Eulenspiegel Immer mehr Alte müssen dazuverdienen (Vorschau)
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DAS SATIREMAGAZIN<br />
Unbestechlich, aber käuflich!<br />
10/12 · € 2,80 · SFR 5,00<br />
www.eulenspiegel-zeitschrift.de<br />
58./66. Jahrgang • ISSN 0423-5975 86514<br />
<strong>Immer</strong> <strong>mehr</strong><br />
<strong>Alte</strong> <strong>müssen</strong><br />
<strong>dazuverdienen</strong><br />
Seite 67<br />
Literatur-Eule<br />
Zur Frankfurter Buchmesse:
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Zeit im<br />
Bild<br />
Rainer Ehrt
Inhalt<br />
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Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arno Funke<br />
3 Zeit im Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Ehrt<br />
6 Hausmitteilung<br />
6 Leserpost<br />
10 Modernes Leben<br />
12 T-Shirt lüpfen für die<br />
Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atze Svoboda / Barbara Henniger<br />
14 Zeitansagen<br />
19 Es war auch Evas Mundgeruch,<br />
der uns zu Opfern machte . . . . . . . Felice von Senkbeil / Andreas Koristka<br />
22 Unsere Besten: Mehr Bums,<br />
Kameraden! – Dirk Niebel . . . . . . . . . . . . . . . Peter Köhler / Björn Barends<br />
24 Totgesagte arbeiten länger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Koristka<br />
28 O Ecuador, o Ecuador! . . . . . . . . . . . . . . . Florian Kech / Burkhard Fritsche<br />
30 Zeitgeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beck<br />
32 Die Wessos kommen!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mathias Wedel / Guido Sieber<br />
35 Künstername Ramses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Röhl<br />
38 Schunkeleisprung im Oktober. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anke Behrend<br />
39 Kalenderblatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Henniger<br />
Dr. Peter Kersten<br />
40 Potsdam von oben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Utz Bamberg / Reiner Schwalme<br />
42 Wahn & Sinn<br />
45 TV: Als dauernd ein Nicht verschwand. . . . . . . . . . . . . . Felice von Senkbeil<br />
47 Lebenshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Zak<br />
48 Kino: Steig hoch, du roter Schreiadler . . . . . . . . . . Renate Holland-Moritz<br />
49 Rahmenhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Glück<br />
ca. 200 Seiten, 14 x 21 cm,<br />
s/w mit Farbteil,<br />
Broschur<br />
ISBN 978-3-89798-358-8<br />
50 Artenvielfalt: Das Praktikantin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cathleen Held<br />
52 Funzel: Verschleiert im Revier<br />
54 IKEA-City . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sedlaczek / Füller / Koristka<br />
58 Fehlanzeiger<br />
Erstmals gibt der berühmte Zauberer und DDR-Künstler<br />
Einblicke in sein turbulentes Leben. Ein faszinierendes Buch<br />
voller „magischer“ Abenteuer rund um die Welt und privater<br />
Einblicke in Kindheit, Jugend und die außergewöhnliche<br />
Karriere des weltweit bekannten Zauberkünstlers. Dazu lüftet<br />
er das Geheimnis um einige seiner Zaubertricks ...<br />
Seien Sie gespannt auf seine Enthüllungen!<br />
Erscheint<br />
Oktober<br />
2012<br />
60 Schönes auf Menschenfleisch. . . . . . . . . . . Robert Niemann / Guido Sieber<br />
62 Schwarz auf Weiß<br />
64 Rätsel / Leser machen mit / Meisterwerke<br />
66 Impressum / ... und tschüs!<br />
67 Literatur-EULE<br />
Mit Beiträgen von Matthias Biskupek, Reiner Schwalme, Peter Köhler,<br />
Frank Hoppmann u.v.a.m<br />
im BuchVerlag für die Frau<br />
www.buchverlag-fuer-die-frau.de<br />
Teilen der Auflage sind Beilagen des Atlas Verlages beigefügt.<br />
4 EULENSPIEGEL 10/12
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Haus<br />
mitteilung<br />
Post<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
wir glauben ja alle, ganz genau zu wissen, wie verkommen der Politikbetrieb<br />
ist. Doch manchmal geschehen dort Dinge, die selbst abgebrühten<br />
Insidern einen Schauer über den Rücken laufen lassen. Wie zum<br />
Beispiel vor einigen Wochen im Landtag von Schleswig-Holstein, als ein<br />
vor Zorn bebender FDP-Fraktionsvorsitzender dem schockierten Plenum<br />
von einer schier unfassbaren Begebenheit berichtete: Mit eigenen Augen<br />
hatte nämlich Wolfgang Kubicki beobachtet, dass Abgeordnete der<br />
Piratenpartei zu einem Antrag uneinheitlich abgestimmt hatten! Ein<br />
handfester Skandal, wie ich meine – was hat das denn noch mit Demokratie<br />
zu tun? Leider blieb der ungeheuerliche Vorgang bis heute ohne<br />
irgendwelche Folgen: Weder wurde ein Untersuchungsausschuss eingerichtet,<br />
noch hat man die Immunität der Beschuldigten aufgehoben, damit<br />
die Staatsanwaltschaft ermitteln kann. Kein Wunder, dass die Politikverdrossenheit<br />
um sich greift!<br />
★<br />
Merkwürdige sexuelle Neigungen gibt es bekanntlich wie Sand am<br />
Meer. So berichtete uns zum Beispiel ein Leser, er würde jedes Mal<br />
zum Höhepunkt kommen, wenn er im EULENSPIEGEL eine gelungene<br />
Pointe liest. Der bedauernswerte Mann hatte nun schon seit über zehn<br />
Jahren keinen Orgasmus!<br />
Noch befremdlicher mutet allerdings der Fall des Patienten Guido K.<br />
an, der unlängst in der psychiatrischen Fachzeitschrift Perverts Monthly<br />
vorgestellt wurde: Diesen armen Irren, der Geschichte studiert hat und<br />
hauptberuflich beim Fernsehen arbeitet, ergreift immer dann eine nahezu<br />
unbeherrschbare Erregung, wenn er das Wort »Hitler« ausspricht<br />
oder schreibt. Der Fall wird seitdem in der Fachwelt rege diskutiert, wobei<br />
es eine Vielzahl konkurrierender Hypothesen gibt. Manche Experten<br />
glauben, eine solche Störung sei nur durch schwere Erbgutschäden erklärbar,<br />
andere vermuten eher ein frühkindliches Trauma. Auch die kontroverse<br />
Ansicht, der Betroffene habe die Krankheit durch abertausendfaches<br />
Wiederholen des Reizwortes selbst induziert, wurde vorgebracht.<br />
Keinerlei Erklärung haben die Forscher allerdings für die gleichzeitig<br />
auftretende Neigung zu weichgezeichneten Nahaufnahmen von Kaminfeuern<br />
und glänzenden Stiefeln. Vielleicht findet sich ja des Rätsels Lösung<br />
in unserem Beitrag auf Seite 19?<br />
★<br />
Der vor Kurzem in Moskau durchgeführte Prozess gegen die Punkband<br />
»Miezekatzenaufstand« (Übersetzung von mir persönlich) hat in<br />
Deutschland einigen Wirbel ausgelöst. So zeigten sich viele Journalisten<br />
verwundert darüber, dass in Russland Regimekritiker zu Gefängnisstrafen<br />
verurteilt werden, obwohl es sich doch bei uns für die Regierenden<br />
als viel effektiver erwiesen hat, sie stattdessen einfach zu ignorieren<br />
oder von Zeitungen verbündeter Medienkonzerne herunterschreiben<br />
zu lassen. Es ist aber typisch für die Russlandberichterstattung der<br />
deutschen Medien, dass das Positive nicht wahrgenommen wird: Kaum<br />
ein Journalist äußerte sich etwa lobend darüber, dass die Damen einen<br />
richtigen Prozess bekamen und nicht etwa einfach in irgendeinem<br />
Hausflur erschossen wurden. Erstaunlich auch, wie viele deutsche Konservative<br />
sich plötzlich für blasphemische Performances begeistern<br />
können, jedenfalls wenn sie im Ausland stattfinden. Wie auch immer –<br />
ich jedenfalls bin froh, dass bei uns peinliche Aktionskunst und<br />
schlechte Musik nicht verboten sind, denn ansonsten säße ja praktisch<br />
halb Berlin-Kreuzberg im Gefängnis, und wer soll das bezahlen? Eine<br />
ausführliche juristische Analyse des Prozesses gibt es auf Seite 12.<br />
Miau, miau<br />
Chefredakteur<br />
Zum Titel Heft 09/12:<br />
Du lieber, lieber Rembrandt, du!<br />
Sei froh, mein Freund. Du hast<br />
längst Ruh.<br />
Jürgen Molzen, Berlin<br />
Der war’s gar nicht.<br />
Was soll dieser handwerkliche<br />
Pfusch auf dem Titelblatt einer<br />
honorigen Zeitschrift? Die hygienischen<br />
Verhältnisse stimmen<br />
bedenklich. Gebotsfähige Organe<br />
wie Niere, Herz oder Leber sind mit<br />
der gezeigten Schnittführung gar<br />
nicht erreichbar; mithin nicht zu beurteilen.<br />
Bauchmuskeln werden selten<br />
verlangt. Um einen Waschbrettbauch<br />
zu imitieren, genügt es, ein<br />
Implantat aus Kunststoff (sixpack)<br />
unter die Haut zu schieben.<br />
Dr. Peter-M. Schroeder, Brück<br />
Was kostet das bei Ihnen?<br />
Zu: Hausmitteilung, Heft 9/12<br />
Wer sagt’s denn:<br />
Lyrik<br />
ist gar nicht so<br />
schwyrik<br />
Dieser kunstvolle Dreizeiler entstammt<br />
nicht meiner Feder.<br />
Konrad Stöber, Halle<br />
Das hat Ihnen auch keiner zugetraut.<br />
Zu: »Berlin intim«, Heft 9/12<br />
Es mag sein, dass auch Sie sich<br />
gezwungen sehen, zwecks des<br />
verdienstvollen Erhalts Ihrer Zeitschrift<br />
sämtliche Niveaugrenzen zu<br />
unterlaufen – mit »Berlin intim« ist<br />
es Ihnen in der aktuellen Ausgabe<br />
jedenfalls geglückt: Glückwunsch<br />
zu so viel Infantilität. Nicht nur,<br />
dass der Autor sich damit rühmt,<br />
die Süddeutsche Zeitung nicht zu<br />
kennen, noch <strong>mehr</strong> dadurch, dass<br />
der diese Zeilen schreibende Hans<br />
Wurst ausgerechnet Heribert Prantl<br />
als einen solchen und als »Nobody«<br />
tituliert, macht mich leider<br />
fassungslos. Denn hier findet ja<br />
keine substanzielle Auseinandersetzung<br />
statt, die H.P. als den qualifiziert,<br />
der er laut Ihrer Kolumne<br />
sein soll, sondern billigste Häme<br />
auf dem Niveau eines pubertären<br />
Kindes, das alles und jeden dank<br />
seiner Tiefenkenntnis scheiße findet<br />
und sich moralisch darüber erhebt.<br />
Horst Kerber per E-Mail<br />
So ist er halt, der Atze.<br />
Zu: HALE – Zu Fragen der Entwicklung<br />
der Leserbriefentwicklung,<br />
Heft 9/12<br />
Jetzt üben Sie sich auch noch in Leserbeschimpfung!<br />
Mit den Worten<br />
eines Erfolgsautors sage ich: »EU-<br />
LENSPIEGEL schafft sich ab!« Die<br />
Kommentare anderer sind für mich<br />
dahingehend wertvoll, dass ich im<br />
Heft danach begreife, was ich im<br />
Heft davor nicht verstanden habe.<br />
Das gilt auch für diesen Beitrag.<br />
Bis dahin rufe ich: »Niemand hat<br />
die Absicht, einen Leserbrief zu<br />
schreiben!«<br />
Norbert Fleischmann, Holland<br />
Außer unser Leser Norbert F.<br />
Zu: »Lebt eigentlich Helmut Kohl<br />
noch?«, Heft 9/12<br />
Unser Übervater Helmut Kohl<br />
soll zu Lebzeiten mit einer<br />
Briefmarke geehrt werden. Als<br />
ehemaliger leidenschaftlicher<br />
Philatelist hätte ich da einen sehr<br />
realistischen Motivvorschlag:<br />
Helmut Kohl auf einem gut gepolsterten<br />
Sofa inmitten blühender<br />
Landschaften. Das Sofa steht für<br />
sein immer noch mit engelhafter<br />
Geduld geübtes Aussitzen der<br />
Parteispendenaffäre.<br />
Da ich zeichnerisch völlig unbegabt<br />
bin, könnte vielleicht einer Eurer<br />
begnadeten Zeichner meinen Vorschlag<br />
umsetzen.<br />
Michael Radwan, Probstzella<br />
Soll der Zeichner PARTEISPENDE<br />
aufs Sofa schreiben?<br />
Erwarten Anweisung!<br />
Zu: »Kleiner Mann im Speck«,<br />
Heft 9/12<br />
Peter Köhler schreibt von 1923<br />
und 1948, als dem kleinen<br />
Mann das Geld weggefressen<br />
wurde. Es war das Ergebnis zweier<br />
verlorener Kriege. Aber auch nach<br />
dem Kalten Krieg ging bei dem<br />
kleinen Mann im Osten alles Ersparte<br />
über 20 000 DDR-Mark auf<br />
ein Viertel zurück. Und <strong>mehr</strong> als<br />
20 000 DDR-Mark hatte nicht nur<br />
jeder Schalck auf seinem Konto.<br />
Hatte nun Ihr Peter Köhler 1990<br />
6 EULENSPIEGEL 10/12
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Post<br />
keine 20 000 DDR-Mark auf dem<br />
Konto oder ist er ein Wessi?<br />
Klaus Lange per E-Mail<br />
Der Arme hatte nur Westmark.<br />
Zu: »Auf jungen Fregatten wird<br />
weitergesegelt«, Heft 9/12<br />
Ich hatte so viel Hoffnung!<br />
Da hauen Sie Überschriften<br />
hin mit Versprechungen, die<br />
einen in Vibration versetzen:<br />
die erogenen Zonen eines Weisen<br />
kennenlernen zu dürfen, und<br />
endlich sollte die drängende und<br />
schicksalsträchtige Frage des<br />
Spinataufwärmens beantwortet<br />
werden. Aber dann: keine roten<br />
Kreise, keine Antworten. Nein,<br />
nichts, wir tappen weiter im<br />
rauchgeschwängerten Dunkel!<br />
Werner Kastens, Nidda<br />
Sofort lüften!<br />
Zu: »Unsere Besten: Sinn und<br />
Sinnlichkeit – Hans-Werner Sinn«,<br />
Heft 9/12<br />
Das Porträt – literarisch und<br />
grafisch – hat mir sehr gut<br />
gefallen. Als Anglisten gefällt mir<br />
besonders der verdeutschte<br />
Romantitel von Jane Austens<br />
Sense and Sensibility und<br />
natürlich der Vergleich mit Captain<br />
Ahab aus Herman Melvilles<br />
Moby Dick. Auch ich habe den<br />
Laureaten seit Jahren in der<br />
angelsächsischen Literatur widergespiegelt<br />
gesehen. Während der<br />
Show zur Eröffnungsfeier der<br />
Olympischen Spiele in London<br />
2012 entdeckte ich gleich <strong>mehr</strong>ere<br />
Doppelgänger unter den<br />
etwa zwölf Schlotbaronen, die<br />
gerade als Sieger der Industriellen<br />
Revolution im schwarzen Zylinder<br />
und Gehrock posierten. Da waren<br />
sie wieder: Ebenezer Scrooge,<br />
der anfänglich unbarmherzige<br />
Weinachtsmuffel aus Dickens<br />
Ein Weihnachtslied in Prosa,<br />
Thomas Gradgrind, der älteste<br />
Anzeigen<br />
neoliberale Betriebswirtschaftslehrer<br />
der Weltliteratur (nach<br />
dem postfeudalen Narren in<br />
Goethes Faust II) aus Dickens<br />
Schwere Zeiten und Lord Marney,<br />
der gefühlskalte Großgrundbesitzer<br />
aus Disrealis Sybil oder die<br />
zwei Nationen.<br />
Dr. phil. Bernd Legler, Chemnitz<br />
Endlich mal ein gebildeter Leser!<br />
Zu: »Wörtliche Betäubung:<br />
Das 57-Sekunden-Gesetz«, Heft 9/12<br />
Ernst Röhls »Wörtliche Betäubung«<br />
– die ich sonst meist gut<br />
finde – ist absolut saumäßig<br />
schlecht recherchiert. Abgesehen<br />
davon, dass dieses Thema längst<br />
ausdiskutiert ist, ist das neue<br />
Meldegesetz nämlich kein »Freibrief<br />
zum Adressverkauf«, außerdem<br />
haben Adresshändler viel<br />
bessere Datenquellen. Dieses<br />
Meldegesetz erlaubt Einwohnermeldeämtern<br />
definitiv nicht,<br />
Daten »zu verkloppen«, und schon<br />
gar nicht »meistbietend«. Die Briefkästen<br />
werden nicht vor weiterer<br />
Werbung überquellen. Bei uns in<br />
Sachsen gibt es diese angeblichen<br />
Adressverkäufe z.B. schon lange –<br />
seltsamerweise quellen die<br />
Briefkästen nicht über.<br />
Frank Nagel per Facebook<br />
Bei uns schon.<br />
Zu: »Grass! Endlich!«, Heft 9/12<br />
Womit einmal <strong>mehr</strong> bewiesen<br />
wurde, dass der EULENSPIE-<br />
GEL zur »fast gleichgeschalteten<br />
Presse« beziehungslos ist.<br />
Dietrich Schönweiß , Plauen<br />
Ist das positiv gemeint? Wenn ja,<br />
bitte noch einmal ausführlicher!<br />
Eure neue Idee – den Aufmerksamkeitstest<br />
für Leser – finde<br />
ich wirklich spannend und unterhaltsam.<br />
Da er in der Ausgabe 9/12<br />
sehr leicht war, habe ich mich entschlossen,<br />
auch mal mitzumachen.<br />
In diesem Fall fehlt lediglich ein<br />
»i«, und zwar auf Seite 64 bei der<br />
gediegenen Interpretation von<br />
Meisterwerken. Der Tyrann heißt<br />
nicht Dionysos (Zum Glück!<br />
Das wäre ja ein ganz neuer Charakterzug<br />
an dem Herrn von Wein,<br />
Weib, Gesang ...), sondern Dionysios.<br />
Gibt’s außerdem bei diesem Test<br />
auch einen Preis?<br />
Vivian Jung per E-Mail<br />
Nein, nur unsere vorzügliche<br />
Hochachtung.<br />
Zu: Zeitansagen »Letzte Frage«,<br />
Heft 9/12<br />
Mit der Vorhaut hat Der Chef<br />
nichts falsch gemacht, ist<br />
schon okay. Dumm war nur, dass<br />
Abraham sich 99 Jahre mit seiner<br />
Phimose herumgequält hat, bevor<br />
er sich selbst beschnitten hat. Und<br />
noch dümmer war, die falsche<br />
Schlussfolgerung zu ziehen und<br />
das allen als Pflicht aufzubürden.<br />
Horst Schampel, Gröditz<br />
Kritik gegen ganz oben? Der können<br />
wir uns nicht anschließen.<br />
Wenn die Juden in Deutschland<br />
ihre Jungen nicht <strong>mehr</strong> beschneiden<br />
und somit ihre Religion<br />
nicht <strong>mehr</strong> ausüben dürfen, werden<br />
sie auswandern, und die Antisemiten<br />
jubeln.<br />
Werner Klopsteg, Berlin<br />
An Geschlechtsteilen sollte der<br />
Staat nicht rühren.<br />
Ich habe vor, eine Religionsgemeinschaft<br />
zu gründen. Ich<br />
möchte mein Recht der freien Religionsausübung<br />
nutzen. Ich möchte<br />
als Ausdruck meines tiefen Glaubens<br />
den Kindern meiner Anhänger<br />
die Ohrläppchen entfernen. Dies<br />
soll natürlich von Fachärzten ausgeführt<br />
werden.<br />
Lutz Hardtmann per E-Mail<br />
Und sonst so?<br />
Habe jetzt auch ein EULE-Abo.<br />
Werde Ihnen in den nächsten<br />
14 Tagen 137 Leserbriefe senden.<br />
Hoffe, damit Ihren bisherigen<br />
Lieblingsleserbriefschreiber und<br />
Rekordhalter W. K. zu überholen<br />
ohne einzuholen.<br />
Peter Schott per E-Mail<br />
Schafft keiner!<br />
Als DDR-Bürger fand ich auch<br />
mit am besten, / das Kfz-Kennzeichensystem<br />
aus dem Westen, /<br />
und nach der Wende war es kaum<br />
zu fassen, dort war im Alphabet für<br />
den Osten Platz gelassen. / Nun<br />
bietet unser weiser Verkehrsminister<br />
an, / dass jedes Gebiet sein<br />
Kennzeichen selbst wählen kann, /<br />
Behörden und Schildermacher<br />
wittern ein Geschäft, / wenn man<br />
sich allerorts neue Kennzeichen<br />
einfallen lässt. / Ein Glück, dass<br />
Herr Ramsauer nicht Finanzminister<br />
ist, / sonst wären Wunschkontonummern<br />
bald in der Pflicht, /<br />
oder als Innenminister hätten<br />
wir vielleicht zu erwarten, /<br />
dass jeder seine Ausweisnummer<br />
könnte selber starten.<br />
E. K. per Einschreiben<br />
Können Sie das auch<br />
ungereimt?<br />
Viele Menschen versuchen<br />
immer wieder, die Steuerpolitik<br />
des Staates zu ergründen.<br />
Jean-Baptiste Colbert, der oberste<br />
Steuereinnehmer Ludwig XIV. von<br />
Frankreich, hatte eine sehr<br />
erfolgreiche Art gefunden, die bis<br />
heute noch bei uns angewandt<br />
wird: »Die Kunst der Besteuerung<br />
besteht darin, die Gans so zu<br />
rupfen, dass man bei einem Minimum<br />
an Geschnattere ein Maximum<br />
an Federn in der Hand hat.«<br />
Das Ganze ist nicht ganz einfach,<br />
aber immer wieder erfolgreich.<br />
Rolf Freiberger, Leipzig<br />
Geht das analog mit Schafen?<br />
Mensch Meier,<br />
ick wollt` doch nur ne klene<br />
Bieje fahrn!<br />
Dircksenstr. 48 Am Hackeschen Markt Mo-Fr 10-20 Sa 10-17<br />
Oranienstr. 32 Kreuzberg Mo-Mi 10-18.30 Do-Fr 10-20 Sa 10-16<br />
8 EULENSPIEGEL 10/12
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Hannes Richert<br />
Mario Lars Jan Kunz<br />
10 EULENSPIEGEL 10/12
Modernes Leben<br />
Johann Mayr<br />
Philipp Bürge<br />
Andreas Prüstel<br />
EULENSPIEGEL 10/12 11
Frauen leiden<br />
T-Shirt lüpfen für die Men<br />
Barbara Henniger
schenrechte!<br />
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Ein<br />
Gastkommentar<br />
von<br />
Atze Svoboda<br />
Nadeschda Tolokonnikowa im Berufungsprozess.<br />
Die Kameras blitzen und sie guckt niedlich. Da<br />
sitzt sie: die große Putin-Feindin. Die Nelson Mandelerin<br />
des Ostens mit festem Bindegewebe. Trotz Entbindung!<br />
Aus ihren Augen spricht Wut. Wut gegen das System,<br />
das sie martert. Doch Nadeschda Andrejewna<br />
bleibt selbstlos. »Freiheit für Pussy Riot«, ruft sie in<br />
den Verhandlungsraum. »Freiheit für Pussy Riot«, damit<br />
meint Nadeschda nicht nur sich selbst. Nein, auch die<br />
beiden hässlichen Mitglieder von Pussy Riot liegen ihr<br />
am Herzen.<br />
»T-Shirt lüpfen, Muschi zeigen!«, insistieren die Fotografen.<br />
Doch der Richter, Scherge des Putin-Systems,<br />
verbietet ihnen den Mund. Eine beklemmende Szenerie.<br />
Hier wird ein enormer Aufwand gegen junge Menschen<br />
gefahren, die sich nichts weiter zu Schulden haben<br />
Ein Plädoyer für<br />
die Weiblichkeit<br />
kommen lassen, als gegen den Landesvater Stellung zu<br />
beziehen und dabei verdammt gut auszusehen.<br />
Was haben sie gegen ihre schönen Frauen, die dunk -<br />
len Fürsten des Ostens? Sind westliche Journalisten die<br />
Einzigen, die auf ganz andere Gedanken als Verhaftungen<br />
kommen, wenn sie Frauen wie Timoschenko oder<br />
Tolokonnikowa sehen?<br />
Ist es allein den freiheitlichen und demokratischen<br />
Medien vorbehalten zu sagen: Haltet ein! Seht dort die<br />
sanften Schenkel, die sich sehnend nach Liebkosungen<br />
an die Gitterstäbe schmiegen? Ja. Denn wir <strong>müssen</strong><br />
kämpfen für eine bessere Welt. Würden wir darauf verzichten,<br />
Nacktfotos von Tolokonnikowa zu drucken,<br />
würde Russland die gleiche rückständige Autokratie<br />
bleiben, die es ist. Tun wir also unser Bestes im Kampf<br />
für Demokratie und Menschenrechte. Auf dass hiesige<br />
paradiesische Zustände einst auch in Russland<br />
gelten mögen.<br />
EULENSPIEGEL 10/12 13<br />
JETZT<br />
ANHEUERN<br />
BEI DER<br />
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AUSTRALIEN-<br />
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Heft 442 Bestell-Nr.: 1710 2,50<br />
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Frankfurter Buchmesse 2012,<br />
10.–14. Okt. 2012, Halle 3.0, Stand K834<br />
WWW.ABRAFAXE.COM
JFür den Euro ist der Oktober<br />
der entscheidende Monat<br />
– liest man überall.<br />
Wie zuvor die Monate Januar<br />
bis September, um<br />
nur ein paar andere entscheidende<br />
Monate dieses<br />
Jahres zu nennen.<br />
Schade, dass man »entscheidend«<br />
nicht steigern<br />
kann. Sonst wäre der Oktober<br />
natürlich der entscheidendste.<br />
Dirk Werner<br />
etzt oder nie<br />
Arme Sparschweine<br />
Die griechische Regierung<br />
hat ein 72-Punkte-Sparprogramm<br />
entwickelt. Hier<br />
die zehn wichtigsten Ziele:<br />
Bildung kannste dir sparen.<br />
Freizeit kannste dir<br />
sparen. Ein Dach über dem<br />
Kopf kannste dir sparen.<br />
Essen kannste dir sparen.<br />
Wür de kanns te dir sparen.<br />
Aufmucken kannste dir<br />
sparen. Leben kanns te dir<br />
sparen. Einen Sarg kanns -<br />
te dir sparen. Punkt zehn<br />
kannste dir sparen.<br />
Michael Kaiser<br />
Auf Augenhöhe<br />
Nachdem griechische Rent -<br />
ner aus Verzweiflung über<br />
ihre Situation das Gesundheitsministerium<br />
gestürmt<br />
hatten, bezeichnete Minister<br />
Lykourentzos die Eindringlinge<br />
als »Schufte«.<br />
Er meinte das allerdings<br />
nicht abwertend, sondern<br />
wollte offensichtlich mit ihnen<br />
fraternisieren.<br />
MK<br />
Bankensterben<br />
Der Co-Vorstandschef der<br />
Deutschen Bank, Jürgen<br />
Fitschen, sagte bei einer<br />
Fachtagung, er glaube,<br />
viele Banken werden die<br />
nächsten Jahre nicht überleben.<br />
Leider konnte er<br />
mit weiteren positiven<br />
Einschätzungen nicht aufwarten.<br />
Björn Brehe<br />
Mit zweierlei Maß<br />
Aufsehen erregte Leuttheuser-Schnarrenberger<br />
mit dem Vorschlag, den<br />
»hochproblematischen«<br />
Ankauf von »Steuer-CDs«<br />
zu bestrafen, während<br />
der Ankauf von Xavier-Naidoo-CDs<br />
weiterhin straffrei<br />
bleiben sollen.<br />
Erik Wenk<br />
Johann Mayr<br />
Harm Bengen<br />
14 EULENSPIEGEL 10/12
Zeit Ansagen<br />
Demokratie wagen!<br />
Mario Lars<br />
Dass das Bundesverfassungsgericht Inlandseinsätze der Bundeswehr<br />
erlaubt, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. In Ägypten hat<br />
vorletzten Frühling auch das Militär im Inland eingegriffen, und die<br />
haben da jetzt Demokratie.<br />
Carlo Dippold<br />
Kollegiale Hilfe<br />
Die deutschen Kassenärzte kämpfen<br />
verzweifelt gegen ihre soziale<br />
Verelendung. In Ballungszentren<br />
wie Berlin, München und Böhlen<br />
wurden bereits die ersten Ärzte gesichtet,<br />
die von »Ärzte ohne Grenzen«<br />
versorgt werden mussten.<br />
Michaela Völler<br />
Viel zu tun<br />
An alle Sanitäter, Ärzte und Oberärzte<br />
der Charité, die am Bett von<br />
Frau Timoschenko nach und nach<br />
abkömmlich sind: Bitte nicht heim<br />
nach Berlin reisen! Sie werden in<br />
vielen Besserungsanstalten unserer<br />
westlichen Demokratien – Abu<br />
Ghuraib, Guantanamo, Sing Sing,<br />
CIA-Befragungsstübchen – dringend<br />
gebraucht.<br />
Hans-Jürgen Görner<br />
Gerechtigkeitslücke<br />
Im Durchschnitt verdienen weibliche<br />
Führungskräfte in der Wirtschaft<br />
noch immer 20 Prozent weniger<br />
als ihre männlichen Kollegen.<br />
Ein Sprecher des Bundesverbandes<br />
der Deutschen Industrie kritisierte<br />
diese Ungerechtigkeit scharf,<br />
die Männer sollten auch 20 Prozent<br />
weniger bekommen. DW<br />
Können diese<br />
SPD-Pussys<br />
Merkel stürzen?<br />
Jetzt, wo wir den GAUCK haben,<br />
könnten wir da GOTT nicht streichen?<br />
Laura Stern<br />
Arno Funke<br />
Lebt<br />
eigentlich<br />
JÖRG<br />
SCHÖNBOHM<br />
noch?<br />
rp-online.de<br />
Jawoll! Sonst hätte ihm wohl kaum<br />
die brandenburgische CDU-Landeschefin<br />
Saskia Ludwig zum 75.<br />
Geburtstag in der Jungen Freiheit<br />
gratuliert. Ludwig lobte dabei<br />
Schönbohms »Eintreten gegen den<br />
politisch korrekten Gleichmachungsund<br />
Gleichschaltungswahn, der unsere<br />
Freiheit, Individualität und Tradition<br />
zerstören möchte«. Ein Skandal!<br />
Als der General a.D. davon erfuhr,<br />
standen ihm die Augenbrauen<br />
zu Berge. Wie konnte die märkische<br />
CDU so weit verkommen und ihm in<br />
seiner Hauspostille Eintreten für Individualität<br />
unterstellen! Ihm, dem<br />
ehemaligen preußischen General<br />
und Chaotenjäger!<br />
Viel hatte Schönbohm in all den<br />
Jahren unter den Brandenburgern<br />
leiden <strong>müssen</strong>. Sie wählten ihn<br />
nicht zum Ministerpräsidenten und<br />
verbuddelten ihre Leibesfrüchte auf<br />
Balkonien in der wirren Hoffnung,<br />
es mögen Babybäume wachsen. All<br />
dies hatte er ihnen verziehen und<br />
mildernde Umstände wegen der<br />
SED-Diktatur, den Russenvergewaltigungen<br />
und Kati Witt geltend gemacht.<br />
Doch die feige Attacke von<br />
Saskia Ludwig schlug dem Fass den<br />
Boden aus.<br />
Konnte die Frau nicht Rücksicht nehmen<br />
auf seine Gefühle? Wenigstens<br />
jetzt, nachdem er im März einen<br />
Schlaganfall überstanden hatte? Zumindest<br />
aus seinem rechten Auge<br />
kugelten vor Enttäuschung dicke<br />
Kullertränen auf seinen Geburtstagskäsekuchen.<br />
Da konnte ihn auch<br />
nicht <strong>mehr</strong> das Glückwunschschreiben<br />
von Matthias Platzeck aufheitern,<br />
das dem Vater der Leitkultur<br />
und der Vietnamesenabschiebung<br />
zwar keinen Platz in Walhalla, wohl<br />
aber in den Herzen aller Sozialdemokraten<br />
zuwies.<br />
Mag sein, dass sich des Generals<br />
Zorn dereinst legt. Zu wünschen<br />
wäre es ihm. Vielleicht schaltet Matthias<br />
Platzeck das nächste Mal auch<br />
einfach ein bisschen schneller und<br />
schreibt für Schönbohms nächsten<br />
Runden selbst einen Jungen Freiheit-Artikel.<br />
Das kann man von einem<br />
nicht gleichgeschalteten und<br />
freiheitsliebenden Sozialdemokraten<br />
doch hoffentlich noch erwarten!<br />
Andreas Koristka<br />
EULENSPIEGEL 10/12 15
Zeit<br />
ansagen<br />
Verhindert<br />
Wie das Bundesamt für Statistik<br />
mitteilt, haben Wochenendarbeit<br />
und Überstunden in Deutschland<br />
stark zugenommen. Man könnte<br />
nächtliche Albträume bekommen<br />
– wenn man nicht zur Schicht<br />
müsste!<br />
DW<br />
