Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Nº11<br />
November<br />
2013<br />
€ 8.50<br />
CHF 13<br />
Geistesgipfel<br />
Peter Sloterdijk<br />
trifft Martin Walser<br />
Rockzipfel<br />
Isabella Rossellini<br />
über ihre Mutter<br />
Ingrid Bergman<br />
<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />
<strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> – Ein <strong>Bayer</strong> <strong>regiert</strong> <strong>Deutschland</strong><br />
Österreich: 8.50 €, Benelux: 9.50 €, Italien: 9.50 €<br />
Spanien: 9.50 €, Finnland: 12.80 €<br />
11<br />
4 196392 008505
LEICHT. SCHNELL.<br />
NACHHALTIG.<br />
DER ELEKTRISCHE BMW i3.<br />
Jetzt scannen und<br />
BMW i Agenten fi nden.
BMW i<br />
Freude am Fahren<br />
<strong>Der</strong> elektrische BMW i3 ist mehr als nur <strong>ein</strong> neues Automobil – er erfüllt <strong>ein</strong> Versprechen: die Neuerfi ndung urbaner<br />
Mobilität. Mit unvergleichlicher Fahrfreude und ohne Emissionen dank BMW eDrive. Revolutionär gebaut aus besonders<br />
leichtem und hochfestem Carbon für minimales Gewicht. Intelligent vernetzt mit s<strong>ein</strong>er Umwelt, damit Sie immer<br />
<strong>ein</strong>fach und komfortabel ans Ziel kommen. Und dabei so konsequent nachhaltig wie k<strong>ein</strong> Automobil zuvor. Erleben<br />
Sie den neuen BMW i3 ab 16.11. beim BMW i Agenten in Ihrer Nähe unter www.bmw-i-agent.de und auf<br />
www.bmw-i.de/i3<br />
BMW i. BORN ELECTRIC.<br />
bmw-i.de<br />
BMW i3<br />
0 g CO 2 / km* 125 kW (170 PS)<br />
Abbildung zeigt BMW i3 mit r<strong>ein</strong>em Elektroantrieb BMW eDrive. Energieverbrauch (kombiniert): 12,9 kWh/100 km. *CO2-Emissionen, die durch die Produktion und Bereitstellung des<br />
Kraftstoffes bzw. anderer Energieträger entstehen, wurden bei der Ermittlung der CO2-Emissionen nicht berücksichtigt. BMW i3 mit Range Extender (zur Verlängerung der Reichweite<br />
bis zu 340 km): Energieverbrauch (kombiniert): 13,5 kWh/100 km; Kraftstoffverbrauch (kombiniert): 0,6 l/100 km; CO2-Emission: 13 g/km. Abbildung zeigt Sonderausstattungen.
calibre de cartier<br />
CHRONOGRAPH 1904-CH MC<br />
DAS NEUE CHRONOGRAPHEN-UHRWERK MIT AUTOMATISCHEM AUFZUG 1904-CH MC WURDE IN GRÖSSTER<br />
UHRMACHER TRADITION VON DEN UHRMACHERN DER CARTIER MANUFAKTUR KREIERT, ENTWICKELT UND<br />
GEBAUT. UM PERFEKTE PRÄZISION ZU ERREICHEN, WURDE DAS UHRWERK MIT VIRTUOSER TECHNIK<br />
AUSGESTATTET: EIN SCHALTRAD, UM ALLE FUNKTIONEN DES CHRONOGRAPHEN ZU KOORDINIEREN,<br />
EIN VERTIKALER KUPPLUNGSTRIEB, UM DIE AKKURATESSE DES STARTENS UND STOPPENS DER TIMER<br />
FUNKTION ZU VERBESSERN, EINE LINEARE RESET FUNKTION UND EIN DOPPELTES FEDERHAUS, UM EIN<br />
UNVERGLEICHLICHES ABLESEN DER ZEIT ZU GEWÄHRLEISTEN.<br />
42MM GEHÄUSE AUS STAHL, MECHANISCHES MANUFAKTUR–CHRONOGRAPHENUHRWERK, AUTOMATIK-<br />
AUFZUG, KALIBER 1904-CH MC (35 STEINE, 28.800 HALBSCHWINGUNGEN PRO STUNDE, CA. 48 STUNDEN<br />
GANG RESERVE), KALENDERÖFFNUNG BEI 6 UHR, ACHTECKIGE KRONE AUS STAHL, SILBER OPALIERTES<br />
ZIFFERBLATT, PROFILRILLEN MIT SILBER FINISH, ARMBAND AUS STAHL.<br />
ONLINE BOUTIQUE WWW.CARTIER.DE + 49 89 55984-221
Atticus<br />
N°-11<br />
Was für <strong>ein</strong> <strong>Horst</strong>!<br />
Titelbild: Ben Hughes; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
Dieses erste Foto nach den Wahlen in<br />
<strong>Bayer</strong>n und im Bund – es sagt so viel.<br />
Da treffen sich <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> und Angela<br />
Merkel im Sitzungssaal der Unionsfraktion,<br />
<strong>Seehofer</strong> schlingt s<strong>ein</strong>e langen Arme um<br />
die Kanzlerin und strahlt dabei, als könne<br />
er das Glück nicht fassen, s<strong>ein</strong>e Angela<br />
endlich wieder in den Armen zu halten.<br />
Die Kanzlerin, der Politik mit Körper<strong>ein</strong>satz<br />
eher abhold, hat ihre linke Hand auf<br />
<strong>Seehofer</strong>s Schulter und lächelt so entspannt<br />
wie <strong>ein</strong> Kaninchen im Würgegriff<br />
<strong>ein</strong>er Boa Constrictor.<br />
„Hug them close!“, rät <strong>ein</strong>e angelsächsische<br />
Weisheit im Umgang mit Gegnern,<br />
die man nicht schlagen kann: Umarme sie<br />
fest! Das beherzigt <strong>Seehofer</strong> s<strong>ein</strong> ganzes<br />
politisches Leben lang. Er umarmt s<strong>ein</strong><br />
Volk, indem er das umsetzt, was die Mehrheit<br />
aktuell will, unabhängig davon, was<br />
vorher s<strong>ein</strong>e Position gewesen s<strong>ein</strong> mag.<br />
Viele rühmen das als Volksnähe und<br />
sehen in ihm deshalb <strong>ein</strong>en großen Politiker.<br />
Aber <strong>ein</strong> Politiker wird erst zum großen<br />
Politiker, wenn er <strong>ein</strong>e für richtig und<br />
geboten erachtete Sache gegen Widerstände<br />
durchzusetzen vermag: durch Überzeugung<br />
und Willenskraft. Das war so bei Adenauers<br />
Westbindung, Brandts Ostpolitik, Schmidts<br />
Kampf für den Nato-Doppelbeschluss,<br />
Kohls Einsatz für Europa und den Euro,<br />
Schröders Agenda 2010.<br />
<strong>Seehofer</strong> umarmt lieber. Volk und<br />
Kanzlerin. Und beglückt ganz <strong>Deutschland</strong><br />
mit fragwürdigen Segnungen wie dem<br />
Betreuungsgeld, der Hotelsteuer und<br />
demnächst vielleicht der Automaut für<br />
Ausländer.<br />
<strong>Der</strong> Kanzlerin schreibt er mehr oder<br />
weniger unverhohlen vor, mit wem sie <strong>ein</strong>e<br />
Koalition zu machen habe. Wie er<br />
überhaupt die Dame beim eng umschlungenen<br />
Tanz immer mehr führt, so unterwürfig<br />
er sich auch gebärdet: K<strong>ein</strong> Fernsehporträt<br />
der Kanzlerin kam ohne den<br />
treuherzigen Augenaufschlag <strong>Seehofer</strong>s<br />
aus: „Von mir stammt der Satz: Wer die<br />
Kanzlerin unterschätzt, hat schon verloren.“<br />
Und wer vom CSU‐Chef gelobt<br />
wird ebenfalls, könnte man hinzufügen.<br />
Was für <strong>ein</strong> <strong>Horst</strong>!, möchte man<br />
ausrufen, halb bewundernd, halb entgeistert.<br />
<strong>Cicero</strong>-Reporter Constantin Magnis<br />
beschreibt <strong>ein</strong>en Mann, dessen Machtanspruch<br />
an den Grenzen <strong>Bayer</strong>ns längst<br />
nicht mehr haltmacht ( ab Seite 20 ). <strong>Der</strong><br />
Text wird illustriert mit <strong>Seehofer</strong>s Kehrtwenden<br />
und ergänzt um <strong>ein</strong> Interview mit<br />
Markus Söder ( ab Seite 32 ), der mit<br />
<strong>Seehofer</strong>s Machiavellismus s<strong>ein</strong>e Erfahrungen<br />
gemacht hat und auf die Thronfolge<br />
hofft.<br />
Mit besten Grüßen<br />
Christoph Schwennicke<br />
Chefredakteur<br />
7<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
THE LIBERATION OF ART<br />
Handsignierte, limitierte Editionen. Von über 160 anerkannten Künstlern. Zu erschwinglichen Preisen.<br />
EDWARD B.<br />
GORDON<br />
The Jacket<br />
340 €<br />
100 x 63 cm<br />
Preis in Euro inkl. MwSt., exkl. Kaschierung | Avenso AG, Ernst-Reuter-Platz 2, 10587 Berlin<br />
limitiert &<br />
handsigniert<br />
47 / 100<br />
EBG03<br />
BERLIN . NEW YORK . LONDON . PARIS | SALZBURG . WIEN . ZÜRICH<br />
AACHEN . BIELEFELD . BREMEN . DORTMUND . DÜSSELDORF . FRANKFURT . HAMBURG<br />
HANNOVER . HEIDELBERG . KÖLN . MÜNCHEN . MÜNSTER . STUTTGART<br />
LUMAS.DE
Inhalt<br />
Titelthema<br />
Foto: Constantin Magnis<br />
20<br />
Unser Kini<br />
In <strong>Bayer</strong>n Regent,<br />
in Berlin Merkels Nebenkanzler.<br />
Porträt <strong>ein</strong>es Politikers,<br />
der das Drama sucht<br />
Von Constantin Magnis<br />
32<br />
„Man muss überall<br />
mit mir rechnen“<br />
Markus Söder im Interview über<br />
s<strong>ein</strong>e Ambitionen in <strong>Seehofer</strong>s Reich<br />
Von Georg Löwisch und<br />
Christoph Schwennicke<br />
9<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Berliner Republik Weltbühne Kapital<br />
36 Grüner Erbe<br />
<strong>Der</strong> neue Grünen-Fraktionschef Anton<br />
Hofreiter liebt Regenwald und Fleisch<br />
Von Peter Unfried<br />
38 <strong>Der</strong> Rückzieher<br />
Generalmajor Jörg Vollmer leitet den<br />
deutschen Abzug aus Afghanistan <strong>ein</strong><br />
Von Eric Chauvistré<br />
40 <strong>Der</strong> Mann mit den Fragen<br />
Dieter Wonka ist der erstaunlichste<br />
Korrespondent der Hauptstadt<br />
Von Georg Löwisch<br />
44 Ground Zero bei der FDP<br />
Die Liberalen zwischen Katastrophe<br />
und Comeback-Hoffnungen<br />
Von Alexander Marguier<br />
50 Räuber und Schreiber<br />
Die Herabsetzung der Politik<br />
durch die Medien hat Methode<br />
Von Frank A. MEyer<br />
52 Rohstoff Eitelkeit<br />
<strong>Der</strong> Erfolg des PR-Unternehmers<br />
Hetzel zeigt, wie die Hauptstadt tickt<br />
Von Andreas Theyssen<br />
54 Frau Fried fragt sich …<br />
… warum sie sich übers<br />
Fernsehen noch aufregen soll<br />
Von Amelie Fried<br />
58 <strong>Der</strong> Schlüsselmacher<br />
Was von Irans Präsidenten<br />
Hassan Ruhani zu halten ist<br />
Von Thomas Erdbrink<br />
60 Härte in Häkeljacke<br />
Carme Forcadell ist die Frontfrau<br />
der katalanischen Separatisten<br />
Von Julia MAcher<br />
62 <strong>Der</strong> Sohn entscheidet<br />
Bill de Blasio ist New Yorks<br />
neuer starker Mann<br />
Von Patrick Bahners<br />
64 „Wir sind<br />
politische Soldaten“<br />
Griechenlands Neonazipartei Goldene<br />
Morgenröte terrorisiert das Land<br />
Von Richard Fraunberger<br />
72 Volles Rohr<br />
Ein Blick hinter die Kulissen des<br />
internationalen Waffenhandels<br />
Von Guillaume Herbaut<br />
82 Europa soll glück mit<br />
DEN DEUTSCHEN haben<br />
Angela Merkel muss sich für <strong>ein</strong>e<br />
Föderation der Eurostaaten <strong>ein</strong>setzen<br />
Von Klaus Harpprecht<br />
86 Amerikas Mächtigste<br />
Im Februar wird<br />
Janet Yellen als erste Frau<br />
Chefin der US-Notenbank<br />
Von Til KNipper<br />
88 Jenseits von Alheim<br />
<strong>Der</strong> deutsche Solarboom ist vorbei,<br />
Lars Kirchner zieht es<br />
daher nach Afrika<br />
Von Christian Sywottek<br />
90 Vorbestrafter<br />
Schulabbrecher<br />
<strong>Der</strong> neue Karstadt-Eigner<br />
René Benko kann fast alles,<br />
außer Transparenz<br />
Von Hans-Peter Siebenhaar<br />
92 Aufbruch<br />
nach Sperenberg<br />
Flughafendesaster:<br />
Politik und Planung passen<br />
nicht mehr zusammen<br />
Von Falk Jaeger<br />
100 Bankers Wahrheit<br />
Strenge Regeln führen<br />
nicht in die Kreditklemme.<br />
Dekonstruktion <strong>ein</strong>er Legende<br />
Von H<strong>ein</strong>z-Roger Dohms<br />
40<br />
Die Macht guter Fragen<br />
72 86<br />
Die Faszination neuer Waffen<br />
<strong>Der</strong> Segen frischen Geldes<br />
Fotos: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong>, Guillaume Herbaut/INSTITUTE, Mary F. Calvert/ NYT/ Redux/ laif<br />
10<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Stil<br />
Salon<br />
<strong>Cicero</strong><br />
Standards<br />
104 Die FRÜCHTE DES ROTH<br />
W<strong>ein</strong> von der Ostküste der USA?<br />
Aber sicher! Ein Deutscher<br />
kultiviert ihn<br />
Von Jürgen Kalwa<br />
106 brachiale Gentlemen<br />
Akribisch vorbereiten,<br />
hart zuschlagen: Die Methodik<br />
der Juwelen-Räuber<br />
Von SABINE CATHERINE KRAY<br />
112 HÜTERIN des<br />
FAMILIENSCHATZES<br />
Isabella Rossellini präsentiert<br />
<strong>ein</strong>en Bildband über<br />
ihre Mutter Ingrid Bergman<br />
Von CLAUDIA STEInBERG<br />
116 warum ich trage,<br />
was ich trage<br />
Wer das Handwerk achtet, darf<br />
k<strong>ein</strong>e Straßenuniform tragen<br />
Von SASKIA DIEZ<br />
118 der zufall möglicherweise<br />
<strong>Der</strong> Schriftsteller Dieter Wellershoff<br />
wendet sich der<br />
Bildenden Kunst zu<br />
Von peter henning<br />
120 freiheit,<br />
<strong>ein</strong> Morsezeichen<br />
Die Schauspielerin Claudia Michelsen<br />
ist <strong>Deutschland</strong>s präsenteste<br />
Charakterdarstellerin<br />
Von ingo langner<br />
122 leise töne<br />
braucht die welt<br />
<strong>Der</strong> Komponist Peter Androsch<br />
kämpft gegen die akustische<br />
Umweltverschmutzung<br />
Von irene bazinger<br />
124 man sieht nur,<br />
was man sucht<br />
Anton Graff malte die<br />
Gesichter der Aufklärung<br />
Von beat Wyss<br />
126 „Ich lebe von Zustimmung“<br />
Peter Sloterdijk und Martin<br />
Walser im Gespräch<br />
Von Frank a. Meyer<br />
136 bibliotheksporträt<br />
Für Adriana Altaras<br />
sind Bücher Nahrungsmittel<br />
und Lebensbegleiter<br />
Von irene Bazinger<br />
Atticus – 7<br />
Von Christoph Schwennicke<br />
Stadtgespräch – 12<br />
Forum – 16<br />
Impressum – 48<br />
Postscriptum – 146<br />
Von Alexander Marguier<br />
<strong>Der</strong> Titelkünstler<br />
Ben Hughes lebt in der<br />
englischen Weltkulturerbe-<br />
Stadt Bath. <strong>Der</strong> preisgekrönte<br />
Künstler kombiniert<br />
in s<strong>ein</strong>en Porträts gern<br />
Genauigkeit und Andeutung,<br />
Realismus und Abstraktion.<br />
So baut Hughes Spannung<br />
auf, und beim „<strong>Märchenkönig</strong>“<br />
für unseren Titel lässt er<br />
zudem Gegenwart und<br />
Vergangenheit auf<strong>ein</strong>andertreffen,<br />
<strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> im<br />
Königsmantel, wie ihn <strong>ein</strong>st<br />
Ludwig II. trug. Die Technik<br />
des Bildes ist indes ganz<br />
traditionell: Öl auf L<strong>ein</strong>wand<br />
112<br />
Das Bild <strong>ein</strong>er berühmten Mutter<br />
140 Freizeit muss sich<br />
wieder lohnen<br />
Mit „Kraft durch Freude“<br />
sollte <strong>ein</strong> kriegstüchtiger<br />
Volkskörper entstehen<br />
Von philipp blom<br />
Fotos: Vittorio Zunino Celotto/Getty Images, privat<br />
142 hopes Welt<br />
Bob weiß Bescheid<br />
Von Daniel Hope<br />
144 die letzten 24 Stunden<br />
Das Sterben ist wie das Leben<br />
<strong>ein</strong>e Frage der Haltung<br />
Von georg Ringsgwandl<br />
11<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
<strong>Cicero</strong><br />
Stadtgespräch<br />
Merkel wird im Netz verprügelt. Lindner setzt auf Wachstum. Niebels teures<br />
Personal. Proporzprobleme der SPD. Eine Baustelle wird pünktlich fertig<br />
Gröhes Fähnchen:<br />
Lindners Frisur:<br />
Merkels Bett:<br />
Shitstorm im Netz<br />
Haare der Hoffnung<br />
Schöner schlafen<br />
Die Filmsequenz dauert gerade mal<br />
neun Sekunden: Angela Merkel<br />
steht am Wahlabend auf der Bühne<br />
der CDU-Parteizentrale. Ihr Generalsekretär<br />
Hermann Gröhe will <strong>ein</strong><br />
schwarz-rot-goldenes Fähnchen schwenken.<br />
Merkel nimmt es ihm weg und entsorgt<br />
es am Bühnenrand. Sie will in<br />
der Stunde ihres Triumphes nicht mit<br />
der <strong>Deutschland</strong>fahne abgelichtet werden.<br />
Und ihre Mimik spricht Bände. Die<br />
Szene geht in der Siegesfeier fast unter<br />
– bis das ZDF sie wenige Tage später<br />
in der „Heute-Show“ zeigt. Seitdem<br />
tobt – im Schutz der Anonymität – <strong>ein</strong><br />
Shitstorm im Netz. „Wer sich für die<br />
deutsche Fahne schämt, gehört nicht<br />
zu <strong>Deutschland</strong>!“ – „Sie will den Nationalstaat<br />
zerstören“ – „Widerlich!“ –<br />
„Schande!“ – „Antideutsch“ – „Landesverräterin“.<br />
Nur wenige halten dagegen.<br />
Ein „alexej“ schreibt: „Überheblichkeit<br />
mit Fahnenschwenken war hier wahrhaftig<br />
unangebracht.“ Hermann Gröhe,<br />
von <strong>Cicero</strong> um <strong>ein</strong>en Kommentar gebeten,<br />
zog es vor zu schweigen. hp<br />
Christian Lindner, der künftige<br />
FDP-Chef, sendet gern kl<strong>ein</strong>e Signale<br />
aus, um auf s<strong>ein</strong>e Ambitionen<br />
aufmerksam zu machen. Seit geraumer<br />
Zeit kann man an s<strong>ein</strong>em Düsseldorfer<br />
Autokennzeichen ablesen, was<br />
er im Schilde führt: D – CL 2017. Dass<br />
die FDP 2017 wieder in den Bundestag<br />
kommt und die Bedeutung ihres künftigen<br />
Vorsitzenden wachsen wird, unterstrich<br />
der neue Hoffnungsträger, indem<br />
er sich den Fotografen nach <strong>ein</strong>er<br />
Haartransplantation mit plötzlich wieder<br />
vollem Haupthaar präsentierte.<br />
Nicht alle fanden das überzeugend.<br />
Joschka Fischer zum Beispiel. Als der<br />
kürzlich gefragt wurde, ob er Lindner<br />
jetzt für <strong>ein</strong> politisches Alphamännchen<br />
halte, griff er sich stolz in s<strong>ein</strong> immer<br />
noch volles, graues Haar und spottete:<br />
„Ich habe mich nur gewundert,<br />
dass das erste, was man von ihm hört<br />
nach der Wahl, kosmetische Veränderungen<br />
sind. Ich glaube, Lambsdorff<br />
und Genscher wären auf die Idee nicht<br />
gekommen.“ tz<br />
Jede Nacht um halb <strong>ein</strong>s“ legte sich<br />
schon 1986 der Sänger Rio Reiser<br />
„aufs Bett“ und malte sich in s<strong>ein</strong>em<br />
Hit „König von <strong>Deutschland</strong>“ aus,<br />
„wie das wäre, wenn ich nicht der wäre,<br />
der ich bin, sondern Kanzler, Kaiser<br />
König oder Königin“. Ab 55 Euro pro<br />
Nacht kann sich jetzt jeder in Angela<br />
Merkels Schlafzimmer aufs Bett legen.<br />
Um ganz präzise zu s<strong>ein</strong>, im ehemaligen<br />
Schlafzimmer der Bundeskanzlerin.<br />
Merkels alte Studentenbude im Prenzlauer<br />
Berg bietet die jetzige Bewohnerin<br />
über die Online-Übernachtungsbörse<br />
Airbnb an. Wer <strong>ein</strong>en Monat bleiben<br />
will, zahlt für die Hinterhauswohnung<br />
stolze 1650 Euro. Dagegen ist die echte<br />
Kanzlerwohnung regelrecht günstig.<br />
500 Euro im Monat verlangt der Bund<br />
für die 28 Quadratmeter im 8. Stock<br />
des Kanzleramts. Auf dem Markt ist sie<br />
trotzdem schwer vermittelbar. Merkel<br />
zog nie <strong>ein</strong>. Amtsvorgänger Schröder<br />
mochte den dreieckigen Grundriss nicht.<br />
Vielleicht kann Airbnb helfen. Motto:<br />
Mieten für den Staatsschuldenabbau. til<br />
Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />
12<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Nach Niebels Abgang:<br />
„Gelberitis“ bleibt teuer<br />
Die Niederlage der FDP wurde im<br />
Entwicklungsministerium mit besonderer<br />
Häme und Erleichterung gefeiert.<br />
„Jetzt ist Schluss mit der Gelberitis“,<br />
hieß es dort unter Anspielung auf<br />
die parteipolitisch <strong>ein</strong>gefärbte Personalpolitik<br />
des abgewählten Ministers Dirk<br />
Niebel. <strong>Der</strong> hatte mehr als 40 Dienststellen<br />
mit FDP-Mitgliedern besetzt.<br />
Ein besonders übler Fall von Günstlingswirtschaft<br />
war unmittelbar vor<br />
der Bundestagswahl aufgeflogen, obwohl<br />
Niebel ihn unbedingt verheimlichen<br />
wollte. Tom Pätz, <strong>ein</strong> FDP-Mann,<br />
der von Niebel in den Aufsichtsrat der<br />
„Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“<br />
(GIZ), der wichtigsten Einrichtung<br />
zur Organisation deutscher<br />
Entwicklungshilfe, gedrückt worden<br />
war, fiel durch krasse Missachtung der<br />
Spesenordnung auf. Die Wirtschaftsprüfer<br />
von Pricewaterhouse Coopers wiesen<br />
Pätz in 79 Fällen Verstöße nach: Er<br />
flog in der Luxusklasse der Fluglinien<br />
statt in der Business Class. Er übernachtete<br />
meist in Hotels, die mehr kosteten<br />
als die erlaubten 150 Euro. Auch die Bewirtungskosten<br />
von 60 Euro pro Person<br />
waren ihm egal. So lud er Niebels<br />
Staatssekretär Jürgen Beerfeltz zu <strong>ein</strong>em<br />
Abendessen <strong>ein</strong>, das 155,90 Euro<br />
kostete und im Wesentlichen aus zwei<br />
Flaschen W<strong>ein</strong> bestand. Jetzt hat der<br />
Aufsichtsrat beschlossen, dass Pätz, der<br />
mit 150 000 Euro im Jahr besoldet ist,<br />
nächstes Jahr beurlaubt wird.<br />
Armut droht ihm dann nicht: S<strong>ein</strong><br />
zunächst befristeter GIZ-Arbeitsvertrag<br />
wurde von Niebel rechtzeitig entfristet.<br />
Er kann damit zurück ins Ministerium.<br />
Fürs gleiche Geld. tz<br />
SPD-Ministerproporz:<br />
Nur Grünkohl mit Pinkel<br />
Die SPD ist im Bund ganz schön niedersachsenlastig,<br />
was Nachwirkungen<br />
jener Zeit sind, als der Kanzler<br />
<strong>ein</strong> Niedersachse war. Tut man sich<br />
in der Gerüchteküche um, wer Posten<br />
in <strong>ein</strong>em großkoalitionären Kabinett<br />
Merkel III bekommen könnte, stößt<br />
man dauernd auf sie. Sigmar Gabriel,<br />
Frank-Walter St<strong>ein</strong>meier, Thomas Oppermann,<br />
Brigitte Zypries und, na ja,<br />
Hubertus Heil. Praktisch in jedem Topf<br />
ist Grünkohl mit Pinkel drin. Sagt man,<br />
dass Zypries ihren Wahlkreis ja im hessischen<br />
Darmstadt habe und St<strong>ein</strong>meier<br />
s<strong>ein</strong>en im Havelland, bekunden<br />
SPD-Kulinariker anderer Landesverbände<br />
dennoch <strong>ein</strong>e gewisse Übersättigung<br />
an niedersächsischen Spezialitäten.<br />
In den Spekulationen sind zurzeit<br />
hauptsächlich Andrea Nahles (Rh<strong>ein</strong>land-Pfalz)<br />
und Manuela Schwesig<br />
(Mecklenburg-Vorpommern) Nichtniedersachsen.<br />
Selbst wenn man Schwesig<br />
(und St<strong>ein</strong>meier!) den Osten vertreten<br />
lässt und die Problemkinder aus <strong>Bayer</strong>n<br />
und Baden-Württemberg auf Staatssekretärsebene<br />
verwurstet, bleiben noch<br />
die Nordsozis aus Hamburg und Schleswig-Holst<strong>ein</strong>.<br />
Sowie die Hessen mit<br />
dem Zypries-Problem. Ach so, den Riesenlandesverband<br />
Nordrh<strong>ein</strong>-Westfalen<br />
gibt’s ja auch. Aus ihm wird allenfalls<br />
Karl Lauterbach serviert, der links und<br />
kompetent, jedoch k<strong>ein</strong>e Frau ist. Oder<br />
zählt Hannelore Kraft als Bundesratskanzlerin<br />
mit? Man kann den Regionalproporz<br />
natürlich ignorieren, aber s<strong>ein</strong>e<br />
Beachtung hält den Laden zusammen.<br />
Wobei das ja traditionell selten <strong>ein</strong> Motiv<br />
für Entscheidungen der SPD ist. löw<br />
Sensation in Berlin:<br />
Bauprojekt im Plan<br />
Öffentliche Bauprojekte werden selten<br />
pünktlich fertig, geschweige<br />
denn zum ver<strong>ein</strong>barten Preis. Überall<br />
geraten die Zeitpläne durch<strong>ein</strong>ander<br />
und explodieren die Kosten, wenn<br />
Steuergelder verbraten werden: In Köln<br />
(U‐Bahn), in Stuttgart (Bahnhof), in<br />
Hamburg (Philharmonie) und vor allem<br />
in Berlin (BND‐Zentrale, Großflughafen<br />
und demnächst vielleicht das<br />
Stadtschloss) – mit Skandalbaustellen<br />
ist die Hauptstadt reich gesegnet.<br />
Nun aber zeichnet sich dort <strong>ein</strong>e echte<br />
Sensation ab. Eines der aufwendigsten<br />
Verkehrsprojekte droht tatsächlich<br />
termingerecht fertig zu werden: <strong>Der</strong><br />
unterirdische Bahnhofsneubau zweier<br />
U‐Bahnlinien unter <strong>ein</strong>er der verkehrsreichsten<br />
Kreuzungen der Stadt (Unter<br />
den Linden Ecke Friedrichstraße) liegt<br />
offenbar voll im Plan.<br />
Am 17. November wird man erstmals<br />
wieder mit der U-Bahnlinie 6 in<br />
<strong>ein</strong>em Rutsch vom Südrand der Hauptstadt<br />
bis zum Tegeler See im Norden<br />
fahren können. Die Fahrgäste, die<br />
<strong>ein</strong> Jahr gezwungen waren, entweder<br />
auszusteigen und die Baustelle in der<br />
Stadtmitte zu Fuß zu überqueren oder<br />
sie weiträumig mit der unterirdischen<br />
S-Bahn zu umfahren, können sitzen<br />
bleiben. Das ist die gute Nachricht. Die<br />
schlechte folgt sogleich: Ein paar Tage<br />
später wird abermals <strong>ein</strong>e wichtige unterirdische<br />
Nord-Süd-Verbindung unterbrochen.<br />
Diesmal ist es die S‐Bahn,<br />
deren Gleise zwischen dem Nordbahnhof<br />
in Mitte und dem Anhalter Bahnhof<br />
in Kreuzberg erneuert werden. Aber so<br />
war das schon immer in Berlin: Fertig<br />
war und wird diese Stadt nie. hp<br />
13<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Hoffentlich bremsen bald alle<br />
Autos selbständig ab.<br />
Mercedes-Benz weist den Weg.<br />
Die PRE-SAFE ® Bremse und der Bremsassistent BAS PLUS, zwei Innovationen<br />
von Mercedes-Benz Intelligent Drive. Vernetzt mit allen Sinnen.<br />
<strong>Der</strong> Bremsassistent BAS PLUS überwacht vorausfahrende und querende Fahrzeuge und optimiert in Gefahrensituationen<br />
die Bremskraft, sobald der Fahrer bremst. Zusätzlich kann die PRE-SAFE ® Bremse jetzt sogar Fußgänger erkennen und selber<br />
<strong>ein</strong>greifen, um diese zu schützen. Erleben Sie Mercedes-Benz Intelligent Drive live – bei Ihrem Mercedes-Benz Partner.<br />
www.mercedes-benz.de/intelligent_drive<br />
Erleben Sie bis zum 30.11.2013<br />
Intelligent Drive<br />
Eine Marke der Daimler AG<br />
Kraftstoffverbrauch innerorts/außerorts/kombiniert: 12,7–5,7/6,8–3,8/8,9–4,5 l/100 km; CO₂-Emissionen kombiniert: 209–118<br />
Die Angaben beziehen sich nicht auf <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zelnes Fahrzeug und sind nicht Bestandteil des Angebots, sondern dienen all<strong>ein</strong> Vergleichszwecken zwischen verschiedenen<br />
Anbieter: Daimler AG, Mercedesstraße 137, 70327 Stuttgart
g/km; Effizienzklasse: E–A+.<br />
Fahrzeugtypen. Das abgebildete Fahrzeug enthält Sonderausstattungen.
<strong>Cicero</strong><br />
Leserbriefe<br />
Forum<br />
Es geht ums Design und die Wahl, um Israel,<br />
falsche Lehrmeister und um Queen Angie<br />
Zum neuen Layout des <strong>Cicero</strong> und der Beilage „Wahl Spezial“, Oktober 2013<br />
Statt lamentieren, arbeiten, arbeiten, arbeiten!<br />
Das neue <strong>Cicero</strong>-Kleid verlor s<strong>ein</strong> All<strong>ein</strong>stellungsmerkmal, den Schlitz im Kleid<br />
(Titelseite!). Layout deutlich verbessert, Inhaltsverzeichnis unübersichtlich,<br />
qualitativer Inhalt ansprechend. Wahl Spezial: Das BT-Wahlergebnis 2013 eröffnet<br />
Chancen wie nie und was passiert: Die Grünen haben die historische Chance,<br />
sich aus der Zwangsehe mit der SPD zu lösen und Regierungsverantwortung zu<br />
übernehmen. Die alte Dame SPD kneift und jammert über <strong>ein</strong> in vier Jahren<br />
zu erwartendes Todesurteil, weil es ihr – wie der FDP jetzt – ergehen könnte.<br />
Die FDP hat vier Jahre Zeit für <strong>ein</strong>en echten Neustart. Eine schwarz-grün-rote<br />
Koalition könnte <strong>ein</strong>e überfällige Steuerreform durchsetzen, auf dass jeder Bürger<br />
s<strong>ein</strong>e Steuererklärung erstellen und verstehen könnte. Die Kanzlerin hätte<br />
schließlich die Chance, für die BT-Wahl 2017 <strong>ein</strong>e klare Nachfolge aufzubauen,<br />
weil sie als Frau könnte, was k<strong>ein</strong> Kanzler je geschafft hat: rechtzeitig die Nachfolgefrage<br />
zu regeln. Auf geht’s, statt lamentieren, arbeiten, arbeiten, arbeiten!<br />
Ansgar M. M. Stahl, Radolfzell<br />
Lesen noch „leckerer“<br />
Sehr geehrte Damen und Herren<br />
von <strong>Cicero</strong>, ich darf Sie zum neuen<br />
Layout beglückwünschen! Das veränderte<br />
Gesicht macht das Lesen<br />
noch „leckerer“. Originelle Grafik,<br />
Typografie et cetera werten das attraktive<br />
Blatt noch mehr auf.<br />
Sehr gelungen – Danke!<br />
Mit besten Grüßen<br />
Bettina Radener, Hamburg<br />
Zum Beitrag „K<strong>ein</strong>e Sieger, nirgends“<br />
von Alexander Marguier, Oktober 2013<br />
Nüchterne Bewertung<br />
Sie heben sich mit Ihrer nüchternen<br />
Bewertung wohltuend von den Jubelberichten<br />
zum angeblich haushohen<br />
Sieg von Frau Merkel ab. CDU/<br />
CSU/FDP errangen 2009 mit der<br />
Zustimmung von 34,3 Prozent aller<br />
Wahlberechtigten 53,4 Prozent<br />
der Sitze im Bundestag. In diesem<br />
Jahr holte der Merkel-Block<br />
mit 33,1 Prozent der Stimmen aller<br />
Wahlberechtigten 49,4 Prozent der<br />
Sitze. Na und?<br />
Wolf-Rüdiger Heilmann, Berlin<br />
Zum Beitrag „Die wahre AfD“ von<br />
Christoph Schwennicke, Oktober 2013<br />
Linkes Wunschdenken<br />
Zur Erwähnung der „Alternative“<br />
(für <strong>Deutschland</strong>) AfD taugt bei Ihnen<br />
der eigentlich beachtenswerte<br />
Erfolg dieser kl<strong>ein</strong>en neuen Partei<br />
gerade mal zum Aufreißer Ihres<br />
Editorials und als Abspann ganz<br />
hinten Ihres Sonderhefts „Wahl“.<br />
Sie versteigen sich auch noch im<br />
Editorial zu <strong>ein</strong>em Rekurs, „Die<br />
wahre AfD“ sei für Sie das angeblich<br />
mögliche rot-rot-grüne Bündnis.<br />
Dieses offenbart Ihre eigene r<strong>ein</strong><br />
„linke“ politische Verortung und Ihr<br />
Wunschdenken …<br />
Sie erliegen letztlich dem Irrtum<br />
und der Illusion, dass <strong>ein</strong>e linke<br />
Mehrheit der Wählerschaft gewonnen<br />
hätte. Es waren aber rechnerisch<br />
über 54 Prozent, die „bürgerlich“<br />
– oder wie auch immer<br />
tituliert – gewählt haben. Dagegen<br />
war es k<strong>ein</strong>eswegs <strong>ein</strong> Sieg von<br />
links, und auch die grüne Gutmenschenpartei<br />
musste <strong>ein</strong>e herbe Niederlage<br />
hinnehmen.<br />
U. Burkart, Calw<br />
Zum Beitrag „Pro und Contra Siedlungsbau“<br />
von Arthur Cohn und Judith Hart,<br />
Oktober 2013<br />
Blühende Landschaft<br />
Selten hat man in den Medien<br />
hierzulande <strong>ein</strong>e derart sachlich<br />
objektive Beurteilung über<br />
das brennende Thema „Siedlingsbau<br />
in Israel“ zu lesen bekommen.<br />
Zu Recht darf man bei dieser<br />
<strong>Cicero</strong>-Ausgabe von <strong>ein</strong>em Magazin<br />
für politische Kultur sprechen. Die<br />
Bezeichnung „umstrittene Gebiete“<br />
statt illegal besetztes Land war sicherlich<br />
für viele Leser neu. <strong>Der</strong><br />
Frage der absoluten Gegnerschaft<br />
gegen Israels Existenz hätte jedoch<br />
mehr nachgegangen werden müssen.<br />
Von Anfang an wurde doch der<br />
Uno-Beschluss im Mai 1948, welcher<br />
der jüdischen Bevölkerung <strong>ein</strong>en<br />
Teil Palästinas zusprach, mit<br />
Krieg seitens aller Nachbarländer<br />
beantwortet. Diese F<strong>ein</strong>dschaft besteht<br />
bis heute. Dabei möchte das<br />
jüdische Volk nach fast 2000 Jahren<br />
Verfolgung in der Diaspora lediglich<br />
s<strong>ein</strong>e bloße Existenz sichern,<br />
was ihm erstaunlicherweise bis<br />
heute trotz permanenter politischer<br />
Unruhen in und um es herum gelungen<br />
ist. In gewisser Weise f<strong>ein</strong>dselig<br />
könnte man sogar auch das ihnen<br />
zugeteilte Land genannt haben:<br />
Wüste, zum großen Teil st<strong>ein</strong>ige<br />
Felder mit wenig Wasser, malariaverseuchter<br />
sumpfiger Boden. Eine<br />
blühende Landwirtschaft, <strong>ein</strong>e ständig<br />
im Wachstum befindliche Wirtschaft<br />
sind daraus entstanden. Das<br />
Grün in diesem Land nimmt kontinuierlich<br />
zu. Bleibt zu hoffen, dass<br />
Israel auch die politische Landschaft<br />
mit derselben Ausdauer und<br />
Weisheit zusammen mit den Palästinensern<br />
zum Blühen bringt.<br />
Eduard Biedermann, Hamburg<br />
16<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Wer großartige Kaffee-Kreationen liebt,<br />
baut auf Nespresso.<br />
www.nespresso.com
<strong>Cicero</strong><br />
Leserbriefe<br />
Zum Beitrag „Die urbane Dekadenz“ von<br />
Frank A. Meyer, Oktober 2013<br />
Unselige Lehrmeister<br />
F. A. Meyers Fallbeispiele urbaner<br />
Dekadenz sprechen für sich. Ihre<br />
Erörterung im Kontext von leeren<br />
Kategorien wie „Elite“ oder „Ungeist“<br />
führt allerdings nicht weiter,<br />
auch nicht die apokalyptische<br />
Phrase vom „abdankenden Rechtsstaat“.<br />
Übrigens verkompliziert<br />
sich die Sache leider noch dadurch,<br />
dass die „Verluderung“ zunehmend<br />
bei den vor 1950 Geborenen<br />
zu beobachten ist, die ja noch die<br />
viel gepriesene Erziehung zu den<br />
sogenannten bürgerlichen Grundtugenden<br />
erhielten: Auch sie parken<br />
auf Gehwegen, erwarten als rasante<br />
Radfahrer die Vorfahrt vor Spaziergängern<br />
und agieren im Fernsehen<br />
als unselige Lehrmeister des rabiaten<br />
Diskussionsstils, emotionalisierend<br />
und anderen lautstark das<br />
Wort abschneidend.<br />
Werner Frink, Hamburg<br />
Treffend kommentiert<br />
Ich möchte Herrn Meyer sehr<br />
danken, dass er sich dieses heiklen,<br />
aber leider eben sehr wirklichkeitsnahen<br />
Themas angenommen und<br />
es, wie so oft, treffend kommentiert<br />
hat. Leider ist s<strong>ein</strong>e Erkenntnis<br />
ebenfalls zutreffend, dass sich<br />
in weiten Teilen von Politik und<br />
Medien niemand mit diesem<br />
undankbaren Thema aus<strong>ein</strong>andersetzen<br />
möchte.<br />
Von daher sehe ich <strong>ein</strong>er<br />
Änderung zum Besseren dieses<br />
beklagenswerten Zustands nicht<br />
sehr optimistisch entgegen. Einen<br />
Rudolph Giuliani sehe ich in der<br />
deutschen Politiklandschaft<br />
jedenfalls nicht – und selbst wenn es<br />
ihn gäbe, würde er vermutlich<br />
bereits an dem deutschen Föderalismus<br />
scheitern, bevor er auch nur<br />
<strong>ein</strong>en Strafbefehl ausstellen könnte.<br />
Peter Rohde, Fellbach<br />
Zum Beitrag „Macht der Kapitalismus<br />
uns unglücklich?“ von Max A. Höfer,<br />
September 2013<br />
Das große Geld befiehlt<br />
<strong>Der</strong> Beitrag von Max A. Höfer beschreibt<br />
richtig und ist sympathisch.<br />
Er reiht sich <strong>ein</strong> in <strong>ein</strong>e Reihe<br />
gleichartiger Beiträge, die etwa alle<br />
Vierteljahre ersch<strong>ein</strong>en, gerne auch<br />
in der Wirtschaftspresse und besonders<br />
gerne vor Weihnachten, alle<br />
mit dem Tenor, dass es allen besser<br />
ginge, wenn sie das Hamsterrad verließen<br />
oder besser gar nicht erst betreten<br />
würden.<br />
Stichworte sind Burnout, Generation<br />
Ypsilon und dergleichen. Fast<br />
alle stimmen zu. Nur ändern tut<br />
sich nichts. Denn <strong>ein</strong>es fehlt bei Höfer:<br />
Diejenigen, die den hässlichen<br />
Leistungskampf mitmachen und bestehen,<br />
und davon gibt es immer<br />
noch genug, verdienen das große<br />
Geld und geben die Befehle.<br />
Und diejenigen, die sich verweigern,<br />
verdienen das kl<strong>ein</strong>e<br />
Geld und müssen den Befehlen der<br />
„Funktionierer“ gehorchen. Ist das<br />
erstrebenswert?<br />
Prof. Dr. Detlev J. Piltz, Königswinter<br />
Zur <strong>Cicero</strong>-Titelgeschichte<br />
„Angies Union“ von Alexander Marguier,<br />
August 2013<br />
Wie <strong>ein</strong>e deutsche Queen<br />
Angela Merkel ist in mehrfacher<br />
Hinsicht <strong>ein</strong> Glücksfall für <strong>Deutschland</strong><br />
… Brillante Rhetorik der Berufsgruppe<br />
Journalisten, Pfarrer<br />
und Anwälte war bis heute nicht<br />
ihre Sache. Damit erfüllt sie die<br />
Vorstellung vieler Wähler und ist <strong>ein</strong><br />
Abbild der bescheidenen Seele des<br />
<strong>ein</strong>fachen, unbescholtenen Bürgers.<br />
Ihr sind Korruption und Amtsmissbrauch<br />
wirklich nicht zuzutrauen,<br />
ebenso wenig wie goldene Löffel zu<br />
stehlen. Hier ist nun tatsächlich k<strong>ein</strong><br />
Schaden durch das fehlende Charisma<br />
der Bundeskanzlerin für die<br />
Nation erkennbar. Man kann nur<br />
hoffen, dass diese Frau nicht nur<br />
für die nächste Legislatur Kanzlerin<br />
bleibt, sondern, beliebt wie <strong>ein</strong>e<br />
deutsche Queen Elizabeth, diesem<br />
Land, so wie es ihre Gesundheit erlaubt,<br />
noch viele Jahre dient.<br />
Max Lehmann, Berlin<br />
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />
Wünsche, Anregungen und M<strong>ein</strong>ungsäußerungen<br />
senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />
Karikatur: Hauck & Bauer<br />
18<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
H E R M È S W I N T E R S P I E L E<br />
Informationen unter: Tel. 089/55 21 53-0<br />
Hermes.com
UNser<br />
Kini<br />
20<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Titel<br />
<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />
Text und Fotos<br />
CONSTANTIN MAGNIS<br />
<strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> <strong>regiert</strong> <strong>Bayer</strong>n mit absoluter Mehrheit<br />
und absolutistischem Gestus. S<strong>ein</strong> Machtanspruch in Berlin ist<br />
größer denn je. Nach s<strong>ein</strong>er Wiederwahl weist der<br />
CSU-Chef Angela Merkel den Weg in die nächste Koalition.<br />
Porträt <strong>ein</strong>es Nebenkanzlers<br />
21<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Titel<br />
<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />
Im Frühsommer 2013 ehrt <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong><br />
auf <strong>ein</strong>er Wiese am Tegernsee<br />
die Mutter Gottes, Patronin der bayerischen<br />
Gebirgsschützen. S<strong>ein</strong> Mitarbeiterstab<br />
nimmt ihn an der Limousine<br />
in Empfang und trägt ihm den<br />
Tagesablauf vor. <strong>Seehofer</strong> schüttelt den<br />
Kopf: In anderthalb Stunden schon weiter<br />
zum Anschlusstermin? Das geht sich<br />
doch nie aus. „M<strong>ein</strong> Grußwort, kommt<br />
das vor oder nach der <strong>Bayer</strong>nhymne?“,<br />
fragt er. Es kommt vorher. Danach bleibt<br />
kaum mehr Zeit, die <strong>Bayer</strong>nhymne mitzusingen.<br />
Schlecht.<br />
<strong>Seehofer</strong>s Gesicht verändert sich<br />
nur <strong>ein</strong> bisschen. Er zieht die Mundwinkel<br />
nach oben, bis die Zähne freiliegen,<br />
aber es kommt dabei k<strong>ein</strong> Lächeln heraus,<br />
eher <strong>ein</strong> Kannibalengrinsen. Die Runde<br />
erstarrt. „Wer hot’n des geplant?“, fragt<br />
er leise. Ein Referent mit randloser Brille<br />
und Aktentasche hebt kl<strong>ein</strong>laut den Finger:<br />
„Hier!“ <strong>Seehofer</strong> dreht sich zu ihm<br />
um, s<strong>ein</strong> Grinsen bleibt wie festgefroren.<br />
Für <strong>ein</strong>ige Sekunden fixiert er so den Referenten,<br />
der aussieht, als wünschte er<br />
sich den Beistand der Mutter Gottes<br />
persönlich herbei. Niemand bewegt sich,<br />
<strong>Seehofer</strong> schaut s<strong>ein</strong>en <strong>Bayer</strong>n<br />
aufs Maul. S<strong>ein</strong>e Politik möchte<br />
er jederzeit nachjustieren<br />
können. „Drehhofer“, nennen<br />
das Kritiker. Er verkauft das als<br />
fürstliche Fürsorge<br />
niemand spricht. <strong>Der</strong> Referent wagt erst<br />
auszuatmen, als <strong>Seehofer</strong> endlich den<br />
Blick abwendet, auf das vor ihm liegende<br />
Panorama. <strong>Der</strong> Regierungschef<br />
schnauft zufrieden. Strahlende Alpen,<br />
der See schimmert blau, auf der Wiese<br />
stehen rund 4500 Männer in Reih und<br />
Glied, <strong>ein</strong>e Armee aus Trachtenhüten,<br />
Lederhosen und Gewehren. In der Mitte<br />
teilt sich das Menschenmeer zu <strong>ein</strong>em<br />
Gang, <strong>Seehofer</strong> schreitet ihn würdevoll<br />
grüßend ab, die Kompanien der Gebirgsschützen<br />
salutieren oder präsentieren das<br />
Gewehr. Als er in der ersten Reihe angelangt<br />
ist, heben die Truppen zur Begrüßung<br />
die Flaggen. Auf <strong>ein</strong>er steht: „Mit<br />
Gott für König und Vaterland“.<br />
Seit <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> der CSU bei der<br />
Landtagswahl im September die absolute<br />
Mehrheit zurückerobert und so die bayerische<br />
Ordnung wiederhergestellt hat,<br />
ist er im Süden unangefochtener Herrscher:<br />
S<strong>ein</strong>e Majestät <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong>,<br />
der „Kini“, schillernd wie der <strong>Bayer</strong>nkönig<br />
Ludwig II., der Neuschwanst<strong>ein</strong> und<br />
viele Legenden hinterlassen hat.<br />
Im nördlichen Berlin allerdings weiß<br />
noch niemand so recht, auf was man sich<br />
nun <strong>ein</strong>stellen muss. Was heißt das neue<br />
Machtbewussts<strong>ein</strong> des <strong>Bayer</strong>n für die<br />
kommende Regierung? Begründet hier <strong>ein</strong>er<br />
gerade <strong>ein</strong>e Art Nebenkanzlerschaft?<br />
Nach der Wahl erklärt <strong>Seehofer</strong> mal kurz<br />
im All<strong>ein</strong>gang, dass es k<strong>ein</strong>e Gespräche<br />
mit dem Grünen Jürgen Trittin geben<br />
wird, oder schließt noch vor Sondierungsgesprächen<br />
mit der SPD Steuererhöhungen<br />
per Ehrenwort aus. Die Hoffnung<br />
auf <strong>ein</strong>e kraftvolle bajuwarische Hand<br />
für Angela Merkel ist seitdem bei manchem<br />
der Sorge vor <strong>ein</strong>em aufgepumpten<br />
Widerborst gewichen. Wer begreifen will,<br />
wer da die nächsten vier Jahre wirklich<br />
im Boot der Kanzlerin sitzt, sollte sich<br />
die Geschichte dieses Mannes ansehen.<br />
Es ist schwer vorstellbar, wie es<br />
für jemanden ist, Ministerpräsident und<br />
Majestät von <strong>Bayer</strong>n zu s<strong>ein</strong>, der sich in<br />
der Kindheit immerzu kl<strong>ein</strong> gefühlt hat.<br />
<strong>Horst</strong> Lorenz <strong>Seehofer</strong> wird 1949 in Ingolstadt<br />
geboren, der Vater fährt Lastwagen,<br />
schafft auf dem Bau, verdient<br />
kaum Geld, und dafür schämt sich <strong>Horst</strong><br />
in der Schule. Immer wieder kommt <strong>Seehofer</strong><br />
als Politiker auf die Armut s<strong>ein</strong>er<br />
Kindheit zu sprechen. Wie die Mutter ihn<br />
22<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Wir sind von<br />
Kopf bis Fuß auf<br />
Getriebe <strong>ein</strong>gestellt.<br />
Willkommen im Land der<br />
Pferdestärken.<br />
Niedersachsen bewegt die Welt.<br />
Entdecken Sie die Region, in der Mobilität zu Hause<br />
ist. Wir bauen schicke Autos in Wolfsburg, wichtige<br />
Flugzeugteile in Stade, große Schiffe an der Nordsee.<br />
Und alles sonst, was die Menschheit auf Trab hält.<br />
www.innovatives.niedersachsen.de<br />
Sie kennen unsere Pferde. Erleben Sie unsere Stärken.
