard zu erreichen<br />

und sich viel leisten zu können.<br />

Am Demografie-Institut in Rostock<br />

führt James Vaupel Skandinavien als Beispiel<br />

an, wie die Geburtenrate wieder steigen<br />

kann. „Wenn nun in Deutschland die<br />

Kinderbetreuung ausgebaut ist und Väter<br />

sich stärker in die Versorgung der Kinder<br />

einbringen, sehe ich keinen Grund, warum<br />

es nicht auch in Deutschland zu einer<br />

Trendwende bei der Geburtenrate<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 27


T i t e l<br />

Matzaa, 25, Sängerin, aus Budapest: „In Ungarn war die<br />

Lage deprimierend. Hier gibt es Raum für Veränderungen“<br />

kommen sollte.“ Marion Kiechle, Direktorin<br />

der Frauenklinik der TU München,<br />

erklärte im Mai bei einem Treffen im Kanzleramt:<br />

„Gelebte Gleichstellung würde die<br />

Geburtenrate mit Sicherheit steigern.“<br />

Dazu kommen kleinere positive Effekte<br />

durch sinkende Abtreibungszahlen und<br />

die erhöhte staatliche Förderung für die<br />

künstliche Befruchtung. Selbst das zur Vorsicht<br />

verpflichtete Statistische Bundesamt<br />

hat eine „spekulative“ Berechnung angestellt,<br />

was eigentlich der Effekt wäre, sollte<br />

Deutschland im Jahr 2015 wieder eine Fertilitätsrate<br />

von 2,1 Kindern pro Frau erreichen.<br />

Unterstellt man die bisherige Lebenserwartung<br />

und einen durchschnittlichen<br />

positiven Zuzug von 100 000 Menschen<br />

pro Jahr, würde die deutsche Bevölkerung<br />

im Jahr 2060 trotz einer unvermeidlichen<br />

Babydelle schon wieder 82,9 Millionen betragen,<br />

etwas mehr als bisher.<br />

Zu einer Trendwende bei der Bevölkerungszahl<br />

könnte am Ende auch beitragen,<br />

dass die Lebenserwartung möglicherweise<br />

stärker steigt, als für solche Langfristannahmen<br />

bisher unterstellt. Zwar verschwinden<br />

derzeit viele besonders Langlebige aus den<br />

staatlichen Karteien. Der letzte Mikrozensus<br />

hat hier bei der absoluten Bevölkerungszahl<br />

und der Langlebigkeit mit statistischen<br />

Artefakten aufgeräumt. „Da gab<br />

es viele Ausländer, die in ihre Heimat zurückgehen,<br />

sich nicht abmelden und dann<br />

auf dem Papier in deutschen Behörden<br />

120 Jahre alt werden“, sagt Reiner Klingholz<br />

vom Berlin-Institut.<br />

Doch die Lebenserwartung könnte real<br />

deutlich steigen, wenn es in der Medizin<br />

Durchbrüche gibt oder wenn es zu weniger<br />

Herzinfarkten kommt, weil die Menschen<br />

sich gesünder ernähren und mehr Sport<br />

treiben. Das Statistische Bundesamt geht<br />

in seiner 2009 erstellten Annahme davon<br />

aus, dass das Lebensalter von Frauen bis<br />

2050 auf 89,2 Jahre und das von Männern<br />

auf 85 Jahre steigen <strong>wir</strong>d. „Dank medizinischem<br />

Fortschritt und gesünderem Lebenswandel<br />

kann die Lebenserwartung genauso<br />

gut deutlich stärker steigen, als in<br />

der Prognose angenommen“, sagt James<br />

Vaupel sogar. „Gerade bei der Entwicklung<br />

der Lebenserwartung haben Demografen<br />

systematisch danebengelegen und<br />

sie unterschätzt.“ Für die 13. Bevölkerungsvorausberechnung<br />

des Statistischen<br />

Bundesamts, die Ende 2014 erscheinen<br />

soll, dürften die Annahmen für die durchschnittliche<br />

Lebenserwartung nach oben<br />

korrigiert werden, sagt die Expertin des<br />

Amtes, Bettina Sommer.<br />

Niemand kann garantieren, dass es bei<br />

der demografischen Trendumkehr bleibt.<br />

Die harten Faktoren beim Geburtenrückgang<br />

<strong>wir</strong>ken, und es <strong>wir</strong>d weiter Schwankungen<br />

und unvorhersehbare Entwicklungen<br />

geben. Klar ist auch, dass es in vielen<br />

Regionen Deutschlands zu Schrumpfungsprozessen<br />

kommen <strong>wir</strong>d. Sofern nicht wie<br />

unter Friedrich dem Großen Siedlerbewegungen<br />

entstehen, werden sich abgelegene<br />

Regionen weiter leeren. Die „Gleichwertigkeit<br />

der Lebensverhältnisse“, die das<br />

Grundgesetz fordert, ist passé.<br />

Doch das noch vorherrschende Dogma<br />

der Schrumpfung ist fatal, weil es politische<br />

Entscheidungsprozesse in falsche Bahnen<br />

lenken kann – die Studenten in Halle<br />

und die Wohnungssuchenden in Berlin bekommen<br />

das zu spüren.<br />

Es ist nötig, dass in der Diskussion<br />

auch Szenarien debattiert werden, unter<br />

welchen Bedingungen die Bevölkerung<br />

auf 90 Millionen oder 100 Millionen<br />

Menschen <strong>wachsen</strong> könnte. Das mag<br />

nicht hochwahrscheinlich sein, aber möglich<br />

durchaus, wenn ein <strong>wir</strong>tschaftlich erfolgreiches,<br />

innovatives Deutschland dauerhaft<br />

zum Magneten und Schmelztiegel<br />

<strong>wir</strong>d und sich Optimismus, Umweltschutz<br />

und gesunde Lebensweisen mit Kinderfreundlichkeit<br />

vereinen. Platz gäbe es,<br />

aber das Land müsste sich auf Wachstum<br />

einstellen – politisch und emotional. Erst<br />

wenn Szenarien wie das eines „100-Millionen-Deutschlands“<br />

in der Debatte überhaupt<br />

vorkommen, <strong>wir</strong>d Demografie vom<br />

Abwicklungs- zum Gestaltungsprozess.<br />

James Vaupel, Leitfigur Regierungskampagne<br />

zur Demografie, sagt: „Gute Politik<br />

bereitet sich darauf vor, dass es doch anders<br />

kommt, als alle gedacht haben.“<br />

Andreas Rinke<br />

(rechts), Chefkorrespondent<br />

der Nachrichtenagentur<br />

Reuters, und der Biologe<br />

und Wissenschaftsjournalist<br />

Christian Schwägerl schreiben<br />

regelmäßig im <strong>Cicero</strong> über Zukunftsfragen<br />

Fotos: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong>, Maurice Weiss (Autor)<br />

28 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Deshalb müssen <strong>wir</strong> mehr für Bildung und frühkindliche Förderung tun<br />

Mit Sicherheit gerecht: Soziale Markt<strong>wir</strong>tschaft<br />

insm.de/Gerechtigkeit facebook.com/Markt<strong>wir</strong>tschaft


T i t e l<br />

„Eine Revolution<br />

im Denken“<br />

Der CDU-Politiker Armin Laschet über die neue Offenheit der Deutschen gegenüber<br />

Zuwanderern – und über notwendige Strategien für das Bevölkerungswachstum<br />

H<br />

err Laschet, Deutschland verzeichnet<br />

plötzlich wieder hohe<br />

Zuwanderungszahlen. Sehen<br />

Sie das als positive Entwicklung oder als<br />

Bedrohung?<br />

Das sind gute Zahlen. Es zeigt, dass sich<br />

der Trend der Jahre 2008 und 2009, als<br />

mehr Menschen aus Deutschland auswanderten<br />

als einwanderten, völlig umgekehrt<br />

hat. Zudem handelt es sich heute<br />

um viele qualifizierte Facharbeiter, die<br />

kommen. Dies ist ein Beitrag, um ein<br />

wenig die demografische Entwicklung in<br />

Deutschland abzufedern.<br />

Halten Sie die gestiegenen Zuwanderungszahlen<br />

für dauerhaft?<br />

Zunächst einmal ist die Zuwanderung<br />

gerade von Südeuropäern eine Reaktion<br />

auf die Krise in diesen Ländern. Niemand<br />

weiß, wie lange dies anhält. Es<br />

zeigt aber sehr stark, dass Deutschland<br />

auch hier ein Gewinner der Finanz- und<br />

Schuldenkrise ist. Dieser Trend, dass<br />

Deutschland Magnet für qualifizierte Zuwanderer<br />

ist, kann mittelfristig anhalten.<br />

Ob er <strong>wir</strong>klich dauerhaft ist, muss man<br />

abwarten.<br />

Viele Experten sagen, dass Deutschland<br />

einen dauerhaften Vorsprung als industrielles<br />

Zentrum Europas hat.<br />

Es stimmt, dass Deutschland sehr stark<br />

dasteht. Aber es kann keine Insel in Europa<br />

sein. Das heißt, dass die Wettbewerbsfähigkeit<br />

und die Forschungs- und<br />

Entwicklungsausgaben auch im südlichen<br />

Europa wieder steigen müssen. Es<br />

muss auch mit entsprechendem EU-Geld<br />

Der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Armin Laschet war erster Integrationsminister<br />

in Deutschland. 2011 leitete er zusammen mit dem SPD-Politiker Peter Struck die<br />

parteiübergreifende „Konsensgruppe Fachkräftebedarf und Zuwanderung im Jahr 2011“<br />

Foto: Action Press<br />

30 <strong>Cicero</strong> 6.2013


sichergestellt werden, dass diese Länder<br />

ihre Krise überwinden und sich wieder<br />

gut entwickeln. Das ist auch für unsere<br />

Wirtschaft wichtig.<br />

Wieso trifft die Zuwanderung heute auf so<br />

wenig Widerstand in einem Land, in dem<br />

früher eher die Ängste vor einer „Überfremdung“<br />

geschürt wurden?<br />

Es gibt zwei fundamentale Änderungen.<br />

Zum einen sind die Zuwanderer andere<br />

als in den neunziger Jahren, als 300 000<br />

bis 400 000 Asylbewerber ungesteuert<br />

kamen. Dies war eine ungeordnete Zuwanderung<br />

ohne Integrationsperspektive.<br />

Heute dagegen kommen durch die<br />

EU‐Freizügigkeit viele gut ausgebildete<br />

Fachkräfte aus anderen EU‐Staaten. Es<br />

gibt für diese Neuzuwanderer selten Integrationsprobleme.<br />

Denn die Menschen<br />

haben den Willen, hier zu arbeiten, und<br />

haben die dafür nötige Qualifikation.<br />

Sehr oft haben sie die deutsche Sprache<br />

schon in ihren Heimatländern gelernt<br />

und haben hier von Anfang an alle beruflichen<br />

Chancen. Zweitens hat sich mental<br />

etwas Grundlegendes geändert. Es<br />

gibt heute eigentlich quer durch fast alle<br />

Parteien den Konsens, dass Deutschland<br />

Zuwanderung braucht.<br />

Aber hat nicht gerade die Union früher von<br />

einer deutschen Leitkultur gesprochen<br />

und die Zuwanderung kritisch gesehen?<br />

Die Union hat sich sicher verändert. Unter<br />

Leitkultur versteht man heute den<br />

gemeinsamen Grundkonsens unserer<br />

Gesellschaft. Jeder muss die Werte des<br />

Grundgesetzes akzeptieren. Aber in der<br />

parteiübergreifenden Konsensgruppe<br />

Fachkräftebedarf und Zuwanderung im<br />

Jahr 2011 habe ich gemerkt, dass es auch<br />

bei den Gewerkschaften und dem linken<br />

Teil der SPD erhebliche Vorbehalte gab.<br />

Unter dem Schlagwort „billig und willig“<br />

wurde die Anwerbung ausländischer<br />

Fachkräfte als Wunsch der Wirtschaft<br />

verdammt. Damals galt noch, dass es<br />

keine Zuwanderung geben sollte, bevor<br />

nicht der letzte Arbeitslose vermittelt ist.<br />

Jetzt haben sich alle aufeinanderzubewegt,<br />

übrigens auch die Grünen. Dort ist die<br />

frühere Einstellung verschwunden, dass<br />

jede Form der Zuwanderung ohne jede<br />

Anforderung an die Migranten und ohne<br />

Deutschkenntnisse wünschenswert sei.<br />

Alle Parteien haben sich geändert – die<br />

Union sicher ein Stückchen mehr.<br />

Also kann Deutschland zum Schmelztiegel<br />

verschiedener Kulturen werden?<br />

Ich würde das Wort für Deutschland<br />

nicht verwenden, es passt nach wie vor<br />

eher für die USA. Für die Bundesrepublik<br />

war zumindest bisher eher typisch,<br />

dass es unterschiedliche Wellen und Arten<br />

der Zuwanderung gab, von den Polen<br />

in die Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts,<br />

der Aufnahme von zwölf Millionen<br />

Vertriebenen, über die sogenannten<br />

Gastarbeiter bis zu den Spätaussiedlern<br />

nach dem Zerfall der Sowjetunion. Aber<br />

es stimmt schon, dass in den großen<br />

Städten auch hier 50 Prozent der Kinder<br />

mittlerweile eine Zuwanderungsgeschichte<br />

haben. Jetzt gilt, dass der, der<br />

kommt, von vorneherein weiß, dass seine<br />

Arbeit und sein Leben hier ein dauerhafter<br />

Zustand sein können.<br />

Gibt es eine Grenze der Aufnahmefähigkeit<br />

des neuen Zuwanderungslands<br />

Deutschland?<br />

Die Einwanderung aus den südlichen<br />

EU‐Staaten <strong>wir</strong>d sicher als unproblematisch<br />

angesehen. Was Osteuropa angeht,<br />

„Wir müssen länger arbeiten,<br />

es müssen mehr Frauen ins<br />

Erwerbsleben kommen, Schüler<br />

ohne Schulabschluss können <strong>wir</strong><br />

uns nicht mehr erlauben“<br />

haben <strong>wir</strong> 2004 den Fehler gemacht,<br />

Übergangsregeln für die Freizügigkeit anzuwenden.<br />

Die hoch qualifizierten Polen,<br />

Tschechen und Ungarn sind deshalb<br />

nach Frankreich oder Großbritannien gegangen.<br />

Dadurch haben <strong>wir</strong> eine ganze<br />

Generation von mitteleuropäischen Zuwanderern<br />

verloren. Jetzt korrigiert sich<br />

das etwas. Sicher <strong>wir</strong>d es wieder einige<br />

Diskussionen geben, sollte es künftig<br />

mehr Zuwanderer aus Asien oder Afrika<br />

geben. Aber in den Köpfen ist nun<br />

verankert, dass Zuwanderung keine Bedrohung,<br />

sondern eine Chance ist. Wir<br />

müssen künftig um die klügsten Köpfe<br />

weltweit werben. Botschaften, Goethe-<br />

Institute und Auslandshandelskammern<br />

sollten sich darauf einstellen und ihre Arbeit<br />

weltweit verstärken.<br />

Das klingt eindeutig anders als früher.<br />

Es ist <strong>wir</strong>klich eine Revolution im Denken.<br />

Über 50 Jahre war die deutsche Politik<br />

darauf ausgelegt, Menschen aus anderen<br />

Teilen der Welt abzuschrecken. Jetzt<br />

entwickeln <strong>wir</strong> eine Willkommenskultur<br />

und ändern unsere kollektive Körpersprache.<br />

Mein Lieblingsbeispiel für das<br />

alte Denken war die „Anwerbestopp-Ausnahmeverordnung“.<br />

Das beschrieb die<br />

ganze Philosophie, weil nur Ausnahmen<br />

von dem 1973 verhängten Anwerbestopp<br />

definiert wurden. Heute muss das Werben<br />

um qualifizierte Zuwanderer die Regel<br />

sein.<br />

Kann die Zuwanderung die kommende<br />

„Baby-Delle“ ausgleichen?<br />

Das bezweifele ich eher. Allerdings hätte<br />

ich vor zwei Jahren auch nicht für möglich<br />

gehalten, wie stark die Zuwanderungszahlen<br />

tatsächlich ansteigen würden.<br />

Wir müssen abwarten, ob der Trend<br />

anhält. Wir müssen auf jeden Fall auch<br />

etwas im Inland tun, um den kommenden<br />

Arbeitskräftemangel zu beheben. Wir<br />

müssen länger arbeiten, es müssen mehr<br />

Frauen ins Erwerbsleben kommen, Schüler<br />

ohne Schulabschluss können <strong>wir</strong> uns<br />

nicht mehr erlauben. Und <strong>wir</strong> müssen etwas<br />

dafür tun, damit die Geburtenrate<br />

wieder steigt.<br />

Das Gespräch führten Andreas Rinke und<br />

Christian Schwägerl<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 31


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Mächtig Leise<br />

Der neue Focus-Chef Jörg Quoos hat sich mit seiner Enthüllung über Uli Hoeneß Spielraum verschafft<br />

von Thomas Schuler<br />

J<br />

örg Quoos zieht das JackeT aus,<br />

krempelt seine Hemdsärmel hoch<br />

und nimmt einen blauen Schnellhefter<br />

in die Hand. „Der Coup des Jahres –<br />

Focus deckt Steuerhinterziehung von Uli<br />

Hoeneß auf“, steht auf jeder der 36 Farbkopien.<br />

Quoos blättert und zählt auf: New<br />

York Times, BBC, Times of India; und das<br />

sei nur ein winziger Ausschnitt. Er zieht<br />

Bilanz, als stünde der Jahresrückblick an.<br />

Dabei ist es Mai, und er als Chefredakteur<br />

von Focus noch kein halbes Jahr im Amt.<br />

Als er im März seiner Redaktion eine<br />

Titelgeschichte über den FC Bayern vorschlug,<br />

gab es Bedenken. Wie sieht das aus?<br />

Focus sei ein nationales Nachrichtenmagazin,<br />

das sich auch in Dortmund verkaufen<br />

soll. Quoos setzte den Titel über den „FC<br />

Supermacht“ durch, eine Hymne, obwohl<br />

sie auch an den „Bayern-Dusel“ und „bittere<br />

Niederlagen“ erinnerte. Kurz vor Redaktionsschluss<br />

erhielt Quoos den Hinweis,<br />

dass Hoeneß in der Schweiz Steuern hinterzogen<br />

habe. Ausgerechnet Hoeneß, der<br />

sich in Talkshows als anständiger Steuerzahler<br />

inszenierte?<br />

Quoos wollte ihn sofort befragen, doch<br />

Hoeneß schwieg. Da ließ der Chefredakteur<br />

erst mal die Bayern-Titelgeschichte<br />

erscheinen. Als Focus Hoeneß zwei Wochen<br />

später mit weiteren Recherchen konfrontierte,<br />

bestätigte der den Steuerbetrug.<br />

Schriftlich. An so einen Knaller kann man<br />

sich bei Focus nicht erinnern. Ob Sportschau,<br />

Günther Jauch, Heute-Journal oder<br />

RTL – alle wollten Quoos plötzlich im Programm<br />

haben.<br />

„Diese Geschichte fiel mir vor die Füße“,<br />

sagt Quoos entschuldigend. „Wir führen<br />

keinen Feldzug gegen Hoeneß.“ Es <strong>wir</strong>kt<br />

fast, als schmerze ihn die eigene Enthüllung.<br />

Die Haltung ist klug. Denn Herausgeber<br />

Helmut Markwort, Gründer von Focus, sitzt<br />

seit 20 Jahren im Verwaltungs- und Aufsichtsrat<br />

des Fußballkonzerns und im Stadion<br />

gern neben Hoeneß. Eine Woche nach<br />

der Enthüllung bekannte er: „Der Freund<br />

erschrickt über das finanzielle Doppelleben.“<br />

Erst habe er an eine Falschmeldung geglaubt,<br />

dann „konnte ich nur professionell empfehlen:<br />

‚Geht fair mit ihm um.‘“<br />

Quoos versichert: „In der Redaktion ist<br />

keine einzige Flasche Wein oder Champagner<br />

wegen dieser Enthüllung geöffnet worden.<br />

Wir gehen sehr nüchtern vor. Ich habe<br />

keine Lust, mich auf den Marktplatz zu<br />

stellen und zu sagen, ‚Hoeneß ist ein Riesen-Schuft‘.“<br />

Als im ZDF bei Markus Lanz<br />

alle Gäste einen Sketch über Hoeneß beklatschten,<br />

ließ Quoos die Hände unten.<br />

Er gibt sich als journalistischer Handwerker,<br />

der tat, was er tun musste. Je stärker<br />

seine Stellung, desto leiser die Töne.<br />

Woher hatte Focus die Information zu<br />

Hoeneß? Von Markwort? Der dementiert,<br />

und Quoos sagt: „Es ist völlig absurd, dass<br />

Helmut Markwort diese Information aus<br />

dem Aufsichtsrat des FC Bayern an mich<br />

weiterreichte.“ Er habe mit Markwort beim<br />

Thema FC Bayern überhaupt nicht zusammengearbeitet.<br />

„Ich habe ihn lediglich über<br />

den Titel und zu einem frühen Zeitpunkt<br />

über den Steuerhinweis informiert. Er hat<br />

sich nicht eingeschaltet. Er war dem FC<br />

Bayern gegenüber loyal. Als Herausgeber<br />

hat er mir auch nicht gesagt: ‚Lass es sein!‘“<br />

Quoos, 49, kam an die Spitze von Focus,<br />

weil der Kurswechsel durch Wolfram<br />

Weimer, früher Chefredakteur von <strong>Cicero</strong>,<br />

misslang. Quoos ist 1963 in Heidelberg geboren.<br />

Sein Vater war dort Lokalchef der<br />

Rhein-Neckar-Zeitung, bei der Quoos volontierte<br />

und von 1985 an fünf Jahre lang<br />

als Redakteur arbeitete. Journalismus ist<br />

das beherrschende Thema in der Familie:<br />

Sein Bruder moderiert bei WDR 2, seine<br />

Frau schreibt für Bild. Nach dem Fall der<br />

Mauer ging Quoos nach Berlin zu Springers<br />

Boulevardblatt B.Z.. Mit dessen Chef<br />

Claus Larass wechselte er zu Bild, zuletzt<br />

fungierte er dort als Vize von Chefredakteur<br />

Kai Diekmann. Nach 20 Jahren Bild<br />

sei ihm nichts Menschliches fremd, sagt<br />

er. Das soll harmlos klingen. Man unterschätzt<br />

den Mann, der im Auftreten dezent<br />

ist, auch gerne. Dabei hat Quoos aus<br />

Somalia und Afghanistan berichtet, alle lebenden<br />

Kanzler interviewt; er war bei Putin<br />

und bei Berlusconi und bei George<br />

W. Bush. Er koordinierte bei Bild auch die<br />

Berichterstattung über Christian Wulff.<br />

Während die Auflage von Spiegel und<br />

Stern bei mehr als 900 000 beziehungsweise<br />

800 000 Heften liegt, rangiert Focus<br />

bei 532 000 Exemplaren. Quoos hofft jetzt<br />

auf mehr. „Die Hoeneß-Enthüllung hat uns<br />

sicher geholfen, damit der eine oder andere<br />

das Heft in die Hand nimmt.“ Vor allem<br />

festigt sie ihn intern. Er hat sich nicht nur<br />

Aufmerksamkeit, sondern insbesondere Respekt<br />

und Unabhängigkeit verschafft.<br />

Markwort dagegen lähmt seine Nähe<br />

zu Hoeneß. Das sagt Quoos natürlich<br />

nicht. Er spricht höflich davon, dass der<br />

Herausgeber stets bereitstünde, wenn er<br />

Rat benötige, sich aber nicht aufdränge.<br />

Die erste Anfrage an Hoeneß in seiner<br />

Steuersache lief nicht über Markwort;<br />

erst nach der Enthüllung bat Quoos ihn,<br />

ob er Hoeneß zum Interview überreden<br />

könne. Markwort fragte in seinem Auftrag<br />

an, doch Hoeneß lehnte ab. Er forderte<br />

von Focus eine Unterlassung und Richtigstellung,<br />

weil das Heft fälschlicherweise<br />

schrieb, die Staatsanwaltschaft habe schon<br />

seit August 2012 von der Steuerhinterziehung<br />

gewusst. Eine Woche später musste<br />

Focus dieses Detail korrigieren.<br />

Als Markwort einmal Quoos einlud,<br />

ihn zu einem Heimspiel der Bayern zu begleiten,<br />

sagte er wegen eines Termins ab.<br />

Jetzt sagt er: „Ob ich im Bayern-Stadion jemals<br />

im VIP-Bereich Platz nehmen werde,<br />

ist fraglich. Wenn ich ins Bayern-Stadion<br />

gehe, dann kaufe ich mir eine Karte und<br />

setze mich unter ganz normale Fans.“<br />

Dafür hat er jetzt bei Focus einen Platz<br />

mit exzellenten Aussichten.<br />

Thomas Schuler<br />

ist Medienjournalist in München<br />

Fotos: Dirk Bruniecki für <strong>Cicero</strong>, Susanne Weigand (Autor)<br />

32 <strong>Cicero</strong> 6.2013


„Die Geschichte mit Hoeneß fiel mir<br />

vor die Füße“ – Focus-Chefredakteur<br />

Jörg Quoos in München<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 33


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Merkels Lafontaine<br />

Quote, Steuern, Pragmatismus: Saarlands Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer verkörpert die neue CDU<br />

von Alexander Marguier<br />

F<br />

ür Rainer Brüderle ist sie jetzt<br />

eine „schwarz lackierte Sozialistin“.<br />

Dabei hatte Annegret<br />

Kramp-Karrenbauer nur dafür geworben,<br />

den Spitzensteuersatz auf ein Niveau zu heben,<br />

wo er zu Zeiten von Helmut Kohls<br />

schwarz-gelber Regierungskoalition schon<br />

einmal lag. Also bei 53 Prozent. Aber weil<br />

sogar die Grünen trotz des Linksrucks mit<br />

ihren Steuerplänen noch um 4 Prozentpunkte<br />

unter Kohl-Level liegen, ist die<br />

Forderung der saarländischen Ministerpräsidentin<br />

natürlich reines Wahlkampfgift.<br />

Zumindest aus Sicht der Liberalen, die<br />

bereits kräftig Front machen gegen die angekündigten<br />

Steuererhöhungen von Rot-<br />

Grün. Auch in Kramp-Karrenbauers eigener<br />

Partei, der CDU, hat ihr Vorstoß nicht<br />

gerade für einhellige Begeisterung gesorgt.<br />

Ebenso wenig wie das Engagement der<br />

50-jährigen Katholikin aus dem Saarland<br />

zugunsten einer festen Frauenquote. Aber<br />

sie lässt sich von dem Gegenwind nicht beeindrucken.<br />

Und bleibt ruhig.<br />

Denn Poltern ist nicht ihre Sprachmelodie.<br />

Die Anfeindungen wegen des Spitzensteuersatzes<br />

bezeichnet sie ganz sachlich<br />

als „eine verkürzte Diskussion“; es käme<br />

dabei ja noch auf ein paar andere Parameter<br />

an, etwa auf den Progressionsverlauf.<br />

Im Kern aber bleibt sie dabei, auch<br />

wenn Kramp-Karrenbauer die Zahl 53 „bewusst“<br />

nicht ausdrücklich nennt. Ihr Argument:<br />

„Wir werden in den nächsten Jahren<br />

sehr viel investieren müssen, auch in Infrastruktur.“<br />

Und wegen der Schuldenbremse<br />

komme der Staat sowieso nicht umhin, den<br />

deutschen Steuerzahlern in Zukunft einiges<br />

zuzumuten. „Das <strong>wir</strong>d auf Dauer aber<br />

nur Akzeptanz finden, wenn die Menschen<br />

das Gefühl haben, dass starke Schultern<br />

mehr tragen als schwache.“ Ein Satz, der<br />

genauso gut von einer Sozialdemokratin<br />

stammen könnte. Und wahrscheinlich ein<br />

erster Hinweis darauf, welche Richtung die<br />

Union einschlagen <strong>wir</strong>d, wenn es nach der<br />

Bundestagswahl zur Wiederauflage der großen<br />

Koalition kommen sollte.<br />

Annegret Kramp-Karrenbauer ist ein<br />

Musterbeispiel für die neue CDU: unideologisch,<br />

pragmatisch, ein bisschen links, ein<br />

bisschen liberal. „Modern“, würden manche<br />

in der Union dazu sagen. Andere eher:<br />

„beliebig“. Sie selbst formuliert es so: „Ich<br />

bin schwer in Schubladen einzuordnen.“<br />

Selbiges gilt für ihre Partei, zumindest für<br />

den Merkel-Flügel. Konservativ war gestern,<br />

Glaubwürdigkeit heißt stattdessen das neue<br />

Leitmotiv. Sagt auch Kramp-Karrenbauer<br />

über sich: „Man braucht ein Profil, das vor<br />

allem glaubwürdig ist.“ Im Saarland hat das<br />

gut funktioniert. Nachdem die Amtsnachfolgerin<br />

von Peter Müller dessen mühsam<br />

zusammenverhandeltes Jamaika-Bündnis<br />

im Januar vergangenen Jahres hatte platzen<br />

lassen, wurde sie im März darauf von den<br />

Wählern als Ministerpräsidentin bestätigt.<br />

Mit 35,2 Prozent der Stimmen. Die SPD,<br />

im Landtagswahlkampf noch gleichauf, landete<br />

bei schwachen 30,6 Prozent. Seitdem<br />

regiert Annegret Kramp-Karrenbauer das<br />

Saarland in einer großen Koalition. Und<br />

zwar derart geräuschlos und konfliktfrei,<br />

dass der örtlichen Presse die spannenden<br />

Themen ausgehen.<br />

Das war nicht immer so. Im Bündnis der<br />

Saar-CDU mit Liberalen und Grünen<br />

war es vor allem die FDP, die mit hanebüchenen<br />

Intrigen und Personalquerelen<br />

für permanente Reibereien in der Regierung<br />

von Deutschlands kleinstem Flächenstaat<br />

sorgte. Schon deswegen hatte<br />

Kramp-Karrenbauer allen Grund, diese<br />

Partei ins politische Niemandsland zu befördern.<br />

Inhaltlich aber auch, denn allzu<br />

forscher Marktliberalismus ist ganz gewiss<br />

nicht ihr Ding. Wenn Kramp-Karrenbauer<br />

nämlich ihre eigene Lesart von Konservatismus<br />

beschreiben soll, dann funktioniert<br />

das in erster Linie durch „Skepsis gegenüber<br />

den Heilslehren der Moderne“. Und<br />

dazu zählt sie eben entfesselte Märkte genauso<br />

wie den „Privatisierungs-Hype“,<br />

dem auch die Landesregierung ihres Vorgängers<br />

gefolgt sei.<br />

Und die Quote? Ist das nicht auch so<br />

eine moderne Heilslehre? Als junge Frau<br />

war Kramp-Karrenbauer noch strikt dagegen.<br />

Erst später im Beruf habe sie gemerkt,<br />

dass Frauen sogar bei besserer Qualifikation<br />

nicht die gleichen Karrierechancen hätten<br />

wie Männer. „Mit <strong>wachsen</strong>der Lebenserfahrung<br />

hat sich bei mir die Überzeugung<br />

durchgesetzt, dass <strong>wir</strong> die Quote als Hilfsmittel<br />

brauchen. Sie hilft, bei der Personalauswahl<br />

den Blick zu weiten.“<br />

Im Bundesrat hat die CDU-Ministerpräsidentin<br />

deshalb einem Gesetzentwurf der<br />

Sozialdemokraten für eine starre Frauenquote<br />

zur Mehrheit verholfen. Und damit einige<br />

Parteifreunde in Berlin in arge Bedrängnis<br />

gebracht. Im Nachhinein ein schlechtes Gewissen<br />

deshalb? Keineswegs. „Ich habe meine<br />

Position schon einige Wochen vor der Bundesratsabstimmung<br />

deutlich gemacht.“ Heißt<br />

so viel wie: selber schuld. Dass die Frauenquote<br />

jetzt im CDU-Wahlprogramm steht,<br />

sieht Annegret Kramp-Karrenbauer auch als<br />

ihr eigenes Verdienst an. Die Rolle der einsamen<br />

Heldin liegt ihr jedoch fern, lieber stellt<br />

sie ganz sachlich fest: „Die Quote <strong>wir</strong>d ins<br />

Regierungsprogramm kommen und ein ganz<br />

wichtiger Punkt bei den Koalitionsverhandlungen<br />

sein.“<br />

Aber mit wem soll die CDU überhaupt<br />

koalieren, wenn es nach der saarländischen<br />

Ministerpräsidentin geht? Angeblich<br />

schlägt ihr Herz ja insgeheim für<br />

Schwarz-Grün; ihrer eigenen Partei riet<br />

sie von einer klaren Koalitionsaussage zugunsten<br />

der Liberalen jedenfalls ab. Dennoch:<br />

„Die größten Schnittmengen bestehen<br />

mit der FDP, deswegen wäre es auch<br />

am sinnvollsten, diese Koalition fortzusetzen.“<br />

Es ist der einzige Satz in unserem Gespräch,<br />

bei dem Annegret Kramp-Karrenbauer<br />

nicht so richtig glaubwürdig <strong>wir</strong>kt.<br />

alexander marguier<br />

ist stellvertretender<br />

Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

Fotos: Jens Gyarmaty für <strong>Cicero</strong>, Andrej Dallmann (Autor)<br />

34 <strong>Cicero</strong> 6.2013


„Ich bin schwer<br />

in Schubladen<br />

einzuordnen“<br />

Annegret Kramp-Karrenbauer<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 35


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Der Trümmermann<br />

Thorsten Schäfer-Gümbel hat die kaputte Hessen-SPD wieder aufgebaut. Bald könnte er sogar regieren<br />

von Georg Löwisch<br />

R<br />

oland Koch hat es geahnt.<br />

Als halb Deutschland Thorsten<br />

Schäfer-Gümbel noch verhohnepipelte,<br />

als Doppelnamendümpel mit der<br />

Flaschenbodenbrille, als den chancen losen<br />

Kandidaten der aufgeriebenen Hessen-<br />

SPD – da hat das Schlitzohr Koch schon<br />

gesehen, dass seine CDU einen starken<br />

Gegner bekommen hat. „Koch hat ihn nie<br />

unterschätzt“, sagt Dirk Metz, einst Regierungssprecher<br />

des Ministerpräsidenten und<br />

dessen Alter Ego.<br />

Im Winter 2008 war die SPD dabei<br />

gescheitert, Andrea Ypsilanti mithilfe der<br />

Linkspartei zur Ministerpräsidentin von<br />

Hessen zu machen. Neuwahlen wurden<br />

angesetzt, die SPD schob Schäfer-Gümbel<br />

nach vorn. In den 71 Tagen Notwahlkampf<br />

musste er sich als Spitzenkandidat verspotten<br />

oder bemitleiden lassen. Viereinhalb<br />

Jahre später lächeln die Zuschauer auf seinen<br />

Veranstaltungen bewundernd, die Politiker<br />

in Berlin loben ihn, die Lobbyisten<br />

schleimen schon mal. Koch regiert inzwischen<br />

den Baukonzern Bilfinger, sein ewiger<br />

Innenminister Volker Bouffier durfte<br />

doch noch Ministerpräsident werden und<br />

tritt bei der Landtagswahl am 22. September<br />

an. Nach den Umfragen liegt Rot-<br />

Grün vorn. Die SPD würde kräftig zulegen.<br />

Schäfer-Gümbel, 44 Jahre alt, wäre<br />

Ministerpräsident des Landes.<br />

Aber als er sich am 18. Januar 2009<br />

im Landtag von Wiesbaden durchs Gedränge<br />

des Wahlabends schiebt, da hat er<br />

erst mal verloren. Das Gesicht glänzt, die<br />

Haare kleben am Kopf, der 1,93-Meter-<br />

Mann <strong>wir</strong>kt erschöpft. Die SPD liegt in<br />

Trümmern. Vorne im Fraktionssaal steht er<br />

mit Ypsilanti, sie gibt die restlichen Ämter<br />

an ihn ab. Schäfer-Gümbel stößt ein paar<br />

kämpferische Worte aus, „Minus 18 Grad“,<br />

„Winterwahlkampf“. Dann stockt er für einen<br />

Moment, er drosselt das Sprechtempo<br />

und reduziert die Lautstärke. So kommt<br />

Schärfe in seine Worte. „Ich sage sehr klar,<br />

dass die Zeit der Spielchen vorbei ist.“ Er<br />

droht den Spöttern, er warnt jedoch auch<br />

die Genossen. Dann ruft er. „Morgen beginnt<br />

die Aufholjagd.“<br />

Mai 2013, ein Dienstagvormittag,<br />

11 Uhr, wieder der Fraktionssaal im Landtag<br />

von Wiesbaden. Die Tische stehen in<br />

Hufeisenform, die SPD-Abgeordneten<br />

versammeln sich zur Fraktionssitzung.<br />

Eigentlich haben sie schon letzte Woche<br />

auf einer Klausur in Leipzig die wichtigen<br />

Dinge besprochen. Aber Schäfer-Gümbel,<br />

Soldatensohn, lässt keine Sitzung ausfallen.<br />

Über dem Kopfende hat der Fraktionschef<br />

ein Willy-Brandt-Foto aufhängen lassen,<br />

und links hinterm Kopfende stehen nun<br />

vier Fahnen: Europa, Deutschland, Hessen,<br />

Sozialdemokratie.<br />

Er achtet auf Details. Er begrüßt viele<br />

Abgeordnete einzeln, reicht der neuen Praktikantin<br />

die Hand: „Ah, Sie sind auch aus<br />

Gießen. Schön, dass Sie hier sind.“ Er legt<br />

das Jackett ab und setzt sich neben Günter<br />

Rudolph, den Parlamentarischen Geschäftsführer,<br />

ein wuchtiger Mann, den er<br />

sich Anfang 2009 ausgesucht hat. Schäfer-<br />

Gümbel wurde bei den Parteilinken einsortiert,<br />

Rudolph bei den Rechten. Es war die<br />

erste Personalentscheidung, mit der sich der<br />

Neue auf Abstand zur Ära Ypsilanti brachte.<br />

Dann begann er den Wiederaufbau. „Jetzt<br />

müssen die Sozis wieder arbeiten“, hat Roland<br />

Koch damals gesagt.<br />

In der Fraktion hat jeder sein Mikrofon.<br />

Wenn ein Abgeordneter es einschaltet,<br />

leuchtet ein roter Ring auf. Schäfer-Gümbels<br />

Mikrofon leuchtet immer rot, obwohl<br />

er schweigt. Er lässt sie. Sie tüfteln Strategien<br />

aus, viele melden sich. „Thema setzen“,<br />

„Klappe halten“, „dranbleiben“.<br />

Das mag normal klingen, aber die<br />

alte Hessen-SPD war anders. Die Abgeordneten<br />

lauerten und lästerten, sie sabotierten<br />

und torpedierten, sie missgönnten<br />

sich noch den kleinsten Erfolg. Nord<br />

gegen Süd. Links gegen Rechts. Es war<br />

tatsächlich die Zeit der Spielchen: Im Jahr<br />

2008 spielten sie in der SPD in Hessen<br />

den Kampf der Systeme nach, als stünde<br />

in Berlin die Mauer noch. Sie taten es bis<br />

zur Selbstzerstörung.<br />

An diesem Dienstagvormittag reden sie<br />

frei. Ungeschützt. Sie hören sich zu. Die<br />

Sozis arbeiten wieder. Einer, ein Verfechter<br />

von Ypsilantis Plänen und den Kampagnen<br />

gegen sie ausgesetzt, fängt von damals<br />

an. Er würde es Schwarz-Gelb gern heimzahlen.<br />

Nun geschieht etwas Besonderes.<br />

Als die anderen ihre Argumente vorgetragen<br />

haben, erklärt er in verblüffender Offenheit,<br />

dass er gerade seine Meinung geändert<br />

hat.<br />

Schäfer-Gümbel hat Vertrauen in die<br />

SPD gebracht. Er hat seine Leute zusammen<br />

ins Fußballstadion geschleift und<br />

neulich in Leipzig auf der Fraktionsklausur<br />

in Auerbachs Keller. Zu einer Nachtwanderung<br />

auch noch. Er hat Einzelgespräche<br />

geführt wie ein Therapeut und sie auf<br />

Verschwiegenheit getrimmt. Wer ihn unter<br />

Druck setzen wollte, den blockte er ab.<br />

„Sortiert sein“, „auf die Reihe bringen“, so<br />

redet er gern. Dann streichelt er wieder. In<br />

der Fraktionssitzung fasst er die Wortmeldungen<br />

zusammen, er nennt sie namentlich,<br />

die Judith, die Petra, die Nancy, den<br />

Lothar. Und entscheidet. Das machen <strong>wir</strong>.<br />

Das machen <strong>wir</strong> nicht.<br />

In Schäfer-Gümbel verbindet sich der<br />

Führungsstil eines Konservativen mit einem<br />

sehr linken Standpunkt. Beides ist in<br />

seiner Biografie angelegt.<br />

Rolf Schäfer dient als soldat im<br />

Allgäu. Als sein Sohn Thorsten fünf ist,<br />

zieht die Familie nach Gießen, in die<br />

Nordstadt, in der Arbeiter und Arbeitslose<br />

wohnen. Der Vater fährt Lkw-Touren<br />

nach England und Frankreich. Die Mutter<br />

geht putzen. Vier Kinder, 75 Quadratmeter,<br />

drei Zimmer. Das Schlafzimmer der<br />

Eltern ist das Fernsehzimmer der Familie.<br />

Foto: Bernd Hartung für <strong>Cicero</strong><br />

36 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Hier will er<br />

am Wahlabend<br />

glänzen. Thorsten<br />

Schäfer-Gümbel<br />

im Wiesbadener<br />

Landtag<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 37


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Am Nikolaustag 1982 bricht der Vater<br />

zusammen. Intensivstation, insgesamt fünf<br />

Monate Krankenhaus. Die Mutter ist bei<br />

ihm. Thorsten, mit 13 der Älteste, muss<br />

die Dinge ordnen für sich und seine Geschwister.<br />

Schularbeiten, saubermachen,<br />

einkaufen. Das machen <strong>wir</strong>. Das machen<br />

<strong>wir</strong> nicht. Er muss entscheiden.<br />

„Unsortierte Situationen machen mich<br />

kiebig“, sagt er heute. „Genauso wie Leute,<br />

die sich nicht an Regeln halten.“<br />

Als Junge in der Schule hat er zu kämpfen.<br />

Die Klassenfahrt kostet 400 Mark. Zuschuss<br />

des Elternvereins: 40 Mark. Er bleibt<br />

daheim. Als der Vater krank ist, schenkt<br />

ihm eine Lehrerin seine ersten Bücher. Ein<br />

anderer Lehrer lotst ihn aufs Gymnasium.<br />

Er macht das Abitur.<br />

Die Schulgeschichten erzählt er bei<br />

Auftritten im ganzen Land. „Tischgespräch<br />

– ein Abend mit Thorsten Schäfer-<br />

Gümbel“. Es ist eine Art Wanderzirkus, vor<br />

„Keine Lust? Dann machst<br />

Du’s eben ohne Lust“<br />

Thorsten Schäfer-Gümbels Schwiegermutter<br />

Ort <strong>wir</strong>d eine Zimmerkulisse aufgebaut, in<br />

der ihn eine Moderatorin befragt. In dem<br />

Interviewzimmer gibt es ein Bücherregal<br />

(Bildung), ein Schanghai-Poster (Weltläufigkeit)<br />

und eine Schale mit Frischobst (Vitalität).<br />

Ganz schön dicke.<br />

Er will zeigen, woher er kommt. Ein<br />

Mann von unten. Das ist dann wieder politisch.<br />

Bei wie vielen SPD-Politikern war<br />

früher zu Hause das Geld <strong>wir</strong>klich knapp?<br />

Linker als er ist kein Landeschef seiner Partei.<br />

Nicht nur, weil er hohe Steuern fordert,<br />

sondern weil er mit seiner Biografie<br />

die SPD an ihren Ursprung zurückführt.<br />

Als Mitarbeiter des Gießener Sozialdezernats<br />

hat er sich um sein eigenes Viertel<br />

gekümmert, die Nordstadt. Die Aufgabe<br />

ist das Verbindungsglied zwischen der eigenen<br />

Geschichte und der Politik.<br />

Die eigenen gegen die anderen. Er trennt<br />

die Welt. „Der Herr der Ringe“ ist sein<br />

Lieblingsbuch. „Es ist die Auseinandersetzung<br />

zwischen Gut und Böse“, sagt er.<br />

Nach der Fraktionssitzung hält sein Dienst-<br />

Audi an einer Ampel. „Was ist gerecht?“,<br />

steht auf dem Plakat für eine Veranstaltung<br />

des FDP-Landeschefs Jörg-Uwe Hahn.<br />

„Das <strong>wir</strong>d sicher ein kurzer Abend“, entfährt<br />

es Schäfer-Gümbel. „Da kann ja Herr<br />

Hahn nicht viel dazu sagen.“<br />

Aber er beherrscht sich. Kochs Brutalität,<br />

Ypsilantis Hybris, die Schlacht um Wiesbaden:<br />

Wer das erlebt hat, sagt lieber „Gegner“<br />

als „Feind“. Wer aus den Trümmern kommt,<br />

meidet den Krieg. Er sucht die Stabilität.<br />

Sein eigenes Gleichgewicht musste er<br />

erst finden. Diese Geschichte erzählt er selten.<br />

Mit 20, er studiert Agrarwissenschaften,<br />

um Entwicklungshelfer zu werden,<br />

stimmt etwas mit den Augen nicht. Er geht<br />

zum Arzt. Netzhautablösung, Operation,<br />

Dunkelheit. Erst nach drei Wochen sieht er<br />

wieder. Von da an studiert er Politologie in<br />

Gießen. Er darf als Einziger in der Familie<br />

an die Uni, aber was soll er damit später anfangen?<br />

Mit wem? Er wiegt kaum 70 Kilo<br />

in dieser Phase, der 1,93-Meter-Mann.<br />

In einem Geschichtsseminar trifft er<br />

1996 Annette Gümbel. Nach drei Wochen<br />

fragt er sie, ob sie seine Frau werden will.<br />

Sie will nicht. Erst anderthalb Jahre später<br />

macht sie ihm den Antrag. Er nimmt ihren<br />

Namen an und ihren evangelischen Glauben<br />

dazu. Sie haben drei Kinder; wenn er<br />

sie anruft, sagt er: „Allerliebste“.<br />

Sie <strong>wir</strong>kt pragmatisch, ausgeglichen,<br />

eine promovierte Historikerin. Von ihr<br />

muss er die Zuversicht haben, das Zutrauen.<br />

Sie kommt von einem Bauernhof<br />

in Nordhessen. Keine Lust? „Dann machst<br />

Du’s eben ohne Lust“ – der Satz stammt<br />

von ihrer Mutter. In der Hessen-SPD ist<br />

das Zitat zum Standardspruch geworden.<br />

Jetzt hat er Lust. 13:35 Uhr, der Fahrer<br />

lässt den Audi über die Autobahn gleiten.<br />

Annette ist auf Fortbildung in Berlin.<br />

Schäfer-Gümbel telefoniert mit der Kinderfrau<br />

in Birklar bei Gießen, wo die Familie<br />

lebt. Er hat in der Früh zu Hause<br />

vergessen, einen Ablaufplan auf den Tisch<br />

zu legen, also gehen sie die Dinge durch.<br />

Schule, Reiten, Basketball. Gregor, Svenja,<br />

Charlotte. „Maike, ganz herzlichen Dank.“<br />

Er ruft das Büro an. Zwei Termine<br />

müssen im Juni, spätestens Mitte Juli für<br />

Reisen freigeräumt werden. Paris und Oslo.<br />

Abendessen mit den Botschaftern. Oslo:<br />

Besuch bei der Bildungsministerin, Gespräch<br />

mit Stoltenberg.<br />

Stoltenberg? Der Name des norwegischen<br />

Ministerpräsidenten taucht auf wie<br />

der eines Bürgermeisters aus der Wetterau.<br />

Vielleicht ist die Beiläufigkeit bewusst gesetzt<br />

für den Reporter. Das würde auch etwas<br />

sagen: Dass er sich wohlfühlt mit dem<br />

Erarbeiteten. Früher hat er geschuftet. Familie<br />

stützen, Nordstadt aufmöbeln, SPD<br />

aufrichten. Jetzt tritt er mit einer Leichtigkeit<br />

auf. Er schwelgt sogar. „Wir sind die<br />

Verfolger bei der Wahl, gut gelaunte Verfolger“,<br />

sagt er.<br />

Marburg. 14:50 Uhr. Ein Sozialprojekt<br />

für Arbeitslose, es heißt Bootswerft. In der<br />

Werkstatt ist ein Holzboot aufgebockt, das<br />

hier Arme für Reiche aufarbeiten. Um das<br />

Boot herum verteilen sich sechs Männer<br />

in dem großen Raum, dazu ihr Meister,<br />

die Geschäftsleiterin, der Spitzenkandidat.<br />

Seine Pressesprecherin schießt Fotos. Die<br />

Männer <strong>wir</strong>ken verlegen, ein Tätowierter<br />

stemmt die Hände in die Hüften. Schäfer-<br />

Gümbel umfasst seinen Kaffeebecher mit<br />

beiden Händen.<br />

Er versucht die Distanz zu überwinden,<br />

sich an sie heranzufragen. Es klappt nicht.<br />

Die Distanz bleibt. Er kann sich ihr nur<br />

aussetzen. Der Politiker, dunkelblauer Anzug,<br />

Ray-Ban im Gesicht, neben dem Arbeitslosen,<br />

weiße Arbeitshosen, Tätowierung<br />

bis unters Gesicht. Man kann nicht<br />

zugleich oben und unten sein.<br />

Marburg. 18:55 Uhr. Bürgerhaus Cappel,<br />

der TSG-Wanderzirkus gastiert. Im<br />

Nebenraum hakelt ein Mitarbeiter dem<br />

Spitzenkandidaten ein Kopfmikro hinters<br />

Ohr. Am Fenster gehen Leute vorbei,<br />

die sich fein gemacht haben für die<br />

Veranstaltung. Im Saal warten schon über<br />

100 Menschen, auf der Bühne ist das Interviewzimmer<br />

aufgebaut, die Bücher, das<br />

Schanghai-Poster, die Obstschale. Im Nebenraum<br />

stellt sich der Politiker abseits. Er<br />

sammelt sich, spannt sich, strafft sich. Der<br />

Trümmermann will etwas glänzen.<br />

Georg Löwisch<br />

ist Textchef von <strong>Cicero</strong>. Schäfer-<br />

Gümbel lernte er Ende 2008 bei<br />

Minusgraden auf dem Flughafen<br />

Kassel-Calden kennen<br />

Foto: Andrej Dallmann<br />

38 <strong>Cicero</strong> 6.2013


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| B e r l i n e r R e p u b l i k | N a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e r U n t e r g r u n d<br />

Zwickau, Frühlingsstraße 26: Am<br />

4. November 2011 <strong>wir</strong>d dieses Wohnhaus<br />

durch eine Explosion zerstört. Dort<br />

hatten Böhnhardt, Mundlos und<br />

Zschäpe ihre konspirative Wohnung<br />

Für die Ermittler<br />

unsichtbar<br />

40 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Der NSU-Prozess in München soll klären, wie eine<br />

rechte Terrorzelle 13 Jahre lang praktisch unbehelligt<br />

in Deutschland morden und rauben konnte. Eine<br />

Rekonstruktion dreier Existenzen im Untergrund<br />

Illustration: Leif Heanzo<br />

von Butz Peters<br />

D<br />

er Tag null war bitterkalt. Mit<br />

dicken Stiefeln, die Kapuzen<br />

tief ins Gesicht gezogen, stapfen<br />

Männer durch den Schnee<br />

auf einem Garagenhof in<br />

Jena – es ist noch dunkel. 26. Januar 1998,<br />

7:25 Uhr: Kripobeamte auf der Suche nach<br />

Rohren, Kabeln und anderen Teilen, aus<br />

denen sich Bombenattrappen bauen lassen,<br />

vielleicht auch Bomben – in der Stadt<br />

sind einige Bombenattrappen aufgetaucht,<br />

die für Unruhe sorgten. Für die Polizisten<br />

ist es ein Routineeinsatz. Nichts Aufregendes.<br />

Einen Durchsuchungsbeschluss haben<br />

sie für drei Garagen, einen Verdächtigen<br />

gerade bei seinen Eltern abgeholt, schräg<br />

gegenüber, in der Richard-Zimmermann-<br />

Straße 11: Der 20-Jährige geht ruhig und<br />

gelassen neben ihnen durch die eisige Kälte.<br />

Er trägt Bomberjacke, ist hager und schlaksig,<br />

hat raspelkurze Haare und Segelohren.<br />

Uwe Böhnhardt schließt das Tor der Garage<br />

auf. Die Beamten durchsuchen seinen<br />

roten Hyundai mit dem Kennzeichen<br />

J - RE 76, finden nichts. Böhnhardt fährt<br />

den Wagen auf den Garagenhof. Die Beamten<br />

nehmen die Regale in der Garage<br />

unter die Lupe.<br />

Kurz nach halb neun steigt Böhnhardt<br />

in den roten Hyundai und fährt weg. Der<br />

Einsatzleiter lässt ihn, weil, wie er meint,<br />

die Durchsuchung bislang nichts brachte<br />

und Böhnhardt sie friedlich über sich ergehen<br />

ließ. Eine halbe Stunde später gibt<br />

es Alarm: Per Funk von Kollegen aus einer<br />

anderen Garage – sie sind spät dran, weil<br />

sie ein Vorhängeschloss nicht aufbekamen<br />

und auf die Feuerwehr warten mussten. In<br />

der Garage, angemietet von Beate Zschäpe,<br />

liegen zwei Rohrbomben, Bauteile für<br />

Bomben und 1,4 Kilo TNT. Sprengstoff.<br />

Mit dem Hyundai in den Untergrund<br />

Aber da ist Böhnhardt schon über alle<br />

Berge. Im Morgengrauen rollte er von<br />

dem Garagenhof direkt in den Untergrund.<br />

Auch Uwe Mundlos und Beate Zschäpe<br />

verschwinden an diesem Montagvormittag.<br />

Das Thüringer Landeskriminalamt<br />

stellt drei Greifkommandos zusammen,<br />

die sich auf die Suche nach ihnen machen.<br />

Ohne Erfolg.<br />

Verschwunden für die Polizei bleiben<br />

Bönhardt & Co 13 Jahre, neun Monate<br />

und neun Tage. Am 4. November 2011 finden<br />

Polizisten Böhnhardts Leiche in Eisenach:<br />

in einem ausgebrannten Wohnmobil<br />

– getötet durch einen Kopfschuss von<br />

seinem Komplizen Uwe Mundlos, bevor<br />

der den Fiat Capron in Brand steckte und<br />

sich selbst in den Mund schoss. In den Wagen<br />

waren die beiden nach einem Banküberfall<br />

am Nordplatz mit ihren Fahrrädern<br />

geflüchtet. Beute: über 70 000 Euro.<br />

Als Polizisten vor dem Fenster auftauchen,<br />

greift Mundlos zur Pumpgun. Das Wohnmobil<br />

ist ein Waffenlager: Zwei Pumpguns,<br />

eine Maschinenpistole, vier Pistolen und<br />

eine Handgranate.<br />

Drei Stunden später brennt in Zwickau<br />

ein Wohnhaus, Frühlingsstraße 26 –<br />

ausgelöst durch eine Explosion. Die<br />

konspirative Wohnung von Böhnhardt,<br />

Mundlos und Beate Zschäpe – am<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 41


| B e r l i n e r R e p u b l i k | N a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e r U n t e r g r u n d<br />