Piratentod<br />
Forscher haben herausgefunden,<br />
dass es mit der Piratenpartei zu<br />
Ende geht: Männer, die häufig einen<br />
Laptop auf dem Schoß haben,<br />
veröden damit zuerst ihre Erektions-<br />
und dann ihre Zeugungsfähigkeit.<br />
Ihre Spermien werden so<br />
langsam wie eine altertümliche<br />
Modemverbindung ins Internet.<br />
Das Netz frisst seine Kinder.<br />
Henning Wenzel<br />
Feines Mittel zum guten Zweck<br />
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit<br />
beschlossen Bundestag und<br />
Bundesrat die Privatisierung des<br />
Bundesverfassungsgerichts. Rechtsexperten<br />
von Schwarz-Gelb und Rot-<br />
Grün erklärten dazu, dieser Schritt<br />
sei im Sinne des Grundgesetzes alternativlos<br />
gewesen. Sonst hätte die<br />
Gefahr bestanden, dass die Karlsruher<br />
Richter die für 2013 geplante Privatisierung<br />
von Bundestag und Bundesrat<br />
für verfassungswidrig erklären.<br />
Das Bundesverfassungsgericht<br />
wird auch in seiner neuen Rechtsform<br />
nach streng demokratischen<br />
Prinzipien besetzt. So komme je ein<br />
Drittel der Mitglieder aus den Reihen<br />
der DAX-Unternehmen, Milliardärsclans<br />
und vorbestraften Börsenbetrüger<br />
und Politiker.<br />
Sexy Schmollmund<br />
Bundesumweltminister<br />
Peter Altmaier will nicht<br />
über seine sexuelle Identität<br />
wahrgenommen werden.<br />
Es sei nun mal so, dass er<br />
seit 54 Jahren allein durchs<br />
Leben gehe. Recht hat er.<br />
Würde er über seine nicht<br />
vorhandene sexuelle Identität<br />
wahrgenommen, müsste<br />
man ihn glatt für eine Null<br />
halten. Frank B. Klinger<br />
Bundesverfassungsgericht<br />
wird bald eine GmbH<br />
»Hätten wir diesen Schritt schon<br />
früher getan«, so ein Spitzenpolitiker,<br />
dann hätten wir schon längst Datenspeicherung,<br />
Rundumüberwachung<br />
und Wegsperren ohne Gerichtsverfahren.«<br />
Es sei »<strong>mehr</strong> als blamabel, dass<br />
wir fast 25 Jahre nach Zusammenbruch<br />
der DDR noch immer nicht das<br />
Niveau der Stasi erreicht haben.« Die<br />
Kooperation mit der NSU (»Zwickauer<br />
Zelle«) und der NPD sei zwar ein<br />
Schritt in die richtige Richtung, aber<br />
insgesamt lächerlich.<br />
Kritik an der Entscheidung der Legislative<br />
kommt überraschend vom<br />
Bundespräsidenten. Eine faschistische<br />
Diktatur dürfe nie Selbstzweck<br />
sein, sondern nur ein Mittel zur<br />
Durchsetzung der Freien Marktwirtschaft,<br />
mahnte er.<br />
Thomas Wieczorek<br />
Pflegewohnheimplatz<br />
Der republikanische Präsidentschaftskandidat<br />
Mitt Romney will<br />
Obamas Krankenversicherung wieder<br />
abschaffen. Die Ersparnisse<br />
sollen sinnvoll investiert werden.<br />
Zum Beispiel in Steuersenkungen<br />
für Millionäre, neue Golfplätze und<br />
ein Zimmer für Clint Eastwood in<br />
einem Luxus-Seniorenheim. BB<br />
Überrascht<br />
Laut Ursula von der Leyen werden<br />
Senioren ab 2030 nur noch Rente<br />
auf Sozialhilfe-Niveau erhalten.<br />
Selbst Finanzminister Schäuble<br />
zeigte sich davon überrascht:<br />
»2030 soll noch Rente ausgezahlt<br />
werden?«<br />
EW<br />
Harm Bengen (2)<br />
16 EULENSPIEGEL 10/12
Anzeige
Zeit<br />
ansagen<br />
Da hat man was Eigenes<br />
Die Schotten wollen es. Die Katalanen<br />
und die Wallonen wollen es. Und<br />
die Flamen sowieso: Unabhängigkeit,<br />
Autonomie, schöneres Wetter. Nicht<br />
länger versklavt werden von anderen<br />
Völkern, mit denen man so lange<br />
friedlich hat zusammenleben <strong>müssen</strong>.<br />
Ganz klar, dass da Bayern auch<br />
raus will. Raus aus Deutschland.<br />
Raus aus Europa. Raus aus der Bundesliga.<br />
Raus aus allem, wo man irgendwie<br />
drin sein kann. Dass sich<br />
die Bayern dabei so friedlich verhalten<br />
werden wie die Tibeter, ist allerdings<br />
nicht zu erwarten.<br />
Der Anführer der bayerischen Separatistenbewegung<br />
ist der ehemalige<br />
Chefredakteur des CSU-Parteiorgans<br />
Bayernkurier, Wilfried Scharnagl.<br />
Den Inhalt seiner These hat<br />
Scharnagl in ein Buch und – weil ihm<br />
das dann doch irgendwie zu umständlich<br />
war – gleich in den Titel<br />
des Buches gepackt, so dass man<br />
sich den Rest der Lektüre sparen<br />
kann: Bayern kann es auch allein. Plädoyer<br />
für den eigenen Staat. Rums,<br />
zack! Das sitzt. Ein Staat – da hat<br />
man was Eigenes. Da werden sie sich<br />
umgucken, die Hessen und die Spanier<br />
und all das andere Preußengeschwerl!<br />
Der Gefährte an Scharnagls Seite<br />
ist der CSU-Bundestagsabgeordnete<br />
Peter Gauleiter. Die beiden haben<br />
sich die Aufklärungsarbeit für ihre<br />
Kampagne aufgeteilt. Während<br />
Scharnagl eher für grobe Zuspitzung<br />
und undifferenzierte Attacken zuständig<br />
ist, kümmert sich Gauleiter um<br />
unsachliche Scheinargumente und<br />
populistisches Gedröhne.<br />
Vor allem die Demokratiedefizite<br />
im Euro-Raum treiben die beiden Freiheitskämpfer<br />
um. So schreibt Scharnagl:<br />
»Der wirtschaftlichen Positionierung<br />
[Bayerns] auf einem in jedem<br />
nationalen und internationalen Vergleich<br />
herausragenden Rang fehlt der<br />
angemessene politische Handlungsspielraum,<br />
weil die großen Mitspieler<br />
in Berlin und Brüssel mit einem<br />
starken Mechanismus der Machtanziehung<br />
ausgestattet sind.« Einem<br />
Mechanismus, der darauf beruht,<br />
dass die Einwohner anderer Regionen,<br />
die weniger für das Bruttosozialprodukt<br />
leisten, bei Wahlen genau<br />
so viele Stimmen haben wie die Bayern.<br />
Mit Demokratie hat das schon<br />
lange nichts <strong>mehr</strong> zu tun!<br />
Der Wille des bayerischen Volkes<br />
kommt zu kurz. Und was das bayerische<br />
Volk will, wissen Wilfried Scharnagl<br />
und Peter Gauleiter immer noch<br />
am allerbesten, weil sie es ihm sagen.<br />
Es will seinen alten König Ludwig<br />
wiederhaben. Denn der Ludwig<br />
war so super! Echt jetzt. Unglaublich!<br />
Der war wirklich der Hammer! Ehrlich:<br />
<strong>Alte</strong>r Vatter, ey! Wahnsinn!<br />
Wer’s nicht<br />
ÜBRIGENS …<br />
… bezahlt Bayern jährlich sehr<br />
viel für den Länderfinanzausgleich.<br />
Aber die Gedanken- und Redefreiheit<br />
für Seehofer, Dobrindt und<br />
Friedrich ist nun mal nicht zum<br />
Nulltarif zu haben.<br />
DW<br />
glaubt, kann das gerne bei Scharnagl<br />
nachlesen. Oder bei Gauleiter.<br />
Egal, da kennen sich beide aus wie<br />
Hölle. Leck mich fett, war der geil,<br />
der Ludwig! Oder wie wir Kenner sagen:<br />
der Lupper.<br />
Doch dass mit einem neuen Kini<br />
Lupper gleich wieder alles so schön<br />
wird wie vor 150 Jahren, ist leider<br />
noch keine ausgemachte Sache.<br />
Auch wenn der konkrete Plan für die<br />
Abspaltung Bayerns schon steht: Januar<br />
2013 Aufkündigung des Länderfinanzausgleichs<br />
und kurze Debatte<br />
im Bundesrat, dann drei, vier Sezessionskriege.<br />
Eine taktische Atombombe<br />
auf Detmold führt Ende Juni<br />
2025 schließlich zum sogenannten<br />
»Frieden von kurzer Dauer«. Anfang<br />
Juli 2025 geht’s wieder los. Erst am<br />
30. April 2029 gibt Kanzlerin Merkel<br />
auf und erkennt Bayern als eigenständigen<br />
Staat an.<br />
Mit einem kleinen innenpolitischen<br />
Problem wird sich Bayern allerdings<br />
auch vor der UNO auseinandersetzen<br />
<strong>müssen</strong>: die Frankenfrage.<br />
Seit 1806 ist sie ungeklärt.<br />
Damals wurden weite Teile Frankens<br />
Bayern zugeschlagen, das fränkische<br />
Volk somit zu den Palästinensern<br />
Deutsch lands. Ohne politische Anerkennung<br />
und verteilt auf drei Bundesländer,<br />
bleibt den Franken auch<br />
nach der Unabhängigkeit Bayerns<br />
nur ihr Dialekt und der Kampf für ein<br />
Ziel: die eigene Unabhängigkeit von<br />
Bayern. Am besten in einem humanen<br />
Faschismus mit Augenmaß unter<br />
einem Diktator Markus Söder.<br />
So schmerzlich der Verlust Bayerns<br />
für den Rest der Bundesrepublik<br />
auch sein wird, so wird er doch viele<br />
neue Perspektiven eröffnen. Die CDU<br />
zum Beispiel wäre die Opposition der<br />
eigenen Schwesterpartei los. Die Medien<br />
hätten neben Österreich und<br />
Nordkorea einen weiteren bizarren<br />
Freakstaat, aus dem sie viel Skurriles<br />
berichten könnten: Seehofer<br />
hätte das Zeug zum neuen Kim Jongun,<br />
und Äußerungen von Alexander<br />
Dobrindt (Comical Alex) hätten den<br />
Unterhaltungswert wie einst Aussagen<br />
vom irakischen Informationsminister<br />
Comical Ali.<br />
Vielleicht wird die Sichtweise<br />
Scharnagls und Gauleiters auch als<br />
Vorbild dienen. Dann wäre vor allem<br />
aus Hessen und Baden-Württemberg<br />
immer öfter die Parole zu hören: »Der<br />
Osten kann es auch allein. Plädoyer<br />
für wiedermal einen eigenen Staat.«<br />
– Davon hätten alle was.<br />
Gregor Füller<br />
Zeichnung: Andreas Prüstel<br />
Anke Behrend<br />
In eigener Sache<br />
Rechtsverbindliche<br />
Vorsorgeerklärung<br />
EULENSPIEGEL erklärt vorsorglich: Die Behauptung<br />
von Günther Jauch, in der Berliner Zeitung<br />
habe gestanden, dass in Bild bald etwas stehen<br />
würde, wiederholen wir ausdrücklich nicht. Würden<br />
uns aber riesig freuen, wenn Jauch für lange<br />
ins Gefängnis müsste und Bettina Wulff trotzdem<br />
keine freudlose Jugend gehabt hätte.<br />
18 EULENSPIEGEL 10/12
Es war auch Evas Mundgeruch,<br />
der uns zu Opfern machte<br />
Sind wir, wenn Guido Knopp von uns geht, am Ende der Geschichte?<br />
Vorher hatten die Deutschen nur<br />
eine Geschichte, eine aus Dreck<br />
und Blut und Eisen. Dann kam Guido<br />
Knopp. Er machte aus der Geschichte<br />
eine »History«, teilte die Leichenberge<br />
in handliche Haufen, gerade so groß,<br />
dass sie in eine Folge passten, und<br />
fand eine Hauptfigur. Sie führte durch<br />
alle Teile und wurde deshalb »der Führer«<br />
genannt. Auch alle anderen Chargen<br />
– zumeist Schurkenrollen – besetzte<br />
er kongenial. In seiner Soap gab<br />
es jede Menge Verführung, weil der<br />
Führer so eine tolle erotische Ausstrahlung<br />
hatte. Und auch eine Mutter Beimer<br />
– das war das tüchtige, resolut zupackende<br />
deutsche Volk, das es immer<br />
nur gutgemeint hatte, und das trotzdem<br />
zum Schluss nicht recht wusste,<br />
wie ihm geschehen war. Doch das erzählte<br />
ihm ja Guido Knopp. Jetzt geht<br />
der Mann in Rente.<br />
➤<br />
Jetzt, wo er zu Hause sitzt, hat er die<br />
Muße, manchmal ganz verrückte Sachen<br />
zu machen, die er sich im Berufsleben<br />
verkneifen musste.<br />
EULENSPIEGEL 10/12 19<br />
Foto: The Sun
Knopps Helfer<br />
Knopps Hundeflüsterer<br />
Knopps Kameraeinstellungen mit niedlichen<br />
Tieren wären ohne seinen persönlichen<br />
Tiertrainer nicht möglich gewesen.<br />
Knopps Kaffeetante<br />
Alles, was Knopp über Kaffee wusste, wuss -<br />
te er von diesem Bohnenkenner. Wie man<br />
ihn richtig röstet, mahlt und welche Kolonien<br />
man erobern muss, um ihn günstig zu<br />
erhalten.<br />
Was wir ihm verdanken, verdanken wir seinem<br />
Fleiß: Hitler – eine Bilanz, Hitlers Helfer, Hitlers<br />
Frauen, Hitlers Krieger, Sie wollten Hitler töten, Die<br />
Große Flucht, Der Jahrhundertkrieg, Die SS, Die<br />
Gefangenen, Das Drama von Dresden, Die Wehrmacht<br />
– eine Bilanz und so weiter bis fast zum<br />
Endsieg. Ein Millionenpublikum lag ihm zu Füßen<br />
(einige waren schon sehr kalt). Und nun soll<br />
er einfach so abtreten?<br />
Mit Guido Knopp verliert Hitler seinen agilsten<br />
Stalker. Er ist ihm bis aufs Scheißhaus nachgeschlichen<br />
(die »versetzten Winde« hat Hitler-Tagebuch-Fälscher<br />
Kujau bei Knopp aufgeschnappt).<br />
Es gibt kaum ein Geheimnis, dass Guido Knopp<br />
und sein Team nicht gelüftet hätten. Von Blondis<br />
Blutgruppe über Hitlers Mundgeruch bis zu Evas<br />
Schnapphüfte wurden »Mythen belegt und Wahrheiten<br />
geschaffen«. Oder sollte es umgekehrt gewesen<br />
sein? Hitler und Herr Knopp gehörten zusammen<br />
wie Molle und Korn. Das Faszinosum<br />
Adolf beschrieb er 2003 so: »Hitler hat das Jahrhundert<br />
in die Schranken gewiesen und ist am<br />
Ende auf wagnerische Art umgekommen.« Weltkrieg<br />
und Völkermord als Bayreuther Spektakel<br />
mit einem Heldentenor, der dauernd über seine<br />
Grenzen ging und dabei ganze Armeen verschliss!<br />
Leider ist die Sache schlecht für den Führer ausgegangen<br />
– und damit auch die Chance für Knopp,<br />
mit Hitler ein ZDF-Sommerinterview zu führen.<br />
Zwei Fragen hätte er dem Führer gestellt: »Erstens:<br />
Woher kommt Ihr Judenhass? Zweitens: Würden<br />
Sie nicht doch lieber wieder Maler werden?«<br />
Was wäre, wenn die Wiener Kunstakademie den<br />
jungen Adolf nicht abgelehnt hätte? – Das war<br />
dank Knopp und angeschlossenen Historikern in<br />
Westdeutschland die Hauptfrage bei der »Aufarbeitung«<br />
der Vergangenheit und ist es bis heute.<br />
Die Deutschen sind eben nur wegen lauter dummen<br />
Zufällen in was Unangenehmes reingeraten.<br />
Glücklicherweise kann Knopp sich alle Antworten<br />
selbst geben. Denn Fantasie hat der Mann.<br />
Er hat nämlich die deutsche Geschichte erst erfunden.<br />
»Ich habe mit meinen Sendungen versucht,<br />
den Deutschen zu vermitteln, dass ihre<br />
Geschichte nicht nur aus den zwölf Jahren des<br />
Dritten Reichs besteht.« Aber diese Jahre hatten<br />
es ihm offensichtlich angetan. Nazis waren hip<br />
und telegen: Der Knopp-Stil verkaufte sich in<br />
55 Länder. Und schaut man sich die Dauersendungen<br />
sämtlicher Infokanäle an: Der Boom ist<br />
ungebrochen. Adolf lebt!<br />
Die typische Knopp-Doku beginnt mit einem<br />
Trailer fürs Herz: gefrorene Finger im Schnee vor<br />
Stalingrad, Mutter schleppt Kinder durch Schlesien,<br />
die Frauenkirche brennt, ein Russe fummelt<br />
sich am Hosenstall. Dann öffnet sich der Knoppsche<br />
Studiosarg, und der sprechende Chow-Chow<br />
mit der Föhnfrisur fragt sich, was damals eigentlich<br />
wirklich geschah? Er nickt heftig und presst<br />
die Fingerspitzen zusammen bei der Ankündigung<br />
des heißen Themas. Wenn es ernst wird,<br />
schüttelt Knopp den Kopp vorab, und er grinst<br />
schief, wenn es nicht so ernst gemeint ist. Sein<br />
süßes Lispeln prägt inzwischen die zweite Generation<br />
junger Historiker. Mit aufsteigendem Nebel<br />
im Hintergrund, einem verwaisten Schreibtisch,<br />
der auch als Seziertisch Gebrauch findet,<br />
und einer nicht ruhen wollenden Kamera wird<br />
es dann schauerlich dramatisch. Mt einem knopptypischen<br />
Lehnen-Sie-sich-zurück-und-genießen-<br />
Sie-den-Film-Seufzer wünscht er gute Unterhaltung.<br />
Zeitzeugen erzählen dann von ihrem Leid.<br />
Was sie vergessen haben, weiß Guido Knopp.<br />
Ganze Flüchtlingstrecks werden von seinen Praktikanten<br />
nachgestellt und nachempfunden. Wenn<br />
Wäre Hitler Kunstmaler<br />
geworden, hätten die<br />
Juden Schwein gehabt<br />
das Material dünn wird, hilft stets die Nazi-Wochenschau:<br />
toll geschnitten, musikalisch innovativ,<br />
großartige Geräuschtechnik.<br />
So wird Geschichte zur Gaudi für die ganze Familie.<br />
Besonders aufs Menschliche legt der einzigartige<br />
Hysteriker Professor Doktor Knopp –<br />
Knopps Pädagoge<br />
Guido Knopp ist ein Medienprofi, ein Kenner<br />
der Materie. Er wusste, wer gut mit Kindern<br />
kann, der kommt auch mit dem senilen<br />
ZDF-Zuschauer zurecht. Dass Letzterer<br />
eher handfesten Erziehungsstilen nahesteht,<br />
ahnte Knopp. Er machte sich darum diesen<br />
führenden Medienpädagogen des 20. Jahrhunderts<br />
zum Vorbild.<br />
Knopps Visionär<br />
Was wäre die Weltgeschichte ohne Träumer<br />
und Visionäre?! Stets beeinflussten<br />
Professor Knopp auch die Gedanken- und<br />
Imaginationswelten der kleinen Männer<br />
abseits der großen Politik. So auch die dieses<br />
österreichischen Kunstmalers, Komponisten<br />
und Rechtsträgers.<br />
den »Professor« führt er als Plauderhistoriker einer<br />
privaten katholischen Hochschule – großen<br />
Wert. Goebbels liebte Beethoven, und Hitler<br />
seine Schreibtischlampe mit dem Lederschirm.<br />
»Denn es sind die kleinen Geschichten, die das<br />
Große verständlich machen.« Allerdings nur in<br />
Bezug auf unsere Idole. Wie versuchte Göring<br />
abzunehmen? Hat Leni Riefenstahl ein Pessar benutzt?<br />
Verband Hitler und Speer eine homoerotische<br />
Neigung? Dass Schütze Arsch, bevor er an<br />
der Wol ga fiel, von einem Schweineschnitzel<br />
schwärmte – wen interessiert’s?<br />
Und Knopp als Mensch? Kaut er an den Nägeln?<br />
Heißt sein Pudel Blondi? Er kam 1978 zum<br />
ZDF (nicht der Pudel, sondern Knopp), und er<br />
be gann wie alle als kleine Wurst. Dann fiel ihm<br />
auf, dass es in diesem Saftladen keine Geschichtsredaktion<br />
gab, also ernannte er sich zu dieser.<br />
Er sortierte die deutsche Geschichte nach ihren<br />
witzigsten Episoden. Das kam nicht bei allen an.<br />
Für die meisten Historiker verkörperte Knopp<br />
20 EULENSPIEGEL 10/12
Knopps Modeberater<br />
Diese Persönlichkeit wäre vielleicht völlig dem<br />
Vergessen zum Opfer gefallen, hätte sie nicht<br />
maßgeblich das Männerbild in Knopps Werk<br />
beeinflusst. Knopps Faible für unkonventionelle<br />
Klatschhaarfrisuren mit hohem Wiedererkennungswert<br />
hat er sich von diesem ersten Modell<br />
für Herrenmode abgeschaut.<br />
Knopps Charmeur<br />
»Küss die Hand, gnä’ Frau«, und<br />
schnell mit der Popelbremse die Nägel<br />
des Gegenübers gereinigt! Dieser<br />
Frauenheld der Dreißiger sorgte<br />
für den nötigen Sexfaktor in Knopps<br />
Wirken.<br />
Knopps Ausrüster<br />
Wenn Knopp mal gar kein Thema für seine Dokumentationen<br />
einfallen wollte, dann kam ihm<br />
dieser Mann wie ein Blitz auf Kufen in den Kopf<br />
geschossen. Interessanterweise war der sonst<br />
keineswegs so gut für den Winter ausgerüstet.<br />
Knopps Lieblingspolitiker<br />
Knopps Gärtner<br />
Was wäre Guido Knopp ohne seinen Gärtner<br />
gewesen? Ein Mann, der stets anpackte,<br />
wenn es etwas zu tun gab, und im Keller<br />
stets die richtige Wunderwaffe gegen Schädlinge<br />
und Parasiten bereithielt.<br />
Knopps Entertainer<br />
Stets war Knopp bemüht, auch Spaß in<br />
die eigentlich fade Geschichtsschreibung<br />
zu bringen. Dabei machte er sich die Erfahrungen<br />
dieses Comedians zunutze, der<br />
schon früh das Volk mit dem lustigen Seifenkistensport<br />
unterhielt.<br />
Über viele Persönlichkeiten hat Guido Knopp<br />
in seinem Fernsehonkel-Leben berichtet. Aber<br />
keiner hat ihn so nachhaltig beeindruckt, so<br />
beschäftigt und berührt wie Konrad Adenauer,<br />
der Vater der deutschen Teilung. Sein Einstehen<br />
für Demokratie wird auch nach Knopps<br />
Pensionierung das große Faszinosum seines<br />
Lebens bleiben.<br />
Andreas Koristka / Fotos: Bundesarchiv<br />
»das Böse schlechthin«. Vor allem, dass die Deutschen<br />
bei ihm immer die Opfer waren, verübelte<br />
ihm eine notorisch antifaschistische Linke. Alles<br />
Blödsinn. Knopp weiß, wovon er spricht. Seine<br />
Familie stammt aus Schlesien, und er musste<br />
sein Kinderzimmer samt allen Plüschtieren den<br />
Polen überlassen. Das frisst sich ein in die Biografie!<br />
Ja, wenn Hitler auf der Kunstakademie angenommen<br />
worden wäre, wäre das nicht passiert.<br />
Seit 2000 verantwortet Guido Knopp die Geschichtsdokumentationsreihe<br />
History. Rund um<br />
ihn gibt es etliche Bücher, DVDs, Stickerhefte<br />
und Sammeltassen. Im ZDF trägt er den Titel<br />
»Chefhistoriker«. Damit setzt der eifrige Antikommunist<br />
eine SED-Tradition fort: von oben (vom<br />
Mainzer Lerchenberg) festlegen, wie Geschichte<br />
gewesen zu sein hat. Ein schweres Amt – aber<br />
einer muss es ja machen! Dafür ist Knopp Träger<br />
des Bundesverdienstkreuzes, er bekam die<br />
Goldene Kamera, den Emmy, das Seepferdchen,<br />
die Platin Visa und alles, was ein sehr, sehr guter<br />
Deutscher so kriegen kann. Seine katholischen<br />
Studenten haben ihn auf die Liste der seligzusprechenden<br />
Personen gesetzt. Und das, obwohl<br />
er in den letzten Jahren seinen Kampfauftrag<br />
etwas schleifen ließ: Mit Serien wie Unsere<br />
Besten (Zuschauerwahl der 100 bedeutendsten<br />
Und schließlich befreite er<br />
eine Frau aus dem Ostblock –<br />
durch Heirat<br />
Deutschen) oder Berühmte Paare zwischen Macht<br />
und Liebe hat er sich einen Ruf als Rosamunde<br />
Pilcher der Geschichtsschreibung erworben. »Geschichtspornograf«,<br />
rufen ihn die Neider, was natürlich<br />
Quatsch ist, denn niemals, sagt er, würde<br />
er Evas Vagina zeigen!<br />
Auch privat hat Knopp Gutes geleistet. Selbstlos<br />
befreite er eine Frau durch Heirat aus dem<br />
Ostblock, eine Ungarin, und wie man hört, behandelt<br />
er sie bis heute recht anständig. Allerdings<br />
muss sie sich etwas prostituieren, als »Zeitzeugin«<br />
auf seiner Geschichtsdatenbank für die<br />
»friedliche Revolution« in Leipzig.<br />
Mit einem Knaller krönte Knopp schließlich<br />
seine Laufbahn beim Zweiten Deutschen Fernsehen.<br />
Er erfand mit ihm eigener Mathematik seinen<br />
eigenen Krieg, den »Dreißigjährigen Krieg<br />
des 20. Jahrhunderts« von 1914 bis 1945. Die<br />
Jahre zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg<br />
zählen seiner Meinung nach nicht als Friedenszeit.<br />
Mit dieser originellen geschichtswissenschaftlich<br />
kühnen Kreation verabschiedet er sich<br />
auf seinen Zweitwohnsitz nach Florida.<br />
Zuvor aber macht er noch eine Lesereise auf<br />
der »MS Deutschland« und trägt den deutschen<br />
Opfern nach dem Lunch die schönsten Anekdoten<br />
aus dem Dritten Reich vor. Doch falls man<br />
Hitlers letzte Unterhose findet, lässt er sich sofort<br />
an Land bringen und eilt ins Studio.<br />
Felice von Senkbeil<br />
EULENSPIEGEL 10/12 21
Unsere<br />
Besten<br />
Pulverdampf, der durch eine immer dicker<br />
werdende Luft schwimmt. Geschützdonner,<br />
der die Erde wackeln lässt. Schiefe<br />
Häuserzeilen gleich einem zerschossenen Gebiss.<br />
Halbe Brücken wie abgehackte Arme. Auf der<br />
Straße ein herrenloses Bein, ein abber Kopf, ein<br />
zerschnetzeltes Kind. Man ahnt nichts Böses –<br />
und verliert plötzlich selber den Boden unter<br />
den Stiefeln, stürzt mit dem Gesicht voran auf<br />
den nähereilenden Straßenbelag zu und …<br />
Dirk Niebel schreckt hoch, langt automatisch<br />
zur Maschinenpistole – und hat den DIN-A4-Locher<br />
in der Hand. Enttäuschung hängt ihm im<br />
Gesicht, dass er sich nicht auf dem mit Gefahr<br />
und Geschossen prall gefütterten Schlachtfeld<br />
tummelt. Nein, er ist wieder mitten in der spannenden<br />
Büroarbeit in seinem hochinteressanten<br />
Entwicklungshilfeministerium eingenickt ... und<br />
mit dem bombenschweren Kopf auf den Schreibtisch<br />
geknallt, also wenigstens unverletzt geblieben.<br />
Der gelernte Minister und geborene Zeitsoldat<br />
fährt mit der Rechten prüfend über die Mulde,<br />
die seine harte Birne in drei Ministerjahren in<br />
das Holz gegraben hat, schüttelt sich den Schlaf<br />
aus dem Schädel, schiebt die Umlaufmappen und<br />
Positionspapiere beiseite und macht sich an die<br />
Arbeit: die Planung des nächsten Feldzugs für<br />
Rohstoffe und Absatzmärkte, den sein Ministerium<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />
überall im Kosmos zu führen hat.<br />
Im Brotberuf ist Dirk Niebel Minister. Doch<br />
seine Berufung ist der Soldatenrock, von 1984<br />
bis 1991 hielt er sich vollständig in einer Uniform<br />
der Bundeswehr auf. Ließ sich vollrohr von einem<br />
normalen Menschen zum Fallschirmjäger<br />
umbauen. Wurde arschklar zum Zugführer einer<br />
kernigen Eliteeinheit abgerichtet, hatte den Aufklärungs-<br />
und Erkundungszug der Luftlandebrigade<br />
»Schwarzwald« unter seinem Stiefel. Was<br />
Wunder, dass er nach seiner ehrenhaften Entlassung<br />
nie richtig ins bürgerliche Leben hineinfand,<br />
zum Donnerwetter aber auch! Während er<br />
an der Oberfläche eine zivile Existenz herzustellen<br />
sich mühte, absolvierte er mit enormem Horrido<br />
eine pfundige Wehrübung nach der anderen,<br />
um nicht gänzlich außer Dienst gestellt, nicht<br />
komplett eingemottet zu werden. Im Gegentum:<br />
2008 ward er hochgenudelt zum Hauptdirk der<br />
Reserve, ja scheiß die Wand an: zum Hauptmann<br />
der Reserve!<br />
Zwischen den Manövern musste er sich die<br />
Kampfmontur von der Pelle schälen. Um diese leeren<br />
Stunden zu füllen, errichtete er sich im Heidelberger<br />
Arbeitsamt einen Unterstand mit dem<br />
Zweck, die arbeitslosen, oft ungedienten Elemente<br />
auf Zack zu bringen. Forderte prompt, als die nicht<br />
spurten, die Bundesagentur für Arbeit dem Erdboden<br />
gleichzumachen und das Heer der Erwerbslosen<br />
unter das Kommando privater Jobvermittler<br />
zu jagen, da die staatlichen unfähig seien. Als<br />
einer von ihnen wusste er, wovon er redete. Und<br />
beschloss, Politiker zu werden!<br />
Bereits 1990 hatte er sich den Bataillonen der<br />
FDP angeschlossen, schnell diente er sich nun<br />
hoch. Nachdem er die Grundausbildung bei den<br />
Jungen Liberalen abgeleistet hatte, marschierte er<br />
1998 im Bundestag ein, ging 2005 als Generalsekretär<br />
der Partei an die mediale Front und wurde<br />
2009 zum Dienst in Merkels Kabinett einberufen.<br />
Noch im Bundestagswahlkampf hatte Niebel<br />
darauf gedrungen, das Entwicklungshilfeministerium<br />
bis auf die Knochen auszubomben. Eine<br />
Kriegslist, wie sich herausstellte, denn nach der<br />
bedingungslosen Kapitulation des rotgrünen<br />
Feindes besetzte Niebel prompt ebendieses fette<br />
Amt, das alle für <strong>mehr</strong> oder weniger inexistent<br />
hielten. Und ging sofort daran, in dem Sauladen<br />
aufzuräumen, in dem es zuvor als das Höchste<br />
galt, überall im Universum Brunnen zu pflanzen<br />
und Bäumchen in den Wüstensand zu bohren.<br />
Niebel brachte den Laden auf Vordermann und<br />
seine Kameraden aus der FDP in Stellung,<br />
pumpte das Ministerium, statt es auf Hutgröße<br />
zu schrumpfen, grinsend um 200 Stellen und 24<br />
neue Leitungsposten auf, die er durchweg mit<br />
Parteisoldaten besetzte. Von Zusammenarbeit<br />
und Entwicklung musste dabei niemand im Ministerium<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
und Entwicklung einen echten Dunst haben, von<br />
Wirtschaft genügte. Gleich zu Dienstbeginn umriss<br />
Niebel mit dem Salz der klaren Rede die<br />
neue Strategie: die Mobilmachung seines Hauses<br />
zum strammen Globalisierungsministerium,<br />
in dem Außen-, Handels-, Sicherheits- und überraschenderweise<br />
sogar Entwicklungspolitik in einer<br />
starken Hand zusammenlaufen, um Deutschlands<br />
Wirtschaft und Wohlstand mit allem Speck<br />
am Leben zu erhalten. Schließlich rollen von jedem<br />
Euro so benamster Entwicklungshilfe 1,80<br />
Euro zurück in echte deutsche Mäuler!<br />
Da die Schwachen nur gemeinsam stark sind,<br />
legt Niebel Wert auf bilaterale Beziehungen. Hingegen<br />
er multilateralen Organisationen und Gemeinschaftsprojekten,<br />
bei denen man sich – wie<br />
beim Regenwald-Fonds in Ecuador – einordnen<br />
und womöglich einem fremden Stiefel unterordnen<br />
muss, lieber den kalten Arsch zeigt. Und der<br />
eigenen Marschroute folgt!<br />
Um Deutschland dafür mit <strong>mehr</strong> Bums auszurüsten,<br />
formierte Niebel seine Truppen neu: Die<br />
