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Cicero Der Märchenkönig: Horst Seehofer - ein Bayer regiert Deutschland (Vorschau)

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Nº11<br />

November<br />

2013<br />

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CHF 13<br />

Geistesgipfel<br />

Peter Sloterdijk<br />

trifft Martin Walser<br />

Rockzipfel<br />

Isabella Rossellini<br />

über ihre Mutter<br />

Ingrid Bergman<br />

<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />

<strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> – Ein <strong>Bayer</strong> <strong>regiert</strong> <strong>Deutschland</strong><br />

Österreich: 8.50 €, Benelux: 9.50 €, Italien: 9.50 €<br />

Spanien: 9.50 €, Finnland: 12.80 €<br />

11<br />

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Atticus<br />

N°-11<br />

Was für <strong>ein</strong> <strong>Horst</strong>!<br />

Titelbild: Ben Hughes; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

Dieses erste Foto nach den Wahlen in<br />

<strong>Bayer</strong>n und im Bund – es sagt so viel.<br />

Da treffen sich <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> und Angela<br />

Merkel im Sitzungssaal der Unionsfraktion,<br />

<strong>Seehofer</strong> schlingt s<strong>ein</strong>e langen Arme um<br />

die Kanzlerin und strahlt dabei, als könne<br />

er das Glück nicht fassen, s<strong>ein</strong>e Angela<br />

endlich wieder in den Armen zu halten.<br />

Die Kanzlerin, der Politik mit Körper<strong>ein</strong>satz<br />

eher abhold, hat ihre linke Hand auf<br />

<strong>Seehofer</strong>s Schulter und lächelt so entspannt<br />

wie <strong>ein</strong> Kaninchen im Würgegriff<br />

<strong>ein</strong>er Boa Constrictor.<br />

„Hug them close!“, rät <strong>ein</strong>e angelsächsische<br />

Weisheit im Umgang mit Gegnern,<br />

die man nicht schlagen kann: Umarme sie<br />

fest! Das beherzigt <strong>Seehofer</strong> s<strong>ein</strong> ganzes<br />

politisches Leben lang. Er umarmt s<strong>ein</strong><br />

Volk, indem er das umsetzt, was die Mehrheit<br />

aktuell will, unabhängig davon, was<br />

vorher s<strong>ein</strong>e Position gewesen s<strong>ein</strong> mag.<br />

Viele rühmen das als Volksnähe und<br />

sehen in ihm deshalb <strong>ein</strong>en großen Politiker.<br />

Aber <strong>ein</strong> Politiker wird erst zum großen<br />

Politiker, wenn er <strong>ein</strong>e für richtig und<br />

geboten erachtete Sache gegen Widerstände<br />

durchzusetzen vermag: durch Überzeugung<br />

und Willenskraft. Das war so bei Adenauers<br />

Westbindung, Brandts Ostpolitik, Schmidts<br />

Kampf für den Nato-Doppelbeschluss,<br />

Kohls Einsatz für Europa und den Euro,<br />

Schröders Agenda 2010.<br />

<strong>Seehofer</strong> umarmt lieber. Volk und<br />

Kanzlerin. Und beglückt ganz <strong>Deutschland</strong><br />

mit fragwürdigen Segnungen wie dem<br />

Betreuungsgeld, der Hotelsteuer und<br />

demnächst vielleicht der Automaut für<br />

Ausländer.<br />

<strong>Der</strong> Kanzlerin schreibt er mehr oder<br />

weniger unverhohlen vor, mit wem sie <strong>ein</strong>e<br />

Koalition zu machen habe. Wie er<br />

überhaupt die Dame beim eng umschlungenen<br />

Tanz immer mehr führt, so unterwürfig<br />

er sich auch gebärdet: K<strong>ein</strong> Fernsehporträt<br />

der Kanzlerin kam ohne den<br />

treuherzigen Augenaufschlag <strong>Seehofer</strong>s<br />

aus: „Von mir stammt der Satz: Wer die<br />

Kanzlerin unterschätzt, hat schon verloren.“<br />

Und wer vom CSU‐Chef gelobt<br />

wird ebenfalls, könnte man hinzufügen.<br />

Was für <strong>ein</strong> <strong>Horst</strong>!, möchte man<br />

ausrufen, halb bewundernd, halb entgeistert.<br />

<strong>Cicero</strong>-Reporter Constantin Magnis<br />

beschreibt <strong>ein</strong>en Mann, dessen Machtanspruch<br />

an den Grenzen <strong>Bayer</strong>ns längst<br />

nicht mehr haltmacht ( ab Seite 20 ). <strong>Der</strong><br />

Text wird illustriert mit <strong>Seehofer</strong>s Kehrtwenden<br />

und ergänzt um <strong>ein</strong> Interview mit<br />

Markus Söder ( ab Seite 32 ), der mit<br />

<strong>Seehofer</strong>s Machiavellismus s<strong>ein</strong>e Erfahrungen<br />

gemacht hat und auf die Thronfolge<br />

hofft.<br />

Mit besten Grüßen<br />

Christoph Schwennicke<br />

Chefredakteur<br />

7<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


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Inhalt<br />

Titelthema<br />

Foto: Constantin Magnis<br />

20<br />

Unser Kini<br />

In <strong>Bayer</strong>n Regent,<br />

in Berlin Merkels Nebenkanzler.<br />

Porträt <strong>ein</strong>es Politikers,<br />

der das Drama sucht<br />

Von Constantin Magnis<br />

32<br />

„Man muss überall<br />

mit mir rechnen“<br />

Markus Söder im Interview über<br />

s<strong>ein</strong>e Ambitionen in <strong>Seehofer</strong>s Reich<br />

Von Georg Löwisch und<br />

Christoph Schwennicke<br />

9<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Berliner Republik Weltbühne Kapital<br />

36 Grüner Erbe<br />

<strong>Der</strong> neue Grünen-Fraktionschef Anton<br />

Hofreiter liebt Regenwald und Fleisch<br />

Von Peter Unfried<br />

38 <strong>Der</strong> Rückzieher<br />

Generalmajor Jörg Vollmer leitet den<br />

deutschen Abzug aus Afghanistan <strong>ein</strong><br />

Von Eric Chauvistré<br />

40 <strong>Der</strong> Mann mit den Fragen<br />

Dieter Wonka ist der erstaunlichste<br />

Korrespondent der Hauptstadt<br />

Von Georg Löwisch<br />

44 Ground Zero bei der FDP<br />

Die Liberalen zwischen Katastrophe<br />

und Comeback-Hoffnungen<br />

Von Alexander Marguier<br />

50 Räuber und Schreiber<br />

Die Herabsetzung der Politik<br />

durch die Medien hat Methode<br />

Von Frank A. MEyer<br />

52 Rohstoff Eitelkeit<br />

<strong>Der</strong> Erfolg des PR-Unternehmers<br />

Hetzel zeigt, wie die Hauptstadt tickt<br />

Von Andreas Theyssen<br />

54 Frau Fried fragt sich …<br />

… warum sie sich übers<br />

Fernsehen noch aufregen soll<br />

Von Amelie Fried<br />

58 <strong>Der</strong> Schlüsselmacher<br />

Was von Irans Präsidenten<br />

Hassan Ruhani zu halten ist<br />

Von Thomas Erdbrink<br />

60 Härte in Häkeljacke<br />

Carme Forcadell ist die Frontfrau<br />

der katalanischen Separatisten<br />

Von Julia MAcher<br />

62 <strong>Der</strong> Sohn entscheidet<br />

Bill de Blasio ist New Yorks<br />

neuer starker Mann<br />

Von Patrick Bahners<br />

64 „Wir sind<br />

politische Soldaten“<br />

Griechenlands Neonazipartei Goldene<br />

Morgenröte terrorisiert das Land<br />

Von Richard Fraunberger<br />

72 Volles Rohr<br />

Ein Blick hinter die Kulissen des<br />

internationalen Waffenhandels<br />

Von Guillaume Herbaut<br />

82 Europa soll glück mit<br />

DEN DEUTSCHEN haben<br />

Angela Merkel muss sich für <strong>ein</strong>e<br />

Föderation der Eurostaaten <strong>ein</strong>setzen<br />

Von Klaus Harpprecht<br />

86 Amerikas Mächtigste<br />

Im Februar wird<br />

Janet Yellen als erste Frau<br />

Chefin der US-Notenbank<br />

Von Til KNipper<br />

88 Jenseits von Alheim<br />

<strong>Der</strong> deutsche Solarboom ist vorbei,<br />

Lars Kirchner zieht es<br />

daher nach Afrika<br />

Von Christian Sywottek<br />

90 Vorbestrafter<br />

Schulabbrecher<br />

<strong>Der</strong> neue Karstadt-Eigner<br />

René Benko kann fast alles,<br />

außer Transparenz<br />

Von Hans-Peter Siebenhaar<br />

92 Aufbruch<br />

nach Sperenberg<br />

Flughafendesaster:<br />

Politik und Planung passen<br />

nicht mehr zusammen<br />

Von Falk Jaeger<br />

100 Bankers Wahrheit<br />

Strenge Regeln führen<br />

nicht in die Kreditklemme.<br />

Dekonstruktion <strong>ein</strong>er Legende<br />

Von H<strong>ein</strong>z-Roger Dohms<br />

40<br />

Die Macht guter Fragen<br />

72 86<br />

Die Faszination neuer Waffen<br />

<strong>Der</strong> Segen frischen Geldes<br />

Fotos: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong>, Guillaume Herbaut/INSTITUTE, Mary F. Calvert/ NYT/ Redux/ laif<br />

10<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Stil<br />

Salon<br />

<strong>Cicero</strong><br />

Standards<br />

104 Die FRÜCHTE DES ROTH<br />

W<strong>ein</strong> von der Ostküste der USA?<br />

Aber sicher! Ein Deutscher<br />

kultiviert ihn<br />

Von Jürgen Kalwa<br />

106 brachiale Gentlemen<br />

Akribisch vorbereiten,<br />

hart zuschlagen: Die Methodik<br />

der Juwelen-Räuber<br />

Von SABINE CATHERINE KRAY<br />

112 HÜTERIN des<br />

FAMILIENSCHATZES<br />

Isabella Rossellini präsentiert<br />

<strong>ein</strong>en Bildband über<br />

ihre Mutter Ingrid Bergman<br />

Von CLAUDIA STEInBERG<br />

116 warum ich trage,<br />

was ich trage<br />

Wer das Handwerk achtet, darf<br />

k<strong>ein</strong>e Straßenuniform tragen<br />

Von SASKIA DIEZ<br />

118 der zufall möglicherweise<br />

<strong>Der</strong> Schriftsteller Dieter Wellershoff<br />

wendet sich der<br />

Bildenden Kunst zu<br />

Von peter henning<br />

120 freiheit,<br />

<strong>ein</strong> Morsezeichen<br />

Die Schauspielerin Claudia Michelsen<br />

ist <strong>Deutschland</strong>s präsenteste<br />

Charakterdarstellerin<br />

Von ingo langner<br />

122 leise töne<br />

braucht die welt<br />

<strong>Der</strong> Komponist Peter Androsch<br />

kämpft gegen die akustische<br />

Umweltverschmutzung<br />

Von irene bazinger<br />

124 man sieht nur,<br />

was man sucht<br />

Anton Graff malte die<br />

Gesichter der Aufklärung<br />

Von beat Wyss<br />

126 „Ich lebe von Zustimmung“<br />

Peter Sloterdijk und Martin<br />

Walser im Gespräch<br />

Von Frank a. Meyer<br />

136 bibliotheksporträt<br />

Für Adriana Altaras<br />

sind Bücher Nahrungsmittel<br />

und Lebensbegleiter<br />

Von irene Bazinger<br />

Atticus – 7<br />

Von Christoph Schwennicke<br />

Stadtgespräch – 12<br />

Forum – 16<br />

Impressum – 48<br />

Postscriptum – 146<br />

Von Alexander Marguier<br />

<strong>Der</strong> Titelkünstler<br />

Ben Hughes lebt in der<br />

englischen Weltkulturerbe-<br />

Stadt Bath. <strong>Der</strong> preisgekrönte<br />

Künstler kombiniert<br />

in s<strong>ein</strong>en Porträts gern<br />

Genauigkeit und Andeutung,<br />

Realismus und Abstraktion.<br />

So baut Hughes Spannung<br />

auf, und beim „<strong>Märchenkönig</strong>“<br />

für unseren Titel lässt er<br />

zudem Gegenwart und<br />

Vergangenheit auf<strong>ein</strong>andertreffen,<br />

<strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> im<br />

Königsmantel, wie ihn <strong>ein</strong>st<br />

Ludwig II. trug. Die Technik<br />

des Bildes ist indes ganz<br />

traditionell: Öl auf L<strong>ein</strong>wand<br />

112<br />

Das Bild <strong>ein</strong>er berühmten Mutter<br />

140 Freizeit muss sich<br />

wieder lohnen<br />

Mit „Kraft durch Freude“<br />

sollte <strong>ein</strong> kriegstüchtiger<br />

Volkskörper entstehen<br />

Von philipp blom<br />

Fotos: Vittorio Zunino Celotto/Getty Images, privat<br />

142 hopes Welt<br />

Bob weiß Bescheid<br />

Von Daniel Hope<br />

144 die letzten 24 Stunden<br />

Das Sterben ist wie das Leben<br />

<strong>ein</strong>e Frage der Haltung<br />

Von georg Ringsgwandl<br />

11<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


<strong>Cicero</strong><br />

Stadtgespräch<br />

Merkel wird im Netz verprügelt. Lindner setzt auf Wachstum. Niebels teures<br />

Personal. Proporzprobleme der SPD. Eine Baustelle wird pünktlich fertig<br />

Gröhes Fähnchen:<br />

Lindners Frisur:<br />

Merkels Bett:<br />

Shitstorm im Netz<br />

Haare der Hoffnung<br />

Schöner schlafen<br />

Die Filmsequenz dauert gerade mal<br />

neun Sekunden: Angela Merkel<br />

steht am Wahlabend auf der Bühne<br />

der CDU-Parteizentrale. Ihr Generalsekretär<br />

Hermann Gröhe will <strong>ein</strong><br />

schwarz-rot-goldenes Fähnchen schwenken.<br />

Merkel nimmt es ihm weg und entsorgt<br />

es am Bühnenrand. Sie will in<br />

der Stunde ihres Triumphes nicht mit<br />

der <strong>Deutschland</strong>fahne abgelichtet werden.<br />

Und ihre Mimik spricht Bände. Die<br />

Szene geht in der Siegesfeier fast unter<br />

– bis das ZDF sie wenige Tage später<br />

in der „Heute-Show“ zeigt. Seitdem<br />

tobt – im Schutz der Anonymität – <strong>ein</strong><br />

Shitstorm im Netz. „Wer sich für die<br />

deutsche Fahne schämt, gehört nicht<br />

zu <strong>Deutschland</strong>!“ – „Sie will den Nationalstaat<br />

zerstören“ – „Widerlich!“ –<br />

„Schande!“ – „Antideutsch“ – „Landesverräterin“.<br />

Nur wenige halten dagegen.<br />

Ein „alexej“ schreibt: „Überheblichkeit<br />

mit Fahnenschwenken war hier wahrhaftig<br />

unangebracht.“ Hermann Gröhe,<br />

von <strong>Cicero</strong> um <strong>ein</strong>en Kommentar gebeten,<br />

zog es vor zu schweigen. hp<br />

Christian Lindner, der künftige<br />

FDP-Chef, sendet gern kl<strong>ein</strong>e Signale<br />

aus, um auf s<strong>ein</strong>e Ambitionen<br />

aufmerksam zu machen. Seit geraumer<br />

Zeit kann man an s<strong>ein</strong>em Düsseldorfer<br />

Autokennzeichen ablesen, was<br />

er im Schilde führt: D – CL 2017. Dass<br />

die FDP 2017 wieder in den Bundestag<br />

kommt und die Bedeutung ihres künftigen<br />

Vorsitzenden wachsen wird, unterstrich<br />

der neue Hoffnungsträger, indem<br />

er sich den Fotografen nach <strong>ein</strong>er<br />

Haartransplantation mit plötzlich wieder<br />

vollem Haupthaar präsentierte.<br />

Nicht alle fanden das überzeugend.<br />

Joschka Fischer zum Beispiel. Als der<br />

kürzlich gefragt wurde, ob er Lindner<br />

jetzt für <strong>ein</strong> politisches Alphamännchen<br />

halte, griff er sich stolz in s<strong>ein</strong> immer<br />

noch volles, graues Haar und spottete:<br />

„Ich habe mich nur gewundert,<br />

dass das erste, was man von ihm hört<br />

nach der Wahl, kosmetische Veränderungen<br />

sind. Ich glaube, Lambsdorff<br />

und Genscher wären auf die Idee nicht<br />

gekommen.“ tz<br />

Jede Nacht um halb <strong>ein</strong>s“ legte sich<br />

schon 1986 der Sänger Rio Reiser<br />

„aufs Bett“ und malte sich in s<strong>ein</strong>em<br />

Hit „König von <strong>Deutschland</strong>“ aus,<br />

„wie das wäre, wenn ich nicht der wäre,<br />

der ich bin, sondern Kanzler, Kaiser<br />

König oder Königin“. Ab 55 Euro pro<br />

Nacht kann sich jetzt jeder in Angela<br />

Merkels Schlafzimmer aufs Bett legen.<br />

Um ganz präzise zu s<strong>ein</strong>, im ehemaligen<br />

Schlafzimmer der Bundeskanzlerin.<br />

Merkels alte Studentenbude im Prenzlauer<br />

Berg bietet die jetzige Bewohnerin<br />

über die Online-Übernachtungsbörse<br />

Airbnb an. Wer <strong>ein</strong>en Monat bleiben<br />

will, zahlt für die Hinterhauswohnung<br />

stolze 1650 Euro. Dagegen ist die echte<br />

Kanzlerwohnung regelrecht günstig.<br />

500 Euro im Monat verlangt der Bund<br />

für die 28 Quadratmeter im 8. Stock<br />

des Kanzleramts. Auf dem Markt ist sie<br />

trotzdem schwer vermittelbar. Merkel<br />

zog nie <strong>ein</strong>. Amtsvorgänger Schröder<br />

mochte den dreieckigen Grundriss nicht.<br />

Vielleicht kann Airbnb helfen. Motto:<br />

Mieten für den Staatsschuldenabbau. til<br />

Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />

12<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Nach Niebels Abgang:<br />

„Gelberitis“ bleibt teuer<br />

Die Niederlage der FDP wurde im<br />

Entwicklungsministerium mit besonderer<br />

Häme und Erleichterung gefeiert.<br />

„Jetzt ist Schluss mit der Gelberitis“,<br />

hieß es dort unter Anspielung auf<br />

die parteipolitisch <strong>ein</strong>gefärbte Personalpolitik<br />

des abgewählten Ministers Dirk<br />

Niebel. <strong>Der</strong> hatte mehr als 40 Dienststellen<br />

mit FDP-Mitgliedern besetzt.<br />

Ein besonders übler Fall von Günstlingswirtschaft<br />

war unmittelbar vor<br />

der Bundestagswahl aufgeflogen, obwohl<br />

Niebel ihn unbedingt verheimlichen<br />

wollte. Tom Pätz, <strong>ein</strong> FDP-Mann,<br />

der von Niebel in den Aufsichtsrat der<br />

„Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“<br />

(GIZ), der wichtigsten Einrichtung<br />

zur Organisation deutscher<br />

Entwicklungshilfe, gedrückt worden<br />

war, fiel durch krasse Missachtung der<br />

Spesenordnung auf. Die Wirtschaftsprüfer<br />

von Pricewaterhouse Coopers wiesen<br />

Pätz in 79 Fällen Verstöße nach: Er<br />

flog in der Luxusklasse der Fluglinien<br />

statt in der Business Class. Er übernachtete<br />

meist in Hotels, die mehr kosteten<br />

als die erlaubten 150 Euro. Auch die Bewirtungskosten<br />

von 60 Euro pro Person<br />

waren ihm egal. So lud er Niebels<br />

Staatssekretär Jürgen Beerfeltz zu <strong>ein</strong>em<br />

Abendessen <strong>ein</strong>, das 155,90 Euro<br />

kostete und im Wesentlichen aus zwei<br />

Flaschen W<strong>ein</strong> bestand. Jetzt hat der<br />

Aufsichtsrat beschlossen, dass Pätz, der<br />

mit 150 000 Euro im Jahr besoldet ist,<br />

nächstes Jahr beurlaubt wird.<br />

Armut droht ihm dann nicht: S<strong>ein</strong><br />

zunächst befristeter GIZ-Arbeitsvertrag<br />

wurde von Niebel rechtzeitig entfristet.<br />

Er kann damit zurück ins Ministerium.<br />

Fürs gleiche Geld. tz<br />

SPD-Ministerproporz:<br />

Nur Grünkohl mit Pinkel<br />

Die SPD ist im Bund ganz schön niedersachsenlastig,<br />

was Nachwirkungen<br />

jener Zeit sind, als der Kanzler<br />

<strong>ein</strong> Niedersachse war. Tut man sich<br />

in der Gerüchteküche um, wer Posten<br />

in <strong>ein</strong>em großkoalitionären Kabinett<br />

Merkel III bekommen könnte, stößt<br />

man dauernd auf sie. Sigmar Gabriel,<br />

Frank-Walter St<strong>ein</strong>meier, Thomas Oppermann,<br />

Brigitte Zypries und, na ja,<br />

Hubertus Heil. Praktisch in jedem Topf<br />

ist Grünkohl mit Pinkel drin. Sagt man,<br />

dass Zypries ihren Wahlkreis ja im hessischen<br />

Darmstadt habe und St<strong>ein</strong>meier<br />

s<strong>ein</strong>en im Havelland, bekunden<br />

SPD-Kulinariker anderer Landesverbände<br />

dennoch <strong>ein</strong>e gewisse Übersättigung<br />

an niedersächsischen Spezialitäten.<br />

In den Spekulationen sind zurzeit<br />

hauptsächlich Andrea Nahles (Rh<strong>ein</strong>land-Pfalz)<br />

und Manuela Schwesig<br />

(Mecklenburg-Vorpommern) Nichtniedersachsen.<br />

Selbst wenn man Schwesig<br />

(und St<strong>ein</strong>meier!) den Osten vertreten<br />

lässt und die Problemkinder aus <strong>Bayer</strong>n<br />

und Baden-Württemberg auf Staatssekretärsebene<br />

verwurstet, bleiben noch<br />

die Nordsozis aus Hamburg und Schleswig-Holst<strong>ein</strong>.<br />

Sowie die Hessen mit<br />

dem Zypries-Problem. Ach so, den Riesenlandesverband<br />

Nordrh<strong>ein</strong>-Westfalen<br />

gibt’s ja auch. Aus ihm wird allenfalls<br />

Karl Lauterbach serviert, der links und<br />

kompetent, jedoch k<strong>ein</strong>e Frau ist. Oder<br />

zählt Hannelore Kraft als Bundesratskanzlerin<br />

mit? Man kann den Regionalproporz<br />

natürlich ignorieren, aber s<strong>ein</strong>e<br />

Beachtung hält den Laden zusammen.<br />

Wobei das ja traditionell selten <strong>ein</strong> Motiv<br />

für Entscheidungen der SPD ist. löw<br />

Sensation in Berlin:<br />

Bauprojekt im Plan<br />

Öffentliche Bauprojekte werden selten<br />

pünktlich fertig, geschweige<br />

denn zum ver<strong>ein</strong>barten Preis. Überall<br />

geraten die Zeitpläne durch<strong>ein</strong>ander<br />

und explodieren die Kosten, wenn<br />

Steuergelder verbraten werden: In Köln<br />

(U‐Bahn), in Stuttgart (Bahnhof), in<br />

Hamburg (Philharmonie) und vor allem<br />

in Berlin (BND‐Zentrale, Großflughafen<br />

und demnächst vielleicht das<br />

Stadtschloss) – mit Skandalbaustellen<br />

ist die Hauptstadt reich gesegnet.<br />

Nun aber zeichnet sich dort <strong>ein</strong>e echte<br />

Sensation ab. Eines der aufwendigsten<br />

Verkehrsprojekte droht tatsächlich<br />

termingerecht fertig zu werden: <strong>Der</strong><br />

unterirdische Bahnhofsneubau zweier<br />

U‐Bahnlinien unter <strong>ein</strong>er der verkehrsreichsten<br />

Kreuzungen der Stadt (Unter<br />

den Linden Ecke Friedrichstraße) liegt<br />

offenbar voll im Plan.<br />

Am 17. November wird man erstmals<br />

wieder mit der U-Bahnlinie 6 in<br />

<strong>ein</strong>em Rutsch vom Südrand der Hauptstadt<br />

bis zum Tegeler See im Norden<br />

fahren können. Die Fahrgäste, die<br />

<strong>ein</strong> Jahr gezwungen waren, entweder<br />

auszusteigen und die Baustelle in der<br />

Stadtmitte zu Fuß zu überqueren oder<br />

sie weiträumig mit der unterirdischen<br />

S-Bahn zu umfahren, können sitzen<br />

bleiben. Das ist die gute Nachricht. Die<br />

schlechte folgt sogleich: Ein paar Tage<br />

später wird abermals <strong>ein</strong>e wichtige unterirdische<br />

Nord-Süd-Verbindung unterbrochen.<br />

Diesmal ist es die S‐Bahn,<br />

deren Gleise zwischen dem Nordbahnhof<br />

in Mitte und dem Anhalter Bahnhof<br />

in Kreuzberg erneuert werden. Aber so<br />

war das schon immer in Berlin: Fertig<br />

war und wird diese Stadt nie. hp<br />

13<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Hoffentlich bremsen bald alle<br />

Autos selbständig ab.<br />

Mercedes-Benz weist den Weg.<br />

Die PRE-SAFE ® Bremse und der Bremsassistent BAS PLUS, zwei Innovationen<br />

von Mercedes-Benz Intelligent Drive. Vernetzt mit allen Sinnen.<br />

<strong>Der</strong> Bremsassistent BAS PLUS überwacht vorausfahrende und querende Fahrzeuge und optimiert in Gefahrensituationen<br />

die Bremskraft, sobald der Fahrer bremst. Zusätzlich kann die PRE-SAFE ® Bremse jetzt sogar Fußgänger erkennen und selber<br />

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Die Angaben beziehen sich nicht auf <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zelnes Fahrzeug und sind nicht Bestandteil des Angebots, sondern dienen all<strong>ein</strong> Vergleichszwecken zwischen verschiedenen<br />

Anbieter: Daimler AG, Mercedesstraße 137, 70327 Stuttgart


g/km; Effizienzklasse: E–A+.<br />

Fahrzeugtypen. Das abgebildete Fahrzeug enthält Sonderausstattungen.


<strong>Cicero</strong><br />

Leserbriefe<br />

Forum<br />

Es geht ums Design und die Wahl, um Israel,<br />

falsche Lehrmeister und um Queen Angie<br />

Zum neuen Layout des <strong>Cicero</strong> und der Beilage „Wahl Spezial“, Oktober 2013<br />

Statt lamentieren, arbeiten, arbeiten, arbeiten!<br />

Das neue <strong>Cicero</strong>-Kleid verlor s<strong>ein</strong> All<strong>ein</strong>stellungsmerkmal, den Schlitz im Kleid<br />

(Titelseite!). Layout deutlich verbessert, Inhaltsverzeichnis unübersichtlich,<br />

qualitativer Inhalt ansprechend. Wahl Spezial: Das BT-Wahlergebnis 2013 eröffnet<br />

Chancen wie nie und was passiert: Die Grünen haben die historische Chance,<br />

sich aus der Zwangsehe mit der SPD zu lösen und Regierungsverantwortung zu<br />

übernehmen. Die alte Dame SPD kneift und jammert über <strong>ein</strong> in vier Jahren<br />

zu erwartendes Todesurteil, weil es ihr – wie der FDP jetzt – ergehen könnte.<br />

Die FDP hat vier Jahre Zeit für <strong>ein</strong>en echten Neustart. Eine schwarz-grün-rote<br />

Koalition könnte <strong>ein</strong>e überfällige Steuerreform durchsetzen, auf dass jeder Bürger<br />

s<strong>ein</strong>e Steuererklärung erstellen und verstehen könnte. Die Kanzlerin hätte<br />

schließlich die Chance, für die BT-Wahl 2017 <strong>ein</strong>e klare Nachfolge aufzubauen,<br />

weil sie als Frau könnte, was k<strong>ein</strong> Kanzler je geschafft hat: rechtzeitig die Nachfolgefrage<br />

zu regeln. Auf geht’s, statt lamentieren, arbeiten, arbeiten, arbeiten!<br />

Ansgar M. M. Stahl, Radolfzell<br />

Lesen noch „leckerer“<br />

Sehr geehrte Damen und Herren<br />

von <strong>Cicero</strong>, ich darf Sie zum neuen<br />

Layout beglückwünschen! Das veränderte<br />

Gesicht macht das Lesen<br />

noch „leckerer“. Originelle Grafik,<br />

Typografie et cetera werten das attraktive<br />

Blatt noch mehr auf.<br />

Sehr gelungen – Danke!<br />

Mit besten Grüßen<br />

Bettina Radener, Hamburg<br />

Zum Beitrag „K<strong>ein</strong>e Sieger, nirgends“<br />

von Alexander Marguier, Oktober 2013<br />

Nüchterne Bewertung<br />

Sie heben sich mit Ihrer nüchternen<br />

Bewertung wohltuend von den Jubelberichten<br />

zum angeblich haushohen<br />

Sieg von Frau Merkel ab. CDU/<br />

CSU/FDP errangen 2009 mit der<br />

Zustimmung von 34,3 Prozent aller<br />

Wahlberechtigten 53,4 Prozent<br />

der Sitze im Bundestag. In diesem<br />

Jahr holte der Merkel-Block<br />

mit 33,1 Prozent der Stimmen aller<br />

Wahlberechtigten 49,4 Prozent der<br />

Sitze. Na und?<br />

Wolf-Rüdiger Heilmann, Berlin<br />

Zum Beitrag „Die wahre AfD“ von<br />

Christoph Schwennicke, Oktober 2013<br />

Linkes Wunschdenken<br />

Zur Erwähnung der „Alternative“<br />

(für <strong>Deutschland</strong>) AfD taugt bei Ihnen<br />

der eigentlich beachtenswerte<br />

Erfolg dieser kl<strong>ein</strong>en neuen Partei<br />

gerade mal zum Aufreißer Ihres<br />

Editorials und als Abspann ganz<br />

hinten Ihres Sonderhefts „Wahl“.<br />

Sie versteigen sich auch noch im<br />

Editorial zu <strong>ein</strong>em Rekurs, „Die<br />

wahre AfD“ sei für Sie das angeblich<br />

mögliche rot-rot-grüne Bündnis.<br />

Dieses offenbart Ihre eigene r<strong>ein</strong><br />

„linke“ politische Verortung und Ihr<br />

Wunschdenken …<br />

Sie erliegen letztlich dem Irrtum<br />

und der Illusion, dass <strong>ein</strong>e linke<br />

Mehrheit der Wählerschaft gewonnen<br />

hätte. Es waren aber rechnerisch<br />

über 54 Prozent, die „bürgerlich“<br />

– oder wie auch immer<br />

tituliert – gewählt haben. Dagegen<br />

war es k<strong>ein</strong>eswegs <strong>ein</strong> Sieg von<br />

links, und auch die grüne Gutmenschenpartei<br />

musste <strong>ein</strong>e herbe Niederlage<br />

hinnehmen.<br />

U. Burkart, Calw<br />

Zum Beitrag „Pro und Contra Siedlungsbau“<br />

von Arthur Cohn und Judith Hart,<br />

Oktober 2013<br />

Blühende Landschaft<br />

Selten hat man in den Medien<br />

hierzulande <strong>ein</strong>e derart sachlich<br />

objektive Beurteilung über<br />

das brennende Thema „Siedlingsbau<br />

in Israel“ zu lesen bekommen.<br />

Zu Recht darf man bei dieser<br />

<strong>Cicero</strong>-Ausgabe von <strong>ein</strong>em Magazin<br />

für politische Kultur sprechen. Die<br />

Bezeichnung „umstrittene Gebiete“<br />

statt illegal besetztes Land war sicherlich<br />

für viele Leser neu. <strong>Der</strong><br />

Frage der absoluten Gegnerschaft<br />

gegen Israels Existenz hätte jedoch<br />

mehr nachgegangen werden müssen.<br />

Von Anfang an wurde doch der<br />

Uno-Beschluss im Mai 1948, welcher<br />

der jüdischen Bevölkerung <strong>ein</strong>en<br />

Teil Palästinas zusprach, mit<br />

Krieg seitens aller Nachbarländer<br />

beantwortet. Diese F<strong>ein</strong>dschaft besteht<br />

bis heute. Dabei möchte das<br />

jüdische Volk nach fast 2000 Jahren<br />

Verfolgung in der Diaspora lediglich<br />

s<strong>ein</strong>e bloße Existenz sichern,<br />

was ihm erstaunlicherweise bis<br />

heute trotz permanenter politischer<br />

Unruhen in und um es herum gelungen<br />

ist. In gewisser Weise f<strong>ein</strong>dselig<br />

könnte man sogar auch das ihnen<br />

zugeteilte Land genannt haben:<br />

Wüste, zum großen Teil st<strong>ein</strong>ige<br />

Felder mit wenig Wasser, malariaverseuchter<br />

sumpfiger Boden. Eine<br />

blühende Landwirtschaft, <strong>ein</strong>e ständig<br />

im Wachstum befindliche Wirtschaft<br />

sind daraus entstanden. Das<br />

Grün in diesem Land nimmt kontinuierlich<br />

zu. Bleibt zu hoffen, dass<br />

Israel auch die politische Landschaft<br />

mit derselben Ausdauer und<br />

Weisheit zusammen mit den Palästinensern<br />

zum Blühen bringt.<br />

Eduard Biedermann, Hamburg<br />

16<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


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<strong>Cicero</strong><br />

Leserbriefe<br />

Zum Beitrag „Die urbane Dekadenz“ von<br />

Frank A. Meyer, Oktober 2013<br />

Unselige Lehrmeister<br />

F. A. Meyers Fallbeispiele urbaner<br />

Dekadenz sprechen für sich. Ihre<br />

Erörterung im Kontext von leeren<br />

Kategorien wie „Elite“ oder „Ungeist“<br />

führt allerdings nicht weiter,<br />

auch nicht die apokalyptische<br />

Phrase vom „abdankenden Rechtsstaat“.<br />

Übrigens verkompliziert<br />

sich die Sache leider noch dadurch,<br />

dass die „Verluderung“ zunehmend<br />

bei den vor 1950 Geborenen<br />

zu beobachten ist, die ja noch die<br />

viel gepriesene Erziehung zu den<br />

sogenannten bürgerlichen Grundtugenden<br />

erhielten: Auch sie parken<br />

auf Gehwegen, erwarten als rasante<br />

Radfahrer die Vorfahrt vor Spaziergängern<br />

und agieren im Fernsehen<br />

als unselige Lehrmeister des rabiaten<br />

Diskussionsstils, emotionalisierend<br />

und anderen lautstark das<br />

Wort abschneidend.<br />

Werner Frink, Hamburg<br />

Treffend kommentiert<br />

Ich möchte Herrn Meyer sehr<br />

danken, dass er sich dieses heiklen,<br />

aber leider eben sehr wirklichkeitsnahen<br />

Themas angenommen und<br />

es, wie so oft, treffend kommentiert<br />

hat. Leider ist s<strong>ein</strong>e Erkenntnis<br />

ebenfalls zutreffend, dass sich<br />

in weiten Teilen von Politik und<br />

Medien niemand mit diesem<br />

undankbaren Thema aus<strong>ein</strong>andersetzen<br />

möchte.<br />

Von daher sehe ich <strong>ein</strong>er<br />

Änderung zum Besseren dieses<br />

beklagenswerten Zustands nicht<br />

sehr optimistisch entgegen. Einen<br />

Rudolph Giuliani sehe ich in der<br />

deutschen Politiklandschaft<br />

jedenfalls nicht – und selbst wenn es<br />

ihn gäbe, würde er vermutlich<br />

bereits an dem deutschen Föderalismus<br />

scheitern, bevor er auch nur<br />

<strong>ein</strong>en Strafbefehl ausstellen könnte.<br />

Peter Rohde, Fellbach<br />

Zum Beitrag „Macht der Kapitalismus<br />

uns unglücklich?“ von Max A. Höfer,<br />

September 2013<br />

Das große Geld befiehlt<br />

<strong>Der</strong> Beitrag von Max A. Höfer beschreibt<br />

richtig und ist sympathisch.<br />

Er reiht sich <strong>ein</strong> in <strong>ein</strong>e Reihe<br />

gleichartiger Beiträge, die etwa alle<br />

Vierteljahre ersch<strong>ein</strong>en, gerne auch<br />

in der Wirtschaftspresse und besonders<br />

gerne vor Weihnachten, alle<br />

mit dem Tenor, dass es allen besser<br />

ginge, wenn sie das Hamsterrad verließen<br />

oder besser gar nicht erst betreten<br />

würden.<br />

Stichworte sind Burnout, Generation<br />

Ypsilon und dergleichen. Fast<br />

alle stimmen zu. Nur ändern tut<br />

sich nichts. Denn <strong>ein</strong>es fehlt bei Höfer:<br />

Diejenigen, die den hässlichen<br />

Leistungskampf mitmachen und bestehen,<br />

und davon gibt es immer<br />

noch genug, verdienen das große<br />

Geld und geben die Befehle.<br />

Und diejenigen, die sich verweigern,<br />

verdienen das kl<strong>ein</strong>e<br />

Geld und müssen den Befehlen der<br />

„Funktionierer“ gehorchen. Ist das<br />

erstrebenswert?<br />

Prof. Dr. Detlev J. Piltz, Königswinter<br />

Zur <strong>Cicero</strong>-Titelgeschichte<br />

„Angies Union“ von Alexander Marguier,<br />

August 2013<br />

Wie <strong>ein</strong>e deutsche Queen<br />

Angela Merkel ist in mehrfacher<br />

Hinsicht <strong>ein</strong> Glücksfall für <strong>Deutschland</strong><br />

… Brillante Rhetorik der Berufsgruppe<br />

Journalisten, Pfarrer<br />

und Anwälte war bis heute nicht<br />

ihre Sache. Damit erfüllt sie die<br />

Vorstellung vieler Wähler und ist <strong>ein</strong><br />

Abbild der bescheidenen Seele des<br />

<strong>ein</strong>fachen, unbescholtenen Bürgers.<br />

Ihr sind Korruption und Amtsmissbrauch<br />

wirklich nicht zuzutrauen,<br />

ebenso wenig wie goldene Löffel zu<br />

stehlen. Hier ist nun tatsächlich k<strong>ein</strong><br />

Schaden durch das fehlende Charisma<br />

der Bundeskanzlerin für die<br />

Nation erkennbar. Man kann nur<br />

hoffen, dass diese Frau nicht nur<br />

für die nächste Legislatur Kanzlerin<br />

bleibt, sondern, beliebt wie <strong>ein</strong>e<br />

deutsche Queen Elizabeth, diesem<br />

Land, so wie es ihre Gesundheit erlaubt,<br />

noch viele Jahre dient.<br />

Max Lehmann, Berlin<br />

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />

Wünsche, Anregungen und M<strong>ein</strong>ungsäußerungen<br />

senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />

Karikatur: Hauck & Bauer<br />

18<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


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Kini<br />

20<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Titel<br />

<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />

Text und Fotos<br />

CONSTANTIN MAGNIS<br />

<strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> <strong>regiert</strong> <strong>Bayer</strong>n mit absoluter Mehrheit<br />

und absolutistischem Gestus. S<strong>ein</strong> Machtanspruch in Berlin ist<br />

größer denn je. Nach s<strong>ein</strong>er Wiederwahl weist der<br />

CSU-Chef Angela Merkel den Weg in die nächste Koalition.<br />

Porträt <strong>ein</strong>es Nebenkanzlers<br />

21<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Titel<br />

<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />

Im Frühsommer 2013 ehrt <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong><br />

auf <strong>ein</strong>er Wiese am Tegernsee<br />

die Mutter Gottes, Patronin der bayerischen<br />

Gebirgsschützen. S<strong>ein</strong> Mitarbeiterstab<br />

nimmt ihn an der Limousine<br />

in Empfang und trägt ihm den<br />

Tagesablauf vor. <strong>Seehofer</strong> schüttelt den<br />

Kopf: In anderthalb Stunden schon weiter<br />

zum Anschlusstermin? Das geht sich<br />

doch nie aus. „M<strong>ein</strong> Grußwort, kommt<br />

das vor oder nach der <strong>Bayer</strong>nhymne?“,<br />

fragt er. Es kommt vorher. Danach bleibt<br />

kaum mehr Zeit, die <strong>Bayer</strong>nhymne mitzusingen.<br />

Schlecht.<br />

<strong>Seehofer</strong>s Gesicht verändert sich<br />

nur <strong>ein</strong> bisschen. Er zieht die Mundwinkel<br />

nach oben, bis die Zähne freiliegen,<br />

aber es kommt dabei k<strong>ein</strong> Lächeln heraus,<br />

eher <strong>ein</strong> Kannibalengrinsen. Die Runde<br />

erstarrt. „Wer hot’n des geplant?“, fragt<br />

er leise. Ein Referent mit randloser Brille<br />

und Aktentasche hebt kl<strong>ein</strong>laut den Finger:<br />

„Hier!“ <strong>Seehofer</strong> dreht sich zu ihm<br />

um, s<strong>ein</strong> Grinsen bleibt wie festgefroren.<br />

Für <strong>ein</strong>ige Sekunden fixiert er so den Referenten,<br />

der aussieht, als wünschte er<br />

sich den Beistand der Mutter Gottes<br />

persönlich herbei. Niemand bewegt sich,<br />

<strong>Seehofer</strong> schaut s<strong>ein</strong>en <strong>Bayer</strong>n<br />

aufs Maul. S<strong>ein</strong>e Politik möchte<br />

er jederzeit nachjustieren<br />

können. „Drehhofer“, nennen<br />

das Kritiker. Er verkauft das als<br />

fürstliche Fürsorge<br />

niemand spricht. <strong>Der</strong> Referent wagt erst<br />

auszuatmen, als <strong>Seehofer</strong> endlich den<br />

Blick abwendet, auf das vor ihm liegende<br />

Panorama. <strong>Der</strong> Regierungschef<br />

schnauft zufrieden. Strahlende Alpen,<br />

der See schimmert blau, auf der Wiese<br />

stehen rund 4500 Männer in Reih und<br />

Glied, <strong>ein</strong>e Armee aus Trachtenhüten,<br />

Lederhosen und Gewehren. In der Mitte<br />

teilt sich das Menschenmeer zu <strong>ein</strong>em<br />

Gang, <strong>Seehofer</strong> schreitet ihn würdevoll<br />

grüßend ab, die Kompanien der Gebirgsschützen<br />

salutieren oder präsentieren das<br />

Gewehr. Als er in der ersten Reihe angelangt<br />

ist, heben die Truppen zur Begrüßung<br />

die Flaggen. Auf <strong>ein</strong>er steht: „Mit<br />

Gott für König und Vaterland“.<br />

Seit <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> der CSU bei der<br />

Landtagswahl im September die absolute<br />

Mehrheit zurückerobert und so die bayerische<br />

Ordnung wiederhergestellt hat,<br />

ist er im Süden unangefochtener Herrscher:<br />

S<strong>ein</strong>e Majestät <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong>,<br />

der „Kini“, schillernd wie der <strong>Bayer</strong>nkönig<br />

Ludwig II., der Neuschwanst<strong>ein</strong> und<br />

viele Legenden hinterlassen hat.<br />

Im nördlichen Berlin allerdings weiß<br />

noch niemand so recht, auf was man sich<br />

nun <strong>ein</strong>stellen muss. Was heißt das neue<br />

Machtbewussts<strong>ein</strong> des <strong>Bayer</strong>n für die<br />

kommende Regierung? Begründet hier <strong>ein</strong>er<br />

gerade <strong>ein</strong>e Art Nebenkanzlerschaft?<br />

Nach der Wahl erklärt <strong>Seehofer</strong> mal kurz<br />

im All<strong>ein</strong>gang, dass es k<strong>ein</strong>e Gespräche<br />

mit dem Grünen Jürgen Trittin geben<br />

wird, oder schließt noch vor Sondierungsgesprächen<br />

mit der SPD Steuererhöhungen<br />

per Ehrenwort aus. Die Hoffnung<br />

auf <strong>ein</strong>e kraftvolle bajuwarische Hand<br />

für Angela Merkel ist seitdem bei manchem<br />

der Sorge vor <strong>ein</strong>em aufgepumpten<br />

Widerborst gewichen. Wer begreifen will,<br />

wer da die nächsten vier Jahre wirklich<br />

im Boot der Kanzlerin sitzt, sollte sich<br />

die Geschichte dieses Mannes ansehen.<br />

Es ist schwer vorstellbar, wie es<br />

für jemanden ist, Ministerpräsident und<br />

Majestät von <strong>Bayer</strong>n zu s<strong>ein</strong>, der sich in<br />

der Kindheit immerzu kl<strong>ein</strong> gefühlt hat.<br />

<strong>Horst</strong> Lorenz <strong>Seehofer</strong> wird 1949 in Ingolstadt<br />

geboren, der Vater fährt Lastwagen,<br />

schafft auf dem Bau, verdient<br />

kaum Geld, und dafür schämt sich <strong>Horst</strong><br />

in der Schule. Immer wieder kommt <strong>Seehofer</strong><br />

als Politiker auf die Armut s<strong>ein</strong>er<br />

Kindheit zu sprechen. Wie die Mutter ihn<br />

22<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


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Titel<br />

<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />

freitags losgeschickt hat, um den Vater<br />

mit der Lohntüte nach Hause zu eskortieren,<br />

damit der nicht das Geld versäuft.<br />

Wie er und die drei Geschwister nur <strong>ein</strong>mal<br />

die Woche gebadet wurden, im gleichen<br />

Wasser. Wie er und s<strong>ein</strong> Bruder <strong>ein</strong><br />

ausrangiertes Ehebett teilen mussten.<br />

Wie er die Realschule besuchen und damit<br />

auf <strong>ein</strong> Studium verzichten musste,<br />

weil das Gymnasium zu teuer war. Und<br />

wie p<strong>ein</strong>lich es <strong>Horst</strong> war, wenn der Lehrer<br />

fragte, wo es im Urlaub hinging, weil<br />

mehr als <strong>ein</strong> Besuch im Ingolstädter Luitpoldpark<br />

nicht drin war.<br />

Darin liegen gleich zwei Schlüssel<br />

zum Verständnis des Politikers <strong>Seehofer</strong>.<br />

Zum <strong>ein</strong>en hängt an der Demütigung<br />

der Mittellosigkeit <strong>ein</strong>e Triebfeder s<strong>ein</strong>es<br />

wuchtigen Aufstiegs. <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong>,<br />

das besch<strong>ein</strong>igen ihm Gegner, aber auch<br />

langjährige Freunde, hat k<strong>ein</strong>e übergeordnete<br />

Agenda, k<strong>ein</strong> höheres Ziel, außer<br />

den unbedingten Willen zum Erfolg,<br />

zur Gestaltungsmacht, zum Gipfel. Zum<br />

anderen versteht <strong>Seehofer</strong> es wie außer<br />

ihm vielleicht nur Ursula von der Leyen,<br />

den eigenen Mythos mit biografischen<br />

<strong>Seehofer</strong> schreitet <strong>ein</strong> Heer von<br />

Gebirgsschützen ab. Manchmal<br />

fährt er auf dem Motorrad durch<br />

<strong>Bayer</strong>n. All<strong>ein</strong> und unerkannt<br />

Anekdoten zu füttern und damit Politik<br />

zu machen. S<strong>ein</strong>e Biografie ist <strong>ein</strong>e Achterbahnfahrt,<br />

aber es wirkt oft, als kokettiere<br />

<strong>Seehofer</strong> mit s<strong>ein</strong>em Schicksal, als<br />

dramatisiere er bewusst die Tiefpunkte,<br />

um den Höhen durch den Kontrast erst<br />

Glanz zu verleihen.<br />

S<strong>ein</strong>en damaligen Mitschülern an<br />

der Ingolstädter Realschule zum Beispiel<br />

fiel die Armut <strong>Seehofer</strong>s nicht auf:<br />

„Arm waren wir doch damals alle“, sagt<br />

<strong>ein</strong>er von ihnen. „Ich kenne k<strong>ein</strong>en in<br />

der Klasse, der damals irgendwo Urlaub<br />

gemacht hat.“ Stattdessen stach <strong>Seehofer</strong><br />

– Jüngster und Längster der Klasse –<br />

durch natürliche Autorität hervor. Er<br />

darf das Milchgeld <strong>ein</strong>kassieren, man<br />

wählt ihn zum Klassensprecher. Gibt es<br />

Ärger mit Lehrern, ist es <strong>Horst</strong>, der zwischen<br />

Direktor und Schülern vermittelt.<br />

S<strong>ein</strong>e Schwester nennt ihn <strong>ein</strong>en „Streber“,<br />

er ist bald Klassenbester und zudem<br />

berüchtigt im Handballteam, weniger<br />

als Teamplayer, mehr als scharfer<br />

Rückraumschütze, der Punkte abräumt.<br />

Das Gegenteam schüchtert er gern mit<br />

Sprüchen vor dem Anpfiff <strong>ein</strong>. Die Methode<br />

wendet er heute in der Politik an.<br />

Nach der Schule macht er <strong>ein</strong>e Ausbildung<br />

am Ingolstädter Landratsamt.<br />

Tüchtig, erinnert sich der damalige Personalratsvorsitzende<br />

Hermann Regensburger:<br />

gut aussehend, perfekt vorbereitet,<br />

fotografisches Gedächtnis. Allerdings<br />

mit <strong>ein</strong>er Schwäche: „Er langweilt sich<br />

schnell, und wenn ihm fad ist, dann fängt<br />

er an zu zündeln. Irgendwie braucht er<br />

Adrenalin. Dann muss was umgedreht<br />

und angestellt werden.“<br />

Das zeige sich schon daran, wie <strong>Seehofer</strong><br />

Schafkopf spielt. Er ist besessen<br />

von dem Kartenspiel. Im Freundeskreis,<br />

zu dem auch Regensburger gehört, führt<br />

er die „Teufelsrunde“ <strong>ein</strong>: Für jeden Spieler<br />

<strong>ein</strong>e Solorunde, die Hälfte der Karten<br />

bleibt unbekannt, trotzdem muss<br />

der Spieler schon sagen, was er macht.<br />

Brutaler Nervenkitzel, das mag <strong>Seehofer</strong>.<br />

Zwei Mal entgeht er im Landratsamt<br />

knapp dem Rausschmiss: Einmal verpennt<br />

er nach <strong>ein</strong>er durchzechten Nacht<br />

den Außendienst, <strong>ein</strong> andermal erwischt<br />

man ihn zur Dienstzeit in der Wirtschaft.<br />

Regensburger rettet ihm den Job.<br />

All das hindert ihn nicht am Durchmarsch.<br />

S<strong>ein</strong>e Karriere als Kommunalbeamter<br />

gipfelt 1979 in <strong>ein</strong>em Abschluss<br />

24<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


an der Münchner Verwaltungsakademie –<br />

als Jahrgangsbester. Nur <strong>ein</strong> Jahr später<br />

wird er in den Bundestag gewählt, da ist er<br />

30, <strong>ein</strong> vorsichtiger Riese. Doch er bringt<br />

Zusammenhänge auf den Punkt und weiß<br />

das Wesentliche vom Unwesentlichen zu<br />

trennen. Das hilft ihm, sich als Sozialpolitiker<br />

zu profilieren: Zehn Jahre später ist<br />

er Staatssekretär im Arbeitsministerium<br />

unter Norbert Blüm. 1992 macht Kohl<br />

ihn zum Gesundheitsminister. Als Reformer<br />

fürchten ihn die Lobbyisten, Sozialdemokraten<br />

zollen ihm Respekt: „<strong>Der</strong><br />

bescheißt dich nicht“, sagt der damalige<br />

SPD-Fraktionsvize Rudolf Dreßler.<br />

Die Dramatik in <strong>Seehofer</strong>s politischem<br />

Passions- und Auferstehungsmythos<br />

beginnt 1998: Kohl wird abgewählt<br />

und <strong>Seehofer</strong> mit ihm. Wie <strong>ein</strong> Traumatisierter<br />

berichtet <strong>Seehofer</strong> seitdem vom<br />

Pförtner, der ihn als Ex-Minister beim<br />

Herausgehen nicht mehr gegrüßt habe.<br />

Doch die erste Auferstehung folgt<br />

bald: Als sich die CDU nach der Spendenaffäre<br />

sortieren muss, gewinnt er<br />

als Vize der Unionsfraktion Profil. 2002<br />

dann wieder <strong>ein</strong> Vollabsturz: Er bricht<br />

mit <strong>ein</strong>er Herzmuskelentzündung zusammen,<br />

liegt 21 Tage auf der Intensivstation,<br />

braucht <strong>ein</strong> halbes Jahr, bis er in die Politik<br />

zurückkehrt. Aber wie! Er präsentiert<br />

sich als Geläuterter, der dem Tod<br />

entkommen ist, als Ex-Politik-Junkie, den<br />

das Schicksal geheilt habe. Ihm gelingt<br />

es bis heute, s<strong>ein</strong>e Krankheitsgeschichte<br />

als Systemupdate zu verkaufen, das den<br />

<strong>Seehofer</strong> mit Weisheit und Tugend ausgestattet,<br />

ihn ger<strong>ein</strong>igt und verbessert habe.<br />

<strong>Seehofer</strong>s Kehrtwende<br />

beim Thema Studiengebühren<br />

„Wir geben den<br />

Hochschulen die<br />

Möglichkeit,<br />

durch die<br />

Erhebung von<br />

Studienbeiträgen<br />

(…) die Studienbedingungen<br />

( …)<br />

zu verbessern“<br />

Koalitionsvertrag<br />

von CSU und FDP, 2008<br />

„Ich werde jeden<br />

Tag für die<br />

Abschaffung der<br />

Studiengebühren<br />

werben“<br />

Im <strong>Bayer</strong>ischen Rundfunk,<br />

12. 11. 2012<br />

RedWorks Düsseldorf / ERDGAS_2013 / INNOVATION_Sozialverträgliche Sanierung / <strong>Cicero</strong> / ET: 21.03.2013 / Format: 210 x 94 mm / 4c<br />

Bemerkenswert an <strong>Seehofer</strong>s nächster<br />

Bruchlandung ist nicht nur, dass sie<br />

sich vor diesem Hintergrund wie <strong>ein</strong>e<br />

Heldengeschichte liest, sondern auch,<br />

dass ihr <strong>ein</strong> Kräftemessen mit der heutigen<br />

Kanzlerin vorausgeht. Angela Merkel,<br />

seit zwei Jahren Oppositionsführerin,<br />

will 2004 <strong>ein</strong>e Kopfpauschale als Krankenkassenbeitrag<br />

durchsetzen. <strong>Seehofer</strong><br />

stellt sich quer. „Ich bin zäh“, sagt<br />

Merkel. „Ich auch“, sagt <strong>Seehofer</strong>. Als<br />

er sich <strong>ein</strong>em Kompromiss verweigert,<br />

wendet die Unionsfraktion sich gegen ihn,<br />

CSU-Landesgruppenchef Michael Glos<br />

fordert ihn schließlich zum Rücktritt als<br />

Fraktionsvize auf. Die Folge: Glos und<br />

<strong>Seehofer</strong> werden zu herzlichen F<strong>ein</strong>den,<br />

Merkel hält <strong>Seehofer</strong> jahrelang und vielleicht<br />

noch immer für unzurechnungsfähig.<br />

Er gibt s<strong>ein</strong>en Vizeposten ab.<br />

Im Rückblick zelebriert <strong>Seehofer</strong><br />

sich als <strong>ein</strong>en, den die Krankheit frei<br />

für Gewissensentscheidungen machte,<br />

der nicht anders konnte, als aus Prinzipientreue<br />

in den Untergang zu springen.<br />

„Jetzt bin ich nichts mehr“, sagt er <strong>ein</strong>em<br />

Freund. Er sei politisch tot, klagt er anderen.<br />

So recht glaubt ihm das niemand.<br />

Tatsächlich folgt das nächste Comeback<br />

schnell. Das Risiko, sich mit <strong>ein</strong>em<br />

schmollenden <strong>Seehofer</strong> im Abseits <strong>ein</strong>en<br />

Abtrünnigen heranzuzüchten, macht<br />

CSU-Chef Edmund Stoiber nervös, außerdem<br />

braucht er <strong>Seehofer</strong>, um die sozialpolitische<br />

Lücke der CSU zu schließen.<br />

Also boxt Stoiber ihn 2005 gegen Merkels<br />

Widerstand ins neue Kabinett. Die<br />

Kanzlerin besteht darauf, dass der linke<br />

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erreichen – auch ohne die Kosten aus den Augen zu verlieren. Denn moderne Erdgas-Technologien ermöglichen dank<br />

ihrer Effizienz hohe CO 2<br />

-Einsparungen ohne großen Investitionsaufwand. Das hilft bezahlbare Mieten bei der energetischen<br />

Sanierung zu sichern. Dazu bietet ERDGAS als Partner der erneuerbaren Energien <strong>ein</strong>e hohe Zukunftssicherheit.<br />

Mit anderen Worten: Klimaschutz und Sozialverträglichkeit müssen sich nicht ausschließen – mit ERDGAS.<br />