Titel<br />
<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />
freitags losgeschickt hat, um den Vater<br />
mit der Lohntüte nach Hause zu eskortieren,<br />
damit der nicht das Geld versäuft.<br />
Wie er und die drei Geschwister nur <strong>ein</strong>mal<br />
die Woche gebadet wurden, im gleichen<br />
Wasser. Wie er und s<strong>ein</strong> Bruder <strong>ein</strong><br />
ausrangiertes Ehebett teilen mussten.<br />
Wie er die Realschule besuchen und damit<br />
auf <strong>ein</strong> Studium verzichten musste,<br />
weil das Gymnasium zu teuer war. Und<br />
wie p<strong>ein</strong>lich es <strong>Horst</strong> war, wenn der Lehrer<br />
fragte, wo es im Urlaub hinging, weil<br />
mehr als <strong>ein</strong> Besuch im Ingolstädter Luitpoldpark<br />
nicht drin war.<br />
Darin liegen gleich zwei Schlüssel<br />
zum Verständnis des Politikers <strong>Seehofer</strong>.<br />
Zum <strong>ein</strong>en hängt an der Demütigung<br />
der Mittellosigkeit <strong>ein</strong>e Triebfeder s<strong>ein</strong>es<br />
wuchtigen Aufstiegs. <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong>,<br />
das besch<strong>ein</strong>igen ihm Gegner, aber auch<br />
langjährige Freunde, hat k<strong>ein</strong>e übergeordnete<br />
Agenda, k<strong>ein</strong> höheres Ziel, außer<br />
den unbedingten Willen zum Erfolg,<br />
zur Gestaltungsmacht, zum Gipfel. Zum<br />
anderen versteht <strong>Seehofer</strong> es wie außer<br />
ihm vielleicht nur Ursula von der Leyen,<br />
den eigenen Mythos mit biografischen<br />
<strong>Seehofer</strong> schreitet <strong>ein</strong> Heer von<br />
Gebirgsschützen ab. Manchmal<br />
fährt er auf dem Motorrad durch<br />
<strong>Bayer</strong>n. All<strong>ein</strong> und unerkannt<br />
Anekdoten zu füttern und damit Politik<br />
zu machen. S<strong>ein</strong>e Biografie ist <strong>ein</strong>e Achterbahnfahrt,<br />
aber es wirkt oft, als kokettiere<br />
<strong>Seehofer</strong> mit s<strong>ein</strong>em Schicksal, als<br />
dramatisiere er bewusst die Tiefpunkte,<br />
um den Höhen durch den Kontrast erst<br />
Glanz zu verleihen.<br />
S<strong>ein</strong>en damaligen Mitschülern an<br />
der Ingolstädter Realschule zum Beispiel<br />
fiel die Armut <strong>Seehofer</strong>s nicht auf:<br />
„Arm waren wir doch damals alle“, sagt<br />
<strong>ein</strong>er von ihnen. „Ich kenne k<strong>ein</strong>en in<br />
der Klasse, der damals irgendwo Urlaub<br />
gemacht hat.“ Stattdessen stach <strong>Seehofer</strong><br />
– Jüngster und Längster der Klasse –<br />
durch natürliche Autorität hervor. Er<br />
darf das Milchgeld <strong>ein</strong>kassieren, man<br />
wählt ihn zum Klassensprecher. Gibt es<br />
Ärger mit Lehrern, ist es <strong>Horst</strong>, der zwischen<br />
Direktor und Schülern vermittelt.<br />
S<strong>ein</strong>e Schwester nennt ihn <strong>ein</strong>en „Streber“,<br />
er ist bald Klassenbester und zudem<br />
berüchtigt im Handballteam, weniger<br />
als Teamplayer, mehr als scharfer<br />
Rückraumschütze, der Punkte abräumt.<br />
Das Gegenteam schüchtert er gern mit<br />
Sprüchen vor dem Anpfiff <strong>ein</strong>. Die Methode<br />
wendet er heute in der Politik an.<br />
Nach der Schule macht er <strong>ein</strong>e Ausbildung<br />
am Ingolstädter Landratsamt.<br />
Tüchtig, erinnert sich der damalige Personalratsvorsitzende<br />
Hermann Regensburger:<br />
gut aussehend, perfekt vorbereitet,<br />
fotografisches Gedächtnis. Allerdings<br />
mit <strong>ein</strong>er Schwäche: „Er langweilt sich<br />
schnell, und wenn ihm fad ist, dann fängt<br />
er an zu zündeln. Irgendwie braucht er<br />
Adrenalin. Dann muss was umgedreht<br />
und angestellt werden.“<br />
Das zeige sich schon daran, wie <strong>Seehofer</strong><br />
Schafkopf spielt. Er ist besessen<br />
von dem Kartenspiel. Im Freundeskreis,<br />
zu dem auch Regensburger gehört, führt<br />
er die „Teufelsrunde“ <strong>ein</strong>: Für jeden Spieler<br />
<strong>ein</strong>e Solorunde, die Hälfte der Karten<br />
bleibt unbekannt, trotzdem muss<br />
der Spieler schon sagen, was er macht.<br />
Brutaler Nervenkitzel, das mag <strong>Seehofer</strong>.<br />
Zwei Mal entgeht er im Landratsamt<br />
knapp dem Rausschmiss: Einmal verpennt<br />
er nach <strong>ein</strong>er durchzechten Nacht<br />
den Außendienst, <strong>ein</strong> andermal erwischt<br />
man ihn zur Dienstzeit in der Wirtschaft.<br />
Regensburger rettet ihm den Job.<br />
All das hindert ihn nicht am Durchmarsch.<br />
S<strong>ein</strong>e Karriere als Kommunalbeamter<br />
gipfelt 1979 in <strong>ein</strong>em Abschluss<br />
24<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
an der Münchner Verwaltungsakademie –<br />
als Jahrgangsbester. Nur <strong>ein</strong> Jahr später<br />
wird er in den Bundestag gewählt, da ist er<br />
30, <strong>ein</strong> vorsichtiger Riese. Doch er bringt<br />
Zusammenhänge auf den Punkt und weiß<br />
das Wesentliche vom Unwesentlichen zu<br />
trennen. Das hilft ihm, sich als Sozialpolitiker<br />
zu profilieren: Zehn Jahre später ist<br />
er Staatssekretär im Arbeitsministerium<br />
unter Norbert Blüm. 1992 macht Kohl<br />
ihn zum Gesundheitsminister. Als Reformer<br />
fürchten ihn die Lobbyisten, Sozialdemokraten<br />
zollen ihm Respekt: „<strong>Der</strong><br />
bescheißt dich nicht“, sagt der damalige<br />
SPD-Fraktionsvize Rudolf Dreßler.<br />
Die Dramatik in <strong>Seehofer</strong>s politischem<br />
Passions- und Auferstehungsmythos<br />
beginnt 1998: Kohl wird abgewählt<br />
und <strong>Seehofer</strong> mit ihm. Wie <strong>ein</strong> Traumatisierter<br />
berichtet <strong>Seehofer</strong> seitdem vom<br />
Pförtner, der ihn als Ex-Minister beim<br />
Herausgehen nicht mehr gegrüßt habe.<br />
Doch die erste Auferstehung folgt<br />
bald: Als sich die CDU nach der Spendenaffäre<br />
sortieren muss, gewinnt er<br />
als Vize der Unionsfraktion Profil. 2002<br />
dann wieder <strong>ein</strong> Vollabsturz: Er bricht<br />
mit <strong>ein</strong>er Herzmuskelentzündung zusammen,<br />
liegt 21 Tage auf der Intensivstation,<br />
braucht <strong>ein</strong> halbes Jahr, bis er in die Politik<br />
zurückkehrt. Aber wie! Er präsentiert<br />
sich als Geläuterter, der dem Tod<br />
entkommen ist, als Ex-Politik-Junkie, den<br />
das Schicksal geheilt habe. Ihm gelingt<br />
es bis heute, s<strong>ein</strong>e Krankheitsgeschichte<br />
als Systemupdate zu verkaufen, das den<br />
<strong>Seehofer</strong> mit Weisheit und Tugend ausgestattet,<br />
ihn ger<strong>ein</strong>igt und verbessert habe.<br />
<strong>Seehofer</strong>s Kehrtwende<br />
beim Thema Studiengebühren<br />
„Wir geben den<br />
Hochschulen die<br />
Möglichkeit,<br />
durch die<br />
Erhebung von<br />
Studienbeiträgen<br />
(…) die Studienbedingungen<br />
( …)<br />
zu verbessern“<br />
Koalitionsvertrag<br />
von CSU und FDP, 2008<br />
„Ich werde jeden<br />
Tag für die<br />
Abschaffung der<br />
Studiengebühren<br />
werben“<br />
Im <strong>Bayer</strong>ischen Rundfunk,<br />
12. 11. 2012<br />
RedWorks Düsseldorf / ERDGAS_2013 / INNOVATION_Sozialverträgliche Sanierung / <strong>Cicero</strong> / ET: 21.03.2013 / Format: 210 x 94 mm / 4c<br />
Bemerkenswert an <strong>Seehofer</strong>s nächster<br />
Bruchlandung ist nicht nur, dass sie<br />
sich vor diesem Hintergrund wie <strong>ein</strong>e<br />
Heldengeschichte liest, sondern auch,<br />
dass ihr <strong>ein</strong> Kräftemessen mit der heutigen<br />
Kanzlerin vorausgeht. Angela Merkel,<br />
seit zwei Jahren Oppositionsführerin,<br />
will 2004 <strong>ein</strong>e Kopfpauschale als Krankenkassenbeitrag<br />
durchsetzen. <strong>Seehofer</strong><br />
stellt sich quer. „Ich bin zäh“, sagt<br />
Merkel. „Ich auch“, sagt <strong>Seehofer</strong>. Als<br />
er sich <strong>ein</strong>em Kompromiss verweigert,<br />
wendet die Unionsfraktion sich gegen ihn,<br />
CSU-Landesgruppenchef Michael Glos<br />
fordert ihn schließlich zum Rücktritt als<br />
Fraktionsvize auf. Die Folge: Glos und<br />
<strong>Seehofer</strong> werden zu herzlichen F<strong>ein</strong>den,<br />
Merkel hält <strong>Seehofer</strong> jahrelang und vielleicht<br />
noch immer für unzurechnungsfähig.<br />
Er gibt s<strong>ein</strong>en Vizeposten ab.<br />
Im Rückblick zelebriert <strong>Seehofer</strong><br />
sich als <strong>ein</strong>en, den die Krankheit frei<br />
für Gewissensentscheidungen machte,<br />
der nicht anders konnte, als aus Prinzipientreue<br />
in den Untergang zu springen.<br />
„Jetzt bin ich nichts mehr“, sagt er <strong>ein</strong>em<br />
Freund. Er sei politisch tot, klagt er anderen.<br />
So recht glaubt ihm das niemand.<br />
Tatsächlich folgt das nächste Comeback<br />
schnell. Das Risiko, sich mit <strong>ein</strong>em<br />
schmollenden <strong>Seehofer</strong> im Abseits <strong>ein</strong>en<br />
Abtrünnigen heranzuzüchten, macht<br />
CSU-Chef Edmund Stoiber nervös, außerdem<br />
braucht er <strong>Seehofer</strong>, um die sozialpolitische<br />
Lücke der CSU zu schließen.<br />
Also boxt Stoiber ihn 2005 gegen Merkels<br />
Widerstand ins neue Kabinett. Die<br />
Kanzlerin besteht darauf, dass der linke<br />
Anzeige<br />
ERDGAS – Lösungen für die Zukunft<br />
<strong>Der</strong> wirtschaftliche Weg<br />
zur Sanierung beginnt<br />
im Heizungskeller.<br />
Günstig die Heizung modernisieren: mit ERDGAS.<br />
Die Energiewende hat begonnen. Die Klimaschutzziele sind ehrgeizig. ERDGAS kann dazu beitragen, diese Ziele zu<br />
erreichen – auch ohne die Kosten aus den Augen zu verlieren. Denn moderne Erdgas-Technologien ermöglichen dank<br />
ihrer Effizienz hohe CO 2<br />
-Einsparungen ohne großen Investitionsaufwand. Das hilft bezahlbare Mieten bei der energetischen<br />
Sanierung zu sichern. Dazu bietet ERDGAS als Partner der erneuerbaren Energien <strong>ein</strong>e hohe Zukunftssicherheit.<br />
Mit anderen Worten: Klimaschutz und Sozialverträglichkeit müssen sich nicht ausschließen – mit ERDGAS.<br />
Mehr Informationen finden Sie unter:<br />
www.erdgas.info
Titel<br />
<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />
Aufwiegler k<strong>ein</strong> Sozialressort bekommt,<br />
so wird <strong>Seehofer</strong> Landwirtschaftsminister<br />
oder, wie er sagt: „Minister für Kartoffeln<br />
und Bananen“.<br />
Er schlägt sich gut, trotz Gammelfleisch<br />
und Vogelgrippe, so sehr,<br />
dass Umfragen ihn 2006 zum beliebtesten<br />
Politiker <strong>Deutschland</strong>s erklären,<br />
neuer Glanz auf neuer Höhe. Bald ist der<br />
nächste Gipfel in Sicht: Als Stoiber 2007<br />
stürzt, will <strong>Seehofer</strong> s<strong>ein</strong>e Macht. Doch<br />
stattdessen kungeln Günther Beckst<strong>ein</strong><br />
und Erwin Huber die Posten unter<strong>ein</strong>ander<br />
aus, der Bundeslandwirtschaftsminister<br />
bleibt außen vor.<br />
Ein Grundmuster in <strong>Seehofer</strong>s Leben<br />
rächt sich hier, gleichzeitig wird es<br />
bestätigt: Er, der jahrzehntelang auf eigene<br />
Rechnung aufgestiegen ist, ohne<br />
Abitur, ohne Studium, ohne Verbindungen,<br />
ohne Hilfe im System, hegt <strong>ein</strong> tiefes<br />
Misstrauen gegenüber Seilschaften. Als<br />
<strong>ein</strong>samer Bergsteiger der deutschen Politik<br />
blickt er mit Verachtung auf Netzwerke<br />
und Cliquen herab, sie sind für ihn<br />
<strong>ein</strong> Instrument von Schwächlingen.<br />
Das ist bis heute die Basis s<strong>ein</strong>er Beratungsresistenz,<br />
es ist Teil s<strong>ein</strong>es Stolzes<br />
und der Grund dafür, dass genau<br />
diese Seilschaften ihn nun zum zweiten<br />
Mal mit Lust abstürzen lassen: 2004 im<br />
Streit um die Kopfpauschale und 2007 im<br />
Kampf um Stoibers Posten. Als er ankündigt,<br />
trotzdem zu kandidieren, bekommt<br />
er den Genickschuss: <strong>Der</strong> Bild werden<br />
Details zur außerehelichen Liebesaffäre<br />
<strong>Seehofer</strong>s zugespielt, die Dame erwartet<br />
<strong>ein</strong> Kind von ihm. Monate später erklärt<br />
<strong>Seehofer</strong> das Verhältnis für beendet.<br />
„Papa eiskalt“, titelt die Bild am Sonntag.<br />
Dass er die Vorsitzendenwahl gegen Erwin<br />
Huber verliert, wundert niemanden.<br />
Paradoxerweise muss ausgerechnet<br />
der Einzelkämpfer <strong>Seehofer</strong> sich die<br />
meisten Triumphe nicht erkämpfen. Sie<br />
widerfahren ihm, weil andere versagen:<br />
Gesundheitsminister wurde er 1992, weil<br />
s<strong>ein</strong>e Vorgängerin Gerda Hasselfeldt resigniert<br />
hatte. Landwirtschaftsminister<br />
wurde er, weil Stoiber k<strong>ein</strong>en anderen<br />
Sozialpolitiker parat hatte. Hätte das<br />
Tandem Huber-Beckst<strong>ein</strong> die Landtagswahl<br />
2008 nicht verloren, hätte niemand<br />
nach ihm gerufen. So aber ist <strong>Seehofer</strong><br />
plötzlich die <strong>ein</strong>zige Hoffnung der gedemütigten<br />
CSU. Im Oktober 2008 wird er<br />
<strong>Seehofer</strong>s Kehrtwende<br />
beim Thema Donauausbau<br />
„Ich bin dezidiert für<br />
den Donauausbau in<br />
der Variante C 280,<br />
der Lösung mit der<br />
Staustufe“<br />
Mittelbayerische Zeitung, 04. 11. 2009<br />
„Eines ist klar: In<br />
m<strong>ein</strong>er Amtszeit<br />
wird es k<strong>ein</strong>e<br />
Staustufe, k<strong>ein</strong>en<br />
Stichkanal und k<strong>ein</strong>e<br />
Verfahren dazu<br />
geben“<br />
In <strong>ein</strong>er Mitteilung der bayerischen<br />
Staatskanzlei, 27. 02. 2013<br />
<strong>Seehofer</strong>s Kehrtwende<br />
beim Thema schwarz-grüne Sondierung<br />
„Ich werde solche<br />
Gespräche<br />
jedenfalls nicht<br />
führen. Damit<br />
hat sich das“<br />
<strong>Der</strong> Spiegel, 25. 09. 2013<br />
„Wir haben am<br />
Schluss noch <strong>ein</strong>mal<br />
deutlich gemacht,<br />
wir hätten die<br />
Punkte, die noch im<br />
Raum standen, für<br />
überwindbar<br />
gehalten“<br />
Nach Sondierungsgesprächen mit<br />
den Grünen, 16. 10. 2013<br />
mit 90,3 Prozent zum Parteichef gewählt,<br />
<strong>ein</strong>e schwarz-gelbe Mehrheit macht ihn<br />
zum Ministerpräsidenten: Für <strong>Seehofer</strong><br />
ist die Zeit der Macht angebrochen.<br />
Zeit s<strong>ein</strong>er Karriere eilt <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong><br />
der Ruf voraus, schrullige Angewohnheiten<br />
zu pflegen. Zum Beispiel<br />
die, sich in Konfliktsituationen tagelang<br />
in s<strong>ein</strong>er Berliner Wohnung oder dem Ferienhaus<br />
im Altmühltal zu verschanzen,<br />
ohne Türklingel oder Telefon zu beantworten.<br />
So soll es 2002 gewesen s<strong>ein</strong>, als<br />
ihm der Kurs der Union nach den Wahlen<br />
nicht passte, 2004 im Streit um die<br />
Kopfpauschale, während des Wirbels um<br />
s<strong>ein</strong>e Affäre oder auch 2010, während<br />
<strong>ein</strong>er Debatte um den Umbau des Sozialsystems.<br />
S<strong>ein</strong>e Gegner streuen, dies<br />
seien Anzeichen manischen Verhaltens,<br />
er würde dann tagelang autistisch in die<br />
Parallelwelt s<strong>ein</strong>er Modelleisenbahnen,<br />
Computerspiele und Flugzeugsimulatoren<br />
flüchten. Freunde sagen, er nehme<br />
sich Zeit, Probleme gründlich zu durchdenken,<br />
und mache sich <strong>ein</strong> Späßchen daraus,<br />
andere zappeln zu lassen.<br />
Bisweilen, erzählen Weggefährten,<br />
wird er sogar zum Phantom: setzt<br />
sich <strong>ein</strong>en Helm mit Klappvisier auf und<br />
dazu noch die Sonnenbrille, zur Tarnung.<br />
Dann startet er in s<strong>ein</strong>er Garage im Altmühltal<br />
das Motorrad und fährt durch<br />
die bayerischen Auen und Wälder, ohne<br />
Ziel, manchmal stundenlang. Brotzeit<br />
macht er nicht in der Wirtschaft, sondern<br />
all<strong>ein</strong>e, irgendwo auf <strong>ein</strong>em Hügel,<br />
wo es schön ist. Wenn er weiterfährt und<br />
die Leute gucken, freut er sich diebisch,<br />
dass k<strong>ein</strong>er weiß, wer da durchs Land<br />
fährt: der Ministerpräsident persönlich.<br />
Während <strong>Seehofer</strong> sich den Luxus<br />
abzutauchen als Landesvater selten leisten<br />
kann, gibt es andere Eigenschaften,<br />
die sich erst jetzt Bahn brechen. Zur Befriedigung<br />
s<strong>ein</strong>er Adrenalinsucht steht<br />
ihm <strong>ein</strong> weitgehend widerspruchsloser<br />
Apparat zur Verfügung, den er ununterbrochen<br />
piesackt. Weil <strong>Seehofer</strong> kaum<br />
Berater konsultiert, dringt oft ungefiltert<br />
nach draußen, was ihm durch den Kopf<br />
rauscht: die Behauptung, <strong>Deutschland</strong><br />
brauche k<strong>ein</strong>e Zuwanderung aus fremden<br />
Kulturkreisen mehr, oder dass freche<br />
WDR-Journalisten „raus aus <strong>Bayer</strong>n“<br />
müssten. Pausenlos jagt er politischen<br />
Sprengstoff durchs Land, Nichtraucherschutz,<br />
Autobahnmaut … Wird es ihm zu<br />
26<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
<strong>Cicero</strong><br />
Abo<br />
Endlich mehr Zeit<br />
für das Wesentliche<br />
Ich abonniere <strong>Cicero</strong> zum Vorzugspreis.<br />
Bitte senden Sie mir <strong>Cicero</strong> monatlich frei Haus zum Vorzugspreis von zurzeit nur 7,75 EUR / 5,– EUR<br />
(Studenten) pro Ausgabe inkl. MwSt. (statt 8,50 EUR im Einzelkauf).* Das Dankeschön erhalte ich<br />
nach Zahlungs<strong>ein</strong>gang. Verlagsgarantie: Sie gehen k<strong>ein</strong>e langfristige Verpflichtung <strong>ein</strong> und können<br />
das Abonnement jederzeit kündigen. *Preis im Inland inkl. MwSt. und Versand, Abrechnung als Jahresrechnung<br />
über zwölf Ausgaben, Auslandspreise auf Anfrage. <strong>Cicero</strong> ist <strong>ein</strong>e Publikation der Ringier<br />
Publishing GmbH, Friedrichstraße 140, 10117 Berlin, Geschäftsführer Michael Voss.<br />
M<strong>ein</strong>e Adresse<br />
Vorname<br />
Geburtstag<br />
Name<br />
Straße<br />
Hausnummer<br />
PLZ<br />
Ort<br />
Telefon<br />
E-Mail<br />
Bei Bezahlung per Bank<strong>ein</strong>zug erhalten Sie <strong>ein</strong>e weitere Ausgabe gratis.<br />
Kontonummer<br />
BLZ<br />
Ich bezahle per Rechnung.<br />
Geldinstitut<br />
Ich bin Student.<br />
Ich bin <strong>ein</strong>verstanden, dass <strong>Cicero</strong> und die Ringier Publishing GmbH mich per Telefon oder E-Mail<br />
über interessante Angebote des Verlags informieren. Vorstehende Einwilligung kann durch Senden <strong>ein</strong>er<br />
E-Mail an abo@cicero.de oder postalisch an den <strong>Cicero</strong>-Leserservice, 20080 Hamburg, jederzeit<br />
widerrufen werden.<br />
Datum<br />
Unterschrift<br />
Vorzugspreis<br />
Mit <strong>ein</strong>em Abo<br />
sparen Sie gegenüber<br />
dem Einzelkauf.<br />
Mehr Inhalt<br />
Demnächst monatlich mit<br />
Literaturen und zweimal<br />
im Jahr als Extra-Beilage.<br />
Ohne Risiko<br />
Sie gehen k<strong>ein</strong> Risiko <strong>ein</strong><br />
und können Ihr Abonnement<br />
jederzeit kündigen.<br />
Ihr Geschenk<br />
Zum Dank erhalten Sie<br />
den <strong>Cicero</strong>-Kalender 2014<br />
als Geschenk.<br />
Ihr<br />
Geschenk<br />
Jetzt <strong>Cicero</strong> abonnieren! Bestellnr.: 946130<br />
Telefon: 030 3 46 46 56 56<br />
E-Mail: abo@cicero.de<br />
Telefax: 030 3 46 46 56 65<br />
<strong>Cicero</strong>-Leserservice<br />
20080 Hamburg<br />
Shop: www.cicero.de/lesen
28<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
„Wenn ihm fad ist,<br />
fängt er an zu zündeln.<br />
Er braucht Adrenalin.<br />
Dann muss was<br />
angestellt werden“<br />
<strong>Seehofer</strong>s Freund Hermann Regensburger<br />
29<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Titel<br />
<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />
ruhig, macht er s<strong>ein</strong>en Ministern per SMS<br />
Feuer unterm Hintern: „Ein verlorener<br />
Tag“, heißt es, „wann kommt was Neues?“<br />
oder: „Wo bleibt die Revolution?“<br />
<strong>Der</strong> Freude am Thrill entspringt <strong>Seehofer</strong>s<br />
Neigung, Schabernack mit Untergebenen<br />
zu treiben. Als Minister soll er<br />
s<strong>ein</strong>en Staatssekretär Gert Lindemann<br />
alarmiert angerufen haben: Merkel sei<br />
auf dem Bauerntag ausgepfiffen worden,<br />
Lindemann müsse sofort ins Kanzleramt,<br />
um die Wogen zu glätten. Lindemann saß<br />
bereits im Auto, als <strong>Seehofer</strong> wieder anrief,<br />
Tränen lachend, kl<strong>ein</strong>er Scherz.<br />
<strong>Seehofer</strong>s huldvoll-schmunzelnde<br />
Miene erinnert manchmal an den König<br />
der Löwen und s<strong>ein</strong>e gravitätischen Bewegungen<br />
an <strong>ein</strong>en Silberrückengorilla.<br />
Aber wenn ihm <strong>ein</strong> Streich gelungen ist,<br />
wenn er wieder dieses japsende Lachen<br />
mit Schnappatmung gezeigt hat, wird er<br />
hinter vorgehaltener Hand auch mit <strong>ein</strong>er<br />
kichernden Hyäne verglichen. Vom<br />
Ministerpräsidenten veräppelt zu werden,<br />
finden viele nicht mehr lustig. Aber<br />
er kommt nicht aus s<strong>ein</strong>er Haut. Guttenberg<br />
verspottet er als den „Größten<br />
aller Zeiten“, Innenminister Friedrich<br />
Im Würgegriff des Riesen. <strong>Seehofer</strong><br />
umarmt Merkel nach dem Sieg bei<br />
der Bundestagswahl. Ihren Erfolg<br />
hat er zu s<strong>ein</strong>em Triumph gemacht<br />
macht er zum „Oberbedenkenminister“,<br />
Verkehrsminister Ramsauer wird „Zar<br />
Peter“, dessen Staatssekretär Andreas<br />
Scheuer <strong>ein</strong> „Lausbub, der erst mal <strong>ein</strong><br />
Praktikum machen muss“.<br />
Über Finanzminister Markus Söder<br />
sagt er, der sei „von Ehrgeiz zerfressen“<br />
und betreibe „Schmutzeleien“. In <strong>Seehofer</strong>s<br />
Umfeld verdächtigt man Söder,<br />
er habe der Presse 2004 die Geschichte<br />
über <strong>Seehofer</strong>s Geliebte zugesteckt und<br />
zuletzt noch versucht, ihm <strong>ein</strong>e zweite<br />
Affäre anzuhängen, so erklärt man den<br />
Ausfall. Trotzdem brodelt es lange in der<br />
CSU. Von „Mobbing“ ist die Rede, gar <strong>ein</strong>er<br />
„Schreckensherrschaft“.<br />
Er hält sich mit Ilse Aigner und<br />
Markus Söder gleich zwei potenzielle<br />
Nachfolger. In der neuen bayerischen<br />
Staatsregierung wird sie stellvertretende<br />
Regierungschefin und Wirtschaftsministerin<br />
mit der Zuständigkeit für Energie.<br />
Söder darf das Finanzressort behalten<br />
und erhält <strong>ein</strong> neu geschaffenes Ressort<br />
für Heimat obendrauf. Ein Superministerium<br />
für beide, hat <strong>Seehofer</strong> getönt. Aber<br />
die Schlüsselposition des Fraktionschefs<br />
im Landtag bekommt – teile und herrsche<br />
– k<strong>ein</strong>er der beiden Kronprinzen,<br />
sondern s<strong>ein</strong> getreuer Verwalter Thomas<br />
Kreuzer, bisher Leiter der Staatskanzlei.<br />
Dass die CSU sich <strong>Seehofer</strong> unterwirft,<br />
hängt indirekt mit <strong>ein</strong>er Eigenschaft<br />
zusammen, die erst im Amt des<br />
Ministerpräsidenten zu voller Blüte gelangte:<br />
<strong>Seehofer</strong>s Richtungswechsel. Ob<br />
bei der Energiewende oder dem Donauausbau,<br />
den Studiengebühren oder der<br />
Gentechnik – es gibt kaum <strong>ein</strong> Thema,<br />
bei dem er nicht <strong>ein</strong>e oder mehrere<br />
Kehrtwenden vollzogen hätte. Die Klage<br />
über den „Drehhofer“ ist <strong>ein</strong> Klassiker<br />
im Repertoire s<strong>ein</strong>er Kritiker, die lange<br />
verkennen, wie virtuos er damit Machtpolitik<br />
betreibt. Die Koalitionspartner<br />
von der FDP wussten nicht, wie ihnen<br />
geschah. Sie flogen nicht nur aus der Regierung,<br />
sondern gleich aus dem Landtag.<br />
<strong>Seehofer</strong> schaut dem Volk aufs<br />
Maul, misst mit seismografischem Gespür<br />
Stimmungen, hat in der CSU-Zentrale<br />
gar <strong>ein</strong>e Task Force zur Überwachung<br />
sozialer Netzwerke installiert, um<br />
augenblicklich nachjustieren zu können.<br />
So unterzieht er die CSU <strong>ein</strong>em permanenten<br />
Programmupdate. Damit kommt<br />
Foto: Rainer Jensen/Picture Alliance/dpa [M]<br />
30<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
er nicht nur durch, es ist der Kern s<strong>ein</strong>es<br />
Erfolgs. Er versteht es, s<strong>ein</strong>e Taktik als<br />
beides zu vermarkten: <strong>ein</strong>erseits fürstliche<br />
Fürsorge, weil er ja immer auf den<br />
Bürger mit s<strong>ein</strong>en Nöten <strong>ein</strong>geht. Und andererseits<br />
als Nachweis dafür, <strong>ein</strong> Schlitzohr<br />
zu s<strong>ein</strong> – zum Wohle der <strong>Bayer</strong>n<br />
natürlich.<br />
Gut zu beobachten ist das auf <strong>ein</strong>er<br />
niederbayerischen Jubiläumsveranstaltung<br />
im Sommer 2013. <strong>Seehofer</strong> hält umringt<br />
von lokalen Würdenträgern <strong>ein</strong>en<br />
launigen Vortrag über die mehrfachen<br />
historischen Seitenwechsel der <strong>Bayer</strong>n,<br />
von den Österreichern zu Napoleon und<br />
wieder zurück. „Geschichtsbücher nennen<br />
das historischen Weitblick“, sagt er.<br />
Dann macht er s<strong>ein</strong> Lausbubengesicht:<br />
„Und deshalb nehme ich mir auch gelegentlich<br />
heraus …“ Weiter kommt er<br />
nicht, jeder versteht die Anspielung, der<br />
Saal prustet in Gelächter. „Und später<br />
wird auch das als historischer Weitblick<br />
bezeichnet“, ruft <strong>Seehofer</strong>, die Leute johlen,<br />
klatschen, lieben ihn.<br />
Diese Verehrung trägt ihn 2013<br />
durch den Wahlkampf, die „Mutter aller<br />
Schlachten“, wie er sagt, sie trägt ihn über<br />
die Amigo-Affäre im Landtag oder den<br />
Fall Gustl Mollath hinweg, sie trägt ihn<br />
zum Wahlsieg, zur absoluten Mehrheit,<br />
auf den Mount Everest s<strong>ein</strong>er Karriere.<br />
Und sie führt ihn erneut an die Seite<br />
der Kanzlerin, die genau wie er jetzt auf<br />
dem Zenit ihrer Macht ist.<br />
Vor der ersten Fraktionssitzung der<br />
Union nach dem Sieg bei der Bundestagswahl<br />
breitet <strong>Seehofer</strong> die Arme aus und<br />
umarmt Merkel. Sie winkelt den linken<br />
Arm an, sie schiebt ihn zwischen sich und<br />
den Riesen, der sie an sich zieht. Es ist<br />
<strong>ein</strong>e Abwehrbewegung, aber der Riese<br />
hält sie im Würgegriff.<br />
Merkels Triumph nimmt der <strong>Bayer</strong><br />
für sich in Anspruch. Monatelang hat er<br />
sie ver<strong>ein</strong>nahmt. Er hat sie gelobt, auf<br />
Kundgebungen und in Fernsehporträts<br />
über die Kanzlerin. So wurde er zum<br />
obersten Merkel-Juror. Aus ihrer Sicht ist<br />
das k<strong>ein</strong>e so nette Rolle, denn wer sich<br />
herausnimmt zu loben, der bringt sich<br />
auch in die Position, kritisieren zu dürfen.<br />
Folgt jetzt <strong>ein</strong> vierjähriges Fingerhakeln<br />
der Titanen? Einiges spricht dafür:<br />
So stark die CSU in <strong>Bayer</strong>n ist, in <strong>ein</strong>er<br />
Koalition mit SPD oder Grünen bleibt sie<br />
<strong>Seehofer</strong>s Kehrtwende<br />
beim Thema Wehrpflicht<br />
„Die Allgem<strong>ein</strong>e<br />
Wehrpflicht ist <strong>ein</strong><br />
unverzichtbarer<br />
Bestandteil unserer<br />
Demokratie. Nur die<br />
Wehrpflicht<br />
garantiert den<br />
permanenten<br />
Austausch zwischen<br />
den Streitkräften<br />
und der Gesellschaft“<br />
In <strong>ein</strong>er Mitteilung der bayerischen<br />
Staatskanzlei, 30.07.2009<br />
„Es wird und es<br />
darf k<strong>ein</strong>e neue<br />
Diskussion über die<br />
Abschaffung der<br />
Wehrpflicht geben.<br />
(…) Die<br />
sicherheitspolitische<br />
Lage rechtfertigt<br />
<strong>ein</strong>en solchen<br />
Eingriff in die<br />
persönlichen<br />
Freiheiten junger<br />
Menschen nicht<br />
mehr“<br />
Bild am Sonntag, 06.03.2011<br />
nur dritte Kraft. <strong>Seehofer</strong> wird ihr durch<br />
Sturheit und Lautstärke künstliches Gewicht<br />
verleihen. Vor allem aber wird sich<br />
noch herausstellen, wie jemand, der sich<br />
langweilt, wenn es nicht weitergeht, und<br />
zündelt, wenn ihm fad ist, damit umgeht,<br />
an der Spitze angelangt zu s<strong>ein</strong>.<br />
Doch wenn jemand den Brandstifter<br />
<strong>Seehofer</strong> dort <strong>ein</strong>fangen kann, dann<br />
Merkel mit ihrem Feuerlöscher-Habitus.<br />
Vielleicht liegt es daran, dass sie <strong>Seehofer</strong><br />
2004 <strong>ein</strong>mal bezwungen hat, jedenfalls<br />
bringt er der Kanzlerin <strong>ein</strong>e ihm seltene<br />
Form von Respekt entgegen, <strong>ein</strong> Anruf<br />
oder <strong>ein</strong>e SMS von ihr, heißt es, bringe<br />
ihn immer noch zum Grinsen wie <strong>ein</strong>en<br />
Schuljungen. Merkel selbst gilt als angestrengt<br />
von der Unberechenbarkeit des<br />
<strong>Bayer</strong>n, aber wer Nicolas Sarkozy in den<br />
Griff bekommen hat, schafft das auch mit<br />
<strong>Seehofer</strong>. Merkel beherrscht das Spiel mit<br />
der Eitelkeit der Alpha-Männchen im<br />
Schlaf, sie weiß, wie man ihr Ego bedient.<br />
Wer <strong>Seehofer</strong> am Wahlabend im bayerischen<br />
Landtag erlebt hat, ahnt, dass<br />
es für ihn egotechnisch nicht mehr viel<br />
zu kompensieren gibt. <strong>Der</strong> Ministerpräsident<br />
bewegt sich langsam durch <strong>ein</strong>e<br />
schiebende, verkeilte Masse aus Pressemenschen<br />
und Gratulanten, hinter ihm<br />
boxt sich s<strong>ein</strong> Stab mit Ellbogen den Weg<br />
frei. Von überallher kommen die Bücklinge.<br />
„<strong>Horst</strong>, darf ich dir noch persönlich<br />
gratulieren …“, rufen sie, und „Darf<br />
ich dir rasch, <strong>Horst</strong>, zu d<strong>ein</strong>em sensationellen<br />
…“ Schwitzende, gerötete Grinsegesichter:<br />
„Lieber <strong>Horst</strong>, I hob dir auch<br />
schon was geschickt ghobt, aber …“ und<br />
„Ich lasse es mir nicht nehmen, dir ganz<br />
persönlich …“ Dutzende Speckhände recken<br />
sich ihm entgegen. „Ja“, sagt <strong>Seehofer</strong><br />
in müdem Triumph. „Ja, ja.“<br />
Manchem legt er die Pranke auf die<br />
Schulter, über den meisten hebt er nur die<br />
Hand, wie zum Segen. Die Kameras folgen<br />
ihm in den Innenhof, er steigt in den<br />
dunklen Fonds des Wagens, nur s<strong>ein</strong>e grüßende<br />
Hand leuchtet jetzt noch im Blitzlicht,<br />
ihr Schatten fällt riesig vergrößert<br />
auf die Wände. Dann schließt sich die<br />
Türe. „<strong>Der</strong> Chef ist jetzt losgefahren“, sagt<br />
der Security-Mann leise in s<strong>ein</strong> Mikro.<br />
Constantin Magnis ist Ressortleiter<br />
Reportagen von <strong>Cicero</strong>. Während der<br />
Recherche verblüffte <strong>Seehofer</strong> ihn: „Geben<br />
Sie auf <strong>Bayer</strong>n acht!“, bat er Magnis<br />
31<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Titel<br />
<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />
„Man muss überall<br />
mit mir rechnen“<br />
<strong>Bayer</strong>ns Finanzminister Markus Söder über das System <strong>Seehofer</strong>,<br />
das Rennen um die Thronfolge und s<strong>ein</strong> neues Ressort Heimat<br />
Landes. Wenn es für <strong>Bayer</strong>n <strong>ein</strong>e echte<br />
Herausforderung gibt, dann die, k<strong>ein</strong>e<br />
zwei Geschwindigkeiten von Land und<br />
Stadt entstehen zu lassen. Da geht es<br />
nicht um Trachten und Blasmusik.<br />
Schön für Sie. Aber Vize heißt Anwärterin.<br />
Ist das im Bund auch so?<br />
N<strong>ein</strong>, aber da gibt es Koalitionen, und in<br />
denen stellt der Koalitionspartner den<br />
Vize-Regierungschef. In <strong>Bayer</strong>n <strong>regiert</strong><br />
die CSU all<strong>ein</strong>.<br />
Wir haben <strong>ein</strong>en starken Ministerpräsidenten<br />
und mit Ilse Aigner und Innenminister<br />
Joachim Herrmann zwei sehr<br />
gute Vertreter des Ministerpräsidenten.<br />
Herr Söder, herzlichen Glückwunsch<br />
zum Trostpreis!<br />
Markus Söder: Warum?<br />
Sie sind im neuen bayerischen Kabinett<br />
Finanz- und Heimatminister. Das ist<br />
nicht Vize-Ministerpräsident. Den Job<br />
hat Ilse Aigner auf das Wirtschaftsministerium<br />
obendrauf bekommen.<br />
Alle im Kabinett sind wichtig. Das<br />
Finanzministerium mit erweiterten<br />
Kompetenzen ist dazu <strong>ein</strong>es der größten<br />
und stärksten Ministerien. Die neue<br />
Aufgabe als Heimatminister ist wichtig<br />
für die strategische Entwicklung des<br />
„Spaß haben und trotzdem Dinge<br />
durchsetzen, das kann man von ihm<br />
lernen“ – Markus Söder mit<br />
<strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> 2011 im fränkischen<br />
Muhr am See<br />
Ist es typisch für <strong>Seehofer</strong>, mit Aigner<br />
und Söder zwei potenzielle Nachfolger<br />
gegen<strong>ein</strong>anderlaufen zu lassen?<br />
Das macht er doch nicht. Es geht darum,<br />
die stärkste Mannschaftsaufstellung<br />
hinzubekommen. <strong>Bayer</strong>n muss sich optimal<br />
aufstellen, gerade wenn wir vielleicht<br />
<strong>ein</strong>e Große Koalition im Bund<br />
bekommen. Da ist das aktive Handeln<br />
gegenüber Berlin entscheidend. Und da<br />
haben wir <strong>ein</strong> starkes Wirtschaftsministerium<br />
mit Energie, <strong>ein</strong> starkes Innenministerium<br />
mit der Zuständigkeit für Verkehr<br />
und <strong>ein</strong> starkes Finanzministerium.<br />
Ein FC <strong>Bayer</strong>n-Konzept: auf jeder Position<br />
optimal besetzt.<br />
Frau Aigner hat sich im Frühsommer im<br />
<strong>Cicero</strong> offen zu ihren Ambitionen auf die<br />
<strong>Seehofer</strong>-Nachfolge bekannt. Warum<br />
drucksen Sie rum?<br />
Ich habe <strong>ein</strong>e ganz klare Ambition:<br />
Die Aufgabe, die ich jetzt mache, so gut<br />
wie möglich zu erledigen. Wir haben den<br />
<strong>ein</strong>zigen Haushalt in <strong>Deutschland</strong>, der<br />
Foto: Picture Alliance/dpa [M]<br />
32<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Alte Nationalgalerie – Museumsinsel Berlin, Bodestr. 1–3, 10178 Berlin, www.antongraffinberlin.de, www.smb.museum<br />
Eine Ausstellung der Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin – und des<br />
Museums Oskar R<strong>ein</strong>hart, Winterthur. Die Ausstellung in Berlin wird ermöglicht<br />
durch den Ver<strong>ein</strong> der Freunde der Nationalgalerie und gefördert durch die<br />
Kulturstiftung der Länder und Pro Helvetia.<br />
Gefördert durch:
Titel<br />
<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />
massiv Schulden abbaut. Es gibt kaum<br />
anspruchsvollere Aufgaben.<br />
Ihr Chef ist mit absoluter Mehrheit wiedergewählt<br />
worden. Wie funktioniert<br />
eigentlich das System <strong>Seehofer</strong>?<br />
S<strong>ein</strong> Erfolg liegt darin, dass er sich<br />
stark an den Menschen orientiert. <strong>Horst</strong><br />
<strong>Seehofer</strong> macht das wie Franz Josef<br />
Strauß. Dem Volk aufs Maul schauen,<br />
ohne ihm nach dem Mund zu reden. Er<br />
hat auch <strong>ein</strong> Gespür für <strong>Bayer</strong>n wie Edmund<br />
Stoiber. Wie fühlt <strong>Bayer</strong>n in Stadt<br />
und Land? <strong>Seehofer</strong> greift die Probleme<br />
auf und löst sie. Das hat uns den Erfolg<br />
gebracht.<br />
Muss <strong>ein</strong> wirklich großer Politiker nicht<br />
in der Lage s<strong>ein</strong>, Vorhaben gegen starke<br />
Widerstände durchzusetzen? Nehmen<br />
wir Brandts Ostpolitik, Kohls Europapolitik,<br />
Schröders Agenda 2010.<br />
Das hat er doch in s<strong>ein</strong>er Bonner<br />
Zeit als Gesundheitsminister geleistet.<br />
Die Gesundheitsreformen sind damals<br />
nicht von allen begeistert mitgetragen<br />
worden. In <strong>Bayer</strong>n war s<strong>ein</strong> Handeln<br />
richtig: Dem Freistaat geht es besser als<br />
vor fünf Jahren und der CSU auch. Ein<br />
echter Erfolg.<br />
Steht es Ihnen überhaupt zu, <strong>Seehofer</strong><br />
zu loben? Auf <strong>ein</strong>e Note vom Söder wartet<br />
der doch nicht gerade.<br />
Ich glaube, er kommt mit Lob zurecht.<br />
Kurz vor dem ersten schwarz-grünen<br />
Sondierungsgespräch in Berlin hat <strong>Seehofer</strong><br />
ausgeplaudert, dass <strong>ein</strong> viel wichtigeres<br />
Treffen zwischen Angela Merkel,<br />
SPD-Chef Sigmar Gabriel und ihm bevorsteht.<br />
War das etwa <strong>ein</strong>e Schmutzelei?<br />
N<strong>ein</strong>. Wer sich wann mit wem trifft,<br />
ist doch eher <strong>ein</strong>e Frage der Organisation<br />
als <strong>ein</strong>e der Strategie. Am Ende zählt nur,<br />
ob <strong>ein</strong>e Regierung vier Jahre belastbar<br />
arbeiten kann.<br />
Wir haben das Wort „Schmutzelei“<br />
nicht zufällig benutzt.<br />
Ach!<br />
<strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> hat Ihnen vor knapp <strong>ein</strong>em<br />
Jahr Schmutzeleien vorgehalten.<br />
Was ist denn das eigentlich?<br />
Das weiß ich nicht. Die Diskussion<br />
ist erledigt und vorbei.<br />
„<strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong><br />
macht das wie<br />
Franz Josef<br />
Strauß. Dem Volk<br />
aufs Maul schauen,<br />
ohne ihm<br />
nach dem Mund<br />
zu reden“<br />
Markus Söder analysiert das<br />
Erfolgsrezept s<strong>ein</strong>es Chefs<br />
Ist es vielleicht <strong>ein</strong> Kompliment gewesen?<br />
Die Neuberufung in das Kabinett ist<br />
<strong>ein</strong> Vertrauensbeweis, über den ich mich<br />
sehr freue.<br />
Wie würden Sie das Verhältnis zwischen<br />
Angela Merkel und <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong><br />
beschreiben?<br />
Partnerschaftlich.<br />
Was kann man von <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong><br />
lernen?<br />
Spaß haben und trotzdem Dinge<br />
durchsetzen. <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> hat Humor,<br />
den ich schätze. Politik bringt genug<br />
Stress und Ärger mit sich, da muss<br />
man auch mal <strong>ein</strong>en Spaß machen können.<br />
Außerdem hat er <strong>ein</strong> hohes Maß an<br />
Durchsetzungsfähigkeit. Denn Politiker<br />
sind dafür da, <strong>ein</strong>en politischen Weg zu<br />
finden, wenn Bürokraten sagen, dass es<br />
nicht geht.<br />
Wo werden Sie mit Ihren neuen Aufgaben<br />
in Ersch<strong>ein</strong>ung treten? Weiter im<br />
Café Einst<strong>ein</strong> in Berlin oder mehr in <strong>ein</strong>er<br />
Dorfgaststätte in Strullendorf bei<br />
Bamberg?<br />
Man muss überall mit mir rechnen.<br />
Wenn es um Steuern, Haushalt oder die<br />
Stabilität des Euro geht, dann ist der Freistaat<br />
zentraler Ansprechpartner der Länder<br />
in Berlin. Das ist so und bleibt so. Das<br />
bayerische Finanzministerium ist fast das<br />
<strong>ein</strong>zige Landesministerium, das sich mit<br />
dem Bundesfinanzministerium sportlich<br />
austauschen kann.<br />
Ihr neues Heimatressort wird in Nürnberg<br />
s<strong>ein</strong>en Sitz haben. Damit Sie sich<br />
als Ministerpräsident von Franken fühlen<br />
können?<br />
Mit der neuen Zuständigkeit Heimat<br />
wird zum ersten Mal seit 1806 überhaupt<br />
außerhalb Münchens <strong>ein</strong> Regierungssitz<br />
etabliert. Und zwar in m<strong>ein</strong>er Heimat.<br />
Das gefällt mir natürlich. Die Aufgabe<br />
ist aber <strong>ein</strong>e echte Herausforderung: die<br />
ländlichen Strukturen aufzuwerten und<br />
zu verbessern.<br />
Und Berlin? Was wird aus Ihrem angestammten<br />
Tisch im Café Einst<strong>ein</strong>?<br />
Es kommt nicht darauf an, wo man<br />
Kaffee trinkt. Wenn es in Berlin zum<br />
Beispiel um die Bund-Länder-Finanzen<br />
geht, werde ich dabei s<strong>ein</strong>. Ich habe bisher<br />
durch m<strong>ein</strong>e Arbeit gezeigt, dass ich<br />
die mir gestellten Aufgaben mit großem<br />
Engagement angehe. Das soll auch in Zukunft<br />
so s<strong>ein</strong>.<br />
Klingt fast wie aus dem Zeugnis <strong>ein</strong>es<br />
Musterschülers. Was ist mit dem<br />
alten Markus Söder los? Sind Sie brav<br />
geworden?<br />
Man wird reifer. Ein Politiker, der<br />
stehen bleibt, fällt zurück.<br />
Was halten Sie übrigens vom derzeitigen<br />
Generalsekretär, Alexander<br />
Dobrindt? Spielt er bei der CSU-Thronfolge<br />
<strong>ein</strong>e Rolle?<br />
Alexander Dobrindt hat gute Arbeit<br />
gemacht als Generalsekretär. Dieses<br />
ganze Gerede, was in vier oder fünf<br />
Jahren ist, halte ich für ziemlich ermüdend.<br />
Dafür habe ich k<strong>ein</strong>e Zeit.<br />
Jetzt seien Sie mal k<strong>ein</strong> Spielverderber!<br />
Ich sag es ausdrücklich für alle Archive:<br />
Ich schätze die Ilse sehr.<br />
Das Gespräch führten Georg Löwisch<br />
und Christoph Schwennicke<br />
34<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Berliner Republik<br />
„ Innerhalb der FDP gab<br />
es nie <strong>ein</strong> Team.<br />
Hinter den Kulissen<br />
wurde ständig<br />
über<strong>ein</strong>ander hergezogen “<br />
Fehleranalyse von Birgit Homburger,<br />
Mitglied im Präsidium der FDP, Seite 44<br />
35<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
Grüner Erbe<br />
Anton Hofreiter ist der neue Grünen-Chef im Bundestag. Er mag Fleisch und den<br />
Regenwald. S<strong>ein</strong> Denken orientiert sich nicht am Gründungsmythos der Partei<br />
Von Peter Unfried<br />
Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />
Kurz nach dem Supergau in Tschernobyl<br />
rief der Diplom-Ingenieur<br />
Gerhard Hofreiter zu Hause im<br />
bayerischen Sauerlach s<strong>ein</strong>en Sohn Toni<br />
zu sich und ging mit ihm in den Garten.<br />
Dort maßen sie die Radioaktivität des<br />
Regenwassers. Als die Nadel des Flächenzählers<br />
voll ausschlug, regulierten<br />
sie die Empfindlichkeit um <strong>ein</strong>e Stufe<br />
runter. Die Nadel schlug wieder voll aus.<br />
Anton Hofreiter war damals 16 Jahre<br />
alt. Er sagt, Tschernobyl sei <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>schneidendes<br />
Erlebnis gewesen auf s<strong>ein</strong>em<br />
Weg, der ihn 2005 in den Bundestag<br />
führte und 2011 in <strong>ein</strong> repräsentatives<br />
Büro als Vorsitzender des Verkehrsausschusses.<br />
Jetzt leitet er gem<strong>ein</strong>sam mit<br />
Katrin Göring-Eckardt die Grünen im<br />
Parlament. Bei den Grünen ist der Fraktionsvorsitz<br />
die Schlüsselposition, nicht<br />
der Parteivorsitz. So wird es auch von<br />
Hofreiter abhängen, ob die besten Tage<br />
der Grünen noch kommen oder hinter<br />
ihnen liegen.<br />
Schon vor Tschernobyl war Hofreiter<br />
politisch aktiv. Er hatte im oberpfälzischen<br />
Wackersdorf gegen <strong>ein</strong>e geplante<br />
Wiederaufbereitungsanlage demonstriert<br />
und mit 14 im Grünen Ortsverband <strong>ein</strong><br />
bisschen mitdiskutiert. Was trieb ihn dermaßen<br />
an, dass es ihn schon als Schüler<br />
in die Politik drängte?<br />
Das kann er selbst nicht <strong>ein</strong>deutig<br />
beantworten. Zunächst <strong>ein</strong>mal ist er<br />
skeptisch, was die Fähigkeit des Menschen<br />
zu akkurater Erinnerung angeht.<br />
„Das Gedächtnis imaginiert <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong><br />
Bild von der Vergangenheit, deshalb bin<br />
ich da vorsichtig, auch mit Zeugenaussagen“,<br />
erklärt er.<br />
Er hat <strong>ein</strong>e vertrauensbildende<br />
Stimme, sonor-bayerischer Sound, das<br />
kann <strong>ein</strong> Vorteil werden. Allerdings klingen<br />
die Differenzierungen und Relativierungen<br />
in s<strong>ein</strong>en Sätzen manchmal, als<br />
würden Aussagen in der Politik so funktionieren<br />
wie in der Botanik. Die ist ursprünglich<br />
Hofreiters Beruf, er wurde über<br />
Inkaliliengewächse promoviert.<br />
Zudem ist er vorsichtig geworden,<br />
seit er nach der Niederlage s<strong>ein</strong>er Partei<br />
den zuvor unbestrittenen Chef Jürgen<br />
Trittin abgelöst hat. Beide gehören<br />
zum Parteiflügel der Linken. Hofreiter<br />
hat Trittins erfolglosen Gerechtigkeitsund<br />
Steuerwahlkampf überzeugt mitgetragen.<br />
Nun will er <strong>ein</strong>erseits dazu stehen<br />
und andererseits die Rückbesinnung auf<br />
den ökologischen Markenkern vorantreiben.<br />
Nicht ganz <strong>ein</strong>fach. Er weicht gern<br />
ins Grundsätzliche aus. Was ist links?<br />
Wer ist heute nicht „bürgerlich“?<br />
Hofreiter sch<strong>ein</strong>t <strong>ein</strong>e verhältnismäßig<br />
glückliche Kindheit gehabt zu haben.<br />
Sauerlach ist <strong>ein</strong> 5000-Einwohner-Ort im<br />
Süden Münchens. Eigenes Haus, großer<br />
Garten, Natur drum herum. Die Schule<br />
war nicht s<strong>ein</strong> Ding, er war auch nie Klassensprecher.<br />
Aber mit 18 übernahm er<br />
den Ortsver<strong>ein</strong> der Grünen. „Soweit ich<br />
mich erinnere, waren es klassische Motive<br />
der Zeit: Umwelt retten, Welt retten,<br />
internationale Gerechtigkeit.“<br />
Vielleicht muss man mit Hofreiter<br />
endlich zur Kenntnis nehmen, dass der<br />
Gründungsmythos nicht mehr Orientierungspunkt<br />
für das Denken der Grünen<br />
und über die Grünen ist. <strong>Der</strong> 43 Jahre<br />
alte Biologe ist in <strong>ein</strong>er anderen Zeit groß<br />
geworden als s<strong>ein</strong>e männlichen Vorgänger.<br />
Joschka Fischer (Jahrgang 1948),<br />
Rezzo Schlauch (1947), Fritz Kuhn (1955)<br />
und Jürgen Trittin (1954) wuchsen alle<br />
in <strong>ein</strong>er Zeit auf, die von der deutschen<br />
Schuld geprägt war, der Zäsur von 1968<br />
und dem Widerstand gegen die Lebenswelt<br />
der eigenen Eltern.<br />
Das könnte das Wesensmerkmal der<br />
neuen Generation s<strong>ein</strong>: Hofreiter war nie<br />
im Kampf gegen den eigenen Vater. „Es<br />
gab k<strong>ein</strong>en großen Widerspruch“, sagt<br />
er, sondern meist „Einverständnis und<br />
Wohlwollen von beiden Seiten“. S<strong>ein</strong> Elternhaus<br />
sei „SPD-geprägt“. Heißt: <strong>Der</strong><br />
Vater war gegen Franz Josef Strauß – und<br />
der Sohn dann auch.<br />
Das ist die deutsche Erfahrung, die<br />
ihn geprägt hat. Die andere ist s<strong>ein</strong>e Feldforschung<br />
in den Ökosystemen des südamerikanischen<br />
Bergregenwalds und der<br />
daraus entstandene internationale Blick<br />
auf Missbrauch von Menschen und Natur.<br />
Er hat <strong>ein</strong>en internationalen Gerechtigkeitsbegriff<br />
und <strong>ein</strong>e klare Vorstellung<br />
von Ordnungspolitik, aber er verbindet<br />
sie mit <strong>ein</strong>em libertären Wohlstandsbäuchl<strong>ein</strong>.<br />
Essen macht ihm Spaß, Vegetarier<br />
ist er definitiv nicht, wie man sehen<br />
kann, wenn man ihn beim Italiener trifft.<br />
Diesen Hintergrund in <strong>ein</strong>en tragfähigen<br />
Politikstil und Politikinhalt zu transformieren,<br />
das wäre s<strong>ein</strong> Meisterstück.<br />
Wer kam eigentlich auf die Idee, dass<br />
er Trittin nachfolgen sollte? „Das weiß<br />
ich gar nicht“, sagt er. Es sei „<strong>ein</strong> Prozess<br />
gewesen, der sich entwickelte“. Und<br />
zwar schon weit vor der Wahl, weil die<br />
Grünen mit Trittins Sprung ins Kabinett<br />
rechnen mussten. Und was ist mit denen,<br />
die fürchten, er werde jetzt Trittins Testamentsvollstrecker?<br />
„Ach, Gott“, sagt er.<br />
Er findet es überhaupt erstaunlich,<br />
was neuerdings alles in ihn hin<strong>ein</strong>interpretiert<br />
wird. So flüsterten Parteifreunde,<br />
der Toni habe vor der Wahl zum Fraktionschef<br />
s<strong>ein</strong>e ungewöhnlich langen<br />
Haare um <strong>ein</strong> Drittel gekürzt, um präsentabler<br />
zu ersch<strong>ein</strong>en. „Schmarrn“, sagt<br />
Hofreiter. Er trage die Haare seit Jahren<br />
mal länger und mal kürzer. <strong>Der</strong> Friseurbesuch<br />
sei <strong>ein</strong>fach fällig gewesen.<br />
Peter Unfried schreibt regelmäßig<br />
über grüne Ideen und grünes Personal.<br />
Er interessiert sich vor allem für das<br />
Ringen der Partei um Politikfähigkeit<br />
37<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Berliner Republik<br />
Porträt<br />
<strong>Der</strong> Rückzieher<br />
Generalmajor Jörg Vollmer kommandiert die deutschen Soldaten in Afghanistan.<br />
S<strong>ein</strong>e Mission: Dafür sorgen, dass der Einsatz mit Anstand zu Ende gebracht wird<br />
Von Eric Chauvistré<br />
Die Decke <strong>ein</strong> Stück zu tief, das<br />
Fenster nicht viel mehr als <strong>ein</strong><br />
Lichtschacht, die Einrichtung aus<br />
Behörden-Resopal. Gleich neben der Klimaanlage<br />
gerahmte Porträts von Gauck,<br />
Merkel und de Maizière – dezente Insignien<br />
der Macht im Containerbüro. Hier<br />
residiert Jörg Vollmer, derzeit <strong>Deutschland</strong>s<br />
wichtigster Soldat. Seit Februar ist<br />
er für <strong>ein</strong> Jahr Kommandeur der internationalen<br />
Truppen in Nordafghanistan,<br />
der Mann, der für <strong>Deutschland</strong> den Rückzug<br />
der Soldaten <strong>ein</strong>leitet.<br />
Bei den schlichten, hellbeigen Uniformen,<br />
die hier getragen werden, bedarf es<br />
<strong>ein</strong>es Blickes auf die Schulterstücke, um<br />
<strong>ein</strong>en Feldwebel von <strong>ein</strong>em Zwei-Sterne-General<br />
zu unterscheiden. Vollmer<br />
vermittelt den Eindruck, dass er sich im<br />
Wüstentarnanzug wohler fühlt als in <strong>ein</strong>er<br />
der steifen Uniformjacken, die er zu<br />
s<strong>ein</strong>en Zeiten im Ministerium trug.<br />
Vollmer, 56 Jahre alt, wirkt wie <strong>ein</strong><br />
Lauftreffleiter aus Mittelhessen: jener<br />
Typus, der auch bei minus fünf Grad<br />
morgens als Erster am Treffpunkt ist, bei<br />
Kilometer 20 noch konstantes Tempo<br />
hält, aber für die Neulinge unter den<br />
Lauffreunden immer Blasenpflaster und<br />
Energieriegel dabei hat.<br />
Zwei<strong>ein</strong>halb mal anderthalb Kilometer<br />
misst das Camp Marmal bei Masar-i-Scharif.<br />
Nach dem Rückzug aus<br />
dem umkämpften Kundus Anfang Oktober<br />
ist es die letzte deutsche Bastion in<br />
Afghanistan. Einigt sich die Nato mit der<br />
Regierung in Kabul, wird die Bundeswehr<br />
hier noch drei oder vier Jahre bleiben,<br />
sonst ist schon Ende 2014 Schluss.<br />
Mit asphaltierten Straßen, endlosen<br />
Reihen von Containerbauten und<br />
immer gleichen Fertigbauhallen hat das<br />
Areal so gar nichts von dem, was der<br />
romantische Begriff Feldlager vermuten<br />
lässt. „Mallorca-i-Scharif“ nannten<br />
die Kampftruppen in Kundus das Lager<br />
hier, wo man für den Genuss s<strong>ein</strong>es Cappuccino<br />
zwischen „K2“, der „Oase“ und<br />
„Planet Mazar“ wählen, in der privaten<br />
Pizzeria essen – „The best Pizza at the<br />
frontiers of freedom“ – oder sich im Massagesalon<br />
entspannen kann. <strong>Der</strong> Krieg<br />
ist weit weg. Er findet hinter der Sperranlage<br />
aus Mauer und Stacheldraht statt.<br />
Geplant und geführt wird der Einsatz da<br />
draußen in <strong>ein</strong>em nochmals abgesicherten<br />
Camp innerhalb des Camps. Dort<br />
sitzt Vollmer. In <strong>Deutschland</strong> leitet er die<br />
Division Spezielle Operationen, zu der<br />
auch das Kommando Spezialkräfte KSK<br />
gehört. In Afghanistan muss er <strong>ein</strong> Kapitel<br />
deutscher Geschichte abschließen.<br />
Er ist der Einzige, der zweimal als<br />
deutscher Kommandeur nach Afghanistan<br />
durfte. „Die afghanischen Kräfte<br />
können ihre Aufgabe heute deutlich<br />
besser wahrnehmen, als sie das 2009<br />
konnten“, sagt er zum Unterschied s<strong>ein</strong>er<br />
beiden Einsätze. Das klingt, als hätte<br />
<strong>Deutschland</strong> vor zwölf Jahren die Bundeswehr<br />
mit k<strong>ein</strong>em anderen Ziel nach<br />
Afghanistan geschickt, als dem verarmten<br />
und zerbombten Land <strong>ein</strong>e gute Armee<br />
zu schenken.<br />
Es klingt auch, als wäre alles nach<br />
Plan verlaufen. Dabei lief bei s<strong>ein</strong>em ersten<br />
Einsatz als Kommandeur nichts nach<br />
Plan. Drei Monate, nachdem er im Januar<br />
2009 nach Afghanistan kam, starb<br />
zum ersten Mal seit 1945 <strong>ein</strong> deutscher<br />
Soldat im Gefecht. Auch der vom deutschen<br />
Oberst Georg Kl<strong>ein</strong> am 4. September<br />
2009 befohlene Luftangriff mit<br />
etwa 140 toten Zivilisten fand in Vollmers<br />
erster Amtszeit statt. Er erfuhr davon<br />
erst am nächsten Morgen. Im Untersuchungsausschuss<br />
des Bundestags<br />
erklärte er, Kl<strong>ein</strong> habe s<strong>ein</strong>e Kompetenzen<br />
nicht überschritten. Militärs kritisieren<br />
ungern ihresgleichen.<br />
Und doch gehört Vollmer nicht zu den<br />
Generalen, die sich erst vorwagen, wenn<br />
sie nach der Pensionierung durch die Talkshows<br />
tingeln. Während s<strong>ein</strong>es ersten Einsatzes<br />
als Kommandeur drängte er darauf,<br />
in Kundus schnell 2500 Polizisten auszubilden<br />
und zwei Jahre lang ihre Gehälter<br />
aus dem Bundeshaushalt zu zahlen. Berlin<br />
winkte ab. So viel Rat war nicht erwünscht.<br />
Heute beschränkt sich s<strong>ein</strong> Blick auf<br />
die Welt <strong>ein</strong>es Militärs. Seit 35 Jahren ist<br />
er bei der Bundeswehr. Fragt man nach<br />
der sich verschlechternden Lage im Norden,<br />
spricht er von lokal begrenzten Konflikten.<br />
Mit Schulen, die aufgebaut werden<br />
mussten, m<strong>ein</strong>t er die Pionierschule, die<br />
Logistikschule, die Führungsakademie für<br />
afghanische Offiziere. Von Mädchenschulen<br />
und Demokratie spricht er nicht. Vielleicht<br />
braucht es diesen verengten Blick,<br />
um <strong>ein</strong>en Einsatz ordentlich zu beenden,<br />
der <strong>ein</strong>st mit so viel Pathos begonnen<br />
wurde. Das ist Vollmers Mission: Abzug<br />
mit Anstand, Schadensbegrenzung.<br />
Bis dahin soll nicht nur mit dem<br />
Gutkriegerpathos Schluss s<strong>ein</strong>, auch mit<br />
der kriegerischen Unordnung soll es <strong>ein</strong><br />
Ende haben. Soldaten der Kampfkompanien<br />
in Kundus erkannte man an ihren<br />
eng anliegenden, privat beschafften<br />
Combat Shirts. Statt Baretts trugen<br />
die draußen <strong>ein</strong>gesetzten Soldaten gern<br />
Basecaps. Je näher die Bundeswehr am<br />
Krieg war, desto laxer wurden die militärischen<br />
Formen. Jetzt hat Vollmer befohlen,<br />
Combat Shirts nur noch unter<br />
der Schutzweste und Basecaps gar nicht<br />
mehr zu tragen. Die Ordnung stimmt<br />
wieder. Für <strong>Deutschland</strong> soll der Krieg<br />
vorbei s<strong>ein</strong>.<br />
Eric Chauvistré ist Journalist<br />
und Buchautor mit dem Schwerpunkt<br />
Sicherheitspolitik. Über den Krieg in<br />
Afghanistan schreibt er seit 2001<br />
Foto: Daniel Pilar<br />
38<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Berliner Republik<br />
Porträt<br />
<strong>Der</strong> Mann mit den Fragen<br />
Er belästigte Kohl, triezte Schröder, er nervt Merkel. Regierungen wechseln, aber der<br />
Journalist Dieter Wonka bleibt: Er ist Berlins erstaunlichster Zeitungskorrespondent<br />
Von Georg Löwisch<br />
Foto: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong><br />
Für <strong>ein</strong>e s<strong>ein</strong>er ersten Fragen bekam<br />
Dieter Wonka <strong>ein</strong>e gescheuert,<br />
dass er gegen die Tür flog. Er<br />
war zehn oder elf und erkundigte sich<br />
im Religionsunterricht, warum der Herrgott<br />
allmächtig sei. <strong>Der</strong> Lehrer schlug<br />
zu, s<strong>ein</strong> Schüler trug <strong>ein</strong>e Platzwunde<br />
am Kopf davon.<br />
Den Drang zu fragen behielt er. Vielleicht<br />
baut sich <strong>ein</strong> großes Verlangen<br />
nach Antworten erst richtig auf, wenn<br />
es unterdrückt wird. Bei Wonkas zu<br />
Hause waren Nachfragen ebenfalls unerwünscht.<br />
Die Familie lebte in Neugablonz,<br />
<strong>ein</strong>em Stadtteil von Kaufbeuren im<br />
Allgäu. Auf dem ehemaligen Gelände <strong>ein</strong>er<br />
Sprengstofffabrik hatten sich nach<br />
dem Krieg vertriebene Sudetendeutsche<br />
angesiedelt, darunter die Wonkas. <strong>Der</strong><br />
Vater fuhr die Waren <strong>ein</strong>er Drogerie aus,<br />
die Mutter war Hausfrau. Die Welt von<br />
Neugablonz war eng. Wonka sagt heute:<br />
„<strong>ein</strong> braunes Dorf“. Dieter, das mittlere<br />
von drei Kindern, büffelte sich von der<br />
Realschule auf die Fachoberschule. Nachmittags<br />
zeichnete er gerne Baupläne für<br />
Fantasieflugzeuge. Er wollte weg.<br />
Heute ist Wonka 59 Jahre alt, verheiratet,<br />
Vater von zwei Kindern. Er berichtet<br />
als Korrespondent der Leipziger<br />
Volkszeitung aus Berlin. Würde man die<br />
Fragen zählen, die <strong>ein</strong> Journalist in der<br />
Hauptstadt Politikern stellt, überträfe<br />
niemand diesen Mann. Er ist Kohl lästig<br />
gefallen, hat Schröder getriezt, er geht<br />
Merkel auf den Geist. Schäuble wurde<br />
schwach und wieder stark, Fischer dünn<br />
und wieder dick, Wonka fragte.<br />
Manchmal will er seltsame Dinge<br />
wissen, neulich zum Beispiel ließ er in<br />
der Regierungspressekonferenz die fünf<br />
Sprecher der FDP-Minister <strong>ein</strong>zeln aufdröseln,<br />
welche Termine ihre abgewählten<br />
Chefs noch absolvieren. Bei jedem<br />
anderen Korrespondenten dächte man,<br />