staatlich geschmierten Entwicklungshilfeorganisationen<br />
wurden zu einer unwiderstehlichen Einheit<br />
zusammengeschmolzen, zur Gesellschaft für<br />
internationale Zusammenarbeit GIZ, die als globaler<br />
Dienstleister und planetenweites Beratungsunternehmen<br />
den Einmarsch deutscher Firmen<br />
vorbereiten soll. Dabei geht Niebel in eigener<br />
Person – eine andere hat er nun mal nicht –<br />
mit Schmiss voran, setzt sich selbst an die Tete<br />
und stößt vor allem nach Afrika vor. Mit einer<br />
Sonnenbrille vor der schwarzen Zivilbevölkerung<br />
geschützt und mit einer Gebirgsjägermütze auf<br />
dem dazu angebrachten Kopf wider die feindselige<br />
Hitze ausgerüstet, dringt er dort ein, wo dieser<br />
zukunftsschwangere Kontinent rohstoffreich<br />
ist und Menschenmaterial lebt, das als Absatzmarkt<br />
nütze sein kann.<br />
Die Marschroute ist klar wie die Suppe, die<br />
aus der Arschritze rinnt: Es gilt auszukundschaften,<br />
inwiefern die Entwicklungsländer bei<br />
Deutschlands Entwicklung behilflich sein können.<br />
Mehr Bums,<br />
Kameraden!<br />
Gern hat er daher Vertreter seines »Africa Agriculture<br />
and Trade Investment Fund« an Bord, der<br />
von der Deutschen Bank gemanagt wird und dafür<br />
sorgt, dass die schwarzen Länder der deutschen<br />
Privatwirtschaft nach allen Seiten offenstehen,<br />
wenn sie nicht ganz dicht sind.<br />
Aber Niebel fliegt auch gern nach Afghanistan,<br />
um den dort stationierten Teppichen seine Solidarität<br />
zu bekunden. Und ggf. ein besonders gut<br />
gewachsenes Prachtexemplar am Zoll vorbei in<br />
sein Wohnzimmer zu schmuggeln! Erst als die<br />
Empörung der Öffentlichkeit Blasen warf, steckte<br />
man ihm, dass afghanische Teppiche überhaupt<br />
nicht zollpflichtig sind. Nicht schlimm also das<br />
Ganze, der waschechte FDP-Mann hatte sich halt<br />
nur aus Unkenntnis gesetzestreu verhalten.<br />
Überhaupt Afghanistan! Wie gern stünde der<br />
Hauptmann der Reserve jetzt im Feld, statt hier<br />
in der Heimat am sauren Schreibtisch zu hocken.<br />
Seine Gedanken marschieren ab ... und bald<br />
schwimmt Pulverdampf durch die dicker werdende<br />
Luft. Geschützdonner lässt die Erde wackeln.<br />
Da: Schiefe Häuserzeilen gleich einem zerschossenen<br />
Gebiss. Halbe Brücken wie ...<br />
Peter Köhler<br />
22 EULENSPIEGEL 10/12
EULENSPIEGEL 10/12 23<br />
Björn Barends
Totgesagte arbeiten länger!<br />
Eine goldene Uhr und danach nur Frustration? Hören,<br />
wie der Zeiger sich tickend gen Lebensabend<br />
bewegt? Von wegen! 900 000 Rentner arbeiten in<br />
Deutschland, weil es ihnen so viel Freude bereitet.<br />
Sie betrachten die Arbeit nicht als Fron, sondern nur<br />
als das, was sie wirklich ist: ein tolles Hobby, das<br />
sie fit hält und frei macht.<br />
Alice Schwarzer<br />
Wolfgang Thierse<br />
Papst Benedikt XVI.<br />
Tätigkeit vor der Rente<br />
Bis 2007 Werbeträgerin für Bild<br />
Was sie jetzt macht<br />
Seite-1-Mädchen bei Bild<br />
Was hat sie noch vor?<br />
Praktikum bei Franz Josef Wagner<br />
Tätigkeit vor der Rente<br />
Nistgelegenheit für Mehlschwalbe<br />
und Goldammer<br />
Was er jetzt macht<br />
Den Prenzlauer Berg gentrifizieren<br />
Was hat er noch vor?<br />
Sprachrohr der letzten Ostdeutschen im<br />
Prenzlauer Berg werden<br />
Jürgen Drews<br />
Margot Honecker<br />
Tätigkeit vor der Rente<br />
Chef-Inquisitor<br />
Was er jetzt macht<br />
Chef des Chefinquisitors<br />
Was hat er noch vor?<br />
Mitarbeiter verhaften, Prozesse führen,<br />
selig gesprochen werden<br />
Tätigkeit vor der Rente<br />
Erfolgreicher Schlagersänger und<br />
Busengrabscher<br />
Was er jetzt macht<br />
Schlager singen und Busen grabschen<br />
Was hat er noch vor?<br />
Irgendwas mit Mädchen<br />
Tätigkeit vor der Rente<br />
Ministerin für Volksbildung<br />
Was sie jetzt macht<br />
Renommierten Medien Interviews<br />
geben (ARD, Youtube)<br />
Was hat sie noch vor?<br />
Ihr EULENSPIEGEL-Geschenk-Abo<br />
verlängern<br />
Zeichnungen: Arno Funke<br />
24 EULENSPIEGEL 10/12
Der<br />
Katalog mit<br />
Neuem für<br />
<strong>Alte</strong><br />
Opatrickser<br />
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muss. Unser Opatrickser zieht den beliebten<br />
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Opa aus dem Pflegeheim aus und nutzen Sie<br />
den kurzen Moment der Verwirrung bei Ihrem<br />
Opfer, um ihm die Augen auszustechen und<br />
die Brieftasche »umzulagern«. Mit der ergonomischen<br />
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sers sind optionale Schläge auf den Kopf möglich.<br />
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der Heimarbeit, weil Ihnen<br />
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alles vermiesen? Das muss<br />
nicht sein! Unser seniorengerechter<br />
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Viel Spaß beim<br />
Montieren und Verkaufen!<br />
»Ich bin zu gebrechlich<br />
zum<br />
Arbeiten« wird<br />
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Oben befindet sich eine praktische<br />
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Druck machen.<br />
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So sind Sie zu etwas nütze!<br />
Der Kampf gegen den Klimawandel<br />
und steigende Energiepreise<br />
kann so einfach<br />
sein. Minikraftwerke sind in<br />
jedem Baumarkt erhältlich<br />
und leicht montierbar. Kostenpunkt<br />
einmalig etwa drei<br />
Euro.<br />
Sie sitzen jeden Tag stundenlang<br />
im Park? Helfen Sie der<br />
Geflügelindustrie und brüten<br />
sie einige Legehennen aus.<br />
Das macht Spaß, denn die Küken<br />
sind herzallerliebst (männliche<br />
bitte sofort töten).<br />
EULENSPIEGEL 10/12 25
Wir haben’s<br />
immer noch<br />
drauf!<br />
Erfolgsgeschichten<br />
deutscher Pensionäre<br />
Lange lag die demente Rothild<br />
Rosenheimer dem Steuerzahler<br />
auf der Tasche. Und als<br />
wäre dies nicht genug, lag sie<br />
sich auf derselben wund. Ein<br />
Vermögen von 7,50 Euro die<br />
Stunde musste aufgewendet<br />
werden, um sie von einer ausgebildeten<br />
Krankenpflegerin<br />
allwöchentlich wenden zu lassen.<br />
Dann kam Frau Rosenheimer<br />
gemeinsam mit der Seniorenresidenzleitung<br />
auf die rettende<br />
Idee: Warum nicht auf<br />
dem Bau arbeiten? Denn dort<br />
hat sich noch niemand wundgelegen!<br />
Frau Rosenheimers<br />
glasige, verwirrte Augen verraten,<br />
dass sie über ihren plötzlichen<br />
gesellschaftlichen Nutzen<br />
entzückt ist. Und wer<br />
denkt, dies geschehe aus pekuniärer<br />
Not, irrt. Denn die Seniorenresidenz<br />
bestätigt, dass<br />
Frau Rosenheimer gern auf ihren<br />
zusätzlichen Gewinn zugunsten<br />
ihres geliebten Heimes<br />
verzichtet.<br />
Frau Rosenheimer vor der Aufnahme ihrer Erwerbstätigkeit: ein Häufchen Elend.<br />
Keine Anzeige<br />
Einmal frei durchatmen: Paula Kusselkopp macht’s möglich<br />
Beherrscht mittlerweile ein<br />
Potpourri abschlägiger Gesten:<br />
Heinz Kowalski.<br />
Heinz Kowalski war zu alt und<br />
berufsunfähig, dachte er zumindest.<br />
Sein leichtes horizontales<br />
Kopfschütteln, bedingt<br />
durch ein Parkinson-Leiden,<br />
brachte ihm außer Spott und<br />
Hohn nichts ein. Kinder rannten<br />
ihm auf der Straße hinterher<br />
und riefen »Doch, doch!«.<br />
Ganz Rentner und gefangen im<br />
System staatlicher Zuwendungen,<br />
konnte er sich den Fesseln<br />
seiner Unzufriedenheit<br />
nicht selbst entreißen. Bis Sparkassen-Leiter<br />
Jochen Eber ling<br />
durch Zufall auf Kowalski aufmerksam<br />
wurde. Er stellte ihn<br />
sofort für die Abteilung Kreditvergabe<br />
für Privatleute in seiner<br />
Filiale ein, wo er seitdem<br />
die Kunden betreut.<br />
Paula Kusselkopp hat sich<br />
aus den Fängen des unwerten<br />
Lebens befreit. Sie arbeitet<br />
heute ehrenamtlich als Pollenfängerin<br />
in ihrem Heimatort<br />
Wadersloh. Nur rumsitzen und<br />
die 374 Euro Grundsicherung<br />
sinnlos auf den Kopf hauen?<br />
Das kam für Frau Kusselkopp<br />
nicht infrage. Jedenfalls nicht,<br />
solange ihre Enkel an allen erdenklichen<br />
Allergien litten. Am<br />
Tag fängt Frau Kusselkopp<br />
heute 800 Pollen der unterschiedlichsten<br />
Pflanzengattungen.<br />
Das macht in den warmen<br />
Monaten des Jahres immerhin<br />
145 000 Pflanzenspermien.<br />
Ihre Achtung in der Gemeinde<br />
ist dadurch enorm gestiegen.<br />
Auch Bürgermeister<br />
Müggepiet schätzt ihr Engagement<br />
und überbrachte ihr deshalb<br />
zum 80. Geburtstag einen<br />
Blumenstrauß, den Frau Kusselkopp<br />
sofort entpollte.<br />
Andreas Koristka,<br />
Fotos: Fotolia<br />
Florida<br />
Dr. Ursula von der Leyen empfiehlt:<br />
<strong>Alte</strong>rsruhesitz<br />
Ganze 2300 V (9,5 A) für acht Sekunden, 1000 V (4 A) für 22 Sekunden!*<br />
* Die Stärke des vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend subventionierten<br />
Stroms richtet sich nach der Anzahl der Verdienstjahre.<br />
Michael Garling<br />
26 EULENSPIEGEL 10/12
Anzeige
Aus<br />
land<br />
O Ecuador, o Ecuador!<br />
Wohl jeder kennt die Situation aus<br />
eigener Erfahrung: Man sitzt zu<br />
Hause am Rechner, macht aus Versehen<br />
streng geheime Depeschen<br />
aus dem Pentagon öffentlich und<br />
wird anschließend von zwei schwedischen<br />
Nymphomaninnen zum Sex<br />
gezwungen, die später das genaue<br />
Gegenteil behaupten. Für viele Mittvierziger<br />
ist das Alltag. Daher würde<br />
man sich über Julian Assange auch<br />
nicht weiter die Festplatte fusselig<br />
reden, hätte sich der australische<br />
Albino nicht zufällig in der ecuadorianischen<br />
Botschaft in London einquartiert.<br />
»Herrlich«, sagen die einen,<br />
»Hossa!«, singen die anderen.<br />
Seit Juni hält sich Assange nun<strong>mehr</strong><br />
in Hans Crescent Nr. 3 auf.<br />
Die, die täglich mit ihm verkehren,<br />
beschreiben ihn als leicht hospitalisiert,<br />
aber rundum happy. Mit 41<br />
Jahren kann Assange noch einmal<br />
von vorn anfangen, ihm winkt ein<br />
neues Leben in einem neuen Land.<br />
Hinter sich lässt er dann die hässlichste<br />
aller Inseln. Scheiß-Wetter,<br />
Scheiß-Essen, Scheiß-Linksverkehr.<br />
gierungschef mit Charisma. Auch<br />
hat. Seither ist das Land in zwei Kli-<br />
lich, sofern man sich nicht wieder<br />
Wer an England denkt, fragt sich,<br />
wirtschaftlich geht es bergauf. Die<br />
mazonen geteilt. Kaum vorstellbar,<br />
die ganze Nacht am PC um die Oh-<br />
worauf der ansteigende Meeres-<br />
erfolgreichsten Exporte sind Erdöl,<br />
dass wir Urenkelinnen und Urenkel<br />
ren geschlagen hat. Auf alle Fälle<br />
spiegel eigentlich noch wartet. Kein<br />
Schnittblumen und Malaria. Dass<br />
dieses Spalters in Ecuador mit of-<br />
kann man Botschafter Dilshod auch<br />
Fleckchen Erde lädt offensiver zum<br />
das Internet in Ecuador nur etwa<br />
fenen Blusen empfangen würden.<br />
eine E-Mail schreiben (DilBo@uzbe-<br />
Exodus ein als das Vereinigte Kö-<br />
halb so schnell Daten überträgt wie<br />
Aber wie heißt es so schön in ei-<br />
kistan.de) oder man hackt sich<br />
nigreich.<br />
eine halbseitig gelähmte Brieftaube,<br />
ner postkolonialistischen, spani-<br />
gleich in den Botschaftsserver ein<br />
Nun ist Deutschland nicht Eng-<br />
wird da sicherlich auch Hackerfresse<br />
schen Seemannsweise: »O Ecuador,<br />
und kommuniziert bequem übers<br />
land, aber auch hier lassen sich aus-<br />
Assange gerne in Kauf nehmen.<br />
o Ecuador. Dann fahr’n wir halt wo-<br />
Intranet. Natürlich sollte man nie<br />
reichend Gründe finden, einfach<br />
Nun hat die Sache allerdings ei-<br />
anders hin« (im Original: »Viva la<br />
mit leeren Händen vor einer Bot-<br />
Leine zu ziehen und das graue Da-<br />
nen Haken. Im Gegensatz zu nerdi-<br />
viva lo viva la Mexico«). Allein in<br />
schaft aufkreuzen. <strong>Alte</strong>s Diploma-<br />
sein im drögen Parlamentarismus<br />
gen Australiern mit dem Talent,<br />
Deutschland warten Hunderttau-<br />
tengesetz. Wer ein Assylange wer-<br />
gegen den abenteuerlichen Fun in<br />
Machtblöcke gegeneinander aufzu-<br />
sende von Botschaften darauf, ver-<br />
den will, muss schon was bieten<br />
der autokratischen Wohlfühloase<br />
wiegeln und einen dritten Weltkrieg<br />
zagten Westbürgern neue Perspek-<br />
oder zumindest das Zeug mitbrin-<br />
einzutauschen. Einfach mal einen<br />
anzuzetteln, ist der gemeine Deut-<br />
tiven zu bieten. Warum nicht mal<br />
gen, ein bisschen Weltgeschichte<br />
Assylange-Antrag stellen und ab<br />
sche in dem lateinamerikanischen<br />
an der Perleberger Straße 62 (Ber-<br />
zu schreiben. So konnte Julian As-<br />
geht die Post. Die Botschaft von<br />
Land nicht sonderlich gelitten.<br />
lin) Sturm läuten, schaun, ob Seine<br />
sange mit dem Pfund wuchern, im<br />
Ecuador ist nicht umsonst eine be-<br />
Schuld ist der alte Alexander von<br />
Exzellenz Dilshod Akatov zufällig zu<br />
Namen der Aufklärung unterwegs<br />
liebte Anlaufstelle für Menschen mit<br />
Humboldt. Noch immer nehmen die<br />
Hause und nüchtern ist. Die Öff-<br />
zu sein. Dank der von ihm veröf-<br />
Fernweh. Der sympathische Anden-<br />
Ecuadorinten unserem Bildungsrei-<br />
nungszeiten der usbekischen Bot-<br />
fentlichten Depeschen wissen wir<br />
staat bietet alles, woran es uns fehlt:<br />
senden übel, dass er bei ihnen einst<br />
schaft (montags bis freitags jeweils<br />
nun, dass Soldaten auf alles schie-<br />
Vulkane, den Pazifik und einen Re-<br />
den Humboldt-Strom eingeführt<br />
von 9 bis 13 Uhr) sind bürgerfreund-<br />
ßen, was nicht bei drei auf eine<br />
28 EULENSPIEGEL 10/12
Burkhard Fritsche<br />
Mine tritt, Politiker käuflich sind und die Wirkung<br />
von Globuli auf Einbildung basiert. In der<br />
Perleberger Straße hat sicherlich derjenige höhere<br />
Aufnahmechancen, der wenigstens zwei Semester<br />
in angewandter Atomphysik vorweisen<br />
kann. Und wo man schon mal da ist, sollte man<br />
auch die Flugstunden beim Segelfliegerclub »Roter<br />
Baron« nicht für sich behalten.<br />
Es gehört zu den vom Auswärtigen Amt gerne<br />
unterschlagenen Tatsachen, dass zwischen autoritären<br />
Regimen und schönem Wetter eine Korrelation<br />
besteht. Je dominanter der Potentat,<br />
desto höher die Anzahl jährlicher Sonnenstunden.<br />
Das mag vielleicht Zufall sein, ein Argument<br />
für einen überstürzten Umzug ist es allemal.<br />
Im bestens vertrauten Dschibuti beispielsweise<br />
herrscht ganzjährig Hochsommer. Heilig -<br />
abend bei gesegneten dreißig Grad unter Palmen<br />
– da lässt sich dem Jesuskind gleich viel<br />
leichter huldigen. Von allzu sichtbarem Christbaumschmuck<br />
sollte in dem muslimlastigen<br />
Land allerdings abgesehen werden. Die dschibutische<br />
Botschaft (Dschibutschaft) befindet<br />
sich in der Kurfürstenstraße 84. Kommen Gäste,<br />
werden sie von Seiner Exzellenz Mohammed Dileita<br />
Aden mit Trockenobst aus der Heimat willkommen<br />
geheißen. Öffnungszeiten gibt es allerdings<br />
keine. Dafür ist Herr Aden rund um die<br />
Uhr telefonisch erreichbar (0153/3667985). Machen<br />
Sie den Test!<br />
Klar ist leider auch: Wer von einer Botschaft<br />
aufgenommen wird, hat sein Ziel noch lange<br />
nicht erreicht. Um lästigem Anfragen und Winseln<br />
im Auswärtigen Amt zu entgehen, empfiehlt<br />
sich der abenteuerliche Abgang. Für die kostengünstigste<br />
Variante benötigt man im Grunde<br />
nicht <strong>mehr</strong> als einen handelsüblichen Hirtenstab,<br />
ein Kerkeling-Sachbuch sowie eine plausible<br />
Erklärung dafür, warum man den Jakobsweg<br />
ausgerechnet auf dem Umweg über Dschibuti<br />
zurücklegen will. Wer eher die passive Rolle bevorzugt<br />
und eine Schwäche für den Orient hat,<br />
dem sei geraten, sich in einen Perser einwickeln<br />
zu lassen. So muss er an den Grenzen nur noch<br />
darauf hoffen, dass seine Gehilfen den Text behalten<br />
konnten und glaubhaft versichern, dass<br />
es sich bei dem ranzigen Textil um einen unverzollten<br />
Teppich aus dem Entwicklungsministerium<br />
handle, den man auf diesem Wege ordnungsgemäß<br />
samt Minister retour bringen wolle.<br />
Der sicherste Transport in die Schweiz (Ottovon-Bismarck-Allee<br />
4A, Montag bis Freitag 9 bis<br />
12 Uhr), jenen kleinen, klimatisch heilsamen Unrechtsstaat,<br />
der sich wohlweislich hinter den Alpen<br />
versteckt, erfolgt noch immer im Innern eines<br />
Geldkoffers. Kontrollen sind beiderseits ausgeschlossen.<br />
Der Komfort der Ausreise lässt freilich<br />
zu wünschen übrig. Wer daher im Yogakurs<br />
für fortgeschrittene Flüchtlinge gelernt hat, die<br />
eigenen Gelenke auszukugeln und sich zusammenzufalten,<br />
ist klar im Vorteil.<br />
Natürlich lässt sich jede Flucht auch über TUI,<br />
Sonnenklar-TV oder den Vatikan (Lateinamerika)<br />
buchen. Vielleicht ist das die eigentlich frohe<br />
Botschaft.<br />
Florian Kech<br />
EULENSPIEGEL 10/12 29
30 EULENSPIEGEL 10/12
Zeit geist<br />
Beck<br />
EULENSPIEGEL 10/12 31
Die<br />
Wessos<br />
kommen!<br />
Sachsen verzeichnet als erstes Bundesland im<br />
Osten »eine positive Wanderungsbilanz«: Dorthin<br />
kommen <strong>mehr</strong> Ostdeutsche zurück, als nach<br />
der Wende rübergemacht sind. Vielleicht weil<br />
Dresden niedrige Friedhofsgebühren hat?<br />
»Ja, ich bin ein Wesso«, sagt Gerald S. (47) mit einer<br />
Mischung aus Stolz, Scham und Trotz. Er klingt fast so,<br />
als habe er den Begriff erfunden. Dabei nennen sich<br />
hier, im Notaufnahmelager Ellrich am Fuße des Harzes,<br />
gleich hinter der (immer noch »gedachten«) Grenze zu<br />
Niedersachsen alle so. »Irgendwie muss man doch<br />
seine verrückte Biografie auf den Punkt bringen«, sagt<br />
Gerald, der beruflich auf eine lange Laufbahn als Gabelstapler-Fahrer<br />
zurückblicken kann. Und das Wort<br />
»Wossi« ist ja schon von den westdeutschen Aufbauhelfern<br />
besetzt, die sich in Neufünfland festgesetzt haben<br />
und seitdem mit ihrer Leidensfähigkeit angaben!<br />
Nach diesen Reflexionen lässt sich Gerald wieder auf<br />
sein Feldbett fallen, um den Rest des Tages zu verdämmern.<br />
Aber nicht alle lassen sich hängen. Die Kleinsten beispielsweise<br />
üben schon wieder Zwei-und-Zwei-Antreten<br />
für ihren ersten Morgenappell und schmettern den<br />
ganzen Tag das Lied »Die Heimat hat sich schöngemacht<br />
/ und Tau blitzt ihr im Haar«. In Baracke sieben<br />
trudeln nach dem Frühstück einige Leute zur »Umerziehung«<br />
ein. Das ist natürlich ironisch gemeint, denn<br />
die Zeit der Gehirnwäsche, die sie im Westen erleiden<br />
mussten, ist für sie vorbei. »Bei Quelle in Fürth musste<br />
ich unterschreiben, dass ich alle Ostkontakte abbreche,<br />
nicht schwanger bin und innerhalb der Grenzen<br />
der ehemaligen BRD nicht Sächsisch spreche. Sonst<br />
hätten die mich nicht ans Band gelassen«, erzählt Isolde<br />
P. aus Harzgerode. Dabei spricht sie ein astreines Anhaltinisch!<br />
»Für die Westdeutschen waren wir alle Sachsen,<br />
sobald wir den Mund aufmachten«, erinnert sie<br />
sich flüsternd (die Angst vor Spitzeln des hessischen<br />
32 EULENSPIEGEL 10/12
Heimat liebe<br />
EULENSPIEGEL 10/12 33<br />
Guido Sieber
Heimat<br />
liebe<br />
Verfassungsschutzes ist im Lager groß). Jetzt üben<br />
sie wieder »Dreiviertel neun« zu sagen, statt »Viertel<br />
vor neun«, die Bierflasche wieder mit den Zähnen<br />
zu öffnen und Spaghetti wieder mit Messer<br />
und Gabel zu essen. »Spaghetti mit Gabel und<br />
Löffel! Können Sie sich vorstellen, wie doof wir<br />
uns dabei vorgekommen sind?«, ruft Isolde, und<br />
alle lachen befreit. Wem ein »Grüß Gott« über die<br />
Lippen huscht, der muss in die Kaffeekasse einzahlen.<br />
Ein Referent der Landeszentrale für politische<br />
Bildung informiert über die Lage in der alten<br />
Heimat – dass es Biedenkopf, die PDS und<br />
den Palast der Republik nicht <strong>mehr</strong> gibt, dafür<br />
aber Hunderte Kilometer Fahrradwege. »Gibt es<br />
denn den MDR wenigstens noch?«, fragt Isolde P.<br />
Als das bejaht und versichert wird, auch die Club-<br />
Cola und die Puhdys seien noch da, schießt ihr<br />
das Wasser in die müden Augen. Heimat, du hast<br />
einen Namen, ein Gesicht (»Maschine«) und ein<br />
Getränk!<br />
Übler Geruch breitet sich in der feuchten Baracke<br />
aus. Seit Tagen sind die Übersiedler nicht aus<br />
ihren Jogginghosen gekommen. Es herrschen unzumutbare<br />
hygienische Zustände im Lager. Die<br />
beiden Bidets, die einst für arabische Asylanten<br />
eingebaut worden waren, sind die einzige Waschgelegenheit<br />
und Quelle fürs Kaffeewasser. Bohnenkaffee<br />
spendet der kleine Supermarkt im Ort.<br />
Aber aus Nordhausen kommen nachts manchmal<br />
Nazis, die die Umwidmung des Heimes verschlafen<br />
haben, und spenden Benzin in verkorkten<br />
Weinflaschen durchs geschlossene Fenster.<br />
Kürzlich ist auch »Wessos raus!« ans Haupttor<br />
gesprüht worden. Im Dorf haben Jugendliche den<br />
Flüchtlingen hinterhergerufen: »Das Wesso ist ein<br />
blödes Tier. Hau bloß ab und bleib nicht hier«.<br />
»Das kränkt«, sagt Gerald S. im Namen aller<br />
Umsiedler, »denn vom Blut her sind wir doch alle<br />
Anzeige<br />
Ostdeutsche. Klar, wir haben einen Fehler gemacht,<br />
als wir uns mit denen da drüben eingelassen<br />
haben. Aber wir stehen dazu.«<br />
Die Scham ist groß. Wie konnten wir nur so<br />
dumm sein zu glauben, dass sich die Wessis bei<br />
sich zu Hause anständiger verhalten als im Osten,<br />
hadern viele mit sich. Mancher, der jetzt hier<br />
ist, ist in Bochum oder Wolfenbüttel Kommunist<br />
geworden – einfach weil man ihn nie mit seinem<br />
Namen, sondern immer nur mit »Kommunist«<br />
oder »Honecker« gerufen hat. Aber dürfen die<br />
Heimkehrer nicht auch etwas Dankbarkeit erwarten?<br />
Schließlich haben sie, als nach 1990 zu<br />
Hause die Sippe den Kitt aus den Fenstern fraß,<br />
ihre Familie von arbeitslosen Essern befreit. So<br />
»Meinen Gabelstaplerschein<br />
wollten sie nicht anerkennen,<br />
weil er nicht unter rechtsstaatlichen<br />
Bedingungen erworben wurde.«<br />
konnte beispielsweise die Kindersterblichkeit in<br />
Sachsen-Anhalt niedrig gehalten werden. Ein<br />
bisschen können die Lagerinsassen die Ängste<br />
der Leute in ihren Heimatgemeinden verstehen.<br />
»Aber wir wollen ihnen doch gar nicht die Arbeitsplätze<br />
wegnehmen. Wir wollen einfach nur<br />
ein Plätzchen in den Sozialsystemen«, sagt Gerald.<br />
Und einer, den alle nur »Hilde« nennen,<br />
fügt hinzu: »Und vielleicht ein Ehrenamt mit Aufwandsentschädigung,<br />
Zeugwart beim Kinderballett<br />
am Theater in Anklam, das wäre schön.«<br />
85 Prozent der Wessos, die in die einstige russische<br />
Zone zurückkehren, waren im Westen »entweder<br />
glücklich, zufrieden oder nicht unglücklich«,<br />
sagt ein Meinungsforschungsinstitut. »Das<br />
ist Quatsch«, empört sich Sandy von O., eine<br />
früh gealterte Endzwanzigerin. In ihrem »ersten<br />
MUSICAL-REVUE<br />
E<br />
Leben«, wie sie sagt, hat sie in Harzgerode Frisörin<br />
gelernt. Nun bilanziert sie: »Wenn du am<br />
Bodensee täglich siebzig Betten beziehst, hast<br />
du natürlich keine Zeit, unglücklich zu sein. Und<br />
wenn dann der Chef noch nach dir greift, weil ja<br />
die ostdeutschen Frauen so herrlich unkompliziert<br />
sind, musst du hinterher natürlich auch so<br />
tun, als ob du einigermaßen zufrieden bist.« Gerald<br />
S. ist empört: »Meinen Gabelstaplerschein<br />
wollten sie nicht anerkennen, weil er nicht unter<br />
rechtsstaatlichen Bedingungen erworben<br />
wurde. Und überall war man der Ossi. Wenn du<br />
bei Aldi in der Schlange gerufen hast: ›Bitte eine<br />
zweite Kasse aufmachen!‹, haben sich alle umgedreht<br />
und gebrüllt: ›Hau doch ab nach drüben!‹<br />
Beim Bäcker habe ich die Brötchen vom<br />
Vortag und im Bordell immer das Mädchen in <strong>Alte</strong>rsteilzeit<br />
gekriegt.«<br />
Gerüchte gehen um. Auf dem Gütergleis in<br />
Wernigerode sollen bereits Waggons bereitgestellt<br />
worden sein. Ein gutes Zeichen! Einige packen<br />
schon ihr Bündel, die »Hallorenkugeln«,<br />
die ihnen bei der Ankunft in Ellrich im Auftrag<br />
des Landrats als Begrüßungsgeschenk überreicht<br />
worden waren, obenauf. Gerald S. plagen finstere<br />
Gedanken. Wie wird die Heimat ihn, den<br />
»Flüchtling« empfangen? Werden seine beiden<br />
Jungs ihn wiedererkennen? Und das kleine Mädchen,<br />
von dem ihm seine Frau geschrieben hat,<br />
wird es »Papa« oder »Onkel Gerald« zu ihm sagen?<br />
Und vor allem: Ist der Kerl, an den sie die<br />
Stube notgedrungen untervermietet hat, nun<br />
endlich ausgezogen?<br />
Wie auch immer – ein Zurück gibt es für Gerald<br />
S. nicht <strong>mehr</strong>. In Gütersloh, wo er zuletzt<br />
Stapel hob, jobben jetzt die Griechen.<br />
Mathias Wedel<br />
Von den Machern von „Durchgeknallt im Elfenwald“<br />
Regie: Reinhard Simon<br />
Premiere: 29. September ember 2012, Großer Saal<br />
Weitere Vorstellungen:<br />
12./13.10. 19:30 Uhr, 27.10. 19:30 Uhr, 28.10.<br />
15:00 Uhr, 9./10.11. 19:30 Uhr, 22.12. 19:30<br />
Uhr, 23.12. 15:00 Uhr, 31.12. 18:00 Uhr<br />
Uckermärkische Bühnen Schwedt<br />
Tickets und Informationen:<br />
Tel. 03332 538111<br />
www.theater-schwedt.de<br />
ww.theater-schwedt.de<br />
34 EULENSPIEGEL 10/12
Ver kehr<br />
Künstlername Ramses<br />
Wahrscheinlich ist er eins der letzten Genies, ein<br />
Michelangelo der Verkehrswegeplanung, ein Stephen<br />
Hawking der allgemeinen Schiffbarmachung<br />
ostdeutscher Nebenflüsse! Zumindest ist er ein<br />
Multitasking-Champ, der Minister Ramsauer. Das<br />
heißt, er greift virtuos zahlreiche Tasten gleichzeitig.<br />
Er hat seine Pianistenfinger in tausend Projekten<br />
drin. Einst versuchte er ohne Erfolg, als Rubinstein<br />
für Arme die Konzertsäle der Welt aufzumischen,<br />
machte dann aber lieber Karriere als Lebenskünstler.<br />
Bei festlichen Einweihungen ist er<br />
ein leidenschaftlicher Banddurchschneider, ab und<br />
zu aber haut er immer noch in die Klaviatur. Für<br />
die Benefiz-CD »Adagio im Auto« spielte er mit<br />
dem Orchester der Deutschen Oper Berlin das Andante<br />
aus Mozarts Klavierkonzert Nr. 21 ein. Das<br />
macht ihm die stärkste Frau der Welt nicht nach!<br />
Erfolge säumen seinen Weg. Im Schienenverkehr<br />
erreichte er,<br />
• dass der ICE in Wolfsburg Hbf. kaum noch hält,<br />
obwohl er laut Fahrplan halten soll,<br />
• dass die Berliner S-Bahn sich nicht mit Verspätungen<br />
begnügt, sondern bei jeder Gelegenheit<br />
entgleist und<br />
• dass die Klimaanlage in jedem ICE zuverlässig<br />
ausfällt, wenn die Außentemperaturen im Sommer<br />
hoch, im Winter frostig und in den restlichen<br />
Jahreszeiten durchschnittlich sind.<br />
Im Luftverkehr erlangte er weltweit Anerkennung<br />
mit dem Großflughafen Berlin Brandenburg Internäschenel,<br />
auf dem in diesem Jahrhundert<br />
Flugzeuge weder starten noch landen werden;<br />
aus naheliegenden Gründen wird der Airport Willy<br />
Brandt deshalb umbenannt in Großflughafen<br />
Fürst Potemkin.<br />
Gern würde er auch den Fortschritt auf sein<br />
Leistungskonto verbuchen, dass überall in den<br />
Städten piekfeine, abschließbare Wohnparks für<br />
Reiche entstehen, der soziale Wohnungsbau aber<br />
vollständig zum Erliegen kommt. Denn schließlich<br />
ist er auch Bauminister! Aber er muss zerknirscht<br />