Mehr Informationen finden Sie unter:<br />

www.erdgas.info


Titel<br />

<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />

Aufwiegler k<strong>ein</strong> Sozialressort bekommt,<br />

so wird <strong>Seehofer</strong> Landwirtschaftsminister<br />

oder, wie er sagt: „Minister für Kartoffeln<br />

und Bananen“.<br />

Er schlägt sich gut, trotz Gammelfleisch<br />

und Vogelgrippe, so sehr,<br />

dass Umfragen ihn 2006 zum beliebtesten<br />

Politiker <strong>Deutschland</strong>s erklären,<br />

neuer Glanz auf neuer Höhe. Bald ist der<br />

nächste Gipfel in Sicht: Als Stoiber 2007<br />

stürzt, will <strong>Seehofer</strong> s<strong>ein</strong>e Macht. Doch<br />

stattdessen kungeln Günther Beckst<strong>ein</strong><br />

und Erwin Huber die Posten unter<strong>ein</strong>ander<br />

aus, der Bundeslandwirtschaftsminister<br />

bleibt außen vor.<br />

Ein Grundmuster in <strong>Seehofer</strong>s Leben<br />

rächt sich hier, gleichzeitig wird es<br />

bestätigt: Er, der jahrzehntelang auf eigene<br />

Rechnung aufgestiegen ist, ohne<br />

Abitur, ohne Studium, ohne Verbindungen,<br />

ohne Hilfe im System, hegt <strong>ein</strong> tiefes<br />

Misstrauen gegenüber Seilschaften. Als<br />

<strong>ein</strong>samer Bergsteiger der deutschen Politik<br />

blickt er mit Verachtung auf Netzwerke<br />

und Cliquen herab, sie sind für ihn<br />

<strong>ein</strong> Instrument von Schwächlingen.<br />

Das ist bis heute die Basis s<strong>ein</strong>er Beratungsresistenz,<br />

es ist Teil s<strong>ein</strong>es Stolzes<br />

und der Grund dafür, dass genau<br />

diese Seilschaften ihn nun zum zweiten<br />

Mal mit Lust abstürzen lassen: 2004 im<br />

Streit um die Kopfpauschale und 2007 im<br />

Kampf um Stoibers Posten. Als er ankündigt,<br />

trotzdem zu kandidieren, bekommt<br />

er den Genickschuss: <strong>Der</strong> Bild werden<br />

Details zur außerehelichen Liebesaffäre<br />

<strong>Seehofer</strong>s zugespielt, die Dame erwartet<br />

<strong>ein</strong> Kind von ihm. Monate später erklärt<br />

<strong>Seehofer</strong> das Verhältnis für beendet.<br />

„Papa eiskalt“, titelt die Bild am Sonntag.<br />

Dass er die Vorsitzendenwahl gegen Erwin<br />

Huber verliert, wundert niemanden.<br />

Paradoxerweise muss ausgerechnet<br />

der Einzelkämpfer <strong>Seehofer</strong> sich die<br />

meisten Triumphe nicht erkämpfen. Sie<br />

widerfahren ihm, weil andere versagen:<br />

Gesundheitsminister wurde er 1992, weil<br />

s<strong>ein</strong>e Vorgängerin Gerda Hasselfeldt resigniert<br />

hatte. Landwirtschaftsminister<br />

wurde er, weil Stoiber k<strong>ein</strong>en anderen<br />

Sozialpolitiker parat hatte. Hätte das<br />

Tandem Huber-Beckst<strong>ein</strong> die Landtagswahl<br />

2008 nicht verloren, hätte niemand<br />

nach ihm gerufen. So aber ist <strong>Seehofer</strong><br />

plötzlich die <strong>ein</strong>zige Hoffnung der gedemütigten<br />

CSU. Im Oktober 2008 wird er<br />

<strong>Seehofer</strong>s Kehrtwende<br />

beim Thema Donauausbau<br />

„Ich bin dezidiert für<br />

den Donauausbau in<br />

der Variante C 280,<br />

der Lösung mit der<br />

Staustufe“<br />

Mittelbayerische Zeitung, 04. 11. 2009<br />

„Eines ist klar: In<br />

m<strong>ein</strong>er Amtszeit<br />

wird es k<strong>ein</strong>e<br />

Staustufe, k<strong>ein</strong>en<br />

Stichkanal und k<strong>ein</strong>e<br />

Verfahren dazu<br />

geben“<br />

In <strong>ein</strong>er Mitteilung der bayerischen<br />

Staatskanzlei, 27. 02. 2013<br />

<strong>Seehofer</strong>s Kehrtwende<br />

beim Thema schwarz-grüne Sondierung<br />

„Ich werde solche<br />

Gespräche<br />

jedenfalls nicht<br />

führen. Damit<br />

hat sich das“<br />

<strong>Der</strong> Spiegel, 25. 09. 2013<br />

„Wir haben am<br />

Schluss noch <strong>ein</strong>mal<br />

deutlich gemacht,<br />

wir hätten die<br />

Punkte, die noch im<br />

Raum standen, für<br />

überwindbar<br />

gehalten“<br />

Nach Sondierungsgesprächen mit<br />

den Grünen, 16. 10. 2013<br />

mit 90,3 Prozent zum Parteichef gewählt,<br />

<strong>ein</strong>e schwarz-gelbe Mehrheit macht ihn<br />

zum Ministerpräsidenten: Für <strong>Seehofer</strong><br />

ist die Zeit der Macht angebrochen.<br />

Zeit s<strong>ein</strong>er Karriere eilt <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong><br />

der Ruf voraus, schrullige Angewohnheiten<br />

zu pflegen. Zum Beispiel<br />

die, sich in Konfliktsituationen tagelang<br />

in s<strong>ein</strong>er Berliner Wohnung oder dem Ferienhaus<br />

im Altmühltal zu verschanzen,<br />

ohne Türklingel oder Telefon zu beantworten.<br />

So soll es 2002 gewesen s<strong>ein</strong>, als<br />

ihm der Kurs der Union nach den Wahlen<br />

nicht passte, 2004 im Streit um die<br />

Kopfpauschale, während des Wirbels um<br />

s<strong>ein</strong>e Affäre oder auch 2010, während<br />

<strong>ein</strong>er Debatte um den Umbau des Sozialsystems.<br />

S<strong>ein</strong>e Gegner streuen, dies<br />

seien Anzeichen manischen Verhaltens,<br />

er würde dann tagelang autistisch in die<br />

Parallelwelt s<strong>ein</strong>er Modelleisenbahnen,<br />

Computerspiele und Flugzeugsimulatoren<br />

flüchten. Freunde sagen, er nehme<br />

sich Zeit, Probleme gründlich zu durchdenken,<br />

und mache sich <strong>ein</strong> Späßchen daraus,<br />

andere zappeln zu lassen.<br />

Bisweilen, erzählen Weggefährten,<br />

wird er sogar zum Phantom: setzt<br />

sich <strong>ein</strong>en Helm mit Klappvisier auf und<br />

dazu noch die Sonnenbrille, zur Tarnung.<br />

Dann startet er in s<strong>ein</strong>er Garage im Altmühltal<br />

das Motorrad und fährt durch<br />

die bayerischen Auen und Wälder, ohne<br />

Ziel, manchmal stundenlang. Brotzeit<br />

macht er nicht in der Wirtschaft, sondern<br />

all<strong>ein</strong>e, irgendwo auf <strong>ein</strong>em Hügel,<br />

wo es schön ist. Wenn er weiterfährt und<br />

die Leute gucken, freut er sich diebisch,<br />

dass k<strong>ein</strong>er weiß, wer da durchs Land<br />

fährt: der Ministerpräsident persönlich.<br />

Während <strong>Seehofer</strong> sich den Luxus<br />

abzutauchen als Landesvater selten leisten<br />

kann, gibt es andere Eigenschaften,<br />

die sich erst jetzt Bahn brechen. Zur Befriedigung<br />

s<strong>ein</strong>er Adrenalinsucht steht<br />

ihm <strong>ein</strong> weitgehend widerspruchsloser<br />

Apparat zur Verfügung, den er ununterbrochen<br />

piesackt. Weil <strong>Seehofer</strong> kaum<br />

Berater konsultiert, dringt oft ungefiltert<br />

nach draußen, was ihm durch den Kopf<br />

rauscht: die Behauptung, <strong>Deutschland</strong><br />

brauche k<strong>ein</strong>e Zuwanderung aus fremden<br />

Kulturkreisen mehr, oder dass freche<br />

WDR-Journalisten „raus aus <strong>Bayer</strong>n“<br />

müssten. Pausenlos jagt er politischen<br />

Sprengstoff durchs Land, Nichtraucherschutz,<br />

Autobahnmaut … Wird es ihm zu<br />

26<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


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28<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


„Wenn ihm fad ist,<br />

fängt er an zu zündeln.<br />

Er braucht Adrenalin.<br />

Dann muss was<br />

angestellt werden“<br />

<strong>Seehofer</strong>s Freund Hermann Regensburger<br />

29<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Titel<br />

<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />

ruhig, macht er s<strong>ein</strong>en Ministern per SMS<br />

Feuer unterm Hintern: „Ein verlorener<br />

Tag“, heißt es, „wann kommt was Neues?“<br />

oder: „Wo bleibt die Revolution?“<br />

<strong>Der</strong> Freude am Thrill entspringt <strong>Seehofer</strong>s<br />

Neigung, Schabernack mit Untergebenen<br />

zu treiben. Als Minister soll er<br />

s<strong>ein</strong>en Staatssekretär Gert Lindemann<br />

alarmiert angerufen haben: Merkel sei<br />

auf dem Bauerntag ausgepfiffen worden,<br />

Lindemann müsse sofort ins Kanzleramt,<br />

um die Wogen zu glätten. Lindemann saß<br />

bereits im Auto, als <strong>Seehofer</strong> wieder anrief,<br />

Tränen lachend, kl<strong>ein</strong>er Scherz.<br />

<strong>Seehofer</strong>s huldvoll-schmunzelnde<br />

Miene erinnert manchmal an den König<br />

der Löwen und s<strong>ein</strong>e gravitätischen Bewegungen<br />

an <strong>ein</strong>en Silberrückengorilla.<br />

Aber wenn ihm <strong>ein</strong> Streich gelungen ist,<br />

wenn er wieder dieses japsende Lachen<br />

mit Schnappatmung gezeigt hat, wird er<br />

hinter vorgehaltener Hand auch mit <strong>ein</strong>er<br />

kichernden Hyäne verglichen. Vom<br />

Ministerpräsidenten veräppelt zu werden,<br />

finden viele nicht mehr lustig. Aber<br />

er kommt nicht aus s<strong>ein</strong>er Haut. Guttenberg<br />

verspottet er als den „Größten<br />

aller Zeiten“, Innenminister Friedrich<br />

Im Würgegriff des Riesen. <strong>Seehofer</strong><br />

umarmt Merkel nach dem Sieg bei<br />

der Bundestagswahl. Ihren Erfolg<br />

hat er zu s<strong>ein</strong>em Triumph gemacht<br />

macht er zum „Oberbedenkenminister“,<br />

Verkehrsminister Ramsauer wird „Zar<br />

Peter“, dessen Staatssekretär Andreas<br />

Scheuer <strong>ein</strong> „Lausbub, der erst mal <strong>ein</strong><br />

Praktikum machen muss“.<br />

Über Finanzminister Markus Söder<br />

sagt er, der sei „von Ehrgeiz zerfressen“<br />

und betreibe „Schmutzeleien“. In <strong>Seehofer</strong>s<br />

Umfeld verdächtigt man Söder,<br />

er habe der Presse 2004 die Geschichte<br />

über <strong>Seehofer</strong>s Geliebte zugesteckt und<br />

zuletzt noch versucht, ihm <strong>ein</strong>e zweite<br />

Affäre anzuhängen, so erklärt man den<br />

Ausfall. Trotzdem brodelt es lange in der<br />

CSU. Von „Mobbing“ ist die Rede, gar <strong>ein</strong>er<br />

„Schreckensherrschaft“.<br />

Er hält sich mit Ilse Aigner und<br />

Markus Söder gleich zwei potenzielle<br />

Nachfolger. In der neuen bayerischen<br />

Staatsregierung wird sie stellvertretende<br />

Regierungschefin und Wirtschaftsministerin<br />

mit der Zuständigkeit für Energie.<br />

Söder darf das Finanzressort behalten<br />

und erhält <strong>ein</strong> neu geschaffenes Ressort<br />

für Heimat obendrauf. Ein Superministerium<br />

für beide, hat <strong>Seehofer</strong> getönt. Aber<br />

die Schlüsselposition des Fraktionschefs<br />

im Landtag bekommt – teile und herrsche<br />

– k<strong>ein</strong>er der beiden Kronprinzen,<br />

sondern s<strong>ein</strong> getreuer Verwalter Thomas<br />

Kreuzer, bisher Leiter der Staatskanzlei.<br />

Dass die CSU sich <strong>Seehofer</strong> unterwirft,<br />

hängt indirekt mit <strong>ein</strong>er Eigenschaft<br />

zusammen, die erst im Amt des<br />

Ministerpräsidenten zu voller Blüte gelangte:<br />

<strong>Seehofer</strong>s Richtungswechsel. Ob<br />

bei der Energiewende oder dem Donauausbau,<br />

den Studiengebühren oder der<br />

Gentechnik – es gibt kaum <strong>ein</strong> Thema,<br />

bei dem er nicht <strong>ein</strong>e oder mehrere<br />

Kehrtwenden vollzogen hätte. Die Klage<br />

über den „Drehhofer“ ist <strong>ein</strong> Klassiker<br />

im Repertoire s<strong>ein</strong>er Kritiker, die lange<br />

verkennen, wie virtuos er damit Machtpolitik<br />

betreibt. Die Koalitionspartner<br />

von der FDP wussten nicht, wie ihnen<br />

geschah. Sie flogen nicht nur aus der Regierung,<br />

sondern gleich aus dem Landtag.<br />

<strong>Seehofer</strong> schaut dem Volk aufs<br />

Maul, misst mit seismografischem Gespür<br />

Stimmungen, hat in der CSU-Zentrale<br />

gar <strong>ein</strong>e Task Force zur Überwachung<br />

sozialer Netzwerke installiert, um<br />

augenblicklich nachjustieren zu können.<br />

So unterzieht er die CSU <strong>ein</strong>em permanenten<br />

Programmupdate. Damit kommt<br />

Foto: Rainer Jensen/Picture Alliance/dpa [M]<br />

30<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


er nicht nur durch, es ist der Kern s<strong>ein</strong>es<br />

Erfolgs. Er versteht es, s<strong>ein</strong>e Taktik als<br />

beides zu vermarkten: <strong>ein</strong>erseits fürstliche<br />

Fürsorge, weil er ja immer auf den<br />

Bürger mit s<strong>ein</strong>en Nöten <strong>ein</strong>geht. Und andererseits<br />

als Nachweis dafür, <strong>ein</strong> Schlitzohr<br />

zu s<strong>ein</strong> – zum Wohle der <strong>Bayer</strong>n<br />

natürlich.<br />

Gut zu beobachten ist das auf <strong>ein</strong>er<br />

niederbayerischen Jubiläumsveranstaltung<br />

im Sommer 2013. <strong>Seehofer</strong> hält umringt<br />

von lokalen Würdenträgern <strong>ein</strong>en<br />

launigen Vortrag über die mehrfachen<br />

historischen Seitenwechsel der <strong>Bayer</strong>n,<br />

von den Österreichern zu Napoleon und<br />

wieder zurück. „Geschichtsbücher nennen<br />

das historischen Weitblick“, sagt er.<br />

Dann macht er s<strong>ein</strong> Lausbubengesicht:<br />

„Und deshalb nehme ich mir auch gelegentlich<br />

heraus …“ Weiter kommt er<br />

nicht, jeder versteht die Anspielung, der<br />

Saal prustet in Gelächter. „Und später<br />

wird auch das als historischer Weitblick<br />

bezeichnet“, ruft <strong>Seehofer</strong>, die Leute johlen,<br />

klatschen, lieben ihn.<br />

Diese Verehrung trägt ihn 2013<br />

durch den Wahlkampf, die „Mutter aller<br />

Schlachten“, wie er sagt, sie trägt ihn über<br />

die Amigo-Affäre im Landtag oder den<br />

Fall Gustl Mollath hinweg, sie trägt ihn<br />

zum Wahlsieg, zur absoluten Mehrheit,<br />

auf den Mount Everest s<strong>ein</strong>er Karriere.<br />

Und sie führt ihn erneut an die Seite<br />

der Kanzlerin, die genau wie er jetzt auf<br />

dem Zenit ihrer Macht ist.<br />

Vor der ersten Fraktionssitzung der<br />

Union nach dem Sieg bei der Bundestagswahl<br />

breitet <strong>Seehofer</strong> die Arme aus und<br />

umarmt Merkel. Sie winkelt den linken<br />

Arm an, sie schiebt ihn zwischen sich und<br />

den Riesen, der sie an sich zieht. Es ist<br />

<strong>ein</strong>e Abwehrbewegung, aber der Riese<br />

hält sie im Würgegriff.<br />

Merkels Triumph nimmt der <strong>Bayer</strong><br />

für sich in Anspruch. Monatelang hat er<br />

sie ver<strong>ein</strong>nahmt. Er hat sie gelobt, auf<br />

Kundgebungen und in Fernsehporträts<br />

über die Kanzlerin. So wurde er zum<br />

obersten Merkel-Juror. Aus ihrer Sicht ist<br />

das k<strong>ein</strong>e so nette Rolle, denn wer sich<br />

herausnimmt zu loben, der bringt sich<br />

auch in die Position, kritisieren zu dürfen.<br />

Folgt jetzt <strong>ein</strong> vierjähriges Fingerhakeln<br />

der Titanen? Einiges spricht dafür:<br />

So stark die CSU in <strong>Bayer</strong>n ist, in <strong>ein</strong>er<br />

Koalition mit SPD oder Grünen bleibt sie<br />

<strong>Seehofer</strong>s Kehrtwende<br />

beim Thema Wehrpflicht<br />

„Die Allgem<strong>ein</strong>e<br />

Wehrpflicht ist <strong>ein</strong><br />

unverzichtbarer<br />

Bestandteil unserer<br />

Demokratie. Nur die<br />

Wehrpflicht<br />

garantiert den<br />

permanenten<br />

Austausch zwischen<br />

den Streitkräften<br />

und der Gesellschaft“<br />

In <strong>ein</strong>er Mitteilung der bayerischen<br />

Staatskanzlei, 30.07.2009<br />

„Es wird und es<br />

darf k<strong>ein</strong>e neue<br />

Diskussion über die<br />

Abschaffung der<br />

Wehrpflicht geben.<br />

(…) Die<br />

sicherheitspolitische<br />

Lage rechtfertigt<br />

<strong>ein</strong>en solchen<br />

Eingriff in die<br />

persönlichen<br />

Freiheiten junger<br />

Menschen nicht<br />

mehr“<br />

Bild am Sonntag, 06.03.2011<br />

nur dritte Kraft. <strong>Seehofer</strong> wird ihr durch<br />

Sturheit und Lautstärke künstliches Gewicht<br />

verleihen. Vor allem aber wird sich<br />

noch herausstellen, wie jemand, der sich<br />

langweilt, wenn es nicht weitergeht, und<br />

zündelt, wenn ihm fad ist, damit umgeht,<br />

an der Spitze angelangt zu s<strong>ein</strong>.<br />

Doch wenn jemand den Brandstifter<br />

<strong>Seehofer</strong> dort <strong>ein</strong>fangen kann, dann<br />

Merkel mit ihrem Feuerlöscher-Habitus.<br />

Vielleicht liegt es daran, dass sie <strong>Seehofer</strong><br />

2004 <strong>ein</strong>mal bezwungen hat, jedenfalls<br />

bringt er der Kanzlerin <strong>ein</strong>e ihm seltene<br />

Form von Respekt entgegen, <strong>ein</strong> Anruf<br />

oder <strong>ein</strong>e SMS von ihr, heißt es, bringe<br />

ihn immer noch zum Grinsen wie <strong>ein</strong>en<br />

Schuljungen. Merkel selbst gilt als angestrengt<br />

von der Unberechenbarkeit des<br />

<strong>Bayer</strong>n, aber wer Nicolas Sarkozy in den<br />

Griff bekommen hat, schafft das auch mit<br />

<strong>Seehofer</strong>. Merkel beherrscht das Spiel mit<br />

der Eitelkeit der Alpha-Männchen im<br />

Schlaf, sie weiß, wie man ihr Ego bedient.<br />

Wer <strong>Seehofer</strong> am Wahlabend im bayerischen<br />

Landtag erlebt hat, ahnt, dass<br />

es für ihn egotechnisch nicht mehr viel<br />

zu kompensieren gibt. <strong>Der</strong> Ministerpräsident<br />

bewegt sich langsam durch <strong>ein</strong>e<br />

schiebende, verkeilte Masse aus Pressemenschen<br />

und Gratulanten, hinter ihm<br />

boxt sich s<strong>ein</strong> Stab mit Ellbogen den Weg<br />

frei. Von überallher kommen die Bücklinge.<br />

„<strong>Horst</strong>, darf ich dir noch persönlich<br />

gratulieren …“, rufen sie, und „Darf<br />

ich dir rasch, <strong>Horst</strong>, zu d<strong>ein</strong>em sensationellen<br />

…“ Schwitzende, gerötete Grinsegesichter:<br />

„Lieber <strong>Horst</strong>, I hob dir auch<br />

schon was geschickt ghobt, aber …“ und<br />

„Ich lasse es mir nicht nehmen, dir ganz<br />

persönlich …“ Dutzende Speckhände recken<br />

sich ihm entgegen. „Ja“, sagt <strong>Seehofer</strong><br />

in müdem Triumph. „Ja, ja.“<br />

Manchem legt er die Pranke auf die<br />

Schulter, über den meisten hebt er nur die<br />

Hand, wie zum Segen. Die Kameras folgen<br />

ihm in den Innenhof, er steigt in den<br />

dunklen Fonds des Wagens, nur s<strong>ein</strong>e grüßende<br />

Hand leuchtet jetzt noch im Blitzlicht,<br />

ihr Schatten fällt riesig vergrößert<br />

auf die Wände. Dann schließt sich die<br />

Türe. „<strong>Der</strong> Chef ist jetzt losgefahren“, sagt<br />

der Security-Mann leise in s<strong>ein</strong> Mikro.<br />

Constantin Magnis ist Ressortleiter<br />

Reportagen von <strong>Cicero</strong>. Während der<br />

Recherche verblüffte <strong>Seehofer</strong> ihn: „Geben<br />

Sie auf <strong>Bayer</strong>n acht!“, bat er Magnis<br />

31<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Titel<br />

<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />

„Man muss überall<br />

mit mir rechnen“<br />

<strong>Bayer</strong>ns Finanzminister Markus Söder über das System <strong>Seehofer</strong>,<br />

das Rennen um die Thronfolge und s<strong>ein</strong> neues Ressort Heimat<br />

Landes. Wenn es für <strong>Bayer</strong>n <strong>ein</strong>e echte<br />

Herausforderung gibt, dann die, k<strong>ein</strong>e<br />

zwei Geschwindigkeiten von Land und<br />

Stadt entstehen zu lassen. Da geht es<br />

nicht um Trachten und Blasmusik.<br />

Schön für Sie. Aber Vize heißt Anwärterin.<br />

Ist das im Bund auch so?<br />

N<strong>ein</strong>, aber da gibt es Koalitionen, und in<br />

denen stellt der Koalitionspartner den<br />

Vize-Regierungschef. In <strong>Bayer</strong>n <strong>regiert</strong><br />

die CSU all<strong>ein</strong>.<br />

Wir haben <strong>ein</strong>en starken Ministerpräsidenten<br />

und mit Ilse Aigner und Innenminister<br />

Joachim Herrmann zwei sehr<br />

gute Vertreter des Ministerpräsidenten.<br />

Herr Söder, herzlichen Glückwunsch<br />

zum Trostpreis!<br />

Markus Söder: Warum?<br />

Sie sind im neuen bayerischen Kabinett<br />

Finanz- und Heimatminister. Das ist<br />

nicht Vize-Ministerpräsident. Den Job<br />

hat Ilse Aigner auf das Wirtschaftsministerium<br />

obendrauf bekommen.<br />

Alle im Kabinett sind wichtig. Das<br />

Finanzministerium mit erweiterten<br />

Kompetenzen ist dazu <strong>ein</strong>es der größten<br />

und stärksten Ministerien. Die neue<br />

Aufgabe als Heimatminister ist wichtig<br />

für die strategische Entwicklung des<br />

„Spaß haben und trotzdem Dinge<br />

durchsetzen, das kann man von ihm<br />

lernen“ – Markus Söder mit<br />

<strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> 2011 im fränkischen<br />

Muhr am See<br />

Ist es typisch für <strong>Seehofer</strong>, mit Aigner<br />

und Söder zwei potenzielle Nachfolger<br />

gegen<strong>ein</strong>anderlaufen zu lassen?<br />

Das macht er doch nicht. Es geht darum,<br />

die stärkste Mannschaftsaufstellung<br />

hinzubekommen. <strong>Bayer</strong>n muss sich optimal<br />

aufstellen, gerade wenn wir vielleicht<br />

<strong>ein</strong>e Große Koalition im Bund<br />

bekommen. Da ist das aktive Handeln<br />

gegenüber Berlin entscheidend. Und da<br />

haben wir <strong>ein</strong> starkes Wirtschaftsministerium<br />

mit Energie, <strong>ein</strong> starkes Innenministerium<br />

mit der Zuständigkeit für Verkehr<br />

und <strong>ein</strong> starkes Finanzministerium.<br />

Ein FC <strong>Bayer</strong>n-Konzept: auf jeder Position<br />

optimal besetzt.<br />

Frau Aigner hat sich im Frühsommer im<br />

<strong>Cicero</strong> offen zu ihren Ambitionen auf die<br />

<strong>Seehofer</strong>-Nachfolge bekannt. Warum<br />

drucksen Sie rum?<br />

Ich habe <strong>ein</strong>e ganz klare Ambition:<br />

Die Aufgabe, die ich jetzt mache, so gut<br />

wie möglich zu erledigen. Wir haben den<br />

<strong>ein</strong>zigen Haushalt in <strong>Deutschland</strong>, der<br />

Foto: Picture Alliance/dpa [M]<br />

32<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Alte Nationalgalerie – Museumsinsel Berlin, Bodestr. 1–3, 10178 Berlin, www.antongraffinberlin.de, www.smb.museum<br />

Eine Ausstellung der Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin – und des<br />

Museums Oskar R<strong>ein</strong>hart, Winterthur. Die Ausstellung in Berlin wird ermöglicht<br />

durch den Ver<strong>ein</strong> der Freunde der Nationalgalerie und gefördert durch die<br />

Kulturstiftung der Länder und Pro Helvetia.<br />

Gefördert durch:


Titel<br />

<strong>Der</strong> <strong>Märchenkönig</strong><br />

massiv Schulden abbaut. Es gibt kaum<br />

anspruchsvollere Aufgaben.<br />

Ihr Chef ist mit absoluter Mehrheit wiedergewählt<br />

worden. Wie funktioniert<br />

eigentlich das System <strong>Seehofer</strong>?<br />

S<strong>ein</strong> Erfolg liegt darin, dass er sich<br />

stark an den Menschen orientiert. <strong>Horst</strong><br />

<strong>Seehofer</strong> macht das wie Franz Josef<br />

Strauß. Dem Volk aufs Maul schauen,<br />

ohne ihm nach dem Mund zu reden. Er<br />

hat auch <strong>ein</strong> Gespür für <strong>Bayer</strong>n wie Edmund<br />

Stoiber. Wie fühlt <strong>Bayer</strong>n in Stadt<br />

und Land? <strong>Seehofer</strong> greift die Probleme<br />

auf und löst sie. Das hat uns den Erfolg<br />

gebracht.<br />

Muss <strong>ein</strong> wirklich großer Politiker nicht<br />

in der Lage s<strong>ein</strong>, Vorhaben gegen starke<br />

Widerstände durchzusetzen? Nehmen<br />

wir Brandts Ostpolitik, Kohls Europapolitik,<br />

Schröders Agenda 2010.<br />

Das hat er doch in s<strong>ein</strong>er Bonner<br />

Zeit als Gesundheitsminister geleistet.<br />

Die Gesundheitsreformen sind damals<br />

nicht von allen begeistert mitgetragen<br />

worden. In <strong>Bayer</strong>n war s<strong>ein</strong> Handeln<br />

richtig: Dem Freistaat geht es besser als<br />

vor fünf Jahren und der CSU auch. Ein<br />

echter Erfolg.<br />

Steht es Ihnen überhaupt zu, <strong>Seehofer</strong><br />

zu loben? Auf <strong>ein</strong>e Note vom Söder wartet<br />

der doch nicht gerade.<br />

Ich glaube, er kommt mit Lob zurecht.<br />

Kurz vor dem ersten schwarz-grünen<br />

Sondierungsgespräch in Berlin hat <strong>Seehofer</strong><br />

ausgeplaudert, dass <strong>ein</strong> viel wichtigeres<br />

Treffen zwischen Angela Merkel,<br />

SPD-Chef Sigmar Gabriel und ihm bevorsteht.<br />

War das etwa <strong>ein</strong>e Schmutzelei?<br />

N<strong>ein</strong>. Wer sich wann mit wem trifft,<br />

ist doch eher <strong>ein</strong>e Frage der Organisation<br />

als <strong>ein</strong>e der Strategie. Am Ende zählt nur,<br />

ob <strong>ein</strong>e Regierung vier Jahre belastbar<br />

arbeiten kann.<br />

Wir haben das Wort „Schmutzelei“<br />

nicht zufällig benutzt.<br />

Ach!<br />

<strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> hat Ihnen vor knapp <strong>ein</strong>em<br />

Jahr Schmutzeleien vorgehalten.<br />

Was ist denn das eigentlich?<br />

Das weiß ich nicht. Die Diskussion<br />

ist erledigt und vorbei.<br />

„<strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong><br />

macht das wie<br />

Franz Josef<br />

Strauß. Dem Volk<br />

aufs Maul schauen,<br />

ohne ihm<br />

nach dem Mund<br />

zu reden“<br />

Markus Söder analysiert das<br />

Erfolgsrezept s<strong>ein</strong>es Chefs<br />

Ist es vielleicht <strong>ein</strong> Kompliment gewesen?<br />

Die Neuberufung in das Kabinett ist<br />

<strong>ein</strong> Vertrauensbeweis, über den ich mich<br />

sehr freue.<br />

Wie würden Sie das Verhältnis zwischen<br />

Angela Merkel und <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong><br />

beschreiben?<br />

Partnerschaftlich.<br />

Was kann man von <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong><br />

lernen?<br />

Spaß haben und trotzdem Dinge<br />

durchsetzen. <strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> hat Humor,<br />

den ich schätze. Politik bringt genug<br />

Stress und Ärger mit sich, da muss<br />

man auch mal <strong>ein</strong>en Spaß machen können.<br />

Außerdem hat er <strong>ein</strong> hohes Maß an<br />

Durchsetzungsfähigkeit. Denn Politiker<br />

sind dafür da, <strong>ein</strong>en politischen Weg zu<br />

finden, wenn Bürokraten sagen, dass es<br />

nicht geht.<br />

Wo werden Sie mit Ihren neuen Aufgaben<br />

in Ersch<strong>ein</strong>ung treten? Weiter im<br />

Café Einst<strong>ein</strong> in Berlin oder mehr in <strong>ein</strong>er<br />

Dorfgaststätte in Strullendorf bei<br />

Bamberg?<br />

Man muss überall mit mir rechnen.<br />

Wenn es um Steuern, Haushalt oder die<br />

Stabilität des Euro geht, dann ist der Freistaat<br />

zentraler Ansprechpartner der Länder<br />

in Berlin. Das ist so und bleibt so. Das<br />

bayerische Finanzministerium ist fast das<br />

<strong>ein</strong>zige Landesministerium, das sich mit<br />

dem Bundesfinanzministerium sportlich<br />

austauschen kann.<br />

Ihr neues Heimatressort wird in Nürnberg<br />

s<strong>ein</strong>en Sitz haben. Damit Sie sich<br />

als Ministerpräsident von Franken fühlen<br />

können?<br />

Mit der neuen Zuständigkeit Heimat<br />

wird zum ersten Mal seit 1806 überhaupt<br />

außerhalb Münchens <strong>ein</strong> Regierungssitz<br />

etabliert. Und zwar in m<strong>ein</strong>er Heimat.<br />

Das gefällt mir natürlich. Die Aufgabe<br />

ist aber <strong>ein</strong>e echte Herausforderung: die<br />

ländlichen Strukturen aufzuwerten und<br />

zu verbessern.<br />

Und Berlin? Was wird aus Ihrem angestammten<br />

Tisch im Café Einst<strong>ein</strong>?<br />

Es kommt nicht darauf an, wo man<br />

Kaffee trinkt. Wenn es in Berlin zum<br />

Beispiel um die Bund-Länder-Finanzen<br />

geht, werde ich dabei s<strong>ein</strong>. Ich habe bisher<br />

durch m<strong>ein</strong>e Arbeit gezeigt, dass ich<br />

die mir gestellten Aufgaben mit großem<br />

Engagement angehe. Das soll auch in Zukunft<br />

so s<strong>ein</strong>.<br />

Klingt fast wie aus dem Zeugnis <strong>ein</strong>es<br />

Musterschülers. Was ist mit dem<br />

alten Markus Söder los? Sind Sie brav<br />

geworden?<br />

Man wird reifer. Ein Politiker, der<br />

stehen bleibt, fällt zurück.<br />

Was halten Sie übrigens vom derzeitigen<br />

Generalsekretär, Alexander<br />

Dobrindt? Spielt er bei der CSU-Thronfolge<br />

<strong>ein</strong>e Rolle?<br />

Alexander Dobrindt hat gute Arbeit<br />

gemacht als Generalsekretär. Dieses<br />

ganze Gerede, was in vier oder fünf<br />

Jahren ist, halte ich für ziemlich ermüdend.<br />

Dafür habe ich k<strong>ein</strong>e Zeit.<br />

Jetzt seien Sie mal k<strong>ein</strong> Spielverderber!<br />

Ich sag es ausdrücklich für alle Archive:<br />

Ich schätze die Ilse sehr.<br />

Das Gespräch führten Georg Löwisch<br />

und Christoph Schwennicke<br />

34<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Berliner Republik<br />

„ Innerhalb der FDP gab<br />

es nie <strong>ein</strong> Team.<br />

Hinter den Kulissen<br />

wurde ständig<br />

über<strong>ein</strong>ander hergezogen “<br />

Fehleranalyse von Birgit Homburger,<br />

Mitglied im Präsidium der FDP, Seite 44<br />

35<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

Grüner Erbe<br />

Anton Hofreiter ist der neue Grünen-Chef im Bundestag. Er mag Fleisch und den<br />

Regenwald. S<strong>ein</strong> Denken orientiert sich nicht am Gründungsmythos der Partei<br />

Von Peter Unfried<br />

Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

Kurz nach dem Supergau in Tschernobyl<br />

rief der Diplom-Ingenieur<br />

Gerhard Hofreiter zu Hause im<br />

bayerischen Sauerlach s<strong>ein</strong>en Sohn Toni<br />

zu sich und ging mit ihm in den Garten.<br />

Dort maßen sie die Radioaktivität des<br />

Regenwassers. Als die Nadel des Flächenzählers<br />

voll ausschlug, regulierten<br />

sie die Empfindlichkeit um <strong>ein</strong>e Stufe<br />

runter. Die Nadel schlug wieder voll aus.<br />

Anton Hofreiter war damals 16 Jahre<br />

alt. Er sagt, Tschernobyl sei <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>schneidendes<br />

Erlebnis gewesen auf s<strong>ein</strong>em<br />

Weg, der ihn 2005 in den Bundestag<br />

führte und 2011 in <strong>ein</strong> repräsentatives<br />

Büro als Vorsitzender des Verkehrsausschusses.<br />

Jetzt leitet er gem<strong>ein</strong>sam mit<br />

Katrin Göring-Eckardt die Grünen im<br />

Parlament. Bei den Grünen ist der Fraktionsvorsitz<br />

die Schlüsselposition, nicht<br />

der Parteivorsitz. So wird es auch von<br />

Hofreiter abhängen, ob die besten Tage<br />

der Grünen noch kommen oder hinter<br />

ihnen liegen.<br />

Schon vor Tschernobyl war Hofreiter<br />

politisch aktiv. Er hatte im oberpfälzischen<br />

Wackersdorf gegen <strong>ein</strong>e geplante<br />

Wiederaufbereitungsanlage demonstriert<br />

und mit 14 im Grünen Ortsverband <strong>ein</strong><br />

bisschen mitdiskutiert. Was trieb ihn dermaßen<br />

an, dass es ihn schon als Schüler<br />

in die Politik drängte?<br />

Das kann er selbst nicht <strong>ein</strong>deutig<br />

beantworten. Zunächst <strong>ein</strong>mal ist er<br />

skeptisch, was die Fähigkeit des Menschen<br />

zu akkurater Erinnerung angeht.<br />

„Das Gedächtnis imaginiert <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong><br />

Bild von der Vergangenheit, deshalb bin<br />

ich da vorsichtig, auch mit Zeugenaussagen“,<br />

erklärt er.<br />

Er hat <strong>ein</strong>e vertrauensbildende<br />

Stimme, sonor-bayerischer Sound, das<br />

kann <strong>ein</strong> Vorteil werden. Allerdings klingen<br />

die Differenzierungen und Relativierungen<br />

in s<strong>ein</strong>en Sätzen manchmal, als<br />

würden Aussagen in der Politik so funktionieren<br />

wie in der Botanik. Die ist ursprünglich<br />

Hofreiters Beruf, er wurde über<br />

Inkaliliengewächse promoviert.<br />

Zudem ist er vorsichtig geworden,<br />

seit er nach der Niederlage s<strong>ein</strong>er Partei<br />

den zuvor unbestrittenen Chef Jürgen<br />

Trittin abgelöst hat. Beide gehören<br />

zum Parteiflügel der Linken. Hofreiter<br />

hat Trittins erfolglosen Gerechtigkeitsund<br />

Steuerwahlkampf überzeugt mitgetragen.<br />

Nun will er <strong>ein</strong>erseits dazu stehen<br />

und andererseits die Rückbesinnung auf<br />

den ökologischen Markenkern vorantreiben.<br />

Nicht ganz <strong>ein</strong>fach. Er weicht gern<br />

ins Grundsätzliche aus. Was ist links?<br />

Wer ist heute nicht „bürgerlich“?<br />

Hofreiter sch<strong>ein</strong>t <strong>ein</strong>e verhältnismäßig<br />

glückliche Kindheit gehabt zu haben.<br />

Sauerlach ist <strong>ein</strong> 5000-Einwohner-Ort im<br />

Süden Münchens. Eigenes Haus, großer<br />

Garten, Natur drum herum. Die Schule<br />

war nicht s<strong>ein</strong> Ding, er war auch nie Klassensprecher.<br />

Aber mit 18 übernahm er<br />

den Ortsver<strong>ein</strong> der Grünen. „Soweit ich<br />

mich erinnere, waren es klassische Motive<br />

der Zeit: Umwelt retten, Welt retten,<br />

internationale Gerechtigkeit.“<br />

Vielleicht muss man mit Hofreiter<br />

endlich zur Kenntnis nehmen, dass der<br />

Gründungsmythos nicht mehr Orientierungspunkt<br />

für das Denken der Grünen<br />

und über die Grünen ist. <strong>Der</strong> 43 Jahre<br />

alte Biologe ist in <strong>ein</strong>er anderen Zeit groß<br />

geworden als s<strong>ein</strong>e männlichen Vorgänger.<br />

Joschka Fischer (Jahrgang 1948),<br />

Rezzo Schlauch (1947), Fritz Kuhn (1955)<br />

und Jürgen Trittin (1954) wuchsen alle<br />

in <strong>ein</strong>er Zeit auf, die von der deutschen<br />

Schuld geprägt war, der Zäsur von 1968<br />

und dem Widerstand gegen die Lebenswelt<br />

der eigenen Eltern.<br />

Das könnte das Wesensmerkmal der<br />

neuen Generation s<strong>ein</strong>: Hofreiter war nie<br />

im Kampf gegen den eigenen Vater. „Es<br />

gab k<strong>ein</strong>en großen Widerspruch“, sagt<br />

er, sondern meist „Einverständnis und<br />

Wohlwollen von beiden Seiten“. S<strong>ein</strong> Elternhaus<br />

sei „SPD-geprägt“. Heißt: <strong>Der</strong><br />

Vater war gegen Franz Josef Strauß – und<br />

der Sohn dann auch.<br />

Das ist die deutsche Erfahrung, die<br />

ihn geprägt hat. Die andere ist s<strong>ein</strong>e Feldforschung<br />

in den Ökosystemen des südamerikanischen<br />

Bergregenwalds und der<br />

daraus entstandene internationale Blick<br />

auf Missbrauch von Menschen und Natur.<br />

Er hat <strong>ein</strong>en internationalen Gerechtigkeitsbegriff<br />

und <strong>ein</strong>e klare Vorstellung<br />

von Ordnungspolitik, aber er verbindet<br />

sie mit <strong>ein</strong>em libertären Wohlstandsbäuchl<strong>ein</strong>.<br />

Essen macht ihm Spaß, Vegetarier<br />

ist er definitiv nicht, wie man sehen<br />

kann, wenn man ihn beim Italiener trifft.<br />

Diesen Hintergrund in <strong>ein</strong>en tragfähigen<br />

Politikstil und Politikinhalt zu transformieren,<br />

das wäre s<strong>ein</strong> Meisterstück.<br />

Wer kam eigentlich auf die Idee, dass<br />

er Trittin nachfolgen sollte? „Das weiß<br />

ich gar nicht“, sagt er. Es sei „<strong>ein</strong> Prozess<br />

gewesen, der sich entwickelte“. Und<br />

zwar schon weit vor der Wahl, weil die<br />

Grünen mit Trittins Sprung ins Kabinett<br />

rechnen mussten. Und was ist mit denen,<br />

die fürchten, er werde jetzt Trittins Testamentsvollstrecker?<br />

„Ach, Gott“, sagt er.<br />

Er findet es überhaupt erstaunlich,<br />

was neuerdings alles in ihn hin<strong>ein</strong>interpretiert<br />

wird. So flüsterten Parteifreunde,<br />

der Toni habe vor der Wahl zum Fraktionschef<br />

s<strong>ein</strong>e ungewöhnlich langen<br />

Haare um <strong>ein</strong> Drittel gekürzt, um präsentabler<br />

zu ersch<strong>ein</strong>en. „Schmarrn“, sagt<br />

Hofreiter. Er trage die Haare seit Jahren<br />

mal länger und mal kürzer. <strong>Der</strong> Friseurbesuch<br />

sei <strong>ein</strong>fach fällig gewesen.<br />

Peter Unfried schreibt regelmäßig<br />

über grüne Ideen und grünes Personal.<br />

Er interessiert sich vor allem für das<br />

Ringen der Partei um Politikfähigkeit<br />

37<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Berliner Republik<br />

Porträt<br />

<strong>Der</strong> Rückzieher<br />

Generalmajor Jörg Vollmer kommandiert die deutschen Soldaten in Afghanistan.<br />

S<strong>ein</strong>e Mission: Dafür sorgen, dass der Einsatz mit Anstand zu Ende gebracht wird<br />

Von Eric Chauvistré<br />

Die Decke <strong>ein</strong> Stück zu tief, das<br />

Fenster nicht viel mehr als <strong>ein</strong><br />

Lichtschacht, die Einrichtung aus<br />

Behörden-Resopal. Gleich neben der Klimaanlage<br />

gerahmte Porträts von Gauck,<br />

Merkel und de Maizière – dezente Insignien<br />

der Macht im Containerbüro. Hier<br />

residiert Jörg Vollmer, derzeit <strong>Deutschland</strong>s<br />

wichtigster Soldat. Seit Februar ist<br />

er für <strong>ein</strong> Jahr Kommandeur der internationalen<br />

Truppen in Nordafghanistan,<br />

der Mann, der für <strong>Deutschland</strong> den Rückzug<br />

der Soldaten <strong>ein</strong>leitet.<br />

Bei den schlichten, hellbeigen Uniformen,<br />

die hier getragen werden, bedarf es<br />

<strong>ein</strong>es Blickes auf die Schulterstücke, um<br />

<strong>ein</strong>en Feldwebel von <strong>ein</strong>em Zwei-Sterne-General<br />

zu unterscheiden. Vollmer<br />

vermittelt den Eindruck, dass er sich im<br />

Wüstentarnanzug wohler fühlt als in <strong>ein</strong>er<br />

der steifen Uniformjacken, die er zu<br />

s<strong>ein</strong>en Zeiten im Ministerium trug.<br />

Vollmer, 56 Jahre alt, wirkt wie <strong>ein</strong><br />

Lauftreffleiter aus Mittelhessen: jener<br />

Typus, der auch bei minus fünf Grad<br />

morgens als Erster am Treffpunkt ist, bei<br />

Kilometer 20 noch konstantes Tempo<br />

hält, aber für die Neulinge unter den<br />

Lauffreunden immer Blasenpflaster und<br />

Energieriegel dabei hat.<br />

Zwei<strong>ein</strong>halb mal anderthalb Kilometer<br />

misst das Camp Marmal bei Masar-i-Scharif.<br />

Nach dem Rückzug aus<br />

dem umkämpften Kundus Anfang Oktober<br />

ist es die letzte deutsche Bastion in<br />

Afghanistan. Einigt sich die Nato mit der<br />

Regierung in Kabul, wird die Bundeswehr<br />

hier noch drei oder vier Jahre bleiben,<br />

sonst ist schon Ende 2014 Schluss.<br />

Mit asphaltierten Straßen, endlosen<br />

Reihen von Containerbauten und<br />

immer gleichen Fertigbauhallen hat das<br />

Areal so gar nichts von dem, was der<br />

romantische Begriff Feldlager vermuten<br />

lässt. „Mallorca-i-Scharif“ nannten<br />

die Kampftruppen in Kundus das Lager<br />

hier, wo man für den Genuss s<strong>ein</strong>es Cappuccino<br />

zwischen „K2“, der „Oase“ und<br />

„Planet Mazar“ wählen, in der privaten<br />

Pizzeria essen – „The best Pizza at the<br />

frontiers of freedom“ – oder sich im Massagesalon<br />

entspannen kann. <strong>Der</strong> Krieg<br />

ist weit weg. Er findet hinter der Sperranlage<br />

aus Mauer und Stacheldraht statt.<br />

Geplant und geführt wird der Einsatz da<br />

draußen in <strong>ein</strong>em nochmals abgesicherten<br />

Camp innerhalb des Camps. Dort<br />

sitzt Vollmer. In <strong>Deutschland</strong> leitet er die<br />

Division Spezielle Operationen, zu der<br />

auch das Kommando Spezialkräfte KSK<br />

gehört. In Afghanistan muss er <strong>ein</strong> Kapitel<br />

deutscher Geschichte abschließen.<br />

Er ist der Einzige, der zweimal als<br />

deutscher Kommandeur nach Afghanistan<br />

durfte. „Die afghanischen Kräfte<br />

können ihre Aufgabe heute deutlich<br />

besser wahrnehmen, als sie das 2009<br />

konnten“, sagt er zum Unterschied s<strong>ein</strong>er<br />

beiden Einsätze. Das klingt, als hätte<br />

<strong>Deutschland</strong> vor zwölf Jahren die Bundeswehr<br />

mit k<strong>ein</strong>em anderen Ziel nach<br />

Afghanistan geschickt, als dem verarmten<br />

und zerbombten Land <strong>ein</strong>e gute Armee<br />

zu schenken.<br />

Es klingt auch, als wäre alles nach<br />

Plan verlaufen. Dabei lief bei s<strong>ein</strong>em ersten<br />

Einsatz als Kommandeur nichts nach<br />

Plan. Drei Monate, nachdem er im Januar<br />

2009 nach Afghanistan kam, starb<br />

zum ersten Mal seit 1945 <strong>ein</strong> deutscher<br />

Soldat im Gefecht. Auch der vom deutschen<br />

Oberst Georg Kl<strong>ein</strong> am 4. September<br />

2009 befohlene Luftangriff mit<br />

etwa 140 toten Zivilisten fand in Vollmers<br />

erster Amtszeit statt. Er erfuhr davon<br />

erst am nächsten Morgen. Im Untersuchungsausschuss<br />

des Bundestags<br />

erklärte er, Kl<strong>ein</strong> habe s<strong>ein</strong>e Kompetenzen<br />

nicht überschritten. Militärs kritisieren<br />

ungern ihresgleichen.<br />

Und doch gehört Vollmer nicht zu den<br />

Generalen, die sich erst vorwagen, wenn<br />

sie nach der Pensionierung durch die Talkshows<br />

tingeln. Während s<strong>ein</strong>es ersten Einsatzes<br />

als Kommandeur drängte er darauf,<br />

in Kundus schnell 2500 Polizisten auszubilden<br />

und zwei Jahre lang ihre Gehälter<br />

aus dem Bundeshaushalt zu zahlen. Berlin<br />

winkte ab. So viel Rat war nicht erwünscht.<br />

Heute beschränkt sich s<strong>ein</strong> Blick auf<br />

die Welt <strong>ein</strong>es Militärs. Seit 35 Jahren ist<br />

er bei der Bundeswehr. Fragt man nach<br />

der sich verschlechternden Lage im Norden,<br />

spricht er von lokal begrenzten Konflikten.<br />

Mit Schulen, die aufgebaut werden<br />

mussten, m<strong>ein</strong>t er die Pionierschule, die<br />

Logistikschule, die Führungsakademie für<br />

afghanische Offiziere. Von Mädchenschulen<br />

und Demokratie spricht er nicht. Vielleicht<br />

braucht es diesen verengten Blick,<br />

um <strong>ein</strong>en Einsatz ordentlich zu beenden,<br />

der <strong>ein</strong>st mit so viel Pathos begonnen<br />

wurde. Das ist Vollmers Mission: Abzug<br />

mit Anstand, Schadensbegrenzung.<br />

Bis dahin soll nicht nur mit dem<br />

Gutkriegerpathos Schluss s<strong>ein</strong>, auch mit<br />

der kriegerischen Unordnung soll es <strong>ein</strong><br />

Ende haben. Soldaten der Kampfkompanien<br />

in Kundus erkannte man an ihren<br />

eng anliegenden, privat beschafften<br />

Combat Shirts. Statt Baretts trugen<br />

die draußen <strong>ein</strong>gesetzten Soldaten gern<br />

Basecaps. Je näher die Bundeswehr am<br />

Krieg war, desto laxer wurden die militärischen<br />

Formen. Jetzt hat Vollmer befohlen,<br />

Combat Shirts nur noch unter<br />

der Schutzweste und Basecaps gar nicht<br />

mehr zu tragen. Die Ordnung stimmt<br />

wieder. Für <strong>Deutschland</strong> soll der Krieg<br />

vorbei s<strong>ein</strong>.<br />

Eric Chauvistré ist Journalist<br />

und Buchautor mit dem Schwerpunkt<br />

Sicherheitspolitik. Über den Krieg in<br />

Afghanistan schreibt er seit 2001<br />

Foto: Daniel Pilar<br />

38<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Berliner Republik<br />

Porträt<br />

<strong>Der</strong> Mann mit den Fragen<br />

Er belästigte Kohl, triezte Schröder, er nervt Merkel. Regierungen wechseln, aber der<br />

Journalist Dieter Wonka bleibt: Er ist Berlins erstaunlichster Zeitungskorrespondent<br />

Von Georg Löwisch<br />

Foto: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong><br />

Für <strong>ein</strong>e s<strong>ein</strong>er ersten Fragen bekam<br />

Dieter Wonka <strong>ein</strong>e gescheuert,<br />

dass er gegen die Tür flog. Er<br />

war zehn oder elf und erkundigte sich<br />

im Religionsunterricht, warum der Herrgott<br />

allmächtig sei. <strong>Der</strong> Lehrer schlug<br />

zu, s<strong>ein</strong> Schüler trug <strong>ein</strong>e Platzwunde<br />

am Kopf davon.<br />

Den Drang zu fragen behielt er. Vielleicht<br />

baut sich <strong>ein</strong> großes Verlangen<br />

nach Antworten erst richtig auf, wenn<br />

es unterdrückt wird. Bei Wonkas zu<br />

Hause waren Nachfragen ebenfalls unerwünscht.<br />

Die Familie lebte in Neugablonz,<br />

<strong>ein</strong>em Stadtteil von Kaufbeuren im<br />

Allgäu. Auf dem ehemaligen Gelände <strong>ein</strong>er<br />

Sprengstofffabrik hatten sich nach<br />

dem Krieg vertriebene Sudetendeutsche<br />

angesiedelt, darunter die Wonkas. <strong>Der</strong><br />

Vater fuhr die Waren <strong>ein</strong>er Drogerie aus,<br />

die Mutter war Hausfrau. Die Welt von<br />

Neugablonz war eng. Wonka sagt heute:<br />

„<strong>ein</strong> braunes Dorf“. Dieter, das mittlere<br />

von drei Kindern, büffelte sich von der<br />

Realschule auf die Fachoberschule. Nachmittags<br />

zeichnete er gerne Baupläne für<br />

Fantasieflugzeuge. Er wollte weg.<br />

Heute ist Wonka 59 Jahre alt, verheiratet,<br />

Vater von zwei Kindern. Er berichtet<br />

als Korrespondent der Leipziger<br />

Volkszeitung aus Berlin. Würde man die<br />

Fragen zählen, die <strong>ein</strong> Journalist in der<br />

Hauptstadt Politikern stellt, überträfe<br />

niemand diesen Mann. Er ist Kohl lästig<br />

gefallen, hat Schröder getriezt, er geht<br />

Merkel auf den Geist. Schäuble wurde<br />

schwach und wieder stark, Fischer dünn<br />

und wieder dick, Wonka fragte.<br />

Manchmal will er seltsame Dinge<br />

wissen, neulich zum Beispiel ließ er in<br />

der Regierungspressekonferenz die fünf<br />

Sprecher der FDP-Minister <strong>ein</strong>zeln aufdröseln,<br />

welche Termine ihre abgewählten<br />

Chefs noch absolvieren. Bei jedem<br />

anderen Korrespondenten dächte man,<br />

er wäre durchgeknallt. Bei Wonka gäbe<br />

es zur Sorge Anlass, wenn er in der Bundespressekonferenz<br />

säße und schwiege.<br />

Dass er unter den Berliner Journalisten<br />

auffällt, erzählt auch etwas über die<br />

politische Kultur der Hauptstadt. Die öffentlich<br />

vorgetragene Frage ist in Berlin<br />

gar nicht selbstverständlich. Die Politiker<br />

wählen unter den konkurrierenden<br />

Journalisten aus, wem sie <strong>ein</strong> Interview<br />

gewähren. Sie überlegen, ob ihnen Fragesteller<br />

und Fragestellung passen. Das<br />

ist Macht: Wer über die Fragen entscheidet,<br />

entscheidet über die Agenda. Für<br />

Pressekonferenzen bleibt nicht viel, sie<br />

veröden. Manchmal schurigeln Politiker<br />

Korrespondenten sogar: „Diese Frage<br />

stellt sich nicht.“ Bisweilen schauen die<br />

anderen Journalisten den Kollegen dann<br />

mitleidig lächelnd an: War doch klar, du<br />

Depp, dass der darauf nicht antwortet.<br />

Die Korrespondenten der großen Magazine<br />

fragen nicht auf offener Bühne,<br />

um der Konkurrenz nicht zu verraten,<br />

was ihre nächste Story ist. Die Leute von<br />

den kl<strong>ein</strong>en Zeitungen kämpfen mit dem<br />

Problem, dass ihre Redaktionen der Politik<br />

zu wenige Zeilen <strong>ein</strong>räumen, um erfragte<br />

Details überhaupt unterzubringen.<br />

Wer unter Zeitdruck steht, schaut sich<br />

Pressekonferenzen gleich am Bildschirm<br />

an. Aber <strong>ein</strong>er fragt immer. Wonka.<br />

Dienstagfrüh, 24. September, Tag<br />

zwei nach der Wahl. Draußen ist es nasskalt.<br />

Drinnen nimmt Wonka Fahrt auf.<br />

Er rollt im Drehsessel an den Schreibtisch,<br />

steckt das Smartphone ins Ladekabel,<br />

gießt sich Kaffee aus <strong>ein</strong>er Thermoskanne<br />

<strong>ein</strong>. Gestern hatte er <strong>ein</strong>en<br />

desolaten FDP-Minister am Telefon, er interviewte<br />

Schäuble und frotzelte abends<br />

mit Gabriel. Gestern war gut. Heute wird<br />

auch gut. „Ich finde, wir könnten mehr<br />

Politik machen“, sagt er am Telefon dem<br />

Redakteur in Leipzig. „Weil jetzt politische<br />

Zeiten sind. Die Grünen kippen reihenweise<br />

vom Schafott.“<br />

Er federt aus dem Sessel, öffnet<br />

die Tür, s<strong>ein</strong>e Assistentin schaut hoch.<br />

„Kannst du bitte die Hilde Mattheis anfragen?“,<br />

ruft er. Er braucht die SPD-<br />

Linke für die „Drei Fragen an …“, das<br />

ist Wonkas Paraderubrik.<br />

Andere Korrespondenten konzentrieren<br />

sich auf bestimmte Parteien oder<br />

Ressorts. <strong>Der</strong> Madsack-Konzern, zu dem<br />

neben der Leipziger Volkszeitung Blätter<br />

von Hannover über Potsdam bis Rostock<br />

gehören, beschäftigt inzwischen 15 Journalisten<br />

in <strong>ein</strong>em gem<strong>ein</strong>samen Berliner<br />

Büro. Es soll Synergien erzeugen, ihre<br />

Texte ersch<strong>ein</strong>en in allen Madsack-Zeitungen.<br />

Aber Wonka ist für alles zuständig<br />

geblieben, als müsste er verhindern,<br />

dass Langeweile in s<strong>ein</strong> Leben sickert.<br />

10.39 Uhr: Wonka tippt den Einstieg<br />

für <strong>ein</strong>en Grünen-Text. 10.40 Uhr: Er ruft<br />

vom Smartphone Boris Palmer an, den<br />

grünen Oberbürgermeister von Tübingen.<br />

Mailbox. 10.41 Uhr: Grünen-Text.<br />

10.42 Uhr: „Kannst du mal gucken, ob<br />

der Boris Palmer zu sprechen ist?“, bittet<br />

er die Assistentin. „Vielleicht ist er ja<br />

im Amt.“ Um 10.46 Uhr zirpt das Smartphone.<br />

„Ah, Genosse Palmer! Hahaha.<br />

Schön, dass Sie …“ Palmer ist auf dem<br />

Rad unterwegs, eigentlich hat er k<strong>ein</strong>e<br />

Zeit. „<strong>Der</strong> Dicke versucht seit Tagen,<br />

mit mir zu reden“, verkündet Wonka. Er<br />

m<strong>ein</strong>t Fischer. „Jetzt schreib’ ich <strong>ein</strong>e Geschichte<br />