Türschild steht „Dienelt“: Die 36-Jährige<br />

ist geflüchtet. Vier Tage später stellt<br />

sie sich der Polizei.<br />

Anhand der gefundenen Waffen stellen<br />

Kriminaltechniker des Bundeskriminalamts<br />

fest: Auf das Konto von Böhnhardt<br />

& Co geht eine in Deutschland<br />

einzigartige Mordserie, die keiner im rechten<br />

Lager verortet hatte. Sie ermordeten<br />

zehn Menschen in den Jahren 2000 bis<br />

2007 – neun Mitbürger türkischer beziehungsweise<br />

griechischer Herkunft mit einer<br />

Ceska 83, die in den Trümmern in Zwickau<br />

lag – und eine deutsche Polizistin. Die<br />

Blutspur zieht sich durch die ganze Republik.<br />

Tatorte: Hamburg, Rostock, Kassel,<br />

Köln, Dortmund, Heilbronn, Nürnberg,<br />

München.<br />

Der groSSe Irrtum<br />

Die Nachricht aus der BKA-Kriminaltechnik<br />

macht die deutschen Sicherheitsstrategen<br />

baff: Bei Verfassungs- und<br />

Staatsschützern, Politikern und auch Extremismusforschern<br />

war bislang nahe zu<br />

einhellige Auffassung, dass es keinen<br />

deutschen Rechtsterrorismus gibt. Ihn<br />

hielt das Bundesamt für Verfassungsschutz<br />

schon deshalb für ausgeschlossen,<br />

weil „keine rechtsterroristischen Organisationen<br />

oder Strukturen“ in dieser Republik<br />

bestünden, wie es bereits Anfang<br />

1999 erklärte – zu diesem Zeitpunkt waren<br />

Böhnhardt & Co seit einem Jahr abgetaucht.<br />

Zudem fehle es praktisch an allen<br />

Voraussetzungen für Rechtsterror: an „einer<br />

auf die aktuelle Situation in Deutschland<br />

bezogene Strategie zur gewaltsamen<br />

Überwindung des Systems“, am Führungspersonal,<br />

an finanziellen Mitteln,<br />

an einer Unterstützerszene und auch an<br />

den logistischen Voraussetzungen. Zudem<br />

passe Gewalt als Mittel der Politik nicht<br />

ins Weltbild der deutschen Rechtsextremisten,<br />

erklärte der Verfassungsschutz,<br />

weil sie „befürchten, dass terroristische<br />

Aktionen den Staat eher stärken würden“.<br />

Und schließlich wurde als „Beleg“<br />

für den nichtexistierenden Terrorismus<br />

ins Feld geführt, dass es keine Tatbekennungen<br />

gebe – weil Terrorismus gerade<br />

auf die „Propaganda der Tat“ abziele. Die<br />

Selbstbezichtigung.<br />

Diese glückselige Vorstellung bestand<br />

weit über ein Jahrzehnt – exakt bis zum<br />

11. November 2011. Dem Schwarzen Freitag<br />

der Staatsschutzstrategen. Dem Tag, an<br />

Ein Polizist<br />

beschreibt<br />

Uwe<br />

Böhnhardt<br />

als „einfach<br />

gestrickt“ und<br />

„brutal“<br />

dem die Nachricht von den BKA-Waffentechnikern<br />

kam.<br />

Braune Ideologen aus dem Westen<br />

Als die drei Ende Januar 1998 abtauchen,<br />

sind sie zwischen 20 und 24. Auf<br />

die Welt gekommen waren sie Mitte der<br />

siebziger Jahre. Alle wuchsen in Jena auf,<br />

einer Universitätsstadt an der Saale mit<br />

100 000 Einwohnern.<br />

Uwe Böhnhardt ist Jahrgang 1977. Die<br />

Schule bereitet ihm Schwierigkeiten. Er<br />

schließt sich älteren Jugendlichen aus der<br />

rechten Szene an und rutscht in dieses Milieu<br />

hinein. Nach einer Lehre als Hochbaufacharbeiter<br />

ist er mehrfach arbeitslos – ist<br />

es auch, als ihn die Polizei bei seinen Eltern<br />

abholt und zur Garage bringt. Ein Kripo-<br />

Mann, der Böhnhardt im Jahr zuvor vernahm,<br />

beschreibt ihn als „einfach gestrickt“,<br />

„brutal“, „ausführendes Organ“. Ein rücksichtsloser<br />

Vollstrecker. Er schlägt schnell<br />

zu, tritt mit seinen Stahlkappen-Springerstiefeln.<br />

Das Vorstrafenregister des 20-Jährigen<br />

ist lang: Autodiebstahl, Fahren ohne<br />

Fahrerlaubnis, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte,<br />

Erpressung, Volksverhetzung.<br />

Ein Intensivtäter.<br />

Beate Zschäpe, Jahrgang 1975, wächst<br />

überwiegend bei ihrer Großmutter auf –<br />

sie selbst nennt sich ein „Oma-Kind“. Ihren<br />

Vater kennt sie nicht. Ihre Mutter ließ<br />

sie oft allein, das Verhältnis ist gespannt:<br />

kein Vertrauen, keine Zuneigung. Nach<br />

dem Hauptschulabschluss macht sie eine<br />

Lehre als Gärtnerin, Fachrichtung Gemüsebau.<br />

Mehrfach arbeitslos – auch schon<br />

seit vier Monaten, als sie im Januar 1998<br />

in den Untergrund verschwindet.<br />

Uwe Mundlos, der Älteste, Jahrgang<br />

1973: Sein Vater ist Professor an der Fachhochschule.<br />

Nach der zehnten Klasse<br />

lernt Uwe Datenverarbeitungskaufmann<br />

bei Carl Zeiss. Er gilt als der „Schlaue“ der<br />

Gruppe, will das Abitur nachholen. Bis zu<br />

seinem Abtauchen besuchte er das Illmenau-Kolleg.<br />

Er verehrt Rudolf Hess, bezeichnet<br />

sich selbst als „deutsch national<br />

denkend“ und „Verfolgter des Staates“.<br />

Anfang, Mitte der neunziger Jahre verkehren<br />

die drei im „Winzerclub“ in Jena-<br />

Winzerla, einem Treffpunkt der Neonaziszene<br />

inmitten von Plattenbauten. Zschäpe<br />

ist mit Mundlos zusammen, später mit<br />

Böhnhardt. In dieser Zeit erlebt Thüringen<br />

ein Klima des aufkeimenden Rechtsextremismus.<br />

Braune Ideologen aus dem<br />

Illustration: Leif Heanzo<br />

42 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Westen ziehen durchs Land, wollen Neubundesbürger<br />

werben. Ein fruchtbarer Boden:<br />

Für die Medien in der DDR war der<br />

real existierende Rechtsextremismus im<br />

Arbeiter- und Bauernstaat ein Tabuthema.<br />

So ist für manchen nun der rechte Hass so<br />

etwas wie eine Protestreaktion gegen den<br />

verordneten Antifaschismus zu DDR-Zeiten.<br />

Und viele „Kinder der Einheit“ sind<br />

durch die Umbrüche verunsichert. Ihr<br />

Heil suchen sie in rechtsextremen Cliquen.<br />

Zum Ventil für den Nachwendefrust der<br />

Zukurzgekommenen <strong>wir</strong>d der Hass auf<br />

Ausländer. So steigt die Zahl der Rechtsextremisten<br />

in Thüringen rapide; sie verdoppelt<br />

sich in den Jahren 1994 bis 1998<br />

beinahe und klettert auf 1200. Rund die<br />

Hälfte der Braunen gehört rechtsextremistischen<br />

Parteien an – der NPD, der<br />

DVU und den Republikanern. Die anderen<br />

tummeln sich in der „nicht organisierten“<br />

Neonaziszene. Hier ist der Rechtsextremismus<br />

jünger, frecher, aktionistischer<br />

und militanter. Böhnhardt, Mundlos und<br />

Zschäpe machen mit: so richtig ab 1995,<br />

in der „Kameradschaft Jena“.<br />

Leitwolf der braunen Szene:<br />

V-Mann „Otto“<br />

„Führer“ der Kameradschaft ist André Kapke.<br />

Seine „Stellvertreter“ werden Böhnhardt<br />

und Mundlos. Beate Zschäpe ist „aktives<br />

Mitglied“. Das Konzept der „Freien Kameradschaften“<br />

ist eine Reaktion auf die Verbote<br />

mehrerer rechtsextremistischen Vereinigungen<br />

in der ersten Hälfte der neunziger<br />

Jahre – Nationale Front, Deutsche Alternative,<br />

Nationale Offensive. Für sie gilt das<br />

Prinzip der „Organisierung ohne Organisation“.<br />

Der Leitgedanke: „Wo keine erkennbare<br />

Organisation vorhanden ist, kann<br />

diese auch nicht zerschlagen werden.“ Es<br />

gibt keine Mitgliedsausweise und auch sonst<br />

nichts, was zu einer klassischen „Vereinigung“<br />

gehört. So agieren kleine autonome<br />

Einheiten auf regionaler Ebene.<br />

Angeleitet werden die Kameradschaften<br />

von Führungsfiguren, die untereinander<br />

in Kontakt stehen. „Leitwolf“ der<br />

Thüringer Szene ist Tino Brandt, ein charismatischer<br />

Typ mit Milchbubigesicht und<br />

Nickelbrille, zugleich „geheimer Mitarbeiter“<br />

des Thüringer Verfassungsschutzes<br />

unter dem Decknamen „Otto“; ab 1997 ist<br />

er sogar förmlich verpflichteter V‐Mann.<br />

Sechs Jahre lang, bis zum Jahr 2000, arbeitet<br />

er im verdeckten Staatsdienst und<br />

kassiert vom Freistaat Thüringen rund<br />

200 000 Mark.<br />

Das Netzwerk, innerhalb dessen Böhnhardt<br />

& Co in der Kameradschaft agieren,<br />

nennt sich – quasi als Dachmarke – „Anti-<br />

Antifa Ostthüringen“. Vorgestellt worden<br />

war das „Anti-Antifa“-Konzept 1992 vom<br />

Hamburger Neonazi Christian Worch; mit<br />

ihm sollte auf die angeblich <strong>wachsen</strong>den<br />

Angriffe militanter Linksextremisten gegen<br />

Gesinnungsgenossen aus der rechtsextremistischen<br />

Szene reagiert werden. Später,<br />

von 1996 an, nennt sich das braune<br />

Netzwerk im Freistaat „Thüringer Heimatschutz“.<br />

Die Zahl der Aktivisten steigt von<br />

20 auf 120, zu Spitzenzeiten gar auf 170.<br />

Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe erscheinen<br />

zu den allwöchentlichen „Mittwochstreffen“,<br />

plakatieren in Jena die Losung:<br />

„8. Mai 1945 bis 8. Mai 1995 – Wir<br />

feiern nicht! Schluss mit der Befreiungslüge!“<br />

Böhnhardt und Zschäpe bestellen in einem<br />

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Blumengeschäft für einen Trauerkranz eine<br />

Schleife: „In Gedenken an Rudolf Hess,<br />

deine Jenaer Kameraden.“<br />

Im November 1996 marschieren Böhnhardt<br />

und Mundlos durch die Gedenkstätte<br />

Buchenwald in SA-ähnlichen Uniformen,<br />

erhalten Hausverbot. Zwei Monate später,<br />

im Januar 1997, betreten sie den Parkplatz<br />

der Polizeidirektion in Jena und notieren<br />

sich Kennzeichen ziviler Einsatzfahrzeuge.<br />

„Eine neue Qualität der Aktionen Rechtsradikaler“,<br />

blickt Kriminalhauptkommissar<br />

Roberto Tuche zurück, damals Staatsschützer<br />

in Jena. Beide werden festgenommen.<br />

Zwei Tage später melden sie in Jena eine<br />

Versammlung an. Thema: „Für eine stärkere<br />

Kontrolle der Polizei.“<br />

Für die Kameradschaft sind die politischen<br />

Gegner in erster Linie die Linken,<br />

in zweiter ist es der Rechtsstaat. Böhnhardt<br />

& Co verharmlosen das Dritte Reich.<br />

Aber ihr eigentliches Ziel bleibt nebulös.<br />

Ein Mitglied des Netzwerks berichtete<br />

1996, in der Szene werde oft vom „Tag X“<br />

gesprochen; dies sei der „Tag der Machtergreifung“.<br />

Wenn man so weit sei, solle<br />

ein nationalsozialistischer Volksaufstand<br />

stattfinden.<br />

„Bombenspuk“ in Jena<br />

Dass die politische Sozialisation von Böhnhardt,<br />

Mundlos und Zschäpe in diesen Jahren,<br />

1995 bis 1997, einen starken Radikalisierungsschub<br />

bekommt und sie immer<br />

militanter werden, zeigen auch die Ermittlungen<br />

zum „Bombenspuk“. Zwischen<br />

September 1996 und Dezember 1997 wurden<br />

in Jena sechs Bombenattrappen gefunden.<br />

Im Ernst-Abbe-Stadion liegt eine rote<br />

Holzkiste, versehen mit Hakenkreuzen und<br />

der Aufschrift „Bombe“. Koffer, ähnlich<br />

aufgemacht, stehen vor dem Theater und<br />

auf dem Nordfriedhof. Briefbombenimitate<br />

gehen bei der Lokalredaktion der thüringer<br />

Landeszeitung, der Stadtverwaltung<br />

und der Polizei ein.<br />

Diese sechs Konstruktionen – von<br />

schlichten Bombenimitaten bei den drei<br />

Briefen bis zur zündfertigen, aber nicht<br />

zündfähigen Theaterbombe – deuten für<br />

die Ermittler im Thüringer Landeskriminalamt<br />

auf eine „sich steigernde Gewaltbereitschaft“<br />

hin. Als Täter vermuteten sie<br />

Personen aus der „Kameradschaft Jena“.<br />

Insbesondere richtete sich der Verdacht<br />

gegen Uwe Böhnhardt. Ein unberechenbarer<br />

Waffennarr, so sein Ruf.<br />

Beate Zschäpe<br />

sorgt für den<br />

Zusammenhalt<br />

in der Gruppe,<br />

sie führt die<br />

Haushaltskasse<br />

und erledigt<br />

die Einkäufe<br />

Dazu beigetragen hatte auch das Puppentorso-Verfahren<br />

– im April 1997 verurteilte<br />

ihn das Amtsgericht Jena zu einer<br />

Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren. An<br />

einer Autobahnbrücke bei Jena hatte ein<br />

Jahr zuvor ein Puppentorso mit zwei Davidsternen<br />

und der Aufschrift „Jude“ gehangen.<br />

Elektrokabel auf der Brücke führten<br />

zu zwei Bombenattrappen. Auf einem<br />

Karton: Böhnhardts Fingerabdruck.<br />

Von diesem Vorwurf allerdings spricht<br />

ihn das Landgericht Gera im Berufungsverfahren<br />

frei, verurteilt ihn aber aus einem<br />

anderen Grund wegen Volksverhetzung: In<br />

seiner Wohnung hatte die Polizei zum Verkauf<br />

vorgesehene Tonträger der Gruppen<br />

„NSDAP“ und „Landser“ gefunden. Das<br />

Landgericht verkündet die „Jugendstrafe“<br />

im Oktober 1997, also drei Monate vor<br />

der Garagendurchsuchung: zwei Jahre und<br />

drei Monate Gefängnis.<br />

In der Hoffnung, dem „Bombenspuk“<br />

ein Ende machen zu können, heftet sich<br />

ein Observationstrupp des Thüringer Verfassungsschutzes<br />

an Böhnhardts Fersen. Im<br />

November 1997 sehen die Beamten, wie er<br />

zusammen mit Uwe Mundlos Brennspiritus<br />

kauft und in eine der Garagen schafft.<br />

Und so erlässt das Amtsgericht Jena einen<br />

Durchsuchungsbeschluss. Gefunden<br />

werden sollen „Vergleichsmaterialien“,<br />

die Uwe Böhnhardt als Bombenattrappenbastler<br />

überführen. Das Vergleichsmaterial<br />

<strong>wir</strong>d auch tatsächlich entdeckt. Zudem<br />

1,4 Kilo TNT. Aber Böhnhardt ist<br />

weg. Gerade abgehauen.<br />

In dieser Zeit, Anfang 1998, kommen<br />

er, Mundlos und Zschäpe überein, sich „zu<br />

einer eigenständigen Gruppierung zusammenzuschließen“,<br />

wie der dritte Strafsenat<br />

des Bundesgerichtshofs seinen Kenntnisstand<br />

zum NSU im vergangenen Jahr zusammenfasste.<br />

Die drei hätten beschlossen,<br />

sich „dem gemeinsamen Ziel der Veränderung<br />

der gesellschaftlichen Verhältnisse<br />

in der Bundesrepublik Deutschland hin<br />

zu einem an der nationalsozialistischen<br />

Ideologie ausgerichteten System unterzuordnen<br />

und dieses Ziel künftig aus dem<br />

Untergrund heraus mit Waffengewalt<br />

weiterzuverfolgen“.<br />

Im Untergrund in Sachsen<br />

Der Weg in den Untergrund führte das Trio<br />

von Thüringen nach Sachsen. Dort lebt es<br />

13 Jahre lang unerkannt – insgesamt in sieben<br />

Wohnungen. Die ersten zweieinhalb<br />

Illustration: Leif Heanzo<br />

44 <strong>Cicero</strong> 6.2013


I m p r e s s u m<br />

Jahre in Chemnitz, Mitte 2000 ziehen die<br />

drei nach Zwickau. Eine überschaubare<br />

Stadt in einer Talaue am Eingang zum<br />

West erzgebirge. 90 000 Einwohner.<br />

Was sie sich für den Untergrund vorgenommen<br />

haben, zeigt ein Text über das<br />

Selbstverständnis der Truppe, es ist wohl<br />

der einzige, den es gibt – gefunden in den<br />

Trümmern in Zwickau, abgespeichert das<br />

letzte Mal auf dem Computer am 5. März<br />

2002: „Der Nationalsozialistische Untergrund<br />

(NSU) verkörpert die neue politische<br />

Kraft im Ringen um die Freiheit der<br />

deutschen Nation.“ Keine Partei, kein<br />

Verein sei „Grundlage des Nationalsozialistischen<br />

Untergrunds“, sondern „die Erkenntnis,<br />

nur durch wahren Kampf dem<br />

Regime und seinen Helfern entgegentreten<br />

zu können“. Die „Aufgaben des NSU“<br />

bestünden „in der energischen Bekämpfung<br />

der Feinde des deutschen Volkes“ sowie<br />

„der bestmöglichen Unterstützung von<br />

Kameraden und nationalen Organisationen“.<br />

Das Selbstüberschätzung des Trios ist<br />

maßlos. Allen Ernstes sehen sich die drei<br />

abgetauchten Ex-Arbeitslosen als die „neue<br />

politische Kraft“ in Deutschland.<br />

Von Ende Januar 1998 an organisieren<br />

sie ihr Leben im Untergrund. Zunächst finden<br />

sie Unterschlupf in der Wohnung eines<br />

Bekannten an der Richard-Viertel-Straße<br />

in Chemnitz. Acht Monate später beziehen<br />

sie ihre erste eigene Wohnung in der<br />

Altchemnitzer Straße, angemietet von einem<br />

Gesinnungsgenossen. Gesinnungsgenossen<br />

bringen ihnen auch Kleidung, Geld<br />

und was sonst noch für sie wichtig ist. Die<br />

nächsten 13 Jahre leben sie unter fremden<br />

Identitäten – Beate Zschäpe jongliert mit<br />

einem Dutzend, stellt sich vor als Mandy,<br />

Bärbel, Silvia, Liese, Lisa oder Susann. Im<br />

Übrigen ist aber fast alles bürgerlich normal,<br />

so wie es scheint. Einschließlich regelmäßiger<br />

Sommerurlaube auf der Insel<br />

Fehmarn mit dem Wohnwagen „Hobby<br />

Prestige“ auf dem Campingplatz Wulfener<br />

Hals. Mit Satellitenschüssel. Eine unauffällige<br />

Fassade. Die Rollen dahinter: Mundlos<br />

ist der Kopf, Böhnhardt die Faust. Beate<br />

Zschäpe sorgt für den „emotionalen Zusammenhalt“,<br />

führt die Haushaltskasse, erledigt<br />

Hausarbeit und Einkäufe.<br />

Böhnhardt und Mundlos gehen „jobben“<br />

Nach den ersten Monaten im Untergrund<br />

<strong>wir</strong>d das Geld knapp. Aber im folgenden<br />

Jahr, November 1999, stellen Thüringer<br />

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6.2013 <strong>Cicero</strong> 45


| B e r l i n e r R e p u b l i k | N a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e r U n t e r g r u n d<br />

Verfassungsschützer fest, dass die Geldsorgen<br />

verflogen sind. Einer ihrer V-Männer<br />

bot einem der mutmaßlichen Kontaktleute<br />

zu den dreien eine „Spende“ für sie an.<br />

Aber der lehnt ab. Erklärt, dass sie keine<br />

Spenden „mehr brauchen, weil sie jobben“.<br />

Damals war der Grund für die Antwort unklar,<br />

heute ist er es nicht mehr. Einen Monat<br />

zuvor hatten Böhnhardt und Mundlos<br />

in Chemnitz zwei Postfilialen überfallen<br />

und dabei fast 70 000 Mark erbeutet.<br />

Von da an gehen die beiden regelmäßig<br />

„jobben“, um für den Lebensunterhalt<br />

im Untergrund zu sorgen. Insgesamt ziehen<br />

sie 15 Mal los, um Kassen zu leeren.<br />

Die Beute beläuft sich auf 634 000 Euro.<br />

Das Geld dürfte ausgereicht haben für das<br />

WG-ähnliche Leben – rund 18 000 Euro<br />

pro Kopf und Jahr.<br />

Die Chemnitzer Raubermittler hatten<br />

nicht die geringste Ahnung, wer in ihrem<br />

Revier und anderswo bei der Serie zuschlug;<br />

an den Tatorten finden sie keine<br />

brauchbaren Spuren. Mit den Fotos aus<br />

den Überwachungskameras ist nicht viel<br />

anzufangen. Die Maskerade der Räuber<br />

ist gut.<br />

Im September 2000, mehr als zweieinhalb<br />

Jahre nach dem Abtauchen, begehen<br />

Böhnhardt und Mundlos ihren ersten<br />

Mord, den zehnten mehr als vier Jahre<br />

vor ihrem Auffliegen. Zwei Sprengstoffanschläge<br />

in Köln, 2001 und 2004, verletzten<br />

23 Menschen, darunter viele Türken.<br />

Ziel der Anschläge sei es gewesen, so<br />

die Erkenntnis der Bundesanwaltschaft,<br />

dass ausländische Mitbürger „Deutschland<br />

aus Angst um ihre Sicherheit verlassen“.<br />

Deshalb hätte der NSU die Taten<br />

„auch ohne ausdrückliche Tatbekennung<br />

für die Öffentlichkeit eindeutig als Mordserie“<br />

kenntlich gemacht, „der sich Mitbürger<br />

ausländischer Herkunft schutzlos<br />

ausgesetzt fühlen sollten“: Stets feuerten<br />

die Mörder aus derselben Ceska 83 mit<br />

Schalldämpfer.<br />

Eine neue Dimension des Terrors<br />

Wäre dieses Motiv zutreffend – und<br />

nichts spricht bislang dagegen –, hätte es<br />

Deutschland mit einer neuen Dimension<br />

des Terrorismus zu tun. Eine Dimension,<br />

die die Sicherheitsbehörden bis November<br />

2011 nicht für möglich gehalten haben.<br />

Mord als nonverbale Kommunikation: Die<br />

Tat soll Angst und Unsicherheit bei Migranten<br />

erzeugen sowie unausgesprochene<br />

Uwe Mundlos<br />

gilt als der<br />

„Schlaue“ in<br />

der Gang, der<br />

Sohn eines<br />

Professors<br />

will das Abitur<br />

nachholen<br />

Sympathie in der rechtsextremistischen<br />

Szene wecken. Terrorismus also nicht mehr<br />

als „Propaganda der Tat“ – sondern ohne<br />

Tatbekennung. Die schweigende Zelle ist<br />

möglich.<br />

Frappierend ist, dass die Gruppe<br />

27 schwere Verbrechen republikweit verübte<br />

– Morde, Mordversuche und Banküberfälle<br />

–, ohne dass die Polizei auch nur<br />

einen Hauch von Verdacht gegen die Akteure<br />

schöpfte. Mehr als zehn Jahre lang betrieb<br />

der NSU sein Terrorhandwerk ähnlich<br />

„perfekt“ wie die dritte Generation der<br />

RAF – keine Spuren bei den Morden und<br />

den Beschaffungstaten, null Hinweise darauf,<br />

wo die Terroristen wohnen. Die Enkel<br />

von Baader & Meinhof ermordeten in den<br />

Jahren 1985 bis 1993 ebenfalls zehn Menschen.<br />

Von über einem Dutzend Akteuren<br />

wurden gerade einmal zwei verurteilt.<br />

Zu der Methode des NSU gehörte auch,<br />

dass die Gruppe, die durchgängig in Sachsen<br />

lebte, ausschließlich in Westdeutschland<br />

Anschläge verübte. Hunderte Kilometer<br />

liegen zwischen den Tatorten und dem<br />

Wohnort. Und nachdem 2006 ein Sparkassenüberfall<br />

in Zwickau gescheitert war,<br />

der Wahlheimat des Trios, rauben Böhnhardt<br />

und Mundlos nur noch außerhalb<br />

Sachsens, in Mecklenburg-Vorpommern<br />

und in Thüringen.<br />

Unsichtbar für die Ermittler blieb das<br />

Trio aber auch deshalb über die Jahre, weil<br />

es konsequent alle Neonazi-Treffs mied,<br />

einschließlich der braunen Szene vor der<br />

Haustür in Zwickau. Einige wenige Helfershelfer,<br />

langjährige „Spezis“, beschafften<br />

Fahrzeuge, Ausweise, Unterkünfte<br />

und Waffen, meint die Bundesanwaltschaft.<br />

Und deshalb sitzen vier von ihnen<br />

nun auf der Anklagebank neben Beate<br />

Zschäpe. Zur Last gelegt <strong>wir</strong>d ihnen<br />

Beihilfe zu Straftaten oder Unterstützung<br />

der terroristischen Vereinigung NSU, nicht<br />

aber Mittäterschaft. Der derzeitige Stand<br />

der Anklage, unjuristisch formuliert: Der<br />

NSU bestand ausschließlich aus dem Trio<br />

Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Außer<br />

ihnen war niemand an den Anschlägen als<br />

Täter beteiligt.<br />

Drei parallele Handlungsstränge:<br />

unerkannt<br />

Überraschend ist in der Gesamtschau vor<br />

allem, dass deutsche Sicherheitsbehörden<br />

drei Handlungsstränge mit erheblichem<br />

Aufwand verfolgten, aber niemand auf die<br />

Illustration: Leif Heanzo<br />

46 <strong>Cicero</strong> 6.2013


F r a u F r i e d f r a g t s i c h …<br />

Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: Bettina Keller/Fischer Verlag<br />

Idee kam, dass diese etwas miteinander zu<br />

tun haben könnten. Wäre das geschehen,<br />

hätte ein Terrorverdacht nicht fern gelegen.<br />

Denn bei neun Morden stand eine „Serie“<br />

außer Frage, weil alle Opfer mit derselben<br />

Ceska 83 erschossen worden waren – von<br />

den „Döner-Morden“ schrieben Zeitungen<br />

seinerzeit. Ebenso klar war die „Serie“ bei<br />

über einem Dutzend Banküberfällen. Und<br />

die Suche nach dem Trio betrieben Polizei<br />

und Verfassungsschutz bis 2003 ebenso<br />

aufwendig wie erfolglos. Um auf seine Spur<br />

zu kommen, nahmen sie alle möglichen<br />

Kontaktpersonen ins Visier. Allein die Thüringer<br />

Polizei hörte 37 Telefonanschlüsse<br />

ab. Auch mehr als ein Dutzend Observationen<br />

führten nicht zum Ziel. Die drei waren<br />

weg – und blieben es.<br />

Die Suche der Ermittler galt drei abgetauchten<br />

Bastlern von Bombenattrappen<br />

– Durchgeknallten, nicht mehr und<br />

nicht weniger, dachte so mancher Fahnder.<br />

Nicht aber mordende Terroristen. Das<br />

wäre ein anderes Kaliber gewesen. 2003<br />

stellt die Staatsanwaltschaft die Fahndung<br />

nach dem Trio ein. Der Tatvorwurf ist verjährt<br />

– „Vorbereitung eines Explosionsund<br />

Sprengstoffverbrechens“. Die fünf<br />

Jahre sind rum. Nur Böhnhardt bleibt bis<br />

2007 in den Fahndungscomputern, weil<br />

er der „Ladung zum Strafantritt“ wegen<br />

seiner Volksverhetzungsstrafe nicht gefolgt<br />

war.<br />

Von den Zusammenhängen dieser drei<br />

Handlungsstränge wüsste bis heute vermutlich<br />

niemand, wenn die Polizei-Einsatzleitstelle<br />

in Eisenach nach dem Bankraub im<br />

November 2011 nicht an alle Streifenwagen<br />

die Order ausgegeben hätte, ganz besonders<br />

auf größere Fahrzeuge zu achten,<br />

in die Fahrräder passen.<br />

Das Ende des NSU folgte nicht, anders<br />

als bei der RAF 1998, aus eigener<br />

Einsicht, sondern war der Erfolg einer Polizeifahndung<br />

– nach Räubern, nicht nach<br />

Terroristen. Von denen ahnte niemand etwas.<br />

Und noch einen wesentlichen Unterschied<br />

zur RAF gibt es: Die drei Buchstaben<br />

NSU wurden erst zu einem Begriff<br />

des Schreckens, als es die Truppe nicht<br />

mehr gab.<br />

butz peters<br />

ist Rechtsanwalt, Journalist und<br />

Buchautor. Er schrieb unter<br />

anderem den Bestseller „Tödlicher<br />

Irrtum – Die Geschichte der RAF“<br />

… warum sie neuerdings mit<br />

Alterssex behelligt <strong>wir</strong>d<br />

M<br />

eine oma ist dieses jahr 99<br />

geworden. Sie wäre überrascht,<br />

wenn ich ihr sagen<br />

würde, dass sie ein „Silver Ager“ ist.<br />

Sie selbst würde sagen, sie sei eine alte<br />

Schachtel und ich solle sie mit dem<br />

neumodischen Kram in Ruhe lassen.<br />

Früher durfte man einfach alt<br />

werden. Heute muss man seine Kompetenz<br />

in Beraterverträgen ausbeuten,<br />

an seinem Golfhandicap arbeiten,<br />

Kulturworkshops belegen oder bei<br />

Sturm Kap Horn umsegeln – und dabei<br />

ständig betonen, wie toll man sich<br />

fühlt. Viele Alte von heute benehmen<br />

sich wie Kinder, die unbedingt auf<br />

dem Abenteuerspielplatz herumtollen<br />

möchten, statt ihren Enkeln beim<br />

Herumtollen zuzusehen. Altwerden ist das neue Jungsein: ein Zustand der Freiheit,<br />

in dem alles möglich scheint, solange man es schafft, die Wirklichkeit erfolgreich<br />

zu ignorieren.<br />

Für Frauen verlängert sich der Attraktivitätsdruck nahezu ins Unendliche. Wie?<br />

Sie sind erst 68 und tragen keine Leggings und bauchfreien T-Shirts mehr? Sie haben<br />

sich als Frau wohl völlig aufgegeben! Einer mir bekannten alten Dame, die<br />

ihren Alltag längst nicht mehr alleine bewältigt, wurde zweimal die Pflegestufe<br />

verweigert, weil sie darauf bestand, den Gutachter frisch vom Friseur, perfekt geschminkt<br />

und im flotten Kostümchen zu empfangen – schließlich „lässt man sich<br />

als Frau nicht gehen“. Kurz darauf irrte sie orientierungslos durch ihren Heimatort<br />

und entging nur um ein Haar dem Unfalltod.<br />

Besonders schlimm ist es geworden, seit auch Alterssex kein Tabu mehr ist. In<br />

jedem zweiten Kinofilm muss ich mir ansehen, wie faltige Hautlappen aneinanderschlagen<br />

und zahnlose Münder sich aufeinanderpressen. Ich will das nicht! Ich will<br />

kein welkes Fleisch in Ekstase sehen! Sex sei jedem gegönnt, solange er ihn praktizieren<br />

kann – aber ich will, bitte schön, nicht dabei sein. Ebenso wenig, wie Pornografie<br />

zu einem entspannten Umgang mit Sex führt, dient die Darstellung körperlichen<br />

Verfalls einem entspannten Umgang mit dem Alter.<br />

Könnten <strong>wir</strong> nicht einfach zu den geordneten Verhältnissen von früher<br />

zurückkehren?<br />

Ab 65 tragen Frauen Gesundheitsschuhe und beigefarbene Windjacken, und<br />

Männer versuchen nicht mehr, ihr Hörgerät als iPod-Stöpsel auszugeben. Neben<br />

Seniorentellern und Seniorenermäßigung gibt es Seniorenhandys mit großem Display,<br />

und im Supermarkt hängen Lupen an den Regalen, damit man die Preise lesen<br />

kann und nicht junge Leute belästigen muss. Männer dürfen alte Säcke werden<br />

und Frauen alte Schachteln. Und Werbefuzzis, die den Begriff „Silver Ager“ verwenden,<br />

werden bei Sturm vor Kap Horn ausgesetzt.<br />

Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />

Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen auf<strong>wir</strong>ft<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 47


| B e r l i n e r R e p u b l i k | K o m m e n t a r<br />

Teufelsaustreibung<br />

Im NSU-Prozess <strong>wir</strong>d Beate Zschäpe zum Satan stilisiert.<br />

Denn Teufel entlasten die Nichtteufel<br />

Von Frank A. Meyer<br />

L<br />

ange Zeit schien Beate Zschäpe, die Frau des NSU-<br />

Mordtrios, ein unlösbares Rätsel. Bild – wer sonst? –<br />

hat es für uns gelöst. Mit der Schlagzeile zum Prozessauftakt:<br />

„Der Teufel hat sich schick gemacht.“<br />

Die Angeklagte als Teufel, als teuflischer Teufel sogar, der<br />

sich, zur Tarnung, auch noch schick macht: Davon versteht<br />

Bild etwas, gilt das Blatt doch manchem als Zeitungsteufel, der<br />

sich selber gern schick macht und mit Nikolaus Blome, dem<br />

schönsten und schlawinerigsten seiner Redakteure, die Talkshows<br />

beschickt.<br />

Warum Teufel und nicht Teufelin? Die weibliche Form klingt<br />

einerseits nach Diminutiv, verkleinert Zschäpe phonetisch, entspricht<br />

auch nicht der kirchlichen Wahrheit, die den Teufel bis<br />

heute auf Teufel komm raus männlich sieht, wie übrigens auch<br />

den lieben Gott. Und Bild nimmt die Bibel ernst.<br />

Warum nicht einfach Hexe? Weil der Begriff durch Hexenprozesse<br />

und Hexenverbrennungen historisch belastet ist, sich<br />

zudem auch Emanzen heute gerne Hexen nennen – was also,<br />

angewendet auf die mutmaßliche Mittäterin von zehn Morden,<br />

verharmlosend <strong>wir</strong>ken würde.<br />

Bild hat gefunden, was andere lange suchten: den Schlüssel<br />

zu den Mordtaten an andersgläubigen, anderssprechenden, andersdenkenden<br />

Menschen.<br />

So etwas kann nur das Werk des Teufels sein.<br />

Den Teufel in Frauengestalt beschreiben auch andere Blätter.<br />

Focus weiß zu berichten: „Selten hat man eine Angeklagte,<br />

noch dazu bei solch schwerwiegenden Vorwürfen, so entspannt<br />

gesehen, so cool.“ Die Welt schildert akribisch die „Mädchenohrringe“,<br />

viel „Mascara auf den Wimpern“, die „puppenhaften<br />

Züge“, die „sorgfältig getönten Haare“, die auch noch „auf<br />

Hochglanz gefönt“ sind. Gipfel der Diabolik.<br />

Des Teufels Anwälte tragen verräterische Namen, wie Georg<br />

M. Oswald in einem Beitrag für das Welt-Feuilleton enthüllt:<br />

„Stahl, Heer, Sturm.“ Der Schriftsteller hellsichtig: „Die Namen<br />

der drei Verteidiger lesen sich, als habe sie Frau Zschäpe sich<br />

ausgesucht, um zu provozieren. Sicher ist das nicht bewiesen.<br />

Aber es ist auch nicht auszuschließen, was in diesem Fall schon<br />

ausreicht, um die gewünschte Wirkung zu erzielen.“<br />

Gottlob findet sich die Vizepräsidentin des Bundestags,<br />

Katrin Göring-Eckart, nicht unter den Zschäpe-Anwälten.<br />

Göring! Es wäre schon fast der Beweis.<br />

Auch die Haltung Zschäpes ist natürlich exegetisch interessant.<br />

Zum Beispiel die verschränkten Arme: „Nazi-Braut in Hitler-Pose“,<br />

titelte die türkische Zeitung Habertürk. Und so fiel<br />

denn bei der Demonstration vor dem Münchner Gericht ganz<br />

folgerichtig auch der Begriff „Hitlerin“.<br />

Hitler und Hitlerin, Teufel und Teufelin. So fügt es sich. So<br />

muss es sein. So schließt sich der deutsche Teufelskreis.<br />

Welches Outfit der 38-Jährigen hätte das Gericht der<br />

Publizisten wohl ohne Empörung durchgehen lassen? Skinhead-<br />

Look? Sack und Asche?<br />

Für Deutsche muss der Teufel erkennbar sein. Das ist ihr historisches<br />

Problem. Erkennbare Teufel entlasten die Nichtteufel.<br />

Wer aber den Teufel vor Gericht sehen will, der wünscht sich<br />

keinen profanen Prozess, der ausschließlich der Rechtsfindung<br />

dient. Den Teufel treibt man aus. Seit dem deutschen Pontifikat<br />

Ratzinger/Benedikt ist auch das religiöse Ritual dazu, der Exorzismus,<br />

wieder abgesegnet.<br />

Aus türkischer Sicht ist ohnehin der Scheitan in den deutschen<br />

Staat gefahren, weshalb der Prozess nur zu genügen vermag,<br />

wenn er, möglichst stracks, zur Aufdeckung eines staatlichen<br />

Komplotts und zur „Höchststrafe“ führt. So jedenfalls<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

48 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Foto: Privat<br />

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fordert es Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde<br />

in Deutschland, vom Gericht.<br />

Wo findet dieser Prozess eigentlich statt? In Ankara? Dort ist<br />

die politische Zurichtung von Richtern gang und gäbe.<br />

Doch der Prozess findet statt im Rechtsstaat Deutschland,<br />

dem vielleicht modernsten Rechtsstaat der Welt. Was auch bedeutet:<br />

dem vielleicht unspektakulärsten Rechtsstaat von allen.<br />

Die spektakulärste Mordserie seit den Taten der RAF – wie<br />

lässt sie sich unspektakulär verhandeln?<br />

Genau dies ist die Pflicht des Gerichts. Es hat sich vor niemandem<br />

zu verbeugen. Nicht einmal vor den Medien, und zwar<br />

selbst dann nicht, wenn ihm Fehler unterlaufen, wie bei der Zuweisung<br />

der Medienplätze im Gerichtssaal. Es hat sich auch<br />

nicht zu verbiegen, um außergerichtliche Erwartungen zu erfüllen.<br />

Der deutsche Rechtsstaat kennt keinen Schauprozess. Auch<br />

nicht den Showprozess.<br />

Trat Adolf Eichmann anders auf als Beate Zschäpe, 1961 vor<br />

dem Gericht in Jerusalem? Er sah aus, wie Nazi-Täter normalerweise<br />

aussehen: normal.<br />

Hannah Arendt beschrieb ihn für die Zeitschrift The New<br />

Yorker so: Er sei ein „normaler Mensch“, kein „Dämon oder Ungeheuer“.<br />

Daraus leitete die jüdische Denkerin den Begriff von<br />

der „Banalität des Bösen“ ab. Was einen Proteststurm entfachte,<br />

im jüdischen Opfervolk wie im deutschen Tätervolk.<br />

Nazis müssen Teufel sein! Menschen? Das sind <strong>wir</strong>. Die<br />

anderen.<br />

Vielleicht liegt diese Sichtweise sogar dem Versagen des Verfassungsschutzes<br />

zugrunde, der die NSU-Mordserie partout<br />

nicht erkennen wollte: Ganz normale Nazi-Taugenichtse – auf<br />

Serienmörder kam keiner.<br />

Mit diesem Reflex wurden viele Verdachtsmomente verdrängt.<br />

Für weitere Verwischung der Spuren sorgte die historisch<br />

notorische Blindheit vieler deutscher Polizisten auf dem rechten<br />

Auge.<br />

Doch auch das hat das Gericht nicht zu beschäftigen. Es<br />

hat Recht zu sprechen. In einem sehr schwierigen Fall, wie die<br />

Frankfurter Allgemeine zu bedenken gibt: „Die Anklage gegen<br />

Beate Zschäpe beruht zu großen Teilen auf Indizien (…). Ihre<br />

Verurteilung gilt keineswegs als sicher.“<br />

Ja, was weiten Teilen der Öffentlichkeit als sicher gilt, der<br />

deutschen wie der türkischen, muss sich das Gericht erst mühselig<br />

erarbeiten: Gewissheit über Beate Zschäpes konkretes Mittun<br />

bei der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“.<br />

Dies gegen eine Verteidigung, die mit allen Kniffen kämpft, weil<br />

sie eben zu verteidigen hat. Aber auch gegen Nebenkläger, die<br />

jede denkbare Emotionalität in das Verfahren einbringen, weil<br />

sie eben die Angehörigen der Opfer sind.<br />

Schade, dass türkischen Politikern und Juristen nicht möglichst<br />

viele Sonderplätze im Gerichtssaal zur Verfügung gestellt<br />

werden konnten. Sie hätten Nützliches über den deutschen<br />

Rechtsstaat gelernt. Über den Rechtsstaat überhaupt.<br />

Frank A. Meyer<br />

ist Journalist und Gastgeber der politischen<br />

Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 49


<strong>Cicero</strong>-Leser<br />

wählen früher<br />

Wissen Sie bereits, was Sie bei der Bundestagswahl am 22. September 2013 wählen<br />

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Republik, Weltbühne, Kapital, Stil und Salon das aktuelle Zeitgeschehen.<br />

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Wahljahr 2013<br />

Der Countdown<br />

DAS CICERO WAHLABO<br />

<strong>Cicero</strong> begleitet in sechs Ausgaben die Phasen vor und nach der Wahl<br />

87 Tage vor der Wahl<br />

LETZTE CHANCE<br />

Bis zum 17. Juni müssen Parteien,<br />

die nicht im Bundestag vertreten sind,<br />

ihre Wahlteilnahme beim Bundeswahlleiter<br />

anzeigen. Der Bundestag tritt<br />

am 28. Juni zu seiner letzten regulären<br />

Plenarsitzung der aktuellen Wahlperiode<br />

zusammen.<br />

<strong>Cicero</strong> 7/2013<br />

59 Tage vor der Wahl<br />

NEUE UMFRAGEWERTE<br />

In der heißen Phase des Wahlkampfs<br />

veröffentlichen die Meinungsforschungsinstitute<br />

nahezu täglich neue<br />

Umfragewerte. Ab sechs Wochen<br />

vor der Wahl dürfen allerorten Wahlplakate<br />

im öffentlichen Straßenland<br />

aufgestellt werden.<br />

<strong>Cicero</strong> 8/2013<br />

31 Tage vor der Wahl<br />

BRIEFWAHL BEANTRAGEN<br />

Spätestens bis zum<br />

1. September erhalten alle<br />

Wahlberechtigten eine Wahlbenachrichtigung.<br />

Von diesem<br />

Zeitpunkt an, ist auch die<br />

Stimmabgabe per Briefwahl<br />

möglich.<br />

<strong>Cicero</strong> 9/2013<br />

VOR DER WAHL<br />

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traditionsreichen Schaumweinhaus Bouvet-Ladubay an der<br />

Loire. Sie überzeugt durch die Feinheit ihres Körpers und zart<br />

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Das Spezial zur Wahl: Alle Duelle, alle<br />

Wahlkreise, alle Argumente. Wie führen<br />

Merkel und Steinbrück ihre Kampagnen?<br />

Welche Strategien, welche Kniffe <strong>wir</strong>ken?<br />

<strong>Cicero</strong> präsentiert die Akteure vor und hinter<br />

der Bühne. Erscheinungstag: 14. Juni.<br />

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Am 22.9.<br />

ist Bundestagswahl<br />

4 Tage nach der Wahl<br />

NACH DER WAHLNACHT<br />

Noch in der Wahlnacht<br />

verkündet der Bundeswahlleiter<br />

das vorläufige amtliche Endergebnis.<br />

Und bereits vier Tage<br />

nach der Wahl erscheint <strong>Cicero</strong><br />

mit einer ausführlichen Analyse<br />

des Wahlergebnisses.<br />

<strong>Cicero</strong> 10/2013<br />

32 Tage nach der Wahl<br />

BUNDESKANZLERWAHL<br />

Spätestens 30 Tage nach der Wahl<br />

tritt der neu gewählte Bundestag<br />

zu seiner konstituierenden Sitzung<br />

zusammen. Üblicherweise findet<br />

an diesem Tag auch die Wahl des<br />

Bundeskanzlers bzw. der Bundeskanzlerin<br />

statt.<br />

<strong>Cicero</strong> 11/2013<br />

60 Tage nach der Wahl<br />

DIE NEUE REGIERUNG<br />

Die neue Bundesregierung<br />

ist im Amt und muss sich<br />

auf ihre ersten Bewährungsproben<br />

einstellen: Steuerdebatte,<br />

Familienpolitik, Eurokrise,<br />

soziale Gerechtigkeit und<br />

vieles mehr …<br />

<strong>Cicero</strong> 12/2013<br />

NACH DER WAHL


| B e r l i n e r R e p u b l i k | M e i n S c h ü l e r<br />

„Gregor hatte<br />

die Beatles“<br />

Berlin, Hauptstadt der DDR, Oberschule Adlershof:<br />

Gregor Gysi bringt Westmusik mit. Sein Lehrer<br />

klaus siegel, 85, legt die Platte auf. Das gibt Ärger<br />

Wahljahr 2013<br />

Der Countdown<br />

Bisher berichteten in<br />

<strong>Cicero</strong> Lehrer von:<br />

Peer Steinbrück<br />

Angela Merkel<br />

Jürgen Trittin<br />

Philipp Rösler<br />

Sigmar Gabriel<br />

Ich war Musiklehrer an der Ostberliner Oberschule Adlershof, die<br />

später Heinrich-Hertz-Oberschule hieß, insgesamt 40 Jahre Schuldienst,<br />

und davon nur zehn Tage krank! Ich bin heute 85 und seit<br />

1991 nicht mehr im Dienst. Aber Gregor Gysi, der bei mir im Musikunterricht<br />

war, habe ich noch in guter Erinnerung.<br />

Gysi hatte damals die erste Schallplatte der Beatles an der<br />

Schule. Die haben <strong>wir</strong> bei mir im Unterricht auch mal angespielt.<br />

Da gab es in der Partei dann Stirnrunzeln. Aber ich habe mich gegen<br />

den offiziellen Parteiwiderstand für die Beatles ausgesprochen,<br />

und bei dieser Meinung bin ich auch geblieben.<br />

Gregor war kein Streber, aber ein im besten Sinne strebsamer<br />

Schüler, der seine Pflichten erfüllt hat und lernwillig war.<br />

Sehr vielseitig interessiert, besonders an Musikgeschichte. Er war<br />

schon damals ein cleverer Redner, so wie heute im Bundestag.<br />

Wenn es bei uns Diskussionen gab, war er immer Gesprächsführer<br />

und hatte regelmäßig Geistesblitze. Es stimmte also bei Gysi<br />

immer die Richtung, das galt übrigens auch für seine Schwester<br />

Gabriele. Die war ja auch bei uns an der Schule und ging dann<br />

später zum Schauspiel, ich glaube heute ist sie in Westdeutschland<br />

an der Bühne.<br />

Wenn an der Schule Elternversammlung war, kreuzte auch immer<br />

wieder Mal Gregors Vater Klaus Gysi bei uns auf, der spätere<br />

Kulturminister. Den kannte ich noch aus meiner Zeit als Musikredakteur<br />

im Verlag Volk und Wissen, damals war Klaus Gysi Sektionsvorsitzender<br />

und damit mein Vorgesetzter, bis er dann zum Aufbau-Verlag<br />

wechselte. Wenn der keine Zeit hatte, kam eben seine<br />

Frau an die Schule, eine sehr nette und aktive Dame.<br />

Leider wollte Gregor nie Mitglied bei uns im Schulchor werden.<br />

Er hat sich selbstkritisch eingestanden, dass er keine gute Stimme<br />

dafür hatte. Er hat sich von Anfang an geweigert, und es gar nicht<br />

erst darauf ankommen lassen.<br />

Als <strong>wir</strong> uns dann vor einigen Jahren bei einer Wahlveranstaltung<br />

in Eichenwalde mal wieder gesehen haben, hat er mich gefragt,<br />

ob ich ihm das noch übel nehme, dass er damals nicht mitsingen<br />

wollte. Ach Quatsch, um Gottes willen, habe ich ihm gesagt.<br />

In der <strong>Cicero</strong>-Serie „Mein Schüler“ zur Bundestagswahl<br />

spürt Constantin Magnis Lehrer unserer Spitzenpolitiker auf.<br />

Ein Klassenfoto war in diesem Fall nicht aufzufinden<br />

Grafik: <strong>Cicero</strong><br />

52 <strong>Cicero</strong> 6.2013


In Deutschland leben ca. 600.000 junge Witwen<br />

und Witwer. Fast 1 Million Kinder müssen den<br />

schmerzhaften Verlust eines Elternteils erleben.<br />

Die Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit<br />

einem professionellen und umfassenden Hilfsangebot<br />

Betroffene in dieser schwierigen Lebenssitu-<br />

Design: Marco Weißenberg | Konzeptlabor<br />

ation zu begleiten. Einen Schwerpunkt legen<br />

<strong>wir</strong> in die Betreuung trauernder Kinder und Jugendlicher<br />

mit dem Projekt, das uns besonders<br />

am Herzen liegt: der Online-Beratungsstelle<br />

YoungWings.<br />

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und helfen!<br />

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| B e r l i n e r R e p u b l i k | E m p ö r u n g<br />

Der Ewige<br />

Fehler<br />

Die neue Welt vergisst nicht. Stoibers Gestammel nicht,<br />

Mappus’ Mails nicht und auch nicht Cohn-Bendits Sätze<br />

über Flirts mit Kindern. Im Netz entsteht ein Archiv des<br />

Versagens, das einen Politiker jederzeit vernichten kann<br />

von Bernhard Pörksen<br />

E<br />

ines Tages muss der Politiker Daniel<br />

Cohn-Bendit bemerkt haben,<br />

dass er einen unheimlichen Doppelgänger<br />

besitzt. Es ist ein Informationszombie,<br />

der im Netz<br />

als Kinderschänder auftritt, als Päderast.<br />

Dieser Zombie ist nur aus ein paar Datensplittern<br />

der Vergangenheit entstanden,<br />

und doch verfolgt und jagt er den Grünen.<br />

Immer wieder taucht er irgendwo auf, zuletzt<br />

vor ein paar Wochen in Stuttgart.<br />

1975 hat Daniel Cohn-Bendit in dem<br />

autobiografischen Buch „Der große Basar“<br />

sieben Sätze gesagt, die von Sex mit<br />

Kindern handeln. Kleine Kinder in einem<br />

Frankfurter Kindergarten hätten ihm den<br />

Hosenlatz geöffnet; man habe sich gestreichelt,<br />

so berichtete er. 1982 hat er – erkennbar<br />

berauscht von der eigenen Lockerheit<br />

– in einer Talkshow im französischen<br />

Fernsehen noch einmal für ein paar Minuten<br />

nachgelegt. Lange war all dies vergessen.<br />

Seit der Jahrtausendwende sind die<br />

sieben Sätze aus seinem Buch („Mein ständiger<br />

Flirt mit allen Kindern nahm bald<br />

erotische Züge an …“) im Netz. Auch die<br />

paar Talkshowminuten findet man mit einigen<br />

wenigen Klicks. Irgendwer hat sie<br />

übersetzt. Manchmal gibt man den Namen<br />

„Daniel Cohn …“ ein – und hat noch<br />

nicht zu Ende geschrieben, da schlägt einem<br />

Google ergänzende Suchbegriffe wie<br />

„Kinderschänder“ vor.<br />

Im Wahlkampf des Jahres 2001 in<br />

Frankreich tauchten die sieben Sätze auf.<br />

Ungarische Politiker, FPÖ-Parlamentarier<br />

in Österreich, christliche Fundamentalisten<br />

aus Deutschland und der Schweiz haben<br />

sie zu neuem Leben erweckt, sie kopiert,<br />

verbreitet, zitiert. Wo auch immer<br />

der Europapolitiker erscheint, muss er damit<br />

rechnen, dass jemand die Skandalmeldung<br />

ausfindig macht, das Video verlinkt.<br />

Bis heute gibt es kein Opfer, das sich zu erkennen<br />

gegeben hätte. Cohn-Bendit selbst<br />

bezeichnet die Sätze stets als dümmliche,<br />

dem Zeitgeist geschuldete Provokation und<br />

hat sich inzwischen vielfach öffentlich für<br />

sie entschuldigt. Das alles hat ihm nichts<br />

genützt. Die Sätze von einst haben im digitalen<br />

Zeitalter ihr eigenes Leben entfaltet<br />

und ihm die Online-Identität eines<br />

Verbrechers beschert; man solle ihn „aufhängen“,<br />

seinen „Körper mit Blei vollpumpen“,<br />

ihn „an die Wand stellen“ – das fordern<br />

anonyme Kommentatoren. Und jeder,<br />

der pöbelt und wütet, kopiert und verlinkt,<br />

lässt den Informationszombie mächtiger<br />

werden.<br />

Am 20. April 2013 sollte Daniel Cohn-<br />

Bendit mit dem Theodor-Heuss-Preis geehrt<br />

werden. Aber der Festredner Andreas<br />

Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts,<br />

sagte mit der Begründung<br />

ab, dass der Geehrte sich „in nicht unproblematischer<br />

Weise zur Sexualität zwischen<br />

Er<strong>wachsen</strong>en und Kindern“ geäußert habe.<br />

Die CDU ließ verlauten, ein „Pädophiler“<br />

sei „nicht preiswürdig“. Es gab eine erhitzte<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