zugeben: Wohnungsbau ist Ländersache,<br />
der interessiert ihn nicht die Bohne!<br />
Im Straßenverkehr lässt Ramses gleichfalls<br />
nichts anbrennen. Auf allen Autobahnen werden<br />
die letzten Lücken geschlossen, um die Hauptverkehrsadern<br />
bundesweit zu einer durchgehenden<br />
Baustelle zu perfektionieren, Betreten für<br />
Straßenbauarbeiter streng verboten. Fällig sind<br />
auch die Fahrradfahrer, die rote Ampeln missachten<br />
und unbescholtenen Verkehrspolizisten den<br />
Stinkefinger zeigen. »Der Verrohung dieser<br />
Kampf radler«, sagte Ramsauer der Presse, müsse<br />
endlich Einhalt geboten werden.<br />
Die Wahnsinns-Kraftstoffpreise machen ihm<br />
ebenso großes Kopfzerbrechen wie dem deutschen<br />
Volk. Wenn es nach ihm geht, bleibt das<br />
Benzin unbezahlbar, allerdings <strong>müssen</strong> die Tankstellen<br />
zum sogenannten »australischen Modell«<br />
übergehen. Dies bedeutet, dass die Mineralölkonzerne<br />
ihre Preiserhöhungen vorher ankündigen,<br />
damit die Kundschaft genug Zeit hat, die<br />
Kosten für eine Tankfüllung anzusparen. Und weil<br />
sogar Aktivisten der Grünen sich weigern, Biosprit<br />
E10 zu tanken, soll künftig noch viel <strong>mehr</strong><br />
Biosprit hergestellt werden, damit der Hunger in<br />
der Dritten Welt unumkehrbar wird.<br />
Aber das sind Kleinigkeiten. Für Ramses gibt<br />
es Wichtigeres zu tun, Dinge von historischer Dimension:<br />
Marx und Engels, diese beiden, hängen<br />
als Denkmalsgestalten immer noch mitten<br />
in Berlin rum, und zwar genau dort, wo Ramsauer<br />
das Hohenzollern-Schloss wiedererrichten<br />
will. Bau-Freiheit oder Kommunismus – das ist<br />
hier die Frage! Die beiden Rauschebärte solle<br />
man zur Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-<br />
Friedrichsfelde verfrachten. »Dort«, sagt er im<br />
Brustton bairischer Grammatik, »gehören die bes-<br />
Uwe Krumbiegel<br />
Andreas Prüstel<br />
EULENSPIEGEL 10/12 35
Jünger & Schlanker André Poloczek Mario Lars<br />
ser aufgestellt, das ist ja so eine Art sozialistisches<br />
Restezentrum.«<br />
Frage: Warum ist Peter Ramsauer eigentlich<br />
so liebenswert? Antwort: Weil er sich mit überbordendem<br />
Eifer am liebsten auf Arbeiten<br />
stürzt, die ihn gar nichts angehen. Das Ministeramt<br />
übernahm er mit dem Schlachtruf:<br />
»Anglizismen sind bullshit!« und verpasste seinem<br />
Verkehrsmysterium ein striktes Denglish-<br />
Verbot. Sein travelmanagement wurde wieder<br />
zur Reisestelle, die task force zur Projektgruppe,<br />
die deadline zum Abgabetermin, das<br />
inhouse meeting zum hauseigenen Seminar.<br />
Der Flyer sollte wieder Handzettel sein, die<br />
Hotline eine stinknormale Telefonnummer und<br />
das nächste Santa-Claus-Event eine Weihnachtsfeier.<br />
Sein linguistischer Furor veranlasste<br />
die Zeitung Deutsche Sprachwelt, ihn<br />
zum »Sprachwahrer des Jahres 2010« zu ernennen.<br />
Tatendurstig machte er bei der Deutschen<br />
Bahn gleich weiter, wo der Team Manager<br />
immer noch der Rückbenennung zum Zugführer<br />
harrt. Und noch heute scheißen sich auf<br />
den Bahnhöfen Fahrgäste in die Hosen, weil<br />
sie nicht ahnen, dass hinter dem rätselhaften<br />
Schild »McClean« das gute, alte Bahnhofsklo<br />
steckt. Ramsauers Tatkraft wird also noch gebraucht.<br />
Denn manche seiner atemberaubend kühnen<br />
Projekte stecken noch »in der Pipline«,<br />
wie man im Managerslang sagt: Das Verkehrsschilderdickicht<br />
am Straßenrand wollte er lichten,<br />
die Flensburger Verkehrssünderkartei<br />
wollte er reformieren und forderte im Affekt<br />
ein Lastwagenverbot auf Autobahnen, weil ein<br />
Brummi-Elefantenrennen seinen Dienstwagen<br />
mal am Überholen gehindert hatte. Solche Meriten<br />
stellt er nun in den Schatten mit Kokolores<br />
der Extraklasse – mit einer 43 Seiten<br />
starken Verordnung zur »Liberalisierung der<br />
Kraftfahrzeug-Kennzeichen«. Sein Herzenswunsch<br />
ist die »regionale Identifikation der<br />
Autofahrer«: Städte und Gemeinden sollen<br />
künftig bei Autokennzeichen die freie Wahl haben.<br />
EFW – endlich freie Wahlen! Das Nummernschild<br />
wird zur »lokalpatriotischen Botschaft«.<br />
67125 Dannstadt-Schauernheim<br />
käme auf Wunsch mit DSH, 29468 Bergen-<br />
Enkheim mit BEH, 06425 Chausseehaus Plötzkau<br />
mit CHP und Kleinkleckersdorf mit KKD<br />
groß raus, 06862 Hundeluft mit HUN, 14715<br />
Kotzen mit KOT und 08543 Möse mit MÖS.<br />
Das ist er, der große Schritt zur Freiheit, der<br />
gewiss den Beifall des Bundespräsidenten<br />
Gauck (BPG) finden wird. »Ich erfülle damit<br />
Wünsche vieler Regionen«, so Ramsauer im<br />
Rausch des Eigenlobs.<br />
Bisher gibt es bundesweit 383 verschiedene<br />
Autokennzeichen, aber 11 200 Städte und Gemeinden.<br />
Es ist also noch viel Luft nach oben.<br />
Freuen wir uns auf den bevorstehenden Kennzeichenwirrwarr<br />
(KZW). Bald wird das gute,<br />
alte Kennzeichenraten (KZR) während der Autofahrt<br />
erst richtig Spaß machen! Den Erwachsenen<br />
und erst recht den süßen Kleinen.<br />
Denn die haben nun einen Kindskopf an ihrer<br />
Seite, wie sie einen kindischeren in keinem<br />
Sandkasten finden könnten.<br />
Ernst Röhl<br />
36 EULENSPIEGEL 10/12
Anzeige
Fremde Völker<br />
Schunkeleisprung im Oktober<br />
lose mancherlei Geschlechts hocken dort an<br />
schmalen Tischen auf schmalen Bänken und lassen<br />
– freudig, wie es scheint – die chemische<br />
Folter über sich ergehen. Die Enge ist so drangvoll,<br />
dass in diesen Notunterkünften jährlich binnen<br />
weniger Nächte einige hundert Schwangerschaften<br />
entstehen (Eisprung infolge Schunkelns,<br />
die sogenannte Sekundenerektion beim Aufspringen<br />
mit dem Ruf »Oans, zwoa, gsuffa!«).<br />
Ein wichtiger Faktor der psychologischen<br />
Kriegs führung gegen die Münchner Einwohnerschaft<br />
ist dabei der Lärm, der durch Blechblasinstrumente<br />
in kaum gekannter Brutalität von einer<br />
patriotisch (blau-weiß) verzierten Bühne herab<br />
erzeugt wird.<br />
Schließlich ist die Urteils- und Handlungsfähigkeit<br />
des menschlichen Materials derart beeinträchtigt,<br />
dass man mit einer Freude, als ginge<br />
es gegen Stalingrad, »Ein Prosit der Gemütlichkeit«<br />
grölt. Dazu rammt man sich gegenseitig<br />
die Ellbogen in die Seiten und kübelt die Nachbarn<br />
mit einer Mischung aus Bier und Kotze voll.<br />
Hunderttausende Freiwillige aus aller Welt nutzen<br />
das Oktoberfest zu kultureller Weiterbildung<br />
im Land von Goethe, Schiller und Florian Silbereisen.<br />
Endlich können sie sich ohne Aufsicht von<br />
Mutti mal so richtig zulitern.<br />
Es herrscht Kostümpflicht. Je peinlicher die<br />
Aufmachung, umso weiter war die Anreise. Die<br />
Damen quetschen ihre Weichteile in putzige<br />
Dirndl, die Herren tragen »Lederhosn« – eine regionaltypische<br />
Uniform, eigens dafür erfunden,<br />
dass der Mann jederzeit durch die Hosenbeine<br />
und das »Hosntürle« unkompliziert Zugriff auf<br />
sein Gemächt hat – dazu dämliche Filzhüte.<br />
Nach geraumer Zeit und einigen Litern Hopfensuppe<br />
lassen die Münchnerinnen und Münchner<br />
das Wasser unter sich, teils aus Tradition,<br />
Wer bis dato glaubte, die Stars volksgemeinschaftlicher<br />
Musik und deren Fans würden in geheimen<br />
Labors gezüchtet, fernab der Zivilisation,<br />
unterirdisch in der Kalahari, der irrt. Es ist viel<br />
grausamer: Die ekelhaftesten Menschenversuche<br />
zur Herstellung dieser gutmütigen, anspruchslosen<br />
und konsumfreudigen Spezies der Gattung<br />
Homo hellwigensis finden in aller Öffentlichkeit<br />
statt. Hauptstadt dieser Bewegung ist München<br />
– die Münchner sind geübt darin zu kommen,<br />
wenn man sie ruft. Man könnte sie auch einfach<br />
einziehen, zum Arbeitsdienst oder zur Hitlerjugend,<br />
doch man lockt sie, und zwar in jedem<br />
Oktober und allein mit dem Versprechen, »eine<br />
Mordsgaudi« zu erleben.<br />
Und schon kommen die arglosen Eingeborenen<br />
aus ihren Gehäusen, man interniert sie auf<br />
einem Freigelände unter Zeltbahnen. Dort hocken<br />
sie zu Hundertschaften und löten sich bei Spülwasser<br />
mit Hopfenaroma für knapp zehn Euro<br />
(das wären 20 D-Mark!) pro Liter den Helm zu.<br />
Erstaunlich ist: Niemals regte sich Widerstand<br />
gegen diese menschenrechtsverletzende Behandlung,<br />
kein Wort des Protestes wurde jemals<br />
laut, nicht einmal Bittbriefe an den Veranstalter,<br />
doch wenigstens einmal von diesem Ritual verschont<br />
zu werden, sind bekanntgeworden.<br />
Im Gegenteil: In kollektivem Hochgefühl freut<br />
sich das indoktrinierte Volk schon so sehr auf<br />
dieses widerwärtige Spektakel, dass sich der<br />
schirmherrliche Oberbürgermeister Ude vom<br />
Mob gezwungen sieht, bereits im September das<br />
erste Fass anzustechen. So hofft er, Tumulte und<br />
Durst-Revolten mit Sturm auf die Feldherrnhalle<br />
zu vermeiden. Mit den magischen Worten<br />
»O’zapft is« eröffnet er die allgemeine Druckbetankung.<br />
Dann ist kein Halten <strong>mehr</strong>. Unter dem<br />
Motto »Occupy Wiesn« stürmen sieben Millionen<br />
Carolin-Reiber- und »Original Naabtal Duo«-<br />
Klone das Versuchsgelände auf der Münchner<br />
Theresienwiese. Dabei handelt es sich um einen<br />
riesigen Parkplatz, der zur Wahrung des schönen<br />
Scheins (damit das Gericht für Menschenrechte<br />
in Den Haag nicht aufmerksam wird) mit<br />
allerlei Belustigungsgerätschaften getarnt ist. Die<br />
Gehirnwäsche an den Massen findet in 14 schäbigen<br />
Baracken statt, jeweils mit den Ausmaßen<br />
der ehemaligen Deutschlandhalle. 1000 Willen-<br />
teils aus Bedrängnis oder aus Trägheit, oder weil<br />
der Alkohol dem Großhirn das Recht dazu gibt.<br />
Deshalb <strong>müssen</strong> einige Baracken bereits um<br />
23:30 Uhr feuerpolizeilich geschlossen werden<br />
(Ammoniakvergiftung und Rutschgefahr!).<br />
In die Nacht entlassen, greifen nun<strong>mehr</strong> schwer<br />
schwankende Männer in ihre Lederhosen und<br />
versuchen alles, was noch warm ist und lallen<br />
kann, zu begatten. Schließlich werden die beleidigten,<br />
vergifteten, erniedrigten, gehörgeschädigten<br />
Probanden dieses massenhaften Tierversuchs<br />
einfach vom Gelände geschubst.<br />
Den Preußen – und das sind alle nördlich der<br />
Donau – erinnern diese depravierten Rituale und<br />
niedrigen Reflexe an die überfüllte Holzklasse<br />
der Berliner S-Bahn, werktags gegen 18:00 Uhr<br />
zwischen Alexanderplatz und Ostkreuz bei<br />
30 Grad Celsius, eingeklemmt zwischen verschwitzten<br />
Frotteuren, Exhibitionisten und dem<br />
Fettgewebe klimaktöser Damen. Wenn es dazu<br />
noch Bier und zünftige Musi gäbe, dann wäre<br />
die Berliner S-Bahn ein schöneres Oktoberfest,<br />
als es die Münchner je gesehen haben.<br />
Anke Behrend<br />
Hannes Richert<br />
38 EULENSPIEGEL 10/12
Kalender<br />
blatt<br />
Heute vor 210 Jahren weilte Beethoven, weil er sich von den mineralhaltigen Quellen des Bades Heilung eines halben Schocks Krankheiten versprach,<br />
zur Kur in Heiligenstadt. Eines Tages ging er im Kurpark fürbass und musste den Spott zweier Buben ertragen. Es grämte ihn, dass er nicht hören<br />
konnte, was sie sangen bzw. riefen, er tippte auf Taubheit dritten Grades. Von dunklen Ahnungen getrieben, eilte er in die Ferienwohnung und schrieb<br />
in einem Zuge, als sei es die Fidelio-Overtüre, sein »Heiligenstädter Testament« nieder, lebte jedoch weitere 25 Jahre, verstarb nach der »Neunten«<br />
und viel Rotwein, wie Kenner seiner Musik zu wissen meinen.<br />
Zeichnung: Barbara Henniger<br />
EULENSPIEGEL 10/12 39
Der Deutsche an sich neigt selten<br />
zu Revolten. Und wenn sie<br />
dann doch mal kommen, ist er danach<br />
meist noch jahrelang eingeschnappt.<br />
So haben sich die Deutschen<br />
vom letzten Krawall im Jahre<br />
’89 bis heute nicht erholt, und zwar<br />
weder im Osten noch im Westen.<br />
Umso seltsamer wird es, wenn<br />
ganz heimlich und hintenrum doch<br />
noch mal was Revolutionäres passiert<br />
wie in der Stadt Potsdam. Sie<br />
döste in den neunziger Jahren nichts -<br />
ahnend vor sich hin – also mit Augen<br />
geradeaus und Stillgestanden,<br />
wie man in Preußen eben so döst –<br />
als dort ein unbeschäftigter Revolutionär<br />
aus dem Zug fiel. Er hieß natürlich<br />
nicht Lenin, sondern Gün ther<br />
Jauch. Unauffällig schaute er sich um<br />
und erblickte mächtig viele Häuser<br />
mit lauter Gegend drumrum. Das<br />
war schön anzusehen. Und noch<br />
schöner würde es anzusehen sein,<br />
wenn einem die Häuser mitsamt Gegend<br />
auch noch gehörten, dachte<br />
unser Günther und machte sich,<br />
ganz Revolutionär, daran, als erstes<br />
in der schnarchenden Stadtverwaltung<br />
aufzuräumen und das herumliegende<br />
Knüllpapier so lange glattzubügeln,<br />
bis lauter hübsche Grundbuchauszüge<br />
daraus geworden waren.<br />
Da standen zwar nur Zahlen<br />
und Flurstücke drauf, aber o Wunder:<br />
Aus all den seltsamen Amtshieroglyphen<br />
wurden am Ende Anwesen<br />
über Prachtbauten, und der Erwerb<br />
von Sanssouci scheiterte wahrscheinlich<br />
nur daran, dass irgendeinem<br />
Beamten gerade die Stempelfarbe<br />
ausgegangen war. Ob der <strong>Alte</strong><br />
Jauch heute <strong>mehr</strong> von Potsdam sein<br />
Eigen nennt als seinerzeit der <strong>Alte</strong><br />
Fritz, kann man allerdings nicht feststellen,<br />
denn der gute Günther verfolgt<br />
gute Grundbuchrecherchen mit<br />
guten Anwälten. Fest steht, dass ihm<br />
von Anfang an eine Villa am Heiligen<br />
See mit Schlossblick, Wassergeplätscher<br />
und sämtlichem Trallala<br />
gehörte, das sich ein zugereister<br />
Weltverbesserer nur wünschen<br />
konnte. Vor lauter Freude ging unserem<br />
Günther damals erst das Herz<br />
und dann das Portemonnaie auf:<br />
Großzügig spendierte er sich selbst<br />
noch einen Neubau, dessen öde Trutzigkeit<br />
auch gut in den Westwall ge-<br />
Potsdam<br />
passt hätte, und dem ollen Marmorpalais<br />
gegenüber einen neuen An-<br />
Sie jetzt aber gedacht!), fungiert als<br />
Der Mann ist Ostfriese (Das haben<br />
strich. Man will ja nicht immer nur Bürgermeister und wohnt da, wo<br />
auf eine Ruine gucken, selbst wenn alle Potsdamer wohnen – zumindest,<br />
die von Friedrich Wilhelm II. erbaut wenn sie’s sich leisten können: in<br />
wurde – übrigens einem Liederjan, Alexandrowka.<br />
Die J-Klasse *<br />
wie er im Geschichtsbuch steht. Ossi<br />
bleibt eben doch Ossi.<br />
So was würde Günther J. natürlich<br />
nie sagen, denn erstens verbietet<br />
er sich selbst, Derartiges auch<br />
nur zu denken, und zweitens verbietet<br />
es ihm seine bürgerliche Erziehung.<br />
Die aber kommt in Potsdam<br />
so gut an, dass mittlerweile sogar<br />
von einer neuen bürgerlichen Revolution<br />
gemunkelt wird. Nur in netter<br />
Form und ohne Kopf ab.<br />
Nette neue Bürger gibt es jedenfalls<br />
schon genug. Und sie heißen<br />
alle irgendwie mit J: Joop zum Beispiel<br />
– davon hat die Stadt mittlerweile<br />
etliche Kisten voll: Der Modefuzzi<br />
Wolfgang Joop kaufte sich sogar<br />
<strong>mehr</strong>ere Villen, um damit zu zeigen,<br />
wie viel ihm sein Geburtsort<br />
wert ist. Wie viel Euro vor allen Dingen.<br />
Seinen Töchtern Florentine und<br />
Jette Joop gehören dagegen<br />
große Teile eines Guts in Bornstedt,<br />
um welches sich die<br />
gesamte Sippe zuvor lautstark<br />
gestritten hatte. Womit<br />
bewiesen wäre, dass<br />
unter »nette neue Bürger«<br />
doch jeder was anderes<br />
versteht.<br />
Bei Jann Jakobs, einem<br />
weiteren Zuzügler aus der<br />
J-Klasse, verzichten<br />
wir deshalb auf<br />
solche hinterlistigen<br />
Freundlichkeiten<br />
und bleiben<br />
lieber bei den Fakten.<br />
Andere leisten sich dagegen was<br />
anderes: Mathias Döpfner zum Beispiel,<br />
von Beruf Chefspringer, sitzt<br />
in der Weißen Villa am Heiligen See,<br />
seine Übermutti Friede Springer residiert<br />
in einem Potsdamer Stadthaus,<br />
Model Nadja Auermann ließ<br />
sich an der Puschkinallee was im<br />
Stil des französischen Klassizismus<br />
zurechtfalten, Softwaremogul Hasso<br />
Plattner fühlt sich ein bisschen wie<br />
Winston Churchill, dessen ehemalige<br />
Villa am Griebnitzsee er jetzt<br />
bewohnt, und der oberste<br />
BER-Flughafenversager Rainer<br />
Schwarz darf<br />
sich ganz in<br />
der Nähe<br />
auch<br />
mal<br />
wichtig fühlen, wo er doch im Dienst<br />
immer entbehrlicher wird.<br />
Kein Wunder, dass bei so viel Bedeutung<br />
inzwischen schon Neubürgervereine<br />
darüber nachdenken, ob<br />
man die armen Besserbetuchten<br />
nicht irgendwie vor den armen Armen<br />
bzw. »vor dem sich unflätig gebärdenden<br />
Plebs« (Spiegel) schützen<br />
muss. Nötig ist das allerdings<br />
kaum noch, denn die meisten Plebejer<br />
sind längst ausgelagert worden.<br />
Von den alten Potsdamern waren<br />
das 114 000 Leute, also nahezu<br />
die gesamte Einwohnerschaft, und<br />
die letzten verbleibenden Hanseln,<br />
die nicht schnell genug weglaufen<br />
konnten, werden heute sicher in<br />
Schließfächern am Schlaatz oder<br />
Stern verwahrt.<br />
40 EULENSPIEGEL 10/12
Pro vinz<br />
von oben<br />
Und da sollen sie sich mal nicht<br />
über die schöne bürgerliche Revolution<br />
aufregen. 1789 hätte sie das<br />
Bürgertum in Frankreich mit bloßen<br />
noch überflüssiger machen können,<br />
als beide vorher schon<br />
waren? Volker Schlöndorf darf<br />
weiter Blödsinn über die<br />
lage zu sichern. Und Christian Thielemann<br />
weiß schon, warum er sich<br />
nach Feierabend beim Sinfonieorchester<br />
rasch noch auf ein nettes<br />
Händen zum Frühstück gefressen; DEFA schwadronieren,<br />
Potsdamer Seegrundstück dirigiert<br />
heute nimmt es in Potsdam dazu<br />
wenigstens Messer und Gabel.<br />
ohne freilich so blöd<br />
zu sein, sich keine<br />
hat. Auch Anno August Jagdfeld fehlt<br />
Und ist es nicht ein Glücksfall für gute Potsdamer<br />
»Ich kann es mir<br />
die Stadt, wenn sich in ihr<br />
jetzt Koryphäen wie der<br />
Bild-Kommandeur<br />
Kai Diekmann oder<br />
die zugezogene<br />
Hupfdohle<br />
Desiree<br />
Nick<br />
Wohn-<br />
leisten, und es bleibt<br />
in der Familie.«<br />
Günther Jauch im Spiegel<br />
über seine Potsdamer<br />
Immobiliensammlung<br />
nicht: Der Immobilienfiffi hat zwar<br />
das Grandhotel Heiligendamm in<br />
eine veritable Pleite geführt, wuss -<br />
te sich selbst aber noch uner -<br />
schro cken mit einer netten<br />
Potsdamer Wasserimmobilie<br />
auf dem<br />
belohnen.<br />
Stinthorn zu<br />
Auch Ulrich<br />
Meyer und<br />
Georgia Tornow erstanden hier von<br />
den Fernsehtoten wieder auf – als<br />
gutgelaunte Villenbewohner der Berliner<br />
Vorstadt.<br />
So sind sie, Potsdams weltberühmte<br />
und wohlerzogene Neubürger.<br />
Sie lassen Wohltaten vom Himmel<br />
regnen wie das Fortunaportal<br />
vom Stadtschloss, mit denen sie<br />
dann solange Druck auf die Politik<br />
machen, bis selbst der Ministerpräsident<br />
nur noch eilfertig nicken kann.<br />
Manchmal simulieren sie auch revolutionäre<br />
Aufmärsche wie unlängst<br />
wegen Plattners Kunsthalle, als sie<br />
sogar so taten, als würden sie das<br />
alte Mercure-Hotel in die Luft jagen.<br />
Zum Schluss aber fehlte Plattner<br />
selbst der rechte revolutionäre Elan,<br />
und er winkte nur ab, woraufhin alle<br />
friedlich nach Hause gingen.<br />
Und wenn den Revolutionären<br />
doch noch mal einer den Vogel zeigt<br />
und nicht dankbar sein will oder sich<br />
weigert, mit in den allgemeinen Lobgesang<br />
einzustimmen? Dann erwacht<br />
in ihnen vielleicht doch der<br />
Robespierre, und sie holen die Guillotine<br />
raus. Die Potsdamer Querulanten<br />
sollten sich jedenfalls vorsehen!<br />
Utz Bamberg<br />
Zeichnung: Reiner Schwalme<br />
*<br />
EULENSPIEGEL 10/12 41
Knut ist gut<br />
Als vor zehn Jahren der gemeine Hartzi entstand, ahnte<br />
Knut K. – damals noch in der JVA Tegel sorglos versorgt –<br />
nicht, dass auch er einmal diesen Beruf ergreifen würde.<br />
Heute ist K. Deutschlands treuester ARGE-Kunde – und<br />
glücklich dazu. EULENSPIEGEL sprach mit dem Selfmade-<br />
Aufsteiger.<br />
Knut, Sie tragen eine Schweizer<br />
Uhr, Maßanzug und eine<br />
Blondine unterm Arm. Gehen<br />
Sie der Schwarz-… äh der<br />
Nachtarbeit nach?<br />
I wo! Das sähe die Arge gar<br />
nicht gern! Die Uhr, der Anzug,<br />
die Nutte – damit kleide ich<br />
mich für den Kundenkontakt.<br />
Nach Feierabend bin ich ein<br />
nackter Mann, dem niemand<br />
in die Taschen greifen kann.<br />
Die Villa, der Maserati, der<br />
Learjet … alles Betriebsausgaben?<br />
Beim Jobcenter firmiere ich als<br />
Berater für Urban Gardening.<br />
Ja, da kiekt ihr blöd, wa! Noch<br />
nie was von der Transition-<br />
Town-Bewegung gehört?<br />
Sind das nicht die Irre gelei te -<br />
ten, die auf innerstädtischen<br />
Brachen und verseuchten Böden<br />
in Konservendosen Bio-<br />
Petersilie anbauen? Oder meinen<br />
Sie das Yuppie- und Hipster-Gesindel<br />
auf dem Prenzlauer<br />
Berg, das sich ein Gewächshaus<br />
auf die Terrasse<br />
des Penthouses setzt und unter<br />
Kunstlicht Bonsaizucchini<br />
und Cocktailmelonen züchtet<br />
– mit Ökostrom und Mineralwasser<br />
aus dem Lidl-Markt,<br />
versteht sich?<br />
Genau die meine ich. Ich bin<br />
Experte für den urbanen Kräutergarten,<br />
für den Anbau orientalischer<br />
Gewächse in der<br />
Berliner Stadtlandschaft. Ich<br />
helfe den Yuppies und Geldproleten,<br />
Hasch, Kokasträucher<br />
und Schlafmohn wachsen<br />
zu lassen. Und das alles<br />
völlig legal, denn ich berate<br />
ja nur, installiere die Anlage<br />
und empfehle Samenhändler<br />
in Österreich und den Niederlanden.<br />
Säen, Hegen und Ernten<br />
<strong>müssen</strong> der Investmentbanker,<br />
der EULENSPIEGEL-<br />
Chefredakteur und der Herr<br />
Professor schon selbst.<br />
Und das Jobcenter spielt da<br />
mit?<br />
Ich bin ein verlässlicher Abnehmer<br />
von Langzeitarbeitslosen.<br />
Aber nur von solchen<br />
mit dem Eintrag »Verstoß gegen<br />
das Betäubungsmittelgesetz«<br />
im Führungszeugnis.<br />
Fachleute sollten sie schon<br />
sein.<br />
Und wenn sich plötzlich der<br />
Staatsanwalt für Sie interessiert?<br />
Dann mache ich den Laden<br />
dicht und verziehe mich auf<br />
mein Anwesen in Malibu.<br />
Ha, ha, da <strong>müssen</strong> wir aber<br />
doch mal lachen – mit welchem<br />
Geld denn?<br />
Da verkaufe ich dem Staat<br />
mal was: Ich habe da eine<br />
dichtgepackte CD mit den Daten<br />
meiner Kunden aus<br />
Politik, Medien, Wirtschaft<br />
und Kirche.<br />
Sadhu van Hemp<br />
Nomen est omen<br />
Welchen Namen gebe der Einrichtungen, der<br />
ich meinem Kind? – Eine Rest ist zum militanten<br />
Frage, die werdende Eltern<br />
Islam konvertiert. Die<br />
umtreibt. Recht so! Kevins in Afghanistan<br />
Denn vom Vornamen heißen Walid.<br />
geht eine prägende Mein Urologe heißt<br />
Kraft auf die frühkindliche<br />
übrigens Johannes! Zu-<br />
Entwicklung aus. fall? Für die Vornamen-<br />
Zudem ist er ein Fingerzeig<br />
findung <strong>müssen</strong> oft Prokunft.<br />
auf die soziale Herminente<br />
herhalten.<br />
Dies machen sich Kürzlich beobachtete ich<br />
u. a. Lehrer zunutze: eine Frau in einer Bar<br />
»Kennst du einen Kevin, beim Frustsaufen. »Jim<br />
kennst du alle« – diese Beam?«, vermutete ich.<br />
Maxime aus den Neunzigern<br />
»Nein!«, sagte sie, »der<br />
gilt heute für die geht doch noch in den<br />
Justins. Die Kevins von Kindergarten. Jimmy<br />
damals trifft man fast Blue, meinen Ältesten,<br />
gar nicht <strong>mehr</strong> – die haben die Bullen eingebuchtet.«<br />
meisten befinden sich in<br />
der Obhut entsprechen-<br />
Guido Pauly<br />
Kamagurka<br />
Matthias Kiefel<br />
Der Preisträger<br />
Es war eine gute Idee von<br />
Willi gewesen, sämtliche<br />
Post auf die Adresse seiner<br />
alten Mutter umzuleiten.<br />
Und gut ist, dass er alle<br />
sechs Wochen bei ihr badet.<br />
Sonst hätte ihn der Brief des<br />
Energieunternehmens nie<br />
erreicht. Jetzt aber sitzt er<br />
im <strong>Alte</strong>n Rathaus der Stadt<br />
Bonn in der ersten Reihe, bekleidet<br />
mit einem grün-braunen<br />
Pullover, der einmal<br />
weiß war, löchriger Hose<br />
und abgelatschten Sandalen,<br />
aus denen schwarze Zehen<br />
lugen. Der Geruch Mar -<br />
ke »Pumakäfig« breitet sich<br />
aus. Doch der scheint den<br />
Anwesenden zu gefallen.<br />
Schon als er den Saal betrat,<br />
wurde Willi von vielen Leuten<br />
für sein ökologisches<br />
Outfit achtungsvoll gemustert.<br />
Nun gibt es eine Laudatio<br />
von Claudia Roth –<br />
und da begreift Willi, dass<br />
er als »Energieeffizienz-<br />
Preis träger« ausgezeichnet<br />
wird. Für zehn Jahre Leben<br />
ohne Strom! Als Frau Roth<br />
seine Hand loslässt, ihren<br />
freundlichen Blick vom Blitzlichtgewitter<br />
zu ihm wendet<br />
und fragt, was er denn mit<br />
dem vielen Preisgeld anstellen<br />
wolle, weiß er die Antwort<br />
sofort: »Strom, endlich<br />
wieder Strom, die letzten<br />
zehn Jahre waren schlimmer<br />
als die Seuche!«<br />
GP<br />
42 EULENSPIEGEL 10/12
Nur keine Angst!<br />
Es scheint, als ob wir<br />
Sachsen unserer Freude<br />
nur schwerlich Ausdruck verleihen<br />
könnten. Nicht-Sachsen<br />
glauben oft, dass wir mit<br />
der Bratpfanne geweckt werden<br />
– so niedergeschlagen<br />
klingen wir. Wenn wir ein<br />
»frouhes neies Joahr« wünschen,<br />
»frouhe Ousdoarn«<br />
und »frouhes Weihnochdn« –<br />
dann hört sich das an, als<br />
würden wir weinen.<br />
Schuld daran ist unser O.<br />
Im Gegensatz zum deutschen<br />
Durchschnitts-O, das sich locker<br />
& leicht den Lippen entwindet,<br />
muss unser O einen<br />
fürchterlichen Leidensweg<br />
durch die sächsische Gusche<br />
durchschreiten, sich brutal<br />
Der Ou-Sound<br />
durch die Zähne einer verspannten<br />
Kinnlade pressen<br />
lassen, bis es an die frische<br />
Luft kann.<br />
Ganz hinten im Hals darf<br />
das O noch O sein. Am Ende<br />
wird es als heulender, depressiver<br />
Ou-Laut erbrochen.<br />
Wörter, wie »Mouduoor«,<br />
oder erst recht »Oddoumouduoor«<br />
(nach seinem Erfinder,<br />
dem Herrn Otto), sind Solitäre<br />
der deutschen Phonetik!<br />
Meine Cousine macht jetzt<br />
(endlich!) eine Diät, die sich<br />
wie eine einzige Marter anhört.<br />
Sie ernährt sich mit<br />
»broubioudischem Drinkjoughoord«.<br />
Und keiner kann ihr<br />
helfen!<br />
Torsten Riedel<br />
Man findet mich seltsam<br />
– dabei führe ich ein normales<br />
Leben! Wegen meiner<br />
manifesten Optophobie<br />
1 lasse ich mich, sollte<br />
ich aus Versehen eingeschlafen<br />
sein, frühzeitig<br />
wecken, vor dem ersten<br />
Hahnenschrei aus Nachbars<br />
Garten. Denn meine<br />
Alektorophobie 2<br />
zwingt<br />
mich, rechtzeitig das<br />
Fenster zu schließen. Automysophobisch<br />
3 wie ich<br />
bin, dusche ich täglich,<br />
schon wegen meiner akuten<br />
Bromidrosiphobie 4 .<br />
Dabei trage ich allerdings<br />
einen Neoprenanzug, um<br />
mich vor einem aquaphobischen<br />
5 Anfall<br />
zu<br />
schützen.<br />
Dann das<br />
Frühstück – die wichtigste<br />
Mahlzeit<br />
am<br />
Tage!<br />
Wenn<br />
man, wie<br />
ich,<br />
leicht<br />
