Interview Halle BERRY (Vorschau)
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NOVEMBER 2012<br />
6 EURO<br />
11<br />
<strong>Halle</strong><br />
4 192449 106002<br />
So sinnlich ist der deutsche Film:<br />
<strong>BERRY</strong><br />
… und acht HALLELUJAS für<br />
Heike MAKATSCH, Kylie MINOGUE, Tracey EMIN,<br />
KREAYSHAWN, Pamela ANDERSON,<br />
Isabel ALLENDE, Victoire DE CASTELLANE & Brad PITT<br />
NAOMI<br />
CAMPBELL<br />
TRIFFT<br />
JEFF KOONS
inhalt<br />
NOVEMBER 2012<br />
staRt<br />
CELEBRatION<br />
500 Jahre Sixtinische Kapelle feat. Michelangelo!<br />
Seite 25<br />
Foto Mert alas & Marcus Piggott<br />
styling Karl teMPler<br />
Fashion:<br />
heute ist Morgen gestern<br />
sUPERstaR<br />
Leute auf dem Weg nach vorn: SASKIA ROSENDAHL,<br />
EIKE VON STUCKENBROK, THOMAS AZIER<br />
Seite 26<br />
sMaLLtaLK<br />
Kleine Gespräche mit großen Leuten:<br />
MACKLEMORE, RÓISÍN MURPHY, CECILY BROWN,<br />
CHAD HARBACH, BARRY MANILOW, NADJA GEER<br />
Seite 32<br />
WOW!<br />
Schöne Dinge, interessante Kunst, gute Filme, H&MMM<br />
und ein Schlagring, der so tut, als sei er eine Tasche –<br />
die Gebrauchs anweisung für den November<br />
Seite 36<br />
NINa KRaVIZ<br />
Von der Zahnarztpraxis über die DJ-Kanzel auf den Laufsteg<br />
Seite 48<br />
IsaBEL aLLENDE<br />
Ihr Großonkel Salvador wurde aus dem Amt geputscht –<br />
sie hat über 50 Millionen Bücher verkauft. Ein Treffen mit der<br />
großen alten Dame des romantischen Realismus<br />
Seite 52<br />
BRaD PItt<br />
48 Jahre, 40 Filme, 6 Zwerge & 1 Angelina. Brad Pitt,<br />
der Mann für alle Rollen. Denn selbst als Auftragskiller wie<br />
in Killing Them Softly hat er einen ganz eigenen Stil<br />
Seite 54<br />
HELENE HEGEMaNN<br />
CLASSICS: Die Kolumne über das, was bleibt<br />
Seite 66<br />
Foto: Mert Alas & Marcus Piggott/Art Partner<br />
halle Berry<br />
Foto sean + seng<br />
styling MaryaM MalaKPour<br />
BEaUtY<br />
DüFTE:<br />
Tom Ford: A Single Duft<br />
Seite 39<br />
SCHMUCK:<br />
Victoire DE CASTELLANE<br />
Seite 58<br />
KOLUMNE:<br />
Online ist das neue Offline<br />
Seite 60<br />
BAGS, BLING & BEAUTY:<br />
Fotografiert von MATT IRWIN<br />
Seite 62<br />
11
STORIES<br />
inhalt<br />
HallE BERRy<br />
Eigentlich mag sie keine <strong>Interview</strong>s. Aber den Mann,<br />
der sie in Cloud Atlas, der teuersten deutschen<br />
Filmproduktion aller Zeiten, gleich sechs verschiedene<br />
Figuren spielen ließ, konnte die Amerikanerin<br />
einfach nicht abblitzen lassen<br />
Von TOM TYKWER<br />
Seite 70<br />
FaSHION I<br />
Heute ist morgen gestern<br />
Fotografiert von MERT AlAs & MARCUs PIGGOTT<br />
Seite 80<br />
KREaySHaWN<br />
Eine junge Rapperin aus los Angeles zieht erst mal am Joint<br />
und trinkt ein Glas Milch, bevor sie der Welt<br />
ihr Debütalbum präsentiert. Jetzt ist es fertig. Endlich<br />
Von MONsIEUR BONAPARTE<br />
Seite 92<br />
JEFF KOONS<br />
Er ist der Popeye der amerikanischen Pop-Art und der<br />
erfolgreichste Autoverkäufer im weltweiten Kunstwahnsinn.<br />
seine Werke sind grell, glatt und glänzend.<br />
Genau wie Jeff Koons selbst<br />
Von NAOMI CAMPBEll<br />
Seite 100<br />
Foto unten: Privatsammlung, Courtesy Gagosian Gallery<br />
KylIE MINOGUE<br />
Als sie geboren wurde, brannte saigon, in der schuldisco<br />
tanzte sie zu Madonna, als die Zwillingstürme fielen,<br />
sang sie lalala, den Refrain ihres größten Hits.<br />
Jetzt feiert Kylie Minogue Jubiläum. Und wir feiern sie:<br />
44 Jahre, 44 Fragen<br />
Von JÖRG HARlAN ROHlEDER<br />
Seite 108<br />
RICK OWENS<br />
Was hat der anale Orgasmus der modernen Frau mit<br />
einem glamourösen Kurzurlaub zu tun?<br />
Alles? Nichts? lesen sie selbst<br />
Von KEMBRA PFAHlER<br />
Seite 116<br />
FaSHION II<br />
Jessica s.<br />
Fotografiert von sTEVEN PAN<br />
Seite 122<br />
HEIKE MaKaTSCH<br />
Eine Frau, so modern, erfolgreich und<br />
unaufgeregt, wie Deutschland sich gerne sieht.<br />
Warum also über den Beruf reden?<br />
Von lEYlA PIEDAYEsH<br />
Seite 128<br />
TRaCEy EMIN<br />
seit mehr als 20 Jahren sorgt Mad Tracey from Margate<br />
für Aufsehen im Kunstbetrieb. In Wirklichkeit<br />
sehnt sich die Vorturnerin der Young British Artists<br />
jedoch längst nach einem sicheren Hafen<br />
Von JÖRG HARlAN ROHlEDER<br />
Seite 138<br />
foto sean + seng, styling marYam malaKPour,<br />
Kleid guCCi, ohrringe Van Cleef & arPels,<br />
schuhe Brian atwood<br />
Jeff Koons, PoPeYe train (CraB),<br />
2008, PoPeYe, Öl auf leinwand<br />
13<br />
halle, Yeah! halle BerrY, 2012<br />
PS<br />
SHORT STORy<br />
Die Legende der guten Männer<br />
Von DAVID VANN<br />
Seite 146<br />
PaRTy<br />
Mit Mike Meiré in Köln,<br />
bei Carine Roitfeld &<br />
dem Purple-Magazin in Paris,<br />
mit André saraiva in Hamburg<br />
& bei The Corner in Berlin<br />
Seite 150<br />
editoriAl s. 15<br />
imPressum s. 16<br />
mitArBeiter s. 20<br />
ABonnement s. 157<br />
FlaSHBaCK<br />
Wham! Bam! Pam!<br />
Seite 158
1982<br />
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editoriAl<br />
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Liebe Leserinnen,<br />
liebe Leser,<br />
nach fast zwei Wochen reisen (Modewochen in Mailand<br />
und Paris, <strong>Interview</strong>-Partys in Köln und Hamburg)<br />
kommt man zurück nach Berlin und stellt fest:<br />
- schon wieder eine neue Ausgabe in den Druck schicken<br />
- Aquarium der Tochter reinigen, neue Wasserpflanzen kaufen<br />
- öfter die zwei magischen englischen Wörter gegenüber<br />
Hollywood-Agenten benutzen<br />
- die Wiederentdeckung von DouglAs CouPlAnD als Aphorismus-König:<br />