er wäre durchgeknallt. Bei Wonka gäbe<br />
es zur Sorge Anlass, wenn er in der Bundespressekonferenz<br />
säße und schwiege.<br />
Dass er unter den Berliner Journalisten<br />
auffällt, erzählt auch etwas über die<br />
politische Kultur der Hauptstadt. Die öffentlich<br />
vorgetragene Frage ist in Berlin<br />
gar nicht selbstverständlich. Die Politiker<br />
wählen unter den konkurrierenden<br />
Journalisten aus, wem sie <strong>ein</strong> Interview<br />
gewähren. Sie überlegen, ob ihnen Fragesteller<br />
und Fragestellung passen. Das<br />
ist Macht: Wer über die Fragen entscheidet,<br />
entscheidet über die Agenda. Für<br />
Pressekonferenzen bleibt nicht viel, sie<br />
veröden. Manchmal schurigeln Politiker<br />
Korrespondenten sogar: „Diese Frage<br />
stellt sich nicht.“ Bisweilen schauen die<br />
anderen Journalisten den Kollegen dann<br />
mitleidig lächelnd an: War doch klar, du<br />
Depp, dass der darauf nicht antwortet.<br />
Die Korrespondenten der großen Magazine<br />
fragen nicht auf offener Bühne,<br />
um der Konkurrenz nicht zu verraten,<br />
was ihre nächste Story ist. Die Leute von<br />
den kl<strong>ein</strong>en Zeitungen kämpfen mit dem<br />
Problem, dass ihre Redaktionen der Politik<br />
zu wenige Zeilen <strong>ein</strong>räumen, um erfragte<br />
Details überhaupt unterzubringen.<br />
Wer unter Zeitdruck steht, schaut sich<br />
Pressekonferenzen gleich am Bildschirm<br />
an. Aber <strong>ein</strong>er fragt immer. Wonka.<br />
Dienstagfrüh, 24. September, Tag<br />
zwei nach der Wahl. Draußen ist es nasskalt.<br />
Drinnen nimmt Wonka Fahrt auf.<br />
Er rollt im Drehsessel an den Schreibtisch,<br />
steckt das Smartphone ins Ladekabel,<br />
gießt sich Kaffee aus <strong>ein</strong>er Thermoskanne<br />
<strong>ein</strong>. Gestern hatte er <strong>ein</strong>en<br />
desolaten FDP-Minister am Telefon, er interviewte<br />
Schäuble und frotzelte abends<br />
mit Gabriel. Gestern war gut. Heute wird<br />
auch gut. „Ich finde, wir könnten mehr<br />
Politik machen“, sagt er am Telefon dem<br />
Redakteur in Leipzig. „Weil jetzt politische<br />
Zeiten sind. Die Grünen kippen reihenweise<br />
vom Schafott.“<br />
Er federt aus dem Sessel, öffnet<br />
die Tür, s<strong>ein</strong>e Assistentin schaut hoch.<br />
„Kannst du bitte die Hilde Mattheis anfragen?“,<br />
ruft er. Er braucht die SPD-<br />
Linke für die „Drei Fragen an …“, das<br />
ist Wonkas Paraderubrik.<br />
Andere Korrespondenten konzentrieren<br />
sich auf bestimmte Parteien oder<br />
Ressorts. <strong>Der</strong> Madsack-Konzern, zu dem<br />
neben der Leipziger Volkszeitung Blätter<br />
von Hannover über Potsdam bis Rostock<br />
gehören, beschäftigt inzwischen 15 Journalisten<br />
in <strong>ein</strong>em gem<strong>ein</strong>samen Berliner<br />
Büro. Es soll Synergien erzeugen, ihre<br />
Texte ersch<strong>ein</strong>en in allen Madsack-Zeitungen.<br />
Aber Wonka ist für alles zuständig<br />
geblieben, als müsste er verhindern,<br />
dass Langeweile in s<strong>ein</strong> Leben sickert.<br />
10.39 Uhr: Wonka tippt den Einstieg<br />
für <strong>ein</strong>en Grünen-Text. 10.40 Uhr: Er ruft<br />
vom Smartphone Boris Palmer an, den<br />
grünen Oberbürgermeister von Tübingen.<br />
Mailbox. 10.41 Uhr: Grünen-Text.<br />
10.42 Uhr: „Kannst du mal gucken, ob<br />
der Boris Palmer zu sprechen ist?“, bittet<br />
er die Assistentin. „Vielleicht ist er ja<br />
im Amt.“ Um 10.46 Uhr zirpt das Smartphone.<br />
„Ah, Genosse Palmer! Hahaha.<br />
Schön, dass Sie …“ Palmer ist auf dem<br />
Rad unterwegs, eigentlich hat er k<strong>ein</strong>e<br />
Zeit. „<strong>Der</strong> Dicke versucht seit Tagen,<br />
mit mir zu reden“, verkündet Wonka. Er<br />
m<strong>ein</strong>t Fischer. „Jetzt schreib’ ich <strong>ein</strong>e Geschichte<br />
über die nächste Bundestagsvizepräsidentin.“<br />
Claudia Roth. Man hört<br />
Palmer lachen. „Ihre Zeit kommt jetzt!“,<br />
ruft Wonka nach Tübingen. <strong>Der</strong> Grüne<br />
verspricht, vom Rathaus zurückzurufen.<br />
Wonka lockt. Schmeichelt. Ködert.<br />
Reizt. Verwirrt. Er nutzt alle Spielarten<br />
des Fragens. Herr Schäuble, wer steht eigentlich<br />
in der CDU noch personell für<br />
41<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Berliner Republik<br />
Porträt<br />
die Zukunft, nachdem die Geheimwaffe<br />
Peter Altmaier aufgebraucht ist? Herr<br />
Gabriel, mit welchem Flügel der Linkspartei<br />
will die SPD des Sigmar Gabriel<br />
im Falle <strong>ein</strong>es Falles koalieren? Frau Kipping,<br />
beschreiben Sie mal den Erfolg der<br />
Linkspartei – den Erfolg der Westausdehnung!<br />
Frau Merkel, ist Peer St<strong>ein</strong>brück seriöser<br />
für Sie oder Sigmar Gabriel oder<br />
sind beide <strong>ein</strong>fach doof?<br />
Seit 2010 hat er auch <strong>ein</strong> Videoformat.<br />
„Madsack im Gespräch“ läuft auf<br />
den Online-Angeboten der Zeitungen. In<br />
s<strong>ein</strong>em Studio fragt er sehr direkt. Dagegen<br />
klügelt er die Fragen in Pressekonferenzen<br />
oder Hintergrundkreisen mehrstufig<br />
aus, als wollte er in den Hirnen<br />
der Politiker kl<strong>ein</strong>e Infarkte erzeugen.<br />
„Wenn er s<strong>ein</strong>e Fragen <strong>ein</strong>leitet, könnte<br />
man die Konzentration verlieren“, sagt<br />
Thomas Steg, sieben Jahre Regierungssprecher<br />
unter Schröder und Merkel.<br />
„Aber auf die Ouvertüre folgt plötzlich<br />
<strong>ein</strong>e verfängliche Frage. Wenn er dann<br />
in der Antwort <strong>ein</strong>e Unsicherheit spürt,<br />
grillt er s<strong>ein</strong> Gegenüber genüsslich.“<br />
Eine von Wonkas ersten Stationen<br />
war Anfang der achtziger Jahre der Wiesbadener<br />
Kurier. Im Politikressort arbeitete<br />
<strong>ein</strong>e Handvoll Redakteure. Gegen<br />
Mittag machten sie sich daran, mit Schere<br />
und Klebestift aus den Texten der Nachrichtenagenturen<br />
Berichte zu basteln.<br />
Recherchefragen gehörten nicht zu den<br />
Dienstpflichten, deshalb reichte <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger<br />
Telefonanschluss. Eines Tages ging<br />
bei der Sekretärin <strong>ein</strong> Ferngespräch <strong>ein</strong>.<br />
Die Sekretärin übergab an den Redaktionsleiter.<br />
<strong>Der</strong> Herr in der Leitung wollte<br />
allerdings Wonka sprechen, der vormittags<br />
von zu Hause um <strong>ein</strong> Interview gebeten<br />
hatte. Die Redaktion war verdutzt.<br />
<strong>Der</strong> Anrufer hieß Willy Brandt.<br />
Vom fragenlosen Kurier ging Wonka<br />
nach Hannover, dort brauchte die Neue<br />
Presse Interviews, um von sich reden zu<br />
machen. <strong>Der</strong> junge Reporter düste nach<br />
Bonn, stellte s<strong>ein</strong>e Fragen, tippte die<br />
Texte im VW Käfer und setzte sie vom<br />
Bonner Postamt ab. 1982 mietete ihm die<br />
Neue Presse in Bonn <strong>ein</strong>e Dachkammer<br />
an. So kam Wonka in die Hauptstadt.<br />
Kohl war gerade Kanzler geworden.<br />
S<strong>ein</strong>e Leute baten Wonka in die Tee runde,<br />
in der genehme Journalisten Plätzchen<br />
bekamen. Die erste Einladung blieb die<br />
<strong>ein</strong>zige. „<strong>Der</strong> nicht!“, raunzte Kohl später<br />
„<strong>Der</strong> nicht!“, raunzte Kohl über<br />
den jungen Reporter Dieter<br />
Wonka. Aber Außenminister<br />
Genscher ließ ihn vor<br />
„Sind St<strong>ein</strong>brück und Gabriel<br />
beide doof?“ Wonka befragt<br />
Merkel seit zwei Jahrzehnten.<br />
Er nennt sie „die Merkelette“<br />
Als Guttenberg<br />
aufgab, konnte<br />
Wonka s<strong>ein</strong>e<br />
Fragen nicht<br />
stellen. „Staffage!“,<br />
rief er zornig,<br />
„Brüskierung!“<br />
bei Pressekonferenzen, wenn Wonka den<br />
Arm hob. Schröder nahm ihn sportlich:<br />
„Wonka, schreib k<strong>ein</strong>en Scheiß.“<br />
Merkel kennt er lange. 1991 stöberte<br />
er sie im Stadtpark von Kyritz an<br />
der Knatter auf. Kohl hatte sie nach Brandenburg<br />
geschickt, um den CDU-Landesvorsitz<br />
zu übernehmen. Die Sache ging<br />
schief. Wonka war Zeuge von Merkels<br />
Niederlage. Stellt er heute <strong>ein</strong>e Frage,<br />
kann sie <strong>ein</strong>en f<strong>ein</strong>en Zug im Gesicht bekommen.<br />
Wie <strong>ein</strong>e Lehrerin, die über <strong>ein</strong>en<br />
vorlauten Schüler <strong>ein</strong> wenig lächelt,<br />
aber ihn ernst nimmt, damit er nicht problematisch<br />
wird. Redet Wonka über die<br />
Kanzlerin, sagt er: „die Merkelette“. Das<br />
macht sie kl<strong>ein</strong>er – und ihn größer. Es<br />
klingt aber auch <strong>ein</strong> bisschen zärtlich.<br />
Heute hat er sie in der LVZ zum ersten<br />
Mal „die Alte“ genannt. Darin stecken<br />
Frechheit und Respekt, die Pole im Verhältnis<br />
zur Kanzlerin, zwischen denen er<br />
sich nicht entscheiden kann.<br />
Halb <strong>ein</strong>s, Reichstag. Die Kameraleute,<br />
Fotografen und Reporter schieben<br />
sich zum Fraktionssaal der SPD wie <strong>ein</strong>e<br />
unaufhaltsame Mure aus Ästen und Geröll.<br />
Vor dem Saal steht die SPD-Linke<br />
Mattheis. Wonka taucht vor ihr auf. „Drei<br />
Fragen an …“ Eine ARD-Tante quatscht<br />
ihm dazwischen. Wonka macht <strong>ein</strong>e elegante<br />
Kraulbewegung, <strong>ein</strong> Kameramann<br />
brüllt etwas, Wonka hält Mattheis das aufnahmebereite<br />
Smartphone unter die Nase.<br />
Er bringt es fertig, zugleich bei SPD<br />
und Grünen zu s<strong>ein</strong>. Fahrstuhl runter,<br />
Fahrstuhl hoch, Fahrstuhl runter. Bei<br />
den Grünen entdeckt er Claudia Roth.<br />
Herzliche Begrüßung, sie ratschen, da<br />
rollt schon wieder die Mure heran. Hektik,<br />
Blitzlicht, „Frau Roth! Eine Frage!“,<br />
fordert <strong>ein</strong> Fernsehmann. „Da müssen Sie<br />
Herrn Wonka fragen“, antwortet Roth.<br />
<strong>Der</strong> Fernsehmann guckt verblüfft.<br />
Wonka tritt beiseite, er muss eh <strong>ein</strong>e<br />
SMS nach Leipzig senden: Neuwahlaufmacher,<br />
Mattheis-Interview, Roth-Geschichte.<br />
Ab in den Fahrstuhl. Zirp, zirp,<br />
macht das Smartphone, als die Tür sich<br />
schließt. „Ah, Joschka“, triumphiert er.<br />
Schnell raus aus dem Fahrstuhl, aber<br />
er erreicht nur die Mailbox. „Herr Fischer,<br />
jetzt haben wir uns verpasst, weil<br />
ich mit ihrer Freundin Claudia Roth zusammenstand.“<br />
Er hat eigentlich genug,<br />
er möchte auch mal bei der CSU vorbeischauen.<br />
Aber vor der Garderobe steht<br />
Fotos: Imago, Screenshot (www.madsack-im-gespraech.de)<br />
42<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Cem Özdemir, Wonka geht auf ihn zu.<br />
Am nächsten Morgen wird dpa die Özdemir-Sätze<br />
aus der Leipziger Volkszeitung<br />
zitieren. Die von Mattheis auch.<br />
Wenn Wonka s<strong>ein</strong>e Fragen nicht anbringen<br />
darf, kann es passieren, dass<br />
s<strong>ein</strong>e Welt zusammenbricht. 2011 verkündete<br />
Guttenberg s<strong>ein</strong>en Rücktritt<br />
überraschend in s<strong>ein</strong>em Ministerium,<br />
während Wonka fernab des Geschehens<br />
in der Bundespressekonferenz hockte. In<br />
<strong>ein</strong>em Youtube-Video von damals sieht<br />
man Regierungssprecher Steffen Seibert<br />
vor der Bundespressekonferenz rumdrucksen.<br />
Wonka ist nur zu hören, s<strong>ein</strong>e<br />
Stimme klingt scharf. „Staffage!“, „Brüskierung!“,<br />
„Kokolores hoch drei!“ Er<br />
bringt die anderen dazu, aus dem Saal<br />
zu ziehen. Seibert verliest derweil Termine<br />
der Kanzlerin. Mit <strong>ein</strong>em Eisgesicht.<br />
Zu Dieter Wonka will er heute k<strong>ein</strong>e Einschätzung<br />
abgeben.<br />
Wonka sagt manchmal, dass er sich<br />
als kl<strong>ein</strong>er Anarchist sieht. Wäre er das<br />
nicht mehr, müsste er aufhören.<br />
Mit 22 an der Universität Regensburg<br />
gehört er dem Marxistischen Studentenbund<br />
Spartakus an. Damals stellt er die<br />
Frage, warum die theologische Fakultät<br />
ausgerechnet <strong>ein</strong>em Bischof die Ehrendoktorwürde<br />
verleiht, der 1933 die „germanische<br />
Rasse“ und den Führer gefeiert<br />
hatte. Wonka und s<strong>ein</strong>e Freunde platzten<br />
mit <strong>ein</strong>em Sarg in die Zeremonie. Allerdings<br />
hatte der Theologieprofessor, der<br />
die Doktorwürde verlieh, vorgesorgt.<br />
„Sicherheitsleute, als Kaplane verkleidet,<br />
die haben uns verprügelt“, sagt Wonka.<br />
In <strong>ein</strong>em Artikel über den Vorgang ist<br />
von „Handgreiflichkeiten“ die Rede. <strong>Der</strong><br />
Theologieprofessor wurde später Papst.<br />
Und Wonka ist Fragenpapst geworden.<br />
Von der Neuen Presse ging es<br />
zum Stern. Auf Fotos von damals spaziert<br />
er in Lederjacke und Slippern über<br />
die Bonner Bühne. Ein junger Nachrichtenjäger.<br />
Fragen an Späth, an Genscher,<br />
an Hans-Jochen Vogel. Er heizte<br />
die Stasi-Vorwürfe gegen Lothar de Maizière<br />
an und brachte Rita Süssmuth mit<br />
<strong>ein</strong>er Dienstwagenaffäre in Bedrängnis.<br />
Er sagt heute, dass ihm beide Fälle leidtun.<br />
Er hat wohl das Gefühl, benutzt worden<br />
zu s<strong>ein</strong>. „Mich stört an so etwas die<br />
Verächtlichmachung von Politik“, sagt er.<br />
1991 verließ er den Stern. S<strong>ein</strong> Freund<br />
Hans Peter Schütz, heute noch bei dem<br />
Magazin, sagt: „Dieter geht nicht darauf,<br />
Abschüsse zu erzielen.“<br />
Ausgerechnet der härteste Fragensteller<br />
Berlins hat etwas gegen die immer<br />
härter werdenden Treibjagden der Meute.<br />
Was ist s<strong>ein</strong>e Leistung? Enthüllungen<br />
nicht, <strong>ein</strong>en Schönschreiberpreis trägt er<br />
auch nicht. „Ohne ihn wäre die Bundespressekonferenz<br />
ziemlich leblos“, sagt<br />
Ex-Regierungssprecher Steg. „S<strong>ein</strong>e Fragen<br />
halten das Ganze am Laufen.“<br />
Ein wenig mehr ist es schon. Vielleicht<br />
muss man sich s<strong>ein</strong>e Funktion wie<br />
die <strong>ein</strong>es Vertikutierers vorstellen, jenes<br />
Gartengeräts, mit dem man die Grasnarbe<br />
<strong>ein</strong>er Rasenfläche anritzt. Das Moos wird<br />
entfernt, der Rasen bekommt Luft und<br />
grünt frisch.<br />
Kurz nach <strong>ein</strong>s. <strong>Der</strong> Regen duscht<br />
Wonka fast vom Fahrrad. Nass und hungrig<br />
betritt er die <strong>Bayer</strong>ische Landesvertretung.<br />
Er grüßt <strong>Seehofer</strong>s Leibwächter.<br />
Jacke aus, Treppe hoch, k<strong>ein</strong>e Semmeln,<br />
k<strong>ein</strong> <strong>Seehofer</strong>. Zirp, zirp. „Meister Fischer!“<br />
Wonka sucht sich <strong>ein</strong>e ruhige<br />
Ecke. „Und wieso nicht Schwarz-Grün?“<br />
Er macht Notizen. „Wer gewinnt bei vorgezogenen<br />
Neuwahlen?“ Wonka schaut<br />
zum Glasdach hoch. Er sieht glücklich<br />
aus. Er fragt Fischer nach Claudia Roth,<br />
nach Renate Künast, nach allen. „Ich<br />
muss zum Horschtl!“<br />
<strong>Seehofer</strong> beginnt s<strong>ein</strong> Statement,<br />
Wonka-Fragen, Fragen anderer Journalisten,<br />
nach zehn Minuten ist die Veranstaltung<br />
eigentlich zu Ende. Aber als<br />
Wonka die Treppe zum Foyer runterkommt,<br />
sieht er Glos. Und greift zu. Er<br />
sieht Dobrindt. Und schnappt ihn sich.<br />
Die Abgeordneten der CSU im Bundestag<br />
versammeln sich zum Gruppenfoto<br />
auf der Treppe. Ein Glatzkopf blökt:<br />
„Herr Wonka muss mit aufs Bild!“<br />
Aber der Mann, der als Junge in Neugablonz<br />
gern Fantasieflugzeuge entwarf,<br />
hört nur halb hin, denn da ist <strong>Seehofer</strong><br />
wieder. Und er hat noch <strong>ein</strong>e Frage.<br />
Georg Löwisch ist Textchef von <strong>Cicero</strong>.<br />
1995 fiel ihm bei <strong>ein</strong>em Aufenthalt im<br />
Bonner Regierungsviertel zum ersten Mal<br />
der Korrespondent Dieter Wonka auf<br />
Anzeige<br />
JA31. OKTOBER -<br />
FEST<br />
3. NOVEMBER<br />
Z<br />
HAus dER BERliNER FEsTspiElE<br />
HANsEATENwEg<br />
AKAdEMiE dER KüNsTE<br />
A-TRANE<br />
QuAsiMOdO<br />
2013<br />
Z
Berliner Republik<br />
Report<br />
<strong>Der</strong> organisierte Liberalismus ist zum ersten Mal seit 64 Jahren<br />
nicht mehr im Bundestag vertreten. In der Partei findet jetzt die große<br />
Abrechnung statt: Wer ist schuld an der Misere? Aber die eigentliche<br />
Frage lautet: Wie kann den Freidemokraten <strong>ein</strong> Comeback gelingen?<br />
Von Alexander Marguier<br />
Ground<br />
Zero<br />
bei<br />
der<br />
FDP<br />
44<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Fotos: PUBLIC ADDRESS/interTOPICS [M], ddp Images/dapd [M], FDP (2)[M], VISUM [M]<br />
Die FDP nach dem<br />
22. September, das ist<br />
so etwas wie <strong>ein</strong> Katastrophengebiet.<br />
K<strong>ein</strong><br />
St<strong>ein</strong> steht mehr auf<br />
dem anderen, das Haus des organisierten<br />
Liberalismus in <strong>Deutschland</strong><br />
wurde vom Wahlbeben dem<br />
Erdboden gleichgemacht. Wer darin<br />
wohnte, ist bis auf Weiteres<br />
obdachlos.<br />
Die meisten Opfer dieser Katastrophe<br />
– Parlamentarier, Parteifunktionäre,<br />
Minister und <strong>ein</strong>e Heerschar an<br />
Mitarbeitern – stehen immer noch unter<br />
Schock. Einige reagieren mit Zynismus,<br />
andere verfluchen das Schicksal<br />
oder die wankelmütige Gottheit in<br />
Form des strafenden Wählers. Ein paar<br />
haben sich auch schon für immer verabschiedet;<br />
sie sehen sich jetzt nach <strong>ein</strong>er<br />
neuen Bleibe um oder haben sich damit<br />
abgefunden, in Zukunft politisch ohne<br />
Heimat zu s<strong>ein</strong>.<br />
Viele sind aber auch gewillt, das alte<br />
Haus namens FDP wieder aufzubauen,<br />
freilich mit <strong>ein</strong>er verlässlicheren Statik<br />
als zuvor. Die entsprechenden Konstruktionspläne<br />
werden noch gesucht. Auf <strong>ein</strong>es<br />
müssen die Freidemokraten jedoch<br />
ganz bestimmt verzichten, und darin<br />
liegt dann doch der Unterschied zu den<br />
Leidtragenden <strong>ein</strong>er Naturkatastrophe:<br />
auf Mitleid und Hilfe von der Bevölkerung.<br />
Nicht <strong>ein</strong>mal die alten Nachbarn<br />
aus der bürgerlichen Siedlung sch<strong>ein</strong>en<br />
sich <strong>ein</strong>en Deut um das liberale Desaster<br />
zu scheren. Vielerorts herrschen sogar<br />
Häme, Verachtung und Triumphgeschrei<br />
– ganz so, als sei am Abend der<br />
Bundestagswahl <strong>ein</strong> finsterer Tyrann<br />
zum Teufel gejagt worden. Als sei das<br />
böse Gespenst der kalten Eigennutzenmaximierung<br />
für immer besiegt.<br />
Zugegeben: Die Versuchung ist groß,<br />
die 4,8-Prozent-Schlappe der FDP als Armageddon<br />
zu schildern. Aber Politik ist<br />
weder <strong>ein</strong> Naturschauspiel, noch eignet<br />
sie sich in Demokratien als Diorama für<br />
endzeitliche Entscheidungsschlachten.<br />
Wer sich dieser Tage in die sinnbildlich<br />
durchaus noch rauchende Trümmerlandschaft<br />
der Freien Demokratischen Partei<br />
begibt, wird dort viele Menschen beim<br />
Kistenpacken treffen. Aber nur wenige,<br />
die den Eindruck vermitteln, als sei <strong>ein</strong>e<br />
Welt für sie zusammengebrochen. Einige<br />
wollen gar nicht über den Wahlausgang<br />
sprechen, weil sie finden, es sei dafür<br />
noch zu früh. Andere berichten von<br />
Schlaflosigkeit, von dem bedrückenden<br />
Gefühl, die Mitverantwortung für das<br />
historische Ausscheiden der FDP nach<br />
64 Jahren ununterbrochener Zugehörigkeit<br />
zum Deutschen Bundestag zu tragen.<br />
Es ist die Zeit der Selbstkritik und<br />
des ungewissen Blickes auf künftige<br />
Wahlen. Verunsicherung ja, Verzweiflung<br />
45<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
© Foto Meyer: Antje Berghäuser; Schwennicke: Andrej Dallmann<br />
Am Ende die<br />
Revolution?<br />
Wie der Liberalismus<br />
überleben kann<br />
Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />
<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer und<br />
<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur Christoph<br />
Schwennicke im Gespräch mit Christian<br />
Lindner.<br />
Sonntag, 24. November 2013, 11 Uhr<br />
Berliner Ensemble<br />
Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />
Tickets: Telefon 030 28408155<br />
www.berliner-ensemble.de<br />
BERLINER<br />
ENSEMBLE<br />
24. November<br />
CHRISTIAN<br />
LINDNER<br />
In Kooperation<br />
mit dem Berliner Ensemble<br />
Berliner<br />
Ensemble<br />
Anzeige<br />
eher n<strong>ein</strong>. Denn da hatte sich ja schon<br />
seit langem etwas angebahnt. Die Forschung<br />
nach den Ursachen für den frappierenden<br />
Niedergang der liberalen Partei<br />
während der Koalition mit CDU und<br />
CSU hat deshalb bereits Monate vor dem<br />
22. September begonnen. Nur, dass sie<br />
jetzt noch <strong>ein</strong> bisschen schonungsloser<br />
ausfällt. Und, dass die Perspektiven jetzt<br />
noch <strong>ein</strong> bisschen trüber sind als zuvor.<br />
Mit dem Scheitern an der Fünf-Prozent-<br />
Hürde hatten wohl doch nur die wenigsten<br />
gerechnet.<br />
„Am Freitag vor der Wahl hatte ich<br />
noch die Wahnvorstellung, dass die FDP<br />
um die 7 Prozent holt“, sagt zum Beispiel<br />
Jörg-Uwe Hahn. Tags darauf hätten sich<br />
aber die Hinweise verdichtet, dass das Ergebnis<br />
doch schlechter ausfallen würde.<br />
Am Wahlsonntag ist Hahn, der vorerst<br />
noch als hessischer Justizminister und<br />
stellvertretender Ministerpräsident amtiert,<br />
dann in die FDP-Landesgeschäftsstelle<br />
nach Wiesbaden gefahren – dort<br />
habe am Nachmittag <strong>ein</strong>e „hochdepressive<br />
Stimmung“ geherrscht. In Hessen,<br />
wo am 22. September auch <strong>ein</strong> neuer<br />
Landtag gewählt wurde, haben die Liberalen<br />
am Ende immerhin noch knapp den<br />
Wieder<strong>ein</strong>zug ins Parlament geschafft.<br />
Mehr aber auch nicht, denn das Ergebnis<br />
von 5 Prozent ist zu schwach, um<br />
die Koalition mit der CDU fortzusetzen.<br />
Wenn sich <strong>ein</strong>e neue Landesregierung gebildet<br />
hat und es nicht doch noch zu <strong>ein</strong>er<br />
Ampelkoalition mit SPD und Grünen<br />
kommt, wird Jörg-Uwe Hahn in Wiesbaden<br />
also wieder als Abgeordneter auf der<br />
Oppositionsbank sitzen. Es gibt schönere<br />
Wege für <strong>ein</strong>en 57 Jahre alten Politiker,<br />
um s<strong>ein</strong>e Karriere ausklingen zu lassen.<br />
Wenn Landtagswahlen verloren gehen,<br />
suchen Betroffene die Ursachen<br />
dafür üblicherweise auf Bundesebene.<br />
So auch Hahn. Aber weil er dem Präsidium<br />
der FDP angehört, nimmt er sich<br />
selbst bei s<strong>ein</strong>er Kritik nicht aus. Zumindest<br />
nicht ganz. S<strong>ein</strong>e Fehleranalyse<br />
reicht dabei bis zum Bundestagswahlkampf<br />
des Jahres 2009 zurück. <strong>Der</strong> sei<br />
„in den letzten Tagen viel zu großmäulig<br />
geführt“ worden, „und dann sind wir<br />
viel zu unsensibel in die Koalitionsverhandlungen<br />
gegangen. Und der damalige<br />
Parteivorsitzende verkündete im Anschluss<br />
an diese Verhandlungen mit stolz<br />
Jörg-Uwe Hahn<br />
ist seit 2006 Chef der hessischen<br />
FDP. Nach dem schlechten<br />
Wahlergebnis vom 22. September<br />
wird er nicht mehr für dieses<br />
Amt kandidieren. In Hessen ist<br />
Hahn vorerst noch Justizminister<br />
und Vize-Ministerpräsident<br />
Birgit Homburger<br />
ist Landesvorsitzende der<br />
baden-württembergischen FDP.<br />
Von Oktober 2009 bis Mai 2011<br />
war sie Fraktionschefin ihrer<br />
Partei im Bundestag. Wie<br />
Jörg-Uwe Hahn gehört sie dem<br />
Präsidium der FDP an<br />
Westerwelles<br />
Sturz hätte <strong>ein</strong><br />
Neuanfang s<strong>ein</strong><br />
können. „Aber<br />
den Schuss, den<br />
wir da freihatten,<br />
haben wir falsch<br />
genutzt“<br />
Fotos: ddp Images/dapd [M], VISUM [M]<br />
46<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Anzeige<br />
geschwellter Brust, man habe sich in 18<br />
von 19 Punkten durchgesetzt – was ja<br />
vollkommener Mumpitz war. Und später<br />
haben wir dann nichts geliefert.“<br />
Mit den ausbleibenden Lieferungen<br />
kam auch die Abwärtsspirale für die FDP<br />
in Gang, abzulesen an den Umfragewerten<br />
sowie an den Ergebnissen diverser<br />
Landtagswahlen. Westerwelles Sturz als<br />
Parteichef im Frühjahr 2011 hätte <strong>ein</strong>en<br />
Neuanfang markieren können, „aber den<br />
Schuss, den wir da freihatten, haben wir<br />
falsch genutzt“, sagt Jörg-Uwe Hahn.<br />
Allerdings weiß er selbst nicht so recht<br />
zu sagen, wie dieses Momentum besser<br />
hätte ausgespielt werden können; auch er<br />
habe damals Philipp Rösler unterstützt.<br />
Dass die verpatzten Koalitionsverhandlungen<br />
mit der Union <strong>ein</strong>e entscheidende<br />
Sollbruchstelle innerhalb<br />
der „bürgerlichen“ Regierung waren,<br />
davon sind sehr viele ehemalige Bundestagsabgeordnete<br />
der FDP überzeugt.<br />
Guido Westerwelle habe sich im Rausch<br />
nach dem Wahlsieg vor vier Jahren von<br />
CDU und CSU über den Tisch ziehen<br />
lassen; mangelnde Erfahrung und allzu<br />
große Vertrauensseligkeit hätten da <strong>ein</strong>e<br />
Rolle gespielt.<br />
„Das Grundproblem war die Koalitionsver<strong>ein</strong>barung,<br />
die wurde nicht sauber<br />
zu Ende verhandelt“, sagt Birgit Homburger,<br />
die im Mai 2011 von Rainer Brüderle<br />
als FDP-Fraktionsvorsitzende abgelöst<br />
wurde. „Das hat dazu geführt, dass<br />
wir in der Koalition permanente Aus<strong>ein</strong>andersetzungen<br />
hatten.“ Bei wasserdichten<br />
Ver<strong>ein</strong>barungen habe man sich<br />
auf den Koalitionspartner zwar verlassen<br />
können, aber „wenn die Union sich <strong>ein</strong><br />
Hintertürchen offen lassen konnte, kam<br />
man schnell in die Bredouille, das hat sie<br />
sofort ausgenutzt“.<br />
Birgit Homburgers Wahlkreis<br />
liegt am Bodensee nahe der Schweizer<br />
Grenze. In der FDP mokieren sich viele<br />
über ihren Dialekt und den wenig weltläufigen<br />
Habitus der 48-Jährigen. Dass<br />
sie zu den Opfern des großen Personalrevirements<br />
im vorvergangenen Jahr zählen<br />
würde, stand deshalb schon früh fest.<br />
Ob ihre Entmachtung besonders klug<br />
war, ist jedoch zweifelhaft. Denn Homburger<br />
gilt als äußerst effizient, immer<br />
gut vorbereitet und von geradezu preußischer<br />
Diszipliniertheit. Das mögen zwar<br />
Sekundärtugenden s<strong>ein</strong>, aber der FDP<br />
hätten sie gewiss nicht geschadet.<br />
Birgit Homburger ist jedenfalls davon<br />
überzeugt, dass insbesondere die<br />
Disziplinlosigkeit der Parteispitze geradewegs<br />
in den Abgrund geführt habe:<br />
„Im Grunde haben wir es während der<br />
gesamten Legislaturperiode nicht geschafft,<br />
die Erfolge der Koalition mit der<br />
FDP zu verknüpfen. Das lag auch daran,<br />
dass es innerhalb der FDP nie <strong>ein</strong> Team<br />
gab, hinter den Kulissen ständig über<strong>ein</strong>ander<br />
hergezogen wurde und dass man<br />
der Presse die Negativstichworte geliefert<br />
hat.“<br />
Für Birgit Homburger ist das Wahldebakel<br />
ihrer Partei mehr als <strong>ein</strong>e politische<br />
Niederlage – eigentlich stellt es<br />
ihr ganzes Leben auf den Kopf. 23 Jahre<br />
lang war sie professionell im Politikbetrieb<br />
unterwegs, jetzt müssen zwei Büros<br />
aufgelöst werden: in Berlin und daheim<br />
im Wahlkreis. „Im Moment habe<br />
ich zwar erste Angebote, aber ich weiß<br />
noch nicht, was ich künftig beruflich mache.<br />
Ich habe mich auch noch nicht darum<br />
gekümmert.“ Die vergangenen Tage<br />
war sie damit beschäftigt, ihre Mitarbeiter<br />
in neue Jobs zu vermitteln. Und sie<br />
hat noch <strong>ein</strong>mal ihre Regalmeter voller<br />
Akten durchgeschaut: Was kann auf den<br />
Müll, was sollte ins Parteiarchiv?<br />
Verbittert wirkt die baden-württembergische<br />
FDP-Landesvorsitzende trotzdem<br />
nicht. Und sie wundert sich auch nur<br />
<strong>ein</strong> bisschen darüber, dass sich von den<br />
ehemaligen Parlamentskollegen ausgerechnet<br />
die Unions-Leute nicht von ihr<br />
verabschieden würden.<br />
Von CDU und CSU fühlt sich die<br />
FDP nämlich regelrecht hintergangen.<br />
Dass die Union sie von den 14,6 Prozent<br />
im Jahr 2009 wieder auf Normalmaß<br />
schrumpfen wollte, war den meisten<br />
Liberalen zwar klar. Aber Angela<br />
Merkels dezidierte Zweitstimmenkampagne<br />
für ihre eigene Partei in den letzten<br />
Tagen vor der Bundestagswahl war<br />
dann eben doch <strong>ein</strong> Schlag ins Gesicht.<br />
Von den Koketterien der Kanzlerin<br />
über die Wahlpleite der Freidemokraten<br />
ganz zu schweigen. Da bleiben Verletzungen<br />
zurück, die so schnell nicht<br />
verheilen werden.<br />
Oliver Luksic, der vier Jahre lang<br />
für die saarländische FDP im Bundestag<br />
saß, glaubt sogar an <strong>ein</strong>en regelrechten<br />
Gott – mehr als nur <strong>ein</strong>e Idee<br />
des Menschen? Ein Streitgespräch<br />
über Christentum<br />
und Wissenschaft zwischen<br />
dem Ratsvorsitzende der EKD,<br />
NIKOLAUS SCHNEIDER, und<br />
dem bekannten Wissenschaftspublizisten<br />
MARTIN URBAN –<br />
kontrovers, offen, aktuell.<br />
144 S. / geb. mit Schutzumschlag<br />
€ 16,99 (D) / € 17,50 (A) / CHF* 24,50<br />
ISBN 978-3-579-08501-2<br />
*empf. Verkaufspr.<br />
GÜTERSLOHER<br />
VERLAGSHAUS<br />
www.gtvh.de<br />
www.aufbau-verlag.de<br />
DIETER<br />
HILDEBRANDT<br />
PETER<br />
ENSIKAT<br />
Wie haben<br />
wir gelacht<br />
ANSICHTEN<br />
ZWEIER CLOWNS<br />
214 Seiten. 978-3-351-02760-5. € 19,99<br />
Foto: Milena Schlösser<br />
47<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
IMPRESSUM<br />
verleger Michael Ringier<br />
chefredakteur Christoph Schwennicke<br />
Stellvertreter des chefredakteurs<br />
Alexander Marguier<br />
Redaktion<br />
Textchef Georg Löwisch<br />
Ressortleiter Lena Bergmann ( Stil ),<br />
Judith Hart ( Weltbühne ), Dr. Alexander Kissler ( Salon),<br />
Til Knipper ( Kapital ), Constantin Magnis ( Reportagen ),<br />
Christoph Seils ( <strong>Cicero</strong> Online )<br />
politischer Chefkorrespondent<br />
Hartmut Palmer<br />
Assistentin des Chefredakteurs<br />
Monika de Roche<br />
Redaktionsassistentin Sonja Vinco<br />
Publizistischer Beirat Heiko Gebhardt,<br />
Klaus Harpprecht, Frank A. Meyer, Jacques Pilet,<br />
Prof. Dr. Christoph Stölzl<br />
Art director Kerstin Schröer<br />
GESTALTUNGSKONZEPT Viola Schmieskors<br />
Bildredaktion Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />
Produktion Utz Zimmermann<br />
Verlag<br />
geschäftsführung<br />
Michael Voss<br />
Vertrieb und unternehmensentwicklung<br />
Thorsten Thierhoff<br />
Redaktionsmarketing Janne Schumacher<br />
Abomarketing Mark Siegmann<br />
nationalvertrieb/leserservice<br />
DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH<br />
Düsternstraße 1–3, 20355 Hamburg<br />
Anzeigen-Disposition Erwin Böck<br />
herstellung Lutz Fricke<br />
grafik Franziska Daxer, Dominik Herrmann<br />
druck/litho Neef+Stumme,<br />
premium printing GmbH & Co.KG,<br />
Schillerstraße 2, 29378 Wittingen<br />
Holger Mahnke, Tel.: +49 (0)5831 23-161<br />
cicero@neef-stumme.de<br />
Service<br />
Liebe Leserin, lieber leser,<br />
haben Sie Fragen zum Abo oder Anregungen und Kritik zu<br />
<strong>ein</strong>er <strong>Cicero</strong>-Ausgabe? Ihr <strong>Cicero</strong>-Leserservice hilft Ihnen<br />
gerne weiter. Sie erreichen uns werktags von 7:30 Uhr bis<br />
20:00 Uhr und samstags von 9:00 Uhr bis 14:00 Uhr.<br />
abonnement und nachbestellungen<br />
<strong>Cicero</strong>-Leserservice<br />
20080 Hamburg<br />
TelefoN 030 3 46 46 56 56<br />
TelefaX 030 3 46 46 56 65<br />
E-Mail abo@cicero.de<br />
Online www.cicero.de/abo<br />
Anregungen und Leserbriefe<br />
<strong>Cicero</strong>-Leserbriefe<br />
Friedrichstraße 140<br />
10117 Berlin<br />
E-Mail info@cicero.de<br />
Einsender von Manuskripten, Briefen o. Ä. erklären sich mit der redaktionellen<br />
Bearbeitung <strong>ein</strong>verstanden. *Preise inkl. gesetzlicher MwSt. und<br />
Versand im Inland, Auslandspreise auf Anfrage. <strong>Der</strong> Export und Vertrieb<br />
von <strong>Cicero</strong> im Ausland sowie das Führen von <strong>Cicero</strong> in Lesezirkeln ist nur<br />
mit Genehmigung des Verlags statthaft.<br />
anzeigenleitung<br />
( verantw. für den Inhalt der Anzeigen )<br />
Tina Krantz, Anne Sasse<br />
Anzeigenverkauf<br />
Jörn Schmieding-Dieck, Svenja Zölch,<br />
Jacqueline Ziob ( Online )<br />
anzeigenmarketing Inga Müller<br />
anzeigenverkauf buchmarkt<br />
Thomas Laschinski, PremiumContentMedia<br />
Dieffenbachstraße 15 ( Remise ), 10967 Berlin<br />
Tel.: +49 (0)30 609 859-30, Fax: -33<br />
verkaufte auflage 82 970 ( IVW Q3/2013 )<br />
LAE 2013 122 000 Entscheider<br />
reichweite 380 000 Leser ( AWA 2013 )<br />
<strong>Cicero</strong> ersch<strong>ein</strong>t in der<br />
ringier Publishing gmbh<br />
Friedrichstraße 140, 10117 Berlin<br />
info@cicero.de, www.cicero.de<br />
redaktion Tel.: + 49 (0)30 981 941-200, Fax: -299<br />
verlag Tel.: + 49 (0)30 981 941-100, Fax: -199<br />
Anzeigen Tel.: + 49 (0)30 981 941-121, Fax: -199<br />
gründungsherausgeber<br />
Dr. Wolfram Weimer<br />
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in<br />
Onlinedienste und Internet und die Vervielfältigung<br />
auf Datenträgern wie CD-ROM, DVD-ROM etc. nur<br />
nach vorheriger schriftlicher Zustimmung des Verlags.<br />
Für unverlangt <strong>ein</strong>gesandte Manuskripte und Bilder<br />
übernimmt der Verlag k<strong>ein</strong>e Haftung.<br />
Copyright © 2013, Ringier Publishing GmbH<br />
V.i.S.d.P.: Christoph Schwennicke<br />
Printed in Germany<br />
<strong>ein</strong>e publikation der ringier gruppe<br />
<strong>ein</strong>zelpreis<br />
D: 8,50 €, CH: 13,– CHF, A: 8,50 €<br />
jahresabonnement ( zwölf ausgaben )<br />
D: 93,– €, CH: 144,– CHF, A: 96,– €*<br />
Schüler, Studierende, Wehr- und Zivildienstleistende<br />
gegen Vorlage <strong>ein</strong>er entsprechenden<br />
Besch<strong>ein</strong>igung in D: 60,– €, CH: 108,– CHF, A: 72,– €*<br />
<strong>Cicero</strong> erhalten Sie im gut sortierten<br />
Presse<strong>ein</strong>zelhandel sowie in Pressegeschäften<br />
an Bahnhöfen und<br />
Flughäfen. Falls Sie <strong>Cicero</strong> bei Ihrem<br />
Pressehändler nicht erhalten sollten,<br />
bitten Sie ihn, <strong>Cicero</strong> bei s<strong>ein</strong>em Großhändler<br />
nachzubestellen. <strong>Cicero</strong> ist dann in der Regel<br />
am Folgetag erhältlich.<br />
Vernichtungsfeldzug gegen die Liberalen.<br />
Die CDU, behauptet Luksic, habe<br />
in ihrem Verständnis als natürliche Regierungspartei<br />
seit der Bundestagswahl<br />
2009 das unausgesprochene Ziel gehabt,<br />
die FDP von der politischen Landkarte<br />
zu tilgen. „Die Union hat nämlich erkannt,<br />
dass in Zeiten, in denen die großen<br />
Parteien ihre Bindungskräfte verlieren,<br />
kl<strong>ein</strong>e Parteien eher stärker werden“,<br />
sagt der 34 Jahre alte Unternehmensberater.<br />
Ohne die FDP würde die Union die<br />
liberale Klientel irgendwann an sich binden<br />
und auf diese Weise regelmäßig mindestens<br />
10 Prozentpunkte vor der SPD<br />
liegen – und so <strong>ein</strong> ums andere Mal den<br />
Kanzler, Ministerpräsidenten oder Bürgermeister<br />
stellen können.<br />
Ist das nicht <strong>ein</strong> bisschen arg verschwörungstheoretisch<br />
gedacht? N<strong>ein</strong>,<br />
beteuert Luksic: Um versprengte<br />
FDP-Wähler nicht zu verprellen, würden<br />
die Unionsparteien jetzt doch Steuererhöhungen<br />
verhindern, obwohl CDU und<br />
CSU eigentlich ganz gern an der Steuerschraube<br />
drehen würden. Wenn die Liberalen<br />
also noch <strong>ein</strong>e Zukunft haben wollten,<br />
dürften sie sich vor allem nie wieder<br />
an die mörderische Union ketten. „Das<br />
Hauptproblem der FDP ist dieses Denken<br />
nach dem Motto, die CDU ist unser<br />
natürlicher Partner“, wettert Oliver Luksic.<br />
„Angela Merkel tickt da ganz anders.“<br />
Wie geht es jetzt also weiter für die<br />
Freidemokraten? Auf Christian Lindner,<br />
den designierten Parteichef, kommen mit<br />
Sicherheit anstrengende Zeiten zu. All<strong>ein</strong><br />
schon deshalb, weil ihm Teile s<strong>ein</strong>er Partei<br />
nun wieder vorwerfen, als Generalsekretär<br />
vor zwei Jahren Fahnenflucht begangen<br />
zu haben. Die FDP ist noch lange<br />
nicht wieder befriedet, und das ist nur <strong>ein</strong>es<br />
von vielen Problemen: „Für uns wird<br />
es in Zukunft sehr viel schwieriger werden,<br />
weil dann auf der Bundesebene <strong>ein</strong><br />
großer Teil der Infrastruktur fehlt“, sagt<br />
Birgit Homburger. Außerdem „nehmen<br />
wir an k<strong>ein</strong>er Bundestagsdebatte mehr<br />
teil, sind in Berlin deutlich weniger präsent,<br />
und die Journalisten interessieren<br />
sich nicht mehr für uns. Jetzt müssen wir<br />
die Partei von unten wieder aufbauen.“<br />
Programmatisch soll sich zwar<br />
nicht viel ändern, auch wird die FDP<br />
wohl kaum auf <strong>ein</strong>en Anti-Euro-Kurs<br />
umschwenken, den schätzungsweise
www.fischerverlage.de<br />
Fotos: FDP (2)[M], PUBLIC ADDRESS/interTOPICS [M]<br />
Anzeige<br />
Oliver Luksic<br />
wurde im Januar 2011 Vorsitzender<br />
der saarländischen FDP,<br />
nachdem der Landesverband<br />
nach etlichen Personalquerelen<br />
in die Krise geraten war.<br />
Er wurde 2009 in den Bundestag<br />
gewählt<br />
Serkan Tören<br />
gehört dem niedersächsischen<br />
Landesvorstand der FDP an und<br />
kam 2009 in den Bundestag.<br />
Dort war er Mitglied im<br />
NSU-Untersuchungsausschuss.<br />
Zu s<strong>ein</strong>en Schwerpunkten zählen<br />
Rechts- und Integrationspolitik<br />
Christian Lindner<br />
ist der designierte Nachfolger<br />
Philipp Röslers als FDP-Chef. Von<br />
Dezember 2009 an war er zwei<br />
Jahre lang Generalsekretär<br />
s<strong>ein</strong>er Partei, bevor er nach NRW<br />
zurückkehrte, um FDP-Landeschef<br />
und Fraktionsvorsitzender im<br />
Düsseldorfer Landtag zu werden<br />
mindestens jedes fünfte Mitglied befürworten<br />
würde. Eher dürften sich die Liberalen<br />
unter Christian Lindner von der<br />
Fokussierung auf Wirtschaftspolitik lösen<br />
und wieder mehr gesellschaftspolitische<br />
Fragen in den Vordergrund rücken.<br />
Die Frage ist nur, welche. Und ob sich dafür<br />
noch jemand interessiert.<br />
„Das Problem der FDP wird in den<br />
nächsten Jahren darin bestehen, eigene<br />
Themen zu setzen. Da sind wir <strong>ein</strong> Stück<br />
weit davon abhängig, was die Regierungsparteien<br />
auf ihre politische Agenda stellen“,<br />
sagt Oliver Luksic, der Saar-Liberale.<br />
Besonders verwegen klingt das nicht.<br />
Auch Präsidiumsmitglied Jörg-Uwe<br />
Hahn hält nicht viel davon, aus der Not<br />
heraus neue Themen zu erfinden. Stattdessen<br />
plädiert er reichlich wolkig dafür,<br />
„das liberale Lebensgefühl wieder besser<br />
herauszustellen“, und warnt gleichzeitig<br />
vor <strong>ein</strong>er allzu beherzten Verjüngung der<br />
Parteiführung. Die FDP habe mit ihrem<br />
teilweise sehr jungen Spitzenpersonal<br />
nämlich den <strong>ein</strong>en oder anderen älteren<br />
FDP-Anhänger ziemlich verunsichert.<br />
Christian Lindner ist übrigens 34 – und<br />
damit sechs Jahre jünger als der glücklose<br />
Parteichef Philipp Rösler.<br />
Serkan Tören, der während der vergangenen<br />
vier Jahre die niedersächsischen<br />
Liberalen im Bundestag vertrat<br />
und demnächst wieder als Rechtsanwalt<br />
arbeiten wird, hat <strong>ein</strong>en ziemlich realistischen<br />
Blick auf die künftigen Herausforderungen<br />
für s<strong>ein</strong>e Partei. Eines der<br />
Hauptdefizite der FDP sei deren mangelnde<br />
Verankerung in klar organisierten<br />
gesellschaftlichen Gruppen. Wo für<br />
die CDU die Kirchen oder für die SPD<br />
Gewerkschaften und Sozialverbände als<br />
Anknüpfungsstellen dienten, klaffe bei<br />
der FDP <strong>ein</strong>e Lücke. „Da müssen wir uns<br />
überlegen, wie wir an die Menschen herankommen.<br />
Das wird <strong>ein</strong>e schwierige<br />
Veranstaltung“, sagt Tören.<br />
Und wenn das in den nächsten vier<br />
Jahren nicht gelingt? Dann wäre wohl<br />
endgültig Schluss. Denn „zweimal nach<strong>ein</strong>ander<br />
nicht im Bundestag vertreten zu<br />
s<strong>ein</strong>, das ist der Genickbruch“.<br />
Alexander Marguier ist<br />
stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong>.<br />
Als Reporter war er schon in <strong>ein</strong>igen<br />
Katastrophengebieten unterwegs<br />
Eine<br />
<strong>ein</strong>zigartige<br />
Röntgenaufnahme<br />
des<br />
politischen<br />
Betriebs in<br />
<strong>Deutschland</strong><br />
Ein Jahr lang begleitete der Publizist<br />
Nils Minkmar Peer St<strong>ein</strong>brück durch<br />
den Wahlkampf. Er hatte exklusiven<br />
Zugang zu wichtigen Terminen und<br />
Besprechungen, zu Beratern, Mitstreitern,<br />
Konkurrenten. Er war teilnehmender<br />
Beobachter bei Veranstaltungen in der<br />
deutschen Provinz, bei Parteitagen<br />
und auf Reisen quer durch Europa.<br />
Eine unvergleichliche Innenansicht des<br />
politischen Systems in <strong>Deutschland</strong>.<br />
224 Seiten, € (D) 19,99<br />
49<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Berliner Republik<br />
Kommentar<br />
Räuber<br />
und<br />
Schreiber<br />
Von<br />
Frank A. Meyer<br />
Raffen, plündern, schachern:<br />
Die Herabsetzung der Politik<br />
durch die Berliner Medien hat<br />
<strong>ein</strong>en neuen Höhepunkt erreicht<br />
Wen haben die Deutschen da bloß gewählt? Einen Gauner<br />
namens Gabriel mit 25 Prozent der Stimmen, <strong>ein</strong>e Marodeurin<br />
namens Merkel mit 42 Prozent. <strong>Der</strong> Spiegel hat das Delinquenten-Duo<br />
gleich nach der Wahl auf dem Titelblatt zur<br />
Fahndung ausgeschrieben: den Gabriel mit Foulard vor dem<br />
Mund, wie beim Banküberfall im Wilden Westen, die Merkel<br />
mit schwarzer Larve vor den Augen, wie die Panzerknacker<br />
bei Donald Duck.<br />
Aber was heißt hier: <strong>Der</strong> Spiegel hat? Focus hat ebenfalls:<br />
Das Münchner Wochenmagazin zeigt Gabriel und Merkel mit<br />
Zorro-Masken, der Rote trägt <strong>ein</strong>en Sack mit Beute über der<br />
Schulter, die Schwarze hat den Sack vorm Bauch, Banknoten<br />
quellen daraus hervor.<br />
Das Geld der Bürger in den Händen der wichtigsten Politiker<br />
dieser Republik – und dargestellt werden sie als Räuber.<br />
Ja, Räuber, denn darauf läuft die Suggestion hinaus: Die rauben<br />
das Geld für sich, für die classe politique, nicht etwa für<br />
Schulen, Straßen oder Renten. Deshalb sind sie dingfest zu machen,<br />
bevor sie mit ihrer Beute verschwinden.<br />
Das Thema, um das es geht, sind Steuererhöhungen: Gabriels<br />
SPD forderte sie, Merkels CDU ließ durchblicken, sie sei<br />
dagegen. In den Gesprächen über die Große Koalition ist das<br />
Thema unumgänglich, es gilt, die Möglichkeit <strong>ein</strong>es Kompromisses<br />
auszuloten. Wie es eben so ist in <strong>ein</strong>er Demokratie. Wie<br />
es s<strong>ein</strong> sollte.<br />
Doch in den Reichstagsmedien ist das anders. <strong>Der</strong> Spiegel<br />
schleudert der Kanzlerin in der Steuersache entgegen: „Versprochen,<br />
gebrochen.“ Und was schleudert Bild der Kanzlerin<br />
entgegen? Genau: „Versprochen, gebrochen.“<br />
Illustration: Florian <strong>Bayer</strong><br />
50<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
So weit ist es gekommen mit den Medien der Berliner Republik:<br />
Spiegel ist Focus ist Bild ist Spiegel. Tobte nicht gerade<br />
gestern noch die Debatte, ob Nikolaus Blome, politischer<br />
Tonangeber bei Bild, als stellvertretender Chefredakteur und<br />
Berliner Büroleiter zum Spiegel passe? Blome passt überall<br />
hin. Jacke wie Hose.<br />
Für die medialen Stimmungsmacher der Hauptstadt zählt<br />
<strong>ein</strong>zig und all<strong>ein</strong>: die möglichst spektakuläre, möglichst effektvolle<br />
Herabsetzung der Politik.<br />
Und so wird der Leser belehrt: Nichts, was Politiker tun,<br />
tun sie ehrlich. Nichts, was sie beabsichtigen, hat <strong>ein</strong>en ehrenwerten<br />
Grund.<br />
Auch dazu <strong>ein</strong> Beispiel aus dem Hamburger Nachrichtenmagazin,<br />
das in der Disziplin der Politikverachtung die Spitzenschreiber<br />
stellt: „Parteichef Gabriel und der Fraktionsvorsitzende<br />
St<strong>ein</strong>meier müssen um ihre Ämter fürchten. Die <strong>ein</strong>stigen<br />
Rivalen haben sich in der Not verbündet.“<br />
Eh voilà! Etwas anderes als Ämterschacher kann Gabriel<br />
und St<strong>ein</strong>meier gar nicht beseelen. Dass die zwei Sozialdemokraten<br />
womöglich aus sachlichen Gründen zusammenarbeiten<br />
könnten, beispielsweise im Interesse der Partei oder gar zum<br />
Wohle des Landes – völlig undenkbar: Politiker manipulieren<br />
nun mal, mauscheln, raffen, ob mit Überfallmaske oder ohne.<br />
Das Magazin der Süddeutschen Zeitung verführte Peer<br />
St<strong>ein</strong>brück zu <strong>ein</strong>em Interview, das als Antwort auf sieben<br />
Fragen nur Mimik und Gestik zuließ. Eine originelle journalistische<br />
Idee, die auf den Humor des Interviewten abzielt. <strong>Der</strong><br />
SPD-Kanzlerkandidat spielte mit und beantwortete die Frage<br />
nach bösen Spitznamen wie „Pannen-Peer“ mit gestrecktem<br />
Mittelfinger – im Kontext dieser Interviewform <strong>ein</strong>e angemessen<br />
witzige Aussage. Das SZ-Magazin fabrizierte daraus s<strong>ein</strong><br />
Titelbild. Und St<strong>ein</strong>brück zeigte nun den Lesern, Bürgern und<br />
Wählern den Stinkefinger.<br />
Wie die Süddeutsche so die Frankfurter Allgem<strong>ein</strong>e. <strong>Der</strong>en<br />
Sonntagszeitung fragte St<strong>ein</strong>brück, ob die Kanzlerin zu wenig<br />
verdiene. <strong>Der</strong> Kandidat gab redlich Antwort: Eine Bundeskanzlerin<br />
oder <strong>ein</strong> Bundeskanzler verdiene gemessen an der<br />
Leistung „zu wenig“. Auf der Frontseite schlug die FAS ihrem<br />
Interview-Gast die Antwort um die Ohren: „St<strong>ein</strong>brück und<br />
das liebe Geld.“ Und der ganze deutsche Medienchor sang den<br />
Refrain: „Peer will mehr.“<br />
Es gilt nicht länger das geschriebene Wort der Politiker und<br />
auch nicht das gesprochene. N<strong>ein</strong>, es gilt grundsätzlich dessen<br />
schlimmstmögliche Interpretation.<br />
Peer St<strong>ein</strong>brück erlebte es auch nach <strong>ein</strong>em humorvoll geführten<br />
Gespräch auf der Bühne des „Berliner Ensembles“, wo<br />
er erklärte, k<strong>ein</strong>en Pinot Grigio unter fünf Euro die Flasche zu<br />
trinken. Die freudlosen Berliner Alphajournalisten fabrizierten<br />
daraus flugs den Luxussozi.<br />
Rainer Brüderle, Spitzenkandidat der FDP, musste die Inquisition<br />
über sich ergehen lassen: <strong>Der</strong> Stern brachte ihn mit<br />
<strong>ein</strong>er attraktiven Journalistin zusammen, der Brüderle in <strong>ein</strong>er<br />
Bar deplatzierte Altherrenkomplimente machte. Die Hamburger<br />
Illustrierte setzte <strong>ein</strong>en Scheiterhaufen in Brand, den alsogleich<br />
frühe und späte Feministinnen umtanzten. Die Kampagne<br />
lief unter dem Slogan „Aufschrei“, als ginge es nicht um<br />
<strong>ein</strong>en Fauxpas, sondern um Totschlag.<br />
Brüderle war verbrannt. Und als s<strong>ein</strong>e Liberalen schließlich<br />
aus dem Bundestag gewählt waren, höhnte die Süddeutsche<br />
Zeitung hinterher: „FDP schleicht von dannen.“ Klar, Verlierer<br />
gehen nicht in Würde, sie wird ihnen medial aberkannt.<br />
Ein Meisterstück der Herabsetzung leistete sich Dirk Kurbjuweit<br />
im Spiegel: S<strong>ein</strong>e Charakterstudie Peer St<strong>ein</strong>brücks<br />
wurde zur Charakterstudie in journalistischer Anmaßung: Kurbjuweit<br />
berief sich selbst zum Gutachter des Wähler-Gerichts,<br />
der SPD-Kanzlerkandidat erschien darin als trauriger „Clown“.<br />
So geht es zu, wenn in Berlin über die Politik geschrieben<br />
wird – gerichtet wird. Das Wort <strong>ein</strong>es Politikers kann nicht nur<br />
gegen ihn verwendet werden; es wird gegen ihn verwendet.<br />
Weshalb aber hat Angela Merkel die denunziatorische Methode<br />
der Medien bisher so gut überstanden? Vielleicht, weil<br />
sie seit je beherzigt, was ihr früherer Chef Lothar de Maizière,<br />
erster demokratisch gewählter Ministerpräsident der DDR, in<br />
<strong>ein</strong>em Gespräch offenbarte: „Wir haben in der DDR zwei Sprachen<br />
gelernt. Eine für zu Hause und <strong>ein</strong>e für die Stasi.“ Die<br />
Sprache für die Stasi: nichts sagen, wenn man redet.<br />
Wer in der Berliner Republik Erfolg haben möchte, lernt<br />
am besten ebenfalls zwei Sprachen: <strong>ein</strong>e für zu Hause – und<br />
<strong>ein</strong>e für die Medien.<br />
Frank A. Meyer ist Journalist und Gastgeber<br />
der politischen Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />
Anzeige<br />
Lydia Galonska, taz-Leserin, Berlin, freischaffende Journalistin<br />
Ich teile mir die taz<br />
mit 13.000 anderen.<br />
Mehr als 13.000 Genossinnen<br />
und Genossen sichern die<br />
publizistische und ökonomische<br />
Unabhängigkeit ihrer<br />
Zeitung. Wer <strong>ein</strong>en Anteil<br />
von 500 €* zeichnet, kann<br />
GenossIn werden.<br />
taz.de/genossenschaft<br />
geno@taz.de<br />
T (030) 25 90 22 13<br />
*auch in 20 Raten zahlbar
Berliner republik<br />
Report<br />
Rohstoff<br />
eitelkeit<br />
52<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Politiker, Journalisten und Lobbyisten:<br />
Die Akteure von Berlin‐Mitte sind gerne<br />
wichtig. Daraus hat der Unternehmer<br />
Rudolf Hetzel <strong>ein</strong> eigenes<br />
Geschäftsmodell entwickelt<br />
Von Andreas Theyssen<br />
Foto: Sarah Häuser/Helios Media<br />
<strong>Der</strong> Ort strotzt vor Symbolkraft.<br />
Rechts ragt die Kuppel<br />
des Reichstags empor,<br />
geradeaus hinter den Bäumen<br />
verstellt der Riegel des<br />
Kanzleramts den Blick. Links, jenseits der<br />
Spree, zieht sich die „Bundesschlange“<br />
über den Moabiter Werder, jener Bau,<br />
der auswärtigen Bundestagsabgeordneten<br />
in Berlin <strong>ein</strong> Domizil bieten soll. K<strong>ein</strong>e<br />
Frage: Das Tipi am Kanzleramt, <strong>ein</strong> Veranstaltungskomplex<br />
im Berliner Tiergarten,<br />
steht im Zentrum der Macht. Entsprechend<br />
hochkarätig ist die Bühne im Tipi<br />
bevölkert, als an <strong>ein</strong>em Montagabend im<br />
November 2012 die Politikawards vergeben<br />
werden – Preise, mit denen politische<br />
Großtaten gewürdigt werden.<br />
Torsten Albig, Ministerpräsident<br />
von Schleswig-Holst<strong>ein</strong>, lässt sich zum<br />
„Aufsteiger des Jahres“ küren. Edmund<br />
Stoiber hält die Laudatio auf die „Newcomerin<br />
des Jahres“, die CSU-Frau Katrin<br />
Albsteiger. Umweltminister Peter Altmaier<br />
lässt sich per Video zuschalten, um<br />
artig für die Auszeichnung „Politiker des<br />
Jahres“ zu danken. Und der Sozialdemokrat<br />
Egon Bahr wird für s<strong>ein</strong> Lebenswerk<br />
geehrt. Abgeordnete, Fraktionsmitarbeiter,<br />
Journalisten und Lobbyisten jubeln.<br />
Es ist <strong>ein</strong> Abend so ganz nach dem<br />
Geschmack des Mannes, der zuvor am<br />
Eingang die Gäste begrüßt hat: Rudolf<br />
Hetzel, Inhaber des Unternehmens Helios<br />
Media. Wieder <strong>ein</strong>mal hat er diejenigen<br />
zusammengebracht, die sich im politischen<br />
Berlin für wichtig halten – und<br />
wieder <strong>ein</strong>mal hat er mit solch <strong>ein</strong>er Zusammenkunft<br />
Geld verdient. Am 25. November<br />
dieses Jahres wird er den Politikaward<br />
erneut prächtig inszenieren, zum<br />
elften Mal, denn Eitelkeit ist <strong>ein</strong> Rohstoff,<br />
der in Berlin nie ausgeht.<br />
Hetzel, 39, ist <strong>ein</strong>e Ausnahmeersch<strong>ein</strong>ung<br />
im Berliner Politikbetrieb. Vor<br />
elf Jahren startete er in Kreuzberg mit <strong>ein</strong>er<br />
kl<strong>ein</strong>en Agentur, zu deren Mitarbeitern<br />
außer ihm nur Praktikanten zählten.<br />
Heute hat s<strong>ein</strong> Unternehmen Helios Media<br />
133 Angestellte in vier GmbHs, die<br />
in diesem Jahr rund 15 Millionen Euro<br />
erwirtschaften sollen: mit Magazinen,<br />
Kongressen, Preisverleihungsgalas, Verbandsmanagement,<br />
Schulungen.<br />
<strong>Der</strong> Rh<strong>ein</strong>länder, der ursprünglich<br />
Wahlkampfmanager werden wollte,<br />
hat den Berliner Betrieb mit Mitte 20<br />
53<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Frau Fried fragt sich …<br />
… warum sie sich übers Fernsehen<br />
noch aufregen soll<br />
Neulich wurde ich zu <strong>ein</strong>er Podiumsdiskussion über Kinder<br />
und Fernsehen <strong>ein</strong>geladen. Ich war für die Rolle der Mutter<br />
vorgesehen, die sich über die Niveaulosigkeit der privaten<br />
Sender empören sollte. Ich horchte in mich hin<strong>ein</strong> und stellte fest:<br />
Es ist k<strong>ein</strong>e Empörung in mir. Die privaten Sender tun, was man von<br />
ihnen erwartet. Ihre Programme sind überwiegend spekulativ, vulgär<br />
und sensationsheischend, sodass möglichst viele Leute zusehen und<br />
die Sender möglichst viel Geld verdienen. Und überhaupt: Warum<br />
soll ich mich über <strong>ein</strong> paar Heuschrecken fressende C‐Promis aufregen?<br />
Die machen bei dieser Art Volksbelustigung freiwillig ( und gegen<br />
ziemlich viel Geld ) mit, und die Zuschauer sehen es sich freiwillig<br />
an. Wenn mir diese Art Fernsehen missfällt, schalte ich es nicht <strong>ein</strong>.<br />
Wenn ich nicht will, dass m<strong>ein</strong>e Kinder es ansehen, dann muss ich<br />
dafür sorgen, dass sie es auch nicht <strong>ein</strong>schalten.<br />
Jeder Zuschauer hat Hunderte von Kanälen zur Auswahl.<br />
Will er niveauvolles Programm, wird er es finden. Will er Blödsinn,<br />
wird er ihn finden. Es ist wie beim Essen: Ich kann mich in der Burgerbude<br />
nicht beschweren, dass k<strong>ein</strong> Bioessen serviert wird. Und die<br />
Erfahrung zeigt: Man kann Leuten, die auf Junkfood stehen, noch so<br />
viel gesundes Essen anbieten – sie bevorzugen weiter Junkfood.<br />
Beim Fernsehen ist es so ziemlich dasselbe – wozu die Aufregung?<br />
Anders liegt die Sache bei den öffentlich-rechtlichen Sendern.<br />
Die haben <strong>ein</strong>en Bildungs- und Kulturauftrag. Alles in allem machen<br />
sie ihre Sache nicht schlecht, aber mancher Unterhaltungsredakteur<br />
träumt fatalerweise davon, Quoten wie die private Konkurrenz<br />
<strong>ein</strong>zufahren. So entstehen diese als Junkfood getarnten öffentlich-rechtlichen<br />
Grünkern-Bio-Burger, die uns weismachen wollen, sie seien<br />
so cool wie die fett- und ketchuptriefenden Big Macs von den Privaten.<br />
Aber wenn ich es niveaulos will, gebe ich mir lieber <strong>ein</strong>e Dosis echten<br />
Junk. Bei „Germanys next Topmodel“, „Berlin bei Tag und Nacht“<br />
oder dem „Dschungelcamp“ ist der Grusel wenigstens authentisch.<br />
Als mündige Bürgerin bin ich gegen betreutes Fernsehen – den<br />
Part der empörten Mutter habe ich abgelehnt.<br />
Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin.<br />
Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben<br />
sonst noch an Fragen aufwirft<br />
kennengelernt: als Praktikant im Landesverband<br />
der SPD, beim ersten Wahlkampf<br />
von Klaus Wowereit, in der Kampa,<br />
in der Matthias Machnig 1998 Gerhard<br />
Schröders Kampagne managte.<br />
Hetzel muss <strong>ein</strong>e Besonderheit der<br />
Politwelt aufgefallen s<strong>ein</strong> – die Eitelkeit<br />
der Akteure. Er hat diese Ressource entdeckt<br />
und <strong>ein</strong> Geschäftsmodell für sie<br />
entwickelt. Im Prinzip ist es schlicht:<br />
Er organisiert Events, zu denen Journalisten<br />
kommen, weil dort Politiker<br />
sind, und Politiker, weil dort Journalisten<br />
sind – und das Ganze verkauft<br />
Hetzel an Lobbyisten, die dafür zahlen,<br />
dass sie Politiker und Journalisten<br />
treffen können.<br />
Hetzel bestreitet, dass er mit der Eitelkeit<br />
der Akteure handelt. Schließlich<br />
seien Politiker, Journalisten und Lobbyisten<br />
berufsbedingt gezwungen, sich<br />
zu exponieren. Er sagt aber auch, s<strong>ein</strong><br />
Magazin Politik & Kommunikation sei<br />
„<strong>ein</strong> bisschen die Gala der deutschen Politik“.<br />
Also <strong>ein</strong>e Art Society-Magazin für<br />
die Gesellschaft von Berlin-Mitte.<br />
Das Magazin ist die Keimzelle von<br />
Helios Media. Seit 2002 befasst es sich<br />
mit Wahlkampagnen, Politikberatung<br />
und vor allem mit Personalwechseln.<br />
Es ist angelehnt an das US-Magazin<br />
Campains & Elections, das Hetzel als<br />
Praktikant <strong>ein</strong>es Kongressabgeordneten<br />
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Star Press<br />