über die nächste Bundestagsvizepräsidentin.“<br />

Claudia Roth. Man hört<br />

Palmer lachen. „Ihre Zeit kommt jetzt!“,<br />

ruft Wonka nach Tübingen. <strong>Der</strong> Grüne<br />

verspricht, vom Rathaus zurückzurufen.<br />

Wonka lockt. Schmeichelt. Ködert.<br />

Reizt. Verwirrt. Er nutzt alle Spielarten<br />

des Fragens. Herr Schäuble, wer steht eigentlich<br />

in der CDU noch personell für<br />

41<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Berliner Republik<br />

Porträt<br />

die Zukunft, nachdem die Geheimwaffe<br />

Peter Altmaier aufgebraucht ist? Herr<br />

Gabriel, mit welchem Flügel der Linkspartei<br />

will die SPD des Sigmar Gabriel<br />

im Falle <strong>ein</strong>es Falles koalieren? Frau Kipping,<br />

beschreiben Sie mal den Erfolg der<br />

Linkspartei – den Erfolg der Westausdehnung!<br />

Frau Merkel, ist Peer St<strong>ein</strong>brück seriöser<br />

für Sie oder Sigmar Gabriel oder<br />

sind beide <strong>ein</strong>fach doof?<br />

Seit 2010 hat er auch <strong>ein</strong> Videoformat.<br />

„Madsack im Gespräch“ läuft auf<br />

den Online-Angeboten der Zeitungen. In<br />

s<strong>ein</strong>em Studio fragt er sehr direkt. Dagegen<br />

klügelt er die Fragen in Pressekonferenzen<br />

oder Hintergrundkreisen mehrstufig<br />

aus, als wollte er in den Hirnen<br />

der Politiker kl<strong>ein</strong>e Infarkte erzeugen.<br />

„Wenn er s<strong>ein</strong>e Fragen <strong>ein</strong>leitet, könnte<br />

man die Konzentration verlieren“, sagt<br />

Thomas Steg, sieben Jahre Regierungssprecher<br />

unter Schröder und Merkel.<br />

„Aber auf die Ouvertüre folgt plötzlich<br />

<strong>ein</strong>e verfängliche Frage. Wenn er dann<br />

in der Antwort <strong>ein</strong>e Unsicherheit spürt,<br />

grillt er s<strong>ein</strong> Gegenüber genüsslich.“<br />

Eine von Wonkas ersten Stationen<br />

war Anfang der achtziger Jahre der Wiesbadener<br />

Kurier. Im Politikressort arbeitete<br />

<strong>ein</strong>e Handvoll Redakteure. Gegen<br />

Mittag machten sie sich daran, mit Schere<br />

und Klebestift aus den Texten der Nachrichtenagenturen<br />

Berichte zu basteln.<br />

Recherchefragen gehörten nicht zu den<br />

Dienstpflichten, deshalb reichte <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger<br />

Telefonanschluss. Eines Tages ging<br />

bei der Sekretärin <strong>ein</strong> Ferngespräch <strong>ein</strong>.<br />

Die Sekretärin übergab an den Redaktionsleiter.<br />

<strong>Der</strong> Herr in der Leitung wollte<br />

allerdings Wonka sprechen, der vormittags<br />

von zu Hause um <strong>ein</strong> Interview gebeten<br />

hatte. Die Redaktion war verdutzt.<br />

<strong>Der</strong> Anrufer hieß Willy Brandt.<br />

Vom fragenlosen Kurier ging Wonka<br />

nach Hannover, dort brauchte die Neue<br />

Presse Interviews, um von sich reden zu<br />

machen. <strong>Der</strong> junge Reporter düste nach<br />

Bonn, stellte s<strong>ein</strong>e Fragen, tippte die<br />

Texte im VW Käfer und setzte sie vom<br />

Bonner Postamt ab. 1982 mietete ihm die<br />

Neue Presse in Bonn <strong>ein</strong>e Dachkammer<br />

an. So kam Wonka in die Hauptstadt.<br />

Kohl war gerade Kanzler geworden.<br />

S<strong>ein</strong>e Leute baten Wonka in die Tee runde,<br />

in der genehme Journalisten Plätzchen<br />

bekamen. Die erste Einladung blieb die<br />

<strong>ein</strong>zige. „<strong>Der</strong> nicht!“, raunzte Kohl später<br />

„<strong>Der</strong> nicht!“, raunzte Kohl über<br />

den jungen Reporter Dieter<br />

Wonka. Aber Außenminister<br />

Genscher ließ ihn vor<br />

„Sind St<strong>ein</strong>brück und Gabriel<br />

beide doof?“ Wonka befragt<br />

Merkel seit zwei Jahrzehnten.<br />

Er nennt sie „die Merkelette“<br />

Als Guttenberg<br />

aufgab, konnte<br />

Wonka s<strong>ein</strong>e<br />

Fragen nicht<br />

stellen. „Staffage!“,<br />

rief er zornig,<br />

„Brüskierung!“<br />

bei Pressekonferenzen, wenn Wonka den<br />

Arm hob. Schröder nahm ihn sportlich:<br />

„Wonka, schreib k<strong>ein</strong>en Scheiß.“<br />

Merkel kennt er lange. 1991 stöberte<br />

er sie im Stadtpark von Kyritz an<br />

der Knatter auf. Kohl hatte sie nach Brandenburg<br />

geschickt, um den CDU-Landesvorsitz<br />

zu übernehmen. Die Sache ging<br />

schief. Wonka war Zeuge von Merkels<br />

Niederlage. Stellt er heute <strong>ein</strong>e Frage,<br />

kann sie <strong>ein</strong>en f<strong>ein</strong>en Zug im Gesicht bekommen.<br />

Wie <strong>ein</strong>e Lehrerin, die über <strong>ein</strong>en<br />

vorlauten Schüler <strong>ein</strong> wenig lächelt,<br />

aber ihn ernst nimmt, damit er nicht problematisch<br />

wird. Redet Wonka über die<br />

Kanzlerin, sagt er: „die Merkelette“. Das<br />

macht sie kl<strong>ein</strong>er – und ihn größer. Es<br />

klingt aber auch <strong>ein</strong> bisschen zärtlich.<br />

Heute hat er sie in der LVZ zum ersten<br />

Mal „die Alte“ genannt. Darin stecken<br />

Frechheit und Respekt, die Pole im Verhältnis<br />

zur Kanzlerin, zwischen denen er<br />

sich nicht entscheiden kann.<br />

Halb <strong>ein</strong>s, Reichstag. Die Kameraleute,<br />

Fotografen und Reporter schieben<br />

sich zum Fraktionssaal der SPD wie <strong>ein</strong>e<br />

unaufhaltsame Mure aus Ästen und Geröll.<br />

Vor dem Saal steht die SPD-Linke<br />

Mattheis. Wonka taucht vor ihr auf. „Drei<br />

Fragen an …“ Eine ARD-Tante quatscht<br />

ihm dazwischen. Wonka macht <strong>ein</strong>e elegante<br />

Kraulbewegung, <strong>ein</strong> Kameramann<br />

brüllt etwas, Wonka hält Mattheis das aufnahmebereite<br />

Smartphone unter die Nase.<br />

Er bringt es fertig, zugleich bei SPD<br />

und Grünen zu s<strong>ein</strong>. Fahrstuhl runter,<br />

Fahrstuhl hoch, Fahrstuhl runter. Bei<br />

den Grünen entdeckt er Claudia Roth.<br />

Herzliche Begrüßung, sie ratschen, da<br />

rollt schon wieder die Mure heran. Hektik,<br />

Blitzlicht, „Frau Roth! Eine Frage!“,<br />

fordert <strong>ein</strong> Fernsehmann. „Da müssen Sie<br />

Herrn Wonka fragen“, antwortet Roth.<br />

<strong>Der</strong> Fernsehmann guckt verblüfft.<br />

Wonka tritt beiseite, er muss eh <strong>ein</strong>e<br />

SMS nach Leipzig senden: Neuwahlaufmacher,<br />

Mattheis-Interview, Roth-Geschichte.<br />

Ab in den Fahrstuhl. Zirp, zirp,<br />

macht das Smartphone, als die Tür sich<br />

schließt. „Ah, Joschka“, triumphiert er.<br />

Schnell raus aus dem Fahrstuhl, aber<br />

er erreicht nur die Mailbox. „Herr Fischer,<br />

jetzt haben wir uns verpasst, weil<br />

ich mit ihrer Freundin Claudia Roth zusammenstand.“<br />

Er hat eigentlich genug,<br />

er möchte auch mal bei der CSU vorbeischauen.<br />

Aber vor der Garderobe steht<br />

Fotos: Imago, Screenshot (www.madsack-im-gespraech.de)<br />

42<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Cem Özdemir, Wonka geht auf ihn zu.<br />

Am nächsten Morgen wird dpa die Özdemir-Sätze<br />

aus der Leipziger Volkszeitung<br />

zitieren. Die von Mattheis auch.<br />

Wenn Wonka s<strong>ein</strong>e Fragen nicht anbringen<br />

darf, kann es passieren, dass<br />

s<strong>ein</strong>e Welt zusammenbricht. 2011 verkündete<br />

Guttenberg s<strong>ein</strong>en Rücktritt<br />

überraschend in s<strong>ein</strong>em Ministerium,<br />

während Wonka fernab des Geschehens<br />

in der Bundespressekonferenz hockte. In<br />

<strong>ein</strong>em Youtube-Video von damals sieht<br />

man Regierungssprecher Steffen Seibert<br />

vor der Bundespressekonferenz rumdrucksen.<br />

Wonka ist nur zu hören, s<strong>ein</strong>e<br />

Stimme klingt scharf. „Staffage!“, „Brüskierung!“,<br />

„Kokolores hoch drei!“ Er<br />

bringt die anderen dazu, aus dem Saal<br />

zu ziehen. Seibert verliest derweil Termine<br />

der Kanzlerin. Mit <strong>ein</strong>em Eisgesicht.<br />

Zu Dieter Wonka will er heute k<strong>ein</strong>e Einschätzung<br />

abgeben.<br />

Wonka sagt manchmal, dass er sich<br />

als kl<strong>ein</strong>er Anarchist sieht. Wäre er das<br />

nicht mehr, müsste er aufhören.<br />

Mit 22 an der Universität Regensburg<br />

gehört er dem Marxistischen Studentenbund<br />

Spartakus an. Damals stellt er die<br />

Frage, warum die theologische Fakultät<br />

ausgerechnet <strong>ein</strong>em Bischof die Ehrendoktorwürde<br />

verleiht, der 1933 die „germanische<br />

Rasse“ und den Führer gefeiert<br />

hatte. Wonka und s<strong>ein</strong>e Freunde platzten<br />

mit <strong>ein</strong>em Sarg in die Zeremonie. Allerdings<br />

hatte der Theologieprofessor, der<br />

die Doktorwürde verlieh, vorgesorgt.<br />

„Sicherheitsleute, als Kaplane verkleidet,<br />

die haben uns verprügelt“, sagt Wonka.<br />

In <strong>ein</strong>em Artikel über den Vorgang ist<br />

von „Handgreiflichkeiten“ die Rede. <strong>Der</strong><br />

Theologieprofessor wurde später Papst.<br />

Und Wonka ist Fragenpapst geworden.<br />

Von der Neuen Presse ging es<br />

zum Stern. Auf Fotos von damals spaziert<br />

er in Lederjacke und Slippern über<br />

die Bonner Bühne. Ein junger Nachrichtenjäger.<br />

Fragen an Späth, an Genscher,<br />

an Hans-Jochen Vogel. Er heizte<br />

die Stasi-Vorwürfe gegen Lothar de Maizière<br />

an und brachte Rita Süssmuth mit<br />

<strong>ein</strong>er Dienstwagenaffäre in Bedrängnis.<br />

Er sagt heute, dass ihm beide Fälle leidtun.<br />

Er hat wohl das Gefühl, benutzt worden<br />

zu s<strong>ein</strong>. „Mich stört an so etwas die<br />

Verächtlichmachung von Politik“, sagt er.<br />

1991 verließ er den Stern. S<strong>ein</strong> Freund<br />

Hans Peter Schütz, heute noch bei dem<br />

Magazin, sagt: „Dieter geht nicht darauf,<br />

Abschüsse zu erzielen.“<br />

Ausgerechnet der härteste Fragensteller<br />

Berlins hat etwas gegen die immer<br />

härter werdenden Treibjagden der Meute.<br />

Was ist s<strong>ein</strong>e Leistung? Enthüllungen<br />

nicht, <strong>ein</strong>en Schönschreiberpreis trägt er<br />

auch nicht. „Ohne ihn wäre die Bundespressekonferenz<br />

ziemlich leblos“, sagt<br />

Ex-Regierungssprecher Steg. „S<strong>ein</strong>e Fragen<br />

halten das Ganze am Laufen.“<br />

Ein wenig mehr ist es schon. Vielleicht<br />

muss man sich s<strong>ein</strong>e Funktion wie<br />

die <strong>ein</strong>es Vertikutierers vorstellen, jenes<br />

Gartengeräts, mit dem man die Grasnarbe<br />

<strong>ein</strong>er Rasenfläche anritzt. Das Moos wird<br />

entfernt, der Rasen bekommt Luft und<br />

grünt frisch.<br />

Kurz nach <strong>ein</strong>s. <strong>Der</strong> Regen duscht<br />

Wonka fast vom Fahrrad. Nass und hungrig<br />

betritt er die <strong>Bayer</strong>ische Landesvertretung.<br />

Er grüßt <strong>Seehofer</strong>s Leibwächter.<br />

Jacke aus, Treppe hoch, k<strong>ein</strong>e Semmeln,<br />

k<strong>ein</strong> <strong>Seehofer</strong>. Zirp, zirp. „Meister Fischer!“<br />

Wonka sucht sich <strong>ein</strong>e ruhige<br />

Ecke. „Und wieso nicht Schwarz-Grün?“<br />

Er macht Notizen. „Wer gewinnt bei vorgezogenen<br />

Neuwahlen?“ Wonka schaut<br />

zum Glasdach hoch. Er sieht glücklich<br />

aus. Er fragt Fischer nach Claudia Roth,<br />

nach Renate Künast, nach allen. „Ich<br />

muss zum Horschtl!“<br />

<strong>Seehofer</strong> beginnt s<strong>ein</strong> Statement,<br />

Wonka-Fragen, Fragen anderer Journalisten,<br />

nach zehn Minuten ist die Veranstaltung<br />

eigentlich zu Ende. Aber als<br />

Wonka die Treppe zum Foyer runterkommt,<br />

sieht er Glos. Und greift zu. Er<br />

sieht Dobrindt. Und schnappt ihn sich.<br />

Die Abgeordneten der CSU im Bundestag<br />

versammeln sich zum Gruppenfoto<br />

auf der Treppe. Ein Glatzkopf blökt:<br />

„Herr Wonka muss mit aufs Bild!“<br />

Aber der Mann, der als Junge in Neugablonz<br />

gern Fantasieflugzeuge entwarf,<br />

hört nur halb hin, denn da ist <strong>Seehofer</strong><br />

wieder. Und er hat noch <strong>ein</strong>e Frage.<br />

Georg Löwisch ist Textchef von <strong>Cicero</strong>.<br />

1995 fiel ihm bei <strong>ein</strong>em Aufenthalt im<br />

Bonner Regierungsviertel zum ersten Mal<br />

der Korrespondent Dieter Wonka auf<br />

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JA31. OKTOBER -<br />

FEST<br />

3. NOVEMBER<br />

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HAus dER BERliNER FEsTspiElE<br />

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AKAdEMiE dER KüNsTE<br />

A-TRANE<br />

QuAsiMOdO<br />

2013<br />

Z


Berliner Republik<br />

Report<br />

<strong>Der</strong> organisierte Liberalismus ist zum ersten Mal seit 64 Jahren<br />

nicht mehr im Bundestag vertreten. In der Partei findet jetzt die große<br />

Abrechnung statt: Wer ist schuld an der Misere? Aber die eigentliche<br />

Frage lautet: Wie kann den Freidemokraten <strong>ein</strong> Comeback gelingen?<br />

Von Alexander Marguier<br />

Ground<br />

Zero<br />

bei<br />

der<br />

FDP<br />

44<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Fotos: PUBLIC ADDRESS/interTOPICS [M], ddp Images/dapd [M], FDP (2)[M], VISUM [M]<br />

Die FDP nach dem<br />

22. September, das ist<br />

so etwas wie <strong>ein</strong> Katastrophengebiet.<br />

K<strong>ein</strong><br />

St<strong>ein</strong> steht mehr auf<br />

dem anderen, das Haus des organisierten<br />

Liberalismus in <strong>Deutschland</strong><br />

wurde vom Wahlbeben dem<br />

Erdboden gleichgemacht. Wer darin<br />

wohnte, ist bis auf Weiteres<br />

obdachlos.<br />

Die meisten Opfer dieser Katastrophe<br />

– Parlamentarier, Parteifunktionäre,<br />

Minister und <strong>ein</strong>e Heerschar an<br />

Mitarbeitern – stehen immer noch unter<br />

Schock. Einige reagieren mit Zynismus,<br />

andere verfluchen das Schicksal<br />

oder die wankelmütige Gottheit in<br />

Form des strafenden Wählers. Ein paar<br />

haben sich auch schon für immer verabschiedet;<br />

sie sehen sich jetzt nach <strong>ein</strong>er<br />

neuen Bleibe um oder haben sich damit<br />

abgefunden, in Zukunft politisch ohne<br />

Heimat zu s<strong>ein</strong>.<br />

Viele sind aber auch gewillt, das alte<br />

Haus namens FDP wieder aufzubauen,<br />

freilich mit <strong>ein</strong>er verlässlicheren Statik<br />

als zuvor. Die entsprechenden Konstruktionspläne<br />

werden noch gesucht. Auf <strong>ein</strong>es<br />

müssen die Freidemokraten jedoch<br />

ganz bestimmt verzichten, und darin<br />

liegt dann doch der Unterschied zu den<br />

Leidtragenden <strong>ein</strong>er Naturkatastrophe:<br />

auf Mitleid und Hilfe von der Bevölkerung.<br />

Nicht <strong>ein</strong>mal die alten Nachbarn<br />

aus der bürgerlichen Siedlung sch<strong>ein</strong>en<br />

sich <strong>ein</strong>en Deut um das liberale Desaster<br />

zu scheren. Vielerorts herrschen sogar<br />

Häme, Verachtung und Triumphgeschrei<br />

– ganz so, als sei am Abend der<br />

Bundestagswahl <strong>ein</strong> finsterer Tyrann<br />

zum Teufel gejagt worden. Als sei das<br />

böse Gespenst der kalten Eigennutzenmaximierung<br />

für immer besiegt.<br />

Zugegeben: Die Versuchung ist groß,<br />

die 4,8-Prozent-Schlappe der FDP als Armageddon<br />

zu schildern. Aber Politik ist<br />

weder <strong>ein</strong> Naturschauspiel, noch eignet<br />

sie sich in Demokratien als Diorama für<br />

endzeitliche Entscheidungsschlachten.<br />

Wer sich dieser Tage in die sinnbildlich<br />

durchaus noch rauchende Trümmerlandschaft<br />

der Freien Demokratischen Partei<br />

begibt, wird dort viele Menschen beim<br />

Kistenpacken treffen. Aber nur wenige,<br />

die den Eindruck vermitteln, als sei <strong>ein</strong>e<br />

Welt für sie zusammengebrochen. Einige<br />

wollen gar nicht über den Wahlausgang<br />

sprechen, weil sie finden, es sei dafür<br />

noch zu früh. Andere berichten von<br />

Schlaflosigkeit, von dem bedrückenden<br />

Gefühl, die Mitverantwortung für das<br />

historische Ausscheiden der FDP nach<br />

64 Jahren ununterbrochener Zugehörigkeit<br />

zum Deutschen Bundestag zu tragen.<br />

Es ist die Zeit der Selbstkritik und<br />

des ungewissen Blickes auf künftige<br />

Wahlen. Verunsicherung ja, Verzweiflung<br />

45<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


© Foto Meyer: Antje Berghäuser; Schwennicke: Andrej Dallmann<br />

Am Ende die<br />

Revolution?<br />

Wie der Liberalismus<br />

überleben kann<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer und<br />

<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur Christoph<br />

Schwennicke im Gespräch mit Christian<br />

Lindner.<br />

Sonntag, 24. November 2013, 11 Uhr<br />

Berliner Ensemble<br />

Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />

Tickets: Telefon 030 28408155<br />

www.berliner-ensemble.de<br />

BERLINER<br />

ENSEMBLE<br />

24. November<br />

CHRISTIAN<br />

LINDNER<br />

In Kooperation<br />

mit dem Berliner Ensemble<br />

Berliner<br />

Ensemble<br />

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eher n<strong>ein</strong>. Denn da hatte sich ja schon<br />

seit langem etwas angebahnt. Die Forschung<br />

nach den Ursachen für den frappierenden<br />

Niedergang der liberalen Partei<br />

während der Koalition mit CDU und<br />

CSU hat deshalb bereits Monate vor dem<br />

22. September begonnen. Nur, dass sie<br />

jetzt noch <strong>ein</strong> bisschen schonungsloser<br />

ausfällt. Und, dass die Perspektiven jetzt<br />

noch <strong>ein</strong> bisschen trüber sind als zuvor.<br />

Mit dem Scheitern an der Fünf-Prozent-<br />

Hürde hatten wohl doch nur die wenigsten<br />

gerechnet.<br />

„Am Freitag vor der Wahl hatte ich<br />

noch die Wahnvorstellung, dass die FDP<br />

um die 7 Prozent holt“, sagt zum Beispiel<br />

Jörg-Uwe Hahn. Tags darauf hätten sich<br />

aber die Hinweise verdichtet, dass das Ergebnis<br />

doch schlechter ausfallen würde.<br />

Am Wahlsonntag ist Hahn, der vorerst<br />

noch als hessischer Justizminister und<br />

stellvertretender Ministerpräsident amtiert,<br />

dann in die FDP-Landesgeschäftsstelle<br />

nach Wiesbaden gefahren – dort<br />

habe am Nachmittag <strong>ein</strong>e „hochdepressive<br />

Stimmung“ geherrscht. In Hessen,<br />

wo am 22. September auch <strong>ein</strong> neuer<br />

Landtag gewählt wurde, haben die Liberalen<br />

am Ende immerhin noch knapp den<br />

Wieder<strong>ein</strong>zug ins Parlament geschafft.<br />

Mehr aber auch nicht, denn das Ergebnis<br />

von 5 Prozent ist zu schwach, um<br />

die Koalition mit der CDU fortzusetzen.<br />

Wenn sich <strong>ein</strong>e neue Landesregierung gebildet<br />

hat und es nicht doch noch zu <strong>ein</strong>er<br />

Ampelkoalition mit SPD und Grünen<br />

kommt, wird Jörg-Uwe Hahn in Wiesbaden<br />

also wieder als Abgeordneter auf der<br />

Oppositionsbank sitzen. Es gibt schönere<br />

Wege für <strong>ein</strong>en 57 Jahre alten Politiker,<br />

um s<strong>ein</strong>e Karriere ausklingen zu lassen.<br />

Wenn Landtagswahlen verloren gehen,<br />

suchen Betroffene die Ursachen<br />

dafür üblicherweise auf Bundesebene.<br />

So auch Hahn. Aber weil er dem Präsidium<br />

der FDP angehört, nimmt er sich<br />

selbst bei s<strong>ein</strong>er Kritik nicht aus. Zumindest<br />

nicht ganz. S<strong>ein</strong>e Fehleranalyse<br />

reicht dabei bis zum Bundestagswahlkampf<br />

des Jahres 2009 zurück. <strong>Der</strong> sei<br />

„in den letzten Tagen viel zu großmäulig<br />

geführt“ worden, „und dann sind wir<br />

viel zu unsensibel in die Koalitionsverhandlungen<br />

gegangen. Und der damalige<br />

Parteivorsitzende verkündete im Anschluss<br />

an diese Verhandlungen mit stolz<br />

Jörg-Uwe Hahn<br />

ist seit 2006 Chef der hessischen<br />

FDP. Nach dem schlechten<br />

Wahlergebnis vom 22. September<br />

wird er nicht mehr für dieses<br />

Amt kandidieren. In Hessen ist<br />

Hahn vorerst noch Justizminister<br />

und Vize-Ministerpräsident<br />

Birgit Homburger<br />

ist Landesvorsitzende der<br />

baden-württembergischen FDP.<br />

Von Oktober 2009 bis Mai 2011<br />

war sie Fraktionschefin ihrer<br />

Partei im Bundestag. Wie<br />

Jörg-Uwe Hahn gehört sie dem<br />

Präsidium der FDP an<br />

Westerwelles<br />

Sturz hätte <strong>ein</strong><br />

Neuanfang s<strong>ein</strong><br />

können. „Aber<br />

den Schuss, den<br />

wir da freihatten,<br />

haben wir falsch<br />

genutzt“<br />

Fotos: ddp Images/dapd [M], VISUM [M]<br />

46<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Anzeige<br />

geschwellter Brust, man habe sich in 18<br />

von 19 Punkten durchgesetzt – was ja<br />

vollkommener Mumpitz war. Und später<br />

haben wir dann nichts geliefert.“<br />

Mit den ausbleibenden Lieferungen<br />

kam auch die Abwärtsspirale für die FDP<br />

in Gang, abzulesen an den Umfragewerten<br />

sowie an den Ergebnissen diverser<br />

Landtagswahlen. Westerwelles Sturz als<br />

Parteichef im Frühjahr 2011 hätte <strong>ein</strong>en<br />

Neuanfang markieren können, „aber den<br />

Schuss, den wir da freihatten, haben wir<br />

falsch genutzt“, sagt Jörg-Uwe Hahn.<br />

Allerdings weiß er selbst nicht so recht<br />

zu sagen, wie dieses Momentum besser<br />

hätte ausgespielt werden können; auch er<br />

habe damals Philipp Rösler unterstützt.<br />

Dass die verpatzten Koalitionsverhandlungen<br />

mit der Union <strong>ein</strong>e entscheidende<br />

Sollbruchstelle innerhalb<br />

der „bürgerlichen“ Regierung waren,<br />

davon sind sehr viele ehemalige Bundestagsabgeordnete<br />

der FDP überzeugt.<br />

Guido Westerwelle habe sich im Rausch<br />

nach dem Wahlsieg vor vier Jahren von<br />

CDU und CSU über den Tisch ziehen<br />

lassen; mangelnde Erfahrung und allzu<br />

große Vertrauensseligkeit hätten da <strong>ein</strong>e<br />

Rolle gespielt.<br />

„Das Grundproblem war die Koalitionsver<strong>ein</strong>barung,<br />

die wurde nicht sauber<br />

zu Ende verhandelt“, sagt Birgit Homburger,<br />

die im Mai 2011 von Rainer Brüderle<br />

als FDP-Fraktionsvorsitzende abgelöst<br />

wurde. „Das hat dazu geführt, dass<br />

wir in der Koalition permanente Aus<strong>ein</strong>andersetzungen<br />

hatten.“ Bei wasserdichten<br />

Ver<strong>ein</strong>barungen habe man sich<br />

auf den Koalitionspartner zwar verlassen<br />

können, aber „wenn die Union sich <strong>ein</strong><br />

Hintertürchen offen lassen konnte, kam<br />

man schnell in die Bredouille, das hat sie<br />

sofort ausgenutzt“.<br />

Birgit Homburgers Wahlkreis<br />

liegt am Bodensee nahe der Schweizer<br />

Grenze. In der FDP mokieren sich viele<br />

über ihren Dialekt und den wenig weltläufigen<br />

Habitus der 48-Jährigen. Dass<br />

sie zu den Opfern des großen Personalrevirements<br />

im vorvergangenen Jahr zählen<br />

würde, stand deshalb schon früh fest.<br />

Ob ihre Entmachtung besonders klug<br />

war, ist jedoch zweifelhaft. Denn Homburger<br />

gilt als äußerst effizient, immer<br />

gut vorbereitet und von geradezu preußischer<br />

Diszipliniertheit. Das mögen zwar<br />

Sekundärtugenden s<strong>ein</strong>, aber der FDP<br />

hätten sie gewiss nicht geschadet.<br />

Birgit Homburger ist jedenfalls davon<br />

überzeugt, dass insbesondere die<br />

Disziplinlosigkeit der Parteispitze geradewegs<br />

in den Abgrund geführt habe:<br />

„Im Grunde haben wir es während der<br />

gesamten Legislaturperiode nicht geschafft,<br />

die Erfolge der Koalition mit der<br />

FDP zu verknüpfen. Das lag auch daran,<br />

dass es innerhalb der FDP nie <strong>ein</strong> Team<br />

gab, hinter den Kulissen ständig über<strong>ein</strong>ander<br />

hergezogen wurde und dass man<br />

der Presse die Negativstichworte geliefert<br />

hat.“<br />

Für Birgit Homburger ist das Wahldebakel<br />

ihrer Partei mehr als <strong>ein</strong>e politische<br />

Niederlage – eigentlich stellt es<br />

ihr ganzes Leben auf den Kopf. 23 Jahre<br />

lang war sie professionell im Politikbetrieb<br />

unterwegs, jetzt müssen zwei Büros<br />

aufgelöst werden: in Berlin und daheim<br />

im Wahlkreis. „Im Moment habe<br />

ich zwar erste Angebote, aber ich weiß<br />

noch nicht, was ich künftig beruflich mache.<br />

Ich habe mich auch noch nicht darum<br />

gekümmert.“ Die vergangenen Tage<br />

war sie damit beschäftigt, ihre Mitarbeiter<br />

in neue Jobs zu vermitteln. Und sie<br />

hat noch <strong>ein</strong>mal ihre Regalmeter voller<br />

Akten durchgeschaut: Was kann auf den<br />

Müll, was sollte ins Parteiarchiv?<br />

Verbittert wirkt die baden-württembergische<br />

FDP-Landesvorsitzende trotzdem<br />

nicht. Und sie wundert sich auch nur<br />

<strong>ein</strong> bisschen darüber, dass sich von den<br />

ehemaligen Parlamentskollegen ausgerechnet<br />

die Unions-Leute nicht von ihr<br />

verabschieden würden.<br />

Von CDU und CSU fühlt sich die<br />

FDP nämlich regelrecht hintergangen.<br />

Dass die Union sie von den 14,6 Prozent<br />

im Jahr 2009 wieder auf Normalmaß<br />

schrumpfen wollte, war den meisten<br />

Liberalen zwar klar. Aber Angela<br />

Merkels dezidierte Zweitstimmenkampagne<br />

für ihre eigene Partei in den letzten<br />

Tagen vor der Bundestagswahl war<br />

dann eben doch <strong>ein</strong> Schlag ins Gesicht.<br />

Von den Koketterien der Kanzlerin<br />

über die Wahlpleite der Freidemokraten<br />

ganz zu schweigen. Da bleiben Verletzungen<br />

zurück, die so schnell nicht<br />

verheilen werden.<br />

Oliver Luksic, der vier Jahre lang<br />

für die saarländische FDP im Bundestag<br />

saß, glaubt sogar an <strong>ein</strong>en regelrechten<br />

Gott – mehr als nur <strong>ein</strong>e Idee<br />

des Menschen? Ein Streitgespräch<br />

über Christentum<br />

und Wissenschaft zwischen<br />

dem Ratsvorsitzende der EKD,<br />

NIKOLAUS SCHNEIDER, und<br />

dem bekannten Wissenschaftspublizisten<br />

MARTIN URBAN –<br />

kontrovers, offen, aktuell.<br />

144 S. / geb. mit Schutzumschlag<br />

€ 16,99 (D) / € 17,50 (A) / CHF* 24,50<br />

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214 Seiten. 978-3-351-02760-5. € 19,99<br />

Foto: Milena Schlösser<br />

47<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


IMPRESSUM<br />

verleger Michael Ringier<br />

chefredakteur Christoph Schwennicke<br />

Stellvertreter des chefredakteurs<br />

Alexander Marguier<br />

Redaktion<br />

Textchef Georg Löwisch<br />

Ressortleiter Lena Bergmann ( Stil ),<br />

Judith Hart ( Weltbühne ), Dr. Alexander Kissler ( Salon),<br />

Til Knipper ( Kapital ), Constantin Magnis ( Reportagen ),<br />

Christoph Seils ( <strong>Cicero</strong> Online )<br />

politischer Chefkorrespondent<br />

Hartmut Palmer<br />

Assistentin des Chefredakteurs<br />

Monika de Roche<br />

Redaktionsassistentin Sonja Vinco<br />

Publizistischer Beirat Heiko Gebhardt,<br />

Klaus Harpprecht, Frank A. Meyer, Jacques Pilet,<br />

Prof. Dr. Christoph Stölzl<br />

Art director Kerstin Schröer<br />

GESTALTUNGSKONZEPT Viola Schmieskors<br />

Bildredaktion Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />

Produktion Utz Zimmermann<br />

Verlag<br />

geschäftsführung<br />

Michael Voss<br />

Vertrieb und unternehmensentwicklung<br />

Thorsten Thierhoff<br />

Redaktionsmarketing Janne Schumacher<br />

Abomarketing Mark Siegmann<br />

nationalvertrieb/leserservice<br />

DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH<br />

Düsternstraße 1–3, 20355 Hamburg<br />

Anzeigen-Disposition Erwin Böck<br />

herstellung Lutz Fricke<br />

grafik Franziska Daxer, Dominik Herrmann<br />

druck/litho Neef+Stumme,<br />

premium printing GmbH & Co.KG,<br />

Schillerstraße 2, 29378 Wittingen<br />

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Vernichtungsfeldzug gegen die Liberalen.<br />

Die CDU, behauptet Luksic, habe<br />

in ihrem Verständnis als natürliche Regierungspartei<br />

seit der Bundestagswahl<br />

2009 das unausgesprochene Ziel gehabt,<br />

die FDP von der politischen Landkarte<br />

zu tilgen. „Die Union hat nämlich erkannt,<br />

dass in Zeiten, in denen die großen<br />

Parteien ihre Bindungskräfte verlieren,<br />

kl<strong>ein</strong>e Parteien eher stärker werden“,<br />

sagt der 34 Jahre alte Unternehmensberater.<br />

Ohne die FDP würde die Union die<br />

liberale Klientel irgendwann an sich binden<br />

und auf diese Weise regelmäßig mindestens<br />

10 Prozentpunkte vor der SPD<br />

liegen – und so <strong>ein</strong> ums andere Mal den<br />

Kanzler, Ministerpräsidenten oder Bürgermeister<br />

stellen können.<br />

Ist das nicht <strong>ein</strong> bisschen arg verschwörungstheoretisch<br />

gedacht? N<strong>ein</strong>,<br />

beteuert Luksic: Um versprengte<br />

FDP-Wähler nicht zu verprellen, würden<br />

die Unionsparteien jetzt doch Steuererhöhungen<br />

verhindern, obwohl CDU und<br />

CSU eigentlich ganz gern an der Steuerschraube<br />

drehen würden. Wenn die Liberalen<br />

also noch <strong>ein</strong>e Zukunft haben wollten,<br />

dürften sie sich vor allem nie wieder<br />

an die mörderische Union ketten. „Das<br />

Hauptproblem der FDP ist dieses Denken<br />

nach dem Motto, die CDU ist unser<br />

natürlicher Partner“, wettert Oliver Luksic.<br />

„Angela Merkel tickt da ganz anders.“<br />

Wie geht es jetzt also weiter für die<br />

Freidemokraten? Auf Christian Lindner,<br />

den designierten Parteichef, kommen mit<br />

Sicherheit anstrengende Zeiten zu. All<strong>ein</strong><br />

schon deshalb, weil ihm Teile s<strong>ein</strong>er Partei<br />

nun wieder vorwerfen, als Generalsekretär<br />

vor zwei Jahren Fahnenflucht begangen<br />

zu haben. Die FDP ist noch lange<br />

nicht wieder befriedet, und das ist nur <strong>ein</strong>es<br />

von vielen Problemen: „Für uns wird<br />

es in Zukunft sehr viel schwieriger werden,<br />

weil dann auf der Bundesebene <strong>ein</strong><br />

großer Teil der Infrastruktur fehlt“, sagt<br />

Birgit Homburger. Außerdem „nehmen<br />

wir an k<strong>ein</strong>er Bundestagsdebatte mehr<br />

teil, sind in Berlin deutlich weniger präsent,<br />

und die Journalisten interessieren<br />

sich nicht mehr für uns. Jetzt müssen wir<br />

die Partei von unten wieder aufbauen.“<br />

Programmatisch soll sich zwar<br />

nicht viel ändern, auch wird die FDP<br />

wohl kaum auf <strong>ein</strong>en Anti-Euro-Kurs<br />

umschwenken, den schätzungsweise


www.fischerverlage.de<br />

Fotos: FDP (2)[M], PUBLIC ADDRESS/interTOPICS [M]<br />

Anzeige<br />

Oliver Luksic<br />

wurde im Januar 2011 Vorsitzender<br />

der saarländischen FDP,<br />

nachdem der Landesverband<br />

nach etlichen Personalquerelen<br />

in die Krise geraten war.<br />

Er wurde 2009 in den Bundestag<br />

gewählt<br />

Serkan Tören<br />

gehört dem niedersächsischen<br />

Landesvorstand der FDP an und<br />

kam 2009 in den Bundestag.<br />

Dort war er Mitglied im<br />

NSU-Untersuchungsausschuss.<br />

Zu s<strong>ein</strong>en Schwerpunkten zählen<br />

Rechts- und Integrationspolitik<br />

Christian Lindner<br />

ist der designierte Nachfolger<br />

Philipp Röslers als FDP-Chef. Von<br />

Dezember 2009 an war er zwei<br />

Jahre lang Generalsekretär<br />

s<strong>ein</strong>er Partei, bevor er nach NRW<br />

zurückkehrte, um FDP-Landeschef<br />

und Fraktionsvorsitzender im<br />

Düsseldorfer Landtag zu werden<br />

mindestens jedes fünfte Mitglied befürworten<br />

würde. Eher dürften sich die Liberalen<br />

unter Christian Lindner von der<br />

Fokussierung auf Wirtschaftspolitik lösen<br />

und wieder mehr gesellschaftspolitische<br />

Fragen in den Vordergrund rücken.<br />

Die Frage ist nur, welche. Und ob sich dafür<br />

noch jemand interessiert.<br />

„Das Problem der FDP wird in den<br />

nächsten Jahren darin bestehen, eigene<br />

Themen zu setzen. Da sind wir <strong>ein</strong> Stück<br />

weit davon abhängig, was die Regierungsparteien<br />

auf ihre politische Agenda stellen“,<br />

sagt Oliver Luksic, der Saar-Liberale.<br />

Besonders verwegen klingt das nicht.<br />

Auch Präsidiumsmitglied Jörg-Uwe<br />

Hahn hält nicht viel davon, aus der Not<br />

heraus neue Themen zu erfinden. Stattdessen<br />

plädiert er reichlich wolkig dafür,<br />

„das liberale Lebensgefühl wieder besser<br />

herauszustellen“, und warnt gleichzeitig<br />

vor <strong>ein</strong>er allzu beherzten Verjüngung der<br />

Parteiführung. Die FDP habe mit ihrem<br />

teilweise sehr jungen Spitzenpersonal<br />

nämlich den <strong>ein</strong>en oder anderen älteren<br />

FDP-Anhänger ziemlich verunsichert.<br />

Christian Lindner ist übrigens 34 – und<br />

damit sechs Jahre jünger als der glücklose<br />

Parteichef Philipp Rösler.<br />

Serkan Tören, der während der vergangenen<br />

vier Jahre die niedersächsischen<br />

Liberalen im Bundestag vertrat<br />

und demnächst wieder als Rechtsanwalt<br />

arbeiten wird, hat <strong>ein</strong>en ziemlich realistischen<br />

Blick auf die künftigen Herausforderungen<br />

für s<strong>ein</strong>e Partei. Eines der<br />

Hauptdefizite der FDP sei deren mangelnde<br />

Verankerung in klar organisierten<br />

gesellschaftlichen Gruppen. Wo für<br />

die CDU die Kirchen oder für die SPD<br />

Gewerkschaften und Sozialverbände als<br />

Anknüpfungsstellen dienten, klaffe bei<br />

der FDP <strong>ein</strong>e Lücke. „Da müssen wir uns<br />

überlegen, wie wir an die Menschen herankommen.<br />

Das wird <strong>ein</strong>e schwierige<br />

Veranstaltung“, sagt Tören.<br />

Und wenn das in den nächsten vier<br />

Jahren nicht gelingt? Dann wäre wohl<br />

endgültig Schluss. Denn „zweimal nach<strong>ein</strong>ander<br />

nicht im Bundestag vertreten zu<br />

s<strong>ein</strong>, das ist der Genickbruch“.<br />

Alexander Marguier ist<br />

stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong>.<br />

Als Reporter war er schon in <strong>ein</strong>igen<br />

Katastrophengebieten unterwegs<br />

Eine<br />

<strong>ein</strong>zigartige<br />

Röntgenaufnahme<br />

des<br />

politischen<br />

Betriebs in<br />

<strong>Deutschland</strong><br />

Ein Jahr lang begleitete der Publizist<br />

Nils Minkmar Peer St<strong>ein</strong>brück durch<br />

den Wahlkampf. Er hatte exklusiven<br />

Zugang zu wichtigen Terminen und<br />

Besprechungen, zu Beratern, Mitstreitern,<br />

Konkurrenten. Er war teilnehmender<br />

Beobachter bei Veranstaltungen in der<br />

deutschen Provinz, bei Parteitagen<br />

und auf Reisen quer durch Europa.<br />

Eine unvergleichliche Innenansicht des<br />

politischen Systems in <strong>Deutschland</strong>.<br />

224 Seiten, € (D) 19,99<br />

49<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Berliner Republik<br />

Kommentar<br />

Räuber<br />

und<br />

Schreiber<br />

Von<br />

Frank A. Meyer<br />

Raffen, plündern, schachern:<br />

Die Herabsetzung der Politik<br />

durch die Berliner Medien hat<br />

<strong>ein</strong>en neuen Höhepunkt erreicht<br />

Wen haben die Deutschen da bloß gewählt? Einen Gauner<br />

namens Gabriel mit 25 Prozent der Stimmen, <strong>ein</strong>e Marodeurin<br />

namens Merkel mit 42 Prozent. <strong>Der</strong> Spiegel hat das Delinquenten-Duo<br />

gleich nach der Wahl auf dem Titelblatt zur<br />

Fahndung ausgeschrieben: den Gabriel mit Foulard vor dem<br />

Mund, wie beim Banküberfall im Wilden Westen, die Merkel<br />

mit schwarzer Larve vor den Augen, wie die Panzerknacker<br />

bei Donald Duck.<br />

Aber was heißt hier: <strong>Der</strong> Spiegel hat? Focus hat ebenfalls:<br />

Das Münchner Wochenmagazin zeigt Gabriel und Merkel mit<br />

Zorro-Masken, der Rote trägt <strong>ein</strong>en Sack mit Beute über der<br />

Schulter, die Schwarze hat den Sack vorm Bauch, Banknoten<br />

quellen daraus hervor.<br />

Das Geld der Bürger in den Händen der wichtigsten Politiker<br />

dieser Republik – und dargestellt werden sie als Räuber.<br />

Ja, Räuber, denn darauf läuft die Suggestion hinaus: Die rauben<br />

das Geld für sich, für die classe politique, nicht etwa für<br />

Schulen, Straßen oder Renten. Deshalb sind sie dingfest zu machen,<br />

bevor sie mit ihrer Beute verschwinden.<br />

Das Thema, um das es geht, sind Steuererhöhungen: Gabriels<br />

SPD forderte sie, Merkels CDU ließ durchblicken, sie sei<br />

dagegen. In den Gesprächen über die Große Koalition ist das<br />

Thema unumgänglich, es gilt, die Möglichkeit <strong>ein</strong>es Kompromisses<br />

auszuloten. Wie es eben so ist in <strong>ein</strong>er Demokratie. Wie<br />

es s<strong>ein</strong> sollte.<br />

Doch in den Reichstagsmedien ist das anders. <strong>Der</strong> Spiegel<br />

schleudert der Kanzlerin in der Steuersache entgegen: „Versprochen,<br />

gebrochen.“ Und was schleudert Bild der Kanzlerin<br />

entgegen? Genau: „Versprochen, gebrochen.“<br />

Illustration: Florian <strong>Bayer</strong><br />

50<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


So weit ist es gekommen mit den Medien der Berliner Republik:<br />

Spiegel ist Focus ist Bild ist Spiegel. Tobte nicht gerade<br />

gestern noch die Debatte, ob Nikolaus Blome, politischer<br />

Tonangeber bei Bild, als stellvertretender Chefredakteur und<br />

Berliner Büroleiter zum Spiegel passe? Blome passt überall<br />

hin. Jacke wie Hose.<br />

Für die medialen Stimmungsmacher der Hauptstadt zählt<br />

<strong>ein</strong>zig und all<strong>ein</strong>: die möglichst spektakuläre, möglichst effektvolle<br />

Herabsetzung der Politik.<br />

Und so wird der Leser belehrt: Nichts, was Politiker tun,<br />

tun sie ehrlich. Nichts, was sie beabsichtigen, hat <strong>ein</strong>en ehrenwerten<br />

Grund.<br />

Auch dazu <strong>ein</strong> Beispiel aus dem Hamburger Nachrichtenmagazin,<br />

das in der Disziplin der Politikverachtung die Spitzenschreiber<br />

stellt: „Parteichef Gabriel und der Fraktionsvorsitzende<br />

St<strong>ein</strong>meier müssen um ihre Ämter fürchten. Die <strong>ein</strong>stigen<br />

Rivalen haben sich in der Not verbündet.“<br />

Eh voilà! Etwas anderes als Ämterschacher kann Gabriel<br />

und St<strong>ein</strong>meier gar nicht beseelen. Dass die zwei Sozialdemokraten<br />

womöglich aus sachlichen Gründen zusammenarbeiten<br />

könnten, beispielsweise im Interesse der Partei oder gar zum<br />

Wohle des Landes – völlig undenkbar: Politiker manipulieren<br />

nun mal, mauscheln, raffen, ob mit Überfallmaske oder ohne.<br />

Das Magazin der Süddeutschen Zeitung verführte Peer<br />

St<strong>ein</strong>brück zu <strong>ein</strong>em Interview, das als Antwort auf sieben<br />

Fragen nur Mimik und Gestik zuließ. Eine originelle journalistische<br />

Idee, die auf den Humor des Interviewten abzielt. <strong>Der</strong><br />

SPD-Kanzlerkandidat spielte mit und beantwortete die Frage<br />

nach bösen Spitznamen wie „Pannen-Peer“ mit gestrecktem<br />

Mittelfinger – im Kontext dieser Interviewform <strong>ein</strong>e angemessen<br />

witzige Aussage. Das SZ-Magazin fabrizierte daraus s<strong>ein</strong><br />

Titelbild. Und St<strong>ein</strong>brück zeigte nun den Lesern, Bürgern und<br />

Wählern den Stinkefinger.<br />

Wie die Süddeutsche so die Frankfurter Allgem<strong>ein</strong>e. <strong>Der</strong>en<br />

Sonntagszeitung fragte St<strong>ein</strong>brück, ob die Kanzlerin zu wenig<br />

verdiene. <strong>Der</strong> Kandidat gab redlich Antwort: Eine Bundeskanzlerin<br />

oder <strong>ein</strong> Bundeskanzler verdiene gemessen an der<br />

Leistung „zu wenig“. Auf der Frontseite schlug die FAS ihrem<br />

Interview-Gast die Antwort um die Ohren: „St<strong>ein</strong>brück und<br />

das liebe Geld.“ Und der ganze deutsche Medienchor sang den<br />

Refrain: „Peer will mehr.“<br />

Es gilt nicht länger das geschriebene Wort der Politiker und<br />

auch nicht das gesprochene. N<strong>ein</strong>, es gilt grundsätzlich dessen<br />

schlimmstmögliche Interpretation.<br />

Peer St<strong>ein</strong>brück erlebte es auch nach <strong>ein</strong>em humorvoll geführten<br />

Gespräch auf der Bühne des „Berliner Ensembles“, wo<br />

er erklärte, k<strong>ein</strong>en Pinot Grigio unter fünf Euro die Flasche zu<br />

trinken. Die freudlosen Berliner Alphajournalisten fabrizierten<br />

daraus flugs den Luxussozi.<br />

Rainer Brüderle, Spitzenkandidat der FDP, musste die Inquisition<br />

über sich ergehen lassen: <strong>Der</strong> Stern brachte ihn mit<br />

<strong>ein</strong>er attraktiven Journalistin zusammen, der Brüderle in <strong>ein</strong>er<br />

Bar deplatzierte Altherrenkomplimente machte. Die Hamburger<br />

Illustrierte setzte <strong>ein</strong>en Scheiterhaufen in Brand, den alsogleich<br />

frühe und späte Feministinnen umtanzten. Die Kampagne<br />

lief unter dem Slogan „Aufschrei“, als ginge es nicht um<br />

<strong>ein</strong>en Fauxpas, sondern um Totschlag.<br />

Brüderle war verbrannt. Und als s<strong>ein</strong>e Liberalen schließlich<br />

aus dem Bundestag gewählt waren, höhnte die Süddeutsche<br />

Zeitung hinterher: „FDP schleicht von dannen.“ Klar, Verlierer<br />

gehen nicht in Würde, sie wird ihnen medial aberkannt.<br />

Ein Meisterstück der Herabsetzung leistete sich Dirk Kurbjuweit<br />

im Spiegel: S<strong>ein</strong>e Charakterstudie Peer St<strong>ein</strong>brücks<br />

wurde zur Charakterstudie in journalistischer Anmaßung: Kurbjuweit<br />

berief sich selbst zum Gutachter des Wähler-Gerichts,<br />

der SPD-Kanzlerkandidat erschien darin als trauriger „Clown“.<br />

So geht es zu, wenn in Berlin über die Politik geschrieben<br />

wird – gerichtet wird. Das Wort <strong>ein</strong>es Politikers kann nicht nur<br />

gegen ihn verwendet werden; es wird gegen ihn verwendet.<br />

Weshalb aber hat Angela Merkel die denunziatorische Methode<br />

der Medien bisher so gut überstanden? Vielleicht, weil<br />

sie seit je beherzigt, was ihr früherer Chef Lothar de Maizière,<br />

erster demokratisch gewählter Ministerpräsident der DDR, in<br />

<strong>ein</strong>em Gespräch offenbarte: „Wir haben in der DDR zwei Sprachen<br />

gelernt. Eine für zu Hause und <strong>ein</strong>e für die Stasi.“ Die<br />

Sprache für die Stasi: nichts sagen, wenn man redet.<br />

Wer in der Berliner Republik Erfolg haben möchte, lernt<br />

am besten ebenfalls zwei Sprachen: <strong>ein</strong>e für zu Hause – und<br />

<strong>ein</strong>e für die Medien.<br />

Frank A. Meyer ist Journalist und Gastgeber<br />

der politischen Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />

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Lydia Galonska, taz-Leserin, Berlin, freischaffende Journalistin<br />

Ich teile mir die taz<br />

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Berliner republik<br />

Report<br />

Rohstoff<br />

eitelkeit<br />

52<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Politiker, Journalisten und Lobbyisten:<br />

Die Akteure von Berlin‐Mitte sind gerne<br />

wichtig. Daraus hat der Unternehmer<br />

Rudolf Hetzel <strong>ein</strong> eigenes<br />

Geschäftsmodell entwickelt<br />

Von Andreas Theyssen<br />

Foto: Sarah Häuser/Helios Media<br />

<strong>Der</strong> Ort strotzt vor Symbolkraft.<br />

Rechts ragt die Kuppel<br />

des Reichstags empor,<br />

geradeaus hinter den Bäumen<br />

verstellt der Riegel des<br />

Kanzleramts den Blick. Links, jenseits der<br />

Spree, zieht sich die „Bundesschlange“<br />

über den Moabiter Werder, jener Bau,<br />

der auswärtigen Bundestagsabgeordneten<br />

in Berlin <strong>ein</strong> Domizil bieten soll. K<strong>ein</strong>e<br />

Frage: Das Tipi am Kanzleramt, <strong>ein</strong> Veranstaltungskomplex<br />

im Berliner Tiergarten,<br />

steht im Zentrum der Macht. Entsprechend<br />

hochkarätig ist die Bühne im Tipi<br />

bevölkert, als an <strong>ein</strong>em Montagabend im<br />

November 2012 die Politikawards vergeben<br />

werden – Preise, mit denen politische<br />

Großtaten gewürdigt werden.<br />

Torsten Albig, Ministerpräsident<br />

von Schleswig-Holst<strong>ein</strong>, lässt sich zum<br />

„Aufsteiger des Jahres“ küren. Edmund<br />

Stoiber hält die Laudatio auf die „Newcomerin<br />

des Jahres“, die CSU-Frau Katrin<br />

Albsteiger. Umweltminister Peter Altmaier<br />

lässt sich per Video zuschalten, um<br />

artig für die Auszeichnung „Politiker des<br />

Jahres“ zu danken. Und der Sozialdemokrat<br />

Egon Bahr wird für s<strong>ein</strong> Lebenswerk<br />

geehrt. Abgeordnete, Fraktionsmitarbeiter,<br />

Journalisten und Lobbyisten jubeln.<br />

Es ist <strong>ein</strong> Abend so ganz nach dem<br />

Geschmack des Mannes, der zuvor am<br />

Eingang die Gäste begrüßt hat: Rudolf<br />

Hetzel, Inhaber des Unternehmens Helios<br />

Media. Wieder <strong>ein</strong>mal hat er diejenigen<br />

zusammengebracht, die sich im politischen<br />

Berlin für wichtig halten – und<br />

wieder <strong>ein</strong>mal hat er mit solch <strong>ein</strong>er Zusammenkunft<br />

Geld verdient. Am 25. November<br />

dieses Jahres wird er den Politikaward<br />

erneut prächtig inszenieren, zum<br />

elften Mal, denn Eitelkeit ist <strong>ein</strong> Rohstoff,<br />

der in Berlin nie ausgeht.<br />

Hetzel, 39, ist <strong>ein</strong>e Ausnahmeersch<strong>ein</strong>ung<br />

im Berliner Politikbetrieb. Vor<br />

elf Jahren startete er in Kreuzberg mit <strong>ein</strong>er<br />

kl<strong>ein</strong>en Agentur, zu deren Mitarbeitern<br />

außer ihm nur Praktikanten zählten.<br />

Heute hat s<strong>ein</strong> Unternehmen Helios Media<br />

133 Angestellte in vier GmbHs, die<br />

in diesem Jahr rund 15 Millionen Euro<br />

erwirtschaften sollen: mit Magazinen,<br />

Kongressen, Preisverleihungsgalas, Verbandsmanagement,<br />

Schulungen.<br />

<strong>Der</strong> Rh<strong>ein</strong>länder, der ursprünglich<br />

Wahlkampfmanager werden wollte,<br />

hat den Berliner Betrieb mit Mitte 20<br />

53<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Frau Fried fragt sich …<br />

… warum sie sich übers Fernsehen<br />

noch aufregen soll<br />

Neulich wurde ich zu <strong>ein</strong>er Podiumsdiskussion über Kinder<br />

und Fernsehen <strong>ein</strong>geladen. Ich war für die Rolle der Mutter<br />

vorgesehen, die sich über die Niveaulosigkeit der privaten<br />

Sender empören sollte. Ich horchte in mich hin<strong>ein</strong> und stellte fest:<br />

Es ist k<strong>ein</strong>e Empörung in mir. Die privaten Sender tun, was man von<br />

ihnen erwartet. Ihre Programme sind überwiegend spekulativ, vulgär<br />

und sensationsheischend, sodass möglichst viele Leute zusehen und<br />

die Sender möglichst viel Geld verdienen. Und überhaupt: Warum<br />

soll ich mich über <strong>ein</strong> paar Heuschrecken fressende C‐Promis aufregen?<br />

Die machen bei dieser Art Volksbelustigung freiwillig ( und gegen<br />

ziemlich viel Geld ) mit, und die Zuschauer sehen es sich freiwillig<br />

an. Wenn mir diese Art Fernsehen missfällt, schalte ich es nicht <strong>ein</strong>.<br />

Wenn ich nicht will, dass m<strong>ein</strong>e Kinder es ansehen, dann muss ich<br />

dafür sorgen, dass sie es auch nicht <strong>ein</strong>schalten.<br />

Jeder Zuschauer hat Hunderte von Kanälen zur Auswahl.<br />

Will er niveauvolles Programm, wird er es finden. Will er Blödsinn,<br />

wird er ihn finden. Es ist wie beim Essen: Ich kann mich in der Burgerbude<br />

nicht beschweren, dass k<strong>ein</strong> Bioessen serviert wird. Und die<br />

Erfahrung zeigt: Man kann Leuten, die auf Junkfood stehen, noch so<br />

viel gesundes Essen anbieten – sie bevorzugen weiter Junkfood.<br />

Beim Fernsehen ist es so ziemlich dasselbe – wozu die Aufregung?<br />

Anders liegt die Sache bei den öffentlich-rechtlichen Sendern.<br />

Die haben <strong>ein</strong>en Bildungs- und Kulturauftrag. Alles in allem machen<br />

sie ihre Sache nicht schlecht, aber mancher Unterhaltungsredakteur<br />

träumt fatalerweise davon, Quoten wie die private Konkurrenz<br />

<strong>ein</strong>zufahren. So entstehen diese als Junkfood getarnten öffentlich-rechtlichen<br />

Grünkern-Bio-Burger, die uns weismachen wollen, sie seien<br />

so cool wie die fett- und ketchuptriefenden Big Macs von den Privaten.<br />

Aber wenn ich es niveaulos will, gebe ich mir lieber <strong>ein</strong>e Dosis echten<br />

Junk. Bei „Germanys next Topmodel“, „Berlin bei Tag und Nacht“<br />

oder dem „Dschungelcamp“ ist der Grusel wenigstens authentisch.<br />

Als mündige Bürgerin bin ich gegen betreutes Fernsehen – den<br />

Part der empörten Mutter habe ich abgelehnt.<br />

Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin.<br />

Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben<br />

sonst noch an Fragen aufwirft<br />

kennengelernt: als Praktikant im Landesverband<br />

der SPD, beim ersten Wahlkampf<br />

von Klaus Wowereit, in der Kampa,<br />

in der Matthias Machnig 1998 Gerhard<br />

Schröders Kampagne managte.<br />

Hetzel muss <strong>ein</strong>e Besonderheit der<br />

Politwelt aufgefallen s<strong>ein</strong> – die Eitelkeit<br />

der Akteure. Er hat diese Ressource entdeckt<br />

und <strong>ein</strong> Geschäftsmodell für sie<br />

entwickelt. Im Prinzip ist es schlicht:<br />

Er organisiert Events, zu denen Journalisten<br />

kommen, weil dort Politiker<br />

sind, und Politiker, weil dort Journalisten<br />

sind – und das Ganze verkauft<br />

Hetzel an Lobbyisten, die dafür zahlen,<br />

dass sie Politiker und Journalisten<br />

treffen können.<br />

Hetzel bestreitet, dass er mit der Eitelkeit<br />

der Akteure handelt. Schließlich<br />

seien Politiker, Journalisten und Lobbyisten<br />

berufsbedingt gezwungen, sich<br />

zu exponieren. Er sagt aber auch, s<strong>ein</strong><br />

Magazin Politik & Kommunikation sei<br />

„<strong>ein</strong> bisschen die Gala der deutschen Politik“.<br />

Also <strong>ein</strong>e Art Society-Magazin für<br />

die Gesellschaft von Berlin-Mitte.<br />

Das Magazin ist die Keimzelle von<br />

Helios Media. Seit 2002 befasst es sich<br />

mit Wahlkampagnen, Politikberatung<br />

und vor allem mit Personalwechseln.<br />

Es ist angelehnt an das US-Magazin<br />

Campains & Elections, das Hetzel als<br />

Praktikant <strong>ein</strong>es Kongressabgeordneten<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Star Press<br />