54 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Debatte im Landtag. Wütende Proteste begleiteten<br />

die Preisverleihung. Der Informationszombie<br />

aus der Vergangenheit hatte<br />

die Gegenwart mit seiner Präsenz besetzt,<br />

wieder mal.<br />

Man kann nicht feststellen, was in dem<br />

Kindergarten in Frankfurt geschehen ist.<br />

Aber unabhängig davon ist die Mechanik<br />

der Kommunikation aufschlussreich. Das<br />

Muster ähnelt anderen Fällen, in denen<br />

es mal um Patzer und Aussetzer, mal um<br />

schwerwiegende Grenzverletzungen geht.<br />

Antisemitische Entgleisungen eines Piratenpolitikers.<br />

Wolfgang Schäubles wütende<br />

Auseinandersetzung mit seinem Sprecher<br />

Michael Offer. Edmund Stoibers Gestammel<br />

in einer Talkshow. Vieles <strong>wir</strong>d sichtbar.<br />

Und bleibt.<br />

Es zeigt sich, dass sich im Netz ein vom<br />

Einzelnen kaum noch beherrschbares Anarchiv<br />

der politischen Biografien herausgebildet<br />

hat. Entstanden ist eine riesenhafte,<br />

nach dem Prinzip eines permanenten Plebiszits<br />

funktionierende Kopier- und Erinnerungsmaschine,<br />

die einen einzigen bizarren<br />

Fehler emporspülen kann – und<br />

dieser <strong>wir</strong>d im Extremfall zur Chiffre eines<br />

Lebens, zur öffentlichen Bilanz einer<br />

komplexen Biografie, die auf den einen<br />

Moment zusammenschrumpft. Relevant<br />

erscheint, was fasziniert, empört und erheitert.<br />

Bestand hat, was von vielen kopiert,<br />

verlinkt, gepostet und kommentiert<br />

<strong>wir</strong>d. Erinnerung <strong>wir</strong>d damit zu einem anarchistisch<br />

funktionierenden Spiel: Mal sehen,<br />

was interessiert. Günther Oettingers<br />

Englisch-Karaoke bei einer Rede vor internationalem<br />

Publikum. Gerhard Schröders<br />

Krawall-Auftritt nach der Bundestagswahl<br />

von 2005. Mitt Romneys heimlich von einem<br />

Barkeeper bei einem Spenden-Dinner<br />

aufgenommene Abrechnung mit den<br />

Obama-Wählern.<br />

Niemand vermag abzuschätzen, was<br />

schon morgen fasziniert und irritiert. Die<br />

plötzliche Totalausleuchtung der eigenen<br />

politischen Existenz und die Ad-hoc-Attacke<br />

erscheinen den Politikern zwar prinzipiell<br />

denkbar, aber sie <strong>wir</strong>ken doch mehr<br />

als eine diffus bedrohliche Eventualität –<br />

nichts, worauf man sich einstellen oder<br />

strategisch vorbereiten könnte. Das liegt<br />

auch daran, dass die digitalen Medien auf<br />

seltsame Weise allgegenwärtig und damit<br />

fast unsichtbar erscheinen. Sie sind so dominant,<br />

dass man sie kaum bemerkt. Sie<br />

haben den Alltag derart durchdrungen,<br />

dass man sie mit fröhlicher Sorglosigkeit<br />

benutzt – bis der Skandal explodiert und<br />

sich aus dem Zusammenspiel alter und<br />

neuer Medien ein plötzlich aufschäumender<br />

Aufmerksamkeitsexzess ergibt.<br />

Oft macht schon die sprunghafte, flapsige,<br />

unüberlegte Wortwahl deutlich, dass<br />

der twitternde, simsende oder mailende<br />

Politiker an die Flüchtigkeit und den privaten<br />

Charakter seiner Äußerungen glaubt,<br />

die ihn aber eben doch in anderen, gänzlich<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 55


| B e r l i n e r R e p u b l i k | E m p ö r u n g<br />

neuen Kontexten einholen. Man twittert<br />

drauflos – warum denn auch nicht?<br />

Im Frühsommer 2012 bekommt man von<br />

der in der Disziplin der medialen Selbstverstümmelung<br />

geübten Piratin Birgit Rydlewski<br />

folgende Kurzbotschaft zu lesen:<br />

„So: Allen einen lieben Dank, die wegen<br />

des gerissenen Kondoms mitgezittert haben:<br />

Alle Tests negativ! (Also HIV, Hep. B.,<br />

Hep. C).“ Ihr fröhlicher Tweet schafft es –<br />

ein Beispiel für den sich selbst verstärkenden<br />

Medienmix – bis in die Bild-Zeitung<br />

und bringt ihr das Etikett „Twitter-Luder“<br />

ein. Man postet auf Facebook, nicht immer<br />

im Stil der Hochsprache – das machen<br />

doch alle, könnte man meinen. Daniel<br />

Rousta, Amtschef des Wirtschaftsministers<br />

in Baden-Württemberg, schrieb über<br />

„FDPisser“ auf seiner Facebook-Seite, polterte<br />

noch ein paar Mal in ähnlicher Ton-<br />

EDF am Parlament vorbei einfädelte. Sie<br />

zeigen den heute der Untreue verdächtigen<br />

Ministerpräsidenten als eine etwas hilflos<br />

<strong>wir</strong>kende Marionette, abhängig von den<br />

Sprechzetteln und Argumentationshilfen<br />

eines gewieften Strategen. Kleine Kostprobe<br />

aus einer Notheis-Mail an Mappus,<br />

die von einem möglichen Termin von Angela<br />

Merkel bei dem französischen Staatspräsidenten<br />

Nicolas Sarkozy handelt: „Du<br />

fragst Mutti“, so dekretiert der Investmentbanker,<br />

„ob sie dir das arrangieren kann.“<br />

Was sich hier, bei aller Kuriosität der<br />

Einzelbeispiele, zeigt, ist ein Wesenszug<br />

des Menschen, der sich schlicht nicht vorstellen<br />

kann, welche öffentlichen Effekte<br />

sich eines Tages aus dem eigenen Mediengebrauch<br />

ergeben, ergeben könnten. Man<br />

muss da kein Mitleid haben – das gewiss<br />

nicht. Aber die tapsigen Fehlleistungen, die<br />

blamablen Aussetzer und die echten Skan-<br />

es bis auf die Titelseiten deutscher Tageszeitungen<br />

schaffte?<br />

Es ist die Allgegenwart der Aufzeichnungsgeräte,<br />

die im politischen Alltag ihre<br />

Existenz vergessen lässt. Und es ist der Kulturbruch<br />

der Digitalisierung, der das digitalisierte<br />

Material in die neue Zeitstufe<br />

der permanenten Gegenwart hineinkatapultiert.<br />

Dieses Material ist – einmal im<br />

Netz – auf Dauer vorhanden, lässt sich<br />

problemlos durchsuchen, ohne Unkosten<br />

kopieren, endlos kombinieren und in immer<br />

neuen Schüben revitalisieren. Ganz<br />

anders hingegen erscheint jene Welt, in<br />

der die bedruckte Seite – zum Beispiel als<br />

einzelner Artikel, Zeitung oder Buch – im<br />

Zentrum steht. Es ist eine Welt der sich<br />

selbst begrenzenden Reichweite und der<br />

prinzipiell immerhin möglichen Informationskontrolle.<br />

Zeitungen und Bücher<br />

verschwinden im Archiv und in Bibliothe-<br />

lage vor sich hin. Und wurde gefeuert. Man<br />

formuliert gerne flapsige Mails – Hauptsache,<br />

man weiß, mit wem man sich schreibt,<br />

so sollte man glauben.<br />

Als Stefan Mappus, einst Ministerpräsident<br />

von Baden-Württemberg, aus dem<br />

Amt gewählt wurde, ließ er vorsorglich<br />

die Festplatte seines Computers vernichten<br />

– womöglich ein versuchter Akt des<br />

vorausschauenden Skandalmanagements.<br />

Dumm nur, dass eine externe Firma wegen<br />

irgendwelcher Probleme mit dem<br />

elektronischen Kalender des Ministerpräsidenten<br />

eine Sicherheitskopie hatte anfertigen<br />

lassen, über die sich inzwischen<br />

die Ermittler beugen. Dumm auch, dass<br />

kompromittierende Mails des Investmentbankers<br />

Dirk Notheis – ein langjähriger<br />

Freund von Stefan Mappus und führender<br />

Kopf des ENBW-Deals – aufgetaucht<br />

sind. Diese Mails machen deutlich, wie<br />

man das umstrittene Milliardengeschäft<br />

mit dem französischen Energiekonzern<br />

dale – sie alle kommen auch deshalb ans<br />

Tageslicht, weil das menschliche Vorstellungsvermögen<br />

nicht zu der kaum verstandenen<br />

Medienumwelt des digitalen Zeitalters<br />

passt. Menschen, so zeigt sich, denken,<br />

fühlen und leben in begrenzten Räumen<br />

und scheinbar klar definierten Kontexten.<br />

Sie verstehen Kommunikation als kontrollierbares<br />

Geschehen – und sind doch lange<br />

schon mit einer Informationsumwelt konfrontiert,<br />

die eben gerade keine zeitlichen,<br />

örtlichen und kulturellen Grenzen mehr<br />

kennt. Barrierefrei und blitzschnell lässt<br />

sich heute Privates oder Halbprivates veröffentlichen<br />

– und der gerade noch als gegeben<br />

angenommene Kontext aufsprengen.<br />

Manchmal scheint selbst die ganz offensichtliche<br />

Präsenz einer Kamera nicht weiter<br />

zu irritieren. Was mag sich der tschechische<br />

Staatspräsident Václav Klaus gedacht<br />

haben, als er vor der Kamera einen Kugelschreiber<br />

stahl und auf diese Weise selbst<br />

einen peinlichen Youtube-Hit landete, der<br />

ken – und sind nicht mehr sofort verfügbar.<br />

Sie lassen sich schwärzen, einstampfen,<br />

verbrennen. Einmal digitalisiertes Material<br />

hat sich hingegen von der Fesselung an Zeit<br />

und Raum, an Geschichte und Kontext gelöst,<br />

es besitzt eine neue Leichtigkeit und<br />

Beweglichkeit, erreicht im Extremfall ein<br />

Weltpublikum und <strong>wir</strong>d – für alle zugänglich<br />

– dezentral und in den unendlichen<br />

Verzweigungen des Netzes archiviert.<br />

Dieses Archiv ist zur Allmende geworden,<br />

das jeder benutzen kann. Die Realitätspartikel,<br />

die sich im Datenuniversum leicht<br />

auffinden lassen, bilden den Stoff, aus dem<br />

sich heute das öffentliche Bild eines Politikers<br />

zusammensetzt; sie sind das Material,<br />

aus dem sich auch seine soziale Identität,<br />

aber eben auch die böse Botschaft des Versagens<br />

und Vergehens formen lassen.<br />

Dabei ist es falsch zu behaupten, dass<br />

das Netz nicht vergisst. Selbst bei Großund<br />

Weltereignissen sind, wie eine Studie<br />

Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />

56 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Foto: Privat<br />

von US-Informatikern zeigt, nach zweieinhalb<br />

Jahren fast 30 Prozent aller Quellen<br />

wieder verschwunden. Jeder macht Tag für<br />

Tag die Erfahrung, dass Links nicht mehr<br />

funktionieren, Programme veralten und<br />

Texte, Fotos und Filme mit einem Mal<br />

unwiederbringlich verloren sind. Das Netz<br />

vergisst sehr viel – und erinnert sich umso<br />

intensiver an das, was kollektiv interessiert.<br />

Wichtig bleibt, was Aufmerksamkeit erregt,<br />

was Klicks bringt und Links und Tweets<br />

und Posts. Technischer Fortschritt und<br />

plötzliche Informationsverluste durch unzuverlässig<br />

gewordene Speichermedien, die<br />

Geschäfts- und Werbeinteressen von Netzgiganten<br />

wie Google, Facebook, Amazon<br />

und schließlich die kaum vorhersagbaren<br />

Zeitstimmungen, das sich wandelnde Tabuempfinden,<br />

die Publikumsinteressen –<br />

sie alle programmieren die große Gedächtnismaschine<br />

auf eine Weise, die dem<br />

Einzelnen die Kontrolle über das Image seiner<br />

digitalen Zweitpersönlichkeit entzieht.<br />

Was aber geschieht, wenn sich die Identität<br />

in eine beständig aufpoppende Online-Fratze<br />

verwandelt? Mancher Netzexperte<br />

will in dieser Situation die große<br />

Lösung – und fordert eine andere Kultur<br />

des Vergebens und Vergessens, die anerkennt,<br />

dass selbst ein Totschlag verjährt<br />

und irgendwann aus dem polizeilichen<br />

Führungszeugnis getilgt <strong>wir</strong>d. Andere propagieren<br />

eine Art Selbstzerstörung von Daten,<br />

die ihr eigenes Verfallsdatum in sich<br />

tragen – eine technisch grundsätzlich umsetzbare,<br />

aber noch nicht befriedigend realisierte<br />

Idee. Und mancher setzt darauf,<br />

dass sich im digitalen Panoptikum der<br />

Gegenwart Gewöhnungseffekte einstellen.<br />

Das Motto der Post-Privacy-Enthusiasten:<br />

In einer Welt der Transparenz ist der<br />

einzelne Fehler irgendwann unspektakulär,<br />

weil die Abweichung längst zur Normalität<br />

geworden ist; alles ist sichtbar und<br />

damit auch irgendwie egal. Aber auf die<br />

Einkehr einer neuen Toleranz kann man<br />

zumindest im politischen Milieu nicht hoffen,<br />

weil nach dem Ende der großen ideologisch-weltanschaulichen<br />

Konfrontation<br />

individuelle Glaubwürdigkeit und persönliche<br />

Integrität zu Leitwerten der Politik<br />

geworden sind. Der Skandalschrei funktioniert<br />

hier – auch aus nichtigem Anlass –<br />

nach wie vor und ist für manches Medium<br />

schlicht ein gutes Geschäft im härter werdenden<br />

Kampf um Aufmerksamkeit.<br />

Was also kann man tun? Wäre es womöglich<br />

sinnvoll, sich gleich zu Beginn einer<br />

politischen Karriere einmal pauschal für alles<br />

zu entschuldigen? Kann das überhaupt<br />

funktionieren? Es war ein amerikanischer<br />

Reporter, der Anthony Weiner, den Shootingstar<br />

der Demokraten, einmal nach<br />

seinem offensiven Umgang mit Facebook<br />

und Twitter fragte – und eine vorauseilende<br />

Entschuldigung provozierte. Der Politiker<br />

sagte, er könne schon heute mit „metaphysischer<br />

Gewissheit“ sagen, dass er Fehler<br />

machen werde. Gerne wolle er deshalb prophylaktisch<br />

alle um Verzeihung bitten, die<br />

er womöglich eines Tages verletzen werde.<br />

Wenig später zerstörte Anthony Weiner<br />

seine Karriere, weil er ein Handyfoto seiner<br />

vor Erregung ausgebeulten Unterhose<br />

an eine Studentin von Washington, D.C.<br />

nach Seattle schickte – aber für das sogenannte<br />

„Sexting“ den falschen Verteiler<br />

wählte und die als „package.jpg“ betitelte<br />

Datei für Tausende von Menschen in seiner<br />

Twitter-Timeline sichtbar war. Weiner trat<br />

zurück, unterlegt vom kreischenden Spottgesang<br />

der Boulevardpresse.<br />

Nun möchte er, so heißt es, nach Jahren<br />

der Abstinenz gerne in die politische Arena<br />

zurückkehren und für das Amt des New<br />

Yorker Bürgermeisters kandidieren. Das<br />

Problem ist nur: Seine Ankündigungen haben<br />

die Cybersex-Affäre wieder aktuell werden<br />

lassen. Kein Artikel, der nicht seine Unterhosenfotos<br />

erwähnen würde, kein Text<br />

ohne süffige Anspielungen. Auch Weiner<br />

kommt nicht frei. Es geht gar nicht mehr<br />

um ihn. Es geht um den Zombie aus dem<br />

Netz. Und Bürgermeister <strong>wir</strong>d der nie.<br />

Bernhard Pörksen<br />

ist Professor für Medienwissenschaft<br />

in Tübingen und forscht<br />

über die Empörungsdemokratie<br />

im digitalen Zeitalter<br />

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Für alle, die es wissen wollen.<br />

Wie trennt<br />

man sich<br />

von dem,<br />

was war?<br />

Susanna Filbingers Vater <strong>wir</strong>ft einen<br />

langen Schatten. Die Vorwürfe über<br />

seine Tätigkeit als Marinerichter in<br />

der NS-Zeit zwingen den Ministerpräsidenten<br />

zum Rücktritt. Was für den<br />

Vater das Ende bedeutet, <strong>wir</strong>d für<br />

seine Tochter zum Anfang. Sie geht<br />

erfolgreich ihren Weg. Dann macht<br />

Susanna Filbinger eine Entdeckung:<br />

die Tagebücher ihres Vaters. Eine<br />

bewegende Aufarbeitung beginnt.<br />

2013. 283 Seiten, gebunden. € 19,99<br />

Auch als E-Book erhältlich<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 57


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5 6 7<br />

8 9<br />

10 11 12<br />

Wahljahr 2013<br />

Der Countdown<br />

13 14 15 16<br />

Wen hätten Sie gern an der Macht? Bis zur Bundestagswahl im September<br />

lädt <strong>Cicero</strong> Persönlichkeiten ein, sich die perfekte Regierung zu wünschen.<br />

Diesmal hat der Moderator Jörg Thadeusz das Kanzleramt und die<br />

Ministerposten besetzt. Die Regierung in der Juliausgabe des <strong>Cicero</strong> <strong>wir</strong>d<br />

die Buchautorin und frühere Fußballmanagerin Katja Kraus auswählen<br />

Illustration: Jan Rieckhoff; Fotos: Picture Alliance/dpa (16), Thomas Meyer/Ostkreuz<br />

58 <strong>Cicero</strong> 6.2013


(1) Bundeskanzlerin<br />

Caren Miosga. Kann das Land mit klugen<br />

Fragen regieren. Eine polyglotte Schöne mit<br />

einem harten Kern. Übrigens katholisch<br />

und aus dem Westen. Also mal was anderes.<br />

(2) Auswärtiges<br />

Gayle Tufts. Sprachkompetent und schlagfertig.<br />

Mit dem Überschreiten aller möglichen<br />

Grenzen sehr erfahren. Eine deutsche<br />

Außenministerin, deren Humor unübersehbar<br />

ist, <strong>wir</strong>d ausländische Repräsentanten<br />

mit offenem Mund staunen lassen.<br />

3) Innen<br />

Nina Kunzendorf. Hat als „Tatort“-<br />

Kommissarin Conny Mey bewiesen, wie<br />

gut sie als Aufpasserin ist. Beschützt<br />

Deutschland gewiss umsichtig.<br />

(4) Justiz<br />

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.<br />

Bewährt, erfahren, couragiert. Wer soll das<br />

besser machen? Vor allem: Warum? Außerdem<br />

haben <strong>wir</strong> schon mal miteinander im<br />

Fernsehen getanzt.<br />

(5) Finanzen<br />

Beatrice Weder di Mauro. Was für eine<br />

Biografie, was für eine beeindruckende<br />

Frau. Und was für eine Repräsentantin<br />

überall in der Welt.<br />

(6) Arbeit und Soziales<br />

Jürgen Klopp. Keine Mannschaft ackert<br />

wie die von Borussia Dortmund. Versteht<br />

sich aber als Freundeskreis von Menschen,<br />

die Spaß am Fußball haben. Dahinter<br />

steckt der Mann, der Gruppen jeder Größe<br />

motivieren kann.<br />

Eine Besetzung, die auch absichtsvoll die<br />

Anal-Charaktere ignorieren soll, die in ihrer<br />

und in anderen Doktorarbeiten wühlten.<br />

(10) Gesundheit<br />

Gerald Asamoah. Gründete in Hannover<br />

die Gerald-Asamoah-Stiftung für herzkranke<br />

Kinder. Etabliert eine ähnliche<br />

Einrichtung in Accra, Ghana. Bisher<br />

neben dem Beruf als Fußballspieler.<br />

(11) Verkehr<br />

Wolfgang Mayrhuber. Nach 40 Jahren<br />

bei der Lufthansa kennt er sich mit<br />

Verkehr gut aus. Erhält aber auch die<br />

Gelegenheit, Probleme kennenzulernen,<br />

über die sich nicht hinwegfliegen lässt.<br />

(12) Umwelt<br />

Sebastian Vettel. Kann nach dem ewigen Im-<br />

Kreis-Fahren auch mal etwas Vernünftiges<br />

und vergleichsweise Schadstoffarmes tun.<br />

(13) Bildung<br />

Helge Malchow. Wann liest der Verleger<br />

von Kiepenheuer und Witsch all das, was er<br />

liest? Ein charismatischer Buch-Fundamentalist.<br />

Ebenso leidenschaftlicher Anhänger<br />

des 1. FC Köln. Sprechchorkompentent.<br />

(14) Wirtschaft<br />

Horst Brandstätter. Begründer von<br />

Playmobil. Schön markant in seinen<br />

Ansagen. Absolut unbestechlich.<br />

(15) Entwicklung<br />

Herbert Grönemeyer. Sein Engagement<br />

für Afrika ging über PR weit hinaus.<br />

Glaubwürdiger Weltreisender, aber<br />

auch Bochumer Pragmatiker.<br />

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ZUM<br />

80. GEBURTSTAG VON<br />

CLAUDIO ABBADO<br />

THE SYMPHONY EDITION<br />

41 CD Limited Edition<br />

von Mozart bis Mahler<br />

Inklusive bisher unveröffentlichtem<br />

Bonus-Material!<br />

SCHUMANN<br />

Symphonie Nr. 2<br />

Ouvertüren zu Manfred & Genoveva<br />

Orchestra Mozart<br />

(7) Land<strong>wir</strong>tschaft<br />

Friedrich-Wilhelm Graefe zu<br />

Baringdorf. Überzeugender Politiker<br />

mit europäischer Expertise. Aber<br />

auch leidenschaftlicher Bauer.<br />

(8) Verteidigung<br />

Thomas Gottschalk. Für mich der Zivilist<br />

schlechthin. Somit der beste Mann für<br />

diesen Posten. Würde Soldaten im Ausland<br />

bei Besuchen gewiss eine Freude sein.<br />

(9) Familie<br />

Silvana Koch-Mehrin. Hat sich für die<br />

Gründung der eigenen Familie neben der<br />

Politik hässlich anfeinden lassen müssen.<br />

(16) Chef des Bundeskanzleramts<br />

Frank-Walter Steinmeier. Da ich so viele<br />

Polit-Amateure ausgesucht habe, braucht es<br />

einen Profi. Aber eben einen, der auch mit<br />

Künstlern kann. Ich kenne mehrere Künstler,<br />

die über Herrn Steinmeier nur Gutes sagen.<br />

Jörg Thadeusz, 44,<br />

moderiert in Radio und<br />

Fernsehen des Rundfunks<br />

Berlin-Brandenburg.<br />

Träger des Grimme-Preises.<br />

Romanautor. Erste<br />

berufliche Erfahrungen<br />

als Rettungssanitäter,<br />

Müllpresser und<br />

Liegewagenschaffner<br />

»Es gibt Dirigenten, und dann<br />

gibt es CLAUDIO ABBADO«<br />

(BBC Music Magazine)<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 59<br />

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| W e l t b ü h n e<br />

Nur noch mit Hosen<br />

Slowenien ist der nächste Euro-Wackel-Kandidat. Kann Alenka Bratušek ihr Land aus eigener Kraft retten?<br />

von Adelheid Wölfl<br />

S<br />

ie ist umgeben von Fallen und<br />

Minen, der Boden unter ihr<br />

schwankt. Die slowenische Regierungschefin<br />

hat einen Hindernislauf angetreten,<br />

den man nicht gewinnen kann.<br />

Die staatsnahen Banken sind von faulen<br />

Krediten in Milliardenhöhe unterhöhlt.<br />

Der Schuldenstand wächst immer rascher.<br />

Viele Ökonomen prophezeien, dass Slowenien<br />

als nächstes Land unter den Euro-Rettungsschirm<br />

flüchten muss.<br />

Das aber sind längst nicht die einzigen<br />

Probleme, die Alenka Bratušek plagen.<br />

Auch das Fundament ihrer Macht<br />

ist hauchdünn. Ihre Partei „Positives Slowenien“<br />

liegt mittlerweile in den Umfragen<br />

nur an dritter Stelle. Viele Slowenen<br />

halten Bratušek für eine Marionette des<br />

Partei gründers und charismatischen Bürgermeisters<br />

von Ljubljana, Zoran Janković.<br />

Zumindest habe er die Ministerliste erstellt<br />

und übe weiterhin Einfluss auf die Regierungschefin<br />

aus. Unterdessen versucht<br />

Bratušek, Unabhängigkeit zu demonstrieren,<br />

und <strong>wir</strong>d nicht müde zu wiederholen:<br />

„Ich treffe meine Entscheidungen ganz alleine.<br />

Niemand beeinflusst mich.“<br />

Innerhalb ihrer Koalition ist sie jedenfalls<br />

von den Sozialdemokraten abhängig,<br />

die – in der Gewissheit, in Umfragen vorn<br />

zu liegen – sie jederzeit mit der Androhung<br />

von Neuwahlen erpressen können. Bratušek<br />

ist geduldet von anderer Mächte Gnaden<br />

und eine Regierungschefin auf Zeit: In zehn<br />

Monaten muss sie sich einer Vertrauensabstimmung<br />

stellen. Außerdem könnte die<br />

Universität Ljubljana ihr demnächst den<br />

Magistertitel wegen Plagiatsvorwürfen entziehen.<br />

Dann müsste sie ohnehin zurücktreten.<br />

Die brünette Bürokratin kann in vielen<br />

Bereichen scheitern, andererseits hat sie genau<br />

deshalb wenig zu verlieren.<br />

Als der konservative Premier Janez Janša<br />

und der Parteichef Janković im Januar durch<br />

einen Bericht der Antikorruptionsbehörde<br />

diskreditiert wurden, konnte der eine nicht<br />

an der Macht bleiben, der andere nicht<br />

nach dieser greifen. Man suchte nach jemanden<br />

aus der zweiten Reihe, vor dem<br />

sich die Koalitionspartner nicht fürchten<br />

müssten, nach einer Frau als Symbol<br />

des Wandels, nach einer Unbescholtenen,<br />

Unbeschriebenen.<br />

„Wenn mich jemand vor einem halben<br />

Jahr gefragt hätte, ob Alenka Bratušek Premierministerin<br />

werden könnte, hätte ich<br />

ihn zum Arzt geschickt“, sagt der Journalist<br />

Ali Žerdin. Andererseits hätten Politiker, die<br />

aus dem Nichts auftauchten, in Slowenien<br />

Tradition. Žerdin traut Bratušek durchaus<br />

zu, an Einfluss zu gewinnen, weil sie „Talent<br />

zur Kompromissbildung“ gezeigt habe.<br />

Es waren andere, die Bratušek in die<br />

Position hievten, nicht ihr Ehrgeiz oder<br />

Selbstdarstellungstrieb – schon gar nicht<br />

ihre rhetorischen Fähigkeiten. Seit einem<br />

CNN-Interview, das wegen ihrer mangelnden<br />

Sprachfähigkeiten vollkommen misslang,<br />

ist sie auch medienscheuer geworden.<br />

In Slowenien macht man sich seither<br />

über ihr Englisch lustig. Die 43-Jährige gilt<br />

weder als intellektuell noch als sprachgewandt,<br />

aber als energiegeladen, schnell und<br />

intelligent.<br />

Als Krisenmanagerin berufen, hatte sie<br />

bisher auch keine Zeit, sich als Gestalterin<br />

darzustellen. Sie feilte stattdessen an Reformplänen<br />

für Brüssel und versuchte, auf<br />

Kapitalmärkten Geld heranzuschaffen. In<br />

Slowenien, das auf Ramschniveau herabgestuft<br />

wurde, droht jede falsche Bewegung<br />

die Märkte zu irritieren. Bratušek weiß zumindest<br />

um ihre Grenzen, delegiert und<br />

holt Expertenrat ein. Außenpolitisch hat<br />

sie das Feld ohnehin Präsident Borut Pahor<br />

überlassen, der die internationale Bühne<br />

liebt, auf der Bratušek so wenig Übung hat.<br />

Die Textilingenieurin kommt aus einer<br />

Mittelschichtfamilie, gut eingebettet,<br />

aber ohne Elitebewusstsein. Der Vater, ein<br />

Bezirksrichter, war in Bratušeks Geburtsort<br />

Žalec beliebt, weil er die Fähigkeit hatte,<br />

Streit zu schlichten und dabei auf die Beziehungen<br />

zu achten, nicht nur auf das Gesetz.<br />

Die Tochter scheint es dem Vater gleichzutun.<br />

„Sie will Differenzen ausräumen“, sagt<br />

jemand aus ihrer nächsten Umgebung. „Es<br />

geht ihr um Kooperation.“<br />

Vom Vater hat sie wohl auch gelernt,<br />

die Familie herauszuhalten. Weder ihr Partner<br />

Mitja Cvjetičanin noch ihre 18-jährige<br />

Tochter Nuša, die gerade Abitur macht,<br />

und der 15-jährige Sohn Oskar tauchen in<br />

der Öffentlichkeit auf. „Sie hat eine Wand<br />

geschaffen zwischen Politik und Familie“,<br />

sagt Borut Mekina vom Magazin Mladina.<br />

Selbst in ihrem Wohnort Stražišče ist sie<br />

relativ unbekannt. Die Nachbarn wissen<br />

nur dann, dass die Politikerin gerade zu<br />

Hause ist, wenn die Bodyguards um das<br />

graue Haus schleichen. Oder wenn sie sie<br />

zufällig beim Joggen zwischen den Obstbäumen<br />

erspähen.<br />

Bratušek ist keine Frau großer Entwürfe<br />

und Meinungen, sondern eine ideologiefreie<br />

Pragmatikerin. Sie findet auch<br />

nichts dabei, dass sie nun Maßnahmen<br />

propagiert, die sie vor kurzem, in der Opposition,<br />

noch bekämpfte: etwa die Schuldenbremse<br />

in der Verfassung zu verankern<br />

oder Referenden einzudämmen.<br />

In Ljubljana war man bisher nicht an<br />

Frauen an der Spitze der Politik gewöhnt.<br />

Die Opposition prophezeite Bratušek per<br />

Twitter, dass ihre Amtszeit so kurz werden<br />

würde wie ihre Röcke. Sie selbst möchte<br />

nicht nach ihrem Geschlecht beurteilt werden,<br />

sondern nach ihrem Erfolg. Bei ihrem<br />

Amtsantritt trug sie jedenfalls Hosen.<br />

Adelheid Wölfl<br />

ist Korrespondentin für<br />

Südosteuropa mit Sitz in<br />

Zagreb für die österreichische<br />

Tageszeitung Der Standard<br />

Fotos: Joze Suhadolnik, Privat (Autorin)<br />

60 <strong>Cicero</strong> 6.2013


„Ich treffe meine<br />

Entscheidungen ganz alleine.<br />

Niemand beeinflusst mich“<br />

Alenka Bratušek<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 61


| W e l t b ü h n e<br />

Der Terror der Wölfe<br />

Die Brüder Zarnajew wollten mit ihrer Tat „den Islam verteidigen“. Sind sie der Prototyp des Attentäters?<br />

von Wolfgang Sofsky<br />

A<br />

m Abend des 12. Februar 1894<br />

warf Émile Henry im Café Terminus<br />

am Gare Saint-Lazare einen<br />

Blechtopf voller Sprengstoff in die Luft.<br />

Von den Angestellten, Arbeitern und kleinen<br />

Ladenbesitzern, die gerade ihr Bier<br />

tranken, wurden 20 verletzt, eine Frau<br />

tödlich. Als man ihm vorwarf, unschuldige<br />

Menschen verletzt zu haben, rief der<br />

selbst ernannte Anarchist aus: „Il n’y a pas<br />

d’innocents!“ – es gibt keine Unschuldigen.<br />

An drei Wochenenden im April 1999<br />

zündete David Copeland in London drei<br />

Sprengsätze, die er in Sporttaschen versteckt<br />

hatte. Die Tatorte waren Treffpunkte<br />

von Einwanderern und Homosexuellen.<br />

Drei Menschen starben, 129 wurden verwundet.<br />

Der „Nagelbomber“ hatte seine<br />

Pläne mit niemandem abgesprochen. Neben<br />

politischen Gründen gab er an: „Wenn<br />

sich niemand daran erinnert, wer du warst,<br />

hast du niemals existiert.“<br />

Den Brüdern Zarnajew, die in Boston<br />

jüngst drei Menschen töteten und 264 verletzten,<br />

sagt man nach, sie hätten den Islam<br />

verteidigen wollen. Tamerlan, dem älteren,<br />

hatte seine Mutter vor Jahren empfohlen,<br />

sich in Palästina am globalen Dschihad zu<br />

beteiligen. Bei der Zielauswahl zeigten sich<br />

die Brüder flexibel. Da die Bomben vorzeitig<br />

fertig waren, zogen sie den Explosionstermin<br />

vor. Die Eingebung, weitere<br />

Sprengsätze am New Yorker Times Square<br />

zu zünden, ereilte sie während der Flucht.<br />

Der terroristische Einzeltäter ist keine<br />

Erfindung des offenen Netzwerks Al Qaida.<br />

Die ideologischen Versatzstücke sind<br />

ebenso austauschbar wie die Motive. Der<br />

„einsame Wolf“, wie er im Jargon der Geheimdienste<br />

heißt, kann Blutbäder im Namen<br />

der Gerechtigkeit anrichten, unter der<br />

Fahne „rassischer Reinheit“ oder des globalen<br />

Kalifats. Doch bedürfen große Verbrechen<br />

weder großer Ideen noch extremer<br />

Wutanfälle. Massaker sind auch keine<br />

Massenkommunikation. Wer sie als Botschaft<br />

missversteht, tappt geradewegs in die<br />

Propagandafalle der Bedeutung, die der Täter<br />

dem Publikum aufgestellt hat.<br />

Die Tat soll Angst, Entsetzen, kopflose<br />

Panik hervorrufen. Im Gegensatz zum politischen<br />

Mörder hat es der Terrorsolist weniger<br />

auf einen Tyrannen noch einen Polizeioffizier<br />

oder eine Kaiserin abgesehen<br />

als vielmehr auf die Menschheit schlechthin.<br />

Je mehr Opfer, desto besser. Je lauter<br />

der Widerhall, desto leuchtender das Fanal.<br />

Häufig wählt er belebte Plätze, an denen es<br />

die Opfer wahllos trifft.<br />

Der Solist handelt auf eigene Faust. Er<br />

gehört keiner Gruppe, keiner Zelle, Sekte<br />

oder Miliz an. Sogar ferne Gesinnungsfreunde<br />

sind überrascht von seiner Existenz.<br />

Er erhält keine Anweisung und keinen<br />

Befehl. Der Treibsatz liegt im Täter<br />

selbst. Niemand hat ihn überredet oder<br />

verführt. Entweder hat er sich die Phrasen,<br />

mit denen er sein Tun rechtfertigt,<br />

selbstständig zusammengesucht oder sich<br />

von Parolen bereitwillig überzeugen lassen.<br />

Nicht wenige haben eine Lieblingslektüre.<br />

Verstreute Islamisten erbauen sich im Netz<br />

an den Fernpredigten radikaler Vorbeter;<br />

Copeland oder Timothy McVeigh, der<br />

„Oklahoma-Bomber“, ließen sich von den<br />

„Turner Diaries“ inspirieren, einer Novelle<br />

des Neonazis William Pierce.<br />

Dennoch montiert der Einzeltäter sein<br />

Hassbild aus eigenen Stücken. Er lebt in einer<br />

abgeschirmten Gedankenwelt. Intellektuell<br />

ist er ein Eigenbrötler oder Autodidakt.<br />

Konvertiten, welche die Frömmigkeit rasch<br />

nachholen wollen, meinen es mit sich und<br />

der Welt oft besonders streng. Keineswegs<br />

kopiert der Einzelgänger blind die Stereotype,<br />

die in einer Gruppe sozial verbindlich<br />

sind. Sein Denkraum liegt nicht in einem<br />

Chatroom, sondern in seiner Einbildungskraft.<br />

In der Imagination lässt sich ungestraft<br />

alles vorstellen und planen. Die Fantasie<br />

befreit von Bedenken und Wankelmut.<br />

Da er für sich ist, kann der Terrorsolist<br />

seine eigene Gewalttechnik erfinden.<br />

Mancher baut lediglich bewährte Vorlagen<br />

aus Handbüchern oder Zeitschriften nach.<br />

Doch weil niemand seine Kreativität einschränkt,<br />

ist er in der Wahl der Ziele und<br />

Mittel frei. Mehrere Innovationen gehen<br />

auf sein Konto. Einzeltäter sind verantwortlich<br />

für die erste Autobombe, die erste<br />

Flugzeugentführung, die erste Vergiftung<br />

von Nahrungsmitteln, den ersten Anthrax-<br />

Brief und – wie im Falle des Norwegers<br />

Anders Breivik – den ersten Anschlag, der<br />

Explosion und Amoksturm kombinierte.<br />

Während der Vorbereitung ist der Solist<br />

wenig mitteilsam. Nur Verschwiegenheit<br />

schützt ihn zuverlässig. Einige rechnen<br />

sich einer Protestbewegung oder welthistorischen<br />

Mission zu. Doch dies sind nur<br />

Fantasiegebilde. Vereinzelte Bemerkungen<br />

werden kaum als Vorzeichen wahrgenommen.<br />

Auf die Weltbühne tritt er erst mit der<br />

Tat. Das Blut der Opfer beglaubigt seine<br />

Existenz. Nun explodiert sein Geheimnis,<br />

und er <strong>wir</strong>d seltsam gesprächig. Breivik<br />

versandte stolz ein obskures Machwerk<br />

von über 1500 Seiten kurz vor dem Osloer<br />

Anschlag. Theodore Kaczynski, der „Unabomber“,<br />

der zwischen 1978 und 1995 mit<br />

16 Briefbomben drei Menschen tötete und<br />

23 verletzte, ließ in der New York Times ein<br />

Manifest von 35 000 Wörtern gegen die industrielle<br />

Zivilisation veröffentlichen. Sein<br />

Bruder erkannte den Schreibstil und verriet<br />

ihn an das FBI. Émile Henry verfasste<br />

für den Gefängnisdirektor einen Essay<br />

über den Anarchismus. Auf der Anklagebank<br />

trug er seine Konfession so überzeugend<br />

vor, dass nicht wenige Sympathisanten<br />

ihn klammheimlich bewunderten. Von<br />

Dschochar Zarnajew, der die Verfolgungsjagd<br />

überlebte, dürften keine großen Reden<br />

zu erwarten sein. Er hat weiter nichts<br />

zu sagen.<br />

Wolfgang Sofsky war bis<br />

2000 Professor für Soziologie.<br />

Seitdem arbeitet er als Privatgelehrter.<br />

Er beschäftigt sich<br />

mit Phänomenen der Gewalt<br />

Fotos: Stefanie Holthaus/Plainpicture, Privat (Autor)<br />

62 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Der Solist handelt auf<br />

eigene Faust. Er gehört<br />

keiner Gruppe, keiner<br />

Zelle, Sekte oder Miliz an<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 63


| W e l t b ü h n e<br />

Emma Courage<br />

Die Ernennung von Emma Bonino zur Außenministerin ist Italiens Bekenntnis zu Europa<br />

von eric Bonse<br />

S<br />

ie war die erste Radikale im<br />

öffentlichen Dienst in Brüssel.<br />

Schon an ihrem ersten Arbeitstag<br />

als EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe<br />

flog Emma Bonino nach Sarajevo, um die<br />

Untätigkeit der Europäer im Bürgerkrieg<br />

in Ex-Jugoslawien anzuprangern. Das war<br />

im Januar 1995, der Balkan stand in Flammen.<br />

Die EU-Granden waren empört. Wer<br />

war diese zierliche Frau aus Rom, die es<br />

wagte, sich mit ihrer prägnanten Stimme<br />

in die stille Kunst der hohen Diplomatie<br />

einzumischen?<br />

18 Jahre danach fragt das niemand<br />

mehr. „La Bonino“, wie man sie fast zärtlich<br />

nennt, ist zu einer europäischen Ikone<br />

geworden. Daniel Cohn-Bendit liebt sie,<br />

Joschka Fischer schätzt sie, Silvio Berlusconi<br />

fördert sie. Der Cavaliere war es, der<br />

die prominente Politikerin der Partito Radicale<br />

nach Brüssel schickte. Später sagte<br />

sich Bonino von dem Macho los. Doch das<br />

hinderte sie nicht daran, als Außenministerin<br />

in die neue römische Regierung einzutreten,<br />

die wieder von Berlusconi mitgetragen<br />

<strong>wir</strong>d.<br />

Es ist nicht der einzige Widerspruch<br />

in Boninos Leben. Begonnen hat alles in<br />

den siebziger Jahren, natürlich mit einer<br />

Provokation. Die damals 27-Jährige lehnt<br />

sich gegen die strengen Sitten im katholischen<br />

Italien auf, gründet ein Selbsthilfezentrum<br />

für die damals noch verbotene<br />

Abtreibung – und lässt sich nach dem eigenen<br />

Abbruch verhaften. Zwei Wochen<br />

bleibt sie im Gefängnis, danach ist sie ein<br />

Star. Der Papst nennt sie „Hexe“, die Feministin<br />

ist geboren.<br />

Danach geht es Schlag auf Schlag.<br />

1976 Einzug ins italienische Parlament,<br />

drei Jahre später Beginn der EU-Karriere<br />

im Europaparlament. „Ich bin aus Neugier<br />

nach Straßburg gegangen, ich wusste praktisch<br />

nichts von Europa“, räumte sie später<br />

freimütig ein. Bonino engagiert sich für<br />

die Menschenrechte, gegen Atomkraft und<br />

Todesstrafe. „In den achtziger Jahren war<br />

Europa noch ein faszinierendes Projekt –<br />

keine christliche Festung wie heute“, erinnert<br />

sie sich. Dennoch stimmt sie gegen<br />

den Maastricht-Vertrag, der den Euro begründet.<br />

Er geht ihr nicht weit genug, die<br />

politische Integration fehlt.<br />

Bonino ist nicht nur eine überzeugte<br />

Europäerin, sondern auch eine engagierte<br />

Föderalistin. Sie tritt für die „Vereinigten<br />

Staaten von Europa“ ein, aber gegen einen<br />

allmächtigen europäischen Superstaat. Sie<br />

hat die Austeritätspolitik in Italien kritisiert,<br />

aber auch die Einhaltung der Sparzusagen<br />

versprochen. Wie passt das zusammen?<br />

Für Bonino kein Problem – es sei<br />

alles nur eine Frage des politischen Willens<br />

und des Mutes.<br />

Dass sie Mut besitzt, hat „Emma Courage“,<br />

so nennt sie ihr Mitstreiter Cohn-<br />

Bendit, immer wieder bewiesen. In Brüssel<br />

erinnert man sich vor allem an ihr Engagement<br />

für Afghanistan. Einmal bringt sie<br />

eine verschleierte Afghanin zu einer Pressekonferenz<br />

in die EU-Kommission mit. Die<br />

Frau – eine Ärztin – sei nicht religiös, sondern<br />

habe sich aus Angst vor den Taliban<br />

verhüllt, sagt sie den verblüfften Journalisten.<br />

Man müsse den Frauen in Afghanistan<br />

helfen, es gehe um Leben und Tod.<br />

Vier Monate zuvor wäre Bonino beinahe<br />

selbst Opfer der Taliban geworden.<br />

Sie war nach Afghanistan gereist, um europäische<br />

Hilfsprojekte zu besichtigen. Als sie<br />

ein Krankenhaus besuchen will, <strong>wir</strong>d die<br />

EU-Kommissarin von den radikalen Islamisten<br />

festgehalten. Einige Stunden verbringt<br />

sie in Geiselhaft der Taliban, danach<br />

ist der Spuk vorbei. Es hätte auch anders<br />

ausgehen können, doch Bonino hat die riskante<br />

Reise bis heute nicht bereut.<br />

Sie muss eben immer ganz vorne mitmischen<br />

– da, wo die Action ist, da, wo die<br />

Kameras sind. Bonino ist ständig in Bewegung,<br />

immer unterwegs, selbst für Partnersuche<br />

und Familiengründung blieb keine<br />

Zeit. „Wenn ich mich mit anderen vergleiche,<br />

denke ich manchmal, ich sollte etwas<br />

ruhiger werden“, sagt die allein lebende<br />

65-Jährige, greift zur Zigarette und plant<br />

schon das nächste Projekt. Der Kampf geht<br />

weiter, trotz mancher Rückschläge.<br />

Der härteste Schlag war wohl der Sturz<br />

der EU-Kommission 1999. Wegen einer<br />

Korruptionsaffäre um die französische<br />

Kommissarin Édith Cresson trat die gesamte<br />

Kommission zurück, auch Bonino<br />

musste ihren Sessel räumen. Vom neuen<br />

Kommissionschef Romano Prodi, einem<br />

Landsmann, wurde sie nicht zurückgeholt –<br />

Prodi zog Mario Monti ihr vor, der zum<br />

„Superkommissar“ und später zum Premier<br />

in Rom wurde. Bonino zog sich enttäuscht<br />

ins Europaparlament zurück.<br />

Dort ging sie ausgerechnet mit dem<br />

französischen Rechtsextremen Jean-Marie<br />

Le Pen ein Zweckbündnis ein, um für<br />

ihre kleine radikale Truppe den Fraktionsstatus<br />

zu erhalten. Ein „Pakt mit dem Teufel“<br />

sei dies, schimpften Kollegen. Doch<br />

er sollte nicht lange währen – ebenso wenig<br />

wie ihr Versuch, eine zweite politische<br />

Karriere in Rom zu beginnen. Die Wahlkampagne<br />

„Emma for President“ scheiterte,<br />

die populäre Politikerin musste sich mit<br />

einem Posten als Vizepräsidentin im Senat<br />

begnügen.<br />

Dass sie es nun in die Villa Farnesina –<br />

den Sitz des italienischen Außenministeriums<br />

– geschafft hat, ist eine späte Genugtuung.<br />

Ähnlich wie Joschka Fischer hat sich<br />

Emma Bonino von der gefürchteten Rebellin<br />

zur geachteten Diplomatin gewandelt.<br />

Einst wollte sie die Welt aus den Angeln<br />

heben – heute steht sie für Kontinuität.<br />

„Emma Courage“ will dafür sorgen, dass<br />

Europa heil aus der Krise kommt – auch<br />

die italienischen Radikalen sind bescheiden<br />

geworden.<br />

eric Bonse<br />

berichtet für <strong>Cicero</strong> aus Brüssel<br />

und betreibt den Blog „Lost in<br />

Europe“. Bevor er 2004 nach<br />

Brüssel kam, schrieb er aus Paris<br />

Fotos: Carlos Jones/Contrasto/Laif, Privat (Autor)<br />

64 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Fast wie<br />

Joschka Fischer<br />

hat sich Emma<br />

Bonino von der<br />

gefürchteten<br />

Rebellin zur<br />

geachteten<br />

Diplomatin<br />

gewandelt<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 65


| W e l t b ü h n e | S y r i e n<br />

Der Ingenieur von Aleppo<br />

Der Krieg in Syrien kennt keinen Alltag – nur Ausnahmezustand. Einer will<br />

das nicht hinnehmen. Abd al Nasr stellt die Ordnung gegen das Chaos<br />

von Carsten Stormer<br />

66 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Mit Ausbruch des<br />

Bürgerkriegs in Syrien<br />

hat sich Abd al<br />

Nasrs (rechts) Leben<br />

radikal geändert. Mit<br />

Gleichgesinnten versucht<br />

er, die zivile Ordnung<br />

aufrechtzuerhalten<br />

Foto: Carsten Stormer<br />

W<br />

ie sie den beutel an sich<br />

drückt. Das schwarze Plastik<br />

umklammert, als hielte<br />

sie sich an der Tüte fest. „La<br />

ilaha illa Allah“, flüstert die<br />

Frau im schwarzen Mantel und Hijab. Es<br />

gibt keinen Gott außer Gott; aber Neider<br />

gibt es. Sechs Hände greifen gleichzeitig<br />

nach der Tüte, reißen an ihr. Sie bedeutet<br />

hier im Zentrum Aleppos einen weiteren<br />

Tag des Überlebens: ein Kilo Reis, Speiseöl,<br />

Bohnen, Zucker, Salz, zwei Dosen Thunfisch,<br />

trockenes Fladenbrot, Kekse.<br />

Die Frau tritt einen Schritt zurück,<br />

schüttelt sich frei und rennt los. Zurück<br />

bleibt ein Mann, umringt von Dutzenden<br />

verschleierten Frauen. Was soll ich denn<br />

machen, sagen seine hilflosen Gesten. Den<br />

ganzen Vormittag hat der bullige Mann in<br />

der schwarzen Galabija und dem Vollbart,<br />

der an den Rändern grau ausfranst, in der<br />

ausgebombten Schule über Tabellen und<br />

Bestandslisten gebrütet. 223 Hilfspakete<br />

für 654 Bedürftige.<br />

Jetzt drängen ihn Frauen gegen die<br />

Wand seiner kleinen Lagerhalle, sie fordern,<br />

betteln, bitten. „Wir haben Hunger!“,<br />

schreien sie. Eine Frau hebt ihre<br />

Tochter hoch, drückt sie Abd al Nasr gegen<br />

die Brust: „Hier, bitte nimm meine<br />

Tochter bei dir auf.“ Da zischt eine Kugel<br />

über seinen Kopf hinweg, abgefeuert<br />

irgendwo von einer der vielen Fronten in<br />

Aleppo. War es nur eine verirrte Kugel oder<br />

ein Scharfschütze, der gezielt in die Menge<br />

schießt? Panik bricht aus. Alle werfen sich<br />

auf den Boden.<br />

Abd al Nasr nutzt die Gelegenheit,<br />

springt hinaus, läuft links in eine Seitengasse,<br />

dann ist er zu Hause. Mit hängenden<br />

Schultern, als würde ein unsichtbares<br />

Gewicht sie nach unten ziehen, steigt er<br />

die Treppen zu seiner Wohnung hinauf, in<br />

der es seit Wochen weder Strom noch fließend<br />

Wasser gibt.<br />

Scheich Nasr ist einer jener Revolutionäre,<br />

die ohne Waffe gegen das syrische<br />

Regime kämpfen. Anstatt auf Menschen<br />

zu schießen, organisiert der 46-Jährige<br />

das Gemeinwesen, baut mit am Syrien<br />

von morgen, während das Regime wankt,<br />

aber noch längst nicht fällt. Der Staat führt<br />

Krieg gegen seine Bürger, zieht sich zurück<br />

und hinterlässt Löcher. Menschen wie Abd<br />

al Nasr machen sich daran, diese Lücken<br />

zu füllen.<br />

„Ich bin eigentlich Elektroingenieur,<br />

kein Politiker“, sagt der Mann mit Händen<br />

so groß wie Bratpfannen, als er die Tür zur<br />

Wohnung aufschließt. „Ich hatte einen kleinen<br />

Laden, wo ich Computer und Radios<br />

reparierte.“ Es klingt, als spräche er von einem<br />

anderen Zeitalter. Er benetzt Gesicht<br />

und Nacken mit braunem Wasser aus einem<br />

Eimer. „Anfangs, als noch nicht die<br />

Waffen sprachen und <strong>wir</strong> uns erstmals mit<br />

Demonstrationen auf die Straße trauten,<br />

traf man sich in konspirativen Wohnungen.“<br />

Nachbarschaftsvertreter, ehemalige<br />

Regierungsbeamte, Islamgelehrte, Lehrer,<br />

Ärzte, Studenten, Moslembrüder, Akademiker,<br />

die im Frühling 2012 darüber diskutierten,<br />

wie eine moderate islamische Republik<br />

aussehen könnte, wie Wahlen zu<br />

organisieren seien oder welche Strafen gerecht<br />

wären für die Schergen des Diktators.<br />

„Damals hat kaum jemand daran geglaubt,<br />

dass <strong>wir</strong> unser Ziel erreichen könnten.“<br />

Als dann der Krieg im vergangenen<br />

Sommer nach Aleppo kam, die Müllabfuhr<br />

nicht mehr fuhr und die Geschäfte<br />

schlossen, da dachte er: Du musst etwas<br />

unternehmen. Abd al Nasr wurde ein Führer<br />

ohne Amt.<br />

Sein Alltag: Er sammelt Geld, Lebensmittel<br />

und Medikamente bei reichen syrischen<br />

Geschäftsleuten, Freunden und<br />

islamischen Hilfsorganisationen. Stellt<br />

Freiwilligenkommandos zusammen, die<br />

zuweilen meterhohen Müll wegräumen,<br />

besorgt Feuerholz und Petroleum gegen die<br />

Kälte, beerdigt namenlose Tote, schlichtet<br />

Streitigkeiten unter Nachbarn. Gemeinsam<br />

mit anderen Führern ohne Amt in anderen<br />

Stadtteilen eröffnet er Schulen und Gerichte,<br />

die ein Mindestmaß an Recht herstellen.<br />

Als Nächstes ist der Aufbau einer<br />

Polizei geplant, um die Plünderungen zu<br />

stoppen und den Einwohnern Aleppos<br />

ein Gefühl der Ordnung und Sicherheit<br />

zu vermitteln.<br />

Die Frage, was ausgerechnet diesen<br />

unbedeutenden Radiotüftler zu einen zivilen<br />

Helden im syrischen Krieg machte,<br />

führt zurück zu einem anderen Syrien, in<br />

dem die Menschen über Jahrzehnte in Frieden<br />

lebten. Gemordet und gefoltert wurde<br />

auch damals; aber nur hinter dicken Mauern<br />

und nur jene, die nicht schwiegen. Einen<br />

Mittelweg zu finden zwischen totaler<br />

Unterordnung und Tod oder Exil – das fiel<br />

schwer. Abd al Nasrs Vater gelang es.<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 67