The past is for the losers<br />
- nAoMi CAMPBell ist die einzige mir bekannte Person, die ein interessantes<br />
gespräch mit Jeff Koons führen kann<br />
- die Trockenreinigung verlangt auf einmal lagerkosten für Hemden<br />
- RAinAlD goeTz hat wie immer recht. Mit allem<br />
- mehr <strong>Interview</strong>-events. Köln, Hamburg, Berlin, München, frankfurt, Wuppertal.<br />
Bitte melden, wir kommen!<br />
- niemand in der Redaktion findet eRiC BuRDon gut. Verstehe ich nicht<br />
- dafür finden alle die neue Single der Rolling sTones ziemlich okay.<br />
Verstehe ich auch nicht<br />
- immer noch nicht den Transport für den “Archizoom Chair” in zürich für einen<br />
möglichen Kauf geklärt. lieber Händler, verzeihen sie mir<br />
- komischerweise bin ich der einzige, der die Redaktionskaffeemaschine<br />
reparieren kann<br />
- ständig kursieren neue Hundewünsche unter Mitarbeitern<br />
(nur ein Beispiel: die ode an den Bayerischen gebirgsschweißhund auf seite 44).<br />
gibt es Katzen überhaupt noch?<br />
- der Modechef hat sich eine Collegejacke mit einem Wildpferd gekauft,<br />
das Verlegerpaar Collegejacken von opening Ceremony<br />
- Meinungsverschiedenheiten über HeDi sliMAnes erste sAinT lAuRenT<br />
PARis-Kollektion. Was aber alle glauben: Das zeug wird sich prima verkaufen<br />
- die Kollegen finden den 20. Geburtstag des Films Bodyguard der erwähnung<br />
wert. Konnte ich gerade noch verhindern!<br />
Herzlichst<br />
Ihr Joerg Koch<br />
WWW.WOOLRICH.IT - SHOP ONLINE WOOLRICH.WPSTORE.COM<br />
Foto: Oliver Helbig<br />
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1982<br />
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Editor in Chief Joerg Koch<br />
Executive Editors Jörg harlan RohledeR, Adriano SAcK<br />
Art Director Mike MeiRé<br />
Fashion Director Klaus StocKhAuSen<br />
Photography Director Frank Seidlitz<br />
Redaktion<br />
Editors laura eweRt, harald PeteRS, Brigitte weRneBuRg<br />
Beauty Editor Susanne oPAlKA, Assistant Photography dorothea FiedleR, Assistant Fashion caroline leMBlé<br />
Praktikanten Katharina BÖhM, Rebeca PiMentel<br />
digital<br />
Editor nina Scholz, Praktikant Sascha ehleRt<br />
International Editor Aliona doletSKAyA<br />
International Editor at Large naomi cAMPBell<br />
International Contributing Fashion Director Karen KAiSeR<br />
Art<br />
tim gieSen<br />
hannes AechteR, Agnes gRüB, Monika KochS<br />
Chef vom Dienst dietmar BARtz<br />
Managing Editor christine gRoSSe<br />
Textchefin elisabeth SchMidt, Bettina SchneueR<br />
Schlussredaktion ulrike MAtteRn, Ralph Schüngel, Kerstin SgoninA<br />
Mitarbeiter dieser Ausgabe<br />
eyan Allen, ondine AzoulAy, darcy BAcKlAR, BonAPARte, ludger BooMS, gro cuRtiS,<br />
Sönke hAllMAnn, helene hegeMAnn, Friederike Jung, Sean Knight, gunnar lützow,<br />
Maryam MAlAKPouR, Miriam MAndelKow, Silke Menzel, ingo nAhRwold, Mel ottenBeRg,<br />
leyla PiedAyeSh, guy Ritchie, Karl teMPleR, tom tyKweR, david VAnn<br />
Fotografen dieser Ausgabe<br />
Mert AlAS & Marcus Piggott, william BAKeR, Maxime BAlleSteRoS, Amos FRicKe,<br />
zoë gheRtneR, Matt iRwin, willem JASPeRt, Karl Anton KoenigS,<br />
Benjamin lennox, Bella lieBeRBeRg, Jonas lindStRÖM, craig McdeAn,<br />
lukas Von MonKiewitSch, Steven PAn, Katja RAhlweS, dusan RelJin, SeAn + Seng,<br />
giampaolo SguRA, heji Shin, Matthias VRienS-McgRAth, christian weRneR<br />
Produktion<br />
Lithografie MAx-coloR, wrangelstraße 64, 10997 Berlin<br />
Druck Mohn MediA MohndRucK gMBh, carl-Bertelsmann-Straße 161 M, 33311 gütersloh<br />
Manufacturing Director oleg noViKoV<br />
Verantwortlich für den redaktionellen inhalt<br />
Joerg Koch<br />
Board of directors interview Publishing house germany<br />
Vladislav doRonin, Bernd Runge<br />
BMP Media holdings, llc<br />
Chairman Peter M. BRAnt<br />
www.iNterview.De<br />
WWW.WOOLRICH.IT - SHOP ONLINE WOOLRICH.WPSTORE.COM<br />
16
Herausgeber und Geschäftsführer Bernd Runge<br />
Publishing Director Anja Schwing<br />
Anzeigen<br />
Sales Director (Nielsen I, II, IIIa, V, VI, VII) iris gRäBneR<br />
Tel.: 030/2000 89-120, iris.graebner@atelier-publications.de<br />
Sales Director (Nielsen II, IIIb, IV, Österreich) Tanja SchRADeR<br />
Tel.: 089/35 63 77 44, tanja.schrader@atelier-publications.de<br />
Frankreich Valérie DeSchAMPS-wRighT<br />
escalier D, 2 étage gauche, 25–27 rue Danielle casanova, 75001 Paris<br />
Tel.: 00 33/6/04 65 26 51, valerie.deschamps-wright@interviewint.com<br />
Italien Fabio MonToBBio<br />
Rock Media, Largo cairoli, 2, 20121 Mailand,<br />
Tel.: 00 39/02/78 26 08, info@rockmedia.it<br />
Advertising Service Manager Jacqueline ZioB (Ltg.), Susann BuchRoTh<br />
Tel.: 030/2000 89-121, jacqueline.ziob@atelier-publications.de<br />
Director of Marketing & Communications Stephanie FReSLe<br />
Project Managers Sales & Marketing Sophie PADBeRg, charlotte wieDeMAnn<br />
Special Projects wilkin SchRÖDeR, Praktikantin Arlena ADRiAn<br />
Assistenz: Kathleen MASSieReR, Tel.: 030/2000 89-165<br />
IT Manager Patrick hARTwig<br />
Office Manager hilko RenTeL<br />
Verantwortlich für Anzeigen<br />
Atelier Publications Deutschland gmbh & co. Kg<br />
Mommsenstraße 57, 10629 Berlin<br />
Tel.: 030/2000 89-0, Fax: 030/2000 89-112<br />
Geschäftsführer Anja Schwing<br />
Vertrieb<br />
Pressup gmbh, Postfach 701311, 22013 hamburg<br />
vertrieb@pressup.de<br />
einzelheftbestellungen<br />
Preise, Verfügbarkeit und Bestellungen unter www.interview.de/einzelheft,<br />
bei weiteren Fragen Tel.: 030/2000 89-164<br />
Abonnentenbetreuung<br />
interview-Leserservice, Pressup gmbh, Postfach 701311, 22013 hamburg<br />