54<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Rudolf Hetzel ( l.) empfängt<br />

Egon Bahr ( r.) bei der<br />

Politikaward-Verleihung<br />

der Demokraten kennenlernte. Rund<br />

10 000 Exemplare von Politik & Kommunikation<br />

gehen monatlich – oft gratis – an<br />

politische Mandatsträger und Multiplikatoren<br />

in <strong>Deutschland</strong>. Wer wissen muss,<br />

welcher Abteilungsleiter in welches Ministerium<br />

wechselt und welcher Lobbyist<br />

sich auf welchem Sommerfest sehen ließ,<br />

kommt nicht daran vorbei.<br />

Hetzel und s<strong>ein</strong> Magazin sind in <strong>ein</strong>e<br />

Lücke gestoßen, die sich auftat, als Parlament<br />

und Regierung nach Berlin umzogen.<br />

„Die Gesellschaft in der Hauptstadt<br />

hat sich seitdem sehr vermischt“, sagt<br />

der Society-Experte Peter Lewandowski,<br />

früher Chefredakteur von Gala. Früher<br />

seien die Gesellschaften in Bonn oder<br />

München unter sich geblieben, „in Berlin<br />

aber vermengen sich Politik, Wirtschaft<br />

und Showbusiness. Und Politiker zeigen<br />

sich gerne mit Stars.“<br />

Wie gerne sie das tun, wurde deutlich,<br />

als erst Spiegel TV und später der<br />

Stern die engen Verbindungen des Rappers<br />

Bushido zu <strong>ein</strong>em kriminellen Familienclan<br />

öffentlich machten. Bu shido<br />

hatte nicht nur <strong>ein</strong> Praktikum beim<br />

CDU-Bundestagsabgeordneten Christian<br />

Freiherr von Stetten machen dürfen,<br />

mit ihm hatten sich Bundesinnenminister<br />

Hans-Peter Friedrich, <strong>Bayer</strong>ns Ministerpräsident<br />

<strong>Horst</strong> <strong>Seehofer</strong> und Rainer<br />

Brüderle von der FDP gezeigt. Ein Star<br />

befreit <strong>ein</strong>en Amtsträger eben <strong>ein</strong> wenig<br />

von der Aura des drögen Politikers. Das<br />

hoffen zumindest die Amtsträger.<br />

In dieser Melange verdient Hetzel<br />

s<strong>ein</strong> Geld. „Im überschaubaren Bonn<br />

wäre Helios nicht möglich gewesen“, sagt<br />

<strong>ein</strong> ehemaliger Hetzel-Mitarbeiter. „Helios<br />

Media erhebt das Ganze mit Awards<br />

und Kongressen in s<strong>ein</strong>er Wichtigkeit“,<br />

sagt Lewandowski. „Das sind neue Reize<br />

für Eitelkeiten.“<br />

Einer dieser Reize sind die Politikawards.<br />

Nicht nur an Politiker, sondern<br />

auch an Agenturen für politische Kampagnen,<br />

an Verwaltungen für Informationsoffensiven<br />

und Unternehmen für<br />

„Corporate-Social-Responsibility“. <strong>Der</strong><br />

Politikbetrieb feiert sich selber, und Hetzel<br />

verdient daran. Denn für etliche der<br />

Preise gibt es Sponsoren wie BMW oder<br />

McDonalds, die die Veranstaltung finanzieren.<br />

Im Gegenzug dürfen sie sich auf<br />

der Sponsorenwand für <strong>ein</strong>en Abend verewigen.<br />

Ihre Kommunikationschefs überreichen<br />

die Preise.<br />

Dieses Geschäftsmodell wendete<br />

Hetzel auch an, als er <strong>ein</strong> paar Jahre lang<br />

die Eitelkeit der Journalisten bediente.<br />

Helios Media gab das Journalisten-Magazin<br />

V.i.S.d.P. heraus und lobte <strong>ein</strong>en<br />

Preis aus, den Goldenen Prometheus. Mit<br />

ihm wurden bekannte Journalisten ausgezeichnet,<br />

etwa Heribert Prantl von der<br />

Süddeutschen Zeitung oder Spiegel-Autor<br />

Jürgen L<strong>ein</strong>emann. Bei der Preisverleihung<br />

vermietete Hetzel die Tische, an<br />

denen die Gäste saßen, um ihre Branche<br />

zu feiern, für je 4000 Euro an Konzerne<br />

wie RAG oder Lobbygruppen wie die Initiative<br />

Neue Soziale Marktwirtschaft.<br />

<strong>Der</strong>en Vertreter hatten <strong>ein</strong>en Abend lang<br />

Gelegenheit, bei den Multiplikatoren für<br />

ihre Anliegen zu werben. <strong>Der</strong> Preis wurde<br />

2009 zum letzten Mal vergeben.<br />

„<strong>Der</strong> Goldene Prometheus hat nicht<br />

genügend Geld gebracht“, sagt Torben<br />

Werner, der bei Hetzel als Praktikant anfing,<br />

heute Mitgesellschafter ist und das<br />

operative Geschäft von Helios betreibt.<br />

Das Magazin V.i.S.d.P. wurde im vergangenen<br />

Jahr <strong>ein</strong>gestellt.<br />

Anzeige<br />

Die Welt kennt<br />

Willy Brandt,<br />

doch wer kennt<br />

s<strong>ein</strong>e Welt?<br />

S<strong>ein</strong>e Frau Rut, die Söhne Peter,<br />

Lars und Matthias: Wie erlebte die<br />

Familie Brandts Aufstieg und Fall?<br />

Rut Brandts Freundinnen und viele<br />

Menschen aus dem ganz privaten<br />

Umfeld der Familie Brandt haben<br />

sich für diese ungewöhnliche Biographie<br />

in Interviews geöffnet.<br />

Was sie zu erzählen haben, ergänzt<br />

auf spannende Weise die Erinnerungen<br />

der politischen Weggefährten<br />

wie Egon Bahr und Hans-Dietrich<br />

Genscher.<br />

Torsten Körner zeichnet <strong>ein</strong> neues,<br />

faszinierendes Bild <strong>ein</strong>er legendären<br />

Persönlichkeit und ihrer Familie.<br />

So nah kam noch k<strong>ein</strong>e Biographie<br />

dem Menschen Willy Brandt.<br />

Das große Buch<br />

zum 100. Geburtstag<br />

von Willy Brandt<br />

ISBN 978-3-10-040407-7, 512 Seiten, gebunden, € (D) 22,99<br />

55<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013<br />

www.fischerverlage.de


Berliner republik<br />

Report<br />

Mitarbeiter beschreiben Hetzel als<br />

Menschen, „der Ideen hat, der sich etwas<br />

traut“. Als Menschen, der <strong>ein</strong>e „amerikanische<br />

Mentalität“ habe und nach dem<br />

Motto vorgehe: „Wir probieren es <strong>ein</strong>fach<br />

mal aus.“ Diese Mentalität hat zur<br />

Folge, dass nicht immer alles so funktioniert,<br />

wie Hetzel sich das vorstellt.<br />

Nach dem Regierungsumzug siedelten<br />

sich zwar etliche PR-Agenturen in<br />

Berlin an, Unternehmen eröffneten Lobbybüros,<br />

weil sie sich nicht länger auf<br />

ihre Verbände verlassen wollten – ganz<br />

so, wie Hetzel es sich erhofft hatte. Doch<br />

auch wenn es in Berlin mehr Lobbyisten<br />

und Politikberater gibt als in Bonn – Berlin<br />

ist eben doch nicht Washington. Richtig<br />

viel Geld lässt sich mit diesem Klientel<br />

nicht verdienen. „Wir sind an unsere<br />

Grenzen gestoßen, weil es <strong>ein</strong>fach zu<br />

wenig Politikberater in Berlin gibt“, sagt<br />

Geschäftsführer Werner. Politik & Kommunikation<br />

ersch<strong>ein</strong>t praktisch zum<br />

Selbstkostenpreis, erzählen Helios-Mitarbeiter,<br />

auch die Verleihung der Politikawards<br />

stand wegen zu geringer Einnahmen<br />

schon auf dem Prüfstand.<br />

Hetzel erschloss sich deshalb neue<br />

Kundengruppen, die ihre eigene Bedeutung<br />

erhöhen wollen. Schon 2003 hat er<br />

<strong>ein</strong> Fortbildungsinstitut für Pressesprecher<br />

gegründet, ganz unbescheiden Deutsche<br />

Presseakademie genannt.<br />

PR-Leute aus Unternehmen und<br />

Ministerien lassen sich dort von Hauptstadtjournalisten<br />

und erfahrenen Pressesprechern<br />

unterrichten. Und diese<br />

PR-Leute sehnten sich nach <strong>ein</strong>em Berufsverband.<br />

So entstand vor zehn Jahren<br />

der Verband deutscher Pressesprecher.<br />

Helios Media organisierte die Gründungsversammlung,<br />

produziert das Verbandsmagazin<br />

und veranstaltet den Kommunikationskongress,<br />

auf dem neben PR-Profis<br />

Politiker und Journalisten auftreten.<br />

Zu den Politikberatern und Pressesprechern<br />

sind andere Berufsgruppen<br />

wie Personalmanager hinzugekommen,<br />

die ihre eigene Bedeutung gesteigert sehen<br />

möchten. Sie werden von Helios umfassend<br />

versorgt, mit Verbandsmagazinen,<br />

Newslettern, dem Management der<br />

Verbände, mit Kongressen, Preisverleihungsgalas.<br />

„Inzwischen decken wir<br />

zehn bis 15 Berufsgruppen ab“, sagt<br />

Hetzel. Und hat mittlerweile <strong>ein</strong>e neue<br />

Rudolf Hetzel<br />

züchtet sich<br />

Pressesprecher<br />

heran, an die er<br />

später s<strong>ein</strong>e<br />

Produkte verkauft<br />

Definition für Helios: „Wir verstehen uns<br />

als Berufsgruppenfachverlag für die Leitenden.“<br />

Ein bisschen mehr als <strong>ein</strong> Verlag<br />

ist Helios dennoch. Denn zu Hetzels<br />

Reich zählt seit 2009 auch die Managementhochschule<br />

Quadriga. Hier können<br />

Berufstätige neben ihrem Job in anderthalb<br />

Jahre langen Studiengängen zu Preisen<br />

zwischen 14 000 und 21 000 Euro<br />

<strong>ein</strong>en MBA erwerben. Die Studienrichtungen:<br />

„Communication & Leadership“,<br />

„Public Affairs & Leadership“ und „Human<br />

Ressources & Leadership“.<br />

Helios züchtet sich die Pressesprecher<br />

und Personalmanager heran, die es dann<br />

mit s<strong>ein</strong>en Produkten versorgt. „Das befruchtet<br />

sich alles selbst. Hetzel hat <strong>ein</strong>e<br />

Art Perpetuum mobile geschaffen“, sagt<br />

<strong>ein</strong> früherer Helios-Mitarbeiter.<br />

Die Aktivitäten sind so vielschichtig<br />

geworden, dass manche Helios-Leute in<br />

Multifunktionen auftauchen. Zum Beispiel<br />

der Journalist Hajo Schumacher,<br />

der <strong>ein</strong>e Kolumne in der Berliner Morgenpost<br />

schreibt und auf Spiegel Online unter<br />

dem Pseudonym Achim Achilles über<br />

s<strong>ein</strong>e Lauferfahrungen räsoniert. Er sitzt<br />

im Redaktionsbeirat von Politik & Kommunikation<br />

und in der Jury der Politikawards.<br />

Als Dozent der Pressesprecherschule<br />

bringt Schumacher PR-Leuten bei,<br />

wie sie mit Journalisten fertig werden. Er<br />

moderiert <strong>ein</strong>e Talkrunde auf dem Kommunikationskongress<br />

des Pressesprecherverbands,<br />

den Helios organisiert (Teilnahmegebühr<br />

mit Frühbucherrabatt:<br />

890 Euro). Und er moderiert die von Helios<br />

ausgerichtete Gala zur Verleihung des<br />

Deutschen Preises für Onlinekommunikation<br />

(Eintrittspreis: bis zu 290 Euro).<br />

Schumacher war auch Herausgeber<br />

des 2012 <strong>ein</strong>gestellten Helios-Journalisten-Magazins<br />

V.i.S.d.P. Als die FDP-Politikerin<br />

Silvana Koch-Mehrin wegen ihrer<br />

Doktorarbeit in Bedrängnis geriet,<br />

nahm er sie in dem Blatt in <strong>ein</strong>em Kommentar<br />

in Schutz – als <strong>ein</strong>er der wenigen<br />

deutschen Kommentatoren. Koch-Mehrin<br />

sitzt – wie Schumacher – im Redaktionsbeirat<br />

von Politik & Kommunikation.<br />

Helios Media hat die Räume in der<br />

Kreuzberger Oranienstraße, in denen<br />

die Mitarbeiter noch auf Bierbänken<br />

hockten und selber ihre Magazine für<br />

den Versand <strong>ein</strong>tüteten, längst verlassen.<br />

Heute residiert das Unternehmen<br />

in Berlin-Mitte in <strong>ein</strong>em lichten Bürohaus<br />

neben dem Außenministerium. Im<br />

Erdgeschoss liegen die gläserne Bibliothek<br />

der Quadriga und die Konferenzräume,<br />

in denen Hochschule und Presseakademie<br />

ihre Seminare abhalten. In<br />

den oberen Etagen hocken die Mitarbeiterinnen<br />

des Verbandsmanagements, die<br />

unter anderem die Mitgliederdateien des<br />

Personalmanager-Verbands pflegen, der<br />

Veranstaltungsservice und neun Redakteure,<br />

die dort drei Helios-Magazine samt<br />

Newslettern produzieren.<br />

Das Bürohaus am Werderschen<br />

Markt ist nicht nur st<strong>ein</strong>ernes Symbol<br />

für das endlose Befriedigen berufsständischer<br />

Eitelkeiten. Ulrich Müller, geschäftsführender<br />

Vorstand der Transparenzinitiative<br />

Lobbycontrol, sieht Helios<br />

Media auch als „Indikator für <strong>ein</strong>e generelle<br />

Entwicklung: die Auflösung der<br />

Grenzen zwischen politischer Kommunikation<br />

und Lobbyismus“.<br />

Rudolf Hetzel dürfte sich geschmeichelt<br />

fühlen, er hat also etwas bewegt.<br />

Nun muss er nur noch <strong>ein</strong> Berufsgruppenfachmagazin<br />

für Berlin-Mitte-Veränderer<br />

starten.<br />

Andreas Theyssen wurde 2006 Berliner<br />

Büroleiter der Financial Times <strong>Deutschland</strong><br />

und erhielt fortan Einladungen en masse.<br />

Dahinter steckte: Rudolf Hetzel<br />

Foto: Sarah Häuser/Helios Media<br />

56<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Weltbühne<br />

„ Die Politiker<br />

Griechenlands sind<br />

Verräter, Marionetten<br />

der Zionisten und<br />

müssen vor Gericht<br />

gestellt werden “<br />

Nikos Michos, Abgeordneter der Neonazipartei Goldene Morgenröte,<br />

über das politische Establishment s<strong>ein</strong>es Landes, Seite 64<br />

57<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Weltbühne<br />

Porträt<br />

<strong>Der</strong> Schlüsselmacher<br />

Hassan Ruhani hat vieles versprochen, gehalten hat er bisher wenig. Wer ist der<br />

iranische Präsident – <strong>ein</strong> Mann des Ausgleichs oder doch nur <strong>ein</strong> listiger Hardliner?<br />

Von Thomas erdbrink<br />

Foto: Hanif Shoaei/Demotix/Corbis<br />

Hassan Ruhani reckte <strong>ein</strong>en<br />

Schlüssel in den Teheraner Himmel.<br />

Während Tausende begeisterte<br />

Anhänger den – so schien es damals<br />

– aussichtslosen Kandidaten für das<br />

Präsidentenamt umringten. „Mit diesem<br />

Schlüssel werde ich alle Probleme Irans<br />

lösen“, rief Ruhani. S<strong>ein</strong>e jugendlichen<br />

Anhänger jubelten: „Hassan, der Schlüsselmacher!“<br />

Er wolle der Inflation Einhalt<br />

gebieten, die Arbeitslosigkeit bekämpfen,<br />

Freiheitsrechte gewähren. Er werde mit<br />

der Welt reden, versprach er, um Irans<br />

<strong>ein</strong>stige Größe wiederherzustellen.<br />

Nur zwei Monate nach s<strong>ein</strong>er Amts<strong>ein</strong>führung<br />

hat der „Schlüsselmacher“<br />

s<strong>ein</strong> erstes großes Problem angepackt:<br />

Ruhani hat <strong>ein</strong> Tabu gebrochen und direkte<br />

Gespräche mit den USA aufgenommen.<br />

Dieser diplomatische Coup soll nur<br />

der Anfang s<strong>ein</strong>. <strong>Der</strong> fromme, schiitische<br />

Geistliche, der trotz s<strong>ein</strong>er 64 Jahre als<br />

Goldjunge des politischen Establishments<br />

gilt, verspricht weitere Veränderungen.<br />

Ruhanis Spitzname „der Diplomatenscheich“<br />

ist Hinweis auf s<strong>ein</strong>e Rolle<br />

als Pragmatiker. „Er ist <strong>ein</strong> Mann des<br />

Systems“, sagt der ehemalige deutsche<br />

Botschafter im Iran, Paul von Maltzahn,<br />

der häufig mit Ruhani zu tun hatte. „Man<br />

kann ihn nicht so <strong>ein</strong>fach manipulieren,<br />

und er ist durchsetzungsfähig.“<br />

Er erinnere sich daran, wie Ruhani<br />

als Chef unterhändler 2003 <strong>ein</strong>en Durchbruch<br />

in den Nuklearverhandlungen mit<br />

Europa erzwang – bis heute der <strong>ein</strong>zige<br />

Kompromiss, dem Iran zugestimmt habe.<br />

„Ruhani hat gezeigt, dass er <strong>ein</strong> zentraler<br />

Spieler in Irans politischem Establishment<br />

ist“, sagt auch Stanislas de Laboulaye,<br />

ehemaliger Generaldirektor des<br />

französischen Außenministeriums. „Er<br />

war der Einzige, der in der Lage war, den<br />

anderen Führern etwas vollkommen Unpopuläres<br />

zu verkaufen.“<br />

<strong>Der</strong> Deal hielt allerdings nur bis<br />

2005, als Mahmud Ahmadinedschad an<br />

die Macht kam. Ruhani verlor s<strong>ein</strong>en Posten<br />

als Leiter des Nationalen Sicherheitsrats.<br />

Er war politisch tot. S<strong>ein</strong>e Kritiker<br />

beschimpften ihn als „Verräter“, der die<br />

unverzeihliche Sünde begangen hatte,<br />

Schwäche zu zeigen bei den Verhandlungen<br />

mit den Europäern.<br />

In <strong>ein</strong>er der erstaunlichsten Wendungen<br />

der Geschichte der Islamischen Republik<br />

ist es Hassan Ruhani gelungen, s<strong>ein</strong>e<br />

politische Karriere wiederaufzubauen. Dabei<br />

mögen ihm s<strong>ein</strong>e Beziehungen geholfen<br />

haben, die bis in die frühen Tage des<br />

klerikalen Widerstands gegen den Schah<br />

zurückreichen.<br />

Ruhani wird 1948 als Hassan Fereydoon<br />

während der Herrschaft des westlich<br />

orientierten Schah Mohammed Reza<br />

Pahlavi geboren. S<strong>ein</strong>e Familie – schahf<strong>ein</strong>dliche<br />

Basarhändler und Geistliche –<br />

lebt in der kl<strong>ein</strong>en Wüstenstadt Sorkheh<br />

östlich von Teheran. Ruhani gilt als begabtes<br />

Kind und beginnt bereits mit 13 Jahren<br />

s<strong>ein</strong>e theologischen Studien an der traditionellen<br />

islamischen Schule in Ghom. Dort<br />

begegnet er jenen Männern, die Jahre später<br />

zentrale Figuren der Islamischen Republik<br />

werden sollten.<br />

1978, nach dem Abschluss <strong>ein</strong>es Jurastudiums<br />

an der Teheraner Universität, geht<br />

Ruhani nach Großbritannien. An der Lancaster<br />

University unterrichtet er Islamische<br />

Rechtswissenschaften. Als die Revolution<br />

im Iran ausbricht, geht er nach Paris und<br />

schließt sich dem dort im Exil lebenden<br />

Ajatollah Chom<strong>ein</strong>i an. Zu diesem Zeitpunkt<br />

hat er bereits <strong>ein</strong>e lange Geschichte<br />

als Aktivist der islamischen Bewegung im<br />

Iran hinter sich.<br />

Die Ideologie hat er verinnerlicht,<br />

sie ist in s<strong>ein</strong>en Büchern zur Außenpolitik<br />

nachzulesen: Die Moderne sei gescheitert,<br />

die Christen im Westen hätten sich<br />

kampflos dem Säkularismus ergeben. Die<br />

USA und die Islamische Republik befänden<br />

sich in <strong>ein</strong>em immerwährenden Konflikt.<br />

Und Israel sei „die Achse aller gegen<br />

den Iran gerichteten Umtriebe“.<br />

Ruhani sei eben <strong>ein</strong> echter Repräsentant<br />

des iranischen Establishments, sagen<br />

Experten. Jene, die ihm nahestehen, prophezeien,<br />

er werde in s<strong>ein</strong>er Kompromissbereitschaft<br />

mit dem Westen niemals zu<br />

weit gehen. „Unsere Gegner, die von Ruhani<br />

Kompromisse erwarten, irren sich; die<br />

Sanktionen und andere Druckmittel werden<br />

uns nicht veranlassen, unsere Haltung<br />

zu ändern“, sagt <strong>ein</strong> ehemaliger Mitarbeiter<br />

Ruhanis. S<strong>ein</strong>en Namen will er nicht<br />

veröffentlicht sehen, da Ruhani darum gebeten<br />

habe, dass niemand in s<strong>ein</strong>em Namen<br />

spreche.<br />

Erfolg oder Misserfolg: Ruhanis<br />

Schicksal wird vom Wohlwollen des<br />

Obersten Revolutionsführers Ajatollah Ali<br />

Chamenei abhängen. Bislang kann Irans<br />

Präsident mit dessen Unterstützung rechnen.<br />

Das liegt nicht zuletzt an der Freundschaft,<br />

die die beiden seit 40 Jahren verbindet.<br />

Erst kürzlich betonte Chamenei, dass<br />

er „die Diplomatie der geehrten Regierung“<br />

voll unterstütze.<br />

Chameneis Zuspruch bedeutet, dass<br />

Irans Koalition der Hardliner aus Geistlichen<br />

und Kommandierenden der Revolutionsgarden,<br />

die ihre Macht in den<br />

vergangenen Jahren festigen konnten,<br />

vorerst k<strong>ein</strong>e bedeutenden Angriffe auf<br />

Ruhani wagen wird. „Wenn es ihm aber<br />

nicht gelingt, die westlichen Sanktionen<br />

zu beenden, werden wir <strong>ein</strong> politisches<br />

Blutbad erleben“, prophezeit <strong>ein</strong> Experte,<br />

der ebenfalls anonym bleiben will, „und<br />

das Ende s<strong>ein</strong>er Regierung.“<br />

Thomas erdbrink berichtet seit zehn<br />

Jahren über die Entwicklungen im Iran,<br />

erst als Korrespondent der Washington<br />

Post, heute für die New York Times<br />

59<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Weltbühne<br />

Porträt<br />

Härte in Häkeljacke<br />

Carme Forcadell steht an der Spitze der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung.<br />

Sie treibt die Politik vor sich her und drängt mit aller Macht auf <strong>ein</strong> Referendum<br />

Von Julia Macher<br />

Als Carme Forcadell am 11. September<br />

auf der Plaça Catalunya<br />

in Barcelona auf die Bühne stieg,<br />

verbarg sie für <strong>ein</strong> paar Sekunden ihren<br />

Mund hinter der offenen Hand. Die<br />

Hubschrauberaufnahmen der nicht enden<br />

wollenden Menschenkette verschlugen<br />

der sonst so kontrollierten Frau die<br />

Sprache. Ihr war nicht nur das logistische<br />

Kunststück gelungen, 1,6 Millionen<br />

Menschen zu <strong>ein</strong>er 400 Kilometer langen<br />

Reihe aufzustellen, die von den Pyrenäen<br />

bis zum Mittelmeer reichte. Die<br />

Präsidentin der Bürgerbewegung Assemblea<br />

Nacional Catalana (ANC) hatte<br />

auch <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>drucksvolles Signal für die<br />

Spannbreite der Unabhängigkeitsbewegung<br />

gesetzt: Da standen ergraute Altlinke<br />

Hand in Hand mit spanischsprachigen<br />

Großfamilien, die sich über die hohe<br />

Maut und Kürzungen im Gesundheitswesen<br />

echauffierten; Landwirte aus Vic, denen<br />

Madrid so fremd ist wie Washington,<br />

neben urbanen Kosmopoliten, die ausländischen<br />

Reportern vorrechneten, warum<br />

der Nordosten Spaniens all<strong>ein</strong>e besser<br />

dastünde.<br />

Im Jahre sieben der spanischen Wirtschaftskrise<br />

ist der katalanische Separatismus<br />

<strong>ein</strong>e heterogene Massenbewegung.<br />

„Jeder Grund für die Unabhängigkeit ist<br />

<strong>ein</strong> guter“, sagt Carme Forcadell und lächelt<br />

etwas unbestimmt. Das gleiche Lächeln<br />

zeigt sie, wenn sie nach dem genauen<br />

Aussehen des ersehnten neuen Staates gefragt<br />

wird, nach zukünftigen Beziehungen<br />

zu Spanien, zur Europäischen Union.<br />

„Das werden wir dann sehen.“<br />

Die Chefin der Unabhängigkeitsbewegung<br />

ist k<strong>ein</strong>e politische Visionärin,<br />

sondern versteht sich als Verwalterin <strong>ein</strong>er<br />

Volksbewegung, deren Marschroute<br />

qua Statut vorgegeben ist: zunächst die<br />

Bevölkerung von den Vorzügen <strong>ein</strong>er<br />

Abspaltung überzeugen, dann über das<br />

Regionalparlament <strong>ein</strong>e Abstimmung organisieren<br />

und schließlich, basierend auf<br />

dem Selbstbestimmungsrecht der Völker,<br />

Katalonien zu <strong>ein</strong>em unabhängigen Staat<br />

erklären. „Wenn wir das erreicht haben,<br />

verschwinden wir von der Bildfläche.“<br />

Bisher agiert die erst 2011 gegründete<br />

Assemblea erfolgreich – auch dank Forcadells<br />

Organisationstalent. Nach der ebenfalls<br />

von der ANC ausgerichteten Großdemonstration<br />

im vergangenen Jahr hat<br />

der konservativ-nationalistische katalanische<br />

Ministerpräsident Artur Mas das<br />

geplante Referendum zum Dreh- und Angelpunkt<br />

s<strong>ein</strong>er Politik erklärt und durch<br />

vorgezogene Neuwahlen den sezessionistischen<br />

Parteien <strong>ein</strong>e Mehrheit verschafft.<br />

Knapp die Hälfte der etwa 7,6 Millionen<br />

Katalanen würde derzeit ihr Kreuzchen<br />

beim „Ja“ machen. Vor wenigen Jahren<br />

war es weniger als <strong>ein</strong> Drittel.<br />

Forcadell, vor 57 Jahren in <strong>ein</strong>em<br />

Dorf in der Provinz Tarragona geboren,<br />

gehört zu den Separatisten der alten<br />

Schule. Die Linguistin träumt von<br />

<strong>ein</strong>em eigenen Staat, der Sprache und<br />

Kultur wegen. Als sie kurz nach Francos<br />

Tod in Barcelona studierte, hatten<br />

Jahrzehnte der Unterdrückung das Katalanische<br />

an den Rand gedrängt. „Damals<br />

habe ich gelernt, dass Katalanisch<br />

nur überleben kann, wenn staatliche<br />

Strukturen es schützen.“ Heute ist es<br />

offizielle Amtssprache, bis auf Spanisch<br />

werden alle Fächer auf Katalanisch unterrichtet.<br />

Als Sprachwissenschaftlerin<br />

im Schulministerium hat Carme Forcadell<br />

am Erfolg dieser „sprachlichen<br />

Normalisierung“ ihren Anteil. Was ihre<br />

These eigentlich Lügen straft. Energisches<br />

Kopfschütteln. Solange Madrid jedem<br />

Streben nach mehr Eigenständigkeit<br />

<strong>ein</strong> „No“ entgegenschmettere, seien Kultur<br />

und Sprache bedroht, sagt Forcadell<br />

und erinnert an das Tauziehen um das<br />

Autonomiestatut von 2006: Von 223 Artikeln<br />

focht die konservative Volkspartei<br />

damals 114 Artikel an – und stieß so<br />

vor allem jene vor den Kopf, die sich im<br />

Verbund mit Spanien bisher ganz wohlfühlten.<br />

„Madrid hat <strong>ein</strong> Demokratiedefizit“,<br />

statuiert Forcadell, „<strong>ein</strong> Zusammenleben<br />

ist nicht mehr möglich.“ Mit Blick<br />

auf das geplante Referendum in Schottland<br />

setzt sie nach: „Hätten wir <strong>ein</strong>en<br />

Premier wie David Cameron, wäre das<br />

vielleicht anders.“<br />

<strong>Der</strong> Ton ist härter geworden, auf beiden<br />

Seiten. Auf ihrem Blog schwärmt die<br />

ANC‐Präsidentin von „el poble“, vom<br />

katalanischen Volk: <strong>ein</strong>e Schicksalsgem<strong>ein</strong>schaft,<br />

zu der gehöre, wer in Katalonien<br />

lebe und sich als Katalane fühle.<br />

Was wie <strong>ein</strong> nettes Integrationsangebot<br />

klingt, setzt alle barsch vor die Tür, die<br />

sich eher Spanien zugehörig fühlen. Im<br />

Zweifelsfall lässt es die schmächtige Frau,<br />

die am liebsten Spitzenblusen und Häkeljäckchen<br />

trägt, hart auf hart kommen.<br />

Dabei setzt die ehemalige Lokalpolitikerin<br />

auf die Kommunen, in denen<br />

der Separatismus traditionell fester verankert<br />

ist als in den Metropolen. Drücke<br />

sich der katalanische Regierungschef Artur<br />

Mas vor <strong>ein</strong>er direkten Konfrontation,<br />

könne man <strong>ein</strong> Referendum auch über die<br />

Rathäuser organisieren. 700 Kommunen<br />

haben sich bereits zu <strong>ein</strong>er Pro-Unabhängigkeitsver<strong>ein</strong>igung<br />

zusammengeschlossen.<br />

Dass <strong>ein</strong>e solche Befragung internationalen<br />

Standards nicht genügt, schert<br />

Forcadell wenig. Bisher genügten ihr medienwirksam<br />

inszenierte Gesten, um erfolgreich<br />

Politik zu machen.<br />

Julia Macher lebt seit 2004 in<br />

Barcelona. So stark wie jetzt hat<br />

sie den katalanischen Separatismus<br />

noch nie erlebt<br />

Foto: Eduard <strong>Bayer</strong><br />

60<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Weltbühne<br />

Porträt<br />

<strong>Der</strong> Sohn entscheidet<br />

New York ist <strong>ein</strong>e der aufregendsten Städte der Welt. Im November bekommt sie <strong>ein</strong>en<br />

neuen Bürgermeister. <strong>Der</strong> Demokrat Bill de Blasio hat die größten Chancen<br />

Von Patrick Bahners<br />

Foto: Janet Mayer/Splash News/Corbis<br />

Gut gemacht, Junge! So etwas<br />

muss Bill de Blasio, 52, zu s<strong>ein</strong>em<br />

Sohn Dante gesagt haben.<br />

Zu sehen im Abspann des Fernsehwerbespots,<br />

dem der demokratische Kandidat<br />

für das Amt des Bürgermeisters von New<br />

York nach allgem<strong>ein</strong>er Überzeugung s<strong>ein</strong>en<br />

Sieg in der Vorwahl verdankt. Man<br />

hört es nicht, so viel bleibt privat. Aber<br />

man sieht, wie der Vater dem Sohn auf<br />

die Schulter klopft, während sie auf <strong>ein</strong>em<br />

Bürgersteig neben<strong>ein</strong>ander hergehen,<br />

beschwingten Schrittes auf dem<br />

Weg zur – öffentlichen – Schule oder zum<br />

nächsten Wahlkampftermin. Sie lachen,<br />

und ihre Freude steckt an.<br />

In Amerika ist der Fernsehspot die<br />

Königsdisziplin unter den Wahlkampfkünsten.<br />

In 30 Sekunden wird das Bild<br />

des Kandidaten fixiert, der den Wählern<br />

häufig nur dem Namen nach bekannt ist.<br />

Vati ist der Beste: eigentlich das Gegenteil<br />

<strong>ein</strong>er informativen Mitteilung. De<br />

Blasios Film spielt mit den niedrigen Erwartungen<br />

an die Selbstauskünfte von<br />

Politikern. <strong>Der</strong> Sohn wird nicht als Sohn<br />

vorgestellt, sondern als Teenager, als<br />

engagierter Noch-nicht-Wähler: Dante,<br />

15 Jahre alt, aus Brooklyn. Nachdem er<br />

die Wunderdinge aufgezählt hat, die von<br />

allen Kandidaten angeblich nur Bill de<br />

Blasio vollbringen kann, versichert er im<br />

letzten Satz: „Das würde ich alles auch<br />

über ihn sagen, wenn er nicht m<strong>ein</strong> Vater<br />

wäre.“<br />

Durch förmliche Tatsachenprüfung<br />

sind Zeugenaussagen von Verwandten<br />

nicht zu erschüttern. Vergeblich wies die<br />

New York Times darauf hin, dass k<strong>ein</strong>eswegs<br />

nur de Blasio die Abschaffung der<br />

Polizeikontrollen irgendwie auffälliger<br />

Passanten in Aussicht stellte, <strong>ein</strong>e Taktik<br />

der Prävention, deren Handhabung<br />

<strong>ein</strong>e Bundesrichterin unlängst als verfassungswidrig<br />

erklärt hat. Schwarze<br />

protestieren dagegen, dass sie nur deshalb<br />

angehalten würden, weil sie in den<br />

Augen von Polizisten verdächtig aussähen.<br />

Dass Dante de Blasio über die Macht<br />

alltäglicher Vorurteile mit Autorität sprechen<br />

kann, sieht jedermann: Er ist <strong>ein</strong><br />

Farbiger, und s<strong>ein</strong> Haar trägt er als imposanten<br />

Lockenhelm.<br />

Dantes Afrolook war die Sensation<br />

des Filmes, der eigentliche Star. Die Frisur<br />

löste sich gleichsam von ihrem Träger,<br />

um fortan als Aura den Vater zu umgeben.<br />

Eine Haarwolke trug Bill de Blasio<br />

über die Latte von 40 Prozent der Vorwahlstimmen,<br />

sodass ihm <strong>ein</strong>e Stichwahl<br />

erspart blieb.<br />

Wie ist der märchenhafte Effekt zu<br />

erklären? <strong>Der</strong> Afrolook ist <strong>ein</strong> Symbol<br />

von Stolz und Rebellion, aber unabhängig<br />

von allen politischen Assoziationen<br />

zuerst <strong>ein</strong> Zeichen aus <strong>ein</strong>er anderen Zeit.<br />

Dass die Entwicklung, die New York in<br />

den zwei Jahrzehnten unter den Bürgermeistern<br />

Rudolph Giuliani und Michael<br />

Bloomberg genommen hat, bruchlos so<br />

weitergehen könnte, irritiert die Demokraten,<br />

auch diejenigen, die von der<br />

beispiellosen Zurückdrängung des Verbrechens<br />

und der Anziehungskraft Manhattans<br />

auf superreiche Wohnungskäufer<br />

profitieren. Die Familie de Blasio wohnt<br />

jedenfalls in Park Slope, dem Viertel in<br />

Brooklyn, wo nach vollendeter Gentrifizierung<br />

gemäß bürgerlicher Tradition<br />

nun das schlechte Gewissen <strong>regiert</strong>.<br />

Als Studentenpolitiker an der New<br />

York University ließ sich Bill de Blasio<br />

mit wilder Mähne fotografieren. Dantes<br />

Frisur beweist, dass in der nächsten Umgebung<br />

s<strong>ein</strong>es Vaters <strong>ein</strong> zwangloser Eigensinn<br />

sprießt. <strong>Der</strong> Haushaltsvorstand<br />

ist k<strong>ein</strong> in Uniformität vernarrter Manager.<br />

In <strong>ein</strong>er Stadt, in der die sogenannten<br />

Minderheiten sich immer noch in den<br />

Armenvierteln ballen, spricht es für sich,<br />

dass Bill de Blasio mit <strong>ein</strong>er Schwarzen<br />

verheiratet ist. Die Dichterin Chirlane<br />

McCray war 1979 – lange bevor sie ihren<br />

späteren Mann traf – mit <strong>ein</strong>em lesbischen<br />

Manifest bekannt geworden.<br />

Das weckt zusätzliche Neugier. Im liberalen<br />

Milieu New Yorks gilt die Präferenz<br />

für das eigene oder das andere Geschlecht<br />

heute als Naturtatsache. Durch<br />

hartnäckiges Nachfragen erreichte Bill,<br />

dass Chirlane mit ihm ausging und nunmehr<br />

seit 19 Jahren mit ihm verheiratet<br />

ist: Zeugnis <strong>ein</strong>er erstaunlichen<br />

Überzeugungskraft.<br />

<strong>Der</strong> Vorname des Sohnes ist <strong>ein</strong><br />

Denkmal der italienischen Herkunftswelt<br />

von Bills Mutter. Maria de Blasio<br />

Wilhelm schrieb mit Unterstützung ihres<br />

Sohnes <strong>ein</strong> Buch über den italienischen<br />

Widerstand gegen Hitler. <strong>Der</strong> Vater,<br />

<strong>ein</strong> Ökonom und Weltkriegsveteran,<br />

hatte die Familie verlassen, als Bill <strong>ein</strong><br />

kl<strong>ein</strong>er Junge war. Weshalb de Blasio bei<br />

Beginn s<strong>ein</strong>er öffentlichen Laufbahn den<br />

Mädchennamen der Mutter annahm.<br />

Als Public Advocate war de Blasio<br />

seit 2009 protokollarisch der zweite<br />

Mann von New York: <strong>ein</strong> Volkstribun<br />

ohne Vetomacht, der nur mit Worten<br />

auf Reformen hinwirken konnte. Er hat<br />

kaum exekutive Erfahrung, ist so gesehen<br />

immer der Schülersprecher geblieben,<br />

den der Zorn über <strong>ein</strong>e Rede<br />

Präsident Richard Nixons zum Vietnamkrieg<br />

dazu brachte, die Mitbestimmung<br />

der Mitschüler zu organisieren. Man<br />

kennt den Typus des Schulterklopfers,<br />

der sich an den Star mit dem Afrolook<br />

hängt. Er hat s<strong>ein</strong>en eigenen jungenhaften<br />

Charme.<br />

Patrick Bahners wohnt in der Nachbarschaft<br />

von Bill de Blasio. Ein schlechtes<br />

Gewissen hat er deshalb nicht<br />

63<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Martialisch feierten die<br />

Anhänger der Goldenen<br />

Morgenröte ihren Wahlerfolg<br />

im vergangenen Jahr<br />

64<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Weltbühne<br />

Reportage<br />

„ Wir sind<br />

politische<br />

Soldaten “<br />

Von Richard Fraunberger<br />

Sie jagen Migranten, zerstören ihre Geschäfte,<br />

schlagen sie zusammen – töten sie.<br />

Und sie sitzen im griechischen Parlament.<br />

Bislang agierte die Neonazipartei<br />

Goldene Morgenröte völlig ungehindert<br />

65<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Weltbühne<br />

Reportage<br />

Irfan Malik, 27, kl<strong>ein</strong> gewachsen, das<br />

schwarze Haar ordentlich gescheitelt,<br />

sitzt verängstigt auf <strong>ein</strong>er Matratze<br />

in <strong>ein</strong>er winzigen Athener<br />

Wohnung. Er teilt sie sich mit vier<br />

„Brüdern“ – Männern, die wie er aus Pakistan<br />

kamen, Fremde, Illegale in Griechenland.<br />

Malik zittert. Er hat Angst.<br />

Angst, nachts von maskierten Banden<br />

mit Baseballschlägern, zerbrochenen Flaschen,<br />

Eisenstangen oder Messern gejagt,<br />

verletzt, getötet zu werden.<br />

Vor sieben Jahren kam Malik auf der<br />

Suche nach <strong>ein</strong>em besseren Leben nach<br />

Griechenland. Bis heute hat er k<strong>ein</strong>e Papiere.<br />

Er arbeitet in <strong>ein</strong>em Taschen- und<br />

Koffergeschäft. Es gehört <strong>ein</strong>em Griechen,<br />

in <strong>ein</strong>em Stadtteil Athens, dessen<br />

Namen Malik lieber nicht gedruckt sehen<br />

möchte. „Nach der Arbeit gehe ich ohne<br />

Umwege nach Hause. Nachts verlasse ich<br />

das Haus nicht mehr.“ Zu viele Menschen<br />

wie er sind bedroht und verprügelt worden.<br />

Weil ihre Hautfarbe nicht weiß ist.<br />

Weil sie k<strong>ein</strong>e Aufenthaltsgenehmigung<br />

haben oder k<strong>ein</strong>e beantragen können,<br />

obgleich ihnen das Recht zusteht. Weil<br />

sie den Griechen Arbeitsplätze wegnähmen.<br />

Weil sie kriminell seien, angeblich<br />

rauben, stehlen, morden. Weil sie Fremde<br />

sind in <strong>ein</strong>er Gesellschaft, die sich überfremdet<br />

fühlt. So tönt die Propaganda der<br />

Chrysi Avgi, der griechischen Neonazipartei<br />

Goldene Morgenröte.<br />

Geschätzt <strong>ein</strong>e Million illegaler<br />

Migranten lebt in Griechenland. Das<br />

sind rund 10 Prozent der Bevölkerung.<br />

Die Einwanderung verändert das Land,<br />

das irgendwo zwischen Multikulturalität<br />

und Ethnozentrismus pendelt. Vor<br />

allem in Athen sind die Auswirkungen<br />

drastisch. Ganze Stadtviertel sind von<br />

Migranten dominiert, Ghettos entstehen.<br />

Viele Zuwanderer fassen Fuß, andere<br />

driften ab in Kl<strong>ein</strong>kriminalität. Eine Integrationspolitik<br />

gibt es nicht. Vorläufige<br />

Aufenthaltsgenehmigungen werden oft<br />

nur willkürlich ausgestellt, Asylanträge<br />

kaum bearbeitet. Die Behörden sind inkompetent,<br />

überfordert, nicht selten unwillig.<br />

Die Anerkennungsrate ausländischer<br />

Flüchtlinge in Griechenland ist mit<br />

1 Prozent die niedrigste in der Europäischen<br />

Union.<br />

2008 kommt es zu ersten, größeren<br />

Spannungen zwischen Einheimischen<br />

und Migranten. Die Behörden schauen<br />

Nach dem tödlichen Anschlag auf<br />

<strong>ein</strong>en linken Rapper wurde der<br />

Chef der Goldenen Morgenröte,<br />

Nikolaos Michaloliakos, verhaftet<br />

tatenlos zu, wie ganze Straßenzüge verkommen.<br />

Gleich hinter dem Rathaus<br />

Athens verhökern Hehler gestohlene<br />

Handys und Hasch, Junkies fixen auf offener<br />

Straße, nachts flanieren Prostituierte<br />

aus Afrika und der Karibik. Über<br />

Jahre hinweg befasst sich k<strong>ein</strong>e der etablierten<br />

Parteien, nicht der Stadtrat und<br />

k<strong>ein</strong> Kommunalpolitiker ernsthaft mit<br />

den neuen, wachsenden Problemen. Die<br />

Anwohner fühlen sich im Stich gelassen.<br />

Bei den Kommunalwahlen 2010 erlangt<br />

die Goldene Morgenröte mit <strong>ein</strong>em Sitz<br />

im Athener Stadtrat ihr erstes Mandat.<br />

Statt sich der Probleme des Landes<br />

gem<strong>ein</strong>sam anzunehmen, greifen sich die<br />

Politiker aller Parteien verbal an. Populismus<br />

und Grabenkampf bestimmen die<br />

Politik. Immer häufiger kommt es zu rassistisch<br />

motivierten Übergriffen.<br />

Im Mai 2011 spitzen sich die Ereignisse<br />

zu. Manolis Kantaris, 44, bringt<br />

s<strong>ein</strong>e hochschwangere Frau zur Geburt<br />

ihres zweiten Kindes ins Krankenhaus,<br />

als drei Migranten ihm s<strong>ein</strong>e Videokamera<br />

entreißen und ihn erstechen.<br />

Pogromartige Ausschreitungen brechen<br />

aus. Tagelang zieht <strong>ein</strong> mit Holzknüppeln<br />

und Messern bewaffneter Mob, darunter<br />

wutentbrannte Bürger, rechtsradikale Jugendliche<br />

und Anhänger der Goldenen<br />

Morgenröte, durch Stadtviertel, in denen<br />

vor allem Flüchtlinge leben. Sie jagen<br />

sie durch die Straßen, zerstören ihre<br />

Geschäfte, suchen in Bussen nach dunkelhäutigen<br />

Menschen, zerren sie heraus und<br />

schlagen sie zusammen. 25 Migranten<br />

werden schwer verletzt, <strong>ein</strong> junger Mann<br />

aus Bangladesch stirbt an den Folgen von<br />

Messerstichen. Nur mit Mühe bringt die<br />

Polizei die Situation unter Kontrolle.<br />

Bis heute setzt sich die Hetzjagd fort.<br />

Human Rights Watch hat die Aussagen<br />

von 79 Migranten dokumentiert und sie<br />

2012 im Bericht „Hate on the Streets“<br />

veröffentlicht. K<strong>ein</strong> Täter wurde verhaftet,<br />

niemand zur Verantwortung gezogen.<br />

Die meisten Gewaltopfer, darunter<br />

auch schwangere Frauen, verzichten auf<br />

<strong>ein</strong>e Strafanzeige, weil sie von der Polizei<br />

abgewiesen, entmutigt, manchmal sogar<br />

misshandelt werden.<br />

Im Sommer 2012 eskaliert die Situation<br />

erneut. Ein Pakistaner vergewaltigt<br />

Fotos: Milos Bicanski/Getty Images (Seiten 64 bis 65), Action Press<br />

66<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Anzeige<br />

auf Paros <strong>ein</strong>e 15 Jahre alte Schülerin.<br />

Als die Polizei ihn nach Piräus bringt,<br />

stürmen Mitglieder der gerade ins Nationalparlament<br />

gewählten Chrysi Avgi die<br />

Fähre und wollen den Täter lynchen. Um<br />

erneuten Pogromen vorzubeugen, startet<br />

die Polizei <strong>ein</strong>e landesweite Aktion gegen<br />

illegale Einwanderer.<br />

„Diese Parasiten trinken unser Wasser,<br />

essen unser Essen und atmen unsere<br />

griechische Luft. Und sie töten uns! Sobald<br />

sie verschwinden, steigen Renten<br />

und Löhne, und das Arbeitslosenproblem<br />

ist gelöst. Sie sind Untermenschen.<br />

Wir sind bereit, die Öfen zu öffnen, sie<br />

zu Seife zu verarbeiten, um unsere Autos<br />

und Bürgersteige damit zu waschen“,<br />

sagt Alexandros Plomaritis vor laufender<br />

Kamera. Plomaritis ist arbeitslos. Er trägt<br />

<strong>ein</strong>e Sonnenbrille, er ist braun gebrannt<br />

und schlank. Er ist k<strong>ein</strong> glatzköpfiges<br />

Muskelpaket, nichts an ihm deutet auf die<br />

übliche vulgäre Nazidumpfbacke. Er sitzt,<br />

die B<strong>ein</strong>e locker über<strong>ein</strong>andergeschlagen,<br />

vor <strong>ein</strong>em Café in Athen und sagt solche<br />

Sätze in aller Seelenruhe, und niemand<br />

neben ihm stört sich daran. Etwas<br />

später macht er sich auf Stimmenfang,<br />

verteilt auf Gemüsemärkten Flugblätter<br />

s<strong>ein</strong>er Partei. Plomaritis ist Kandidat der<br />

Goldenen Morgenröte. Es ist Frühsommer<br />

2012, Parlamentswahlen stehen an.<br />

„Bist du Grieche? Verschwinde!“, pöbelt<br />

er <strong>ein</strong>en Ausländer auf dem Markt an.<br />

„Dieser Abschaum wagt es, mich anzuschauen.“<br />

Niemand widerspricht.<br />

Panagiotis Psomiadis, Ex-Gouverneur<br />

Makedoniens, bezeichnete die<br />

Goldene Morgenröte als die schwesterliche<br />

Mitte-Rechts-Partei der liberalkonservativen<br />

Nea Dimokratia, die in<br />

„Diese Parasiten<br />

trinken unser<br />

Wasser und<br />

atmen unsere<br />

griechische Luft“<br />

Alexandros Plomaritis,<br />

Goldene Morgenröte<br />

Athen mit<strong>regiert</strong>. Bei anderer Gelegenheit<br />

sagte Psomiadis, der der Nea Dimokratia<br />

angehört, abgesehen vom extremen<br />

Verhalten störe er sich nicht an<br />

der Goldenen Morgenröte. Nicht nur der<br />

rechte Flügel der Nea Dimokratia steht<br />

den Neonazis nahe. In der Presse wird<br />

immer wieder auf <strong>ein</strong>e Verbindung zwischen<br />

der Polizei und der Goldenen Morgenröte<br />

hingewiesen. Sowohl Nea Dimokratia<br />

als auch ihr sozialdemokratischer<br />

Regierungspartner Pasok sollen die Goldene<br />

Morgenröte jahrelang unterstützt<br />

haben, um Laos, die andere rechtsextreme<br />

Partei, zu schwächen. Finanziell<br />

gefördert wird die Goldene Morgenröte<br />

aber auch von Tankerkönigen, Rechtsanwälten<br />

und Bauunternehmern.<br />

Seit ihrer Zulassung als Partei, 1993,<br />

dümpelt die Goldene Morgenröte vor<br />

sich hin, gewann bei Wahlen nicht <strong>ein</strong>mal<br />

<strong>ein</strong> halbes Prozent. 2012 erringt sie<br />

18 von 300 Parlamentssitzen, das sind<br />

7 Prozent der Wählerstimmen. Im Sommer<br />

2013 liegen ihre Umfragewerte bei<br />

15 Prozent. Damit wäre sie bei Wahlen<br />

die drittstärkste Kraft.<br />

Wie kommt es, dass <strong>ein</strong>e Nation – die<br />

sich rühmt, die Demokratie erfunden zu<br />

haben, die k<strong>ein</strong>e Gelegenheit versäumt,<br />

deutsche Politiker Nazis zu schimpfen,<br />

die bis in die späten Achtziger zu Recht<br />

behaupten konnte, Rassismus nicht zu<br />

kennen – bei den Wahlen im Juni 2012<br />

<strong>ein</strong>e Partei ins Parlament gewählt hat,<br />

die unverhohlen faschistoides Gedankengut<br />

propagiert und die Demokratie<br />

aktiv bekämpft?<br />

„Statt die Goldene Morgenröte inhaltlich<br />

zu attackieren, haben die Medien<br />

sie verteufelt, aus politischen Fernsehdiskussionen<br />

ausgegrenzt und damit<br />

den Wählern in die Arme getrieben“,<br />

sagt Janis Duras, 28. Er hat Internationale<br />

Beziehungen studiert und arbeitet<br />

jetzt bei <strong>ein</strong>er Bank. Er gehört k<strong>ein</strong>er<br />

Partei an, hat nichts übrig für die<br />

Sprüche der Politiker. Alles an ihm wirkt<br />

moderat. „Wir hassen die Medien, wir<br />

hassen die Journalisten“, sprudelt es aus<br />

ihm heraus. Immer hätten die Medien<br />

das Volk manipuliert, getäuscht, zugunsten<br />

der Politiker, Parteien und der superreichen<br />

Oligarchen, die das Land unter<br />

sich aufgeteilt haben. Er habe, sagt er,<br />

die Goldene Morgenröte nicht gewählt,<br />

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67<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Weltbühne<br />