| W e l t b ü h n e | S y r i e n<br />

Der setzte sich in Aleppo als Vorsitzender<br />

der Bauerngewerkschaft in den achtziger<br />

Jahren für bessere Preise und die Belange<br />

der Bauern ein. Er hätte Karriere<br />

machen können, aber er nutzte seine Position<br />

nicht aus. Nahm keine Bestechungsgelder<br />

an, gab niemandem den Vorzug. Vor<br />

allem aber bemühte er sich nicht um eine<br />

Mitgliedschaft in der Baath-Partei Hafiz<br />

al Assads, dem Vater des jetzigen Präsidenten.<br />

Seine Kollegen lachten ihn wegen<br />

seiner Einstellung aus. So verharrte er in<br />

bescheidenen Verhältnissen, und die Menschen<br />

respektierten ihn dafür. Der Respekt,<br />

der heute Abd al Nasr als ältestem Sohn gezollt<br />

<strong>wir</strong>d, hat viel mit der Erinnerung an<br />

den Vater zu tun. Zu dessen Beerdigung<br />

kamen 3000 Trauergäste aus ganz Syrien,<br />

erzählt man.<br />

Schlaflos in Aleppo<br />

Abd al Nasr gähnt halb, zuckt plötzlich wie<br />

ertappt zusammen und springt auf. Eine<br />

Stunde ist er schon daheim, jetzt geht es<br />

wieder los. Zwei Uhr am Nachmittag, in<br />

einem klapprigen Toyo ta rast er zu einem<br />

unscheinbaren Wohnblock im Hanano-<br />

Viertel Aleppos, zum Hauptquartier der<br />

„Islamischen Front zur Befreiung Syriens“.<br />

Eine Art Zivilrat aus moderaten Muslimen,<br />

Islamisten und Säkularen, die sich zusammengeschlossen<br />

haben, um in der Stadt für<br />

Ordnung zu sorgen. Mehrfach wurde das<br />

Gebäude Ziel von Luftangriffen, ein Krater<br />

im Hinterhof und Narben im Beton<br />

zeugen davon. Am schmiedeeisernen Eingangstor<br />

stehen bewaffnete Rebellen, die<br />

Hunderte von Bedürftigen, hauptsächlich<br />

Frauen mit Kindern, davon abhalten, das<br />

Gebäude zu stürmen. „Geduld! Wartet, bis<br />

ihr an der Reihe seid“, ruft ein Wächter<br />

und versperrt einer alten Frau den Zugang<br />

mit seiner Kalaschnikow. „Bitte lasst uns<br />

ein“, sagt die Alte. „Wir haben Angst vor<br />

den Flugzeugen.“<br />

Scheich Nasr schiebt sich durch die<br />

Menge, wimmelt Menschen ab. „Wir haben<br />

eine Ladung Mehl aus der Türkei bekommen.“<br />

Die Spenden müssen nun gerecht<br />

verteilt, Streit und Missbrauch<br />

vermieden werden. Im Hauptflur füllt ein<br />

junger Mann Milchpulver in Plastiktüten.<br />

„Und die Reparatur elektrischer Leitungen<br />

werden <strong>wir</strong> heute verhandeln.“<br />

Doch zuerst muss Abd al Nasr Recht<br />

sprechen; die Gerichte arbeiten ja auch<br />

nicht mehr. In einem Nebenraum stehen<br />

Fotos: Carsten Stormer<br />

Zerstörung, wo<br />

man hinsieht:<br />

Aleppo mit seinen<br />

zerschossenen<br />

und zerbombten<br />

Fassaden<br />

erinnert an das<br />

Nachkriegsberlin<br />

68 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Die Zivilisten<br />

sind zwischen<br />

die Fronten<br />

geraten,<br />

Bauernopfer<br />

in einem<br />

Schachspiel, das<br />

im Patt festhängt<br />

Scharfschützen der Rebellen nehmen<br />

Assads Truppen ins Visier<br />

zwei Jungen, 18 und 19 Jahre alt. Sie zittern<br />

am ganzen Körper. Scheich Nasr mustert<br />

sie, setzt sich an ein Pult, blättert in einer<br />

Akte, mustert die Jungs wieder. „Aha,<br />

was haben <strong>wir</strong> hier? Diebe also. Hmm“,<br />

murmelt er, ohne die Angeklagten eines<br />

Blickes zu würdigen. „Hat man euch also<br />

erwischt.“<br />

„Scheich, bitte lass es mich erklären …“,<br />

bettelt einer der beiden. Scheich Nasr hebt<br />

die Hand, dass er schweigen soll. Der Junge<br />

verstummt sofort.<br />

„Was soll ich denn jetzt mit euch machen?“<br />

Abd al Nasr legt eine Kunstpause<br />

ein. „Ich weiß es. Ich übergebe euch Jabhat<br />

al Nusra, die hacken euch die Hand ab.<br />

Wie findet ihr das?“, sagt er und zwinkert<br />

seinem Protokollschreiber zu, der leise in<br />

sich hineinkichert.<br />

„Scheich, bitte, bitte nicht. Es <strong>wir</strong>d nie<br />

wieder vorkommen. Es tut uns leid. Bitte.“<br />

„Und Waffen hat man bei euch auch gefunden“,<br />

erwidert al Nasr und fuchtelt mit<br />

einem Taschenmesser vor den beiden herum.<br />

„Eindeutig ein Fall für al Nusra. Verabschiedet<br />

euch von euren Händen.“<br />

Daraufhin beginnen die beiden Jugendlichen<br />

zu weinen. Bis Scheich Nasr<br />

dem grausamen Spiel ein Ende bereitet. Er<br />

hält noch eine Standpauke, einen 20-minütigen<br />

Monolog darüber, dass Diebstahl<br />

die Revolution untergräbt, die Seele vergiftet<br />

und gegen die Lehren des Koran verstößt.<br />

Dann fällt er sein Urteil: „30 Stunden<br />

Arbeitsdienst hier im Center, und ich<br />

spreche mit euren Eltern. Morgen um zehn<br />

Uhr meldet ihr euch zum Dienst. Und jetzt<br />

verschwindet!“ Mit vor Scham gesenkten<br />

Häuptern schlurfen die beiden aus dem<br />

Zimmer. Als die Tür zufällt, schlägt sich<br />

Scheich Nasr vor Lachen auf die Schenkel.<br />

„Ich hätte sie natürlich niemals den Islamisten<br />

übergeben.“<br />

Mit Kung fu und Koran<br />

Abd al Nasr lernte schon als Kind, sich<br />

nicht zu verstecken. Verliebte sich erst in<br />

die Kampfsportart Kung Fu und später in<br />

die Lehren des Koran. „Kampfsport und<br />

Religion haben meinen Verstand geschärft“,<br />

sagt er und erzählt, wie er sich wie Bruce<br />

Lee kleidete und so auch in die Moschee<br />

ging. Er folgte dem Gebot des Propheten,<br />

ständig den Geist zu schulen. Lernen, ein<br />

Leben lang, um das Wissen weiterzugeben.<br />

So studierte er erst Biologie und Elektroingenieurwissenschaften,<br />

später schulte er<br />

seinen Glauben an den Universitäten von<br />

Damaskus, Aleppo und Tripolis, studierte<br />

dort den Koran und lernte ihn auswendig,<br />

machte einen Abschluss in Islamwissenschaften.<br />

Er war jetzt ganz nah bei seinem<br />

Gott, und die Menschen begannen,<br />

ihn Scheich zu nennen. Die Kinder seines<br />

Viertels unterrichtete er in Kung Fu und<br />

gab Nachhilfe in Biologie, Englisch und<br />

Physik. Kostenlos, weil „der Koran es verbietet,<br />

für Unterricht bezahlt zu werden“.<br />

Freitags predigte er in der Moschee. „Es ist<br />

meine Pflicht, Gutes zu tun. So steht es im<br />

Koran, so will es Allah.“ Vor der Revolution<br />

hielt er seine Familie mit dem kleinen<br />

Reparaturladen über Wasser. Es reichte für<br />

eine kleine Wohnung und eine Reise nach<br />

Mekka. „Es war ein einfaches, gutes Leben.“<br />

Seine neue Rolle nahm er an, weil er<br />

ein Vorbild sein wollte. Übernahm Verantwortung<br />

und hoffte, weder an ihr zu zerbrechen<br />

noch sie zu missbrauchen.<br />

Das mit dem Zerbrechen ist indes so<br />

eine Sache. Abd al Nasr setzt sich am frühen<br />

Abend erschöpft ins Wohnzimmer.<br />

Der Tag war lang. Er <strong>wir</strong>ft die letzten Holzscheite<br />

in einen Ofen. Seitdem es keinen<br />

Strom mehr gibt, schlagen Anwohner die<br />

Bäume Aleppos zu Brennholz. Sein Sohn<br />

Mustafa begrüßt den Vater, küsst ihm die<br />

Hand, nimmt ihm die Jacke ab und berichtet<br />

die neuesten Schreckensmeldungen:<br />

Eine Rakete traf ein Wohnviertel im<br />

benachbarten Stadtteil Hanano, eine Granate<br />

tötete neun Kinder in einer Gasse,<br />

und in Bustan al Qasr haben Anwohner<br />

die Leichen von 110 Männern aus dem<br />

Fluss Queiq gezogen. „Allen wurde in den<br />

Kopf geschossen, und sie hatten die Hände<br />

auf den Rücken gefesselt, Baba“, berichtet<br />

Mustafa. Wie ein irrwitziger Kontrast<br />

dringt von der Straße Kinderlachen in die<br />

Wohnung. Abd al Nasrs jüngster Sohn<br />

Qusai spielt mit Nachbarkindern eine Art<br />

Murmeln. Nur, dass sie keine Murmeln haben,<br />

sondern leere Patronenhülsen, die auf<br />

die Straße prasselten, als ein Regierungshubschrauber<br />

das Viertel beschoss. Ein<br />

Kampfjet donnert im Tiefflug über Tarik<br />

al Bab; Qusai kommt weinend in die Wohnung<br />

gelaufen und schmiegt sich an das<br />

Bein seines Vaters.<br />

Abd al Nasr ist ein großer, schwerer<br />

Mann mit gütigen Augen, die den<br />

massigen Mann zerbrechlich <strong>wir</strong>ken lassen.<br />

Ein frommer Moslem, gemäßigt,<br />

aber traditionell konservativ in seiner<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 69


| W e l t b ü h n e | S y r i e n<br />

Glaubensinterpretation, der sich ständig<br />

die Frage stellt, wie er Lehren und Werte<br />

aus dem 7. Jahrhundert in eine moderne<br />

Gesellschaft integrieren, Glaube und Vernunft<br />

vereinen kann. Nach dem Krieg, natürlich.<br />

Aber: „Allah hat mir darauf noch<br />

keine Antwort gegeben“, sagt er und legt<br />

den Kopf in den Nacken, schließt die Augen,<br />

schläft ein und schreckt hoch, als der<br />

vierjährige Qusai mit einem Satz auf seinen<br />

Bauch hüpft und „Assad ist ein Esel“<br />

und „Gott ist groß!“ ruft. Der Vater lächelt<br />

müde.<br />

Hochburg des Widerstands<br />

Aleppo 2013. Der Krieg hat sich festgebissen,<br />

das Leben atmet nur schwach in<br />

der Stadt: Aus den Basaren sind die Händler<br />

verschwunden, die Gewürze, Zuckergebäck,<br />

Datteln und Stoffe anbieten. In<br />

den alten verwinkelten Gassen der historischen<br />

Altstadt herrscht ein Häuserkampf,<br />

er schließt die Menschen ein in einem Kokon<br />

aus verirrten Kugeln, Raketen und<br />

Granaten. Zivilisten rennen über Straßen,<br />

an deren Ende Scharfschützen auf jeden<br />

schießen, der sich auf die andere Seite wagt.<br />

Sie kriechen durch in Wände geschlagene<br />

Löcher von Haus zu Haus.<br />

Seitdem die Rebellen den Krieg nach<br />

Aleppo getragen haben, hat sich die Stadt<br />

in eine Hochburg des Widerstands verwandelt.<br />

Die Regierungstruppen nehmen die<br />

von den Rebellen gehaltenen Viertel unter<br />

Dauerbeschuss. Die Zivilisten sind zwischen<br />

die Fronten geraten, Bauernopfer in<br />

einem Schachspiel, das im Patt festhängt.<br />

Der Tod kommt willkürlich und überall.<br />

Jede Besorgung, jeder Gang zum Bäcker,<br />

eine Fahrt ins nächste Viertel birgt unkalkulierbare<br />

Risiken und kann tödlich enden.<br />

Wer kann, flieht aus der Stadt. Wer<br />

Arbeit hat, arbeitet. Wer keine hat, döst<br />

die Zeit weg oder klaubt Informationen<br />

zusammen, die Leben retten können: Wo<br />

haben sich die Scharfschützen eingenistet,<br />

welche Straße ist sicher, wo gibt es Brot?<br />

Früher beschäftigten Abd al Nasr Fragen,<br />

die weniger existenziell waren. Angestaubt<br />

liegen jetzt seine Romane in einem<br />

Umzugskarton im Schlafzimmer: Der Graf<br />

von Monte Christo, Les Misérables, Krieg<br />

und Frieden, Dostojewski, Hemingway,<br />

Agatha Christie, Sir Arthur Conan Doyle<br />

– Luxus aus vergangenen Tagen. Heute<br />

fallen Bomben vom Himmel, und Kugeln<br />

zischen über seinen Kopf. Seine Familie<br />

ist vom Dauerbeschuss traumatisiert, die<br />

Söhne wachen nachts schreiend auf, die<br />

Tochter schläft manchmal tagelang nicht,<br />

und seine Frau traut sich nicht mehr auf<br />

die Straße. Ist Versöhnung unter diesen<br />

Umständen überhaupt möglich?<br />

„Wir haben keine Alternative, wenn <strong>wir</strong><br />

Syrien retten wollen“, erwidert Abd al Nasr.<br />

„Eine Kugel tötet schnell. Aber die<br />

Situation, in der <strong>wir</strong> uns befinden,<br />

foltert den Verstand, tötet von innen<br />

und vergiftet uns“<br />

Abd al Nasr<br />

Am nächsten Morgen vertreibt er mit dem<br />

zweiten Aufguss schwarzen Tees seine Müdigkeit<br />

für einen Moment. Schlecht schläft<br />

er seit langem – so viele Pläne im Kopf und<br />

so viele Gespenster in der Nacht. Wie genau<br />

Versöhnung machbar ist und was nach<br />

Assad kommt, weiß auch er nicht. Demokratische<br />

Wahlen? Ein gemäßigter islamischer<br />

Staat nach türkischem Vorbild? Scharia?<br />

Wer weiß. „Im Augenblick sind die<br />

Menschen damit beschäftigt zu überleben.<br />

Aber auf keinen Fall dürfen <strong>wir</strong> es zulassen,<br />

dass die Diktatur Assads von einer islamischen<br />

Diktatur abgelöst <strong>wir</strong>d, wie es die<br />

Islamisten wollen.“ Um ihn herum knallt<br />

und kracht es. Abd al Nasr lächelt zuversichtlich<br />

in den Morgen.<br />

es waren fünf brüder<br />

„Gott hat einen Plan für mich. Und ich<br />

muss ihn erfüllen“, sagt er. Doch dieser<br />

Plan lastet schwer auf seinen Schultern.<br />

Besonders wenn wie heute Kriegswitwen<br />

vor seiner Haustür stehen und er sie nach<br />

Hause schicken muss, weil er nichts mehr<br />

zu geben hat. Hat er Angst? Pause. Nachdenken.<br />

Dann ein schwaches Nicken.<br />

Um gleich darauf in den Toyota zu steigen,<br />

der ihn an die Front bringt, drei seiner<br />

vier Brüder kämpfen dort. Sein Fahrer<br />

ist geübt darin, den Tod zu umfahren,<br />

weiß, wo die Heckenschützen lauern, wo<br />

gerade gekämpft <strong>wir</strong>d. Auf der Rückbank<br />

sitzt Scheich Nasrs Leibwächter Yusuf, ein<br />

schmächtiger 22-Jähriger, der seine Kalaschnikow<br />

so fest umklammert, dass seine<br />

Knöchel weiß hervortreten.<br />

Das Viertel Karm al Dschabal, unweit<br />

der historischen Altstadt, <strong>wir</strong>d seit Monaten<br />

verbissen von halbwüchsigen Rebellen<br />

gehalten, oft mit nicht mehr als ein paar<br />

Patronen in den Magazinen ihrer Gewehre.<br />

Karm al Dschabal ist nach sechs Monaten<br />

Häuserkampf eine Ruinenlandschaft, in<br />

der die Scharfschützen auf beiden Seiten<br />

den Tagesrhythmus bestimmen und in der<br />

mal die Rebellen ein paar Meter gewinnen,<br />

mal die Regierungssoldaten. Zerschossene<br />

Fassaden, gespickt mit Einschusslöchern,<br />

eingestürzte Stockwerke, Schuttberge,<br />

ausgebrannte Geschäfte, entmenschtes<br />

Niemandsland. Immer wieder explodieren<br />

Granaten, und in den ausgebombten<br />

Straßenzügen rosten Panzerwracks und liegen<br />

Tote, die niemand bergen kann. Noch<br />

immer desertieren Regierungssoldaten und<br />

schließen sich der Freien Syrischen Armee<br />

an. Als ein junger Mann in Uniform über<br />

eine Straße läuft, durchschlägt eine Kugel<br />

seine Wade. Er krümmt sich am Boden, ein<br />

Rebell zieht ihn aus der Schusslinie.<br />

Der Familienbesuch ist gefährlich, drei<br />

Straßenzüge muss Abd al Nasr überqueren,<br />

die von feindlichen Heckenschützen<br />

gehalten werden. „Wir sehen uns auf der<br />

anderen Seite, Insch’allah“, sagt er, und <strong>wir</strong><br />

rennen geduckt hinüber. Wann immer es<br />

geht, besucht er seine Brüder, die eine andere<br />

Form des Widerstands gewählt haben<br />

als er. Zwei von ihnen arbeiten als Läufer<br />

und Kuriere, rennen von Einheit zu Einheit,<br />

die sich in den zerschossenen Wohnungen<br />

verschanzt haben, und versorgen<br />

sie mit Munition. Der andere ist Kommandeur<br />

eines kleinen Trupps, der Stellungen<br />

und Checkpoints der Regierung angreift,<br />

Hinterhalte plant oder Panzer beschießt.<br />

„Salam Aleikum“, begrüßen sich die Brüder,<br />

Friede sei mit dir.<br />

Sie sitzen in einem Eckhaus, das im toten<br />

Winkel der Scharfschützen liegt, um<br />

einen Ofen herum. Draußen peitschen<br />

70 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Lisa Simpson, Tochter<br />

Dahinter steckt<br />

immer ein kluger Kopf.<br />

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„Aha, was haben <strong>wir</strong> hier? Diebe also.<br />

Hmm. Hat man euch also erwischt“<br />

Abd al Nasr<br />

Abd al Nasr versucht für Recht und Ordnung zu sorgen und<br />

jugendliche Straftäter wieder auf den rechten Weg zu bringen<br />

Schüsse und explodieren Granaten. Drinnen<br />

trinken sie gezuckerten Tee, beten gemeinsam<br />

und reden über die Toten der<br />

vergangenen Tage. Dass den Kämpfern<br />

langsam die Munition ausgeht. Seine Brüder<br />

glauben, der Sieg sei nah. Aber das tun<br />

sie schon seit Monaten. Seit einigen Wochen<br />

setzt das Regime auch Scud-Raketen<br />

ein, um den Willen der Aufständischen zu<br />

brechen. Stehend ist diese Waffe so hoch<br />

wie ein Reihenhaus und kann ganze Wohnviertel<br />

zerstören. Hunderte Menschen sind<br />

durch sie in den vergangenen Wochen ums<br />

Leben gekommen. Immer mehr Väter beweinen<br />

ihre Söhne, Frauen ihre Ehemänner.<br />

70 000 Tote in zwei Jahren, wie soll<br />

ein Land das verkraften? Schweigen. Ratloses<br />

Schulterzucken. Zum Abschied schreibt<br />

Abd al Nasr mit einem Filzstift „Allah U<br />

Akbar“ an die Wand, Gott ist groß. „Es<br />

soll meine Brüder beschützen. Insch’allah.“,<br />

sagt er. „Insch’allah“, murmeln die Brüder.<br />

Es klingt hilflos.<br />

„Ich sehe, wie unsere jungen Männer<br />

kämpfen, aber ich sehe nicht, wie sie den<br />

Armen helfen“, flüstert er auf dem Rücksitz<br />

des alten Toyotas wie zu sich selbst. „Eine<br />

Kugel tötet schnell. Aber die Situation, in<br />

der <strong>wir</strong> uns befinden, foltert den Verstand,<br />

tötet von innen und vergiftet uns mit Angst<br />

und Hass.“<br />

Leben mit der Angst<br />

Der Krieg hat Abd al Nasr verändert. Er<br />

hat gelernt, seine Angst zu unterdrücken,<br />

das Grauen auf Distanz zu halten. Handlungsfähig<br />

zu bleiben und die Töne des<br />

Krieges zu unterscheiden. Am Klang kann<br />

er abschätzen, wie weit entfernt eine Granate<br />

explodiert, wie eine Rakete oder ein<br />

Panzer klingt. Der Kriegslärm ist zum<br />

Soundtrack seines Lebens geworden, Gefechte<br />

bestimmen seinen Tagesrhythmus.<br />

Seine Anzüge hat er gegen das schwarze<br />

Gewand der Dschalabija getauscht. Er<br />

kleidet sich jetzt so wie der Prophet vor<br />

1400 Jahren. Und er ließ sich einen Bart<br />

<strong>wachsen</strong>, wie es der Koran vorschreibt.<br />

Religion als Schutzschild gegen den Irrsinn.<br />

Traditionelle Kleidung als Ausdruck<br />

des Widerstands gegen die Diktatur der<br />

säkularen Herrscher in Damaskus. Und<br />

trotzdem, zum ersten Mal in seinem Leben<br />

fühle er sich frei, sagt er auf dem<br />

Rückweg von der Front. „Ich muss nicht<br />

mehr im Stillen rebellieren.“<br />

Die Anzüge hängen nun vakuumverpackt<br />

in einem Kleiderschrank. Das alte<br />

Leben versinkt im Dunstschleier der Erinnerung.<br />

Er kann es sich nicht leisten, an ihnen<br />

festzuhalten. Mit dem Krieg <strong>wachsen</strong><br />

seine Aufgaben. Warum tut er sich das alles<br />

an? „Weil ich andere zum Nachahmen<br />

anregen möchte. Nur so können <strong>wir</strong> als<br />

Gesellschaft überleben.“ Und die nächste<br />

Aufgabe wartet schon.<br />

In einem Zimmer ohne Fenster im<br />

Shaar-Distrikt von Aleppo dämmert am<br />

Nachmittag Hussein, ein junger Mann Anfang<br />

20, in einem winzigen Zimmer auf<br />

einer schimmeligen Matratze, stöhnt hin<br />

und wieder unter Schmerzen. Ein ausgemergelter<br />

Körper mit bandagierten Beinen,<br />

die dick wie Baumstämme sind, weil in ihnen<br />

Infektionen toben. Aus den schmutzigen<br />

Verbänden sickert Eiter. Rücken,<br />

Arme und Schultern sind wund gelegen,<br />

die Matratze hat sich in den Monaten der<br />

Bewegungslosigkeit in Haut und Fleisch<br />

gefressen.<br />

Im September vergangenen Jahres trafen<br />

ihn die Splitter einer Granate in beide<br />

Beine; stecken im Knie fest, im Oberschenkel,<br />

in den Füßen. Er wollte Gemüse für<br />

seine Mutter einkaufen. Ein ganz normaler<br />

junger Mann, kein Kämpfer, kein Rebell.<br />

Die Ärzte im einzigen Krankenhaus<br />

von Aleppo sagten seiner Mutter, dass sie<br />

nichts für ihn tun könnten, weil der für<br />

diese Art von Verletzungen spezialisierte<br />

Arzt geflohen sei. Er müsse in die Türkei<br />

gebracht werden oder an einen anderen<br />

Ort in Syrien, an dem es noch Ärzte gibt.<br />

Doch für den Transport hatte die Mutter<br />

kein Geld. Seitdem liegt er hier in diesem<br />

dunklen Loch.<br />

Ein Nachbar erzählte Scheich Nasr<br />

vor einigen Tagen vom Schicksal des jungen<br />

Mannes, seitdem hängt er an seinem<br />

Mobiltelefon, schimpft, wenn die Verbindung<br />

mal wieder für Stunden lahmgelegt<br />

ist. Drei Tage später hat er einen<br />

befreundeten Arzt in der Provinz Idlib<br />

in der Leitung und einen Krankenwagen<br />

organisiert.<br />

Mit Martinshorn braust die Ambulanz<br />

durch das Gassenge<strong>wir</strong>r Aleppos und dann<br />

hinaus aus der Stadt. Es ist eine lange und<br />

gefährliche Reise in die umkämpfte Provinz<br />

Idlib, auf Straßen, die von Scharfschützen<br />

beschossen und mit Granaten<br />

belegt werden. Zwei Mal schlagen Geschosse<br />

in der Nähe ein. Der Wagen rast<br />

72 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Fotos: Carsten Stormer, privat (Autor)<br />

mit 120 Stundenkilometern durch das syrische<br />

Flachland, um den Kugeln zu entkommen,<br />

umkurvt auf Schleichwegen<br />

Checkpoints der Regierung. Bei jedem<br />

Schlagloch schleudert es Hussein im Fond<br />

von der Trage, er brüllt vor Schmerzen. Er<br />

hat den Kopf im Schoß seiner Mutter vergraben,<br />

die beruhigend ihre Finger durch<br />

sein Haar gleiten lässt und ihm warme<br />

Cola einflößt, während Tränen über ihr<br />

Gesicht laufen.<br />

Bei Einbruch der Dunkelheit erreicht<br />

der Rettungstransport das geheime Krankenhaus,<br />

dessen Name aus Sicherheitsgründen<br />

nicht genannt werden darf, umgeben<br />

von Olivenhainen und weit weg von Assads<br />

Armee. Ein Chirurg sieht sich Husseins<br />

offene Wunden an und schüttelt den<br />

Kopf. Hier könne man nicht mehr viel tun<br />

außer Amputieren. Husseins Mutter bricht<br />

zusammen. Der Arzt verspricht ihr, den<br />

Sohn in einigen Tagen in ein Krankenhaus<br />

in der Türkei zu bringen.<br />

Erst spät nachts macht sich Abd al Nasr<br />

auf den Rückweg nach Aleppo. Statt eines<br />

Verwundeten sitzen nun bewaffnete Kämpfer<br />

im Wagen, zum Schutz, falls sie in eine<br />

Kontrolle der Regierung geraten. „Gott<br />

steh uns bei“, flüstert Scheich Nasr. Der<br />

Tod kommt meistens nachts.<br />

In der Nacht fliegt die syrische Luftwaffe<br />

wieder Angriff um Angriff. Die Rebellen<br />

schießen mit Mörsern auf Stellungen<br />

der Regierung und versuchen Flugzeuge<br />

mit schweren Maschinengewehren vom<br />

Nachthimmel zu holen. Ein Zwiegespräch<br />

der Waffen, stundenlang. Abd al Nasr hat<br />

die ganze Nacht kein Auge zugetan. Aus<br />

müden Augen blickt er auf sein Frühstück,<br />

schaufelt Fladenbrot und Humus in sich<br />

hinein, lächelt seine Söhne an. Plötzlich ein<br />

Zischen, gefolgt von einer Explosion. Staub<br />

und Gesteinsbrocken dringen durch das<br />

geöffnete Fenster. Abd al Nasr <strong>wir</strong>ft sich<br />

schützend vor seine Kinder. Eine Granate<br />

hat das Nachbarhaus getroffen, keine fünf<br />

Meter entfernt, und das oberste Stockwerk<br />

weggerissen. „La ilaha illa Allah“, flüstert<br />

er. Es gibt keinen Gott außer Gott. Kurz<br />

darauf verlässt er seine Wohnung. Sein Lächeln<br />

ist verschwunden.<br />

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Neuer Jungfernstieg 9 –14, 20354 Hamburg<br />

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Carsten Stormer<br />

ist fünfmal nach Syrien gereist.<br />

Vier Wochen lang hat er Scheich<br />

Nasr in Aleppo begleitet<br />

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| W e l t b ü h n e | E i n J a h r F r a n ç o i s H o l l a n d e<br />

Goldmedaille in Schwermut<br />

Frankreichs Präsident ist unbeliebt, der internationale Einfluss perdu und der<br />

Citroën DS von den Straßen verschwunden. Aber die Depression wurzelt tiefer<br />

von Jacques Pilet<br />

I<br />

ch liebe mein Frankreich, ich liebe<br />

die Franzosen“, hatte François Hollande<br />

bei seinem Amtsantritt vollmundig<br />

erklärt. Seine öffentliche<br />

Liebeserklärung ist nach einem anfänglichen<br />

Strohfeuer unerwidert geblieben.<br />

Die Franzosen wenden sich desillusioniert<br />

ab von ihrem Präsidenten. Ihn<br />

machen sie für die höchste Arbeitslosenquote,<br />

die es je gab, verantwortlich, für die<br />

stagnierende Wirtschaft, die <strong>wachsen</strong>den<br />

Staatsschulden und für das schwindende<br />

politische Gewicht des Landes. Ist das fair,<br />

ist Hollande an allem schuld? Oder liegen<br />

die Ursachen des Niedergangs womöglich<br />

viel tiefer?<br />

Mögen die Franzosen in vielem ins<br />

Hintertreffen geraten sein, in einem sind<br />

sie unübertroffen: im Pessimismus. 70 Prozent<br />

malen die Zukunft der französischen<br />

Gesellschaft schwarz. Die Nation <strong>wir</strong>kt als<br />

werde sie von Depressionen heimgesucht.<br />

Der ungarische Denker István Bibó<br />

(1911 – 1979) konstatierte bereits vor<br />

dem Zweiten Weltkrieg, wie „Seelenzustände,<br />

die mit Neurosen und Hysterien<br />

beim Menschen verwandt sind, im Leben<br />

ganzer Nationen auftauchten und deren<br />

Politik entscheidend mitbestimmten“.<br />

Damals bezog er sich auf das Deutschland<br />

und die osteuropäischen Länder der zwanziger<br />

Jahre. Heute lesen sich seine Zeilen<br />

wie eine Analyse des heutigen Frankreich.<br />

Die Ursachen von Depressionen sind<br />

vielschichtig. Viele Menschen haben eine<br />

Menge Ärger und bleiben dennoch bei<br />

Laune. Andere sind von materiellen Sorgen<br />

weitgehend verschont und leiden unter<br />

Melancholie. Ja, Frankreich hat Probleme.<br />

Aber erklärt das allein, warum Franzosen<br />

sich als pessimistischer bezeichnen als Iren<br />

oder Belgier, Vietnamesen oder Ghanaer?<br />

„Bei den Franzosen herrscht im Unterschied<br />

zu anderen Ländern ein Gefühl des<br />

Niedergangs“, erklärt Gaël Sliman vom<br />

Meinungsforschungsinstitut BVA, das der<br />

französischen Bevölkerung die Goldmedaille<br />

in Schwermut verliehen hat.<br />

Indessen gilt es, wie in der Psychoanalyse,<br />

tief zu bohren. Den Ursprung kollektiver<br />

Hysterie sah schon István Bibó in einer<br />

„Verkennung der Wirklichkeit“, in „übersteigerter<br />

Selbsteinschätzung“ und „unrealistischen,<br />

unverhältnismäßigen Reaktionen auf<br />

Einflüsse aus der Umgebung“. Dies trifft<br />

recht gut die Gemütsverfassung der französischen<br />

Gesellschaft, ihre lustlose, reizbare, resignierte<br />

und zugleich aufgeregte Stimmung.<br />

Auch auf die Last der Geschichte wies<br />

der scharfsichtige Ungar hin, auf verlorene<br />

Kriege und schicksalhafte Enttäuschungen.<br />

Frankreich leidet in der Tat an seinen Erinnerungen.<br />

Lange hat das nationale Ego<br />

dem Land Flügel verliehen. „Vaterland<br />

der Menschenrechte“, „Weltmacht“, dann<br />

„Motor Europas“. Die heutige Wirklichkeit<br />

ist weniger ruhmreich. Von der früheren<br />

Überschätzung der eigenen Rolle ist Frankreich<br />

in bittere Desillusion verfallen.<br />

Man muss weit zurückgehen. Bis zur Niederlage<br />

von 1870 gegen Preußen. Bis zum<br />

Ersten Weltkrieg, den Frankreich zwar gewann,<br />

aber erst nach einem grauenvollen<br />

Gemetzel, das die Nation ausblutete, und<br />

letztlich dank des Eingreifens der USA, das<br />

in den französischen Geschichtsbüchern<br />

nur sehr zurückhaltend erwähnt <strong>wir</strong>d.<br />

Auch die Niederlage von 1940 und die<br />

deutsche Besatzung haben schwere Traumata<br />

hinterlassen. Die Scham angesichts<br />

Karikatur: Burkhard Mohr; Foto: Privat (Autor)<br />

74 <strong>Cicero</strong> 6.2013


der Kollaboration des Staates mit den Nazis<br />

wurde zwar offen behandelt. Doch bis<br />

heute schwingt eine lange vom Gaullismus<br />

und vom Kommunismus genährte Legende<br />

in den Erinnerungen mit. Die Rolle<br />

der durchaus heroischen Résistance war in<br />

Wirklichkeit längst nicht so entscheidend<br />

für den Kriegsverlauf. Der französische Widerstand<br />

war schwächer, hilfloser als in Filmen<br />

und Dokumentationen dargestellt, in<br />

denen er bis heute verherrlicht <strong>wir</strong>d.<br />

Auch die Nachkriegsjahre hatten ihre<br />

dunklen Seiten, die unausgesprochen blieben.<br />

Von 1944 an verfolgte General de<br />

Gaulle neben dem Wiederaufbau des Landes<br />

wie besessen zwei weitere Ziele: die<br />

Eindämmung des angloamerikanischen<br />

Einflusses und die Rekonstruktion des<br />

französischen Kolonialreichs.<br />

Dort aber wurde der Wunsch<br />

nach Unabhängigkeit immer<br />

lauter. Demonstrationen<br />

wurden im Blut erstickt.<br />

In Setif in Algerien fanden<br />

nach dem 8. Mai 1945<br />

Tausende Algerier den Tod.<br />

Am 29. März 1947 kam es<br />

auf Madagaskar zu Massakern.<br />

Es folgte die schwierige<br />

Rückkehr nach Indochina.<br />

Selbst in Syrien, das 1920<br />

durch ein Völkerbundsmandat<br />

unter französische Kontrolle<br />

gelangt war, brachen Kämpfe aus. Im<br />

Mai 1945 bombardierte die französische<br />

Armee Damaskus, Homs und Hama, bevor<br />

sie unter dem Druck der Rebellen sowie<br />

der Briten und Amerikaner das Land<br />

verlassen musste. Ein völlig vergessenes Kapitel<br />

der jüngeren französischen Geschichte.<br />

Von den Unabhängigkeitskriegen ganz<br />

zu schweigen. Von der Niederlage bei Dien<br />

Bien Phu in Vietnam (1954) bis zum verlorenen<br />

Kampf um Französisch-Algerien<br />

(1954 – 1962) hat die französische Entkolonialisierung<br />

unendlich schmerzlichere<br />

Spuren hinterlassen als der Rückzug der<br />

Briten aus ihrem Empire.<br />

Doch die nächste Phase, geprägt von<br />

der starken Persönlichkeit de Gaulles, belebte<br />

die Hoffnungen der Franzosen erneut.<br />

Auf die Wiederversöhnung mit Deutschland<br />

reagierte man erleichtert. Den Aufbau<br />

Europas verstand man als Schritt nach<br />

vorne, vielleicht sogar als Ersatz für vergangene<br />

Größe. Dann erlebte sich das<br />

Land unter de Gaulle als stolzer Besitzer<br />

Der Weg<br />

aus der<br />

Depression<br />

führt über<br />

die Auseinandersetzung<br />

mit der<br />

Vergangenheit<br />

der Atombombe, die der Staatschef als Zeichen<br />

der Zugehörigkeit Frankreichs zum<br />

Club der Mächtigen sah. 50 Jahre später<br />

verblasst eine weitere Illusion.<br />

Die Fortsetzung ist bekannt. Deutschland<br />

wurde größer, gewann an Stärke, behauptete<br />

sich besser auf der internationalen<br />

Bühne. In Frankreich löste dies nicht Eifersucht<br />

oder Rache aus, sondern Bitterkeit.<br />

Denn gleichzeitig erstarrte die französische<br />

Gesellschaft in einem kostspieligen Modell<br />

und musste mit ansehen, wie die nationale<br />

Industrie zu bröckeln begann. Der Absturz<br />

der Concorde, jenes kühnen, prächtigen<br />

Vorzeigeobjekts der französischen Luftfahrt,<br />

nahm symbolische Dimensionen an.<br />

Selbst der legendäre, in der ganzen Welt begehrte<br />

Citroën DS ist heute verschwunden.<br />

Zum Glück haben in Sachen<br />

Prestige die Weltraumrakete<br />

Ariane und der europäische<br />

Airbus die Nachfolge angetreten.<br />

Doch wo sind die<br />

neuen Flaggschiffe?<br />

Die Eurokrise warf ein<br />

schonungsloses Licht auf<br />

die Schwächen der Nation.<br />

Nun schwenkte Frankreich<br />

von übersteigertem Stolz zu<br />

zermürbender Selbstkritik<br />

über. Ein Auf und Ab, das<br />

Psychologen gut kennen.<br />

So braucht es denn<br />

schon fast Mut und Nonkonformismus,<br />

um von Frankreichs Trümpfen zu sprechen.<br />

Beides hat der Essayist und Geograf<br />

Emmanuel Todd, der gemeinsam<br />

mit Hervé Le Bras ein Buch gegen den<br />

Strom geschrieben hat. „Le Mystère français“<br />

(„Rätselhaftes Frankreich“) lautet<br />

die mit Ziffern und Landkarten gespickte<br />

Studie, die ein eher positives Bild Frankreichs<br />

zeichnet. Sie hebt die beachtlichen<br />

Anstrengungen hervor, die dort in den vergangenen<br />

Jahrzehnten in der Bildung unternommen<br />

wurden (40 Prozent der Franzosen<br />

haben studiert), die Emanzipation<br />

der Frauen, die Garantie medizinischer<br />

Versorgung für alle Bürger. Zudem weist<br />

die soziologische Untersuchung die Stabilität<br />

familiärer Strukturen sowie des kulturellen<br />

und religiösen Erbes nach.<br />

Die Leier, dass „alles den Bach heruntergeht“,<br />

hält den Fakten nicht stand. „Die<br />

Krise macht uns pessimistisch“, sagt Todd.<br />

„Dabei vergisst man, wie jenes angeblich<br />

so wunderbare Frankreich der ,Trente<br />

Glorieuses‘, der glorreichen 30 Jahre zwischen<br />

1945 und 1975, aussah … Auch<br />

unsere Zeit hat ihre Leiden, doch sind es<br />

Leiden einer wesentlich komplizierteren<br />

Welt. So schlecht geht es Frankreich gar<br />

nicht, es könnte leicht wieder auf die Beine<br />

kommen.“<br />

Was braucht das Land, damit dies gelingt?<br />

Um das Handikap einer leidvollen<br />

Geschichte zu überwinden, <strong>wir</strong>d Frankreich<br />

nichts anderes übrig bleiben, als<br />

echte Vergangenheitsbewältigung zu betreiben<br />

und sich von der Last der Mythen<br />

zu befreien. Bei seinem Algerienbesuch anlässlich<br />

des 50-jährigen Jubiläums der algerischen<br />

Unabhängigkeit hat François Hollande<br />

Schritte in diese Richtung getan. Er<br />

hat die „blutige Niederschlagung“ der Demonstration<br />

für die algerische Unabhängigkeit<br />

am 17. Oktober 1961 eingestanden,<br />

bei der Dutzende von Algeriern in<br />

die Seine geworfen wurden.<br />

Der Weg aus der Depression führt<br />

über die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit,<br />

aber auch über Selbstachtung<br />

und einen versöhnlichen Blick auf die<br />

Welt. „Die Franzosen sehen sich als eine<br />

nur vorübergehende Glücksinsel in einer<br />

Welt voller Katastrophen. Frankreich verfügt<br />

über viele Fähigkeiten zur Bewältigung<br />

seiner Probleme, aber es sieht sie nicht“,<br />

resümiert der Generaldirektor der Welthandelsorganisation,<br />

Pascal Lamy. Dieses<br />

anspruchsvolle Volk sehne sich nach einer<br />

neuen Perspektive, wartete auf ein sich andeutendes<br />

Zukunftsprojekt. Auf eine neue<br />

Erfolgsgeschichte.<br />

Doch weder Linke noch Rechte sind<br />

derzeit in der Lage, sich ein starkes, modernes<br />

Frankreich von morgen vorzustellen.<br />

Dies birgt Gefahren, da immer mehr<br />

ratlose Bürger sich den Verfechtern vergangener<br />

Ideale zuwenden, dem Front National<br />

oder der Linksfront „Front de gauche“.<br />

Beide Extreme idealisieren die Geschichte<br />

in jeweils entgegengesetzter Richtung und<br />

nutzen sie zur Beschwichtigung der Bürger.<br />

Damit aber vernebeln sie eine Zukunft, die<br />

so schlecht gar nicht aussieht.<br />

Übersetzung: Maria Hoffmann-Dartevelle<br />

Jacques pilet<br />

ist Journalist und Frankreich-<br />

Experte des Ringierverlags<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 75


| W e l t b ü h n e | F r o n t N a t i o n a l<br />

„Die NPD ist<br />

rechtsextrem,<br />

<strong>wir</strong> nicht“<br />

Die Vorsitzende der Front National polarisiert wie<br />

kaum eine andere Politikerin. <strong>Cicero</strong> befragte<br />

Marine Le pen zu Populismus, Nationalismus und<br />

ihrer Angst vor Frankreichs „Überfremdung“<br />

Frau Le Pen, wann gedenken Sie in den<br />

Élysée-Palast einzuziehen?<br />

Ziemlich bald.<br />

Was veranlasst Sie zu dieser Annahme?<br />

Die öffentliche Meinung entwickelt sich<br />

sehr rasch. Als ich vor zwei Jahren in Italien<br />

war, gab es dort keine einzige euroskeptische<br />

Partei – jetzt stellen sie schon<br />

die Mehrheit. In Frankreich dominiert<br />

der Front National nicht mehr nur Themen<br />

wie Immigration oder Sicherheit,<br />

sondern auch Euro und Wirtschaft.<br />

Sind Sie also die große Profiteurin der<br />

Krise?<br />

Wir sind nicht an der Krise schuld – anders<br />

als die Regierungsparteien, die uns<br />

in den Schlamassel geritten haben. Wir<br />

gewinnen an Glaubwürdigkeit.<br />

„In Wahrheit kosten die Immigranten Milliarden. Wie soll es auch<br />

anders sein, wenn sie nicht arbeiten?“: Marine Le Pen<br />

Drei Frankreichflaggen prangen neben ihrem<br />

Chefsessel. Marine Le Pen ist Nationalistin<br />

bis in ihre Seele – und bis in ihr<br />

Büro in Paris-Nanterre, wo sie zum Interviewtermin<br />

empfängt. Die 44-jährige Anwältin<br />

hat vor zwei Jahren die Leitung<br />

des Front National von ihrem Vater Jean-<br />

Marie Le Pen übernommen und versucht<br />

seither, der Partei einen präsentableren, populistischen<br />

Anstrich zu geben. Seit ihrem<br />

Spitzenresultat (18 Prozent der Stimmen)<br />

bei der Präsidentenwahl 2012 ist sie<br />

aus der politischen Debatte ihres Landes<br />

nicht mehr wegzudenken. 32 Prozent der<br />

Franzosen können sich laut einer Umfrage<br />

heute mit ihren Ideen anfreunden.<br />

Wirklich? Populisten wie Sie oder Beppo<br />

Grillo in Italien sind nicht gerade das, was<br />

man seriöse Politiker nennen würde.<br />

Was heißt schon Populisten? Der Begriff<br />

soll uns als unseriös, verrückt abtun.<br />

Aber ich bin damit einverstanden, wenn<br />

Populismus „Regierung durch das Volk<br />

und für das Volk“ meint.<br />

Bevorzugen Sie das Etikett rechtsextrem,<br />

wie ihr Vater Jean-Marie Le Pen, der die<br />

Gaskammern der Nazis verharmloste?<br />

Der Front National steht für die Nation<br />

und gegen die Globalisierung ein. Das ist<br />

weder rechts noch links.<br />

Das scheinen nicht alle zu denken: Zu<br />

Ihren Wahlerfolgen gratulieren Ihnen stets<br />

rechtsextreme Parteien wie etwa die deutsche<br />

NPD.<br />

Die NPD will sich an unseren Erfolg anhängen.<br />

Diese Partei ist unglaubwürdig,<br />

fast ohne Stimmen. Sie ist rechtsextrem,<br />

<strong>wir</strong> nicht.<br />

Das Programm der NPD gleicht aber dem<br />

Ihren: gegen Immigration, Islam, EU, die<br />

Weltfinanz und gegen die Eliten …<br />

Die NPD hat es nie geschafft, aus ihrer<br />

Ecke zu kommen. Wir pflegen keine Beziehungen<br />

zu ihr. Wir fühlen uns eher den<br />

neuen Kräften nahe, etwa der euroskeptischen<br />

„Alternative für Deutschland“. Deren<br />

Problem ist, dass die Meinungsfreiheit<br />

in Deutschland seit dem Krieg nicht mehr<br />

total ist. Für die Nation und gegen die EU<br />

Foto: Chamussy/ddp images/Sipa<br />

76 <strong>Cicero</strong> 6.2013


einzustehen, fällt den Deutschen schwer,<br />

obwohl das ein ehrenwertes Anliegen ist.<br />

Sie geben sich präsentabel und klopfen<br />

keine rassistischen Sprüche wie einst Ihr<br />

Vater. Doch weisen Sie auch rassistische<br />

Wähler zurück?<br />

Durchaus. Rassisten, die in den Front<br />

National kommen, haben sich in der Partei<br />

geirrt. Wir definieren uns nicht über<br />

die Rasse oder die Hautfarbe, sondern<br />

nach der Nationalität.<br />

Also nach Franzosen und anderen – und<br />

Letztere wollen Sie vor die Tür setzen.<br />

Wir wollen keine Leute aufnehmen, denen<br />

<strong>wir</strong> keine Arbeit anbieten und die<br />

<strong>wir</strong> nicht unterhalten können. Dann bilden<br />

sie Ghettos, und die sind nicht multikulturell,<br />

sondern multikonfliktuell.<br />

Für Sie sind immer die anderen an der<br />

Misere Frankreichs schuld – die Ausländer<br />

und die Moslems, Brüssel und die<br />

Handelskonkurrenten.<br />

Als Französin verteidige ich die Freiheit<br />

und die Souveränität Frankreichs. Aber<br />

ich habe keine Angst vor den anderen,<br />

ich bin für transnationale Kooperationen,<br />

wie Airbus oder die Ariane-Trägerrakete.<br />

Das funktioniert, im Unterschied<br />

zur Europäischen Sowjetunion. Im EU-<br />

Gefängnis dürfen <strong>wir</strong> gerade noch die<br />

Farbe des Fußabtreters bestimmen. Das<br />

will ich nicht.<br />

Sprechen <strong>wir</strong> vom Kern jeder heutigen<br />

Politik – der Wirtschaft. Sie machen den<br />

Euro für so ziemlich alle Probleme Frankreichs<br />

verantwortlich. Deutschland zieht<br />

sich aber mit der gleichen Währung gut<br />

aus der Affäre.<br />

Das hat spezifische Gründe. Deutschlands<br />

Exporte profitierten von der Abwertung<br />

des Euro gegenüber der Mark,<br />

während der Euro für Frankreich zu stark<br />

war. Zudem kann Deutschland viele Produkte<br />

im osteuropäischen „Hinterland“<br />

billig herstellen lassen. Frankreich setzte<br />

dagegen, um sich günstig zu industrialisieren,<br />

fälschlicherweise auf eine massive<br />

Einwanderung.<br />

In Deutschland leben auch Millionen<br />

Türken.<br />

Deutschland offeriert aber den illegal<br />

Zugereisten keine 100-prozentige<br />

Sozialhilfe und Gratisbildung, wie das<br />

Frankreich tut.<br />

Konjunkturell sind die Immigranten insgesamt<br />

ein Nettogewinn für Frankreich.<br />

Das behaupten unsere Gegner mit ihren<br />

Berichten. Doch die basieren auf falschen<br />

Zahlen und Annahmen, etwa einer Arbeitslosigkeit<br />

von 5 Prozent. In Wahrheit<br />

kosten die Immigranten Milliarden. Wie<br />

soll es auch anders sein, wenn sie nicht<br />

arbeiten?<br />

Die meisten arbeiten. Was wäre das<br />

Asylland Frankreich ohne Immigranten wie<br />

Zinedine Zidane, Charles Aznavour, Yves<br />

Montand?<br />

Bloß kommen auf einen Zidane hunderttausend<br />

andere, die ohne Arbeit in<br />

Frankreich leben und für die <strong>wir</strong> aufkommen<br />

müssen. Gehen Sie mal nach Barbès<br />

(ein Pariser Einwandererviertel, die Red.)!<br />

Wenn Sie lebend zurückkommen, werden<br />

Sie eingesehen haben, dass dort Leute leben,<br />

die nicht einmal Französisch sprechen,<br />

die ihren Platz nicht finden und arbeitslos<br />

sind.<br />

Das ist auch die Schuld einer Politik, welche<br />

die Banlieues um Paris ausgrenzt und<br />

verlottern lässt.<br />

Selbst wenn man ganz Frankreich urbanisieren<br />

würde, ließe sich nicht ganz Afrika<br />

aufnehmen. Irgendwo muss man eine<br />

Grenze ziehen. Wir haben fünf Millionen<br />

Arbeitslose, neun Millionen Arme, drei<br />

Millionen Leute in prekärer Wohnlage.<br />

Was berechtigt uns, noch mehr Leute ins<br />

Land zu lassen? Deshalb wollen <strong>wir</strong> den<br />

Zuzug von Immigranten von jährlich<br />

200 000 auf 10 000 senken.<br />

Sie geben vor, die „kleinen Leute“ zu<br />

verteidigen. Diese würden aber als Erste<br />

leiden, wenn Sie aus dem Euro aussteigen<br />

und Europa in eine noch schwerere Krise<br />

stürzen würden.<br />

Warum das? Frankreich lebte ganz gut<br />

mit dem Franc. Der Euro funktioniert<br />

hingegen nicht. Rettungspläne verschlingen<br />

Hunderte von Milliarden, die Sozialkosten<br />

sind extrem hoch, und jetzt<br />

beginnen sich die Europäer auch noch<br />

zu zerstreiten. Angela Merkel kann sich<br />

nur noch mithilfe der Nationalgarde in<br />

Südeuropa bewegen. Haben die Deutschen<br />

<strong>wir</strong>klich Lust, es so weit kommen<br />

zu lassen? Wollen sie nach der Versöhnung<br />

Europas wieder als dessen Häscher<br />

dastehen?<br />

Ein Euro-Ausstieg hätte eine massive Abwertung,<br />

Inflation und Rezession zur Folge.<br />

Also höhere Preise und weniger Jobs für<br />

die kleinen Leute, denen Sie das Paradies<br />

verheißen.<br />

Man darf natürlich nicht brutal zu den<br />

nationalen Währungen zurückkehren;<br />

das gehört organisiert. Aber es ist auf jeden<br />

Fall besser, als wenn Zypern, dann<br />

Griechenland und dann Slowenien unter<br />

Zwang und in Panik den Euro über Bord<br />

werfen.<br />

Der Front National vertritt heute zum Teil<br />

linksextreme Positionen: Der Sozialist<br />

François Hollande, der die Millionäre<br />

zu 75 Prozent besteuern will, ist für Sie<br />

beispielsweise ein Ultraliberaler.<br />

Die 75-Prozent-Steuer ist Hollandes<br />

Alibi. Es soll verbergen, dass er sich von<br />

der internationalen Finanz unterjochen<br />

lässt und deren Austeritätskurs befolgt.<br />

Hollande sagte im Wahlkampf, er werde<br />

gegen die Finanzwelt „Krieg führen“ – jawohl,<br />

mit einem Zahnstocher!<br />

Sie wettern auch gegen die Globalisierung.<br />

Wo liegt da der Unterschied zu den von Ihnen<br />

verhöhnten „Sozialo-Kommunisten“?<br />

Jean-Luc Mélenchon, der Anführer der<br />

französischen Linksfront, ist für eine „andere“<br />

Globalisierung, ich bin gegen die<br />

Globalisierung an sich.<br />

Immerhin stimuliert der Freihandel auch<br />

das Wirtschaftswachstum, das heute den<br />

Kern jeder Wirtschaftspolitik ausmacht.<br />

Freihandel ist Unsinn. Er kann nur<br />

funktionieren zwischen Ländern, die<br />

ähnliche Sozial- und Umweltstandards<br />

haben, sonst <strong>wir</strong>d es Dumping. Um<br />

die französische Produktion zu schützen,<br />

würde ich gegenüber Ländern wie<br />

China einen intelligenten Protektionismus<br />

betreiben.<br />

Und sofort Vergeltungsmaßnahmen<br />

auslösen?<br />

Alle schützen sich, die Kanadier, die<br />

Amerikaner, Brasilianer, Chinesen. Nur<br />

<strong>wir</strong> Europäer tun nichts.<br />

Das Gespräch führte Stefan Brändle<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 77


| K a p i t a l<br />

Sprosse für Sprosse<br />

Fritz Straub hat die Hellerauer Werkstätten zum Luxusausstatter für Yachten und Firmenzentralen gemacht<br />

von Stefan Locke<br />

A<br />

uf zwei Holzböcken lagert<br />

eine polierte Platte wie ein Stillleben.<br />

Jugendstil, geschwungener<br />

Rahmen, Blumen in einer Vase. Doch es<br />

ist kein Gemälde, sondern feinstes australisches<br />

Lacewood, helle Flecken mit dunklen<br />

Schatten, handgeschliffen, zehn Mal lackiert.<br />

Das Kunstwerk ist eine von mehreren<br />

Türen für eine 180-Meter- Yacht – der bisher<br />

größte Auftrag in der Hellerauer Firmengeschichte.<br />

Fritz Straub, Chef der<br />

Deutschen Werkstätten, erzählt das nicht<br />

ohne Genugtuung. Vor mehr als einem<br />

Jahrzehnt begann das kleine Unternehmen<br />

im Norden von Dresden, sich neben Designmöbeln<br />

auf den Ausbau von Yachten<br />

zu spezialisieren. Heute macht die Sparte<br />

40 Prozent des Umsatzes aus.<br />

Schildert Straub den Weg der vergangenen<br />

zwei Jahrzehnte, verwendet er gern<br />

das Bild einer Leiter, bei der immer die<br />

Sprosse, auf der das Unternehmen gerade<br />

stand, wegbrach und es sich eine weiter<br />

nach oben retten musste. Er selbst stand<br />

1992 zum ersten Mal auf dem Gelände der<br />

Deutschen Werkstätten. Den Namen hatte<br />

Straub da noch nie gehört. „Wem seine<br />

Werkstätten?“, fragte er die Treuhand. „Das<br />

ist so wie Bauhaus“, lautete die Antwort.<br />

Vorher war Straub knapp 30 Jahre in<br />

der Pharmaindustrie tätig, für Hoechst in<br />

Bangkok, Karatschi und Barcelona gewesen.<br />

Mit 49 Jahren fing er noch mal ganz neu an,<br />

weil ihn die Hellerauer Historie faszinierte.<br />

Die Firma hat eine lange Tradition.<br />

Gründer Karl Schmidt begann Anfang<br />

des 20. Jahrhunderts, elegante Möbel im<br />

minimalistischen Design zu fertigen, die<br />

Geburtsstunde des Mythos Hellerau. Der<br />

überstand auch 40 Jahre Sozialismus, in<br />

denen hier Spanplatten mit Furnier beklebt<br />

wurden.<br />

In der Abteilung Sonderanfertigungen<br />

arbeiteten auch zu DDR-Zeiten<br />

80 Tischler, die die Dresdner Semperoper,<br />

das Gewandhaus in Leipzig und<br />

Regierungsgebäude in Ostberlin ausbauten.<br />

Zusammen mit diesen Spezialisten<br />

wollte Straub vom Aufbauboom nach der<br />

Wende profitieren. Aber die Standardabsage<br />

der westdeutschen Planer lautete: „Wir<br />

machen doch nichts mit Ostfirmen!“<br />

Auch der Architekt Peter Kulka lehnte<br />

ab, als sich die Werkstätten um den Bau<br />

einer Akustikwand, die im<br />

Sächsischen Landtag Plenarsaal<br />

und Foyer trennen<br />

sollte, bewarben. Straub<br />

blieb hartnäckig und weit<br />

unter dem Preis der Wettbewerber.<br />

Seine besten Tischler<br />

schufen eine geschwungene<br />

Holzwand, die der Firma<br />

zum Durchbruch verhalf.<br />

Die Werkstätten bauten<br />

das Auswärtige Amt in Berlin,<br />

das Willy-Brandt-Haus<br />

und die Dresdner Bank am<br />

Pariser Platz aus, experimentierten<br />

mit ungewöhnlichen<br />

Formen und integrierten<br />

neue Materialien<br />

wie Leder, Metall, Pergament<br />

und Stein für Repräsentanzen<br />

der Telekom und<br />

Vorstandsetagen von Eon,<br />

Tui und KfW.<br />

„Aber dieses Haus hat<br />

mehr verdient“, sagt Straub. Die nächste<br />

Sprosse auf der Leiter war ein Auftrag der<br />

Deutschen Bahn, die mit dem Architekten<br />

Meinhard von Gerkan den Businesszug<br />

„Metropolitan“ entwickelte – Birnbaumholz,<br />

schwarzes Leder, kratzfeste Oberflächen.<br />

Die Bahn ließ dann nur zwei Züge<br />

bauen, finanziell ein herber Verlust, aber<br />

gut investiertes Lehrgeld. Sie wussten jetzt,<br />

wie man bewegte Räume ausbaut. Davon<br />

überzeugte Straub auch die Lürssen-Werft<br />

in Bremen. Seit 2001 haben die Hellerauer<br />

zusammen mit den Bremern 17 Yachten<br />

gefertigt, für Milliardäre aus Russland, den<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

„Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht<br />

haben? Den<br />

Mittelstand!“, sagt<br />

selbst der Deutsche-<br />

Bank-Chef Anshu<br />

Jain. <strong>Cicero</strong> weiß das<br />

schon länger und stellt<br />

den Mittelstand in<br />

einer Serie vor. Die<br />

bisherigen Porträts aus<br />

der Serie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

USA oder den Vereinigten Arabischen<br />

Emiraten.<br />

Namen nennt Straub nicht, Diskretion<br />

gehört zum Geschäft. Ohnehin ist das<br />

Geschäft mit den Superreichen schwierig,<br />

weil äußerst schwankungsanfällig. In der<br />

Finanzkrise brach auf einmal die Hälfte<br />

des Umsatzes von 40 Millionen Euro weg.<br />

Inzwischen hat sich<br />

das Unternehmen von diesem<br />

heftigen Schock erholt.<br />

Gerade in Russland, wo die<br />

Hellerauer mit 25 Mitarbeitern<br />

in der Moskauer Filiale<br />

vertreten sind, investieren<br />

vermögende Kunden wieder<br />

gerne in deutsche Wertarbeit<br />

und edle Materialien.<br />

Die Fertigung mit<br />

200 Mitarbeitern aber bleibt<br />

in Dresden-Hellerau, hier<br />

<strong>wir</strong>d entwickelt, konstruiert,<br />

gehobelt, geschliffen und lackiert<br />

– Eichenbibliotheken<br />

für Villen in London, Möbel<br />

für die Tate Britain, die<br />

Inneneinrichtung für ein<br />

Chalet in St. Moritz oder<br />

der Ausbau der Privatwohnung<br />

eines Pariser Galeristen.<br />

Auch aus China gibt es<br />

erste Anfragen.<br />

Die Leiter <strong>wir</strong>d immer stabiler, aber<br />

Straub will noch höher hinaus: „Kann gut<br />

sein, dass <strong>wir</strong> noch in diesem Jahr in den<br />

Flugzeugbau einsteigen.“ Gespräche mit<br />

der Fluglinie Air New Zealand, die Boeing-<br />

Business-Jets für Privatleute ausbaut, laufen<br />

bereits. Auf der obersten Sprosse wähnt<br />

sich der 70-Jährige noch lange nicht.<br />

Stefan Locke hörte von<br />

den Hellerauer Werkstätten erstmals<br />

als DDR-Kind, wo sich<br />

Er<strong>wachsen</strong>e den Namen immer<br />

nur ehrfürchtig zuraunten<br />

Fotos: Christoph Busse für <strong>Cicero</strong>, Privat (Autor)<br />

78 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Nach der Wende<br />

kaufte Fritz Straub<br />

die Firma – seine<br />

Kunden: Telekom,<br />

Tui und russische<br />

Milliardäre<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 79


| K a p i t a l<br />

„Familie heiSSt kündigung“<br />

Für ihre Söhne verließ Anne-Marie Slaughter, Ex-Beraterin von Hillary Clinton, ihren Top-Job in Washington<br />

F<br />

rau Slaughter, Sie waren Planungschefin<br />

im US-Außenministerium<br />

unter Hillary Clinton,<br />

gingen dann wegen Ihrer Söhne zurück<br />

nach Princeton und veröffentlichten vor<br />

einem Jahr in dem Magazin „The Atlantic“<br />

den Text „Why women can’t have it all“.<br />

Aktuell tourt Facebook-Vorstand Sheryl<br />

Sandberg mit ihrem Buch „Lean in“ um<br />

die Welt, um Frauen zu erklären, dass man<br />

doch alles haben kann, nämlich Familie<br />

und Spitzenjob. Wer hat denn nun recht?<br />

Wir liegen gar nicht so weit auseinander.<br />

Wenn Sandberg sagt, dass sich Frauen<br />

auf dem Weg nach oben nicht abschrecken<br />

lassen sollen und reinhängen müssen,<br />

gebe ich ihr recht. Mich beschäftigt<br />

aber eine andere Frage viel mehr: Warum<br />

ist in unserer Gesellschaft die Wertschätzung<br />

für Menschen so gering, die für andere<br />

da sind, sie betreuen oder pflegen.<br />

Wir leben in einer Kultur, in der die Idee,<br />

dass man jemand anderen über sich selbst<br />

stellt, abwegig erscheint.<br />

Übertreiben Sie jetzt nicht etwas?<br />

Nein, wenn im politischen Washington<br />

über jemanden gesagt <strong>wir</strong>d, er oder sie<br />

höre auf, „um mehr Zeit mit der Familie<br />

zu verbringen“, ist das ein Euphemismus<br />

für die Tatsache, dass er gefeuert wurde.<br />

Es gilt der Grundsatz: Wer sich voll auf<br />

seine Karriere konzentriert, <strong>wir</strong>d befördert.<br />

Wer sich auch noch um die Familie<br />

kümmern will, ist unprofessionell.<br />

Sie haben sich trotzdem gegen die Karriere<br />

in der US-Außenpolitik und für Ihre<br />

Kinder entschieden.<br />

Ja, aber ich habe damit ein Tabu gebrochen.<br />

Als Feministin, und als solche betrachte<br />

ich mich, stellt man die Wahlfreiheit<br />

zwischen Familie und Beruf nicht<br />

infrage. Meine Entscheidung hat bei vielen<br />

erfolgreichen Frauen meiner Generation<br />

einen Schock ausgelöst, weil sie<br />

nicht in ihr eigenes Lebensmodell passte.<br />

Erhielten Sie auch Unterstützung?<br />

Von jungen Frauen zwischen 18 und 22,<br />

die ich in Princeton an der Universität<br />

unterrichte oder bei Vortragsreisen getroffen<br />

habe. Sie wurden selbst als Kinder<br />

von doppelverdienenden Eltern rund<br />

um die Uhr von Kindermädchen erzogen.<br />

Für die spielt das Thema Work-Life-<br />

Balance eine große Rolle, weil sie Familie<br />

haben wollen, aber nicht für den Job die<br />

Kinder komplett outsourcen möchten.<br />

Haben Sie eine Lösung?<br />

Ich werde bei diesem Punkt oft bewusst<br />

missverstanden. Ich habe nie gesagt:<br />

Frauen, bleibt zu Hause. Aber <strong>wir</strong> müssen<br />

es berufstätigen Frauen und Männern<br />

leichter machen, sich auch um ihre<br />

Kinder kümmern zu können. Wir brauchen<br />

gleichen Lohn für gleiche Arbeit,<br />

bezahlten Elternurlaub und betriebliche<br />

Kinderbetreuung.<br />

Macht die Politik genug dafür?<br />

Präsident Obama müsste sich für all diese<br />

Dinge noch stärker einsetzen, aber wahrscheinlich<br />

hat er Angst, wieder als Sozialist<br />

gebrandmarkt zu werden.<br />

Was kann die Wirtschaft selbst tun?<br />

Moderne Unternehmen treten für eine<br />

radikale Flexibilisierung ein. Der Trend<br />

geht in Richtung ergebnisorientierter Arbeit.<br />

Die sagen zu ihrem Mitarbeiter: Das<br />

ist die Aufgabe, diese Qualitätsstandards<br />

müssen eingehalten werden, bis dahin<br />

brauchen <strong>wir</strong> es, der Rest ist deine Sache.<br />

Was haben die Unternehmen davon?<br />

Sie werden als Arbeitgeber attraktiver, gerade<br />

auch für kreative Frauen. Sie tun<br />

sich leichter, die besten Leute zu rekrutieren<br />

oder Mitarbeiterinnen zurückzugewinnen.<br />

Zahlreiche Unternehmen haben<br />

viel Zeit und Geld in deren Weiterbildung<br />

investiert. Die wollen diese doch<br />

nicht gleich wieder verlieren, nur weil<br />

die Frauen aus familiären Gründen eine<br />

Weile kürzer treten wollen.<br />

Gibt es konkrete Beispiele für solche<br />

Maßnahmen?<br />

Viele haben das Problem erkannt. Die<br />

Unternehmensberatung McKinsey sucht<br />

gezielt nach sogenannten „alumnae“, also<br />

Frauen, die das Unternehmen vor mehr<br />

als zehn Jahren verlassen haben. Die will<br />

man zurückholen, weil sie das Geschäft<br />

kennen und inzwischen Netzwerke aufgebaut<br />

haben, die ein junger Uniabsolvent<br />

kaum bieten kann. Diese Entwicklung<br />

könnte auch dazu führen, dass die<br />

politisch und sozial unsinnige Diskriminierung<br />

der über 45-Jährigen auf dem<br />

Arbeitsmarkt der Vergangenheit angehört.<br />

Wenn <strong>wir</strong> in Deutschland über Frauen<br />

in Führungspositionen diskutieren, <strong>wir</strong>d<br />

sofort nach Quotenregelungen gerufen.<br />

In den USA haben <strong>wir</strong> eine Phobie gegen<br />

Quoten. Unsere Gerichte würden so<br />

etwas wahrscheinlich auch sofort kassieren.<br />

Ich kann dem allerdings schon etwas<br />

abgewinnen. Man braucht nämlich einen<br />

Frauenanteil von 20 bis 30 Prozent, um<br />

die Strukturen dauerhaft zu verändern.<br />

In Bezug auf Frauen in Führungspositionen<br />

wäre das aber dringend nötig, da weder<br />

hier noch in Deutschland in den vergangenen<br />

20 Jahren viel passiert ist.<br />

Kritiker halten das für eine Elitendebatte?<br />

Klar, wenn man über Führungspositionen<br />

spricht, ist das ein Elitenthema. Aber<br />

die Hälfte der Absolventen der US-Top-<br />

Universitäten sind Frauen, der Anteil der<br />

Frauen in Führungspositionen liegt jedoch<br />

unter 20 Prozent. Der Vorwurf, es<br />

handle sich um eine Elitendiskussion,<br />

kommt immer von denen, die dieses Problem<br />

nicht sehen wollen.<br />

Das Gespräch führte Jutta Falke-Ischinger<br />

Foto: Javier Sirvent<br />

80 <strong>Cicero</strong> 6.2013


„Wer sich auf die Karriere<br />

konzentriert, <strong>wir</strong>d befördert. Wer<br />

sich um die Familie kümmern<br />

will, gilt als unprofessionell“,<br />

kritisiert Anne-Marie Slaughter<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 81


| K a p i t a l | S o s e h e n Z o c k e r a u s<br />

„An der Börse“, weiß der<br />

Kleinaktionär, „geht’s ums<br />

Sitzen.“ Hauptversammlungen<br />

großer Aktiengesellschaften<br />

können sich endlos hinziehen<br />

82 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Geld gegen<br />

Geltung<br />

Hier locken Rederecht und Buffet: Die Welt der<br />

Kleinaktionäre ist ebenso skurril wie demokratiepolitisch<br />

wertvoll. Die Fotografin Verena Brandt hat sie besucht<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 83


| K a p i t a l | S o s e h e n Z o c k e r a u s<br />

Tierlieb: 40 Jahre lang war Frau Wessel Kostümbildnerin, seit<br />

25 Jahren besitzt sie eine Namensaktie des Zoologischen Gartens Berlin<br />

München – Fürth, 150 km: Herr Pauli ist mit dem<br />

Rennrad zur Adidas-Hauptversammlung gekommen<br />

Kurzärmelig: Für Herrn Hahn zählt nur die Rendite. Er investiert<br />

in Tabak und in Südafrika. Von den Dividenden kann er leben<br />

Provinziell: Die Firma Zapf verkauft Babypuppen plus Zubehör. Für<br />

Herrn Hahn ein KniF-Unternehmen: „Kommt nicht in Frage!“<br />

84 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Im Sonntagsputz: Für manche Aktionäre ist<br />

die Hauptversammlung ihres Unternehmens<br />

ein wichtiger gesellschaftlicher Anlass<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 85


| K a p i t a l | S o s e h e n Z o c k e r a u s<br />

Die ersten der knapp<br />

6000 Besucher warten<br />

darauf, dass Daimler<br />

um acht Uhr das<br />

Messegelände öffnet<br />

86 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Den Aktionärinnen des Berliner Zoos geht es um Stolz, Heimatgefühl und freien Eintritt für sich und zwei weitere Personen<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 87


| K a p i t a l | S o s e h e n Z o c k e r a u s<br />

Mobiler Urnengang: Nach Geschäftsbericht und Generaldebatte stimmen die Aktionäre über die Tagesordnungspunkte ab<br />

Übernahmeschlacht: Schokolade allein macht nicht satt. Beim Pralinenhersteller Halloren in Halle endet die Hauptversammlung am Buffet<br />

88 <strong>Cicero</strong> 6.2013


A<br />

ktionärshauptversammlungen sind allen zugänglich,<br />

und doch ist diese Welt so vielen unbekannt. Die Aktie<br />

ist die Eintrittskarte in diesen Mikrokosmos, und<br />

manche Aktie kostet nur wenige Euro. Macht und Geld<br />

treffen hier auf Hoffnungen und Sehnsüchte aus dem<br />

„kleinen Leben“, auf Abstaubermentalitäten vor und hinter der<br />

Bühne, aber auch auf Tradition, Herzblut, fangleiche Hingabe<br />

zum Unternehmen.<br />

Theoretisch geht es um jede einzelne Aktie, in der Praxis regieren<br />

internationale Großaktionäre. Es ist eine nur dem Prinzip<br />

nach basisdemokratische, durchinszenierte Parallelwelt. Was den<br />

Klein(st)aktionären bleibt, ist die Bühne, ist Aufmerksamkeit –<br />

in der Mediengesellschaft eine Währung, die vielen wertvoller erscheint<br />

als Macht und Geld.<br />

Das deutsche Aktienrecht ist streng: Jedes Jahr kosten die vorgeschriebenen<br />

Mammutveranstaltungen die großen Unternehmen<br />

mehrere Millionen Euro. Was auf der Bühne gesagt <strong>wir</strong>d, muss<br />

jederzeit an jedem Ort des Gebäudes zu hören sein, auch auf den<br />

Toiletten. Und jeder, der auch nur eine einzige Aktie besitzt, hat<br />

das Recht zu reden. Wird dieses Rederecht verletzt, sind die in der<br />

Abstimmung gefassten Beschlüsse nichtig. Die Deutsche Bank hat<br />

deshalb in diesem Frühjahr die erste außerordentliche Hauptversammlung<br />

ihrer Firmengeschichte abhalten müssen.<br />

Laut deutschem Aktienrecht gilt eine Art Zensuswahlrecht,<br />

eine Stimmengewichtung nach Vermögen, wie sie für die deutsche<br />

Politik seit 1918 abgeschafft ist. In der Aktienwelt verbindet<br />

sich dieses alte Prinzip mit einem neueren demokratietheoretischen<br />

Ansatz: Nach Jürgen Habermas braucht die deliberative<br />

Demokratie die öffentliche Diskussion unter Beteiligung aller. Im<br />

immer gleichen Ablauf deutscher Hauptversammlungen folgt daher<br />

nach den Berichten des Vorstands und des Aufsichtsrats zwingend<br />

die Generaldebatte.<br />

Während der Aussprache für alle sind die Aufnahmegeräte<br />

der Journalisten ausgeschaltet, die Kameras weggepackt. Das<br />

Hin und Her von Fragen, Anmerkungen, Kritik, das oft rasch<br />

in einen quälenden Trott aus Angriffen, Rechtfertigungen und<br />

Abbügeleien fällt, darf nicht aufgezeichnet oder abgebildet werden.<br />

Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Aktionäre. Die<br />

Medien dürfen zwar berichten, aber sie dürfen die Generaldebatte<br />

nicht zeigen: eine selten gewordene Form der Halböffentlichkeit,<br />

heute, da Dinge, die nicht in den Medien abgebildet<br />

werden, quasi nicht existieren.<br />

Der erfahrene Kleinaktionär verspricht sich von der kritischen<br />

Aussprache nicht viel: „Was da gesagt <strong>wir</strong>d, geht da rein und da<br />

raus. Das ist so frustrierend, da geht einem das Klappvisier auf!“<br />

Trotzdem kommen viele jedes Jahr, manche bilden Fahrgemeinschaften,<br />

um Hauptversammlungen in der ganzen Republik zu<br />

besuchen. Sie kommen, „um die Dividende in Form von Essen<br />

mitzunehmen“. Es gibt Aktiensportler, die fachsimpeln und sich<br />

mit Geheimwissen und Anlageerfolgen zu übertrumpfen versuchen.<br />

Für die meisten sind die Hauptversammlungen ein willkommener<br />

Anlass für einen Ausflug an den Neckar oder zum Kölner<br />

Dom. Oder einfach nur „ein bisschen Abwechslung, wenn man<br />

in Rente ist …“<br />

Anzeige<br />

© Foto Necla Kelek: privat; Meyer, Marguier: Antje Berghäuser<br />

Angst vor dem<br />

Islam – berechtigt<br />

oder verwerflich?<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer und<br />

Alexander Marguier, stellvertretender<br />

<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur, im Gespräch<br />

mit Necla Kelek.<br />

Sonntag, 9. Juni 2013, 11 Uhr<br />

Berliner Ensemble,<br />

Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />

Tickets: Telefon 030 28408155<br />

www.berliner-ensemble.de<br />

BERLINER<br />

ENSEMBLE<br />

9. JUNI<br />

Necla Kelek<br />

In Kooperation<br />

mit dem Berliner Ensemble<br />

Nadine Schmid ist freie Journalistin und hat sich gemeinsam mit<br />

verena Brandt eine Saison lang unters Aktionärsvolk gemischt<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 89


| K a p i t a l | F r a c k i n g<br />

schwarzer Goldrausch<br />

Es <strong>wir</strong>d geschuftet, geschossen und Geld gescheffelt. In Williston beginnt<br />

ein neuer Abschnitt des Ölzeitalters. Eine neue Technik lässt die Stadt im<br />

Wilden Westen boomen. Eindrücke vom Ground Zero des Frackings<br />

von Mike Gerrity<br />

90 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Foto: Evelyn Hockstein/Polaris/Laif<br />

D<br />

er zweispurige Highway<br />

führt durch das vertrocknete,<br />

braune Grasland der nördlichen<br />

Weiten von Montana, es geht<br />

durch eine stille Einsamkeit.<br />

Aber als die Straße die Grenze zu North<br />

Dakota passiert, brummt und dröhnt und<br />

wimmelt es. Da multiplizieren sich die<br />

Dinge zu einem Geschiebe und Getöse,<br />

aus zwei Fahrspuren werden vier, aus einem<br />

gewaltigen Laster werden 50, aus einem<br />

Pick-up werden 100.<br />

Schotterpisten durchstechen den Highway,<br />

verstopft mit Tanklastern, deren Fahrer<br />

nervös auf eine Lücke warten, um die<br />

große Straße zu überqueren. Weit und breit<br />

steht keine Ampel, die den Verkehr regeln<br />

könnte. Linker Hand ragen die Skelette<br />

von Hotelneubauten in die Höhe, rechts<br />

bohren sich Förderanlagen in die Erde, darüber<br />

schimmern Gasflammen. Am Himmel<br />

schwebt ein Jet, der eine Ladung Arbeiter<br />

bringen <strong>wir</strong>d. Der nächste folgt zehn<br />

Minuten später. Einst starteten und landeten<br />

auf dem hiesigen Flugplatz 6000 Flugzeuge<br />

im Jahr. Heute sind es 60 000.<br />

Seit die Erdölindustrie ausgerechnet<br />

hat, dass die Schieferölvorkommen unter<br />

der Bakken-Formation im Norden der<br />

USA mit der Fracking-Technik rentabel<br />

ausgebeutet werden können, boomt die<br />

Ölförderung. Im Dezember 2012 wurden<br />

in North Dakota 770 000 Barrel pro<br />

Tag gefördert, mehr als doppelt so viel wie<br />

2010, ein neuer Rekord. Nur Texas produziert<br />

mehr Öl in den USA. Tausende Arbeitslose<br />

kamen, und die Bevölkerung der<br />

einzigen Stadt in der Gegend verdoppelte<br />

sich auf 33 000 Einwohner. Inmitten der<br />

flachen, endlosen Landschaft ist ein Industriekessel<br />

entstanden, in dem es nach Öl<br />

und Diesel riecht.<br />

Willkommen in Williston, North Dakota,<br />

Ground Zero des Fracking. Hier<br />

zeigt sich, wie eine Technik alles verändern<br />

kann: nicht nur das Leben der Menschen<br />

vor Ort, sondern auch den Energiemarkt<br />

Fracking in Deutschland<br />

Fracking, bei dem zur Öl- und<br />

Gasgewinnung Wasser, Sand und<br />

Chemikalien unter hohem Druck<br />

in tiefe Gesteinsschichten gepresst<br />

werden, ist in Deutschland<br />

kaum geregelt. Gesetzentwürfe<br />

der schwarz-gelben Bundesregierung<br />

trafen auf Widerstand. Umweltverbände,<br />

aber auch Deutschlands<br />

Bierbrauer fürchten eine<br />

Verunreinigung des Wassers. Nicht<br />

nur SPD und Grüne, sondern<br />

auch Unionspolitiker fordern<br />

Fracking-Verbote. Sie fürchten<br />

das Thema im Bundestagswahlkampf.<br />

Bürgerinitiativen planen<br />

für den 31. August sogar einen<br />

Anti-Fracking-Tag.<br />

der Vereinigten Staaten. In Williston hat<br />

ein neuer Abschnitt des Erdölzeitalters<br />

begonnen.<br />

Am Highway 85 stehen Unterkünfte,<br />

die aussehen wie Schiffscontainer mit Fenstern,<br />

umgeben von Maschendrahtzaun. Jeder<br />

Container hat zwei Einheiten aus zwei<br />

Einbettzimmern, die sich jeweils eine Dusche<br />

und eine Toilette teilen. Dort erholt<br />

sich der Ingenieur Ryan Frey von den kürzeren<br />

Zwölf- oder den langen 24-Stunden-Schichten.<br />

Die Wohneinheiten, hergestellt<br />

von Target Logistics, waren schon<br />

anderswo im Einsatz: In Basra beherbergten<br />

sie irakische Polizisten.<br />

Dies ist eines der Männercamps, die<br />

entstanden sind, um die Wohnungsnot in<br />

Williston zu lindern. Noch vor kurzem waren<br />

sie für Sauforgien und Schlägereien zu<br />

jeder Tag- und Nachtzeit bekannt. Heute<br />

erinnert die Atmosphäre eher an ein mormonisches<br />

Studentenwohnheim. Am<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 91


| K a p i t a l | F r a c k i n g<br />

Tor sorgt ein Wächter dafür, dass nicht<br />

ein Tropfen Alkohol in die Unterkünfte<br />

gelangt.<br />

Frey marschiert frisch geduscht über<br />

den Kiesschotter zur Kantine. Auf einem<br />

blauen Tablett bekommt er einen Riesenteller<br />

Steakstreifen, Spargel und Reis. Er<br />

lächelt, sagt „bitte“ und „danke“ und benimmt<br />

sich nicht, wie man es von einem<br />

erwartet, der gerade eine 24-Stunden-<br />

Schicht hinter sich hat. Arbeiter, die hier<br />

wohnen, können sich zu jeder Tages- und<br />

Nachtzeit in der Kantine den Bauch vollschlagen,<br />

bevor sie weiterschuften.<br />

Frey, 29 Jahre alt, hat an der University<br />

of Montana in Missoula Geowissenschaften<br />

studiert. Missoula ist jener Ort, in dem<br />

Robert Redfords Film „Aus der Mitte entspringt<br />

ein Fluss“ spielt, ein beschauliches<br />

Städtchen in paradiesischer Natur. Frey<br />

verdiente nach dem Diplom sein Geld damit,<br />

Touristen zum Fliegenfischen mitzunehmen.<br />

Aber vor anderthalb Jahren beschloss<br />

er, es mit seinem erlernten Beruf<br />

zu versuchen. „Ich wollte nicht als ergrauter<br />

Berufsangler enden“, sagt er.<br />

Er wechselte die Welten. Die Firma Liberty<br />

Oilfield Services stellte ihn ein, um<br />

Fracking-Anlagen rund um Williston zu<br />

überwachen. Sein Job kostet so viel Zeit,<br />

dass er selten auf ein Bier ins Stadtzentrum<br />

fährt. „Wir sind hier, um zu arbeiten“, sagt<br />

er. „Ich würde sagen, von uns hier oben<br />

geht keiner in die Kneipe. Wir haben einfach<br />

keine Zeit dafür.“<br />

Der Schatz der Bakken-Formation<br />

befindet sich zwischen zwei Schieferschichten,<br />

etwa drei Kilometer unter der Erdoberfläche,<br />

in einer dünnen, aber ausgedehnten<br />

Schicht aus Dolomitgestein. Jüngsten Prognosen<br />

zufolge könnten dort bis zu sieben<br />

Milliarden Barrel Öl lagern, doppelt so viel<br />

wie noch vor einigen Jahren angenommen.<br />

Die traditionelle Senkrechtbohrung erwies<br />

sich als zu teuer und zu ungenau, um<br />

die Dolomitschicht mit dem Öl zu erreichen.<br />

Doch nach einer Weile fanden die<br />

Ölleute heraus, dass sie den Dolomit horizontal,<br />

also von der Seite her aufbrechen<br />

können. Sobald die horizontale Bohrung<br />

angelegt ist, werden Millionen Liter Wasser,<br />

mit Sand und diversen Chemikalien versetzt,<br />

in das poröse Gestein gepresst, um<br />

das Öl absaugen zu können wie Mark aus<br />

dem Knochen. Dieser Prozess <strong>wir</strong>d hydraulische<br />

Frakturierung oder Fracking genannt.<br />

Die Unterkünfte der Arbeiter sehen aus wie Schiffscontainer mit Fenstern, zwei Einbettzimmer,<br />

Dusche und Toilette werden geteilt. Vorher beherbergten sie irakische Polizisten in Basra<br />

In den USA werden mit dieser Technik bereits<br />

riesige Mengen an Öl und Erdgas gefördert.<br />

Die größte Industrienation der<br />

Welt strebt per Fracking-Boom nach der<br />

Energieautarkie. Nach Prognosen der Internationalen<br />

Energieagentur könnten die<br />

USA bereits 2015 der weltgrößte Erdgasproduzent<br />

sein und bis 2017 auch die Spitzenposition<br />

bei der Förderung von Erdöl<br />

einnehmen. Schon dieses Jahr werden die<br />

Amerikaner erstmals mehr Öl im eigenen<br />

Land fördern, als sie importieren.<br />

Kritik am Fracking durch Umweltschützer<br />

findet hier, anders als in Deutschland,<br />

erst langsam Gehör. In den USA<br />

herrscht bisher die Einschätzung vor, dass<br />

Fracking keine Gefahr für das Grundwasser<br />

darstellt, solange es sorgfältig ausgeführt<br />

<strong>wir</strong>d. Gesetzliche Regeln gibt es kaum. Die<br />

Bush-Regierung hatte im Energiegesetz von<br />

2005 das Fracking sogar ausdrücklich von<br />

den Vorschriften des Clean-Water-Gesetzes<br />

der US-Umweltschutzbehörde EPA befreit.<br />

Die entsprechende Klausel erhielt den<br />

Spitznamen „Cheney-Halliburton-Schlupfloch“,<br />

weil der damalige Vizepräsident vor<br />

seinem Amtsantritt den texanischen Energiekonzern<br />

Halliburton geleitet hatte.<br />

Inzwischen wurden jedoch in mehreren<br />

US-Bundesstaaten in der Nähe von<br />

Fracking-Anlagen Brunnen entdeckt,<br />

die mit Chemikalien wie Arsen und Barium<br />

verseucht waren. Die meisten Bundesstaaten<br />

verlangen deshalb von den<br />

Ryan Frey kam<br />

aus Montana nach<br />

Williston. „Ich<br />

bin hier, um zu<br />

arbeiten“, sagt er.<br />

Seine kürzeren<br />

Schichten dauern<br />

12 Stunden, die<br />

langen 24<br />

Fotos: William Campbell/Corbis, Mike Gerrity<br />

92 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Bohrgesellschaften die Offenlegung der<br />

verwendeten Chemikalien. Um dies zu umgehen,<br />

deklarieren einige Firmen die Stoffe<br />

als Geschäftsgeheimnisse.<br />

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Riesling Kabinett Haardter Herrenletten, 2012<br />

Sean Dutton hat Früh die Chancen<br />

gesehen, die Fracking bietet. Er kam<br />

vor mehr als einem Jahr aus Great Falls<br />

in Montana nach North Dakota. Der<br />

25-Jährige kannte einen, der sich mit einem<br />

Pick-up voller Werkzeug aufgemacht<br />

und in Williston ein Geschäft aufgebaut<br />

hatte. Der Kumpel stellte Leute aus Montana<br />

ein. Heute verdient Dutton mehrere<br />

Tausend Dollar in der Woche. Vor kurzem<br />

hat er daheim in Great Falls ein Haus für<br />

seine Lebensgefährtin und den gemeinsamen<br />

sechs Monate alten Sohn gekauft.<br />

Dutton und seine Kollegen reparieren<br />

Leitungen und andere marode Anlagen,<br />

die der raschen Ausdehnung der Stadt<br />

sonst nicht standhalten könnten. Ihr Arbeitsplatz<br />

liegt oft genug draußen, in der<br />

offenen Steppe. Der Winter in North Dakota<br />

kann gnadenlos sein, wenn die Ausrüstung<br />

bei Schnee, eisigem Wind und minus<br />

40 Grad schlappmacht.<br />

Duttons blaue Augen und sein blonder<br />

Schopf verbergen die Anstrengung. Doch<br />

wenn er nach zwölf oder 18 Stunden nach<br />

Hause kommt, klingt seine Stimme wie die<br />

eines alten Mannes. Er teilt sich ein Wohnmobil<br />

mit einem Mitbewohner. Der eine<br />

schläft auf einem schmalen Bett, der andere<br />

auf der Couch. „Wir gehen rüber und<br />

duschen alle in dem anderen Trailer, weil<br />

unser Wasser nicht funktioniert.“<br />

Die meisten Arbeiter in Williston<br />

ackern im Wechsel: zwei bis drei Wochen<br />

Dienst, dann eine Woche frei. In ihrer Freizeit<br />

fahren oder fliegen die meisten nach<br />

Hause, um Zeit mit ihren Familien zu verbringen.<br />

Dutton fährt die sieben Stunden<br />

nach Hause, wann immer er kann. Es ist<br />

eine anstrengende Fahrt. Aber er will die<br />

wenigen Gelegenheiten nutzen, seinen<br />

Sohn auf<strong>wachsen</strong> zu sehen. Und mit dem<br />

Geld aus Williston möchte er zugleich der<br />

Familie etwas bieten. Dutton will sich ein<br />

finanzielles Polster anlegen, einen neuen<br />

Pick-up kaufen, und seine Freundin soll<br />

auch ein neues Auto bekommen. „Aber so<br />

weit sind <strong>wir</strong> noch nicht“, sagt er. „Wir<br />

nennen es den Dreijahresplan.“<br />

Seine Frau und er streiten häufig darüber,<br />

dass er so lange weg ist. Er hadert<br />

mit dem Stress. „Bier und Whisky helfen<br />

Aus einer der besten Lagen der Pfalz stammend, zeigt sich dieser<br />

herrliche Riesling rassig frisch, mit perfekt eingebundener Säure,<br />

etwas mineralisch, feinfruchtig, rund und saftig, mit Aromen von<br />

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| K a p i t a l | F r a c k i n g<br />

manchmal“, sagt er. „Und manchmal machen<br />

sie alles noch schlimmer.“ Er würde<br />

keinem Menschen raten, nach Williston<br />

zu ziehen. „Das hier ist das Arschloch von<br />

Amerika.“<br />

Duttons Einsatzorte liegen normalerweise<br />

mehrere Meilen von Williston entfernt.<br />

Meist kommt er nur zum Einkaufen<br />

in die Stadt, dann steht er anderthalb<br />

Stunden bei Wal-Mart an der Kasse in der<br />

Schlange. Wer einen draufmachen will,<br />

muss sich auf ein gewisses Maß an Chaos<br />

gefasst machen, sagt Dutton. Ungefähr einmal<br />

pro Woche gebe es eine Messerstecherei<br />

oder eine Schießerei.<br />

Die beiden Striptease-Klubs der Stadt,<br />

das Whispers und das Heartbreakers, dürfen<br />

nicht mehr mit Waffen betreten werden.<br />

„Einmal kamen <strong>wir</strong> gerade von der Arbeit,<br />

also mussten <strong>wir</strong> unsere Messer abliefern“,<br />

sagt Dutton. „Und da war dieser <strong>wir</strong>klich<br />

dubiose Typ, der packte ungefähr, ich sag<br />

mal, sechs Messer aus. Er gab sie ab, und<br />

<strong>wir</strong> dachten: Scheiße, Mann.“<br />

Im Zentrum von Williston beobachtet<br />

eine Angestellte der Handelskammer einen<br />

Mann in staubigen Arbeitskleidern,<br />

der das Büro verlässt. Sie hebt die Augenbrauen,<br />

geht zu einem Nebenraum und<br />

schließt die Tür ab. Könnte ja einer den<br />

Fernseher klauen, sagt sie. Die Angestellte<br />

und ihre Kollegin, Lee, wollen ihre Nachnamen<br />

nicht veröffentlicht sehen. Eigentlich<br />

darf nur ihr Boss mit Journalisten reden.<br />

Und der ist diese Woche auf Urlaub.<br />

Wenn Lee von Leuten hört, die mit<br />

dem Gedanken spielen, nach Williston<br />

zu ziehen, rät sie ihnen stets, sich erst<br />

mal nach einer Bleibe umzusehen. In der<br />

Stadt leben geschätzte 15 000 Menschen<br />

auf Zeit. Eine Dreizimmerwohnung kostet<br />

2200 Dollar Miete im Monat und mehr.<br />

Bevor die ersten neuen Hotels eröffnet wurden,<br />

wohnten die meisten Zugezogenen in<br />

Autos, Zelten und Wohnmobilen. Dann<br />

fing die Polizei an, sich die Camper genauer<br />

anzuschauen. „Da standen sechs bis<br />

sieben Wohnmobile in einem Hinterhof,<br />

ans öffentliche Stromnetz gekoppelt, und<br />

die Leute pinkelten in die Gasse, und das<br />

Ganze wurde zur Gefahr für die öffentliche<br />

Gesundheit. Das haben die dann abgestellt.<br />

Zu Recht.“<br />

Lee freut sich auf die Zukunft. Jüngsten<br />

Schätzungen zufolge <strong>wir</strong>d die Einwohnerzahl<br />

von Williston bis 2017 auf 44 000<br />

Die beiden<br />

Striptease-Klubs<br />

der Stadt dürfen<br />

nicht mehr mit<br />

Waffen betreten<br />

werden. „Einmal<br />

war da dieser<br />

<strong>wir</strong>klich dubiose<br />

Typ, der packte<br />

ungefähr sechs<br />

Messer aus, und<br />

<strong>wir</strong> dachten:<br />

Scheiße, Mann“,<br />

sagt Dutton<br />

steigen. „Es ist doch toll zuzuschauen, wie<br />

hier eine echte Stadt heranwächst“, sagt<br />

Lee. Die Sorgen hält sie für übertrieben.<br />

Die Menschen verbreiteten eben gern Geschichten<br />

über Schießereien. Ihr habe der<br />

Sheriff neulich geholfen, einen platten Reifen<br />

zu wechseln. Solche Geschichten erzähle<br />

aber niemand. „Lieber stricken alle<br />

am Wildwest-Mythos Williston.“<br />

Auf der anderen Straßenseite, wenige<br />

Schritte von der Handelskammer entfernt,<br />

befinden sich die Oben-ohne-Bars, wo das<br />

Waffenverbot herrscht. Vor ein paar Wochen<br />

verloren sie auch noch die Schanklizenz,<br />

nachdem ein 28-Jähriger auf dem<br />

Parkplatz erschossen worden war.<br />

Am anderen Ende der Stadt, in einer<br />

Kneipe namens DK’s Lounge and Casino,<br />

grölt ein Haufen Jungs in sauberen Jeans<br />

und T-Shirts. Sie fotografieren sich mit ihren<br />

iPhones. Ein Typ im weißen Hemd, das<br />

unter dem Schwarzlicht blau glüht, geht<br />

zur Bar und bestellt sechs Wodka Red Bull.<br />

„Aber mit Grey Goose!“, verlangt er, also<br />

den Premium-Wodka aus Frankreich.<br />

Ein Aushang für das Gericht des Tages<br />

ist nirgends zu sehen. Sonderangebote gibt<br />

es nicht. Die Kunden, alles junge Männer<br />

und Frauen in den Zwanzigern, zahlen bar.<br />

Geld haben sie genug.<br />

Ein paar Frauen, die Blackjack spielen,<br />

werden von einem Schrei abgelenkt. Alle<br />

Augen richten sich aufs andere Ende der<br />

Kneipe, wo zwei Jungs gerade dabei sind,<br />

sich in die Haare zu kriegen. Für den Moment<br />

herrscht gespannte Ruhe. Ein Rausschmeißer<br />

geht auf die Kampfhähne zu, die<br />

setzen ein Lächeln auf – und alle widmen<br />

sich wieder ihren Drinks.<br />

Für den Sheriff von Williams County,<br />

Scott Busching, gehören Schlägereien in<br />

der Innenstadt zur Routine. „Autounfälle<br />

beschäftigen uns. Kneipenschlägereien.<br />

Häusliche Gewalt. Diebstähle“, sagt er.<br />

„Und, natürlich, Alkohol am Steuer.“ Busching<br />

berichtet, die Zahl der Verbrechen<br />

sei zwar gestiegen, entspreche aber vergleichbaren<br />

Landkreisen von 50 000 Einwohnern.<br />

Im Sommer, wenn weitere Bohrtürme<br />

errichtet werden, muss er vielleicht<br />

noch Hilfssherrifs einstellen, aber momentan<br />

läuft sein Laden. „Wir können uns<br />

behaupten.“<br />

Und die Natur? Die US-Umweltbehörde<br />

EPA hat für 2014 die Veröffentlichung<br />

einer Studie zu möglichen Aus<strong>wir</strong>kungen<br />

von Fracking auf Wasserquellen<br />

angekündigt. Der Bundesstaat New York<br />

hat bis dahin ein Moratorium gegen Fracking-Projekte<br />

verhängt. In North Dakota<br />

dagegen wurde bekannt, dass einer der<br />

Kandidaten für den Senatssitz des Bundesstaats,<br />

Rick Berg, beträchtliche Spenden<br />

von Ölfirmen bekam. Er war schon immer<br />

ein Verfechter von Ölinteressen. Gewonnen<br />

hat er den Senatssitz nicht.<br />

Ryan Frey, der Ingenieur, der nicht<br />

als Fliegenfischer alt werden wollte, hat<br />

keine Bedenken. Das Fracking in North<br />

Dakota werde nicht so nah an Grundwasser<br />

vorkommen, dass man sich Sorgen machen<br />

müsse. „Zu anderen Gegenden kann<br />

ich nichts sagen“, sagt er. „Aber ich hoffe<br />

doch, dass die schlau genug sind, so etwas<br />

zu verhindern.“<br />

Mit zwei Joghurtbechern in der Hand<br />

schlurft Frey über den staubigen Kies zurück<br />

zu seinem Lager. Derweil biegt ein leuchtend<br />

weißer Bus auf den Parkplatz hinter<br />

ihm ein, bereit, eine neue Ladung Arbeiter<br />

hinaus in die Nacht zu befördern.<br />

Mike Gerrity<br />

ist Reporter in Missoula, Montana.<br />

In Williston erwog er kurz, als Ölarbeiter<br />

reich zu werden. Aber die<br />

Hektik des Ortes schreckte ihn ab<br />

Foto: Privat<br />

94 <strong>Cicero</strong> 6.2013


| K a p i t a l | F r a c k i n g<br />

„Ein VErbot hilft keinem“<br />

Der Chemie-Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis kämpft gemeinsam mit dem<br />

Arbeitgeberverband BDI für die umstrittene Förderung von Schiefergas in Deutschland<br />

H<br />

err Vassiliadis, sind Sie eigentlich<br />

Biertrinker?<br />

Ich trinke lieber Wein.<br />

Haben Sie deshalb kein Problem damit,<br />

das deutsche Reinheitsgebot zu gefährden<br />

durch den Einsatz der umstrittenen<br />

Fracking-Technologie zur Gasförderung in<br />

Deutschland?<br />

Ich mag auch Bier, und ich habe gar kein<br />

Interesse daran, das Reinheitsgebot zu<br />

gefährden. Wir nehmen die Sorgen aller<br />

Beteiligten, auch der Bierbrauer um die<br />

Sauberkeit des Brauwassers, sehr ernst.<br />

Der Schutz des Wassers hat allerhöchste<br />

Priorität. Die Problematik ist aber auch<br />

nicht ganz neu, denn <strong>wir</strong> betreiben schon<br />

seit 750 Jahren Bergbau in Deutschland<br />

und hatten auch dabei immer die Sicherung<br />

der Wasserqualität auf dem Schirm.<br />

Dabei wurde aber bisher darauf verzichtet,<br />

mit hohem Druck Wasser, Sand und giftige<br />

Chemikalien in tiefe Gesteinsschichten<br />

zu pumpen, um dort vorhandenes<br />

Erdgas oder Öl förderbar zu machen.<br />

Der Einsatz chemischer Mittel ist schon<br />

heute eindeutig gesetzlich geregelt und<br />

sollte beim Fracking meines Erachtens<br />

so weit wie möglich minimiert werden.<br />

Man muss aber auch die geologischen<br />

Voraussetzungen für Fracking sehen. In<br />

Deutschland liegen die Gesteinsebenen,<br />

aus denen das Schiefergas gelöst<br />

werden soll, sehr weit unterhalb der<br />

Grundwasserebene.<br />

Welches <strong>wir</strong>tschaftliche Potenzial hat das<br />

Fracking in Deutschland?<br />

Nennenswerte Vorkommen gibt es vor<br />

allem in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.<br />

Das ist nicht vergleichbar<br />

mit den riesigen Vorkommen in den<br />

USA, wo die Förderung von Schiefergas<br />

Michael Vassiliadis steht seit<br />

2009 an der Spitze der IG<br />

Bergbau, Chemie, Energie. Als<br />

Arbeitnehmervertreter sitzt er im<br />

Aufsichtsrat von BASF und Henkel<br />

und Schieferöl die Energiepreise deutlich<br />

hat sinken lassen. Aber der Wert des in<br />

Deutschland vorhandenen unkonventionellen<br />

Erdgases, das nur per Fracking förderbar<br />

ist, <strong>wir</strong>d immerhin auf rund eine<br />

Billion Euro geschätzt.<br />

Das Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung<br />

in Mannheim argumentiert<br />

genau andersherum. Fracking in Deutschland<br />

sei bei den günstigen Gaspreisen<br />

überhaupt nicht <strong>wir</strong>tschaftlich.<br />

Wenn es sich nicht rechnet, <strong>wir</strong>d es keiner<br />

machen. Wir dürfen aber nicht vergessen,<br />

dass <strong>wir</strong> ein rohstoffarmes Land<br />

sind. Das Fördern eigener Gasvorkommen<br />

gäbe uns grundsätzlich die Möglichkeit,<br />

unsere Abhängigkeit von Importen<br />

aus Russland und Norwegen zu<br />

verringern und die Energieversorgung<br />

des Industriestandorts Deutschland zu<br />

stabilisieren.<br />

Aber warum konzentrieren <strong>wir</strong> uns nicht<br />

lieber auf die konsequente Umsetzung der<br />

Energiewende, statt uns der Illusion hinzugeben,<br />

dass <strong>wir</strong> per Fracking das fossile<br />

Zeitalter verlängern können?<br />

Sie klammern einen entscheidenden Aspekt<br />

der Energiewende aus. Wir sind das<br />

einzige Land der Welt, das sich eine so<br />

fundamentale Wende verordnet hat. Die<br />

Entscheidung gegen den Einsatz von<br />

Kernenergie, die ich richtig finde, hat<br />

eine 30 Jahre währende Debatte in diesem<br />

Land beendet. Damit ist das Thema<br />

aber nicht erledigt, weil eine Lücke von<br />

22 Prozent bei der Energieversorgung<br />

entstanden ist.<br />

Die <strong>wir</strong> mit erneuerbaren Energien füllen<br />

wollen.<br />

Ja, aber das geht nicht von heute auf<br />

morgen. Mir <strong>wir</strong>d über diese gewaltigen<br />

Foto: Andrej Dallmann für <strong>Cicero</strong><br />

96 <strong>Cicero</strong> 6.2013


sozialen, technischen, <strong>wir</strong>tschaftlichen<br />

und politischen Herausforderungen, die<br />

sich daraus ergeben, zu wenig diskutiert.<br />

Die AKW-Gegner überspringen diese<br />

Debatte einfach und verlangen jetzt den<br />

sofortigen Ausstieg aus Kohle und Gas<br />

und stellen mit diesen Fundamentalforderungen<br />

die größte Gefahr für die Umsetzung<br />

der Energiewende dar. Wir brauchen<br />

Brückentechnologien wie effiziente<br />

neue Gas- oder Kohlekraftwerke, um das<br />

Ziel einer Energieversorgung aus erneuerbaren<br />

Energien längerfristig überhaupt<br />

erreichen zu können.<br />

Aber ist Fracking Teil einer sinnvollen<br />

Brückentechnologie? Wollen <strong>wir</strong> nicht die<br />

in Deutschland im Zusammenhang mit der<br />

Energiewende entwickelten Technologien<br />

auch exportieren? In den USA hat der<br />

Fracking-Boom dafür gesorgt, dass der<br />

Ausbau von Wind- und Sonnenenergiegewinnung<br />

fast vollständig zum Erliegen<br />

gekommen ist.<br />

Das stimmt, aber <strong>wir</strong> müssen in Deutschland<br />

realistisch bleiben. Wir haben es<br />

nicht geschafft, unsere klima- und umweltpolitischen<br />

Vorstellungen international<br />

gegen die Interessen von Ländern<br />

wie China, Indien oder den USA<br />

durchzusetzen.<br />

Heißt das, <strong>wir</strong> können den Klimaschutz<br />

aus den Augen verlieren?<br />

Nein, überhaupt nicht. Aber <strong>wir</strong> müssen<br />

erkennen, dass <strong>wir</strong> nicht alleine auf der<br />

Welt sind. Unsere Rolle in Deutschland<br />

muss es sein, den technologischen Fortschritt<br />

in der Energieversorgung zu entwickeln.<br />

Wir haben das Know-how für<br />

eine weltweite Modernisierung, ob es um<br />

die Gewinnung, die Erzeugung oder den<br />

Einsatz von Energie geht. Das kann auch<br />

unser wesentlicher Beitrag zum Klimaschutz<br />

sein. Das wäre viel wichtiger, als<br />

nur Vorbild und Zielweltmeister bei der<br />

CO2-Reduktion zu sein. Auf dem Gebiet<br />

könnten uns die Amerikaner ohnehin<br />

bald überholen.<br />

Wie das denn?<br />

Durch den Einsatz von Fracking haben<br />

sie viel Erdgas, das in der CO2-Bilanz<br />

besser ist als Steinkohle, die sie ebenfalls<br />

fördern. Die Kohle werden sie exportieren,<br />

das Gas nutzen sie selbst. Hinzu<br />

kommt, dass sie trotz aller Risiken und<br />

ungeachtet der ungelösten Endlagerung<br />

weiterhin auf Kernenergie setzen, was<br />

ebenfalls die CO2-Bilanz verbessert. Am<br />

Ende werden sie uns vorhalten, dass ihr<br />

Beitrag zur Klimaerwärmung pro Kopf<br />

niedriger ist als bei uns.<br />

Aber warum setzt sich die IG BCE als<br />

Gewerkschaft so sehr für das Fracking in<br />

Deutschland ein, dass Sie selbst mit dem<br />

Präsidenten des Arbeitgeberverbands BDI<br />

Ulrich Grillo einen gemeinsamen Brief an<br />

die Bundesregierung geschrieben haben?<br />

Die IG BCE ist fachlich und inhaltlich<br />

zuständig für das Thema. Der Brief sollte<br />

einen Impuls zu einer sachlichen Debatte<br />

geben. Wir haben uns zu dem Schreiben<br />

mit dem BDI entschieden, weil ein Fracking-Verbot<br />

in Deutschland niemandem<br />

hilft.<br />

Was genau erwarten Sie von der Politik?<br />

Sie sollte sich hüten, durch ein generelles<br />

Verbot dauerhaft die Weiterentwicklung<br />

dieser Technologie zu blockieren. Nordrhein-Westfalen<br />

hat bereits Mitte Dezember<br />

eine vernünftige Entschließung zum<br />

Fracking in den Bundesrat eingebracht.<br />

Mittlerweile gibt es dazu auch einen gemeinsamen<br />

Referentenentwurf des Wirtschafts-<br />

und Umweltministeriums. Der<br />

sieht Bohrverbote in Wasserschutzgebieten<br />

vor sowie strenge Umweltverträglichkeitsprüfungen<br />

und eine Minimierung<br />

des Einsatzes von Chemikalien. Das unterstützt<br />

die IG BCE – und nun auch der<br />

BDI. Die Industrie hatte sich ja lange für<br />

eine uneingeschränkte Erlaubnis von Fracking<br />

eingesetzt.<br />

Wird das noch in dieser Legislaturperiode<br />

entschieden?<br />

Das hoffe ich, aber <strong>wir</strong> befinden uns im<br />

Wahlkampf, und die Vertreter der Regierungsfraktionen<br />

räumen überraschend offen<br />

ein, dass sie das Thema deshalb am<br />

liebsten auf Eis legen würden. Aber das<br />

geht nicht, weil es sich um eine wichtige<br />

energiepolitische Frage für unser<br />

Land handelt. Wir müssen die Sorgen der<br />

Leute ernst nehmen, die Technologie vor<br />

Ort erläutern und dürfen der Diskussion<br />

nicht aus dem Weg gehen.<br />

Entstehen bei einer Genehmigung des<br />

Frackings neue Arbeitsplätze in Ihrer<br />

Branche?<br />

Öl- und Gasförderung ist sehr technikintensiv,<br />

da ist kein Jobwunder zu erwarten.<br />

Aber es geht trotzdem auch um Arbeitsplätze<br />

in diesem Land, weil dahinter<br />

Technologie- und Wertschöpfungsketten<br />

stehen. Wir sind führend im Bergbauingenieurwesen,<br />

in der Explorations- und<br />

Bohrtechnologie, diese Stellung müssen<br />

<strong>wir</strong> als Industrienation verteidigen. Es<br />

gibt eine latente Bereitschaft in unserer<br />

Gesellschaft, diese Kompetenzen leichtfertig<br />

aufzugeben. Das ist falsch.<br />

Fürchten Sie um die Wettbewerbsfähigkeit<br />

der Chemiebranche aufgrund der<br />

Energiekosten?<br />

Die Wettbewerbsfähigkeit speist sich aus<br />

verschiedenen Quellen, von denen die<br />

Energiekosten gerade in der Chemieindustrie<br />

eine der wichtigsten sind. Höhere<br />

Energiepreise und ein ordentliches Lohnniveau<br />

haben <strong>wir</strong> bisher mithilfe technologischer<br />

Kompetenz kompensiert. Aber<br />

wenn <strong>wir</strong> das Beispiel Gas nehmen, <strong>wir</strong>ken<br />

sich die viel niedrigeren Preise in den<br />

USA doppelt aus, weil Gas in der Chemieindustrie<br />

nicht nur Energieträger ist,<br />

sondern auch Rohstoff, den <strong>wir</strong> veredeln.<br />

Das kann schnell zu einem gravierenden<br />

Standortnachteil werden. Jede Investitionsentscheidung,<br />

auf die der Gaspreis einen<br />

wesentlichen Einfluss hat, <strong>wir</strong>d im<br />

Moment neu berechnet. Die Unternehmen<br />

werden deswegen nicht sofort deutsche<br />

Anlagen schließen, aber die nächste<br />

Investition vielleicht eher in den USA tätigen.<br />

Wir müssen aufpassen, sonst wandert<br />

Zug um Zug die Industrie ab.<br />

Warum setzen die Unternehmen nicht auf<br />

eine Verbesserung der Energieeffizienz?<br />

Machen sie ja. Aber es geht nicht alles auf<br />

einmal. Natürlich benötigt die Chemieindustrie<br />

in der Herstellung viel Energie.<br />

Aber ohne Chemieindustrie gibt es auch<br />

keine Energiewende. Wir entwickeln die<br />

Hochleistungskunststoffe für Windräder,<br />

die Lackierungen, die sie offshoretauglich<br />

machen, und auch in der Solarenergie<br />

steckt viel Chemie. Das sind Kernkompetenzen,<br />

die auch in Zukunft unverzichtbar<br />

sind. Wir können es uns als Industrienation<br />

nicht erlauben, nur noch<br />

bei einer Disziplin vorne zu sein: dem<br />

Aussteigen aus Technologien.<br />

Das Gespräch führte Til Knipper<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 97