54<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Rudolf Hetzel ( l.) empfängt<br />
Egon Bahr ( r.) bei der<br />
Politikaward-Verleihung<br />
der Demokraten kennenlernte. Rund<br />
10 000 Exemplare von Politik & Kommunikation<br />
gehen monatlich – oft gratis – an<br />
politische Mandatsträger und Multiplikatoren<br />
in <strong>Deutschland</strong>. Wer wissen muss,<br />
welcher Abteilungsleiter in welches Ministerium<br />
wechselt und welcher Lobbyist<br />
sich auf welchem Sommerfest sehen ließ,<br />
kommt nicht daran vorbei.<br />
Hetzel und s<strong>ein</strong> Magazin sind in <strong>ein</strong>e<br />
Lücke gestoßen, die sich auftat, als Parlament<br />
und Regierung nach Berlin umzogen.<br />
„Die Gesellschaft in der Hauptstadt<br />
hat sich seitdem sehr vermischt“, sagt<br />
der Society-Experte Peter Lewandowski,<br />
früher Chefredakteur von Gala. Früher<br />
seien die Gesellschaften in Bonn oder<br />
München unter sich geblieben, „in Berlin<br />
aber vermengen sich Politik, Wirtschaft<br />
und Showbusiness. Und Politiker zeigen<br />
sich gerne mit Stars.“<br />
Wie gerne sie das tun, wurde deutlich,<br />
als erst Spiegel TV und später der<br />
Stern die engen Verbindungen des Rappers<br />
Bushido zu <strong>ein</strong>em kriminellen Familienclan<br />
öffentlich machten. Bu shido<br />
hatte nicht nur <strong>ein</strong> Praktikum beim<br />
CDU-Bundestagsabgeordneten Christian<br />
Freiherr von Stetten machen dürfen,<br />
mit ihm hatten sich Bundesinnenminister<br />
Hans-Peter Friedrich, <strong>Bayer</strong>ns Ministerpräsident<br />
<strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> und Rainer<br />
Brüderle von der FDP gezeigt. Ein Star<br />
befreit <strong>ein</strong>en Amtsträger eben <strong>ein</strong> wenig<br />
von der Aura des drögen Politikers. Das<br />
hoffen zumindest die Amtsträger.<br />
In dieser Melange verdient Hetzel<br />
s<strong>ein</strong> Geld. „Im überschaubaren Bonn<br />
wäre Helios nicht möglich gewesen“, sagt<br />
<strong>ein</strong> ehemaliger Hetzel-Mitarbeiter. „Helios<br />
Media erhebt das Ganze mit Awards<br />
und Kongressen in s<strong>ein</strong>er Wichtigkeit“,<br />
sagt Lewandowski. „Das sind neue Reize<br />
für Eitelkeiten.“<br />
Einer dieser Reize sind die Politikawards.<br />
Nicht nur an Politiker, sondern<br />
auch an Agenturen für politische Kampagnen,<br />
an Verwaltungen für Informationsoffensiven<br />
und Unternehmen für<br />
„Corporate-Social-Responsibility“. <strong>Der</strong><br />
Politikbetrieb feiert sich selber, und Hetzel<br />
verdient daran. Denn für etliche der<br />
Preise gibt es Sponsoren wie BMW oder<br />
McDonalds, die die Veranstaltung finanzieren.<br />
Im Gegenzug dürfen sie sich auf<br />
der Sponsorenwand für <strong>ein</strong>en Abend verewigen.<br />
Ihre Kommunikationschefs überreichen<br />
die Preise.<br />
Dieses Geschäftsmodell wendete<br />
Hetzel auch an, als er <strong>ein</strong> paar Jahre lang<br />
die Eitelkeit der Journalisten bediente.<br />
Helios Media gab das Journalisten-Magazin<br />
V.i.S.d.P. heraus und lobte <strong>ein</strong>en<br />
Preis aus, den Goldenen Prometheus. Mit<br />
ihm wurden bekannte Journalisten ausgezeichnet,<br />
etwa Heribert Prantl von der<br />
Süddeutschen Zeitung oder Spiegel-Autor<br />
Jürgen L<strong>ein</strong>emann. Bei der Preisverleihung<br />
vermietete Hetzel die Tische, an<br />
denen die Gäste saßen, um ihre Branche<br />
zu feiern, für je 4000 Euro an Konzerne<br />
wie RAG oder Lobbygruppen wie die Initiative<br />
Neue Soziale Marktwirtschaft.<br />
<strong>Der</strong>en Vertreter hatten <strong>ein</strong>en Abend lang<br />
Gelegenheit, bei den Multiplikatoren für<br />
ihre Anliegen zu werben. <strong>Der</strong> Preis wurde<br />
2009 zum letzten Mal vergeben.<br />
„<strong>Der</strong> Goldene Prometheus hat nicht<br />
genügend Geld gebracht“, sagt Torben<br />
Werner, der bei Hetzel als Praktikant anfing,<br />
heute Mitgesellschafter ist und das<br />
operative Geschäft von Helios betreibt.<br />
Das Magazin V.i.S.d.P. wurde im vergangenen<br />
Jahr <strong>ein</strong>gestellt.<br />
Anzeige<br />
Die Welt kennt<br />
Willy Brandt,<br />
doch wer kennt<br />
s<strong>ein</strong>e Welt?<br />
S<strong>ein</strong>e Frau Rut, die Söhne Peter,<br />
Lars und Matthias: Wie erlebte die<br />
Familie Brandts Aufstieg und Fall?<br />
Rut Brandts Freundinnen und viele<br />
Menschen aus dem ganz privaten<br />
Umfeld der Familie Brandt haben<br />
sich für diese ungewöhnliche Biographie<br />
in Interviews geöffnet.<br />
Was sie zu erzählen haben, ergänzt<br />
auf spannende Weise die Erinnerungen<br />
der politischen Weggefährten<br />
wie Egon Bahr und Hans-Dietrich<br />
Genscher.<br />
Torsten Körner zeichnet <strong>ein</strong> neues,<br />
faszinierendes Bild <strong>ein</strong>er legendären<br />
Persönlichkeit und ihrer Familie.<br />
So nah kam noch k<strong>ein</strong>e Biographie<br />
dem Menschen Willy Brandt.<br />
Das große Buch<br />
zum 100. Geburtstag<br />
von Willy Brandt<br />
ISBN 978-3-10-040407-7, 512 Seiten, gebunden, € (D) 22,99<br />
55<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013<br />
www.fischerverlage.de
Berliner republik<br />
Report<br />
Mitarbeiter beschreiben Hetzel als<br />
Menschen, „der Ideen hat, der sich etwas<br />
traut“. Als Menschen, der <strong>ein</strong>e „amerikanische<br />
Mentalität“ habe und nach dem<br />
Motto vorgehe: „Wir probieren es <strong>ein</strong>fach<br />
mal aus.“ Diese Mentalität hat zur<br />
Folge, dass nicht immer alles so funktioniert,<br />
wie Hetzel sich das vorstellt.<br />
Nach dem Regierungsumzug siedelten<br />
sich zwar etliche PR-Agenturen in<br />
Berlin an, Unternehmen eröffneten Lobbybüros,<br />
weil sie sich nicht länger auf<br />
ihre Verbände verlassen wollten – ganz<br />
so, wie Hetzel es sich erhofft hatte. Doch<br />
auch wenn es in Berlin mehr Lobbyisten<br />
und Politikberater gibt als in Bonn – Berlin<br />
ist eben doch nicht Washington. Richtig<br />
viel Geld lässt sich mit diesem Klientel<br />
nicht verdienen. „Wir sind an unsere<br />
Grenzen gestoßen, weil es <strong>ein</strong>fach zu<br />
wenig Politikberater in Berlin gibt“, sagt<br />
Geschäftsführer Werner. Politik & Kommunikation<br />
ersch<strong>ein</strong>t praktisch zum<br />
Selbstkostenpreis, erzählen Helios-Mitarbeiter,<br />
auch die Verleihung der Politikawards<br />
stand wegen zu geringer Einnahmen<br />
schon auf dem Prüfstand.<br />
Hetzel erschloss sich deshalb neue<br />
Kundengruppen, die ihre eigene Bedeutung<br />
erhöhen wollen. Schon 2003 hat er<br />
<strong>ein</strong> Fortbildungsinstitut für Pressesprecher<br />
gegründet, ganz unbescheiden Deutsche<br />
Presseakademie genannt.<br />
PR-Leute aus Unternehmen und<br />
Ministerien lassen sich dort von Hauptstadtjournalisten<br />
und erfahrenen Pressesprechern<br />
unterrichten. Und diese<br />
PR-Leute sehnten sich nach <strong>ein</strong>em Berufsverband.<br />
So entstand vor zehn Jahren<br />
der Verband deutscher Pressesprecher.<br />
Helios Media organisierte die Gründungsversammlung,<br />
produziert das Verbandsmagazin<br />
und veranstaltet den Kommunikationskongress,<br />
auf dem neben PR-Profis<br />
Politiker und Journalisten auftreten.<br />
Zu den Politikberatern und Pressesprechern<br />
sind andere Berufsgruppen<br />
wie Personalmanager hinzugekommen,<br />
die ihre eigene Bedeutung gesteigert sehen<br />
möchten. Sie werden von Helios umfassend<br />
versorgt, mit Verbandsmagazinen,<br />
Newslettern, dem Management der<br />
Verbände, mit Kongressen, Preisverleihungsgalas.<br />
„Inzwischen decken wir<br />
zehn bis 15 Berufsgruppen ab“, sagt<br />
Hetzel. Und hat mittlerweile <strong>ein</strong>e neue<br />
Rudolf Hetzel<br />
züchtet sich<br />
Pressesprecher<br />
heran, an die er<br />
später s<strong>ein</strong>e<br />
Produkte verkauft<br />
Definition für Helios: „Wir verstehen uns<br />
als Berufsgruppenfachverlag für die Leitenden.“<br />
Ein bisschen mehr als <strong>ein</strong> Verlag<br />
ist Helios dennoch. Denn zu Hetzels<br />
Reich zählt seit 2009 auch die Managementhochschule<br />
Quadriga. Hier können<br />
Berufstätige neben ihrem Job in anderthalb<br />
Jahre langen Studiengängen zu Preisen<br />
zwischen 14 000 und 21 000 Euro<br />
<strong>ein</strong>en MBA erwerben. Die Studienrichtungen:<br />
„Communication & Leadership“,<br />
„Public Affairs & Leadership“ und „Human<br />
Ressources & Leadership“.<br />
Helios züchtet sich die Pressesprecher<br />
und Personalmanager heran, die es dann<br />
mit s<strong>ein</strong>en Produkten versorgt. „Das befruchtet<br />
sich alles selbst. Hetzel hat <strong>ein</strong>e<br />
Art Perpetuum mobile geschaffen“, sagt<br />
<strong>ein</strong> früherer Helios-Mitarbeiter.<br />
Die Aktivitäten sind so vielschichtig<br />
geworden, dass manche Helios-Leute in<br />
Multifunktionen auftauchen. Zum Beispiel<br />
der Journalist Hajo Schumacher,<br />
der <strong>ein</strong>e Kolumne in der Berliner Morgenpost<br />
schreibt und auf Spiegel Online unter<br />
dem Pseudonym Achim Achilles über<br />
s<strong>ein</strong>e Lauferfahrungen räsoniert. Er sitzt<br />
im Redaktionsbeirat von Politik & Kommunikation<br />
und in der Jury der Politikawards.<br />
Als Dozent der Pressesprecherschule<br />
bringt Schumacher PR-Leuten bei,<br />
wie sie mit Journalisten fertig werden. Er<br />
moderiert <strong>ein</strong>e Talkrunde auf dem Kommunikationskongress<br />
des Pressesprecherverbands,<br />
den Helios organisiert (Teilnahmegebühr<br />
mit Frühbucherrabatt:<br />
890 Euro). Und er moderiert die von Helios<br />
ausgerichtete Gala zur Verleihung des<br />
Deutschen Preises für Onlinekommunikation<br />
(Eintrittspreis: bis zu 290 Euro).<br />
Schumacher war auch Herausgeber<br />
des 2012 <strong>ein</strong>gestellten Helios-Journalisten-Magazins<br />
V.i.S.d.P. Als die FDP-Politikerin<br />
Silvana Koch-Mehrin wegen ihrer<br />
Doktorarbeit in Bedrängnis geriet,<br />
nahm er sie in dem Blatt in <strong>ein</strong>em Kommentar<br />
in Schutz – als <strong>ein</strong>er der wenigen<br />
deutschen Kommentatoren. Koch-Mehrin<br />
sitzt – wie Schumacher – im Redaktionsbeirat<br />
von Politik & Kommunikation.<br />
Helios Media hat die Räume in der<br />
Kreuzberger Oranienstraße, in denen<br />
die Mitarbeiter noch auf Bierbänken<br />
hockten und selber ihre Magazine für<br />
den Versand <strong>ein</strong>tüteten, längst verlassen.<br />
Heute residiert das Unternehmen<br />
in Berlin-Mitte in <strong>ein</strong>em lichten Bürohaus<br />
neben dem Außenministerium. Im<br />
Erdgeschoss liegen die gläserne Bibliothek<br />
der Quadriga und die Konferenzräume,<br />
in denen Hochschule und Presseakademie<br />
ihre Seminare abhalten. In<br />
den oberen Etagen hocken die Mitarbeiterinnen<br />
des Verbandsmanagements, die<br />
unter anderem die Mitgliederdateien des<br />
Personalmanager-Verbands pflegen, der<br />
Veranstaltungsservice und neun Redakteure,<br />
die dort drei Helios-Magazine samt<br />
Newslettern produzieren.<br />
Das Bürohaus am Werderschen<br />
Markt ist nicht nur st<strong>ein</strong>ernes Symbol<br />
für das endlose Befriedigen berufsständischer<br />
Eitelkeiten. Ulrich Müller, geschäftsführender<br />
Vorstand der Transparenzinitiative<br />
Lobbycontrol, sieht Helios<br />
Media auch als „Indikator für <strong>ein</strong>e generelle<br />
Entwicklung: die Auflösung der<br />
Grenzen zwischen politischer Kommunikation<br />
und Lobbyismus“.<br />
Rudolf Hetzel dürfte sich geschmeichelt<br />
fühlen, er hat also etwas bewegt.<br />
Nun muss er nur noch <strong>ein</strong> Berufsgruppenfachmagazin<br />
für Berlin-Mitte-Veränderer<br />
starten.<br />
Andreas Theyssen wurde 2006 Berliner<br />
Büroleiter der Financial Times <strong>Deutschland</strong><br />
und erhielt fortan Einladungen en masse.<br />
Dahinter steckte: Rudolf Hetzel<br />
Foto: Sarah Häuser/Helios Media<br />
56<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Weltbühne<br />
„ Die Politiker<br />
Griechenlands sind<br />
Verräter, Marionetten<br />
der Zionisten und<br />
müssen vor Gericht<br />
gestellt werden “<br />
Nikos Michos, Abgeordneter der Neonazipartei Goldene Morgenröte,<br />
über das politische Establishment s<strong>ein</strong>es Landes, Seite 64<br />
57<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Weltbühne<br />
Porträt<br />
<strong>Der</strong> Schlüsselmacher<br />
Hassan Ruhani hat vieles versprochen, gehalten hat er bisher wenig. Wer ist der<br />
iranische Präsident – <strong>ein</strong> Mann des Ausgleichs oder doch nur <strong>ein</strong> listiger Hardliner?<br />
Von Thomas erdbrink<br />
Foto: Hanif Shoaei/Demotix/Corbis<br />
Hassan Ruhani reckte <strong>ein</strong>en<br />
Schlüssel in den Teheraner Himmel.<br />
Während Tausende begeisterte<br />
Anhänger den – so schien es damals<br />
– aussichtslosen Kandidaten für das<br />
Präsidentenamt umringten. „Mit diesem<br />
Schlüssel werde ich alle Probleme Irans<br />
lösen“, rief Ruhani. S<strong>ein</strong>e jugendlichen<br />
Anhänger jubelten: „Hassan, der Schlüsselmacher!“<br />
Er wolle der Inflation Einhalt<br />
gebieten, die Arbeitslosigkeit bekämpfen,<br />
Freiheitsrechte gewähren. Er werde mit<br />
der Welt reden, versprach er, um Irans<br />
<strong>ein</strong>stige Größe wiederherzustellen.<br />
Nur zwei Monate nach s<strong>ein</strong>er Amts<strong>ein</strong>führung<br />
hat der „Schlüsselmacher“<br />
s<strong>ein</strong> erstes großes Problem angepackt:<br />
Ruhani hat <strong>ein</strong> Tabu gebrochen und direkte<br />
Gespräche mit den USA aufgenommen.<br />
Dieser diplomatische Coup soll nur<br />
der Anfang s<strong>ein</strong>. <strong>Der</strong> fromme, schiitische<br />
Geistliche, der trotz s<strong>ein</strong>er 64 Jahre als<br />
Goldjunge des politischen Establishments<br />
gilt, verspricht weitere Veränderungen.<br />
Ruhanis Spitzname „der Diplomatenscheich“<br />
ist Hinweis auf s<strong>ein</strong>e Rolle<br />
als Pragmatiker. „Er ist <strong>ein</strong> Mann des<br />
Systems“, sagt der ehemalige deutsche<br />
Botschafter im Iran, Paul von Maltzahn,<br />
der häufig mit Ruhani zu tun hatte. „Man<br />
kann ihn nicht so <strong>ein</strong>fach manipulieren,<br />
und er ist durchsetzungsfähig.“<br />
Er erinnere sich daran, wie Ruhani<br />
als Chef unterhändler 2003 <strong>ein</strong>en Durchbruch<br />
in den Nuklearverhandlungen mit<br />
Europa erzwang – bis heute der <strong>ein</strong>zige<br />
Kompromiss, dem Iran zugestimmt habe.<br />
„Ruhani hat gezeigt, dass er <strong>ein</strong> zentraler<br />
Spieler in Irans politischem Establishment<br />
ist“, sagt auch Stanislas de Laboulaye,<br />
ehemaliger Generaldirektor des<br />
französischen Außenministeriums. „Er<br />
war der Einzige, der in der Lage war, den<br />
anderen Führern etwas vollkommen Unpopuläres<br />
zu verkaufen.“<br />
<strong>Der</strong> Deal hielt allerdings nur bis<br />
2005, als Mahmud Ahmadinedschad an<br />
die Macht kam. Ruhani verlor s<strong>ein</strong>en Posten<br />
als Leiter des Nationalen Sicherheitsrats.<br />
Er war politisch tot. S<strong>ein</strong>e Kritiker<br />
beschimpften ihn als „Verräter“, der die<br />
unverzeihliche Sünde begangen hatte,<br />
Schwäche zu zeigen bei den Verhandlungen<br />
mit den Europäern.<br />
In <strong>ein</strong>er der erstaunlichsten Wendungen<br />
der Geschichte der Islamischen Republik<br />
ist es Hassan Ruhani gelungen, s<strong>ein</strong>e<br />
politische Karriere wiederaufzubauen. Dabei<br />
mögen ihm s<strong>ein</strong>e Beziehungen geholfen<br />
haben, die bis in die frühen Tage des<br />
klerikalen Widerstands gegen den Schah<br />
zurückreichen.<br />
Ruhani wird 1948 als Hassan Fereydoon<br />
während der Herrschaft des westlich<br />
orientierten Schah Mohammed Reza<br />
Pahlavi geboren. S<strong>ein</strong>e Familie – schahf<strong>ein</strong>dliche<br />
Basarhändler und Geistliche –<br />
lebt in der kl<strong>ein</strong>en Wüstenstadt Sorkheh<br />
östlich von Teheran. Ruhani gilt als begabtes<br />
Kind und beginnt bereits mit 13 Jahren<br />
s<strong>ein</strong>e theologischen Studien an der traditionellen<br />
islamischen Schule in Ghom. Dort<br />
begegnet er jenen Männern, die Jahre später<br />
zentrale Figuren der Islamischen Republik<br />
werden sollten.<br />
1978, nach dem Abschluss <strong>ein</strong>es Jurastudiums<br />
an der Teheraner Universität, geht<br />
Ruhani nach Großbritannien. An der Lancaster<br />
University unterrichtet er Islamische<br />
Rechtswissenschaften. Als die Revolution<br />
im Iran ausbricht, geht er nach Paris und<br />
schließt sich dem dort im Exil lebenden<br />
Ajatollah Chom<strong>ein</strong>i an. Zu diesem Zeitpunkt<br />
hat er bereits <strong>ein</strong>e lange Geschichte<br />
als Aktivist der islamischen Bewegung im<br />
Iran hinter sich.<br />
Die Ideologie hat er verinnerlicht,<br />
sie ist in s<strong>ein</strong>en Büchern zur Außenpolitik<br />
nachzulesen: Die Moderne sei gescheitert,<br />
die Christen im Westen hätten sich<br />
kampflos dem Säkularismus ergeben. Die<br />
USA und die Islamische Republik befänden<br />
sich in <strong>ein</strong>em immerwährenden Konflikt.<br />
Und Israel sei „die Achse aller gegen<br />
den Iran gerichteten Umtriebe“.<br />
Ruhani sei eben <strong>ein</strong> echter Repräsentant<br />
des iranischen Establishments, sagen<br />
Experten. Jene, die ihm nahestehen, prophezeien,<br />
er werde in s<strong>ein</strong>er Kompromissbereitschaft<br />
mit dem Westen niemals zu<br />
weit gehen. „Unsere Gegner, die von Ruhani<br />
Kompromisse erwarten, irren sich; die<br />
Sanktionen und andere Druckmittel werden<br />
uns nicht veranlassen, unsere Haltung<br />
zu ändern“, sagt <strong>ein</strong> ehemaliger Mitarbeiter<br />
Ruhanis. S<strong>ein</strong>en Namen will er nicht<br />
veröffentlicht sehen, da Ruhani darum gebeten<br />
habe, dass niemand in s<strong>ein</strong>em Namen<br />
spreche.<br />
Erfolg oder Misserfolg: Ruhanis<br />
Schicksal wird vom Wohlwollen des<br />
Obersten Revolutionsführers Ajatollah Ali<br />
Chamenei abhängen. Bislang kann Irans<br />
Präsident mit dessen Unterstützung rechnen.<br />
Das liegt nicht zuletzt an der Freundschaft,<br />
die die beiden seit 40 Jahren verbindet.<br />
Erst kürzlich betonte Chamenei, dass<br />
er „die Diplomatie der geehrten Regierung“<br />
voll unterstütze.<br />
Chameneis Zuspruch bedeutet, dass<br />
Irans Koalition der Hardliner aus Geistlichen<br />
und Kommandierenden der Revolutionsgarden,<br />
die ihre Macht in den<br />
vergangenen Jahren festigen konnten,<br />
vorerst k<strong>ein</strong>e bedeutenden Angriffe auf<br />
Ruhani wagen wird. „Wenn es ihm aber<br />
nicht gelingt, die westlichen Sanktionen<br />
zu beenden, werden wir <strong>ein</strong> politisches<br />
Blutbad erleben“, prophezeit <strong>ein</strong> Experte,<br />
der ebenfalls anonym bleiben will, „und<br />
das Ende s<strong>ein</strong>er Regierung.“<br />
Thomas erdbrink berichtet seit zehn<br />
Jahren über die Entwicklungen im Iran,<br />
erst als Korrespondent der Washington<br />
Post, heute für die New York Times<br />
59<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Weltbühne<br />
Porträt<br />
Härte in Häkeljacke<br />
Carme Forcadell steht an der Spitze der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung.<br />
Sie treibt die Politik vor sich her und drängt mit aller Macht auf <strong>ein</strong> Referendum<br />
Von Julia Macher<br />
Als Carme Forcadell am 11. September<br />
auf der Plaça Catalunya<br />
in Barcelona auf die Bühne stieg,<br />
verbarg sie für <strong>ein</strong> paar Sekunden ihren<br />
Mund hinter der offenen Hand. Die<br />
Hubschrauberaufnahmen der nicht enden<br />
wollenden Menschenkette verschlugen<br />
der sonst so kontrollierten Frau die<br />
Sprache. Ihr war nicht nur das logistische<br />
Kunststück gelungen, 1,6 Millionen<br />
Menschen zu <strong>ein</strong>er 400 Kilometer langen<br />
Reihe aufzustellen, die von den Pyrenäen<br />
bis zum Mittelmeer reichte. Die<br />
Präsidentin der Bürgerbewegung Assemblea<br />
Nacional Catalana (ANC) hatte<br />
auch <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>drucksvolles Signal für die<br />
Spannbreite der Unabhängigkeitsbewegung<br />
gesetzt: Da standen ergraute Altlinke<br />
Hand in Hand mit spanischsprachigen<br />
Großfamilien, die sich über die hohe<br />
Maut und Kürzungen im Gesundheitswesen<br />
echauffierten; Landwirte aus Vic, denen<br />
Madrid so fremd ist wie Washington,<br />
neben urbanen Kosmopoliten, die ausländischen<br />
Reportern vorrechneten, warum<br />
der Nordosten Spaniens all<strong>ein</strong>e besser<br />
dastünde.<br />
Im Jahre sieben der spanischen Wirtschaftskrise<br />
ist der katalanische Separatismus<br />
<strong>ein</strong>e heterogene Massenbewegung.<br />
„Jeder Grund für die Unabhängigkeit ist<br />
<strong>ein</strong> guter“, sagt Carme Forcadell und lächelt<br />
etwas unbestimmt. Das gleiche Lächeln<br />
zeigt sie, wenn sie nach dem genauen<br />
Aussehen des ersehnten neuen Staates gefragt<br />
wird, nach zukünftigen Beziehungen<br />
zu Spanien, zur Europäischen Union.<br />
„Das werden wir dann sehen.“<br />
Die Chefin der Unabhängigkeitsbewegung<br />
ist k<strong>ein</strong>e politische Visionärin,<br />
sondern versteht sich als Verwalterin <strong>ein</strong>er<br />
Volksbewegung, deren Marschroute<br />
qua Statut vorgegeben ist: zunächst die<br />
Bevölkerung von den Vorzügen <strong>ein</strong>er<br />
Abspaltung überzeugen, dann über das<br />
Regionalparlament <strong>ein</strong>e Abstimmung organisieren<br />
und schließlich, basierend auf<br />
dem Selbstbestimmungsrecht der Völker,<br />
Katalonien zu <strong>ein</strong>em unabhängigen Staat<br />
erklären. „Wenn wir das erreicht haben,<br />
verschwinden wir von der Bildfläche.“<br />
Bisher agiert die erst 2011 gegründete<br />
Assemblea erfolgreich – auch dank Forcadells<br />
Organisationstalent. Nach der ebenfalls<br />
von der ANC ausgerichteten Großdemonstration<br />
im vergangenen Jahr hat<br />
der konservativ-nationalistische katalanische<br />
Ministerpräsident Artur Mas das<br />
geplante Referendum zum Dreh- und Angelpunkt<br />
s<strong>ein</strong>er Politik erklärt und durch<br />
vorgezogene Neuwahlen den sezessionistischen<br />
Parteien <strong>ein</strong>e Mehrheit verschafft.<br />
Knapp die Hälfte der etwa 7,6 Millionen<br />
Katalanen würde derzeit ihr Kreuzchen<br />
beim „Ja“ machen. Vor wenigen Jahren<br />
war es weniger als <strong>ein</strong> Drittel.<br />
Forcadell, vor 57 Jahren in <strong>ein</strong>em<br />
Dorf in der Provinz Tarragona geboren,<br />
gehört zu den Separatisten der alten<br />
Schule. Die Linguistin träumt von<br />
<strong>ein</strong>em eigenen Staat, der Sprache und<br />
Kultur wegen. Als sie kurz nach Francos<br />
Tod in Barcelona studierte, hatten<br />
Jahrzehnte der Unterdrückung das Katalanische<br />
an den Rand gedrängt. „Damals<br />
habe ich gelernt, dass Katalanisch<br />
nur überleben kann, wenn staatliche<br />
Strukturen es schützen.“ Heute ist es<br />
offizielle Amtssprache, bis auf Spanisch<br />
werden alle Fächer auf Katalanisch unterrichtet.<br />
Als Sprachwissenschaftlerin<br />
im Schulministerium hat Carme Forcadell<br />
am Erfolg dieser „sprachlichen<br />
Normalisierung“ ihren Anteil. Was ihre<br />
These eigentlich Lügen straft. Energisches<br />
Kopfschütteln. Solange Madrid jedem<br />
Streben nach mehr Eigenständigkeit<br />
<strong>ein</strong> „No“ entgegenschmettere, seien Kultur<br />
und Sprache bedroht, sagt Forcadell<br />
und erinnert an das Tauziehen um das<br />
Autonomiestatut von 2006: Von 223 Artikeln<br />
focht die konservative Volkspartei<br />
damals 114 Artikel an – und stieß so<br />
vor allem jene vor den Kopf, die sich im<br />
Verbund mit Spanien bisher ganz wohlfühlten.<br />
„Madrid hat <strong>ein</strong> Demokratiedefizit“,<br />
statuiert Forcadell, „<strong>ein</strong> Zusammenleben<br />
ist nicht mehr möglich.“ Mit Blick<br />
auf das geplante Referendum in Schottland<br />
setzt sie nach: „Hätten wir <strong>ein</strong>en<br />
Premier wie David Cameron, wäre das<br />
vielleicht anders.“<br />
<strong>Der</strong> Ton ist härter geworden, auf beiden<br />
Seiten. Auf ihrem Blog schwärmt die<br />
ANC‐Präsidentin von „el poble“, vom<br />
katalanischen Volk: <strong>ein</strong>e Schicksalsgem<strong>ein</strong>schaft,<br />
zu der gehöre, wer in Katalonien<br />
lebe und sich als Katalane fühle.<br />
Was wie <strong>ein</strong> nettes Integrationsangebot<br />
klingt, setzt alle barsch vor die Tür, die<br />
sich eher Spanien zugehörig fühlen. Im<br />
Zweifelsfall lässt es die schmächtige Frau,<br />
die am liebsten Spitzenblusen und Häkeljäckchen<br />
trägt, hart auf hart kommen.<br />
Dabei setzt die ehemalige Lokalpolitikerin<br />
auf die Kommunen, in denen<br />
der Separatismus traditionell fester verankert<br />
ist als in den Metropolen. Drücke<br />
sich der katalanische Regierungschef Artur<br />
Mas vor <strong>ein</strong>er direkten Konfrontation,<br />
könne man <strong>ein</strong> Referendum auch über die<br />
Rathäuser organisieren. 700 Kommunen<br />
haben sich bereits zu <strong>ein</strong>er Pro-Unabhängigkeitsver<strong>ein</strong>igung<br />
zusammengeschlossen.<br />
Dass <strong>ein</strong>e solche Befragung internationalen<br />
Standards nicht genügt, schert<br />
Forcadell wenig. Bisher genügten ihr medienwirksam<br />
inszenierte Gesten, um erfolgreich<br />
Politik zu machen.<br />
Julia Macher lebt seit 2004 in<br />
Barcelona. So stark wie jetzt hat<br />
sie den katalanischen Separatismus<br />
noch nie erlebt<br />
Foto: Eduard <strong>Bayer</strong><br />
60<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Weltbühne<br />
Porträt<br />
<strong>Der</strong> Sohn entscheidet<br />
New York ist <strong>ein</strong>e der aufregendsten Städte der Welt. Im November bekommt sie <strong>ein</strong>en<br />
neuen Bürgermeister. <strong>Der</strong> Demokrat Bill de Blasio hat die größten Chancen<br />
Von Patrick Bahners<br />
Foto: Janet Mayer/Splash News/Corbis<br />
Gut gemacht, Junge! So etwas<br />
muss Bill de Blasio, 52, zu s<strong>ein</strong>em<br />
Sohn Dante gesagt haben.<br />
Zu sehen im Abspann des Fernsehwerbespots,<br />
dem der demokratische Kandidat<br />
für das Amt des Bürgermeisters von New<br />
York nach allgem<strong>ein</strong>er Überzeugung s<strong>ein</strong>en<br />
Sieg in der Vorwahl verdankt. Man<br />
hört es nicht, so viel bleibt privat. Aber<br />
man sieht, wie der Vater dem Sohn auf<br />
die Schulter klopft, während sie auf <strong>ein</strong>em<br />
Bürgersteig neben<strong>ein</strong>ander hergehen,<br />
beschwingten Schrittes auf dem<br />
Weg zur – öffentlichen – Schule oder zum<br />
nächsten Wahlkampftermin. Sie lachen,<br />
und ihre Freude steckt an.<br />
In Amerika ist der Fernsehspot die<br />
Königsdisziplin unter den Wahlkampfkünsten.<br />
In 30 Sekunden wird das Bild<br />
des Kandidaten fixiert, der den Wählern<br />
häufig nur dem Namen nach bekannt ist.<br />
Vati ist der Beste: eigentlich das Gegenteil<br />
<strong>ein</strong>er informativen Mitteilung. De<br />
Blasios Film spielt mit den niedrigen Erwartungen<br />
an die Selbstauskünfte von<br />
Politikern. <strong>Der</strong> Sohn wird nicht als Sohn<br />
vorgestellt, sondern als Teenager, als<br />
engagierter Noch-nicht-Wähler: Dante,<br />
15 Jahre alt, aus Brooklyn. Nachdem er<br />
die Wunderdinge aufgezählt hat, die von<br />
allen Kandidaten angeblich nur Bill de<br />
Blasio vollbringen kann, versichert er im<br />
letzten Satz: „Das würde ich alles auch<br />
über ihn sagen, wenn er nicht m<strong>ein</strong> Vater<br />
wäre.“<br />
Durch förmliche Tatsachenprüfung<br />
sind Zeugenaussagen von Verwandten<br />
nicht zu erschüttern. Vergeblich wies die<br />
New York Times darauf hin, dass k<strong>ein</strong>eswegs<br />
nur de Blasio die Abschaffung der<br />
Polizeikontrollen irgendwie auffälliger<br />
Passanten in Aussicht stellte, <strong>ein</strong>e Taktik<br />
der Prävention, deren Handhabung<br />
<strong>ein</strong>e Bundesrichterin unlängst als verfassungswidrig<br />
erklärt hat. Schwarze<br />
protestieren dagegen, dass sie nur deshalb<br />
angehalten würden, weil sie in den<br />
Augen von Polizisten verdächtig aussähen.<br />
Dass Dante de Blasio über die Macht<br />
alltäglicher Vorurteile mit Autorität sprechen<br />
kann, sieht jedermann: Er ist <strong>ein</strong><br />
Farbiger, und s<strong>ein</strong> Haar trägt er als imposanten<br />
Lockenhelm.<br />
Dantes Afrolook war die Sensation<br />
des Filmes, der eigentliche Star. Die Frisur<br />
löste sich gleichsam von ihrem Träger,<br />
um fortan als Aura den Vater zu umgeben.<br />
Eine Haarwolke trug Bill de Blasio<br />
über die Latte von 40 Prozent der Vorwahlstimmen,<br />
sodass ihm <strong>ein</strong>e Stichwahl<br />
erspart blieb.<br />
Wie ist der märchenhafte Effekt zu<br />
erklären? <strong>Der</strong> Afrolook ist <strong>ein</strong> Symbol<br />
von Stolz und Rebellion, aber unabhängig<br />
von allen politischen Assoziationen<br />
zuerst <strong>ein</strong> Zeichen aus <strong>ein</strong>er anderen Zeit.<br />
Dass die Entwicklung, die New York in<br />
den zwei Jahrzehnten unter den Bürgermeistern<br />
Rudolph Giuliani und Michael<br />
Bloomberg genommen hat, bruchlos so<br />
weitergehen könnte, irritiert die Demokraten,<br />
auch diejenigen, die von der<br />
beispiellosen Zurückdrängung des Verbrechens<br />
und der Anziehungskraft Manhattans<br />
auf superreiche Wohnungskäufer<br />
profitieren. Die Familie de Blasio wohnt<br />
jedenfalls in Park Slope, dem Viertel in<br />
Brooklyn, wo nach vollendeter Gentrifizierung<br />
gemäß bürgerlicher Tradition<br />
nun das schlechte Gewissen <strong>regiert</strong>.<br />
Als Studentenpolitiker an der New<br />
York University ließ sich Bill de Blasio<br />
mit wilder Mähne fotografieren. Dantes<br />
Frisur beweist, dass in der nächsten Umgebung<br />
s<strong>ein</strong>es Vaters <strong>ein</strong> zwangloser Eigensinn<br />
sprießt. <strong>Der</strong> Haushaltsvorstand<br />
ist k<strong>ein</strong> in Uniformität vernarrter Manager.<br />
In <strong>ein</strong>er Stadt, in der die sogenannten<br />
Minderheiten sich immer noch in den<br />
Armenvierteln ballen, spricht es für sich,<br />
dass Bill de Blasio mit <strong>ein</strong>er Schwarzen<br />
verheiratet ist. Die Dichterin Chirlane<br />
McCray war 1979 – lange bevor sie ihren<br />
späteren Mann traf – mit <strong>ein</strong>em lesbischen<br />
Manifest bekannt geworden.<br />
Das weckt zusätzliche Neugier. Im liberalen<br />
Milieu New Yorks gilt die Präferenz<br />
für das eigene oder das andere Geschlecht<br />
heute als Naturtatsache. Durch<br />
hartnäckiges Nachfragen erreichte Bill,<br />
dass Chirlane mit ihm ausging und nunmehr<br />
seit 19 Jahren mit ihm verheiratet<br />
ist: Zeugnis <strong>ein</strong>er erstaunlichen<br />
Überzeugungskraft.<br />
<strong>Der</strong> Vorname des Sohnes ist <strong>ein</strong><br />
Denkmal der italienischen Herkunftswelt<br />
von Bills Mutter. Maria de Blasio<br />
Wilhelm schrieb mit Unterstützung ihres<br />
Sohnes <strong>ein</strong> Buch über den italienischen<br />
Widerstand gegen Hitler. <strong>Der</strong> Vater,<br />
<strong>ein</strong> Ökonom und Weltkriegsveteran,<br />
hatte die Familie verlassen, als Bill <strong>ein</strong><br />
kl<strong>ein</strong>er Junge war. Weshalb de Blasio bei<br />
Beginn s<strong>ein</strong>er öffentlichen Laufbahn den<br />
Mädchennamen der Mutter annahm.<br />
Als Public Advocate war de Blasio<br />
seit 2009 protokollarisch der zweite<br />
Mann von New York: <strong>ein</strong> Volkstribun<br />
ohne Vetomacht, der nur mit Worten<br />
auf Reformen hinwirken konnte. Er hat<br />
kaum exekutive Erfahrung, ist so gesehen<br />
immer der Schülersprecher geblieben,<br />
den der Zorn über <strong>ein</strong>e Rede<br />
Präsident Richard Nixons zum Vietnamkrieg<br />
dazu brachte, die Mitbestimmung<br />
der Mitschüler zu organisieren. Man<br />
kennt den Typus des Schulterklopfers,<br />
der sich an den Star mit dem Afrolook<br />
hängt. Er hat s<strong>ein</strong>en eigenen jungenhaften<br />
Charme.<br />
Patrick Bahners wohnt in der Nachbarschaft<br />
von Bill de Blasio. Ein schlechtes<br />
Gewissen hat er deshalb nicht<br />
63<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Martialisch feierten die<br />
Anhänger der Goldenen<br />
Morgenröte ihren Wahlerfolg<br />
im vergangenen Jahr<br />
64<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Weltbühne<br />
Reportage<br />
„ Wir sind<br />
politische<br />
Soldaten “<br />
Von Richard Fraunberger<br />
Sie jagen Migranten, zerstören ihre Geschäfte,<br />
schlagen sie zusammen – töten sie.<br />
Und sie sitzen im griechischen Parlament.<br />
Bislang agierte die Neonazipartei<br />
Goldene Morgenröte völlig ungehindert<br />
65<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Weltbühne<br />
Reportage<br />
Irfan Malik, 27, kl<strong>ein</strong> gewachsen, das<br />
schwarze Haar ordentlich gescheitelt,<br />
sitzt verängstigt auf <strong>ein</strong>er Matratze<br />
in <strong>ein</strong>er winzigen Athener<br />
Wohnung. Er teilt sie sich mit vier<br />
„Brüdern“ – Männern, die wie er aus Pakistan<br />
kamen, Fremde, Illegale in Griechenland.<br />
Malik zittert. Er hat Angst.<br />
Angst, nachts von maskierten Banden<br />
mit Baseballschlägern, zerbrochenen Flaschen,<br />
Eisenstangen oder Messern gejagt,<br />
verletzt, getötet zu werden.<br />
Vor sieben Jahren kam Malik auf der<br />
Suche nach <strong>ein</strong>em besseren Leben nach<br />
Griechenland. Bis heute hat er k<strong>ein</strong>e Papiere.<br />
Er arbeitet in <strong>ein</strong>em Taschen- und<br />
Koffergeschäft. Es gehört <strong>ein</strong>em Griechen,<br />
in <strong>ein</strong>em Stadtteil Athens, dessen<br />
Namen Malik lieber nicht gedruckt sehen<br />
möchte. „Nach der Arbeit gehe ich ohne<br />
Umwege nach Hause. Nachts verlasse ich<br />
das Haus nicht mehr.“ Zu viele Menschen<br />
wie er sind bedroht und verprügelt worden.<br />
Weil ihre Hautfarbe nicht weiß ist.<br />
Weil sie k<strong>ein</strong>e Aufenthaltsgenehmigung<br />
haben oder k<strong>ein</strong>e beantragen können,<br />
obgleich ihnen das Recht zusteht. Weil<br />
sie den Griechen Arbeitsplätze wegnähmen.<br />
Weil sie kriminell seien, angeblich<br />
rauben, stehlen, morden. Weil sie Fremde<br />
sind in <strong>ein</strong>er Gesellschaft, die sich überfremdet<br />
fühlt. So tönt die Propaganda der<br />
Chrysi Avgi, der griechischen Neonazipartei<br />
Goldene Morgenröte.<br />
Geschätzt <strong>ein</strong>e Million illegaler<br />
Migranten lebt in Griechenland. Das<br />
sind rund 10 Prozent der Bevölkerung.<br />
Die Einwanderung verändert das Land,<br />
das irgendwo zwischen Multikulturalität<br />
und Ethnozentrismus pendelt. Vor<br />
allem in Athen sind die Auswirkungen<br />
drastisch. Ganze Stadtviertel sind von<br />
Migranten dominiert, Ghettos entstehen.<br />
Viele Zuwanderer fassen Fuß, andere<br />
driften ab in Kl<strong>ein</strong>kriminalität. Eine Integrationspolitik<br />
gibt es nicht. Vorläufige<br />
Aufenthaltsgenehmigungen werden oft<br />
nur willkürlich ausgestellt, Asylanträge<br />
kaum bearbeitet. Die Behörden sind inkompetent,<br />
überfordert, nicht selten unwillig.<br />
Die Anerkennungsrate ausländischer<br />
Flüchtlinge in Griechenland ist mit<br />
1 Prozent die niedrigste in der Europäischen<br />
Union.<br />
2008 kommt es zu ersten, größeren<br />
Spannungen zwischen Einheimischen<br />
und Migranten. Die Behörden schauen<br />
Nach dem tödlichen Anschlag auf<br />
<strong>ein</strong>en linken Rapper wurde der<br />
Chef der Goldenen Morgenröte,<br />
Nikolaos Michaloliakos, verhaftet<br />
tatenlos zu, wie ganze Straßenzüge verkommen.<br />
Gleich hinter dem Rathaus<br />
Athens verhökern Hehler gestohlene<br />
Handys und Hasch, Junkies fixen auf offener<br />
Straße, nachts flanieren Prostituierte<br />
aus Afrika und der Karibik. Über<br />
Jahre hinweg befasst sich k<strong>ein</strong>e der etablierten<br />
Parteien, nicht der Stadtrat und<br />
k<strong>ein</strong> Kommunalpolitiker ernsthaft mit<br />
den neuen, wachsenden Problemen. Die<br />
Anwohner fühlen sich im Stich gelassen.<br />
Bei den Kommunalwahlen 2010 erlangt<br />
die Goldene Morgenröte mit <strong>ein</strong>em Sitz<br />
im Athener Stadtrat ihr erstes Mandat.<br />
Statt sich der Probleme des Landes<br />
gem<strong>ein</strong>sam anzunehmen, greifen sich die<br />
Politiker aller Parteien verbal an. Populismus<br />
und Grabenkampf bestimmen die<br />
Politik. Immer häufiger kommt es zu rassistisch<br />
motivierten Übergriffen.<br />
Im Mai 2011 spitzen sich die Ereignisse<br />
zu. Manolis Kantaris, 44, bringt<br />
s<strong>ein</strong>e hochschwangere Frau zur Geburt<br />
ihres zweiten Kindes ins Krankenhaus,<br />
als drei Migranten ihm s<strong>ein</strong>e Videokamera<br />
entreißen und ihn erstechen.<br />
Pogromartige Ausschreitungen brechen<br />
aus. Tagelang zieht <strong>ein</strong> mit Holzknüppeln<br />
und Messern bewaffneter Mob, darunter<br />
wutentbrannte Bürger, rechtsradikale Jugendliche<br />
und Anhänger der Goldenen<br />
Morgenröte, durch Stadtviertel, in denen<br />
vor allem Flüchtlinge leben. Sie jagen<br />
sie durch die Straßen, zerstören ihre<br />
Geschäfte, suchen in Bussen nach dunkelhäutigen<br />
Menschen, zerren sie heraus und<br />
schlagen sie zusammen. 25 Migranten<br />
werden schwer verletzt, <strong>ein</strong> junger Mann<br />
aus Bangladesch stirbt an den Folgen von<br />
Messerstichen. Nur mit Mühe bringt die<br />
Polizei die Situation unter Kontrolle.<br />
Bis heute setzt sich die Hetzjagd fort.<br />
Human Rights Watch hat die Aussagen<br />
von 79 Migranten dokumentiert und sie<br />
2012 im Bericht „Hate on the Streets“<br />
veröffentlicht. K<strong>ein</strong> Täter wurde verhaftet,<br />
niemand zur Verantwortung gezogen.<br />
Die meisten Gewaltopfer, darunter<br />
auch schwangere Frauen, verzichten auf<br />
<strong>ein</strong>e Strafanzeige, weil sie von der Polizei<br />
abgewiesen, entmutigt, manchmal sogar<br />
misshandelt werden.<br />
Im Sommer 2012 eskaliert die Situation<br />
erneut. Ein Pakistaner vergewaltigt<br />
Fotos: Milos Bicanski/Getty Images (Seiten 64 bis 65), Action Press<br />
66<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Anzeige<br />
auf Paros <strong>ein</strong>e 15 Jahre alte Schülerin.<br />
Als die Polizei ihn nach Piräus bringt,<br />
stürmen Mitglieder der gerade ins Nationalparlament<br />
gewählten Chrysi Avgi die<br />
Fähre und wollen den Täter lynchen. Um<br />
erneuten Pogromen vorzubeugen, startet<br />
die Polizei <strong>ein</strong>e landesweite Aktion gegen<br />
illegale Einwanderer.<br />
„Diese Parasiten trinken unser Wasser,<br />
essen unser Essen und atmen unsere<br />
griechische Luft. Und sie töten uns! Sobald<br />
sie verschwinden, steigen Renten<br />
und Löhne, und das Arbeitslosenproblem<br />
ist gelöst. Sie sind Untermenschen.<br />
Wir sind bereit, die Öfen zu öffnen, sie<br />
zu Seife zu verarbeiten, um unsere Autos<br />
und Bürgersteige damit zu waschen“,<br />
sagt Alexandros Plomaritis vor laufender<br />
Kamera. Plomaritis ist arbeitslos. Er trägt<br />
<strong>ein</strong>e Sonnenbrille, er ist braun gebrannt<br />
und schlank. Er ist k<strong>ein</strong> glatzköpfiges<br />
Muskelpaket, nichts an ihm deutet auf die<br />
übliche vulgäre Nazidumpfbacke. Er sitzt,<br />
die B<strong>ein</strong>e locker über<strong>ein</strong>andergeschlagen,<br />
vor <strong>ein</strong>em Café in Athen und sagt solche<br />
Sätze in aller Seelenruhe, und niemand<br />
neben ihm stört sich daran. Etwas<br />
später macht er sich auf Stimmenfang,<br />
verteilt auf Gemüsemärkten Flugblätter<br />
s<strong>ein</strong>er Partei. Plomaritis ist Kandidat der<br />
Goldenen Morgenröte. Es ist Frühsommer<br />
2012, Parlamentswahlen stehen an.<br />
„Bist du Grieche? Verschwinde!“, pöbelt<br />
er <strong>ein</strong>en Ausländer auf dem Markt an.<br />
„Dieser Abschaum wagt es, mich anzuschauen.“<br />
Niemand widerspricht.<br />
Panagiotis Psomiadis, Ex-Gouverneur<br />
Makedoniens, bezeichnete die<br />
Goldene Morgenröte als die schwesterliche<br />
Mitte-Rechts-Partei der liberalkonservativen<br />
Nea Dimokratia, die in<br />
„Diese Parasiten<br />
trinken unser<br />
Wasser und<br />
atmen unsere<br />
griechische Luft“<br />
Alexandros Plomaritis,<br />
Goldene Morgenröte<br />
Athen mit<strong>regiert</strong>. Bei anderer Gelegenheit<br />
sagte Psomiadis, der der Nea Dimokratia<br />
angehört, abgesehen vom extremen<br />
Verhalten störe er sich nicht an<br />
der Goldenen Morgenröte. Nicht nur der<br />
rechte Flügel der Nea Dimokratia steht<br />
den Neonazis nahe. In der Presse wird<br />
immer wieder auf <strong>ein</strong>e Verbindung zwischen<br />
der Polizei und der Goldenen Morgenröte<br />
hingewiesen. Sowohl Nea Dimokratia<br />
als auch ihr sozialdemokratischer<br />
Regierungspartner Pasok sollen die Goldene<br />
Morgenröte jahrelang unterstützt<br />
haben, um Laos, die andere rechtsextreme<br />
Partei, zu schwächen. Finanziell<br />
gefördert wird die Goldene Morgenröte<br />
aber auch von Tankerkönigen, Rechtsanwälten<br />
und Bauunternehmern.<br />
Seit ihrer Zulassung als Partei, 1993,<br />
dümpelt die Goldene Morgenröte vor<br />
sich hin, gewann bei Wahlen nicht <strong>ein</strong>mal<br />
<strong>ein</strong> halbes Prozent. 2012 erringt sie<br />
18 von 300 Parlamentssitzen, das sind<br />
7 Prozent der Wählerstimmen. Im Sommer<br />
2013 liegen ihre Umfragewerte bei<br />
15 Prozent. Damit wäre sie bei Wahlen<br />
die drittstärkste Kraft.<br />
Wie kommt es, dass <strong>ein</strong>e Nation – die<br />
sich rühmt, die Demokratie erfunden zu<br />
haben, die k<strong>ein</strong>e Gelegenheit versäumt,<br />
deutsche Politiker Nazis zu schimpfen,<br />
die bis in die späten Achtziger zu Recht<br />
behaupten konnte, Rassismus nicht zu<br />
kennen – bei den Wahlen im Juni 2012<br />
<strong>ein</strong>e Partei ins Parlament gewählt hat,<br />
die unverhohlen faschistoides Gedankengut<br />
propagiert und die Demokratie<br />
aktiv bekämpft?<br />
„Statt die Goldene Morgenröte inhaltlich<br />
zu attackieren, haben die Medien<br />
sie verteufelt, aus politischen Fernsehdiskussionen<br />
ausgegrenzt und damit<br />
den Wählern in die Arme getrieben“,<br />
sagt Janis Duras, 28. Er hat Internationale<br />
Beziehungen studiert und arbeitet<br />
jetzt bei <strong>ein</strong>er Bank. Er gehört k<strong>ein</strong>er<br />
Partei an, hat nichts übrig für die<br />
Sprüche der Politiker. Alles an ihm wirkt<br />
moderat. „Wir hassen die Medien, wir<br />
hassen die Journalisten“, sprudelt es aus<br />
ihm heraus. Immer hätten die Medien<br />
das Volk manipuliert, getäuscht, zugunsten<br />
der Politiker, Parteien und der superreichen<br />
Oligarchen, die das Land unter<br />
sich aufgeteilt haben. Er habe, sagt er,<br />
die Goldene Morgenröte nicht gewählt,<br />
Ihr Monopol<br />
auf die Kunst<br />
Lassen Sie sich begeistern:<br />
Jetzt Monopol gratis lesen!<br />
Wie k<strong>ein</strong> anderes Magazin spiegelt<br />
Monopol, das Magazin für Kunst<br />
und Leben, den internationalen<br />
Kunstbetrieb wider. Herausragende<br />
Porträts und Ausstellungsrezensionen,<br />
spannende Debatten und Neuigkeiten<br />
aus der Kunstwelt, alles in <strong>ein</strong>er unverwechselbaren<br />
Optik.<br />
Hier bestellen:<br />
Telefon 030 3 46 46 56 46<br />
www.monopol-magazin.de/probe<br />
Bestellnr.: 943170<br />
67<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Weltbühne<br />
Reportage<br />
aber er verstehe, warum sie so viele Sitze<br />
errang. Rachegefühle, Zorn, Perspektivlosigkeit,<br />
Verzweiflung, Hass auf alle<br />
Parteien und das Gefühl der Überfremdung<br />
spielten <strong>ein</strong>e Rolle.<br />
Doch wichtiger als alles andere sei<br />
der Wunsch der meisten Griechen, die<br />
Goldene Morgenröte möge den Parlamentariern<br />
und allen für die Krise verantwortlichen<br />
Politikern und Bankern<br />
„<strong>ein</strong>s in die Fresse hauen“. Er sei k<strong>ein</strong><br />
Nazi, betont er, ginge es aber nach ihm,<br />
würde er aufräumen und sei es mit Gewalt.<br />
Alle illegalen Migranten müssten<br />
das Land verlassen und Geld und Eigentum<br />
aller Politiker konfisziert werden.<br />
Woher kommen diese Radikalisierung,<br />
der Hass auf Fremde, die F<strong>ein</strong>dseligkeit<br />
dem Staat gegenüber? Über Jahrzehnte<br />
hinweg appellierten die Politiker Griechenlands<br />
zu ihren Zwecken an niederste<br />
politische Instinkte. Sie kultivierten <strong>ein</strong>en<br />
verantwortungslosen, indifferenten,<br />
auf den eigenen Vorteil bedachten Bürger<br />
ohne Bürgersinn. „Es gibt Geld!“,<br />
lautete 2009 der Wahlkampfspruch von<br />
Giorgos Papandreou. Auch s<strong>ein</strong> Vater,<br />
Andreas Papandreou, scheute k<strong>ein</strong>en<br />
Populismus. „Griechenland den Griechen“<br />
ist k<strong>ein</strong> Slogan von Chrysi Avgi.<br />
Erst durch den Mord an dem linken<br />
Rapper Pavlos Fyssas regt sich in der<br />
griechischen Gesellschaft Protest<br />
gegen die Goldene Morgenröte<br />
Es ist der Slogan der Nation. Schon vor<br />
30 Jahren rief ihn Andreas Papandreou<br />
dem Volk zu und zog dabei alle Register:<br />
Nationalismus, Türkenangst, nationale<br />
Minderwertigkeitskomplexe.<br />
Die Politiker befeuerten die Sehnsucht<br />
nach nationaler Eigenständigkeit,<br />
die Suche nach der verschütteten Identität<br />
<strong>ein</strong>er historisch gedemütigten Nation.<br />
Ihre Rechtsauffassung, ihr Verständnis<br />
von Machtausübung, Verantwortung und<br />
Pflicht trieb das Land nicht nur in <strong>ein</strong>en<br />
politischen, wirtschaftlichen und moralischen<br />
Kollaps, es stürzte es in <strong>ein</strong>e Sinnkrise.<br />
Mit bewusst laxen Kontrollen von<br />
Gesetzen, ihrer opportunistischen und<br />
willkürlichen Anwendung und <strong>ein</strong>er<br />
nicht immer demokratiekonformen Gewaltenteilung<br />
schüren sie das Misstrauen<br />
der Bürger gegenüber dem Rechtsstaat<br />
und untergraben so stetig den Glauben<br />
an die Demokratie. Solange die Mehrheit<br />
der Bürger davon profitierte und die<br />
Kassen voll waren, erhob kaum jemand<br />
s<strong>ein</strong>e Stimme gegen diesen unausgesprochenen<br />
Gesellschaftsvertrag.<br />
„Wir wollen Bestrafung, nicht Rache“,<br />
sagt Nikos Michos, 44, Parlamentsabgeordneter<br />
der Goldenen Morgenröte.<br />
„Die Politiker Griechenlands sind Verräter,<br />
Marionetten der Zionisten und müssen<br />
vor Gericht gestellt werden.“ Dass<br />
man aus Rache bestrafen kann, kommt<br />
Michos nicht in den Sinn.<br />
<strong>Der</strong> Abgeordnete ist kurz aus Athen<br />
in s<strong>ein</strong>e Heimatstadt Amarinthos auf Euböa<br />
zurückgekehrt und sitzt nun im heruntergekommenen<br />
Büro s<strong>ein</strong>es Ladens.<br />
Michos verkauft Tierfutter und Saatgut.<br />
Alle zehn Minuten kommen Bekannte in<br />
den blechernen Schuppen und grüßen<br />
ihn, als seien sie nur gekommen, um ihre<br />
Freundschaft zu bekunden. Siegesbewusst<br />
hebt Michos die geballte Faust zum<br />
Gruß. „Kraft“, erwidert er.<br />
Michos hat s<strong>ein</strong> Diktafon <strong>ein</strong>geschaltet.<br />
Eine Vorsichtsmaßnahme. Zu oft<br />
sei geschrieben worden, was er nie gesagt<br />
habe. Und schon ist er beim Thema.<br />
„Wir sind politische Soldaten. Blut, Geschichte<br />
und Prinzipien definieren uns.<br />
Wir sind für <strong>ein</strong> Europa der Nationen, für<br />
<strong>ein</strong> r<strong>ein</strong>es Europa“, betont er. „Unsere<br />
Gene sind r<strong>ein</strong>.“ Griechenland werde<br />
Foto: Konstantinos Tsakalidis/Demotix/Corbis<br />
68<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
NEU<br />
Jetzt auch als App<br />
für iPad, Android<br />
sowie für PC/Mac.<br />
Hier testen:<br />
spiegel-geschichte.<br />
de/digital<br />
GIFTGAS Neue Waffen aus deutschen Labors<br />
SCHRIFTSTELLER Thomas Mann feiert den Krieg<br />
AFRIKA <strong>Der</strong> Feldzug des Generals Lettow-Vorbeck<br />
www.spiegel-geschichte.de
Weltbühne<br />
Reportage<br />
Baseballschläger und T-Shirts mit nationalistischen<br />
Symbolen, <strong>ein</strong> anderer arbeitete<br />
jahrelang als Türsteher und Bodyguard<br />
in <strong>ein</strong>em Nachtclub. Sogar aus <strong>ein</strong>er<br />
Elite<strong>ein</strong>heit der Armee rekrutieren sich<br />
die Abgeordneten.<br />
planmäßig von kampfbereiten Migranten<br />
überschwemmt. Ihr Ziel sei die Vernichtung<br />
des griechischen Volkes sowie<br />
die territoriale Zerstückelung des Landes.<br />
Drahtzieher sei der global operierende<br />
Zionismus. Drei Stunden lang erklärt<br />
Michos die Welt, wie er und s<strong>ein</strong>e<br />
Partei sie sehen.<br />
Die Goldene Morgenröte wurde<br />
1985 gegründet. Chefideologe und unumschränkter<br />
Führer ist Nikolaos Michaloliakos,<br />
56, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er, untersetzter Mann<br />
mit dicker Brille, Vater <strong>ein</strong>er Tochter,<br />
Mathematiker und bekennender Holocaust-Leugner.<br />
In s<strong>ein</strong>er Partei lässt<br />
sich Michaloliakos gern Führer nennen.<br />
Er mag es, die Hand zum Hitlergruß zu<br />
heben, sei es bei Parteisitzungen oder<br />
im Athener Stadtparlament. S<strong>ein</strong>e Partei<br />
versteht sich als nationale Volksbewegung.<br />
Sie sei weder faschistisch noch<br />
neonazistisch, sagt Michaloliakos. In <strong>ein</strong>em<br />
Fernsehinterview erklärte er: „Gewalt<br />
ist <strong>ein</strong> Teil des Lebens“ und fügte<br />
später hinzu: „Sobald Chrysi Avgi die<br />
Sicherheit des Landes übernimmt, wird<br />
es k<strong>ein</strong>e Gewalt geben.“<br />
Ideologie und Auftreten s<strong>ein</strong>er Partei<br />
lassen jedoch andere Schlüsse zu. Ihre<br />
Mitglieder tragen schwarze Kleidung, ihr<br />
Es bedurfte der Ermordung des<br />
Rappers Pavlos Fyssas, bis die<br />
griechischen Behörden gegen die<br />
Goldene Morgenröte vorgingen<br />
Auftreten ist militärisch, der Ton forsch,<br />
aggressiv, die Rhetorik f<strong>ein</strong>dselig. Stets<br />
sind sie in Gruppen unterwegs. Verteilen<br />
sie Flugblätter, wagt man kaum, den<br />
Zettel auszuschlagen. Wann immer sie<br />
aufmarschieren, in Sprechchören, in Fackelzügen,<br />
schüchtern sie <strong>ein</strong>, versetzen<br />
Menschen in Angst und Schrecken.<br />
Je schärfer die Wirtschaftslage, desto<br />
schlimmer der Terror auf den Straßen.<br />
Mittelpunkt der Weltanschauung<br />
Chrysi Avgis sind Vaterland, Volk und<br />
Nationalismus. Das Emblem auf ihren<br />
rot-schwarzen Parteifahnen ähnelt <strong>ein</strong>em<br />
Hakenkreuz. Alle Parlamentsabgeordneten<br />
von Chrysi Avgi fallen durch<br />
Bedrohungen, Einschüchterungen, Gewalttätigkeiten<br />
und extreme Entgleisungen<br />
auf. Acht von ihnen besitzen Waffensch<strong>ein</strong>e.<br />
Mehrere verloren bereits ihre<br />
politische Immunität wegen M<strong>ein</strong>eid und<br />
körperlichen Übergriffen auf andere Parlamentarier.<br />
Ein Parlamentarier ist Besitzer<br />
<strong>ein</strong>es Ladens für Tarnbekleidung,<br />
Erklärtes Ziel der Goldenen Morgenröte<br />
ist der Sturz der korrumpierten Regierung.<br />
Die gegenwärtige Demokratie<br />
sei <strong>ein</strong>e parlamentarische Diktatur.<br />
Oberste Priorität haben nationale Unabhängigkeit<br />
und die Befreiung von<br />
fremden Mächten, also den USA, der<br />
EU, kurz von den Zionisten – und das<br />
kann jeder s<strong>ein</strong>. Dazu strebt die Partei<br />
Autarkie in der Lebensmittel-, Arznei-,<br />
Waffen- und Erdölproduktion an. Sie<br />
will <strong>ein</strong>e Vorherrschaft Griechenlands<br />
im östlichen Mittelmeer. Möglich seien<br />
<strong>ein</strong> Wirtschafts- und Verteidigungspakt<br />
mit Russland.<br />
Das Manifest lässt k<strong>ein</strong>en Zweifel<br />
daran, wer oder was die Goldene Morgenröte<br />
ist. Ein Auszug: Verfassungsänderung,<br />
Wieder<strong>ein</strong>führung der Drachme,<br />
Ausstieg aus der Nato, politische Säuberung<br />
von Verrätern und korrumpierten<br />
Politikern, Einrichtung von Sondergerichten,<br />
Ausrüstung der Polizei mit<br />
schweren Waffen, sofortige Deportation<br />
aller legalen und illegalen Migranten,<br />
Verstaatlichung von Banken, Neuausrichtung<br />
der Landwirtschaft, Trennung von<br />
griechischen und ausländischen Schulkindern,<br />
Arbeitslagerhaft bei Straffälligkeit<br />
von Fremden, Versetzung unqualifizierter<br />
Beamter an „produktive<br />
Arbeitsplätze“, Wiederbelebung des Hellenismus,<br />
körperliche Ertüchtigung der<br />
Jugend und so weiter.<br />
Die Partei teilt Essen aus und organisiert<br />
Blutspenden. Die Aktivitäten<br />
richten sich ausschließlich an Griechen<br />
„r<strong>ein</strong>en Blutes“. Bedürftige müssen <strong>ein</strong>en<br />
Personalausweis vorzeigen. Neuerdings<br />
unterrichtet die Partei Kinder in<br />
Mythologie und ideologiekonformer Geschichte.<br />
Die Goldene Morgenröte agiert<br />
als Schattenpolizei. Wer sich von Ausländern<br />
bedroht fühlt, darf die Partei<br />
um Hilfe bitten. Dann rücken schwarz<br />
gekleidete Muskelprotze an, deren Verbindung<br />
zur Goldenen Morgenröte man<br />
vermuten, aber meistens nicht beweisen<br />
kann. Es sind von der Politik Enttäuschte,<br />
Jugendliche, Arbeitslose, die<br />
Foto: Picture Alliance/dpa/AP Photo<br />
70<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
sich als letzte verbleibende Ordnungskraft<br />
verstehen.<br />
Mit Erlaubnis der Krankenhausdirektorin<br />
suchten Parteimitglieder in<br />
Tripoli nach illegal arbeitenden Krankenschwestern.<br />
In Rafina, unweit von<br />
Athen, und Mesolongi, im Nordwesten<br />
des Landes, kontrollierten Parlamentsabgeordnete<br />
der Chrysi Avgi gem<strong>ein</strong>sam<br />
mit Sympathisanten die Verkaufslizenzen<br />
der Händler auf <strong>ein</strong>em Markt und<br />
zertrümmerten Stände. Die Polizei griff<br />
nicht <strong>ein</strong>. In Marathonas, <strong>ein</strong>e Busstunde<br />
von Athen entfernt, wo <strong>ein</strong>st die Hellenen<br />
die Perser schlugen und wo heute<br />
Pakistaner und Bangladescher Gemüse<br />
anbauen, marschierten Gruppen keulenschwingender<br />
Chrysi-Avgi-Anhänger<br />
über die Plantagen. In Panik rannten<br />
die Migranten davon. Wieder schritt die<br />
Polizei nicht <strong>ein</strong>. Es ist, als agierten die<br />
Rollkommandos mit staatlicher Duldung.<br />
Erst als diesen September nicht<br />
<strong>ein</strong> Migrant, sondern der Grieche Pavlos<br />
Fyssas, <strong>ein</strong> linksgerichteter Rapper,<br />
von <strong>ein</strong>em mutmaßlichen Mitglied der<br />
„Wir sind politische<br />
Soldaten.<br />
Blut, Geschichte<br />
und Prinzipien<br />
definieren uns“<br />
Nikos Michos, Goldene Morgenröte<br />
Goldenen Morgenröte erstochen wird,<br />
geht <strong>ein</strong> Ruck durch die Mitte der Gesellschaft.<br />
Unter ihrem Aufschrei rappelt<br />
sich die Justiz plötzlich auf. Die Polizei<br />
durchsucht Parteibüros und Wohnungen.<br />
Parteichef Michaloliakos sowie fast alle<br />
Funktionäre, unter ihnen Nikos Michos,<br />
werden von <strong>ein</strong>er Anti-Terror-Einheit<br />
verhaftet. Unter den Festgenommenen<br />
befinden sich auch zwei Polizeibeamte.<br />
Die Staatsanwaltschaft bezichtigt die<br />
Verhafteten, <strong>ein</strong>e kriminelle Ver<strong>ein</strong>igung<br />
gebildet zu haben. Mord, Geldwäsche<br />
und Schutzgelderpressung lautet der<br />
Vorwurf.<br />
<strong>Der</strong> pakistanische Einwanderer Irfan<br />
Malik versteht das alles nicht. Er sitzt<br />
vor dem Fernseher und sieht, wie <strong>ein</strong>e<br />
Gruppe Neonazis vor <strong>ein</strong>em Polizeigebäude<br />
demonstriert. Für ihn war Europa<br />
<strong>ein</strong> Sinnbild für Sicherheit, Recht<br />
und Freiheit. Plötzlich muss er um s<strong>ein</strong><br />
Leben fürchten. Er meidet Menschenansammlungen.<br />
Am liebsten wäre er unsichtbar.<br />
Trotz aller Vorfälle und der<br />
ständigen Angst habe es Gott gut mit ihm<br />
gem<strong>ein</strong>t, sagt er. Die meisten Menschen<br />
seien freundlich zu ihm. In Griechenland<br />
bleiben wolle er aber nicht mehr. Sobald<br />
er genügend Geld beisammen hat, will er<br />
heimkehren, zurück nach Pakistan.<br />
Richard Fraunberger stieß auf <strong>ein</strong>e<br />
Mauer des Schweigens. Kaum <strong>ein</strong>er, der die<br />
GM unterstützt oder gewählt hat, traute<br />
sich offen über die Partei zu sprechen<br />
Anzeige<br />
WeLT.De/DigiTaL<br />
Die Welt gehört denen,<br />
die k<strong>ein</strong>e großen Worte machen,<br />
sondern klare.<br />
Die WeLT gehörT Denen, Die neu Denken.