Reportage<br />

aber er verstehe, warum sie so viele Sitze<br />

errang. Rachegefühle, Zorn, Perspektivlosigkeit,<br />

Verzweiflung, Hass auf alle<br />

Parteien und das Gefühl der Überfremdung<br />

spielten <strong>ein</strong>e Rolle.<br />

Doch wichtiger als alles andere sei<br />

der Wunsch der meisten Griechen, die<br />

Goldene Morgenröte möge den Parlamentariern<br />

und allen für die Krise verantwortlichen<br />

Politikern und Bankern<br />

„<strong>ein</strong>s in die Fresse hauen“. Er sei k<strong>ein</strong><br />

Nazi, betont er, ginge es aber nach ihm,<br />

würde er aufräumen und sei es mit Gewalt.<br />

Alle illegalen Migranten müssten<br />

das Land verlassen und Geld und Eigentum<br />

aller Politiker konfisziert werden.<br />

Woher kommen diese Radikalisierung,<br />

der Hass auf Fremde, die F<strong>ein</strong>dseligkeit<br />

dem Staat gegenüber? Über Jahrzehnte<br />

hinweg appellierten die Politiker Griechenlands<br />

zu ihren Zwecken an niederste<br />

politische Instinkte. Sie kultivierten <strong>ein</strong>en<br />

verantwortungslosen, indifferenten,<br />

auf den eigenen Vorteil bedachten Bürger<br />

ohne Bürgersinn. „Es gibt Geld!“,<br />

lautete 2009 der Wahlkampfspruch von<br />

Giorgos Papandreou. Auch s<strong>ein</strong> Vater,<br />

Andreas Papandreou, scheute k<strong>ein</strong>en<br />

Populismus. „Griechenland den Griechen“<br />

ist k<strong>ein</strong> Slogan von Chrysi Avgi.<br />

Erst durch den Mord an dem linken<br />

Rapper Pavlos Fyssas regt sich in der<br />

griechischen Gesellschaft Protest<br />

gegen die Goldene Morgenröte<br />

Es ist der Slogan der Nation. Schon vor<br />

30 Jahren rief ihn Andreas Papandreou<br />

dem Volk zu und zog dabei alle Register:<br />

Nationalismus, Türkenangst, nationale<br />

Minderwertigkeitskomplexe.<br />

Die Politiker befeuerten die Sehnsucht<br />

nach nationaler Eigenständigkeit,<br />

die Suche nach der verschütteten Identität<br />

<strong>ein</strong>er historisch gedemütigten Nation.<br />

Ihre Rechtsauffassung, ihr Verständnis<br />

von Machtausübung, Verantwortung und<br />

Pflicht trieb das Land nicht nur in <strong>ein</strong>en<br />

politischen, wirtschaftlichen und moralischen<br />

Kollaps, es stürzte es in <strong>ein</strong>e Sinnkrise.<br />

Mit bewusst laxen Kontrollen von<br />

Gesetzen, ihrer opportunistischen und<br />

willkürlichen Anwendung und <strong>ein</strong>er<br />

nicht immer demokratiekonformen Gewaltenteilung<br />

schüren sie das Misstrauen<br />

der Bürger gegenüber dem Rechtsstaat<br />

und untergraben so stetig den Glauben<br />

an die Demokratie. Solange die Mehrheit<br />

der Bürger davon profitierte und die<br />

Kassen voll waren, erhob kaum jemand<br />

s<strong>ein</strong>e Stimme gegen diesen unausgesprochenen<br />

Gesellschaftsvertrag.<br />

„Wir wollen Bestrafung, nicht Rache“,<br />

sagt Nikos Michos, 44, Parlamentsabgeordneter<br />

der Goldenen Morgenröte.<br />

„Die Politiker Griechenlands sind Verräter,<br />

Marionetten der Zionisten und müssen<br />

vor Gericht gestellt werden.“ Dass<br />

man aus Rache bestrafen kann, kommt<br />

Michos nicht in den Sinn.<br />

<strong>Der</strong> Abgeordnete ist kurz aus Athen<br />

in s<strong>ein</strong>e Heimatstadt Amarinthos auf Euböa<br />

zurückgekehrt und sitzt nun im heruntergekommenen<br />

Büro s<strong>ein</strong>es Ladens.<br />

Michos verkauft Tierfutter und Saatgut.<br />

Alle zehn Minuten kommen Bekannte in<br />

den blechernen Schuppen und grüßen<br />

ihn, als seien sie nur gekommen, um ihre<br />

Freundschaft zu bekunden. Siegesbewusst<br />

hebt Michos die geballte Faust zum<br />

Gruß. „Kraft“, erwidert er.<br />

Michos hat s<strong>ein</strong> Diktafon <strong>ein</strong>geschaltet.<br />

Eine Vorsichtsmaßnahme. Zu oft<br />

sei geschrieben worden, was er nie gesagt<br />

habe. Und schon ist er beim Thema.<br />

„Wir sind politische Soldaten. Blut, Geschichte<br />

und Prinzipien definieren uns.<br />

Wir sind für <strong>ein</strong> Europa der Nationen, für<br />

<strong>ein</strong> r<strong>ein</strong>es Europa“, betont er. „Unsere<br />

Gene sind r<strong>ein</strong>.“ Griechenland werde<br />

Foto: Konstantinos Tsakalidis/Demotix/Corbis<br />

68<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


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Weltbühne<br />

Reportage<br />

Baseballschläger und T-Shirts mit nationalistischen<br />

Symbolen, <strong>ein</strong> anderer arbeitete<br />

jahrelang als Türsteher und Bodyguard<br />

in <strong>ein</strong>em Nachtclub. Sogar aus <strong>ein</strong>er<br />

Elite<strong>ein</strong>heit der Armee rekrutieren sich<br />

die Abgeordneten.<br />

planmäßig von kampfbereiten Migranten<br />

überschwemmt. Ihr Ziel sei die Vernichtung<br />

des griechischen Volkes sowie<br />

die territoriale Zerstückelung des Landes.<br />

Drahtzieher sei der global operierende<br />

Zionismus. Drei Stunden lang erklärt<br />

Michos die Welt, wie er und s<strong>ein</strong>e<br />

Partei sie sehen.<br />

Die Goldene Morgenröte wurde<br />

1985 gegründet. Chefideologe und unumschränkter<br />

Führer ist Nikolaos Michaloliakos,<br />

56, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er, untersetzter Mann<br />

mit dicker Brille, Vater <strong>ein</strong>er Tochter,<br />

Mathematiker und bekennender Holocaust-Leugner.<br />

In s<strong>ein</strong>er Partei lässt<br />

sich Michaloliakos gern Führer nennen.<br />

Er mag es, die Hand zum Hitlergruß zu<br />

heben, sei es bei Parteisitzungen oder<br />

im Athener Stadtparlament. S<strong>ein</strong>e Partei<br />

versteht sich als nationale Volksbewegung.<br />

Sie sei weder faschistisch noch<br />

neonazistisch, sagt Michaloliakos. In <strong>ein</strong>em<br />

Fernsehinterview erklärte er: „Gewalt<br />

ist <strong>ein</strong> Teil des Lebens“ und fügte<br />

später hinzu: „Sobald Chrysi Avgi die<br />

Sicherheit des Landes übernimmt, wird<br />

es k<strong>ein</strong>e Gewalt geben.“<br />

Ideologie und Auftreten s<strong>ein</strong>er Partei<br />

lassen jedoch andere Schlüsse zu. Ihre<br />

Mitglieder tragen schwarze Kleidung, ihr<br />

Es bedurfte der Ermordung des<br />

Rappers Pavlos Fyssas, bis die<br />

griechischen Behörden gegen die<br />

Goldene Morgenröte vorgingen<br />

Auftreten ist militärisch, der Ton forsch,<br />

aggressiv, die Rhetorik f<strong>ein</strong>dselig. Stets<br />

sind sie in Gruppen unterwegs. Verteilen<br />

sie Flugblätter, wagt man kaum, den<br />

Zettel auszuschlagen. Wann immer sie<br />

aufmarschieren, in Sprechchören, in Fackelzügen,<br />

schüchtern sie <strong>ein</strong>, versetzen<br />

Menschen in Angst und Schrecken.<br />

Je schärfer die Wirtschaftslage, desto<br />

schlimmer der Terror auf den Straßen.<br />

Mittelpunkt der Weltanschauung<br />

Chrysi Avgis sind Vaterland, Volk und<br />

Nationalismus. Das Emblem auf ihren<br />

rot-schwarzen Parteifahnen ähnelt <strong>ein</strong>em<br />

Hakenkreuz. Alle Parlamentsabgeordneten<br />

von Chrysi Avgi fallen durch<br />

Bedrohungen, Einschüchterungen, Gewalttätigkeiten<br />

und extreme Entgleisungen<br />

auf. Acht von ihnen besitzen Waffensch<strong>ein</strong>e.<br />

Mehrere verloren bereits ihre<br />

politische Immunität wegen M<strong>ein</strong>eid und<br />

körperlichen Übergriffen auf andere Parlamentarier.<br />

Ein Parlamentarier ist Besitzer<br />

<strong>ein</strong>es Ladens für Tarnbekleidung,<br />

Erklärtes Ziel der Goldenen Morgenröte<br />

ist der Sturz der korrumpierten Regierung.<br />

Die gegenwärtige Demokratie<br />

sei <strong>ein</strong>e parlamentarische Diktatur.<br />

Oberste Priorität haben nationale Unabhängigkeit<br />

und die Befreiung von<br />

fremden Mächten, also den USA, der<br />

EU, kurz von den Zionisten – und das<br />

kann jeder s<strong>ein</strong>. Dazu strebt die Partei<br />

Autarkie in der Lebensmittel-, Arznei-,<br />

Waffen- und Erdölproduktion an. Sie<br />

will <strong>ein</strong>e Vorherrschaft Griechenlands<br />

im östlichen Mittelmeer. Möglich seien<br />

<strong>ein</strong> Wirtschafts- und Verteidigungspakt<br />

mit Russland.<br />

Das Manifest lässt k<strong>ein</strong>en Zweifel<br />

daran, wer oder was die Goldene Morgenröte<br />

ist. Ein Auszug: Verfassungsänderung,<br />

Wieder<strong>ein</strong>führung der Drachme,<br />

Ausstieg aus der Nato, politische Säuberung<br />

von Verrätern und korrumpierten<br />

Politikern, Einrichtung von Sondergerichten,<br />

Ausrüstung der Polizei mit<br />

schweren Waffen, sofortige Deportation<br />

aller legalen und illegalen Migranten,<br />

Verstaatlichung von Banken, Neuausrichtung<br />

der Landwirtschaft, Trennung von<br />

griechischen und ausländischen Schulkindern,<br />

Arbeitslagerhaft bei Straffälligkeit<br />

von Fremden, Versetzung unqualifizierter<br />

Beamter an „produktive<br />

Arbeitsplätze“, Wiederbelebung des Hellenismus,<br />

körperliche Ertüchtigung der<br />

Jugend und so weiter.<br />

Die Partei teilt Essen aus und organisiert<br />

Blutspenden. Die Aktivitäten<br />

richten sich ausschließlich an Griechen<br />

„r<strong>ein</strong>en Blutes“. Bedürftige müssen <strong>ein</strong>en<br />

Personalausweis vorzeigen. Neuerdings<br />

unterrichtet die Partei Kinder in<br />

Mythologie und ideologiekonformer Geschichte.<br />

Die Goldene Morgenröte agiert<br />

als Schattenpolizei. Wer sich von Ausländern<br />

bedroht fühlt, darf die Partei<br />

um Hilfe bitten. Dann rücken schwarz<br />

gekleidete Muskelprotze an, deren Verbindung<br />

zur Goldenen Morgenröte man<br />

vermuten, aber meistens nicht beweisen<br />

kann. Es sind von der Politik Enttäuschte,<br />

Jugendliche, Arbeitslose, die<br />

Foto: Picture Alliance/dpa/AP Photo<br />

70<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


sich als letzte verbleibende Ordnungskraft<br />

verstehen.<br />

Mit Erlaubnis der Krankenhausdirektorin<br />

suchten Parteimitglieder in<br />

Tripoli nach illegal arbeitenden Krankenschwestern.<br />

In Rafina, unweit von<br />

Athen, und Mesolongi, im Nordwesten<br />

des Landes, kontrollierten Parlamentsabgeordnete<br />

der Chrysi Avgi gem<strong>ein</strong>sam<br />

mit Sympathisanten die Verkaufslizenzen<br />

der Händler auf <strong>ein</strong>em Markt und<br />

zertrümmerten Stände. Die Polizei griff<br />

nicht <strong>ein</strong>. In Marathonas, <strong>ein</strong>e Busstunde<br />

von Athen entfernt, wo <strong>ein</strong>st die Hellenen<br />

die Perser schlugen und wo heute<br />

Pakistaner und Bangladescher Gemüse<br />

anbauen, marschierten Gruppen keulenschwingender<br />

Chrysi-Avgi-Anhänger<br />

über die Plantagen. In Panik rannten<br />

die Migranten davon. Wieder schritt die<br />

Polizei nicht <strong>ein</strong>. Es ist, als agierten die<br />

Rollkommandos mit staatlicher Duldung.<br />

Erst als diesen September nicht<br />

<strong>ein</strong> Migrant, sondern der Grieche Pavlos<br />

Fyssas, <strong>ein</strong> linksgerichteter Rapper,<br />

von <strong>ein</strong>em mutmaßlichen Mitglied der<br />

„Wir sind politische<br />

Soldaten.<br />

Blut, Geschichte<br />

und Prinzipien<br />

definieren uns“<br />

Nikos Michos, Goldene Morgenröte<br />

Goldenen Morgenröte erstochen wird,<br />

geht <strong>ein</strong> Ruck durch die Mitte der Gesellschaft.<br />

Unter ihrem Aufschrei rappelt<br />

sich die Justiz plötzlich auf. Die Polizei<br />

durchsucht Parteibüros und Wohnungen.<br />

Parteichef Michaloliakos sowie fast alle<br />

Funktionäre, unter ihnen Nikos Michos,<br />

werden von <strong>ein</strong>er Anti-Terror-Einheit<br />

verhaftet. Unter den Festgenommenen<br />

befinden sich auch zwei Polizeibeamte.<br />

Die Staatsanwaltschaft bezichtigt die<br />

Verhafteten, <strong>ein</strong>e kriminelle Ver<strong>ein</strong>igung<br />

gebildet zu haben. Mord, Geldwäsche<br />

und Schutzgelderpressung lautet der<br />

Vorwurf.<br />

<strong>Der</strong> pakistanische Einwanderer Irfan<br />

Malik versteht das alles nicht. Er sitzt<br />

vor dem Fernseher und sieht, wie <strong>ein</strong>e<br />

Gruppe Neonazis vor <strong>ein</strong>em Polizeigebäude<br />

demonstriert. Für ihn war Europa<br />

<strong>ein</strong> Sinnbild für Sicherheit, Recht<br />

und Freiheit. Plötzlich muss er um s<strong>ein</strong><br />

Leben fürchten. Er meidet Menschenansammlungen.<br />

Am liebsten wäre er unsichtbar.<br />

Trotz aller Vorfälle und der<br />

ständigen Angst habe es Gott gut mit ihm<br />

gem<strong>ein</strong>t, sagt er. Die meisten Menschen<br />

seien freundlich zu ihm. In Griechenland<br />

bleiben wolle er aber nicht mehr. Sobald<br />

er genügend Geld beisammen hat, will er<br />

heimkehren, zurück nach Pakistan.<br />

Richard Fraunberger stieß auf <strong>ein</strong>e<br />

Mauer des Schweigens. Kaum <strong>ein</strong>er, der die<br />

GM unterstützt oder gewählt hat, traute<br />

sich offen über die Partei zu sprechen<br />

Anzeige<br />

WeLT.De/DigiTaL<br />

Die Welt gehört denen,<br />

die k<strong>ein</strong>e großen Worte machen,<br />

sondern klare.<br />

Die WeLT gehörT Denen, Die neu Denken.


72<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Weltbühne<br />

Fotoessay<br />

Volles<br />

Rohr<br />

Fotos GUILLAUME HERBAUT<br />

Waffen töten und zerstören.<br />

Sie üben <strong>ein</strong>e Faszination aus,<br />

sie sind <strong>ein</strong> Geschäft.<br />

Weltweit beliefen sich<br />

die Militärausgaben 2012<br />

auf geschätzte 1756 Milliarden Dollar.<br />

<strong>Cicero</strong> war auf Waffenmessen<br />

in aller Welt. Eindrücke<br />

<strong>ein</strong>er besonderen Branche<br />

und ihrer Kundschaft<br />

73<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Weltbühne<br />

Fotoessay<br />

Gleich beginnt die Shoppingtour<br />

Besucher aus aller Welt nehmen<br />

an der Eröffnungszeremonie der<br />

Defexpo India in Neu-Delhi teil<br />

Tötet und glänzt<br />

Die halbautomatische Pistole<br />

Kilinç des türkischen Herstellers<br />

Sarsilmaz gibt es auch in Gold<br />

74<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


75<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


76<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013<br />

Fotos: Guillaume Herbaut/INSTITUTE (Seiten 72 bis 81)


Mann, fühlt sich das gut an!<br />

Ein Offizier der chinesischen<br />

Armee testet <strong>ein</strong> amerikanisches<br />

Gewehr auf der Special<br />

Operations Forces Exhibition<br />

and Conference in Amman<br />

77<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Weltbühne<br />

Fotoessay<br />

78<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


<strong>Der</strong> ist noch robuster als m<strong>ein</strong> SUV<br />

Ausstellungsbesucher der<br />

Eurosatory in Paris inspizieren den<br />

Kampfpanzer MBT des deutschen<br />

Herstellers Rh<strong>ein</strong>metall<br />

Blühende Landschaften<br />

Das französische Unternehmen Nexter<br />

Group präsentiert s<strong>ein</strong> gepanzertes<br />

Infanterie-Kampffahrzeug zwischen<br />

grünem Gestrüpp<br />

79<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


80<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


81<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013<br />

Ein Accessoire für jeden Bomber<br />

Hostessen des indischen<br />

Unternehmens Ordnance<br />

Factory Board präsentieren ihre<br />

Neuheiten auf der Defexpo


Weltbühne<br />

Analyse<br />

Europa soll Glück mit<br />

den deutschen haben<br />

Von Klaus Harpprecht<br />

<strong>Deutschland</strong> sollte<br />

endlich aufhören,<br />

den europäischen<br />

Partnern mit erhobenem<br />

Zeigefinger<br />

zu begegnen<br />

<strong>Der</strong> Euro, raunzte Spiegel-Gründer<br />

Rudolf Augst<strong>ein</strong><br />

kurz vor s<strong>ein</strong>em Tod,<br />

sei für <strong>Deutschland</strong> schlimmer<br />

als „Versailles“ – jener<br />

verhängnisvolle Vertrag des Jahres 1919,<br />

der Europa k<strong>ein</strong>en Frieden bescherte,<br />

sondern <strong>ein</strong> Gewächshaus der Ressentiments<br />

war, die Adolf Hitler 1933 an die<br />

Macht in Berlin beförderten. Die Fantasien<br />

des großen Polemikers Augst<strong>ein</strong>, der<br />

im Grund s<strong>ein</strong>er Seele <strong>ein</strong> Deutschnationaler<br />

war, erfüllten sich gottlob nicht.<br />

Die nationalistischen Ressentiments<br />

wuchern heute aber von neuem. Sie<br />

könnten die Europäische Union am<br />

Ende gar ersticken: diese produktivste<br />

Leistung unserer Völker nach der zweiten<br />

Katastrophe, dem Vernichtungskrieg,<br />

dem Millionenmord, der Verwüstung unserer<br />

Städte, dem Elend der Austreibung.<br />

60 Jahre Frieden: <strong>ein</strong> Segen, der unserem<br />

Kontinent niemals zuvor zuteil geworden<br />

ist. 60 Jahre ohne Hunger: Auch das gab<br />

es nie. 60 Jahre des wachsenden Wohlstands,<br />

trotz aller Rückschläge und Krisen:<br />

zuvor nicht denkbar.<br />

Das alles droht vor die Hunde zu gehen.<br />

Wenn wir die Signale nicht sehen<br />

wollen. Wenn wir blind und taub weiterstolpern,<br />

beleidigt und hochmütig zugleich<br />

– zumal die Deutschen und neben<br />

ihnen (oder hinterdr<strong>ein</strong>) die Franzosen,<br />

die beiden, auf die es in Europa ankommt.<br />

82<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Illustration: Marta Slawinska<br />

Frankreichs Präsident hat nach <strong>ein</strong>em<br />

Jahr lähmenden Schweigens <strong>ein</strong><br />

Konzept für Europa vorgelegt – <strong>ein</strong>e<br />

verspätete Antwort auf Angela Merkels<br />

knappe Skizzierung ihrer europäischen<br />

Ziele vor gut <strong>ein</strong>em Jahr. Wird die Bundesregierung<br />

sich bereit zeigen, <strong>ein</strong>e<br />

Wirtschafts- und Finanzregierung für Euroland<br />

zu akzeptieren – so lautet Hollandes<br />

Vorschlag –, mit <strong>ein</strong>em permanenten<br />

Präsidenten, der s<strong>ein</strong>e Minister (oder<br />

was immer sie s<strong>ein</strong> mögen) wenigstens<br />

<strong>ein</strong>mal im Monat um sich versammelt?<br />

Das wäre der Anfang <strong>ein</strong>er politischen<br />

Union, deren Notwendigkeit sich aus der<br />

Wirtschaftsregierung ergibt. Großbritannien<br />

würde sich diesem Prozess vermutlich<br />

verweigern, aber das wäre k<strong>ein</strong> allzu<br />

großer Verlust: Es will den gem<strong>ein</strong>samen<br />

Markt, mehr nicht.<br />

Zustimmung fände Frankreich gewiss<br />

beim Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit,<br />

die in Spanien 50 Prozent<br />

der jungen Menschen und in Frankreich<br />

<strong>ein</strong> Viertel aussperrt. Vielleicht gelänge<br />

auch <strong>ein</strong>e Verständigung über die Grundlinien<br />

<strong>ein</strong>er „Energiegem<strong>ein</strong>schaft“,<br />

obschon der deutsche Ausstieg aus der<br />

Nuklearenergie und die französische Abhängigkeit<br />

vom Atomstrom sich schwer<br />

mit<strong>ein</strong>ander verbinden lassen. Gegen die<br />

„Eurobonds“ und damit die Schaffung <strong>ein</strong>er<br />

Schuldengem<strong>ein</strong>schaft wird sich die<br />

Kanzlerin samt der Bundesbank mit allen<br />

Mitteln sträuben. <strong>Der</strong> Plan sch<strong>ein</strong>t<br />

den Generalverdacht der Deutschen zu<br />

bestärken, sie müssten für die Misswirtschaft<br />

der „mediterranen Faulpelze und<br />

Verschwender“ aufkommen.<br />

Es ist leider wahr: Die Deutschen<br />

lassen, wenn es darauf ankommt, die<br />

Partner ihre (derzeitige) Dominanz spüren.<br />

Zugleich gefallen sie sich – <strong>ein</strong> Zustand<br />

der Schizophrenie – in der Rolle<br />

des ausgebeuteten Opfers, obwohl sie<br />

von jedem europäischen Schritt zu <strong>ein</strong>er<br />

Bündelung der Interessen bisher nur profitiert<br />

haben. Zu Recht fragte der ehemalige<br />

SPD-Kanzlerkandidat Peer St<strong>ein</strong>brück,<br />

ob sie noch „das Volk der guten<br />

Nachbarn“ seien, das <strong>ein</strong>st Willy Brandt<br />

versprochen hatte. St<strong>ein</strong>brück fordert <strong>ein</strong>en<br />

„Marshall-Plan“ für Europa, der den<br />

Krisenländern das Wachstum bescheren<br />

soll, ohne das sie nicht auf die B<strong>ein</strong>e<br />

kommen können. Nur mit <strong>ein</strong>em Sparprogramm<br />

nach Berliner Diktat ist es gewiss<br />

nicht getan. Andernfalls droht in der<br />

Tat <strong>ein</strong> Absturz der gesamten Europäischen<br />

Union in die Depression. <strong>Deutschland</strong><br />

nicht ausgenommen, das von den<br />

Märkten der Partner lebt.<br />

Anders als die meisten deutschen<br />

M<strong>ein</strong>ungsdirigenten wich <strong>ein</strong>e Handvoll<br />

französischer Journalisten der bitteren<br />

Wahrheit des miserablen Zustands der<br />

Union nicht aus. Laurent Joffrin, Chefkommentator<br />

des Nouvel Observateur,<br />

erinnerte daran, dass Frankreichs verstorbener<br />

Präsident François Mitterrand<br />

<strong>ein</strong>st gelobt hatte, Europa werde s<strong>ein</strong>e<br />

Bürger vor den Bocksprüngen der internationalen<br />

Geldwirtschaft schützen. In<br />

Wirklichkeit aber lieferte es mehr als<br />

20 Millionen Menschen der Arbeitslosigkeit<br />

aus. Die Union verliere ihre Vitalität<br />

im Sumpf der Stagnation, schrieb<br />

Joffrin, sie entfremde sich ihren Bürgern.<br />

Würde über Europa in Volksabstimmungen<br />

entschieden, wäre es in den meisten<br />

83<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Weltbühne<br />

Analyse<br />

Nirgendwo<br />

wären die<br />

Interessen der<br />

Deutschen besser<br />

aufgehoben als<br />

in der europäischen<br />

Föderation.<br />

Jede Etappe<br />

der Ver<strong>ein</strong>igung<br />

hat ihr Wohl<br />

gesteigert<br />

der Mitgliedsländer zum Scheitern verurteilt.<br />

Tatsache ist: <strong>Der</strong> nationale Etatismus<br />

ist die schwierigste Barriere auf<br />

dem Weg zur europäischen Finanz- und<br />

Wirtschaftsregierung.<br />

Es ist freilich nicht völlig undenkbar,<br />

dass dieser Part von den Deutschen übernommen<br />

wird. Die Europagegner stehen<br />

in Karlsruhe vor dem Verfassungsgericht<br />

Schlange, vornan der Präsident der Bundesbank<br />

Jens Weidmann mit s<strong>ein</strong>em<br />

Gutachten zur Klage Peter Gauweilers.<br />

Weidmann lehnt – gegen die geschlossene<br />

Mehrheit s<strong>ein</strong>er Kollegen – die Kreditpolitik<br />

der Europäischen Zentralbank ab.<br />

Noch hält <strong>ein</strong>e Mehrheit der Deutschen<br />

die Vorzüge Europas für größer<br />

als die Nachteile. Was sich allerdings<br />

mit dem Bruch der Konjunktur rasch<br />

ändern könnte. In Frankreich hingegen<br />

dominieren die antieuropäischen Ressentiments.<br />

Doch François Hollande –<br />

vermutlich Vernunft-Europäer wie Angela<br />

Merkel – hat endlich verstanden,<br />

dass die Kluft zwischen Frankreich und<br />

<strong>Deutschland</strong> nicht noch größer werden<br />

darf. So pfiff er den Präsidenten der Nationalversammlung<br />

Claude Bartolone<br />

zurück, der <strong>ein</strong>e Konfrontation mit den<br />

Deutschen und ihrer obsessiven Sparreligion<br />

gefordert hatte.<br />

Bisher bestand der Währungsbund die<br />

Zerreißproben, obschon ihm die Medien,<br />

allen voran Spiegel und Bild, Woche für<br />

Woche, ja Tag für Tag den Untergang<br />

vorhersagten. In Europa werde wieder<br />

deutsch gesprochen, hörten die Nachbarn<br />

aus Berlin. Jens Weidmann erhofft<br />

vom Bundesverfassungsgericht vermutlich,<br />

dass die Richter in den roten Roben<br />

s<strong>ein</strong>en Argumenten mit Sympathie<br />

begegnen, weil sie selber sich gegen die<br />

Einsicht sträuben, dass ihnen der Europäische<br />

Gerichtshof als letzte Rechtsinstanz<br />

übergeordnet ist. Wolfgang Ischinger,<br />

Direktor der Sicherheitskonferenz<br />

in München, erklärte Frédéric Lemaître,<br />

dem hellsichtigen Korrespondenten von<br />

Le Monde in Berlin, vordem sei es akzeptabel<br />

gewesen, dass sich <strong>Deutschland</strong> mit<br />

<strong>ein</strong>er sekundären Rolle hinter Frankreich<br />

und Großbritannien begnügt habe, doch<br />

müsse es nun – dank s<strong>ein</strong>er starken Position<br />

in der Finanzkrise – den Mut haben,<br />

sich in der internationalen Szene mit<br />

dem gleichen Recht wie die Franzosen<br />

und Engländer zu Wort zu melden. Als<br />

habe es bisher nur verlegen zu lispeln<br />

gewagt! Als sei es nicht gehört worden,<br />

wenn es auch nur diskret gehüstelt hat!<br />

Es ist wahr: Ohne die Solidarität des<br />

reichen <strong>Deutschland</strong>, das sich am Ende<br />

stets stöhnend zu den Milliardengarantien<br />

bereitfand, ginge Europa zugrunde.<br />

Mit ihm aber auch der kraftstrotzende<br />

Riese in s<strong>ein</strong>er Mitte. Warum reckt sich<br />

dann der deutsche Zeigefinger, der die<br />

darbenden europäischen Brüder und<br />

Schwestern mahnt, noch mehr zu sparen?<br />

Das ökonomische Muskelspiel vermengt<br />

sich ungut mit der nervenden Schulmeisterei,<br />

die es dringend nahelegt, mit Berlin<br />

und in Berlin Fraktur zu reden.<br />

Seit der Gründung des großpreußisch-kl<strong>ein</strong>deutschen<br />

Reiches – ausgerechnet<br />

in Versailles – ist das innereuropäische<br />

Gleichgewicht gefährdet. Die<br />

Diplomatie Bismarcks nach den drei „Einigungskriegen“<br />

war vom Bemühen bestimmt,<br />

dennoch <strong>ein</strong>e Art von Balance zu<br />

schaffen, die <strong>ein</strong>e friedliche Koexistenz<br />

der Großmächte erlaubte. S<strong>ein</strong> Werk<br />

überdauerte ihn nicht lang.<br />

Trotz der ungeheuerlichen Verluste,<br />

die der Koloss im Zweiten Weltkrieg erlitt<br />

– von denen s<strong>ein</strong>er Opfer zu schweigen<br />

–, ließ sich voraussehen, dass er <strong>ein</strong>es<br />

Tages s<strong>ein</strong>e Nachbarn wieder überragen<br />

werde. Zumindest durch s<strong>ein</strong> wirtschaftliches<br />

Potenzial und die Masse s<strong>ein</strong>er<br />

Menschen. Wache Akteure wie Winston<br />

Churchill, Jean Monnet, Robert<br />

Schuman oder Konrad Adenauer verstanden<br />

die Ver<strong>ein</strong>igung Europas als die<br />

<strong>ein</strong>zige Chance, das Ungetüm dauerhaft<br />

zu zähmen. Indes, der Zusammenschluss<br />

stockte nach der Geburt der gem<strong>ein</strong>samen<br />

Währung. Folgerichtig setzt sich der<br />

böse Mechanismus wieder in Gang: Die<br />

ökonomische Leistungsfähigkeit des Riesen<br />

weckt die Furcht vor s<strong>ein</strong>em bisher<br />

gottlob nicht klar formulierten hegemonialen<br />

Ehrgeiz.<br />

<strong>Der</strong> Ausbruch aus dem Teufelskreis<br />

kann uns nur durch den radikalen Abschied<br />

von der ohnedies illusionären Unabhängigkeit<br />

der Nationalstaaten gelingen.<br />

Dies verlangt von Frankreich – dem<br />

Partner, ohne den nichts gelingen kann –,<br />

dass es über s<strong>ein</strong>en Schatten springt und<br />

sich zu <strong>ein</strong>er Bündelung der Souveränitäten<br />

in <strong>ein</strong>er Föderation der Eurostaaten<br />

entschließt. Die Gleichberechtigung<br />

der Mitglieder des Bundes müsste <strong>ein</strong><br />

Senat garantieren, in dem – nach amerikanischem<br />

Vorbild – jeder Staat, ob<br />

kl<strong>ein</strong> oder groß, durch zwei Repräsentanten<br />

vertreten ist. Die Föderation verlangt<br />

<strong>ein</strong>en inneren Finanzausgleich, der<br />

so selbstverständlich s<strong>ein</strong> muss wie die<br />

gegenseitige Hilfe unter den deutschen<br />

Bundesländern.<br />

Das ist die Lage: Die Union wird zerfallen,<br />

wenn sich die Eurostaaten – mit<br />

ihnen Polen und, wenn es denn angeht,<br />

auch Tschechien – nicht zu <strong>ein</strong>em Bundesstaat<br />

zusammenfügen. Nirgendwo<br />

wären die Interessen der Deutschen besser<br />

aufgehoben als in der europäischen<br />

Föderation. Jede Etappe der Ver<strong>ein</strong>igung<br />

hat ihr Wohl gesteigert. Europa soll endlich<br />

Glück mit den Deutschen haben –<br />

und die Deutschen mit Europa.<br />

Klaus Harpprecht war von 1972<br />

bis 1974 Redenschreiber von Willy Brandt.<br />

Heute lebt er in Frankreich und verfolgt<br />

Europas Entwicklung mit wachsender Sorge<br />

84<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Kapital<br />

„ Sie ist zurückhaltend,<br />

bescheiden und<br />

humorvoll. Es gibt<br />

niemanden, der besser<br />

für den Job geeignet<br />

ist als sie “<br />

Andrew Rose, US-Ökonom, über s<strong>ein</strong>e Kollegin Janet Yellen, die im Februar<br />

als erste Frau an die Spitze der US-Notenbank rückt, Seite 86<br />

85<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Kapital<br />

Porträt<br />

Amerikas Mächtigste<br />

Janet Yellen wird Chefin der US-Notenbank. Sie selbst lebt ganz und gar in der Welt der<br />

Ökonomen. Aber ihr Blick reicht weiter: Sie will für die Menschen im Land etwas tun<br />

Von Til Knipper<br />

Foto: Mary F. Calvert/NYT/Redux/laif<br />

Im Jahr 1963 sollte in The Pilot, der<br />

Schülerzeitung der Fort Hamilton<br />

High School in Brooklyn, wie jedes<br />

Jahr <strong>ein</strong> Interview des besten Schülers<br />

der Abschlussklasse ersch<strong>ein</strong>en, geführt<br />

vom Chefredakteur. Es gab nur <strong>ein</strong> Problem:<br />

Janet Yellen hatte den mit Abstand<br />

besten Abschluss hingelegt und bekleidete<br />

gleichzeitig den Chefposten bei The<br />

Pilot. Yellen, selbstbewusst und pragmatisch,<br />

zögerte nicht lange: Sie führte das<br />

Interview <strong>ein</strong>fach mit sich selbst.<br />

Die New York Times zitierte kürzlich<br />

aus dem 50 Jahre alten Beitrag, er<br />

liegt in der Brooklyn Public Library und<br />

darf als Dokument der Zeitgeschichte betrachtet<br />

werden. Denn Janet Yellen, 67,<br />

ist von US‐Präsident Barack Obama als<br />

zukünftige Chefin der US‐Notenbank Federal<br />

Reserve nominiert worden. Wenn<br />

der Senat Yellen bestätigt, ist sie ab Februar<br />

2014 die mächtigste Frau der USA.<br />

In dem Interview mit sich selbst gibt<br />

sie als Hobby an: „Philosophische Werke<br />

lesen, um anschließend unpopuläre Essays<br />

schreiben zu können.“ K<strong>ein</strong>e Angst<br />

davor zu haben, unpopulär zu s<strong>ein</strong>, diese<br />

Eigenschaft wird Yellen im neuen Job<br />

helfen. Ihr Vorgänger, der jetzige Fed-<br />

Chef Ben Bernanke überlässt ihr <strong>ein</strong>e<br />

schwierige Ausgangsposition.<br />

Die Fed muss unter Yellen so schnell,<br />

aber auch so schonend wie möglich aus<br />

der Staatsfinanzierung per Notenpresse<br />

und der Unterstützung des amerikanischen<br />

Immobilienmarkts aussteigen. Bernanke<br />

kaufte US-Staatsanleihen und verbriefte<br />

Hypotheken. Die Bilanzsumme<br />

der Fed erhöhte sich seit 2008 von 900<br />

Milliarden Dollar dramatisch auf unglaubliche<br />

3,7 Billionen Dollar. Noch immer<br />

kommen jeden Monat Wertpapiere<br />

für 85 Milliarden Dollar dazu. Heikel<br />

wird es für Yellen, den richtigen Zeitpunkt<br />

zu finden. Steigt sie zu früh aus,<br />

würgt sie die gerade wieder anspringende<br />

US‐Konjunktur ab, zögert sie zu<br />

lange, fördert sie womöglich gefährliche<br />

Blasenbildungen an den Finanzmärkten.<br />

Beschweren kann sich die Neue bei<br />

ihrem Vorgänger nicht. Als Stellvertreterin<br />

Bernankes hat sie s<strong>ein</strong>e Politik des<br />

billigen Geldes seit 2010 mitgetragen.<br />

Yellen ist Ökonomin durch und durch.<br />

Ihr Lebenslauf liest sich wie die Musterbewerbung<br />

für das Amt des US‐Notenbankchefs.<br />

Nach ihrer Promotion in Yale<br />

lehrte sie in Harvard. Später unterrichtete<br />

sie am MIT in Boston, an der LSE in<br />

London und in Berkeley, alles Top-Adressen.<br />

Praktische und politische Erfahrung<br />

sammelte sie als Chefin der kalifornischen<br />

Notenbank und als oberste<br />

Wirtschaftsberaterin von Bill Clinton.<br />

„Es gibt niemanden, der besser für<br />

diesen Job qualifiziert ist als sie“, sagt<br />

der US-Ökonom Andrew Rose, der mit<br />

Yellen seit mehr als 20 Jahren befreundet<br />

ist und in Berkely häufig zusammengearbeitet<br />

hat. Gleichzeitig sei Yellen „zurückhaltend,<br />

bescheiden und humorvoll“.<br />

Yellen ist mit dem Wirtschaftsnobelpreisträger<br />

George Akerlof verheiratet.<br />

Sie lernte ihn ausgerechnet in der Kantine<br />

der Fed kennen, wo sie beide arbeiteten.<br />

Im Urlaub auf Hawaii liest sie lieber<br />

Fachbücher, als im Pazifik zu baden.<br />

<strong>Der</strong> Sohn Robert ist natürlich Ökonom,<br />

er lehrt an der Universität Warwick.<br />

Die Frau, deren Wirken das Leben von<br />

Millionen Menschen be<strong>ein</strong>flussen wird,<br />

lebt selbst also ganz und gar in der Welt<br />

der Ökonomie. Aber ihr Blick gilt dem Leben<br />

außerhalb. Yellen, die in Brooklyn als<br />

Tochter <strong>ein</strong>es Arztes und <strong>ein</strong>er Lehrerin<br />

aufwuchs, sagt selbst, dass ihr Doktorvater<br />

James Tobin, ebenfalls Nobelpreisträger<br />

und Erfinder der Finanztransaktionssteuer,<br />

ihre Denkweise am stärksten<br />

geprägt habe: „Er hat uns Studenten<br />

immer ermutigt, mit unserer Forschung<br />

das Leben der Menschen zu verbessern.“<br />

Unter Notenbankern gilt Yellen mit<br />

solchen Ansichten als „Taube“, als Verfechterin<br />

<strong>ein</strong>er weichen Geldpolitik, die<br />

im Zweifel lieber <strong>ein</strong>e etwas höhere Inflation<br />

in Kauf nimmt, als sich mit <strong>ein</strong>er<br />

hohen Arbeitslosigkeit abzufinden. Das<br />

sagte sie auch bei ihrer Nominierung im<br />

Weißen Haus: „Die Fed ist für alle Amerikaner<br />

da. Und noch immer gibt es viele,<br />

die k<strong>ein</strong>en Job haben.“<br />

Für solche Sätze lieben sie linke Demokraten.<br />

Sie hatten Obamas Favoriten<br />

für die Fed-Spitze, den ehemaligen<br />

US‐Finanzminister Larry Summers, verhindert,<br />

da er der Politik härtere Sparmaßnahmen<br />

abverlangt hätte. Ihre Fans<br />

sitzen aber auch an der Wall Street. Die<br />

Niedrigzinspolitik unter Bernanke hat<br />

den Aktienmärkten zu Rekordständen<br />

verholfen. Die Banken hoffen, dass Yellen<br />

die Politik ihres Vorgängers <strong>ein</strong>e<br />

Weile fortsetzt, zumindest solange die<br />

Beschäftigungskrise in den USA anhält.<br />

Dabei ist die Geldpolitik der Ära<br />

Bernanke umstritten. Gerade in Europa<br />

bei der Europäischen Zentralbank und<br />

noch mehr bei der Bundesbank beäugt<br />

man das Gelddrucken der USA skeptisch<br />

und beschwört Inflationsgefahren herauf.<br />

Mit solchen „Adlern“, die nur die Preisstabilität<br />

im Auge haben, wird sich Yellen<br />

auch im Senat und bei der Fed aus<strong>ein</strong>andersetzen<br />

müssen.<br />

Wie ihr neuer Lebensabschnitt in<br />

Washington aussehen wird, ahnte sie wohl<br />

schon 1963. In The Pilot beschrieb sie die<br />

US‐Hauptstadt nach <strong>ein</strong>em Schulausflug<br />

als „aufregend und anstrengend“.<br />

Til Knipper leitet das Ressort Kapital bei<br />

<strong>Cicero</strong>. Er war zwar nicht Jahrgangsbester,<br />

lernte s<strong>ein</strong>e Freundin aber auch in <strong>ein</strong>er<br />

Kantine kennen<br />

87<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Kapital<br />

Porträt<br />

Jenseits von Alheim<br />

In <strong>Deutschland</strong> ist die subventionierte Party der Solarenergiebranche vorbei –<br />

den hessischen Anlagenbauer Lars Kirchner zieht es daher nach Afrika<br />

Von Christian Sywottek<br />

Afrikas zukünftige Energieversorgung<br />

sieht aus wie <strong>ein</strong> Carport.<br />

Ein schräges Dach auf Metallstelzen,<br />

75 Quadratmeter groß, bedeckt mit<br />

Solarmodulen, die 22 Megawattstunden<br />

Strom im Jahr erzeugen. Darunter <strong>ein</strong><br />

zerschrammter Überseecontainer, vollgestopft<br />

mit Batterien, Wechselrichtern,<br />

Schaltschränken. Aus dem Container<br />

ragt <strong>ein</strong> Kabel – damit sucht Lars Kirchner<br />

Anschluss an die neue Zeit. „Wenn<br />

es klappt“, sagt der 42-jährige Solarunternehmer<br />

aus dem hessischen Alheim,<br />

„geht es um <strong>ein</strong>en dreistelligen Millionenbetrag.<br />

Und es wird klappen.“ Dieser<br />

sch<strong>ein</strong>bar wahnwitzige Plan, sich mit s<strong>ein</strong>em<br />

„Solar-Genset“ in Uganda <strong>ein</strong> neues<br />

Geschäft aufzubauen.<br />

Uganda soll Lars Kirchners neues<br />

Dorado werden. Das Land ist gespickt<br />

mit rund 3000 Mobilfunkmasten, knapp<br />

800 davon irgendwo im Nirgendwo, von<br />

Dieselgeneratoren mit Strom versorgt.<br />

Diesel aber ist teuer, s<strong>ein</strong> Transport<br />

kompliziert – Kirchner will die Masten<br />

mit s<strong>ein</strong>en Solargeneratoren ausrüsten.<br />

2000 Stück hat er sich vorgenommen in<br />

Uganda, Tansania und Kenia. Überschüssiger<br />

Strom soll bis zu 700 angrenzende<br />

Dörfer mit Energie versorgen. Zwei Anlagen<br />

stehen, für 60 Masten sind die Verträge<br />

unterschrieben.<br />

„Wir wollen uns unabhängiger machen<br />

von subventionierten Märkten“,<br />

sagt Kirchner. „Wir wollen dorthin, wo<br />

Solarstrom ohnehin markttauglich ist.“<br />

Denn der deutsche Solarmarkt kriselt.<br />

Sinkende Einspeisevergütungen drücken<br />

die Preise auch bei Installateuren,<br />

Umsätze und Gewinne sinken. Kirchners<br />

Unternehmen, die Kirchner Solar Group,<br />

beschäftigte zu besten Zeiten 240 Mitarbeiter,<br />

machte 190 Millionen Euro Umsatz.<br />

Heute sind es 150 Mitarbeiter, der<br />

Umsatz liegt bei 60 Millionen Euro.<br />

Aber Kirchner klagt nicht. Das hat<br />

er nie gemacht. Im Jahr 1991 gründete<br />

der Elektrotechniker <strong>ein</strong>en Laden, reparierte<br />

Radios und Fernsehgeräte. Er<br />

entwickelte Steuerungen für Kirchenglocken,<br />

baute Beleuchtungssysteme für<br />

Kirchen. Als <strong>ein</strong> Förster s<strong>ein</strong>e Hütte elektrifizieren<br />

wollte, machte Kirchner erste<br />

Erfahrungen mit der Fotovoltaik, baute<br />

schließlich netzunabhängige Selbstversorgersysteme<br />

für Boote und Wohnwagen.<br />

„Alles kam auf mich zu“, sagt Kirchner,<br />

„und ich habe nie N<strong>ein</strong> gesagt.“<br />

Seit der Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes<br />

(EEG) im Jahr<br />

2000 plant und montiert Kirchner Dachanlagen,<br />

baut Solarparks, ersinnt Beteiligungsangebote.<br />

„Wenn es Brei regnet,<br />

brauchst du <strong>ein</strong>en großen Löffel“, m<strong>ein</strong>t<br />

Kirchner. „Wir haben über Jahre nur gebaut,<br />

mit Wartelisten wie beim Zahnarzt.“<br />

Er verdient sehr gutes Geld, aber<br />

ihm ist früh klar, dass der Boom nicht<br />

unendlich ist.<br />

Im Jahr 2005 besucht er <strong>ein</strong>en Freund<br />

in Uganda, sieht überall die röhrenden<br />

Dieselgeneratoren, bemerkt die hohen<br />

Dieselpreise. Zurück in <strong>Deutschland</strong><br />

entwickelt er kl<strong>ein</strong>e, netzunabhängige<br />

Solarsysteme für Privatnutzer, die s<strong>ein</strong><br />

ugandischer Freund bald erfolgreich in<br />

drei Läden vertreibt. Auch weil Solarmodule<br />

billiger werden und Kirchner<br />

s<strong>ein</strong>e Systeme immer preisgünstiger anbieten<br />

kann. Vor knapp drei Jahren entschließt<br />

er sich, vor Ort <strong>ein</strong> Solarcenter<br />

zu bauen, für die Produktion und die<br />

Ausbildung eigener Mitarbeiter.<br />

Von Mobilfunkmasten ist da noch<br />

nicht die Rede. Auf diese Idee kommt er<br />

erst vor knapp zwei Jahren mit Fachleuten<br />

der Gesellschaft für Internationale<br />

Zusammenarbeit (GIZ) in Kampala, die<br />

Dörfer mit Sonnenenergie versorgen<br />

wollen. Weil Kirchner skeptisch ist, ob<br />

er dort genügend zahlungskräftige Kunden<br />

findet, ersinnen sie das Kombimodell<br />

mit den Masten, mit <strong>ein</strong>em verlässlichen<br />

Mobilfunkbetreiber als „Ankerkunde“.<br />

Kirchner entwickelt s<strong>ein</strong> Solar-Genset,<br />

baut das ugandische Solarcenter für<br />

vier Millionen Euro aus. Wohnhäuser,<br />

Schulungsräume, <strong>ein</strong>e Werkstatt, <strong>ein</strong>en<br />

40-Tonnen-Portalkran. Bis heute hat das<br />

hessische Unternehmen dort 15 <strong>ein</strong>heimische<br />

„Solarteure“ ausgebildet, von<br />

November dieses Jahres an sollen jährlich<br />

über 70 Auszubildende das Programm<br />

durchlaufen. Die GIZ wiederum<br />

spricht mit Behörden, besorgt Konzessionen<br />

– vor allem aber hat sie den Kontakt<br />

zum indischen Mobilfunkanbieter Airtel<br />

geknüpft, <strong>ein</strong>em der maßgeblichen Betreiber<br />

in Uganda.<br />

Nach den zwei Pilotanlagen steht in<br />

Uganda jetzt der landesweite Rollout an.<br />

In drei Jahren will er in Afrika Gewinn<br />

machen. Und wenn es doch nicht klappt?<br />

„Im schlimmsten Fall verliere ich Geld“,<br />

sagt Lars Kirchner ganz entspannt. Er<br />

kann es sich leisten. Er hat während des<br />

Booms genug Subventionsbrei gelöffelt.<br />

Christian Sywottek ist freier<br />

Journalist. Solarenergie fasziniert<br />

ihn schon, seitdem er als Kind mit<br />

Bratpfannen aus Alufolie experimentierte<br />

MYTHOS<br />

Mittelstand<br />

Was hat <strong>Deutschland</strong>,<br />

was andere nicht haben?<br />

Den Mittelstand!<br />

<strong>Cicero</strong> stellt in jeder Ausgabe<br />

<strong>ein</strong>en mittelständischen<br />

Unternehmer vor.<br />

Die bisherigen Porträts<br />

finden Sie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

Foto: Oliver Rüther für <strong>Cicero</strong><br />

88<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Kapital<br />

Porträt<br />

Vorbestrafter Schulabbrecher<br />

Weil René Benko dem Karstadt-Konzern drei Luxuskaufhäuser abgekauft hat, steht er<br />

im Rampenlicht. Dabei liegt dem Österreicher Transparenz ganz und gar nicht<br />

Von Hans-Peter Siebenhaar<br />

Foto: Picture Alliance/dpa<br />

Karstadt bedeutet Ärger. Noch<br />

prüft der angeschlagene Warenhausriese,<br />

welche s<strong>ein</strong>er Häuser<br />

er schließen wird. Eine Entscheidung<br />

ist noch nicht getroffen. Doch schon<br />

jetzt ist klar: <strong>Der</strong> Protest der insgesamt<br />

20 000 Mitarbeiter wird laut s<strong>ein</strong>. Die<br />

Gewerkschaft Verdi verlangt von den<br />

Karstadt-Eignern Nicolas Berggruen<br />

und René Benko transparente Entscheidungen.<br />

Doch Transparenz gehört nicht<br />

zu den Stärken des ungleichen Tandems,<br />

das über die Zukunft des traditionsreichen<br />

deutschen Warenhauskonzerns<br />

entscheidet.<br />

Die öffentliche Anteilnahme ist für<br />

den Österreicher René Benko neu. <strong>Der</strong><br />

36 Jahre alte Immobilienmagnat sucht<br />

nicht unbedingt das Sch<strong>ein</strong>werferlicht<br />

der Medien. Er arbeitet am liebsten hinter<br />

verschlossenen Türen. Damit ist der<br />

Selfmademan aus Tirol bislang hervorragend<br />

gefahren. S<strong>ein</strong>e Innsbrucker Firma<br />

Signa verwaltet nach eigenen Angaben<br />

<strong>ein</strong> Immobilienportfolio im Wert von<br />

über fünf Milliarden Euro – <strong>ein</strong>es der<br />

wertvollsten in Europa.<br />

Mit Kaufhausimmobilien kennt er<br />

sich auch aus. In Innsbruck, wo er mit<br />

s<strong>ein</strong>er Frau und s<strong>ein</strong>en zwei Kindern lebt,<br />

ließ er das Einkaufszentrum Tyrol für<br />

155 Millionen Euro errichten, entworfen<br />

vom britischen Stararchitekten David<br />

Chipperfield. <strong>Der</strong> baut für ihn auch<br />

gerade <strong>ein</strong> Luxuskaufhaus in Bozen, das<br />

2016 eröffnen soll. In Wien erwarb er<br />

von Banken Bürohäuser und bescherte<br />

der österreichischen Hauptstadt zahlreiche<br />

Luxusläden.<br />

Karstadt ist anders: Hier regieren<br />

Missgunst, Misstrauen und Misswirtschaft.<br />

Hier wird alles auf die öffentliche<br />

Bühne gezerrt. Das bekommt auch<br />

Benko zu spüren. In den vergangenen<br />

Wochen sah er sich, ganz entgegen s<strong>ein</strong>er<br />

Gewohnheit, mehrfach zu öffentlichen<br />

Stellungnahmen genötigt: „Wir werden<br />

in unsere Häuser investieren und gleichzeitig<br />

expandieren – und dazu weiteres<br />

Personal <strong>ein</strong>stellen“, versuchte er kürzlich<br />

Gerüchte um Filialschließungen<br />

zu dementieren. Doch das Misstrauen<br />

bleibt. Die Karstadt-Mitarbeiter haben<br />

in den vergangenen Jahren viel erzählt<br />

bekommen.<br />

Für Benko soll Karstadt s<strong>ein</strong> Meisterstück<br />

werden. Er will das bisherige<br />

Verlustgeschäft Warenhaus neu erfinden.<br />

Viel Geld hat er in das Projekt investiert.<br />

Im vergangenen Jahr erwarb er<br />

für über 1,1 Milliarden Euro die Immobilien<br />

von 17 Karstadt-Filialen. Im September<br />

kaufte er <strong>ein</strong>e Mehrheit von 75,1 Prozent<br />

der Karstadt Premium GmbH, zu<br />

der die drei Luxuskaufhäuser KaDeWe in<br />

Berlin, Alsterhaus in Hamburg und Oberpollinger<br />

in München gehören sowie die<br />

28 Sporthäuser. <strong>Der</strong> Verkaufspreis von<br />

300 Millionen Euro soll in die Modernisierung<br />

aller Karstadt-Warenhäuser fließen.<br />

„Das Geld kann nicht verpfändet,<br />

verliehen oder ausgeschüttet werden“,<br />

beteuert Benko. Gut die Hälfte fließt<br />

nach Medienberichten aber zurück in die<br />

Häuser der Karstadt Premium GmbH, sodass<br />

s<strong>ein</strong> Risiko bei dem jüngsten Deal<br />

überschaubar bleibt.<br />

Was er genau mit Karstadt vorhat,<br />

bleibt s<strong>ein</strong> Geheimnis. Ungewöhnlich<br />

ist für ihn, dass er diesmal nicht<br />

als r<strong>ein</strong>er Immobilieninvestor auftritt,<br />

sondern auch operativ in die Warenhauswelt<br />

<strong>ein</strong>tritt. In der Branche wird<br />

spekuliert, dass Benko die große Marktber<strong>ein</strong>igung<br />

im deutschen Warenhausgeschäft<br />

durchziehen will. <strong>Der</strong> Düsseldorfer<br />

Handelskonzern Metro wäre bereit,<br />

den Karstadt-Konkurrenten Kaufhof<br />

zu verkaufen, wenn die Bedingungen<br />

stimmen. Und Benko? <strong>Der</strong> hatte bereits<br />

2011 versucht, Kaufhof zu übernehmen.<br />

Die K. u. K.-Fusion mithilfe <strong>ein</strong>es Österreichers<br />

würde doch passen.<br />

In s<strong>ein</strong>er Heimat ist Benko <strong>ein</strong> Unternehmerstar,<br />

s<strong>ein</strong> Privatvermögen wird<br />

auf 550 Millionen Euro geschätzt. S<strong>ein</strong>en<br />

schillernden Lebensstil mit Privatjet<br />

und der Vorliebe für schnelle Autos<br />

sieht man hier auch nicht so eng. Einer,<br />

der mit 17 Jahren die Schule abbricht und<br />

es schlitzohrig schafft, sich aus <strong>ein</strong>em Beamtenelternhaus<br />

nach oben zu arbeiten,<br />

genießt in Österreich Respekt.<br />

Selbst das Strafverfahren gegen<br />

ihn hat nur kl<strong>ein</strong>ere Kratzer auf Benkos<br />

Image hinterlassen. Im August<br />

wurde Benko wegen „verbotener Intervention“<br />

zu <strong>ein</strong>er Bewährungsstrafe<br />

von zwölf Monaten verurteilt, weil er<br />

und s<strong>ein</strong> Steuerberater den ehemaligen<br />

kroatischen Regierungschef Ivo Sanader<br />

mit 150 000 Euro bestochen haben<br />

sollen, wenn er Benko in Italien in <strong>ein</strong>er<br />

heiklen Steuerangelegenheit helfen<br />

würde. Sanader selbst hatte damals s<strong>ein</strong>en<br />

Kontakt zum italienischen Premier<br />

Silvio Berlusconi angeboten.<br />

S<strong>ein</strong>em Netzwerk haben die juristischen<br />

Aus<strong>ein</strong>andersetzungen nicht nachhaltig<br />

geschadet. Im Signa-Beirat sitzen<br />

der frühere österreichische Bundeskanzler<br />

Alfred Gusenbauer, <strong>ein</strong> Sozialdemokrat,<br />

und der ehemalige Porsche-Chef<br />

Wendelin Wiedeking.<br />

Die Anerkennung und Wertschätzung<br />

der Wichtigen und Reichen sind ihm<br />

wichtig. „Was er überhaupt nicht leiden<br />

kann, ist Neid“, sagt <strong>ein</strong> Wiener Immobilienexperte.<br />

Schlimmer findet er nur Forderungen<br />

nach Transparenz.<br />

Hans-Peter Siebenhaar arbeitet<br />

als Korrespondent für Österreich und<br />

Südosteuropa des Handelsblatts in Wien<br />

91<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Kapital<br />

Essay<br />

Aufbruch<br />

nach<br />

Sperenberg<br />

<strong>Der</strong> Bau des Hauptstadt-Airports zeigt, dass politische<br />

Kultur und Planungskultur nicht mehr kompatibel<br />

sind. Mutig wäre es, <strong>ein</strong>en neuen Flughafen zu bauen,<br />

ohne politische Einflussnahme<br />

Von FALK JAEGER<br />

92<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


93<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013<br />

Präferenz der Planer:<br />

Sie hätten den BER<br />

lieber hier gebaut –<br />

in Sperenberg


Kapital<br />

Essay<br />

Fotos: Massimo Rodari/Berliner Morgenpost (Seiten 92 bis 94)<br />

Den Weltrekord hält noch<br />

immer die Oper in Sydney.<br />

Beim Bau des inzwischen<br />

weltberühmten<br />

Wahrzeichens der australischen<br />

Metropole wurden die Kosten um<br />

1400 Prozent überschritten. Verglichen<br />

damit steht das Bauvorhaben des Flughafens<br />

Berlin-Brandenburg BER noch gut<br />

da. Nach aktuellen Schätzungen liegt<br />

das Projekt erst rund 300 Prozent über<br />

Plan. Gesetzt den Fall, dass der Flughafen<br />

tatsächlich 2015 in Betrieb geht<br />

und die jetzt veranschlagten Baukosten<br />

von 5,1 Milliarden Euro nicht noch weiter<br />

steigen.<br />

Trotzdem eignet sich der Bau des zukünftigen<br />

Hauptstadtflughafens als Lehrbeispiel<br />

dafür, dass das auf kurzfristige<br />

Erfolge ausgelegte Handeln der Politik<br />

und die langfristige Planung <strong>ein</strong>es komplexen<br />

Infrastrukturprojekts nicht mehr<br />

mit<strong>ein</strong>ander in Einklang zu bringen sind.<br />

Warum versagt der Staat als Bauherr?<br />

Warum schaffen wir es als Gesellschaft<br />

nicht mehr, solche Großprojekte zu stemmen?<br />

Wie kommt es immer wieder zu<br />

derart hohen Kostenüberschreitungen?<br />

Am Bau des BER kann man sehen,<br />

was man alles falsch machen kann, aber<br />

vielleicht auch aus den gemachten Fehlern<br />

für die Zukunft lernen.<br />

<strong>Der</strong> Urfehler wurde bereits bei der<br />

Wahl des Standorts begangen: Hätte man<br />

die Planer entscheiden lassen, wäre der<br />

Flughafen nicht in Schönefeld, sondern<br />

in Sperenberg gebaut worden. Unkomplizierte<br />

Baubedingungen, kaum betroffene<br />

Anwohner sowie die Möglichkeit,<br />

bei Bedarf <strong>ein</strong>e dritte Startbahn zu<br />

bauen, sprachen für den ehemaligen Militärflughafen,<br />

rund 60 Kilometer südlich<br />

von Berlin.<br />

Die Politik entschied sich für Schönefeld.<br />

Die Folgen sind gravierend:<br />

Nachtflugverbot, Flugroutenprobleme,<br />

Lärmschutz; die wichtigsten Planungsentscheidungen<br />

treffen Richter statt Architekten.<br />

All<strong>ein</strong> mit den 570 Millionen<br />

Euro, die der gerichtlich angeordnete<br />

Lärmschutz kostet, hätte die Schnellbahn<br />

nach Sperenberg bezahlt werden können.<br />

Schönefelds Zukunft ist dagegen<br />

schon vor der Eröffnung des BER verbaut.<br />

<strong>Der</strong> neue Flughafen wird vom Start weg<br />

an der Grenze s<strong>ein</strong>er Kapazität arbeiten,<br />

<strong>Der</strong> alte Tower in Sperenberg:<br />

Wird hier doch noch <strong>ein</strong> echter<br />

Hauptstadtflughafen errichtet?<br />

die bei 27 Millionen Passagieren pro Jahr<br />

liegt. Zum Vergleich: 2012 verzeichneten<br />

Tegel und Schönefeld zusammen bereits<br />

25 Millionen Menschen. Bei 33 Millionen<br />

Fluggästen ist endgültig Schluss.<br />

Mehr dürfen mit zwei Startbahnen nicht<br />

befördert werden, auch dies rechtskräftig<br />

vor Gericht entschieden.<br />

Die Planer wissen aber schon jetzt:<br />

Eine dritte Startbahn oder <strong>ein</strong> neuer<br />

Flughafen muss her, eigentlich schon in<br />

fünf Jahren. Eine dritte Startbahn ist in<br />

Schönefeld politisch nicht durchsetzbar.<br />

Folglich müssen das Raumordnungsverfahren<br />

und die Planungen für <strong>ein</strong>en<br />

neuen Flughafen in Sperenberg sofort beginnen.<br />

Aber wo sind die Politiker, die<br />

bereit wären, <strong>ein</strong> solches Projekt überhaupt<br />

nur anzustoßen?<br />

Politische und planerische Agenda<br />

sind nicht mehr kompatibel. Wenn sich<br />

die brandenburgische Landesregierung<br />

urplötzlich für <strong>ein</strong> Nachtflugverbot<br />

94<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


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Essay<br />

Foto: Marc-Steffen Unger/bilderrepublik.de<br />

<strong>ein</strong>setzt, mag das im Hinblick auf die<br />

Landtagswahl im kommenden Herbst politisch<br />

opportun ersch<strong>ein</strong>en, mit der langfristigen<br />

Planung und dem wirtschaftlichen<br />

Betrieb des Flughafens ist es nicht<br />

ver<strong>ein</strong>bar. Wenn der BER statt 19 nur<br />

17 Stunden am Tag angeflogen werden<br />

kann, verringert sich die Betriebszeit um<br />

stattliche 11 Prozent. Es fehlen dadurch<br />

Möglichkeiten, den Flugbetrieb zu entzerren.<br />

Berlin bliebe so auch in Zukunft<br />

unattraktiv für die Fernverbindungen internationaler<br />

Fluggesellschaften, bei denen<br />

es häufiger zu Verspätungen kommt.<br />

Einen Hauptstadt-Airport, der mangels<br />

Flexibilität die Erreichbarkeit nicht garantieren<br />

kann, werden sie auch in Zukunft<br />

nicht anfliegen.<br />

<strong>Der</strong> Chef <strong>ein</strong>er Flughafengesellschaft<br />

wird aufgrund solcher Fehlentscheidungen<br />

ausgewechselt. Das planerische System<br />

verlangt das so. Gleichzeitig behalten<br />

aber die Politiker ihre Sitze im<br />

Aufsichtsrat, obwohl sie erwiesenermaßen<br />

persönlich ebenfalls für diese eklatanten<br />

Fehlentscheidungen verantwortlich<br />

sind. Ihr Schicksal unterliegt nicht<br />

planerischen, sondern politischen Entscheidungsmechanismen.<br />

Kann die Partei<br />

s<strong>ein</strong>en Rücktritt zum gegenwärtigen<br />

Zeitpunkt der Legislaturperiode verkraften?<br />

Steht <strong>ein</strong> Nachfolger parat? Wie<br />

sind die Erfolgsaussichten bei der nächsten<br />

Wahl ohne ihn?<br />

Wären beim Flughafen BER vor Jahresfrist<br />

alle Fakten auf <strong>ein</strong>en Schlag auf<br />

den Tisch gekommen, <strong>ein</strong> Tsunami der<br />

öffentlichen Empörung hätte den Flughafenvorstand<br />

und die Politiker an der<br />

Spitze des Aufsichtsrats aus allen Ämtern<br />

gefegt. Wer Baustopps und Kostensteigerungen<br />

in Milliardenhöhe zu verantworten<br />

hat, gehört auf die Anklage-,<br />

nicht auf die Regierungsbank.<br />

Aber Berlins Regierendem Bürgermeister<br />

Klaus Wowereit, Matthias<br />

Platzeck, dem inzwischen aus gesundheitlichen<br />

Gründen zurückgetretenen<br />

Ministerpräsidenten aus Brandenburg,<br />

sowie Bundesverkehrsminister Peter<br />

Ramsauer und dessen Staatssekretär<br />

Rainer Bomba gelang es immer wieder,<br />

die Wogen zu glätten, abzutauchen, abzuwarten,<br />

Fehler zu verschleiern oder<br />

Entschlossenheit zu simulieren.<br />

Milliardengrab BER: Die Kosten<br />

des neuen Hauptstadtflughafens<br />

liegen 300 Prozent über Plan<br />

In der Krise nahm Wowereit das<br />

„Heft des politischen Handelns“ in die<br />

Hand, bewies vor den Fernsehkameras<br />

Tatkraft und entließ kurzerhand die<br />

Architekten samt Projektwissen von<br />

300 Planern. Als die Sache schiefging,<br />

trat er in die Deckung des Gremiums zurück:<br />

<strong>Der</strong> gesamte Aufsichtsrat habe das<br />

beschlossen. Persönliche Konsequenzen<br />

Wowereits? K<strong>ein</strong>e!<br />

Auch die verschleppte Entlassung<br />

des Flughafenchefs Rainer Schwarz war<br />

<strong>ein</strong> politisch genialer Schachzug Wowereits.<br />

Als Aufsichtsratsvorsitzender übernahm<br />

Wowereit die Verantwortung, allerdings<br />

nur durch den kl<strong>ein</strong>stmöglichen<br />

Rücktritt, <strong>ein</strong>er Rochade an der Spitze<br />

des Aufsichtsrats. Wowereit selbst war als<br />

neuer stellvertretender Vorsitzender aus<br />

der Schusslinie, aber weiter am Drücker,<br />

Platzeck konnte als neuer Aufsichtsratschef<br />

mit mehr B<strong>ein</strong>freiheit agieren. Die<br />

Beschwichtigungstaktik funktionierte so<br />

96<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


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gut, dass Wowereit nach dem Rücktritt<br />

s<strong>ein</strong>es Nachfolgers Platzeck automatisch<br />

wieder den vorläufigen Vorsitz <strong>ein</strong>nehmen<br />

konnte, unter dem Achselzucken der<br />

Öffentlichkeit.<br />

<strong>Der</strong> Bildungsforscher Gerd Gigerenzer<br />

nennt <strong>ein</strong> solches politisches Verhalten<br />

„defensives Entscheiden“. Entschieden<br />

wird nicht, was der Sache dient,<br />

sondern was das persönliche Risiko<br />

minimiert.<br />

Defensive Entscheider gibt es aber<br />

auch auf der Planungsseite. <strong>Horst</strong> Amann,<br />

der Technikchef der Flughafengesellschaft,<br />

beschäftigt sich, seitdem er im<br />

Amt ist, mit für ihn risikolosen Bestandsaufnahmen.<br />

Nach über<strong>ein</strong>stimmendem<br />

Urteil vieler derzeit am Bau Beteiligter<br />

fehlt ihm, dem Tiefbauer, die notwendige<br />

Managementkompetenz. S<strong>ein</strong> Vorgesetzter,<br />

der als Feuerwehrmann geholte Ex-<br />

Bahn- und Ex-Air-Berlin-Chef Hartmut<br />

Mehdorn, hat dies rasch erkannt und will<br />

ihn auswechseln. Amanns Unterstützer<br />

sitzen im Bundesverkehrsministerium.<br />

Staatssekretär Bomba hat Amann installiert,<br />

dessen Ablösung würde ihm politisch<br />

schaden.<br />

<strong>Der</strong> Unsinn hat Methode. Kaum <strong>ein</strong><br />

öffentliches Bauvorhaben geht mit <strong>ein</strong>em<br />

realistischen Kostenansatz in die<br />

politische Diskussion. Das ist k<strong>ein</strong> typisch<br />

deutsches Phänomen. Bent Flyvbjerg,<br />

Professor für Planungswesen in Oxford,<br />

hat mehr als 250 Großprojekte, die<br />

weltweit realisiert wurden, untersucht.<br />

Bei neun von zehn dieser Projekte wurden<br />

die vorher budgetierten Kosten überschritten,<br />

im Schnitt um <strong>ein</strong> Drittel. Das<br />

Problem besteht fast immer darin, dass<br />

Kosten und Bauzeit kl<strong>ein</strong>gerechnet werden<br />

und gleichzeitig der wirtschaftliche<br />

Nutzen viel zu optimistisch dargestellt<br />

wird. Flyvbjerg besch<strong>ein</strong>igt den Politikern<br />

dabei „<strong>ein</strong>e kognitive Verzerrung<br />

der Wahrnehmung der Realität“. Auch<br />

die Planer spielen das Spiel mit, weil<br />

<strong>ein</strong> unverzerrtes Angebot k<strong>ein</strong>e Chance<br />

hätte, den Zuschlag zu erhalten.<br />

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Unterschrift<br />

Kann von der Gesellschaft erwartet<br />

werden, dass sie die ständige Kostenüberschreitung<br />

akzeptiert? Sie fatale<br />

Fehlentscheidungen der politisch Verantwortlichen<br />

klaglos hinnimmt? Weil man<br />

den Politikern nicht vorwerfen kann,<br />

dass der Bau <strong>ein</strong>es Flughafens in s<strong>ein</strong>er


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braucht s<strong>ein</strong>e Zeit. Zeit, die die Politik<br />

oft nicht hat. Es darf aber nicht s<strong>ein</strong>, dass<br />

komplexe, länger dauernde Bauvorhaben,<br />

die fast immer mehr als <strong>ein</strong>e Legislaturperiode<br />

in Anspruch nehmen, durch Politiker<br />

im Ablauf gestört werden.<br />

Nüchternen Pragmatismus könnten<br />

sie sich bei Hartmut Mehdorn abgucken.<br />

<strong>Der</strong> jetzige Flughafenchef ist <strong>ein</strong> wunderbarer<br />