sitiophobisch 6<br />
veranlagt<br />
ist, kann es jedoch zur<br />
Qual werden. Besonders<br />
die Arachibutyrophobie 7<br />
lässt mich gewisse Brotaufstriche<br />
meiden. Aber<br />
was soll ich sonst essen?<br />
Meine Se plopho bie 8 –<br />
eine Folge der Kriegs -<br />
erlebnisse – ist daran<br />
schuld, dass man meinen<br />
Kühlschrank »sehr übersichtlich«<br />
nennen könnte.<br />
Wie jedermann ver -<br />
lasse auch ich das Haus<br />
am liebsten bei schönem<br />
Wetter. Dass ich bei Regen<br />
regelmäßig den DRK-<br />
Rettungsdienst alarmiere,<br />
mag man übertrieben finden<br />
– es liegt aber nur an<br />
meiner genetisch bedingten<br />
Pluviophobie 9 . Schon<br />
mein Vater litt darunter,<br />
bei mir kam aber noch<br />
eine schreckliche Tonitrophobie<br />
10<br />
dazu, die dazu<br />
führt, dass ich bei Gewitter<br />
einnässe (ganz nor -<br />
mal für dieses Krankheitsbild).<br />
»Auf Regen folgt<br />
Sonne« – diesen Spruch<br />
verabscheue ich. Das<br />
wird jeder verstehen, der<br />
einmal eine hand feste<br />
Phengophobie 11<br />
durchgemacht<br />
hat.<br />
Ich bin sowieso lieber<br />
zu Hause. Meine pogonophobischen<br />
12 Schübe machen<br />
es mir unmöglich,<br />
mich gelöst in der Öffentlichkeit<br />
zu bewegen (und<br />
es gibt auch bärtige<br />
Frauen!). Außerdem entgehe<br />
ich so meinen<br />
schrecklichen uranophobischen<br />
13 Phantasien.<br />
Fußgängerzonen sind<br />
mir eigentlich angenehm,<br />
schon wegen meiner Ocho -<br />
Marian Kamensky<br />
pho bie 14 . Allerdings gibt<br />
es Fußgängerbereiche, in<br />
denen Straßenbahnen<br />
fahren, was bei mir regelmäßig<br />
einen siderodromophoben<br />
15 Anfall auslöst.<br />
Darum sitze ich oft zu<br />
Hau se. Aber da kommen<br />
die Erinnerungen – das ist<br />
nichts für einen Mnemophobiker<br />
16 . Ich lebe a l-<br />
lein, seit meine einstige<br />
Schwie germutter mich in<br />
eine syngenesophobische<br />
17<br />
Episode trieb. Die<br />
Venustraphobie 18 , die mir<br />
endlich bewusst geworden<br />
ist, schützt mich vor<br />
leichtsinnigen Verbindungen.<br />
Meine Art, mich zu<br />
klei den, schreckt außerdem<br />
Frauen ab. Feinen<br />
Zwirn oder einen schnöden<br />
Pullover an einer<br />
Vestiphobie 19<br />
vorbei zu<br />
schmug geln, ist nahezu<br />
unmöglich. Ich verbiete<br />
mir regelrecht, Frauen hinterherzuschauen.<br />
So halte<br />
ich meine Medeco pho -<br />
bie 20<br />
einigermaßen im<br />
Griff. Meine Virginitiphobie<br />
21 hat sich leider bisher<br />
als völlig grundlos erwiesen.<br />
Also, eigentlich alles in<br />
Ordnung. Wenn da nicht<br />
meine latente Zemmiphobie<br />
22 wäre. Sie lässt mich<br />
schier verzweifeln. Manchmal<br />
denke ich sogar an<br />
Suizid. Glücklicherweise<br />
bin ich aber so stark an<br />
Thanatophobie 23 erkrankt,<br />
dass es noch nicht dazu<br />
gekommen ist.<br />
1 Angst, die Augen zu<br />
schließen<br />
2 Angst vor Hühnern<br />
3 Angst, schmutzig zu<br />
sein<br />
4 Angst vor Körpergeruch<br />
5 Angst vor Wasser<br />
6 Angst vor Nahrungsmitteln<br />
allgemein<br />
7 Angst, dass Erdnussbutter<br />
am Gaumen<br />
kleben bleibt<br />
8 Angst vor Fäulnis<br />
9 Angst vor Regen<br />
10 Angst vor Donner<br />
11 Angst vor Sonnenschein<br />
12 Angst vor Bärten<br />
13 Angst vor dem Himmel<br />
14 Angst vor Fahrzeugen<br />
15 Angst vor Schienen<br />
16 Angst vor Erinnerungen<br />
17 Angst vor Verwandten<br />
18 Angst vor schönen<br />
Frauen<br />
19 Angst vor Kleidung<br />
20 Angst, eine Erektion<br />
sähe man an der<br />
Beule in der Hose<br />
21 Angst vor Schändung /<br />
Vergewaltigung<br />
22 Angst vor Maulwürfen<br />
23 Angst vorm Sterben<br />
Henning Wenzel<br />
EULENSPIEGEL 10/12 43
Anzeige
Markus Lanz, der smarte Junge mit den glattgewichsten<br />
Grinsebäckchen, hegt offenbar einen<br />
verwegenen Plan. Kurz vor dem Start der ersten<br />
Wetten, dass ...?-Show ohne richtigen Showmaster<br />
wird der Saubermann vom Dienst frech. Mit<br />
seinem gekonnten Schlag gegen den Altmeister<br />
Gottschalk wagte er das Unfassbare. Einer Zeitung<br />
sagte er: »Ich bin mir ganz sicher, dass er<br />
Wetten, dass …? schaden will.« Eine naheliegende<br />
Vermutung – denn Gottschalk produziert sich<br />
zeitgleich mit Lanzens Wetten, dass …? bei RTL.<br />
Aber so was sagt man doch nicht!<br />
Nachdem seine Frau die Koffer gepackt und<br />
ihm Gütertrennung angedroht, die Mutter ihn enterbt<br />
und der Sendechef die Espressomaschine<br />
aus seinen Büro entfernen lassen hat, kamen<br />
dem dreisten Wüterich Zweifel, und er verwünschte<br />
im Stillen seinen Todesmut und seine<br />
seit der Kindheit in ihm pochende Neigung zu<br />
denken, dass er den Größten hat und der Größte<br />
ist. Plötzlich war er wieder das feige, hinterhältige<br />
Würstchen, als das wir ihn kennen, und bereute<br />
tief: Jemand habe ihm aus jenem Satz über<br />
den großen Gottschalk das »nicht« geklaut! Tja,<br />
die Leute stehlen ja alles, was nicht niet- und<br />
nagelfest ist. »N i c h t schaden wolle«, müsse<br />
es heißen.<br />
Dass Nichts wegkommen, geschieht häufiger,<br />
als allgemein angenommen. Viele Aussagen der<br />
Weltgeschichte müssten in diesem Lichte noch<br />
einmal überprüft werden: Seit 5:45 Uhr wird nicht<br />
zurückgeschossen, niemand hat nicht die Absicht,<br />
eine Mauer zu errichten, wer nicht zu spät kommt,<br />
den bestraft das Leben bzw. wer zu spät kommt,<br />
den bestraft das Leben nicht, vielen wird es nicht<br />
besser gehen, keinem schlechter usw.<br />
Lanz kam noch mal mit einer Bremsspur im<br />
Armani-Anzug davon. Aber vielleicht ist die ganze<br />
Nummer nur Teil einer Selbstinszenierung, mit<br />
der Lanz endlich seinen schlechten Ruf als<br />
Schwiegermutters Liebling loswerden will – er<br />
will ein Ekel werden. Schließlich kam der Gottschalk<br />
mit seiner Großfresse auch ganz nach<br />
oben. »Jetzt mach ich mal auf Badboy«, muss<br />
Lanz gedacht haben. Und ging ins Studio, und<br />
zwar um die Markus Lanz vom 5. September zu<br />
moderieren.<br />
Jürgen Trittin ließ sich protestlos neben Dieter<br />
Thomas Heck platzieren. Neben diesem fanden<br />
sich die wohl unbekanntesten und völlig überflüssigen<br />
ZDF-Moderatorengesichter Micky Beisenherz<br />
und Joachim Llambi ein. (Diese beiden<br />
werden in Kürze das ZDF mit einer Neuauflage<br />
der Sechziger-Jahre-Show Die Pyramide blamieren.)<br />
Daneben hockte eine Petra Joy, Regisseurin<br />
und Produzentin (wie es auf der ZDF-Presseseite<br />
heißt). Tatsächlich dreht die Lady Pornos.<br />
Mit Niveau, versteht sich! Der letzte im Stuhlkreis<br />
ist der Soap-Senior aus Gute Zeiten<br />
schlechte Zeiten Wolfgang Bahr.<br />
Diese illustere Runde will Herr Lanz nun aufmischen.<br />
Frech, provokant, subversiv und ironisch<br />
– ein Tausendsassa aus dem ZDF-Selbstbaukasten.<br />
Und ganz der Gottschalk eben. »Herr<br />
Trittin, mögen Sie sich selber?« Oi, das hat gesessen!<br />
Zufrieden sucht Lanz Blickkontakt zur<br />
Kamera. »Ja, ich komm gut klar mit mir«, antwortet<br />
der eiskalte Hund, seit geschätzten 40<br />
Jahren im Politikgeschäft. »Wann haben Sie sich<br />
das letzte Mal über sich geärgert?«, giert Lanz<br />
weiter. Er hofft, Trittin würde nun über seine<br />
Kanzlerkandidatur aussagen. Doch welche Überraschung,<br />
»über einen misslungenen Fischtopf«<br />
hat er sich gegrämt. Und schon ist die Luft raus.<br />
Markus, der dreiste Klassenprimus, ist sichtlich<br />
verunsichert, findet keine Anschlussfrage und<br />
muss Rettung beim alten Heck suchen: »Wann<br />
würden Sie die Grünen wählen?« Aber Heck denkt<br />
nicht daran, dem Buben aus der Patsche zu helfen.<br />
Da spürt Lanz es siedend heiß: Es ist höchste<br />
Zeit für ein paar Tittenwitze!<br />
Ob der Trittin, der olle Zausel, als Darsteller<br />
für Sie in Frage käme, wanzt er sich an die Pornotante.<br />
Sie sagt »ja«, und keiner lacht. Die Sendung,<br />
vermutet man, ist damit schon an ihrem<br />
furchtbaren Ende. Doch Lanz hat ein Ass im Ärmel:<br />
Ein Einspieler zeigt, wie Trittin einer knackigen<br />
Parteifreundin auf den Hintern stiert. Erwischt,<br />
freut sich Lanz, denn das Leben beweist<br />
ja: Wer einer Frau auf den Hintern schaut, ist ein<br />
Pornowicht. Doch Trittin bleibt unbeeindruckt,<br />
und das Publikum auch.<br />
Dann ist Heck dran. Der soll erzählen, wie er<br />
von seinen verarmten Rentnerkumpels angepumpt<br />
wird. Aber ach, da hat wohl jemand ein<br />
Fern sehen<br />
Als dauernd ein Nicht verschwand<br />
Nicht geklaut: Heck wird gar nicht von seinen<br />
Freunden angepumpt. Wieso auch? Er ist ja völlig<br />
inprominent, seit er in Spanien als Hütchenspieler<br />
lebt. Jetzt ist die Show endgültig tot. Aber<br />
Markus hat noch Sendezeit zu füllen.<br />
Der Soapdarsteller in der Runde, so Lanz eifernd,<br />
soll gesagt haben, bei GZSZ gebe es hinter<br />
den Kulissen <strong>mehr</strong> Sex als davor. Und schon<br />
wieder hat einer ein Nicht geklaut: Dieser Schauspieler<br />
will das nämlich nicht gesagt haben. Lanz,<br />
dieser Lausbub, gibt kokett zu, er habe sich das<br />
ausgedacht.<br />
Nun spielt er mit den beiden schlaffen Nachwuchsmoderatoren<br />
Begrifferaten. Das Wort beginnt<br />
mit »Geschlechts...«. Na, wer weiß es? Der<br />
Heck bekommt Stressflecken. Niemand? Lanz,<br />
ganz Kumpel, hilft: »Anderes Wort für ›bumsen‹!«<br />
Das Studiopublikum beginnt zu kichern, und der<br />
Lanz sieht im Geiste seinen Handabdruck schon<br />
neben dem von Thommy in den Hollywoodboulevard<br />
gepresst. So frech, so wild, so spritzig<br />
fühlt er sich. Die Pornofilmerin soll beschreiben,<br />
was sie beruflich so treibt. »Wir machen alles;<br />
oral und blasen und lecken und vertikal und anal<br />
und in Po, in die Nase und unter Wasser auch.«<br />
Heck schüttelt das Toupet. »Dat hättes bei mir<br />
nischt jejeben.«<br />
Dann ist es Gott sei Dank vorbei.<br />
Wer jetzt noch sagt, der Lanz, das sei der Thomas<br />
Gottschalk von heute und morgen, der tut<br />
dem Herrn Gottschalk wirklich bitter Unrecht.<br />
Felice von Senkbeil<br />
Zeichnung: Andreas Prüstel<br />
EULENSPIEGEL 10/12 45
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Trotz verordneter christlicher<br />
Nächs tenliebe mag der Herr Wichmann<br />
von der CDU den Herrn Meckel<br />
von der SPD zum Teufel gewünscht<br />
haben, als der ihm vor zehn<br />
Jahren beim Wahlkampf in der Uckermark<br />
das Direktmandat für den Bundestag<br />
weggeschnappt hatte. Inzwischen<br />
weiß kaum noch jemand, wer<br />
dieser Markus Meckel eigentlich war<br />
und wo er abgeblieben ist, während<br />
sein einstiger Konkurrent erneut die<br />
Titelrolle eines Andreas-Dresen-Films<br />
spielt. Im liebevoll Kreml genannten<br />
Brandenburger Landtag grüßt<br />
Herr Wichmann aus<br />
der dritten Reihe<br />
Dort hat er nicht viel zu melden, aber<br />
das stört ihn nicht. Ihm genügt<br />
schon, wenn er den gebündelten Protest<br />
gegen eine fragwürdige Polizeistrukturreform<br />
zur Regierungs bank<br />
tragen und mit gebändigter Süffisanz<br />
konstatieren kann, dass die Annahme<br />
des Unterschriftenpakets die<br />
letzte Amtshandlung des gefeuerten<br />
Innenministers Rainer Speer ist. Ansonsten<br />
steht Herr Wichmann seinen<br />
Wählern, und als solche möchte er<br />
am liebsten jeden betrachten, der<br />
ihm über den Weg läuft, freimütig<br />
Rede und Antwort. Darüber zum Beispiel,<br />
wie so ein Landtagtag abläuft:<br />
Applaus von der Regierungs<strong>mehr</strong>heit<br />
für die Redner der Opposition<br />
gibt es so wenig wie umgekehrt, und<br />
ein Vorschlag von der Opposition<br />
wird nur akzeptiert, wenn ihn die Regierungs<strong>mehr</strong>heit<br />
nach einiger Zeit<br />
als ihren eigenen verkauft. Kindergarten<br />
also. Aber der 33-jährige Jurist<br />
verrät auch, dass sich die jungen<br />
Mitglieder aller fünf Fraktionen<br />
regelmäßig treffen, um jenseits allen<br />
Parteiengezänks Probleme zu beraten.<br />
Auf Wunsch einer Schulklasse beziffert<br />
Henryk Wichmann seinen persönlichen<br />
Besitzstand wie folgt: 1<br />
Frau, 3 Töchter, 2 Schildkröten, 4<br />
Häschen, 6 Meerschweinchen, 8<br />
Hühner, 1 Hahn, 1 Skoda. Soviel<br />
kann er sich gerade mal leisten bei<br />
einem Abgeordnetengehalt von<br />
4500,- Euro brutto, von dem nach<br />
sämtlichen Abzügen (einschließlich<br />
Parteizwangsspende und eigenfinanziertem<br />
nächsten Wahlkampf)<br />
ein bisschen <strong>mehr</strong> als Hartz IV übrig<br />
bleibe. Das wirkt so unglaubwürdig<br />
wie die Sache mit dem Regionalzug,<br />
der laut Prignitzer Eisenbahndirektionsdirektive<br />
auf der Station<br />
Vogelsang sicherheitshalber die<br />
Türen nicht öffnen durfte. So kamen<br />
die dort wohnenden Kinder beim<br />
Ein- und Aussteigen nicht zu Schaden,<br />
aber leider auch nicht zur<br />
Schule. Bis Herr Wichmann vermittels<br />
spontan anberaumter, filmdokumentarisch<br />
begleiteter Pressekonferenz<br />
das Sesam-öffne-dich bewirkte.<br />
Dieser Sieg machte ihn mindestens<br />
so stolz wie der über den Schreiadler.<br />
Obwohl das scheue Geflügel<br />
seit Ewigkeiten nahe der Autobahn<br />
friedlich brütet, glaubten militante<br />
Naturschützer, ihm den ungewohnten<br />
Anblick von Radfahrern nicht zumuten<br />
zu können, weshalb der Ausbau<br />
des Radweges Berlin-Usedom<br />
immer wieder abgelehnt wurde.<br />
Nach sage und schreibe achtjährigen<br />
Diskussionen erzwang der Abgeordnete<br />
Wichmann die Zusage unter<br />
der Kompromissbedingung, den<br />
Weg nicht zu asphaltieren, sondern<br />
mit einer wassergebundenen Decke<br />
zu befestigen. Warum? Damit sich<br />
die Frösche beim Spaziergang nicht<br />
die Füße verbrennen und die Eidechsen<br />
beim Sonnenbaden nicht überfahren<br />
werden.<br />
Trotzdem steht bei Herrn Wichmann<br />
immer noch der Mensch im<br />
Mittelpunkt. Das spürt man, wenn<br />
er am Seniorentag den Schleiertänzern<br />
vom Roten Kreuz zujubelt, den<br />
Models von der Volkssoli Komplimente<br />
für ihre quergestreiften Pullover<br />
macht und die Sorgen des alten<br />
Ausbilders um die Uckermärker<br />
Lehrlinge teilt, die ja nicht mal <strong>mehr</strong><br />
»mit die Grundrechenarten« klarkommen.<br />
Wenn sich aber nach einem<br />
langen Arbeitstag die Gelegenheit<br />
bietet, Gast einer Militärparade<br />
zu sein, da mag es stürmen und tosen,<br />
Katzen und Hunde regnen, da<br />
will der Herr Wichmann nur noch<br />
fröhlich sein und singen. Am liebsten<br />
die Nationalhymne. Schließlich<br />
weiß er genau, welche Strophe es<br />
sein darf.<br />
★<br />
Was auch immer der schlaksige<br />
Marko (Lars Eidinger) studiert hat,<br />
jetzt ist er Schriftsteller, denn sein<br />
erstes Buch wurde veröffentlicht.<br />
Wovon es handelt und ob es etwas<br />
taugt, erfährt man nicht. <strong>Immer</strong>hin,<br />
Mutter Gitte (Corinna Harfouch) hat’s<br />
gelesen, und das gleich zweimal.<br />
Markos jüngerer Bruder Jakob (Sebastian<br />
Zimmler) verfügt über ein<br />
abgeschlossenes Studium der Zahnmedizin<br />
sowie über modern ausgestattete<br />
Praxisräume, die noch kein<br />
Patient betreten hat. Ist zwar frustrierend,<br />
macht aber nix. Vater Günter<br />
(Ernst Stötzner) kann Pleiten verkraften.<br />
Er hat seinen (vermutlich<br />
ererbten) Literaturverlag gewinnbringend<br />
verkauft, die Söhne statusgerecht<br />
etabliert, die gemütskranke<br />
Gattin Gitte ist medikamentös<br />
ruhiggestellt, und auch die junge<br />
Geliebte (Birge Schade) verhält sich<br />
still.<br />
Was bleibt?<br />
Die Einberufung des Familienrats.<br />
Vater Günter teilt den Seinen mit,<br />
dass er nun endlich auch mal was<br />
für sich tun will. Eine ausgiebige<br />
Reise nach Jordanien schwebt ihm<br />
vor, um das schon lange geplante<br />
Steige hoch, du<br />
roter Schreiadler!<br />
Buch über die Erzählstrategien bei<br />
den Assyrern und Sumerern zu<br />
schreiben. Da klopft zu aller Überraschung<br />
Mutter Gitte ans Glas und<br />
verkündet nichts Geringeres als ihre<br />
Desertion vom angestammten<br />
Schonplatz. Sie will nicht länger mit<br />
Glacéhandschuhen angefasst und<br />
vor Konflikten bewahrt werden. Sie<br />
ist stark und fühlt sich jeder Krise<br />
gewachsen, und das schon seit zwei<br />
Monaten. Seit sie nämlich die Antidepressiva<br />
abgesetzt hat.<br />
Die doch eigentlich beruhigende<br />
Mitteilung löst Panik aus. Vor allem<br />
bei Vater Günter, der seine Reisebegleitung<br />
ja längst gebucht hat, und<br />
bei Sohn Jakob, der sich im Falle eines<br />
Rückfalls womöglich um die<br />
kranke Mutter kümmern müsste.<br />
Dass Marko seine Mama gern behielte,<br />
um für sein nächstes Buch<br />
wenigstens einen Leser zu haben,<br />
klingt so zynisch wie vorstellbar.<br />
Aber wer in der kleinsten Zelle der<br />
Gesellschaft dermaßen im Wege ist<br />
wie Gitte, hat sein Bleiberecht definitiv<br />
verloren.<br />
Was also bleibt? Der Verdacht,<br />
dass der renommierte Regisseur<br />
Hans-Christian Schmid (Crazy, Lichter,<br />
Requiem) zur Zeit die falschen<br />
Medikamente nimmt.<br />
Renate Holland-Moritz<br />
48 EULENSPIEGEL 10/12
Rahmen handlung<br />
Gerhard Glück<br />
EULENSPIEGEL 10/12 49
Arten vielfalt<br />
Das Praktikantin<br />
Jeder Chef würde sich gerne ein oder zwei Stück Macht. Es muss nicht viel sein, Hauptsache jung,<br />
davon für sein Büro anschaffen, um a) einen großäugig (staunen! bewundern! strahlen!),<br />
Sklaven zu haben, der den Kopierer auslastet weiblich, unbezahlt. Nicht stur, nicht übelnehmerisch,<br />
aber humorbegabt. Denn im Konflikt-<br />
und b) für andere Dinge – denn das Leben ist<br />
ja nicht nur Arbeit und Aufopferung, sondern fall wird das Praktikantin gern gefragt, ob es<br />
auch Schönheit und Spiel!<br />
denn keinen Spaß verstehe, der Herr Sowieso<br />
Fast jedes weibliche Wesen unter 25, oder sagen<br />
wir: sogar unter 30, das tapfer BWL, Afrika-<br />
Das Praktikantin gibt es auch männlich, als<br />
habe eben manchmal so eine direkte Art …<br />
nistik, Medienwissenschaften, internationale Beziehungen<br />
oder sonst was studiert hat und dem Das wird eines Tages unter großen Mühen Vor-<br />
Praktikant. Aber das ist eine freudlose Form.<br />
das BAFÖG-Amt als Gläubiger im Nacken sitzt, stand in einem deutschen Dax-Unternehmen<br />
würde es gern sein – Praktikantin! Fast keine oder Chef einer Anwaltskanzlei. Dem Praktikantin<br />
jedoch stehen ganz andere Wege offen. Z.B.<br />
würde es ablehnen, ihre Bluse für diesen Traumjob<br />
über den Chefsessel zu hängen. Denn Gründe einen um zwanzig Jahre älteren Herrn zu finden,<br />
gibt es viele: Das Praktikantin ist »ganz dicht der eine Finca hat plus Yacht und in Kitzbühel<br />
dran« – am Vorstand, am Chefredakteur, am Urlaub macht. Vorher muss er sich allerdings<br />
Hauptabteilungsleiter, am Präsidenten – an der noch von seiner Gattin trennen.<br />
Das Praktikantin heißt überwiegend Monica,<br />
»hey, du da« oder Fräulein Lewinsky. Es lernt in<br />
den ersten Tagen Essenzielles – wie es sich zu<br />
kleiden, wie es zu duften, wie es den Kaffee zu<br />
machen und was es zu tun hat, wenn die Frau<br />
des Chefs anruft. Es lernt, mit Komplimenten<br />
umzugehen, versehentlichen Körperkontakt<br />
nicht zu tragisch zu nehmen und sich beim Verlassen<br />
des Chefzimmers nicht plötzlich umzusehen.<br />
Es weiß, dass es nicht gerade hässlich ist.<br />
Es hat die Hässlichen sitzen sehen, die sich mit<br />
ihm um die Praktikantenstelle bewarben …<br />
Unklar bleibt, wie diese spezielle Art des »Lehrstuhls«<br />
entstand. Irgendein intelligenter Impresario<br />
muss es fertiggebracht haben, das »Handwerk«<br />
des Praktikantin so interessant an die<br />
Frau zu bringen, dass sich Chefs vor Bewerbungen<br />
für diese Maloche kaum retten können. Es<br />
gibt auch definierte Tätigkeiten (Stellenbeschreibung):<br />
Das Praktikantin macht alles, worauf die<br />
gutbezahlten, festangestellten Mitarbeiter keinen<br />
Bock haben – Bleistifte anspitzen, Toner<br />
auffüllen, aus alten Zeitungen Toilettenpapier<br />
gewinnen oder dem Chef beim Auspacken seiner<br />
Zigarre behilflich sein. Es wird auch gerufen,<br />
wenn es im Frauenklo eine Havarie gibt, damit<br />
es seinerseits den Notdienst ruft. Die Arbeitszeit<br />
des Praktikantin ist mit Begriffen, wie »nach<br />
betrieblicher Anforderung« oder »entsprechend<br />
des Arbeitsablaufes« weit gefasst.<br />
Hat sich das Praktikantin als geschickt erwiesen,<br />
darf es das Kaffeekochen an nachfolgende<br />
Praktikantinnen delegieren oder auf sogenannten<br />
Geschäftsreisen nach Italien und Ungarn dem<br />
Chef und seinen Partnern Gesellschaft leisten.<br />
Bei dieser Gelegenheit wird es oft gefragt, ob<br />
es wisse, was diese Dienstreise »für eine Wertschätzung«<br />
darstelle. Schon allein für solche<br />
Wertschätzungen wagt es nie, nach Entlohnung<br />
zu fragen.<br />
Das Praktikantin wird auf die harte Welt des<br />
Business und auf den Bürostuhl so gut es geht<br />
ganzheitlich vorbereitet. Vielleicht nie wieder<br />
wird es so unmittelbar und brutal cholerischen<br />
Anfällen des Vorgesetzten ausgeliefert sein. Nie<br />
wieder wird es so intensiv erleben, was es heißt,<br />
von langgedienten Mitarbeiterinnen im Klimakterium<br />
bis aufs Blut gemobbt zu werden.<br />
Und der Satz »Sie könnten auch bei Aldi an<br />
der Kasse sitzen oder das städtische Hallenbad<br />
putzen«, wird ihm immer in den Ohren klingen.<br />
Wenn es Glück hat, wird es ihn eines Tages selber<br />
sagen.<br />
Cathleen Held<br />
Collage: Andreas Prüstel<br />
50 EULENSPIEGEL 10/12
Anzeige
Funzel<br />
SUPER<br />
Unverkäuflich – aber bestechlich!<br />
Das Intelligenzblatt für Andersdenkende<br />
Seit der Großen Revolution 89/90 unabhängig vom <strong>Eulenspiegel</strong><br />
Verschleiert<br />
im Revier<br />
Unserem<br />
FUNZEL-<br />
Fotoreporter<br />
reichte es allmählich:<br />
<strong>Immer</strong> wieder<br />
wurde er kritisiert,<br />
weil seine nur mäßig<br />
bekleideten<br />
Damen nur mäßig<br />
bekleidet waren.<br />
Das sollte endlich<br />
ein Ende haben.<br />
Deshalb beschloss<br />
er bei seinem<br />
nächsten Einsatz<br />
größte Vorsicht walten<br />
und keine falschen<br />
Schlussfolgerungen<br />
<strong>mehr</strong> vor<br />
dem geistigen Auge<br />
des Betrachters aufkommen<br />
zu lassen.<br />
Eine Verhüllung<br />
musste her! Schließlich<br />
hatte schon<br />
Christo damit beste<br />
Erfahrungen gemacht,<br />
als er vor Jahren das<br />
deutsche Parlament<br />
unter einem Haufen<br />
Stoff versteckte und<br />
alle Deutschen sich<br />
wohler fühlten als<br />
vorher.<br />
Gesagt, getan.<br />
Schnell hatte er auch<br />
die alleinstehende Revierförsterin<br />
Petra M.<br />
aus Waldesruh davon<br />
überzeugt, dass die<br />
Marktwirtschaft lehrt:<br />
Eine zünftige Verpackung<br />
kann durchaus die Absatzchancen<br />
verbessern!<br />
Hui, wie staunten da die<br />
Bäume, als ihnen plötzlich<br />
ein paar luftige Zipfel<br />
um den Stamm wehten!<br />
Alle Gräser drehten sich<br />
um, und die Ameisen bauten<br />
sogar große Haufen,<br />
nur um einen besseren<br />
Ausblick zu haben. Das<br />
ganze Revier war begeistert,<br />
und Fräulein Petra wäre<br />
bestimmt auf der Stelle zur<br />
Oberforsträtin befördert worden,<br />
wenn die harmonische<br />
Szene nicht ein abruptes<br />
Ende gefunden hätte.<br />
Mit lautem Wutgeschrei<br />
näherte sich nämlich von hinten<br />
die Gattin unseres Reporters.<br />
(Aus Sicherheitsgründen<br />
nicht im Bild.) Sie gab nicht<br />
eher Ruhe, bis sie endlich ihre<br />
Wohnzimmergardine wiederhatte.<br />
ru/ke
Leute heute<br />
Der Gedenkturner Stein<br />
Aus dem Spannstütz über<br />
die Tiefhalte in den Beugehang,<br />
dann links überspreizen,<br />
von der Hockwende mit<br />
einem Pendelschwung zur<br />
Laufkehre und ab in den<br />
Grätschsitz – nichts einfacher<br />
als das für Meister -<br />
turner Tim Stein! Er machte<br />
die Ellgriffkippe, kam über<br />
die Sturzbeuge zur Schwung -<br />
st emme rückwärts und<br />
hock te in den Oberarmstand<br />
durch. Jetzt die Kreisbücke!<br />
Mit dem Zwiegriffrücksprung<br />
senk te er sich<br />
über die Außenschere zum<br />
Grätschwin kelstütz, mach t e<br />
Funzel historisch<br />
eine gestreckte Kraftrolle<br />
in den Ristfelgkreisel zur<br />
Kippschraube und landete<br />
mit einem einfachen<br />
Kehrschwung im seitlichen<br />
Schrittüberschlag. Aber<br />
was jetzt? Die Flugschere<br />
drehweise einschwenken<br />
oder den Schwenkflug<br />
sche renweise ausdrehen?<br />
Tim Stein hockte sich hin,<br />
stützte einen Ellenbogen<br />
aufs Bein und dachte nach.<br />
Ja! Ja! Genau das war’s!<br />
Souverän belegte er den ersten<br />
Platz im »Auguste-Rodin-Gedenkturnen«!<br />
pk<br />
Soziales<br />
Netzwerk<br />
1963 lo<br />
Mit seiner Hundertschaft<br />
war Polizeikommissar<br />
Schlem mer ein<br />
wenig in der Fußgängerzone<br />
bummeln, als<br />
sich plötzlich in einem<br />
nahegelegenen Bistro<br />
eine weit hin hörbare<br />
Ge schmacks explosion<br />
er eignete. Als die Beamten<br />
am Tatort eintrafen,<br />
war sofort klar: Die Vereinigung<br />
Islamistischer<br />
Gewürze hatte mal wieder<br />
zugeschlagen. Eine<br />
weitergehende Gefahr<br />
für die Bevölkerung<br />
konnte jedoch abgewendet<br />
wer den. Alle Beweismittel<br />
wurden auf<br />
der Stelle sichergestellt<br />
und von den aufopferungsvollen<br />
Beamten<br />
vernichtet. cd / ph<br />
Hallihallo, Hallimasch!<br />
Kaffee-Service<br />
Amerikanischen Wissenschaftlern<br />
ist es<br />
endlich gelungen, den<br />
ersten sprechenden<br />
Pilz zu entwickeln.<br />
Und das geht so: Sobald<br />
sich ein Pilzsammler<br />
dem Objekt<br />
seiner Begierde nähert,<br />
sagt der Pilz: »Hallihallo,<br />
ich bin ein Hallimasch<br />
und bin genießbar!«<br />
Oder falls es<br />
ein giftiger Pilz ist, sagt<br />
er: »Hallihallo, ich bin<br />
ein Knollenblätterpilz<br />
und bin nicht genießbar!«<br />
Dadurch können<br />
viele Pilzvergiftungen<br />
vermieden werden.<br />
Auf dem Foto sieht<br />
man den Sohn des leitenden<br />
Ingenieurs (aus<br />
erster Ehe) mit einem<br />
»Gelben Breitblättrigen<br />
Regenschirmweib -<br />
ling«, der immerzu<br />
sagt: »Hallihallo, ich<br />
bin ein Gelber Breitblättriger<br />
Regenschirm -<br />
weibling, und ich weiß<br />
nicht, ob ich genießbar<br />
bin oder nicht!« Daran<br />
muss wohl noch gearbeitet<br />
werden.<br />
lo<br />
Personalproblem<br />
MENSCH<br />
& NATUR<br />
lo<br />
von Hellmuth Njuhten<br />
sk<br />
Coffee-to-go in den Kudamm-Cafés:<br />
Draußen nur Kännchen! kriki<br />
Die Neubesetzung der Seelsorgerstelle machte leider einige<br />
Veränderungen erforderlich.<br />
ub / ss<br />
lo<br />
Mein erstes Tattoo<br />
lo<br />
Große Funzel-Erfindungen<br />
(XVI)<br />
ar<br />
Funzel-RÄTSEL<br />
FUNZEL-<br />
Rätsel<br />
nicht<br />
gelöst?<br />
Wirst<br />
hk<br />
I M P R E S S U M :<br />
Liebe macht blind, aber Liebe zum<br />
<strong>Eulenspiegel</strong> macht auch noch<br />
doof, wissen die FUNZEL-Mitarbeiter<br />
Archimura, Utz Bamberg, Lo<br />
Blickensdorf, Carlo Dippold, Klaus<br />
Ender, Peter Homann, Sören Knoll,<br />
Peter Köhler, Harald Kriegler, Kriki,<br />
Siegfried Steinach und Reinhard<br />
Ulbrich.