72<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Weltbühne<br />
Fotoessay<br />
Volles<br />
Rohr<br />
Fotos GUILLAUME HERBAUT<br />
Waffen töten und zerstören.<br />
Sie üben <strong>ein</strong>e Faszination aus,<br />
sie sind <strong>ein</strong> Geschäft.<br />
Weltweit beliefen sich<br />
die Militärausgaben 2012<br />
auf geschätzte 1756 Milliarden Dollar.<br />
<strong>Cicero</strong> war auf Waffenmessen<br />
in aller Welt. Eindrücke<br />
<strong>ein</strong>er besonderen Branche<br />
und ihrer Kundschaft<br />
73<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Weltbühne<br />
Fotoessay<br />
Gleich beginnt die Shoppingtour<br />
Besucher aus aller Welt nehmen<br />
an der Eröffnungszeremonie der<br />
Defexpo India in Neu-Delhi teil<br />
Tötet und glänzt<br />
Die halbautomatische Pistole<br />
Kilinç des türkischen Herstellers<br />
Sarsilmaz gibt es auch in Gold<br />
74<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
75<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
76<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013<br />
Fotos: Guillaume Herbaut/INSTITUTE (Seiten 72 bis 81)
Mann, fühlt sich das gut an!<br />
Ein Offizier der chinesischen<br />
Armee testet <strong>ein</strong> amerikanisches<br />
Gewehr auf der Special<br />
Operations Forces Exhibition<br />
and Conference in Amman<br />
77<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Weltbühne<br />
Fotoessay<br />
78<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
<strong>Der</strong> ist noch robuster als m<strong>ein</strong> SUV<br />
Ausstellungsbesucher der<br />
Eurosatory in Paris inspizieren den<br />
Kampfpanzer MBT des deutschen<br />
Herstellers Rh<strong>ein</strong>metall<br />
Blühende Landschaften<br />
Das französische Unternehmen Nexter<br />
Group präsentiert s<strong>ein</strong> gepanzertes<br />
Infanterie-Kampffahrzeug zwischen<br />
grünem Gestrüpp<br />
79<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
80<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
81<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013<br />
Ein Accessoire für jeden Bomber<br />
Hostessen des indischen<br />
Unternehmens Ordnance<br />
Factory Board präsentieren ihre<br />
Neuheiten auf der Defexpo
Weltbühne<br />
Analyse<br />
Europa soll Glück mit<br />
den deutschen haben<br />
Von Klaus Harpprecht<br />
<strong>Deutschland</strong> sollte<br />
endlich aufhören,<br />
den europäischen<br />
Partnern mit erhobenem<br />
Zeigefinger<br />
zu begegnen<br />
<strong>Der</strong> Euro, raunzte Spiegel-Gründer<br />
Rudolf Augst<strong>ein</strong><br />
kurz vor s<strong>ein</strong>em Tod,<br />
sei für <strong>Deutschland</strong> schlimmer<br />
als „Versailles“ – jener<br />
verhängnisvolle Vertrag des Jahres 1919,<br />
der Europa k<strong>ein</strong>en Frieden bescherte,<br />
sondern <strong>ein</strong> Gewächshaus der Ressentiments<br />
war, die Adolf Hitler 1933 an die<br />
Macht in Berlin beförderten. Die Fantasien<br />
des großen Polemikers Augst<strong>ein</strong>, der<br />
im Grund s<strong>ein</strong>er Seele <strong>ein</strong> Deutschnationaler<br />
war, erfüllten sich gottlob nicht.<br />
Die nationalistischen Ressentiments<br />
wuchern heute aber von neuem. Sie<br />
könnten die Europäische Union am<br />
Ende gar ersticken: diese produktivste<br />
Leistung unserer Völker nach der zweiten<br />
Katastrophe, dem Vernichtungskrieg,<br />
dem Millionenmord, der Verwüstung unserer<br />
Städte, dem Elend der Austreibung.<br />
60 Jahre Frieden: <strong>ein</strong> Segen, der unserem<br />
Kontinent niemals zuvor zuteil geworden<br />
ist. 60 Jahre ohne Hunger: Auch das gab<br />
es nie. 60 Jahre des wachsenden Wohlstands,<br />
trotz aller Rückschläge und Krisen:<br />
zuvor nicht denkbar.<br />
Das alles droht vor die Hunde zu gehen.<br />
Wenn wir die Signale nicht sehen<br />
wollen. Wenn wir blind und taub weiterstolpern,<br />
beleidigt und hochmütig zugleich<br />
– zumal die Deutschen und neben<br />
ihnen (oder hinterdr<strong>ein</strong>) die Franzosen,<br />
die beiden, auf die es in Europa ankommt.<br />
82<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Illustration: Marta Slawinska<br />
Frankreichs Präsident hat nach <strong>ein</strong>em<br />
Jahr lähmenden Schweigens <strong>ein</strong><br />
Konzept für Europa vorgelegt – <strong>ein</strong>e<br />
verspätete Antwort auf Angela Merkels<br />
knappe Skizzierung ihrer europäischen<br />
Ziele vor gut <strong>ein</strong>em Jahr. Wird die Bundesregierung<br />
sich bereit zeigen, <strong>ein</strong>e<br />
Wirtschafts- und Finanzregierung für Euroland<br />
zu akzeptieren – so lautet Hollandes<br />
Vorschlag –, mit <strong>ein</strong>em permanenten<br />
Präsidenten, der s<strong>ein</strong>e Minister (oder<br />
was immer sie s<strong>ein</strong> mögen) wenigstens<br />
<strong>ein</strong>mal im Monat um sich versammelt?<br />
Das wäre der Anfang <strong>ein</strong>er politischen<br />
Union, deren Notwendigkeit sich aus der<br />
Wirtschaftsregierung ergibt. Großbritannien<br />
würde sich diesem Prozess vermutlich<br />
verweigern, aber das wäre k<strong>ein</strong> allzu<br />
großer Verlust: Es will den gem<strong>ein</strong>samen<br />
Markt, mehr nicht.<br />
Zustimmung fände Frankreich gewiss<br />
beim Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit,<br />
die in Spanien 50 Prozent<br />
der jungen Menschen und in Frankreich<br />
<strong>ein</strong> Viertel aussperrt. Vielleicht gelänge<br />
auch <strong>ein</strong>e Verständigung über die Grundlinien<br />
<strong>ein</strong>er „Energiegem<strong>ein</strong>schaft“,<br />
obschon der deutsche Ausstieg aus der<br />
Nuklearenergie und die französische Abhängigkeit<br />
vom Atomstrom sich schwer<br />
mit<strong>ein</strong>ander verbinden lassen. Gegen die<br />
„Eurobonds“ und damit die Schaffung <strong>ein</strong>er<br />
Schuldengem<strong>ein</strong>schaft wird sich die<br />
Kanzlerin samt der Bundesbank mit allen<br />
Mitteln sträuben. <strong>Der</strong> Plan sch<strong>ein</strong>t<br />
den Generalverdacht der Deutschen zu<br />
bestärken, sie müssten für die Misswirtschaft<br />
der „mediterranen Faulpelze und<br />
Verschwender“ aufkommen.<br />
Es ist leider wahr: Die Deutschen<br />
lassen, wenn es darauf ankommt, die<br />
Partner ihre (derzeitige) Dominanz spüren.<br />
Zugleich gefallen sie sich – <strong>ein</strong> Zustand<br />
der Schizophrenie – in der Rolle<br />
des ausgebeuteten Opfers, obwohl sie<br />
von jedem europäischen Schritt zu <strong>ein</strong>er<br />
Bündelung der Interessen bisher nur profitiert<br />
haben. Zu Recht fragte der ehemalige<br />
SPD-Kanzlerkandidat Peer St<strong>ein</strong>brück,<br />
ob sie noch „das Volk der guten<br />
Nachbarn“ seien, das <strong>ein</strong>st Willy Brandt<br />
versprochen hatte. St<strong>ein</strong>brück fordert <strong>ein</strong>en<br />
„Marshall-Plan“ für Europa, der den<br />
Krisenländern das Wachstum bescheren<br />
soll, ohne das sie nicht auf die B<strong>ein</strong>e<br />
kommen können. Nur mit <strong>ein</strong>em Sparprogramm<br />
nach Berliner Diktat ist es gewiss<br />
nicht getan. Andernfalls droht in der<br />
Tat <strong>ein</strong> Absturz der gesamten Europäischen<br />
Union in die Depression. <strong>Deutschland</strong><br />
nicht ausgenommen, das von den<br />
Märkten der Partner lebt.<br />
Anders als die meisten deutschen<br />
M<strong>ein</strong>ungsdirigenten wich <strong>ein</strong>e Handvoll<br />
französischer Journalisten der bitteren<br />
Wahrheit des miserablen Zustands der<br />
Union nicht aus. Laurent Joffrin, Chefkommentator<br />
des Nouvel Observateur,<br />
erinnerte daran, dass Frankreichs verstorbener<br />
Präsident François Mitterrand<br />
<strong>ein</strong>st gelobt hatte, Europa werde s<strong>ein</strong>e<br />
Bürger vor den Bocksprüngen der internationalen<br />
Geldwirtschaft schützen. In<br />
Wirklichkeit aber lieferte es mehr als<br />
20 Millionen Menschen der Arbeitslosigkeit<br />
aus. Die Union verliere ihre Vitalität<br />
im Sumpf der Stagnation, schrieb<br />
Joffrin, sie entfremde sich ihren Bürgern.<br />
Würde über Europa in Volksabstimmungen<br />
entschieden, wäre es in den meisten<br />
83<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Weltbühne<br />
Analyse<br />
Nirgendwo<br />
wären die<br />
Interessen der<br />
Deutschen besser<br />
aufgehoben als<br />
in der europäischen<br />
Föderation.<br />
Jede Etappe<br />
der Ver<strong>ein</strong>igung<br />
hat ihr Wohl<br />
gesteigert<br />
der Mitgliedsländer zum Scheitern verurteilt.<br />
Tatsache ist: <strong>Der</strong> nationale Etatismus<br />
ist die schwierigste Barriere auf<br />
dem Weg zur europäischen Finanz- und<br />
Wirtschaftsregierung.<br />
Es ist freilich nicht völlig undenkbar,<br />
dass dieser Part von den Deutschen übernommen<br />
wird. Die Europagegner stehen<br />
in Karlsruhe vor dem Verfassungsgericht<br />
Schlange, vornan der Präsident der Bundesbank<br />
Jens Weidmann mit s<strong>ein</strong>em<br />
Gutachten zur Klage Peter Gauweilers.<br />
Weidmann lehnt – gegen die geschlossene<br />
Mehrheit s<strong>ein</strong>er Kollegen – die Kreditpolitik<br />
der Europäischen Zentralbank ab.<br />
Noch hält <strong>ein</strong>e Mehrheit der Deutschen<br />
die Vorzüge Europas für größer<br />
als die Nachteile. Was sich allerdings<br />
mit dem Bruch der Konjunktur rasch<br />
ändern könnte. In Frankreich hingegen<br />
dominieren die antieuropäischen Ressentiments.<br />
Doch François Hollande –<br />
vermutlich Vernunft-Europäer wie Angela<br />
Merkel – hat endlich verstanden,<br />
dass die Kluft zwischen Frankreich und<br />
<strong>Deutschland</strong> nicht noch größer werden<br />
darf. So pfiff er den Präsidenten der Nationalversammlung<br />
Claude Bartolone<br />
zurück, der <strong>ein</strong>e Konfrontation mit den<br />
Deutschen und ihrer obsessiven Sparreligion<br />
gefordert hatte.<br />
Bisher bestand der Währungsbund die<br />
Zerreißproben, obschon ihm die Medien,<br />
allen voran Spiegel und Bild, Woche für<br />
Woche, ja Tag für Tag den Untergang<br />
vorhersagten. In Europa werde wieder<br />
deutsch gesprochen, hörten die Nachbarn<br />
aus Berlin. Jens Weidmann erhofft<br />
vom Bundesverfassungsgericht vermutlich,<br />
dass die Richter in den roten Roben<br />
s<strong>ein</strong>en Argumenten mit Sympathie<br />
begegnen, weil sie selber sich gegen die<br />
Einsicht sträuben, dass ihnen der Europäische<br />
Gerichtshof als letzte Rechtsinstanz<br />
übergeordnet ist. Wolfgang Ischinger,<br />
Direktor der Sicherheitskonferenz<br />
in München, erklärte Frédéric Lemaître,<br />
dem hellsichtigen Korrespondenten von<br />
Le Monde in Berlin, vordem sei es akzeptabel<br />
gewesen, dass sich <strong>Deutschland</strong> mit<br />
<strong>ein</strong>er sekundären Rolle hinter Frankreich<br />
und Großbritannien begnügt habe, doch<br />
müsse es nun – dank s<strong>ein</strong>er starken Position<br />
in der Finanzkrise – den Mut haben,<br />
sich in der internationalen Szene mit<br />
dem gleichen Recht wie die Franzosen<br />
und Engländer zu Wort zu melden. Als<br />
habe es bisher nur verlegen zu lispeln<br />
gewagt! Als sei es nicht gehört worden,<br />
wenn es auch nur diskret gehüstelt hat!<br />
Es ist wahr: Ohne die Solidarität des<br />
reichen <strong>Deutschland</strong>, das sich am Ende<br />
stets stöhnend zu den Milliardengarantien<br />
bereitfand, ginge Europa zugrunde.<br />
Mit ihm aber auch der kraftstrotzende<br />
Riese in s<strong>ein</strong>er Mitte. Warum reckt sich<br />
dann der deutsche Zeigefinger, der die<br />
darbenden europäischen Brüder und<br />
Schwestern mahnt, noch mehr zu sparen?<br />
Das ökonomische Muskelspiel vermengt<br />
sich ungut mit der nervenden Schulmeisterei,<br />
die es dringend nahelegt, mit Berlin<br />
und in Berlin Fraktur zu reden.<br />
Seit der Gründung des großpreußisch-kl<strong>ein</strong>deutschen<br />
Reiches – ausgerechnet<br />
in Versailles – ist das innereuropäische<br />
Gleichgewicht gefährdet. Die<br />
Diplomatie Bismarcks nach den drei „Einigungskriegen“<br />
war vom Bemühen bestimmt,<br />
dennoch <strong>ein</strong>e Art von Balance zu<br />
schaffen, die <strong>ein</strong>e friedliche Koexistenz<br />
der Großmächte erlaubte. S<strong>ein</strong> Werk<br />
überdauerte ihn nicht lang.<br />
Trotz der ungeheuerlichen Verluste,<br />
die der Koloss im Zweiten Weltkrieg erlitt<br />
– von denen s<strong>ein</strong>er Opfer zu schweigen<br />
–, ließ sich voraussehen, dass er <strong>ein</strong>es<br />
Tages s<strong>ein</strong>e Nachbarn wieder überragen<br />
werde. Zumindest durch s<strong>ein</strong> wirtschaftliches<br />
Potenzial und die Masse s<strong>ein</strong>er<br />
Menschen. Wache Akteure wie Winston<br />
Churchill, Jean Monnet, Robert<br />
Schuman oder Konrad Adenauer verstanden<br />
die Ver<strong>ein</strong>igung Europas als die<br />
<strong>ein</strong>zige Chance, das Ungetüm dauerhaft<br />
zu zähmen. Indes, der Zusammenschluss<br />
stockte nach der Geburt der gem<strong>ein</strong>samen<br />
Währung. Folgerichtig setzt sich der<br />
böse Mechanismus wieder in Gang: Die<br />
ökonomische Leistungsfähigkeit des Riesen<br />
weckt die Furcht vor s<strong>ein</strong>em bisher<br />
gottlob nicht klar formulierten hegemonialen<br />
Ehrgeiz.<br />
<strong>Der</strong> Ausbruch aus dem Teufelskreis<br />
kann uns nur durch den radikalen Abschied<br />
von der ohnedies illusionären Unabhängigkeit<br />
der Nationalstaaten gelingen.<br />
Dies verlangt von Frankreich – dem<br />
Partner, ohne den nichts gelingen kann –,<br />
dass es über s<strong>ein</strong>en Schatten springt und<br />
sich zu <strong>ein</strong>er Bündelung der Souveränitäten<br />
in <strong>ein</strong>er Föderation der Eurostaaten<br />
entschließt. Die Gleichberechtigung<br />
der Mitglieder des Bundes müsste <strong>ein</strong><br />
Senat garantieren, in dem – nach amerikanischem<br />
Vorbild – jeder Staat, ob<br />
kl<strong>ein</strong> oder groß, durch zwei Repräsentanten<br />
vertreten ist. Die Föderation verlangt<br />
<strong>ein</strong>en inneren Finanzausgleich, der<br />
so selbstverständlich s<strong>ein</strong> muss wie die<br />
gegenseitige Hilfe unter den deutschen<br />
Bundesländern.<br />
Das ist die Lage: Die Union wird zerfallen,<br />
wenn sich die Eurostaaten – mit<br />
ihnen Polen und, wenn es denn angeht,<br />
auch Tschechien – nicht zu <strong>ein</strong>em Bundesstaat<br />
zusammenfügen. Nirgendwo<br />
wären die Interessen der Deutschen besser<br />
aufgehoben als in der europäischen<br />
Föderation. Jede Etappe der Ver<strong>ein</strong>igung<br />
hat ihr Wohl gesteigert. Europa soll endlich<br />
Glück mit den Deutschen haben –<br />
und die Deutschen mit Europa.<br />
Klaus Harpprecht war von 1972<br />
bis 1974 Redenschreiber von Willy Brandt.<br />
Heute lebt er in Frankreich und verfolgt<br />
Europas Entwicklung mit wachsender Sorge<br />
84<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Kapital<br />
„ Sie ist zurückhaltend,<br />
bescheiden und<br />
humorvoll. Es gibt<br />
niemanden, der besser<br />
für den Job geeignet<br />
ist als sie “<br />
Andrew Rose, US-Ökonom, über s<strong>ein</strong>e Kollegin Janet Yellen, die im Februar<br />
als erste Frau an die Spitze der US-Notenbank rückt, Seite 86<br />
85<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Kapital<br />
Porträt<br />
Amerikas Mächtigste<br />
Janet Yellen wird Chefin der US-Notenbank. Sie selbst lebt ganz und gar in der Welt der<br />
Ökonomen. Aber ihr Blick reicht weiter: Sie will für die Menschen im Land etwas tun<br />
Von Til Knipper<br />
Foto: Mary F. Calvert/NYT/Redux/laif<br />
Im Jahr 1963 sollte in The Pilot, der<br />
Schülerzeitung der Fort Hamilton<br />
High School in Brooklyn, wie jedes<br />
Jahr <strong>ein</strong> Interview des besten Schülers<br />
der Abschlussklasse ersch<strong>ein</strong>en, geführt<br />
vom Chefredakteur. Es gab nur <strong>ein</strong> Problem:<br />
Janet Yellen hatte den mit Abstand<br />
besten Abschluss hingelegt und bekleidete<br />
gleichzeitig den Chefposten bei The<br />
Pilot. Yellen, selbstbewusst und pragmatisch,<br />
zögerte nicht lange: Sie führte das<br />
Interview <strong>ein</strong>fach mit sich selbst.<br />
Die New York Times zitierte kürzlich<br />
aus dem 50 Jahre alten Beitrag, er<br />
liegt in der Brooklyn Public Library und<br />
darf als Dokument der Zeitgeschichte betrachtet<br />
werden. Denn Janet Yellen, 67,<br />
ist von US‐Präsident Barack Obama als<br />
zukünftige Chefin der US‐Notenbank Federal<br />
Reserve nominiert worden. Wenn<br />
der Senat Yellen bestätigt, ist sie ab Februar<br />
2014 die mächtigste Frau der USA.<br />
In dem Interview mit sich selbst gibt<br />
sie als Hobby an: „Philosophische Werke<br />
lesen, um anschließend unpopuläre Essays<br />
schreiben zu können.“ K<strong>ein</strong>e Angst<br />
davor zu haben, unpopulär zu s<strong>ein</strong>, diese<br />
Eigenschaft wird Yellen im neuen Job<br />
helfen. Ihr Vorgänger, der jetzige Fed-<br />
Chef Ben Bernanke überlässt ihr <strong>ein</strong>e<br />
schwierige Ausgangsposition.<br />
Die Fed muss unter Yellen so schnell,<br />
aber auch so schonend wie möglich aus<br />
der Staatsfinanzierung per Notenpresse<br />
und der Unterstützung des amerikanischen<br />
Immobilienmarkts aussteigen. Bernanke<br />
kaufte US-Staatsanleihen und verbriefte<br />
Hypotheken. Die Bilanzsumme<br />
der Fed erhöhte sich seit 2008 von 900<br />
Milliarden Dollar dramatisch auf unglaubliche<br />
3,7 Billionen Dollar. Noch immer<br />
kommen jeden Monat Wertpapiere<br />
für 85 Milliarden Dollar dazu. Heikel<br />
wird es für Yellen, den richtigen Zeitpunkt<br />
zu finden. Steigt sie zu früh aus,<br />
würgt sie die gerade wieder anspringende<br />
US‐Konjunktur ab, zögert sie zu<br />
lange, fördert sie womöglich gefährliche<br />
Blasenbildungen an den Finanzmärkten.<br />
Beschweren kann sich die Neue bei<br />
ihrem Vorgänger nicht. Als Stellvertreterin<br />
Bernankes hat sie s<strong>ein</strong>e Politik des<br />
billigen Geldes seit 2010 mitgetragen.<br />
Yellen ist Ökonomin durch und durch.<br />
Ihr Lebenslauf liest sich wie die Musterbewerbung<br />
für das Amt des US‐Notenbankchefs.<br />
Nach ihrer Promotion in Yale<br />
lehrte sie in Harvard. Später unterrichtete<br />
sie am MIT in Boston, an der LSE in<br />
London und in Berkeley, alles Top-Adressen.<br />
Praktische und politische Erfahrung<br />
sammelte sie als Chefin der kalifornischen<br />
Notenbank und als oberste<br />
Wirtschaftsberaterin von Bill Clinton.<br />
„Es gibt niemanden, der besser für<br />
diesen Job qualifiziert ist als sie“, sagt<br />
der US-Ökonom Andrew Rose, der mit<br />
Yellen seit mehr als 20 Jahren befreundet<br />
ist und in Berkely häufig zusammengearbeitet<br />
hat. Gleichzeitig sei Yellen „zurückhaltend,<br />
bescheiden und humorvoll“.<br />
Yellen ist mit dem Wirtschaftsnobelpreisträger<br />
George Akerlof verheiratet.<br />
Sie lernte ihn ausgerechnet in der Kantine<br />
der Fed kennen, wo sie beide arbeiteten.<br />
Im Urlaub auf Hawaii liest sie lieber<br />
Fachbücher, als im Pazifik zu baden.<br />
<strong>Der</strong> Sohn Robert ist natürlich Ökonom,<br />
er lehrt an der Universität Warwick.<br />
Die Frau, deren Wirken das Leben von<br />
Millionen Menschen be<strong>ein</strong>flussen wird,<br />
lebt selbst also ganz und gar in der Welt<br />
der Ökonomie. Aber ihr Blick gilt dem Leben<br />
außerhalb. Yellen, die in Brooklyn als<br />
Tochter <strong>ein</strong>es Arztes und <strong>ein</strong>er Lehrerin<br />
aufwuchs, sagt selbst, dass ihr Doktorvater<br />
James Tobin, ebenfalls Nobelpreisträger<br />
und Erfinder der Finanztransaktionssteuer,<br />
ihre Denkweise am stärksten<br />
geprägt habe: „Er hat uns Studenten<br />
immer ermutigt, mit unserer Forschung<br />
das Leben der Menschen zu verbessern.“<br />
Unter Notenbankern gilt Yellen mit<br />
solchen Ansichten als „Taube“, als Verfechterin<br />
<strong>ein</strong>er weichen Geldpolitik, die<br />
im Zweifel lieber <strong>ein</strong>e etwas höhere Inflation<br />
in Kauf nimmt, als sich mit <strong>ein</strong>er<br />
hohen Arbeitslosigkeit abzufinden. Das<br />
sagte sie auch bei ihrer Nominierung im<br />
Weißen Haus: „Die Fed ist für alle Amerikaner<br />
da. Und noch immer gibt es viele,<br />
die k<strong>ein</strong>en Job haben.“<br />
Für solche Sätze lieben sie linke Demokraten.<br />
Sie hatten Obamas Favoriten<br />
für die Fed-Spitze, den ehemaligen<br />
US‐Finanzminister Larry Summers, verhindert,<br />
da er der Politik härtere Sparmaßnahmen<br />
abverlangt hätte. Ihre Fans<br />
sitzen aber auch an der Wall Street. Die<br />
Niedrigzinspolitik unter Bernanke hat<br />
den Aktienmärkten zu Rekordständen<br />
verholfen. Die Banken hoffen, dass Yellen<br />
die Politik ihres Vorgängers <strong>ein</strong>e<br />
Weile fortsetzt, zumindest solange die<br />
Beschäftigungskrise in den USA anhält.<br />
Dabei ist die Geldpolitik der Ära<br />
Bernanke umstritten. Gerade in Europa<br />
bei der Europäischen Zentralbank und<br />
noch mehr bei der Bundesbank beäugt<br />
man das Gelddrucken der USA skeptisch<br />
und beschwört Inflationsgefahren herauf.<br />
Mit solchen „Adlern“, die nur die Preisstabilität<br />
im Auge haben, wird sich Yellen<br />
auch im Senat und bei der Fed aus<strong>ein</strong>andersetzen<br />
müssen.<br />
Wie ihr neuer Lebensabschnitt in<br />
Washington aussehen wird, ahnte sie wohl<br />
schon 1963. In The Pilot beschrieb sie die<br />
US‐Hauptstadt nach <strong>ein</strong>em Schulausflug<br />
als „aufregend und anstrengend“.<br />
Til Knipper leitet das Ressort Kapital bei<br />
<strong>Cicero</strong>. Er war zwar nicht Jahrgangsbester,<br />
lernte s<strong>ein</strong>e Freundin aber auch in <strong>ein</strong>er<br />
Kantine kennen<br />
87<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Kapital<br />
Porträt<br />
Jenseits von Alheim<br />
In <strong>Deutschland</strong> ist die subventionierte Party der Solarenergiebranche vorbei –<br />
den hessischen Anlagenbauer Lars Kirchner zieht es daher nach Afrika<br />
Von Christian Sywottek<br />
Afrikas zukünftige Energieversorgung<br />
sieht aus wie <strong>ein</strong> Carport.<br />
Ein schräges Dach auf Metallstelzen,<br />
75 Quadratmeter groß, bedeckt mit<br />
Solarmodulen, die 22 Megawattstunden<br />
Strom im Jahr erzeugen. Darunter <strong>ein</strong><br />
zerschrammter Überseecontainer, vollgestopft<br />
mit Batterien, Wechselrichtern,<br />
Schaltschränken. Aus dem Container<br />
ragt <strong>ein</strong> Kabel – damit sucht Lars Kirchner<br />
Anschluss an die neue Zeit. „Wenn<br />
es klappt“, sagt der 42-jährige Solarunternehmer<br />
aus dem hessischen Alheim,<br />
„geht es um <strong>ein</strong>en dreistelligen Millionenbetrag.<br />
Und es wird klappen.“ Dieser<br />
sch<strong>ein</strong>bar wahnwitzige Plan, sich mit s<strong>ein</strong>em<br />
„Solar-Genset“ in Uganda <strong>ein</strong> neues<br />
Geschäft aufzubauen.<br />
Uganda soll Lars Kirchners neues<br />
Dorado werden. Das Land ist gespickt<br />
mit rund 3000 Mobilfunkmasten, knapp<br />
800 davon irgendwo im Nirgendwo, von<br />
Dieselgeneratoren mit Strom versorgt.<br />
Diesel aber ist teuer, s<strong>ein</strong> Transport<br />
kompliziert – Kirchner will die Masten<br />
mit s<strong>ein</strong>en Solargeneratoren ausrüsten.<br />
2000 Stück hat er sich vorgenommen in<br />
Uganda, Tansania und Kenia. Überschüssiger<br />
Strom soll bis zu 700 angrenzende<br />
Dörfer mit Energie versorgen. Zwei Anlagen<br />
stehen, für 60 Masten sind die Verträge<br />
unterschrieben.<br />
„Wir wollen uns unabhängiger machen<br />
von subventionierten Märkten“,<br />
sagt Kirchner. „Wir wollen dorthin, wo<br />
Solarstrom ohnehin markttauglich ist.“<br />
Denn der deutsche Solarmarkt kriselt.<br />
Sinkende Einspeisevergütungen drücken<br />
die Preise auch bei Installateuren,<br />
Umsätze und Gewinne sinken. Kirchners<br />
Unternehmen, die Kirchner Solar Group,<br />
beschäftigte zu besten Zeiten 240 Mitarbeiter,<br />
machte 190 Millionen Euro Umsatz.<br />
Heute sind es 150 Mitarbeiter, der<br />
Umsatz liegt bei 60 Millionen Euro.<br />
Aber Kirchner klagt nicht. Das hat<br />
er nie gemacht. Im Jahr 1991 gründete<br />
der Elektrotechniker <strong>ein</strong>en Laden, reparierte<br />
Radios und Fernsehgeräte. Er<br />
entwickelte Steuerungen für Kirchenglocken,<br />
baute Beleuchtungssysteme für<br />
Kirchen. Als <strong>ein</strong> Förster s<strong>ein</strong>e Hütte elektrifizieren<br />
wollte, machte Kirchner erste<br />
Erfahrungen mit der Fotovoltaik, baute<br />
schließlich netzunabhängige Selbstversorgersysteme<br />
für Boote und Wohnwagen.<br />
„Alles kam auf mich zu“, sagt Kirchner,<br />
„und ich habe nie N<strong>ein</strong> gesagt.“<br />
Seit der Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes<br />
(EEG) im Jahr<br />
2000 plant und montiert Kirchner Dachanlagen,<br />
baut Solarparks, ersinnt Beteiligungsangebote.<br />
„Wenn es Brei regnet,<br />
brauchst du <strong>ein</strong>en großen Löffel“, m<strong>ein</strong>t<br />
Kirchner. „Wir haben über Jahre nur gebaut,<br />
mit Wartelisten wie beim Zahnarzt.“<br />
Er verdient sehr gutes Geld, aber<br />
ihm ist früh klar, dass der Boom nicht<br />
unendlich ist.<br />
Im Jahr 2005 besucht er <strong>ein</strong>en Freund<br />
in Uganda, sieht überall die röhrenden<br />
Dieselgeneratoren, bemerkt die hohen<br />
Dieselpreise. Zurück in <strong>Deutschland</strong><br />
entwickelt er kl<strong>ein</strong>e, netzunabhängige<br />
Solarsysteme für Privatnutzer, die s<strong>ein</strong><br />
ugandischer Freund bald erfolgreich in<br />
drei Läden vertreibt. Auch weil Solarmodule<br />
billiger werden und Kirchner<br />
s<strong>ein</strong>e Systeme immer preisgünstiger anbieten<br />
kann. Vor knapp drei Jahren entschließt<br />
er sich, vor Ort <strong>ein</strong> Solarcenter<br />
zu bauen, für die Produktion und die<br />
Ausbildung eigener Mitarbeiter.<br />
Von Mobilfunkmasten ist da noch<br />
nicht die Rede. Auf diese Idee kommt er<br />
erst vor knapp zwei Jahren mit Fachleuten<br />
der Gesellschaft für Internationale<br />
Zusammenarbeit (GIZ) in Kampala, die<br />
Dörfer mit Sonnenenergie versorgen<br />
wollen. Weil Kirchner skeptisch ist, ob<br />
er dort genügend zahlungskräftige Kunden<br />
findet, ersinnen sie das Kombimodell<br />
mit den Masten, mit <strong>ein</strong>em verlässlichen<br />
Mobilfunkbetreiber als „Ankerkunde“.<br />
Kirchner entwickelt s<strong>ein</strong> Solar-Genset,<br />
baut das ugandische Solarcenter für<br />
vier Millionen Euro aus. Wohnhäuser,<br />
Schulungsräume, <strong>ein</strong>e Werkstatt, <strong>ein</strong>en<br />
40-Tonnen-Portalkran. Bis heute hat das<br />
hessische Unternehmen dort 15 <strong>ein</strong>heimische<br />
„Solarteure“ ausgebildet, von<br />
November dieses Jahres an sollen jährlich<br />
über 70 Auszubildende das Programm<br />
durchlaufen. Die GIZ wiederum<br />
spricht mit Behörden, besorgt Konzessionen<br />
– vor allem aber hat sie den Kontakt<br />
zum indischen Mobilfunkanbieter Airtel<br />
geknüpft, <strong>ein</strong>em der maßgeblichen Betreiber<br />
in Uganda.<br />
Nach den zwei Pilotanlagen steht in<br />
Uganda jetzt der landesweite Rollout an.<br />
In drei Jahren will er in Afrika Gewinn<br />
machen. Und wenn es doch nicht klappt?<br />
„Im schlimmsten Fall verliere ich Geld“,<br />
sagt Lars Kirchner ganz entspannt. Er<br />
kann es sich leisten. Er hat während des<br />
Booms genug Subventionsbrei gelöffelt.<br />
Christian Sywottek ist freier<br />
Journalist. Solarenergie fasziniert<br />
ihn schon, seitdem er als Kind mit<br />
Bratpfannen aus Alufolie experimentierte<br />
MYTHOS<br />
Mittelstand<br />
Was hat <strong>Deutschland</strong>,<br />
was andere nicht haben?<br />
Den Mittelstand!<br />
<strong>Cicero</strong> stellt in jeder Ausgabe<br />
<strong>ein</strong>en mittelständischen<br />
Unternehmer vor.<br />
Die bisherigen Porträts<br />
finden Sie unter:<br />
www.cicero.de/mittelstand<br />
Foto: Oliver Rüther für <strong>Cicero</strong><br />
88<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Kapital<br />
Porträt<br />
Vorbestrafter Schulabbrecher<br />
Weil René Benko dem Karstadt-Konzern drei Luxuskaufhäuser abgekauft hat, steht er<br />
im Rampenlicht. Dabei liegt dem Österreicher Transparenz ganz und gar nicht<br />
Von Hans-Peter Siebenhaar<br />
Foto: Picture Alliance/dpa<br />
Karstadt bedeutet Ärger. Noch<br />
prüft der angeschlagene Warenhausriese,<br />
welche s<strong>ein</strong>er Häuser<br />
er schließen wird. Eine Entscheidung<br />
ist noch nicht getroffen. Doch schon<br />
jetzt ist klar: <strong>Der</strong> Protest der insgesamt<br />
20 000 Mitarbeiter wird laut s<strong>ein</strong>. Die<br />
Gewerkschaft Verdi verlangt von den<br />
Karstadt-Eignern Nicolas Berggruen<br />
und René Benko transparente Entscheidungen.<br />
Doch Transparenz gehört nicht<br />
zu den Stärken des ungleichen Tandems,<br />
das über die Zukunft des traditionsreichen<br />
deutschen Warenhauskonzerns<br />
entscheidet.<br />
Die öffentliche Anteilnahme ist für<br />
den Österreicher René Benko neu. <strong>Der</strong><br />
36 Jahre alte Immobilienmagnat sucht<br />
nicht unbedingt das Sch<strong>ein</strong>werferlicht<br />
der Medien. Er arbeitet am liebsten hinter<br />
verschlossenen Türen. Damit ist der<br />
Selfmademan aus Tirol bislang hervorragend<br />
gefahren. S<strong>ein</strong>e Innsbrucker Firma<br />
Signa verwaltet nach eigenen Angaben<br />
<strong>ein</strong> Immobilienportfolio im Wert von<br />
über fünf Milliarden Euro – <strong>ein</strong>es der<br />
wertvollsten in Europa.<br />
Mit Kaufhausimmobilien kennt er<br />
sich auch aus. In Innsbruck, wo er mit<br />
s<strong>ein</strong>er Frau und s<strong>ein</strong>en zwei Kindern lebt,<br />
ließ er das Einkaufszentrum Tyrol für<br />
155 Millionen Euro errichten, entworfen<br />
vom britischen Stararchitekten David<br />
Chipperfield. <strong>Der</strong> baut für ihn auch<br />
gerade <strong>ein</strong> Luxuskaufhaus in Bozen, das<br />
2016 eröffnen soll. In Wien erwarb er<br />
von Banken Bürohäuser und bescherte<br />
der österreichischen Hauptstadt zahlreiche<br />
Luxusläden.<br />
Karstadt ist anders: Hier regieren<br />
Missgunst, Misstrauen und Misswirtschaft.<br />
Hier wird alles auf die öffentliche<br />
Bühne gezerrt. Das bekommt auch<br />
Benko zu spüren. In den vergangenen<br />
Wochen sah er sich, ganz entgegen s<strong>ein</strong>er<br />
Gewohnheit, mehrfach zu öffentlichen<br />
Stellungnahmen genötigt: „Wir werden<br />
in unsere Häuser investieren und gleichzeitig<br />
expandieren – und dazu weiteres<br />
Personal <strong>ein</strong>stellen“, versuchte er kürzlich<br />
Gerüchte um Filialschließungen<br />
zu dementieren. Doch das Misstrauen<br />
bleibt. Die Karstadt-Mitarbeiter haben<br />
in den vergangenen Jahren viel erzählt<br />
bekommen.<br />
Für Benko soll Karstadt s<strong>ein</strong> Meisterstück<br />
werden. Er will das bisherige<br />
Verlustgeschäft Warenhaus neu erfinden.<br />
Viel Geld hat er in das Projekt investiert.<br />
Im vergangenen Jahr erwarb er<br />
für über 1,1 Milliarden Euro die Immobilien<br />
von 17 Karstadt-Filialen. Im September<br />
kaufte er <strong>ein</strong>e Mehrheit von 75,1 Prozent<br />
der Karstadt Premium GmbH, zu<br />
der die drei Luxuskaufhäuser KaDeWe in<br />
Berlin, Alsterhaus in Hamburg und Oberpollinger<br />
in München gehören sowie die<br />
28 Sporthäuser. <strong>Der</strong> Verkaufspreis von<br />
300 Millionen Euro soll in die Modernisierung<br />
aller Karstadt-Warenhäuser fließen.<br />
„Das Geld kann nicht verpfändet,<br />
verliehen oder ausgeschüttet werden“,<br />
beteuert Benko. Gut die Hälfte fließt<br />
nach Medienberichten aber zurück in die<br />
Häuser der Karstadt Premium GmbH, sodass<br />
s<strong>ein</strong> Risiko bei dem jüngsten Deal<br />
überschaubar bleibt.<br />
Was er genau mit Karstadt vorhat,<br />
bleibt s<strong>ein</strong> Geheimnis. Ungewöhnlich<br />
ist für ihn, dass er diesmal nicht<br />
als r<strong>ein</strong>er Immobilieninvestor auftritt,<br />
sondern auch operativ in die Warenhauswelt<br />
<strong>ein</strong>tritt. In der Branche wird<br />
spekuliert, dass Benko die große Marktber<strong>ein</strong>igung<br />
im deutschen Warenhausgeschäft<br />
durchziehen will. <strong>Der</strong> Düsseldorfer<br />
Handelskonzern Metro wäre bereit,<br />
den Karstadt-Konkurrenten Kaufhof<br />
zu verkaufen, wenn die Bedingungen<br />
stimmen. Und Benko? <strong>Der</strong> hatte bereits<br />
2011 versucht, Kaufhof zu übernehmen.<br />
Die K. u. K.-Fusion mithilfe <strong>ein</strong>es Österreichers<br />
würde doch passen.<br />
In s<strong>ein</strong>er Heimat ist Benko <strong>ein</strong> Unternehmerstar,<br />
s<strong>ein</strong> Privatvermögen wird<br />
auf 550 Millionen Euro geschätzt. S<strong>ein</strong>en<br />
schillernden Lebensstil mit Privatjet<br />
und der Vorliebe für schnelle Autos<br />
sieht man hier auch nicht so eng. Einer,<br />
der mit 17 Jahren die Schule abbricht und<br />
es schlitzohrig schafft, sich aus <strong>ein</strong>em Beamtenelternhaus<br />
nach oben zu arbeiten,<br />
genießt in Österreich Respekt.<br />
Selbst das Strafverfahren gegen<br />
ihn hat nur kl<strong>ein</strong>ere Kratzer auf Benkos<br />
Image hinterlassen. Im August<br />
wurde Benko wegen „verbotener Intervention“<br />
zu <strong>ein</strong>er Bewährungsstrafe<br />
von zwölf Monaten verurteilt, weil er<br />
und s<strong>ein</strong> Steuerberater den ehemaligen<br />
kroatischen Regierungschef Ivo Sanader<br />
mit 150 000 Euro bestochen haben<br />
sollen, wenn er Benko in Italien in <strong>ein</strong>er<br />
heiklen Steuerangelegenheit helfen<br />
würde. Sanader selbst hatte damals s<strong>ein</strong>en<br />
Kontakt zum italienischen Premier<br />
Silvio Berlusconi angeboten.<br />
S<strong>ein</strong>em Netzwerk haben die juristischen<br />
Aus<strong>ein</strong>andersetzungen nicht nachhaltig<br />
geschadet. Im Signa-Beirat sitzen<br />
der frühere österreichische Bundeskanzler<br />
Alfred Gusenbauer, <strong>ein</strong> Sozialdemokrat,<br />
und der ehemalige Porsche-Chef<br />
Wendelin Wiedeking.<br />
Die Anerkennung und Wertschätzung<br />
der Wichtigen und Reichen sind ihm<br />
wichtig. „Was er überhaupt nicht leiden<br />
kann, ist Neid“, sagt <strong>ein</strong> Wiener Immobilienexperte.<br />
Schlimmer findet er nur Forderungen<br />
nach Transparenz.<br />
Hans-Peter Siebenhaar arbeitet<br />
als Korrespondent für Österreich und<br />
Südosteuropa des Handelsblatts in Wien<br />
91<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Kapital<br />
Essay<br />
Aufbruch<br />
nach<br />
Sperenberg<br />
<strong>Der</strong> Bau des Hauptstadt-Airports zeigt, dass politische<br />
Kultur und Planungskultur nicht mehr kompatibel<br />
sind. Mutig wäre es, <strong>ein</strong>en neuen Flughafen zu bauen,<br />
ohne politische Einflussnahme<br />
Von FALK JAEGER<br />
92<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
93<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013<br />
Präferenz der Planer:<br />
Sie hätten den BER<br />
lieber hier gebaut –<br />
in Sperenberg
Kapital<br />
Essay<br />
Fotos: Massimo Rodari/Berliner Morgenpost (Seiten 92 bis 94)<br />
Den Weltrekord hält noch<br />
immer die Oper in Sydney.<br />
Beim Bau des inzwischen<br />
weltberühmten<br />
Wahrzeichens der australischen<br />
Metropole wurden die Kosten um<br />
1400 Prozent überschritten. Verglichen<br />
damit steht das Bauvorhaben des Flughafens<br />
Berlin-Brandenburg BER noch gut<br />
da. Nach aktuellen Schätzungen liegt<br />
das Projekt erst rund 300 Prozent über<br />
Plan. Gesetzt den Fall, dass der Flughafen<br />
tatsächlich 2015 in Betrieb geht<br />
und die jetzt veranschlagten Baukosten<br />
von 5,1 Milliarden Euro nicht noch weiter<br />
steigen.<br />
Trotzdem eignet sich der Bau des zukünftigen<br />
Hauptstadtflughafens als Lehrbeispiel<br />
dafür, dass das auf kurzfristige<br />
Erfolge ausgelegte Handeln der Politik<br />
und die langfristige Planung <strong>ein</strong>es komplexen<br />
Infrastrukturprojekts nicht mehr<br />
mit<strong>ein</strong>ander in Einklang zu bringen sind.<br />
Warum versagt der Staat als Bauherr?<br />
Warum schaffen wir es als Gesellschaft<br />
nicht mehr, solche Großprojekte zu stemmen?<br />
Wie kommt es immer wieder zu<br />
derart hohen Kostenüberschreitungen?<br />
Am Bau des BER kann man sehen,<br />
was man alles falsch machen kann, aber<br />
vielleicht auch aus den gemachten Fehlern<br />
für die Zukunft lernen.<br />
<strong>Der</strong> Urfehler wurde bereits bei der<br />
Wahl des Standorts begangen: Hätte man<br />
die Planer entscheiden lassen, wäre der<br />
Flughafen nicht in Schönefeld, sondern<br />
in Sperenberg gebaut worden. Unkomplizierte<br />
Baubedingungen, kaum betroffene<br />
Anwohner sowie die Möglichkeit,<br />
bei Bedarf <strong>ein</strong>e dritte Startbahn zu<br />
bauen, sprachen für den ehemaligen Militärflughafen,<br />
rund 60 Kilometer südlich<br />
von Berlin.<br />
Die Politik entschied sich für Schönefeld.<br />
Die Folgen sind gravierend:<br />
Nachtflugverbot, Flugroutenprobleme,<br />
Lärmschutz; die wichtigsten Planungsentscheidungen<br />
treffen Richter statt Architekten.<br />
All<strong>ein</strong> mit den 570 Millionen<br />
Euro, die der gerichtlich angeordnete<br />
Lärmschutz kostet, hätte die Schnellbahn<br />
nach Sperenberg bezahlt werden können.<br />
Schönefelds Zukunft ist dagegen<br />
schon vor der Eröffnung des BER verbaut.<br />
<strong>Der</strong> neue Flughafen wird vom Start weg<br />
an der Grenze s<strong>ein</strong>er Kapazität arbeiten,<br />
<strong>Der</strong> alte Tower in Sperenberg:<br />
Wird hier doch noch <strong>ein</strong> echter<br />
Hauptstadtflughafen errichtet?<br />
die bei 27 Millionen Passagieren pro Jahr<br />
liegt. Zum Vergleich: 2012 verzeichneten<br />
Tegel und Schönefeld zusammen bereits<br />
25 Millionen Menschen. Bei 33 Millionen<br />
Fluggästen ist endgültig Schluss.<br />
Mehr dürfen mit zwei Startbahnen nicht<br />
befördert werden, auch dies rechtskräftig<br />
vor Gericht entschieden.<br />
Die Planer wissen aber schon jetzt:<br />
Eine dritte Startbahn oder <strong>ein</strong> neuer<br />
Flughafen muss her, eigentlich schon in<br />
fünf Jahren. Eine dritte Startbahn ist in<br />
Schönefeld politisch nicht durchsetzbar.<br />
Folglich müssen das Raumordnungsverfahren<br />
und die Planungen für <strong>ein</strong>en<br />
neuen Flughafen in Sperenberg sofort beginnen.<br />
Aber wo sind die Politiker, die<br />
bereit wären, <strong>ein</strong> solches Projekt überhaupt<br />
nur anzustoßen?<br />
Politische und planerische Agenda<br />
sind nicht mehr kompatibel. Wenn sich<br />
die brandenburgische Landesregierung<br />
urplötzlich für <strong>ein</strong> Nachtflugverbot<br />
94<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
DAS GANZE SEHEN –<br />
MIT DER NEUEN CAPITAL<br />
JETZT<br />
IM<br />
HANDEL<br />
Wirtschaft muss anders erzählt werden. Mit überraschenden<br />
Perspektiven, hochwertiger Optik und großen Reportagen.<br />
Denn die Welt der Wirtschaft hat sich verändert. Capital auch.<br />
Ebenfalls neu: Die Capital iPad App und www.capital.de
Kapital<br />
Essay<br />
Foto: Marc-Steffen Unger/bilderrepublik.de<br />
<strong>ein</strong>setzt, mag das im Hinblick auf die<br />
Landtagswahl im kommenden Herbst politisch<br />
opportun ersch<strong>ein</strong>en, mit der langfristigen<br />
Planung und dem wirtschaftlichen<br />
Betrieb des Flughafens ist es nicht<br />
ver<strong>ein</strong>bar. Wenn der BER statt 19 nur<br />
17 Stunden am Tag angeflogen werden<br />
kann, verringert sich die Betriebszeit um<br />
stattliche 11 Prozent. Es fehlen dadurch<br />
Möglichkeiten, den Flugbetrieb zu entzerren.<br />
Berlin bliebe so auch in Zukunft<br />
unattraktiv für die Fernverbindungen internationaler<br />
Fluggesellschaften, bei denen<br />
es häufiger zu Verspätungen kommt.<br />
Einen Hauptstadt-Airport, der mangels<br />
Flexibilität die Erreichbarkeit nicht garantieren<br />
kann, werden sie auch in Zukunft<br />
nicht anfliegen.<br />
<strong>Der</strong> Chef <strong>ein</strong>er Flughafengesellschaft<br />
wird aufgrund solcher Fehlentscheidungen<br />
ausgewechselt. Das planerische System<br />
verlangt das so. Gleichzeitig behalten<br />
aber die Politiker ihre Sitze im<br />
Aufsichtsrat, obwohl sie erwiesenermaßen<br />
persönlich ebenfalls für diese eklatanten<br />
Fehlentscheidungen verantwortlich<br />
sind. Ihr Schicksal unterliegt nicht<br />
planerischen, sondern politischen Entscheidungsmechanismen.<br />
Kann die Partei<br />
s<strong>ein</strong>en Rücktritt zum gegenwärtigen<br />
Zeitpunkt der Legislaturperiode verkraften?<br />
Steht <strong>ein</strong> Nachfolger parat? Wie<br />
sind die Erfolgsaussichten bei der nächsten<br />
Wahl ohne ihn?<br />
Wären beim Flughafen BER vor Jahresfrist<br />
alle Fakten auf <strong>ein</strong>en Schlag auf<br />
den Tisch gekommen, <strong>ein</strong> Tsunami der<br />
öffentlichen Empörung hätte den Flughafenvorstand<br />
und die Politiker an der<br />
Spitze des Aufsichtsrats aus allen Ämtern<br />
gefegt. Wer Baustopps und Kostensteigerungen<br />
in Milliardenhöhe zu verantworten<br />
hat, gehört auf die Anklage-,<br />
nicht auf die Regierungsbank.<br />
Aber Berlins Regierendem Bürgermeister<br />
Klaus Wowereit, Matthias<br />
Platzeck, dem inzwischen aus gesundheitlichen<br />
Gründen zurückgetretenen<br />
Ministerpräsidenten aus Brandenburg,<br />
sowie Bundesverkehrsminister Peter<br />
Ramsauer und dessen Staatssekretär<br />
Rainer Bomba gelang es immer wieder,<br />
die Wogen zu glätten, abzutauchen, abzuwarten,<br />
Fehler zu verschleiern oder<br />
Entschlossenheit zu simulieren.<br />
Milliardengrab BER: Die Kosten<br />
des neuen Hauptstadtflughafens<br />
liegen 300 Prozent über Plan<br />
In der Krise nahm Wowereit das<br />
„Heft des politischen Handelns“ in die<br />
Hand, bewies vor den Fernsehkameras<br />
Tatkraft und entließ kurzerhand die<br />
Architekten samt Projektwissen von<br />
300 Planern. Als die Sache schiefging,<br />
trat er in die Deckung des Gremiums zurück:<br />
<strong>Der</strong> gesamte Aufsichtsrat habe das<br />
beschlossen. Persönliche Konsequenzen<br />
Wowereits? K<strong>ein</strong>e!<br />
Auch die verschleppte Entlassung<br />
des Flughafenchefs Rainer Schwarz war<br />
<strong>ein</strong> politisch genialer Schachzug Wowereits.<br />
Als Aufsichtsratsvorsitzender übernahm<br />
Wowereit die Verantwortung, allerdings<br />
nur durch den kl<strong>ein</strong>stmöglichen<br />
Rücktritt, <strong>ein</strong>er Rochade an der Spitze<br />
des Aufsichtsrats. Wowereit selbst war als<br />
neuer stellvertretender Vorsitzender aus<br />
der Schusslinie, aber weiter am Drücker,<br />
Platzeck konnte als neuer Aufsichtsratschef<br />
mit mehr B<strong>ein</strong>freiheit agieren. Die<br />
Beschwichtigungstaktik funktionierte so<br />
96<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Ihr Sparpaket:<br />
Samsung Tablet mit<br />
Tagesspiegel E-Paper<br />
für nur 19 ¤ im Monat. *<br />
Sichern Sie sich Ihr Sparpaket<br />
zum <strong>ein</strong>maligen Vorzugspreis:<br />
· Samsung Galaxy Tab 3, 16 GB, WiFi<br />
· Tagesspiegel E-Paper<br />
· Tagesspiegel-App für Android<br />
· Hardcase im Wert von 34,99 ¤<br />
gratis dazu – für alle Besteller<br />
bis zum 31. Dezember 2013!<br />
Für nur 19 ¤ im Monat! *<br />
Ihr<br />
Geschenk:<br />
Das Hardcase zu<br />
Ihrem Samsung<br />
Galaxy Tab !<br />
Gleich bestellen:<br />
Telefon (030) 290 21-500<br />
www.tagesspiegel.de/tablet-cicero<br />
* Einmalige Zuzahlung für das Samsung Galaxy Tab 3, 16 GB, Wi-Fi, 10,1" in weiß: 99,– €. Die Mindestvertragslaufzeit beträgt 24 Monate. Nach Ablauf der Mindestlaufzeit gilt der dann gültige Preis für das<br />
E-Paper (zzt. 17,20 € monatlich). Preise inkl. MwSt. Das Digitalpaket enthält den E-Paper-Preis von 17,20 € im Monat. <strong>Der</strong> Kauf des Tablet steht unter Eigentumsvorbehalt innerhalb der ersten 2 Jahre. Die<br />
Garantie für das Tablet beläuft sich auf <strong>ein</strong> Jahr. Mit vollständiger Zahlung des Bezugspreises für die Mindestvertragslaufzeit geht das Eigentum am Tablet an den Käufer über. Es gelten die unter tagesspiegel.de/bundle-agb<br />
veröffentlichten AGB. Die <strong>ein</strong>malige Zuzahlung wird bei Lieferung des Gerätes fällig. Zusätzlich zur Zahlung werden 2,– € Nachentgelt erhoben. Nur so lange der Vorrat reicht.