Protagonist des planerischen<br />

Systems. Dass er vor Jahren in s<strong>ein</strong>er<br />

Funktion als Bahnchef mit dem Flughafenarchitekten<br />

M<strong>ein</strong>hard von Gerkan<br />

beim Bau des Berliner Hauptbahnhofs<br />

im Clinch lag, kümmert ihn heute wenig.<br />

Werden die Architekten gebraucht,<br />

um den Flughafen zu Ende zu bauen, holt<br />

er sie eben wieder ins Boot. Persönliche<br />

Befindlichkeiten haben in der Planung<br />

nichts zu suchen, das weiß Mehdorn.<br />

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Wie<br />

stark ist<br />

schwach?<br />

Grafik: <strong>Cicero</strong><br />

MELLENSEE<br />

SPERENBERG<br />

Berlin<br />

Berlin<br />

wunsdorf<br />

Schönefeld 21 km<br />

Sperenberg 60 km<br />

Komplexität von der Politik nicht mehr<br />

gemeistert werden kann? Weil Planungskultur<br />

und politische Kultur nicht mehr<br />

zur Deckung gebracht werden können?<br />

Sicher nicht, Flyvbjerg schlägt vor,<br />

dass die Teilnehmer öffentlicher Ausschreibungen<br />

die Mehrkosten, die bei<br />

vergleichbaren, bereits realisierten Bauprojekten<br />

entstanden sind, in ihre Kostenvoranschläge<br />

<strong>ein</strong>rechnen müssen. In<br />

Großbritannien ist dies bereits erfolgreich<br />

ausprobiert worden. Die Prognose<br />

der Kosten kann dadurch verbessert,<br />

von vornher<strong>ein</strong> unsinnige Projekte<br />

schon in der Ausschreibungsphase beendet<br />

werden.<br />

Mindestens genauso wichtig ist es<br />

aber, dass beim Bau das planerische Handeln<br />

über das politische gestellt werden<br />

muss. Kurzfristiger politischer Aktionismus<br />

ist bei komplexen Infrastrukturprojekten<br />

fehl am Platze. Nicht umsonst<br />

heißt der planerische Grundsatz: „Erst<br />

die Pläne, dann die Kräne.“ Bauen ohne<br />

endgültige Pläne ist wie Fliegen, ohne zu<br />

wissen, wo man landen könnte. Bauen<br />

Die Politik hingegen ist dazu nicht<br />

in der Lage. Die noch immer prekären<br />

Verhältnisse in der Flughafengesellschaft<br />

und im Planungsprozess schreien<br />

nach planerischen und personalpolitischen<br />

Konsequenzen. Solange es Agierende<br />

gibt, die mehr Interesse daran haben,<br />

ihre bisherigen Fehler zu vertuschen,<br />

wird das gem<strong>ein</strong>same Ziel aber nicht mit<br />

allen Kräften angestrebt werden.<br />

Beim Management von Großprojekten<br />

sind Politiker Laiendarsteller<br />

mit Kurzzeitengagement. Um künftig<br />

Großprojekte stemmen zu können, muss<br />

der Staat politikferne Strukturen aufbauen.<br />

Privatwirtschaftlich organisierte<br />

Baumanagementbüros, erfahren bei der<br />

Errichtung internationaler Großprojekte,<br />

müssen den Bauunternehmern, Architekten<br />

und Planern als kompetenter Auftraggeber<br />

gegenübersitzen und auch juristisch<br />

Paroli bieten können.<br />

In die Vorstände und Aufsichtsräte<br />

solcher Büros gehören Fachleute, die <strong>ein</strong>e<br />

wirksame Kontrolle ausüben können.<br />

Denn dass die Berliner Flughafengesellschaft<br />

dem Aufsichtsrat die Planungsmisere<br />

lange Jahre verschwiegen hat, entschuldigt<br />

Wowereit, Platzeck und Bomba<br />

in k<strong>ein</strong>er Weise. Es dokumentiert vielmehr<br />

deren epochales Versagen.<br />

Falk Jaeger ist Architekturkritiker<br />

und hat das Planungsdesaster um den<br />

neuen Berliner Flughafen von Anfang<br />

an publizistisch begleitet<br />

Wenn David auf Goliath trifft, hat er die<br />

Wahl: Spielt er nach dessen Regeln,<br />

verliert er. Bricht er die Regeln der Macht,<br />

zwingt er den Riesen in die Knie. Kultautor<br />

Malcolm Gladwell zeigt: Underdogs sind<br />

Gewinner! Weil Triumph k<strong>ein</strong>e Frage der<br />

Größe, sondern der inneren Haltung ist.<br />

2013. 256 Seiten. Gebunden,<br />

inklusive E-Book, € 19,99<br />

Auch separat als E-Book<br />

und Hörbuch erhältlich<br />

QR-Code zu der Leseprobe<br />

http://tinyqr.com/4p<br />

99<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Kapital<br />

Kommentar<br />

Bankers Wahrheit<br />

Von H<strong>ein</strong>z-Roger Dohms<br />

Wenn Banken stärker reguliert werden, können sie angeblich<br />

nicht mehr so viele Kredite vergeben. Stimmt das?<br />

Die Finanzindustrie postuliert <strong>ein</strong>e Wahrheit, die gar k<strong>ein</strong>e ist.<br />

Sie wird von Bankmanagern und Branchenvertretern verbreitet,<br />

durchzieht Reden und Interviews, findet sich in Studien<br />

und Aufsätzen, prägt die öffentliche M<strong>ein</strong>ung und be<strong>ein</strong>flusst<br />

das politische Handeln – sie lautet:<br />

Je höher die vorgeschriebene Eigenkapitalquote ist, desto<br />

weniger Kredite können die Banken vergeben. Das führt zu geringerem<br />

Wachstum und höherer Arbeitslosigkeit.<br />

Mit welcher Chuzpe dies propagiert wird, zeigt sich<br />

daran, dass die Banken so tun, als handle es sich gar nicht um<br />

<strong>ein</strong>e These – sondern um <strong>ein</strong>en Fakt. Nehmen wir als Beispiel<br />

die wohl <strong>ein</strong>flussreichste Untersuchung dazu. Sie wurde im<br />

Juni 2010 vom Institute of International Finance, dem globalen<br />

Lobbyverband der Finanzbranche, präsentiert und begann so:<br />

„In den vergangenen Monaten sind etliche Reformvorschläge<br />

zur Regulierung der globalen Bankenindustrie vorgelegt<br />

worden. Die herrschende M<strong>ein</strong>ung ist, dass der ökonomische<br />

Preis für diese Reformen, wie hoch er auch s<strong>ein</strong><br />

mag, gezahlt werden muss – damit der Ausbruch künftiger<br />

Krisen weniger wahrsch<strong>ein</strong>lich wird; oder zumindest deren<br />

ökonomische Folgekosten geringer ausfallen. Es ist nicht Ziel<br />

dieses Berichts, sich grundsätzlich gegen tiefgreifende Reformen<br />

zu stellen. Stattdessen geht es uns darum, die Kosten<br />

dieser Reformen zu berechnen, zum <strong>ein</strong>en in Bezug auf das<br />

Bruttoinlandsprodukt, zum anderen in Bezug auf verlorene<br />

Arbeitsplätze.“<br />

<strong>Der</strong> Zielkonflikt zwischen Bankenstabilität und Wirtschaftswachstum<br />

wird als gegeben vorausgesetzt. All<strong>ein</strong><br />

die quantitativen Folgen gelte es zu kalkulieren. Das Ergebnis<br />

der Untersuchung lautet: Die Bankenregulierung vernichte<br />

weltweit zehn Millionen Jobs und koste all<strong>ein</strong> in Europa<br />

fast 5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Aber gibt es diesen<br />

Zielkonflikt wirklich? Müssen wir die Banken in Ruhe lassen,<br />

um Millionen von Menschen vor der Arbeitslosigkeit zu<br />

bewahren?<br />

In der Regulierungsdebatte geht es im Kern um die Eigenkapitalquote<br />

– das heißt um die Frage, über wie viel eigenes<br />

Geld <strong>ein</strong>e Bank gemessen an ihren Risiken verfügen muss. Es<br />

gab <strong>ein</strong>mal Zeiten, da lag diese Quote bei mehr als 15 Prozent.<br />

Illustration: Florian <strong>Bayer</strong><br />

100<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Wenn sich alle<br />

<strong>ein</strong>ig sind, fangen<br />

wir an zu zweifeln.<br />

SPIEGEL-Leser wissen mehr.


Kapital<br />

Kommentar<br />

Einen Konflikt zwischen<br />

Eigenkapitalquote und<br />

Kreditversorgung, also<br />

zwischen Bankenstabilität<br />

und Wirtschaftswachstum<br />

gibt es gar nicht<br />

In heutiger Währung ausgedrückt, gehörten den Banken von<br />

100 Euro, die sie verliehen, also immerhin 15 Euro selbst, zum<br />

Beispiel in Form ausgegebener Aktien oder <strong>ein</strong>behaltener Gewinne.<br />

Die übrigen 85 Euro liehen sich die Institute ihrerseits,<br />

etwa von Sparern oder Anleihegläubigern.<br />

Bis 2007, also bis zu den Anfängen der Finanzkrise, sank<br />

dieses Verhältnis dramatisch von 15 : 85 auf 3 : 97. Nur noch<br />

3 Prozent ihrer Risiken trugen die Banken mit eigenem Geld,<br />

die übrigen 97 Prozent borgten sie sich. Das bedeutet: Die Risiken,<br />

also die Kredite, brauchten nur 3 Prozent an Wert zu verlieren<br />

– und schon drohte die Insolvenz der Geldinstitute. Genau<br />

deshalb fielen Banken 2007 und 2008 gleich reihenweise<br />

um. Sie hatten nicht genügend Eigenkapital, um Kreditausfälle<br />

ausgleichen zu können.<br />

Daher leuchtet es nicht <strong>ein</strong>, warum die Eigenkapitalquoten<br />

der Banken auch in Zukunft so viel niedriger s<strong>ein</strong> sollen als die<br />

der Unternehmen, die sie finanzieren. Bei den Dax-Unternehmen<br />

hat sie sich von 2007 bis 2012 auf rund 35 Prozent verbessert.<br />

„Falls diese Zahl himmelschreiend kl<strong>ein</strong> ersch<strong>ein</strong>t, liegt<br />

das daran, dass sie himmelschreiend kl<strong>ein</strong> ist“, schreiben die<br />

Ökonomen Martin Hellwig und Anat Admati in ihrem gerade<br />

auf Deutsch erschienenen Buch „Des Bankers neue Kleider“.<br />

Die Banken versuchen trotzdem weiter in dicken Studien<br />

darzulegen, dass bereits <strong>ein</strong>e minimale Erhöhung dieser Quote<br />

die Vernichtung von Millionen Jobs zur Folge hat. Die Finanzindustrie<br />

sagt, sie arbeite lieber mit Fremdkapital, weil Fremdkapital<br />

billig sei. Entsprechend günstige Kredite könne sie den<br />

Unternehmen gewähren, zum Wohle des Arbeitsmarkts. Aus<br />

volkswirtschaftlicher Perspektive gelte deshalb folgende Prämisse:<br />

So viel Fremdkapital wie möglich. Und nicht mehr Eigenkapital<br />

als nötig.<br />

Die Lobbyarbeit der Banken war bisher erfolgreich. Die<br />

Öffentlichkeit hat ihre Sichtweise übernommen. In den Medien<br />

wird der Begriff „Eigenkapital“ inzwischen fast immer<br />

mit dem Verb „vorhalten“ verbunden. Dabei ist das Quatsch.<br />

K<strong>ein</strong>e Bank „hält Eigenkapital vor“. Eigenkapital ist k<strong>ein</strong>e Reserve,<br />

die brachliegt und droht, im Tresor zu vergammeln. Es<br />

fließt genauso wie das Fremdkapital in Kredite, die der Realwirtschaft<br />

zugutekommen.<br />

Nun gut, sagen die Banker – aber trotzdem ist Eigenkapital<br />

teuer, jedenfalls teurer als Fremdkapital. Tatsächlich verbindet<br />

der Aktionär (Eigenkapital) mit s<strong>ein</strong>em Investment <strong>ein</strong>e<br />

höhere Renditeerwartung als der Anleihegläubiger (Fremdkapital)<br />

– schließlich trägt er auch <strong>ein</strong> höheres Verlustrisiko, weil<br />

das Eigenkapital bei Kreditausfällen als Erstes herangezogen<br />

wird. Aber die extremen Kostenunterschiede zwischen Eigenund<br />

Fremdkapital sind, anders als es die Banken darstellen,<br />

<strong>ein</strong> Argument für höheres Eigenkapital. Denn Fremdkapital<br />

ist vor allem deshalb so billig, weil es subventioniert wird –<br />

etwa indem der Staat explizit für die Einlagen der Sparer <strong>ein</strong>steht<br />

und implizit auch die Anleihegläubiger absichert. Deswegen<br />

hat er Banken wie die Hypo Real Estate und viele andere<br />

in der Krise gerettet.<br />

Das Eigenkapital hingegen ist für die Banken gerade deshalb<br />

so teuer, weil sie so wenig davon halten. Teilt man das<br />

Verlustrisiko nämlich durch drei Aktionäre, dann ist das Risiko<br />

für den <strong>ein</strong>zelnen größer, als wenn es sich auf 15 Aktionäre<br />

verteilt. Dieses Risiko lassen sich die Aktionäre von der<br />

Bank bisher durch höhere Renditen bezahlen.<br />

Mit steigender Menge müsste sich das Eigenkapital eigentlich<br />

verbilligen. Eine dadurch stabilere Bank kann sich aber<br />

auch das Fremdkapital billiger besorgen, weil die Sparer ihr<br />

Geld lieber dorthin bringen.<br />

Den Zielkonflikt zwischen Eigenkapitalquote und Kreditversorgung,<br />

also zwischen Bankenstabilität und Wirtschaftswachstum,<br />

gibt es gar nicht.<br />

Dies belegen inzwischen auch empirische Studien: Die<br />

Bank of England veröffentlichte kürzlich <strong>ein</strong>e Analyse, die<br />

zeigt, dass 2012 ausgerechnet jene europäischen Banken ihre<br />

Darlehensvergabe am stärksten ausweiteten, die über die höchsten<br />

Eigenkapitalquoten verfügten – und umgekehrt. „<strong>Der</strong> Zusammenhang<br />

ist eklatant“, sagte Mark Carney, Großbritanniens<br />

neuer Notenbankchef. Zu <strong>ein</strong>em ähnlichen Ergebnis kamen<br />

im Sommer Forscher des Internationalen Währungsfonds. Sie<br />

fanden heraus, dass es gerade die Banken mit viel Eigenkapital<br />

sind, die die Wirtschaft auch in schwierigen Zeiten mit Krediten<br />

versorgen.<br />

Ja, aber – sagen die Banker nun: Wo sollen wir denn all das<br />

frische Eigenkapital herholen? Gerade in Krisenzeiten investiert<br />

doch niemand in uns. Doch stimmt das? Zwischen 1980<br />

und 2007, also in den fetten Jahren der Finanzindustrie, hätten<br />

die großen US-Banken nur sieben Kapitalerhöhungen vorgenommen.<br />

Seit 2007 hingegen waren es schon 18, die Kapitalinfusionen<br />

durch den Staat nicht <strong>ein</strong>gerechnet. Es geht also<br />

offenkundig eher ums Wollen als ums Können.<br />

Doch warum wollen die Banken nicht? Nicht nur der Verlust<br />

ist, aufgeteilt auf drei Aktionäre, größer, als wenn man ihn<br />

auf 15 Aktionäre verteilt – auch der Gewinn. Je weniger eigenes<br />

Geld die Banken <strong>ein</strong>setzen müssen, desto höher liegen<br />

die eigenen Renditen. Von Banken, denen es nur darum geht,<br />

ihre Gewinne zu maximieren, hat die Realwirtschaft allerdings<br />

nichts. Das ist <strong>ein</strong>e Wahrheit, die die Bankenindustrie der Öffentlichkeit<br />

aber am liebsten verschweigt.<br />

H<strong>ein</strong>z-Roger Dohms beobachtet als Finanzjournalist seit<br />

Jahren die Bankenszene in Frankfurt<br />

102<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Stil<br />

„ Mama mochte<br />

New York, hier riefen<br />

ihr die Frauen auf der<br />

Straße ‚I love you!‘ zu und<br />

gingen <strong>ein</strong>fach weiter “<br />

Isabella Rossellini über ihre Mutter, die Schauspielerin Ingrid Bergman.<br />

Sie hat ihr <strong>ein</strong>en Bildband gewidmet, Seite 112<br />

103<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Stil<br />

Porträt<br />

Die Früchte des Roth<br />

Den besten W<strong>ein</strong> an Amerikas Ostküste macht <strong>ein</strong> deutscher Winzer. So ist es auch<br />

Roman Roths Verdienst, dass Long Island inzwischen als anerkanntes Anbaugebiet gilt<br />

Von Jürgen Kalwa<br />

Foto: Bill Milne<br />

<strong>Der</strong> Hauptgang war abgeräumt, und<br />

die Dinnergäste warteten aufs<br />

Dessert. Da setzte sich <strong>ein</strong>er der<br />

Gäste an den Flügel, der im American<br />

Hotel in Sag Harbor mitten im Restaurant<br />

steht, und stachelte die zentrale Figur des<br />

Abends an. Roman Roth solle doch aus<br />

dem Stegreif <strong>ein</strong> paar alte deutsche W<strong>ein</strong>lieder<br />

zum Besten geben.<br />

Zuvor hatte der Deutsche, der heute<br />

als bester Winzer an der Ostküste der<br />

USA gilt, beim Degustationsmenü vor jedem<br />

Gang routiniert die Facetten s<strong>ein</strong>er<br />

W<strong>ein</strong>e ausgeführt. Doch wer verwöhnten<br />

Amerikanern etwas verkaufen will, muss<br />

sich als Entertainer betätigen. Glücklicherweise<br />

hat der ehemalige Chorknabe<br />

aus Rottweil, <strong>ein</strong>er Stadt zwischen<br />

Schwarzwald und Schwäbischer Alb, das<br />

richtige Talent für solche Augenblicke. Er<br />

singt mit <strong>ein</strong>em Tenor, der so viel Körper<br />

hat wie s<strong>ein</strong> bester Merlot.<br />

Nicht zuletzt durch Roths Pionierleistung<br />

ist die Region Long Island im<br />

vergangenen Jahrzehnt zum ernst zu<br />

nehmenden W<strong>ein</strong>anbaugebiet geworden.<br />

Anfang der Neunziger heuerte der<br />

ehemalige Geselle <strong>ein</strong>er badischen Winzergenossenschaft<br />

bei Christian Wölffer<br />

an, <strong>ein</strong>em Hamburger Unternehmer,<br />

der sich in den Kopf gesetzt hatte, auf<br />

s<strong>ein</strong>er Farm in Bridgehampton im Staat<br />

New York W<strong>ein</strong> anzubauen. Durch s<strong>ein</strong>e<br />

Arbeit im Keller von Wölffer Estate hat<br />

Roth seither den Stil der W<strong>ein</strong>e der Region<br />

geprägt, als Kontrastprogramm zu<br />

opulenten und fruchtbetonten W<strong>ein</strong>en<br />

aus Kalifornien. „Es ist kühler im Sommer<br />

auf Long Island“, sagt er, was am Atlantik<br />

liege. „Das sorgt für Eleganz und<br />

Lebendigkeit.“<br />

Die ehemaligen Kartoffeläcker, die<br />

inzwischen zum Wölffer Estate gehören,<br />

liegen in Sagaponack, <strong>ein</strong>em Dorf,<br />

das den Hamptons zugerechnet wird,<br />

dem idyllischen Sommerkosmos wohlhabender<br />

New Yorker. In den Fünfzigern<br />

und Sechzigern mischten sich hier<br />

zuerst die Schriftsteller unter die Bauern<br />

und Fischer, da schöne Holzhäuser<br />

nah am Meer damals für weniger als<br />

50 000 Dollar zu haben waren. Truman<br />

Capote kam, um s<strong>ein</strong>em anstrengenden<br />

New Yorker Gesellschaftsleben zu entfliehen.<br />

Kurt Vonnegut lebte bis zu s<strong>ein</strong>em<br />

Tod in Sagaponack. <strong>Der</strong> legendäre<br />

James Salter hat hier draußen <strong>ein</strong>en großen<br />

New-York-Roman geschrieben, der<br />

gerade auf Deutsch unter dem Titel „Alles,<br />

was ist“ veröffentlicht wurde.<br />

Heute hingegen ist es k<strong>ein</strong> Problem,<br />

in Sagaponack mehr als 50 Millionen<br />

Dollar für <strong>ein</strong> Haus auszugeben.<br />

Die Hedgefondsmanager und Goldman-Sachs-Partner<br />

haben den <strong>ein</strong>st verschlafenen<br />

Ort entdeckt, was manche bedauern,<br />

da sie die gelben Ferraris und oft<br />

mehr als tausend Quadratmeter großen<br />

Villen als geschmacklos empfinden – was<br />

aber zweifellos gut für die örtlichen Winzer<br />

ist, da auf den Festen der Geldelite<br />

mehr getrunken wird als auf den Terrassen<br />

der Schriftsteller.<br />

Trank man bis vor etwa <strong>ein</strong>em Jahrzehnt<br />

den örtlichen W<strong>ein</strong> nur gelegentlich<br />

aus ironisch-fatalistischem Lokalpatriotismus,<br />

ist er hier draußen nun sehr<br />

begehrt. <strong>Der</strong> Durchbruch, bei dem die<br />

Wölffer-W<strong>ein</strong>e der Region den Weg ebneten,<br />

ist hart erarbeitet. Roth erinnert<br />

sich noch, wie er von New Yorker Sommeliers<br />

rüde abgewimmelt wurde: „Die<br />

Leute wollten W<strong>ein</strong> aus Long Island nicht<br />

mal probieren.“ Heute ist das anders. Für<br />

s<strong>ein</strong>en Spitzenw<strong>ein</strong>, den streng limitierten<br />

Merlot „Christian’s Cuvee“, nach<br />

Gutsgründer Christian Wölffer benannt,<br />

verlangt Roth 100 Dollar die Flasche, <strong>ein</strong>e<br />

Rekordmarke für W<strong>ein</strong>e aus dem Staat<br />

New York – was s<strong>ein</strong>e Kunden nicht<br />

abschreckt: „Sie sind eher stolz, dass<br />

New York <strong>ein</strong>en solchen W<strong>ein</strong> produziert.“<br />

Christian Wölffer starb am Silvesterabend<br />

2008 bei <strong>ein</strong>em Bootsunfall<br />

vor der brasilianischen Küste. Doch s<strong>ein</strong><br />

Long-Island-Imperium, zu dem noch<br />

<strong>ein</strong>e Reitanlage und Pferdeställe gehören,<br />

floriert unter Roths Leitung weiter.<br />

Das W<strong>ein</strong>gut wuchs bis heute auf <strong>ein</strong>e<br />

Fläche von 22 Hektar an, die Produktion<br />

von 500 auf mehr als 25 000 Kisten. Das<br />

ist auch auf die Experimentierfreude des<br />

deutschen Kellermeisters zurückzuführen.<br />

Einen gehobenen Schaumw<strong>ein</strong> produziert<br />

er schon, ebenso <strong>ein</strong>en Apfelw<strong>ein</strong>,<br />

den „Big Apple Wine“. Bald wird<br />

er noch <strong>ein</strong>en aus Chardonnay destillierten<br />

Brandy auf den Markt bringen.<br />

Als Wölffer ihn <strong>ein</strong>stellte, erinnert<br />

sich Roth, gab dieser folgende Devise<br />

vor: „Du kannst anschaffen, was<br />

du brauchst, du kannst machen, was du<br />

willst. Du musst nur sicherstellen, dass<br />

du den besten W<strong>ein</strong> produzierst, der hier<br />

draußen möglich ist.“ Die Vorgabe erfüllt<br />

Roth auch mit s<strong>ein</strong>em eigenen W<strong>ein</strong>,<br />

den er unter dem Label „The Grapes<br />

of Roth“ produziert. <strong>Der</strong> Name ist <strong>ein</strong><br />

Wortspiel auf den Titel des berühmtesten<br />

Romans von John St<strong>ein</strong>beck („The<br />

Grapes of Wrath“, auf Deutsch: „Früchte<br />

des Zorns“), der zuletzt in Sag Harbor<br />

lebte, im selben Ort, in dem auch Roth<br />

zu Hause ist. Dem ersten Jahrgang Merlot<br />

aus dieser Reihe verlieh der Wine Advocate,<br />

das Journal des <strong>ein</strong>flussreichen<br />

Kritikers Robert Parker, gleich 92 von<br />

möglichen 100 Punkten. K<strong>ein</strong> W<strong>ein</strong> aus<br />

dem Bundesstaat New York wurde bislang<br />

höher bewertet.<br />

Jürgen Kalwa lebt seit über 30 Jahren<br />

in New York und Connecticut. Er schreibt<br />

als freier Autor über amerikanischen<br />

Lebensstil<br />

105<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Stil<br />

Report<br />

Brachiale<br />

Gentlemen<br />

Sie rauben Juwelen, aber sie töten nicht. Und wenn mal <strong>ein</strong>er<br />

gefasst wird, redet er nicht. Oder er wird befreit. So haben<br />

die Pink Panther in den vergangenen Jahren Juwelen im<br />

Wert von insgesamt mehr als 330 Millionen Euro erbeutet<br />

Von Sabine Catherine Kray<br />

106<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Illustration: Leif Heanzo<br />

<strong>Der</strong> 15. April 2007. Ein verschlafener<br />

Sonntag, kurz<br />

vor Ladenschluss im Wafi-Einkaufszentrum<br />

in Dubai.<br />

Plötzlich zerschlägt <strong>ein</strong><br />

schwarzer Audi die gläserne Eingangstür.<br />

Durch den Scherbenregen folgt <strong>ein</strong> zweiter<br />

Wagen, diesmal <strong>ein</strong> weißer Audi. Die<br />

Limousinen halten an, maskierte Männer<br />

springen heraus. Dann rast der weiße<br />

Audi in das Schaufenster des Juweliers<br />

Graff. Vier Maskierte stürmen durch die<br />

zerstörten Fenster in das Geschäft. Die<br />

Besucher des Einkaufszentrums starren<br />

wie gelähmt auf das Spektakel, <strong>ein</strong>ige<br />

kramen ihre Handys heraus, um das<br />

Ungeheuerliche festzuhalten. Das gleich<br />

wieder vorbei ist.<br />

Die Kameraaufnahmen aus dem Juweliergeschäft<br />

zeigen später, wie die vier<br />

Männer die Scheiben der Vitrinen mit<br />

Hämmern zerschlagen und die Beute in<br />

Säcke stopfen. Die Zeitanzeige am unteren<br />

Rand der Aufnahme läuft mit. Kaum<br />

mehr als <strong>ein</strong>e Minute vergeht, bevor <strong>ein</strong><br />

lautes Hupen die Männer zurück in die<br />

Autos beordert. Wenig später ersch<strong>ein</strong>t<br />

<strong>ein</strong> Handyvideo des Coups auf Youtube.<br />

Es war nicht das erste Mal, dass die<br />

Pink Panthers den Juwelier Graff heimsuchten.<br />

Bereits im Jahr 2003 erfolgte<br />

<strong>ein</strong> Überfall auf dessen Londoner Filiale.<br />

Zwei Männer betraten das Geschäft<br />

und zwangen die Angestellten, Juwelen<br />

im Wert von 23 Millionen Euro herauszugeben.<br />

Doch der Raub ging schief. Einer<br />

der Räuber wurde noch vor Ort von <strong>ein</strong>em<br />

Wachmann überwältigt. <strong>Der</strong> zweite<br />

konnte mit der Beute entkommen, bevor<br />

er <strong>ein</strong>ige Monate später ebenfalls gefasst<br />

wurde. Die Juwelen wurden bei <strong>ein</strong>em<br />

Komplizen sichergestellt, unter anderem<br />

<strong>ein</strong> blauer Diamantring im Wert von<br />

750 000 Dollar – versteckt in <strong>ein</strong>em Tiegel<br />

Gesichtscreme.<br />

Ist dieses Versteck als aktiver Beitrag<br />

zur eigenen Legendenbildung zu verstehen?<br />

Genauso sichert nämlich auch<br />

Mrs. Litton die Beute, die Ehefrau des<br />

„Phantoms“ in „<strong>Der</strong> rosarote Panther<br />

kehrt zurück“ von Blake Edwards aus<br />

dem Jahr 1975. Als die Presse von diesem<br />

Filmzitat erfuhr, stand der Name<br />

fest. Selbst Interpol verwendet ihn<br />

für die Bande, die bis heute auf über<br />

340 Raubzügen in 35 Ländern mehr als<br />

330 Millionen Euro erbeutet hat. Parallelen<br />

zu den großen L<strong>ein</strong>wanddramen<br />

über Juwelendiebe sind jedoch nicht nur<br />

in den akribisch geplanten Einbrüchen<br />

zu finden. Auch die Herkunft der Gangster,<br />

ihr Schweigeethos und der Hunger<br />

nach dem besseren Leben erinnern an<br />

die Helden sogenannter „Heist“-Filme<br />

wie „Rififi“ von 1955, „Top Job“ von<br />

1966 oder „<strong>Der</strong> Coup“ von 1971. <strong>Der</strong><br />

Begriff „Heist“ bedeutet übersetzt so<br />

viel wie „Raub“ oder „Coup“.<br />

<strong>Der</strong> Plot dieser Filme zeichnet sich<br />

durch die detaillierte Beschreibung der<br />

Planung, Realisierung und dem Nachspiel<br />

<strong>ein</strong>es Raubes aus. Die Protagonisten<br />

dieser Filme sind von der Gesellschaft<br />

vernachlässigte Jugendliche und Kriegsveteranen.<br />

Traumatisierte Männer, die<br />

sich vom großen Coup <strong>ein</strong> besseres Leben<br />

versprechen – es jedoch selten finden.<br />

Das Ende des klassischen „Heist“-Filmes<br />

ist tragisch, nicht selten sterben fast alle<br />

Protagonisten im Streit um die Beute<br />

oder auf der Flucht vor der Polizei. Anders<br />

als im wirklichen Leben, denn die<br />

Überfälle der Pink Panther verlaufen in<br />

107<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Stil<br />

Report<br />

der Regel nach Plan. Tote gibt es nicht.<br />

Das haben die Gentlemen-Räuber nicht<br />

nötig. Festnahmen und die Wiederbeschaffung<br />

der Beute sind Ausnahmen.<br />

Dabei werden ihre Coups mit jedem Jahr<br />

verwegener – wobei <strong>ein</strong> gewisser Trend<br />

zur Ver<strong>ein</strong>fachung, zum Minimalismus<br />

zu beobachten ist.<br />

2005 zum Beispiel überfallen zwei<br />

als Touristen getarnte Männer jugoslawischer<br />

Herkunft den Juwelier Julian in<br />

St. Tropez: Sie betreten den Laden in Hawaiihemden<br />

und Badeshorts. Ihre Beute<br />

sind Uhren und Schmuck im Wert von<br />

mehreren Hunderttausend Euro. Die<br />

Flucht gelingt per Schnellboot.<br />

An <strong>ein</strong>em sonnigen Samstagnachmittag<br />

im Mai des Jahres 2009 dann betritt<br />

<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zelner Herr von etwa 50 Jahren<br />

den Flagshipstore des Juweliers Chopard<br />

in Paris. Elegant, vielleicht <strong>ein</strong> wenig<br />

altmodisch, in Anzug und Filzhut, erweckt<br />

er bei den Mitarbeitern k<strong>ein</strong>erlei<br />

Argwohn – bis er <strong>ein</strong>e Waffe zieht und<br />

sie instruiert, welche Schmuckstücke er<br />

mitzunehmen gedenkt. Nur zwei Minuten<br />

später und ohne Aufheben verlässt<br />

er mit <strong>ein</strong>er Beute im Wert von sechs<br />

Diamanten<br />

bekommen von<br />

Juwelieren<br />

<strong>ein</strong>e zertifizierte<br />

Identität.<br />

Werden sie zur<br />

Beute, muss<br />

diese zerstört<br />

werden<br />

Millionen Euro das Geschäft. Vom Tatort<br />

entfernt er sich zu Fuß. Weder der<br />

vornehme Dieb noch die Beute sind seitdem<br />

wieder aufgetaucht.<br />

Im Juni dieses Jahres wird Cannes<br />

zum Schauplatz. Auch diesmal verschafft<br />

sich <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zelner Mann über <strong>ein</strong>e Terrassentür<br />

Zugang zur Ausstellung „Extraordinary<br />

Diamonds“ des israelischen<br />

Milliardärs und Diamantenhändlers Lev<br />

Avnerovich Leviev und zwingt die Mitarbeiter,<br />

die soeben die Vitrinen bestückten,<br />

mit <strong>ein</strong>er Pistole zur Herausgabe<br />

von Juwelen im Wert von 103 Millionen<br />

Euro. Innerhalb weniger Minuten hat er<br />

das Gebäude wieder verlassen. Von Täter<br />

und Beute fehlt jede Spur.<br />

<strong>Der</strong> Diebstahl von Juwelen unterscheidet<br />

sich von anderen Formen des<br />

Raubes durch <strong>ein</strong> schillerndes Geflecht<br />

von Mythen, die sich <strong>ein</strong>erseits um die<br />

Schmuckstücke ranken, andererseits<br />

um die Akteure. Das Image der leuchtenden<br />

St<strong>ein</strong>e färbt selbst auf den Dieb<br />

ab. Und weil kostbare Juwelen Inbegriff<br />

des Überflusses sind, ersch<strong>ein</strong>t ihr Raub<br />

in den Augen vieler weniger verwerflich<br />

als andere Formen der Kriminalität.<br />

Illustration: Leif Heanzo<br />

108<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Anzeige<br />

Sogar auf die Opfer wirkt die Besessenheit<br />

der Diebe manchmal sympathisch:<br />

Im Jahr 1671 machte der Dieb<br />

und Unruhestifter Thomas Blood den<br />

Versuch, die englischen Kronjuwelen zu<br />

stehlen und scheiterte. Bei s<strong>ein</strong>er Festnahme,<br />

die ihn bis an den Galgen hätte<br />

bringen können, bestand er darauf, den<br />

König zu sprechen. Begeistert von solcher<br />

Kühnheit, begnadigte dieser den<br />

Dieb, stattete ihn mit <strong>ein</strong>em wertvollen<br />

Landsitz in Irland aus und machte ihn<br />

zum gern gesehenen Gast bei Hofe.<br />

Mitglieder der Pink Panther können<br />

auf derart prominente Fürsprache<br />

nicht zählen, wenn sie verhaftet werden.<br />

Aber sie können sich auf ihre Komplizen<br />

verlassen. Vier Panther sind bisher von<br />

anderen Mitgliedern der Bande befreit<br />

worden. Drei von ihnen wurden schnell<br />

wieder aufgegriffen, nur <strong>ein</strong>er genießt<br />

noch immer die zurückgewonnene Freiheit.<br />

S<strong>ein</strong> Name ist Dragan Mikic.<br />

S<strong>ein</strong>e Komplizen befreiten ihn im<br />

Jahr 2005 aus dem Gefängnis in Villefranche-sur-Saône,<br />

wo er für drei Raubüberfälle<br />

aus den Jahren 2001 und 2003<br />

<strong>ein</strong>saß. S<strong>ein</strong>e Verhaftung lag erst <strong>ein</strong>ige<br />

Monate zurück, er hatte gerade <strong>ein</strong>e Anhörung<br />

bei der Staatsanwaltschaft hinter<br />

sich, da löste sich Mikic auf <strong>ein</strong>em Parkplatz<br />

von s<strong>ein</strong>en Bewachern. Als er auf<br />

<strong>ein</strong>e Grundschule zurannte, stoppte ihn<br />

<strong>ein</strong>er der Beamten mit <strong>ein</strong>em Schuss ins<br />

B<strong>ein</strong>. Nach s<strong>ein</strong>er Genesung wurde der<br />

freiheitsliebende Mikic in <strong>ein</strong> verm<strong>ein</strong>tlich<br />

sichereres Gefängnis gebracht – eben<br />

jenes in Villefranche-sur-Saône.<br />

Dort saß er zwei Jahre. Dann kam<br />

es zur Befreiung: Zwei Männer fuhren<br />

mit <strong>ein</strong>em weißen Pick-up-Truck vor, drei<br />

Leitern, <strong>ein</strong>er Drahtschere und <strong>ein</strong>er Kalaschnikow.<br />

Die erste Leiter verhalf <strong>ein</strong>em<br />

der Komplizen auf die Gefängnismauer,<br />

von wo aus er den Wachturm mit<br />

der Kalaschnikow unter Sperrfeuer nahm.<br />

S<strong>ein</strong> Kollege warf die zweite Leiter sowie<br />

die Drahtschere über die Mauer, hinter<br />

der Mikic wartete. Mit der Schere durchdrang<br />

er <strong>ein</strong>en Stacheldrahtzaun, dann<br />

kletterte er über die Leiter auf die Mauer.<br />

Auf der anderen Seite fand er die dritte<br />

Leiter, über die er auf die Straße gelangte<br />

und mit s<strong>ein</strong>en Komplizen verschwand.<br />

Auch diese Aktion ist bemerkenswert<br />

aufgrund ihrer b<strong>ein</strong>ahe altmodischen<br />

Simplizität: k<strong>ein</strong>e Hubschrauber, sondern<br />

zwei Gauner mit drei Leitern, <strong>ein</strong>em Gewehr<br />

und <strong>ein</strong>er Schere.<br />

Die meisten der Pink Panther stammen<br />

aus Montenegro oder Serbien. Viele<br />

kennen sich aus Jugendtagen, die von der<br />

Gewalt der Balkankriege geprägt waren.<br />

Ihr routinierter Umgang mit Waffen<br />

legt nach Einschätzung von Interpol<br />

nahe, dass <strong>ein</strong>ige von ihnen auch an den<br />

Kampfhandlungen teilgenommen haben<br />

und über <strong>ein</strong>e militärische Ausbildung<br />

verfügen. Arbeitslos und ohne Perspektive<br />

standen viele Serben Mitte der<br />

neunziger Jahre vor den Trümmern ihrer<br />

Heimat, die infolge der Zerstörung durch<br />

die Kriege und auch der Sanktionen des<br />

Westens k<strong>ein</strong>e Perspektive mehr zu bieten<br />

hatte. Die Regale in den Geschäften<br />

waren leer, die Fabriken geschlossen.<br />

Kriminalität wurde zum Alltag, die <strong>ein</strong>zige<br />

Möglichkeit, an etliche Gebrauchsartikel<br />

zu kommen, führte über den<br />

Schwarzmarkt.<br />

Die Panther begannen zu schmuggeln.<br />

Heroin und Waffen brachten sie<br />

über die Adria nach Italien, wo sie von<br />

der Mafia übernommen und weiterverkauft<br />

wurden. Sie brachten Benzin, Zigaretten,<br />

Jeans und andere Gebrauchsgegenstände<br />

in das von Sanktionen<br />

ausgezehrte Serbien und verkauften<br />

die Ware auf dem Schwarzmarkt. Das<br />

Geschäft war gefährlich, doch es war<br />

ertragreich und katapultierte die jungen<br />

Bandenmitglieder in <strong>ein</strong> exzessives<br />

Partyleben. Später unternahmen sie<br />

Raubüberfälle.<br />

In ihren Strukturen entspricht die<br />

Pink-Panther-Bande nicht der Mafia mit<br />

ihren gewalttätigen und allmächtigen<br />

Bossen. Es handelt sich um <strong>ein</strong> sehr dezentral<br />

organisiertes Verbrechen, <strong>ein</strong>e Hydra,<br />

die sich aus <strong>ein</strong>er Vielzahl <strong>ein</strong>zelner Banden<br />

aus verschiedenen Regionen in Serbien<br />

und Montenegro zusammensetzt.<br />

Insgesamt sind vermutlich 200 Menschen<br />

beteiligt, <strong>ein</strong>en Boss gibt es nicht.<br />

Wie der belgische Ermittler André Notredame<br />

dem New Yorker berichtete, besteht<br />

der Kern der Organisation aus etwa<br />

20 bis 30 erfahrenen Räubern. Erwischt<br />

werden in der Regel die kl<strong>ein</strong>en Fische,<br />

die ausführenden Kräfte, die mit Planung<br />

und Organisation kaum etwas zu<br />

tun haben.<br />

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JUNGHANS – DIE DEUTSCHE UHR<br />

109<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Stil<br />

Report<br />

Im Dokumentarfilm „Smash and<br />

Grab“ der britischen Regisseurin Havana<br />

Marking nennt <strong>ein</strong> Pink Panther,<br />

der anonym interviewt wird, diesen inneren<br />

Kreis „Die Familie“. <strong>Der</strong>en Rolle<br />

ist es, gegen <strong>ein</strong>en Anteil an der Beute<br />

Hinweise auf lukrative Ziele unter den<br />

verschiedenen Gruppen zu verteilen.<br />

Denn im Gegensatz zum simplen Vorgehen<br />

der Bande und der brachialen<br />

Umsetzung der Raubzüge werden diese<br />

durchaus akribisch vorbereitet. In ausgeklügelten<br />

Netzwerken hat jeder s<strong>ein</strong>e<br />

spezifische Aufgabe, die erst in Zusammenarbeit<br />

mit anderen zum Erfolg<br />

führt. Laut dem britischen Daily Mirror<br />

gibt es folgende Akteure in der Organisation:<br />

Die sogenannten „Birdwatchers“<br />

recherchieren Ziele, Technikexperten<br />

kümmern sich um Alarmsysteme und<br />

Tresore, Überwachungsteams beobachten<br />

wochenlang die ins Visier genommenen<br />

Juweliere. Eine entscheidende Rolle<br />

spielen auch Vermittler, die sich vor Ort<br />

um die Organisation der Coups kümmern.<br />

Sie besorgen Pässe, Hotelzimmer,<br />

Flüge und lokale Handlanger.<br />

Nach <strong>ein</strong>em erfolgreichen Raubzug<br />

wird die Beute nach Serbien gebracht,<br />

wo das „weiße Glas“, wie die Panther<br />

die St<strong>ein</strong>e nennen, aus den Schmuckstücken<br />

herausgenommen und umgeschliffen<br />

wird. So werden die Juwelen zwar<br />

kl<strong>ein</strong>er und ihr Wert gemindert, doch<br />

ihre Herkunft ist nicht mehr zu ermitteln,<br />

denn Diamanten verfügen über Zertifikate,<br />

die ihre Eigenschaften protokollieren<br />

und beglaubigen. Die entscheidenden<br />

Informationen sind die vier C – Carat,<br />

Color, Clarity und Cut. Zu Deutsch:<br />

Größe, Farbe, R<strong>ein</strong>heit und Schliff.<br />

Mithilfe von Lasertechnologie werden<br />

Unternehmenslogo und Identifikationsnummer<br />

mikroskopisch f<strong>ein</strong> in die<br />

Rundiste des St<strong>ein</strong>es <strong>ein</strong>gearbeitet, die<br />

Stelle des St<strong>ein</strong>es, die den größten Durchmesser<br />

hat.<br />

Wird <strong>ein</strong> St<strong>ein</strong> zur Prüfung in <strong>ein</strong> sogenanntes<br />

Gemmologisches Institut gebracht,<br />

können Spezialisten diese Kennzeichnung<br />

auslesen. Die St<strong>ein</strong>e aus dem<br />

Londoner Graff-Raub von 2003, die offenbar<br />

nicht oder nicht ausreichend<br />

umgeschliffen worden waren, wurden<br />

schließlich in <strong>ein</strong>em Institut in New York<br />

identifiziert. Wie sich herausstellte, waren<br />

sie aus Israel dorthin verkauft worden. Mit<br />

<strong>ein</strong>er neuen Identität und gefälschten Zertifikaten<br />

werden die neuen St<strong>ein</strong>e also von<br />

Hehlern auf den Schmuckmarkt gebracht.<br />

Die Panther erhalten ihren Anteil am zu<br />

erwartenden Erlös innerhalb weniger Tage.<br />

Durch den An- und Verkauf von gastronomischen<br />

Betrieben und Immobilien in<br />

Serbien wird dieses Geld dann gewaschen.<br />

Trotz der losen Struktur und des<br />

weit verzweigten Netzwerks der Bande<br />

sch<strong>ein</strong>t aufgrund der gem<strong>ein</strong>samen Vergangenheit<br />

<strong>ein</strong>e unerschütterbare Loyalität<br />

zu bestehen, die für alle Beteiligten<br />

bindend ist. Und <strong>ein</strong>es verbindet sie<br />

doch mit der Mafia: Wer von der Polizei<br />

gefasst wird, der redet nicht, wer es doch<br />

tut, hat mit dem Schlimmsten zu rechnen.<br />

Danny Boyle, der britische Regisseur,<br />

der „Trainspotting“ und „Slumdog<br />

Millionaire“ verfilmt hat, will die Geschichte<br />

der Pink Panther jetzt übrigens<br />

wieder auf die Kinol<strong>ein</strong>wand bringen.<br />

Sabine Catherine KrayS Roman über<br />

<strong>ein</strong>en Juwelendieb ersch<strong>ein</strong>t im nächsten<br />

Frühjahr bei der Frankfurter Verlagsanstalt<br />

Illustration: Leif Heanzo<br />

110<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Elegant durch das Jahr 2014<br />

<strong>Cicero</strong><br />

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des Widerrufs. <strong>Cicero</strong> ist <strong>ein</strong>e Publikation der Ringier Publishing GmbH, Friedrichstraße 140, 10117 Berlin, Geschäftsführer Michael<br />

Voss. *Preise zzgl. Versandkosten von 2,95 € im Inland, Angebot und Preise gelten im Inland, Auslandspreise auf Anfrage.<br />

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20080 Hamburg<br />

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Ich bin <strong>ein</strong>verstanden, dass <strong>Cicero</strong> und die Ringier Publishing GmbH mich per Telefon oder E-Mail über interessante Angebote des<br />

Verlags informieren. Vorstehende Einwilligung kann durch das Senden <strong>ein</strong>er E-Mail an abo@cicero.de oder postalisch an den <strong>Cicero</strong>-<br />

Leserservice, 20080 Hamburg, jederzeit widerrufen werden.<br />

Datum<br />

Unterschrift


Stil<br />

Begegnung<br />

Hüterin des<br />

FamilienschatzES<br />

Von Claudia St<strong>ein</strong>berg<br />

Isabella Rossellini spricht über die Arbeit am<br />

prächtigen Bildband „Ein Leben in Bildern“, den<br />

sie ihrer Mutter Ingrid Bergman gewidmet hat<br />

Geschmeidig und diskret navigiert<br />

die Frau im dunklen<br />

Anzug im gut besuchten<br />

Café des Peninsula<br />

Hotels in Midtown Manhattan<br />

und setzt sich mit <strong>ein</strong>em leisen<br />

Lächeln an den Tisch. Blicke perlen an<br />

Isabella Rossellini ab wie Wassertropfen<br />

an Glas. Als Kind erlebte sie, wie Leute<br />

ihre Mutter im Aufzug anstarrten und<br />

über sie sprachen, als stünde sie gar nicht<br />

neben ihnen: „M<strong>ein</strong> Gott, das ist Ingrid<br />

Bergman – sie sieht so viel älter aus als<br />

im Kino!“ In Rom, dem Geburtsort der<br />

Paparazzi, verursachte der Hollywoodstar<br />

<strong>ein</strong> Verkehrschaos, wenn sie ihre<br />

Zwillinge Isabella und Isotta zur Schule<br />

brachte. „Mama mochte New York, hier<br />

riefen ihr die Frauen auf der Straße<br />

‚I love you!‘ zu und gingen <strong>ein</strong>fach weiter“,<br />

erinnert sich Rossellini, die als das<br />

Gesicht von Lancôme und als Star von<br />

David Lynchs „Blue Velvet“ selbst zur<br />

Ikone wurde.<br />

Doch in diesen Tagen ist die vor<br />

31 Jahren gestorbene Mutter für die Filmemacherin<br />

und Schauspielerin wieder<br />

höchst präsent: Um der erwarteten Flut<br />

von Publikationen zu Ingrid Bergmans<br />

100. Geburtstag 2015 zuvorzukommen,<br />

ist Isabella Rossellini mit dem Verleger<br />

Lothar Schirmer in die Tiefen des Bergman-Archivs<br />

an der Wesleyan University<br />

in Massachusetts hinabgetaucht und<br />

hat mehr als 400, zum Teil nie veröffentlichte<br />

Bilder zutage gefördert. Nicht nur<br />

die berühmten Fotos von Avedon, Penn<br />

und <strong>Horst</strong>, sondern Porträts, die Ingrids<br />

Vater, der Stockholmer Fotograf Justus<br />

Samuel Bergman, von s<strong>ein</strong>er meist<br />

als Junge gekleideten Tochter machte;<br />

Schwarz-Weiß-Souvenirs von <strong>ein</strong>em<br />

Sommer als Teenager am See, so sinnlich<br />

gegenwärtig, dass sie aus <strong>ein</strong>er gar<br />

nicht fernen Vergangenheit zu stammen<br />

sch<strong>ein</strong>en; Rollenspiele der jungen Schauspielerin,<br />

die sie mit der Kamera des früh<br />

verstorbenen Vaters per Selbstauslöser<br />

dokumentierte; und kolorierte Publicitybilder<br />

von „Casablanca“, dem wohl<br />

berühmtesten Schwarz-Weiß-Epos der<br />

Filmgeschichte.<br />

„Es gab viele Überraschungen“, sagt<br />

Isabella Rossellini, „aber auf Geheimnisse<br />

bin ich nicht mehr gestoßen.“ Die<br />

letzten hatte Ingrid Bergman in ihrer Autobiografie<br />

verraten. „Sie gab mir das<br />

Manuskript zu lesen, und so erfuhr ich<br />

von ihrer Affäre mit Robert Capa – ‚das<br />

war m<strong>ein</strong> Traum – so <strong>ein</strong> faszinierender<br />

Mann!‘, sagte ich damals zu ihr.“ Ingrid<br />

Bergman zog es vor, ihre eigene Version<br />

der Liebesgeschichte mit dem Reportagefotografen<br />

zu gestehen, als sie den Spekulationen<br />

der Nachwelt zu überlassen.<br />

Zu den Entdeckungen, die ihr die<br />

Tage in dem schon von Bergman wohl<br />

geordneten Archiv bescherten, zählt<br />

Foto: Vittorio Zunino Celotto/ Getty Images<br />

112<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


„Im Traum versuche ich,<br />

m<strong>ein</strong>e Mutter aufzuwecken,<br />

aber sie sagt:<br />

‚Lass mich, ich bin tot‘“<br />

Isabella Rossellini über Ingrid Bergman<br />

113<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Stil<br />

Begegnung<br />

die Einsicht, wie modern die Mutter<br />

war. „Ihre Zeitgenossinnen trugen fast<br />

alle das Make-up ihrer Ära, aber Mama<br />

kann man mit ihrem fast ungeschminkten<br />

Gesicht und ihrer schlichten Kleidung<br />

kaum datieren“, m<strong>ein</strong>t die selbst fast ungeschminkte<br />

61-Jährige.<br />

Unerwartet war für sie die Vehemenz,<br />

mit der Ingrid Bergman ihre Doppelrolle<br />

als Mutter und Filmstar gegenüber<br />

Ingmar Bergman verteidigte, wie sie<br />

aus Liv Ullmanns Beitrag zum Buch erfuhr.<br />

Bei den Dreharbeiten zur „Herbstsonate“<br />

verlangte der Regisseur, dass<br />

Ingrid Bergman sich in die Haut der Tochter,<br />

die sich durch den Beruf der Mutter<br />

vernachlässigt fühlt, versetzen sollte.<br />

„Mama wurde sehr böse und sagte, sie<br />

hätte <strong>ein</strong>er solchen Tochter <strong>ein</strong>e Ohrfeige<br />

verpasst, denn jeder sei für s<strong>ein</strong> eigenes<br />

Leben verantwortlich. Ingmar war<br />

<strong>ein</strong> fantastischer Filmemacher, aber <strong>ein</strong><br />

Mann s<strong>ein</strong>er Epoche, während Mama<br />

<strong>ein</strong>e Frau der Avantgarde war, die Kinder<br />

und Karriere ver<strong>ein</strong>barte – es war<br />

großartig, das zu lesen.“<br />

Doch als Feministin verstand sich Ingrid<br />

Bergman nie: „In finanziellen Angelegenheiten<br />

war sie ganz <strong>ein</strong>e Frau ihrer<br />

Generation – sie überließ die Geldangelegenheiten<br />

grundsätzlich den Männern“,<br />

sagt Rossellini. Dabei war sie immer die<br />

Hauptverdienerin, sie bezahlte Schulden,<br />

rettete <strong>ein</strong> vom Zwangsverkauf bedrohtes<br />

Haus und gab den Kindern trotz dauernder<br />

monetärer Nöte <strong>ein</strong> Gefühl der<br />

Ein Künstlerleben in Bildern:<br />

Ingrid Bergman in der Rolle<br />

der Schwester Benedict<br />

in „The Bells of St. Mary’s“,<br />

<strong>ein</strong>er Hollywoodproduktion<br />

von 1945. Mit ihren<br />

Zwillingen in Rom, 1952<br />

Sicherheit – mit leichter Hand, denn Geld<br />

bedeutete ihr nicht viel: Sie wunderte<br />

sich vielmehr darüber, für <strong>ein</strong>e Beschäftigung<br />

bezahlt zu werden, die sie liebte.<br />

Wenn Isabella Rossellini von ihren<br />

Eltern träumt, dann sieht sie ihre Mutter<br />

schlafend. „Ich versuche, sie aufzuwecken,<br />

aber sie sagt: ‚Lass mich, ich bin<br />

tot.‘ Sie war so lange krank, dass sie ihr<br />

Schicksal akzeptierte.“ Ihr Vater Roberto<br />

Rossellini hingegen ersch<strong>ein</strong>t ihr als rastlos.<br />

„‚Ich liebe das Leben‘, sagt er zu mir.“<br />

Er starb so schnell, wie er s<strong>ein</strong>en Ferrari<br />

fuhr, hatte die Mutter gem<strong>ein</strong>t, an <strong>ein</strong>em<br />

Fotos: Fabrizio Ferri/Schirmer Mosel Verlag, Chim Seymour/Schirmer Mosel Verlag<br />