abo@interview.de, Tel.: 0 40/41 448-480<br />
interview erscheint zehnmal im Jahr in der interview Ph gmbh.<br />
Zurzeit gilt die Anzeigenpreisliste vom 1. September 2011.<br />
Alle Rechte vorbehalten.<br />
Für unverlangt eingesandtes Text- und Bildmaterial wird<br />
keine haftung übernommen.<br />
Andy warhol’s interview (TM). All rights reserved.<br />
interview germany is published under a sublicense from LLc Publishing house interview;<br />
interview is a registered trademark of interview inc.<br />
Reproduction in any manner in any language in whole or in part<br />
without prior written permission is prohibited.<br />
interview Ph gmbh, Mommsenstraße 57, 10629 Berlin, Tel.: 030/2000 89-0<br />
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MITARBEITER<br />
Eyan ALLEN<br />
Eyan Allen kam 1971 im britischen Leeds zur Welt.<br />
Mittlerweile lebt er in Manchester und Metzingen<br />
bei Stuttgart, dem Hauptsitz von Hugo Boss. Für die<br />
deutsche Traditionsmarke spielt Allen mit der Architektur<br />
des weiblichen Körpers und schneidert Frauen<br />
neue Kleider auf den Leib. Seine Formsprache ist<br />
minimalistisch, konzentriert sich auf das Wesentliche.<br />
Für unsere aktuelle Ausgabe sprach der Designer<br />
mit Nina Kraviz, einer der spannendsten Figuren<br />
der internationalen House-Szene – und definitiv<br />
deren schönste Frau.<br />
Seite 48<br />
Tom TYKWER<br />
Wuppertal ist nicht der Nabel der Welt, aber die<br />
Heimat von einem der erfolgreichsten deutschen<br />
Filme macher der Gegenwart. Seit Lola rennt ging es<br />
für Tom Tykwer, geboren 1965, stets weiter nach<br />
oben. Er verfilmte mit über 50 Millionen Euro Budget<br />
Das Parfum und eröffnete mit The International<br />
die 59. Berlinale. Nachdem er mit Drei den Weg zurück<br />
nach Berlin fand, kommt am 15. November sein<br />
aktuelles Projekt Cloud Atlas in die Kinos, seine<br />
spek takuläre Zusammenarbeit mit den Wachowski-<br />
Geschwistern. Für die aktuelle Ausgabe interviewte<br />
er seine Hauptdarstellerin <strong>Halle</strong> Berry.<br />
Seite 70<br />
Leyla PIEDAYESH<br />
Spricht man über Mode aus Berlin, dann spricht man<br />
vor allem über Lala Berlin. Mit knapp 30 Mitarbeitern<br />
erzielt das Unternehmen mittlerweile Millionenumsätze.<br />
Eine Entwicklung, von der die iranischstämmige<br />
Gründerin Leyla Piedayesh wohl nicht mal<br />
träumte, als sie in Bad Homburg BWL studierte. Einige<br />
Jahre danach landete sie in München, schließlich<br />
in Berlin – bei MTV. Mehr aus einer Laune heraus<br />
strickte sie sich wenig später ins Modegeschäft hinein.<br />
Heike Makatsch hingegen lernte sie beim Yoga<br />
kennen und freute sich, mit ihrer viel beschäftigten<br />
Freundin mal wieder in Ruhe reden zu dürfen.<br />
Seite 128<br />
Monsieur BONAPARTE<br />
In frühen Jahren war Tobias Jundt noch mit ganz anderer<br />
Musik in den Schweizer Charts, dann gründete<br />
er von Spanien aus als Monsieur Bonaparte die Punkpop-Band<br />
Bonaparte, die sich in Berlin dann mehr zu<br />
einem mittelgroßen Wanderzirkus samt halbechter<br />
Hasen und halbnackter Tänzer entwickelte. Mit Songs<br />
wie Anti Anti und Computer In Love gilt Jundt heute als<br />
ein Vorsitzender der hedonistischen Jugend. Gerade<br />
hat er mit seiner Band das vierte Album Sorry, We’re<br />
Open sowie den knapp 300-seitigen Bildband Three<br />
Years In The Heart Of Bonaparte veröffentlicht. Er<br />
rappt zwar nicht, aber zumindest teilt er mit Kreayshawn<br />
den Hang zur Exzentrik und zum Liberalismus<br />
– eine Gemeinsamkeit, auf die sie aufbauen konnten.<br />
Seite 92<br />
20<br />
Kembra PFAHLER<br />
Die kalifornische Performancekünstlerin, Musikerin<br />
und Schauspielerin Kembra Pfahler ist nicht nur öfter<br />
ohne Kleidung unterwegs, sie nimmt auch selten ein<br />
Blatt vor den Mund. Überhaupt ist die 51-Jährige so<br />
gar kein California Girl – das obligatorische Blond<br />
tauschte sie bereits in der Highschool gegen Schwarz.<br />
Während des Studiums an der School of Visual Arts<br />
wollten die älteren Semester, darunter Keith Haring<br />
und Jean-Michel Basquiat, sie dennoch nicht ernst<br />
nehmen. Designer Rick Owens dagegen war sofort<br />
begeistert, als er sie zum ersten Mal traf: Da rollte sie<br />
auf Bowlingkugeln über eine Bühne und gab Songs von<br />
Celine Dion zum Besten. Ihr neuestes Projekt trägt<br />
den Namen Fuck Island und ist so eine Art Disneyland<br />
für Erwachsene, wie sie Owens, inzwischen seit Langem<br />
ein guter Freund, im Gespräch erklärte.<br />
Seite 116<br />
David VANN<br />
Er kam 1966 auf einem US-Militärstützpunkt zur<br />
Welt, auf einer winzigen Aleuten-Insel mit knapp<br />
300 Einwohnern vor Alaska. Als er 13 war, erschoss<br />
sich sein Vater. Später verarbeitete Vann dies in einer<br />
Novelle, die vergangenes Jahr unter dem Titel Im<br />
Schatten des Vaters bei Suhrkamp erschien. Der inzwischen<br />
international vielfach ausgezeichnete Autor diverser<br />
Romane studierte in Stanford, wo er auch<br />
Creative Writing lehrte. Lange Zeit wollte kein Verlag<br />
seine Manuskripte veröffentlichen, damals verdiente<br />
er sein Geld, indem er ein mit zusammen geliehenem<br />
Geld gekauftes Segelboot vermietete. Aktuell arbeitet<br />
David Vann an einem neuen Buch mit dem Arbeitstitel<br />
Goat Mountain. Seine Kurzgeschichte Die Legende<br />
der guten Männer dürfen wir in dieser Ausgabe exklusiv<br />
abdrucken.<br />
Seite 146<br />
Giampaolo SGURA<br />
Der italienische Fotograf hat nicht nur einen schönen<br />
Namen, sondern auch ganz schön viel zu tun. Der<br />