| S t i l<br />

GEWEIHE AN DIE WAND<br />

Eine gutbürgerliche Straße, Blümchentapete, Schmerzen. Zu Besuch bei der Tätowiererin Sara Bolen<br />

von LENA BERGMANN<br />

D<br />

as ältere Paar aus dem Schwabenland<br />

versucht, durch die Fensterfront<br />

ins Innere des Ladenlokals<br />

zu spähen. „Isch des a Reschdoront?“ Der<br />

rote Samtvorhang und der geschwungene<br />

Schriftzug haben sie offenbar neugierig gemacht.<br />

Der Name „Black Mirror Parlour“<br />

weist allerdings in keine offensichtliche kulinarische<br />

Richtung. Die Kreuzberger Fichtestraße<br />

ist nämlich vor allem für ihre Restaurants<br />

bekannt. Touristen zieht es ins<br />

„Hartmanns“, ein österreichisches Sternelokal,<br />

oder ins „Le Cochon Bourgeois“, wo<br />

auch Jürgen Trittin gelegentlich gesichtet<br />

<strong>wir</strong>d. Gerne zeigen Taxifahrer ihren Kunden,<br />

wo Walter Momper wohnt, Berlins<br />

ehemaliger Bürgermeister.<br />

Bei Momper schräg gegenüber, im Ladenlokal<br />

mit der Hausnummer 25, ist nun<br />

seit ein paar Monaten der „Black Mirror<br />

Parlour“ zu Hause, der von außen so einladend<br />

wie ein Restaurant oder ein hochwertiges<br />

Antiquariat <strong>wir</strong>kt. Stilsichere Blumentapete,<br />

ein geschwungenes Sofa, davor<br />

ein großer Strauß auf dem Biedermeiertisch.<br />

Doch hinter den schwarz lackierten<br />

Flügeltüren legt sich hier täglich eine internationale<br />

Klientel auf eine Holzliege mit<br />

Lederbezug, um sich stundenlang unter<br />

Schmerzen feine Nadeln in die Haut stechen<br />

zu lassen.<br />

Hätte das schwäbische Rentnerpaar<br />

die Betreiberin im Türrahmen stehen sehen,<br />

in knappen Shorts und ärmelfreiem<br />

Top, hätte es wohl nicht weiter nach der<br />

Menükarte gesucht. Von weitem sieht Sara<br />

Bolen so aus, als trüge sie einen Ganzkörperanzug<br />

aus zarter schwarzer Spitze. Bei<br />

näherem Hinschauen ziehen sich über ihre<br />

nackten Gliedmaßen Schiffe in rauem Wellengang,<br />

Vögel mit gebogenen Schnäbeln<br />

und scherenschnittartige Menschenköpfe,<br />

eingefasst in ornamentale Rahmen. Von<br />

ihrem Kehlkopf mustert das Gegenüber<br />

ein Auge. Natürlich war auch der Vermieter<br />

zu Beginn von ihrem Aussehen irritiert,<br />

erzählt Bolen, „und wie alle anderen<br />

Vermieter war er von der Idee eines Tattoo-<br />

Studios in seinem Haus nicht begeistert.“<br />

Doch als die Kanadierin während der Besichtigung<br />

in holprigem Deutsch von der<br />

Bausubstanz schwärmte und radebrechend<br />

darlegte, wie sie die triste Zahnarztpraxis<br />

in ein optisches Schmuckkästchen verwandeln<br />

würde, war er gerührt. Es dürfte auch<br />

eine Rolle gespielt haben, dass Bolen, wenn<br />

man die Tattoos ausblendet, wie ein braves<br />

Vorstadtmädchen <strong>wir</strong>kt, das ein wenig lispelt<br />

und viel kichert.<br />

„Ich wollte Tätowiererin werden, seit<br />

ich mich als Kind für Musik interessiert<br />

habe“, erinnert sich Bolen. „Alle, die ich<br />

cool fand, waren tätowiert. Ich war immer<br />

das einzige Mädchen, das sich im örtlichen<br />

Tattoo-Studio rumgetrieben hat.“ Jedes<br />

Tattoo auf ihrem heute beinahe vollends<br />

bedeckten Körper symbolisiert für sie etwas<br />

Persönliches – wie viele ihrer Kunden nutzt<br />

sie das Tattoo auch als Markierung eines<br />

Lebensabschnitts. Mit 22 griff sie erstmals<br />

selbst zur Nadel, mittlerweile praktiziert<br />

sie die Kunst am Körper seit zwölf Jahren.<br />

Unter Tätowierern gibt es eine Faustregel:<br />

Nach zehn Jahren ist man gut. Und wer gut<br />

ist, kann auch gut verdienen.<br />

Die Branche hat sich zu einer Edelindustrie<br />

entwickelt. Tattoos waren schon immer<br />

subkulturelle Statussymbole, doch<br />

Berühmtheiten tragen sie heute wie Designer-Taschen.<br />

Auf den Internetseiten großer<br />

Salons werden Meisterstecher selbstbewusst<br />

als Künstler vermarktet, es gibt<br />

Fachzeitschriften und internationale Messen.<br />

Gute Motive landen auf Online-Plattformen<br />

wie Instagram und Pinterest, wo<br />

man Detail aufnahmen findet. So verbreitet<br />

sich auch die Arbeit von Bolen. Der Darwin,<br />

den sie einem Holländer in die Haut<br />

gebrannt hat, erregte zum Beispiel viel Aufsehen.<br />

Das gleiche Motiv sticht sie jedoch<br />

nie. Wenn ein Kunde sich meldet, hat er<br />

meist schon eine ungefähre Vorstellung.<br />

Bolen setzt sich dann hin und macht eine<br />

Skizze – die der Kunde erst sieht, wenn er<br />

das Studio betritt.<br />

Mit dem Berliner Kreativprekariat, seinen<br />

Co-Working-Spaces und Dumping-<br />

Preisen hat Bolens Berufsalltag wenig zu<br />

tun. Sie wacht morgens ohne Wecker auf,<br />

zeichnet sich ein paar Stunden warm und<br />

ent<strong>wir</strong>ft Motive, bevor sie ab ein Uhr im<br />

Laden ihre Kunden empfängt. Sie konzentriert<br />

sich auf eine Person am Tag und richtet<br />

sich zeitlich nach ihren Kunden und deren<br />

Ankunftszeiten – denn meist fliegen sie<br />

von irgendwo ein. Der Preis für ein einfaches<br />

Tattoo beginnt bei 250 Euro. Doch in<br />

der Regel sticht sie komplexe, ineinander<br />

übergehende Motive, bei denen sich die<br />

Honorare schnell summieren.<br />

So hat sich die Ästhetin eine komplette<br />

Renovierung des Ladens finanzieren können.<br />

Es half, dass sie auch einen Abschluss<br />

in Interior Design hat: „Als ich vor Jahren<br />

eine Phase hatte, in der ich beim Tätowieren<br />

nicht besser wurde, schrieb ich mich<br />

zum Studium in Vancouver ein.“ Dort<br />

zeichnete sie alles mit der Hand, während<br />

ihre Kommilitonen digital planten. Die<br />

vornehm-anrüchige, in bestem Sinne altmodische<br />

Einrichtung des Studios trägt<br />

dazu bei, dass ihre Kunden, meist im Alter<br />

von 20 bis 45, sich trotz Schmerzen beim<br />

Stechen wohl fühlen. Kein Neonlicht über<br />

einem Plastiksitz auf Fliesenboden wie in<br />

anderen Studios. Bolen serviert Kaffee mit<br />

Biomilch, Musik spielt gegen das Surren der<br />

Tätowiernadeln an. Das Altmodische setzt<br />

sich fort in ihrer Arbeit: Im Trend sind wieder<br />

Motive aus den Anfängen der Tätowier-<br />

Kultur, Seemannsmotive wie Anker, Rosen<br />

mit Schriftzügen oder Herzen. Geweihe, so<br />

viel ist klar, gibt es bei Sara Bolen nicht am<br />

A., sondern nur an der Wand.<br />

LENA BERGMANN<br />

leitet bei <strong>Cicero</strong> das Stil-Ressort<br />

Fotos: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong>, Privat (Autorin)<br />

98 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Eine Freundin hat<br />

Sara Bolen geraten:<br />

„Du bist jung, du bist<br />

kreativ, du musst nach<br />

Berlin.“ Hier sitzt<br />

sie in ihrem Salon<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 99


| S t i l<br />

„Männerhaut ist sexy“<br />

Der New Yorker Designer Thom Browne über Uniformen, Michelle Obama und die Mode der Verknappung<br />

H<br />

err Browne, Sie tragen einen engen<br />

grauen Anzug mit schmaler<br />

grauer Krawatte und weißem<br />

Hemd – wie immer?<br />

So ziehe ich mich jeden Tag an. Diese Sachen<br />

mache ich nur für mich, die Kollektionen<br />

sind für die anderen. Der klassische<br />

graue Anzug – das bin ich, das ist<br />

meine Uniform. Ich mag die Idee der<br />

Uniformität und des Selbstvertrauens,<br />

das die Uniform verlangt. Sie ist ein sehr<br />

mächtiges Kleidungsstück.<br />

Soll die Uniform nicht eher Selbstvertrauen<br />

verleihen statt es vorauszusetzen?<br />

Es liegt eine ganz reale Macht darin, seiner<br />

Identität zu trauen und sich darauf<br />

zu verlassen, dass man interessanter ist als<br />

das, was man anhat.<br />

Die Kluft für den Mann, der Anzug, wurde<br />

vor rund 200 Jahren etabliert und hat<br />

sich kaum verändert, wohingegen sich<br />

die weibliche Kleidung ungeheuren<br />

Wandlungen unterzogen hat. Wo finden<br />

Sie Ihren klassischen Ansatz für die<br />

Frauenmode?<br />

Mein Ansatz ist der gleiche für Männerund<br />

Frauenmode: Ausgangspunkt sind<br />

klassische Hemden und Jacken, die ich<br />

dann weiterentwickle. Ich verwende auch<br />

sehr gerne typische Herrenstoffe wie Flanell<br />

in der Frauenmode und umgekehrt,<br />

zum Beispiel Brokat für Herren.<br />

Ihr Vater trug seinen Anzug ganz souverän<br />

und hat Sie stark beeinflusst – gibt es für<br />

Frauen auch ein Kleidungsstück, das so<br />

selbstverständlich Macht vermittelt?<br />

Das Ensemble aus Kleid und Mantel, das<br />

ich für Michelle Obama entworfen habe,<br />

sollte diese Power vermitteln, und das<br />

ist mir auch gelungen. Ein präzise geschneidertes<br />

Kleidungsstück strahlt immer<br />

mehr Macht aus als lose, weniger definierte<br />

Garderobe.<br />

Die Macht sitzt also in den exakten<br />

Nähten. Aber unterminieren Sie mit Ihren<br />

kurzen Hosenbeinen und den knappen,<br />

kurzen Jacketts nicht die traditionelle<br />

Autorität des Herrenanzugs?<br />

Ich sehe das eher unter dem Gesichtspunkt<br />

des Selbstvertrauens, das sich<br />

durch individuelle und ungewöhnliche<br />

Sachen überträgt. Mir geht es darum,<br />

dass die Sachen sitzen. Die meisten<br />

Leute tragen sie nicht so eng wie ich,<br />

aber grundsätzlich kreiere ich einen Anzug,<br />

der nicht so überwältigend und damit<br />

so unmodisch ist, wie die traditionelle<br />

Version es nun schon so lange ist.<br />

Mit seiner Masse passt der gängige Anzug<br />

nur zur Arbeit, zum Ausgehen ist er nicht<br />

gedacht. Mein Anzug funktioniert immer.<br />

Europäer assoziieren mit kurzen Anzughosen<br />

das Image des typischen Amerikaners<br />

aus Filmen der fünfziger und sechziger<br />

Jahre – einer Ära, die Sie inspiriert.<br />

Ich beziehe mich gern auf eine Zeit, die<br />

einfacher war als die unsere. Und ich<br />

finde dieses knappe Stückchen Haut bei<br />

Männern auch sexy.<br />

Nicht für Frauen – die wurden wieder in<br />

die häusliche Sphäre verbannt, nachdem<br />

sie sich während des Krieges in der Berufswelt<br />

bewährt hatten.<br />

Ich politisiere meine Arbeit nicht. Für<br />

mich ist es interessanter, ein Kleid aus<br />

dieser Epoche für eine zeitgenössische<br />

junge Frau so zu gestalten, dass es ihr Power<br />

gibt, als davor zurückzuschrecken,<br />

was es einmal bedeutet haben mag. Michelle<br />

Obama ist das perfekte Beispiel:<br />

Sie trägt köpernah geschnittene, taillierte<br />

Kleider mit einem etwas weiteren Rock<br />

voller Selbstbewusstsein, und sie ist zweifelsohne<br />

eine mächtige Frau.<br />

Was hat Sie dazu bewogen, in die Frauenmode<br />

einzusteigen?<br />

Ich brauchte Zeit, um eine Kollektion<br />

zu entwickeln. Das Letzte, was die Welt<br />

braucht, ist mehr weibliche Mode: Ich<br />

empfinde es als Herausforderung, Kleider<br />

mit einer hieb- und stichfesten Existenzberechtigung<br />

zu entwerfen. Ich wünsche<br />

mir, dass Frauen diese Kleider ihr Leben<br />

lang besitzen. Das tue ich mir an.<br />

Sie sehen sich als Provokateur?<br />

Ich konfrontiere Leute gern mit Ideen,<br />

die sie herausfordern. Das ist meine Aufgabe.<br />

Wie meine weißen Tennissocken,<br />

die aus den Schuhen herausgucken. Und<br />

wenn auf einmal meine Sachen allen gefielen,<br />

würde ich mir auch Sorgen machen.<br />

Schließlich will ich meinen Stachel<br />

nicht verlieren.<br />

Sie leben in einem spartanischen Apartment<br />

und zugleich aber arbeiten Sie für<br />

eine höchst materialistische Industrie.<br />

Wie passt das zusammen?<br />

Ich will nur ein paar wenige, gut konzipierte<br />

und gut gemachte Dinge besitzen.<br />

Viel zu haben und zu konsumieren, interessiert<br />

mich nicht.<br />

Sie haben keine exzessiven Tendenzen?<br />

Ich trinke manchmal zu viel. Ich lebe gut,<br />

aber ich kann mich kontrollieren.<br />

Humor ist die schwierigste Attitüde in der<br />

Mode – es ist nur ein kleiner Schritt von<br />

der Ironie zur Lächerlichkeit.<br />

Ironie und Lächerlichkeit liegen dicht nebeneinander,<br />

ebenso wie Mode und Kostümierung<br />

nicht weit voneinander entfernt<br />

sind. Ich nehme alle meine Ideen<br />

und Bezugspunkte ernst, aber ich will es<br />

mit leichter Hand tun – wenn man die<br />

Dinge zu ernst nimmt, <strong>wir</strong>d alles sehr<br />

langweilig.<br />

Das Gespräch führte Claudia Steinberg<br />

Foto: Karin Kohlberg für <strong>Cicero</strong><br />

100 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Zeigt her eure Knöchel.<br />

Thom Browne im Flagship<br />

Store in Manhattan. Wenige<br />

Modemacher werden<br />

derzeit so häufig kopiert<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 101


| S t i l | K R A W A T T E<br />

102 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Strategischer<br />

Stofflappen<br />

Spitzenpolitiker weltweit trauen sich, die Krawatte<br />

auch mal wegzulassen. Wann ist sie verzichtbar?<br />

von Katrin Wilkens<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 103


| S t i l | K R A W A T T E<br />

S<br />

ie baumelt herab, engt den Kehlkopf<br />

ein und titscht in die Suppe,<br />

wenn man nicht aufpasst. Die<br />

Krawatte ist eigentlich das lächerlichste<br />

aller westlichen Männer-Machtsymbole,<br />

schlimmer als militärische<br />

Schulterklappen. Schon die Synonyme<br />

zeigen, dass man zu ihr allenfalls eine ambivalente<br />

Beziehung unterhält: Schlips, Binder,<br />

Senkel – respektvoll hört sich das alles nicht<br />

an. Für fahrige Frauenhände ist ein Krawattenknoten<br />

ähnlich schlecht zu lösen wie für<br />

Männer der BH-Verschluss.<br />

Aber <strong>wir</strong> haben uns an sie gewöhnt, und<br />

so sehen bisweilen die Männer lächerlich<br />

aus, die meinen, ohne sähen sie besser aus:<br />

Philipp Rösler mit der Figur einer Aluminiumleiter,<br />

steif, wetterfest, aber am sinnvollsten<br />

eingesetzt, wenn er irgendwo anlehnt:<br />

Ohne Krawatte <strong>wir</strong>kt er teilangezogen,<br />

als trage er nur einen Socken. Frank-Walter<br />

Steinmeier, der gern mal krawattenfrei in<br />

den Medien auftritt, macht den Eindruck,<br />

als hätte ihn eine Brandschutzübung zu früh<br />

aus der Ankleide getrieben. Horst Seehofer,<br />

beim traditionellen Sommerempfang des<br />

Landtags ohne hängendes Schmuckwerk,<br />

symbolisierte mit seinem Casual Look eher<br />

Unzuverlässigkeit als Lässigkeit.<br />

Trotzdem ist es ein Signal, dass sich Politiker<br />

aller Parteien überhaupt trauen, die<br />

Krawatte wegzulassen. Wie verzichtbar ist<br />

sie? Und wann?<br />

Es sind wenige, die ohne Krawatte ausnahmslos<br />

gut angezogen <strong>wir</strong>ken. Beileibe<br />

sind es nicht per se die Grünen, die einst<br />

im Pullover in den Bundestag einzogen.<br />

Einer der überzeugten Krawattenträger ist<br />

Winfried Kretschmann.<br />

Während die meisten erfolgreichen Revolutionen<br />

von unten beginnen, ist der<br />

Schlips-Streit nur von oben zu gewinnen.<br />

In 20 Jahren <strong>wir</strong>d man von Barack Obama<br />

einige ikonografische Bilder im Gedächtnis<br />

haben: ein paar von ihm mit seiner Frau im<br />

ärmellosen Kleid, ein paar von ihm selbst<br />

im nachtblauen Anzug – und eben jenes,<br />

das ihn im Weißen Haus zeigt, als er live<br />

Osama bin Ladens Erschießung verfolgt:<br />

krawattenlos. Auch während des Wirbelsturms<br />

Sandy 2012 zeigte sich der Präsident<br />

der Vereinigten Staaten auffällig leger. „Ich<br />

bin einer von euch“, tröstete das ausgewaschene<br />

blaue Hemd, das er trug.<br />

Worte riechen leicht nach PR-Strategie,<br />

so lässt Obama lieber die Kleidung sprechen,<br />

die zwar mindestens ebenso sorgfältig<br />

ausgewählt wurde, aber immer noch den<br />

Ruch von Individualität und Spontaneität<br />

vermittelt. Als könne sich ein US-Präsident<br />

aussuchen, wann und zu welchem Anlass<br />

er Krawatte trägt!<br />

Während früher das Kleidungsprotokoll<br />

gouvernantenhaft von der strengen<br />

Erica Pappritz („Das Buch der Etikette“)<br />

verfolgt wurde, sind heute hauptsächlich<br />

Die Bedeutung<br />

der Krawatte hat<br />

sich potenziert,<br />

obwohl sie weniger<br />

getragen <strong>wir</strong>d. Sie ist<br />

Inszenierungsinstrument<br />

eines sozialen<br />

Bildungsspiels<br />

104 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Fotos: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong> (Seiten 102 bis 105)<br />

die Ehefrauen dafür zuständig zu entscheiden,<br />

was protokollarisch erlaubt und was<br />

schlichtweg daneben ist. Die Frage, wann<br />

eine Krawatte kleidet und wann der freie<br />

Kragen das richtige Signal aussendet, gehört<br />

zu einer klugen Inszenierung.<br />

„Wenn heute Politiker ohne Krawatten<br />

auftreten, dann tun sie das aus sehr strategischen<br />

Gründen“, erklärt Silke Frink.<br />

„ Obama in aufgekrempelten Ärmeln demonstriert:<br />

Trotz Freizeitlook ist er im Arbeitsmodus.<br />

Die fehlende Krawatte ist als<br />

Nicht-Symbol fast noch stärker als eine<br />

vorhandene.“<br />

Silke Frink ist Imagedramaturgin, auf<br />

Deutsch: Stilberaterin. Die Friseurmeisterin<br />

und jahrelange Maskenbildnerin von<br />

ARD und ZDF lebt heute davon, Unternehmer,<br />

Politiker und Medienmenschen zu<br />

beraten, wie sie sich individuell und dennoch<br />

angepasst an die jeweilige Unternehmenskultur<br />

kleiden, um einen souveränen<br />

Auftritt vor der Kamera oder auf dem Podium<br />

zu absolvieren. Wer zu ihrem Kundenkreis<br />

gehört, verrät sie nicht, kaum<br />

etwas wäre für einen Politiker so demütigend<br />

wie das Eingeständnis: „Früher hat<br />

mir Mami die Hemden rausgelegt, heute<br />

gehe ich zu einer Imagedramaturgin.“<br />

„Es ist vielfach schwieriger geworden<br />

als früher, sich in der modernen Arbeitswelt<br />

angemessen zu kleiden“, sagt Frink.<br />

Früher sei das anders gewesen: Der Mann<br />

über 21 Jahre hatte im öffentlichen Raum<br />

eine Krawatte zu tragen. Anders kam man<br />

nicht einmal in ein Restaurant. Also gab<br />

es auch nicht besonders originelle Varianten.<br />

Man band sich das Ding um – und<br />

gut. „Die Krawatte war früher ein männliches<br />

Rangordnungs- und Fruchtbarkeitssymbol“,<br />

sagt Frink, „es wurde nicht nur<br />

als Schmuck getragen, sondern war ein gesellschaftliches<br />

Diktat. Heute hat sich die<br />

Bedeutung der Krawatte, obwohl sie weniger<br />

getragen <strong>wir</strong>d, potenziert. Die Krawatte<br />

ist zum Inszenierungsinstrument eines<br />

sozialen Bildungsspiels geworden. Die<br />

Verantwortung, es zu beherrschen, liegt bei<br />

jedem Einzelnen. Warnung der Imagedramaturgin:<br />

„Es ist viel schlimmer, eine billige<br />

Krawatte zu tragen oder den Knoten<br />

nicht perfekt binden zu können, als keine<br />

Krawatte zu tragen.“ Politiker mit einem<br />

jungen Image à la Obama – selbst in der<br />

zweiten Amtszeit und mit 51 Jahren profitiert<br />

er noch von seinem Ruf, sportlich<br />

und deshalb tatkräftig zu sein – dürfen sich<br />

selbstverständlich auch krawattenlos zeigen,<br />

„vorausgesetzt, sie haben einen trainierten<br />

Oberkörper“.<br />

Daraus kann man schlussfolgern: Die<br />

Krawatte an sich ist wichtiger geworden,<br />

obwohl sie seltener getragen <strong>wir</strong>d. Das ist<br />

wohl so ähnlich wie mit dem englischen<br />

Königshaus: kaum noch was zu sagen – aber<br />

eine Mordssymbolkraft in den Medien.<br />

Königshaus und Krawatten: Sie sind<br />

keine Pflicht mehr, sondern Gestaltungsoptionen.<br />

Wenn man sich schon zu ihnen<br />

bekennt – dann auch mit einem gewissen<br />

Spaß am Pomp.<br />

Was für eine Wendung in der Geschichte<br />

eines Stofflappens, der ursprünglich<br />

lediglich eine reinigungsarme Erkennungsfunktion<br />

für Soldaten hatte. Zwar<br />

findet man schon beim ersten chinesischen<br />

Kaiser Halsbinden als Grabbeilage (circa<br />

200 v. Chr.) und auch die Römer schützten<br />

ihren Hals durch Toga-Umwicklungen,<br />

aber so richtig zum Einsatz kamen sie erst<br />

im Dreißigjährigen Krieg. Damals benutzten<br />

die kroatischen Söldner („ cravate“ =<br />

„Kroate“) sie statt der pflegeaufwendigen<br />

Halskrausen. Ähnlich wie bei den Parteibändern<br />

im Sportunterricht sah man auf<br />

den ersten Blick: Wer ist Freund, wer ist<br />

Feind?<br />

Männer, die diese Mode übernahmen,<br />

demonstrierten mit der Krawatte von Anfang<br />

an ihre reale oder vorgebliche Verbundenheit<br />

zum Militär.<br />

Sehr schnell nach Einführung der Krawatte<br />

im Militär trugen die Hauptleute der<br />

Kompanie Krawatten aus besserem Stoff als<br />

die bloßen Söldner. Von Anfang an signalisierte<br />

der Knoten also auch den Rang. Das<br />

ist so geblieben, nur sind die Stoffe heute<br />

edler, das Design und die Funktion durchdachter.<br />

Krawatten müssen fernsehtauglich<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 105


| S t i l | K R A W A T T E<br />

sein (kein Blau, kein wildes Muster), erkennbar<br />

teuer (Hermès), aber dennoch<br />

ganz und gar durchindividualisiert. Wäre<br />

die Krawatte ein Getränk, wäre sie heute<br />

ein edler Himbeerbrandwein. Ein destilliertes<br />

Hochkaräter-Getränk, das maßgeblich<br />

über Genuss oder Verdruss einer guten<br />

Mahlzeit entscheidet.<br />

Der bunte Hund der Krawattenindustrie<br />

sitzt in Berlin-Kreuzberg und leitet<br />

Deutschlands einzige Krawattenmanufaktur<br />

„Edsor“, kontrastreich zwischen Dönerbude<br />

und Telefonladen. Zwanziger-Jahre-<br />

Chic über einem verranzten Hinterhof.<br />

Es gibt in der Politik<br />

wenige, die ohne<br />

Krawatte immer<br />

gut angezogen sind.<br />

Der Casual Look<br />

symbolisiert dann<br />

eher Unzuverlässigkeit<br />

statt Lässigkeit<br />

Jan-Henrik Scheper-Stuke sieht aus<br />

wie ein gepellter Abtanzballschüler. Muttis<br />

Liebling, Gelfrisur, Handkuss. „Natürlich<br />

geht der Kulturtrend, Krawatten zu kaufen,<br />

zurück. Aber langsamer als von der Industrie<br />

befürchtet“, bilanziert auch er. „Was zunimmt,<br />

ist der Wunsch, auch mit Krawatten<br />

eine Geschichte zu erzählen.“<br />

Das tun seine Krawatten. Zu jedem<br />

Stoff kann er Anekdoten liefern, dieser<br />

Z<strong>wir</strong>n kommt aus Mailand, jener ist dreifach<br />

verschieden gewebt, und besonders<br />

gut laufen bei ihm – Motivkrawatten. Jene<br />

Scheußlichkeiten, von denen <strong>wir</strong> hofften,<br />

seit zu Guttenberg sei keiner je wieder darauf<br />

gekommen, Binder mit Gämsen oder<br />

Ziegen zu tragen.<br />

Gibt es Männer, die gewinnen, wenn<br />

sie Bärchen auf ihrer Krawatte haben? Die<br />

man für erotischer, charmanter, gar intelligenter<br />

hält, als sie sind, wenn man die<br />

Tierchen-Motive auf dem Stoff zwischen<br />

Hals und Gürtel betrachtet?<br />

„Aber natürlich gehen auch Bärchen.<br />

Diese hier sogar besonders gut – kein<br />

Blau, kein Grün, fernsehtauglich, von weitem<br />

<strong>wir</strong>kt es wie ein geometrisches Muster.“<br />

Scheper-Stuke sagt das mit einer Verve,<br />

mit der auch keiner Reich-Ranicki widersprechen<br />

würde, wenn er von Charlotte<br />

Roche schwärmen würde.<br />

Und dann zeigt er noch all die anderen<br />

Tiere aus seiner Kollektion, die gut funktionieren,<br />

daher viel gekauft werden: Elefanten,<br />

na klar, Dickhäuter-Symbol, der FDP-<br />

Generalsekretär Patrick Döring habe sogar<br />

die gesamte Elefantenkollektion bei sich zu<br />

Hause im Schrank, Libellen – selbst Marienkäfer.<br />

„Das ist eine Art Verspieltheit, die<br />

man sich erst verdienen muss. Ein Praktikant<br />

sieht damit lächerlich aus. Ein Chef<br />

bricht spielerisch das Macht-Image, das man<br />

von ihm hat“, sagt Scheper-Stuke. Er selbst<br />

ist so eine Mischung aus Lars Windhorst<br />

und Dorian Gray und hegt sein mediales<br />

Image wie ein ganz und gar kostbares Straußenei,<br />

das noch lange nicht ausgebrütet ist.<br />

Früher hat er Politikerfahrung gesammelt,<br />

saß für die CDU im Gemeinderat<br />

von Lohne in Niedersachsen, dicker sei er<br />

damals gewesen, schnaubt er verächtlich,<br />

unattraktiver, das viele Essen, das Zusammenhocken.<br />

Na, und modisch gesehen war<br />

es ein Desaster. Politiker sind alles, aber<br />

keine ästhetischen Vorbilder! „Spitzenpolitiker<br />

kommen oft aus kleinen Dörfern.<br />

Da hat man keine Ahnung von Geschmack<br />

und darf auch um Gottes willen nicht aus<br />

der Reihe tanzen. Sonst <strong>wir</strong>d man nicht gewählt“,<br />

erklärt er die Melange aus Fantasielosigkeit<br />

und Opportunismus.<br />

Politiker wollen nicht damit in Verbindung<br />

gebracht werden, dass sie Geld für<br />

etwas vermeintlich Oberflächliches ausgeben,<br />

man erinnere sich an den Eklat, als<br />

der damalige Verteidigungsminister Rudolf<br />

Scharping in Verdacht geriet, sich Anzüge<br />

von einem PR-Berater kaufen zu lassen.<br />

Gleichzeitig wollen Politiker so seriös<br />

wie möglich erscheinen. Diese Mischung<br />

kriegen sie nur hin, wenn sie sich konsensorientiert<br />

kleiden. Ähnlich uniform wie der<br />

weiße Kittel beim Arzt, die schwarze Soutane<br />

beim Priester, erwarten <strong>wir</strong> von Politikern<br />

eine Vertrauensuniform, eine Kleidung,<br />

die Ernsthaftigkeit und Schwere<br />

symbolisiert. Offenbar erwarten das Politiker<br />

auch untereinander.<br />

Obwohl es keine vorgeschriebene Kleiderordnung<br />

für Abgeordnete gibt, verweigerte<br />

2011 Bundestagspräsident Lammert<br />

zwei Politikern von Linkspartei und Grünen<br />

das Amt des Schriftführers, weil sie<br />

ohne Krawatten nicht angemessen gekleidet<br />

seien. Absurde Strafe maulten welche,<br />

Willkür! Der Ältestenrat des Bundestags<br />

verteidigte jedoch Lammerts Sanktion: „Es<br />

geht weder um freie Entfaltung der Persönlichkeit<br />

noch um das Selbstbestimmungsrecht<br />

der Abgeordneten.“ Also gilt zumindest<br />

für bestimmte Aufgaben weiterhin ein<br />

ungeschriebener Uniformzwang im Bundestag.<br />

In anderen Ländern, England, Spanien,<br />

Italien, Türkei, ist das Tragen der Krawatte<br />

eine Selbstverständlichkeit, mal mit<br />

mehr, mal weniger Synthetikanteil. Aber<br />

ausgerechnet Deutschland ist seit den<br />

Achtundsechzigern Vorreiter im Casual<br />

Friday Look am Montag.<br />

Laufen aber Ärzte ohne Kittel herum,<br />

Politiker ohne Krawatte, Geschäftsleute<br />

ohne Anzug, nimmt das den Berufen ihren<br />

Identifikation stiftenden Wiedererkennungswert.<br />

Die Funktion, die optische<br />

Rollenzuschreibung fällt weg, alles<br />

ersäuft in Jack-Wolfskin-Pfötchen-Mode.<br />

Und: die optische Trennung zwischen Beruf<br />

und Privatleben verschwindet ebenfalls.<br />

In den Sechzigern und Siebzigern wussten<br />

Kinder frühzeitig, dass sich ertragreicher<br />

ums Taschengeld verhandeln ließ, wenn<br />

der Vater zuerst den strengen Knoten am<br />

Hals mit zerrender Geste gelockert hatte.<br />

Heute ist das Ignorieren der Krawatte<br />

ein Indiz, dass sich Arbeit und Freizeit miteinander<br />

vermischen. Da die Symbolik immer<br />

wichtiger <strong>wir</strong>d, <strong>wir</strong>d man eines Tages<br />

Krawattenmuster womöglich kunsthistorisch<br />

deuten wie heute die roten Schuhsohlen<br />

von Ludwig XIV. Freilich entstehen<br />

nach und nach neue Signale für Macht und<br />

Profession. Handy, Smartphone oder Tablet-PC<br />

zum Beispiel jeweils mit der individuellen<br />

Hülle. Die Lederkleidung fürs iPad<br />

kommt bestimmt. Mit Bärchenmotiv.<br />

Katrin wilkens<br />

ist Journalistin in Hamburg. Sie<br />

lernte von ihrem Vater früh, den<br />

doppelten Windsor zu binden<br />

Foto: Simone Scardovelli (Autorin)<br />

106 <strong>Cicero</strong> 6.2013


K l e i d e r o r d n u n g | S t i l |<br />

Warum ich trage, was ich trage<br />

BARBARA SUKOWA, SCHAUSPIELERIN<br />

Fotos: Karin Kohlberg für <strong>Cicero</strong><br />

W<br />

AS ich mag, das steht mir nicht:<br />

Heitere Kleider mit großen Blumen<br />

in leuchtenden Farben, die<br />

machen mich fröhlich. Dafür müsste ich<br />

aber eine schwarzhaarige, rassige Frau<br />

sein, wie die Zirkusprinzessin namens Elvira,<br />

von der ich als Kind träumte. Glücklicherweise<br />

habe ich nur Söhne, ein Mädchen<br />

wäre in Rüschen erstickt.<br />

Früher habe ich oft am Drehort eingekauft,<br />

aber die Sachen sind dann unweigerlich<br />

von meiner Rolle beeinflusst: Bei Lola<br />

waren es Nuttenstiefel, bei Rosa Luxemburg<br />

graues Sozialistenzeug. Bei Hannah Arendt<br />

wären es Kleider gewesen, wie sie meine<br />

Mutter in den sechziger Jahren getragen hat,<br />

schlicht, mit ein wenig Schmuck. Hannah<br />

war kein Fashion Victim, aber es war ihr sehr<br />

wichtig, die Form zu wahren. Sie nahm Lippenstift<br />

und besaß einen Pelzmantel, den sie<br />

im Sommer sorgfältig einmotten ließ. Seit<br />

Jahren hängt ein Pelz von meiner Mutter<br />

in meinem Schrank, ich habe mir immer<br />

wieder mal überlegt, ihn als Futter in einen<br />

Mantel nähen zu lassen – das Tier ist ja nun<br />

schon so lange tot, aber man will ja nicht damit<br />

herumlaufen und dafür werben.<br />

In den achtziger Jahren hatte ich das<br />

Angebot, mich von Horst P. Horst fotografieren<br />

zu lassen, ich habe es damals abgelehnt,<br />

weil ich Pelze hätte tragen müssen.<br />

Am besten sehe ich in schmal geschnittenen<br />

Kleidern mit guter Schulter aus, aber<br />

die finde ich unbequem. In diesem Kleid<br />

von Burberry will ich dagegen am liebsten<br />

von morgens bis abends leben. Man kann<br />

sogar darin schlafen, denn es hat den Knitter<br />

schon in sich. Mit einem schönen Schal<br />

und einer großen Kette ist es sogar abendlich.<br />

Nur kann ich nicht immer Schwarz<br />

tragen, das macht mich depressiv. Dann<br />

brauche ich zumindest ein rotes Tuch oder<br />

helle Unterwäsche.<br />

Ich schaue mir gerne Modemagazine<br />

an, vor allem wegen der Fotografie, aber<br />

natürlich auch wegen der Kleider. Die<br />

schönsten Sachen haben allerdings meist<br />

keine Ärmel, das finde ich für mich nicht<br />

mehr schmeichelhaft, und dann sage ich<br />

mir: Das hättest du getragen, als du 20<br />

warst. Zugleich bin ich mir meines Aussehens<br />

bewusster als früher und trage ab<br />

und zu auch Make-up. Aber irgendwann<br />

hat man ein Gesicht bekommen, zu dem<br />

man stehen muss, und die Ehrlichkeit im<br />

Gesicht muss mit Ehrlichkeit in der Kleidung<br />

korrespondieren.<br />

Aufgezeichnet von Lena Bergmann<br />

Barbara Sukowa ist<br />

Schauspielerin und Sängerin.<br />

Zuletzt spielte sie die Rolle<br />

der Hannah Arendt im<br />

gleichnamigen Film. Sie<br />

lebt in New York<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 107


| S t i l | K ü c h e n k a b i n e t t<br />

Halbe-halbe<br />

Rechnungen werden oft geteilt, doch<br />

Be<strong>wir</strong>tungsbelege nicht. Die neuen<br />

Fettnäpfchen beim Restaurantbesuch<br />

Von Julius Grützke und Thomas Platt<br />

W<br />

er zahlt? Für viele Restaurantbesucher klang diese<br />

Frage, die ihnen ein ganzes Menü vergällen konnte,<br />

lange wie ein bitteres Dessert. Gerade unter frischen<br />

Bekanntschaften und befreundeten Ehepaaren schwebte das Problem<br />

der Zechbewältigung wie eine dunkle Wolke über dem gemeinsamen<br />

Abend: Beim Begleichen konnte es zu Zerwürfnissen<br />

kommen. Wer darauf bestand, alles zu übernehmen, brachte<br />

sich in den Verdacht, ein Großkotz zu sein, wer alles bis auf Heller<br />

und Cent aufteilte, galt als Pfennigfuchser. Das Problem des<br />

Trinkgelds war dabei noch gar nicht erörtert.<br />

Seit die meisten Frauen über eigene Einkommen verfügten und<br />

die preislose „Damenspeisekarte“ verschwunden war, herrschte<br />

ohnehin Unsicherheit über das korrekte Verhalten bei der Liquidation.<br />

Doch inzwischen haben sich neue Konventionen herausgebildet,<br />

und man teilt die Summe mittels überschlägiger Kalkulation,<br />

ohne Streit zu verursachen. Ungemach droht erst, wenn<br />

der Kellner mit dem Geld gegangen ist und den Be<strong>wir</strong>tungsbeleg<br />

zurückgelassen hat. Denn dieses unteilbare Dokument weckt<br />

Begehrlichkeiten. Wer jetzt seinen Anspruch darauf aus der Höhe<br />

seines möglichen Steuervorteils ableitet, sorgt für Verstimmungen<br />

– nicht nur bei Tisch.<br />

Dass es sich bei der Einreichung von privaten Restaurantquittungen<br />

faktisch um eine Steuerhinterziehung handelt, kommt gerade<br />

denen nicht in den Sinn, die sich am Stammtisch moralisch<br />

über jene dicken Fische ereifern, die den Behörden ins Netz gegangen<br />

sind. Dabei bietet sich in der Gastronomie jedem aufmerksamen<br />

Beobachter der Anblick einer Schatten<strong>wir</strong>tschaft, die zum<br />

großen Teil auf Steuervermeidung aufgebaut ist.<br />

Besonders Restaurants der Spitzenklasse zittern davor, dass die<br />

Absetzbarkeit von Be<strong>wir</strong>tungsbelegen aus dem Steuerrecht gestrichen<br />

<strong>wir</strong>d. Die kulinarischen Kreuzzüge von Spesenrittern würde<br />

dies mit einem Schlag beenden. Ohne diese Gäste aber wären die<br />

aufwendigen Soupers der Haute Cuisine nicht finanzierbar, denn<br />

die Zahl der Gourmets, die sich so etwas leisten können und wollen,<br />

ist außerordentlich klein. Dazu kommt noch, dass diese Genießer<br />

gar nicht so viel Interesse an dem Rüstungswettlauf um immer<br />

wertvollere Zutaten haben wie jene Steuerfüchse, denen die<br />

Rechnung gar nicht hoch genug sein kann.<br />

So werden Kompositionen aus geangeltem und dann höchstbietend<br />

versteigertem Steinbutt oder Wagyu-Rind zu Bauherrenmodellen<br />

auf dem Teller und ihre Architekten zu Profiteuren eines<br />

Aufschwungs in der Gast<strong>wir</strong>tschaft. Jeder Finanzminister, der<br />

diesen Mechanismus durchbrechen will, ist zum Scheitern verurteilt,<br />

denn Politik <strong>wir</strong>d zum großen Teil in Restaurants auf Spesen<br />

gemacht und insbesondere die Prominenten<strong>wir</strong>te haben dadurch<br />

einen Draht zu den Mächtigen. Die Drohung vieler Lokalschließungen<br />

und des Verfalls der kulinarischen Kultur verhindert, dass<br />

sich etwas ändert. Dass dabei die Sterneküche zu einem schützenswerten<br />

Kulturgut gemacht <strong>wir</strong>d, lässt Schlimmes ahnen: Wie das<br />

Subventionstheater könnte auch die Spitzengastronomie sich in<br />

Experimenten verlieren, die auf Geschmack und Publikum nicht<br />

mehr angewiesen sind.<br />

Doch während eine solche Entwicklung nur droht, hat sich<br />

eine andere bereits vollzogen. Die Schere zwischen der Hochgastronomie<br />

und dem Fraß aus dem Discounter ist in den vergangenen<br />

Jahren kontinuierlich auseinandergegangen – ohne dass sich<br />

die Politik abseits von Willenserklärungen anlässlich von Skandalen<br />

darum gekümmert hätte. Während Spitzenköche eine abgehobene<br />

Esskultur zelebrieren, in der Prahlhans Küchenmeister<br />

ist, nimmt der Rest der Republik mit Gammelfleisch und Ekeleiern<br />

vorlieb. So <strong>wir</strong>d die kulinarische Situation zur Karikatur einer<br />

in Arm und Reich zersprengten Gesellschaft, deren Unterschicht<br />

ruchlosen Geschäftemachern ausgesetzt <strong>wir</strong>d. Die oberen Zehntausend<br />

laben sich derweil an steuersparenden Spezialitäten. Wem<br />

so etwas nicht schmeckt, der könnte ein Zeichen setzen und den<br />

Zahlungsbeleg im Restaurant liegen lassen. Zumal man so auch<br />

Streit vermeidet.<br />

Julius Grützke und Thomas Platt<br />

sind Autoren und Gastronomiekritiker.<br />

Beide leben in Berlin<br />

illustration: Thomas Kuhlenbeck/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser<br />

108 <strong>Cicero</strong> 6.2013


DIE ENTSCHEIDUNG DES JAHRES – BUNDESTAGSWAHL AM 22. SEPTEMBER<br />

Wer soll<br />

unser Land<br />

regieren?<br />

ALLE DUELLE, ALLE WAHLKREISE,<br />

ALLE ARGUMENTE<br />

Wie führen Merkel und Steinbrück ihre Kampagnen?<br />

Welche Strategien, welche Kniffe <strong>wir</strong>ken? <strong>Cicero</strong> präsentiert<br />

die Akteure vor und hinter der Bühne, analysiert erstmals<br />

die Duelle in allen 299 Wahlkreisen und erklärt, vor welchen<br />

Maßnahmen sich keine Regierung in Zukunft drücken kann.<br />

Damit Sie im Wahlkampfsommer mitreden können und am<br />

22. September die richtige Entscheidung treffen.<br />

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| S a l o n<br />

Radikal unentschieden<br />

Tim Bendzko, Star der „jungen Milden“, singt neue Lieder mit Locken und Gefühl und wundert sich sehr<br />

von thomas Winkler<br />

G<br />

eorge Clooney wohnt hier,<br />

wenn er in Berlin dreht. Madonna<br />

mietet gerne zwei Etagen.<br />

Das Soho House ist die Herberge der internationalen<br />

Stars, die sich in die deutsche<br />

Hauptstadt bequemen. Heute steht ein aus<br />

Funk und Fernsehen bekannter Tanzlehrer<br />

namens Detlef Soost in der Lobby, und<br />

Tim Bendzko weilt im vierten Stock.<br />

Dort oben hat die Plattenfirma eine<br />

Suite angemietet. Der 28-Jährige wohnt<br />

nicht hier, er ist gebürtiger Berliner. Die<br />

Suite dient nur dazu, den Interview-Marathon<br />

abzuwickeln, der nötig <strong>wir</strong>d, wenn<br />

ein erfolgreicher Sänger wie Bendzko ein<br />

neues Produkt lanciert. Es heißt „Am seidenen<br />

Faden“ und ist sein zweites Album.<br />

Bendzko singt: „Es ist ein Wunder, dass<br />

ich lebe und Lieder drüber singen kann.“<br />

Tatsächlich darf man sich fragen, weshalb<br />

ausgerechnet Bendzko solche Erfolge<br />

feiert. Für sein Debütalbum „Wenn Worte<br />

meine Sprache wären“ bekam er drei Mal<br />

Gold, die Single „Nur noch kurz die Welt<br />

retten“ war der bestverkaufte deutsche<br />

Song 2011. Anschließend räumte er Echos,<br />

Bambis und alle verfügbaren Preise ab. Momentan<br />

entkommt man ihm im Fernsehen<br />

kaum, weil er in der erfolgreichen Castingshow<br />

„The Voice Kids“ die gesanglichen<br />

Leistungen Halbwüchsiger beurteilt. Er erzählt,<br />

dass nach jeder Show die alten Lieder<br />

in den Charts nach oben klettern. Demnächst<br />

<strong>wir</strong>d er in der Jury für den Eurovision<br />

Song Contest sitzen und im kommenden<br />

Sommer die 22 000 Plätze der<br />

Berliner Waldbühne füllen: nicht schlecht<br />

für jemanden, der vor drei Jahren neben<br />

dem Studium der evangelischen Theologie<br />

und der nichtchristlichen Religionen sein<br />

Glück bei Talentwettbewerben versuchte.<br />

Das Studium hat Bendzko aufgegeben.<br />

Er ist ein Star ohne Starqualitäten oder Allüren.<br />

Die Plattenfirma hat ihm zwar eine<br />

Visagistin mitgeschickt, aber deren Aufgabe<br />

besteht darin, Bendzkos Gesicht so zu<br />

schminken, dass es auf den Fotos möglichst<br />

ungeschminkt aussieht. Zum Fotoshooting<br />

trägt er ein ausgewaschenes T-Shirt und<br />

Jeans gerade so auf halb acht, dass die Unterwäsche<br />

zu sehen ist wie bei vielen Altersgenossen.<br />

Während die Fotos geschossen<br />

werden, windet er sich und fragt, wohin er<br />

gucken soll. Später sagt er: „Ich versuche,<br />

mir keine Gedanken darüber zu machen,<br />

wie ich in der Öffentlichkeit <strong>wir</strong>ke, weil<br />

ich sonst nicht mehr der wäre, der ich bin.“<br />

Ja, wer ist dieser Tim Bendzko? Man<br />

weiß, dass er in Berlin-Kaulsdorf geboren<br />

wurde, in Köpenick aufwuchs und vielleicht<br />

Profifußballer hätte werden können. Dass<br />

er Gitarrenunterricht bekam, mit 16 Jahren<br />

anfing, Lieder zu schreiben und seine<br />

Stunde schlug, als er im September 2011<br />

Stefan Raabs Bundesvision Song Contest<br />

gewann. Von da an war Bendzko der sichtbarste<br />

einer ganzen Welle von jungen Sängern,<br />

die Philipp Poisel, Max Prosa oder<br />

Andreas Bourani hießen, gefühlige bis<br />

schmalzige Lieder sangen und als „Die jungen<br />

Milden“ in die bundesdeutsche Popgeschichte<br />

eingingen. Man weiß also eigentlich<br />

allerhand über Tim Bendzko, aber<br />

trotzdem bleibt er seltsam konturlos.<br />

Das mag an den Liedern liegen, die er<br />

schreibt. Die sind schlau, aber nicht besonders<br />

clever, manchmal intelligent, dabei<br />

leise und vorsichtig und bestimmt nicht<br />

provokant. Oft übernehmen Streicher oder<br />

Klaviere die Führung, während die Liebste<br />

„nur einen Herzschlag entfernt“ wartet, der<br />

Protagonist „ein Gefühl im Bauch“ hat<br />

oder aus Tränen Brücken gebaut werden.<br />

„Ich will Lieder schreiben“, sagt Bendzko,<br />

„weil sich das für mich richtig anfühlt.“<br />

Es gab Kritiker, die nannten diese Lieder<br />

Schlager. „Es ist mutig, über Gefühle<br />

zu singen“, kontert Bendzko. Wie er über<br />

Gefühle singt, ziemlich unverstellt und ungeschützt,<br />

das gefällt, wie er gerne zugibt,<br />

vor allem Frauen Anfang zwanzig. Denen<br />

gefällt auch die Frisur des Sängers. „Es ist<br />

schon erstaunlich“, sagt Bendzko, „was so<br />

ein paar Locken auslösen können.“<br />

Unter den Locken sitzt ein schlauer<br />

Kopf. Aber auch einer, der sich grundsätzlich<br />

scheut, Stellung zu beziehen. „Ich will<br />

niemandem meine Meinung aufdrücken“,<br />

sagt er. In seinem größten Hit verabschiedete<br />

sich Bendzko, um die Welt zu retten,<br />

und checkte dann doch nur 148 Mails. Das<br />

war natürlich ironisch gemeint, auch wenn<br />

es nicht jeder so verstanden hatte und der<br />

Song als Ausdruck einer Generation interpretiert<br />

wurde, die sich von Praktikum zu<br />

Praktikum hangelt, irgendwas mit Medien<br />

machen will und trotz eines Lebens in sozialen<br />

Netzwerken das Gefühl nicht los<strong>wir</strong>d,<br />

dass niemand auf sie wartet.<br />

Bendzko wollte nie der Klassensprecher<br />

dieser Generation werden. Deshalb sagt er<br />

Talkshows ab, in denen er nicht zur Musik<br />

befragt werden soll. Deshalb sagt er: „Ich<br />

habe keine konkrete Botschaft.“ Und deshalb<br />

lacht er, als man den Verdacht äußert,<br />

der neue Song „Wo sollen <strong>wir</strong> nur hin“ sei<br />

womöglich politisch. Bendzko singt: „Wir<br />

haben es satt, in eurem Takt zu marschieren.“<br />

Wer hinter dem „Wir“ steht und wer<br />

„die“ sind, die „unseren Stolz gekauft“ und<br />

„unseren Mut geraubt“ haben, will Bendzko<br />

nicht erklären: „Ich will mit dem Song einfach<br />

ein Grundgefühl ausdrücken, ein Gefühl,<br />

dass ich irgendwie unzufrieden bin<br />

mit diesem blinden Mitmarschieren.“<br />

Irgendwie dagegen sein, irgendwie<br />

auch nicht. Ein Star sein, aber sich nicht<br />

wie einer benehmen. Lieder schreiben, weil<br />

man sie schreiben muss, obwohl man nicht<br />

so genau weiß, was man eigentlich sagen<br />

will. Diese Unentschiedenheit ist das Geheimnis<br />

des Erfolgs von Tim Bendzko. Sie<br />

macht ihn zu dem, was er ist: einem Star,<br />

der keiner sein will. Und genau deshalb einer<br />

geworden ist.<br />

Thomas Winkler<br />

schrieb schon über Popmusik,<br />

Film und Sport, als Tim<br />

Bendzko noch keine Lieder<br />

schrieb<br />

Fotos: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong>, Privat (Autor)<br />