114<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Herzinfarkt mit 71, man hatte ihn gerade<br />

zum Präsidenten des Filmfestivals von<br />

Cannes ernannt. Zu s<strong>ein</strong>em 100. Geburtstag<br />

widmete sie ihm k<strong>ein</strong> Buch, sondern<br />

ihren eigenen, surrealen Film in halluzinatorischem<br />

Schwarz-Weiß, in dem der<br />

Vater nur als großer, weicher, aber sehr<br />

ausdrucksvoller Bauch auftaucht, auf den<br />

Isabella ihren Kopf wie auf <strong>ein</strong> Kissen bettet,<br />

zärtlich und beschützend zugleich.<br />

Denn sie fürchtete, dass s<strong>ein</strong>e Filme zu<br />

Staub zerfallen würden, dass man ihn und<br />

s<strong>ein</strong> Werk vergessen könnte. Von beiden<br />

Eltern lernte sie großen Respekt für die<br />

Filmkunst: „Sie sollte in den Schulen gelehrt<br />

werden wie Literatur“, findet sie.<br />

<strong>Der</strong> Schatten ihrer berühmten Eltern<br />

reichte nur bis in Isabellas späte<br />

Zwanziger, dann konnte sie Filmrollen<br />

annehmen, ohne das Territorium der<br />

Mutter zu verletzen. Seit <strong>ein</strong>igen Jahren<br />

macht sie für Arte und den unabhängigen<br />

amerikanischen Sundance Channel<br />

ebenso komische wie lehrreiche und<br />

umweltbewusste Zwei-Minuten-Filme<br />

über das Sexualleben der Tiere, wobei<br />

sie alle kostümierten Hauptrollen von<br />

der Biene über die Ente bis zum Hamster<br />

übernimmt. „M<strong>ein</strong>en Eltern wären<br />

diese Filme wahrsch<strong>ein</strong>lich furchtbar<br />

p<strong>ein</strong>lich – sie zeichneten sich nicht gerade<br />

durch großen Humor aus, und sie<br />

waren beide sehr prüde.“<br />

Nach rund 40 dieser „grünen Pornos“<br />

arbeitet sie nun an <strong>ein</strong>er neuen Serie,<br />

zu der sie ihr biologischer, 15 Hektar<br />

großer Bauernhof inspirierte: „Ich<br />

stelle mir <strong>ein</strong> Projekt über all die Schädlinge<br />

vor, gegen die ich mich ja nicht mit<br />

Pestiziden wehren darf. Das ist <strong>ein</strong>erseits<br />

entsetzlich frustrierend, aber andererseits<br />

finde ich es höchst unterhaltsam,<br />

mir Millionen Strategien zur Vernichtung<br />

m<strong>ein</strong>er F<strong>ein</strong>de auszudenken.“ Es<br />

reizt sie, das verm<strong>ein</strong>tliche Idyll <strong>ein</strong>er<br />

Biofarm als Schauplatz <strong>ein</strong>es grausamen<br />

Konkurrenzkampfs um das Gemüse<br />

darzustellen. „Ich sehe <strong>ein</strong>en Hitchcock“,<br />

sagt sie und verschwindet so<br />

schnell, wie sie gekommen ist, um den<br />

letzten Zug des Tages zum Schauplatz<br />

dieses Thrillers zu erwischen.<br />

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Kleiderordnung<br />

Foto: Julian Baumann für <strong>Cicero</strong><br />

Saskia Diez<br />

Mir begegnen Stücke eher zufällig,<br />

als dass ich sie suche. Diese<br />

Jacke vom belgischen Designer<br />

Christian Wijnants ist mir in Paris begegnet,<br />

wo wir uns während der Modewoche<br />

<strong>ein</strong>en Showroom geteilt haben. Als<br />

Schmuckdesignerin habe ich große Achtung<br />

vor handwerklicher Arbeit. Die vielen<br />

Chiffonlagen dieser Jacke sind zum<br />

Beispiel alle <strong>ein</strong>zeln mit der Hand aufgenäht<br />

und dann ausgefranst worden.<br />

Ich trage gerne die Entwürfe anderer<br />

Designer, nicht <strong>ein</strong>fach die gängige<br />

Straßenuniform, die man überall sieht.<br />

Das hat auch etwas mit Glaubwürdigkeit<br />

und Respekt zu tun, auch vor m<strong>ein</strong>er eigenen<br />

Arbeit und m<strong>ein</strong>em Anspruch daran.<br />

Doch ich will mit m<strong>ein</strong>er Kleidung<br />

gut durch den Alltag mit drei Kindern<br />

kommen. Oft auf dem Fahrrad. Mit den<br />

Shorts hier hat man mehr Bewegungsfreiheit<br />

als mit <strong>ein</strong>em Rock. Abends, wenn<br />

ich ausgehe, will ich mich nicht umziehen<br />

müssen. Sondern höchstens die Schuhe<br />

wechseln oder Ohrringe anlegen.<br />

Ich trage nur Schmuck, den ich selbst<br />

entwerfe. Aber nicht aus Prinzip. Erstens<br />

schenkt mir natürlich k<strong>ein</strong>er Schmuck<br />

und zweitens gibt es bei uns in der Familie<br />

k<strong>ein</strong>en Erbschmuck. Ich lade Stücke<br />

auch nicht emotional auf. M<strong>ein</strong>e Entwürfe<br />

trage ich, um sie zu testen. Wie<br />

sich das Material anfühlt, wie schwer die<br />

Stücke sind, wie sie fallen. Dann wachsen<br />

sie mir oft ans Herz. Doch dann lege ich<br />

sie ab und teste die nächste Kollektion.<br />

Unsere Eheringe tragen m<strong>ein</strong> Mann<br />

und ich auch nicht mehr. Sie sind aus Platin,<br />

und ich habe sie damals nicht selbst entworfen.<br />

Heute würde ich dafür <strong>ein</strong> anderes<br />

Material wählen. Da müssen mal neue<br />

her. Ich mache ja auch Herrenschmuck und<br />

habe viele männliche Kunden.<br />

Saskia Diez hat <strong>ein</strong>e<br />

Ausbildung zur Goldschmiedin<br />

gemacht und später<br />

Industriedesign studiert. Ihr<br />

Label „Saskia Diez“ betreibt<br />

sie von München aus<br />

Ja, <strong>ein</strong>e Bastler-Mentalität hatte ich<br />

schon als Kind. Daraus entstand auch die<br />

Liebe zu Schmuck, nicht aus <strong>ein</strong>er Faszination<br />

für Glamour. Ich mag, dass man<br />

beim Basteln so in sich versinken kann.<br />

Ich bin ziemlich <strong>ein</strong>zelgängerisch.<br />

Nach dem Abitur habe ich <strong>ein</strong>e<br />

Lehre zur Goldschmiedin gemacht. Aber<br />

mittlerweile bewege ich mich mit m<strong>ein</strong>em<br />

Label fernab dieser Welt, wo der<br />

Preis <strong>ein</strong>es Stückes durch den immensen<br />

Materialwert und die immense Handarbeit<br />

definiert wird. Ich mag den Gedanken,<br />

dass man sich m<strong>ein</strong>e Sachen leisten<br />

kann, und das nicht nur ausnahmsweise.<br />

M<strong>ein</strong>en Schmuck empfinde ich als<br />

zurückhaltend. Man sieht ihn oft erst aus<br />

der Nähe. Es geht mir um die Intimität,<br />

die beim Betrachten entsteht, nicht um<br />

die schreiende Darstellung nach außen.<br />

M<strong>ein</strong>e Kinder sind auch schon fasziniert<br />

von Schmuck. Die Mädchen<br />

wollten sich beide schon früh Ohrlöcher<br />

stechen lassen. Bis fünf mussten sie<br />

warten, dann habe ich es erlaubt. M<strong>ein</strong><br />

kl<strong>ein</strong>er Sohn trägt <strong>ein</strong>e Kette. Aber der<br />

ist auch erst vier.<br />

Aufgezeichnet von Lena Bergmann<br />

116<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


SAlon<br />

„ Intelligenz entsteht<br />

durch den ungeschützten<br />

Verkehr mit fremder<br />

Intelligenz “<br />

<strong>Der</strong> Philosoph Peter Sloterdijk im Gespräch mit Martin Walser und<br />

Frank A. Meyer über Schönheit, Politik und Angela Merkel, Seite 126<br />

117<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Salon<br />

Porträt<br />

<strong>Der</strong> Zufall möglicherweise<br />

Dieter Wellershoff trug dazu bei, die deutsche Nachkriegsliteratur zu revolutionieren.<br />

Nun hat der Schriftsteller sich Meisterwerken der Bildenden Kunst zugewandt<br />

Von Peter Henning<br />

Foto: Imago<br />

Dieter Wellershoff blättert durch<br />

die Druckfahnen s<strong>ein</strong>er wahrsch<strong>ein</strong>lich<br />

letzten großen literarischen<br />

Arbeit: „Ich wollte das sch<strong>ein</strong>bar<br />

Bekannte noch <strong>ein</strong>mal neu sehen.“<br />

Spricht’s, schaut auf s<strong>ein</strong> junges Werk,<br />

„Was die Bilder erzählen. Ein Rundgang<br />

durch m<strong>ein</strong> imaginäres Museum“, und lächelt.<br />

Er sch<strong>ein</strong>t sehr mit sich im R<strong>ein</strong>en.<br />

Die großen Bewährungsproben s<strong>ein</strong>es<br />

mittlerweile 88 Jahre währenden Lebens<br />

liegen hinter ihm: Krieg, Gefangenschaft,<br />

Heimkehr in <strong>ein</strong>e kahl geschlagene Heimat,<br />

Ehe, Elternschaft und die Anfechtungen<br />

<strong>ein</strong>er freien Schriftstellerexistenz.<br />

All das wird überstrahlt von s<strong>ein</strong>em in<br />

den neun schweren Folianten <strong>ein</strong>er Gesamtausgabe<br />

geborgenen Werk. Es ist das<br />

in sich geschlossene Oeuvre <strong>ein</strong>es literarischen<br />

Existenzialisten. Er begreift s<strong>ein</strong><br />

Schreiben als „S<strong>ein</strong>s-Erschließung“.<br />

Dieter Wellershoff, im hohen Alter<br />

schmaler und kantiger geworden als auf<br />

den berühmten Aufnahmen aus den achtziger<br />

Jahren, repräsentiert den souveränen<br />

Logiker. S<strong>ein</strong>e Romane, Novellen<br />

und Erzählungen kreisen um Glückssucher,<br />

die sich durchschlagen müssen in <strong>ein</strong>er<br />

vom Zufall durchwirkten Welt.<br />

Wenn er sich aus dem Sessel erhebt<br />

und hinüber in die Küche geht, um den<br />

Wasserkessel vom Herd zu nehmen, verrät<br />

s<strong>ein</strong> schwankender Gang die Schläge<br />

des Alters. Trotzdem ist ihm <strong>ein</strong>e Altersanmut<br />

zu eigen, die ihn charismatisch<br />

ersch<strong>ein</strong>en lässt. Von geistiger Müdigkeit<br />

k<strong>ein</strong>e Spur. Ob er zum Nachmittagstee in<br />

s<strong>ein</strong>er weitläufigen Wohnung in der Kölner<br />

Südstadt <strong>ein</strong>lädt oder zum Streifzug<br />

durch den nahe gelegenen Park: Er wirkt<br />

vollkommen präsent und nimmt mit in<br />

die Weiten <strong>ein</strong>es an Philosophie wie Psychologie<br />

geschulten Denkens.<br />

Wellershoff, 1925 in Neuss geboren,<br />

schreibt Existenzromane: Bücher, deren<br />

Protagonisten nach Glück und Zugehörigkeit<br />

suchen und dabei nicht selten auf<br />

der Schattenseite ihrer Existenz stranden.<br />

Die vier Protagonisten s<strong>ein</strong>es großen<br />

Erfolgsromans „<strong>Der</strong> Liebeswunsch“<br />

gehen am Ende allesamt von Grund auf<br />

verändert aus den Geschehnissen hervor.<br />

Ein junger Landpfarrer wird in Wellershoffs<br />

letztem Roman „<strong>Der</strong> Himmel ist<br />

k<strong>ein</strong> Ort“ auf schmerzhafte Weise an<br />

die Grenzen s<strong>ein</strong>es Denkens und Glaubens<br />

geführt. Sie alle erleben – in bester<br />

existenzialistischer Tradition – ihr<br />

menschliches Geworfens<strong>ein</strong> als krisenhaften<br />

Zustand. Aus ihm führt die Erkenntnis<br />

heraus, dass <strong>ein</strong> anderes Leben<br />

nicht zu haben ist.<br />

Ihr Schöpfer revolutionierte als Lektor<br />

des Kölner Verlags Kiepenheuer &<br />

Witsch Anfang der sechziger Jahre die<br />

junge deutsche Literatur mit Autoren<br />

wie Rolf Dieter Brinkmann oder Nicolas<br />

Born quasi im Handstreich. Heute erweist<br />

er sich als Menschenerforscher und<br />

Schriftsteller in Personalunion. Er wird<br />

es nicht müde, die sich rasch wandelnden<br />

Bedingungen unseres S<strong>ein</strong>s und Fühlens<br />

im Auge zu behalten.<br />

Nun, quasi als vorläufiger Schlussund<br />

Höhepunkt s<strong>ein</strong>es mehr als 40 Buchpublikationen<br />

umfassenden Werkes, das:<br />

<strong>ein</strong> Buch, das sich – anhand von circa<br />

240 ausgewählten Bildern aus der Kunstgeschichte,<br />

zu denen Wellershoff höchst<br />

subjektive Lese- und Interpretationstexte<br />

verfasst hat – als s<strong>ein</strong> vielleicht heiterstes<br />

und quirligstes erweist.<br />

Famos, wie der Alte es versteht,<br />

über sattsam vertraute, 1000 Mal gesehene<br />

Arbeiten von Pablo Picasso, Amedeo<br />

Modigliani, Jan Vermeer, Max Beckmann,<br />

Edward Hopper, Lucian Freud<br />

oder Adolph Menzel zu schreiben, dass<br />

wir den Eindruck gewinnen, sie mit <strong>ein</strong>em<br />

Mal neu zu erkennen.<br />

So streift man blick- und interpretationshungrig<br />

durch den großformatigen<br />

Prachtband, geleitet von <strong>ein</strong>em Expeditionsleiter,<br />

der zum Verweilen vor<br />

diesem oder jenem Bild anhält. Malerei<br />

wird zum Medium sichtbarer Welt- und<br />

Lebenserfahrung. Über den „sitzenden<br />

weiblichen Akt“ Modiglianis von 1917<br />

schreibt er: „Im Unterschied zu den Gespensterparaden<br />

magersüchtiger Models,<br />

die die heutigen Modedesigner über die<br />

Laufstege schicken, hat Modigliani <strong>ein</strong>en<br />

archaischen männlichen Wunschtraum<br />

dargestellt: das Vollweib.“<br />

Nach dem Ersch<strong>ein</strong>en von „<strong>Der</strong> Himmel<br />

ist k<strong>ein</strong> Ort“ vor vier Jahren war es<br />

stiller geworden um den großen alten<br />

Mann der deutschen Literatur. Taucht<br />

man aber lesend <strong>ein</strong> in s<strong>ein</strong>e Arbeiten –<br />

allen voran in s<strong>ein</strong>en Erzählband „Das<br />

normale Leben“, die Novellen „Zikadengeschrei“,<br />

„Die Sirene“ oder den Roman<br />

„<strong>Der</strong> Liebeswunsch“ – wird rasch<br />

spürbar, wie zeitgemäß, ja aktuell s<strong>ein</strong>e<br />

Texte nach wie vor sind. Es sind Bücher,<br />

in denen sich die neue, zuweilen erschreckende<br />

Unübersichtlichkeit der Moderne<br />

spiegelt, festgemacht an Geschichten, die<br />

von dort herkommen, wo alle große Literatur<br />

am Ende wurzelt: im Leben.<br />

So wird Dieter Wellershoff weiter<br />

über das Das<strong>ein</strong> des Einzelnen in <strong>ein</strong>er<br />

vom Zufall <strong>regiert</strong>en Welt nachdenken,<br />

auch wenn er vielleicht nicht mehr darüber<br />

schreiben wird. Trotzdem haben wir<br />

ihn uns als <strong>ein</strong>en glücklichen Menschen<br />

vorzustellen, der zum Abschied, ehe er<br />

die Tür schließt, von sich sagt: „Ich habe<br />

die Prüfungen, die mir die Schriftstellerei<br />

bescherte, bestanden.“<br />

peter henning ist Schriftsteller und lebt<br />

als Wahlkölner fast Tür an Tür mit Dieter<br />

Wellershoff. Selbst schrieb er zuletzt den<br />

Gladbeck-Roman „Ein deutscher Sommer“<br />

119<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Salon<br />

Porträt<br />

Freiheit, <strong>ein</strong> morsezeichen<br />

Claudia Michelsen ist die präsenteste deutsche Charakterdarstellerin und nun auch<br />

Kommissarin im „Polizeiruf 110“. Schon Godard schätzte ihre Kunst der Verknappung<br />

Von Ingo Langner<br />

Als wir uns kennenlernten, schien<br />

die Berliner Mauer noch für die<br />

Ewigkeit gebaut. Die DDR feierte<br />

an jenem 10. Februar 1988 pompös Bertolt<br />

Brechts 90. Geburtstag. Brecht war<br />

schon 1956 gestorben, aber tote Parteidichter<br />

schätzte die SED besonders.<br />

Sechs Tage zuvor war die Schauspielschülerin<br />

Claudia Michelsen 19 Jahre<br />

alt geworden. Auf der Ostberliner Studiobühne<br />

der Hochschule Ernst Busch<br />

spielte sie die Titelrolle in „<strong>Der</strong> gute<br />

Mensch von Sezuan“.<br />

Ich drehte damals <strong>ein</strong>en Dokumentarfilm<br />

über die kulturpolitischen Staatsfeierlichkeiten.<br />

Während mich die anderen<br />

Inszenierungen langweilten, weil sie<br />

als museale Pflichtübungen daherkamen,<br />

war ich von „Sezuan“ und von Claudia<br />

Michelsen in ihrer Doppelrolle als „gute“<br />

Shen Te und „böse“ Shui Ta begeistert.<br />

Fünf Jahre vor ihrem ersten Bühnentriumph<br />

hatte die Dresdnerin Funkoffizierin<br />

werden wollen. Sie liebte das Meer,<br />

die Freiheit der Seefahrt, „und mich hat<br />

auch die gem<strong>ein</strong>same Sprache fasziniert,<br />

die überall auf der Welt gleich ist, das<br />

Morsealphabet“: Sagt Claudia Michelsen,<br />

wendet mir ihr aus rund 80 Fernseh-<br />

und Kinofilmen bekanntes Gesicht<br />

zu und lächelt.<br />

Viele erkannten Ende der achtziger<br />

Jahre ihr Ausnahmetalent. Die Volksbühne<br />

engagierte sie gleich nach dem Examen.<br />

Kaum war die DDR Geschichte geworden,<br />

wollten nicht nur H<strong>ein</strong>er Müller<br />

und Frank Castorf mit ihr arbeiten, sondern<br />

auch Jean-Luc Godard. <strong>Der</strong> französische<br />

Regiestar engagierte das frische<br />

Gesicht des Ostens für s<strong>ein</strong>en Film<br />

„<strong>Deutschland</strong> Neu(n) Null“, in dem der<br />

legendäre amerikanische Schauspieler<br />

Eddie Constantine die Hauptrolle<br />

spielte. Als 1991 die Produktionsfirma<br />

anrief, wusste sie nicht, wer Godard ist.<br />

„Ich war ja erst 20 Jahre alt und hatte<br />

die Nouvelle Vague noch nicht erkundet.<br />

M<strong>ein</strong>e damaligen Helden waren Rainer<br />

Werner Fassbinder und Jean Genet. Mit<br />

14 habe ich Fassbinders ‚Querelle‘ gesehen,<br />

der auf dem Roman von Genet basiert.<br />

‚Querelle‘ und vorher ‚Katzelmacher‘<br />

haben mir die B<strong>ein</strong>e weggezogen.<br />

Ich hätte nie gedacht, dass so etwas auf<br />

der L<strong>ein</strong>wand möglich ist.“<br />

Claudia Michelsen ging als Teenager<br />

oft ins Theater. „Das Dresdner Theater<br />

war m<strong>ein</strong> Lebensinhalt. Wolfgang Engel<br />

inszenierte, und es gab so großartige<br />

junge Schauspieler wie Dagmar Manzel<br />

oder Sylvester Groth.“ Mit dem sie damals<br />

schon befreundet war und mit dem<br />

sie – so schließt sich der Kreis – seit Oktober<br />

als Kommissarin Doreen Brasch im<br />

neuen Magdeburger „Polizeiruf 110“ zu<br />

sehen ist. Während Groth alias Hauptkommissar<br />

Jochen Drexler der hintergründig<br />

Penible ist, gibt sie den taffen<br />

Gegenpol, Schimanskis kl<strong>ein</strong>e Schwester.<br />

„Sylvester war in Dresden Schwarm aller<br />

theaterbegeisterten Mädchen. Als er über<br />

Salzburg in den Westen ging, hat ganz<br />

Dresden gew<strong>ein</strong>t. Dass ich heute mit ihm<br />

arbeiten kann, ist <strong>ein</strong> Geschenk.“<br />

Beschenkt wurde Claudia Michelsen<br />

schon am Morgen ihrer Karriere. H<strong>ein</strong>er<br />

Müller, der nach dem Mauerfall in Ostberlin<br />

s<strong>ein</strong>e dort zuvor verbotenen Stücke<br />

inszenieren konnte, holte sie für<br />

„Mauser“ ans Deutsche Theater.<br />

Andere Jungschauspieler hätten bei<br />

<strong>ein</strong>em solchen Start ihre Wurzeln tief in<br />

den märkischen Sand <strong>ein</strong>gegraben. Aber<br />

ihr notorisches Fernweh war dagegen.<br />

Statt an ihren Sehnsuchtsort Paris zu ziehen,<br />

folgte Claudia Michelsen ihrem ersten<br />

Ehemann, dem Regisseur Josef Rusnak,<br />

nach Los Angeles. Ohne <strong>ein</strong> Wort Englisch<br />

zu können. Sie blieb über sechs Jahre am<br />

Pazifik und brachte dort ihre erste Tochter<br />

zur Welt. Gleichwohl vergaß die Heimat<br />

sie nicht. „H<strong>ein</strong>rich Breloer besetzte mich<br />

für s<strong>ein</strong>en RAF‐Film ‚Todesspiel‘. Die Verbindung<br />

zu <strong>Deutschland</strong> blieb.“<br />

Ihr Kind war bei den vielen Reisen<br />

und Dreharbeiten meistens dabei. Die<br />

zweite Tochter wurde 2003 in Berlin geboren,<br />

Vater ist der Schauspieler Anatole<br />

Taubman. Claudia Michelsen liebt ihre<br />

Töchter über alles. Sie hat sich lange geweigert,<br />

<strong>ein</strong>e Kinderfrau zu engagieren.<br />

„Ich wollte das nicht. Wenn ich Kinder in<br />

die Welt setze, möchte ich auch mit ihnen<br />

leben. Das habe ich immer getan und bereue<br />

es k<strong>ein</strong>e Sekunde.“<br />

Ende November wird in der ARD der<br />

Film „Grenzgang“ nach Stephan Thomes<br />

Roman zu sehen s<strong>ein</strong>: Vor dem Hintergrund<br />

<strong>ein</strong>es Volksfests gerät das Leben<br />

zweier von Claudia Michelsen und Lars<br />

Eidinger verkörperten Menschen aus den<br />

Fugen. Eidinger, Jahrgang 1976, ist ebenfalls<br />

Absolvent der Ernst-Busch-Schule.<br />

Was wohl von Vorteil ist. „Lars arbeitet,<br />

glaube ich, ähnlich wie ich aus der Reduktion<br />

heraus. Ich versuche, Situationen<br />

klar zu denken, sie aber nicht auszustellen.<br />

Im Theater kann man so nicht arbeiten.<br />

Im Film schon.“ Claudia Michelsen<br />

ist heute erfolgreicher denn je. Für ihre<br />

Rolle im „Turm“, der Verfilmung des Romans<br />

von Uwe Tellkamp, hat sie dieses<br />

Jahr den „Grimme-Preis“ und die „Goldene<br />

Kamera“ bekommen.<br />

Wer oben ist, kann wieder fallen. Davor,<br />

sagt sie, hat sie k<strong>ein</strong>e Angst. „Wenn<br />

es mal nicht mehr so läuft oder ich das<br />

Gefühl habe, im Mittelmaß zu versinken,<br />

dann mache ich etwas ganz anderes. Ich<br />

kann ja immer noch Funkerin werden.“<br />

ingo langner ist Dokumentarfilmer<br />

und Publizist. Als Westberliner war ihm<br />

Claudia Michelsen <strong>ein</strong>st <strong>ein</strong>en Blick über<br />

die Mauer wert<br />

Foto: Gregor Hohenberg/laif<br />

120<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Salon<br />

Porträt<br />

leise Töne braucht die Welt<br />

Für den österreichischen Komponisten Peter Androsch ist Demokratie <strong>ein</strong> Klangraum.<br />

Deshalb kämpft er gegen die akustische Umweltverschmutzung unserer Tage<br />

Von Irene Bazinger<br />

Foto: Norbert Artner<br />

Wohl k<strong>ein</strong> Sinnesorgan wird in<br />

der modernen Welt so beansprucht<br />

wie die Ohren – nicht<br />

nur wegen der Lautstärke des Verkehrs<br />

auf Straßen, Schienen, in der Luft, sondern<br />

auch wegen der permanenten Beschallung<br />

in Kaufhäusern, Fahrstühlen,<br />

als Klangteppich unter den Nachrichten,<br />

durch hochfrequente Geräusche elektronischer<br />

Geräte von der Lüftung bis zum<br />

Drucker. Die armen Ohren können sich<br />

nicht schützen wie die Augen, die sich<br />

<strong>ein</strong>fach schließen lassen, sie sind Tag und<br />

Nacht in Betrieb.<br />

Die Weltgesundheitsorganisation<br />

WHO führt Lärm global als zweitgrößtes<br />

Gesundheitsrisiko an, erzählt der österreichische<br />

Komponist und Akustikexperte<br />

Peter Androsch – „und trotzdem gibt es<br />

kaum Resonanz darauf! Wenn man bedenkt,<br />

wie dagegen die Kampagne gegen<br />

das Rauchen durchgeboxt wurde“:<br />

Insofern sind Konsequenzen in Stadtplanung<br />

oder Architektur nicht zu erwarten,<br />

fürchtet er.<br />

Da die Betroffenen der permanenten<br />

auditiven Überforderung aus allen<br />

Schichten stammen und k<strong>ein</strong>e homogene<br />

Gruppe sind, und da Akustik als<br />

Themenkomplex in diverse Bereiche<br />

wie Bauwesen, Stadtentwicklung, Medizin<br />

oder Arbeitsschutz hin<strong>ein</strong>reicht, hat<br />

sich bislang k<strong>ein</strong>e Lobbyvertretung formiert.<br />

Auch politisch passiert wenig, zumal<br />

das Sujet <strong>ein</strong>iges an Dynamit b<strong>ein</strong>haltet,<br />

rührt es doch „an die Grundfesten<br />

der kapitalistischen Gesellschaft, die wie<br />

<strong>ein</strong> Drogenkranker an dem Suchtmittel<br />

Mobilität hängt. Und schon sind wir mittendrin<br />

in der Lärmmisere, denn Autos,<br />

selbst mit Elektromotor, machen ab <strong>ein</strong>er<br />

bestimmten Geschwindigkeit unweigerlich<br />

Krach.“<br />

Peter Androsch, 50 Jahre alt, ausgebildeter<br />

Jazzgitarrist, der es <strong>ein</strong> paar<br />

Semester lang mit dem Studium der Sozialwirtschafts-<br />

und Volkswirtschaftslehre<br />

versuchte, stützt sich in s<strong>ein</strong>em Atelier<br />

in Linz an der Donau auf das Klavier,<br />

das ihm beim Komponieren hilft. <strong>Der</strong><br />

Zusammenhang zwischen Politik und<br />

Kunst hat ihn, der Hanns Eisler und Luigi<br />

Nono als s<strong>ein</strong>e Vorbilder nennt, immer<br />

beschäftigt.<br />

Darum hat er, als er das Musikprogramm<br />

für die Kulturhauptstadt Linz<br />

2009 entwarf, den Akzent nicht auf Repräsentationskultur<br />

mit kostenintensiven<br />

Orchestergastspielen gelegt, sondern sich<br />

nachhaltigen Konzepten zugewandt: Wie<br />

lässt sich <strong>ein</strong> allgem<strong>ein</strong>es Bewussts<strong>ein</strong> für<br />

akustische Herausforderungen schaffen?<br />

Was müssen Gebäude in der heutigen Situation<br />

akustisch leisten?<br />

Nach wie vor treibt ihn diese Problematik<br />

um – auch bei der Internationalen<br />

Bauausstellung 2013 in Hamburg, wo er<br />

<strong>ein</strong>en Klangplan mit „Hörenswürdigkeiten“<br />

entwickelte. Wie viel Prozent Komponist<br />

ist er inzwischen noch, wie viel<br />

schon Aktivist? Peter Androsch überlegt<br />

k<strong>ein</strong>e Sekunde: „Beides zu 100 Prozent!“<br />

Er ist <strong>ein</strong> wacher, schräger Vogel, der eigentlich<br />

längst über s<strong>ein</strong>e Linzer Provinz<br />

hinausgewachsen ist, aber k<strong>ein</strong>e Lust hat,<br />

sich dem Dickicht der Großstädte auszusetzen.<br />

Er will lieber die Offenheit des<br />

Denkens in Stadt und Land auf s<strong>ein</strong>e Art<br />

be<strong>ein</strong>flussen.<br />

So arbeitet er mit internationalen Experten<br />

daran, dass sich sukzessive <strong>ein</strong>e<br />

akustische Ökologie im Bauwesen herausbildet.<br />

Er hofft auf <strong>ein</strong>e Akustik, die sich<br />

verstärkt an den Bedürfnissen des Menschen<br />

orientiert. Denn wenn <strong>ein</strong> Besprechungsraum,<br />

das Foyer <strong>ein</strong>er Behörde, <strong>ein</strong><br />

Klassenzimmer oder <strong>ein</strong> Schwimmbad<br />

geräuschtechnisch verträglich ausgestattet<br />

ist, fühlt man sich dort <strong>ein</strong>fach wohler.<br />

Damit m<strong>ein</strong>t er nicht bloß die Lautstärke,<br />

die „nicht per se böse“ sei, denn<br />

„r<strong>ein</strong>e Stille ist der Tod!“ Entscheidend<br />

sei die Balance zwischen phonetischen<br />

Belastungen und Entlastungen. Wird sie<br />

gestört, kann sogar leiser Lärm krank<br />

machen und Stresssymptome, Kopfschmerzen,<br />

Schwindelgefühle hervorrufen.<br />

Die Akustik, sagt Peter Androsch, ist<br />

<strong>ein</strong> politisches Thema, weil sie ins Herzstück<br />

der demokratischen Grundordnung<br />

zielt, das da heißt: „Eine Stimme haben<br />

und gehört werden.“ Wenn das nicht<br />

klappt, ist Gefahr im Verzug.<br />

Wohin das mitunter führen kann,<br />

zeigte er extrem zugespitzt in s<strong>ein</strong>er Oper<br />

„Spiegelgrund“. Sie wurde zum diesjährigen<br />

Holocaust-Gedenktag im österreichischen<br />

Parlament in Wien uraufgeführt. In<br />

dem oratoriumsartigen Werk geht es um<br />

die rund 800 kranken oder behinderten<br />

Kinder und Jugendlichen, die zwischen<br />

1940 und 1945 in der berüchtigten Wiener<br />

NS-Euthanasieklinik „Am St<strong>ein</strong>hof“<br />

ermordet wurden.<br />

Überlebende wurden vom Quietschen<br />

des Handkarrens verfolgt, das der<br />

Hausknecht erzeugte, wenn er wieder<br />

<strong>ein</strong>e Ladung misshandelter, für medizinische<br />

Experimente missbrauchter Leichen<br />

abfuhr. <strong>Der</strong>en Farbe wurde als „Rotgrünblau“<br />

beschrieben. Wie <strong>ein</strong>e Erlösung<br />

wird diese Erinnerung, auf welche die<br />

gesamte Oper hinausläuft, am Ende ausgesprochen:<br />

„Kl<strong>ein</strong>e tote Kinder schimmern<br />

/ Rotgrünblau.“ Berührend zeigt Peter<br />

Androsch zugleich s<strong>ein</strong>e Vision von<br />

engagierter Kunst: Den zum Schweigen<br />

Gebrachten <strong>ein</strong>e Stimme zu geben und<br />

Gehör zu verschaffen.<br />

irene Bazinger ist Theaterkritikerin<br />

und hört auf Peter Androsch, seit er<br />

<strong>ein</strong> famoses Musikprogramm für die<br />

Kulturhauptstadt Linz 2009 entwarf<br />

123<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Salon<br />

Man sieht nur, was man sucht<br />

Zum Sehen geboren,<br />

zum Schauen bestellt<br />

Von Beat Wyss<br />

Foto: Andi Stalder/Kunstmuseum Luzern<br />

124<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Er malte die „Gesichter <strong>ein</strong>er Epoche“, der<br />

Aufklärung. Anton Graff ist nun <strong>ein</strong>e Ausstellung<br />

in der Berliner Alten Nationalgalerie gewidmet<br />

Zum Autor<br />

Foto: Artiamo<br />

Vertieft ins unverwandte Herschauen,<br />

die Augen ruhig<br />

auf s<strong>ein</strong> Gegenüber geheftet:<br />

So haben Anton Graff<br />

an die tausend Menschen erlebt,<br />

die dem Schweizer Maler am sächsischen<br />

Hof für <strong>ein</strong> Porträt Modell saßen.<br />

Graffs Schwiegervater und Winterthurer<br />

Landsmann, der Philosoph Johann Georg<br />

Sulzer in Berlin, hatte <strong>ein</strong>igen Sitzungen<br />

beigewohnt; er berichtet, dass manche<br />

den Blick kaum ertragen konnten. Hier<br />

sehen wir den Porträtmaler, wie er diesen<br />

Blick auf das eigene Bild im Spiegel<br />

richtet. Er steht, 50-jährig, auf dem Höhepunkt<br />

s<strong>ein</strong>er Laufbahn.<br />

Ein Jahr, nachdem dieses Bildnis<br />

entstand, versuchte der preußische Hof,<br />

Graff mit der Aussicht auf <strong>ein</strong> Jahresgehalt<br />

von 1200 Talern nach Berlin zu locken;<br />

doch Dresden erhöhte das Gehalt<br />

des Umworbenen und verlieh ihm <strong>ein</strong>e<br />

Professur an der Königlichen Akademie.<br />

In der Residenzstadt an der Elbe gab<br />

sich <strong>ein</strong>e internationale Kundschaft aus<br />

Russland, Polen, Frankreich und Großbritannien<br />

ihr Stelldich<strong>ein</strong>. Graff malte<br />

Vertreter des Adels und des Bürgertums,<br />

die Geistesgrößen s<strong>ein</strong>er Zeit, aber auch<br />

Bildnisse wie das von Johann Samuel<br />

Nagel, dem Markthelfer des Leipziger<br />

Verlegers Philipp Erasmus Reich.<br />

<strong>Der</strong> bescheidene Angestellte wird<br />

mit derselben Aufmerksamkeit geschildert,<br />

die der Künstler bei der Selbstbeobachtung<br />

an den Tag legt. Überhaupt sind<br />

Graffs beste Bildnisse jene, wo Standesmerkmale<br />

k<strong>ein</strong>e Rolle spielen oder wo<br />

Autoritäten auftreten, die auf ihre Insignien<br />

im Porträt verzichten, um sich als<br />

Aufklärer in Szene zu setzen, allen voran<br />

König Friedrich II. von Preußen. Es ist<br />

das populärste Bildnis von Graff. Zweimal<br />

war das Brustbild Vorlage für <strong>ein</strong>e<br />

Sonderbriefmarke der Deutschen Post.<br />

Anton Graff ( 1736 – 1813 ): Selbstbildnis,<br />

um 1787, Luzern, Kunstmuseum<br />

Als Siebdruck von Andy Warhol fand<br />

Graffs Kunst Eingang ins Popzeitalter.<br />

Auch unser aller Bild von Friedrich<br />

Schiller stammt von Anton Graff. Durch<br />

Nachstiche ist der Dichter mit dem offenen<br />

Schillerkragen, ungebändigt blondem<br />

Haarschopf, die Wange in theatralischer<br />

Nachdenklichkeit auf die linke<br />

Hand gestützt, ins kollektive Gedächtnis<br />

<strong>ein</strong>gewandert, während der Ruhm des<br />

Winterthurer Meisters verblasste.<br />

Zu Lebzeiten war Anton Graff <strong>ein</strong><br />

klingender Name. Neben s<strong>ein</strong>en Malerkollegen<br />

malte er Bühnenheldinnen und<br />

-helden wie Esther Charlotte Brandes, August<br />

Wilhelm Iffland und Gertrud Elisabeth<br />

Mara, Primadonna der Berliner<br />

Oper. Er malte Philosophen und Dichter<br />

wie Gotthold Ephraim Lessing, Johann<br />

Gottfried Herder, Moses Mendelssohn,<br />

Christoph Martin Wieland und Dorothea<br />

Schlegel. Graff malte die Persönlichkeiten,<br />

die das soziale Netz der Aufklärung<br />

in Gang hielten wie Henriette Herz, in<br />

deren Berliner Salon sich Geld und Geist<br />

zusammenfanden, oder Christoph Friedrich<br />

Nicolai, dessen Verlag intellektuelle<br />

Streitkultur verbreitete. Nicht aufzählen<br />

können wir die Bildnisse der Prinzen und<br />

Könige von Sachsen und Preußen.<br />

Vor uns sehen wir jetzt den Künstler,<br />

dem all die Genannten gesessen haben.<br />

Aus Graffs schlichtem Hausrock blitzt,<br />

fast etwas nachlässig, <strong>ein</strong>e Spitze der<br />

weißen Halsbinde. An Rembrandt, dessen<br />

Werke der Dresdener Galerie ihm gut<br />

bekannt waren, schätzte unser Maler besonders<br />

die Art, wie sich das Bedeutsame<br />

im Bildnis – Kopf und Hand – aus monochromer<br />

Dämmerung ins Helle ringt.<br />

Akademien hat Graff k<strong>ein</strong>e besucht.<br />

Zielstrebig ließ er sich in Augsburg zum<br />

Porträtisten ausbilden. Fleiß war gefragt,<br />

nicht Genie. Das gewerbsmäßig-nüchterne<br />

Verhältnis zur Malerei hat sich zum<br />

künstlerischen Blick geläutert, der die gezierte<br />

Standesgebärde des Rokoko durchbricht.<br />

Größte Aufmerksamkeit schenkt<br />

Beat Wyss<br />

ist <strong>ein</strong>er der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt Kunstwissenschaft<br />

und Medienphilosophie an<br />

der Staatlichen Hochschule<br />

für Gestaltung in Karlsruhe<br />

Graff der Wiedergabe der Augen: Sie bilden<br />

die Seele, die den physiognomischen<br />

Leib zusammenhält. Ihre Lebendigkeit<br />

verdanken sie den weißen Lichtern, die<br />

der Iris aufgesetzt sind. <strong>Der</strong> Glanz der<br />

Augensterne verklärt die besonderen<br />

Charaktermerkmale zur Idee der individuellen<br />

Würde jedes Menschen. Graffs<br />

Geheimnis besteht darin, die Augen der<br />

Porträtierten leicht vergrößert zu malen.<br />

Es entsteht <strong>ein</strong>e Wirkung wie in den hellenistischen<br />

Mumienporträts von Fayun,<br />

die uns mit hellwachen Augen ansehen,<br />

als seien die gemalten Gesichter von den<br />

Toten schon wieder auferstanden.<br />

Für diese Kolumne wählte ich aus<br />

den rund 80 Selbstporträts von Anton<br />

Graff das unbekannteste. <strong>Der</strong> Künstler<br />

wiederholte dieses Werk gleich zweimal<br />

und ließ es mit s<strong>ein</strong>er Unterschrift gar in<br />

Kupfer stechen. Es galt ihm offenbar als<br />

Programmbild an Schlichtheit. Es streift<br />

alles Spektakuläre ab bis auf die Wurzel<br />

des Begriffs: Nicht Spectaculum, sondern<br />

speculum, <strong>ein</strong> Spiegel, soll das Bildnis<br />

s<strong>ein</strong>. Das Selbstporträt ist <strong>ein</strong>e strenge<br />

Gattung, die das Betrachten in <strong>ein</strong> Spiegelverhältnis<br />

bringt, wo dir <strong>ein</strong> Ich als Du<br />

auf Augenhöhe begegnet.<br />

125<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Salon<br />

Gespräch<br />

„ich Lebe von<br />

zustimmung“<br />

Moderation Frank A. Meyer<br />

Gipfeltreffen der Geistesgrößen:<br />

Peter Sloterdijk und Martin Walser über<br />

Schönheit als politische Kraft,<br />

den Aufstieg der Expertokratie,<br />

den Abstieg Europas und das<br />

Mädchengesicht der Angela Merkel.<br />

Protokoll <strong>ein</strong>er denkwürdigen Begegnung<br />

im Berliner Ensemble<br />

Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz (Seiten 126 bis 134)<br />

126<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


127<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Salon<br />

Gespräch<br />

Von Ihnen, Martin Walser, stammt der<br />

Satz: „Mehr als schön ist nichts.“ Das<br />

müssen Sie erklären.<br />

Martin Walser: Ich habe auch <strong>ein</strong>mal<br />

geschrieben, es sei unsere wichtigste<br />

Fähigkeit, dass wir etwas schön<br />

finden können. Das habe ich gemerkt bei<br />

allen möglichen Lektüren über Versuche<br />

mit dem Wort Erlösung. Selbst bei<br />

Adorno und Benjamin kommt manchmal<br />

das Wort Erlösung vor, mit allen möglichen<br />

Zugänglichkeiten. Mir aber sch<strong>ein</strong>t,<br />

die <strong>ein</strong>zige Möglichkeit zur Erlösung ist<br />

Schönheit. Andererseits musste ich nun<br />

an drei Zeitgenossen denken, die den<br />

Gegentext zu diesem Satz publiziert<br />

haben: Botho Strauß mit dem „Plurimi-Faktor“,<br />

Hans Magnus Enzensberger<br />

im Aufsatz „Vom Terror der Reklame“<br />

und m<strong>ein</strong> Kollege Michael Krüger, Präsident<br />

der Akademie der schönen Künste<br />

in München. Er hat in <strong>ein</strong>er Rede gefragt,<br />

ob es heute überhaupt das Schöne gebe.<br />

Botho Strauß trauert dem Einzelgänger<br />

nach und wendet sich gegen die Masse<br />

der bloß Informierten. Die Demokratisierung<br />

unserer Lebensbereiche macht<br />

er herunter. <strong>Der</strong> Aufsatz ist sehr schön<br />

geschrieben, bloß kann man ihn in k<strong>ein</strong>em<br />

Satz akzeptieren. Es kommt nämlich<br />

das Wort Schönheit überhaupt nicht<br />

vor. Warum hat er nicht gemerkt, dass<br />

es das Schöne noch gibt, dass die Natur<br />

immer noch schön ist?<br />

Herr Sloterdijk, darf ich den Satz weiterreichen,<br />

„Mehr als schön ist nichts“?<br />

Gibt es <strong>ein</strong>e philosophische Implikation?<br />

Peter Sloterdijk: Zunächst gibt es <strong>ein</strong>en<br />

Vierten in der Liste, der <strong>ein</strong>en Einspruch<br />

gegen dieses Schönheitsbekenntnis<br />

vorträgt. Es ist <strong>ein</strong> gewisser Martin<br />

Walser, der in <strong>ein</strong>em schönen Buch aus<br />

dem Jahr 1985, „Meßmers Gedanken“,<br />

lapidar sagt: „Als es schön war, wusste<br />

ich es nicht.“ Es handelt sich offenbar um<br />

<strong>ein</strong>en spontanen Neoplatonismus. Wir<br />

kennen von dem britischen Mathematiker<br />

und Philosophen Whitehead die anzügliche<br />

Bemerkung, wonach die ganze<br />

europäische Philosophie nichts anderes<br />

sei als <strong>ein</strong>e lange Serie von Fußnoten zu<br />

Platon. Ich glaube, dass wir hier heute<br />

auch <strong>ein</strong>e solche Fußnote erzeugen, wenn<br />

wir die Wiederkehr des Schönheitsbewussts<strong>ein</strong>s<br />

nach s<strong>ein</strong>er realistischen Zersetzung<br />

diskutieren.<br />

Zur Person<br />

Martin Walser<br />

zählt zu den profiliertesten wie<br />

produktivsten Poeten<br />

deutscher Sprache. Den<br />

Kosmos zwischen Mann und<br />

Frau hat er ganz ausgemessen,<br />

zuletzt in den Romanen „Die<br />

Inszenierung“, „Das dreizehnte<br />

Kapitel“ und „Muttersohn“.<br />

Auch „Über Rechtfertigung“<br />

dachte er nach<br />

„Ich wähle seit<br />

längerem k<strong>ein</strong>e<br />

Parteiprogramme<br />

mehr. Ich wähle<br />

nur noch Personen.<br />

Personen kenne<br />

ich, Parteiprogramme<br />

sind<br />

Selbstbefriedigungen<br />

von Politintellektuellen“<br />

Martin Walser<br />

Inwiefern handelt es sich um <strong>ein</strong>e<br />

Wiederkehr?<br />

Sloterdijk: Es gibt mittlerweile Differenzierungen<br />

gegen das Realismusdogma.<br />

Seit der Romantik ist das Schöne<br />

immer zu schön, um wahr zu s<strong>ein</strong>. Wenn<br />

Kunst wahr s<strong>ein</strong> soll, muss sie also das<br />

Bündnis mit dem Realen suchen, und das<br />

Reale wird überwiegend auf der hässlichen<br />

Seite gefunden. Aus dieser Konstellation<br />

heraus ist große Kunst entstanden,<br />

seit mehr als 100 Jahren. Jetzt aber treten<br />

wir in <strong>ein</strong>e Phase nach der Hässlichkeit<br />

<strong>ein</strong>, nach der Realität, in der man es<br />

sich wieder gestattet, das Schöne zu sehen.<br />

Texte Martin Walsers, sch<strong>ein</strong>t mir,<br />

könnten zum großen Teil anfangen mit<br />

dem Satz: Ich erlaube mir, jetzt wieder<br />

zu sagen. Dieser Wiederentdeckungscharakter<br />

begleitet viele s<strong>ein</strong>er spontansten<br />

Erfindungen.<br />

Walser: Nietzsche notierte <strong>ein</strong>mal:<br />

„Es ist leichter, gigantisch zu s<strong>ein</strong> als<br />

schön.“ Das erinnert mich an <strong>ein</strong>e Stelle<br />

in der Bibel, im Buch Samuel. <strong>Der</strong> Riese<br />

Goliath, heißt es da, verachtete den Hirtenjungen<br />

David, „denn er war <strong>ein</strong> Knabe,<br />

bräunlich und schön“. <strong>Der</strong> Gigantische<br />

hat k<strong>ein</strong> Sensorium, um Davids Schönheit<br />

zu erleben. Zu Recht also legt David<br />

ihn um.<br />

Wir wollen heute auch über den Zustand<br />

der Welt reden. Fehlt uns bei der<br />

Betrachtung dieser Welt der ästhetische<br />

Blick?<br />

Sloterdijk: Die Leute mit dem Goliath-Faktor<br />

sehen das Schöne nicht. Bei<br />

denen hingegen, deren vorgeburtliche<br />

Erinnerung an das Schöne noch lebendig<br />

ist, bricht gelegentlich das Schöne<br />

in Form <strong>ein</strong>es heftigen Heimwehs durch.<br />

Platon hat in diesem Zusammenhang –<br />

fast wie <strong>ein</strong> Martin Walser ante litteram –<br />

über das menschliche Gesicht geschrieben.<br />

Wenn er über das Schöne im Beispiel<br />

sprechen sollte, hat Platon vom Gesicht<br />

gesprochen. Ganz anders hält es unser<br />

Kollege Bazon Brock in Karlsruhe, der<br />

seit Jahrzehnten <strong>ein</strong>en Zettel mit s<strong>ein</strong>en<br />

Schönheitsfavoriten in der Tasche<br />

trägt, um zu dokumentieren, wie sich<br />

bei ihm das Schönheitsempfinden gewandelt<br />

hat. Seit Jahrzehnten hat er die<br />

weibliche Brust an erster Stelle. Ich weiß<br />

nicht, ob er sich inzwischen <strong>ein</strong>es Besseren<br />

besonnen hat.<br />

128<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Anzeige<br />

Bei Platon hätte man also <strong>ein</strong>en Zettel<br />

mit <strong>ein</strong>em Gesicht gefunden.<br />

Sloterdijk: Ja, Platon hält sich an das<br />

menschliche Gesicht. Wenn jemand, der<br />

noch die frische Erinnerung an das Ur-<br />

Schöne hat, <strong>ein</strong> solches Gesicht erblickt,<br />

wird er wie von <strong>ein</strong>er schweren Krankheit<br />

ergriffen. In ihm setzt <strong>ein</strong> Vorgang<br />

<strong>ein</strong>, den Platon die „Wiederbefederung<br />

der Seele“ nennt. Die Seele verwandelt<br />

sich in <strong>ein</strong> geflügeltes Wesen zurück. Im<br />

Goliath-Zustand sind wir entfiedert, im<br />

platonischen Zustand werden wir wieder<br />

befedert. Wir gewinnen die Fähigkeit zur<br />

Levitation zurück, entwickeln antigrave<br />

Tugenden. Wir können wieder fliegen.<br />

Walser: Unlängst musste ich mich<br />

zur Bundestagswahl äußern. Da habe<br />

ich unter anderem gesagt: Wer recht<br />

haben muss, muss St<strong>ein</strong>brück wählen.<br />

Wer leben will, kann Angela Merkel<br />

wählen. Als ich dann über Frau Merkel<br />

nachdachte, fiel mir auf: Ihr Gesicht ist<br />

schön. Sie sagt im Unterschied zu St<strong>ein</strong>brück<br />

k<strong>ein</strong>e Sätze, die gebraucht wirken,<br />

und sie hat immer noch <strong>ein</strong> Mädchen im<br />

Gesicht.<br />

Ein kühnes Beispiel.<br />

Walser: Damit Sie mich nicht missverstehen,<br />

will ich das erläutern. In Platons<br />

„Symposion“ erklärt Diotima dem<br />

Sokrates das Wesen des Eros. Da heißt<br />

es: „Denn dies ist die rechte Art, sich auf<br />

die Liebe zu legen oder von <strong>ein</strong>em anderen<br />

dazu angeführt zu werden, dass man<br />

mit diesem <strong>ein</strong>zelnen Schönen beginnt,<br />

jenes <strong>ein</strong>en Schönen wegen immer höher<br />

hinaufsteigt, gleichsam stufenweise<br />

von <strong>ein</strong>em zu zweien, von zweien zu allen<br />

schönen Gestalten und von den schönen<br />

Gestalten zu den schönen Sitten und<br />

Handlungsweisen und von den schönen<br />

Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis<br />

man von den Kenntnissen endlich zu<br />

jener Kenntnis gelangt, die von nichts<br />

anderem als eben von jenem Schönen<br />

selbst die Kenntnis ist. Und man also<br />

zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne.“<br />

Diese gesteigerte Schönheit,<br />

die nicht in <strong>ein</strong>e Glanzpostille gehört,<br />

m<strong>ein</strong>e ich mit Frau Merkel.<br />

Sloterdijk: Die Passage zeigt klar,<br />

dass Philosophie <strong>ein</strong>e Art Übertreibungskunst<br />

darstellt. Man übertreibt so lange,<br />

dass man am Ende Frau Merkel gar nicht<br />

mehr sieht. Wir landen bei den schönen<br />

Sitten und irgendwann beim Inbegriff<br />

des Schönen selbst.<br />

Walser: Ich wähle übrigens seit längerem<br />

k<strong>ein</strong>e Parteiprogramme mehr,<br />

ich wähle nur noch Personen. Personen<br />

kenne ich, Parteiprogramme sind Selbstbefriedigungen<br />

von Politintellektuellen,<br />

die mich nicht interessieren. Insofern ist<br />

es <strong>ein</strong> wunderbares Ereignis, dass die<br />

Deutschen diese Frau mit 41,5 Prozent gewählt<br />

haben. Das ist <strong>ein</strong> feierliches Datum.<br />

Können wir denn generell bei <strong>ein</strong>er Entscheidung<br />

das Schöne auch für das Gute<br />

halten? Ist das nicht <strong>ein</strong> verführerisch<br />

gefährlicher Weg?<br />

Sloterdijk: In jungen Jahren haben<br />

uns Lehrer und Autoren immer vor der<br />

Ästhetisierung der Politik gewarnt. Das<br />

war <strong>ein</strong>e Schlüsselformel der 68er-Generation.<br />

Sobald im politischen Raum ästhetische<br />

Phänomene auftauchen, habe<br />

man es aller Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit nach<br />

mit Faschismus zu tun. So lautete die<br />

Basisdiagnose. Im Rückblick auf die fatalen<br />

zwölf Jahre hat man Verallgem<strong>ein</strong>erungen<br />

gebildet und uns dazu aufgefordert,<br />

den politischen Raum insgesamt<br />

wie <strong>ein</strong>e puritanische Kirche <strong>ein</strong>zurichten<br />

oder wie <strong>ein</strong>e zisterziensische Kathedrale,<br />

in welcher die Schmucklosigkeit<br />

das höchste Gebet darstellt. Die Kunst,<br />

alles wegzulassen, wäre demnach die eigentliche<br />

Anbetung. Die Wahrheit käme<br />

nur im Gewande der Schmucklosigkeit.<br />

Wobei es sich immer noch um Schönheit<br />

handeln kann.<br />

Sloterdijk: Das ist aber <strong>ein</strong>e andere<br />

Ästhetik. Es gab <strong>ein</strong>e Zeit, als diese Kargheit<br />

das Milieu des politischen Denkens<br />

in <strong>Deutschland</strong> bestimmt hat, und es war<br />

nicht immer nur <strong>ein</strong>e schlechte Zeit. Aber<br />

man hatte den Bogen überspannt. Heute<br />

ist es ganz offenkundig: <strong>Der</strong> Trend läuft<br />

zur Repersonalisierung der Politik und<br />

weg vom Glauben an die Programme.<br />

Martin Walser hat in s<strong>ein</strong>en Ausführungen<br />

über Botho Strauß die Schönheit<br />

des „Plurimi“-Textes gerühmt, aber kritisiert,<br />

Strauß werfe eigentlich die Demokratie<br />

weg. Ich bin zutiefst überzeugt,<br />

dass die Demokratie eigentlich<br />

schön ist. Die Kategorie des Schönen<br />

muss nicht zwangsläufig zum perversen<br />

Schönheitsideal des Faschismus führen.<br />

129<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013<br />

Aus dem Englischen von Sven Scheer und Rita<br />

Seuß. 598 S. Geb € 24,95 ISBN 978-3-406-65595-1<br />

„Command and Control gehört<br />

zu den alptraumhaftesten<br />

Büchern, die in den letzten Jahren<br />

geschrieben wurden. Und<br />

es ist umso erschreckender, als<br />

es so unabweisbar richtig und<br />

so verdammt gut lesbar ist.“<br />

John Lloyd, Financial Times<br />

„Er hat Unmengen an Archivmaterial,<br />

vor allem Regierungsberichte<br />

sowie die Literatur für<br />

und gegen Atomwaffen ausgewertet<br />

und zu <strong>ein</strong>er straffen<br />

Erzählung verdichtet, die über<br />

fünfzig Jahre technischer und<br />

politischer Entwicklung abdeckt.“<br />

Louis Menand, The New Yorker<br />

C.H.BECK<br />

WWW.CHBECK.DE<br />

© Kodiak Greenwood


130<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


„Die sogenannten<br />

Fachleute, die<br />

Ökonomen,<br />

haben die<br />

Welterklärung<br />

übernommen.<br />

Manchmal<br />

denke ich, die<br />

Zahl hat das<br />

Wort besiegt“<br />

Frank A. Meyer<br />

lediglich drei, vier Grundmotive variiert.<br />

Tausende von Details werden nun in <strong>ein</strong>em<br />

großen Bildrahmen zusammengesetzt.<br />

Da beginnt die ästhetische Demokratie.<br />

Nicht die Personen versprechen<br />

den ersten Genuss, sondern die Dinge<br />

und Ersch<strong>ein</strong>ungen. Eines Tages schließt<br />

man dann von der Vielfalt der Ersch<strong>ein</strong>ungen<br />

auf das Menschenrecht auf Vielheit<br />

zurück.<br />

Da sind wir schon beim Dichten gelandet.<br />

In Ihren Romanen und Erzählungen,<br />

Martin Walser, gehen Sie auch der<br />

Schönheit in der Vielzahl nach.<br />

Walser: M<strong>ein</strong>e Arbeit besteht darin,<br />

etwas so schön zu sagen, wie es<br />

nicht ist. Das ist die Arbeit von Literatur<br />

überhaupt. Selbst Romane mit den<br />

schlimmsten Schlüssen werfen <strong>ein</strong>en weißen<br />

Schatten. Eine Szene bei Dostojewski<br />

kann noch so elend s<strong>ein</strong>, wir lesen sie<br />

trotzdem gerne. Die Kunst, die Sprache,<br />

macht es von selber schön.<br />

Aber das ist <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Plädoyer zur<br />