Anzeigen · Veranstaltungen<br />
TICKETLINE: (030) 5 42 70 91<br />
Fr<br />
5.10.<br />
20.00<br />
Sa<br />
6.10.<br />
20.00<br />
So<br />
7.10.<br />
16.00<br />
ELEMOTHO & BAND<br />
„The New Sound of<br />
the Kalahari“– Live-Konzert<br />
„WENN DIE NEUGIER<br />
NICHT WÄR´…“<br />
Der besondere Talk von und mit<br />
Barbara Kellerbauer<br />
Zu Gast: Barbara Schnitzler<br />
„MUSIK<br />
AM LAGERFEUER“<br />
mit Gojko Mitic, Uwe Jensen,<br />
Nicole Freytag und den City Dancers<br />
Fr<br />
12.10.<br />
20.00<br />
Sa<br />
13.10.<br />
15.00<br />
Sa<br />
13.10.<br />
20.00<br />
ROBERT CARL BLANK<br />
Der begnadete Songschreiber und<br />
Weltreisende präsentiert sein neues<br />
Album. Live-Konzert<br />
MUSIKALISCHER SALON<br />
Franz Schubert: Trio für Klavier,<br />
Violine und Violoncello Es-Dur Op.<br />
100 und andere Werke von Schubert<br />
PIANLOLA –<br />
KABARETTISTISCHES<br />
CHANSONTHEATER<br />
„Berliner Kabarett &<br />
Argentinische Tangomusik –<br />
eine wunderbare Mischung“<br />
„11. LANGE NACHT<br />
So<br />
DER SENIOREN“<br />
14.10.<br />
19.00<br />
präsentiert von Siegfried Trzoß<br />
mit Peter Wieland, Susan<br />
Schubert, Steffi & Bert u.a.<br />
An der Markthalle 1-3<br />
09111 Chemnitz<br />
56 EULENSPIEGEL 10/12
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Satirisches Theater und Kabarett e.V.<br />
Ratskeller/ Marktplatz 2a · 15230 Frankfurt/Oder<br />
www.oderhaehne.de<br />
<strong>Vorschau</strong><br />
Spielplan Oktober 2012<br />
Lügen schaffts Amt<br />
4./5./11. und 26. Oktober 2012<br />
Big Helga<br />
6. Oktober 2012<br />
Fridericus Superstar<br />
12. und 13. Oktober<br />
Harte Zeiten, weiche Kekse<br />
18./19./20. (Premiere) 21. (15 Uhr)<br />
23. (15 Uhr)<br />
25. und 27. Oktober 2012<br />
Gastspiel<br />
am 14. Oktober 2012 – 17 Uhr<br />
Margit Meller und Michael Bootz<br />
„Das Blaue vom Himmel – das Gelbe<br />
vom Ei“das Gelbe vom Ei“<br />
Vorstellungsbeginn ist um 20 Uhr<br />
im Ratskeller<br />
Ticket-Hotline: 03 35 / 23 7 23<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Denkt doch<br />
was ihr sollt !<br />
mit Marion Bach<br />
und Hans-Günther<br />
Pölitz<br />
neues Programm<br />
Damenwahl –<br />
zwei Weiber mit Schuß<br />
mit Marion Bach,<br />
Heike Ronniger a.G. und<br />
Oliver Vogt a.G.<br />
GASTSPIELE<br />
Dresdner<br />
Herkuleskeule<br />
„Leise flehen<br />
meine Glieder“<br />
4. Oktober, 20 Uhr<br />
Jürgen Becker<br />
„Der Künstler ist anwesend“<br />
23. Oktober, 20 Uhr<br />
Himmel, Arsch<br />
und Hirn<br />
mit Lothar Bölck a.G.<br />
und Hans-Günther<br />
Pölitz<br />
Der Spielplan: www.zwickmuehle.de<br />
Magdeburger Zwickmühle<br />
Leiterstraße 2a, 39104 Magdeburg<br />
Telefon: (03 91) 5 41 44 26<br />
EULENSPIEGEL 10/12 57
Und Kaiser Nero!<br />
Aus: Ostsee-Zeitung<br />
Einsender: Dr. Marion und<br />
Thomas Müller, Rostock<br />
Besser dort als gar nicht.<br />
Aus: Thüringer Allgemeine, Einsender: Bernd Kühn, Eisenach<br />
Seine Affenliebe?<br />
Aus: Thüringische<br />
Landeszeitung<br />
Einsender:<br />
Manfred Schulter,<br />
Leinatal<br />
Riesenrammler!<br />
Aus: Märkische Oderzeitung<br />
Einsender: Eckhard Beer,<br />
Schwedt/O.<br />
Auch das noch!<br />
Aus: Berliner Zeitung<br />
Einsender: Werner Klopsteg,<br />
Berlin<br />
Wie sie leibt und lebt!<br />
Aus: Amtsblatt Sömmerda<br />
Einsenderin: Christine Selter,<br />
Sömmerda<br />
Damit’s nicht noch <strong>mehr</strong><br />
Tierschützer gibt.<br />
Aus: Sächsische Zeitung<br />
Einsender: Frank Gräßler,<br />
Hoyerswerda<br />
Dankend angenommen!<br />
Verwarnung des Ordnungsamtes Frankfurt/Oder, Einsender: R. Schnabel, Frankfurt/O.<br />
In vino veritas<br />
in cervisia est aqua.<br />
Werbung von Interspar<br />
Österreich<br />
Einsender: G. Schneider,<br />
Schönebeck<br />
Ferkelfernsehen!<br />
Aus: Super-TV<br />
Einsenderin: Martina Braun, Dresden<br />
Dabei rangen alle mit der Sprache.<br />
Aus: Ostthüringer Zeitung<br />
Einsender: Mario Eichhorn, Probstzella<br />
Oder als Vorbau.<br />
Aus: Anzeigenkurier, Einsender: Roland Gorsleben, Zarnekla<br />
58 EULENSPIEGEL 10/12
Fehl anzeiger<br />
Wieder Schluss mit artgerechter Haltung?<br />
Aus: Ostsee-Zeitung, Einsender: S. Lobedarz, Stralsund<br />
Wir sind nicht gern Würstchen!<br />
Etikett Halberstädter Bockwürstchen<br />
Einsender: Thomas Daniel, per E-Mail<br />
Waren die Blauen noch blauer?<br />
Aus: Lübecker Nachrichten<br />
Einsender: Dieter Schacht, Lübeck<br />
Polizei ermittelt: beide fahruntüchtig!<br />
Aus: Berliner Zeitung, Einsender: Detlef Krüger, Berlin, u. a.<br />
Poetische Kostbarkeit<br />
Wir sähen lieber korrekte Rechtschreibung.<br />
Aus: Extratip, Einsender: Udo E. Baukus, Gudensberg<br />
Querschläger.<br />
Aus: Hamburger Abendblatt,<br />
Einsender: Ralph Schermann,<br />
Görlitz<br />
Selbst ist das Pferd!<br />
Aus: Märkische Allgemeine<br />
Einsender: Dr. Reinhard<br />
Stamm,<br />
Ludwigsfelde<br />
Wenn Leichtathleten umziehen.<br />
Aus: Mitteldeutsche Zeitung, Einsender: Lothar Günther, Annaburg<br />
Aus: Leipziger Gartenfreund, Einsender: Harri Heit, Leipzig<br />
Historie von hinten.<br />
Aus: Neues Deutschland<br />
Einsenderin: Gabriele Parakeninks,<br />
Berlin<br />
Oder Hartplastik aus Stahl.<br />
Aus: Rheinpfalz<br />
Einsender: Anne Haffner u.<br />
Bernd Rudolph, Kaiserslautern<br />
Besonders der<br />
Schluckspecht<br />
Aus: Freies Wort<br />
Einsender: Wolfgang Triebel,<br />
Suhl<br />
Wahrscheinlich war<br />
kein Arzt dabei.<br />
Aus: Berliner Zeitung<br />
Einsender: Bernhard Rauche,<br />
Berlin<br />
Besser als Gezerre daran.<br />
Aus: Märkische Allgemeine Zeitung, Einsender: Dieter Eckelmann, Potsdam<br />
Liebe mit Biss.<br />
Aus: Wochenspiegel<br />
Einsender: Ralf Sikorski, Suhl<br />
EULENSPIEGEL 10/12 59
Schönes auf<br />
Tattoos und Piercings werden von vielen<br />
abgelehnt, weil sie hässlich sind. Aus demselben<br />
Grund werden sie von anderen getragen.<br />
Letztere werden immer <strong>mehr</strong>. Einst<br />
dienten sie als Symbol. Sträflinge tätowierten<br />
sich, wenn Kreuzworträtsel keine Herausforderung<br />
<strong>mehr</strong> darstellten, aus Langeweile<br />
eine Träne in den Augenwinkel oder<br />
eine Spinne auf den Hals. Männer, die<br />
rechts einen Ohrstecker trugen, signalisierten:<br />
»Bin schwul.« Männer, die links einen<br />
Ohrstecker trugen: »Bin auch schwul, hab’<br />
aber blöderweise rechts und links verwechselt.«<br />
<strong>Immer</strong> stand es für Außenseitertum<br />
und Unterschicht. Das ist jetzt anders. Das<br />
Färben und Durchlöchern der Epidermis hat<br />
sein herkömmliches Milieu verlassen, wie<br />
ein Urlaub in von Vertretern der englischen<br />
Mittelschicht belegten Strandhotels am Mittelmeer<br />
beispielhaft zeigt. Um die Pools<br />
liegt ganztägig ein geschlossener Ring aus<br />
ganzkörpertätowierten Fettgewebemassen,<br />
mit oberschenkeldicken Ringfingern und<br />
Körperöffnungen, die einzig der Aufnahme<br />
und Ausscheidung von All-inclusive-Getränken<br />
und darin aufgeweichten Pommes frites<br />
dienen. Es riecht nach verbranntem<br />
pertätowierungen nicht das irritierende Gefühl,<br />
man hätte es mit einem größeren Gegenstand<br />
zu tun, von dem das Geschenkpapier<br />
noch nicht entfernt wurde?<br />
Bei Männern erfreut sich das Prinz-Albert-Piercing<br />
besonderer Beliebtheit. Es beruft<br />
sich auf den Gatten der englischen<br />
Queen Victoria. Angeblich trug er dieses<br />
PP (Penis-Piercing), um seinen royalen P<br />
beim Reiten in die rechte, meint wohl: eine<br />
druckfreie und damit weniger beschädigungsträchtige<br />
Position zu bringen. Ein<br />
Funktionspiercing also, einer Stecknadel<br />
ähnlich … Oder ist das nur eine Ausrede,<br />
und es war in Wirklichkeit ein kleines Krönchen?<br />
Der neueste Tattoo-Trend sind Augapfeltattoos.<br />
Tattoos auf Milz, Leber und Großhirnrinde,<br />
Piercings in Nierchen, Dickdarm<br />
Bei Tieren heißt die Tätowierung<br />
»Kennzeichnung«. Sie soll verhindern,<br />
dass der Landwirt aus Versehen<br />
das falsche Schwein zum Schlachter<br />
gibt. Warum aber tätowieren sich<br />
Menschen? Und wozu tragen sie<br />
Piercings, die im ländlichen Raum<br />
gewählt. Sie konnten, wenn ihre Zeit abgelaufen<br />
war, einfach abgelegt werden:<br />
lange Haare, Parkas, Atomkraft-Nein-<br />
Danke-Aufnäher. Metallteile wurden in die<br />
Jeansjacke gestanzt, nicht in die Oberlippe.<br />
Ein Tattoo und eine Piercing-Narbe hast du<br />
aber lebenslang. Es ist, als würde man, um<br />
es seinen spießigen Eltern mal so richtig<br />
zu zeigen, sich mit sechzehn ein Bein abhacken.<br />
Die Freude am Tragen von Tätowierungen<br />
scheint mit einer gewissen Grunddreistigkeit<br />
einherzugehen. So jedenfalls bei jener<br />
17-jährigen Münchnerin, die sich für<br />
50 Euro ein Tattoo stechen ließ. Als ihr das<br />
nicht hübsch genug war, verklagte sie das<br />
Studio auf Entfernung des Hautbildchens,<br />
Kostenpunkt: 800 Euro. Zudem auf Schadensersatz<br />
und Schmerzensgeld mit der<br />
Begründung, sie sei ja noch gar nicht voll<br />
geschäftsfähig und habe – jetzt wird es<br />
niedlich – ohne Einwilligung ihrer Eltern<br />
gehandelt. Das Amtsgericht München wies<br />
die Klage mit einem auch als Tätowierung<br />
beliebten »Fuck off!« zurück. Nicht wörtlich,<br />
aber sinngemäß (AG München, AZ:<br />
213 C 917/11).<br />
Fleisch. Kommt das vom Grill? Nein, es sind Blechmarken heißen?<br />
Ähnlich lag der Fall, als Berliner Eltern<br />
metallene Piercings, die bei der Affenhitze<br />
ihrer dreijährigen Tochter Ohrlöcher stechen<br />
in ihren Stichkanälen leise im eigenen Saft<br />
schmurgeln. Normale Menschen würden unter<br />
solchen Umständen selbst Dinge gestehen,<br />
die sie gar nicht wissen. Doch Engländer<br />
sind seit dem Verlust ihrer Kolonien vollkommen<br />
schmerzunempfindlich.<br />
Tätowieren und Piercen wird als Sport<br />
gesehen. Wer hat die meisten Tattoos? In<br />
wem ist die größte Menge an rostfreiem<br />
Stahl verbaut? Den Weltrekord hält eine US-<br />
Amerikanerin mit über 3000 Piercings. Liefert<br />
man die Dame beim Schrotthändler ab,<br />
zahlt der <strong>mehr</strong> als für einen dreißig Jahre<br />
alten VW-Bus. Dabei geht das Piercen den<br />
üblichen Weg: die Piercings werden immer<br />
größer und schwerer. Wo früher ein in Millimetern<br />
zu bemessender Brilli eingesetzt<br />
wurde, da werden heute knapp eifelturmgroße<br />
Eisenteile montiert.<br />
Weit vorn in der Gunst liegen Genitalpiercings.<br />
Es gibt spezielle für Sie und für Ihn.<br />
Sie sollen das Lustempfinden steigern. Wie<br />
darf man sich das vorstellen? Ist es erotisierend,<br />
wenn es beim Sex leise scheppert?<br />
So wie es klingt, wenn man im Geschirrspüler<br />
zwei Töpfe zu dicht aneinander gestellt<br />
hat? Und vermitteln farbige Ganzkör-<br />
und linkem Lungenflügel fehlen bisher.<br />
Jede Wette: Es gäbe sie längst, wenn man<br />
sie in der Öffentlichkeit herzeigen könnte.<br />
Und sei es nur als Foto auf Facebook.<br />
Die Gesundheit spielt nur ganz am Rande<br />
eine Rolle. Zu Recht, denn das Stechen eines<br />
Tattoos ist im Grunde nichts weiter als<br />
Nähen mit Farbe. Und Piercings bereiten<br />
ohnehin keine Probleme. Wenn sie richtig<br />
gepflegt werden. Diesen Beipackzettelsatz<br />
gibt’s gratis dazu. Doch wie gestaltet sich<br />
die Pflege konkret? Etwa bei einem frisch<br />
gestochenen Anal-Piercing? Wie schafft<br />
Mensch in den Wochen bis zur Abheilung<br />
das finale Stoffwechselprodukt aus dem<br />
Körper? Osmose? Hochziehen und Ausspucken?<br />
– Ekelhaft? Gewiss. Doch es gibt<br />
Dinge, die muss man sich einfach einmal<br />
im Detail vorstellen, um sie wirklich mögen<br />
zu können.<br />
Natürlich geht es um jugendliche Rebellion,<br />
um Anderssein, um Provokation. Aber<br />
das vergeht, spätestens, wenn man mit<br />
den anderen auf dem Arbeitsmarkt um die<br />
Wette hechelt. In früheren Jahren wurden<br />
die Symbole der Aufsässigkeit gegen Eltern<br />
und Establishment daher mit Bedacht<br />
ließen. Weil das Kind dabei schrie<br />
und weinte, verlangten sie Schmerzensgeld.<br />
Als der Richter fragte, warum sie denn<br />
überhaupt mit dem Kind ins Piercing-Studio<br />
gegangen seien, antworteten sie, es<br />
habe die Ohrlöcher unbedingt haben wollen,<br />
da hätten sie gar nichts machen können.<br />
Das überzeugt. Wenn Dreijährige etwas<br />
wollen, ist man als Erziehungsverpflichteter<br />
praktisch machtlos. Welche Mutter<br />
wagt zu widersprechen, wenn der Wonneproppen<br />
sein Aa mit bloßen Händen in<br />
den Teppich schmieren will oder auszuprobieren<br />
wünscht, ob das Meerschweinchen<br />
brennt? Der Richter zog zwar eine strafbare<br />
Körperverletzung in Betracht, sprach<br />
aber letztlich im Vergleichswege den Eltern<br />
das gewünschte Schmerzensgeld zu.<br />
Tröstlich: Die zweite Runde beim Staatsanwalt<br />
steht noch aus.<br />
Man kann dazu stehen, wie man will.<br />
Um eines aber muss man jeden Piercingträger<br />
beneiden: Um seinen klasse Abgang<br />
– er klappert in der Urne.<br />
Robert Niemann<br />
Zeichnung: Guido Sieber<br />
Menschenfleisch<br />
60 EULENSPIEGEL 10/12
Peter Thulke<br />
Alff<br />
Piero Masztalerz<br />
62 EULENSPIEGEL 10/12
Schwarz auf<br />
weiss<br />
Lo Blickensdorf<br />
Michael Damm<br />
EULENSPIEGEL 10/12 63<br />
Andreas Prüstel
LMM 1479 … Leser machen mit 1 2 3 4 5 6 7<br />
LMM-Gewinner der 1478. Runde<br />
Ein glückliches Händchen hatten:<br />
»Ich wusste, dass bei der<br />
33. Extraktion die AOK<br />
kommt und wir auffliegen.«<br />
Tim Sonnenberg,<br />
Rostock<br />
»Tür zu, Schatz!<br />
Knie-OP ist gleich<br />
beendet.«<br />
Thomas Richter,<br />
Dresden<br />
Liefern Sie uns zu<br />
dieser Zeichnung<br />
eine witzige Unterschrift.<br />
Für die drei originellsten<br />
Sprüche berappen wir<br />
16, 15 und 14 €.<br />
LMM-Adresse:<br />
<strong>Eulenspiegel</strong>,<br />
Gubener Straße 47,<br />
10243 Berlin<br />
oder per E-Mail an:<br />
verlag@eulenspiegelzeitschrift.de<br />
Absender nicht<br />
vergessen!<br />
Kennwort: LMM 1479<br />
Einsendeschluss:<br />
8. Oktober 2012<br />
Zeichnungen: Heinz Jankofsky<br />
»Mist! Ich dachte,<br />
ich komme vor<br />
meinem Mann.«<br />
Uwe Salomon,<br />
Hoyerswerda<br />
8<br />
9 10 11<br />
13 14<br />
18 19<br />
12<br />
20 21 22<br />
23<br />
24 25<br />
Waagerecht: 1. Inhalt einer Labor -<br />
idee, 5. Zuckerrohrschnaps auf Selenbasis,<br />
8. blüht in der Friaulagave, 9.<br />
altenglischer Königshäusler, 10. Städteverbindung<br />
Schwarzenberg-Plauen-Arnstadt,<br />
12. ausgeräumtes Schmuddelhaus,<br />
13. erste Siebenbrückenbaukolonne,<br />
15. steht vor Knecht oder nach<br />
Carl Maria von, 18. englisch abgelehntes<br />
Rilsk, 20. allseits begrenzte Demut,<br />
21. vom Legastheniker notierter Essraum,<br />
23. Ballspielart ohne T-Träger,<br />
24. hauptstädtisches Weißweinglas,<br />
25. vertippte Flößerstange.<br />
Senkrecht: 1. Färberei in der Sabbat -<br />
ikone, 2. kopfloser Verwandter, 3. Städteverbindung<br />
Ichtershausen-Lauchstädt-Oschatz,<br />
4. agierender Mime,<br />
5. Ralf Wolters zweites Ich in Karl-May-<br />
15 16 17<br />
Filmen, 6. altdeutsch für pink, 7. plätschert<br />
im Klimaaspekt, 11. Bratenersatz<br />
für Gans und Ente, 14. steht vor Busen<br />
und Bombe, 16. Abzockerparkett,<br />
17. steckt im Haremeklat, 18. ausgeweideter<br />
Nebenbuhler, 19. Kompagnon der<br />
Ehre, 22. Aufforderung an einen englischen<br />
Hund.<br />
Auslösung aus Heft 9/12:<br />
Waagerecht: 1. Ewald, 4. Kunst,<br />
8. Arosa, 9. Ehe, 11. Korso, 12. Columbo,<br />
13. Spelt, 15. Stift, 17. Italien,<br />
20. Hagen, 22. Ori, 23. Odeum, 24. Natur,<br />
25. Egart.<br />
Senkrecht: 1. Erec, 2. Apel, 3. Dalmatiner,<br />
4. Kokospalme, 5. Uso, 6. Narbe,<br />
7. Trost, 10. Hort, 14. Leer, 15. Schön,<br />
16. Ingot, 18. Iowa, 19. Niet, 21. Edu.<br />
eisterwerke Kunst von EULENSPIEGEL-Lesern, gediegen interpretiert<br />
64 EULENSPIEGEL 10/12<br />
Alexander Kats, Leipzig<br />
Lässt sich die Zukunft beeinflussen?<br />
Kann man, indem man in die Vergangenheit<br />
reist und dort seine Eltern tötet, die<br />
eigene Geburt verhindern? Und wenn<br />
man seine Geburt verhindert, wer reiste<br />
dann in die Vergangenheit und tötete die<br />
Eltern? – Mit solcherlei hochphilosophischen<br />
Fragen beschäftigt sich dieser Cartoon.<br />
Konkret geht es darum: Kann Herr<br />
Meier die Frage seines Gegenübers abwenden,<br />
indem er die Antwort gibt, bevor<br />
die Frage gestellt wurde?<br />
Offenbar kann er es nicht. Dabei hat<br />
sich Herr Meier alle Mühe gegeben. Er<br />
hat die Gravitation der Quanten seines<br />
Gegenübers genutzt, um mit dieser Materie,<br />
die bei steigender Entfernung von<br />
der Rotationsachse den Raum krümmt,<br />
Raumzeitpunkte zu erschaffen, zu denen<br />
er mühevoll hineilt – der Grund dafür,<br />
weshalb er so fertig aussieht und so<br />
schwitzt.<br />
Doch wenn ausgerechnet seine Zeitreise<br />
Ursache für seinen unguten Zustand<br />
ist, hat er damit selbst die Frage seines<br />
Gegenübers ausgelöst? Und wenn ja,<br />
wieso lügt er dann und erzählt etwas von<br />
Urlaub mit der Familie? Oder noch anders:<br />
Befindet sich vielleicht der Mann<br />
rechts im Bild in der Zukunft und stellt<br />
dort eine Frage, die obsolet geworden ist?<br />
Oder haben sich einfach zwei Deppen getroffen,<br />
die völlig aneinander vorbeireden?<br />
Und wie muss sich das auf dem Gemälde<br />
im Hintergrund gezeigte Gesicht<br />
im Raum krümmen bzw. strecken, um aus<br />
diesem Blickwinkel auf diesen Fluchtpunkt<br />
zuzulaufen?<br />
Die Mysterien von Raum und Zeit –<br />
wir werden sie nie zu lösen vermögen.<br />
H. Lesch
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2012_10
Und tschüs!<br />
Herausgeber<br />
Hartmut Berlin, Jürgen Nowak<br />
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Der nächste EULENSPIEGEL erscheint am 25. Oktober 2012 ohne folgende Themen:<br />
• Von der Leyen will Zuschuss-Rente – Hat Wulff sie schon beantragt?<br />
• Fußballfans immer brutaler – Fordern sie sogar eine Rückkehr von Waldemar Hartmann?<br />
• Nach Urheberrechtsurteil gegen Samsung – Verklagt Apple Opel, weil auch dort unnütze<br />
und viel zu teure Produkte angeboten werden?<br />
• Bio-Lebensmittel nicht gesünder – Sind glückliche Schweine zu undankbar, um <strong>mehr</strong> Vitamine<br />
zu produzieren?<br />
Petra Kaster<br />
Druck<br />
möller druck und verlag gmbh, Berlin<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Utz Bamberg, Beck, Anke Behrend,<br />
Harm Bengen, Matthias Biskupek,<br />
Lo Blickensdorf, Peter Butschkow,<br />
Carlo Dippold, Rainer Ehrt, Ralf-Alex<br />
Fichtner, Matti Friedrich, Burkhard<br />
Fritsche, Arno Funke, Gerhard Glück,<br />
Barbara Henniger, Renate Holland-<br />
Moritz, Frank Hoppmann, Rudi<br />
Hurzl meier, Michael Kaiser, Christian<br />
Kandeler, Florian Kech, Dr. Peter<br />
Köhler, Kriki, Cleo-Petra Kurze, Ove<br />
Lieh, Werner Lutz, Peter Muzeniek,<br />
Nel, Robert Niemann, Michael Panknin,<br />
Ari Plikat, Enno Prien, Andreas<br />
Prüstel, Erich Rauschenbach, Ernst<br />
Röhl, Reiner Schwalme, Felice v.<br />
Senkbeil, André Sedlaczek, Guido<br />
Sieber, Klaus Stuttmann, Atze Svoboda,<br />
Peter Thulke, Kat Weidner,<br />
Freimut Woessner, Erik Wenk,<br />
Dr. Thomas Wieczorek, Martin Zak<br />
Für unverlangt eingesandte Texte,<br />
Zeichnungen, Fotos übernimmt der<br />
Verlag keine Haftung (Rücksendung<br />
nur, wenn Porto beiliegt). Für Fotos,<br />
deren Urheber nicht ermittelt werden<br />
konnten, bleiben berechtigte<br />
Honorar ansprüche erhalten.<br />
Blumenspenden, Blankoschecks,<br />
Immobilien, Erbschaften und<br />
Adoptionsbegehren an:<br />
<strong>Eulenspiegel</strong> GmbH,<br />
Gubener Straße 47,<br />
10243 Berlin<br />
66 EULENSPIEGEL 10/12
Z u r F r a n k f u r t e r B u c h m e s s e<br />
Literatur<br />
Eule<br />
Mit Beiträgen von<br />
Matthias Biskupek,<br />
Reiner Schwalme,<br />
Peter Köhler,<br />
Frank Hoppmann<br />
u.v.a.m<br />
REINER SCHWALME
Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:34 Seite 2<br />
Das Funkeln der<br />
Prosa bei Nacht<br />
Von Kollegen weiß ich, dass ihr Unterbewusstsein<br />
weiterschreibt, während sie<br />
schlafen. Am Morgen stehen sie ausgeruht<br />
auf, wissen, wie der Hase läuft, und<br />
machen los. Am Ende haben sie den<br />
nächsten Roman fabriziert, ohne eine Ahnung<br />
zu haben, wie.<br />
Wenn ich mittags völlig fertig zu mir<br />
komme, weiß ich nur, dass meins wieder<br />
mal sein eigenes Ding gemacht hat. Wahrscheinlich<br />
sind ihm meine Kurzgeschichten<br />
zu popelig, um daran mitzuwirken:<br />
Es entwirft selber welche.<br />
Um mich kleinzukriegen, hinterlässt<br />
es mir beim Aufwachen die Erinnerung<br />
an einen schöpferischen Glückstaumel,<br />
wie er mich bei der Arbeit nie überkommt.<br />
Freilich verweigert es mir den Zugriff,<br />
lässt mich ewig Passwörter suchen, obwohl<br />
ich dichten müsste. Neuerdings geht<br />
es mit mir in der Tiefschlafphase Satz für<br />
Satz die geschliffenen Storys durch, ermahnt<br />
mich, auch ja nichts zu vergessen.<br />
Im Traum bau ich mir Eselsbrücken zum<br />
Plot (wenn ich den behalte, ist der Rest<br />
ein Klacks!), versuche das Bewusstsein im<br />
abgesicherten Modus kontrolliert hochzufahren<br />
– noch funkelt aus der Tiefe das<br />
Kabinettstückchen in allen Facetten.<br />
Dann, der Schatz ist so gut wie gehoben,<br />
entgleitet er mir wie die Hand des<br />
Freundes überm Abgrund!<br />
Vor Wut geh ich nach dem Kaffee zurück<br />
ins Bett, doch das Unterbewusstsein<br />
tut einen Teufel, Stroh zu Gold zu spinnen.<br />
Wo das Schöne versank, blubbern<br />
Blasen, Sprechblasen unklarer Herkunft:<br />
Welches Volk hättest du Schlaumeier<br />
denn erwählt, he?<br />
Ich werd’ wach von dem Bockmist, ertappe<br />
aber das bisschen Tagesgrips schon<br />
bei der Arbeit. Im Schnelldurchlauf rattert<br />
durch, was sich anbieten könnte: ...<br />
Haida, Himba, Maori, Massai, Nanai ... Polen,<br />
Tschechen, Tschuden, Tschuk tschen ...<br />
Xavante, Yanomami, Zuni ... Abasinen, Abnaki,<br />
Aimara ... Bei den Arabern angelangt,<br />
strample ich die Decke weg, worauf<br />
die arme Birne, noch während ich<br />
versuche hochzukommen, kurzerhand<br />
auf Stämme der Nachkommen des Propheten<br />
umschaltet: Al-Awa di, Al-Hakim,<br />
Al-Husseini, Al-Marashi, Al-Marasma, Al-<br />
Sadr, Al-Yasir ...<br />
Ich flüchte in die Küche, kappe den Filter<br />
an der Fluppe, schnipse am Feuerzeug<br />
rum, nehm’ einen Zug. Ich ruf Hans Dieter<br />
an. Als Sexualtherapeut hoffnungslos<br />
überbucht, geht er immerhin ran, wenn<br />
er sieht, wer anruft.<br />
»Und wo ist das Problem?«, fragt er,<br />
als ob ich ihm von einem Dreier im Lotto<br />
erzählt hätte.<br />
»Mann«, brüll ich, »meine Hirnhälften<br />
hassen einander!«<br />
»Wichsen«, sagt Hans Dieter, »ein Naturheilverfahren,<br />
das ich dir immer wieder<br />
verordne.«<br />
»Okay, ich bin faul«, geb ich zu,<br />
»könnte ja wieder mal an deine Steffi<br />
denken.«<br />
Ein Päuschen tritt ein, in dem Hans<br />
Dieter überlegt, ob er den Betablocker<br />
genommen hat. Dann sagt er: »Samen.«<br />
»Wie, Samen ...?«<br />
»Ich tät die Sami auserwählen. Die<br />
würden wenigstens den Kopf behalten.<br />
Mach was draus, ich hab hier noch <strong>mehr</strong><br />
Irre rumsitzen.«<br />
Im heißen Fichtennadelbad versuch<br />
ich mir Hans Dieters Lappen vorzustellen:<br />
zwei alte Leutchen mit Topfwärmern<br />
auf dem Kopf, die ihn in eine gemütliche<br />
Erdhütte einquartieren. In ihrer<br />
nebenan hat’s sogar Luxus: Deckenfunzel,<br />
Satellitentelefon und DVD-Play -<br />
er – alles mit Strom vom Wasserrädchen.<br />
Sie füttern Hans Dieter mit Trockenfleisch<br />
in Bohnenkaffee und gezuckertem<br />
Fisch – frisch filetiert. Weil die Bevölkerungsdichte<br />
im Land der Auserwählten<br />
gegen Null geht und keiner es<br />
ihnen neidet, sind sie friedlich und heiter,<br />
hätten selbst Hans Dieter glatt adoptiert.<br />
Ich mal mir das mal aus: ein Tal, ein<br />
See, ein Polarlicht. Das Wolfsrudel heult<br />
aus der Weite des Fjälls, ein Schneesturm<br />
zieht auf. Der Wanderer beginnt<br />
zu rennen, schlägt hin und bricht sich<br />
den Fuß. Mit dem letzten Geldschein<br />
kriegt er unterm Baum noch Feuer an;<br />
genau dort, wo der Schnee dann vom<br />
Ast rutscht ...<br />
Der Anruf erreicht mein Unterbewusstsein<br />
bei der Arbeit an einem Glanzstück<br />
von Prosa, diktiert von der Eiskönigin<br />
der Nacht. Schneller als ich mir irgendwas<br />
merken kann, schaltet es um<br />
auf Bewusstsein, das von der plötzlichen<br />
Anforderung überlastet ist.<br />
»Weißte, was mir noch einfällt?«,<br />
scheppert es aus der Ferne. »Dort lagen<br />
Porno-DVDs neben dem Player, Hardcore<br />
made in Hongkong!«<br />
»Du Arsch«, weckt mich meine eigene<br />
Stimme.<br />
»Mach weiter, <strong>Alte</strong>r!«, lacht Hans Dieter.<br />
Rainer Klis<br />
Gelungene Briefabschlüsse<br />
Ein dicker Schmatz<br />
Von Ringelnatz<br />
Bis dann und wann,<br />
Dein Thomas Mann<br />
Deine Warzen,<br />
alte Kröte,<br />
küsst Geheimrat<br />
Wolfgang Goethe<br />
Stets der Deine,<br />
Heinrich Heine<br />
Wie zumeist<br />
grüßt Heinrich Kleist<br />
Grüß noch König Lear<br />
von mir,<br />
alles Gute,<br />
Dein Shakespeare<br />
Mit letzter Tinte,<br />
schon ganz blass,<br />
grüßt der berühmte<br />
Günter Grass<br />
Von der Straße<br />
dringt Krawöll,<br />
ein stiller Gruß<br />
von Heinrich Böll<br />
Muss schließen,<br />
denn da kommt<br />
Godzilla,<br />
rasche Grüße!<br />
Friedrich Schiller<br />
Vollzugsbekanntmachung<br />
zum deutschen Brief<br />
Liebe Bürgerinnen und Bürger,<br />
wir bedauern, Ihnen schriftlich mitteilen<br />
zu <strong>müssen</strong>, dass die deutschen<br />
Behörden zum Jahresbeginn<br />
endgültig Abschied nehmen vom<br />
deutschen Brief mit amtlichem<br />
Gruß.<br />
Der deutsche Brief in seiner bekannten<br />
Hochform als Bescheid, Erlass<br />
oder Anordnung hat leider ausgedient.<br />
Obwohl der deutsche Behördenbrief<br />
ein wichtiger Bestandteil der<br />
deutschen Leitkultur war, wurde er<br />
vom deutschen Untertan immer<br />
schändlich behandelt und oft gedemütigt.<br />
Kaffeeflecken und Bierdosenabdrücke<br />
auf Hartz-IV-Bescheiden<br />
waren in den letzten Jahren leider<br />
häufig vorhanden, Eselsohren<br />
und anderweitige Verschmutzungen<br />
die Normalität.<br />
In Einzelfällen mussten Sachbearbeiter<br />
und Beamte Aids-Handschuhe<br />
beim Lesen der Korrespondenz<br />
benutzen. Dies hat natürlich<br />
zu immensen Mehrkosten geführt:<br />
Krankenhaus- und Therapieaufenthalte<br />
von Mitarbeitern und allgemein<br />
eine zunehmende Demotivation<br />
bei der Sachbearbeitung waren<br />
die Folge.<br />
Aus diesem Grund hat sich die Regierung<br />
entschlossen, die hoheitliche<br />
schriftliche Verwaltung folgendermaßen<br />
zu verändern:<br />
1. Anstelle von Bescheiden erhalten<br />
Sie nur noch Rechnungen.<br />
2. Dort, wo keine Rechnungen ausgestellt<br />
werden, gibt es den offenen<br />
Vollzug.<br />
3. Gebühren, Steuern und Abgaben<br />
erfolgen durch Lastschriftaufträge.<br />
4. Die Demokratie findet nur noch<br />
unschriftlich bei Wahlen statt,<br />
und diese bleiben für Bürgerinnen<br />
und Bürger geheim.<br />
Werner Lutz<br />
HARM BENGEN<br />
Kriki<br />
2 LITERATUREULE 10/12
Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:34 Seite 3<br />
i<br />
Goethe in Pflege<br />
Welch gütiges Geschick, dass ich Euch hier<br />
antreffe, Herr Geheimrat! Fast hättet Ihr<br />
die Kaffeetafel verpasst, alle anderen sind<br />
schon da!« Mit resolutem Griff fasste Schwester Amalia<br />
Goethe unter und führte ihn von der Terrassentür,<br />
an der der Dichterkönig vergeblich hantiert hatte,<br />
um sie zu öffnen, zurück in den Speisesaal. »Schaut,<br />
der Herr Kleist, der Herr Hölderlin, sogar das Euch<br />
so gewogene Fräulein Droste-Hülshoff warten schon<br />
auf Euch! Setzt Euch getrost dazu, ja, so ist es schön.<br />
Und schaut, da ist sogar ein großes Stück Käsekuchen<br />
auf Eurem Teller bereitet. Lasst es Euch munden,<br />
Herr Geheimrat!«<br />
Goethe lächelte, und ein Appetitfaden zog sich an<br />
seinem Mundwinkel herunter. Schwester Amalia entfernte<br />
sich. Sie wusste mittlerweile, wie man Goethe<br />
nehmen oder, wie sie es nannte, »lesen« musste. Früher<br />
hatte sie ihn einfach mit Gewalt an den Ess- oder<br />
Kaffeetisch zu schieben und zu zerren versucht. Goethe<br />
aber war das zu hoch, er rief »Fort! Fort! In die<br />
Ecke, Besen!«, kniff sie, schimpfte sie am Ende gar<br />
»dummes Stinkloch«. Kujoniert worden war sie von<br />
dem alten Sauranzen und Scheißmatz!<br />
Uhrzeit und Pünktlichkeit hatten für Goethe jede<br />
Bedeutung eingebüßt. Zwar dachte er ständig ans Essen,<br />
aber auch die Essenszeiten kümmerten ihn nicht<br />
<strong>mehr</strong>. Wenn es ihn hinausdrängt ins Freie, dann will<br />
er los, geschwind zu Pferde! »Lüfte deinen Sitz, Schwager<br />
Kronos«, ruft er, »ich komme!«<br />
Und das nicht nur tags; nachts ist es oft ein Gleiches.<br />
Dann wandert Goethe, während in allen Zimmern<br />
Ruh’ ist, durch die Gänge des Pflegeheims in<br />
Weimar am Frauenplan, und ist es ein Glück, wenn<br />
ihm Schwester Ottilie begegnet, die artig fragt: »Herr<br />
Geheimrat, Ihr wollt in Euer Gemach? Kömmt, ich<br />
mache Euch auf!« »Ach, da weißt du <strong>mehr</strong> als ich,<br />
mein Kind!«, erwidert Goethe erfreut und tätschelt<br />
der Schwester das Pfötchen: »Dank dir, Ottilie!«<br />
Brav betritt Goethe sein Zimmer, setzt sich auf den<br />
Schreibtischstuhl und lässt unter sich. Dass itzt die<br />
Schwester unschicklich aufschreit und ihn in groben<br />
Worten schilt, kann er nicht verstehen. Sie hat ihn<br />
doch hierhergeführt!<br />
Fürwahr, schwer ist dem Herrn Geheimrat oft ums<br />
Herz. Ein widriges Geschick treibt seine Foppereien<br />
mit ihm! Da leben zum Exemplum hier im Hause<br />
die beiden Theodore, Storm und Fontane – wie soll<br />
er die bei diesem Vornamen denn auseinanderhalten?<br />
Item die Musizi Schubert und Schumann, die<br />
leugnen, miteinander verwandt zu sein!<br />
Nein, Goethe musste fort! Und reitet los bei Nacht<br />
und Wind, an alten Weiden vorbei, Nebel streift ihn<br />
wie ein Gespenst, doch er hat das Kind in seinem<br />
Arm, er fasst es sicher, hält es warm. »Was zieht Ihr<br />
für ein banges Gesicht?« – »Ich sehe den Erlkönig<br />
vor mir, ganz dicht!« – »Aber Herr Geheimrat, ich<br />
bin’s, Nachtschwester Ulrike! Führen wir denn wieder<br />
Selbstgespräche?«<br />
»Ah! Das ist gut, dass du da bist, Ulrike!«, merkt<br />
Goethe auf und fodert mit wiedergewonnener Überlegenheit:<br />
»Gib mir das grüne Wams.« – »Jetzt? Es<br />
ist Schlafenszeit!« – »Mich bekümmern Zeiten nicht<br />
<strong>mehr</strong>, sondern nur das Essen, das weißt du doch, Kindchen.<br />