36-Jährige fotografiert für Modehäuser wie Dolce &<br />
Gabbana, Gucci oder H&M und lichtet zwischendurch<br />
regelmäßig Filmstars wie Monica Bellucci,<br />
Scarlett Johansson oder Christoph Waltz ab. Aber<br />
genug des Namedroppings. Obwohl, ein letztes Mal<br />
noch: Für die aktuelle <strong>Interview</strong>-Ausgabe hüllte Sgura<br />
nämlich Heike Makatsch in kühlblaues Licht.<br />
Seite 128<br />
Fotos: Joachim Gern/X Verleih AG; Lala Berlin; Rob Kim/Retna Ltd./Corbis; Melissa Hostetler; Susanne Schleyer/autorenarchiv.de; Alex Bailey/Photoshot; Patrick Dembski<br />
21
LeagasDelaney.de<br />
Foto: LOOK-foto<br />
celebration<br />
An den besten Adressen Deutschlands<br />
und in London, Paris, Madrid, Wien und New York. www.wempe.de<br />
Wie ein schöner Moment, der nie aufhört. Neun endlos miteinander verwobene Goldstrahlen ergeben<br />
den Ring Helioro. In 18k Roségold und mit Brillanten ab € 1.475. Entdecken Sie Helioro BY KIM in einer<br />
unserer Niederlassungen oder bestellen Sie direkt unter wempe.de.<br />
Jetzt haben wir es<br />
Ihnen noch schwerer gemacht,<br />
der Unendlichkeit<br />
zu widerstehen.<br />
abc-Job#: 525785· Kunde: Wempe · Motiv: Helioro · Adresszeile: keine · Format: 254 x 330 + 4 mm · Farbe: CMYB<br />
abc-opix#: 1201-126 · Titel: <strong>Interview</strong> Magazin Ausgabe I · Das Dokument ist ohne Überfüllung/Trapping angelegt, vor weiterer Verarbeitung diese anlegen!<br />
Wenn man nur aus Fleisch und Blut<br />
und Begehren besteht …<br />
Man könnte, mit gutem Grund, so dies und das feiern in diesem Monat. 60 Jahre Moncler, also Daunenjacken, die modisch und nicht plump<br />
sind. 30 Jahre Calvin Klein Underwear, also eine der erfolgreichsten Serien von Anzeigenkampagnen der Welt (und ein Basic, das<br />
einfach nicht alt wird). Doch was ist das schon gegen das Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle, das vor 500 Jahren fertiggestellt wurde?<br />
Michelangelo Buonarroti arbeitete vier Jahre daran, und zum Glück wusste er nicht, dass sein Auftraggeber, die katholische Kirche,<br />
sein Meisterwerk mit nachträglichen Übermalungen jugendfreier machen würde. Mit seinen Fresken jedenfalls kam er dem, was man<br />
Schöpfung nennt, so nah, wie es eben geht, wenn man nur aus Fleisch und Blut und Begehren besteht.<br />
25
LeagasDelaney.de<br />
SUPERSTAR<br />
SASKIA ROSENDAHL<br />
WIE MAN VON HALLE AUS<br />
HOLLYWOOD EROBERT:<br />
SASKIA ROSENDAHL<br />
SPIELT DIE HAUPTROLLE<br />
IN LORE<br />
Kleid KAVIAR GAUCHE, Ohrringe POMELLATO<br />
Vor ein paar Monaten war Saskia Rosendahl Gedreht wurde Lore (Filmstart: 1. November) auf<br />
noch ein nahezu vollständig unbekanntes Deutsch, Regie führte die australische Filmemacherin<br />
Mädchen, das vielleicht von einer Schauspielkarriere<br />
träumte, aber wenig mehr Premiere hatte, sah Rosendahl ihn zum ersten Mal.<br />
Cate Shortland. Als der Film im Juni in Sydney<br />
vorzuweisen hatte als langjähriges Balletttraining und Danach musste sie zum Publikumsgespräch auf die<br />
ein bisschen Erfahrung in Sachen Improvisationstheater.<br />
Heute ist die 19-Jährige aus <strong>Halle</strong> die international Ihr erster Gedanke: So eine gemeine Frage! Ihre Ant-<br />
Bühne. Die erste Frage an sie: Wie sie den Film fand?<br />
gefeierte Hauptdarstellerin der australischen Produktion<br />
Lore, die in das Rennen um den Oscar für den bes-<br />
Tatsächlich gibt es Filme, die es einem leichter<br />
wort: „Ich bin ganz geplättet!“<br />
ten fremdsprachigen Film gehen wird.<br />
machen, die zugänglicher sind, die Protagonisten haben,<br />
die sympathischer wirken als ein Mädchen, das<br />
In Lore spielt Rosendahl, es ist ihr zweiter Film<br />
überhaupt, die 15-jährige Titelheldin, die ohne die um den Führer trauert. Andererseits könnte man auch<br />
Nazi-Eltern (in Haft) mit den vier kleinen Geschwistern<br />
(inklusive Baby) von Süd nach Nord (zur Oma) Welt trauert; und Saskia Rosendahl spielt das so groß-<br />
sagen, dass Lore um den plötzlichen Verlust ihrer<br />
An den besten Adressen Deutschlands<br />
und in London, Paris, Madrid, Wien und New York. www.wempe.de<br />
durch ein Land (alles kaputt) ziehen muss, das ihr artig und nuanciert, dass man sich fragt: Wo war die<br />
plötzlich fremd Wie (keine Nazis schöner mehr?!) Moment, ist. der nie aufhört. denn Neun bloß endlos die ganze miteinander Zeit? verwobene Goldstrahlen ergeben<br />
den Ring Helioro. In 18k Roségold und mit Brillanten ab € 1.475. Entdecken Sie Helioro BY KIM in einer<br />
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26<br />
Jetzt haben wir es<br />
Ihnen noch schwerer gemacht,<br />
der Unendlichkeit<br />
zu widerstehen.<br />
Wie für Mädchen ihres Alters üblich, war sie vor<br />
allen Dingen in der Schule, im Sommer machte sie ihr<br />
Abi. Und jetzt? „Erst mal reisen“, sagt Rosendahl, die<br />
in den vergangenen Monaten bereits einige Flugmeilen<br />
zurücklegen durfte. Sie war mit Lore in Toronto<br />
beim Internationalen Filmfestival, in Locarno gab es<br />
den Publikumspreis.<br />
„Wenn ich vorher gewusst hätte, was da auf mich<br />
zukommt“, sagt sie und lässt den Satz dort hängen, wo<br />
man Sätze dieser Art besser hängen lässt: in der Luft.<br />
Von HARALD PETERS<br />
Foto JONAS LINDSTRÖM<br />
Styling CAROLINE LEMBLÉ<br />
Haare & Make-up KARLA NEFF/<br />
PERFECT PROPS<br />
abc-Job#: 525785· Kunde: Wempe · Motiv: Helioro · Adresszeile: keine · Format: 254 x 330 + 4 mm · Farbe: CMYB<br />
abc-opix#: 1201-126 · Titel: <strong>Interview</strong> Magazin Ausgabe I · Das Dokument ist ohne Überfüllung/Trapping angelegt, vor weiterer Verarbeitung diese anlegen!