Drei Monate<br />
<strong>Cicero</strong> Probe lesen<br />
Ich möchte <strong>Cicero</strong> zum Vorzugspreis von 18,– EUR* kennenlernen!<br />
Bitte senden Sie mir die nächsten drei <strong>Cicero</strong>-Ausgaben für 18,– EUR* frei Haus. Wenn mir <strong>Cicero</strong> gefällt, brauche ich nichts weiter<br />
zu tun. Ich erhalte <strong>Cicero</strong> dann monatlich frei Haus zum Vorzugspreis von zurzeit 7,75 EUR pro Ausgabe inkl. MwSt. (statt 8,50 EUR<br />
im Einzelverkauf). Falls ich <strong>Cicero</strong> nicht weiterlesen möchte, teile ich Ihnen dies innerhalb von zwei Wochen nach Erhalt der dritten<br />
Ausgabe mit. Verlagsgarantie: Sie gehen k<strong>ein</strong>e langfristige Verpflichtung <strong>ein</strong> und können das Abonnement jederzeit kündigen. <strong>Cicero</strong> ist<br />
<strong>ein</strong>e Publikation der Ringier Publishing GmbH, Friedrichstraße 140, 10117 Berlin, Geschäftsführer Michael Voss. *Angebot und Preise<br />
gelten im Inland, Auslandspreise auf Anfrage.<br />
Vorname<br />
Name<br />
Straße<br />
PLZ<br />
Vorzugspreis<br />
Mit <strong>ein</strong>em Abo sparen<br />
Sie über 10 % gegenüber<br />
dem Einzelkauf.<br />
Telefon<br />
Ohne Risiko<br />
Sie gehen k<strong>ein</strong> Risiko <strong>ein</strong><br />
und können Ihr Abonnement<br />
jederzeit kündigen.<br />
Ort<br />
E-Mail<br />
JETZT<br />
TESTEN!<br />
3 x <strong>Cicero</strong> nur<br />
18,– EUR*<br />
Geburtstag<br />
Hausnummer<br />
<strong>Cicero</strong><br />
zur Probe<br />
Mehr Inhalt<br />
Demnächst monatlich mit<br />
Literaturen und zweimal<br />
im Jahr als Extra-Beilage.<br />
Ich bin <strong>ein</strong>verstanden, dass <strong>Cicero</strong> und die Ringier Publishing GmbH mich per Telefon oder E-Mail über interessante Angebote des Verlags<br />
informieren. Vorstehende Einwilligung kann durch das Senden <strong>ein</strong>er E-Mail an abo@cicero.de oder postalisch an den <strong>Cicero</strong>-Leserservice,<br />
20080 Hamburg, jederzeit widerrufen werden.<br />
Anzeige<br />
gut, dass Wowereit nach dem Rücktritt<br />
s<strong>ein</strong>es Nachfolgers Platzeck automatisch<br />
wieder den vorläufigen Vorsitz <strong>ein</strong>nehmen<br />
konnte, unter dem Achselzucken der<br />
Öffentlichkeit.<br />
<strong>Der</strong> Bildungsforscher Gerd Gigerenzer<br />
nennt <strong>ein</strong> solches politisches Verhalten<br />
„defensives Entscheiden“. Entschieden<br />
wird nicht, was der Sache dient,<br />
sondern was das persönliche Risiko<br />
minimiert.<br />
Defensive Entscheider gibt es aber<br />
auch auf der Planungsseite. <strong>Horst</strong> Amann,<br />
der Technikchef der Flughafengesellschaft,<br />
beschäftigt sich, seitdem er im<br />
Amt ist, mit für ihn risikolosen Bestandsaufnahmen.<br />
Nach über<strong>ein</strong>stimmendem<br />
Urteil vieler derzeit am Bau Beteiligter<br />
fehlt ihm, dem Tiefbauer, die notwendige<br />
Managementkompetenz. S<strong>ein</strong> Vorgesetzter,<br />
der als Feuerwehrmann geholte Ex-<br />
Bahn- und Ex-Air-Berlin-Chef Hartmut<br />
Mehdorn, hat dies rasch erkannt und will<br />
ihn auswechseln. Amanns Unterstützer<br />
sitzen im Bundesverkehrsministerium.<br />
Staatssekretär Bomba hat Amann installiert,<br />
dessen Ablösung würde ihm politisch<br />
schaden.<br />
<strong>Der</strong> Unsinn hat Methode. Kaum <strong>ein</strong><br />
öffentliches Bauvorhaben geht mit <strong>ein</strong>em<br />
realistischen Kostenansatz in die<br />
politische Diskussion. Das ist k<strong>ein</strong> typisch<br />
deutsches Phänomen. Bent Flyvbjerg,<br />
Professor für Planungswesen in Oxford,<br />
hat mehr als 250 Großprojekte, die<br />
weltweit realisiert wurden, untersucht.<br />
Bei neun von zehn dieser Projekte wurden<br />
die vorher budgetierten Kosten überschritten,<br />
im Schnitt um <strong>ein</strong> Drittel. Das<br />
Problem besteht fast immer darin, dass<br />
Kosten und Bauzeit kl<strong>ein</strong>gerechnet werden<br />
und gleichzeitig der wirtschaftliche<br />
Nutzen viel zu optimistisch dargestellt<br />
wird. Flyvbjerg besch<strong>ein</strong>igt den Politikern<br />
dabei „<strong>ein</strong>e kognitive Verzerrung<br />
der Wahrnehmung der Realität“. Auch<br />
die Planer spielen das Spiel mit, weil<br />
<strong>ein</strong> unverzerrtes Angebot k<strong>ein</strong>e Chance<br />
hätte, den Zuschlag zu erhalten.<br />
Datum<br />
Jetzt direkt bestellen!<br />
Telefon: 030 3 46 46 56 56<br />
Telefax: 030 3 46 46 56 65<br />
E-Mail: abo@cicero.de<br />
Online: www.cicero.de/abo<br />
<strong>Cicero</strong>-Leserservice<br />
20080 Hamburg<br />
Bestellnr.: 943167<br />
Unterschrift<br />
Kann von der Gesellschaft erwartet<br />
werden, dass sie die ständige Kostenüberschreitung<br />
akzeptiert? Sie fatale<br />
Fehlentscheidungen der politisch Verantwortlichen<br />
klaglos hinnimmt? Weil man<br />
den Politikern nicht vorwerfen kann,<br />
dass der Bau <strong>ein</strong>es Flughafens in s<strong>ein</strong>er
WEDDING<br />
SCHÖNEBERG<br />
LICHTENRADE<br />
Entfernungskarte<br />
BERLIN<br />
BLANKENFELDE<br />
RANGSDORF<br />
GLIENICK<br />
SCHÖNEFELD<br />
treptow<br />
WALTERSDORF<br />
KÖNIGS<br />
WUSTERHAUSEN<br />
MOTZEN<br />
braucht s<strong>ein</strong>e Zeit. Zeit, die die Politik<br />
oft nicht hat. Es darf aber nicht s<strong>ein</strong>, dass<br />
komplexe, länger dauernde Bauvorhaben,<br />
die fast immer mehr als <strong>ein</strong>e Legislaturperiode<br />
in Anspruch nehmen, durch Politiker<br />
im Ablauf gestört werden.<br />
Nüchternen Pragmatismus könnten<br />
sie sich bei Hartmut Mehdorn abgucken.<br />
<strong>Der</strong> jetzige Flughafenchef ist <strong>ein</strong> wunderbarer<br />
Protagonist des planerischen<br />
Systems. Dass er vor Jahren in s<strong>ein</strong>er<br />
Funktion als Bahnchef mit dem Flughafenarchitekten<br />
M<strong>ein</strong>hard von Gerkan<br />
beim Bau des Berliner Hauptbahnhofs<br />
im Clinch lag, kümmert ihn heute wenig.<br />
Werden die Architekten gebraucht,<br />
um den Flughafen zu Ende zu bauen, holt<br />
er sie eben wieder ins Boot. Persönliche<br />
Befindlichkeiten haben in der Planung<br />
nichts zu suchen, das weiß Mehdorn.<br />
Anzeige<br />
Für alle, die es wissen wollen.<br />
Wie<br />
stark ist<br />
schwach?<br />
Grafik: <strong>Cicero</strong><br />
MELLENSEE<br />
SPERENBERG<br />
Berlin<br />
Berlin<br />
wunsdorf<br />
Schönefeld 21 km<br />
Sperenberg 60 km<br />
Komplexität von der Politik nicht mehr<br />
gemeistert werden kann? Weil Planungskultur<br />
und politische Kultur nicht mehr<br />
zur Deckung gebracht werden können?<br />
Sicher nicht, Flyvbjerg schlägt vor,<br />
dass die Teilnehmer öffentlicher Ausschreibungen<br />
die Mehrkosten, die bei<br />
vergleichbaren, bereits realisierten Bauprojekten<br />
entstanden sind, in ihre Kostenvoranschläge<br />
<strong>ein</strong>rechnen müssen. In<br />
Großbritannien ist dies bereits erfolgreich<br />
ausprobiert worden. Die Prognose<br />
der Kosten kann dadurch verbessert,<br />
von vornher<strong>ein</strong> unsinnige Projekte<br />
schon in der Ausschreibungsphase beendet<br />
werden.<br />
Mindestens genauso wichtig ist es<br />
aber, dass beim Bau das planerische Handeln<br />
über das politische gestellt werden<br />
muss. Kurzfristiger politischer Aktionismus<br />
ist bei komplexen Infrastrukturprojekten<br />
fehl am Platze. Nicht umsonst<br />
heißt der planerische Grundsatz: „Erst<br />
die Pläne, dann die Kräne.“ Bauen ohne<br />
endgültige Pläne ist wie Fliegen, ohne zu<br />
wissen, wo man landen könnte. Bauen<br />
Die Politik hingegen ist dazu nicht<br />
in der Lage. Die noch immer prekären<br />
Verhältnisse in der Flughafengesellschaft<br />
und im Planungsprozess schreien<br />
nach planerischen und personalpolitischen<br />
Konsequenzen. Solange es Agierende<br />
gibt, die mehr Interesse daran haben,<br />
ihre bisherigen Fehler zu vertuschen,<br />
wird das gem<strong>ein</strong>same Ziel aber nicht mit<br />
allen Kräften angestrebt werden.<br />
Beim Management von Großprojekten<br />
sind Politiker Laiendarsteller<br />
mit Kurzzeitengagement. Um künftig<br />
Großprojekte stemmen zu können, muss<br />
der Staat politikferne Strukturen aufbauen.<br />
Privatwirtschaftlich organisierte<br />
Baumanagementbüros, erfahren bei der<br />
Errichtung internationaler Großprojekte,<br />
müssen den Bauunternehmern, Architekten<br />
und Planern als kompetenter Auftraggeber<br />
gegenübersitzen und auch juristisch<br />
Paroli bieten können.<br />
In die Vorstände und Aufsichtsräte<br />
solcher Büros gehören Fachleute, die <strong>ein</strong>e<br />
wirksame Kontrolle ausüben können.<br />
Denn dass die Berliner Flughafengesellschaft<br />
dem Aufsichtsrat die Planungsmisere<br />
lange Jahre verschwiegen hat, entschuldigt<br />
Wowereit, Platzeck und Bomba<br />
in k<strong>ein</strong>er Weise. Es dokumentiert vielmehr<br />
deren epochales Versagen.<br />
Falk Jaeger ist Architekturkritiker<br />
und hat das Planungsdesaster um den<br />
neuen Berliner Flughafen von Anfang<br />
an publizistisch begleitet<br />
Wenn David auf Goliath trifft, hat er die<br />
Wahl: Spielt er nach dessen Regeln,<br />
verliert er. Bricht er die Regeln der Macht,<br />
zwingt er den Riesen in die Knie. Kultautor<br />
Malcolm Gladwell zeigt: Underdogs sind<br />
Gewinner! Weil Triumph k<strong>ein</strong>e Frage der<br />
Größe, sondern der inneren Haltung ist.<br />
2013. 256 Seiten. Gebunden,<br />
inklusive E-Book, € 19,99<br />
Auch separat als E-Book<br />
und Hörbuch erhältlich<br />
QR-Code zu der Leseprobe<br />
http://tinyqr.com/4p<br />
99<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Kapital<br />
Kommentar<br />
Bankers Wahrheit<br />
Von H<strong>ein</strong>z-Roger Dohms<br />
Wenn Banken stärker reguliert werden, können sie angeblich<br />
nicht mehr so viele Kredite vergeben. Stimmt das?<br />
Die Finanzindustrie postuliert <strong>ein</strong>e Wahrheit, die gar k<strong>ein</strong>e ist.<br />
Sie wird von Bankmanagern und Branchenvertretern verbreitet,<br />
durchzieht Reden und Interviews, findet sich in Studien<br />
und Aufsätzen, prägt die öffentliche M<strong>ein</strong>ung und be<strong>ein</strong>flusst<br />
das politische Handeln – sie lautet:<br />
Je höher die vorgeschriebene Eigenkapitalquote ist, desto<br />
weniger Kredite können die Banken vergeben. Das führt zu geringerem<br />
Wachstum und höherer Arbeitslosigkeit.<br />
Mit welcher Chuzpe dies propagiert wird, zeigt sich<br />
daran, dass die Banken so tun, als handle es sich gar nicht um<br />
<strong>ein</strong>e These – sondern um <strong>ein</strong>en Fakt. Nehmen wir als Beispiel<br />
die wohl <strong>ein</strong>flussreichste Untersuchung dazu. Sie wurde im<br />
Juni 2010 vom Institute of International Finance, dem globalen<br />
Lobbyverband der Finanzbranche, präsentiert und begann so:<br />
„In den vergangenen Monaten sind etliche Reformvorschläge<br />
zur Regulierung der globalen Bankenindustrie vorgelegt<br />
worden. Die herrschende M<strong>ein</strong>ung ist, dass der ökonomische<br />
Preis für diese Reformen, wie hoch er auch s<strong>ein</strong><br />
mag, gezahlt werden muss – damit der Ausbruch künftiger<br />
Krisen weniger wahrsch<strong>ein</strong>lich wird; oder zumindest deren<br />
ökonomische Folgekosten geringer ausfallen. Es ist nicht Ziel<br />
dieses Berichts, sich grundsätzlich gegen tiefgreifende Reformen<br />
zu stellen. Stattdessen geht es uns darum, die Kosten<br />
dieser Reformen zu berechnen, zum <strong>ein</strong>en in Bezug auf das<br />
Bruttoinlandsprodukt, zum anderen in Bezug auf verlorene<br />
Arbeitsplätze.“<br />
<strong>Der</strong> Zielkonflikt zwischen Bankenstabilität und Wirtschaftswachstum<br />
wird als gegeben vorausgesetzt. All<strong>ein</strong><br />
die quantitativen Folgen gelte es zu kalkulieren. Das Ergebnis<br />
der Untersuchung lautet: Die Bankenregulierung vernichte<br />
weltweit zehn Millionen Jobs und koste all<strong>ein</strong> in Europa<br />
fast 5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Aber gibt es diesen<br />
Zielkonflikt wirklich? Müssen wir die Banken in Ruhe lassen,<br />
um Millionen von Menschen vor der Arbeitslosigkeit zu<br />
bewahren?<br />
In der Regulierungsdebatte geht es im Kern um die Eigenkapitalquote<br />
– das heißt um die Frage, über wie viel eigenes<br />
Geld <strong>ein</strong>e Bank gemessen an ihren Risiken verfügen muss. Es<br />
gab <strong>ein</strong>mal Zeiten, da lag diese Quote bei mehr als 15 Prozent.<br />
Illustration: Florian <strong>Bayer</strong><br />
100<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Wenn sich alle<br />
<strong>ein</strong>ig sind, fangen<br />
wir an zu zweifeln.<br />
SPIEGEL-Leser wissen mehr.
Kapital<br />
Kommentar<br />
Einen Konflikt zwischen<br />
Eigenkapitalquote und<br />
Kreditversorgung, also<br />
zwischen Bankenstabilität<br />
und Wirtschaftswachstum<br />
gibt es gar nicht<br />
In heutiger Währung ausgedrückt, gehörten den Banken von<br />
100 Euro, die sie verliehen, also immerhin 15 Euro selbst, zum<br />
Beispiel in Form ausgegebener Aktien oder <strong>ein</strong>behaltener Gewinne.<br />
Die übrigen 85 Euro liehen sich die Institute ihrerseits,<br />
etwa von Sparern oder Anleihegläubigern.<br />
Bis 2007, also bis zu den Anfängen der Finanzkrise, sank<br />
dieses Verhältnis dramatisch von 15 : 85 auf 3 : 97. Nur noch<br />
3 Prozent ihrer Risiken trugen die Banken mit eigenem Geld,<br />
die übrigen 97 Prozent borgten sie sich. Das bedeutet: Die Risiken,<br />
also die Kredite, brauchten nur 3 Prozent an Wert zu verlieren<br />
– und schon drohte die Insolvenz der Geldinstitute. Genau<br />
deshalb fielen Banken 2007 und 2008 gleich reihenweise<br />
um. Sie hatten nicht genügend Eigenkapital, um Kreditausfälle<br />
ausgleichen zu können.<br />
Daher leuchtet es nicht <strong>ein</strong>, warum die Eigenkapitalquoten<br />
der Banken auch in Zukunft so viel niedriger s<strong>ein</strong> sollen als die<br />
der Unternehmen, die sie finanzieren. Bei den Dax-Unternehmen<br />
hat sie sich von 2007 bis 2012 auf rund 35 Prozent verbessert.<br />
„Falls diese Zahl himmelschreiend kl<strong>ein</strong> ersch<strong>ein</strong>t, liegt<br />
das daran, dass sie himmelschreiend kl<strong>ein</strong> ist“, schreiben die<br />
Ökonomen Martin Hellwig und Anat Admati in ihrem gerade<br />
auf Deutsch erschienenen Buch „Des Bankers neue Kleider“.<br />
Die Banken versuchen trotzdem weiter in dicken Studien<br />
darzulegen, dass bereits <strong>ein</strong>e minimale Erhöhung dieser Quote<br />
die Vernichtung von Millionen Jobs zur Folge hat. Die Finanzindustrie<br />
sagt, sie arbeite lieber mit Fremdkapital, weil Fremdkapital<br />
billig sei. Entsprechend günstige Kredite könne sie den<br />
Unternehmen gewähren, zum Wohle des Arbeitsmarkts. Aus<br />
volkswirtschaftlicher Perspektive gelte deshalb folgende Prämisse:<br />
So viel Fremdkapital wie möglich. Und nicht mehr Eigenkapital<br />
als nötig.<br />
Die Lobbyarbeit der Banken war bisher erfolgreich. Die<br />
Öffentlichkeit hat ihre Sichtweise übernommen. In den Medien<br />
wird der Begriff „Eigenkapital“ inzwischen fast immer<br />
mit dem Verb „vorhalten“ verbunden. Dabei ist das Quatsch.<br />
K<strong>ein</strong>e Bank „hält Eigenkapital vor“. Eigenkapital ist k<strong>ein</strong>e Reserve,<br />
die brachliegt und droht, im Tresor zu vergammeln. Es<br />
fließt genauso wie das Fremdkapital in Kredite, die der Realwirtschaft<br />
zugutekommen.<br />
Nun gut, sagen die Banker – aber trotzdem ist Eigenkapital<br />
teuer, jedenfalls teurer als Fremdkapital. Tatsächlich verbindet<br />
der Aktionär (Eigenkapital) mit s<strong>ein</strong>em Investment <strong>ein</strong>e<br />
höhere Renditeerwartung als der Anleihegläubiger (Fremdkapital)<br />
– schließlich trägt er auch <strong>ein</strong> höheres Verlustrisiko, weil<br />
das Eigenkapital bei Kreditausfällen als Erstes herangezogen<br />
wird. Aber die extremen Kostenunterschiede zwischen Eigenund<br />
Fremdkapital sind, anders als es die Banken darstellen,<br />
<strong>ein</strong> Argument für höheres Eigenkapital. Denn Fremdkapital<br />
ist vor allem deshalb so billig, weil es subventioniert wird –<br />
etwa indem der Staat explizit für die Einlagen der Sparer <strong>ein</strong>steht<br />
und implizit auch die Anleihegläubiger absichert. Deswegen<br />
hat er Banken wie die Hypo Real Estate und viele andere<br />
in der Krise gerettet.<br />
Das Eigenkapital hingegen ist für die Banken gerade deshalb<br />
so teuer, weil sie so wenig davon halten. Teilt man das<br />
Verlustrisiko nämlich durch drei Aktionäre, dann ist das Risiko<br />
für den <strong>ein</strong>zelnen größer, als wenn es sich auf 15 Aktionäre<br />
verteilt. Dieses Risiko lassen sich die Aktionäre von der<br />
Bank bisher durch höhere Renditen bezahlen.<br />
Mit steigender Menge müsste sich das Eigenkapital eigentlich<br />
verbilligen. Eine dadurch stabilere Bank kann sich aber<br />
auch das Fremdkapital billiger besorgen, weil die Sparer ihr<br />
Geld lieber dorthin bringen.<br />
Den Zielkonflikt zwischen Eigenkapitalquote und Kreditversorgung,<br />
also zwischen Bankenstabilität und Wirtschaftswachstum,<br />
gibt es gar nicht.<br />
Dies belegen inzwischen auch empirische Studien: Die<br />
Bank of England veröffentlichte kürzlich <strong>ein</strong>e Analyse, die<br />
zeigt, dass 2012 ausgerechnet jene europäischen Banken ihre<br />
Darlehensvergabe am stärksten ausweiteten, die über die höchsten<br />
Eigenkapitalquoten verfügten – und umgekehrt. „<strong>Der</strong> Zusammenhang<br />
ist eklatant“, sagte Mark Carney, Großbritanniens<br />
neuer Notenbankchef. Zu <strong>ein</strong>em ähnlichen Ergebnis kamen<br />
im Sommer Forscher des Internationalen Währungsfonds. Sie<br />
fanden heraus, dass es gerade die Banken mit viel Eigenkapital<br />
sind, die die Wirtschaft auch in schwierigen Zeiten mit Krediten<br />
versorgen.<br />
Ja, aber – sagen die Banker nun: Wo sollen wir denn all das<br />
frische Eigenkapital herholen? Gerade in Krisenzeiten investiert<br />
doch niemand in uns. Doch stimmt das? Zwischen 1980<br />
und 2007, also in den fetten Jahren der Finanzindustrie, hätten<br />
die großen US-Banken nur sieben Kapitalerhöhungen vorgenommen.<br />
Seit 2007 hingegen waren es schon 18, die Kapitalinfusionen<br />
durch den Staat nicht <strong>ein</strong>gerechnet. Es geht also<br />
offenkundig eher ums Wollen als ums Können.<br />
Doch warum wollen die Banken nicht? Nicht nur der Verlust<br />
ist, aufgeteilt auf drei Aktionäre, größer, als wenn man ihn<br />
auf 15 Aktionäre verteilt – auch der Gewinn. Je weniger eigenes<br />
Geld die Banken <strong>ein</strong>setzen müssen, desto höher liegen<br />
die eigenen Renditen. Von Banken, denen es nur darum geht,<br />
ihre Gewinne zu maximieren, hat die Realwirtschaft allerdings<br />
nichts. Das ist <strong>ein</strong>e Wahrheit, die die Bankenindustrie der Öffentlichkeit<br />
aber am liebsten verschweigt.<br />
H<strong>ein</strong>z-Roger Dohms beobachtet als Finanzjournalist seit<br />
Jahren die Bankenszene in Frankfurt<br />
102<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Stil<br />
„ Mama mochte<br />
New York, hier riefen<br />
ihr die Frauen auf der<br />
Straße ‚I love you!‘ zu und<br />
gingen <strong>ein</strong>fach weiter “<br />
Isabella Rossellini über ihre Mutter, die Schauspielerin Ingrid Bergman.<br />
Sie hat ihr <strong>ein</strong>en Bildband gewidmet, Seite 112<br />
103<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Stil<br />
Porträt<br />
Die Früchte des Roth<br />
Den besten W<strong>ein</strong> an Amerikas Ostküste macht <strong>ein</strong> deutscher Winzer. So ist es auch<br />
Roman Roths Verdienst, dass Long Island inzwischen als anerkanntes Anbaugebiet gilt<br />
Von Jürgen Kalwa<br />
Foto: Bill Milne<br />
<strong>Der</strong> Hauptgang war abgeräumt, und<br />
die Dinnergäste warteten aufs<br />
Dessert. Da setzte sich <strong>ein</strong>er der<br />
Gäste an den Flügel, der im American<br />
Hotel in Sag Harbor mitten im Restaurant<br />
steht, und stachelte die zentrale Figur des<br />
Abends an. Roman Roth solle doch aus<br />
dem Stegreif <strong>ein</strong> paar alte deutsche W<strong>ein</strong>lieder<br />
zum Besten geben.<br />
Zuvor hatte der Deutsche, der heute<br />
als bester Winzer an der Ostküste der<br />
USA gilt, beim Degustationsmenü vor jedem<br />
Gang routiniert die Facetten s<strong>ein</strong>er<br />
W<strong>ein</strong>e ausgeführt. Doch wer verwöhnten<br />
Amerikanern etwas verkaufen will, muss<br />
sich als Entertainer betätigen. Glücklicherweise<br />
hat der ehemalige Chorknabe<br />
aus Rottweil, <strong>ein</strong>er Stadt zwischen<br />
Schwarzwald und Schwäbischer Alb, das<br />
richtige Talent für solche Augenblicke. Er<br />
singt mit <strong>ein</strong>em Tenor, der so viel Körper<br />
hat wie s<strong>ein</strong> bester Merlot.<br />
Nicht zuletzt durch Roths Pionierleistung<br />
ist die Region Long Island im<br />
vergangenen Jahrzehnt zum ernst zu<br />
nehmenden W<strong>ein</strong>anbaugebiet geworden.<br />
Anfang der Neunziger heuerte der<br />
ehemalige Geselle <strong>ein</strong>er badischen Winzergenossenschaft<br />
bei Christian Wölffer<br />
an, <strong>ein</strong>em Hamburger Unternehmer,<br />
der sich in den Kopf gesetzt hatte, auf<br />
s<strong>ein</strong>er Farm in Bridgehampton im Staat<br />
New York W<strong>ein</strong> anzubauen. Durch s<strong>ein</strong>e<br />
Arbeit im Keller von Wölffer Estate hat<br />
Roth seither den Stil der W<strong>ein</strong>e der Region<br />
geprägt, als Kontrastprogramm zu<br />
opulenten und fruchtbetonten W<strong>ein</strong>en<br />
aus Kalifornien. „Es ist kühler im Sommer<br />
auf Long Island“, sagt er, was am Atlantik<br />
liege. „Das sorgt für Eleganz und<br />
Lebendigkeit.“<br />
Die ehemaligen Kartoffeläcker, die<br />
inzwischen zum Wölffer Estate gehören,<br />
liegen in Sagaponack, <strong>ein</strong>em Dorf,<br />
das den Hamptons zugerechnet wird,<br />
dem idyllischen Sommerkosmos wohlhabender<br />
New Yorker. In den Fünfzigern<br />
und Sechzigern mischten sich hier<br />
zuerst die Schriftsteller unter die Bauern<br />
und Fischer, da schöne Holzhäuser<br />
nah am Meer damals für weniger als<br />
50 000 Dollar zu haben waren. Truman<br />
Capote kam, um s<strong>ein</strong>em anstrengenden<br />
New Yorker Gesellschaftsleben zu entfliehen.<br />
Kurt Vonnegut lebte bis zu s<strong>ein</strong>em<br />
Tod in Sagaponack. <strong>Der</strong> legendäre<br />
James Salter hat hier draußen <strong>ein</strong>en großen<br />
New-York-Roman geschrieben, der<br />
gerade auf Deutsch unter dem Titel „Alles,<br />
was ist“ veröffentlicht wurde.<br />
Heute hingegen ist es k<strong>ein</strong> Problem,<br />
in Sagaponack mehr als 50 Millionen<br />
Dollar für <strong>ein</strong> Haus auszugeben.<br />
Die Hedgefondsmanager und Goldman-Sachs-Partner<br />
haben den <strong>ein</strong>st verschlafenen<br />
Ort entdeckt, was manche bedauern,<br />
da sie die gelben Ferraris und oft<br />
mehr als tausend Quadratmeter großen<br />
Villen als geschmacklos empfinden – was<br />
aber zweifellos gut für die örtlichen Winzer<br />
ist, da auf den Festen der Geldelite<br />
mehr getrunken wird als auf den Terrassen<br />
der Schriftsteller.<br />
Trank man bis vor etwa <strong>ein</strong>em Jahrzehnt<br />
den örtlichen W<strong>ein</strong> nur gelegentlich<br />
aus ironisch-fatalistischem Lokalpatriotismus,<br />
ist er hier draußen nun sehr<br />
begehrt. <strong>Der</strong> Durchbruch, bei dem die<br />
Wölffer-W<strong>ein</strong>e der Region den Weg ebneten,<br />
ist hart erarbeitet. Roth erinnert<br />
sich noch, wie er von New Yorker Sommeliers<br />
rüde abgewimmelt wurde: „Die<br />
Leute wollten W<strong>ein</strong> aus Long Island nicht<br />
mal probieren.“ Heute ist das anders. Für<br />
s<strong>ein</strong>en Spitzenw<strong>ein</strong>, den streng limitierten<br />
Merlot „Christian’s Cuvee“, nach<br />
Gutsgründer Christian Wölffer benannt,<br />
verlangt Roth 100 Dollar die Flasche, <strong>ein</strong>e<br />
Rekordmarke für W<strong>ein</strong>e aus dem Staat<br />
New York – was s<strong>ein</strong>e Kunden nicht<br />
abschreckt: „Sie sind eher stolz, dass<br />
New York <strong>ein</strong>en solchen W<strong>ein</strong> produziert.“<br />
Christian Wölffer starb am Silvesterabend<br />
2008 bei <strong>ein</strong>em Bootsunfall<br />
vor der brasilianischen Küste. Doch s<strong>ein</strong><br />
Long-Island-Imperium, zu dem noch<br />
<strong>ein</strong>e Reitanlage und Pferdeställe gehören,<br />
floriert unter Roths Leitung weiter.<br />
Das W<strong>ein</strong>gut wuchs bis heute auf <strong>ein</strong>e<br />
Fläche von 22 Hektar an, die Produktion<br />
von 500 auf mehr als 25 000 Kisten. Das<br />
ist auch auf die Experimentierfreude des<br />
deutschen Kellermeisters zurückzuführen.<br />
Einen gehobenen Schaumw<strong>ein</strong> produziert<br />
er schon, ebenso <strong>ein</strong>en Apfelw<strong>ein</strong>,<br />
den „Big Apple Wine“. Bald wird<br />
er noch <strong>ein</strong>en aus Chardonnay destillierten<br />
Brandy auf den Markt bringen.<br />
Als Wölffer ihn <strong>ein</strong>stellte, erinnert<br />
sich Roth, gab dieser folgende Devise<br />
vor: „Du kannst anschaffen, was<br />
du brauchst, du kannst machen, was du<br />
willst. Du musst nur sicherstellen, dass<br />
du den besten W<strong>ein</strong> produzierst, der hier<br />
draußen möglich ist.“ Die Vorgabe erfüllt<br />
Roth auch mit s<strong>ein</strong>em eigenen W<strong>ein</strong>,<br />
den er unter dem Label „The Grapes<br />
of Roth“ produziert. <strong>Der</strong> Name ist <strong>ein</strong><br />
Wortspiel auf den Titel des berühmtesten<br />
Romans von John St<strong>ein</strong>beck („The<br />
Grapes of Wrath“, auf Deutsch: „Früchte<br />
des Zorns“), der zuletzt in Sag Harbor<br />
lebte, im selben Ort, in dem auch Roth<br />
zu Hause ist. Dem ersten Jahrgang Merlot<br />
aus dieser Reihe verlieh der Wine Advocate,<br />
das Journal des <strong>ein</strong>flussreichen<br />
Kritikers Robert Parker, gleich 92 von<br />
möglichen 100 Punkten. K<strong>ein</strong> W<strong>ein</strong> aus<br />
dem Bundesstaat New York wurde bislang<br />
höher bewertet.<br />
Jürgen Kalwa lebt seit über 30 Jahren<br />
in New York und Connecticut. Er schreibt<br />
als freier Autor über amerikanischen<br />
Lebensstil<br />
105<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Stil<br />
Report<br />
Brachiale<br />
Gentlemen<br />
Sie rauben Juwelen, aber sie töten nicht. Und wenn mal <strong>ein</strong>er<br />
gefasst wird, redet er nicht. Oder er wird befreit. So haben<br />
die Pink Panther in den vergangenen Jahren Juwelen im<br />
Wert von insgesamt mehr als 330 Millionen Euro erbeutet<br />
Von Sabine Catherine Kray<br />
106<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Illustration: Leif Heanzo<br />
<strong>Der</strong> 15. April 2007. Ein verschlafener<br />
Sonntag, kurz<br />
vor Ladenschluss im Wafi-Einkaufszentrum<br />
in Dubai.<br />
Plötzlich zerschlägt <strong>ein</strong><br />
schwarzer Audi die gläserne Eingangstür.<br />
Durch den Scherbenregen folgt <strong>ein</strong> zweiter<br />
Wagen, diesmal <strong>ein</strong> weißer Audi. Die<br />
Limousinen halten an, maskierte Männer<br />
springen heraus. Dann rast der weiße<br />
Audi in das Schaufenster des Juweliers<br />
Graff. Vier Maskierte stürmen durch die<br />
zerstörten Fenster in das Geschäft. Die<br />
Besucher des Einkaufszentrums starren<br />
wie gelähmt auf das Spektakel, <strong>ein</strong>ige<br />
kramen ihre Handys heraus, um das<br />
Ungeheuerliche festzuhalten. Das gleich<br />
wieder vorbei ist.<br />
Die Kameraaufnahmen aus dem Juweliergeschäft<br />
zeigen später, wie die vier<br />
Männer die Scheiben der Vitrinen mit<br />
Hämmern zerschlagen und die Beute in<br />
Säcke stopfen. Die Zeitanzeige am unteren<br />
Rand der Aufnahme läuft mit. Kaum<br />
mehr als <strong>ein</strong>e Minute vergeht, bevor <strong>ein</strong><br />
lautes Hupen die Männer zurück in die<br />
Autos beordert. Wenig später ersch<strong>ein</strong>t<br />
<strong>ein</strong> Handyvideo des Coups auf Youtube.<br />
Es war nicht das erste Mal, dass die<br />
Pink Panthers den Juwelier Graff heimsuchten.<br />
Bereits im Jahr 2003 erfolgte<br />
<strong>ein</strong> Überfall auf dessen Londoner Filiale.<br />
Zwei Männer betraten das Geschäft<br />
und zwangen die Angestellten, Juwelen<br />
im Wert von 23 Millionen Euro herauszugeben.<br />
Doch der Raub ging schief. Einer<br />
der Räuber wurde noch vor Ort von <strong>ein</strong>em<br />
Wachmann überwältigt. <strong>Der</strong> zweite<br />
konnte mit der Beute entkommen, bevor<br />
er <strong>ein</strong>ige Monate später ebenfalls gefasst<br />
wurde. Die Juwelen wurden bei <strong>ein</strong>em<br />
Komplizen sichergestellt, unter anderem<br />
<strong>ein</strong> blauer Diamantring im Wert von<br />
750 000 Dollar – versteckt in <strong>ein</strong>em Tiegel<br />
Gesichtscreme.<br />
Ist dieses Versteck als aktiver Beitrag<br />
zur eigenen Legendenbildung zu verstehen?<br />
Genauso sichert nämlich auch<br />
Mrs. Litton die Beute, die Ehefrau des<br />
„Phantoms“ in „<strong>Der</strong> rosarote Panther<br />
kehrt zurück“ von Blake Edwards aus<br />
dem Jahr 1975. Als die Presse von diesem<br />
Filmzitat erfuhr, stand der Name<br />
fest. Selbst Interpol verwendet ihn<br />
für die Bande, die bis heute auf über<br />
340 Raubzügen in 35 Ländern mehr als<br />
330 Millionen Euro erbeutet hat. Parallelen<br />
zu den großen L<strong>ein</strong>wanddramen<br />
über Juwelendiebe sind jedoch nicht nur<br />
in den akribisch geplanten Einbrüchen<br />
zu finden. Auch die Herkunft der Gangster,<br />
ihr Schweigeethos und der Hunger<br />
nach dem besseren Leben erinnern an<br />
die Helden sogenannter „Heist“-Filme<br />
wie „Rififi“ von 1955, „Top Job“ von<br />
1966 oder „<strong>Der</strong> Coup“ von 1971. <strong>Der</strong><br />
Begriff „Heist“ bedeutet übersetzt so<br />
viel wie „Raub“ oder „Coup“.<br />
<strong>Der</strong> Plot dieser Filme zeichnet sich<br />
durch die detaillierte Beschreibung der<br />
Planung, Realisierung und dem Nachspiel<br />
<strong>ein</strong>es Raubes aus. Die Protagonisten<br />
dieser Filme sind von der Gesellschaft<br />
vernachlässigte Jugendliche und Kriegsveteranen.<br />
Traumatisierte Männer, die<br />
sich vom großen Coup <strong>ein</strong> besseres Leben<br />
versprechen – es jedoch selten finden.<br />
Das Ende des klassischen „Heist“-Filmes<br />
ist tragisch, nicht selten sterben fast alle<br />
Protagonisten im Streit um die Beute<br />
oder auf der Flucht vor der Polizei. Anders<br />
als im wirklichen Leben, denn die<br />
Überfälle der Pink Panther verlaufen in<br />
107<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Stil<br />
Report<br />
der Regel nach Plan. Tote gibt es nicht.<br />
Das haben die Gentlemen-Räuber nicht<br />
nötig. Festnahmen und die Wiederbeschaffung<br />
der Beute sind Ausnahmen.<br />
Dabei werden ihre Coups mit jedem Jahr<br />
verwegener – wobei <strong>ein</strong> gewisser Trend<br />
zur Ver<strong>ein</strong>fachung, zum Minimalismus<br />
zu beobachten ist.<br />
2005 zum Beispiel überfallen zwei<br />
als Touristen getarnte Männer jugoslawischer<br />
Herkunft den Juwelier Julian in<br />
St. Tropez: Sie betreten den Laden in Hawaiihemden<br />
und Badeshorts. Ihre Beute<br />
sind Uhren und Schmuck im Wert von<br />
mehreren Hunderttausend Euro. Die<br />
Flucht gelingt per Schnellboot.<br />
An <strong>ein</strong>em sonnigen Samstagnachmittag<br />
im Mai des Jahres 2009 dann betritt<br />
<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zelner Herr von etwa 50 Jahren<br />
den Flagshipstore des Juweliers Chopard<br />
in Paris. Elegant, vielleicht <strong>ein</strong> wenig<br />
altmodisch, in Anzug und Filzhut, erweckt<br />
er bei den Mitarbeitern k<strong>ein</strong>erlei<br />
Argwohn – bis er <strong>ein</strong>e Waffe zieht und<br />
sie instruiert, welche Schmuckstücke er<br />
mitzunehmen gedenkt. Nur zwei Minuten<br />
später und ohne Aufheben verlässt<br />
er mit <strong>ein</strong>er Beute im Wert von sechs<br />
Diamanten<br />
bekommen von<br />
Juwelieren<br />
<strong>ein</strong>e zertifizierte<br />
Identität.<br />
Werden sie zur<br />
Beute, muss<br />
diese zerstört<br />
werden<br />
Millionen Euro das Geschäft. Vom Tatort<br />
entfernt er sich zu Fuß. Weder der<br />
vornehme Dieb noch die Beute sind seitdem<br />
wieder aufgetaucht.<br />
Im Juni dieses Jahres wird Cannes<br />
zum Schauplatz. Auch diesmal verschafft<br />
sich <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zelner Mann über <strong>ein</strong>e Terrassentür<br />
Zugang zur Ausstellung „Extraordinary<br />
Diamonds“ des israelischen<br />
Milliardärs und Diamantenhändlers Lev<br />
Avnerovich Leviev und zwingt die Mitarbeiter,<br />
die soeben die Vitrinen bestückten,<br />
mit <strong>ein</strong>er Pistole zur Herausgabe<br />
von Juwelen im Wert von 103 Millionen<br />
Euro. Innerhalb weniger Minuten hat er<br />
das Gebäude wieder verlassen. Von Täter<br />
und Beute fehlt jede Spur.<br />
<strong>Der</strong> Diebstahl von Juwelen unterscheidet<br />
sich von anderen Formen des<br />
Raubes durch <strong>ein</strong> schillerndes Geflecht<br />
von Mythen, die sich <strong>ein</strong>erseits um die<br />
Schmuckstücke ranken, andererseits<br />
um die Akteure. Das Image der leuchtenden<br />
St<strong>ein</strong>e färbt selbst auf den Dieb<br />
ab. Und weil kostbare Juwelen Inbegriff<br />
des Überflusses sind, ersch<strong>ein</strong>t ihr Raub<br />
in den Augen vieler weniger verwerflich<br />
als andere Formen der Kriminalität.<br />
Illustration: Leif Heanzo<br />
108<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Anzeige<br />
Sogar auf die Opfer wirkt die Besessenheit<br />
der Diebe manchmal sympathisch:<br />
Im Jahr 1671 machte der Dieb<br />
und Unruhestifter Thomas Blood den<br />
Versuch, die englischen Kronjuwelen zu<br />
stehlen und scheiterte. Bei s<strong>ein</strong>er Festnahme,<br />
die ihn bis an den Galgen hätte<br />
bringen können, bestand er darauf, den<br />
König zu sprechen. Begeistert von solcher<br />
Kühnheit, begnadigte dieser den<br />
Dieb, stattete ihn mit <strong>ein</strong>em wertvollen<br />
Landsitz in Irland aus und machte ihn<br />
zum gern gesehenen Gast bei Hofe.<br />
Mitglieder der Pink Panther können<br />
auf derart prominente Fürsprache<br />
nicht zählen, wenn sie verhaftet werden.<br />
Aber sie können sich auf ihre Komplizen<br />
verlassen. Vier Panther sind bisher von<br />
anderen Mitgliedern der Bande befreit<br />
worden. Drei von ihnen wurden schnell<br />
wieder aufgegriffen, nur <strong>ein</strong>er genießt<br />
noch immer die zurückgewonnene Freiheit.<br />
S<strong>ein</strong> Name ist Dragan Mikic.<br />
S<strong>ein</strong>e Komplizen befreiten ihn im<br />
Jahr 2005 aus dem Gefängnis in Villefranche-sur-Saône,<br />
wo er für drei Raubüberfälle<br />
aus den Jahren 2001 und 2003<br />
<strong>ein</strong>saß. S<strong>ein</strong>e Verhaftung lag erst <strong>ein</strong>ige<br />
Monate zurück, er hatte gerade <strong>ein</strong>e Anhörung<br />
bei der Staatsanwaltschaft hinter<br />
sich, da löste sich Mikic auf <strong>ein</strong>em Parkplatz<br />
von s<strong>ein</strong>en Bewachern. Als er auf<br />
<strong>ein</strong>e Grundschule zurannte, stoppte ihn<br />
<strong>ein</strong>er der Beamten mit <strong>ein</strong>em Schuss ins<br />
B<strong>ein</strong>. Nach s<strong>ein</strong>er Genesung wurde der<br />
freiheitsliebende Mikic in <strong>ein</strong> verm<strong>ein</strong>tlich<br />
sichereres Gefängnis gebracht – eben<br />
jenes in Villefranche-sur-Saône.<br />
Dort saß er zwei Jahre. Dann kam<br />
es zur Befreiung: Zwei Männer fuhren<br />
mit <strong>ein</strong>em weißen Pick-up-Truck vor, drei<br />
Leitern, <strong>ein</strong>er Drahtschere und <strong>ein</strong>er Kalaschnikow.<br />
Die erste Leiter verhalf <strong>ein</strong>em<br />
der Komplizen auf die Gefängnismauer,<br />
von wo aus er den Wachturm mit<br />
der Kalaschnikow unter Sperrfeuer nahm.<br />
S<strong>ein</strong> Kollege warf die zweite Leiter sowie<br />
die Drahtschere über die Mauer, hinter<br />
der Mikic wartete. Mit der Schere durchdrang<br />
er <strong>ein</strong>en Stacheldrahtzaun, dann<br />
kletterte er über die Leiter auf die Mauer.<br />
Auf der anderen Seite fand er die dritte<br />
Leiter, über die er auf die Straße gelangte<br />
und mit s<strong>ein</strong>en Komplizen verschwand.<br />
Auch diese Aktion ist bemerkenswert<br />
aufgrund ihrer b<strong>ein</strong>ahe altmodischen<br />
Simplizität: k<strong>ein</strong>e Hubschrauber, sondern<br />
zwei Gauner mit drei Leitern, <strong>ein</strong>em Gewehr<br />
und <strong>ein</strong>er Schere.<br />
Die meisten der Pink Panther stammen<br />
aus Montenegro oder Serbien. Viele<br />
kennen sich aus Jugendtagen, die von der<br />
Gewalt der Balkankriege geprägt waren.<br />
Ihr routinierter Umgang mit Waffen<br />
legt nach Einschätzung von Interpol<br />
nahe, dass <strong>ein</strong>ige von ihnen auch an den<br />
Kampfhandlungen teilgenommen haben<br />
und über <strong>ein</strong>e militärische Ausbildung<br />
verfügen. Arbeitslos und ohne Perspektive<br />
standen viele Serben Mitte der<br />
neunziger Jahre vor den Trümmern ihrer<br />
Heimat, die infolge der Zerstörung durch<br />
die Kriege und auch der Sanktionen des<br />
Westens k<strong>ein</strong>e Perspektive mehr zu bieten<br />
hatte. Die Regale in den Geschäften<br />
waren leer, die Fabriken geschlossen.<br />
Kriminalität wurde zum Alltag, die <strong>ein</strong>zige<br />
Möglichkeit, an etliche Gebrauchsartikel<br />
zu kommen, führte über den<br />
Schwarzmarkt.<br />
Die Panther begannen zu schmuggeln.<br />
Heroin und Waffen brachten sie<br />
über die Adria nach Italien, wo sie von<br />
der Mafia übernommen und weiterverkauft<br />
wurden. Sie brachten Benzin, Zigaretten,<br />
Jeans und andere Gebrauchsgegenstände<br />
in das von Sanktionen<br />
ausgezehrte Serbien und verkauften<br />
die Ware auf dem Schwarzmarkt. Das<br />
Geschäft war gefährlich, doch es war<br />
ertragreich und katapultierte die jungen<br />
Bandenmitglieder in <strong>ein</strong> exzessives<br />
Partyleben. Später unternahmen sie<br />
Raubüberfälle.<br />
In ihren Strukturen entspricht die<br />
Pink-Panther-Bande nicht der Mafia mit<br />
ihren gewalttätigen und allmächtigen<br />
Bossen. Es handelt sich um <strong>ein</strong> sehr dezentral<br />
organisiertes Verbrechen, <strong>ein</strong>e Hydra,<br />
die sich aus <strong>ein</strong>er Vielzahl <strong>ein</strong>zelner Banden<br />
aus verschiedenen Regionen in Serbien<br />
und Montenegro zusammensetzt.<br />
Insgesamt sind vermutlich 200 Menschen<br />
beteiligt, <strong>ein</strong>en Boss gibt es nicht.<br />
Wie der belgische Ermittler André Notredame<br />
dem New Yorker berichtete, besteht<br />
der Kern der Organisation aus etwa<br />
20 bis 30 erfahrenen Räubern. Erwischt<br />
werden in der Regel die kl<strong>ein</strong>en Fische,<br />
die ausführenden Kräfte, die mit Planung<br />
und Organisation kaum etwas zu<br />
tun haben.<br />
Stiftung Bauhaus Dessau www.junghans.de<br />
100%<br />
MODERNE<br />
Ab 1956 entwickelte der Bauhaus-<br />
Künstler Max Bill mit Junghans <strong>ein</strong>e<br />
legendäre Uhrenreihe, deren konstruktive<br />
Klarheit und präzise Proportion<br />
noch heute überzeugen. Mit <strong>ein</strong>er Max<br />
Bill beweisen Sie nicht Status, sondern<br />
Stil. Und das entspricht ganz unserer<br />
Auffassung.<br />
JUNGHANS – DIE DEUTSCHE UHR<br />
109<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Stil<br />
Report<br />
Im Dokumentarfilm „Smash and<br />
Grab“ der britischen Regisseurin Havana<br />
Marking nennt <strong>ein</strong> Pink Panther,<br />
der anonym interviewt wird, diesen inneren<br />
Kreis „Die Familie“. <strong>Der</strong>en Rolle<br />
ist es, gegen <strong>ein</strong>en Anteil an der Beute<br />
Hinweise auf lukrative Ziele unter den<br />
verschiedenen Gruppen zu verteilen.<br />
Denn im Gegensatz zum simplen Vorgehen<br />
der Bande und der brachialen<br />
Umsetzung der Raubzüge werden diese<br />
durchaus akribisch vorbereitet. In ausgeklügelten<br />
Netzwerken hat jeder s<strong>ein</strong>e<br />
spezifische Aufgabe, die erst in Zusammenarbeit<br />
mit anderen zum Erfolg<br />
führt. Laut dem britischen Daily Mirror<br />
gibt es folgende Akteure in der Organisation:<br />
Die sogenannten „Birdwatchers“<br />
recherchieren Ziele, Technikexperten<br />
kümmern sich um Alarmsysteme und<br />
Tresore, Überwachungsteams beobachten<br />
wochenlang die ins Visier genommenen<br />
Juweliere. Eine entscheidende Rolle<br />
spielen auch Vermittler, die sich vor Ort<br />
um die Organisation der Coups kümmern.<br />
Sie besorgen Pässe, Hotelzimmer,<br />
Flüge und lokale Handlanger.<br />
Nach <strong>ein</strong>em erfolgreichen Raubzug<br />
wird die Beute nach Serbien gebracht,<br />
wo das „weiße Glas“, wie die Panther<br />
die St<strong>ein</strong>e nennen, aus den Schmuckstücken<br />
herausgenommen und umgeschliffen<br />
wird. So werden die Juwelen zwar<br />
kl<strong>ein</strong>er und ihr Wert gemindert, doch<br />
ihre Herkunft ist nicht mehr zu ermitteln,<br />
denn Diamanten verfügen über Zertifikate,<br />
die ihre Eigenschaften protokollieren<br />
und beglaubigen. Die entscheidenden<br />
Informationen sind die vier C – Carat,<br />
Color, Clarity und Cut. Zu Deutsch:<br />
Größe, Farbe, R<strong>ein</strong>heit und Schliff.<br />
Mithilfe von Lasertechnologie werden<br />
Unternehmenslogo und Identifikationsnummer<br />
mikroskopisch f<strong>ein</strong> in die<br />
Rundiste des St<strong>ein</strong>es <strong>ein</strong>gearbeitet, die<br />
Stelle des St<strong>ein</strong>es, die den größten Durchmesser<br />
hat.<br />
Wird <strong>ein</strong> St<strong>ein</strong> zur Prüfung in <strong>ein</strong> sogenanntes<br />
Gemmologisches Institut gebracht,<br />
können Spezialisten diese Kennzeichnung<br />
auslesen. Die St<strong>ein</strong>e aus dem<br />
Londoner Graff-Raub von 2003, die offenbar<br />
nicht oder nicht ausreichend<br />
umgeschliffen worden waren, wurden<br />
schließlich in <strong>ein</strong>em Institut in New York<br />
identifiziert. Wie sich herausstellte, waren<br />
sie aus Israel dorthin verkauft worden. Mit<br />
<strong>ein</strong>er neuen Identität und gefälschten Zertifikaten<br />
werden die neuen St<strong>ein</strong>e also von<br />
Hehlern auf den Schmuckmarkt gebracht.<br />
Die Panther erhalten ihren Anteil am zu<br />
erwartenden Erlös innerhalb weniger Tage.<br />
Durch den An- und Verkauf von gastronomischen<br />
Betrieben und Immobilien in<br />
Serbien wird dieses Geld dann gewaschen.<br />
Trotz der losen Struktur und des<br />
weit verzweigten Netzwerks der Bande<br />
sch<strong>ein</strong>t aufgrund der gem<strong>ein</strong>samen Vergangenheit<br />
<strong>ein</strong>e unerschütterbare Loyalität<br />
zu bestehen, die für alle Beteiligten<br />
bindend ist. Und <strong>ein</strong>es verbindet sie<br />
doch mit der Mafia: Wer von der Polizei<br />
gefasst wird, der redet nicht, wer es doch<br />
tut, hat mit dem Schlimmsten zu rechnen.<br />
Danny Boyle, der britische Regisseur,<br />
der „Trainspotting“ und „Slumdog<br />
Millionaire“ verfilmt hat, will die Geschichte<br />
der Pink Panther jetzt übrigens<br />
wieder auf die Kinol<strong>ein</strong>wand bringen.<br />
Sabine Catherine KrayS Roman über<br />
<strong>ein</strong>en Juwelendieb ersch<strong>ein</strong>t im nächsten<br />
Frühjahr bei der Frankfurter Verlagsanstalt<br />
Illustration: Leif Heanzo<br />
110<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Elegant durch das Jahr 2014<br />
<strong>Cicero</strong><br />
Kalender<br />
<strong>Der</strong> <strong>Cicero</strong>-Kalender<br />
<strong>Der</strong> Original-<strong>Cicero</strong>-Kalender<br />
Mit praktischer Wochenansicht auf <strong>ein</strong>er Doppelseite und herausnehmbarem<br />
Adressbuch. Begleitet von Karikaturen, bietet der<br />
Kalender viel Platz für Ihre Termine und Notizen. Im handlichen<br />
Din-A5-Format, mit stabiler Fadenheftung und wahlweise in rotem<br />
Surbalin- oder schwarzem Leder<strong>ein</strong>band erhältlich.<br />
❶ Echte Fadenheftung sorgt für dauerhafte Stabilität und erleichtert das Aufschlagen<br />
❷ Zwei verschiedenfarbige Lesebänder bieten schnelle Orientierung ❸ Jede Woche<br />
wird von <strong>ein</strong>er Karikatur begleitet ❹ Wahlweise in karminrotem Surbalin mit Moiré-<br />
Schimmer oder schwarzem Rindsleder<strong>ein</strong>band mit Prägung an Frontseite und Rücken<br />
Ja, ich möchte den <strong>Cicero</strong>-Kalender 2014 bestellen!<br />
Ex. in rotem Surbalin je 25 EUR*/19,95 EUR für Abonnenten Bestellnr.: 1073946<br />
Ex. in schwarzem Leder je 69 EUR* Bestellnr.: 1073945<br />
Widerrufsrecht: Sie können Ihre Bestellung innerhalb von zwei Wochen ohne Angabe von Gründen in Textform (z.B. Brief, Fax oder<br />
E-Mail) widerrufen. Die Frist beginnt frühestens mit Erhalt dieser Belehrung. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung<br />
des Widerrufs. <strong>Cicero</strong> ist <strong>ein</strong>e Publikation der Ringier Publishing GmbH, Friedrichstraße 140, 10117 Berlin, Geschäftsführer Michael<br />
Voss. *Preise zzgl. Versandkosten von 2,95 € im Inland, Angebot und Preise gelten im Inland, Auslandspreise auf Anfrage.<br />
Vorname<br />
Straße<br />
Name<br />
Hausnummer<br />
Jetzt direkt bestellen!<br />
<strong>Cicero</strong>-Leserservice<br />
20080 Hamburg<br />
Telefon: 030 3 46 46 56 56<br />
Telefax: 030 3 46 46 56 65<br />
E-Mail: abo@cicero.de<br />
Shop: www.cicero.de/kalender<br />
PLZ<br />
Ort<br />
Telefon<br />
E-Mail<br />
Kontonummer BLZ Kreditinstitut<br />
Ich bin <strong>ein</strong>verstanden, dass <strong>Cicero</strong> und die Ringier Publishing GmbH mich per Telefon oder E-Mail über interessante Angebote des<br />
Verlags informieren. Vorstehende Einwilligung kann durch das Senden <strong>ein</strong>er E-Mail an abo@cicero.de oder postalisch an den <strong>Cicero</strong>-<br />
Leserservice, 20080 Hamburg, jederzeit widerrufen werden.<br />
Datum<br />
Unterschrift
Stil<br />
Begegnung<br />
Hüterin des<br />
FamilienschatzES<br />
Von Claudia St<strong>ein</strong>berg<br />
Isabella Rossellini spricht über die Arbeit am<br />
prächtigen Bildband „Ein Leben in Bildern“, den<br />
sie ihrer Mutter Ingrid Bergman gewidmet hat<br />
Geschmeidig und diskret navigiert<br />
die Frau im dunklen<br />
Anzug im gut besuchten<br />
Café des Peninsula<br />
Hotels in Midtown Manhattan<br />
und setzt sich mit <strong>ein</strong>em leisen<br />
Lächeln an den Tisch. Blicke perlen an<br />
Isabella Rossellini ab wie Wassertropfen<br />
an Glas. Als Kind erlebte sie, wie Leute<br />
ihre Mutter im Aufzug anstarrten und<br />
über sie sprachen, als stünde sie gar nicht<br />
neben ihnen: „M<strong>ein</strong> Gott, das ist Ingrid<br />
Bergman – sie sieht so viel älter aus als<br />
im Kino!“ In Rom, dem Geburtsort der<br />
Paparazzi, verursachte der Hollywoodstar<br />
<strong>ein</strong> Verkehrschaos, wenn sie ihre<br />
Zwillinge Isabella und Isotta zur Schule<br />
brachte. „Mama mochte New York, hier<br />
riefen ihr die Frauen auf der Straße<br />
‚I love you!‘ zu und gingen <strong>ein</strong>fach weiter“,<br />
erinnert sich Rossellini, die als das<br />
Gesicht von Lancôme und als Star von<br />
David Lynchs „Blue Velvet“ selbst zur<br />
Ikone wurde.<br />
Doch in diesen Tagen ist die vor<br />
31 Jahren gestorbene Mutter für die Filmemacherin<br />
und Schauspielerin wieder<br />
höchst präsent: Um der erwarteten Flut<br />
von Publikationen zu Ingrid Bergmans<br />
100. Geburtstag 2015 zuvorzukommen,<br />
ist Isabella Rossellini mit dem Verleger<br />
Lothar Schirmer in die Tiefen des Bergman-Archivs<br />
an der Wesleyan University<br />
in Massachusetts hinabgetaucht und<br />
hat mehr als 400, zum Teil nie veröffentlichte<br />
Bilder zutage gefördert. Nicht nur<br />
die berühmten Fotos von Avedon, Penn<br />
und <strong>Horst</strong>, sondern Porträts, die Ingrids<br />
Vater, der Stockholmer Fotograf Justus<br />
Samuel Bergman, von s<strong>ein</strong>er meist<br />
als Junge gekleideten Tochter machte;<br />
Schwarz-Weiß-Souvenirs von <strong>ein</strong>em<br />
Sommer als Teenager am See, so sinnlich<br />
gegenwärtig, dass sie aus <strong>ein</strong>er gar<br />
nicht fernen Vergangenheit zu stammen<br />
sch<strong>ein</strong>en; Rollenspiele der jungen Schauspielerin,<br />
die sie mit der Kamera des früh<br />
verstorbenen Vaters per Selbstauslöser<br />
dokumentierte; und kolorierte Publicitybilder<br />
von „Casablanca“, dem wohl<br />
berühmtesten Schwarz-Weiß-Epos der<br />
Filmgeschichte.<br />
„Es gab viele Überraschungen“, sagt<br />
Isabella Rossellini, „aber auf Geheimnisse<br />
bin ich nicht mehr gestoßen.“ Die<br />
letzten hatte Ingrid Bergman in ihrer Autobiografie<br />
verraten. „Sie gab mir das<br />
Manuskript zu lesen, und so erfuhr ich<br />
von ihrer Affäre mit Robert Capa – ‚das<br />
war m<strong>ein</strong> Traum – so <strong>ein</strong> faszinierender<br />
Mann!‘, sagte ich damals zu ihr.“ Ingrid<br />
Bergman zog es vor, ihre eigene Version<br />
der Liebesgeschichte mit dem Reportagefotografen<br />
zu gestehen, als sie den Spekulationen<br />
der Nachwelt zu überlassen.<br />
Zu den Entdeckungen, die ihr die<br />
Tage in dem schon von Bergman wohl<br />
geordneten Archiv bescherten, zählt<br />
Foto: Vittorio Zunino Celotto/ Getty Images<br />
112<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
„Im Traum versuche ich,<br />
m<strong>ein</strong>e Mutter aufzuwecken,<br />
aber sie sagt:<br />
‚Lass mich, ich bin tot‘“<br />
Isabella Rossellini über Ingrid Bergman<br />
113<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Stil<br />
Begegnung<br />
die Einsicht, wie modern die Mutter<br />
war. „Ihre Zeitgenossinnen trugen fast<br />
alle das Make-up ihrer Ära, aber Mama<br />
kann man mit ihrem fast ungeschminkten<br />
Gesicht und ihrer schlichten Kleidung<br />
kaum datieren“, m<strong>ein</strong>t die selbst fast ungeschminkte<br />
61-Jährige.<br />
Unerwartet war für sie die Vehemenz,<br />
mit der Ingrid Bergman ihre Doppelrolle<br />
als Mutter und Filmstar gegenüber<br />
Ingmar Bergman verteidigte, wie sie<br />
aus Liv Ullmanns Beitrag zum Buch erfuhr.<br />
Bei den Dreharbeiten zur „Herbstsonate“<br />
verlangte der Regisseur, dass<br />
Ingrid Bergman sich in die Haut der Tochter,<br />
die sich durch den Beruf der Mutter<br />
vernachlässigt fühlt, versetzen sollte.<br />