110 <strong>Cicero</strong> 6.2013


„Ich bin irgendwie<br />

unzufrieden mit<br />

diesem blinden<br />

Mitmarschieren“<br />

Tim Bendzko sucht auf seinem neuen Album<br />

den „seidenen Faden“ der Gegenwart<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 111


| S a l o n<br />

Das Böse ist nie banal<br />

Der Künstler Rithy Panh dokumentiert den Terror der Roten Khmer, unter dem er selbst litt<br />

von Claire-Lise Buis<br />

E<br />

r spricht wie jemand, der nicht<br />

vergisst. Im Französischen – seiner<br />

Sprache, seit er Kambodscha<br />

verlassen hat – benutzt Rithy Panh oft die<br />

Präsensform, selbst wenn die Fakten Jahrzehnte<br />

zurückliegen. Auffällig sind auch<br />

die leise Stimme und das sanfte Lächeln<br />

des ruhigen Mannes. Mit der Vergangenheit<br />

hat er zwar nicht abgeschlossen, sie<br />

scheint ihn jedoch nicht mehr zu quälen.<br />

Der Filmer und Schriftsteller, dessen<br />

Buch „Auslöschung“ nun in deutscher<br />

Übersetzung vorliegt, gehört zu den Opfern<br />

der Roten Khmer. Als 1975 die Clique<br />

von Pol Pot in Kambodscha an die Macht<br />

kommt, ist Rithy Panh elf Jahre alt. Mit seiner<br />

Familie muss er am 17. April Phnom<br />

Penh verlassen. Für das „neue Volk“ aus der<br />

urbanen Mittel- und Oberschicht beginnen<br />

Vertreibung, Zwangsarbeit, Hungersnot<br />

und – für rund 1,8 Millionen Menschen<br />

– eine Reise in den Tod. Der kleine<br />

Rithy sieht, wie sein Vater die Nahrungsaufnahme<br />

verweigert und stirbt. Der Lehrer<br />

will sich dem kommunistischen Terror,<br />

der sogar das Tragen von Brillen verbietet,<br />

nicht unterwerfen. Rithy Panhs Mutter, die<br />

Schwester und die Neffen, überleben ihn<br />

nur um wenige Monate. 1979 erreicht der<br />

zum Waisen gewordene Junge ein Flüchtlingslager<br />

an der thailändischen Grenze<br />

und darf nach Frankreich zu den mittlerweile<br />

ausgewanderten Brüdern fliehen.<br />

„Auslöschung“ ist die eindrucksvolle<br />

Erinnerung an dieses dunkle Kapitel der<br />

Weltgeschichte. Panh, der sich als Dokumentarfilmer<br />

einen Namen gemacht hat,<br />

befindet sich mitten in Dreharbeiten zu<br />

dem 2003 veröffentlichten Film „S21:<br />

Die Todesmaschine der Roten Khmer“,<br />

als er den Schritt zur Literatur wagt. Seine<br />

Interviews mit Duch, dem Chef des berüchtigten<br />

Gefängnisses S21, bereiten ihm<br />

schlaflose Nächte. Bei eigentlich harmlosen<br />

Arztbesuchen überfallen ihn Bilder der<br />

dort als besonders sadistische Tötungsmethode<br />

eingesetzten Blutentnahmen. „Es<br />

ging mir nicht gut“, erzählt er heute. Der<br />

Schriftsteller Christophe Bataille, der als<br />

Lektor beim Pariser Verlag Grasset arbeitet,<br />

schlägt ihm vor, die Erfahrungen zu Papier<br />

zu bringen. Weil die Literatur mehr Intimität<br />

zulässt? „Im Kino kann man das Zögern,<br />

das Schweigen der Täter oder der Opfer<br />

zeigen. Doch einiges kann man nicht filmen.“<br />

So macht zum Beispiel die Kamera<br />

an der Türschwelle Halt, wenn ein ehemaliger<br />

Peiniger vor Panhs Kamera eine Zelle<br />

von S21 betritt.<br />

Das Buch ist nie aufdringlich, larmoyant<br />

oder schaurig. Die Ko-Autoren Panh<br />

und Bataille finden schlichte Worte, um<br />

das Unfassbare zu beschreiben. Bedrückt<br />

erfährt man von den letzten Stunden des<br />

Vaters oder dem Appell der Mutter, die<br />

zum Abschied ihrem am Fuß erkrankten<br />

Sohn zuruft: „Du musst gehen im Leben,<br />

Rithy. Was auch passiert, du musst gehen.“<br />

Ergreifend ist die Szene, in der eine Soldatin<br />

ihn beim Singen eines verbotenen Kinderlieds<br />

erwischt. Sie ist davon so gerührt,<br />

dass sie ihn nicht bestraft. Der junge Rithy<br />

verliert weder Lebensmut noch Fantasie:<br />

Trotz Todesangst erzählt er gerne Geschichten,<br />

zeigt sich erfinderisch, um zu<br />

überleben. Nach der Lektüre versteht man<br />

Claude Lanzmann besser: „Ich habe Rithy<br />

Panh bisher für seine Arbeit bewundert“,<br />

sagte der Regisseur von „Shoah“ nach der<br />

Veröffentlichung des Buches in Frankreich,<br />

„nun hat sich diese Bewunderung in eine<br />

tiefe Freundschaft verwandelt.“<br />

Wenn „Auslöschung“ durchaus mit Erinnerungen<br />

an den Holocaust, mit Primo<br />

Levis „Ist das ein Mensch?“ etwa, verglichen<br />

werden kann, liegt es daran, dass<br />

das Buch über das Persönliche hinaus einen<br />

Einblick in das Terrorsystem der Roten<br />

Khmer gewährt. Die dämonische Kraft<br />

der Ideologie <strong>wir</strong>d durch das Gespräch mit<br />

Duch deutlich – dem klugen Henker, der<br />

gewissenhaft mordete und vor der Kamera<br />

lacht oder französische Gedichte deklamiert.<br />

„Duch bringt einen zum Zweifeln<br />

darüber, was menschlich ist“, erinnert sich<br />

Panh und bedauert, dass Duch heute noch<br />

eine Art Faszination ausübt, sogar auf Intellektuelle.<br />

„Menschen, die von ihren Ideen<br />

besessen sind und Geschichte schrei ben<br />

wollen, findet man überall und immer wieder“,<br />

fügt der Schriftsteller hinzu.<br />

Dennoch müsse die Erinnerungsarbeit<br />

vorangetrieben werden. Der Filmemacher,<br />

der in Phnom Penh ein audiovisuelles Dokumentationszentrum<br />

mit gründete, freut<br />

sich über neue Entwicklungen in seiner<br />

Heimat: „Der Massenmord <strong>wir</strong>d nun in<br />

Schulen thematisiert. Die junge Generation<br />

fragt nach.“ Auch das 2006 eingesetzte<br />

Rote-Khmer-Tribunal, das Duch zur lebenslangen<br />

Strafe verurteilt hat, leiste wichtige<br />

Arbeit, damit die Opfer „einen Status<br />

bekommen“: „Erinnerung ist keine kollektive<br />

Pflicht, keine Aufforderung zur Versöhnung,<br />

sondern eine tägliche Aufgabe.“<br />

Panh weiß: „Die Wahrheit gehört nur<br />

den Toten.“ Die Form spiele eine untergeordnete<br />

Rolle, nicht aber die ethische Frage,<br />

wenn er die Logik eines Massenmords zu<br />

verstehen versucht. „Die Mechanik, die<br />

sich im Kopf der Mörder abspielt“, beschäftigt<br />

Rithy Panh. An die „Banalität des<br />

Bösen“ glaubt er nicht: „Dass jeder böse<br />

sein kann, ist keine interessante Erkenntnis.<br />

Bedeutender ist die Tatsache, dass einige<br />

sich trotzdem für das Gute entscheiden.“<br />

Rithy Panh muss oft an seine Eltern<br />

denken und an Bophana – eine junge Frau,<br />

die in S21 aufgrund ihrer Liebe zu einem<br />

vermeintlichen Verräter gefoltert wurde.<br />

Ihre Geschichte erzählt er in einem seiner<br />

Filme. Er zählt sie zu „meinen Lichtgestalten“.<br />

Die Erinnerung an sie hält die Vergangenheit<br />

gegenwärtig und macht sie erträglich.<br />

Claire-Lise Buis<br />

ist Kulturkorrespondentin<br />

und schreibt über die Welt,<br />

in der sie lebt, momentan<br />

von Kamerun aus<br />

Fotos: Thomas Kierok für <strong>Cicero</strong>, Privat (Autorin)<br />

112 <strong>Cicero</strong> 6.2013


„Die Wahrheit<br />

gehört nur<br />

den Toten“<br />

Rithy Panh, kambodschanischer<br />

Filmer und Schriftsteller<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 113


| S a l o n<br />

„Wie ein leeres Kino“<br />

Der Regisseur Luc Bondy verlässt Wien. Ein Gespräch über Europa, Ängste und die Sprache der Träume<br />

Schmal, wach, neugierig sitzt Luc Bondy<br />

vor dem Café Sperl im 6. Wiener Gemeindebezirk<br />

und genießt die Sonne. Vor ihm<br />

liegen zwei Smartphones, eines für Frankreich,<br />

eines für Österreich. Er hat heute<br />

„Tartuffe“ geprobt und ist jetzt hungrig.<br />

Nachdem er eine Leberknödelsuppe bestellt<br />

hat, fragt er nach „Das Duell“, Frank<br />

Castorfs letzter Inszenierung an der Berliner<br />

Volksbühne. Er hat ihn mehrfach zu<br />

den Wiener Festwochen eingeladen. Castorf<br />

sei so angenehm uneitel, sagt Bondy, und<br />

kramt gedankenverloren in dem Rucksack<br />

auf dem freien Stuhl. Als er bemerkt, dass<br />

es meiner ist, lacht er und entschuldigt sich,<br />

dass seine Gedanken immer noch bei Molière<br />

sind.<br />

H<br />

err Bondy, wie eitel sind denn<br />

Sie?<br />

Auch wenn das jetzt eitel klingen<br />

mag: Ich glaube, ich bin nicht sehr<br />

eitel. Bestimmt verhalte ich mich manchmal<br />

eitel oder fühle mich in meiner Eitelkeit<br />

gekränkt, aber das ist auch alles.<br />

Die Tatsache, dass ich bekannt bin,<br />

hat mich noch nie interessiert. Natürlich<br />

spüre ich es, wenn mich Leute erkennen<br />

und irgendwie für etwas Besonderes<br />

halten, aber das ist mir <strong>wir</strong>klich<br />

nicht wichtig. Ich hoffe höchstens auf einen<br />

gewissen Prominentenbonus in den<br />

Krankenhäusern und dass man mich dort<br />

dann besser behandelt, aber leider klappt<br />

das eigentlich nie.<br />

Eine Zeitlang sah man Sie mit einem<br />

speziellen Sitzkissen, das die Nasa gegen<br />

die Belastungen in Raumfahrzeugen<br />

entwickelt hatte. Ihnen half es, Ihre lädierten<br />

Bandscheiben zu schonen und die<br />

Rückenschmerzen zu lindern.<br />

Ja, aber das brauche ich inzwischen nicht<br />

mehr. Ich mache jetzt viel Sport – außer<br />

Yoga gehe ich dreimal pro Woche<br />

schwimmen. Bei mir in Paris gibt es ein<br />

paar öffentliche Bäder in der Nähe, aber<br />

manchmal sind so viele Leute da, dass ich<br />

sage, ich gehe nicht im Wasser, sondern<br />

in den Menschen schwimmen.<br />

Was werden Sie, wenn Sie im Sommer<br />

Ihren Intendantenstuhl räumen, von Wien<br />

am meisten vermissen?<br />

Ohne dass es sich missgünstig anhört,<br />

werde ich im Grunde nichts vermissen,<br />

weil ich immer nach vorne schaue. Nur<br />

manchmal erinnere ich mich zurück,<br />

das ist aber etwas anderes als zurückzuschauen.<br />

Wahrscheinlich werde ich eines<br />

Tages, wenn ich nicht mehr inszenieren<br />

kann, diese Tätigkeit auch nicht vermissen.<br />

Ich versuche, mich nie von Gefühlen<br />

wie Trauer oder Mutlosigkeit dominieren<br />

zu lassen.<br />

Wird man Sie, typisch wienerisch, erst so<br />

richtig lieben, wenn Sie weggegangen sein<br />

werden?<br />

Ich hoffe nicht. Was macht man mit<br />

Liebe, von der man weiß, die man aber<br />

nicht spürt, weil man nicht mehr da ist?<br />

Barrie Kosky, der Intendant der Komischen<br />

Oper Berlin, hat jahrelang in Wien gearbeitet<br />

und, wie er sagt, sehr viel Antisemitismus<br />

erlebt. Wie sind Ihre Erfahrungen?<br />

Mein Vater hat mir immer gesagt, wenn<br />

ich irgendwohin komme und man mir<br />

höflich begegnet und mich zuvorkommend<br />

fragt, was ich möchte, ein Brötchen<br />

oder ein Handtuch oder sonst<br />

etwas, obwohl dieser Mensch dabei<br />

gleichzeitig das Schlimmste über die Juden<br />

denkt, soll es mir egal sein – solange<br />

ich es nicht zu spüren kriege (lacht). Natürlich<br />

weiß ich vom Antisemitismus in<br />

Österreich. Aber ich habe ihn nie abgekriegt,<br />

höchstens hier und da für einen<br />

Moment. Ich habe in meinem Leben<br />

schon andere Erfahrungen gemacht.<br />

Wann und wo denn?<br />

Als junger Mann wurde ich in Nürnberg<br />

in der Straßenbahn massiv angepöbelt.<br />

Und als ich an der Hamburgischen<br />

Staatsoper 1981 Alban Bergs „Wozzeck“<br />

inszenierte, fand ich einen großen Zettel<br />

auf der Bühne: „Hau ab, du Judensau,<br />

bevor <strong>wir</strong> dich umbringen!“ Er stammte<br />

von einem Chorsänger, denn der Chor<br />

sollte echt alte Soldatenschuhe tragen,<br />

und das war die nette Antwort dazu.<br />

Antisemitismus hat es immer gegeben<br />

und <strong>wir</strong>d es immer geben, fürchte ich.<br />

Sie nennen sich einen nichtgläubigen<br />

Juden.<br />

Ja, ich wurde atheistisch erzogen und bin<br />

es auch immer geblieben. Aber ich habe<br />

jüdische Freunde, die mich einladen,<br />

wenn sie Pessach feiern. Da gehe ich gern<br />

hin. Zu Chanukka zünde ich auch Kerzen<br />

an und mache ein paar solcher traditionellen<br />

Dinge, denn eine bestimmte<br />

Zugehörigkeit ist immer angenehm.<br />

Wie bereiten Sie sich auf eine Inszenierung<br />

vor?<br />

Die Vorbereitung ist für mich ein bestimmter<br />

Zustand, in den ich mich als<br />

Mensch mit all meinen Gedanken, Gefühlen,<br />

Ideen, Zweifeln, Hoffnungen<br />

begebe, ehe die Proben beginnen. Und<br />

wie ein Talmudist lese ich den jeweiligen<br />

Text immer und immer wieder, um ihm<br />

nahe zu kommen, indem ich Schicht<br />

um Schicht abtrage. Diesmal habe ich<br />

außerdem zum Beispiel mit meinem<br />

Freund, dem Schriftsteller Peter Stephan<br />

Jungk, eine neue Übersetzung gemacht<br />

und eine Stückfassung erstellt.<br />

In Hölderlins „Hyperion“ heißt es, „Religion<br />

ist Liebe der Schönheit“.<br />

Das gefällt mir, das ist toll. In „Tartuffe“<br />

ist Religion die Liebe der Hässlichkeit.<br />

Oder der Hass auf die Schönheit.<br />

Foto: Peter Rigaud für <strong>Cicero</strong><br />

114 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Luc Bondy<br />

leitete von<br />

1985 bis 1988<br />

die Berliner<br />

Schaubühne,<br />

seit 2001 ist<br />

er Intendant<br />

der Wiener<br />

Festwochen.<br />

Mit Molières<br />

„Tartuffe“<br />

endet jetzt<br />

seine Wiener<br />

Amtszeit<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 115


| S a l o n<br />

Sie inszenieren, seit Sie 19 Jahre alt sind.<br />

Hat es sich gelohnt?<br />

Das kann ich nicht beantworten, denn<br />

ich kenne nichts anderes. Ich weiß nur,<br />

dass ich jedes Mal, wenn ich eine Inszenierung<br />

plane, Angst habe, richtige, tiefe<br />

Angst – vor dem Abenteuer des Theaters,<br />

dem Begehren des Textes, der konkreten<br />

Umsetzung mit den Schauspielern. Wenn<br />

ich keine Angst hätte, wäre meine Arbeit<br />

reine Routine. Was für eine schreckliche<br />

Vorstellung! Ich will jedes Mal etwas ausprobieren,<br />

etwas erforschen, etwas Neues<br />

finden. Immer wieder möchte ich die<br />

Worte, die Dialoge, das Spiel ganz normal,<br />

ganz unverstellt erscheinen lassen.<br />

Alles soll selbstverständlich <strong>wir</strong>ken, auch<br />

die kompliziertesten Sachverhalte. Das<br />

möchte ich vor allen Dingen erreichen.<br />

eine künstlerische Form, die dem Publikum<br />

zeigt, dass es auch andere Kommunikationsweisen<br />

gibt als jene, die es<br />

normalerweise pflegt, und es kann bei<br />

den Zuschauern Gedanken, Erinnerungen,<br />

Emotionen freilegen und auslösen –<br />

und zwar live. Es geht dabei nicht um bestimmte<br />

Inhalte und einen Kanon von<br />

Stücken, „das Medium ist die Botschaft“.<br />

„Alles sieht ziemlich gleich aus.<br />

Es gibt mehr Theater als Talente“<br />

halt leider mehr Theater als Talente und<br />

auch viele Menschen, die Künstler sein<br />

wollen, ohne über die Begabungen zu<br />

verfügen, die dafür nötig sind.<br />

Sie sind Kosmopolit und haben Europa immer<br />

als den für Sie relevanten Kulturraum<br />

bezeichnet. Was machen Sie, wenn dieser<br />

Raum beim Zusammen<strong>wachsen</strong> seine<br />

Besonderheiten immer mehr verliert?<br />

Dieser Prozess verläuft schleichend, man<br />

bemerkt ihn kaum. Irgendwann ist Europa<br />

wie ein leeres Kino, in dem ein toller<br />

Film gezeigt <strong>wir</strong>d, den niemand sehen<br />

will. Ich bleibe angesichts dieser politischen<br />

wie ästhetischen Entwicklungen<br />

gelassen, denn ich kann mich gut anpassen.<br />

Das ist vielleicht sehr jüdisch. Wenn<br />

Leute aggressiv über Multikultur reden,<br />

verstehe ich das nicht, weil ich mehr<br />

oder weniger multikulturell groß geworden<br />

bin, ohne dass daraus ein Zwang gemacht<br />

wurde. Ich wurde in Zürich geboren,<br />

wuchs in Frankreich auf, arbeitete in<br />

Deutschland. Es war einfach so.<br />

Man soll meine Inszenierungen nicht nur<br />

sehen, sondern auch spüren.<br />

Können Sie sich ein anderes Leben denn<br />

als Regisseur vorstellen?<br />

Ein kleines bisschen schon, ja. Denn<br />

wenn ich nicht immer Probleme mit meinem<br />

Rücken und mehr Sitzfleisch hätte,<br />

wäre ich gern Schriftsteller geworden.<br />

Literatur ist für Sie eine Frage von Sitzfleisch?<br />

Dennoch haben Sie den hoch<br />

gelobten Roman „Am Fenster“ (2009),<br />

Erzählungen und Gedichte veröffentlicht.<br />

Ich habe keine Geduld mit mir beim<br />

Schreiben. Wenn man inszeniert, muss<br />

man sich zwar auch sehr konzentrieren,<br />

aber anders, nicht so isoliert. Ich<br />

weiß nicht, ob mir die Einsamkeit, die<br />

man beim Schreiben einfach braucht, auf<br />

Dauer bekommen würde, obwohl ich<br />

sehr gern schreibe.<br />

Hat das Theater heute noch eine gesellschaftliche<br />

Wirkung?<br />

Es hat bestimmt nicht eine so unmittelbare<br />

Wirkung, wie sie die Rede eines<br />

Politikers in einer Versammlung oder<br />

vielleicht einer der Filme von Michael<br />

Moore haben kann. Aber das Theater ist<br />

Apropos Marshall McLuhan, der ja diese<br />

Formel prägte: Wird auch das Theater<br />

allmählich ein „globales Dorf“?<br />

Aber ja. Es gibt überall eine große Skepsis<br />

gegenüber durcherzählten Stücken<br />

und bestimmten, nicht nur geschlossenen,<br />

aber vielleicht auf Augenhöhe mit<br />

den Zuschauern entwickelten Dramaturgien.<br />

Ansonsten ist alles ziemlich orientierungslos,<br />

nach dem Motto: Anything<br />

goes. Der Einsatz von elektronischem<br />

Zubehör, wie Mikroports, Videobeamern,<br />

Livekameras und möglichst neuer Technik<br />

ist sehr gestiegen. Dadurch sieht alles<br />

überall ziemlich gleich aus.<br />

Unterliegt das Theater bald, wie Äpfel oder<br />

Gurken, in Brüssel bürokratisch ausgetüftelten<br />

EU-Normen?<br />

Vielleicht passiert diese Vereinheitlichung<br />

auch schon ganz von allein. Über die<br />

Landesgrenzen hinaus kann man feststellen,<br />

wie etwa die Lautstärke in den Theatern<br />

zugenommen hat. Die Schauspieler<br />

stehen oft nahe der Rampe und brüllen<br />

nach vorne, die Beleuchtung ist egal, die<br />

Kostüme wurden bei H&M gekauft. Vieles,<br />

was Regisseure meiner Generation<br />

früher bekämpft hatten, kommt unglückseligerweise<br />

zurück.<br />

Woran denken Sie?<br />

Wir dachten in einer geradezu stanislawskischen<br />

Art an die Tiefenstaffelung einer<br />

Szene, an die Gestaltung bis zum Hintergrund<br />

der Bühne und dass alles, was<br />

da passiert, eine eigene Wirklichkeit und<br />

Glaubwürdigkeit bekommt. Aber die<br />

Dinge sind derzeit eben nicht so. Es gibt<br />

Die verschiedenen europäischen Kulturen<br />

sollen oder können in ihrer Vielfalt nebeneinander<br />

weiterleben?<br />

Natürlich, sie können nebeneinander<br />

und miteinander existieren, aber sie sollen<br />

nicht so tun, als gäbe es keine Unterschiede<br />

zwischen ihnen.<br />

Sie haben in Deutschland, Österreich,<br />

England, Frankreich, der Schweiz und den<br />

USA inszeniert, aber nie in einer Sprache,<br />

die Sie nicht sprechen. Warum?<br />

Ich halte das für ein Unding. Wie soll<br />

man denn da den Schauspielern auf der<br />

Probe helfen können? Meines Erachtens<br />

inszeniert man am besten in jener<br />

Sprache, in der man träumt. Wobei es<br />

schön ist, dass ich, oder jemand anderer<br />

in meinen Träumen, manchmal eine andere<br />

Sprache beherrsche als in der Realität.<br />

Hin und wieder sind meine Träume<br />

auch stumm oder ich habe beim Erwachen<br />

schon vergessen, ob und was geredet<br />

wurde.<br />

Fahren Sie im Traum manchmal Auto?<br />

Sie meinen, weil ich nie einen Führerschein<br />

gemacht habe? (lacht) Na, da sollten<br />

Sie mich aber mal erleben!<br />

Das Gespräch führte Irene Bazinger<br />

116 <strong>Cicero</strong> 6.2013


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Ende einer Entfremdung: Mit dem Internet der Tiere<br />

tritt das Verhältnis von Mensch und Natur in eine radikal<br />

neue Phase. Beide Seiten profitieren davon<br />

von alexander Pschera<br />

118 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Der Waldrapp war<br />

in Mitteleuropa<br />

ausgestorben. Dank<br />

Mensch und Internet<br />

gewinnt er neue<br />

Lebensräume<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 119


| S a l o n | i n t e r n e t d e r t i e r e<br />

Ich Habe einen neuen Freund. Er heißt<br />

Shorty. Shorty kann fliegen, Shorty ist<br />

ein Waldrapp. Da er vom Aussterben<br />

bedroht ist, trägt er einen 30 Gramm<br />

leichten GPS-Sender am Körper. Er ist<br />

also „getaggt“. Wenn Shorty vom Brutrevier<br />

Burghausen ins italienische Winterquartier<br />

wechselt, kann ich das auf seiner Facebook-Seite<br />

verfolgen (www.facebook.com/<br />

Waldrappteam). Im vergangenen Herbst<br />

machte ich mir ernsthaft Sorgen. Shorty<br />

hatte sich verflogen. Statt in der südlichen<br />

Toskana landete er in der kalten Schweiz.<br />

Aber Shorty hat es geschafft. Herr B., ein<br />

anderer Shorty-Freund, hatte ihn gesichtet.<br />

Er postete: „Nachdem es gestern den<br />

ganzen Tag geschneit hat und heute 15 cm<br />

Schnee liegt, machte ich mich auf die Suche<br />

nach Waldrapp Shorty. Meine Sorge<br />

war umsonst: Shorty geht es ausgezeichnet.<br />

Immer noch ernährt er sich in der Schafweide<br />

Dersbach. Ich beobachtete ihn um<br />

10:30 Uhr und sah ihn eine Stunde später<br />

zum Golfplatz hinüberfliegen und die vom<br />

Schnee geräumten Rasenflächen besichtigen.“<br />

Aber nicht nur Shorty hat gute Facebook-Freunde,<br />

die ihn schützen und beobachten,<br />

sondern auch das Storchenpaar<br />

Clara und Dexter aus Wilhelmsglücksbrunn,<br />

die See-Elefantin Penelope, die im<br />

dunklen Nordpazifik lebt, und erst recht<br />

die Lederrückenschildkröte Champira.<br />

Wildtiere als Facebook-Freunde? Ist das<br />

nicht eine verkehrte Welt? Mehr Naturnähe<br />

ist ein weithin akzeptiertes Ziel. Kaum ein<br />

Städter kann heute einen Frosch von einer<br />

Kröte unterscheiden. Aber muss das Zurück<br />

zur Natur sich auf digitalen Pfaden ereignen?<br />

Geht man nicht besser in den Wald<br />

und sammelt Pilze? Ist das Netz nicht weit<br />

eher Teil des Problems als Teil der Lösung?<br />

Der Ameisenforscher E. O. Wilson hat<br />

in seinem Buch „Biophilia“ bereits 1984<br />

schlüssig gezeigt, dass der Mensch sich mit<br />

lebenden Systemen verbinden muss, um<br />

geistig und körperlich gesund zu bleiben.<br />

Zu viel Künstlichkeit schadet. Nur in der<br />

unmittelbaren Begegnung mit der Natur<br />

ver<strong>wir</strong>klicht sich Lebenssinn. Jüngere Autoren<br />

wenden die Biophilie-These nun strikt<br />

gegen das Netz. Der US-amerikanische<br />

Bestsellerautor Richard Louv („Das letzte<br />

Kind im Wald“, „Das Prinzip Natur“) stellte<br />

jüngst apodiktisch fest: „Je mehr <strong>wir</strong> uns<br />

technisieren, desto mehr Natur benötigen<br />

<strong>wir</strong>.“ Daraus resultiere ein klinisches Krankheitsbild<br />

mit eigenem Namen, nature deficit<br />

disorder. Statt World Wide Web empfiehlt<br />

Louv das Web of Live.<br />

Bin ich also naturdefizitär und behandlungsbedürftig,<br />

wenn ich mit Waldrapp<br />

Shorty maile? Ganz und gar nicht, springt<br />

mir der Zoologe Josef Reichholf bei und widerspricht<br />

so Louv und Wilson. Natürlich<br />

sei es besser, die Grasmücke im Wald zirpen<br />

zu hören, als ihre Stimme im Internet-Lautarchiv<br />

anzuklicken (www.tierstimmenarchiv.<br />

de). Aber vor viele Pflanzen und Tiere hat<br />

die deutsche Politik den Naturschutz gesetzt,<br />

der uns Menschen, so Reichholfs provokante<br />

These, systematisch von der Natur<br />

abhält, uns von ihr entfremdet. Das Netz<br />

ist für ihn ein einziger großer Befreiungsschlag:<br />

„Wenn das Internet uns mehr virtuellen<br />

Kontakt zur Natur eröffnet, kann<br />

ich eine solche Entwicklung nur begrüßen.<br />

Besser ist das allemal als unsere bisherige<br />

Vorgehensweise im Naturschutz, der alles<br />

daransetzt, den Menschen von der Natur<br />

fernzuhalten, und ihn als Störung einstuft.<br />

Wer sich wenigstens virtuell mit den Tieren<br />

befassen kann, <strong>wir</strong>d das eher auch in<br />

der Realität wollen als jene Menschen, die<br />

durch Schutzbestimmungen von der lebendigen<br />

Natur abgeblockt werden.“<br />

In der Beziehung zur Natur und vor allem<br />

zum Tier geht es also nicht um abstraktes<br />

Verstehen, sondern um den Aufbau<br />

einer emotionalen Beziehung. Erst<br />

wenn <strong>wir</strong> Menschen zu einem Tier nicht<br />

als Vertreter einer Art, sondern als lebendiges<br />

Individuum in Kontakt treten, kommen<br />

<strong>wir</strong> der Natur näher. Reichholf vertritt<br />

eine sympathische These: „Tiere, auch solche<br />

in freier Wildbahn, müssen zu Individuen<br />

mit besonderen Eigenheiten werden.<br />

Zu lange wurden sie lediglich als Vertreter<br />

ihrer Art betrachtet, sogar von Verhaltensforschern.<br />

Das machte sie austauschbar<br />

und normierte sie zum ‚arttypischen Verhalten‘,<br />

aus dem die ‚artgerechte Haltung‘<br />

abgeleitet wurde. Das ist falsch. Erst eine<br />

ausgeprägte Individualität erzeugt Nähe.“<br />

Die Verhaltensforscherin Carola Otterstedt,<br />

Leiterin der 2009 gegründeten<br />

Stiftung „Bündnis Mensch & Tier“, geht<br />

noch einen Schritt weiter. Otterstedt arbeitet<br />

mit tiergestützten Therapien. Für sie ist<br />

es essenziell, das Tier wie den Menschen<br />

konkret anzureden: „Uns berührt immer<br />

eine Persönlichkeit. Auch die eines Tieres.<br />

Erst wenn <strong>wir</strong> ein Tier individuell als Du<br />

ansprechen, <strong>wir</strong>d es interessant.“ Otterstedt<br />

Das Denken<br />

in Biotopen,<br />

die eine<br />

Trennungslinie<br />

zwischen<br />

Mensch und<br />

Natur ziehen,<br />

könnte schon<br />

bald der<br />

Vergangenheit<br />

angehören<br />

120 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Fotos: Johannes Fritz (Seiten 118 bis 121)<br />

Ibisvögel sehen dich an: Johannes Fritz (rechtes Bild) leitet das Waldrapp-Projekt.<br />

Ohne Computer, Internet und menschengeführte Migration (linkes Bild) bliebe das<br />

Schnabeltier hier ausgestorben<br />

verweist auf Martin Bubers Schrift „Ich und<br />

Du“ und sagt: „Nur wenn ein Tier einen<br />

Namen trägt und ich zu ihm Du sagen<br />

kann, ist es für mich relevant.“<br />

Die Buber’sche Du-Evidenz kann ich jeden<br />

Abend mit meiner Katze erleben – aber<br />

mit einem frei lebenden Waldrapp, diesem<br />

seltenen und seltsamen Vogel? Hier kommt<br />

das Internet ins Spiel. Die sozialen Medien<br />

mit ihrer starken Personalisierung können<br />

Anreize schaffen, das Tier als ein Du zu begreifen.<br />

Das Internet erzeugt durch seine<br />

Bilder Empathie, die das Fundament legt<br />

für eine soziale Beziehung. Das Internet als<br />

immer auch visueller Beziehungsstifter zwischen<br />

Mensch und Natur – davon ist Josef<br />

Reichholf überzeugt. Er sieht einen emotionalen<br />

Fortschritt vom starren Foto zum<br />

bewegten Echtzeitbild: „Der Eisbär, der<br />

auf eine treibende Eisscholle springt, be<strong>wir</strong>kte<br />

sicherlich mehr als alle warnenden<br />

Appelle der Klimaforscher mit ihren Grafiken,<br />

die keiner versteht. Tierbilder als Sympathieträger<br />

nutzt der Naturschutz seit langem.<br />

Doch selbst mitzuzittern, ob das per<br />

Livestream begleitete Tier überlebt, und<br />

zu erleben, wer oder was sein Dasein konkret<br />

bedroht, entwickelt eine ganz andere<br />

Größenordnung von Empfindungen, als<br />

es noch so eindringliche Worte oder Fotos<br />

vermögen.“<br />

Doch wie kommen die Tiere ins Internet?<br />

Diese Frage führt zur Disziplin der<br />

Wildtier-Telemetrie. Immer mehr Wildtiere<br />

werden wie Shorty mit leistungsstarken<br />

GPS-Sendern ausgerüstet, mit denen<br />

sie in Echtzeit geortet werden können:<br />

Thunfische, Wildpferde, Störche, Haie,<br />

Meeresschildkröten. Die Tiere senden via<br />

GSM-Modul Daten als SMS an eine Empfangsstation.<br />

Die Sender sind so klein und<br />

robust, dass sich selbst Libellen oder Monarchfalter<br />

technisch aufrüsten lassen. Die<br />

gesendeten Daten liefern wertvolle Informationen<br />

über das Verhalten und die Bewegung<br />

der Tiere. Mit ihnen kann die Außentemperatur<br />

ebenso übertragen werden<br />

wie Herzschlag, Blutdruck, Nierenfunktion<br />

und andere physiologische Daten des Tieres.<br />

Was fühlt eine Schwalbe, wenn sie in<br />

einen Wirbelsturm gerät? Erlebt sie Stress?<br />

Diese Fragen lassen sich bald beantworten.<br />

Der Abgleich zwischen dem inneren<br />

Status des Tieres und der äußeren Situation,<br />

in der es sich befindet, erlaubt – und<br />

das ist eine revolutionäre Neuigkeit – einen<br />

Einblick in das animalische Entscheidungsverhalten<br />

in freier Wildbahn. „Über<br />

die Bewegungsmuster der Tiere können<br />

<strong>wir</strong> verstehen, wie sie denken und wie sie<br />

sich in einer konkreten Situation entscheiden“,<br />

sagt Martin Wikelski, Professor an<br />

der Universität Konstanz, zudem Tiermigrations-Forscher<br />

und Direktor des<br />

Max-Planck-Instituts für Ornithologie in<br />

Radolfzell. Er verantwortet die Icarus-Initiative,<br />

das weltweit größte Projekt zur globalen,<br />

GPS-gestützten Beobachtung von<br />

Tierbewegungen.<br />

Hinter der Initiative stehen renommierte<br />

Universitäten. Unterstützung erhält<br />

Wikelski auch von der Europäischen Weltraumbehörde<br />

Esa und dem Deutschen Zentrum<br />

für Luft- und Raumfahrt. Das Zusammenspiel<br />

der Disziplinen und der Einsatz<br />

neuer technischer Mittel könnten die Verhaltensforschung<br />

revolutionieren: „Früher<br />

konnte man tierisches Verhalten nur dann<br />

beobachten, wenn man in der Nähe war.<br />

Heute erlaubt die Technik ein globales Monitoring<br />

der Tiere rund um die Uhr.“<br />

Die wissenschaftlichen Rohdaten reichen<br />

natürlich nicht aus, um das Tier zu<br />

einem Du aus Fleisch und Blut werden zu<br />

lassen. Der Blutzuckerspiegel einer Galapagos-Riesenschildkröte<br />

ist ein schlechter<br />

Gesprächspartner. Die Daten müssen von<br />

Menschen bearbeitet und gestaltet werden.<br />

Es gilt, die Lebensgeschichte des konkreten<br />

Tieres zu erzählen. Dazu muss man es<br />

taufen. Reichholf: „Erst mit der Namensgebung<br />

<strong>wir</strong>d das Leben eines wild lebenden<br />

Tieres zu einem Schicksal, an dem <strong>wir</strong><br />

Anteil nehmen.“ Er hat auch ein schlagendes<br />

Beispiel parat: „Der ohne zwingende<br />

Notwendigkeit abgeschossene Braunbär<br />

Bruno würde wahrscheinlich heute noch<br />

leben, hätte eine Videoübertragung den<br />

Bären begleitet – das Gleiche gilt für den<br />

Fuchs im Großstadtgarten, den Löwen in<br />

der Kalahari, den Jaguar im brasilianischen<br />

Pantanal oder den Wolf in Brandenburg.“<br />

Nach 30 Jahren rigidem Umwelt- und<br />

Artenschutz, Betretungsverboten und Roten<br />

Listen zuckt man zusammen. Bis gestern<br />

traute man sich nicht, einen Blumenstrauß<br />

am Wegrand zu pflücken, heute<br />

soll man See-Elefanten duzen? Führt das<br />

nicht schnurstracks in genau jenen anthropomorphen<br />

Weltentwurf, aus dem uns das<br />

ökologische Bewusstsein der Moderne eigentlich<br />

befreien sollte? Das bis heute vorherrschende<br />

Denken in Biotopen, die eine<br />

Trennungslinie ziehen zwischen Mensch<br />

und Natur, galt jahrzehntelang als rundum<br />

fortschrittliche Überwindung der unwissenschaftlichen,<br />

weil vermenschlichenden<br />

„Flipper“-Ideologie. Wer mit Delfinen<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 121


| S a l o n | i n t e r n e t d e r t i e r e<br />

reden wollte, zeigte sich als hoffnungsloser<br />

Romantiker.<br />

Josef Reichholf hält dagegen. Er plädiert<br />

für eine Einbettung der Wildtiere in<br />

die Realität der menschlichen Gesellschaft:<br />

„Wir sollten die Personalisierung von Tieren,<br />

wie <strong>wir</strong> sie in den sozialen Medien erleben<br />

können, nicht einfach als Vermenschlichung<br />

abtun. Sehr vielen Tieren käme es<br />

doch sehr zugute, wenn sie tatsächlich emotional<br />

vermenschlicht würden!“<br />

Zum Beispiel meinem Freund Shorty.<br />

Kaum ein Tier hat menschliche Anteilnahme<br />

so nötig wie der archaische Ibisvogel.<br />

Denn er hat weder kuscheliges Fell<br />

noch große Kulleraugen, kein Kindchenschema<br />

weit und breit. Er sieht aus wie ein<br />

zerrupfter Truthahn. Der Zoologe Johannes<br />

Fritz liebt die schwarzen Gesellen dennoch<br />

über alles. Darum leitet er das unter<br />

anderem von der Heinz-Sielmann-Stiftung,<br />

dem Bund Naturschutz in Bayern und der<br />

Universität Wien geförderte europäische<br />

Waldrapp-Projekt.<br />

Der Waldrapp, sagt Fritz, „ist ein Tier,<br />

das längst aus dem kollektiven Bewusstsein<br />

verschwunden ist“. Er starb in Mitteleuropa<br />

vor gut 400 Jahren aus und lebt nur noch<br />

in wenigen Exemplaren in Krisenregionen<br />

des Nahen Ostens. Das Waldrapp-Projekt<br />

soll der Wiederansiedlung dieses imposanten<br />

Vogels in Europa dienen. Da die Tiere<br />

die Routen in die europäischen Sommerquartiere<br />

verlernt haben, müssen sie vom<br />

Menschen dorthin gebracht werden, mit<br />

Ultraleichtflugzeugen. Menschengeführte<br />

Migration nennt sich dieses schwierige Manöver.<br />

Hier entsteht ein ganz neuer Dialog<br />

zwischen Mensch und Wildtier, bekräftigt<br />

Reichholf: „Der mitfliegende Begleiter <strong>wir</strong>d<br />

dabei zum direkten Vermittler des sozialen<br />

Dialogs Tausender Menschen mit den glänzend<br />

schwarzen Ibissen, um deren Überleben<br />

es geht. Ihre Bedürfnisse und Nöte<br />

werden sichtbar und damit nachvollziehbar.<br />

Und auch ihre Fähigkeiten, mit Menschen<br />

zu kommunizieren.“<br />

Im ersten Jahr schon nach der menschengeführten<br />

Migration schaffen die Vögel den<br />

Weg alleine und nehmen Jungvögel mit auf<br />

die Reise – sofern sie heil aus dem Winterquartier<br />

zurückkommen. Das ist keineswegs<br />

sicher. In Italien schießen Jäger<br />

gern auf alles, was nach einem lohnenden<br />

Ziel ausschaut, illegal und unbemerkt.<br />

Doch mit den Sendern <strong>wir</strong>d es möglich,<br />

In den sozialen Medien verbinden sich Menschen, die einzelne Tiere kontinuierlich<br />

beobachten und schützen. Sonst wäre Waldrapp Shorty vielleicht nicht mehr am Leben<br />

eine Öffentlichkeit für den raren Vogel zu<br />

schaffen. Facebook <strong>wir</strong>d zur digitalen Echtzeit-Strategie<br />

gegen Wilderei. Auf der Facebook-Seite<br />

des Waldrapp-Projekts kann<br />

man im März verfolgen, wie Bima, Julio,<br />

Gonzo und Pepe in Tagesetappen von<br />

50 Kilometern nach Österreich zurückkehren.<br />

Je mehr Menschen sich mit den vier<br />

schwarzen Gesellen auf Facebook „befreunden“<br />

und mit ihnen chatten, desto größer<br />

<strong>wir</strong>d der Druck auf die Jagdverbände und<br />

Behörden, hofft Johannes Fritz.<br />

Genau deshalb soll die soziale Vernetzung<br />

mit den kahlen Ibisvögeln Schritt für<br />

Schritt ausgebaut werden. In der nächsten<br />

Stufe will Fritz eine Mobilfunk-App programmieren,<br />

die die Position der Tiere in<br />

Echtzeit angibt. Vorbild ist die App Sharknet,<br />

mit deren Hilfe man das Treiben weißer<br />

Haie im Pazifik direkt verfolgen kann:<br />

„Wenn <strong>wir</strong> so etwas haben, kann man sich<br />

mit einem Klick auf das jeweilige Tier dessen<br />

Lebensgeschichte anzeigen lassen“,<br />

schwärmt der Waldrapp-Experte. „So werden<br />

aus den Tieren echte Persönlichkeiten,<br />

mit denen <strong>wir</strong> kommunizieren können,<br />

mit denen <strong>wir</strong> uns anfreunden – und<br />

das kommt letztlich der Natur zugute.“ Biocaching<br />

nennt sein Max-Planck-Kollege<br />

Wikelski die neue Disziplin. „Damit werden<br />

Menschen in Zukunft die Natur in ihrer<br />

konkreten Umgebung Individuum für<br />

Individuum kennenlernen – und sie werden<br />

durch ihre Beobachtungen zur weiteren<br />

Kenntnis der Tiere beitragen.“<br />

Die Tiere<br />

mischen sich<br />

wieder ein<br />

in ein Leben,<br />

aus dem der<br />

Mensch sie<br />

im Namen<br />

des Tier- und<br />

Artenschutzes<br />

verdrängt<br />

hatte<br />

Foto: Screenshot Facebook<br />

122 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Foto: Privat<br />

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Menschen und Tiere rücken dank Internet<br />

wieder zusammen. Und das ist gerade<br />

bei Arten wie dem Wolf entscheidend.<br />

Auch hier funktioniert das Prinzip Nähe.<br />

Markus Bathen ist Wolfsbeauftragter des<br />

Naturschutzbunds Deutschland, Nabu. Er<br />

hat es sich zur Aufgabe gemacht, die umstrittene<br />

Rückkehr des Wolfes in die deutsche<br />

Kulturlandschaft zu moderieren. Ihm<br />

leisten soziale Medien wertvolle Dienste,<br />

um Meister Isegrim dem Kleintierzüchter<br />

verständlich zu machen: „Das Wissen über<br />

den Wolf ist gering, die Ängste sind umso<br />

größer. Wölfe sind nachtaktiv. Man sieht sie<br />

nicht. 364 Tage sind sie nicht präsent. Am<br />

365. Tag hinterlassen sie ein blutiges Knäuel.<br />

Dann kommt der Schock. Wenn Menschen<br />

einzelne Wölfe über Social-Media-Kanäle<br />

verfolgen, kann die Nacht eines solchen<br />

Tieres nacherlebt und ein möglicher Problemfall<br />

besser eingeordnet werden.“<br />

Durch Wissen allein gelingt es nicht,<br />

Vorurteile abzubauen. Dazu sind Erlebnisse<br />

nötig. Getaggte Wölfe, deren Biografie<br />

man im Internet verfolgt, ermöglichen<br />

ein ökologisches Denken. Bathen bilanziert:<br />

„Die ökologische Allgemeinbildung hat mit<br />

den Möglichkeiten des Internets zugenommen.<br />

Das ökologische Prinzip <strong>wir</strong>d besser<br />

verstanden, weil man das konkrete Leben<br />

einzelner Tierindividuen kennt.“ Bathens<br />

These scheint sich zu bewahrheiten. Als im<br />

vergangenen Jahr ein Wolf illegal im Westerwald<br />

geschossen wurde, verbreiteten sich<br />

die Bilder des toten Tieres in Windeseile<br />

über Facebook. Die Medien griffen die Bilder<br />

auf, die allgemeine Entrüstung führte<br />

dazu, dass der Jäger seinen Jagdschein verlor.<br />

Wo der weiße Junghai Sicklefin (männlich,<br />

782 Kilo, 4 Meter) seine Echtzeitspur<br />

über den Flatscreen zieht, da ist Natur 2.0.<br />

Die Tierbiografie tritt mit den animalischsozialen<br />

Medien in eine neue Phase. Facebook<br />

hat das Verhältnis der Menschen zueinander<br />

verändert. Jetzt transformiert es<br />

die Mensch-Tier-Relation. In Zeiten, in<br />

denen sich ein Papst den Namen „Franziskus“<br />

gibt, ist ein solcher Wandel beachtenswert.<br />

Der Wunsch, Tiere zu verstehen,<br />

ja mit ihnen zu sprechen, ist ein<br />

uralter Traum der Menschheit. Er beginnt<br />

mit König Salomo und ist mit dem Pferdeflüsterer<br />

längst nicht am Ende angelangt.<br />

Salomo und der „Horse Whisperer“ Tom<br />

Booker, Daktari und Dr. Doolittle verfügten<br />

über prophetische Fähigkeiten. Sie<br />

hatten ein Geheimwissen. Das Internet<br />

demokratisiert diesen elitären Zugang nun.<br />

Es macht uns zu Tierverstehern.<br />

Der ehemalige Rockstar Peter Gabriel<br />

(„Genesis“) und Vint Cerf, Urvater des Netzes,<br />

mittlerweile bei Google angestellt, gehen<br />

noch einen Schritt weiter. Auf der diesjährigen<br />

Ted-Konferenz, dem Stelldichein<br />

der digitalen Elite, kündigten sie die Gründung<br />

von „The Interspecies Internet“ an.<br />

Das Massachusetts Institute of Technology,<br />

MIT, unterstützt diese ambitionierte Initiative.<br />

Ein artenübergreifendes Internet soll<br />

die Kommunikation zwischen Menschen,<br />

Tieren und anderen intelligenten Wesen<br />

möglich machen: „Alle Arten fühlender Wesen“,<br />

so Cerf, „können verbunden werden.<br />

Wir beginnen zu erforschen, was es bedeutet,<br />

mit jemandem zu kommunizieren, der<br />

keine Person ist.“ Peter Gabriel hofft, schon<br />

bald mit Primaten musizieren zu können.<br />

Die Tiere mischen sich wieder ein in<br />

unser Leben, aus dem <strong>wir</strong> sie im Namen<br />

des Tier- und Artenschutzes verdrängt haben.<br />

Wollen <strong>wir</strong> das? Martin Wikelski kann<br />

genau sagen, warum es elementar wichtig<br />

ist, Tiere besser zu verstehen: „Wir müssen<br />

wieder lernen, welche Bedeutung die Tiere<br />

für uns haben. Es sind nicht nur die Blindenhunde,<br />

die uns helfen. Tiere können<br />

auch echtes Disaster Forecasting leisten – <strong>wir</strong><br />

können größere Vulkanausbrüche am Ätna<br />

mehrere Stunden voraussagen, weil sich die<br />

Ziegen da oben zuvor in Sicherheit bringen.<br />

Elefanten haben ausgeprägte Sensoren für<br />

das Nahen eines Erdbebens oder Tsunamis.“<br />

Seeschlangen hingegen verlassen fluchtartig<br />

Lagunen. Würde man Tierbewegungen systematisch<br />

auswerten, könnte man Katastrophen<br />

wie die von Phuket oder Fukushima<br />

besser bewältigen.<br />

Die Beziehung von Mensch und Tier<br />

steht dank Internet an einem Wendepunkt.<br />

Ein ganz neues ökologisches Denken beginnt,<br />

das mit den grünen Mythen der Vergangenheit<br />

bricht und einen Ausgleich von<br />

Natur und Technik finden will. Das sollten<br />

sich alle schießwütigen toskanischen Jäger<br />

hinter die Ohren schreiben und den Finger<br />

vom Abzug nehmen, wenn mein Freund<br />

Shorty über ihrem Revier auftaucht.<br />

alexander Pschera<br />

ist Medientheoretiker und<br />

Waldgänger und arbeitet derzeit<br />

an einem Buch über „Das<br />

Internet der Tiere“<br />

Foto: Barbara Dietl<br />

Foto: plainpicture / C & P<br />

ISBN 978-3-89684-097-4<br />

Auch als E-Book erhältlich.<br />

Weiter weg ist näher dran:<br />

die irische Journalistin Judy<br />

Dempsey über Merkels Politikstil.<br />

www.edition-koerber-stiftung.de<br />

Der Terror<br />

hat ein neues<br />

Gesicht<br />

464 S., ISBN 978-3-7466-2917-9. € [D] 9,99<br />

Mehr Infos, Coderätsel und<br />

Trailer unter karl-olsberg.de<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 123


| S a l o n | M a n s i e h t n u r , w a s m a n s u c h t<br />

Kulissenzauber<br />

Jean-Léon Gérômes Gemälde „Der<br />

Schlangenbeschwörer“ ist eine<br />

raffinierte Mixtur aus Exotik und Erotik<br />

und zugleich ein zentraler Ausdruck des<br />

französischen Kolonialismus<br />

Von Beat Wyss<br />

Um 1878<br />

entstand<br />

Gérômes<br />

präzise<br />

Fantasie<br />

E<br />

in bunter Haufen von Knaben<br />

und Männern jeden Alters hat<br />

sich im Schutz einer reich verzierten<br />

Wand hingekauert. Vor ihnen<br />

steht auf einem Gebetsteppich der nackte<br />

Junge. Eine Riesenschlange windet sich,<br />

begleitet vom Flötenspiel eines hageren<br />

Greises, um den kindlichen Leib. Beherzt<br />

hält sie der Junge an Kopf und Schwanz.<br />

Obwohl einige der Männer Waffen tragen,<br />

wohnen sie wie wehrlos diesem<br />

Spektakel bei: als entdeckten sie darin<br />

eine bisher ungekannte, verbotene Lust.<br />

Die sich aufreckende Schlange, der bloße<br />

Hintern des Knaben, die verschleierten<br />

Blicke der Krieger – was für ein wunderliches<br />

Bild.<br />

Im Blick der gemalten Orientalen<br />

spiegelt sich aber nichts anderes als der<br />

Blick des Malers selber; und im Blick des<br />

Malers wiederum spiegelt sich die Weltsicht<br />

Frankreichs als Kolonialmacht. Zwar<br />

hatte man nach dem Deutsch-Französischen<br />

Krieg 1871 das Elsass und einen<br />

Teil von Lothringen an Preußen verloren.<br />

Die Dritte Republik aber kompensierte<br />

diesen Verlust am Rhein mit massiven<br />

Kolonisierungskampagnen in Indochina<br />

und Afrika.<br />

Nach damaliger Auffassung galt der<br />

maghrebinische Mensch als ältestes Kind<br />

des französischen Mutterlands, in Anspielung<br />

darauf, dass Algerien Frankreichs<br />

älteste Kolonie war. 1876 wurde<br />

den Algeriern das zweifelhafte Privileg erteilt,<br />

französische Bürger zweiter Klasse<br />

sein zu dürfen. Besonders beliebt waren<br />

die Berber, handelt es sich doch um<br />

ein indigenes Volk in Nordafrika, das der<br />

Christ aus der Lektüre des Alten Testaments<br />

schon kennt. Jean-Léon Gérôme<br />

sah in den Orientalen „lebende Antike“.<br />

Geboren 1824 und aufge<strong>wachsen</strong> in<br />

der idyllischen Kleinstadt Vesoul in der<br />

Franche Comté, hatte der Künstler das<br />

Gymnasium besucht, wo sein Weltbild<br />

durch die Fächer Latein, Griechisch und<br />

alte Geschichte geprägt wurde.<br />

Altersmäßig zwischen Gustave Courbet<br />

und Édouard Manet stehend, dem<br />

Realisten und dem Vorreiter des Impressionismus,<br />

hat Gérôme mit beiden nichts<br />

gemein. Er trägt den romantischen Klassizismus<br />

von Jean-Auguste-Dominique<br />

Ingres noch bis über die Schwelle zum<br />

20. Jahrhundert. Im Gegensatz zu jenen<br />

modischen Schlawinern erhob der<br />

Fotos: Bridgemanart.com, artiamo (Autor)<br />

124 <strong>Cicero</strong> 6.2013


akademische Salonmaler den Anspruch<br />

auf historisch und kulturgeografisch korrekte<br />

Darstellung. Damit malte Gérôme<br />

durchaus im Zeitgeist der Ethnologie, die<br />

sich damals als neue Wissenschaft herausbildete.<br />

Während das Gemälde entstand,<br />

fand die dritte Pariser Weltausstellung<br />

von 1878 statt, die den Künstler mit einer<br />

Ehrenmedaille bedachte.<br />

Mehrere Reisen in den Maghreb,<br />

nach Ägypten und in die Türkei haben<br />

im „Schlangenbeschwörer“ Spuren<br />

hinterlassen. Ausgeführt wurde das Gemälde<br />

im Pariser Atelier nach Bildquellen<br />

aus zweiter Hand. Das Mosaik der<br />

Rückwand ist inspiriert vom Topkapi-Palast<br />

in Istanbul. Doch in der Hauptstadt<br />

des Osmanischen Reiches gab es keine<br />

Schlangenbeschwörer.<br />

Dass Schlangen von nackten jungen<br />

Männern vorgeführt wurden, ist vielmehr<br />

im Ägypten des 19. Jahrhunderts belegt.<br />

Der marmorne Fußboden erinnert denn<br />

auch an die Kairoer Moschee Amr ibn al<br />

As. Der sakrale Charakter des Bildraums<br />

<strong>wir</strong>d unterstrichen von jenem Spruchband<br />

mit Koranversen über den türkisfarbenen<br />

Scheinarkaden. So <strong>wir</strong>d gerade<br />

die Genauigkeit im Detail zur Falle: Eine<br />

Szene, die allenfalls in den Bazar gehört,<br />

spielt in einer Kulisse zwischen Palast und<br />

Sakralraum.<br />

Ebenso hybrid ist die kunterbunte<br />

Mischung von männlichen Beobachtern<br />

in Kriegertrachten aus dem Maghreb,<br />

Ägypten und dem Nahen Osten. Kolonialmessen<br />

boten damals Ethnofolklore von<br />

Schaustellern aus aller Welt. 1893 wurde<br />

Gérômes „Schlangenbeschwörer“ an die<br />

Weltausstellung von Chicago geschickt<br />

und landete so in der New Yorker Kunstsammlung<br />

von Sterling Clark, dem Erben<br />

des Singer-Nähmaschinenimperiums.<br />

Seinen analytischen Platz fand das<br />

Gemälde „Der Schlangenbeschwörer“<br />

hundert Jahre, nachdem es gemalt worden<br />

war, als Umschlagbild von Edward<br />

Saids Buch über Orientalismus, einer<br />

wegweisenden Studie über exotische und<br />

erotische Projektionen im Geist des Postkolonialismus.<br />

B e at W y s s<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt in Karlsruhe<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 125


| S a l o n | E s s a y<br />

Wenn das Wir entscheidet,<br />

<strong>wir</strong>d das Ich bevormundet<br />

Die inflationäre Rede vom Wir bemäntelt oft ein großes Ego.<br />

Es ist Zeit für eine neue Philosophie der Freiheit<br />

Von Alexander Kissler<br />

S<br />

ofern sich 2013 nichts Umwerfendes mehr ereignen<br />

sollte, stehen Wort und Unwort des Jahres bereits<br />

fest: das Wir und das Ich. Letzteres hat gute Chancen,<br />

auf die Liste der bedrohten Wörter zu gelangen. Denn wer Ich<br />

sagt, ist ein Egoist und Ellenbogenmensch, ein Raffke und Gierschlund.<br />

Das Wir hingegen ist die neue Zeit. Es verheißt Aufbruch<br />

und Aufstieg, ein Zeitalter der Menschlichkeit und Solidarität.<br />

So lauten die Slogans überall, mit denen derzeit Herz<br />

und Hirn verkleistert werden.<br />

Einmal wollte die SPD mit der Zeit gehen und lieh sich für<br />

den Bundestagswahlkampf das Motto einer Leiharbeitsfirma<br />

und behauptet nun, „Das Wir entscheidet“. Wer dieses absolut<br />

souveräne, radikal dezisionistische Wir sein soll, wen es umfasst,<br />

wen es ausschließt, lässt sie im Dunkeln. Der Verdacht liegt<br />

nahe, es könnte mit dem Wir ein sozialdemokratisch verwalteter<br />

Staatsapparat sein.<br />

Jeder Appell an ein Wir trägt diesen definitorischen Makel.<br />

Der Wir-Rausch schwemmt die Begriffe hinweg. Er basiert auf<br />

einer hochverdichteten, hochproblematischen Redefigur, die nie<br />

auskommt ohne Kasernenton – das Wir braucht oder muss –<br />

und nie ohne den meist verschwiegenen Zusatz „… und die anderen“.<br />

Das Wir gemeindet ein und verstößt im Namen eines<br />

kraftmeierischen Ich, das scheinbar von sich absieht, um desto<br />

größer sich aufzublähen, bis hin zum Praeceptor Germaniae, der<br />

im Pluralis Majestatis verkündet, wo es langgehen soll.<br />

Sanfte Töne, in denen das Wir sich ausspricht, sind kein Widerspruch.<br />

Jedes öffentlich eingeklagte Wir ist ein Peitschenknall,<br />

mit dem das Individuum zurechtgestutzt werden soll. Auch Altbischöfin<br />

Margot Käßmann steht da nicht abseits. In ihrem<br />

neuen Buch annociert sie Wege, wie „<strong>wir</strong> die Welt verbessern<br />

können“. Die Käuferschar liest von „Bildern der Zukunft, die<br />

<strong>wir</strong> dringend brauchen“, auch „brauchen <strong>wir</strong> Alternativen und<br />

ermutigende Beispiele“, sollten <strong>wir</strong> „gegen das Unrecht“ antreten<br />

und könnten etwa „das Auto abschaffen, bewusst einkaufen,<br />

Unterschriften gegen Rüstungsexporte sammeln, uns bei<br />

der ‚Tafel‘ ehrenamtlich engagieren“. Margot Käßmann sieht<br />

es so. Bei der Volte aber vom Ich, das <strong>wir</strong>bt, zum Wir, das fordert<br />

und Unterschiede einebnet, bleiben die Freiheitsrechte des<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