Und ist jetzt Essenszeit?« – »Nein, Herr Geheimrat.«<br />
– »Na, siehst du. Also gib mir das grüne<br />
Wams.« – »Ist Euch denn kalt?« – »Wahrlich, hab’ ich<br />
doch sonst nichts an, Riekchen! Und muss annoch hinüber<br />
zu Professor Adorno, über die Straße.« – »Aber<br />
Herr Geheimrat! Ich ziehe Euch besser das Nachtgewand<br />
an.« – »Und darin soll ich hinaus auf die Straße?<br />
Liebes Kind! Gib mir mein Wams.« – »Aber es ist<br />
Zeit, ins Bett zu gehen, Herr Geheimrat.« – »Mein<br />
Wams!« – »Nein!« – »Mein Wams!!«<br />
Eine Erinnerung schoss Goethe durch den Kopf,<br />
eine fürchterliche Ahndung: Du hast es dreimal gesagt!<br />
Tatsächlich ging die Tür auf, und Schwester Amalia<br />
trat ein: »Was ist denn hier los?« An Goethen gewandt:<br />
»Wo wollen wir denn hin, Herr Geheimrat?«<br />
»Zu Professor Adorno! Er gibt in seinem Garten<br />
eine Illumination zu Ehren der klassischen deutschen<br />
Bildung und Kultur!«<br />
»Aber Herr Geheimrat, das hat doch Zeit. Jetzt gehen<br />
wir alle schlafen!« Sie nahm das Wams, heftete<br />
seinen Lieblingsorden an – den der Ehrenlegion, den<br />
ihm Wilhelm II. verliehen hatte – und zog es Goethen<br />
über das Nachthemd, der brav auf seinen Pfühl<br />
glitt. »Warte nur«, flüsterte sie zu Schwester Ulrike,<br />
»balde schnarchet er schon.«<br />
Am nächsten Morgen ist alles vergessen. Als<br />
Schwester Marianne erscheint, ihm aus dem Bette<br />
zu helfen, beim über alles geliebten Hauptgeschäft<br />
zu assistieren, die Windeln zu wechseln und die<br />
Schuhe zu binden, beschwert sich Goethe gleich als<br />
Erstes, dass ihm jemand im Schlaf ein grünes Wams<br />
mit einem kuriösen Klunker übergezogen hat.<br />
Überhaupt, Marianne ist ein Schatz. Sie reicht ihm<br />
beim Frühstück an, sagt ihm auch, wenn er zu kauen<br />
oder zu schlucken vergisst. Ist sowohl Fräulein als auch<br />
schön und könnte gern mit ihm ins Bettchen gehn!<br />
Aber leider ist sie schon über 40 und zu alt für ihn!<br />
Trotzdem, Marianne mit ihrer Frohnatur und Wohlgestalt<br />
regt ihn an, lässt ihn frühlingsfrische Wörter<br />
finden und hat gewiss auch einen Wunderschoß. Dagegen<br />
diese Freifrau vom und zum Stein, die eingebildete<br />
Gans! In einer Tour stellt sie ihm nach, schreibt<br />
ihm Billette für und für. Und ist sogar noch älter als<br />
er, er, äh...<br />
Ja, wie alt war er eigentlich? Öh ... Wie lange weil -<br />
te er schon hier auf der Akademie? Hm ... Längst war<br />
seinem Kopf entglitten, wie er eines Tages beim Ankleiden<br />
die Orientierung verloren hatte. »Wer das<br />
erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen<br />
nicht zu Rande«, hatte er heiter notiert und nicht<br />
geahnt, dass es damit nicht sein Bewenden haben<br />
sollte. Dann fand er von Schiller nicht <strong>mehr</strong> den Weg<br />
nach Hause; irgendwann verlernte er, wie man eine<br />
lockere Schraube festzieht, und endlich wusste er<br />
nicht einmal <strong>mehr</strong>, wer dieser alte Trottel war, der<br />
ihn immerzu im Spiegel verfolgte!<br />
In seinen helleren Augenblicken war Goethen<br />
wohl bewusst, wie sehr ihn manche Kollegen hier<br />
auf der Arbeit inkommodierten. Dieser irre Pastor<br />
Nietzsche zum Beispiel, der immerfort sächsisch deklamiert,<br />
noch dazu welch hanebüchenen Unsinn!<br />
»Edel ist der Mensch, hilfreich und gut«, da lachen ja<br />
die Hühner! Oder dieser Zausel Einstein, der den ganzen<br />
Tag würfelt! Nimmt ihm ein Pfleger endlich Würfel<br />
und Becher weg, schreit und greint der alte Narr:<br />
»Ich spiele Kniffel mit dem lieben Gott!«<br />
Sehr gern sitzt Goethe dagegen mit seinem Freund<br />
Karl May zusammen, der ihm von seinen Reisen<br />
nach Amerika erzählt. Auch über den Doktor Freud<br />
muss er oft schmunzeln, der Schwester Hanna für<br />
seine Tochter Anna hält, ihr jedesmal seinen Sigmund<br />
zeigen will und ihr darob Inzestverlangen vorwirft.<br />
Oder dieser Ausländer, der sich wie König Lear aufführt<br />
und doch bloß ein ungebildeter englischer Kaufmann<br />
ist, wie hieß er gleich ... na ... stattdessen fällt<br />
Geheimrat Dr. jur. Goethe jetzt etwas anderes ein,<br />
zwei Zeilen sind’s, von Eduard Kästner vielleicht:<br />
»Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh’n? Ich<br />
kannte es! Und hab’ es leider vergessen.«<br />
Peter Köhler<br />
Zeichnung: Peter Thulke
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FRanK HoPPMann<br />
4 LITERATUREULE 10/12
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Ansichtssachen<br />
Meister der<br />
Komischen Kunst:<br />
Frank Hoppmann,<br />
Verlag Antje Kunstmann,<br />
112 S., 16,00 Euro<br />
Hunter Bund<br />
Till still standing<br />
Angela Dorothea Merkel<br />
Mit Brüsten brüsten<br />
LITERATUREULE 10/12 5
Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:34 Seite 6<br />
Die Sprache des Gra u<br />
Lesezeichen: RoBeRt nie Mann<br />
KAT WEIDNER<br />
Das schlechteste Englisch der Welt wird in Rom gesprochen.<br />
Denn in Rom gilt das Motto: Niemand<br />
kann so schnell kein Englisch wie wir! Q.I.E. ist überall:<br />
Quick Italian English. Es klingt wie ein kurzer<br />
Feuerstoß aus einem Maschinengewehr. Das beginnt<br />
bei den Durchsagen auf dem Flughafen und setzt<br />
sich im Hotel fort. Das Pronomen versteht man noch,<br />
der Rest bleibt unklar: »You wonna ssissorset?« –<br />
»Äh … yes.« – »And you wonna ssissorset!« – »Ja, äh<br />
… okay?« Aber zum Glück ist an sol chen Orten ja<br />
nahezu alles selbsterklärend. In meinem Falle bedeutet<br />
es offenbar, dass ich eingewilligt habe, das<br />
gebuchte Zimmer mit Blick auf das Kolosseum gegen<br />
ein Zimmer zu tauschen, das einen Blick auf alles<br />
Mögliche hat, aber nicht auf das Kolosseum. Als<br />
ich vorsichtig darauf hinweise, kriege ich ein Zimmer<br />
auf der anderen Seite. Das Kolosseum ist auch<br />
von dort aus nicht zu sehen. Kein Wunder, es liegt<br />
ja auch ganz woanders, wie ein Blick auf den Stadtplan<br />
zeigt. Als ich den Hotelmanager darauf an -<br />
spreche, dass er in allen Prospekten mit dem großartigen<br />
Blick auf Roms berühmtestes Bauwerk<br />
werbe, dieses jedoch von keinem einzigen Zimmer<br />
aus gesehen werden könne, strahlt er mich an wie<br />
einen Bruder: Das sei ihm auch schon aufgefallen.<br />
Dann beginnt das wirkliche Grau en. Unablässig<br />
und allerorts springen einen freiberufliche Stadt- und<br />
Museumsführer mit einem: »Do you speak English?«<br />
an. War man den einen los, warfen sich zwei andere<br />
in den Weg: »Do you speak English?« Schüttelte man<br />
wahrheitswidrig den Kopf, ratterte es gnadenlos weiter:<br />
»Spanish? French? Russian?« Vor den Vatikanischen<br />
Museen habe ich erst Ruhe, als ich angebe,<br />
eine Führung in Latein zu wünschen. Aber auch damit<br />
kann man wahrscheinlich auf die Nase fallen,<br />
denn wer so perfekt kein Englisch spricht, der kann<br />
möglicherweise auch kein Latein gut.<br />
Vor meiner Reise nach Rom hatte ich mich überwiegend<br />
bei älteren Mitmenschen mit Informationen<br />
über die Ewige Stadt versorgt. Vor Q.I.E. hatte<br />
mich niemand gewarnt. Aber ich wusste, dass es<br />
praktisch unmöglich ist, einen Romaufenthalt lebend<br />
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KAT WEIDNER<br />
uens<br />
zu überstehen. Wenn man Rom bereiste, trug man<br />
daher am besten eine schusssichere Weste, schwere<br />
Lederstiefel sowie einen Helm. Es war ratsam, diese<br />
Bekleidung auch im Hotelzimmer niemals abzulegen,<br />
die Fensterläden stets fest verschlossen zu halten<br />
und die Nachtruhe im Zimmersafe zu verbringen,<br />
aber erst, nachdem man den Kleiderschrank<br />
vor die Tür geschoben und mit einer kleinen Reiselandmine<br />
taktisch gesichert hatte.<br />
In Rom, so war ich vorinformiert, sind zudem auf<br />
den Straßen überall mit zwei Mann besetzte Motorroller<br />
unterwegs. Der Hintermann entreißt einem<br />
hinterrücks die Handtasche. Gibt man die nicht frei,<br />
wird man mitgeschleift – bis nach Neapel, wo man<br />
blutig auf einem von der Mafia bewachten Müllberg<br />
aufschlägt. Mei ne Erwartungen waren hoch. Sogar<br />
eine Handtasche nahm ich mit. An mir sollte es<br />
schließlich nicht liegen! Die Schilderungen waren<br />
so plastisch, dass ich mich bereits im Flugzeug bei<br />
jedem Geräusch erwartungsvoll nach einer von hinten<br />
kommenden Vespa umschaute.<br />
Alles vergebens. Denn die Vespas in Rom sind inzwischen<br />
sehr viel leiser als noch vor einem Jahrzehnt.<br />
Das martialische Geknatter von früher, als<br />
man immer dachte, man sei aus Versehen in ein Artilleriegefecht<br />
geraten, ist dahin. Die Roller surren<br />
nur noch wie eine elektrische Nähmaschine. Oder<br />
wie ein das Ti-Eitsch übender Italiener. Kein Wunder,<br />
dass kein römischer Heranwachsender noch Lust<br />
verspürt, mit so etwas Raubüberfälle zu begehen.<br />
Geklaut wurde mir aber auch sonst nichts. Stattdessen<br />
war ich es, der fremdes Eigentum in Besitz<br />
nahm. Auf einer Parkbank lag ein verlassener Reiseführer.<br />
Bis auf die Seite mit dem Forum Romanum,<br />
wo offenbar einmal eine Scheibe Schinken als Lesezeichen<br />
eingelegt worden war, ist er in gutem Zustand.<br />
Aber auf Lettisch. Das ist ganz wunderbar:<br />
Wenn man es sich ganz schnell selber vorliest, klingt<br />
es fast wie Q.I.E. Was bedeutet: Man versteht nicht<br />
das Mindeste. Aber es ist ganz nahe dran am Originalsound<br />
von Bella Roma!<br />
Rober Niemann:<br />
Besser ein Vorurteil<br />
als gar keine Meinung,<br />
<strong>Eulenspiegel</strong>-Verlag,<br />
144 Seiten, 7,95 Euro<br />
Klassiker neu gelesen:<br />
Saure Gurken,<br />
trübe Tassen<br />
Dostojewskis »Schuld und Sühne« im<br />
Zerrbild der Clowniteskaja<br />
Weiße Gesichter, rote Nasen, Pluderhosen und<br />
Quadratlatschen in Clownsgröße – so erfreuen<br />
sie uns bereits seit Jahrhunderten: die Possenreißer<br />
und Spaßmacher, die Harlekine und Pantomimen,<br />
die Narren dieser Welt. Denn sie halten<br />
den Mächtigen in ihrer unbeholfenen Andersartigkeit<br />
ihren Schminkspiegel vors Gesicht. Kein<br />
Wunder also, dass in so vielen literarischen Meisterwerken<br />
dem Clown eine zentrale Rolle zugedacht<br />
ist.<br />
Ich sitze auf einem Treppenabsatz eines Hauses<br />
in der Nähe des Petersburger Heumarkts und<br />
mümmele lustlos meine Lunchbemmen, die mir<br />
meine Wirtin, eine gewisse Amália Lippewechsel,<br />
für einen Wucherpreis geschmiert hat. Auf der<br />
Suche nach den Clowns befinde ich mich gerade<br />
auf einer Lesereise durch Dostojewskis »Schuld<br />
und Sühne«. Den ganzen Tag schon bin ich durch<br />
stinkende Querstraßen und Gassen, billige Kaschemmen<br />
und beklemmende Dachstuben gepilgert<br />
und habe mit Bettlern und Betrunkenen, mit<br />
Soldaten und Dirnen gesprochen. Einen Clown<br />
jedoch konnte ich in dem Wimmelbild des bunten<br />
Treibens bislang nirgends ausmachen.<br />
Ein junges Pärchen, Rucksackliteraturtouristen<br />
aus Ibbenbüren, leistet mir Gesellschaft. Gemeinsam<br />
warten wir auf die Literaturführung durch<br />
das Mordhaus. Ob sie denn schon Clowns oder<br />
Pantomimen gesehen hätten, frage ich sie. Nein,<br />
das nicht. Aber sie hätten auch nicht so darauf<br />
geachtet, weil sie wegen der Rettung der Wale<br />
hier seien. Die junge Frau, eine etwas käsige und<br />
sehr neunmalkluge Germanistikstudentin im 17.<br />
Semester, schlägt mir vor, ich solle mal Bölls Ansichten<br />
eines Clowns lesen oder den Yorick aus<br />
der Friedhofsszene im Hamlet studieren. Ich erkläre<br />
freundlich, dass mein spezielles Interesse<br />
dem Pierrot des russischen Unifor malismus gelte,<br />
da osteuropäische Clowns wie Oleg Popow oder<br />
Boris Jelzin besonders viel Melancholie bzw. Alkohol<br />
ausatmeten. In Wahrheit war Böll vergriffen,<br />
und Yorick ist mir zu hirntot.<br />
Inzwischen ist der Literaturführer eingetroffen.<br />
Er zeigt uns eine Wohnung im zweiten Stockwerk,<br />
die gerade renoviert wird. Ich frage einen der Handwerker,<br />
ob man nicht vielleicht eine Clowns-Tapete<br />
anbringen und den Raum mit ein paar Harlekin-Puppen<br />
aufrüschen könne. Der etwas tumbe<br />
Mensch, ein Gastarbeiter aus Lortzings Zar und<br />
Zimmermann, schüttelt schwerfällig den Kopf und<br />
versteift sich auf die weithergeholte These, dass<br />
sich das Absurde Theater mit dem Russischen Realismus<br />
beißen würde.<br />
Über uns ertönt plötzlich ein spitzer Schrei.<br />
Wir hören etwas Schweres auf den Boden knallen.<br />
»Das wird wahrscheinlich nur die <strong>Alte</strong> sein,<br />
die gerade von diesem jungen Taugenichts umgebracht<br />
wird«, erklärt uns einer der Handwerker<br />
gelangweilt. <strong>Immer</strong>hin – das ist das Lustigste,<br />
was mir in diesem Roman bislang passiert ist,<br />
seitdem im zweiten Kapitel ein Teller mit sauren<br />
Gurken gereicht wurde.<br />
Ich verabschiede mich von dem Pärchen aus<br />
Ibbenbüren, das in der Etagentoilette eine größere<br />
Walpopulation gesichtet haben will. Sie wünschen<br />
mir noch viel Glück bei meiner Suche nach<br />
den Clowns. Aber mir ist längst klar geworden,<br />
dass Schuld und Sühne in erster Linie ein Buch<br />
über unnötige Wanderschaften ist, und dass ich<br />
es gar nicht abwarten kann, wenn in knapp neunzig<br />
Jahren die Petersburger Metro ihren Betrieb<br />
aufnimmt. Meine viel zu großen Sohlen qualmen<br />
vor Wut, und ich frage mich, ob sich auf einer der<br />
folgenden rund 650 Seiten überhaupt noch mal<br />
ein Clown blicken lassen wird. Ich habe die<br />
Schnauze voll vom Kaffeesatzlesen in einer trüben<br />
Tasse.<br />
Also lege ich das Buch beiseite und widme mich<br />
einer <strong>Eulenspiegel</strong>ei, bei der die Schuldfrage noch<br />
ungeklärt, die ungewollte Clownerie aber garantiert<br />
gesühnt wird: Angela Merkels Regierungserklärung<br />
zum Fiskalpakt.<br />
Michael Kaiser<br />
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Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:34 Seite 8<br />
Biskupeks auslese (i)<br />
Belle triste<br />
Ein großer Verlag macht derzeit sein<br />
großes Geschäft mit Texten, die angeblich<br />
ein geheimes Verlangen des Publikums,<br />
speziell des weiblichen, ausdrücken:<br />
sich mit allerlei Marterinstrumenten<br />
traktieren zu lassen. Und so bleibt<br />
es an kleinen Editionshäusern, das einstige<br />
Hauptgeschäft zu übernehmen:<br />
eher leisen Gedichten oder Theatermonologen,<br />
die sich nicht als Event vermarkten<br />
lassen, zu einer Öffentlichkeit<br />
zu verhelfen.<br />
In Sina Gumpert war ich jung verliebt<br />
(mitteldeutscher verlag) ist so einer,<br />
wir hören, wie die I’s und die U’s einander<br />
umschlingen und miteinander<br />
schnäbeln (auch ein hübsches Wort aus<br />
dem vergangenen Jahrhundert). Wir begreifen,<br />
wie Sina Gumpert uns auslächelt;<br />
Sina Gumpert, die eben nicht<br />
Mandy Schober heißen darf, obwohl sie<br />
vermutlich wie Mandy Schober aussieht<br />
und die Herzen und Unterhosen der<br />
Jungs in angespannte Sphären versetzt.<br />
In Graz beim Literaturverlag Andre Schinkel nennt sein Gereimtes<br />
Droschl erschienen Gedichte des Augsburger<br />
Buchhändlers Max Sessner:<br />
Warum gerade heute. Wem da ein<br />
Fragezeichen zu fehlen scheint, der mag<br />
das erste Gedicht des Bandes »Eine<br />
Frage bitte« lesen.<br />
★<br />
Die kleinen Verlage bringen es gelegentlich<br />
auch fertig, ihre Bücher so auszustatten,<br />
dass man sie gern zur Hand<br />
nimmt. Das ist bei der »Edition Ornament«<br />
so, die im quartus Verlag, der im<br />
Dorf Bucha seinen Sitz hat, ihren Vertrieb<br />
gefunden hat. Die schmalen<br />
schwarzen Bände erinnern mit ihren<br />
aufgeklebten Titel-Etiketten, mit Lesebändchen,<br />
farbigem Vorsatzpapier und<br />
beigefügten Grafiken an die legendären<br />
Bücher des Kurt Wolff Verlages vom<br />
Beginn des 20. Jahrhunderts. Herausgeber<br />
Jens-Fietje Dwars hat einem jungen<br />
Autor ein Podium geboten, der wiederum<br />
einem ollen Protokollanten die<br />
Ehre gibt. Jan Decker: Eckermann<br />
oder die Geburt der Psychoanalyse<br />
– Theatermonolog in drei Bildern<br />
mit Zeichnungen von Kay Voigtmann.<br />
In diesem Stück soll der brave Eckermann<br />
begründen, warum er immer<br />
wieder scheiterte, an sich und natürlich<br />
an Goethe. Ob das spielbar ist, bleibt<br />
vorerst eine Frage, gut lesbar ist es,<br />
meint der Rezensent, Vertreter einer<br />
Spezies, die Goethe bekanntlich gern<br />
totschlagen ließe.<br />
★<br />
Manche Buchtitel schwingen, Vokale<br />
trällernd, so hübsch in die Welt, dass<br />
man sie gern als Belletristik akzeptiert.<br />
»Übermütige Texte«, und die Nach-<br />
rede über ihn vermeldet: »lebt als steckbrieflich<br />
gesuchter Aufschneider, Daktylen-Sumotori<br />
und wandelndes Synthiepop-Lexikon<br />
in der düsteren Provinz<br />
Hallodristan«. Schinkels »Lob der guten<br />
Tat«, das die Luther-Dekade in ihrer landschaftlichen<br />
Gebundenheit preist und<br />
lobt, dürfen wir zur Hälfte zitieren: »Hinter<br />
Torgau musste Luther kacken, / Es<br />
erwischte ihn am Waldrand kalt; / Man<br />
sah beherzt die Kutte sacken / Und hörte,<br />
wie’s im Strauchwerk knallt. // Bald erleichtert<br />
trat der Reformator / Befreit<br />
und blass zum Wäldchen raus – / Ach,<br />
es wäre jetzt ein Ventilator / Gut … der<br />
den Geruch zerbraust …« Wer nun noch<br />
wissen will, was Angela (»schläfrig«) und<br />
Guido (»kühl und käfrig«) im Reime miteinander<br />
machen, der muss die Seite 32<br />
dieses Werkes lesen.<br />
★<br />
Eine Literaturtasche Wortwechsel<br />
bleibt zu begutachten – in der Tat ein<br />
elfenbeinfarbenes, textiles Beutelchen,<br />
das neben einzeln gehefteten Gedichten<br />
u. a. von Daniela Danz, Alban Nikolai<br />
Herbst und Jan Volker Röhnert Briefe<br />
zum Elend der deutschen Literatur-Alltagspraxis<br />
enthält. Und damit es auch<br />
überall käuflich ist, besitzt es eine ISBN,<br />
nämlich diese: 978-3-936305-25-8. Meines<br />
Erachtens ist das die erste ISBN für<br />
einen Stoffbeutel. Die Herausgeber Romina<br />
Voigt & Moritz Gause bestehen<br />
übrigens darauf, dass die Herstellung<br />
der Tasche in mühevoller Handarbeit<br />
durch echte, lebendige Dichter erfolgte.<br />
Wie schreibt man einen Roman?<br />
Gebraucht wird zuerst ein Thema.<br />
»Ein Thema« beginnt mit »ein«, das<br />
merken wir uns. Dann benötigen wir<br />
einen Helden. »Einen Helden« endet<br />
zweimal mit »en«, eins davon prägen<br />
wir uns fest ein. Schließlich brauchen<br />
wir noch Rotwein, das meiste davon<br />
schlucken wir runter, nur das »Ro« behalten<br />
wir im Kopf. Schließlich wird<br />
neues aus der Literaturwissenschaft<br />
Mehr als der Inhalt verrät uns die<br />
Sprache eines Buches über den<br />
Autor. So stammen z.B. Bücher, die in<br />
russischer Sprache verfasst sind, nicht<br />
selten von einem Menschen jenseits<br />
der polnischen Grenze.<br />
Leider wird wohl das Lesen nicht<br />
<strong>mehr</strong> olympische Disziplin. Da<br />
man heutzutage mit einem Buch in<br />
BECK<br />
beim Schreiben »manche Stunde«<br />
draufgehen, von der wir uns das<br />
»man« merken wollen.<br />
Wenn wir nun unser Gedächtnis<br />
durchforsten, alles zusammenfügen<br />
und aufschreiben, was haben wir dann<br />
geschrieben? Richtig: »einen Roman«.<br />
Fertig!<br />
Ove Lieh<br />
JAN TOMASCHOFF<br />
der Hand immer häufiger scheel angeguckt<br />
wird, hat es aber gute Chancen,<br />
wenigstens paraolympisch zu werden.<br />
Warum gibt es keine Nachttischlampen<br />
für Katzen? Ganz einfach:<br />
weil sie düstere Romane auch<br />
im Dunkeln lesen können.<br />
Dirk Werner<br />
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innovative textgestaltung<br />
Zunächst, scheint uns, sollten Texte<br />
aus Buchstaben bestehen, die zu Wörtern<br />
zusammengesetzt werden.<br />
Wie man schöpferisch Ziffern integrieren<br />
kann, um sie aus den Fängen<br />
der Mathematiker zu befreien, die sie<br />
nicht selten als gebrochene Zahlen hinterlassen,<br />
führt Büchner-Preisträger<br />
Reinhard Jirgl vor.<br />
Er schreibt zum Beispiel statt »eindeutig«<br />
innovativ »1deutig« und<br />
macht das Wort damit <strong>mehr</strong>deutig,<br />
was bei »eindeutig« eindeutig lustig<br />
ist. Denn es liest sich jetzt auch als<br />
Eins-deutig, also auf die Eins gerichtet,<br />
was wiederum bedeuten könnte<br />
»zum Besseren hin« oder zum Wenigen<br />
oder einfach nach links, wenn<br />
man sich mal einen bei Null beginnenden<br />
Zahlenstrahl vorstellt.<br />
Texte werden so noch ~~~deutiger<br />
(<strong>mehr</strong>deutiger oder Meer-deutiger),<br />
was zugleich auf ein größeres Gewässer<br />
hinweisen kann. Die Methode<br />
hat Potenzial. Man könnte etwas unauffälliger<br />
über 6 schreiben. Oder<br />
missverstehen, wenn jemand 9 sagt,<br />
aus der Bücherwelt<br />
Herr Kachelmann. Darauf sollten wir<br />
<strong>mehr</strong> 888 (achten). Man spart etliches<br />
an Tinte %imeter. Jedenfalls wenn<br />
man außer Ziffern noch Zeichen und<br />
Bilder, aber keine Buchstaben <strong>mehr</strong><br />
benutzt.<br />
Allerdings wäre das 1deutig nicht<br />
neu, sondern eine 3ste Nachahmung.<br />
Ove Lieh<br />
Die Buddenbrooks hatten »Krieg und<br />
Frieden« nie gelesen, aber hassten es.<br />
Ähnlich war es um Ulysses bestellt:<br />
Die »Odyssee« konnte er nicht ausstehen.<br />
Was sollte das für eine Odyssee<br />
sein, in der der Held nicht mal nach<br />
Irland, geschweige denn Dublin kam!<br />
Ganz und gar nicht grün waren sich<br />
auch Effi Briest, Madame Bovary und<br />
Anna Karenina. Aber gegen Jane Grey,<br />
Emma und diese aus Stolz und Vorurteil<br />
bestehende Elizabeth Bennet<br />
oder wie diese Engländerinnen auf der<br />
Jagd nach dem Märchenprinzen alle<br />
hießen, hielten sie zusammen wie<br />
Pech und Schwefel.<br />
Alle, ausnahmslos alle, von Gilgamesch<br />
und Sinuhe über Hamlet und<br />
Faust bis zu Zeno Cosini und dem großen<br />
Gatsby, erschauderten, wenn die<br />
Blechtrommel geschlagen wurde.<br />
Kotz!<br />
Peter Köhler<br />
Die traumpaare der Weltliteratur<br />
Macky Messer<br />
und Hedda Gabler<br />
Winnetou<br />
und Lady Chatterley<br />
Moby Dick<br />
und Daisy Duck<br />
Balu<br />
und Lulu<br />
John Silver<br />
und Goldmund<br />
MIROSLAV BARTÁK<br />
Kriki<br />
Biskupeks auslese (ii)<br />
Criminale<br />
Ein Krimi sollte vor allem ordentlich Autor lernfähig ist, verzichtet er demnächst<br />
auf die Verquickung von »Sta-<br />
ausgerechnet sein; eine vernünftige<br />
Sprache ist nicht von Schaden, und sioffizier« und »VEB Plaste und<br />
wenn dann die Spannung immer mal Elaste«. Derlei mag allein noch Darmstädtern<br />
imponieren, deren Horizont<br />
wieder ansteigt, ist das Sommerloch<br />
im Kopf des Lesers gefüllt.<br />
hinter Bebra endet.<br />
Die Rachegöttin (Rotbuch) hat<br />
★<br />
Christa Faust klug komponiert und An Tote Fische beißen nicht (List)<br />
Gerold Hens ganz ordentlich ins Deutsche<br />
gebracht. Es »sagt« zwar in jeder nellste: Auerbach & Keller. Die bei-<br />
sind die Autorennamen das Origi-<br />
fünften Zeile, ab und zu »fragt« und den Damen tauchen in ihrem Fall, der<br />
»antwortet« es auch; das heißt dann in Südfrankreich spielt, sogar mal<br />
wohl werkgetreue Übersetzung. selbst auf. Das versöhnt leider nicht<br />
Die Story ist die Fortsetzung der mit der biederen Geschichte. Pippa<br />
Abenteuer des ehemaligen Porno-Stars Bolle, ermittelnde Heldin, möchte als<br />
Angel Dare; gelegentlich wird auf das Übersetzerin ihr Geld verdienen und<br />
bloße Vorleben verwiesen. Weil jene streut immer mal längliche Betrachtungen<br />
zur Sprache ein. Ansonsten geht<br />
Angel ihre Geschichte erzählt, wissen<br />
wir, sie darf auch zum Schluss noch leben,<br />
nachdem sie einen Schützling, ei-<br />
die als verquält Spätpubertierende auf-<br />
es um eine angelnde Männergruppe,<br />
nen »verdammt gut aussehenden Kleinen«<br />
zu einer Fernsehshow »All Ame-<br />
gutgetan, aber wohl nicht viel retten<br />
treten. Eine Prise »Rachegöttin« hätte<br />
rican Fighter« nach Las Vegas gebracht können. Witzig ist das Umschlagbild<br />
hat. Übrigens erfolglos, was dem Genre von Gerhard Glück, aber mit 8,99 etwas<br />
zu teuer bezahlt.<br />
etwas widerspricht. Wer vom Krimi<br />
Grausamkeit, gern auch sexuelle, erwartet,<br />
ist hier genau richtig. An den Der Einfall für Meer Morde (Diana<br />
★<br />
Beschreibungen scheint ein gewisser Verlag): Nimm einen griesgrämigen<br />
Chandler mitgestrickt zu haben; insgesamt<br />
gibt es viele Leichen, leider trifft’s Assistentin mit Küchenkenntnissen,<br />
Kommissar mit Hund, Polizeischülerdie<br />
Guten, auf die wirklich Bösen (Kroaten!)<br />
wartet nun die Fortsetzung. Nordseeküste hinzu und verteile das<br />
gebe nacheinander vier Inseln von der<br />
★<br />
Spielmaterial unter vier Autoren (Michael<br />
Koglin, Philip Tamm, Andrea Va-<br />
Mit nur zwei sprechenden Personen<br />
kommt Christian Gudes Kammerspiel<br />
(Gmeiner) aus. Der Darmstäd-<br />
sich nun alle redlich, im »Blutigen<br />
noni und Regula Venske). Die mühen<br />
ter Privatdetektiv Rünz wird von einem<br />
Psychiater mit einer Suche benügend<br />
Leichen zu verstecken und ei-<br />
Watt« oder »Tödlichen Strandgut« geauftragt.<br />
Allein in Dialogen (drei Akte nen Fall abzuschließen. Dabei <strong>müssen</strong><br />
mit Zwischenspielen) wird die Geschichte,<br />
lokal geerdet, nach und nach lesen haben – Schluss-Autorin Vens -<br />
sie ihre jeweiligen Vorschreiber gut ge-<br />
entwickelt. Und immer wieder gebrochen.<br />
Gude beherrscht das Genre, den Kommissar bereits ein Buch vor-<br />
ke darf auch noch einen Fall lösen, der<br />
spielt mit allen Erwartungen, zeigt her (»Blutiger Advent«) zunächst in<br />
sich als Meister jäher Wendungen und den Aktenkeller verbannte. Wie das<br />
unerforschlicher Ratschlüsse (vgl. J. W. alles aus-, um- und zusammengerechnet<br />
wurde, darüber müss te Herausge-<br />
Stalin), bringt Ex-Frau, Neu-Freundin<br />
und jede Menge Whiskymarken ins berin Uta Rupprecht den Abschlussbericht<br />
verfassen. Doch dessen Anfer-<br />
lustvolle Spiel. Wenn der Leser ein<br />
Kenner von Krimi-Strukturen ist, hat tigung ist nicht nur bei deutschen Polizisten<br />
er doppelten Genuss – und wenn der unbeliebt.<br />
LITERATUREULE 10/12 9
Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:34 Seite 10<br />
Biskupeks auslese (iii)<br />
<strong>Immer</strong> sachlich<br />
Das gute Buch<br />
Was sind Schriftstellerbiografien?<br />
Manche geben sich als Romane eines<br />
Lebens, andere zählen sachlich Lebensstationen<br />
auf. Zum hundertsten Todestag<br />
und dem hundertsiebzigsten Geburtstag<br />
hat Karl May dieses Jahr viel<br />
Nachruhm erfahren. »Eine sächsische<br />
Biografie« nennt Klaus Walther sein<br />
im Chemnitzer Verlag erschienenes<br />
Kompendium. Bemerkenswert, dass<br />
der Autor auf zwei Seiten die Biografien<br />
der Konkurrenz lobt und mit kollegialer<br />
Fairness kurz vorstellt (»die<br />
vielleicht schönsten Lebensdarstellungen«,<br />
»es gibt nichts an Ereignissen,<br />
Daten und Fakten, die man hier nicht<br />
finden könnte«, »liest man mit Vergnügen<br />
den Karl-May-Roman von Erich<br />
Loest«). Eine Novum in diesem Büchlein:<br />
die Karl-May-Orte mitsamt ihren<br />
Reliquien. An die sechzig sind es in Mitteleuropa,<br />
darunter ganz abenteuerlich<br />
auch Höhlen und Gipfelkreuze. Im Geburtsort<br />
Hohenstein-Ernstthal finden<br />
sich überall Wohnhäuser, Schulen, Kirchen,<br />
Bahnhof und Buchhandlung, die<br />
vom Karl-May-Leben künden – und<br />
gar viele Kneipen.<br />
★<br />
Als Abenteuerautor gilt gelegentlich<br />
auch Joseph Conrad, auch ihn<br />
erreichten erst spät Ruhm und Geld.<br />
Renate Wiggershaus beschreibt in<br />
ihrer dtv-Biografie die polnische Kindheit<br />
des Konrad Korzeniowski in zaristischer<br />
Verbannung, die Seemannsjahre<br />
in aller Welt, als er das Kapitänspatent<br />
erwarb und nicht nur den Geburtsnamen,<br />
sondern auch die Muttersprache<br />
zugunsten des Englischen<br />
ablegte – der Autor großer Romane<br />
soll aber bis ins <strong>Alte</strong>r mit deutlichem<br />
Akzent gesprochen haben. Als Mittvierziger<br />
erhielt er eine Zuwendung<br />
von 300 Pfund vom Royal Literary<br />
Fund zur Milderung der desolaten finanziellen<br />
Situation; auch damals<br />
wurden Nachwuchsautoren gefördert.<br />
★<br />
Streitschriften sind meist dünne Bücher,<br />
bei Jutta Ditfurths Worum es<br />
geht (Rotbuch) gilt das im übertragenen<br />
Sinn. Die einstige Grüne, die es<br />
versteht, alle früheren Freunde zu Gegnern<br />
werden zu lassen, erklärt auf 50<br />
Seiten, wie die Welt geregelt werden<br />
müsste. Die Autorin gibt sich heftig<br />
antireligiös, verurteilt aber Islamphobie<br />
als Grundübel der westlichen Welt.<br />
Das Allerschlimmste ist ihrer Meinung<br />
nach die Occupy-Bewegung,<br />
nämlich eine »weit offene Flanke«. Bei<br />
den Versuchen, starke Bilder (!) zu<br />
schmieden (!), wird es lustig: Hungersnöte<br />
»breiten sich wie Wüstensand<br />
aus«, Angst wird »geschärft«, »trojanische<br />
Pferde galoppieren als Kavallerien«<br />
heran, ein »stählerner Wille«<br />
lässt Menschen sterben, und »Tote sind<br />
nur eine Nadelspitze der Eisbergkette«.<br />
★<br />
Ingo Schulze ist nun einer, der mit<br />
Sprache umgehen kann, und so wird<br />
bei ihm auch eine »gegen marktkonforme<br />
Demokratie – für demokratiekonforme<br />
Märkte« gerichtete Streitschrift<br />
zum Lesegenuss. Nicht nur,<br />
weil er Andersens berühmtes Kaiser-<br />
Märchen in Unsere schönen neuen<br />
Kleider (Hanser Berlin) zur Gänze zitiert,<br />
sondern weil er Wörter befragt:<br />
Zwar ahnt jeder, dass »Arbeitgeber«<br />
Leute sind, die Arbeitskraft nehmen,<br />
man muss es aber auch aussprechen.<br />
Und dass »gelenkte« (ganz böse, weil<br />
von Putin) und »marktkonforme«<br />
(sehr gut, weil von Frau Merkel) Demokratie<br />
sich gleichen, steht hier klug<br />
formuliert.<br />
Der Text geht auf eine Rede zurück,<br />
die Schulze am 26. Februar 2012 in<br />
Dresden gehalten hat. Und so kann<br />
man jetzt nachblättern, wie der<br />
Schluss von Andersens Märchen wirklich<br />
lautet. Dass das Volk, von einem<br />
kleinen Jungen angeregt, ruft: »Aber<br />
er hat ja gar nichts an!«, hat der Märchenkenner<br />
noch im Ohr. Doch die<br />
letzten zwei Sätze beschreiben viel anschaulicher<br />
unsere gegenwärtige Welt:<br />
Der »Kaiser (…) dachte bei sich: ›Nun<br />
muss ich aushalten.‹ Und die Kammerherren<br />
gingen und trugen die Schlep -<br />
pe, die gar nicht da war.«<br />
Und so muss man auch nicht wie<br />
Frau Ditfurth lauthals und in schiefen<br />
Bildern mitteilen, was das Volk weiß;<br />
viel ersprießlicher – und nützlicher –<br />
ist es, jene Kammerherren zu beschreiben,<br />
die eine Schleppe tragen, die gar<br />
nicht da ist.<br />