Bejahung dieser Welt, nicht wahr?<br />

Walser: Vern<strong>ein</strong>ung liegt mir nicht.<br />

Sloterdijk: Das setzt nur <strong>ein</strong>es voraus:<br />

Die Menschen müssen <strong>ein</strong>e Art von ästhetischer<br />

Erziehung durchlaufen, die<br />

es ihnen gestattet, auch in der Vielheit<br />

die Schönheit zu sehen. Das ist der antioder<br />

nicht mehr platonische Faktor in der<br />

heutigen demokratischen Ästhetik, denn<br />

dort hat man immer den Akzent in überwertiger<br />

Weise auf Einhalt, Homogenität,<br />

Differenzlosigkeit gesetzt. Nur in<br />

dem Maße, in dem die Vielfalt mit der<br />

Schönheit verbunden werden konnte, ist<br />

der Satz richtig, dass die Demokratie selber<br />

schön ist.<br />

Wäre <strong>ein</strong>e Koppelung von Schönheit und<br />

Vielfalt <strong>ein</strong>e neue Erfahrung?<br />

Sloterdijk: Bereits auf manchen<br />

Bildern der Renaissance beginnt diese<br />

Schönheit. Bei Giotto gibt es Reiter- und<br />

Schlachtenbilder, wo in der Fülle des Details<br />

sich die Emanzipation der Einzelgänger<br />

ankündigt. Auf der Ikone wurden<br />

Wir leben aber in <strong>ein</strong>er Zeit, deren<br />

Schlüsselwort die Krise ist. Und Krise<br />

ist der Moment, wenn ich zu vern<strong>ein</strong>en<br />

beginne.<br />

Sloterdijk: Krise ist <strong>ein</strong> Begriff, der<br />

aus der Medizin kommt. Aus der Studienordnung<br />

geht hervor, dass Menschen<br />

ohne medizinische Examen zu therapeutischen<br />

Berufen nicht zugelassen werden.<br />

Interessanterweise gibt es seit 200 Jahren<br />

sehr viele wilde Therapeuten, Weltärzte<br />

könnte man sie nennen oder Homöopathen<br />

der Gesellschaft. Leute auch<br />

wie Karl Marx, den Gott im Zorn zum<br />

homöopathischen Arzt der bürgerlichen<br />

Gesellschaft geschaffen hat, indem<br />

er ihr ihre eigene Melodie vorzuspielen<br />

vorschlug. Diese Art von Amateur-Therapie<br />

wird in der Gegenwart nicht mehr<br />

so hoch geschätzt, auch bei Personen, die<br />

weiterhin kritische Reaktionen pflegen.<br />

Ich glaube nicht, dass jeder Zeitgenosse<br />

so weit gehen kann wie Martin Walser,<br />

der s<strong>ein</strong> mangelndes Vern<strong>ein</strong>ungstalent<br />

hier in außerordentlicher Weise<br />

bewirtschaftet. Ich glaube aber wohl,<br />

das es dieselbe Art von Minderheit ist<br />

bei den Schönfindern wie bei denen, die<br />

131<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Salon<br />

Gespräch<br />

das Talent haben, alles schlimm zu finden<br />

– obwohl die Schlimmfinder die letzten<br />

30 Jahre den Ton angegeben haben.<br />

Wer ist denn nützlicher, um unser Gesellschaftsleben<br />

zu bewältigen, die<br />

Schönfinder oder die Hässlichfinder? Sie,<br />

Martin Walser, haben gesagt, Sie hätten<br />

den M<strong>ein</strong>ungsdienst quittiert, zu<br />

dem die Gesellschaft Sie genötigt habe.<br />

Walser: Es gab <strong>ein</strong>e Zeit, da habe ich<br />

tatsächlich geglaubt, es genüge, recht zu<br />

haben. Das ist vorbei. Ich habe gemerkt,<br />

welch trauriger Bewussts<strong>ein</strong>szustand das<br />

ist, recht zu haben. Dadurch, dass ich Sachen<br />

bestritten habe, sind sie erst lebendig<br />

geworden. Mit Blick auf den wunderbar<br />

geschriebenen Aufsatz von Botho<br />

Strauß und den entsetzlich rechthaberischen<br />

Enzensberger, den ich als <strong>ein</strong>en der<br />

liebenswürdigsten, intelligentesten Zeitgenossen<br />

immer verehrt habe, sage ich<br />

mir: Es gibt noch Natur. Ich lebe am Bodensee<br />

in <strong>ein</strong>em Naturtheater, wo jede<br />

Stunde die Natur mir neue Szenen serviert.<br />

Ich habe <strong>ein</strong> Kräuterbeet, da gibt es<br />

für mich <strong>ein</strong>e derart große Fülle, dass ich<br />

mit dem Erleben gar nicht nachkomme.<br />

Wenn ich mir <strong>ein</strong>e Rose anschaue, denke<br />

ich: M<strong>ein</strong> Gott, weiß ich noch morgen,<br />

wie du heute geblüht hast? Das tut mir für<br />

beide leid, für mich und die Rose.<br />

Sloterdijk: Damit bewegen wir uns<br />

zurück in das 14. und 15. Jahrhundert,<br />

als die Maler der italienischen Renaissance<br />

<strong>ein</strong>e neue Sicht auf die Natur entwickelt<br />

haben. Das ist jene Zeit, da das<br />

Naturschöne als solches entdeckt wird als<br />

kultivierte Landschaft. <strong>Der</strong> Mensch erlebt<br />

die Landschaft dann als schön, wenn<br />

er sie durch <strong>ein</strong> Fenster sehen kann. Im<br />

Publikum wie beim Maler wächst diese<br />

eigenartige Fähigkeit, solche Naturensembles<br />

auch kontemplativ anzusehen,<br />

ohne etwas davon zu wollen – nicht mit<br />

dem Jägerblick, nicht mit dem Bauernblick,<br />

nicht mit dem Wanderer- oder Soldatenblick,<br />

sondern mit dieser freigelassenen<br />

überschüssigen Seelenkraft, die<br />

durch die Malerei und durch die ästhetische<br />

Erziehung insgesamt freigesetzt<br />

wird. Glücklich, wer dies heute am Bodensee<br />

von früh bis spät fortführen kann.<br />

Walser: Aus gegebenem Anlass<br />

musste ich mir neulich Gedanken machen<br />

zu Griechenland. Es soll die EU verlassen,<br />

Sie kennen die Gründe. Ökonomen<br />

Zur Person<br />

Peter sloterdijk<br />

ist <strong>Deutschland</strong>s bekanntester<br />

Philosoph. S<strong>ein</strong>e Hauptwerke<br />

sind die „Kritik der zynischen<br />

Vernunft“, „Zorn und Zeit“ und<br />

„Du musst d<strong>ein</strong> Leben ändern“.<br />

Unlängst legte er „Zeilen und<br />

Tage: Notizen 2008–2011“ und<br />

„M<strong>ein</strong> Frankreich“ vor. Er lehrt an<br />

der Staatlichen Hochschule für<br />

Gestaltung in Karlsruhe<br />

„<strong>Der</strong> Experte<br />

ist für uns zu<br />

etwas geworden,<br />

was früher der<br />

Hofnarr war.<br />

Mit dem<br />

Unterschied<br />

freilich, dass<br />

der Experte die<br />

Unwahrheiten<br />

sagen muss oder<br />

die Halbwahrheiten,<br />

die zum<br />

System gehören“<br />

Peter Sloterdijk<br />

mit solchen Forderungen wissen nicht,<br />

dass wir alles, was Schönheit ist, in Griechenland<br />

gelernt haben. Und dass die<br />

griechische Kunst die <strong>ein</strong>zige Kunst der<br />

Welt ist, die sich über 2000 Jahre lang<br />

als schön erhalten hat. Europa ohne<br />

Griechenland wäre weniger schön. Das<br />

ist zwar k<strong>ein</strong> ökonomisches Argument,<br />

aber es ist das wichtigste.<br />

Mit dem Begriff der Schönheit kann<br />

man offensichtlich zu <strong>ein</strong>er Haltung<br />

kommen, die die Krisen zu bewältigen<br />

glaubt. Vielleicht ist das so, aber<br />

bei Ihnen, Herr Sloterdijk, las ich: „Intelligenz<br />

gibt es.“ Aus der Intelligenz<br />

folgt <strong>ein</strong>e starke ethische These: „Intelligenz<br />

existiert in positiver Korrelation<br />

mit dem Willen zur Selbstbewahrung.“<br />

Das hat mit Schönheit wenig zu<br />

tun. Es sei denn, wir erklären nun Intelligenz<br />

zur Schönheit.<br />

Sloterdijk: <strong>Der</strong> Satz ist nur dann<br />

wahr, wenn man ihn ergänzt: Intelligenz<br />

aber entsteht durch den ungeschützten<br />

Verkehr mit fremder Intelligenz.<br />

Diesen Vorgang beschreiben wir<br />

als Weltoffenheit. Max Scheler hat um<br />

1920 – erstaunlich spät in der Geschichte<br />

der Philosophie – diesen Begriff in die<br />

Diskussion <strong>ein</strong>geführt. In früheren Zeiten<br />

hat man <strong>ein</strong>fach geglaubt, dass der<br />

Mensch irgendwie zur Welt gehört wie<br />

der Daumen zur Hand. Ein echtes Beziehungsproblem<br />

wurde nicht wahrgenommen.<br />

In der modernen Philosophie<br />

haben sich die Verhältnisse etwas verschoben.<br />

Die Frage ist erörtert worden,<br />

ob Mensch und Welt überhaupt richtig<br />

zu<strong>ein</strong>anderpassen. Die Vermutung, dass<br />

dieses Verhältnis nicht blind vorausgesetzt<br />

werden darf, hat sich verschärft. Intelligenz<br />

ist nun das Organ der Weltoffenheit.<br />

Und Intelligenz als Ganzes führt<br />

auch den Wirklichkeitsbeweis insofern,<br />

dass es Probleme gibt. Probleme sind eigentlich<br />

die Themen, nicht die Sachen<br />

selbst. Ein Problem ist die Art und Weise,<br />

wie wir über Dinge reden.<br />

Wie kam es zu dieser Begrifflichkeit?<br />

Sloterdijk: Von Gorgias, dem griechischen<br />

Sophisten, wird berichtet, er sei<br />

<strong>ein</strong>mal in das große Dionysostheater von<br />

Athen gegangen. Vor 12 000 Menschen<br />

wandte er sich im Vollgefühl des Über-alles-reden-Könnens<br />

an das Publikum und<br />

132<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


warf ihm den Fehdehandschuh hin mit<br />

dem griechischen Wort provlímata – Problem<br />

klingt da an: „Gebt mit irgend<strong>ein</strong><br />

Thema.“ Werft mir irgendwas vor, und<br />

ich werde euch die Wahrheit über diese<br />

Sache sagen. Seither streiten auf der<br />

Bühne zwei Arten von Interpreten mit<strong>ein</strong>ander,<br />

die Realisten, die immer glauben,<br />

sie müssten zur Sache kommen, und die<br />

Wahrnehmungskünstler, die zum Thema<br />

reden können. Mit dieser Differenz haben<br />

wir es weiterhin zu tun.<br />

Sind Sie <strong>ein</strong> Wahrnehmungskünstler?<br />

Sloterdijk: Ich finde mich sehr leicht<br />

auf der Wahrnehmungsseite wieder.<br />

Aber Sie kommen auch gerne zum<br />

Thema. Zum Beispiel sagen Sie, „wir erleben<br />

<strong>ein</strong>en Adlerflug der Gier über <strong>ein</strong>er<br />

ungeheuren Landschaft von Gewinnen“.<br />

Das ist doch wohl zur Sache geredet.<br />

Sloterdijk: Seit der Antike gibt es<br />

die Erfahrung, dass die Wörter und die<br />

Dinge verschiedenen Ordnungen angehören.<br />

Dass die Redner reden, die Dichter<br />

dichten, und die reichen Leute und<br />

die Mächtigen machen, was sie wollen.<br />

Es gab nur <strong>ein</strong>e Situation, als griechische<br />

Kunst und römische Republik auf<strong>ein</strong>andertrafen<br />

und die Rhetorik selber die Politik<br />

war. Rhetorik war damals die Kunst,<br />

durch wohlgesetzte Rede die Stimmung<br />

der Menge so zu infizieren, dass richtige<br />

Entscheidungen getroffen werden konnten.<br />

Das war die beste Zeit des Verhältnisses<br />

von Wort und Wirklichkeit.<br />

Walser: Aber Ihnen ist gewiss die<br />

Stelle bekannt, nachdem Sokrates zum<br />

Tode verurteilt worden ist. Er wartet<br />

auf s<strong>ein</strong>e Hinrichtung und hat da <strong>ein</strong>en<br />

Traum. Und was sagt der Traum zu ihm?<br />

<strong>Der</strong> Traum sagt ihm: „Mache Musik!“,<br />

und das heißt: „Dichte!“ Sokrates merkt,<br />

es gibt noch etwas Schöneres als die r<strong>ein</strong>e<br />

Philosophie, nämlich die Dichtung. Er<br />

fängt an, die Fabeln von Aesop in Verse<br />

zu verwandeln.<br />

Sloterdijk: Sie kennen aber den<br />

Kommentar des jungen Nietzsche zu dieser<br />

Stelle? Er sagt, er glaube nicht, dass<br />

Sokrates mit diesen Versen die Musen<br />

versöhnt habe.<br />

Walser: Das ist <strong>ein</strong>er der billigsten<br />

Sätze von Nietzsche, die ich je gehört<br />

habe. An anderer Stelle schreibt er: Das<br />

Das<strong>ein</strong> der Welt ist auf ewig nur ästhetisch<br />

zu rechtfertigen. Er hat die Schönheit<br />

emporgehoben wie sonst niemand.<br />

Bedenken Sie: Die innere Stimme des<br />

Sokrates hat ihm nie etwas Positives gesagt,<br />

immer nur: „Mach das nicht, tu das<br />

nicht!“ Diese Stimme sagt nun: „Mach<br />

das!“, nämlich Dichten. Heilandzack, das<br />

ist doch ungeheuer.<br />

Sloterdijk: Wenn der junge Nietzsche<br />

die ästhetische Rechtfertigung der<br />

Welt lehrt, bezieht er sich auf die wenigen<br />

Stellen, an denen Schopenhauer diesen<br />

Ton angeschlagen hat. <strong>Der</strong> Mensch,<br />

der sonst immer auf der Galeere des Lebenmüssens<br />

und Kämpfenmüssens sitzt,<br />

angeschmiedet an der Ruderbank des<br />

Willens, ist in wenigen Momenten der<br />

Kontemplation plötzlich frei.<br />

Walser: Ich habe für mich immer gesagt:<br />

Mir fällt <strong>ein</strong>, was mir fehlt. Deswegen<br />

schreibe ich weiter, weil mir noch<br />

etwas fehlt. Schönheit ist sozusagen die<br />

Begleitersch<strong>ein</strong>ung. Wichtiger ist das Motiv,<br />

warum man schreibt.<br />

Haben wir nicht, Peter Sloterdijk, das<br />

große Problem heute, dass die sogenannten<br />

Fachleute, die Ökonomen die<br />

Welterklärung übernommen haben? Es<br />

fehlt oft die Wortmeldung der Denkenden,<br />

seien es Dichter oder Philosophen.<br />

Sie selbst treten oft auf. Macht<br />

es Ihnen auch Sorge, wie stark wir in<br />

<strong>ein</strong>er durchökonomisierten Welt leben?<br />

Manchmal denke ich, die Zahl hat das<br />

Wort besiegt.<br />

Sloterdijk: Wir leben in erster Linie in<br />

<strong>ein</strong>er Welt, in der die Zentralperspektive<br />

verloren gegangen ist. Das ist das Merkmal<br />

des Übergangs von der klassischen<br />

Moderne zu der sogenannten Postmoderne.<br />

<strong>Der</strong> Pluralismus der Standpunkte<br />

und die Vielzahl der Orte, von denen<br />

aus Gesamtansichten entworfen werden<br />

können, sind inzwischen so groß geworden,<br />

dass man den Traum von <strong>ein</strong>st, man<br />

könne mit <strong>ein</strong>em Einheitsweltbild alle in<br />

<strong>ein</strong>em gem<strong>ein</strong>samen Raum versammeln,<br />

nicht mehr ohne Weiteres weiterträumen<br />

kann. Deshalb ist die Expertokratie<br />

entstanden. Die Wirklichkeitsfelder haben<br />

sich, um <strong>ein</strong> hässliches, aber nützliches<br />

Wort von Niklas Luhmann zu benutzen,<br />

ausdifferenziert. Die medizinische<br />

Welt ist für sich <strong>ein</strong> Kosmos geworden,<br />

der kaum noch gem<strong>ein</strong>same Nenner hat<br />

mit etwa der Sphäre des Rechts. <strong>Der</strong> Eigensinn<br />

auch der politischen Sphäre ist<br />

zu groß geworden. Die Welt des Sports<br />

hat sich vollkommen ausdifferenziert, die<br />

Welt des Unterrichts und der Pädagogik<br />

ebenso, die Welt der Wirtschaft selbstverständlich<br />

auch. Deswegen werden Experten<br />

ständig widerlegt. <strong>Der</strong> Experte<br />

ist dazu da, den gesunden Menschenverstand<br />

nach den Regeln der Kunst vor den<br />

Kopf zu stoßen. Er muss immer sagen: In<br />

<strong>ein</strong>er anderen Welt, <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>fachen Welt,<br />

in der wir noch <strong>ein</strong>e gem<strong>ein</strong>same Sprache<br />

hätten, könnten wir uns gut verständigen,<br />

und dann, liebes Publikum, wären d<strong>ein</strong>e<br />

Einwände vielleicht berechtigt. Aber wir<br />

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Gespräch<br />

leben in der verkehrten Welt der ausdifferenzierten<br />

Subsysteme und in der musste<br />

alles so s<strong>ein</strong>, wie es ist. Deswegen ist der<br />

Experte für uns zu etwas geworden, was<br />

früher der Hofnarr war. Mit dem Unterschied<br />

freilich, dass der Experte die Unwahrheiten<br />

sagen muss oder die Halbwahrheiten,<br />

die zum System gehören.<br />

Aber wir wissen gleichzeitig, dass die<br />

Sphäre des Ökonomischen und die Sphäre<br />

des Medizinischen und die Sphäre des Politischen<br />

zusammengehören. Wäre nicht<br />

die Philosophie im Grunde genommen die<br />

Sphäre des Ganzen oder der Wiederherstellung<br />

des Ganzen?<br />

Sloterdijk: Philosophen wären dann<br />

Universaldilettanten.<br />

Dilettantismus aber in <strong>ein</strong>em positiven<br />

Sinn.<br />

Sloterdijk: Damit bewegen wir uns<br />

wieder im 18. Jahrhundert. <strong>Der</strong> vornehme<br />

arbeitslose Mensch, der Adlige<br />

mit freien Händen, frönt s<strong>ein</strong>er diletto,<br />

s<strong>ein</strong>er freudigen Anteilnahme an<br />

irgend<strong>ein</strong>er Kunst. Das ist dann s<strong>ein</strong>e<br />

Privatangelegenheit.<br />

Es war aber doch <strong>ein</strong>e ganz gewaltige gesellschaftliche<br />

Aufgabe damals. Eigentlich<br />

sind wir wieder im 18. Jahrhundert.<br />

Sloterdijk: Das mag so s<strong>ein</strong>. Es wird<br />

wohl auch immer wieder zu Versuchen<br />

kommen, die Renaissance der Zentralperspektive<br />

zu fordern. Aber, um <strong>ein</strong>mal<br />

<strong>ein</strong> Wort Ihres Schweizer Landsmanns<br />

Jean Gebser zu zitieren: Die „aperspektivische<br />

Welt“ ist inzwischen so evident<br />

geworden, dass selbst die Renaissance<br />

der Zentralperspektive nur episodisch<br />

erfolgen kann.<br />

Wäre denn nicht vielleicht Politik innerhalb<br />

der Demokratie die Sphäre des<br />

ganz konkreten alltäglichen Ganzen?<br />

Sloterdijk: So kann man an die Sache<br />

herangehen, dann ist aber die Überhöhung<br />

perdu. Denken Sie an den Aufsatz<br />

des vor sechs Jahren verstorbenen<br />

amerikanischen Philosophen Richard<br />

Rorty, der im Titel s<strong>ein</strong>e Grundidee ausspricht:<br />

„<strong>Der</strong> Vorrang der Demokratie<br />

vor der Philosophie“. So kann man auch<br />

weiter verhandeln.<br />

Walser: Ich fühle mich aber überhaupt<br />

nicht entmündigt durch diese<br />

In s<strong>ein</strong>em jüngsten Roman<br />

„Die Inszenierung“ lässt Walser<br />

den Regisseur Augustus Baum<br />

sagen: „Nur was wehtut, wird<br />

Geschichte.“ Doch auch <strong>ein</strong>e<br />

Umarmung hat ihre Historie<br />

„Martin Walser<br />

hat sehr früh<br />

erkannt, dass er<br />

nur die Wahl<br />

hat, sich<br />

entweder von<br />

der NSA oder<br />

dem BND<br />

beobachten zu<br />

lassen oder sich<br />

selbst zu<br />

beobachten“<br />

Peter Sloterdijk<br />

vielen Systeme und den Mangel an <strong>ein</strong>er<br />

Zentralperspektive. Ich habe <strong>ein</strong> vitales<br />

Bedürfnis, mich auszusprechen. Es<br />

kommt natürlich <strong>ein</strong>e Hoffnung dazu: Ich<br />

hoffe, dadurch zu erfahren, ob ich all<strong>ein</strong><br />

diese Ansicht habe oder ob es Zeitgenossen<br />

gibt, die mir zustimmen. Nur dadurch<br />

existiere ich. Ich lebe von Zustimmung,<br />

etwa durch Leserbriefe. So merke<br />

ich, dass ich k<strong>ein</strong>e systemischen Spezialprobleme<br />

beachten muss.<br />

Sloterdijk: <strong>Der</strong> Romancier kann sich<br />

mehr leisten als all diejenigen, die das<br />

Unglück haben, Experten zu s<strong>ein</strong>. Es gibt<br />

aber auch <strong>ein</strong>en dunkleren Begriff, der<br />

diese Zustimmung und diese Beobachtung<br />

mit<strong>ein</strong>schließt – die Überwachung.<br />

Martin Walser hat sehr früh erkannt, dass<br />

er nur die Wahl hat, entweder von der<br />

NSA oder dem Bundesnachrichtendienst<br />

sich beobachten zu lassen oder sich selbst<br />

zu beobachten. Ich darf <strong>ein</strong> Beispiel geben,<br />

aus dem hervorgeht, dass er wirklich<br />

gut beraten war, hier auf Selbstüberwachung<br />

zu setzen. Er schreibt in „Meßmers<br />

Gedanken“ <strong>ein</strong>e großartige Passage, die<br />

den Bundesnachrichtendienst hätte interessieren<br />

können: „Wenn <strong>ein</strong>er schreit, bis<br />

er stirbt, wenn er sich überhaupt nicht<br />

fügt, wenn er protestiert, solange er kann,<br />

wenn er überhaupt k<strong>ein</strong>e Fassung findet,<br />

wenn er nichts als s<strong>ein</strong>e Angst hinausbrüllt,<br />

wenn er nur noch von s<strong>ein</strong>er Feigheit<br />

quatscht, wenn er brüllt, er wolle,<br />

bevor er verrecke, noch die Welt in die<br />

Luft sprengen, wenn er brüllt, er werde<br />

es nicht zulassen, dass ihn auch nur <strong>ein</strong><br />

<strong>ein</strong>ziger Mensch überlebe, wenn er sämtliche<br />

Schallplatten, die er erreichen kann,<br />

zerbricht, wenn er k<strong>ein</strong>em die Illusion<br />

lässt, er könne Abschied nehmen von<br />

ihm, wenn er verlangt, alle müssten ununterbrochen<br />

um ihn herum s<strong>ein</strong>, wenn<br />

er jeden anspuckt, der sich ihm nähert,<br />

wenn er verlangt, alle sollten sich sofort<br />

die Pulsadern öffnen, wenn er sich unmöglich<br />

benimmt, dann benimmt er sich<br />

richtig, angemessen.“ Das ist doch <strong>ein</strong>en<br />

Überwachungsdienst wert, der nun Gott<br />

sei Dank im Inneren des Autors selber<br />

implantiert wurde.<br />

Walser und Sloterdijk waren am<br />

29. September Gäste des <strong>Cicero</strong>-Foyergesprächs.<br />

Das vollständige Gespräch<br />

können Sie als Videomitschnitt<br />

nachverfolgen unter:<br />

www.cicero.de / Gipfeltreffen<br />

134<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Einmal im Jahr gestaltet <strong>ein</strong> zeitgenössischer<br />

Künstler <strong>ein</strong>e Ausgabe der WELT<br />

Die Welt des<br />

Neo Rauch<br />

Am 30. Oktober am Kiosk


Salon<br />

Bibliotheksporträt<br />

lesen, was dich<br />

selber liest<br />

Die Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin Adriana<br />

Altaras braucht Bücher als Nahrungsmittel und Lebensbegleiter<br />

Von irene bazinger<br />

Wie schreibt man <strong>ein</strong>en Bestseller? Wenn man Adriana Altaras fragt,<br />

schaut sie ungläubig und lacht. Sie weiß es auch nicht – dabei ist ihr 2011<br />

mit „Titos Brille – Die Geschichte m<strong>ein</strong>er strapaziösen Familie“ <strong>ein</strong> solcher<br />

gelungen. 100 000 Exemplare wurden bislang davon verkauft, was<br />

die Schauspielerin und Regisseurin, die von sich sagt, erst in ihrem dritten<br />

Beruf Autorin zu s<strong>ein</strong>, selbst am meisten überraschte.<br />

Sechs Jahre lang arbeitete sie am ersten Buch, legte zwischendurch die<br />

mittelgroßen Ringbücher weg, die sie handschriftlich füllte, inszenierte und<br />

spielte währenddessen, schrieb weiter. Irgendwann war ihre jüdische Familienchronik<br />

fertig. Wahrsch<strong>ein</strong>lich liegt der Erfolg an dem menschenfreundlichen<br />

Humor, mit dem Adriana Altaras unangestrengt und sehr persönlich<br />

von ihren Angehörigen und deren Schicksal erzählt, ob es sich um Unterdrückung,<br />

Vertreibung und Holocaust handelt oder um Kuriositäten des Alltags.<br />

Dass sie ihre Talente so entfalten konnte, m<strong>ein</strong>t Adriana Altaras, die als<br />

Kind jüdischer Eltern in Kroatien geboren wurde, in Italien und <strong>Deutschland</strong><br />

aufwuchs, sei „<strong>ein</strong>fach passiert“. Das Theater hat sie bereits als Kind<br />

fasziniert. Sie absolvierte ihre Ausbildung in Berlin und New York und<br />

gründete im Anschluss mit Kollegen in Kreuzberg das alternative „Theater<br />

zum westlichen Stadthirschen“. Und weil man sich zu Beginn der achtziger<br />

Jahre nicht bloß auf die vorhandene Dramatik konzentrieren wollte,<br />

fing das Ensemble an, gem<strong>ein</strong>sam Stoffe aufzubereiten, Stücke zu schreiben.<br />

Die ungewöhnlich belesene Adriana Altaras war von diesen Aufgaben<br />

angetan und setzte sie fort, auch nachdem sich die Gruppe aufgelöst hatte.<br />

Sie war der Literatur spätestens verfallen, seit sie mit 14 Jahren in den<br />

Ferien in Italien das Bücherregal ihrer geliebten Tante Jelka durchstöbert<br />

hatte. In der zweiten Reihe entdeckte sie die italienische Originalausgabe<br />

von Pitigrillis Skandalroman „Kokain“. Die zog Adriana Altaras heraus, las<br />

sie – und war, so dramatisch sieht sie es noch heute, <strong>ein</strong>e andere geworden.<br />

Mit „Cocaina“ aus dem Jahr 1921 begann <strong>ein</strong>e neue Zeitrechnung: „Es war<br />

für mich das erste Buch von Bedeutung und völlig anders als alles, was ich<br />

bis dato gekannt hatte. Wow, habe ich mir gedacht, so kann man also leben,<br />

137<br />

<strong>Cicero</strong> – 11.2013


so kann man also schreiben!“ Sie hat auch jetzt <strong>ein</strong>e italienische Ausgabe<br />

in ihrer Altbauwohnung im Berliner Bezirk Schöneberg, wo sie mit ihrem<br />

Mann, dem Komponisten Wolfgang Böhmer, und den zwei gem<strong>ein</strong>samen<br />

Söhnen daheim ist. Ihre Tante erzog sie zur Zweisprachigkeit in Wort und<br />

Schrift. Was sich in hölzernen Regalen reiht und stapelt, ist häufig abgeschmust<br />

und geherzt wie liebstes Kinderspielzeug – oder gar nicht da. Vieles<br />

von dem, was sie ausgelesen hat, verschenkt sie weiter.<br />

Umso beredter ist, was sie aufbewahrt: „Ich habe immer parallel zu<br />

m<strong>ein</strong>er persönlichen Entwicklungsgeschichte gelesen.“ So waren die Bücher<br />

nie Sammelobjekte, sondern stets veritable Lebensabschnittsbegleiter. Nach<br />

der italienischen Phase, ausgelöst durch Pitigrilli, angereichert mit Werken<br />

von Italo Calvino, Gabriele d’Annunzio, Carlo Manzoni, brach ihre französische<br />

Phase an: Zu jugendlichen Liebesgefühlen kamen die Filme von<br />

Godard, Truffaut, Melville und Romane von Flaubert, Balzac, Zola sowie<br />

„<strong>Der</strong> Schaum der Tage“ von Boris Vian. Anders als Max Frisch und Hermann<br />

Hesse, die ihre Waldorf-Klassengem<strong>ein</strong>schaft unversöhnlich teilten,<br />

war das k<strong>ein</strong>e Schullektüre. Sie bevorzugte dort Frisch: „Schon damals hat<br />

mich, unbewusst, aber trotzdem stark, Literatur angesprochen, die zum<br />

Theater führt. Frischs Tagebücher würde ich dazuzählen, das sind Alltagsbeobachtungen,<br />

die öffentlich gemacht werden und die man auf der Bühne<br />

nutzen kann, wie überhaupt s<strong>ein</strong> ganzer Umgang mit Sprache sehr pragmatisch,<br />

sehr direkt ist.“ Bis heute interessiert sie weniger das fiktionale Sezieren<br />

von Figuren à la Jonathan Franzen als das spielerische Handhaben von<br />

Menschen und Verhältnissen à la William Somerset Maugham.<br />

Verwies ihre Verbindung zur Literatur bereits auf ihre berufliche Zukunft,<br />

so begann mit ihrer „jüdischen Phase“ der Rückblick in die Vergangenheit.<br />

Wieder war es <strong>ein</strong>e Originalausgabe aus der Bibliothek ihrer Tante,<br />

die ihre Neugier erregte, nämlich Giorgio Bassanis Roman „Il giardino dei<br />

Finzi-Contini“ ( 1962 ), der in Vittorio de Sicas Verfilmung als „Die Gärten<br />

der Finzi-Contini“ in deutschen Kinos lief: „Dieses Buch habe ich in <strong>ein</strong>er<br />

<strong>ein</strong>zigen Nacht ausgelesen. Bislang hatte ich mich nicht besonders um jüdische<br />

Autoren gekümmert, und dass Pitigrilli Jude gewesen war und ins<br />

Ausland fliehen musste, habe ich lange nicht gewusst.“<br />

Sie wurde sich bewusst, <strong>ein</strong>e Angehörige der zweiten Generation von<br />

Holocaust-Überlebenden zu s<strong>ein</strong>. Sie setzte sich mit ihrem jüdischen Erbe<br />

aus<strong>ein</strong>ander, ob mit dem Oeuvre von Isaac B. Singer oder von Philip Roth<br />

oder mit „Zalmans Album“ von Philippe Blasband. Zwischen den Büchern<br />

steht <strong>ein</strong>e Ausgabe des Kaddisch, des traditionellen jüdischen Totengebets.<br />

Bücher sind ihr Grundnahrungsmittel geblieben. Seit Jahren schwört<br />

sie auf ihren E-Book-Reader. Doch zu Hause am Bett oder wenn sie <strong>ein</strong>e<br />

Romanadaption vorbereitet, greift sie auf die Papierversionen zurück, damit<br />

sie Anstriche machen und bunte Notizzettel <strong>ein</strong>kleben kann. Bücher,<br />

findet sie, können durch nichts ersetzt werden.<br />

irene bazinger hat „Titos Brille" von Adriana Altaras mit Vergnügen gelesen<br />

138<br />

<strong>Cicero</strong> – 11.2013<br />

Foto: Andreas P<strong>ein</strong> für <strong>Cicero</strong>


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Salon<br />

Serie<br />

1933 – Als <strong>Deutschland</strong> die Demokratie verlor, Teil x<br />

Im gesunden Körper<br />

wohnt nicht stets <strong>ein</strong><br />

gesunder Geist: Leibesertüchtigung<br />

junger Volksgenossinnen<br />

bei KdF<br />

Freizeit muss sich<br />

wieder lohnen<br />

Von Philipp Blom<br />

Ende November 1933 begann „Kraft durch Freude“.<br />

Mit straff organisiertem Urlaub sollte aus Arbeitern und<br />

Angestellten <strong>ein</strong> kriegstüchtiger Volkskörper werden<br />

Foto: Picture Alliance/dpa/Süddeutsche, Peter Rigaud<br />

140<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Gegen Ende 1933 hatten die<br />

Nationalsozialisten ihre<br />

Ziele der Konsolidierung<br />

der politischen Macht und<br />

der Gleichschaltung von<br />

Politik, Wirtschaft und Kultur weitgehend<br />

erreicht. Auch die Arbeiterschaft<br />

war durch die Zerschlagung der Gewerkschaften,<br />

die Konfiszierung von deren<br />

Vermögen und die Eingliederung aller<br />

Arbeiter in die Deutsche Arbeitsfront<br />

(DAF) effektiv gleichgeschaltet worden.<br />

Besonders unter den Arbeitern, die<br />

bis dahin <strong>ein</strong>e starke, von den nun verbotenen<br />

Gewerkschaften und Parteien inspirierte<br />

eigene Kultur gehabt hatten, war<br />

es nicht <strong>ein</strong>fach, aus ehemaligen Sozialisten<br />

leidenschaftliche Nationalsozialisten<br />

zu machen. Um zu verhindern, dass außerhalb<br />

der Arbeitszeit <strong>ein</strong>e anarchische<br />

Gegenkultur entstand, musste die Partei<br />

auch diese Zeit für eigene Zwecke nutzen.<br />

Die Gleichschaltung der Freizeit<br />

plante der Reichsorganisationsleiter<br />

der NSDAP und Leiter des DAF, Robert<br />

Ley, dessen Fanatismus ihn zu <strong>ein</strong>em unschätzbaren<br />

Vollstrecker nationalsozialistischer<br />

Politik machte. In Anlehnung<br />

an Mussolinis Dopolavoro-Organisation,<br />

die italienischen Arbeitern im Geist des<br />

Faschismus organisierte Freizeitangebote<br />

machte, schuf Ley <strong>ein</strong>e deutsche Entsprechung,<br />

„Kraft durch Freude“, im Volksmund<br />

kurz „KdF“. Am 27. November<br />

1933 wurde die Organisation gegründet.<br />

Die Ziele der KdF waren so <strong>ein</strong>fach<br />

wie ehrgeizig. Jede deutsche Arbeiterin<br />

und jeder deutsche Arbeiter, die durch<br />

ihre Zwangsmitgliedschaft in der DAF<br />

automatisch Mitglieder der KdF waren,<br />

sollten Zugang zu billigen Freizeitaktivitäten<br />

haben und so zu <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen,<br />

kriegstüchtigen Volkskörper zusammengeschweißt<br />

werden. Das „Geschenk des<br />

Führers“ sollte dankbare „Volksgenossen“<br />

schaffen, auf die Linie der Partei<br />

<strong>ein</strong>geschworen. Neben kulturellen Veranstaltungen<br />

wie Konzerten und Vorträgen<br />

ging es um Volkssport und Reisen.<br />

Mit dem Anfang des Massentourismus<br />

war die Reiselust aller sozialen<br />

Schichten gestiegen, wenn sich auch die<br />

meisten Arbeiter <strong>ein</strong>en solchen Luxus<br />

kaum leisten konnten. Während jedes<br />

Jahr Hunderttausende von britischen<br />

Arbeitern Ferien in Blackpool machen<br />

konnten, waren in <strong>Deutschland</strong> Reisen<br />

meist <strong>ein</strong> Privileg der Mittelklasse geblieben.<br />

KdF setzte sich das Ziel, der Masse<br />

der Deutschen billige Reisen anzubieten,<br />

von Tageswanderungen bis hin zu Kuraufenthalten,<br />

Kreuzfahrten und Schiffsreisen.<br />

Ziel war es, jedes Jahr zehn<br />

Millionen Arbeitern billige Ferien zu ermöglichen.<br />

„Nichtarische“ Deutsche waren<br />

von der Teilnahme ausgeschlossen.<br />

„Kraft durch Freude“ entwickelte<br />

sich rasch zu <strong>ein</strong>er der populärsten nationalsozialistischen<br />

Organisationen.<br />

Die Freizeitangebote wurden von Millionen<br />

von „Volksgenossen“ genutzt. Allerdings<br />

gingen ihre Angebote an der<br />

Mehrzahl der Arbeiter vorbei, denn<br />

weder die Länge ihrer jährlichen arbeitsfreien<br />

Zeit noch ihre Löhne waren<br />

ausreichend, um an den KdF-Reisen teilnehmen<br />

zu können.<br />

Nur etwa 30 Prozent der Urlauber<br />

in den KdF-Ferienheimen waren besser<br />

verdienende Arbeiter, der Rest setzte<br />

sich hauptsächlich aus Angestellten mit<br />

dem nötigen Kl<strong>ein</strong>geld zusammen. Die<br />

im Laufe der dreißiger Jahre hinzukommenden<br />

Schiffsreisen waren noch<br />

exklusiver: Hier waren nur <strong>ein</strong> Sechstel<br />

der Teilnehmer Arbeiter. Auch sonst<br />

verfehlte die Organisation ihr Ziel, die<br />

Deutschen durch strikt organisierte Aktivitäten<br />

zu <strong>ein</strong>em ideologisch verlässlichen<br />

Volkskörper zu formen. Obwohl<br />

„Kraft durch Freude“ rund sieben Millionen<br />

Reisen und 690 000 Seereisen organisierte,<br />

entsprach das doch nur rund<br />

10 Prozent des Gesamtvolumens an Reisen,<br />

die Deutsche während der Nazizeit<br />

unternahmen.<br />

Dennoch kannten Leys Ambitionen<br />

k<strong>ein</strong>e Grenzen. Riesige Bauprojekte<br />

sollten <strong>ein</strong>e neue Ära der Ferienreisen<br />

<strong>ein</strong>läuten. In Prora auf Rügen entstand<br />

von 1936 an <strong>ein</strong> gigantischer Hotelkomplex<br />

mit <strong>ein</strong>er geplanten Kapazität von<br />

20 000 Betten, <strong>ein</strong>es der größten tatsächlich<br />

begonnenen Bauvorhaben der NS-<br />

Zeit. Das Projekt wurde nie als Seebad<br />

in Betrieb genommen. Die vier<strong>ein</strong>halb<br />

Kilometer lange Bauruine steht bis heute,<br />

Teile werden noch genutzt.<br />

Von 1934 an wurde das Angebot<br />

durch Kreuzfahrtschiffe ausgeweitet.<br />

Eines von ihnen, die „Wilhelm Gustloff“,<br />

sollte bei Kriegsende traurige Berühmtheit<br />

erlangen, als sie mit über<br />

10 000 Flüchtlingen an Bord von <strong>ein</strong>em<br />

Zum Autor<br />

Philipp Blom ist<br />

Historiker und Autor.<br />

Er stammt aus Hamburg<br />

und wurde in Oxford<br />

promoviert. S<strong>ein</strong>e Bücher<br />

„<strong>Der</strong> taumelnde Kontinent“<br />

und „Böse Philosophen“<br />

sind mehrfach preisgekrönt<br />

sowjetischen U‐Boot torpediert wurde.<br />

Etwa 9000 Passagiere ertranken.<br />

„Kraft durch Freude“ hinterließ der<br />

Bundesrepublik noch <strong>ein</strong> anderes Resultat<br />

ihrer ehrgeizigen Pläne. 1938 stellte<br />

Ley <strong>ein</strong> System vor, das es „Volksgenossen“<br />

ermöglichte, durch den wöchentlichen<br />

Kauf von Marken auf <strong>ein</strong> KdF-Auto<br />

zu sparen. Es sollte nach dem Vorbild von<br />

Fords Model T den Besitz <strong>ein</strong>es Kraftwagens<br />

für Millionen von Menschen möglich<br />

machen. Etwa 340 000 Deutsche<br />

kauften Anteile an dem Projekt, bekamen<br />

aber nie <strong>ein</strong> Auto ausgeliefert.<br />

Das von ihrem Geld entwickelte<br />

Fahrzeug wurde „Volkswagen“ getauft<br />

und sollte 1938 in Wolfsburg in Serie gehen.<br />

Tatsächlich wurden nur 630 Exemplare<br />

hergestellt und an offizielle Stellen<br />

vergeben, unter anderem an das deutsche<br />

Afrikakorps. Während des Krieges<br />

wurde das Geld der Subskribenten für<br />

die Herstellung anderer Wagentypen verwendet.<br />

Erst nach 1945 ging der KdF-Wagen<br />

tatsächlich in Serie, nur hieß er jetzt<br />

anders: VW Käfer.<br />

In der nächsten Ausgabe wenden wir uns<br />

dem „Gesetz zur Sicherung der Einheit von<br />

Partei und Staat“ zu<br />

141<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Salon<br />

Hopes Welt<br />

Bob weiss Bescheid<br />

Wie mich <strong>ein</strong> Alien <strong>ein</strong>mal daran erinnerte, dass der Mensch<br />

<strong>ein</strong> abgründiges Wesen und s<strong>ein</strong>e Musik doch <strong>ein</strong> Wunder ist<br />

Von Daniel Hope<br />

Ich war in Eile. Endlich zu Hause in Wien angekommen,<br />

hatte ich nur kurz Zeit, mich vor<br />

der Generalprobe auszuruhen. Als ich die<br />

Augen schloss, um abzuschalten, bildete ich mir<br />

<strong>ein</strong>, plötzlich <strong>ein</strong> Klopfen an der Terrassentür<br />

zu hören. Ich sprang auf, eilte zur Terrasse und<br />

blickte auf <strong>ein</strong>e silberne Gestalt mit riesigen<br />

Augen und <strong>ein</strong>em kegelförmigen Haupt ohne<br />

Ohren. Da stand <strong>ein</strong> Alien. „Servus, Erdling“,<br />

sagte er. „M<strong>ein</strong> Name ist Bob. Ich komme von<br />

Deneb, <strong>ein</strong>em Stern in der Konstellation von<br />

Cygnus, 1550 Lichtjahre entfernt. Ich komme<br />

in Frieden. Darf ich r<strong>ein</strong>kommen?“<br />

„Wissen Sie, Bob, ich würde Sie schon gerne<br />

her<strong>ein</strong>bitten, aber ich habe gerade k<strong>ein</strong>e Zeit.“<br />

Bob grinste. „Ach, weißt du, Erdling, es gibt<br />

die Zeit nicht mehr.“ Er schnippte mit s<strong>ein</strong>en<br />

langen Fingern, und alles um uns herum erstarrte,<br />

die Vögel hingen in der Luft, die Herbstblätter<br />

blieben auf dem Weg nach unten stehen.<br />

Ich machte uns <strong>ein</strong>en Kaffee, wir setzten uns<br />

auf das Sofa, Bob plauderte. Dass er von <strong>ein</strong>er<br />

PR-Firma auf Deneb beauftragt worden sei, der<br />

negativen Presse <strong>ein</strong> Ende zu setzen. „Weißt du,<br />

Erdling, wir werden inzwischen für alle Katastrophen<br />

verantwortlich gemacht. Das ist <strong>ein</strong>fach<br />

nicht fair. So haben wir beschlossen, euch zu<br />

besuchen, um euch von unseren guten Seiten<br />

zu überzeugen.“<br />

„Moment, Bob, wollen Sie mir sagen, Sie<br />

machen Hausbesuche, um für die Alien Community<br />

zu werben? Dann seid ihr im Grunde<br />

nicht besser als die Politiker hier auf der Erde.“<br />

„Na ja“, konterte Bob, „im Gegensatz zu<br />

euren Politikern ist es uns nicht möglich zu lügen.<br />

So sind wir nicht gebaut. Wir sind friedliche<br />

Wesen und helfen uns. Euer Hass und eure<br />

Gewalt haben sich schon in den verschiedensten<br />

Galaxien herumgesprochen. Neulich hat mir <strong>ein</strong><br />

Cyberborg erzählt, dass euer Konflikt in Syrien<br />

bisher 1,6 Millionen Flüchtlinge hervorgerufen<br />

hat. Gib’s zu, Erdling, ihr habt es vermasselt.“<br />

Da musste ich Bob recht geben. Trotzdem<br />

fühlte ich mich <strong>ein</strong> wenig verantwortlich, m<strong>ein</strong>e<br />

Spezies zu verteidigen: „Aber wir sind nicht<br />

alle böse, Bob. Schau mal, welch schöne Dinge<br />

wir produziert haben, Musik, Kunst, Literatur,<br />

Architektur.“ Plötzlich leuchteten Bobs Augen.<br />

„Na gut, wenn ich <strong>ein</strong> Herz hätte, würde es<br />

bei Bach und Schubert vermutlich aufgehen.<br />

Aber ganz ehrlich: Hat die Musik des 20. Jahrhunderts<br />

nach Strawinski Fortschritte gemacht?“<br />

„Aber ja, Bob“, erwiderte ich. „Und was<br />

heißt hier Fortschritt? Die Musik ist eben anders,<br />

größer, komplexer, aber unheimlich spannend.<br />

Clara Schumann sagte <strong>ein</strong>mal: ‚Musik drückt aus,<br />

worüber besser geschwiegen worden wäre‘.“<br />

Ich weiß nicht, wie lange wir dasaßen, aber<br />

ich überredete Bob irgendwann, die Zeit wieder<br />

anzuschalten. Ich lud ihn <strong>ein</strong>, mit in die Generalprobe<br />

zu kommen. Aber er lehnte höflich ab.<br />

Mit Birtwistles Musik könne er wenig anfangen.<br />

Wir verabschiedeten uns. Ich schloss die<br />

Augen und hörte, wie Bob auf leisen Sohlen<br />

davonschlich. Vermutlich zu Sigourney Weaver.<br />

Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. S<strong>ein</strong><br />

Memoirenband „Familien stücke“ war <strong>ein</strong> Bestseller.<br />

Zuletzt erschienen s<strong>ein</strong> Buch „Toi, toi, toi! – Pannen<br />

und Katastrophen in der Musik“ ( Rowohlt ) und<br />

die CD „The Romantic Violinist“. Er lebt in Wien<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

142<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


HAPE KERKELING<br />

Fotografiert von Martin Schoeller<br />

exklusiv für HÖRZU<br />

Einer, der<br />

zu Hause hat


Salon<br />

144<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Georg<br />

Ringsgwandl<br />

Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

Die letzten 24 Stunden<br />

Es gilt im Leben<br />

wie im Sterben:<br />

Auf die Haltung<br />

kommt es an<br />

Georg Ringsgwandl<br />

ist Kabarettist und Sänger und<br />

arbeitete viele Jahre als<br />

Kardiologe. S<strong>ein</strong> neues Album<br />

heißt „Mehr Glanz!“. Mit ihm<br />

tourt er gerade durch<br />

<strong>Deutschland</strong> und Österreich<br />

<strong>Der</strong> Sinn der Frage ist doch<br />

der, dass man sich mit maximalem<br />

Ernst darüber Gedanken<br />

macht, was man mit<br />

der Zeit s<strong>ein</strong>es Lebens anfängt.<br />

Unsere Gesellschaft lebt ja davon,<br />

dass <strong>ein</strong> riesiger Industrie- und Konsumapparat<br />

es den Leuten ermöglicht, sich<br />

jahrzehntelang elegant um diese Frage<br />

herumzudrücken.<br />

In m<strong>ein</strong>er Kindheit – ich bin 1948<br />

geboren – war der Krieg noch allgegenwärtig.<br />

Du hast Leute gesehen, die waren<br />

schwer geschädigt, manche sind an<br />

den Spätfolgen ihrer Kriegsverletzungen<br />

gestorben. M<strong>ein</strong> Vater hatte mehrere<br />

Granatsplitter im Kopf. Die blieben<br />

s<strong>ein</strong> Leben lang drin. Dadurch hatte<br />

er schwere epileptische Anfälle. Wenn<br />

man als Kind so <strong>ein</strong>en Anfall miterlebt,<br />

hast du das Gefühl, die Welt bricht zusammen.<br />

Ich kann mich auch erinnern,<br />

wie <strong>ein</strong>em Jungen, der im Wald mit<br />

Handgranaten hantiert hat, beide Arme<br />

weggefetzt wurden. <strong>Der</strong> war von oben<br />

bis unten <strong>ein</strong> Blutklumpen. Das vergisst<br />

man nie.<br />

Mit 18 Jahren habe ich <strong>ein</strong>e Lungen-TBC<br />

bekommen und war <strong>ein</strong> Jahr<br />

lang im Sanatorium. Ab dem Zeitpunkt<br />

habe ich mich nie mehr vor brüllenden<br />

Lehrern gefürchtet. Mir war also frühzeitig<br />

klar, dass das Ganze <strong>ein</strong>e endliche<br />

Veranstaltung ist. Ich war 15 Jahre<br />

lang Arzt auf Intensivstationen. Es gibt<br />

Ärzte, die es <strong>ein</strong> Leben lang schaffen, sich<br />

mit dem Tod nicht mal im Ansatz zu beschäftigen,<br />

aber mich hat immer interessiert,<br />

was Krankheit in der Biografie <strong>ein</strong>es<br />

Menschen bedeutet.<br />

Trotzdem: Auch ich habe <strong>ein</strong>en Kredit<br />

auf die Zukunft gezogen. All<strong>ein</strong> für<br />

das Medizinstudium habe ich sechs Jahre<br />

verbraten. Wenn ich kurze Zeit später<br />

gestorben wäre, hätte ich mir gedacht:<br />

„Kruzifix, warum bin ich nicht <strong>ein</strong>fach in<br />

die Südsee gefahren und habe es mir gut<br />

gehen lassen?“ In der Facharztausbildung<br />

habe ich jeden Tag zwölf bis 14 Stunden<br />

gearbeitet, weil ich dachte, dass m<strong>ein</strong> Leben<br />

anschließend schöner und erfüllender<br />

s<strong>ein</strong> würde.<br />

Aber irgendwann stimmte der Handel<br />

für mich nicht mehr, und ich habe<br />

mich für die freie Musikszene entschieden.<br />

Ich weiß sehr wohl, dass die Unsicherheit<br />

des freien Berufs für viele Leute<br />

unerträglich ist. Aber mir ist Freiheit<br />

wichtiger als Sicherheit.<br />

In m<strong>ein</strong>en letzten 24 Stunden würde<br />

ich <strong>ein</strong> paar Leute anrufen, die ich im<br />

Laufe der Jahre ungerecht behandelt<br />

habe. Ich würde versuchen, mit ihnen<br />

m<strong>ein</strong>en Frieden zu machen. Für mich<br />

selber bräuchte ich nichts mehr tun. Ich<br />

habe alles gemacht, was ich machen<br />

wollte. Vielleicht würde ich am Klavier<br />

noch <strong>ein</strong>, zwei Songs spielen. Mit Sicherheit<br />

würde ich nicht in Eile geraten.<br />

Wenn mir danach ist, würde ich mich<br />

sogar noch zu <strong>ein</strong>em Mittagsschlaf hinlegen.<br />

Bei schönem Wetter würde ich noch<br />

<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Radtour machen und <strong>ein</strong>e<br />

Runde schwimmen. Und dann würde<br />

ich hoffen, dass das Ganze halbwegs<br />

schmerzfrei über die Bühne geht. Wenn<br />

du merkst, die Zeit ist gekommen, dann<br />

mach es mit Anstand. Haltung ist wichtig.<br />

Glaube nicht, es wäre ungerecht, dass du<br />

jetzt abkratzen musst. It’s not. Wir sind<br />

nicht die erste und nicht die letzte Generation.<br />

Es ist <strong>ein</strong> ewiger Strom. Mach<br />

k<strong>ein</strong>en Terz um d<strong>ein</strong>e Person. Keep a low<br />

profile. Halt es schlank, das Ganze.<br />

Aufgezeichnet von Florian Welle<br />

145<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013


Postscriptum<br />

N°-11<br />

Liberale Betschwestern<br />

Was haben FDP und katholische Kirche<br />

gem<strong>ein</strong>sam? Beide glauben an die<br />

Wiederauferstehung. Wenn es mit den<br />

Liberalen aber tatsächlich noch <strong>ein</strong>mal<br />

etwas werden soll, hilft Beten nicht weiter.<br />

Was dagegen weiterhelfen könnte, ist <strong>ein</strong><br />

Blick auf die derzeitige Verfasstheit des<br />

organisierten Katholizismus, dessen<br />

Führungspersonal lange Zeit der Ansicht<br />

war, dass sich <strong>ein</strong>e 2000 Jahre alte Einrichtung<br />

von aktuellen Befindlichkeiten der<br />

eigenen Anhängerschaft nicht allzu sehr<br />

irritieren lassen müsse.<br />

Im 65. Jahr ihres Bestehens hat die<br />

liberale Partei zwar auch schon die Renten<strong>ein</strong>trittsschwelle<br />

überschritten, von <strong>ein</strong>em<br />

biblischen Alter ist sie aber noch weit<br />

entfernt. Trotzdem sch<strong>ein</strong>en viele Funktionäre<br />

vom Gedanken <strong>ein</strong>er Art Ewigkeitsgarantie<br />

durchdrungen zu s<strong>ein</strong>. Oder<br />

zumindest von der Überzeugung, die<br />

Bundesrepublik bedürfe auch in Zukunft<br />

der FDP, weil sie in der Vergangenheit<br />

halt immer dazugehört hat. Das ist selbstgefälliges<br />

Institutionendenken. Weil die<br />

Welt sich zur Not sogar ohne den Katholizismus<br />

weiterdrehen würde, ginge wohl<br />

auch ohne die Freien Demokraten in<br />

<strong>Deutschland</strong> morgens die Sonne auf.<br />

Nur sch<strong>ein</strong>t das etlichen professionellen<br />

Parteileuten noch immer nicht klar<br />

zu s<strong>ein</strong>. Darauf deutet jedenfalls dieses<br />

uninspirierte „Weiter so“ hin, das in der<br />

FDP jetzt heruntergebetet wird, als sei<br />

nichts geschehen.<br />

Dabei ist sehr vieles geschehen –<br />

das lässt sich auch nicht mit beleidigten<br />

Hinweisen auf ausgebliebene Zweitstimmen<br />

der Union im liberalen Opferstock<br />

kl<strong>ein</strong>reden. Im Kern nämlich geht es um<br />

den Widerspruch zwischen<br />

Glaubensgrundsätzen und tagesformabhängigem<br />

Handeln. Es gibt schon gute<br />

Gründe dafür, warum dem Bischof von<br />

Rom jetzt die Herzen zufliegen, während<br />

dem Bischof von Limburg die Schäfchen<br />

davonlaufen – Medienhype hin oder her.<br />

Die Steuersenkungsfreiheitlichkeit der<br />

Vergangenheit war jedenfalls k<strong>ein</strong> bisschen<br />

mehr wert als <strong>ein</strong> in Ritualen erstarrter<br />

Gehorsamskatholizismus.<br />

Genau wie etliche Kirchenfürsten<br />

sch<strong>ein</strong>en auch die Weihbischöfe des<br />

Liberalismus in <strong>Deutschland</strong> die eigentliche<br />

Botschaft ihrer Glaubensschule zu fürchten.<br />

Übrigens haben beide ziemlich viel zu tun<br />

mit der Würde des Individuums. Aber es<br />

gehört eben Mut dazu, diese Botschaft bis<br />

zum Ende durchzubuchstabieren.<br />

<strong>Der</strong> Funktionspartei FDP hat dieser<br />

Mut zum Liberalismus nicht erst in den<br />

vergangenen Jahren gefehlt, sondern<br />

eigentlich schon immer. Ohne Funktion,<br />

ohne Mandat ist die Partei zum ersten Mal<br />

in ihrer Geschichte wirklich frei. Sie sollte<br />

diese Freiheit nutzen. Dann klappt es<br />

vielleicht auch mit der Wiederauferstehung.<br />

Alexander Marguier<br />

ist stellvertretender Chefredakteur<br />

von <strong>Cicero</strong><br />

Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe ersch<strong>ein</strong>t am 21. November<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

146<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2013

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