SupErSTAr<br />
EikE von<br />
ManEgE FrEi<br />
Für dEn Mann,<br />
dEr dEn<br />
dEuTSChEn zirkuS<br />
nEu ErFindET:<br />
EikE Von STuCkEnbrok<br />
Er ist 23 Jahre alt, 1,80 groß und wiegt 63<br />
Kilogramm. Während seiner Ausbildung<br />
konnte er acht Minuten auf einer Hand<br />
stehen, jetzt ist er gerade etwas aus dem<br />
Training und schafft nur noch fünf. Dafür turnt er<br />
manchmal auf einem Badewannenrand herum oder<br />
räkelt sich einbeinig an einer XXL-Polestange und<br />
lässt sich dann plötzlich herabfallen, um nur wenige<br />
Zentimeter vor dem Boden zu stoppen. Eike von<br />
Stuckenbrok ist Artist, und was er macht, gab es in<br />
Deutschland so noch nicht.<br />
Gerade tourt er mit seiner ersten eigenen Show<br />
Dummy von Essen über Hannover nach Berlin. Acht<br />
Auftritte in der Woche, weit über 100 000 Besucher.<br />
Mit dabei: fünf weitere, ebenso beeindruckende Artisten,<br />
eine Cellistin und ein Musiker, der den Dummy-<br />
rauChEnd in MExiko: EikE Von STuCkEnbrok<br />
Soundtrack geschrieben hat und live singt – und weil<br />
es Musik gibt, wird auch getanzt. Von Stuckenbrok<br />
läuft Wände hoch, balanciert und springt auf Krücken<br />
und verbirgt sich auf Köpfen von großen Puppen. Das<br />
wirkt mitunter etwas besorgniserregend, so, als kenne<br />
er keine körperlichen Grenzen. „Manchmal fühlt es<br />
sich tatsächlich so an, aber nach einem Auftritt sieht<br />
das anders aus.“ Große Verletzungen hatte er jedenfalls<br />
bisher keine, seine Narben, die kann er allerdings<br />
nicht mehr zählen.<br />
Die staatlich anerkannte Artistenschule in Berlin<br />
hat der gebürtige Bremer übrigens kurz vor Abschluss<br />
aufgrund künstlerischer Differenzen „geschmissen“ –<br />
ganz klassisch. Und das schadete natürlich überhaupt<br />
nicht, denn seitdem tritt er vor der Queen auf und in<br />
der Oper von Sydney, er war in Indien und Arabien<br />
28<br />
„und eigentlich sonst auch überall auf der Welt“. Seine<br />
Dummy-Show ist im nächsten Jahr in Australien<br />
zu sehen. Und fragt man den Artisten nach großen<br />
Plänen, sagt er, er möge die mittelgroßen eigentlich<br />
lieber und dass er gerne weiterhin „kreieren und spielen“<br />
würde.<br />
Seine eindrucksvollen Sixpacks übrigens sind eine<br />
Nebenwirkung seines Berufsstandes, Work-out, geordnetes<br />
Training macht der frühere Skater nicht. Er<br />
„probiert lieber so herum“ mit seinen Kollegen, ein<br />
körperliches Jammen an Puppen, Badewannen und<br />
was halt sonst so da ist.<br />
Von Laura EWErT<br />
Foto CaroLin SaagE
SuPerSTAr<br />
THOMAS<br />
AZIER<br />
dünn Sein und diCk<br />
auFTragen: ThomaS<br />
azier BuTTerT Seine<br />
SongS miT der<br />
exTraPorTion geFühl<br />
Sakko hugo, lederweste h&m, T-Shirt adidaS SlVr, Jeans aVelon, ohrring & armband PriVaT<br />
Wie dieser Name schon klingt: Thomas<br />
Azier. Der Vorname, natürlich weltmännisch<br />
auf Englisch ausgesprochen.<br />
Und dann der Nachname erst! Azier.<br />
So, denkt man, heißen doch nur ganz besondere<br />
Leute. Stars eben. Azier – mit langem A und I und<br />
weichem S statt Z. So fein und elegant wie der<br />
24-Jährige selbst.<br />
Überhaupt funktioniert da viel über die Optik:<br />
Das Cover seiner zweiten Veröffentlichung Hylas 002<br />
(Hylas Records/Rough Trade) ziert ein simples Viereck.<br />
In diesem Viereck ist noch mal ein leuchtender,<br />
viereckiger Rahmen hineingedrückt. Und davor liegt<br />
ein feingeschliffener Steinklotz auf dem Boden. Mit<br />
einem pointierten Ästhetizismus, seiner feingliedrigen<br />
Erscheinung und einer ganz eigenen Idee von<br />
New-Wave-inspirierter Popmusik hat Azier schon<br />
The Shoes oder Woodkid den Kopf verdreht – und<br />
angeblich ist sogar Pharrell Williams ein großer Fan<br />
seines Schaffens.<br />
Vielleicht liegt es daran, dass der in Holland geborene<br />
Azier es schafft, jeden Vorwurf, jede Nörgelei<br />
schon im Keim zu ersticken. Adrett ist er, aber nicht<br />
aufgesetzt. Pathetisch auch, aber nie kitschig. Und<br />
auch eine Vorliebe für die großen Popmusikergesten<br />
der 80er-Jahre ist nicht von der Hand zu weisen. Aber<br />
jeglichen Anflug von Retromanie wischt Azier gekonnt<br />
beiseite. Natürlich gehe es in seiner Musik<br />
auch um Nostalgie. „Aber genauso findet man in ihr<br />
auch Verzweiflung, Traurigkeit und Hoffnung.“ Solche<br />
Sätze sagt man schnell daher. Aber wenn man Thomas<br />
Aziers Entschlossenheit in der Stimme hört, wenn<br />
30<br />
man sieht, wie er mit über dem Kopf zusammengeschlagenen<br />
Händen, die Augen geschlossen, vor Hunderten<br />
Leuten steht, wird man das Gefühl nicht los,<br />
dass man auf jemanden wie Azier und seine Musik<br />
schon sehr lange gewartet hat.<br />
Zum Glück geht die Karriere des mittlerweile in<br />
Berlin lebenden Thomas Azier gerade erst so richtig<br />
los: „Ich bin mit einer klaren Vision nach Berlin gekommen<br />
und habe die vergangenen fünf Jahre nur an<br />
meiner Musik gearbeitet. Ich habe mich praktisch in<br />
meinem Studio eingeschlossen. Das hier ist alles, was<br />
ich immer wollte.“<br />
Von Jan Wehn<br />
Foto Bella lieBerBerg<br />
Styling Caroline lemBlé<br />
grooming Tan Vuong/BallSaal<br />
Topas Titanium<br />
Germany Cologne, Munich, Italy Milan, Czech Republic Prague, Brazil São Paulo, Rio de Janeiro, Brasília, USA Las Vegas, Beverly Hills, Hawaii, Canada Toronto,<br />
China Beijing, Changsha, Chengdu, Chongqing, Hangzhou, Nanjing, Shanghai, Shenyang, Shenzhen, Suzhou, Tianjin, Hong Kong Hong Kong, Japan Osaka, Tokyo, Nagoya,<br />
South Korea Seoul, Macau Macau, Philippines Manila, Malaysia Kuala Lumpur, Singapore Singapore, Taiwan Taipei, Taichung, Tainan, Kaohsiung, Thailand Bangkok,<br />
Indonesia Bali, Vietnam Ho Chi Minh City.<br />
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SMALLTALK<br />
SMALLTALK<br />
„HAST DU<br />
EINEN LIEB-<br />
LINGSPELZ?”<br />
Der Rapper<br />
MACKLEMORE<br />
über Pelze, Whiskey<br />
und soziale<br />
Verantwortung<br />
INTERVIEW: Im Trailer zu Ihrem Debütalbum<br />
The Heist stehen in einer Wohnung<br />
vier, fünf Flaschen Whiskey herum. Ich<br />
dachte, Sie trinken gar nicht mehr?<br />
MACKLEMORE: Das sind die Flaschen meines<br />
Bandkollegen Ryan!<br />