„Mama wurde sehr böse und sagte, sie<br />
hätte <strong>ein</strong>er solchen Tochter <strong>ein</strong>e Ohrfeige<br />
verpasst, denn jeder sei für s<strong>ein</strong> eigenes<br />
Leben verantwortlich. Ingmar war<br />
<strong>ein</strong> fantastischer Filmemacher, aber <strong>ein</strong><br />
Mann s<strong>ein</strong>er Epoche, während Mama<br />
<strong>ein</strong>e Frau der Avantgarde war, die Kinder<br />
und Karriere ver<strong>ein</strong>barte – es war<br />
großartig, das zu lesen.“<br />
Doch als Feministin verstand sich Ingrid<br />
Bergman nie: „In finanziellen Angelegenheiten<br />
war sie ganz <strong>ein</strong>e Frau ihrer<br />
Generation – sie überließ die Geldangelegenheiten<br />
grundsätzlich den Männern“,<br />
sagt Rossellini. Dabei war sie immer die<br />
Hauptverdienerin, sie bezahlte Schulden,<br />
rettete <strong>ein</strong> vom Zwangsverkauf bedrohtes<br />
Haus und gab den Kindern trotz dauernder<br />
monetärer Nöte <strong>ein</strong> Gefühl der<br />
Ein Künstlerleben in Bildern:<br />
Ingrid Bergman in der Rolle<br />
der Schwester Benedict<br />
in „The Bells of St. Mary’s“,<br />
<strong>ein</strong>er Hollywoodproduktion<br />
von 1945. Mit ihren<br />
Zwillingen in Rom, 1952<br />
Sicherheit – mit leichter Hand, denn Geld<br />
bedeutete ihr nicht viel: Sie wunderte<br />
sich vielmehr darüber, für <strong>ein</strong>e Beschäftigung<br />
bezahlt zu werden, die sie liebte.<br />
Wenn Isabella Rossellini von ihren<br />
Eltern träumt, dann sieht sie ihre Mutter<br />
schlafend. „Ich versuche, sie aufzuwecken,<br />
aber sie sagt: ‚Lass mich, ich bin<br />
tot.‘ Sie war so lange krank, dass sie ihr<br />
Schicksal akzeptierte.“ Ihr Vater Roberto<br />
Rossellini hingegen ersch<strong>ein</strong>t ihr als rastlos.<br />
„‚Ich liebe das Leben‘, sagt er zu mir.“<br />
Er starb so schnell, wie er s<strong>ein</strong>en Ferrari<br />
fuhr, hatte die Mutter gem<strong>ein</strong>t, an <strong>ein</strong>em<br />
Fotos: Fabrizio Ferri/Schirmer Mosel Verlag, Chim Seymour/Schirmer Mosel Verlag<br />
114<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Herzinfarkt mit 71, man hatte ihn gerade<br />
zum Präsidenten des Filmfestivals von<br />
Cannes ernannt. Zu s<strong>ein</strong>em 100. Geburtstag<br />
widmete sie ihm k<strong>ein</strong> Buch, sondern<br />
ihren eigenen, surrealen Film in halluzinatorischem<br />
Schwarz-Weiß, in dem der<br />
Vater nur als großer, weicher, aber sehr<br />
ausdrucksvoller Bauch auftaucht, auf den<br />
Isabella ihren Kopf wie auf <strong>ein</strong> Kissen bettet,<br />
zärtlich und beschützend zugleich.<br />
Denn sie fürchtete, dass s<strong>ein</strong>e Filme zu<br />
Staub zerfallen würden, dass man ihn und<br />
s<strong>ein</strong> Werk vergessen könnte. Von beiden<br />
Eltern lernte sie großen Respekt für die<br />
Filmkunst: „Sie sollte in den Schulen gelehrt<br />
werden wie Literatur“, findet sie.<br />
<strong>Der</strong> Schatten ihrer berühmten Eltern<br />
reichte nur bis in Isabellas späte<br />
Zwanziger, dann konnte sie Filmrollen<br />
annehmen, ohne das Territorium der<br />
Mutter zu verletzen. Seit <strong>ein</strong>igen Jahren<br />
macht sie für Arte und den unabhängigen<br />
amerikanischen Sundance Channel<br />
ebenso komische wie lehrreiche und<br />
umweltbewusste Zwei-Minuten-Filme<br />
über das Sexualleben der Tiere, wobei<br />
sie alle kostümierten Hauptrollen von<br />
der Biene über die Ente bis zum Hamster<br />
übernimmt. „M<strong>ein</strong>en Eltern wären<br />
diese Filme wahrsch<strong>ein</strong>lich furchtbar<br />
p<strong>ein</strong>lich – sie zeichneten sich nicht gerade<br />
durch großen Humor aus, und sie<br />
waren beide sehr prüde.“<br />
Nach rund 40 dieser „grünen Pornos“<br />
arbeitet sie nun an <strong>ein</strong>er neuen Serie,<br />
zu der sie ihr biologischer, 15 Hektar<br />
großer Bauernhof inspirierte: „Ich<br />
stelle mir <strong>ein</strong> Projekt über all die Schädlinge<br />
vor, gegen die ich mich ja nicht mit<br />
Pestiziden wehren darf. Das ist <strong>ein</strong>erseits<br />
entsetzlich frustrierend, aber andererseits<br />
finde ich es höchst unterhaltsam,<br />
mir Millionen Strategien zur Vernichtung<br />
m<strong>ein</strong>er F<strong>ein</strong>de auszudenken.“ Es<br />
reizt sie, das verm<strong>ein</strong>tliche Idyll <strong>ein</strong>er<br />
Biofarm als Schauplatz <strong>ein</strong>es grausamen<br />
Konkurrenzkampfs um das Gemüse<br />
darzustellen. „Ich sehe <strong>ein</strong>en Hitchcock“,<br />
sagt sie und verschwindet so<br />
schnell, wie sie gekommen ist, um den<br />
letzten Zug des Tages zum Schauplatz<br />
dieses Thrillers zu erwischen.<br />
Anzeige<br />
<strong>Cicero</strong> finden Sie auch<br />
in diesen exklusiven Hotels<br />
Villa Rothschild Kempinski<br />
Im Rothschildpark 1, 61462 Königst<strong>ein</strong><br />
Tel.: +49 (0)6174 2908 0<br />
www.kempinski.com/villarothschild<br />
»An <strong>ein</strong>em ›Ort der Freiheit und der Demokratie in <strong>Deutschland</strong>‹<br />
den engagierten, politischen Bürgerdialog führen zu können, ist<br />
für die Montagsgesellschaft e. V. <strong>ein</strong>e besondere Chance, der oft<br />
beklagten Entpolitisierung der Gesellschaft mit Inhalt und demokratischer<br />
Diskussion entgegenzuwirken. Die Villa Rothschild<br />
Kempinski in Königst<strong>ein</strong> im Taunus bietet hierfür damals wie heute<br />
<strong>ein</strong> ausgezeichnetes ›Parkett‹, welches <strong>Cicero</strong> mit wertvollen<br />
Beiträgen nachhaltig unterstützt.«<br />
DR. STEFAN KNOLL, MITBEGRÜNDER UND VORSTAND<br />
DER MONTAGSGESELLSCHAFT E.V.<br />
Diese ausgewählten Hotels bieten <strong>Cicero</strong> als besonderen Service:<br />
<strong>Cicero</strong>-<br />
Hotel<br />
Aachen: Pullman Aachen Quellenhof · Bad Doberan – Heiligendamm: Grand Hotel Heiligendamm · Bad Pyrmont:<br />
Steigenberger Hotel · Baden-Baden: Brenners Park-Hotel & Spa · Bad Schandau: Elbresidenz Bad Schandau Viva<br />
Vital & Medical SPA · Baiersbronn: Hotel Traube Tonbach · Bergisch Gladbach: Grandhotel Schloss Bensberg,<br />
Schlosshotel Lerbach · Berlin: Hotel Concorde, Brandenburger Hof, Grand Hotel Esplanade, InterContinental Berlin,<br />
Kempinski Hotel Bristol, Hotel Maritim, The Mandala Hotel, Savoy Berlin, The Regent Berlin, The Ritz-Carlton Hotel<br />
Binz/Rügen: Cerês Hotel · Dresden: Hotel Taschenbergpalais Kempinski · Celle: Fürstenhof Celle · Düsseldorf:<br />
InterContinental Düsseldorf, Hotel Nikko · Eisenach: Hotel auf der Wartburg · Essen: Schlosshotel Hugenpoet<br />
Ettlingen: Hotel-Restaurant Erbprinz · Frankfurt a. M.: Steigenberger Frankfurter Hof, Kempinski Hotel Gravenbruch<br />
Hamburg: Crowne Plaza Hamburg, Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten, Hotel Atlantic Kempinski, InterContinental<br />
Hamburg, Madison Hotel Hamburg, Panorama Harburg, Renaissance Hamburg Hotel, Strandhotel Blankenese<br />
Hannover: Crowne Plaza Hannover · Hinterzarten: Parkhotel Adler · Jena: Steigenberger Esplanade · Keitum/Sylt:<br />
Hotel Benen-Diken-Hof · Köln: Excelsior Hotel Ernst · Königst<strong>ein</strong> im Taunus: Falkenst<strong>ein</strong> Grand Kempinski, Villa<br />
Rothschild Kempinski · Königswinter: Steigenberger Grand Hotel Petersberg · Konstanz: Steigenberger Inselhotel<br />
Magdeburg: Herrenkrug Parkhotel, Hotel Ratswaage · Mainz: Atrium Hotel Mainz, Hyatt Regency Mainz<br />
München: King’s Hotel First Class, Le Méridien, Hotel München Palace · Neuhardenberg: Hotel Schloss Neuhardenberg<br />
· Nürnberg: Le Méridien · Potsdam: Hotel am Jägertor · Rottach-Egern: Park-Hotel Egerner Höfe, Hotel<br />
Bachmair am See, Seehotel Überfahrt · Stuttgart: Hotel am Schlossgarten, Le Méridien · Wiesbaden: Nassauer Hof<br />
ITALIEN Tirol bei Meran: Hotel Castel · ÖSTERREICH Lienz: Grandhotel Lienz · Wien: Das Triest · PORTUGAL<br />
Albufeira: Vila Joya · SCHWEIZ Interlaken: Victoria Jungfrau Grand Hotel & Spa · Lugano: Splendide Royale<br />
Luzern: Palace Luzern · St. Moritz: Kulm Hotel, Suvretta House · Weggis: Park Hotel Weggis, Post Hotel Weggis<br />
Zermatt: Boutique Hotel Alex<br />
Claudia St<strong>ein</strong>berg lebt als freie<br />
Autorin in New York und hat Isabella<br />
Rossellini inzwischen schon mehrfach<br />
getroffen<br />
Möchten auch Sie zu diesem<br />
exklusiven Kreis gehören?<br />
Bitte sprechen Sie uns an:<br />
E-Mail: hotelservice@cicero.de
Stil<br />
Kleiderordnung<br />
Foto: Julian Baumann für <strong>Cicero</strong><br />
Saskia Diez<br />
Mir begegnen Stücke eher zufällig,<br />
als dass ich sie suche. Diese<br />
Jacke vom belgischen Designer<br />
Christian Wijnants ist mir in Paris begegnet,<br />
wo wir uns während der Modewoche<br />
<strong>ein</strong>en Showroom geteilt haben. Als<br />
Schmuckdesignerin habe ich große Achtung<br />
vor handwerklicher Arbeit. Die vielen<br />
Chiffonlagen dieser Jacke sind zum<br />
Beispiel alle <strong>ein</strong>zeln mit der Hand aufgenäht<br />
und dann ausgefranst worden.<br />
Ich trage gerne die Entwürfe anderer<br />
Designer, nicht <strong>ein</strong>fach die gängige<br />
Straßenuniform, die man überall sieht.<br />
Das hat auch etwas mit Glaubwürdigkeit<br />
und Respekt zu tun, auch vor m<strong>ein</strong>er eigenen<br />
Arbeit und m<strong>ein</strong>em Anspruch daran.<br />
Doch ich will mit m<strong>ein</strong>er Kleidung<br />
gut durch den Alltag mit drei Kindern<br />
kommen. Oft auf dem Fahrrad. Mit den<br />
Shorts hier hat man mehr Bewegungsfreiheit<br />
als mit <strong>ein</strong>em Rock. Abends, wenn<br />
ich ausgehe, will ich mich nicht umziehen<br />
müssen. Sondern höchstens die Schuhe<br />
wechseln oder Ohrringe anlegen.<br />
Ich trage nur Schmuck, den ich selbst<br />
entwerfe. Aber nicht aus Prinzip. Erstens<br />
schenkt mir natürlich k<strong>ein</strong>er Schmuck<br />
und zweitens gibt es bei uns in der Familie<br />
k<strong>ein</strong>en Erbschmuck. Ich lade Stücke<br />
auch nicht emotional auf. M<strong>ein</strong>e Entwürfe<br />
trage ich, um sie zu testen. Wie<br />
sich das Material anfühlt, wie schwer die<br />
Stücke sind, wie sie fallen. Dann wachsen<br />
sie mir oft ans Herz. Doch dann lege ich<br />
sie ab und teste die nächste Kollektion.<br />
Unsere Eheringe tragen m<strong>ein</strong> Mann<br />
und ich auch nicht mehr. Sie sind aus Platin,<br />
und ich habe sie damals nicht selbst entworfen.<br />
Heute würde ich dafür <strong>ein</strong> anderes<br />
Material wählen. Da müssen mal neue<br />
her. Ich mache ja auch Herrenschmuck und<br />
habe viele männliche Kunden.<br />
Saskia Diez hat <strong>ein</strong>e<br />
Ausbildung zur Goldschmiedin<br />
gemacht und später<br />
Industriedesign studiert. Ihr<br />
Label „Saskia Diez“ betreibt<br />
sie von München aus<br />
Ja, <strong>ein</strong>e Bastler-Mentalität hatte ich<br />
schon als Kind. Daraus entstand auch die<br />
Liebe zu Schmuck, nicht aus <strong>ein</strong>er Faszination<br />
für Glamour. Ich mag, dass man<br />
beim Basteln so in sich versinken kann.<br />
Ich bin ziemlich <strong>ein</strong>zelgängerisch.<br />
Nach dem Abitur habe ich <strong>ein</strong>e<br />
Lehre zur Goldschmiedin gemacht. Aber<br />
mittlerweile bewege ich mich mit m<strong>ein</strong>em<br />
Label fernab dieser Welt, wo der<br />
Preis <strong>ein</strong>es Stückes durch den immensen<br />
Materialwert und die immense Handarbeit<br />
definiert wird. Ich mag den Gedanken,<br />
dass man sich m<strong>ein</strong>e Sachen leisten<br />
kann, und das nicht nur ausnahmsweise.<br />
M<strong>ein</strong>en Schmuck empfinde ich als<br />
zurückhaltend. Man sieht ihn oft erst aus<br />
der Nähe. Es geht mir um die Intimität,<br />
die beim Betrachten entsteht, nicht um<br />
die schreiende Darstellung nach außen.<br />
M<strong>ein</strong>e Kinder sind auch schon fasziniert<br />
von Schmuck. Die Mädchen<br />
wollten sich beide schon früh Ohrlöcher<br />
stechen lassen. Bis fünf mussten sie<br />
warten, dann habe ich es erlaubt. M<strong>ein</strong><br />
kl<strong>ein</strong>er Sohn trägt <strong>ein</strong>e Kette. Aber der<br />
ist auch erst vier.<br />
Aufgezeichnet von Lena Bergmann<br />
116<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
SAlon<br />
„ Intelligenz entsteht<br />
durch den ungeschützten<br />
Verkehr mit fremder<br />
Intelligenz “<br />
<strong>Der</strong> Philosoph Peter Sloterdijk im Gespräch mit Martin Walser und<br />
Frank A. Meyer über Schönheit, Politik und Angela Merkel, Seite 126<br />
117<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Salon<br />
Porträt<br />
<strong>Der</strong> Zufall möglicherweise<br />
Dieter Wellershoff trug dazu bei, die deutsche Nachkriegsliteratur zu revolutionieren.<br />
Nun hat der Schriftsteller sich Meisterwerken der Bildenden Kunst zugewandt<br />
Von Peter Henning<br />
Foto: Imago<br />
Dieter Wellershoff blättert durch<br />
die Druckfahnen s<strong>ein</strong>er wahrsch<strong>ein</strong>lich<br />
letzten großen literarischen<br />
Arbeit: „Ich wollte das sch<strong>ein</strong>bar<br />
Bekannte noch <strong>ein</strong>mal neu sehen.“<br />
Spricht’s, schaut auf s<strong>ein</strong> junges Werk,<br />
„Was die Bilder erzählen. Ein Rundgang<br />
durch m<strong>ein</strong> imaginäres Museum“, und lächelt.<br />
Er sch<strong>ein</strong>t sehr mit sich im R<strong>ein</strong>en.<br />
Die großen Bewährungsproben s<strong>ein</strong>es<br />
mittlerweile 88 Jahre währenden Lebens<br />
liegen hinter ihm: Krieg, Gefangenschaft,<br />
Heimkehr in <strong>ein</strong>e kahl geschlagene Heimat,<br />
Ehe, Elternschaft und die Anfechtungen<br />
<strong>ein</strong>er freien Schriftstellerexistenz.<br />
All das wird überstrahlt von s<strong>ein</strong>em in<br />
den neun schweren Folianten <strong>ein</strong>er Gesamtausgabe<br />
geborgenen Werk. Es ist das<br />
in sich geschlossene Oeuvre <strong>ein</strong>es literarischen<br />
Existenzialisten. Er begreift s<strong>ein</strong><br />
Schreiben als „S<strong>ein</strong>s-Erschließung“.<br />
Dieter Wellershoff, im hohen Alter<br />
schmaler und kantiger geworden als auf<br />
den berühmten Aufnahmen aus den achtziger<br />
Jahren, repräsentiert den souveränen<br />
Logiker. S<strong>ein</strong>e Romane, Novellen<br />
und Erzählungen kreisen um Glückssucher,<br />
die sich durchschlagen müssen in <strong>ein</strong>er<br />
vom Zufall durchwirkten Welt.<br />
Wenn er sich aus dem Sessel erhebt<br />
und hinüber in die Küche geht, um den<br />
Wasserkessel vom Herd zu nehmen, verrät<br />
s<strong>ein</strong> schwankender Gang die Schläge<br />
des Alters. Trotzdem ist ihm <strong>ein</strong>e Altersanmut<br />
zu eigen, die ihn charismatisch<br />
ersch<strong>ein</strong>en lässt. Von geistiger Müdigkeit<br />
k<strong>ein</strong>e Spur. Ob er zum Nachmittagstee in<br />
s<strong>ein</strong>er weitläufigen Wohnung in der Kölner<br />
Südstadt <strong>ein</strong>lädt oder zum Streifzug<br />
durch den nahe gelegenen Park: Er wirkt<br />
vollkommen präsent und nimmt mit in<br />
die Weiten <strong>ein</strong>es an Philosophie wie Psychologie<br />
geschulten Denkens.<br />
Wellershoff, 1925 in Neuss geboren,<br />
schreibt Existenzromane: Bücher, deren<br />
Protagonisten nach Glück und Zugehörigkeit<br />
suchen und dabei nicht selten auf<br />
der Schattenseite ihrer Existenz stranden.<br />
Die vier Protagonisten s<strong>ein</strong>es großen<br />
Erfolgsromans „<strong>Der</strong> Liebeswunsch“<br />
gehen am Ende allesamt von Grund auf<br />
verändert aus den Geschehnissen hervor.<br />
Ein junger Landpfarrer wird in Wellershoffs<br />
letztem Roman „<strong>Der</strong> Himmel ist<br />
k<strong>ein</strong> Ort“ auf schmerzhafte Weise an<br />
die Grenzen s<strong>ein</strong>es Denkens und Glaubens<br />
geführt. Sie alle erleben – in bester<br />
existenzialistischer Tradition – ihr<br />
menschliches Geworfens<strong>ein</strong> als krisenhaften<br />
Zustand. Aus ihm führt die Erkenntnis<br />
heraus, dass <strong>ein</strong> anderes Leben<br />
nicht zu haben ist.<br />
Ihr Schöpfer revolutionierte als Lektor<br />
des Kölner Verlags Kiepenheuer &<br />
Witsch Anfang der sechziger Jahre die<br />
junge deutsche Literatur mit Autoren<br />
wie Rolf Dieter Brinkmann oder Nicolas<br />
Born quasi im Handstreich. Heute erweist<br />
er sich als Menschenerforscher und<br />
Schriftsteller in Personalunion. Er wird<br />
es nicht müde, die sich rasch wandelnden<br />
Bedingungen unseres S<strong>ein</strong>s und Fühlens<br />
im Auge zu behalten.<br />
Nun, quasi als vorläufiger Schlussund<br />
Höhepunkt s<strong>ein</strong>es mehr als 40 Buchpublikationen<br />
umfassenden Werkes, das:<br />
<strong>ein</strong> Buch, das sich – anhand von circa<br />
240 ausgewählten Bildern aus der Kunstgeschichte,<br />
zu denen Wellershoff höchst<br />
subjektive Lese- und Interpretationstexte<br />
verfasst hat – als s<strong>ein</strong> vielleicht heiterstes<br />
und quirligstes erweist.<br />
Famos, wie der Alte es versteht,<br />
über sattsam vertraute, 1000 Mal gesehene<br />
Arbeiten von Pablo Picasso, Amedeo<br />
Modigliani, Jan Vermeer, Max Beckmann,<br />
Edward Hopper, Lucian Freud<br />
oder Adolph Menzel zu schreiben, dass<br />
wir den Eindruck gewinnen, sie mit <strong>ein</strong>em<br />
Mal neu zu erkennen.<br />
So streift man blick- und interpretationshungrig<br />
durch den großformatigen<br />
Prachtband, geleitet von <strong>ein</strong>em Expeditionsleiter,<br />
der zum Verweilen vor<br />
diesem oder jenem Bild anhält. Malerei<br />
wird zum Medium sichtbarer Welt- und<br />
Lebenserfahrung. Über den „sitzenden<br />
weiblichen Akt“ Modiglianis von 1917<br />
schreibt er: „Im Unterschied zu den Gespensterparaden<br />
magersüchtiger Models,<br />
die die heutigen Modedesigner über die<br />
Laufstege schicken, hat Modigliani <strong>ein</strong>en<br />
archaischen männlichen Wunschtraum<br />
dargestellt: das Vollweib.“<br />
Nach dem Ersch<strong>ein</strong>en von „<strong>Der</strong> Himmel<br />
ist k<strong>ein</strong> Ort“ vor vier Jahren war es<br />
stiller geworden um den großen alten<br />
Mann der deutschen Literatur. Taucht<br />
man aber lesend <strong>ein</strong> in s<strong>ein</strong>e Arbeiten –<br />
allen voran in s<strong>ein</strong>en Erzählband „Das<br />
normale Leben“, die Novellen „Zikadengeschrei“,<br />
„Die Sirene“ oder den Roman<br />
„<strong>Der</strong> Liebeswunsch“ – wird rasch<br />
spürbar, wie zeitgemäß, ja aktuell s<strong>ein</strong>e<br />
Texte nach wie vor sind. Es sind Bücher,<br />
in denen sich die neue, zuweilen erschreckende<br />
Unübersichtlichkeit der Moderne<br />
spiegelt, festgemacht an Geschichten, die<br />
von dort herkommen, wo alle große Literatur<br />
am Ende wurzelt: im Leben.<br />
So wird Dieter Wellershoff weiter<br />
über das Das<strong>ein</strong> des Einzelnen in <strong>ein</strong>er<br />
vom Zufall <strong>regiert</strong>en Welt nachdenken,<br />
auch wenn er vielleicht nicht mehr darüber<br />
schreiben wird. Trotzdem haben wir<br />
ihn uns als <strong>ein</strong>en glücklichen Menschen<br />
vorzustellen, der zum Abschied, ehe er<br />
die Tür schließt, von sich sagt: „Ich habe<br />
die Prüfungen, die mir die Schriftstellerei<br />
bescherte, bestanden.“<br />
peter henning ist Schriftsteller und lebt<br />
als Wahlkölner fast Tür an Tür mit Dieter<br />
Wellershoff. Selbst schrieb er zuletzt den<br />
Gladbeck-Roman „Ein deutscher Sommer“<br />
119<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Salon<br />
Porträt<br />
Freiheit, <strong>ein</strong> morsezeichen<br />
Claudia Michelsen ist die präsenteste deutsche Charakterdarstellerin und nun auch<br />
Kommissarin im „Polizeiruf 110“. Schon Godard schätzte ihre Kunst der Verknappung<br />
Von Ingo Langner<br />
Als wir uns kennenlernten, schien<br />
die Berliner Mauer noch für die<br />
Ewigkeit gebaut. Die DDR feierte<br />
an jenem 10. Februar 1988 pompös Bertolt<br />
Brechts 90. Geburtstag. Brecht war<br />
schon 1956 gestorben, aber tote Parteidichter<br />
schätzte die SED besonders.<br />
Sechs Tage zuvor war die Schauspielschülerin<br />
Claudia Michelsen 19 Jahre<br />
alt geworden. Auf der Ostberliner Studiobühne<br />
der Hochschule Ernst Busch<br />
spielte sie die Titelrolle in „<strong>Der</strong> gute<br />
Mensch von Sezuan“.<br />
Ich drehte damals <strong>ein</strong>en Dokumentarfilm<br />
über die kulturpolitischen Staatsfeierlichkeiten.<br />
Während mich die anderen<br />
Inszenierungen langweilten, weil sie<br />
als museale Pflichtübungen daherkamen,<br />
war ich von „Sezuan“ und von Claudia<br />
Michelsen in ihrer Doppelrolle als „gute“<br />
Shen Te und „böse“ Shui Ta begeistert.<br />
Fünf Jahre vor ihrem ersten Bühnentriumph<br />
hatte die Dresdnerin Funkoffizierin<br />
werden wollen. Sie liebte das Meer,<br />
die Freiheit der Seefahrt, „und mich hat<br />
auch die gem<strong>ein</strong>same Sprache fasziniert,<br />
die überall auf der Welt gleich ist, das<br />
Morsealphabet“: Sagt Claudia Michelsen,<br />
wendet mir ihr aus rund 80 Fernseh-<br />
und Kinofilmen bekanntes Gesicht<br />
zu und lächelt.<br />
Viele erkannten Ende der achtziger<br />
Jahre ihr Ausnahmetalent. Die Volksbühne<br />
engagierte sie gleich nach dem Examen.<br />
Kaum war die DDR Geschichte geworden,<br />
wollten nicht nur H<strong>ein</strong>er Müller<br />
und Frank Castorf mit ihr arbeiten, sondern<br />
auch Jean-Luc Godard. <strong>Der</strong> französische<br />
Regiestar engagierte das frische<br />
Gesicht des Ostens für s<strong>ein</strong>en Film<br />
„<strong>Deutschland</strong> Neu(n) Null“, in dem der<br />
legendäre amerikanische Schauspieler<br />
Eddie Constantine die Hauptrolle<br />
spielte. Als 1991 die Produktionsfirma<br />
anrief, wusste sie nicht, wer Godard ist.<br />
„Ich war ja erst 20 Jahre alt und hatte<br />
die Nouvelle Vague noch nicht erkundet.<br />
M<strong>ein</strong>e damaligen Helden waren Rainer<br />
Werner Fassbinder und Jean Genet. Mit<br />
14 habe ich Fassbinders ‚Querelle‘ gesehen,<br />
der auf dem Roman von Genet basiert.<br />
‚Querelle‘ und vorher ‚Katzelmacher‘<br />
haben mir die B<strong>ein</strong>e weggezogen.<br />
Ich hätte nie gedacht, dass so etwas auf<br />
der L<strong>ein</strong>wand möglich ist.“<br />
Claudia Michelsen ging als Teenager<br />
oft ins Theater. „Das Dresdner Theater<br />
war m<strong>ein</strong> Lebensinhalt. Wolfgang Engel<br />
inszenierte, und es gab so großartige<br />
junge Schauspieler wie Dagmar Manzel<br />
oder Sylvester Groth.“ Mit dem sie damals<br />
schon befreundet war und mit dem<br />
sie – so schließt sich der Kreis – seit Oktober<br />
als Kommissarin Doreen Brasch im<br />
neuen Magdeburger „Polizeiruf 110“ zu<br />
sehen ist. Während Groth alias Hauptkommissar<br />
Jochen Drexler der hintergründig<br />
Penible ist, gibt sie den taffen<br />
Gegenpol, Schimanskis kl<strong>ein</strong>e Schwester.<br />
„Sylvester war in Dresden Schwarm aller<br />
theaterbegeisterten Mädchen. Als er über<br />
Salzburg in den Westen ging, hat ganz<br />
Dresden gew<strong>ein</strong>t. Dass ich heute mit ihm<br />
arbeiten kann, ist <strong>ein</strong> Geschenk.“<br />
Beschenkt wurde Claudia Michelsen<br />
schon am Morgen ihrer Karriere. H<strong>ein</strong>er<br />
Müller, der nach dem Mauerfall in Ostberlin<br />
s<strong>ein</strong>e dort zuvor verbotenen Stücke<br />
inszenieren konnte, holte sie für<br />
„Mauser“ ans Deutsche Theater.<br />
Andere Jungschauspieler hätten bei<br />
<strong>ein</strong>em solchen Start ihre Wurzeln tief in<br />
den märkischen Sand <strong>ein</strong>gegraben. Aber<br />
ihr notorisches Fernweh war dagegen.<br />
Statt an ihren Sehnsuchtsort Paris zu ziehen,<br />
folgte Claudia Michelsen ihrem ersten<br />
Ehemann, dem Regisseur Josef Rusnak,<br />
nach Los Angeles. Ohne <strong>ein</strong> Wort Englisch<br />
zu können. Sie blieb über sechs Jahre am<br />
Pazifik und brachte dort ihre erste Tochter<br />
zur Welt. Gleichwohl vergaß die Heimat<br />
sie nicht. „H<strong>ein</strong>rich Breloer besetzte mich<br />
für s<strong>ein</strong>en RAF‐Film ‚Todesspiel‘. Die Verbindung<br />
zu <strong>Deutschland</strong> blieb.“<br />
Ihr Kind war bei den vielen Reisen<br />
und Dreharbeiten meistens dabei. Die<br />
zweite Tochter wurde 2003 in Berlin geboren,<br />
Vater ist der Schauspieler Anatole<br />
Taubman. Claudia Michelsen liebt ihre<br />
Töchter über alles. Sie hat sich lange geweigert,<br />
<strong>ein</strong>e Kinderfrau zu engagieren.<br />
„Ich wollte das nicht. Wenn ich Kinder in<br />
die Welt setze, möchte ich auch mit ihnen<br />
leben. Das habe ich immer getan und bereue<br />
es k<strong>ein</strong>e Sekunde.“<br />
Ende November wird in der ARD der<br />
Film „Grenzgang“ nach Stephan Thomes<br />
Roman zu sehen s<strong>ein</strong>: Vor dem Hintergrund<br />
<strong>ein</strong>es Volksfests gerät das Leben<br />
zweier von Claudia Michelsen und Lars<br />
Eidinger verkörperten Menschen aus den<br />
Fugen. Eidinger, Jahrgang 1976, ist ebenfalls<br />
Absolvent der Ernst-Busch-Schule.<br />
Was wohl von Vorteil ist. „Lars arbeitet,<br />
glaube ich, ähnlich wie ich aus der Reduktion<br />
heraus. Ich versuche, Situationen<br />
klar zu denken, sie aber nicht auszustellen.<br />
Im Theater kann man so nicht arbeiten.<br />
Im Film schon.“ Claudia Michelsen<br />
ist heute erfolgreicher denn je. Für ihre<br />
Rolle im „Turm“, der Verfilmung des Romans<br />
von Uwe Tellkamp, hat sie dieses<br />
Jahr den „Grimme-Preis“ und die „Goldene<br />
Kamera“ bekommen.<br />
Wer oben ist, kann wieder fallen. Davor,<br />
sagt sie, hat sie k<strong>ein</strong>e Angst. „Wenn<br />
es mal nicht mehr so läuft oder ich das<br />
Gefühl habe, im Mittelmaß zu versinken,<br />
dann mache ich etwas ganz anderes. Ich<br />
kann ja immer noch Funkerin werden.“<br />
ingo langner ist Dokumentarfilmer<br />
und Publizist. Als Westberliner war ihm<br />
Claudia Michelsen <strong>ein</strong>st <strong>ein</strong>en Blick über<br />
die Mauer wert<br />
Foto: Gregor Hohenberg/laif<br />
120<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Salon<br />
Porträt<br />
leise Töne braucht die Welt<br />
Für den österreichischen Komponisten Peter Androsch ist Demokratie <strong>ein</strong> Klangraum.<br />
Deshalb kämpft er gegen die akustische Umweltverschmutzung unserer Tage<br />
Von Irene Bazinger<br />
Foto: Norbert Artner<br />
Wohl k<strong>ein</strong> Sinnesorgan wird in<br />
der modernen Welt so beansprucht<br />
wie die Ohren – nicht<br />
nur wegen der Lautstärke des Verkehrs<br />
auf Straßen, Schienen, in der Luft, sondern<br />
auch wegen der permanenten Beschallung<br />
in Kaufhäusern, Fahrstühlen,<br />
als Klangteppich unter den Nachrichten,<br />
durch hochfrequente Geräusche elektronischer<br />
Geräte von der Lüftung bis zum<br />
Drucker. Die armen Ohren können sich<br />
nicht schützen wie die Augen, die sich<br />
<strong>ein</strong>fach schließen lassen, sie sind Tag und<br />
Nacht in Betrieb.<br />
Die Weltgesundheitsorganisation<br />
WHO führt Lärm global als zweitgrößtes<br />
Gesundheitsrisiko an, erzählt der österreichische<br />
Komponist und Akustikexperte<br />
Peter Androsch – „und trotzdem gibt es<br />
kaum Resonanz darauf! Wenn man bedenkt,<br />
wie dagegen die Kampagne gegen<br />
das Rauchen durchgeboxt wurde“:<br />
Insofern sind Konsequenzen in Stadtplanung<br />
oder Architektur nicht zu erwarten,<br />
fürchtet er.<br />
Da die Betroffenen der permanenten<br />
auditiven Überforderung aus allen<br />
Schichten stammen und k<strong>ein</strong>e homogene<br />
Gruppe sind, und da Akustik als<br />
Themenkomplex in diverse Bereiche<br />
wie Bauwesen, Stadtentwicklung, Medizin<br />
oder Arbeitsschutz hin<strong>ein</strong>reicht, hat<br />
sich bislang k<strong>ein</strong>e Lobbyvertretung formiert.<br />
Auch politisch passiert wenig, zumal<br />
das Sujet <strong>ein</strong>iges an Dynamit b<strong>ein</strong>haltet,<br />
rührt es doch „an die Grundfesten<br />
der kapitalistischen Gesellschaft, die wie<br />
<strong>ein</strong> Drogenkranker an dem Suchtmittel<br />
Mobilität hängt. Und schon sind wir mittendrin<br />
in der Lärmmisere, denn Autos,<br />
selbst mit Elektromotor, machen ab <strong>ein</strong>er<br />
bestimmten Geschwindigkeit unweigerlich<br />
Krach.“<br />
Peter Androsch, 50 Jahre alt, ausgebildeter<br />
Jazzgitarrist, der es <strong>ein</strong> paar<br />
Semester lang mit dem Studium der Sozialwirtschafts-<br />
und Volkswirtschaftslehre<br />
versuchte, stützt sich in s<strong>ein</strong>em Atelier<br />
in Linz an der Donau auf das Klavier,<br />
das ihm beim Komponieren hilft. <strong>Der</strong><br />
Zusammenhang zwischen Politik und<br />
Kunst hat ihn, der Hanns Eisler und Luigi<br />
Nono als s<strong>ein</strong>e Vorbilder nennt, immer<br />
beschäftigt.<br />
Darum hat er, als er das Musikprogramm<br />
für die Kulturhauptstadt Linz<br />
2009 entwarf, den Akzent nicht auf Repräsentationskultur<br />
mit kostenintensiven<br />
Orchestergastspielen gelegt, sondern sich<br />
nachhaltigen Konzepten zugewandt: Wie<br />
lässt sich <strong>ein</strong> allgem<strong>ein</strong>es Bewussts<strong>ein</strong> für<br />
akustische Herausforderungen schaffen?<br />
Was müssen Gebäude in der heutigen Situation<br />
akustisch leisten?<br />
Nach wie vor treibt ihn diese Problematik<br />
um – auch bei der Internationalen<br />
Bauausstellung 2013 in Hamburg, wo er<br />
<strong>ein</strong>en Klangplan mit „Hörenswürdigkeiten“<br />
entwickelte. Wie viel Prozent Komponist<br />
ist er inzwischen noch, wie viel<br />
schon Aktivist? Peter Androsch überlegt<br />
k<strong>ein</strong>e Sekunde: „Beides zu 100 Prozent!“<br />
Er ist <strong>ein</strong> wacher, schräger Vogel, der eigentlich<br />
längst über s<strong>ein</strong>e Linzer Provinz<br />
hinausgewachsen ist, aber k<strong>ein</strong>e Lust hat,<br />
sich dem Dickicht der Großstädte auszusetzen.<br />
Er will lieber die Offenheit des<br />
Denkens in Stadt und Land auf s<strong>ein</strong>e Art<br />
be<strong>ein</strong>flussen.<br />
So arbeitet er mit internationalen Experten<br />
daran, dass sich sukzessive <strong>ein</strong>e<br />
akustische Ökologie im Bauwesen herausbildet.<br />
Er hofft auf <strong>ein</strong>e Akustik, die sich<br />
verstärkt an den Bedürfnissen des Menschen<br />
orientiert. Denn wenn <strong>ein</strong> Besprechungsraum,<br />
das Foyer <strong>ein</strong>er Behörde, <strong>ein</strong><br />
Klassenzimmer oder <strong>ein</strong> Schwimmbad<br />
geräuschtechnisch verträglich ausgestattet<br />
ist, fühlt man sich dort <strong>ein</strong>fach wohler.<br />
Damit m<strong>ein</strong>t er nicht bloß die Lautstärke,<br />
die „nicht per se böse“ sei, denn<br />
„r<strong>ein</strong>e Stille ist der Tod!“ Entscheidend<br />
sei die Balance zwischen phonetischen<br />
Belastungen und Entlastungen. Wird sie<br />
gestört, kann sogar leiser Lärm krank<br />
machen und Stresssymptome, Kopfschmerzen,<br />
Schwindelgefühle hervorrufen.<br />
Die Akustik, sagt Peter Androsch, ist<br />
<strong>ein</strong> politisches Thema, weil sie ins Herzstück<br />
der demokratischen Grundordnung<br />
zielt, das da heißt: „Eine Stimme haben<br />
und gehört werden.“ Wenn das nicht<br />
klappt, ist Gefahr im Verzug.<br />
Wohin das mitunter führen kann,<br />
zeigte er extrem zugespitzt in s<strong>ein</strong>er Oper<br />
„Spiegelgrund“. Sie wurde zum diesjährigen<br />
Holocaust-Gedenktag im österreichischen<br />
Parlament in Wien uraufgeführt. In<br />
dem oratoriumsartigen Werk geht es um<br />
die rund 800 kranken oder behinderten<br />
Kinder und Jugendlichen, die zwischen<br />
1940 und 1945 in der berüchtigten Wiener<br />
NS-Euthanasieklinik „Am St<strong>ein</strong>hof“<br />
ermordet wurden.<br />
Überlebende wurden vom Quietschen<br />
des Handkarrens verfolgt, das der<br />
Hausknecht erzeugte, wenn er wieder<br />
<strong>ein</strong>e Ladung misshandelter, für medizinische<br />
Experimente missbrauchter Leichen<br />
abfuhr. <strong>Der</strong>en Farbe wurde als „Rotgrünblau“<br />
beschrieben. Wie <strong>ein</strong>e Erlösung<br />
wird diese Erinnerung, auf welche die<br />
gesamte Oper hinausläuft, am Ende ausgesprochen:<br />
„Kl<strong>ein</strong>e tote Kinder schimmern<br />
/ Rotgrünblau.“ Berührend zeigt Peter<br />
Androsch zugleich s<strong>ein</strong>e Vision von<br />
engagierter Kunst: Den zum Schweigen<br />
Gebrachten <strong>ein</strong>e Stimme zu geben und<br />
Gehör zu verschaffen.<br />
irene Bazinger ist Theaterkritikerin<br />
und hört auf Peter Androsch, seit er<br />
<strong>ein</strong> famoses Musikprogramm für die<br />
Kulturhauptstadt Linz 2009 entwarf<br />
123<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Salon<br />
Man sieht nur, was man sucht<br />
Zum Sehen geboren,<br />
zum Schauen bestellt<br />
Von Beat Wyss<br />
Foto: Andi Stalder/Kunstmuseum Luzern<br />
124<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Er malte die „Gesichter <strong>ein</strong>er Epoche“, der<br />
Aufklärung. Anton Graff ist nun <strong>ein</strong>e Ausstellung<br />
in der Berliner Alten Nationalgalerie gewidmet<br />
Zum Autor<br />
Foto: Artiamo<br />
Vertieft ins unverwandte Herschauen,<br />
die Augen ruhig<br />
auf s<strong>ein</strong> Gegenüber geheftet:<br />
So haben Anton Graff<br />
an die tausend Menschen erlebt,<br />
die dem Schweizer Maler am sächsischen<br />
Hof für <strong>ein</strong> Porträt Modell saßen.<br />
Graffs Schwiegervater und Winterthurer<br />
Landsmann, der Philosoph Johann Georg<br />
Sulzer in Berlin, hatte <strong>ein</strong>igen Sitzungen<br />
beigewohnt; er berichtet, dass manche<br />
den Blick kaum ertragen konnten. Hier<br />
sehen wir den Porträtmaler, wie er diesen<br />
Blick auf das eigene Bild im Spiegel<br />
richtet. Er steht, 50-jährig, auf dem Höhepunkt<br />
s<strong>ein</strong>er Laufbahn.<br />
Ein Jahr, nachdem dieses Bildnis<br />
entstand, versuchte der preußische Hof,<br />
Graff mit der Aussicht auf <strong>ein</strong> Jahresgehalt<br />
von 1200 Talern nach Berlin zu locken;<br />
doch Dresden erhöhte das Gehalt<br />
des Umworbenen und verlieh ihm <strong>ein</strong>e<br />
Professur an der Königlichen Akademie.<br />
In der Residenzstadt an der Elbe gab<br />
sich <strong>ein</strong>e internationale Kundschaft aus<br />
Russland, Polen, Frankreich und Großbritannien<br />
ihr Stelldich<strong>ein</strong>. Graff malte<br />
Vertreter des Adels und des Bürgertums,<br />
die Geistesgrößen s<strong>ein</strong>er Zeit, aber auch<br />
Bildnisse wie das von Johann Samuel<br />
Nagel, dem Markthelfer des Leipziger<br />
Verlegers Philipp Erasmus Reich.<br />
<strong>Der</strong> bescheidene Angestellte wird<br />
mit derselben Aufmerksamkeit geschildert,<br />
die der Künstler bei der Selbstbeobachtung<br />
an den Tag legt. Überhaupt sind<br />
Graffs beste Bildnisse jene, wo Standesmerkmale<br />
k<strong>ein</strong>e Rolle spielen oder wo<br />
Autoritäten auftreten, die auf ihre Insignien<br />
im Porträt verzichten, um sich als<br />
Aufklärer in Szene zu setzen, allen voran<br />
König Friedrich II. von Preußen. Es ist<br />
das populärste Bildnis von Graff. Zweimal<br />
war das Brustbild Vorlage für <strong>ein</strong>e<br />
Sonderbriefmarke der Deutschen Post.<br />
Anton Graff ( 1736 – 1813 ): Selbstbildnis,<br />
um 1787, Luzern, Kunstmuseum<br />
Als Siebdruck von Andy Warhol fand<br />
Graffs Kunst Eingang ins Popzeitalter.<br />
Auch unser aller Bild von Friedrich<br />
Schiller stammt von Anton Graff. Durch<br />
Nachstiche ist der Dichter mit dem offenen<br />
Schillerkragen, ungebändigt blondem<br />
Haarschopf, die Wange in theatralischer<br />
Nachdenklichkeit auf die linke<br />
Hand gestützt, ins kollektive Gedächtnis<br />
<strong>ein</strong>gewandert, während der Ruhm des<br />
Winterthurer Meisters verblasste.<br />
Zu Lebzeiten war Anton Graff <strong>ein</strong><br />
klingender Name. Neben s<strong>ein</strong>en Malerkollegen<br />
malte er Bühnenheldinnen und<br />
-helden wie Esther Charlotte Brandes, August<br />
Wilhelm Iffland und Gertrud Elisabeth<br />
Mara, Primadonna der Berliner<br />
Oper. Er malte Philosophen und Dichter<br />
wie Gotthold Ephraim Lessing, Johann<br />
Gottfried Herder, Moses Mendelssohn,<br />
Christoph Martin Wieland und Dorothea<br />
Schlegel. Graff malte die Persönlichkeiten,<br />
die das soziale Netz der Aufklärung<br />
in Gang hielten wie Henriette Herz, in<br />
deren Berliner Salon sich Geld und Geist<br />
zusammenfanden, oder Christoph Friedrich<br />
Nicolai, dessen Verlag intellektuelle<br />
Streitkultur verbreitete. Nicht aufzählen<br />
können wir die Bildnisse der Prinzen und<br />
Könige von Sachsen und Preußen.<br />
Vor uns sehen wir jetzt den Künstler,<br />
dem all die Genannten gesessen haben.<br />
Aus Graffs schlichtem Hausrock blitzt,<br />
fast etwas nachlässig, <strong>ein</strong>e Spitze der<br />
weißen Halsbinde. An Rembrandt, dessen<br />
Werke der Dresdener Galerie ihm gut<br />
bekannt waren, schätzte unser Maler besonders<br />
die Art, wie sich das Bedeutsame<br />
im Bildnis – Kopf und Hand – aus monochromer<br />
Dämmerung ins Helle ringt.<br />
Akademien hat Graff k<strong>ein</strong>e besucht.<br />
Zielstrebig ließ er sich in Augsburg zum<br />
Porträtisten ausbilden. Fleiß war gefragt,<br />
nicht Genie. Das gewerbsmäßig-nüchterne<br />
Verhältnis zur Malerei hat sich zum<br />
künstlerischen Blick geläutert, der die gezierte<br />
Standesgebärde des Rokoko durchbricht.<br />
Größte Aufmerksamkeit schenkt<br />
Beat Wyss<br />
ist <strong>ein</strong>er der bekanntesten<br />
Kunsthistoriker des Landes.<br />
Er lehrt Kunstwissenschaft<br />
und Medienphilosophie an<br />
der Staatlichen Hochschule<br />
für Gestaltung in Karlsruhe<br />
Graff der Wiedergabe der Augen: Sie bilden<br />
die Seele, die den physiognomischen<br />
Leib zusammenhält. Ihre Lebendigkeit<br />
verdanken sie den weißen Lichtern, die<br />
der Iris aufgesetzt sind. <strong>Der</strong> Glanz der<br />
Augensterne verklärt die besonderen<br />
Charaktermerkmale zur Idee der individuellen<br />
Würde jedes Menschen. Graffs<br />
Geheimnis besteht darin, die Augen der<br />
Porträtierten leicht vergrößert zu malen.<br />
Es entsteht <strong>ein</strong>e Wirkung wie in den hellenistischen<br />
Mumienporträts von Fayun,<br />
die uns mit hellwachen Augen ansehen,<br />
als seien die gemalten Gesichter von den<br />
Toten schon wieder auferstanden.<br />
Für diese Kolumne wählte ich aus<br />
den rund 80 Selbstporträts von Anton<br />
Graff das unbekannteste. <strong>Der</strong> Künstler<br />
wiederholte dieses Werk gleich zweimal<br />
und ließ es mit s<strong>ein</strong>er Unterschrift gar in<br />
Kupfer stechen. Es galt ihm offenbar als<br />
Programmbild an Schlichtheit. Es streift<br />
alles Spektakuläre ab bis auf die Wurzel<br />
des Begriffs: Nicht Spectaculum, sondern<br />
speculum, <strong>ein</strong> Spiegel, soll das Bildnis<br />
s<strong>ein</strong>. Das Selbstporträt ist <strong>ein</strong>e strenge<br />
Gattung, die das Betrachten in <strong>ein</strong> Spiegelverhältnis<br />
bringt, wo dir <strong>ein</strong> Ich als Du<br />
auf Augenhöhe begegnet.<br />
125<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Salon<br />
Gespräch<br />
„ich Lebe von<br />
zustimmung“<br />
Moderation Frank A. Meyer<br />
Gipfeltreffen der Geistesgrößen:<br />
Peter Sloterdijk und Martin Walser über<br />
Schönheit als politische Kraft,<br />
den Aufstieg der Expertokratie,<br />
den Abstieg Europas und das<br />
Mädchengesicht der Angela Merkel.<br />
Protokoll <strong>ein</strong>er denkwürdigen Begegnung<br />
im Berliner Ensemble<br />
Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz (Seiten 126 bis 134)<br />
126<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
127<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Salon<br />
Gespräch<br />
Von Ihnen, Martin Walser, stammt der<br />
Satz: „Mehr als schön ist nichts.“ Das<br />
müssen Sie erklären.<br />
Martin Walser: Ich habe auch <strong>ein</strong>mal<br />
geschrieben, es sei unsere wichtigste<br />
Fähigkeit, dass wir etwas schön<br />
finden können. Das habe ich gemerkt bei<br />
allen möglichen Lektüren über Versuche<br />
mit dem Wort Erlösung. Selbst bei<br />
Adorno und Benjamin kommt manchmal<br />
das Wort Erlösung vor, mit allen möglichen<br />
Zugänglichkeiten. Mir aber sch<strong>ein</strong>t,<br />
die <strong>ein</strong>zige Möglichkeit zur Erlösung ist<br />
Schönheit. Andererseits musste ich nun<br />
an drei Zeitgenossen denken, die den<br />
Gegentext zu diesem Satz publiziert<br />
haben: Botho Strauß mit dem „Plurimi-Faktor“,<br />
Hans Magnus Enzensberger<br />
im Aufsatz „Vom Terror der Reklame“<br />
und m<strong>ein</strong> Kollege Michael Krüger, Präsident<br />
der Akademie der schönen Künste<br />
in München. Er hat in <strong>ein</strong>er Rede gefragt,<br />
ob es heute überhaupt das Schöne gebe.<br />
Botho Strauß trauert dem Einzelgänger<br />
nach und wendet sich gegen die Masse<br />
der bloß Informierten. Die Demokratisierung<br />
unserer Lebensbereiche macht<br />
er herunter. <strong>Der</strong> Aufsatz ist sehr schön<br />
geschrieben, bloß kann man ihn in k<strong>ein</strong>em<br />
Satz akzeptieren. Es kommt nämlich<br />
das Wort Schönheit überhaupt nicht<br />
vor. Warum hat er nicht gemerkt, dass<br />
es das Schöne noch gibt, dass die Natur<br />
immer noch schön ist?<br />
Herr Sloterdijk, darf ich den Satz weiterreichen,<br />
„Mehr als schön ist nichts“?<br />
Gibt es <strong>ein</strong>e philosophische Implikation?<br />
Peter Sloterdijk: Zunächst gibt es <strong>ein</strong>en<br />
Vierten in der Liste, der <strong>ein</strong>en Einspruch<br />
gegen dieses Schönheitsbekenntnis<br />
vorträgt. Es ist <strong>ein</strong> gewisser Martin<br />
Walser, der in <strong>ein</strong>em schönen Buch aus<br />
dem Jahr 1985, „Meßmers Gedanken“,<br />
lapidar sagt: „Als es schön war, wusste<br />
ich es nicht.“ Es handelt sich offenbar um<br />
<strong>ein</strong>en spontanen Neoplatonismus. Wir<br />
kennen von dem britischen Mathematiker<br />
und Philosophen Whitehead die anzügliche<br />
Bemerkung, wonach die ganze<br />
europäische Philosophie nichts anderes<br />
sei als <strong>ein</strong>e lange Serie von Fußnoten zu<br />
Platon. Ich glaube, dass wir hier heute<br />
auch <strong>ein</strong>e solche Fußnote erzeugen, wenn<br />
wir die Wiederkehr des Schönheitsbewussts<strong>ein</strong>s<br />
nach s<strong>ein</strong>er realistischen Zersetzung<br />
diskutieren.<br />
Zur Person<br />
Martin Walser<br />
zählt zu den profiliertesten wie<br />
produktivsten Poeten<br />
deutscher Sprache. Den<br />
Kosmos zwischen Mann und<br />
Frau hat er ganz ausgemessen,<br />
zuletzt in den Romanen „Die<br />
Inszenierung“, „Das dreizehnte<br />
Kapitel“ und „Muttersohn“.<br />
Auch „Über Rechtfertigung“<br />
dachte er nach<br />
„Ich wähle seit<br />
längerem k<strong>ein</strong>e<br />
Parteiprogramme<br />
mehr. Ich wähle<br />
nur noch Personen.<br />
Personen kenne<br />
ich, Parteiprogramme<br />
sind<br />
Selbstbefriedigungen<br />
von Politintellektuellen“<br />
Martin Walser<br />
Inwiefern handelt es sich um <strong>ein</strong>e<br />
Wiederkehr?<br />
Sloterdijk: Es gibt mittlerweile Differenzierungen<br />
gegen das Realismusdogma.<br />
Seit der Romantik ist das Schöne<br />
immer zu schön, um wahr zu s<strong>ein</strong>. Wenn<br />
Kunst wahr s<strong>ein</strong> soll, muss sie also das<br />
Bündnis mit dem Realen suchen, und das<br />
Reale wird überwiegend auf der hässlichen<br />
Seite gefunden. Aus dieser Konstellation<br />
heraus ist große Kunst entstanden,<br />
seit mehr als 100 Jahren. Jetzt aber treten<br />
wir in <strong>ein</strong>e Phase nach der Hässlichkeit<br />
<strong>ein</strong>, nach der Realität, in der man es<br />
sich wieder gestattet, das Schöne zu sehen.<br />
Texte Martin Walsers, sch<strong>ein</strong>t mir,<br />
könnten zum großen Teil anfangen mit<br />
dem Satz: Ich erlaube mir, jetzt wieder<br />
zu sagen. Dieser Wiederentdeckungscharakter<br />
begleitet viele s<strong>ein</strong>er spontansten<br />
Erfindungen.<br />
Walser: Nietzsche notierte <strong>ein</strong>mal:<br />
„Es ist leichter, gigantisch zu s<strong>ein</strong> als<br />
schön.“ Das erinnert mich an <strong>ein</strong>e Stelle<br />
in der Bibel, im Buch Samuel. <strong>Der</strong> Riese<br />
Goliath, heißt es da, verachtete den Hirtenjungen<br />
David, „denn er war <strong>ein</strong> Knabe,<br />
bräunlich und schön“. <strong>Der</strong> Gigantische<br />
hat k<strong>ein</strong> Sensorium, um Davids Schönheit<br />
zu erleben. Zu Recht also legt David<br />
ihn um.<br />
Wir wollen heute auch über den Zustand<br />
der Welt reden. Fehlt uns bei der<br />
Betrachtung dieser Welt der ästhetische<br />
Blick?<br />
Sloterdijk: Die Leute mit dem Goliath-Faktor<br />
sehen das Schöne nicht. Bei<br />
denen hingegen, deren vorgeburtliche<br />
Erinnerung an das Schöne noch lebendig<br />
ist, bricht gelegentlich das Schöne<br />
in Form <strong>ein</strong>es heftigen Heimwehs durch.<br />
Platon hat in diesem Zusammenhang –<br />
fast wie <strong>ein</strong> Martin Walser ante litteram –<br />
über das menschliche Gesicht geschrieben.<br />
Wenn er über das Schöne im Beispiel<br />
sprechen sollte, hat Platon vom Gesicht<br />
gesprochen. Ganz anders hält es unser<br />
Kollege Bazon Brock in Karlsruhe, der<br />
seit Jahrzehnten <strong>ein</strong>en Zettel mit s<strong>ein</strong>en<br />
Schönheitsfavoriten in der Tasche<br />
trägt, um zu dokumentieren, wie sich<br />
bei ihm das Schönheitsempfinden gewandelt<br />
hat. Seit Jahrzehnten hat er die<br />
weibliche Brust an erster Stelle. Ich weiß<br />
nicht, ob er sich inzwischen <strong>ein</strong>es Besseren<br />
besonnen hat.<br />
128<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Anzeige<br />
Bei Platon hätte man also <strong>ein</strong>en Zettel<br />
mit <strong>ein</strong>em Gesicht gefunden.<br />
Sloterdijk: Ja, Platon hält sich an das<br />
menschliche Gesicht. Wenn jemand, der<br />
noch die frische Erinnerung an das Ur-<br />
Schöne hat, <strong>ein</strong> solches Gesicht erblickt,<br />
wird er wie von <strong>ein</strong>er schweren Krankheit<br />
ergriffen. In ihm setzt <strong>ein</strong> Vorgang<br />
<strong>ein</strong>, den Platon die „Wiederbefederung<br />
der Seele“ nennt. Die Seele verwandelt<br />
sich in <strong>ein</strong> geflügeltes Wesen zurück. Im<br />
Goliath-Zustand sind wir entfiedert, im<br />
platonischen Zustand werden wir wieder<br />
befedert. Wir gewinnen die Fähigkeit zur<br />
Levitation zurück, entwickeln antigrave<br />
Tugenden. Wir können wieder fliegen.<br />
Walser: Unlängst musste ich mich<br />
zur Bundestagswahl äußern. Da habe<br />
ich unter anderem gesagt: Wer recht<br />
haben muss, muss St<strong>ein</strong>brück wählen.<br />
Wer leben will, kann Angela Merkel<br />
wählen. Als ich dann über Frau Merkel<br />
nachdachte, fiel mir auf: Ihr Gesicht ist<br />
schön. Sie sagt im Unterschied zu St<strong>ein</strong>brück<br />
k<strong>ein</strong>e Sätze, die gebraucht wirken,<br />
und sie hat immer noch <strong>ein</strong> Mädchen im<br />
Gesicht.<br />
Ein kühnes Beispiel.<br />
Walser: Damit Sie mich nicht missverstehen,<br />
will ich das erläutern. In Platons<br />
„Symposion“ erklärt Diotima dem<br />
Sokrates das Wesen des Eros. Da heißt<br />
es: „Denn dies ist die rechte Art, sich auf<br />
die Liebe zu legen oder von <strong>ein</strong>em anderen<br />
dazu angeführt zu werden, dass man<br />
mit diesem <strong>ein</strong>zelnen Schönen beginnt,<br />
jenes <strong>ein</strong>en Schönen wegen immer höher<br />
hinaufsteigt, gleichsam stufenweise<br />
von <strong>ein</strong>em zu zweien, von zweien zu allen<br />
schönen Gestalten und von den schönen<br />
Gestalten zu den schönen Sitten und<br />
Handlungsweisen und von den schönen<br />
Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis<br />
man von den Kenntnissen endlich zu<br />
jener Kenntnis gelangt, die von nichts<br />
anderem als eben von jenem Schönen<br />
selbst die Kenntnis ist. Und man also<br />
zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne.“<br />
Diese gesteigerte Schönheit,<br />
die nicht in <strong>ein</strong>e Glanzpostille gehört,<br />
m<strong>ein</strong>e ich mit Frau Merkel.<br />
Sloterdijk: Die Passage zeigt klar,<br />
dass Philosophie <strong>ein</strong>e Art Übertreibungskunst<br />
darstellt. Man übertreibt so lange,<br />
dass man am Ende Frau Merkel gar nicht<br />
mehr sieht. Wir landen bei den schönen<br />
Sitten und irgendwann beim Inbegriff<br />
des Schönen selbst.<br />
Walser: Ich wähle übrigens seit längerem<br />
k<strong>ein</strong>e Parteiprogramme mehr,<br />
ich wähle nur noch Personen. Personen<br />
kenne ich, Parteiprogramme sind Selbstbefriedigungen<br />
von Politintellektuellen,<br />
die mich nicht interessieren. Insofern ist<br />
es <strong>ein</strong> wunderbares Ereignis, dass die<br />
Deutschen diese Frau mit 41,5 Prozent gewählt<br />
haben. Das ist <strong>ein</strong> feierliches Datum.<br />
Können wir denn generell bei <strong>ein</strong>er Entscheidung<br />
das Schöne auch für das Gute<br />
halten? Ist das nicht <strong>ein</strong> verführerisch<br />
gefährlicher Weg?<br />
Sloterdijk: In jungen Jahren haben<br />
uns Lehrer und Autoren immer vor der<br />
Ästhetisierung der Politik gewarnt. Das<br />
war <strong>ein</strong>e Schlüsselformel der 68er-Generation.<br />
Sobald im politischen Raum ästhetische<br />
Phänomene auftauchen, habe<br />
man es aller Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit nach<br />
mit Faschismus zu tun. So lautete die<br />
Basisdiagnose. Im Rückblick auf die fatalen<br />
zwölf Jahre hat man Verallgem<strong>ein</strong>erungen<br />
gebildet und uns dazu aufgefordert,<br />
den politischen Raum insgesamt<br />
wie <strong>ein</strong>e puritanische Kirche <strong>ein</strong>zurichten<br />
oder wie <strong>ein</strong>e zisterziensische Kathedrale,<br />
in welcher die Schmucklosigkeit<br />
das höchste Gebet darstellt. Die Kunst,<br />
alles wegzulassen, wäre demnach die eigentliche<br />
Anbetung. Die Wahrheit käme<br />
nur im Gewande der Schmucklosigkeit.<br />
Wobei es sich immer noch um Schönheit<br />
handeln kann.<br />
Sloterdijk: Das ist aber <strong>ein</strong>e andere<br />
Ästhetik. Es gab <strong>ein</strong>e Zeit, als diese Kargheit<br />
das Milieu des politischen Denkens<br />
in <strong>Deutschland</strong> bestimmt hat, und es war<br />
nicht immer nur <strong>ein</strong>e schlechte Zeit. Aber<br />
man hatte den Bogen überspannt. Heute<br />
ist es ganz offenkundig: <strong>Der</strong> Trend läuft<br />
zur Repersonalisierung der Politik und<br />
weg vom Glauben an die Programme.<br />