ARI PLIKAT (2)<br />
BERND ZELLER<br />
10 LITERATUREULE 10/12
Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:34 Seite 11<br />
Lesezeichen: KonStantin WeCKeR<br />
Jeder Augenblick<br />
Allein<br />
Da waren doch so viele Tage<br />
und sie verflogen im Nu.<br />
Und jetzt bleibt die quälende Frage:<br />
Wozu?<br />
Wozu nur dieses Gegockel<br />
und all die Angebereien.<br />
Am Ende fällst du vom Sockel.<br />
Allein.<br />
Alleine mit deinen Migränen,<br />
trotz Rente und Zugewinn.<br />
Es fehlte den Lebensplänen<br />
der Sinn.<br />
Askese und Ekstase,<br />
du warst nie wesentlich.<br />
Nur eine Seifenblase:<br />
dein Ich.<br />
Das meiste war unverständlich,<br />
trotz Stunden des Lichts.<br />
Wie alles zerfällst du letztendlich<br />
in nichts.<br />
Warum sich ans Leben krallen,<br />
lass aus und lass dich ein.<br />
Du findest nur im Zerfallen<br />
dein Sein.<br />
Surfen und Schifahren,<br />
Schifahren und Surfen.<br />
Im Winter Surfen,<br />
im Sommer Schifahren.<br />
Frühjahr und Herbst:<br />
Schisurfen,<br />
später dann<br />
Schurfen und Sifahren<br />
Sifahren und Schurfen.<br />
Im Winter Schurfen,<br />
im Sommer Sifahren.<br />
Im Herbst Schischurfen.<br />
Abends hat man sich viel zu sagen:<br />
Schurfen Schie auch, Fräulein?<br />
Nein, ich schare nur Schi.<br />
Schade.<br />
Ich und Goethe<br />
Manchmal wär ich gerne weise,<br />
möchte mild, vor allem leise<br />
über Idioten lächeln,<br />
nicht <strong>mehr</strong> hinter Mädchen hecheln.<br />
Auf der Parkbank ab und an<br />
ein Gespräch von Mann zu Mann<br />
oder mit den Göttern scherzen,<br />
all die großen, kleinen Schmerzen<br />
aus dem Körper meditieren,<br />
Jugendliche faszinieren<br />
und selbst diese Eitelkeiten<br />
lässig schwebend überschreiten.<br />
Lächelnd mit dem Sensenmann<br />
Sechsundsechzig spieln und dann<br />
ungeniert das Spiel verlieren<br />
und verklärt ins Grab stolzieren.<br />
Leider lehrt uns die Geschichte,<br />
dass entsprechende Berichte<br />
zwar galant die Nachwelt schmücken,<br />
doch die Wahrheit unterdrücken.<br />
Denkt nur an den großen Meister<br />
Goethe, Johann Wolfgang heißt er<br />
der begann in hohem <strong>Alte</strong>r<br />
hinter Mädchen, wie ein Falter<br />
in den letzten Sommertagen<br />
greisengierig herzujagen.<br />
Und man mag es kindisch nennen,<br />
hinter Röcken herzurennen,<br />
wenn dir schon der Zahn der Zeit<br />
jegliche Standhaftigkeit<br />
sportlich oder überhaupt<br />
eigentlich nicht <strong>mehr</strong> erlaubt<br />
und ich will auch, ganz bescheiden<br />
jede Anmaßung vermeiden,<br />
doch ich fürchte, diese Nöte<br />
teile ich dereinst mit Goethe.<br />
Noch ’ne Erinnerung an Marie A.<br />
(für B.B.)<br />
Wir trafen uns in einem Regenbogen,<br />
der Regen war schon lange fortgezogen,<br />
nur noch des Bogens Bogen spannte sich<br />
uns übers Haupt und glänzte fürchterlich.<br />
Du warst im Blau und ich im Rot gesessen,<br />
wir haben fast die Welt um uns vergessen,<br />
da drücktest du dir einen Pickel aus,<br />
der war sehr weiß und sah sehr picklig aus.<br />
Ich will dagegen allgemein nichts sagen,<br />
denn jeder kann mal einen Pickel haben.<br />
Jedoch zur Zeit der höchsten Weltentrückung<br />
verschafft derselbe seltene Verzückung.<br />
Du pickeltest, nun gut, ich sah zu Boden,<br />
der Regenbogen hat sich schon verzogen,<br />
kaum war noch Blau, kaum war noch Rot zu sehn.<br />
Nur noch der Pickel war sehr weiß und blieb bestehn!<br />
Werd mich also weder weise<br />
noch behutsam oder leise,<br />
eher jammernd, tobend, kreischend<br />
und vor Angst ins Betttuch scheißend<br />
weigern, zitternd um mein Leben,<br />
meinen Löffel abzugeben.<br />
KALLE<br />
Konstantin Wecker:<br />
Jeder Augenblick ist ewig,<br />
Deutscher Taschenbuch Verlag,<br />
266 S., 9,90 Euro<br />
LITERATUREULE 10/12 11
Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:34 Seite 12<br />
Pferdekotentfernung bei<br />
eingeschränkter Sehleistung<br />
Kleiner Leitfaden zur laienhaften Gedichtinterpretation<br />
Oft genug sind sich die Leser unserer Zeitschrift unsicher, wie sie die abgedruckten<br />
Gedichte zu verstehen haben. Ihnen fehlt dabei hauptsächlich der Mut, zu ihrem eigenen<br />
Bauchgefühl zu stehen. Dabei sind doch gerade Gedichte darauf angelegt, vieldeutig zu<br />
sein: Eine eigene Meinung ist also immer richtig, sofern sie sich durch das Gedicht<br />
begründen lässt. An dem folgenden Beispiel soll nun gezeigt werden, welche Ansätze<br />
zutreffen können:<br />
Detlev von Liliencron (1844-1909)<br />
Four in hand<br />
Vorne vier nickende Pferdeköpfe,<br />
Neben mir zwei blonde Mädchenzöpfe,<br />
Hinten der Groom mit wichtigen Mienen,<br />
An den Rädern Gebell.<br />
In den Dörfern windstillen Lebens Genüge,<br />
Auf den Feldern fleissige Eggen und Pflüge,<br />
Alles das von der Sonne beschienen<br />
So hell, so hell.<br />
Begriffserklärung<br />
Four in hand – ein Krawattenknoten<br />
Groom – Beifahrer<br />
Und so gehen Sie vor:<br />
1. Der sachliche Ansatz: Ein Kutscher führt<br />
seine Pferde übers Land.<br />
2. Der stimmungsvolle Ansatz: Das Gedicht beschreibt<br />
eine sonntägliche Landpartie.<br />
3. Der ökologische Ansatz: Der Kutscher minimiert<br />
durch den bewussten Verzicht auf ein<br />
Automobil den CO 2 -Ausstoß in Mitteleuropa.<br />
4. Der biografische Ansatz: Das scheinbare Fehlen<br />
eines lyrischen Ichs charakterisiert das<br />
mangelnde Selbstwertgefühl des Autors.<br />
5. Der pädagogische Ansatz: Einem Kind werden<br />
herkömmliche Verfahren des Ackerbaus<br />
gezeigt.<br />
6. Der herrschaftliche Ansatz: Jemand kontrolliert<br />
die landwirtschaftliche Arbeit.<br />
7. Der polizeiliche Ansatz: Ein Verkehrsteilnehmer<br />
achtet nicht auf den Straßenverkehr und<br />
provoziert mit seinem fahrlässigen Verhalten<br />
einen vermeidbaren Unfall.<br />
8. Der romantische Ansatz: Oh, wie schön ist<br />
doch Mutter Erde!<br />
9. Der wirtschaftliche Ansatz: Handel und Ackerbau<br />
beeinflussen einander.<br />
10. Der erotische Ansatz: Der Kutscher sucht<br />
ein geeignetes Plätzchen für ein kommendes<br />
Stelldichein.<br />
11. Der sozialistische Ansatz: Kapitalistische<br />
Verklärung des Landlebens durch besitzenden<br />
Kutscher.<br />
12. Der perverse Ansatz: Der pädophile Kutscher<br />
neben dem ahnungslosen Mädchen<br />
symbolisiert die ländliche Inzucht.<br />
13. Der perspektivische Ansatz: Ein Fremder<br />
kutschiert durch unser Dorf.<br />
14. Der zensorische Ansatz: Der Mangel an offener<br />
Kritik jedweder Art macht dieses Gedicht<br />
äußerst verdächtig.<br />
15. Der medizinische Ansatz: Der Kutscher ist,<br />
soweit sich feststellen lässt, in seiner Sehleistung<br />
nicht eingeschränkt.<br />
16. Der ordnungsamtliche Ansatz: Der Kutscher<br />
ist für die Entfernung von Pferdekot auf<br />
dem Weg selbst verantwortlich.<br />
17. Der gesellschaftliche Ansatz: Der Kutscher ist<br />
auf seine Anonymität bedacht, was ihn als<br />
asozial erscheinen lässt.<br />
18. Der sozialgeschichtliche Ansatz: Der Kutscher<br />
nimmt die Produktionsbedingungen<br />
des arbeitenden Volkes nicht wahr und provoziert<br />
damit auf lange Sicht eine Revolution<br />
von unten.<br />
19. Der linguistische Ansatz: In diesem Text<br />
wird mithilfe von Anglizismen Sprachpanscherei<br />
betrieben.<br />
20. Der tierliebe Ansatz: Pferde <strong>müssen</strong> regelmäßig<br />
bewegt werden!<br />
Bernhard Spring<br />
OLIVER OTTITSCH<br />
Deutsch mit Bastian tick:<br />
Der Sprachwärter hat die Wörter<br />
oder: Der Sprachwart hat das Wort<br />
Können Sie Deutsch? Wissen Sie, was einzelne Wörter<br />
annoch bedeuten? Vergewissern Sie sich geflissentlich<br />
der Bedeutung unbekannter Vokabeln, sintemalen<br />
es Ihren Wortschatz erweitert? Oder kümmern<br />
Sie sich den Deut darum? Dünkt Sie solches<br />
lässlich, weil es Ihnen lässlich deucht?<br />
So es Ihnen aber nicht an Beflissenheit mangelt,<br />
wird es Sie kaum dauern, dass Ihnen diese mitnichten<br />
hanebüchene Miszelle so gebenedeite Wörter<br />
beut. Gebricht es Ihnen bass an Verständnis, so entbürden<br />
Sie sich behänd sotanen sprachlichen Gebrestens<br />
vermöge eines Glossars – und stehen Sie nichts<br />
weniger als an, sich hierzu freislich zu unterstehen!<br />
Riefeln Sie also nicht Ihre Stirn, knaupeln Sie nicht<br />
benaut an Ihren Fingern und gnatzen Sie nicht! Denn<br />
wer sich hier als lass erweist, den wird männiglich<br />
im sprachlichen Beritt auch fürder als einen Schluffen<br />
schmälen oder wie Schrofel abtun können.<br />
Und begibt sich solches gleichwohl, so wissen Sie<br />
wenigstens, als was man Sie da verglimpft. Darum<br />
ist Deutsch doch die beste aller Sprachen: maßen<br />
man jedes Wort versteht.<br />
Traun, meiner Treu!<br />
Peter Köhler<br />
12 LITERATUREULE 10/12
Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:34 Seite 13<br />
Michael Kohlhaas<br />
gegen den Teuro<br />
An den Ufern der Pleiße lebte um den Anfang des<br />
21. Jahrhunderts ein Fahrradhändler namens Michael<br />
Kohlhaas. Dieser außerordentliche Mann<br />
hätte bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines<br />
guten Staatsbürgers gelten können, wären<br />
nicht die wilden Euro-Zeiten gewesen.<br />
In schwüler Sommerhitze ritt er einst mit seinem<br />
Eisenross in der Badehose zum Tagebausee<br />
vor die Tore der Stadt, und während<br />
die Sonne nicht enden wollte, auf seinen<br />
Rücken niederzuprasseln, der<br />
Durst die Kehle zuschnürte, erblickte<br />
er alsbald am Nordstrande eine Restauration. »Eiskaffee<br />
ToGo« stand in großen Lettern auf einer<br />
Schiefertafel, und als er den Preisanschlag des togolesisch<br />
anmutenden Getränks näher betrachtete,<br />
wurde er gewahr, dass es bloß um kalten Kaffee<br />
ohne Eis ging. Aber mit Sahne. Wollte man Eis<br />
dazu, musste man einen Obolus blechen.<br />
Eiskaffee ohne Eis? Ja, könnte er dann nicht auf<br />
die Idee kommen, seine Eisenrösser ohne Räder,<br />
wenig stens die bloßen Felgen ohne Mäntel zu veräußern?<br />
Fahrrad light? Vielleicht noch den Rahmen<br />
extra berechnen? Und erst recht den Lenker!<br />
Blieben nur die Vorder- und die Hinterleuchte übrig,<br />
mit einem Draht verbunden, an dem der Dynamo<br />
baumelt. <strong>Immer</strong>hin: das roch verdammt nach<br />
Kunst; ein Plätzchen neben so manchem Gerümpel<br />
im neuen, völlig neumeisterlichen Albertinum<br />
würde sich noch finden!<br />
So brach Michael mit seinem Eisenross denn auf,<br />
um den Großkanzler des Freistaates um Audienz<br />
zu bitten. Entweder Schluss mit der Teuro-Abzocke<br />
oder einen Platz im Albertinum! Mit schmerzenden<br />
Waden nelbst Nackenpein und – ach was! – fällisch<br />
groggie un gladsch nass, mit platten Reifen<br />
und <strong>mehr</strong>eren polizeilichen Verweisen von der Autobahn<br />
erreichte Michael den Altmarkt der Landeshauptstadt,<br />
ließ sich sogleich im erstbesten Gasthause<br />
nieder und bestellte ausgehungert für 3 Eurönchen<br />
90 eine echte Sächsische Kartoffelsuppe<br />
mit Wiener Würstchen. Ja, hier lebte der antipreußische<br />
Geist fort: Sachsen und Österreich vereint<br />
auf einem Teller! Was kam, sah allerdings wie das<br />
Ende des Siebenjährigen Krieges aus. Mehrmals<br />
musste Michael seine Brille zurechtrücken,<br />
schwamm doch, als das Süppchen, nein Süppelchen,<br />
ach Süppelinchen eingetroffen, die sogenannte Wiener<br />
immer wieder aus dem Blickfeld. Was hieß da<br />
Würstchen – ein drei Zentimeter langes Kastratenstummelchen<br />
tummelte sich auf einem gerade noch<br />
mit Suppe benetzten Tellerchen! »Wollder misch<br />
vorhohnebiebeln?«, brüllte Michael in sich hinein<br />
und zahlte mit Trinkgeld.<br />
Außer sich vor Wut ließ er die Audienz Audienz<br />
sein, pumpte Luft in sein Fahrrad und schaffte es<br />
in einer Stunde bis vor die Grenze von Leipzig-Mölkau,<br />
fiel erschöpft vom Fahrrad, dessen Reifen auf<br />
dem heißen Asphalt weggebrannt waren. Zum<br />
Glück passierte das gerade vor den Stufen des alten<br />
Griechen, aber das war doch der, der den Weinessig<br />
auf dem Tisch durch normalen Speiseessig ersetzt<br />
hatte? Nein, dann lieber weiterquälen bis zur<br />
nächsten S-Bahn-Haltestelle, einen Verkehrsverbundfahrschein<br />
lösen und nichts wie heim! Aber<br />
hatte er nicht jüngst gelesen, dass selbiger Gepäckstücke<br />
extra zu berechnen plante, ein Köfferchen<br />
etwa … »Ihr Vorhohnebiebler!«, vibrierte es in Michael,<br />
und er vergaß, seinen<br />
Fahrschein abzustempeln.<br />
Nun, Kohlhaas, du Fahrradhändler,<br />
dem solchergestalt<br />
Genugtuung geworden, mache dich bereit, verkehrsverbundlicher<br />
Majestät, deren Anwalt hier<br />
steht, wegen des Fahrens mit ungültigem Tickete<br />
deinerseits Genugtuung zu geben, sprach der<br />
Schaffner.<br />
Es vergingen einige Tage, da brachte Michael<br />
den Überweisungsschein mit der empfindlichen<br />
Strafe zur Bank, schwang sich auf sein Eisenross<br />
Richtung Tagebausee, eine Kanne kalten Kaffees<br />
und eine Dose Wiener Würstchen im Rucksack.<br />
Hier endigt die Geschichte vom Kohlhaas.<br />
Birk Engmann<br />
neufassung nach<br />
Heinrich von Kleist<br />
Warum Lyrik immer<br />
den 3. Preis gewinnt<br />
Mal ehrlich, wären Sie gerne in einem Lyrikeck?<br />
Würden Sie sich da wohlfühlen? Da riecht es immer<br />
ein bisschen muffig, meist liegt es neben dem<br />
Lager oder neben dem Klo und ist unglaublich<br />
schlecht sortiert.<br />
Wenn man nachfragt, wird man angesehen, als<br />
ob man sehr einsam wäre, verständnisvoll blättert<br />
die Buchhändlerin im Computer und denkt sich: Die<br />
arme Sau. Mitte Zwanzig und schon auf Lyrik.<br />
Ob der wirklich so depressiv ist? Wahrscheinlich<br />
muss er schwere Medikamente schlucken und seine<br />
Frauen schicken ihn nach spätestens zwei Wochen<br />
in die Wüste.<br />
Am schlimmsten ist es, wenn man dann auch<br />
noch Lyrik schreibt.<br />
Wer Lyrik schreibt, ist ein kompletter Vollidiot. Der<br />
trifft sich ständig mit anderen Dichtern und dann<br />
reden sie über ihre Zyklen und nicken dazu mit den<br />
breiten Köpfen, während sie »sehr interessant, wirklich«<br />
in ihre Bärte nuscheln und ihre eigenen Werke<br />
gut finden. In ihren Versen schreiben sie gerne von<br />
der »schweren Süße des Jasmins«, hüsteln permanent<br />
in ein Wasserglas, schreiben alle verse in allen<br />
strophen zu allen zeiten in kleinbuchstaben, lassen<br />
sich jeden Tag vor einer Bücherwand fotografieren,<br />
während sie den Daumen-, Zeige- und Mittelfinger<br />
der rechten Hand saublöd um den Mund gruppieren,<br />
und hatten in jedem Fall eine Phase, in der sie<br />
sich mit Gelegenheitsjobs wie Leichenwäscher,<br />
Schlachthoflagerist oder Hafenarbeiter durchs Leben<br />
schlugen.<br />
Was würden wir dafür geben, wenn wir Erzählungen<br />
schreiben könnten! Witzige, seitenlange Beschreibungen<br />
über soziale Miss-Stände. Tolstoi-Romane<br />
und Dostojewski-Szenen oder wenigstens<br />
Schmierblöcke voll platter Komik, aneinandergereiht,<br />
grob sortiert und als Roman bezeichnet. Das<br />
wär’s. Stattdessen fallen uns immer wieder Gedichte<br />
zu. Wir hassen Lyrik, gebt uns also den dritten Preis,<br />
damit wir uns nicht ganz so beschissen vorkommen:<br />
Wir leben ja immerhin in einem Sozialstaat. Da<br />
darf man ein bisschen Mitleid doch wohl erwarten,<br />
oder?!<br />
Matthias Kröner<br />
KARSTEN WEYERSHAUSEN<br />
LITERATUREULE 10/12 13
Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:35 Seite 14<br />
Ichzeit, Duzeit, Er-Sie-Es-Zeit<br />
Lesezeichen: HeiKo WeRninG<br />
Ich kann nicht einschlafen. Zweifel quälen mich.<br />
Woher kommen wir? Wohin gehen wir? In welcher<br />
Epoche schreiben wir? Das sind so die Fragen, die<br />
mich kein Auge zutun lassen. Mich tief empfindenden<br />
Schriftsteller. Wenn da nicht immer diese Selbstzweifel<br />
wären! Ist das überhaupt Literatur? Schreibe<br />
ich überhaupt zeitgemäß? Habe ich zu viel Kaffee<br />
getrunken am Nachmittag?<br />
Aber ich kenne sie gut, die Nächte, in denen ich<br />
nicht einschlafen kann. Ich habe vorgesorgt. Ich habe<br />
mir die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ans<br />
Bett gelegt. Und es trifft sich gut, dass einer von uns,<br />
nämlich Maxim Biller, endlich einige Antworten für<br />
uns gefunden und sie in die Zeitung hineingeschrieben<br />
hat, unter dem schönen Titel »Ichzeit«: »Wir leben,<br />
lesen und schreiben schon lange in einer literarischen<br />
Epoche und wissen es nicht.« Und in der<br />
Tat – ich hätt’s nicht gewusst. Aber hätte ich es zumindest<br />
ahnen können?<br />
»Vielleicht ahnen wir es, wenn wir nach der Lektüre<br />
von Tellkamps Turm denken, das war noch besser<br />
als eine Folge von Breaking Bad.« Nein, ich hätte<br />
es nicht ahnen können. Denn mir gefällt nicht nur<br />
jede einzelne Folge von Breaking Bad besser als Tellkamps<br />
wichtigtuerischer Langeweiler-Turm, sondern<br />
jede Ausgabe der Sendung mit der Maus.<br />
Umso wichtiger also, dass Maxim Biller endlich<br />
mit der Sprache rausrückt, selbst wenn ich dafür seinen<br />
ganzen, langen, wahrscheinlich sehr tief empfundenen<br />
Artikel in der FAS lesen muss, sonst werde<br />
ich es nie erfahren, denn außer Maxim Biller kam,<br />
glaube ich, noch keinem von uns in den Sinn, dass<br />
die besten Romane der letzten 25 Jahre <strong>mehr</strong> verbindet<br />
als ihre Qualität: »Dass die besten Romane<br />
der letzten 25 Jahre <strong>mehr</strong> verbindet als ihre Qualität,<br />
kam, glaube ich, noch keinem von uns in den<br />
Sinn.« Ich lese gebannt weiter.<br />
Angefangen hat alles, so Biller, mit Rainald Goetz,<br />
weil der sich beim Vorlesen »selbst verletzte«, indem<br />
er sich nämlich vor der Kamera beim Vorlesen<br />
eine kleine Schnittwunde zugefügt hat, womit er »etwas<br />
unerhört Neues wagte«, denn »er stellte seine<br />
ganze verletzende und verletzliche Person stolz ins<br />
grelle öffentliche Licht«. Darauf hätte im Grunde natürlich<br />
auch schon vorher mal jemand kommen können:<br />
Einfach mal seine eigene Person ins grelle, öffentliche<br />
Licht stellen! Nach all den Jahrhunderten<br />
voll schwächlicher, unglaubwürdiger, langweilender<br />
Er-Erzähler: »Die Literatur braucht wieder ein starkes,<br />
glaubhaftes, mitreißendes Erzähler-Ich – sonst<br />
hört ihr uns, die tief empfindenden Dichter und Denker,<br />
im immer lauter werdenden Medienlärm nicht<br />
<strong>mehr</strong>.« Und Biller im Medienlärm nicht <strong>mehr</strong> zu hören<br />
– das ginge ja nun gar nicht!<br />
Dem Neues wagenden Goetzschnitt folgte Fausers<br />
Rohstoff: »Dieser Roman tut weh, so schön und tief<br />
empfunden ist er. Und genau das ist er auch.« Also:<br />
Das genau ist er: schön und tief empfunden. Das tut<br />
weh. »Wie schade, dass der existentielle Trinker Fauser,<br />
der ein paar Jahre später morgens um vier auf<br />
einer bayerischen Autobahn betrunken überfahren<br />
EXOT. Zeitschrift für<br />
komische Literatur Nr. 13,<br />
www.exot-magazin.de<br />
128 Seiten, 5,00 Euro<br />
wurde, über seinen Amy-Winehouse-Tod nicht <strong>mehr</strong><br />
selbst schreiben konnte. Es wäre sein stärkster Text<br />
geworden.«<br />
Das ist in der Tat sehr schade. Man könnte den<br />
Gedanken vielleicht sogar noch einen Tick weiterspinnen<br />
und bedauern, dass im Grunde ja nicht nur<br />
Jörg Fauser seinen Tod ebenso wenig beschreiben<br />
konnte wie Amy Winehouse den ihrigen nicht <strong>mehr</strong><br />
zu besingen in der Lage war, sondern auch sonst hat<br />
im Grunde ja noch niemand fundiert über seinen<br />
eigenen Tod schreiben können. Ein Jammer, manch<br />
schöner Text ist uns dadurch sicherlich verloren gegangen.<br />
Und wahrscheinlich wird dieses große literarische<br />
Projekt wieder keinen angehen, wenn Biller<br />
es nicht eines Tages selbst tut. Meinen Segen<br />
hätte er. Und seinen auch, denn: »Viele der besten,<br />
wichtigsten Bücher der letzten zweieinhalb Jahrzehnte<br />
wären ohne den extremen persönlichen Einsatz<br />
ihrer Verfasser undenkbar gewesen.« Wer hätte<br />
das gedacht? Bücher schreiben kostet persönlichen<br />
Einsatz! Warum hat mir das vorher niemand gesagt?<br />
Als ich noch etwas anderes hätte lernen können,<br />
Bauarbeiter oder <strong>Alte</strong>npfleger oder irgendwie so was<br />
halt. Aber zumindest Ihr, Ihr emporstrebenden, tief<br />
empfindenden Nachwuchsschriftsteller, Ihr seid nun<br />
gewarnt. Ihr könnt noch umkehren!<br />
(gekürzt)<br />
ANDREAS PRÜSTEL<br />
14 LITERATUREULE 10/12
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Der Autor mit Ambition benötigt eine vorzeigbare<br />
Vita. Eine Biografie mit richtig was drin.<br />
Denn Weltliteratur entsteht nur aus intensivem<br />
Leben: aus Kämpfen und Wirrnissen, aus Nahtoderfahrungen<br />
und dem, was man empfindet, wenn<br />
einem schon wieder irgendwer die Luft aus den Fahrradreifen<br />
gelassen hat. Hemingway zum Beispiel war<br />
Kriegsberichterstatter, Stierkämpfer, Großwildjäger<br />
und ist mit dem Helikopter abgestürzt. Thomas Mann<br />
kam immerhin aus gutem Hause, musste emigrieren<br />
und hatte nach jedem Ortswechsel Riesenprobleme,<br />
eine angemessene Villa zu finden. Thomas<br />
Brussig ging durch die Hölle einer behüteten Kindheit,<br />
Frank Schätzing besitzt einen gepflegten Bart,<br />
Patrick Süßkind geht nicht raus, und Herta Müller<br />
kann nicht schreiben. In diesem Ozean aus Erlebtem<br />
lässt sich natürlich gut fischen.<br />
Böll zieht an seiner Zigarette, und<br />
ich frage mich, wie ich Irmgard<br />
später erklären soll, dass er auf ihre<br />
Plauener Spitze ascht. Für jedes dieser<br />
kleinen, schwarz umrandeten<br />
Löcher wird sie mich gnadenlos<br />
auspeitschen – so gut kann der Böll<br />
ja gar nicht schreiben, dass sich so<br />
ein Ärger lohnt …<br />
Dann kommt auch noch der<br />
Grass, wie immer zu spät. Schlimmer<br />
kann es jetzt nicht <strong>mehr</strong> kommen.<br />
Erst stopft er sich die Pfeife und<br />
sieht sich ein bisschen um. »Schön<br />
hast du’s hier«, sagt er gönnerisch<br />
und lässt sich noch mal nachschenken.<br />
Dann kramt er ein Manuskript<br />
aus seiner Tasche und beginnt einfach<br />
zu lesen, obwohl doch grad der<br />
Siegfried Lenz noch liest. Für einen<br />
Moment lesen sie parallel, dann hört<br />
Lenz aufgelöst auf und entschuldigt<br />
sich mal kurz.<br />
Grass liest und sieht dabei nicht<br />
auf. Ich glaube, der Hildesheimer<br />
ist inzwischen eingepennt. Oder er<br />
macht auf unauffällig. Aber den<br />
Walser hält es nicht zurück. »Der<br />
und sein ewiges Danzig«, knurrt<br />
Martin also und verpisst sich in die<br />
Küche ans Büfett. Grass hat das gar<br />
nicht mitbekommen. Er liest und<br />
liest und liest, und eigentlich nuschelt<br />
er auch ein bisschen an seiner<br />
Pfeife vorbei. Gabriele Wohmann<br />
hat ihn mal darauf aufmerksam<br />
gemacht, aber da hat er sie<br />
gleich in einem seiner Romane verheizt,<br />
und seitdem traut sich das<br />
keiner <strong>mehr</strong>. Arme Gabi! Jetzt<br />
kommt sie gar nicht <strong>mehr</strong>, wenn<br />
sie weiß, dass der Grass auch da<br />
ist. Und dabei haben wir schon so<br />
wenig Frauen in unserer Gruppe<br />
47! Grass, also wirklich! Aber es<br />
sagt ja niemand was.<br />
Enzensberger hat jetzt doch leise<br />
vor sich hin gelacht, und davon ist<br />
Hildesheimer aus seinem Nickerchen<br />
aufgewacht und hat gegluckst.<br />
Jetzt sieht sogar der Grass mit Runzelstirne<br />
auf. Er schmeißt sein Manuskript<br />
missmutig in die Ecke<br />
Gruppenabend<br />
und wühlt in seiner Tasche. »Hat<br />
jemand Feuer?«, fragt er in die<br />
Runde, und Böll hält ihm wortlos<br />
ein Streichholz hin. »Wir müssten<br />
politischer werden«, schlägt Grass<br />
vor, während er an seiner Pfeife<br />
zieht. »Anders geht das nicht <strong>mehr</strong>.«<br />
Hildesheimer und Böll sind dagegen,<br />
weil sie denken, dass es schon<br />
jetzt genug ist mit der Politik, aber<br />
Enzensberger lacht nur spöttisch auf,<br />
und so kommt es natürlich zu keiner<br />
ernsten Unterhaltung. Nun<br />
drückt sich auch noch der Lenz ins<br />
Zimmer zurück und fragt Hildesheimer,<br />
was denn eigentlich los sei,<br />
und damit ist die Unruhe komplett.<br />
Zu allem Überfluss zeigt Grass jetzt<br />
auch noch seine neuen Grafiken –<br />
wieder Pimmelpilze – und schreit<br />
laut: »Genau das hab ich gemeint!<br />
Genau das!«<br />
Da steht der Uwe Johnson auf,<br />
obwohl er sonst ja nicht so ist, und<br />
langsam wird es stiller. »Lies doch<br />
mal weiter!«, fordert Uwe Grass auf,<br />
und während alle ziemlich entsetzt<br />
aufstöhnen, fühlt sich Grass geschmeichelt<br />
und sucht sein Manuskript<br />
zusammen. Böll rollt mit den<br />
Augen. Er kommt zu mir rüber und<br />
flüstert: »Find ich ganz groß von dir,<br />
dass du deiner Irmgard das mit dem<br />
Hoch gestapelt ist<br />
halb gewonnen<br />
Doch was ist der Normalfall? Abitur, Studium der<br />
Kulturwissenschaften oder Romanistik, erste Texte für<br />
eine Schülerzeitung und das Bordmagazin der Lufthansa.<br />
Lebt mit Ehepartner und zwei Katzen abwechselnd<br />
in München und auf Mallorca. Ganz ehrlich, was<br />
soll man da schon anderes erwarten als fünfbändige<br />
Historien-Trilogien oder herrlich freche Frauenromane,<br />
denen man Zeile für Zeile das Bemühen ansieht, von<br />
Frisch gönnst.« Ich verstehe nicht<br />
und will schon nachfragen, aber da<br />
ascht der Böll wieder auf die Tischdecke,<br />
und ich verbeiße mir einen<br />
Kommentar.<br />
Die Zeit vergeht schleichend ...<br />
Drei Grass’sche Pfeifen später klingelt<br />
es und ich reibe mir die Fäuste.<br />
Das wird doch endlich Irmgard<br />
sein, aber denkste! Der Reich-Ranicki<br />
steht in der Tür. Er kommt gar<br />
nicht dazu, mich zu grüßen, als er<br />
den Grass drinnen lesen hört. Stattdessen<br />
stürmt er in das Wohnzimmer<br />
und schreit laut: »Ein Unbuch!<br />
Günter, das kann doch nicht dein<br />
Ernst sein! Schreib doch endlich<br />
wieder mal was Besseres.«<br />
Grass fällt vor Schreck die Pfeife<br />
aus dem Mund. Walser, der hinter<br />
Reich-Ranicki ins Zimmer gekommen<br />
ist, und Enzensberger lachen.<br />
Grass schäumt. Hildesheimer<br />
pennt schon wieder, wird aber von<br />
Johnson geweckt. Böll ascht gelassen<br />
auf die Plauener Spitze. Lenz<br />
geht lieber wieder zurück ins Bad.<br />
Es klingelt.<br />
Irmgard, verstört. Ich, verstört.<br />
»Stimmt das mit Max Frisch?«,<br />
frage ich und weiß es ja schon. Es<br />
steht in ihren Augen. »Ach, tu doch<br />
nicht so …«, sagt sie, und ich knall<br />
ihr eine. »Siehste, genau deshalb!«,<br />
ruft sie und macht kehrt. Weg ist<br />
sie.<br />
Im Wohnzimmer geht es drunter<br />
und drüber. Ich habe keine Lust,<br />
mir das jetzt anzutun. Ich gehe ins<br />
Bad, mein Gesicht zu waschen.<br />
Lenz hockt im Dunkeln auf dem<br />
Wannenrand. »Das macht mich<br />
echt fertig«, jammert er. »Ich glaube,<br />
wir haben zu viel Grass in der<br />
Gruppe.«<br />
Ja, sage ich. Und zu wenig<br />
Frauen.<br />
Bernhard Spring<br />
der ARD-Kitschklitsche Degeto verfilmt zu werden?<br />
Bücher, in denen alleinerziehende attraktive Frauen in<br />
bundeslandgroßen Lofts herumstöckeln und ihren allerliebsten<br />
achtjährigen Töchtern, die sooo gern mit<br />
der Mama spielen möchten, gehetzt zurufen, sie müssten<br />
doch noch »die Präsentation« vorbereiten. Und wenn<br />
die Tochter dann traurig guckt, sagt die Mama mit ganz<br />
viel Liebe in der Stimme: »Aber am Wochenende machen<br />
wir etwas ganz Tolles zusammen, nur wir beide<br />
– versprochen!« Woran man by the way erkennt, dass<br />
sie im Grunde ja kein schlechter Kerl ist und ganz gut<br />
zu dem gerade eingezogenen alleinstehenden jungen<br />
Arzt von gegenüber passen würde, mit dem sie am<br />
Vortag an der Haustür so süß zusammengebumst ist.<br />
Das ist natürlich keine »Litterratuhrr« (Reich-Ranicki).<br />
Verlage mit Anspruch sind daher dazu übergegangen,<br />
sich erst einmal mit dem Lebenslauf des Einsenders<br />
zu befassen, ehe sie erwägen, dessen Manuskript<br />
auch nur aus dem Umschlag herauszufingern. Es gilt<br />
das Prinzip der Casting-Shows: Schicksal schlägt Können.<br />
Das Ersinnen einer bemerkenswerten Biografie<br />
sollte daher an jedem Literaturinstitut bereits im Grundkurs<br />
durchgenommen werden. Denn die Chance, dass<br />
Ihr Manuskript angenommen wird, erhöht sich erheblich,<br />
wenn Sie wenigstens einen der nachfolgenden<br />
Punkte erfüllen:<br />
• Sie waren in Ihrem Leben schon einmal Fremdenlegionär,<br />
Totengräber, verfassungsfeindliches Symbol<br />
oder nutellasüchtig.<br />
• Sie sind ein total verrückter Typ, über den sogar schon<br />
die Lokalpresse berichtet hat. Sie bleiben zum Beispiel<br />
beim Grünen Pfeil so lange stehen, bis der hinter<br />
Ihnen hupt. Sie trinken bereits zum Frühstück immer<br />
eine ganze Tasse Caro-Landkaffee. Und zwar auf<br />
ex. Und Sie haben verschiedenfarbige Schnürsenkel<br />
in den Schuhen.<br />
• Sie waren die heimliche Geliebte Adolf Hitlers.<br />
• Sie haben sich schon einmal im Extrem-Selbstversuch<br />
vier Wochen lang nur von Molkepulver, Biomöhrchen<br />
und Ihren Fingernägeln ernährt.<br />
• Sie verfügen »als Frau und Mutter einer Tochter« bzw.<br />
als »Frau und Tochter einer Mutter« über besondere<br />
Fachkompetenz und Glaubwürdigkeit.<br />
• Sie haben den Untergang der »Costa Concordia« nur<br />
deshalb knapp überlebt, weil Sie nicht auf dem Schiff,<br />
sondern zu Hause waren.<br />
• Sie waren der heimliche Geliebte Adolf Hitlers.<br />
• Sie zeichnen sich durch ghandischen Gleichmut und<br />
große Friedfertigkeit aus. Beim »Mensch ärgere dich<br />
nicht« haben Sie sich tatsächlich schon einmal nicht<br />
geärgert. Damals, als Sie gewonnen haben.<br />
• Sie sind Adolf Hitler.<br />
Nix davon zu sehen in Ihrer Bio? Pech gehabt. Überlassen<br />
Sie das Anfertigen von Literatur Geeigneteren. Und<br />
schrei ben Sie selbst bitte nur Sachen, wo am Ende geheiratet<br />
wird.<br />
Robert Niemann<br />
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Wieworte pur<br />
Adjektive satt, Sprache gut, Deutsch prima:<br />
Das Wiewort kommt heute nicht <strong>mehr</strong> nur<br />
von vorne, sondern auch von hinten.<br />
Aber nicht nur die Stellung ist wichtig,<br />
sondern auch die Kunst, richtig zu steigern,<br />
ja sogar richtiger zu steigerern! Außer<br />
Sportlern ist das nur dem Wiewort gestattet,<br />
zum Beispiel: gutmöglichst – bessermöglicher<br />
– bestmöglich. Oder auch: superlativ –<br />
komparativer – am positivsten! Optimaler<br />
geht es nicht, denn so ist es am bestesten.<br />
Das Wiewort: Es ist anderst als andere<br />
und deshalb von allen Wortarten das Einzigste,<br />
das man auf keinste Weise missen<br />
möchtste. Und so kommt sie noch und nöcher:<br />
die erfülltesteste Liebe zum Wiewort!<br />
Peterster Köhlerer<br />
Zeichnung: Matthias Kiefel