INTERVIEW: Sie kommen aus Seattle. Ist das<br />
ein Ort für Whiskeytrinker?<br />
MACKLEMORE: Seattle ist eine sehr schöne<br />
Stadt. Sie ist umgeben von Wasser, Bergen<br />
und wundervoll grünen Bäumen. Es regnet<br />
die ganze Zeit, und das zwingt uns dazu, im<br />
Haus zu bleiben und Musik zu machen.<br />
INTERVIEW: Seit Ihrem Mega-YouTube-<br />
Hitvideo Thrift Shop wissen wir, dass Sie<br />
Pelzfan sind, liegt das auch am Wetter?<br />
MACKLEMORE: Nicht unbedingt, aber es stimmt,<br />
ich bin bereits seit längerer Zeit ein passionierter<br />
Pelzkäufer.<br />
INTERVIEW: Wie viele besitzen Sie?<br />
MACKLEMORE: Vermutlich – also echte und falsche<br />
– acht oder neun.<br />
INTERVIEW: Haben Sie einen Lieblingspelz?<br />
MACKLEMORE: Mein Liebling ist der aus dem<br />
Thrift Shop-Video. Der ist sehr orange und sieht fast<br />
aus wie ein Tiger. Sehr groß, sehr warm und er riecht<br />
noch immer wie ein lebendiges Tier. Ich weiß nicht,<br />
was für eins das mal war. Aber wenn ich in seiner<br />
Haut das Haus verlasse, versuche ich natürlich, dieses<br />
Tier angemessen zu repräsentieren.<br />
INTERVIEW: Wie bekommen Sie bloß den Geruch aus<br />
den Klamotten, die Sie in Secondhandläden kaufen?<br />
MACKLEMORE: Wenn man sie nicht waschen kann,<br />
dann muss man sich an den Geruch einfach gewöhnen<br />
und lernen, ihn zu lieben. Pelze behalten meist<br />
den Tiergeruch, und das finde ich sehr angenehm.<br />
INTERVIEW: Vor Ihrer Musikkarriere haben Sie in<br />
einem Jugendgefängnis gearbeitet. Was haben Sie<br />
dort gelernt?<br />
MACKLEMORE: Ich habe einen Einblick in unser juristisches<br />
System bekommen. Wie es die Jugend einsperrt,<br />
anstatt sie zu rehabilitieren. In Wahrheit geht<br />
es nur darum, für Sicherheit zu sorgen. Man hilft den<br />
Jugendlichen nicht dabei, an sich selbst zu wachsen.<br />
Sie bekommen keinerlei Unterstützung. Viele der<br />
Kids dort hatten von Beginn an keine Chance und<br />
werden sie wohl auch nie kriegen.<br />
KLEINE GESPRÄCHE MIT GROSSEN LEUTEN:<br />
MACKLEMORE, RÓISÍN MURPHY, CECILY BROWN,<br />
CHAD HARBACH, BARRY MANILOW, NADJA GEER<br />
INTERVIEW: Konnten Sie dort auch etwas über<br />
sich selbst lernen?<br />
MACKLEMORE: Weißt du was? Ich hätte<br />
ganz ohne Probleme auch eines<br />
dieser Kinder werden können, ich<br />
wurde nur glücklicherweise nie<br />
geschnappt. Viele dort saßen für<br />
Fehler ein, die auch ich gemacht<br />
habe. Die Geschichten, die mir dort<br />
erzählt wurden, haben mir vor allem<br />
beigebracht, dankbar für meine Chancen<br />
zu sein.<br />
INTERVIEW: Sie sprechen in Ihrer<br />
Musik häufig Missstände an. Übernehmen<br />
Sie selbst soziale Verantwortung?<br />
MACKLEMORE: Wenn die Karriere<br />
Fahrt aufnimmt, passiert es schnell, dass<br />
man sich nicht mehr um andere Menschen<br />
kümmert. Es wäre der leichte Weg, nur noch<br />
an sich selbst zu denken – schließlich haben<br />
wir ohnehin so viel zu tun. Zum Glück habe<br />
ich aber eine großartige Freundin, die mich<br />
ständig daran erinnert, weiterhin mit Jugendlichen<br />
zu arbeiten.<br />
<strong>Interview</strong> SASCHA EHLERT<br />
THE HEIST VON MACKLEMORE & RYAN<br />
LEWIS IST GERADE ERSCHIENEN<br />
„TRAGEN<br />
SIE GERADE<br />
OPERN-<br />
HANDSCHUHE?”<br />
Ihre Schwangerschaft<br />
nutzte die Moloko-<br />
Sängerin RÓISÍN<br />
MURPHY, um<br />
mal wieder etwas<br />
House-Musik<br />
zu machen<br />
INTERVIEW: Frau Murphy, wie<br />
spricht man Ihren Vornamen nun<br />
richtig aus?<br />
RÓISÍN MURPHY: Ro-schiehn.<br />
INTERVIEW: Das wurden Sie sicher schon oft gefragt.<br />
MURPHY: Viele sagen „Reusin“.<br />
INTERVIEW: Wo stecken Sie gerade?<br />
MURPHY: Ich bin zu Hause und, äh, ziemlich schwanger.<br />
Nur noch zwei Wochen bis zum Geburtstermin.<br />
INTERVIEW: Oh, Glückwunsch! Fühlen Sie sich gut?<br />
MURPHY: Ja, ich bin eine gute Schwangere. Kinder<br />
auszutragen macht mir keine Schwierigkeiten.<br />
INTERVIEW: Zumindest fanden Sie Zeit für einige<br />
neue Kollaborationen mit House-Produzenten wie<br />
Solomun oder Mano LeTough.<br />
MURPHY: Interessanterweise kommt dieser Mano ganz<br />
aus der Nähe meines Heimatortes in Irland. Ich habe<br />
ihn aber noch nie getroffen. Solomun schon. Er ist<br />
übrigens Deutscher.<br />
INTERVIEW: Er lebt in Hamburg, ja.<br />
MURPHY: Solomun hat den Track geremixt, den ich<br />
mit Luca C und Brigante aufgenommen habe, Flash<br />
Of Light. Mit Brigante habe ich mich auch an Coverversionen<br />
italienischer Lieder versucht.<br />
INTERVIEW: Ah, das habe ich gehört. Ihre Stimme<br />
klingt ganz anders in einer anderen Sprache.<br />
MURPHY: Wirklich? Inwiefern denn?<br />
INTERVIEW: Irgendwie so … italienisch?<br />
MURPHY: Vielleicht auch, weil es eine Coverversion<br />
ist, also nicht mein eigenes Lied.<br />
INTERVIEW: Sie haben auch den Background-Gesang<br />
zu Adeles Rolling In The Deep beigesteuert. Wie …<br />
MURPHY: Wie bitte?<br />
INTERVIEW: Ist das falsch? Ich habe das unter anderem<br />
bei Wikipedia gelesen.<br />
MURPHY: Tatsächlich?! (lacht laut) Nein, das stimmt<br />
nicht. Sie ist eine großartige Sängerin, aber ich höre<br />
momentan kaum Popmusik, eher House, den entdecke<br />
ich gerade neu. Vor ein paar Jahren fragte ich mich, wie<br />
ich musikalisch weitermachen will. Mein Bruder riet<br />
mir, Country zu machen oder irische Musik! Aber ich<br />
dachte: Scheiß drauf. Mein Folk ist Housemusic. Da<br />
komme ich her, so kamen auch diese Kollaborationen<br />
zustande. Übrigens versuche ich gerade, meine Tochter<br />
an Kraftwerk heranzuführen. Sie ist zweieinhalb<br />
und singt immer: „We are the Robots.“ Sie mag solches<br />
Zeug, ihr Lieblingsspielzeug ist Buzz Lightyear …<br />
INTERVIEW: Toll und gar nicht girly.<br />
MURPHY: Sie ist kein Prinzesschen! Im Moment sammelt<br />
sie Roboter.<br />
INTERVIEW: Sie wiederum besitzen eine<br />
Sammlung von Opernhandschuhen.<br />
MURPHY: Eine Sammlung aller möglichen<br />
Handschuhe! Handschuhe haben<br />
etwas sehr Erotisches und Luxuriöses.<br />
Wussten Sie, dass es sehr<br />
aufwendig ist, gute Handschuhe herzustellen?<br />
Sie müssen genau passen.<br />
INTERVIEW: Tragen Sie<br />
gerade welche?<br />
MURPHY: Darling –<br />
ich sitze dick und fett<br />