126 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Foto: Andrej Dallmann<br />

Individuums gerne auf der Strecke. Das Ich, das sich zum Wir<br />

verkleidet, ist sich selbst nicht genug. Es ist auf Gefolgschaft aus<br />

und Akklamation, nicht auf Diskurs und Dialog. Es ist ein Imperator<br />

in der Hosentasche.<br />

So viel Wir war selten. Autoren und -innen wissen genau,<br />

„warum <strong>wir</strong> uns vom Kapitalismus befreien müssen“ (Jutta Ditfurth),<br />

„warum <strong>wir</strong> uns ändern müssen“ (Alois Glück), „warum<br />

<strong>wir</strong> wieder lernen müssen zu empfinden“ (Arno Gruen), „warum<br />

<strong>wir</strong> in die Natur zurückfinden müssen“ (Helmut Schreier),<br />

„warum <strong>wir</strong> einen neuen Generationenvertrag brauchen“ (Claus<br />

Hipp). Gewiss, auch das Marketing führt Regie. Wer den Eindruck<br />

erweckt, die Menschheit, das maximale Wir, hinter sich<br />

zu scharen, erscheint als Kassandra mit Kennermiene, als globaler<br />

Kümmerer. Gerade die Deutschen schätzen es oft, wenn man<br />

sich um sie kümmert und sie bei der Hand nimmt. Wenn indes<br />

nun auch der ehemalige Daimler-Benz-Vorstandsvorsitzende<br />

Edzard Reuter in der Beletage des Schurigelns angekommen ist,<br />

eine „Republik der Egoisten“ verurteilt und „unsere Denk- und<br />

Handlungsweisen“ zu ändern befiehlt, denn „<strong>wir</strong> sind drauf<br />

und dran, unsere Zukunft aufs Spiel zu setzen“, – dann klopft<br />

der Unernst an die Tür. Weit eher ist Deutschland bekanntlich<br />

das Land des sozialen Engagements, unbeschadet individueller<br />

Ego-Exzesse.<br />

Weit fortgeschritten in der Disziplin des entgrenzten Wir-<br />

Geredes ist das erfolgreiche Autorenduo Michael Hardt und Antonio<br />

Negri. Die Vordenker der „Occupy“-Bewegung versprechen<br />

in ihrem neuen Buch Aufschluss: „Wofür <strong>wir</strong> kämpfen“.<br />

Dieses Wir, das laut Titel einer (natürlich mit Ausrufezeichen hinausposaunten)<br />

„Demokratie!“ den Weg bahnen will, ist über<br />

die erste Person Plural der Professoren hinaus die Avantgarde des<br />

Volkes, „Multitude“ geheißen. Ihr rufen die beiden zum Wir erhöhten<br />

Iche zu: „Wir können nicht heilen, solange die am Hebel<br />

sitzen“ – die Mächtigen aller Couleur. Damit „das Gemeinschaftliche“<br />

herrsche, „müssen <strong>wir</strong> die Freude an der politischen<br />

Beteiligung neu entdecken“ und die parlamentarische Demokratie<br />

überwinden. Dazu gebe es „keine Alternative. Wir sind<br />

auf der Titanic, und Verarmung und Vereinzelung machen unser<br />

Leben grau und leer.“ Pardon: Jedes Leben lebt sich individuell,<br />

„unser Leben“ kann nicht grau und leer sein – wer also ist Wir?<br />

Kein ganz neuer Hut ist die Feier des Wir bei tendenzieller<br />

Abwertung des Ich, das doch Ort sämtlicher Weltwahrnehmung<br />

und -gestaltung bleibt. Der Journalist Christian Schüle skizzierte<br />

2009 einen Weg „Vom Ich zum Wir“, forderte „Rückbindung<br />

an die Gemeinschaft“ und eine „Charta des Gemeinwohls“, eine<br />

neue „Wir-Norm“. Auch Hardt/Negri wünschen sich eine „Verfassung<br />

für das Gemeinsame“. Der Rede vom Wir ist die Liebe<br />

zum Kodex fest eingeschrieben. Ein Jahr nach Schüle verlangte<br />

der Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski schlicht, doch mit<br />

Ausrufezeichen mehr „Wir!“ Der „Solitär“ müsse sich zum „Solidär“<br />

entwickeln, das „Zeitalter gemeinsamen Lebens“ beginnen.<br />

Opaschowski verschwieg die Abgründe nicht. Das Wir-Bewusstsein<br />

sei nötig „im Kampf ums Leben und Überleben in<br />

schwierigen Zeiten“. Im Wir-Gefühl werde „das Vertraute über<br />

alles andere gestellt und das Bodenständige und das Immer-so-<br />

Gewesene wieder geschätzt“. Im Zentrum eines solchen Denkens<br />

stünden „Heim und Heimat“ und „die Gleichgesinnten“.<br />

Hardt/Negri sprechen dann aus, was Nicht-Gleichgesinnten<br />

droht: „Wir müssen die Kirchen der Linken räumen, ihre Türen<br />

verrammeln und sie niederbrennen!“<br />

Derlei Aufruf ist gewiss nicht für bare Münze zu nehmen,<br />

die Rhetorik aber lässt tief blicken. Wo ein Wir herrscht, hat jedes<br />

Ich, das nicht mitmacht, schlechte Karten. Maximilien de<br />

Robespierre rief im Namen des großen Wir und der ihm unterstellten<br />

Tugenden einen „Despotismus der Freiheit“ aus. „Wir“,<br />

sagte er am 5. Februar 1794 vor dem Konvent, „wollen in unserem<br />

Lande die Moral gegen den Egoismus (…), die Grundsätze<br />

gegen die Gewohnheiten, die Pflicht gegen die Höflichkeit (…)<br />

eintauschen“. Bedroht sei dieses brachiale Wir von Menschen,<br />

die er für vogelfrei erklärte, namentlich dem „Schwarm von Ausländern,<br />

Priestern, Adligen und Intriganten, die sich heute auf<br />

dem Boden der Republik breitmachen“. Kein anderes Wort als<br />

das abgründige Wir ist deshalb auch der Refrain jener zutiefst<br />

deutschen Collage, die Elfriede Jelinek 1990 unter dem Titel<br />

„Wolken. Heim.“ aus Texten Hegels, Hölderlins, Fichtes zusammenstellte.<br />

„Wir sind bei uns“, hieß es da immer wieder, „<strong>wir</strong><br />

sind <strong>wir</strong> und wohnen gut in uns.“<br />

Natürlich: Niemand <strong>wir</strong>d sich einen grenzen- und verantwortungslosen<br />

Egoismus wünschen, und nicht jeder, der zur<br />

Herrschaft des Wir aufruft, trägt den Dolch im Gewande. Alle<br />

Rede vom Wir aber vernebelt das Subjekt, grenzt aus und beschneidet<br />

die Freiheit. Zudem – darauf hat der Philosoph Michael<br />

Pauen hingewiesen – „stammt die Ablehnung des Egoismus<br />

aus Zeiten, die auch der individuellen Entfaltung skeptisch<br />

gegenüberstanden“.<br />

Was heute nottut, scheint mir, ist nicht der zwiespältige und<br />

oft verlogene Appell an ein diffuses Wir, der eigene Interessen<br />

bemäntelt. Was heute nottut, scheint mir, sind eine neue Philosophie<br />

und eine neue Praxis der Freiheit, die eben immer eine<br />

hochindividuelle Sache ist. Nur dann kann Platz geschaffen werden<br />

für eine vom moralistischen Wir-Radau verhinderte neue<br />

Moral. Alle Moralität, wusste schon der große liberale Historiker<br />

Lord Acton, beruht auf Freiheit. Nicht vom Wir der Politik,<br />

dem Wir einer Partei, dem Wir eines Staates, dem Wir einer Nation<br />

oder dem Wir eines frei schaffenden Missionars wächst der<br />

Weltgesellschaft Freiheit zu, sondern vom einzelnen Menschen,<br />

der Person.<br />

Darum plädiere ich dafür, weniger Käßmann, Hardt, Negri<br />

und SPD zu lesen und mehr Jens Bjørneboe. Der weithin<br />

vergessene norwegische Freiheitsdenker sagte schon 1956, das<br />

„Zeitalter des Bevormundermenschen“ sei angebrochen. Dagegen<br />

gebe es aber ein Kraut: den einzelnen Menschen. Viele Zeitgenossen<br />

hätten die eigentliche Idee der Freiheit leider vergessen,<br />

das Bewusstsein, dass Freiheit täglich erobert werden muss.<br />

Stattdessen werde „das Zeitalter des Bevormundermenschen als<br />

etwas Natürliches anerkannt, sogar von denen, die darunter leiden“.<br />

Der nächsten Generation, schloss Bjørneboe, sei es deshalb<br />

aufgegeben, „Ritter und Verteidiger des Menschen zu werden.“<br />

Die Zeit ist da.<br />

Alexander Kissler<br />

leitet das Ressort Salon. Von ihm erschien zuletzt<br />

„Papst im Widerspruch. Benedikt XVI. und seine<br />

Kirche 2005 – 2013“ (Pattloch-Verlag)<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 127


| S a l o n | 1 9 3 3 – u n t e r w e g s i n d i e D i k t a t u r<br />

Es waren 0,77 Prozent<br />

Die Volkszählung im Juni 1933 schuf die statistische Grundlage für die<br />

spätere Vertreibung und Ermordung der Juden. Fünfte Folge einer Serie<br />

von Philipp Blom<br />

E<br />

r sieht direkt in die Kamera.<br />

Etwas töricht sieht er aus und<br />

selbstzufrieden, fast, als wäre<br />

er überzeugt, dass keine Frau<br />

ihm widerstehen kann. Das<br />

Foto ist ein offizielles Porträt des Leiters<br />

der „Dienststelle des Sachverständigen für<br />

Rasseforschung beim Reichsinnenministerium“,<br />

Achim Gercke. Er ist blond. Obwohl<br />

das Foto schwarz-weiß ist, darf man<br />

annehmen, dass er blaue Augen hat.<br />

Für Gercke war die Volkszählung vom<br />

Juni 1933 ein karrierefördernder Meilenstein,<br />

obwohl sie nicht die Idee der Nationalsozialisten<br />

gewesen war. Sie hätte schon<br />

drei Jahre früher stattfinden sollen, aber die<br />

Weimarer Republik hatte dafür nicht genügend<br />

Geld gehabt. Nun aber lagen genaue<br />

Daten über Deutschlands Bevölkerung vor,<br />

auch und besonders über den jüdischen<br />

Teil. Laut diesen neuesten Zahlen waren<br />

502 799 Menschen im Deutschen Reich<br />

Juden, davon 144 000 in Berlin, 3,8 Prozent<br />

der dortigen Einwohner. Der größte<br />

Teil der deutschen Juden lebte in Städten,<br />

nur 15,5 Prozent in Orten von weniger<br />

als 10 000 Einwohnern. Etwa 65 Millionen<br />

Menschen insgesamt lebten im Deutschen<br />

Reich, der jüdische Anteil an der Bevölkerung<br />

betrug also gerade 0,77 Prozent.<br />

Deutsche Juden waren mit überwältigender<br />

Mehrheit urban und bildungsorientiert.<br />

Ein Drittel von ihnen arbeitete in<br />

Handel und Gewerbe, nur knapp 2 Prozent<br />

in der Land<strong>wir</strong>tschaft. In Preußen waren<br />

11 674 Anwälte zugelassen, 3370 von<br />

ihnen waren Juden. Unter den Ärzten in<br />

Deutschland betrug der jüdische Anteil<br />

etwa 16 Prozent.<br />

Der Reichssachverständige Gercke<br />

hatte darauf bestanden, im Rahmen der<br />

Volkszählung neben der Religionszugehörigkeit<br />

auch Geburtsorte außerhalb des<br />

Ein Denker und<br />

Forscher im Stil<br />

der Zeit: Der<br />

Biologe Achim<br />

Gercke gründete<br />

1926 ein privates<br />

„Archiv für<br />

berufsständische<br />

Rassenstatistik“.<br />

Die Nationalsozialisten<br />

beförderten<br />

ihn 1933 zum<br />

Leiter der „Dienststelle<br />

für Rasseforschung“<br />

im<br />

Innenministerium<br />

Reiches nachzufragen, um sich ein besseres<br />

Bild über mögliche jüdische Wurzeln<br />

der Befragten zu machen. Ein Geburtsort<br />

in einem Gebiet mit überdurchschnittlich<br />

hoher jüdischer Bevölkerung, besonders in<br />

Osteuropa, galt sofort als verdächtig.<br />

Gercke war durchdrungen vom Rassendenken<br />

des frühen 20. Jahrhunderts.<br />

Sein Vater war Professor für Altphilologie<br />

und hatte gemeinsam mit einem jüdischen<br />

Kollegen an einem Standardwerk<br />

über die Antike gearbeitet. Sohn Achim<br />

kam aus einem humanistischen und toleranten<br />

Haus. Er selbst aber hatte seinem<br />

Leben von Anfang an eine ganz andere Orientierung<br />

gegeben. Schon als Student der<br />

Naturwissenschaften in Breslau, Göttingen<br />

und Freiburg hatte der gebürtige Greifswalder<br />

begonnen, Daten über jüdische Akademiker<br />

zu sammeln. 1926 gründete er<br />

das „Archiv für berufsständische Rassenstatistik“<br />

und arbeitete ab 1931 direkt für<br />

128 <strong>Cicero</strong> 6.2013


Anzeige<br />

Fotos: DDP Images/United Archives, Peter Rigaud (Autor); Grafik: <strong>Cicero</strong><br />

die NSDAP. Seine Kartei umfasste damals<br />

70 000 Namen.<br />

Ein Bewunderer beschrieb 1937 Gerckes<br />

Arbeitsweise: „Der wichtigste Teil war<br />

die Hauptdatei, die den Bestand an jüdischen<br />

Versippungen enthielt und aus circa<br />

50 000 Karten bestand. Bemerken möchte<br />

ich, dass auf mancher Karteikarte die Namen<br />

von drei bis fünf Familienangehörigen<br />

verzeichnet waren. Dieser Bestand bildet<br />

auch heute noch die Grundlage der Gesamtkartei,<br />

ohne die ein weiteres Arbeiten<br />

unmöglich wäre. Anfänglich musste<br />

mit größter Mühe jede einzelne Karte<br />

neu erstellt werden. Für jede Karte waren<br />

eingehende Untersuchungen und Nachforschungen<br />

bei den Pfarr- und Standesämtern<br />

notwendig, ein Verfahren, das<br />

große Mittel und viel Zeit in Anspruch<br />

nahm … Daneben wurde aber all<br />

die Jahre hindurch noch eine<br />

Reihe von jüdischen Zeitungen<br />

gehalten, zum Beispiel die<br />

Frankfurter Zeitung, die Vossische<br />

Zeitung und das Berliner<br />

Tageblatt. Die Familiennachrichten<br />

dieser Zeitungen<br />

wurden ausgeschnitten, aufgeklebt<br />

und karteimäßig eingeordnet.“<br />

Die Kartei wurde Gerckes Machtbasis,<br />

die er mit den Ergebnissen der Volkszählung<br />

weiter ausbauen konnte. Mit<br />

der Machtergreifung verlief der Aufstieg<br />

des rassischen Reinheitswächters steil. Er<br />

machte keinen Hehl aus seinen Überzeugungen<br />

und Absichten. Das im April<br />

1933 erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung<br />

des Berufsbeamtentums“, das von<br />

allen Beamten einen Abstammungsnachweis<br />

verlangte und die fristlose Entlassung<br />

von jüdischen und ideologisch missliebigen<br />

öffentlichen Angestellten ermöglichte,<br />

machte Gerckes Position strategisch noch<br />

wichtiger. Seine Dienststelle war letzte Instanz<br />

in „Rassenfragen“.<br />

Im Mai 1933 schrieb Dienststellenleiter<br />

Gercke in den Nationalsozialistischen<br />

Monatsheften unter dem Titel „Lösung der<br />

Judenfrage“: „Durch den Sieg der nationalsozialistischen<br />

Revolution ist die Judenfrage<br />

als Problem … erkennbar geworden.“<br />

Er sprach von einem „Gegenschlag gegen<br />

die Kriegserklärung Judas“: „Die Juden,<br />

wenn sie auf ewig bei ihren Wirtsvölkern<br />

schmarotzen können, bleiben ein ständiger<br />

Brandherd, an dem das offene, zerstörende<br />

Feuer des Bolschewismus leicht<br />

1933<br />

Anno<br />

Als Deutschland die<br />

Demokratie verlor<br />

immer wieder angezündet werden kann …<br />

Staatlich geregelt werden kann und darf<br />

nur der planmäßige Ausmarsch …“. Seine<br />

Bücher trugen Titel wie „Das Gesetz der<br />

Sippe“ und „Rasse und Schrifttum“.<br />

Die Ergebnisse der Volkszählung 1933<br />

wurden direkt für die Vorbereitung der<br />

großen Volkszählung 1939 verwendet, bei<br />

der auch gezielt nach „Mischlingen“ und<br />

„jüdisch Versippten“ im gesamten Reichsgebiet,<br />

also einschließlich des „heimgekommenen“<br />

Österreichs, gefragt wurde –<br />

eine Datei, die zur Todesliste werden sollte.<br />

Gerckes kometenhafter Aufstieg setzte<br />

sich fort. Er wurde zum Verantwortlichen<br />

für Abstammungsfragen an Universitäten<br />

und Hochschulen und in der<br />

NSDAP und untersuchte prominente<br />

Fälle wie den SS-Obergruppenführer<br />

und Schlächter Reinhard Heydrich.<br />

Sein Wort konnte Karrieren<br />

beenden oder beflügeln.<br />

Im November 1933 wurde<br />

Gercke Reichstagsabgeordneter<br />

und arbeitete an einem<br />

„Sippenamtsgesetz“.<br />

Vielleicht war Gerckes Karriere<br />

zu steil für die Parteigenossen.<br />

1935 wurde er wegen Verstößen gegen<br />

Paragraf 175, den berüchtigten Homosexuellenparagrafen,<br />

verhaftet und aller Ämter<br />

enthoben. Es ist möglich, dass er Opfer einer<br />

Intrige wurde. Er kam in ein Strafbataillon<br />

an der Ostfront und kehrte 1945<br />

aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück.<br />

Danach arbeitete er im Landeskirchlichen<br />

Archiv der Evangelisch-lutherischen<br />

Landeskirche Hannover und als Standesbeamter.<br />

Augenscheinlich betrachteten<br />

die bundesrepublikanischen Vorgesetzten<br />

ihn als geeignet für solche Aufgaben, viele<br />

jüdische Paare gab es ja damals nicht zu<br />

trauen. Bis zu seinem Tod 1997 veröffentlichte<br />

Gercke weiterhin Bücher zur Heimatkunde<br />

und zur fachkundigen Führung<br />

rassisch reiner Völker: zur Imkerei.<br />

Wir werden den Weg in die Diktatur von<br />

1933 weiterhin nachzeichnen. In der nächsten<br />

Ausgabe wenden <strong>wir</strong> uns den Reichskonkordaten<br />

mit den Kirchen zu.<br />

Philipp Blom ist Historiker<br />

und Autor. Seine Bücher „Der<br />

taumelnde Kontinent“ und<br />

„Böse Philosophen“ wurden<br />

mehrfach ausgezeichnet<br />

Ihr Monopol<br />

auf die Kunst<br />

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6.2013 <strong>Cicero</strong> 129


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B e n o t e t | S a l o n |<br />

illustration: anja stiehler/jutta fricke illustrators<br />

Doch Frau Cello<br />

ist er immer treu<br />

Musiker geben ihre Instrumente ungern aus der<br />

Hand. Auf Reisen ist da Kreativität gefragt<br />

Von Daniel Hope<br />

A<br />

ls Reisender Musiker führen mich Tourneen um den<br />

ganzen Erdball. Die vielen Hürden, die mir und meinen<br />

Kollegen das Reisen erschweren, verlangen eine enorme<br />

Kreativität. Wir Streicher geben unsere Instrumente nie aus der<br />

Hand. Deshalb brauchen Cellisten, wenn sie per Flugzeug unterwegs<br />

sind, nicht nur ein Ticket für sich selber, sondern auch<br />

noch ein zweites für „Mrs. Cello“, die für die Gepäckablage zu<br />

dick ist und einen eigenen Sitzplatz in der Kabine benötigt. Manche<br />

verlangen von der Stewardess sogar eine Extramahlzeit für<br />

ihre Begleitung.<br />

Vor kurzem kam es zu einem Eklat beim berühmten amerikanischen<br />

Cellisten Lynn Harrell. Harrell hatte seine „Mrs. Cello“<br />

bereits vor Jahren als Person beim Meilenprogramm einer amerikanischen<br />

Luftlinie registriert und somit auch Meilen für das<br />

Extraticket kassiert. Eine völlig legitime Angelegenheit, schließlich<br />

muss der Musiker für sein Instrument den vollen Tarif zahlen,<br />

selbst wenn er sein eigenes Ticket reduziert ergattert. Harrell<br />

staunte nicht wenig, als die Fluggesellschaft ihn schließlich ganz<br />

aus ihrem Meilenprogramm warf, seine Meilen konfiszierte und<br />

ihn auf Lebenszeit sperrte.<br />

Bei Geigern ist es in letzter Zeit häufig zu Problemen beim<br />

deutschen Zoll gekommen. Kurz hintereinander sind einige Solisten<br />

bei der Ankunft am Frankfurter Flughafen festgehalten und<br />

ihre Instrumente beschlagnahmt worden, obwohl sie außerhalb<br />

Deutschlands leben oder nur umsteigen wollten. Jeder Musiker,<br />

der von außerhalb der EU einfliegt, muss nämlich sein Instrument<br />

beim Zoll deklarieren, ob es ihm gehört oder nicht. Ansonsten<br />

droht ihm eine hohe Geldstrafe. Allerdings scheinen gewisse Beamte<br />

an den verschiedenen Flughäfen nicht immer informiert zu<br />

sein, wie die Regeln tatsächlich lauten. So werde ich öfters mit<br />

fassungslosen Blicken konfrontiert, wenn ich morgens um 5 Uhr,<br />

gerade aus Amerika gelandet, den Herrschaften zu erklären versuche,<br />

dass das Instrument nicht „Neuware“ ist, die im Drittland<br />

günstig eingekauft wurde, sondern ziemlich alt.<br />

Nur in Russland gibt es immer wieder interessante Begegnungen<br />

beim roten Zolldurchgang. Die Unterhaltung verläuft etwa so:<br />

„Guten Tag, ich bin Geiger.“<br />

Der Beamte sagt: „Moment.“<br />

Danach kommt der nächste und fragt: „Was wollen Sie?“<br />

„Ja, ich bin Geiger, ich spiele hier ein Konzert.“<br />

„Aha, Konzert! Geiger. Moment.“<br />

Dann kommt wieder ein anderer, und irgendwann <strong>wir</strong>d man<br />

an eine Frau weitergereicht, eine ziemlich massive Frau in Uniform.<br />

Die sagt: „Skripka, aha. Auspacken. Sofort!“<br />

Man steht am Flughafen, die Leute gehen an einem vorbei,<br />

und du musst die Geige herausnehmen. Du bist ganz vorsichtig.<br />

Und die Frau in Uniform packt sie mit dicken, tintenbeklecksten<br />

Fingern, reißt sie an sich, schüttelt sie und dreht sie. „Stradivari?“<br />

„Nein.“<br />

Sie guckt noch einmal. „Guadagnini?“<br />

„Nein.“ Jetzt guckt sie die Geige fast herablassend an.<br />

Und dann fängt sie an, die ganze Palette von Geigenbauern<br />

aufzusagen. „Ruggieri?“<br />

„Nein.“<br />

„Testore?“<br />

„Nein.“<br />

Es ist schon erstaunlich. In anderen Ländern kennt ein Zollbeamter<br />

höchstens die „Stradivari“. Aber sie, die russische Dame<br />

vom Zoll, kennt fast alle. Gereizt fragt sie: „Ja, was ist es denn?“<br />

„Es ist eine Guarneri.“<br />

Augenrollend fotografiert sie die Geige, notiert und stempelt<br />

alles. Das Procedere dauert fast eine halbe Stunde.<br />

Russen besitzen übrigens einen wunderbaren, skurrilen Humor.<br />

Eine Musikeranekdote der ehemaligen Leningrader Philharmoniker<br />

gefällt mir besonders: Eines Abends, während einer Tournee<br />

durch die Vereinigten Staaten, bei einer Feier im Hotelzimmer der<br />

Musiker, ließ jemand eine brennende Zigarette auf das Sofa fallen.<br />

Anstatt ein Kissen auf den Brandfleck zu legen, um die Beschädigung<br />

zu verbergen, beschlossen die Musiker, dass einer von ihnen<br />

mitten in der Nacht in einem Baumarkt, der 24 Stunden geöffnet<br />

hatte, eine Axt kaufen sollte. Gesagt, getan. Dann wurde das<br />

Sofa in Stücke gehackt und in Kleinteilen im Gepäck herausgeschmuggelt.<br />

Als der Manager des Hotels irgendwann fragte, wo<br />

bitte sehr das schöne Sofa aus Zimmer 413 geblieben sei, zuckten<br />

alle die Schultern und sagten nur: „Welches Sofa?“ Reisende<br />

Musiker sind eben besonders erfinderisch.<br />

Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband<br />

„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch<br />

„Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt)<br />

und die CD „Spheres“ (Deutsche Grammophon). Er lebt in Wien<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 131


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132 <strong>Cicero</strong> 6.2013


This is<br />

doch kein<br />

vergnügen<br />

hier<br />

Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

Die Entertainerin Gayle Tufts sucht das<br />

Lustige am Leben und das Heitere in<br />

Büchern, auch wenn diese sehr ernst sind:<br />

Zu Besuch bei einer Frau, die Worte inhaliert<br />

Von claudia Rammin<br />

S<br />

ie schwärmt von olivia, dem frechen Ferkel, das Kunst<br />

und Kultur liebt. Das gerne tanzt, von einer großen<br />

Karriere als Bühnenstar träumt und abends im Bett<br />

Bücher geradezu verschlingt, statt zu schlafen. Olivia<br />

ist dick, zwängt sich in schrille Kostüme und torkelt<br />

selbstbewusst durchs Leben. Die hyperaktive Heldin ihres Lieblingskinderbuchs<br />

erinnert sie an das kleine Mädchen, das sie selbst<br />

einmal war, erzählt Gayle Tufts. Das Buch liegt aufgeschlagen<br />

vor ihr. Geschrieben und gezeichnet hat „Olivia“ der amerikanische<br />

Designer und Illustrator Ian Falconer, der auch Titelblätter<br />

für den New Yorker gestaltet. Die ursprünglich als Geschenk für<br />

seine Nichte gedachte feinsinnige Bildergeschichte über Kinderträume<br />

wurde ein Welterfolg.<br />

Ihrem Alter Ego steht Gayle Tufts in nichts nach. Sie gilt als<br />

eine der besten Entertainerinnen der deutschen Comedy-Szene.<br />

Die 52-Jährige mit dem dunklen Struwwelpeterhaar und der markanten<br />

Nase kniet in Jeans und Sneakern auf dem Parkettboden<br />

im Arbeitszimmer ihrer Berliner Altbauwohnung mit Blick auf<br />

das Schöneberger Rathaus. Die Kinderbücher stehen im untersten<br />

Regal der schlichtweißen Bücherwand, leicht zugänglich für kleine<br />

Besucher, denen Gayle Tufts gerne vorliest. Sie fahndet nach einem<br />

weiteren Schatz ihrer Kindheit: „One Fish Two Fish Red Fish<br />

Blue Fish“, einem Klassiker des amerikanischen Kinderbuchautors<br />

Dr. Seuss, mit dem sie lesend groß geworden ist. „Alles ein bisschen<br />

anarchisch, aber irgendwie auch mein Lebensmotto: From<br />

there to here, from here to there, funny things are everywhere.“<br />

Gayle Tufts war früh auf der Suche nach den lustigen Dingen<br />

im Leben, schon damals in dem trostlosen Nest Brockton in<br />

Massachusetts, „einer Art Ruhrpott am Meer“, wie sie sagt. Die<br />

Tochter einer Supermarkt-Kassiererin und eines Barkeepers entdeckte<br />

dank ihrer stets vorlesenden Mutter schon als 4-Jährige die<br />

örtliche Bibliothek als ihr Abenteuerland. Das Eintauchen in die<br />

Traum- und Gefühlswelten anderer Menschen habe sie wie eine<br />

Offenbarung empfunden. Noch heute ergehe es ihr so, „Bücher<br />

sind für mich Nahrung und Inspiration“ – für sie als Autorin autobiografischer<br />

Sketche und Bücher wie „Miss Amerika“. Ihre<br />

Sehnsucht, zu schreiben, habe sie dann mit John Updike entdeckt.<br />

Die gesammelten „Rabbit“-Bände und weitere Updike-Werke<br />

stehen fast am Ende der alphabetisch geordneten Belletristik-Abteilung<br />

mit T. C. Boyle, William Boyd, Ian McEwan, John Irving,<br />

vor allem „Garp und wie er die Welt sah“, ihr „erstes Er<strong>wachsen</strong>en-<br />

Buch“. In ekstatische Bewunderung gerät Gayle Tufts, wenn sie<br />

über ihre Neuentdeckung „Vom Ende einer Geschichte“ spricht.<br />

Sie habe Bleistift, Papier und Notizbuch wegpacken wollen, weil<br />

Julian Barnes ihr das eigene Unvermögen vor Augen führe. „Das<br />

ist Schreiben, da ist kein Stück Fett, nichts Überflüssiges“, sagt<br />

sie, mit Betonung auf Fett. Auch die „Neun Erzählungen“ von<br />

J. D. Salinger seien Juwelen, in denen sie sich Futter und Anleitung<br />

für ihren – noch zu schreibenden – Roman holt.<br />

Es sind Geschichten über die skurrilen Wunder des Alltags, die<br />

sie geradezu inhaliert, wie auch in „Middlesex“ von Jeffrey Eugenides<br />

oder in „Letzte Nacht“ von Stewart O’Nan, einem ihrer<br />

amerikanischen Lieblingsautoren. Wort- und gestenreich schildert<br />

sie, wie traurig sie am Ende der jeweiligen Lektüre war. Besonders<br />

bei „Emily, allein“, ebenfalls von O’Nan. Er beschreibe einfühlsam<br />

die Seelenlage einer Witwe, die überlegt, was sie mit der<br />

Zeit machen soll, aus der sie gefallen zu sein scheint. Es erinnere<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 133


| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

Dieses Ferkel ist so frei: An die quietschfidele Olivia verlor Gayle Tufts früh schon ihr Herz. Das mit seinen<br />

Proportionen hadernde Borstenvieh ist unbeirrbar frohgemut und unheilbar süchtig nach Büchern. Auch<br />

Gayle Tufts lässt sich in ihrem Drang nach Gedrucktem von keinem Höhenmeter abschrecken<br />

sie an ihre verstorbene irisch-amerikanische Mutter, über die sie<br />

in ihrer One-Woman-Show „Some like it Heiß (sic!)“ und in einem<br />

gleichnamigen Buch berichtet: Die habe sich mit 80 Jahren<br />

das Rauchen abgewöhnt und nur noch Hummer sowie die Verstreuung<br />

ihrer Asche am Atlantikstrand verlangt.<br />

Ihre Jugend verbringt Gayle Tufts lesend und später in der Theatergruppe<br />

einer Highschool für Hochbegabte in ihrer Heimatstadt.<br />

Tanzend kompensiert sie ihre Körperfülle. „Ich war ein dickes,<br />

sehr dickes Kind, das perfekt sein wollte und aus Angst vor<br />

dem Versagen alles in sich hineingestopft hat“, sagt sie. Die Jüngste<br />

von drei Geschwistern will raus aus Brockton, macht als einzige<br />

mit einem Stipendium einen Abschluss am New York University’s<br />

Experimental Theatre Wing, wo sie Schauspiel, Gesang und Tanz<br />

studiert hat. Tagsüber wechselt sie Windeln in einem Montessori-<br />

Kindergarten, abends tingelt sie mit einer Truppe durch die Off-<br />

Szene der Metropole. Sie arbeitet mit Regisseurinnen wie Anne<br />

Bogart und Yoshiko Chuma zusammen, Bette Midler ist ihr großes<br />

Vorbild.<br />

Zahlreiche Biografien starker Frauen wie Monroe, Garland,<br />

Dietrich, „all those divas“, aber auch Madeleine Albright und<br />

Hillary Clinton thronen im Regal über den Kinderbüchern und<br />

neben den Krimis. Mangelndes Selbstbewusstsein kann der bekennenden<br />

Streberin Tufts nicht nachgesagt werden, „<strong>wir</strong> wissen,<br />

wie man Entertainment macht“, auch wenn sie ihren Erfolg mit<br />

den Worten „I could have done better“ zu schmälern versucht.<br />

Als Gayle Tufts nach 13 Jahren in New York mit leeren Taschen<br />

Anfang der neunziger Jahre nach Berlin kommt, kennt sie<br />

nur wenige deutsche Worte wie Kindergarten, Volkswagen, Blitzkrieg.<br />

Die ersten zwei Jahre seien wie ein bizarrer Stummfilm gewesen.<br />

Auf einen Sprachkurs hatte sie keine Lust. Sie verfolgt<br />

Nachrichten im Fernsehen, hört Radio und lernt durch Freunde<br />

und als Backup-Sängerin von Max Goldt. Ihm verdankt sie auch<br />

ihr erstes intensives Deutschtraining. Nie werde sie den Satz eines<br />

wunderschönen Liedes von ihm vergessen: „Schimmliges Brot<br />

ist selten ein Vergnügen.“ Aber auch heute tut sie sich schwer mit<br />

den Umlauten und mit der Tatsache, dass es seltsamerweise „der<br />

Büstenhalter“ heißt. „Die Artikel machen mich fertig“, seufzt sie<br />

und rollt mit den Augen.<br />

Inzwischen hat sie sich dem Land und seiner Sprache angenähert,<br />

ohne „den Blick von außen auf das andere, auch auf sich<br />

selbst und ihre Eigenheiten zu verlieren“. Und sie hat gelernt,<br />

nicht zuletzt mithilfe ihres norddeutschen Mannes und Managers,<br />

ihren typisch amerikanischen, ahnungslosen Enthusiasmus<br />

mit deutschem Pragmatismus zu zügeln. „Er gibt mir Bodenständigkeit,<br />

ich gebe ihm Pfeffer“, schmunzelt sie. Den hat sie<br />

zur Genüge im Blut. Sie spricht so schnell, als treibe sie jemand<br />

an. Auch auf der Bühne parliert die Botschafterin der „You can<br />

talk“-Kampagne eines deutschen Schulbuchverlags blitzgescheit<br />

und in Stakkato in schönstem „Dinglish“. Dem selbst erfundenen<br />

Sprachzwitter zwischen Deutsch und Englisch werden sogar<br />

didaktische Potenziale nachgesagt.<br />

Sie liebt die deutsche Sprache und liest dennoch Bücher überwiegend<br />

in der Muttersprache. Ein- bis zweimal im Jahr fährt sie<br />

mit einem Packen Bücher auf die Insel Föhr oder nach Rügen.<br />

Handy, Computer und Fernseher bleiben in der Lese-Enklave<br />

stumm. Sie hofft, eines Tages das umfängliche Meisterwerk von<br />

David Foster Wallace „Infinite Jest“ bewältigen zu können. Der<br />

„Unendliche Spaß“ lässt sie nicht los, obwohl mehrfache Versuche<br />

kläglich gescheitert seien.<br />

Dann greift sie kompensatorisch zur „Chick-Lit“, geschmeidiger<br />

Literatur für Frauen, geschrieben von Bridget Jones oder Candace<br />

Bushnell. Das sei keine Vollwertkost, sondern eine Pralinenschachtel.<br />

Nur wenn sie übermüdet ist, darf es die Vogue sein, wenn<br />

es ganz schlimm ist, auch die Gala. Immerhin habe sie durch das<br />

sehr gute Kreuzworträtsel darin ihr Deutsch verbessert, sagt sie<br />

und verschluckt sich fast am Lachschwall. Perfekt werde sie die<br />

Sprache wohl nie beherrschen. Aber sie freue sich schon sehr darauf,<br />

eines Tages einer namhaften Zeitung einen Leserbrief schreiben<br />

zu können, weil sie einen Grammatikfehler entdeckt habe.<br />

Claudia Rammin<br />

ist freie Journalistin in Hamburg und hat<br />

sich in den Humor des österreichischen<br />

Kabarettisten Viktor Gernot verknallt<br />

Fotos: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong>, Privat (Autorin)<br />

134 <strong>Cicero</strong> 6.2013


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136 <strong>Cicero</strong> 6.2013


D i e l e t z t e n 2 4 S t u n d e n | S a l o n |<br />

Wer flennt, fliegt raus!<br />

Schauspieler Uwe Ochsenknecht ist keiner Religion hörig, glaubt<br />

aber an die Reinkarnation. In seinen letzten 24 Stunden würde er<br />

meditieren – und hoffen, nicht zur Heuschrecke zu werden<br />

Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

W<br />

enn man jung ist, verschwendet<br />

man ja keinen Gedanken<br />

an so etwas. Aber jetzt? Ein<br />

Unfall, ein Koma, eine plötzliche Ohnmacht<br />

– das wäre schlimm. Lieber liege<br />

ich schön auf dem Sterbebett, bei vollem<br />

Bewusstsein, und habe keine Schmerzen.<br />

Wofür gibt es Morphium? Für dieses<br />

letzte riesige Abenteuer, die letzte große<br />

Reise – ein geiler Trip, munkelt man. Am<br />

schönsten wäre es, wenn man dann sagen<br />

kann: Okay, kann losgehen, ich bin bereit!<br />

Dann hat man alles richtig gemacht.<br />

Alles andere ist dann auch völlig unerheblich.<br />

Ob man hübsch ist, Geld hat oder<br />

berühmt ist – alles wurscht!<br />

Angst vor dem Tod zu haben, finde<br />

ich dämlich und kindisch. Sobald man<br />

auf die Welt kommt, weiß man, dass die<br />

Uhr läuft. Und plötzlich tut man so, als<br />

hätte man nichts davon gewusst. Aber am<br />

Tod gibt es nun mal nichts zu rütteln. Da<br />

kommt keiner drum herum. Das <strong>wir</strong>d<br />

auch alles seine Ordnung so haben. Ich<br />

möchte nur nicht daliegen und denken,<br />

scheiße, hätte ich doch das oder das noch<br />

gemacht. Das Leben ist einfach zu kurz,<br />

und ich habe noch viel zu wenig von der<br />

Welt gesehen …<br />

Die Asiaten befassen sich seit Jahrtausenden<br />

mit diesem Thema. Es gibt<br />

Wenn Uwe Ochsenknecht auf<br />

dem Bildschirm erscheint, ist es<br />

Zeit für liebenswerte Schussel und<br />

überforderte Männer. Doch auch<br />

den Prinzen Luitpold im Kinofilm<br />

„Ludwig II.“ gab er schon. Und mit<br />

seiner Band lässt er es ordentlich<br />

krachen, auf mittlerweile schon fünf<br />

Alben, ein sechstes ist in Arbeit.<br />

www.cicero.de/24stunden<br />

ein tibetisches Totenbuch, das lange im<br />

Verborgenen gehalten wurde. In diesem<br />

Buch <strong>wir</strong>d der Sterbevorgang genau erklärt,<br />

mit seinen verschiedenen Phasen<br />

und Stufen. Die Buddhisten glauben, so<br />

lange reinkarniert zu werden, bis man ein<br />

bestimmtes Bewusstseinslevel erreicht hat,<br />

auf dem man sich nicht mehr abhängig<br />

macht von materiellen Dingen.<br />

Ich habe vier Wochen in einem tibetischen<br />

Kloster gelebt und bin durch die<br />

Meditation zu mir selbst gekommen. Alles<br />

beruhigt sich, man lebt in Harmonie<br />

mit sich und seiner Umwelt. Sollte ich<br />

das nächste Mal auf die Welt kommen,<br />

erreiche ich hoffentlich eine höhere Stufe.<br />

Als Ameise kann ich nicht wiedergeboren<br />

werden, der Unterschied wäre zu krass.<br />

Zur Strafe zur Heuschrecke werden, so<br />

funktioniert das nicht. Glaube ich. Meine<br />

Schwester war vielleicht mal meine Mutter,<br />

und im nächsten Leben werde ich<br />

vielleicht ihr Onkel. Aber man bewegt<br />

sich immer im selben Zirkel – und lebt<br />

so ewig weiter.<br />

Ich bin keiner Religion hörig. Wenn<br />

man negativ ist, zieht man Negatives an.<br />

Wenn man positiv ist, zieht man Positives<br />

an. Das hat mit Glauben nichts zu tun,<br />

das sind einfache Fakten. Es gibt auch<br />

keine Zufälle oder Schicksal. Das wäre<br />

zu einfach. Sein Leben muss man schon<br />

selbst leben, mit eigenen Taten und Gedanken.<br />

Darauf zu warten, bis einer<br />

kommt, der einem das abnimmt, ist feige.<br />

Bevor es zu Ende geht, möchte ich<br />

keine Leute dabei haben, die mich nerven<br />

mit ihrer Flennerei und ihrer Traurigkeit.<br />

Und um Gottes willen bitte<br />

nichts Schwarzes. Alles müsste lustig<br />

und bunt sein, man isst noch ein bisschen<br />

was, trinkt noch einen – immerhin<br />

ist es ein Abschied für eine längere Reise.<br />

Schade, das war ein bisschen kurz, denke<br />

ich mir dann. Aber wenn einer flennt,<br />

dann fliegt er!<br />

Aufgezeichnet von Sarah-Maria Deckert<br />

6.2013 <strong>Cicero</strong> 137


C i c e r o | P o s t S c r i p t u m<br />

Mix and Match<br />

Von Alexander Marguier<br />

W<br />

er mit der Mode geht, will sich natürlich nicht festlegen<br />

– vor allem nicht zu früh. Könnte ja sein, dass der<br />

schicke neue Ringelpulli in ein paar Monaten schon<br />

wieder alt aussieht. Und alt aussehen, darauf haben Deutschlands<br />

modernste Parteien verständlicherweise gar keine Lust.<br />

Deswegen warten CDU und CSU derzeit einfach noch in aller<br />

Ruhe ab, mit welchen Farben und Schnitten man sich in der<br />

nächsten Saison von seiner besten Seite zeigen kann. Sollen die<br />

anderen doch mal machen, in der Union haben sie es mit der<br />

Präsentation ihrer nächsten politischen Herbst-Winter-Kollektion<br />

nicht so eilig. Denn je näher die Öffentlichmachung des<br />

Wahlprogramms am Termin für die Bundestagswahl liegt, desto<br />

geringer die Gefahr, dass irgendein Trend verpasst <strong>wir</strong>d.<br />

CDU/CSU orientieren sich derweil am Geschäftsmodell<br />

von H & M: Der schwedische Bekleidungskonzern ist ja bekannt<br />

dafür, mit seiner Produktion in Windeseile auf unvorhergesehene<br />

modische Entwicklungen reagieren zu können. Wenn<br />

die werte Kundschaft über Nacht ihre Leidenschaft für halterlose<br />

Tops mit Tigermuster entdeckt, dann werden ein paar Tage<br />

später die H & M-Shops mit der begehrten Ware geflutet. Flexibilität<br />

als Basis für den Erfolg. In der Union funktioniert die<br />

Methode H & M (dort steht die Abkürzung dem Vernehmen<br />

nach für „Horst & Mutti“) so ähnlich, es heißt nur ein bisschen<br />

anders. Nämlich „Mitmach-Aktion“. Klingt ja auch ganz sympathisch,<br />

wenn die Parteimitglieder noch bis Ende Mai im Internet<br />

darüber abstimmen dürfen, „welche Forderungen ihnen<br />

besonders wichtig sind und in das Regierungsprogramm<br />

der Union einfließen sollen“, wie CDU-Generalsekretär Hermann<br />

Gröhe in einer offiziellen Verlautbarung mitteilen lässt.<br />

„Dabei geht es beispielsweise um die Stabilisierung des Euro,<br />

<strong>wir</strong>tschaftliches Wachstum und Beschäftigung, eine familiengerechte<br />

Arbeitswelt, tarifliche Mindestlöhne, medizinische Versorgung<br />

auf dem Land oder Lebensmittelsicherheit.“<br />

Die neue digitale Volkstümlichkeit hat nur einen Haken:<br />

Beschlossen <strong>wir</strong>d das gemeinsame Wahlprogramm von CDU<br />

und CSU am 23. Juni während einer Sitzung der beiden Parteivorstände.<br />

Ganz so flüssig ist die liquid democracy in ihrer<br />

schwarzen Variante dann wohl doch nicht. Aber ein bisschen basispiratischer<br />

Geist macht sich eben auch in der Union ganz gut.<br />

Wie gesagt: bloß nicht alt aussehen!<br />

Was von Hermann Gröhes gönnerhafter Mitmach-Aktion<br />

am Ende übrig bleibt, darüber entscheiden denn auch weniger<br />

die Mitglieder der CDU. Sondern wie üblich die Entwürfe<br />

und Schnittmuster aus dem Lager der politischen Konkurrenz.<br />

Da allerdings haben die Designer des grün-roten Gesellschaftsmodells<br />

den Trend bereits vorgegeben: Steuererhöhungen sind<br />

en vogue, bei der Umverteilung ist Schluss mit kleinem Karo,<br />

bürgerliche Beinfreiheit war gestern. Weil das Wir entscheidet,<br />

kann man sich im liberalen Outfit bald auf keiner Party mehr<br />

sehen lassen. Denn it’s so Nineties! Es müsste also schon mit dem<br />

Teufel oder Friedrich Merz höchstpersönlich zugehen, wenn<br />

die Union ihre programmatische Konfektion früher oder später<br />

nicht entsprechend anpasst. Vorausgesetzt natürlich, die Grünen<br />

behaupten sich auch mit ihren Steuerplänen weiterhin als<br />

It‐Partei.<br />

„Der Look dieses Sommers ist lässig, besitzt aber einen<br />

Hauch von Eleganz. Er lässt sich einfach mit anderen Favoriten<br />

Ihrer Garderobe kombinieren.“ Mit diesen Worten be<strong>wir</strong>bt<br />

H & M seine aktuelle Herren-Sommerkollektion. Sie<br />

könnten auch als Leitmotiv über dem künftigen Wahlprogramm<br />

von CDU und CSU stehen. Die postideologische<br />

Union hat schließlich hart genug an ihrem lässigen Image gearbeitet;<br />

der Hauch von Eleganz kam in der Ära nach Oggersheim<br />

fast von allein dazu. Dass sie sich inzwischen auch inhaltlich<br />

umstandslos mit allen möglichen Weltanschauungen<br />

kombinieren lässt, ist da nur konsequent. CDU/CSU, das ist<br />

die neue Mix-and-Match-Partei. Nicht <strong>wir</strong>klich modern. Aber<br />

immerhin modisch.<br />

Alexander Marguier<br />

ist stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

Illustration: Christoph Abbrederis; Foto: Andrej Dallmann<br />

138 <strong>Cicero</strong> 6.2013


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