Martin Walser hat in s<strong>ein</strong>en Ausführungen<br />
über Botho Strauß die Schönheit<br />
des „Plurimi“-Textes gerühmt, aber kritisiert,<br />
Strauß werfe eigentlich die Demokratie<br />
weg. Ich bin zutiefst überzeugt,<br />
dass die Demokratie eigentlich<br />
schön ist. Die Kategorie des Schönen<br />
muss nicht zwangsläufig zum perversen<br />
Schönheitsideal des Faschismus führen.<br />
129<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013<br />
Aus dem Englischen von Sven Scheer und Rita<br />
Seuß. 598 S. Geb € 24,95 ISBN 978-3-406-65595-1<br />
„Command and Control gehört<br />
zu den alptraumhaftesten<br />
Büchern, die in den letzten Jahren<br />
geschrieben wurden. Und<br />
es ist umso erschreckender, als<br />
es so unabweisbar richtig und<br />
so verdammt gut lesbar ist.“<br />
John Lloyd, Financial Times<br />
„Er hat Unmengen an Archivmaterial,<br />
vor allem Regierungsberichte<br />
sowie die Literatur für<br />
und gegen Atomwaffen ausgewertet<br />
und zu <strong>ein</strong>er straffen<br />
Erzählung verdichtet, die über<br />
fünfzig Jahre technischer und<br />
politischer Entwicklung abdeckt.“<br />
Louis Menand, The New Yorker<br />
C.H.BECK<br />
WWW.CHBECK.DE<br />
© Kodiak Greenwood
130<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
„Die sogenannten<br />
Fachleute, die<br />
Ökonomen,<br />
haben die<br />
Welterklärung<br />
übernommen.<br />
Manchmal<br />
denke ich, die<br />
Zahl hat das<br />
Wort besiegt“<br />
Frank A. Meyer<br />
lediglich drei, vier Grundmotive variiert.<br />
Tausende von Details werden nun in <strong>ein</strong>em<br />
großen Bildrahmen zusammengesetzt.<br />
Da beginnt die ästhetische Demokratie.<br />
Nicht die Personen versprechen<br />
den ersten Genuss, sondern die Dinge<br />
und Ersch<strong>ein</strong>ungen. Eines Tages schließt<br />
man dann von der Vielfalt der Ersch<strong>ein</strong>ungen<br />
auf das Menschenrecht auf Vielheit<br />
zurück.<br />
Da sind wir schon beim Dichten gelandet.<br />
In Ihren Romanen und Erzählungen,<br />
Martin Walser, gehen Sie auch der<br />
Schönheit in der Vielzahl nach.<br />
Walser: M<strong>ein</strong>e Arbeit besteht darin,<br />
etwas so schön zu sagen, wie es<br />
nicht ist. Das ist die Arbeit von Literatur<br />
überhaupt. Selbst Romane mit den<br />
schlimmsten Schlüssen werfen <strong>ein</strong>en weißen<br />
Schatten. Eine Szene bei Dostojewski<br />
kann noch so elend s<strong>ein</strong>, wir lesen sie<br />
trotzdem gerne. Die Kunst, die Sprache,<br />
macht es von selber schön.<br />
Aber das ist <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Plädoyer zur<br />
Bejahung dieser Welt, nicht wahr?<br />
Walser: Vern<strong>ein</strong>ung liegt mir nicht.<br />
Sloterdijk: Das setzt nur <strong>ein</strong>es voraus:<br />
Die Menschen müssen <strong>ein</strong>e Art von ästhetischer<br />
Erziehung durchlaufen, die<br />
es ihnen gestattet, auch in der Vielheit<br />
die Schönheit zu sehen. Das ist der antioder<br />
nicht mehr platonische Faktor in der<br />
heutigen demokratischen Ästhetik, denn<br />
dort hat man immer den Akzent in überwertiger<br />
Weise auf Einhalt, Homogenität,<br />
Differenzlosigkeit gesetzt. Nur in<br />
dem Maße, in dem die Vielfalt mit der<br />
Schönheit verbunden werden konnte, ist<br />
der Satz richtig, dass die Demokratie selber<br />
schön ist.<br />
Wäre <strong>ein</strong>e Koppelung von Schönheit und<br />
Vielfalt <strong>ein</strong>e neue Erfahrung?<br />
Sloterdijk: Bereits auf manchen<br />
Bildern der Renaissance beginnt diese<br />
Schönheit. Bei Giotto gibt es Reiter- und<br />
Schlachtenbilder, wo in der Fülle des Details<br />
sich die Emanzipation der Einzelgänger<br />
ankündigt. Auf der Ikone wurden<br />
Wir leben aber in <strong>ein</strong>er Zeit, deren<br />
Schlüsselwort die Krise ist. Und Krise<br />
ist der Moment, wenn ich zu vern<strong>ein</strong>en<br />
beginne.<br />
Sloterdijk: Krise ist <strong>ein</strong> Begriff, der<br />
aus der Medizin kommt. Aus der Studienordnung<br />
geht hervor, dass Menschen<br />
ohne medizinische Examen zu therapeutischen<br />
Berufen nicht zugelassen werden.<br />
Interessanterweise gibt es seit 200 Jahren<br />
sehr viele wilde Therapeuten, Weltärzte<br />
könnte man sie nennen oder Homöopathen<br />
der Gesellschaft. Leute auch<br />
wie Karl Marx, den Gott im Zorn zum<br />
homöopathischen Arzt der bürgerlichen<br />
Gesellschaft geschaffen hat, indem<br />
er ihr ihre eigene Melodie vorzuspielen<br />
vorschlug. Diese Art von Amateur-Therapie<br />
wird in der Gegenwart nicht mehr<br />
so hoch geschätzt, auch bei Personen, die<br />
weiterhin kritische Reaktionen pflegen.<br />
Ich glaube nicht, dass jeder Zeitgenosse<br />
so weit gehen kann wie Martin Walser,<br />
der s<strong>ein</strong> mangelndes Vern<strong>ein</strong>ungstalent<br />
hier in außerordentlicher Weise<br />
bewirtschaftet. Ich glaube aber wohl,<br />
das es dieselbe Art von Minderheit ist<br />
bei den Schönfindern wie bei denen, die<br />
131<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Salon<br />
Gespräch<br />
das Talent haben, alles schlimm zu finden<br />
– obwohl die Schlimmfinder die letzten<br />
30 Jahre den Ton angegeben haben.<br />
Wer ist denn nützlicher, um unser Gesellschaftsleben<br />
zu bewältigen, die<br />
Schönfinder oder die Hässlichfinder? Sie,<br />
Martin Walser, haben gesagt, Sie hätten<br />
den M<strong>ein</strong>ungsdienst quittiert, zu<br />
dem die Gesellschaft Sie genötigt habe.<br />
Walser: Es gab <strong>ein</strong>e Zeit, da habe ich<br />
tatsächlich geglaubt, es genüge, recht zu<br />
haben. Das ist vorbei. Ich habe gemerkt,<br />
welch trauriger Bewussts<strong>ein</strong>szustand das<br />
ist, recht zu haben. Dadurch, dass ich Sachen<br />
bestritten habe, sind sie erst lebendig<br />
geworden. Mit Blick auf den wunderbar<br />
geschriebenen Aufsatz von Botho<br />
Strauß und den entsetzlich rechthaberischen<br />
Enzensberger, den ich als <strong>ein</strong>en der<br />
liebenswürdigsten, intelligentesten Zeitgenossen<br />
immer verehrt habe, sage ich<br />
mir: Es gibt noch Natur. Ich lebe am Bodensee<br />
in <strong>ein</strong>em Naturtheater, wo jede<br />
Stunde die Natur mir neue Szenen serviert.<br />
Ich habe <strong>ein</strong> Kräuterbeet, da gibt es<br />
für mich <strong>ein</strong>e derart große Fülle, dass ich<br />
mit dem Erleben gar nicht nachkomme.<br />
Wenn ich mir <strong>ein</strong>e Rose anschaue, denke<br />
ich: M<strong>ein</strong> Gott, weiß ich noch morgen,<br />
wie du heute geblüht hast? Das tut mir für<br />
beide leid, für mich und die Rose.<br />
Sloterdijk: Damit bewegen wir uns<br />
zurück in das 14. und 15. Jahrhundert,<br />
als die Maler der italienischen Renaissance<br />
<strong>ein</strong>e neue Sicht auf die Natur entwickelt<br />
haben. Das ist jene Zeit, da das<br />
Naturschöne als solches entdeckt wird als<br />
kultivierte Landschaft. <strong>Der</strong> Mensch erlebt<br />
die Landschaft dann als schön, wenn<br />
er sie durch <strong>ein</strong> Fenster sehen kann. Im<br />
Publikum wie beim Maler wächst diese<br />
eigenartige Fähigkeit, solche Naturensembles<br />
auch kontemplativ anzusehen,<br />
ohne etwas davon zu wollen – nicht mit<br />
dem Jägerblick, nicht mit dem Bauernblick,<br />
nicht mit dem Wanderer- oder Soldatenblick,<br />
sondern mit dieser freigelassenen<br />
überschüssigen Seelenkraft, die<br />
durch die Malerei und durch die ästhetische<br />
Erziehung insgesamt freigesetzt<br />
wird. Glücklich, wer dies heute am Bodensee<br />
von früh bis spät fortführen kann.<br />
Walser: Aus gegebenem Anlass<br />
musste ich mir neulich Gedanken machen<br />
zu Griechenland. Es soll die EU verlassen,<br />
Sie kennen die Gründe. Ökonomen<br />
Zur Person<br />
Peter sloterdijk<br />
ist <strong>Deutschland</strong>s bekanntester<br />
Philosoph. S<strong>ein</strong>e Hauptwerke<br />
sind die „Kritik der zynischen<br />
Vernunft“, „Zorn und Zeit“ und<br />
„Du musst d<strong>ein</strong> Leben ändern“.<br />
Unlängst legte er „Zeilen und<br />
Tage: Notizen 2008–2011“ und<br />
„M<strong>ein</strong> Frankreich“ vor. Er lehrt an<br />
der Staatlichen Hochschule für<br />
Gestaltung in Karlsruhe<br />
„<strong>Der</strong> Experte<br />
ist für uns zu<br />
etwas geworden,<br />
was früher der<br />
Hofnarr war.<br />
Mit dem<br />
Unterschied<br />
freilich, dass<br />
der Experte die<br />
Unwahrheiten<br />
sagen muss oder<br />
die Halbwahrheiten,<br />
die zum<br />
System gehören“<br />
Peter Sloterdijk<br />
mit solchen Forderungen wissen nicht,<br />
dass wir alles, was Schönheit ist, in Griechenland<br />
gelernt haben. Und dass die<br />
griechische Kunst die <strong>ein</strong>zige Kunst der<br />
Welt ist, die sich über 2000 Jahre lang<br />
als schön erhalten hat. Europa ohne<br />
Griechenland wäre weniger schön. Das<br />
ist zwar k<strong>ein</strong> ökonomisches Argument,<br />
aber es ist das wichtigste.<br />
Mit dem Begriff der Schönheit kann<br />
man offensichtlich zu <strong>ein</strong>er Haltung<br />
kommen, die die Krisen zu bewältigen<br />
glaubt. Vielleicht ist das so, aber<br />
bei Ihnen, Herr Sloterdijk, las ich: „Intelligenz<br />
gibt es.“ Aus der Intelligenz<br />
folgt <strong>ein</strong>e starke ethische These: „Intelligenz<br />
existiert in positiver Korrelation<br />
mit dem Willen zur Selbstbewahrung.“<br />
Das hat mit Schönheit wenig zu<br />
tun. Es sei denn, wir erklären nun Intelligenz<br />
zur Schönheit.<br />
Sloterdijk: <strong>Der</strong> Satz ist nur dann<br />
wahr, wenn man ihn ergänzt: Intelligenz<br />
aber entsteht durch den ungeschützten<br />
Verkehr mit fremder Intelligenz.<br />
Diesen Vorgang beschreiben wir<br />
als Weltoffenheit. Max Scheler hat um<br />
1920 – erstaunlich spät in der Geschichte<br />
der Philosophie – diesen Begriff in die<br />
Diskussion <strong>ein</strong>geführt. In früheren Zeiten<br />
hat man <strong>ein</strong>fach geglaubt, dass der<br />
Mensch irgendwie zur Welt gehört wie<br />
der Daumen zur Hand. Ein echtes Beziehungsproblem<br />
wurde nicht wahrgenommen.<br />
In der modernen Philosophie<br />
haben sich die Verhältnisse etwas verschoben.<br />
Die Frage ist erörtert worden,<br />
ob Mensch und Welt überhaupt richtig<br />
zu<strong>ein</strong>anderpassen. Die Vermutung, dass<br />
dieses Verhältnis nicht blind vorausgesetzt<br />
werden darf, hat sich verschärft. Intelligenz<br />
ist nun das Organ der Weltoffenheit.<br />
Und Intelligenz als Ganzes führt<br />
auch den Wirklichkeitsbeweis insofern,<br />
dass es Probleme gibt. Probleme sind eigentlich<br />
die Themen, nicht die Sachen<br />
selbst. Ein Problem ist die Art und Weise,<br />
wie wir über Dinge reden.<br />
Wie kam es zu dieser Begrifflichkeit?<br />
Sloterdijk: Von Gorgias, dem griechischen<br />
Sophisten, wird berichtet, er sei<br />
<strong>ein</strong>mal in das große Dionysostheater von<br />
Athen gegangen. Vor 12 000 Menschen<br />
wandte er sich im Vollgefühl des Über-alles-reden-Könnens<br />
an das Publikum und<br />
132<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
warf ihm den Fehdehandschuh hin mit<br />
dem griechischen Wort provlímata – Problem<br />
klingt da an: „Gebt mit irgend<strong>ein</strong><br />
Thema.“ Werft mir irgendwas vor, und<br />
ich werde euch die Wahrheit über diese<br />
Sache sagen. Seither streiten auf der<br />
Bühne zwei Arten von Interpreten mit<strong>ein</strong>ander,<br />
die Realisten, die immer glauben,<br />
sie müssten zur Sache kommen, und die<br />
Wahrnehmungskünstler, die zum Thema<br />
reden können. Mit dieser Differenz haben<br />
wir es weiterhin zu tun.<br />
Sind Sie <strong>ein</strong> Wahrnehmungskünstler?<br />
Sloterdijk: Ich finde mich sehr leicht<br />
auf der Wahrnehmungsseite wieder.<br />
Aber Sie kommen auch gerne zum<br />
Thema. Zum Beispiel sagen Sie, „wir erleben<br />
<strong>ein</strong>en Adlerflug der Gier über <strong>ein</strong>er<br />
ungeheuren Landschaft von Gewinnen“.<br />
Das ist doch wohl zur Sache geredet.<br />
Sloterdijk: Seit der Antike gibt es<br />
die Erfahrung, dass die Wörter und die<br />
Dinge verschiedenen Ordnungen angehören.<br />
Dass die Redner reden, die Dichter<br />
dichten, und die reichen Leute und<br />
die Mächtigen machen, was sie wollen.<br />
Es gab nur <strong>ein</strong>e Situation, als griechische<br />
Kunst und römische Republik auf<strong>ein</strong>andertrafen<br />
und die Rhetorik selber die Politik<br />
war. Rhetorik war damals die Kunst,<br />
durch wohlgesetzte Rede die Stimmung<br />
der Menge so zu infizieren, dass richtige<br />
Entscheidungen getroffen werden konnten.<br />
Das war die beste Zeit des Verhältnisses<br />
von Wort und Wirklichkeit.<br />
Walser: Aber Ihnen ist gewiss die<br />
Stelle bekannt, nachdem Sokrates zum<br />
Tode verurteilt worden ist. Er wartet<br />
auf s<strong>ein</strong>e Hinrichtung und hat da <strong>ein</strong>en<br />
Traum. Und was sagt der Traum zu ihm?<br />
<strong>Der</strong> Traum sagt ihm: „Mache Musik!“,<br />
und das heißt: „Dichte!“ Sokrates merkt,<br />
es gibt noch etwas Schöneres als die r<strong>ein</strong>e<br />
Philosophie, nämlich die Dichtung. Er<br />
fängt an, die Fabeln von Aesop in Verse<br />
zu verwandeln.<br />
Sloterdijk: Sie kennen aber den<br />
Kommentar des jungen Nietzsche zu dieser<br />
Stelle? Er sagt, er glaube nicht, dass<br />
Sokrates mit diesen Versen die Musen<br />
versöhnt habe.<br />
Walser: Das ist <strong>ein</strong>er der billigsten<br />
Sätze von Nietzsche, die ich je gehört<br />
habe. An anderer Stelle schreibt er: Das<br />
Das<strong>ein</strong> der Welt ist auf ewig nur ästhetisch<br />
zu rechtfertigen. Er hat die Schönheit<br />
emporgehoben wie sonst niemand.<br />
Bedenken Sie: Die innere Stimme des<br />
Sokrates hat ihm nie etwas Positives gesagt,<br />
immer nur: „Mach das nicht, tu das<br />
nicht!“ Diese Stimme sagt nun: „Mach<br />
das!“, nämlich Dichten. Heilandzack, das<br />
ist doch ungeheuer.<br />
Sloterdijk: Wenn der junge Nietzsche<br />
die ästhetische Rechtfertigung der<br />
Welt lehrt, bezieht er sich auf die wenigen<br />
Stellen, an denen Schopenhauer diesen<br />
Ton angeschlagen hat. <strong>Der</strong> Mensch,<br />
der sonst immer auf der Galeere des Lebenmüssens<br />
und Kämpfenmüssens sitzt,<br />
angeschmiedet an der Ruderbank des<br />
Willens, ist in wenigen Momenten der<br />
Kontemplation plötzlich frei.<br />
Walser: Ich habe für mich immer gesagt:<br />
Mir fällt <strong>ein</strong>, was mir fehlt. Deswegen<br />
schreibe ich weiter, weil mir noch<br />
etwas fehlt. Schönheit ist sozusagen die<br />
Begleitersch<strong>ein</strong>ung. Wichtiger ist das Motiv,<br />
warum man schreibt.<br />
Haben wir nicht, Peter Sloterdijk, das<br />
große Problem heute, dass die sogenannten<br />
Fachleute, die Ökonomen die<br />
Welterklärung übernommen haben? Es<br />
fehlt oft die Wortmeldung der Denkenden,<br />
seien es Dichter oder Philosophen.<br />
Sie selbst treten oft auf. Macht<br />
es Ihnen auch Sorge, wie stark wir in<br />
<strong>ein</strong>er durchökonomisierten Welt leben?<br />
Manchmal denke ich, die Zahl hat das<br />
Wort besiegt.<br />
Sloterdijk: Wir leben in erster Linie in<br />
<strong>ein</strong>er Welt, in der die Zentralperspektive<br />
verloren gegangen ist. Das ist das Merkmal<br />
des Übergangs von der klassischen<br />
Moderne zu der sogenannten Postmoderne.<br />
<strong>Der</strong> Pluralismus der Standpunkte<br />
und die Vielzahl der Orte, von denen<br />
aus Gesamtansichten entworfen werden<br />
können, sind inzwischen so groß geworden,<br />
dass man den Traum von <strong>ein</strong>st, man<br />
könne mit <strong>ein</strong>em Einheitsweltbild alle in<br />
<strong>ein</strong>em gem<strong>ein</strong>samen Raum versammeln,<br />
nicht mehr ohne Weiteres weiterträumen<br />
kann. Deshalb ist die Expertokratie<br />
entstanden. Die Wirklichkeitsfelder haben<br />
sich, um <strong>ein</strong> hässliches, aber nützliches<br />
Wort von Niklas Luhmann zu benutzen,<br />
ausdifferenziert. Die medizinische<br />
Welt ist für sich <strong>ein</strong> Kosmos geworden,<br />
der kaum noch gem<strong>ein</strong>same Nenner hat<br />
mit etwa der Sphäre des Rechts. <strong>Der</strong> Eigensinn<br />
auch der politischen Sphäre ist<br />
zu groß geworden. Die Welt des Sports<br />
hat sich vollkommen ausdifferenziert, die<br />
Welt des Unterrichts und der Pädagogik<br />
ebenso, die Welt der Wirtschaft selbstverständlich<br />
auch. Deswegen werden Experten<br />
ständig widerlegt. <strong>Der</strong> Experte<br />
ist dazu da, den gesunden Menschenverstand<br />
nach den Regeln der Kunst vor den<br />
Kopf zu stoßen. Er muss immer sagen: In<br />
<strong>ein</strong>er anderen Welt, <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>fachen Welt,<br />
in der wir noch <strong>ein</strong>e gem<strong>ein</strong>same Sprache<br />
hätten, könnten wir uns gut verständigen,<br />
und dann, liebes Publikum, wären d<strong>ein</strong>e<br />
Einwände vielleicht berechtigt. Aber wir<br />
Anzeige<br />
www.fischerverlage.de<br />
Die neue große<br />
Hitler-Biographie für unsere Zeit<br />
Wer war Hitler wirklich? Eindrucksvoll zeichnet der Historiker und Publizist Volker Ullrich <strong>ein</strong><br />
neues, überraschendes Porträt des Menschen hinter der öffentlichen Figur des »Führers«.<br />
Sichtbar werden dabei alle Facetten Hitlers: s<strong>ein</strong>e gewinnenden und abstoßenden Züge,<br />
s<strong>ein</strong>e Freundschaften und s<strong>ein</strong>e Beziehungen zu Frauen, s<strong>ein</strong>e Begabungen und Talente,<br />
s<strong>ein</strong>e Komplexe und s<strong>ein</strong>e mörderischen Antriebskräfte. Eine glänzend erzählte Biographie,<br />
die Hitler nicht als Monster zeigt, sondern als Meister der Verführung und Verstellung.<br />
Volker Ullrich im Gespräch:<br />
21. November, München, Gasteig<br />
1.088 Seiten, gebunden, € (D) 28,00
Salon<br />
Gespräch<br />
leben in der verkehrten Welt der ausdifferenzierten<br />
Subsysteme und in der musste<br />
alles so s<strong>ein</strong>, wie es ist. Deswegen ist der<br />
Experte für uns zu etwas geworden, was<br />
früher der Hofnarr war. Mit dem Unterschied<br />
freilich, dass der Experte die Unwahrheiten<br />
sagen muss oder die Halbwahrheiten,<br />
die zum System gehören.<br />
Aber wir wissen gleichzeitig, dass die<br />
Sphäre des Ökonomischen und die Sphäre<br />
des Medizinischen und die Sphäre des Politischen<br />
zusammengehören. Wäre nicht<br />
die Philosophie im Grunde genommen die<br />
Sphäre des Ganzen oder der Wiederherstellung<br />
des Ganzen?<br />
Sloterdijk: Philosophen wären dann<br />
Universaldilettanten.<br />
Dilettantismus aber in <strong>ein</strong>em positiven<br />
Sinn.<br />
Sloterdijk: Damit bewegen wir uns<br />
wieder im 18. Jahrhundert. <strong>Der</strong> vornehme<br />
arbeitslose Mensch, der Adlige<br />
mit freien Händen, frönt s<strong>ein</strong>er diletto,<br />
s<strong>ein</strong>er freudigen Anteilnahme an<br />
irgend<strong>ein</strong>er Kunst. Das ist dann s<strong>ein</strong>e<br />
Privatangelegenheit.<br />
Es war aber doch <strong>ein</strong>e ganz gewaltige gesellschaftliche<br />
Aufgabe damals. Eigentlich<br />
sind wir wieder im 18. Jahrhundert.<br />
Sloterdijk: Das mag so s<strong>ein</strong>. Es wird<br />
wohl auch immer wieder zu Versuchen<br />
kommen, die Renaissance der Zentralperspektive<br />
zu fordern. Aber, um <strong>ein</strong>mal<br />
<strong>ein</strong> Wort Ihres Schweizer Landsmanns<br />
Jean Gebser zu zitieren: Die „aperspektivische<br />
Welt“ ist inzwischen so evident<br />
geworden, dass selbst die Renaissance<br />
der Zentralperspektive nur episodisch<br />
erfolgen kann.<br />
Wäre denn nicht vielleicht Politik innerhalb<br />
der Demokratie die Sphäre des<br />
ganz konkreten alltäglichen Ganzen?<br />
Sloterdijk: So kann man an die Sache<br />
herangehen, dann ist aber die Überhöhung<br />
perdu. Denken Sie an den Aufsatz<br />
des vor sechs Jahren verstorbenen<br />
amerikanischen Philosophen Richard<br />
Rorty, der im Titel s<strong>ein</strong>e Grundidee ausspricht:<br />
„<strong>Der</strong> Vorrang der Demokratie<br />
vor der Philosophie“. So kann man auch<br />
weiter verhandeln.<br />
Walser: Ich fühle mich aber überhaupt<br />
nicht entmündigt durch diese<br />
In s<strong>ein</strong>em jüngsten Roman<br />
„Die Inszenierung“ lässt Walser<br />
den Regisseur Augustus Baum<br />
sagen: „Nur was wehtut, wird<br />
Geschichte.“ Doch auch <strong>ein</strong>e<br />
Umarmung hat ihre Historie<br />
„Martin Walser<br />
hat sehr früh<br />
erkannt, dass er<br />
nur die Wahl<br />
hat, sich<br />
entweder von<br />
der NSA oder<br />
dem BND<br />
beobachten zu<br />
lassen oder sich<br />
selbst zu<br />
beobachten“<br />
Peter Sloterdijk<br />
vielen Systeme und den Mangel an <strong>ein</strong>er<br />
Zentralperspektive. Ich habe <strong>ein</strong> vitales<br />
Bedürfnis, mich auszusprechen. Es<br />
kommt natürlich <strong>ein</strong>e Hoffnung dazu: Ich<br />
hoffe, dadurch zu erfahren, ob ich all<strong>ein</strong><br />
diese Ansicht habe oder ob es Zeitgenossen<br />
gibt, die mir zustimmen. Nur dadurch<br />
existiere ich. Ich lebe von Zustimmung,<br />
etwa durch Leserbriefe. So merke<br />
ich, dass ich k<strong>ein</strong>e systemischen Spezialprobleme<br />
beachten muss.<br />
Sloterdijk: <strong>Der</strong> Romancier kann sich<br />
mehr leisten als all diejenigen, die das<br />
Unglück haben, Experten zu s<strong>ein</strong>. Es gibt<br />
aber auch <strong>ein</strong>en dunkleren Begriff, der<br />
diese Zustimmung und diese Beobachtung<br />
mit<strong>ein</strong>schließt – die Überwachung.<br />
Martin Walser hat sehr früh erkannt, dass<br />
er nur die Wahl hat, entweder von der<br />
NSA oder dem Bundesnachrichtendienst<br />
sich beobachten zu lassen oder sich selbst<br />
zu beobachten. Ich darf <strong>ein</strong> Beispiel geben,<br />
aus dem hervorgeht, dass er wirklich<br />
gut beraten war, hier auf Selbstüberwachung<br />
zu setzen. Er schreibt in „Meßmers<br />
Gedanken“ <strong>ein</strong>e großartige Passage, die<br />
den Bundesnachrichtendienst hätte interessieren<br />
können: „Wenn <strong>ein</strong>er schreit, bis<br />
er stirbt, wenn er sich überhaupt nicht<br />
fügt, wenn er protestiert, solange er kann,<br />
wenn er überhaupt k<strong>ein</strong>e Fassung findet,<br />
wenn er nichts als s<strong>ein</strong>e Angst hinausbrüllt,<br />
wenn er nur noch von s<strong>ein</strong>er Feigheit<br />
quatscht, wenn er brüllt, er wolle,<br />
bevor er verrecke, noch die Welt in die<br />
Luft sprengen, wenn er brüllt, er werde<br />
es nicht zulassen, dass ihn auch nur <strong>ein</strong><br />
<strong>ein</strong>ziger Mensch überlebe, wenn er sämtliche<br />
Schallplatten, die er erreichen kann,<br />
zerbricht, wenn er k<strong>ein</strong>em die Illusion<br />
lässt, er könne Abschied nehmen von<br />
ihm, wenn er verlangt, alle müssten ununterbrochen<br />
um ihn herum s<strong>ein</strong>, wenn<br />
er jeden anspuckt, der sich ihm nähert,<br />
wenn er verlangt, alle sollten sich sofort<br />
die Pulsadern öffnen, wenn er sich unmöglich<br />
benimmt, dann benimmt er sich<br />
richtig, angemessen.“ Das ist doch <strong>ein</strong>en<br />
Überwachungsdienst wert, der nun Gott<br />
sei Dank im Inneren des Autors selber<br />
implantiert wurde.<br />
Walser und Sloterdijk waren am<br />
29. September Gäste des <strong>Cicero</strong>-Foyergesprächs.<br />
Das vollständige Gespräch<br />
können Sie als Videomitschnitt<br />
nachverfolgen unter:<br />
www.cicero.de / Gipfeltreffen<br />
134<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Einmal im Jahr gestaltet <strong>ein</strong> zeitgenössischer<br />
Künstler <strong>ein</strong>e Ausgabe der WELT<br />
Die Welt des<br />
Neo Rauch<br />
Am 30. Oktober am Kiosk
Salon<br />
Bibliotheksporträt<br />
lesen, was dich<br />
selber liest<br />
Die Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin Adriana<br />
Altaras braucht Bücher als Nahrungsmittel und Lebensbegleiter<br />
Von irene bazinger<br />
Wie schreibt man <strong>ein</strong>en Bestseller? Wenn man Adriana Altaras fragt,<br />
schaut sie ungläubig und lacht. Sie weiß es auch nicht – dabei ist ihr 2011<br />
mit „Titos Brille – Die Geschichte m<strong>ein</strong>er strapaziösen Familie“ <strong>ein</strong> solcher<br />
gelungen. 100 000 Exemplare wurden bislang davon verkauft, was<br />
die Schauspielerin und Regisseurin, die von sich sagt, erst in ihrem dritten<br />
Beruf Autorin zu s<strong>ein</strong>, selbst am meisten überraschte.<br />
Sechs Jahre lang arbeitete sie am ersten Buch, legte zwischendurch die<br />
mittelgroßen Ringbücher weg, die sie handschriftlich füllte, inszenierte und<br />
spielte währenddessen, schrieb weiter. Irgendwann war ihre jüdische Familienchronik<br />
fertig. Wahrsch<strong>ein</strong>lich liegt der Erfolg an dem menschenfreundlichen<br />
Humor, mit dem Adriana Altaras unangestrengt und sehr persönlich<br />
von ihren Angehörigen und deren Schicksal erzählt, ob es sich um Unterdrückung,<br />
Vertreibung und Holocaust handelt oder um Kuriositäten des Alltags.<br />
Dass sie ihre Talente so entfalten konnte, m<strong>ein</strong>t Adriana Altaras, die als<br />
Kind jüdischer Eltern in Kroatien geboren wurde, in Italien und <strong>Deutschland</strong><br />
aufwuchs, sei „<strong>ein</strong>fach passiert“. Das Theater hat sie bereits als Kind<br />
fasziniert. Sie absolvierte ihre Ausbildung in Berlin und New York und<br />
gründete im Anschluss mit Kollegen in Kreuzberg das alternative „Theater<br />
zum westlichen Stadthirschen“. Und weil man sich zu Beginn der achtziger<br />
Jahre nicht bloß auf die vorhandene Dramatik konzentrieren wollte,<br />
fing das Ensemble an, gem<strong>ein</strong>sam Stoffe aufzubereiten, Stücke zu schreiben.<br />
Die ungewöhnlich belesene Adriana Altaras war von diesen Aufgaben<br />
angetan und setzte sie fort, auch nachdem sich die Gruppe aufgelöst hatte.<br />
Sie war der Literatur spätestens verfallen, seit sie mit 14 Jahren in den<br />
Ferien in Italien das Bücherregal ihrer geliebten Tante Jelka durchstöbert<br />
hatte. In der zweiten Reihe entdeckte sie die italienische Originalausgabe<br />
von Pitigrillis Skandalroman „Kokain“. Die zog Adriana Altaras heraus, las<br />
sie – und war, so dramatisch sieht sie es noch heute, <strong>ein</strong>e andere geworden.<br />
Mit „Cocaina“ aus dem Jahr 1921 begann <strong>ein</strong>e neue Zeitrechnung: „Es war<br />
für mich das erste Buch von Bedeutung und völlig anders als alles, was ich<br />
bis dato gekannt hatte. Wow, habe ich mir gedacht, so kann man also leben,<br />
137<br />
<strong>Cicero</strong> – 11.2013
so kann man also schreiben!“ Sie hat auch jetzt <strong>ein</strong>e italienische Ausgabe<br />
in ihrer Altbauwohnung im Berliner Bezirk Schöneberg, wo sie mit ihrem<br />
Mann, dem Komponisten Wolfgang Böhmer, und den zwei gem<strong>ein</strong>samen<br />
Söhnen daheim ist. Ihre Tante erzog sie zur Zweisprachigkeit in Wort und<br />
Schrift. Was sich in hölzernen Regalen reiht und stapelt, ist häufig abgeschmust<br />
und geherzt wie liebstes Kinderspielzeug – oder gar nicht da. Vieles<br />
von dem, was sie ausgelesen hat, verschenkt sie weiter.<br />
Umso beredter ist, was sie aufbewahrt: „Ich habe immer parallel zu<br />
m<strong>ein</strong>er persönlichen Entwicklungsgeschichte gelesen.“ So waren die Bücher<br />
nie Sammelobjekte, sondern stets veritable Lebensabschnittsbegleiter. Nach<br />
der italienischen Phase, ausgelöst durch Pitigrilli, angereichert mit Werken<br />
von Italo Calvino, Gabriele d’Annunzio, Carlo Manzoni, brach ihre französische<br />
Phase an: Zu jugendlichen Liebesgefühlen kamen die Filme von<br />
Godard, Truffaut, Melville und Romane von Flaubert, Balzac, Zola sowie<br />
„<strong>Der</strong> Schaum der Tage“ von Boris Vian. Anders als Max Frisch und Hermann<br />
Hesse, die ihre Waldorf-Klassengem<strong>ein</strong>schaft unversöhnlich teilten,<br />
war das k<strong>ein</strong>e Schullektüre. Sie bevorzugte dort Frisch: „Schon damals hat<br />
mich, unbewusst, aber trotzdem stark, Literatur angesprochen, die zum<br />
Theater führt. Frischs Tagebücher würde ich dazuzählen, das sind Alltagsbeobachtungen,<br />
die öffentlich gemacht werden und die man auf der Bühne<br />
nutzen kann, wie überhaupt s<strong>ein</strong> ganzer Umgang mit Sprache sehr pragmatisch,<br />
sehr direkt ist.“ Bis heute interessiert sie weniger das fiktionale Sezieren<br />
von Figuren à la Jonathan Franzen als das spielerische Handhaben von<br />
Menschen und Verhältnissen à la William Somerset Maugham.<br />
Verwies ihre Verbindung zur Literatur bereits auf ihre berufliche Zukunft,<br />
so begann mit ihrer „jüdischen Phase“ der Rückblick in die Vergangenheit.<br />
Wieder war es <strong>ein</strong>e Originalausgabe aus der Bibliothek ihrer Tante,<br />
die ihre Neugier erregte, nämlich Giorgio Bassanis Roman „Il giardino dei<br />
Finzi-Contini“ ( 1962 ), der in Vittorio de Sicas Verfilmung als „Die Gärten<br />
der Finzi-Contini“ in deutschen Kinos lief: „Dieses Buch habe ich in <strong>ein</strong>er<br />
<strong>ein</strong>zigen Nacht ausgelesen. Bislang hatte ich mich nicht besonders um jüdische<br />
Autoren gekümmert, und dass Pitigrilli Jude gewesen war und ins<br />
Ausland fliehen musste, habe ich lange nicht gewusst.“<br />
Sie wurde sich bewusst, <strong>ein</strong>e Angehörige der zweiten Generation von<br />
Holocaust-Überlebenden zu s<strong>ein</strong>. Sie setzte sich mit ihrem jüdischen Erbe<br />
aus<strong>ein</strong>ander, ob mit dem Oeuvre von Isaac B. Singer oder von Philip Roth<br />
oder mit „Zalmans Album“ von Philippe Blasband. Zwischen den Büchern<br />
steht <strong>ein</strong>e Ausgabe des Kaddisch, des traditionellen jüdischen Totengebets.<br />
Bücher sind ihr Grundnahrungsmittel geblieben. Seit Jahren schwört<br />
sie auf ihren E-Book-Reader. Doch zu Hause am Bett oder wenn sie <strong>ein</strong>e<br />
Romanadaption vorbereitet, greift sie auf die Papierversionen zurück, damit<br />
sie Anstriche machen und bunte Notizzettel <strong>ein</strong>kleben kann. Bücher,<br />
findet sie, können durch nichts ersetzt werden.<br />
irene bazinger hat „Titos Brille" von Adriana Altaras mit Vergnügen gelesen<br />
138<br />
<strong>Cicero</strong> – 11.2013<br />
Foto: Andreas P<strong>ein</strong> für <strong>Cicero</strong>
MANNER MIT<br />
SETZEN SIE EIN ZEICHEN IN SACHEN STIL, BUSINESS,<br />
LIFESTYLE, TECHNIK UND THEMEN AUS ALLER WELT.<br />
DAS MANNERMAGAZIN<br />
MIT STIL UND ANSPRUCH<br />
JETZT AM KIOSK ODER ALS E-PAPER<br />
WWW.GQ.DE
Salon<br />
Serie<br />
1933 – Als <strong>Deutschland</strong> die Demokratie verlor, Teil x<br />
Im gesunden Körper<br />
wohnt nicht stets <strong>ein</strong><br />
gesunder Geist: Leibesertüchtigung<br />
junger Volksgenossinnen<br />
bei KdF<br />
Freizeit muss sich<br />
wieder lohnen<br />
Von Philipp Blom<br />
Ende November 1933 begann „Kraft durch Freude“.<br />
Mit straff organisiertem Urlaub sollte aus Arbeitern und<br />
Angestellten <strong>ein</strong> kriegstüchtiger Volkskörper werden<br />
Foto: Picture Alliance/dpa/Süddeutsche, Peter Rigaud<br />
140<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Gegen Ende 1933 hatten die<br />
Nationalsozialisten ihre<br />
Ziele der Konsolidierung<br />
der politischen Macht und<br />
der Gleichschaltung von<br />
Politik, Wirtschaft und Kultur weitgehend<br />
erreicht. Auch die Arbeiterschaft<br />
war durch die Zerschlagung der Gewerkschaften,<br />
die Konfiszierung von deren<br />
Vermögen und die Eingliederung aller<br />
Arbeiter in die Deutsche Arbeitsfront<br />
(DAF) effektiv gleichgeschaltet worden.<br />
Besonders unter den Arbeitern, die<br />
bis dahin <strong>ein</strong>e starke, von den nun verbotenen<br />
Gewerkschaften und Parteien inspirierte<br />
eigene Kultur gehabt hatten, war<br />
es nicht <strong>ein</strong>fach, aus ehemaligen Sozialisten<br />
leidenschaftliche Nationalsozialisten<br />
zu machen. Um zu verhindern, dass außerhalb<br />
der Arbeitszeit <strong>ein</strong>e anarchische<br />
Gegenkultur entstand, musste die Partei<br />
auch diese Zeit für eigene Zwecke nutzen.<br />
Die Gleichschaltung der Freizeit<br />
plante der Reichsorganisationsleiter<br />
der NSDAP und Leiter des DAF, Robert<br />
Ley, dessen Fanatismus ihn zu <strong>ein</strong>em unschätzbaren<br />
Vollstrecker nationalsozialistischer<br />
Politik machte. In Anlehnung<br />
an Mussolinis Dopolavoro-Organisation,<br />
die italienischen Arbeitern im Geist des<br />
Faschismus organisierte Freizeitangebote<br />
machte, schuf Ley <strong>ein</strong>e deutsche Entsprechung,<br />
„Kraft durch Freude“, im Volksmund<br />
kurz „KdF“. Am 27. November<br />
1933 wurde die Organisation gegründet.<br />
Die Ziele der KdF waren so <strong>ein</strong>fach<br />
wie ehrgeizig. Jede deutsche Arbeiterin<br />
und jeder deutsche Arbeiter, die durch<br />
ihre Zwangsmitgliedschaft in der DAF<br />
automatisch Mitglieder der KdF waren,<br />
sollten Zugang zu billigen Freizeitaktivitäten<br />
haben und so zu <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen,<br />
kriegstüchtigen Volkskörper zusammengeschweißt<br />
werden. Das „Geschenk des<br />
Führers“ sollte dankbare „Volksgenossen“<br />
schaffen, auf die Linie der Partei<br />
<strong>ein</strong>geschworen. Neben kulturellen Veranstaltungen<br />
wie Konzerten und Vorträgen<br />
ging es um Volkssport und Reisen.<br />
Mit dem Anfang des Massentourismus<br />
war die Reiselust aller sozialen<br />
Schichten gestiegen, wenn sich auch die<br />
meisten Arbeiter <strong>ein</strong>en solchen Luxus<br />
kaum leisten konnten. Während jedes<br />
Jahr Hunderttausende von britischen<br />
Arbeitern Ferien in Blackpool machen<br />
konnten, waren in <strong>Deutschland</strong> Reisen<br />
meist <strong>ein</strong> Privileg der Mittelklasse geblieben.<br />
KdF setzte sich das Ziel, der Masse<br />
der Deutschen billige Reisen anzubieten,<br />
von Tageswanderungen bis hin zu Kuraufenthalten,<br />
Kreuzfahrten und Schiffsreisen.<br />
Ziel war es, jedes Jahr zehn<br />
Millionen Arbeitern billige Ferien zu ermöglichen.<br />
„Nichtarische“ Deutsche waren<br />
von der Teilnahme ausgeschlossen.<br />
„Kraft durch Freude“ entwickelte<br />
sich rasch zu <strong>ein</strong>er der populärsten nationalsozialistischen<br />
Organisationen.<br />
Die Freizeitangebote wurden von Millionen<br />
von „Volksgenossen“ genutzt. Allerdings<br />
gingen ihre Angebote an der<br />
Mehrzahl der Arbeiter vorbei, denn<br />
weder die Länge ihrer jährlichen arbeitsfreien<br />
Zeit noch ihre Löhne waren<br />
ausreichend, um an den KdF-Reisen teilnehmen<br />
zu können.<br />
Nur etwa 30 Prozent der Urlauber<br />
in den KdF-Ferienheimen waren besser<br />
verdienende Arbeiter, der Rest setzte<br />
sich hauptsächlich aus Angestellten mit<br />
dem nötigen Kl<strong>ein</strong>geld zusammen. Die<br />
im Laufe der dreißiger Jahre hinzukommenden<br />
Schiffsreisen waren noch<br />
exklusiver: Hier waren nur <strong>ein</strong> Sechstel<br />
der Teilnehmer Arbeiter. Auch sonst<br />
verfehlte die Organisation ihr Ziel, die<br />
Deutschen durch strikt organisierte Aktivitäten<br />
zu <strong>ein</strong>em ideologisch verlässlichen<br />
Volkskörper zu formen. Obwohl<br />
„Kraft durch Freude“ rund sieben Millionen<br />
Reisen und 690 000 Seereisen organisierte,<br />
entsprach das doch nur rund<br />
10 Prozent des Gesamtvolumens an Reisen,<br />
die Deutsche während der Nazizeit<br />
unternahmen.<br />
Dennoch kannten Leys Ambitionen<br />
k<strong>ein</strong>e Grenzen. Riesige Bauprojekte<br />
sollten <strong>ein</strong>e neue Ära der Ferienreisen<br />
<strong>ein</strong>läuten. In Prora auf Rügen entstand<br />
von 1936 an <strong>ein</strong> gigantischer Hotelkomplex<br />
mit <strong>ein</strong>er geplanten Kapazität von<br />
20 000 Betten, <strong>ein</strong>es der größten tatsächlich<br />
begonnenen Bauvorhaben der NS-<br />
Zeit. Das Projekt wurde nie als Seebad<br />
in Betrieb genommen. Die vier<strong>ein</strong>halb<br />
Kilometer lange Bauruine steht bis heute,<br />
Teile werden noch genutzt.<br />
Von 1934 an wurde das Angebot<br />
durch Kreuzfahrtschiffe ausgeweitet.<br />
Eines von ihnen, die „Wilhelm Gustloff“,<br />
sollte bei Kriegsende traurige Berühmtheit<br />
erlangen, als sie mit über<br />
10 000 Flüchtlingen an Bord von <strong>ein</strong>em<br />
Zum Autor<br />
Philipp Blom ist<br />
Historiker und Autor.<br />
Er stammt aus Hamburg<br />
und wurde in Oxford<br />
promoviert. S<strong>ein</strong>e Bücher<br />
„<strong>Der</strong> taumelnde Kontinent“<br />
und „Böse Philosophen“<br />
sind mehrfach preisgekrönt<br />
sowjetischen U‐Boot torpediert wurde.<br />
Etwa 9000 Passagiere ertranken.<br />
„Kraft durch Freude“ hinterließ der<br />
Bundesrepublik noch <strong>ein</strong> anderes Resultat<br />
ihrer ehrgeizigen Pläne. 1938 stellte<br />
Ley <strong>ein</strong> System vor, das es „Volksgenossen“<br />
ermöglichte, durch den wöchentlichen<br />
Kauf von Marken auf <strong>ein</strong> KdF-Auto<br />
zu sparen. Es sollte nach dem Vorbild von<br />
Fords Model T den Besitz <strong>ein</strong>es Kraftwagens<br />
für Millionen von Menschen möglich<br />
machen. Etwa 340 000 Deutsche<br />
kauften Anteile an dem Projekt, bekamen<br />
aber nie <strong>ein</strong> Auto ausgeliefert.<br />
Das von ihrem Geld entwickelte<br />
Fahrzeug wurde „Volkswagen“ getauft<br />
und sollte 1938 in Wolfsburg in Serie gehen.<br />
Tatsächlich wurden nur 630 Exemplare<br />
hergestellt und an offizielle Stellen<br />
vergeben, unter anderem an das deutsche<br />
Afrikakorps. Während des Krieges<br />
wurde das Geld der Subskribenten für<br />
die Herstellung anderer Wagentypen verwendet.<br />
Erst nach 1945 ging der KdF-Wagen<br />
tatsächlich in Serie, nur hieß er jetzt<br />
anders: VW Käfer.<br />
In der nächsten Ausgabe wenden wir uns<br />
dem „Gesetz zur Sicherung der Einheit von<br />
Partei und Staat“ zu<br />
141<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Salon<br />
Hopes Welt<br />
Bob weiss Bescheid<br />
Wie mich <strong>ein</strong> Alien <strong>ein</strong>mal daran erinnerte, dass der Mensch<br />
<strong>ein</strong> abgründiges Wesen und s<strong>ein</strong>e Musik doch <strong>ein</strong> Wunder ist<br />
Von Daniel Hope<br />
Ich war in Eile. Endlich zu Hause in Wien angekommen,<br />
hatte ich nur kurz Zeit, mich vor<br />
der Generalprobe auszuruhen. Als ich die<br />
Augen schloss, um abzuschalten, bildete ich mir<br />
<strong>ein</strong>, plötzlich <strong>ein</strong> Klopfen an der Terrassentür<br />
zu hören. Ich sprang auf, eilte zur Terrasse und<br />
blickte auf <strong>ein</strong>e silberne Gestalt mit riesigen<br />
Augen und <strong>ein</strong>em kegelförmigen Haupt ohne<br />
Ohren. Da stand <strong>ein</strong> Alien. „Servus, Erdling“,<br />
sagte er. „M<strong>ein</strong> Name ist Bob. Ich komme von<br />
Deneb, <strong>ein</strong>em Stern in der Konstellation von<br />
Cygnus, 1550 Lichtjahre entfernt. Ich komme<br />
in Frieden. Darf ich r<strong>ein</strong>kommen?“<br />
„Wissen Sie, Bob, ich würde Sie schon gerne<br />
her<strong>ein</strong>bitten, aber ich habe gerade k<strong>ein</strong>e Zeit.“<br />
Bob grinste. „Ach, weißt du, Erdling, es gibt<br />
die Zeit nicht mehr.“ Er schnippte mit s<strong>ein</strong>en<br />
langen Fingern, und alles um uns herum erstarrte,<br />
die Vögel hingen in der Luft, die Herbstblätter<br />
blieben auf dem Weg nach unten stehen.<br />
Ich machte uns <strong>ein</strong>en Kaffee, wir setzten uns<br />
auf das Sofa, Bob plauderte. Dass er von <strong>ein</strong>er<br />
PR-Firma auf Deneb beauftragt worden sei, der<br />
negativen Presse <strong>ein</strong> Ende zu setzen. „Weißt du,<br />
Erdling, wir werden inzwischen für alle Katastrophen<br />
verantwortlich gemacht. Das ist <strong>ein</strong>fach<br />
nicht fair. So haben wir beschlossen, euch zu<br />
besuchen, um euch von unseren guten Seiten<br />
zu überzeugen.“<br />
„Moment, Bob, wollen Sie mir sagen, Sie<br />
machen Hausbesuche, um für die Alien Community<br />
zu werben? Dann seid ihr im Grunde<br />
nicht besser als die Politiker hier auf der Erde.“<br />
„Na ja“, konterte Bob, „im Gegensatz zu<br />
euren Politikern ist es uns nicht möglich zu lügen.<br />
So sind wir nicht gebaut. Wir sind friedliche<br />
Wesen und helfen uns. Euer Hass und eure<br />
Gewalt haben sich schon in den verschiedensten<br />
Galaxien herumgesprochen. Neulich hat mir <strong>ein</strong><br />
Cyberborg erzählt, dass euer Konflikt in Syrien<br />
bisher 1,6 Millionen Flüchtlinge hervorgerufen<br />
hat. Gib’s zu, Erdling, ihr habt es vermasselt.“<br />
Da musste ich Bob recht geben. Trotzdem<br />
fühlte ich mich <strong>ein</strong> wenig verantwortlich, m<strong>ein</strong>e<br />
Spezies zu verteidigen: „Aber wir sind nicht<br />
alle böse, Bob. Schau mal, welch schöne Dinge<br />
wir produziert haben, Musik, Kunst, Literatur,<br />
Architektur.“ Plötzlich leuchteten Bobs Augen.<br />
„Na gut, wenn ich <strong>ein</strong> Herz hätte, würde es<br />
bei Bach und Schubert vermutlich aufgehen.<br />
Aber ganz ehrlich: Hat die Musik des 20. Jahrhunderts<br />
nach Strawinski Fortschritte gemacht?“<br />
„Aber ja, Bob“, erwiderte ich. „Und was<br />
heißt hier Fortschritt? Die Musik ist eben anders,<br />
größer, komplexer, aber unheimlich spannend.<br />
Clara Schumann sagte <strong>ein</strong>mal: ‚Musik drückt aus,<br />
worüber besser geschwiegen worden wäre‘.“<br />
Ich weiß nicht, wie lange wir dasaßen, aber<br />
ich überredete Bob irgendwann, die Zeit wieder<br />
anzuschalten. Ich lud ihn <strong>ein</strong>, mit in die Generalprobe<br />
zu kommen. Aber er lehnte höflich ab.<br />
Mit Birtwistles Musik könne er wenig anfangen.<br />
Wir verabschiedeten uns. Ich schloss die<br />
Augen und hörte, wie Bob auf leisen Sohlen<br />
davonschlich. Vermutlich zu Sigourney Weaver.<br />
Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. S<strong>ein</strong><br />
Memoirenband „Familien stücke“ war <strong>ein</strong> Bestseller.<br />
Zuletzt erschienen s<strong>ein</strong> Buch „Toi, toi, toi! – Pannen<br />
und Katastrophen in der Musik“ ( Rowohlt ) und<br />
die CD „The Romantic Violinist“. Er lebt in Wien<br />
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
142<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
HAPE KERKELING<br />
Fotografiert von Martin Schoeller<br />
exklusiv für HÖRZU<br />
Einer, der<br />
zu Hause hat
Salon<br />
144<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Georg<br />
Ringsgwandl<br />
Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />
Die letzten 24 Stunden<br />
Es gilt im Leben<br />
wie im Sterben:<br />
Auf die Haltung<br />
kommt es an<br />
Georg Ringsgwandl<br />
ist Kabarettist und Sänger und<br />
arbeitete viele Jahre als<br />
Kardiologe. S<strong>ein</strong> neues Album<br />
heißt „Mehr Glanz!“. Mit ihm<br />
tourt er gerade durch<br />
<strong>Deutschland</strong> und Österreich<br />
<strong>Der</strong> Sinn der Frage ist doch<br />
der, dass man sich mit maximalem<br />
Ernst darüber Gedanken<br />
macht, was man mit<br />
der Zeit s<strong>ein</strong>es Lebens anfängt.<br />
Unsere Gesellschaft lebt ja davon,<br />
dass <strong>ein</strong> riesiger Industrie- und Konsumapparat<br />
es den Leuten ermöglicht, sich<br />
jahrzehntelang elegant um diese Frage<br />
herumzudrücken.<br />
In m<strong>ein</strong>er Kindheit – ich bin 1948<br />
geboren – war der Krieg noch allgegenwärtig.<br />
Du hast Leute gesehen, die waren<br />
schwer geschädigt, manche sind an<br />
den Spätfolgen ihrer Kriegsverletzungen<br />
gestorben. M<strong>ein</strong> Vater hatte mehrere<br />
Granatsplitter im Kopf. Die blieben<br />
s<strong>ein</strong> Leben lang drin. Dadurch hatte<br />
er schwere epileptische Anfälle. Wenn<br />
man als Kind so <strong>ein</strong>en Anfall miterlebt,<br />
hast du das Gefühl, die Welt bricht zusammen.<br />
Ich kann mich auch erinnern,<br />
wie <strong>ein</strong>em Jungen, der im Wald mit<br />
Handgranaten hantiert hat, beide Arme<br />
weggefetzt wurden. <strong>Der</strong> war von oben<br />
bis unten <strong>ein</strong> Blutklumpen. Das vergisst<br />
man nie.<br />
Mit 18 Jahren habe ich <strong>ein</strong>e Lungen-TBC<br />
bekommen und war <strong>ein</strong> Jahr<br />
lang im Sanatorium. Ab dem Zeitpunkt<br />
habe ich mich nie mehr vor brüllenden<br />
Lehrern gefürchtet. Mir war also frühzeitig<br />
klar, dass das Ganze <strong>ein</strong>e endliche<br />
Veranstaltung ist. Ich war 15 Jahre<br />
lang Arzt auf Intensivstationen. Es gibt<br />
Ärzte, die es <strong>ein</strong> Leben lang schaffen, sich<br />
mit dem Tod nicht mal im Ansatz zu beschäftigen,<br />
aber mich hat immer interessiert,<br />
was Krankheit in der Biografie <strong>ein</strong>es<br />
Menschen bedeutet.<br />
Trotzdem: Auch ich habe <strong>ein</strong>en Kredit<br />
auf die Zukunft gezogen. All<strong>ein</strong> für<br />
das Medizinstudium habe ich sechs Jahre<br />
verbraten. Wenn ich kurze Zeit später<br />
gestorben wäre, hätte ich mir gedacht:<br />
„Kruzifix, warum bin ich nicht <strong>ein</strong>fach in<br />
die Südsee gefahren und habe es mir gut<br />
gehen lassen?“ In der Facharztausbildung<br />
habe ich jeden Tag zwölf bis 14 Stunden<br />
gearbeitet, weil ich dachte, dass m<strong>ein</strong> Leben<br />
anschließend schöner und erfüllender<br />
s<strong>ein</strong> würde.<br />
Aber irgendwann stimmte der Handel<br />
für mich nicht mehr, und ich habe<br />
mich für die freie Musikszene entschieden.<br />
Ich weiß sehr wohl, dass die Unsicherheit<br />
des freien Berufs für viele Leute<br />
unerträglich ist. Aber mir ist Freiheit<br />
wichtiger als Sicherheit.<br />
In m<strong>ein</strong>en letzten 24 Stunden würde<br />
ich <strong>ein</strong> paar Leute anrufen, die ich im<br />
Laufe der Jahre ungerecht behandelt<br />
habe. Ich würde versuchen, mit ihnen<br />
m<strong>ein</strong>en Frieden zu machen. Für mich<br />
selber bräuchte ich nichts mehr tun. Ich<br />
habe alles gemacht, was ich machen<br />
wollte. Vielleicht würde ich am Klavier<br />
noch <strong>ein</strong>, zwei Songs spielen. Mit Sicherheit<br />
würde ich nicht in Eile geraten.<br />
Wenn mir danach ist, würde ich mich<br />
sogar noch zu <strong>ein</strong>em Mittagsschlaf hinlegen.<br />
Bei schönem Wetter würde ich noch<br />
<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Radtour machen und <strong>ein</strong>e<br />
Runde schwimmen. Und dann würde<br />
ich hoffen, dass das Ganze halbwegs<br />
schmerzfrei über die Bühne geht. Wenn<br />
du merkst, die Zeit ist gekommen, dann<br />
mach es mit Anstand. Haltung ist wichtig.<br />
Glaube nicht, es wäre ungerecht, dass du<br />
jetzt abkratzen musst. It’s not. Wir sind<br />
nicht die erste und nicht die letzte Generation.<br />
Es ist <strong>ein</strong> ewiger Strom. Mach<br />
k<strong>ein</strong>en Terz um d<strong>ein</strong>e Person. Keep a low<br />
profile. Halt es schlank, das Ganze.<br />
Aufgezeichnet von Florian Welle<br />
145<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013
Postscriptum<br />
N°-11<br />
Liberale Betschwestern<br />
Was haben FDP und katholische Kirche<br />
gem<strong>ein</strong>sam? Beide glauben an die<br />
Wiederauferstehung. Wenn es mit den<br />
Liberalen aber tatsächlich noch <strong>ein</strong>mal<br />
etwas werden soll, hilft Beten nicht weiter.<br />
Was dagegen weiterhelfen könnte, ist <strong>ein</strong><br />
Blick auf die derzeitige Verfasstheit des<br />
organisierten Katholizismus, dessen<br />
Führungspersonal lange Zeit der Ansicht<br />
war, dass sich <strong>ein</strong>e 2000 Jahre alte Einrichtung<br />
von aktuellen Befindlichkeiten der<br />
eigenen Anhängerschaft nicht allzu sehr<br />
irritieren lassen müsse.<br />
Im 65. Jahr ihres Bestehens hat die<br />
liberale Partei zwar auch schon die Renten<strong>ein</strong>trittsschwelle<br />
überschritten, von <strong>ein</strong>em<br />
biblischen Alter ist sie aber noch weit<br />
entfernt. Trotzdem sch<strong>ein</strong>en viele Funktionäre<br />
vom Gedanken <strong>ein</strong>er Art Ewigkeitsgarantie<br />
durchdrungen zu s<strong>ein</strong>. Oder<br />
zumindest von der Überzeugung, die<br />
Bundesrepublik bedürfe auch in Zukunft<br />
der FDP, weil sie in der Vergangenheit<br />
halt immer dazugehört hat. Das ist selbstgefälliges<br />
Institutionendenken. Weil die<br />
Welt sich zur Not sogar ohne den Katholizismus<br />
weiterdrehen würde, ginge wohl<br />
auch ohne die Freien Demokraten in<br />
<strong>Deutschland</strong> morgens die Sonne auf.<br />
Nur sch<strong>ein</strong>t das etlichen professionellen<br />
Parteileuten noch immer nicht klar<br />
zu s<strong>ein</strong>. Darauf deutet jedenfalls dieses<br />
uninspirierte „Weiter so“ hin, das in der<br />
FDP jetzt heruntergebetet wird, als sei<br />
nichts geschehen.<br />
Dabei ist sehr vieles geschehen –<br />
das lässt sich auch nicht mit beleidigten<br />
Hinweisen auf ausgebliebene Zweitstimmen<br />
der Union im liberalen Opferstock<br />
kl<strong>ein</strong>reden. Im Kern nämlich geht es um<br />
den Widerspruch zwischen<br />
Glaubensgrundsätzen und tagesformabhängigem<br />
Handeln. Es gibt schon gute<br />
Gründe dafür, warum dem Bischof von<br />
Rom jetzt die Herzen zufliegen, während<br />
dem Bischof von Limburg die Schäfchen<br />
davonlaufen – Medienhype hin oder her.<br />
Die Steuersenkungsfreiheitlichkeit der<br />
Vergangenheit war jedenfalls k<strong>ein</strong> bisschen<br />
mehr wert als <strong>ein</strong> in Ritualen erstarrter<br />
Gehorsamskatholizismus.<br />
Genau wie etliche Kirchenfürsten<br />
sch<strong>ein</strong>en auch die Weihbischöfe des<br />
Liberalismus in <strong>Deutschland</strong> die eigentliche<br />
Botschaft ihrer Glaubensschule zu fürchten.<br />
Übrigens haben beide ziemlich viel zu tun<br />
mit der Würde des Individuums. Aber es<br />
gehört eben Mut dazu, diese Botschaft bis<br />
zum Ende durchzubuchstabieren.<br />
<strong>Der</strong> Funktionspartei FDP hat dieser<br />
Mut zum Liberalismus nicht erst in den<br />
vergangenen Jahren gefehlt, sondern<br />
eigentlich schon immer. Ohne Funktion,<br />
ohne Mandat ist die Partei zum ersten Mal<br />
in ihrer Geschichte wirklich frei. Sie sollte<br />
diese Freiheit nutzen. Dann klappt es<br />
vielleicht auch mit der Wiederauferstehung.<br />
Alexander Marguier<br />
ist stellvertretender Chefredakteur<br />
von <strong>Cicero</strong><br />
Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe ersch<strong>ein</strong>t am 21. November<br />
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
146<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2013