im Bett. Da ist nicht<br />
viel mit Styling!<br />
<strong>Interview</strong><br />
KATHARINA BÖHM<br />
FLASH OF LIGHT<br />
VON LUCA C &<br />
BRIGANTE FEAT.<br />
RÓISÍN MURPHY<br />
IST BEI SOUTHERN<br />
FRIED RECORDS<br />
ERSCHIENEN<br />
Fotos: Jesse Lirola/ddp images; Matt Kent/Getty Images; Robert McKeever Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin; Duffy-Marie Arnoult/Getty Images; Nick Cunard/eyevine.<br />
„WIE LANG<br />
SIND<br />
IHRE PINSEL?”<br />
CECILY BROWN<br />
malt und malt und<br />
malt. Hasen und<br />
andere kopulierende<br />
Wesen<br />
CECILY BROWN: „COUPLE”, 2003–2004,<br />
ÖL AUF LEINWAND, 228,4 x 203,2 x 3,7 CM<br />
INTERVIEW: Schönes Wetter, schöner Balkon …<br />
CECILY BROWN: Rauchen Sie eine mit?<br />
INTERVIEW: Vielleicht später. Wie nehmen Sie eigentlich<br />
Ihren Tee?<br />
BROWN: Ein Freund meines Vaters sagte immer: „auf<br />
proletarische Weise“ – süß, mit Milch und stark.<br />
INTERVIEW: Wo gibt’s denn so was in New York City?<br />
BROWN: Inzwischen glücklicherweise in jedem koreanischen<br />
Deli.<br />
INTERVIEW: Sie stehen in dem Ruf, praktisch veranlagt<br />
zu sein, insbesondere was die Ausstattung des<br />
Ateliers betrifft.<br />
BROWN: Eine Handwerkerin bin ich nun auch nicht<br />
gerade. Aber mein Assistent, den ich in Anbetracht unserer<br />
langjährigen Zusammenarbeit beinahe Freund<br />
nennen möchte, hilft mir bei der Umsetzung meiner<br />
Ideen. Zum Beispiel habe ich da diese sehr langen Pinsel,<br />
die zwei meiner ehemaligen Studenten extra für<br />
mich angefertigt haben.<br />
INTERVIEW: Was ist an denen besser?<br />
BROWN: Große, weiche Pinsel sind unglaublich<br />
schwer zu bekommen, und die handelsüblichen Anstreicherpinsel<br />
haben mich einfach nur frustriert.<br />
Also habe ich diese Kids gefragt, Zwillinge übrigens,<br />
die ziemlich gut im Herstellen von Dingen sind, und<br />
da raufhin hat mein Assistent Louis diese sehr bizarr<br />
anmutende Vorrichtung gebaut: Sie werden in Öl<br />
gelagert und nicht steif. Insbesondere die großen<br />
Pinsel sind unglaublich schwer zu säubern. Wenn<br />
man die nicht sofort danach reinigt, ist man echt gefickt.<br />
Lagert man sie hingegen in Öl, sind sie am<br />
nächsten Tag schön frisch. Die Prototypen<br />
waren noch sehr schwer, da war nach ein<br />
paar Minuten mein Arm schon erschöpft.<br />
Aber dann wurden sie leichter und leichter.<br />
Fantastisch!<br />
INTERVIEW: Und wie lang sind diese<br />
Spezialpinsel?<br />
BROWN: Ungefähr so lang wie mein<br />
Arm. Beim Malen halte ich den Pinsel<br />
immer am anderen Ende fest. Das<br />
habe ich sehr früh gelernt, und da ran<br />
halte ich mich nahezu gottesfürchtig.<br />
So wird die malerische Geste nicht zu<br />
stark kontrolliert. Hält man ihn an der<br />
Spitze fest, bekommt es eher etwas<br />
Zeichnerisches. Aber um mit vollem<br />
Körpereinsatz zu arbeiten, geht es mit<br />
dem langen Griff besser. Und sie sind auch<br />
sehr nützlich, wenn es darum geht, Großformate<br />
zu malen.<br />
INTERVIEW: Erzählen Sie ein bisschen von<br />
Ihrem Leben in New York. Sie sind ja jetzt<br />
schon viele Jahre da.<br />
BROWN: Ja, und es ist schon komisch.<br />
Ich bin in dieser Zeit irgendwie das geworden,<br />
was ich niemals werden wollte. Aber<br />
es ist passiert … Inzwischen sind alle meine<br />
Freunde Engländer oder Europäer. Anfangs<br />
habe ich in New York gekellnert,<br />
und da kam jeden Tag dieser Engländer<br />
mit seiner englischen Zeitung vorbei, um<br />
sich seine Englishness zu bewahren. Ich<br />
dachte: Mein Gott, wie lächerlich ist das<br />
denn!? Wenn er in New York ist, soll er doch einfach<br />
ein New Yorker sein. Und siehe da, 18 Jahre sind<br />
vergangen, und ich verstehe den Mann.<br />
INTERVIEW: Wir sind hier in der Nähe von Wien:<br />
Welchen Freud würden Sie vorziehen, Lucian oder …<br />
BROWN: Sigmund. Psychoanalyse ist sehr nah an der<br />
Malerei. Oder am malerischen Prozess. Mit dem Unterschied,<br />
dass ich als Malerin gleichzeitig Patient und<br />
Arzt bin, wozu ich natürlich eine etwas gespaltene<br />
Persönlichkeit brauche. Während ich male, versuche<br />
ich, mein kritisches Selbst abzuschalten, andernfalls<br />
blockiert einen das Denken ja total, und man könnte<br />
jeden Klecks totanalysieren. Danach versuche ich, aus<br />
der Malerei herauszutreten und mit kritischem Blick<br />
die nächste Entscheidung zu treffen, um weiterarbeiten<br />
zu können. Durch meine Lehrtätigkeit ist mir aufgefallen,<br />
dass ich sofort weiß, was den Bildern anderer<br />
Leute fehlt. Bei meinen eigenen hingegen ist es viel<br />
emotionaler, neurotischer. Daher versuche ich, mich<br />
selbst beim Betrachten meiner Arbeit für einen Moment<br />
auszublenden und ganz klinisch zu fragen: Was<br />
fehlt dem Bild denn?<br />
INTERVIEW: Über Ihre britischen Landsleute gibt es<br />
viele Sprüche in der Art: „Andere Völker haben Sex,<br />
wir haben Wärmflaschen.“ Ihr Werk hin gegen explodiert<br />
vor Sinnlichkeit. Eine Art Auf be gehren gegen<br />
Prüderie?<br />
BROWN: Was die Briten und Sex angeht – die sind<br />
total sexbesessen. Ich halte England für sexyer als<br />
Schweden. Warum soll man in einem Land, in dem<br />
man den ganzen Tag lang wunderbare nackte Menschen<br />
sieht, noch versuchen, einen verstohlenen Blick<br />
in jemandes Unterwäsche zu erhaschen? Dieses „No<br />
sex please, we’re British“ ist ein Witz, immerhin haben<br />
wir doch diese ganzen schwulen Internatsgeschichten<br />
und sind dauernd in irgendwelche SM-<br />
Skandale verwickelt. Unterdrückung ist ja geradezu<br />
eine Einladung, auch für die eher abwegigen Seiten<br />
der Sexualität. Ich glaube, Verbote sind sexy.<br />
INTERVIEW: Googelt man Ihren Namen und „Hasen“,<br />
dann werden mehrere Suchergebnisse aus<br />
rechtlichen Gründen nicht angezeigt. Was ist denn<br />
da los?<br />
BROWN: Gute Güte! Keine Ahnung. Ich habe zu viel<br />
Angst, mich selbst zu googeln, wahrscheinlich sollte<br />
ich jemand anderen bitten, das zu tun. Aber wenn Sie<br />
Ihre Hausaufgaben gemacht haben, dann wissen Sie<br />
sicher, dass meine Hasenbilder mein Weg waren, heftiges<br />
Zeug zu verhandeln, das ich Menschen wirklich<br />
nicht zumuten wollte. Hasen waren da die Stellvertreter.<br />
Dieser Tage kommen die Bunnys zurück.<br />
INTERVIEW: „Bunnys“ so wie in Playboy-Bunny?<br />
BROWN: Nein. Auf Playboy-Bunnys stehe ich gar<br />
nicht. Die versauen den Hasen den Ruf.<br />
<strong>Interview</strong> GUNNAR LÜTZOW<br />
„WARUM<br />
ÜBERHAUPT<br />
BASEBALL?”<br />
CHAD HARBACH<br />
hat einen Bestseller<br />
über eine Sportart<br />
geschrieben, die kaum<br />
einer versteht<br />
INTERVIEW: Herr Harbach, Ihr Roman Die Kunst des<br />
Feldspiels hat mich bestens unterhalten, aber ich verstehe<br />
immer noch nicht, worum es beim Baseball geht.<br />
CHAD HARBACH: Ja, in Deutschland geht das vielen so.<br />
INTERVIEW: Aber Baseball ist für die Handlung essenziell,<br />
oder?<br />
HARBACH: Klar, in der Geschichte steckt ja eine<br />
Menge Baseball drin.<br />
INTERVIEW: Ist es nicht komisch,<br />
dass Baseball für die<br />
Geschichte essenziell ist, aber<br />
für das Verständnis der Geschichte<br />
kaum eine Rolle spielt?<br />
HARBACH: Ich weiß nicht. Das müssten<br />
Sie mir erklären.<br />
INTERVIEW: Ich hab das Buch nicht geschrieben<br />
…<br />
HARBACH: … Und ich kann’s nicht<br />
unbefangen lesen.<br />
INTERVIEW: Wieso überhaupt<br />
Baseball?<br />
HARBACH: Ich hatte die Idee von<br />
einem Spieler, der ein psychisches<br />
Problem entwickelt. Mit<br />
einem Mal kann er den Ball<br />
nicht mehr richtig werfen, so<br />
als hätte er etwas mit dem<br />
Arm. Im Profi-Baseball passiert<br />
das immer mal wieder.<br />
Plötzlich können diese<br />
Männer nicht mehr, wie<br />
sie sollen, denn im Grunde<br />
32<br />
33
1<br />
SMALLTALK<br />
müssen sie ja nur funktionieren. Aber das geht dann<br />
nicht mehr – und keiner weiß, warum.<br />
INTERVIEW: So wie bei Schriftstellern, die eine<br />
Schreibblockade haben.<br />
HARBACH: Ja, aber eine Schreibblockade hat man<br />
mit sich allein. Ein Spieler hat die Blockade vor den<br />
Augen eines voll besetzten Stadions. Er steht quasi<br />
allein auf dem Platz, und alle sehen ihm zu.<br />
INTERVIEW: Damit fing es also an …?<br />
HARBACH: Ja, meines Wissens nach hatte darüber<br />
nie jemand in einem Roman geschrieben, und ich<br />
dachte, es sei ein gutes Thema. Also machte ich mich<br />
an die Arbeit. Ich war 24 Jahre alt und hatte natürlich<br />
keinen Schimmer, was ich da eigentlich tat.<br />
INTERVIEW: Haben Sie einfach drauflosgeschrieben<br />
und sich von sich selbst überraschen lassen?<br />
HARBACH: Nein, ehrlich gesagt hab ich viel geplant.<br />
Die Figuren standen alle schon ziemlich früh fest,<br />
und nachdem ich beinahe endlos lange Charakterstudien<br />
geschrieben hatte, legte ich fest, wann sie<br />
sich wie und wo begegneten.<br />
INTERVIEW: Neun Jahre haben Sie an dem Buch gearbeitet,<br />
und als es fertig war, wollte es keiner haben.<br />
HARBACH: Ja, ich habe es Agenten geschickt, die ich<br />
von meiner Arbeit bei der Literaturzeitschrift n+1<br />
kannte. Die hatten mich immer gefragt, wann sie<br />
denn endlich das Manuskript lesen könnten, und als<br />
sie es gelesen hatten, meinten sie: „Nein, lieber nicht!“<br />
INTERVIEW: Aber das verstehe ich nicht. Sie sind Teil<br />
der Literaturszene, das Buch lässt sich wunderbar<br />
lesen, und ein Verständnisproblem in Sachen Baseball<br />
dürfte es in den USA nicht<br />
geben. Wieso haben die das<br />
Buch abgelehnt?<br />
HARBACH: Ich weiß es nicht.<br />
INTERVIEW: Und dann erbarmt<br />
sich schließlich ein anderer Li teraturagent,<br />
entfacht eine Bieterschlacht<br />
und handelt einen sensationellen Vorschuss<br />
von knapp 700 000 Dollar heraus. Heute<br />
ist das Buch ein Bestseller.<br />
HARBACH: Ja, es ist verrückt.<br />
INTERVIEW: Die Filmrechte schon verkauft?<br />
HARBACH: Ja, an den Sender HBO. Die wollen<br />
eine Serie daraus machen.<br />
<strong>Interview</strong> HARALD PETERS<br />
CHAD HARBACHS DIE KUNST DES FELDSPIELS<br />
IST BEI DUMONT ERSCHIENEN<br />
„HABEN SIE<br />
HAUSTIERE?”<br />
Barry Manilow über die<br />
psychologische Wirkung<br />
von E-Zigaretten im<br />
Flugzeug und den besten<br />
Tisch im Restaurant<br />
INTERVIEW: Hallo Herr Manilow, Sie rauchen<br />
eine E-Zigarette, wie ist das so?<br />
BARRY MANILOW: Wollen Sie mal probieren?<br />
INTERVIEW: Gerne … Schmeckt nach nichts.<br />
MANILOW: Ist ja auch nur Dampf.<br />
INTERVIEW: Aber die sind doch schädlich, oder?<br />
MANILOW: Nein, nein, die sind unschädlich. Ich<br />
habe da gerade einen Artikel gelesen. Aber im Flugzeug<br />
darf ich sie trotzdem nicht benutzen. Die Stewardess<br />
hat gesagt, es würde sich auf die Psyche der<br />
Passagiere auswirken.<br />
INTERVIEW: Müssen Sie nicht sowieso aufpassen und<br />
Ihre Stimme pflegen?<br />
MANILOW: Nein, ich verstehe mich als Musiker und<br />
nicht als Sänger. Ich vergesse auch immer, mich vor<br />
der Show aufzuwärmen. In der Zeit, als ich viel in Las<br />
Vegas auftrat, bekam ich, was die Leute den Vegas-<br />
Husten nennen, weil es so trocken dort ist.<br />
INTERVIEW: Was ist eigentlich das Beste daran, berühmt<br />
zu sein?<br />
MANILOW: Im Restaurant immer<br />
sofort einen guten Tisch zu bekommen.<br />
Man hält mir die Tür auf und<br />
ist immer ein wenig freundlicher als<br />
zu den anderen Menschen.<br />
INTERVIEW: Was ist der Nachteil?<br />
MANILOW: Die Verantwortung. Man<br />
muss immer die richtigen Worte finden.<br />
Fans und Band glücklich und<br />
stolz machen.<br />
INTERVIEW: Sie haben mit vielen Musikern<br />
zusammengearbeitet, welcher ist<br />
Ihnen im Gedächtnis geblieben?<br />
MANILOW: Ich muss sagen, Barbra<br />
Streisand. Das würde wohl jeder sagen,<br />
der mit ihr gesungen hat. Wenn<br />
man mit ihr auf der Bühne<br />
steht, sollte man die Klappe<br />
halten und sie singen lassen.<br />
INTERVIEW: Gibt es jemanden, mit dem<br />
Sie gerne mal singen würden?<br />
MANILOW: Mit Gaga. Es wäre toll, einen<br />
Song mit ihr zu schreiben, sie ist wunderbar.<br />
INTERVIEW: Gibt es ein Geheimnis beim Komponieren?<br />
MANILOW: Ja, das gibt es, und ich wünschte,<br />
ich würde es kennen. Ich habe mal einen Song im<br />
Traum geschrieben: One Voice. Ich bin davon wach<br />
ge wor den, und er war fertig in meinem Kopf. Heute<br />
gehört er zu den liebsten Songs in meinem<br />
Repertoire.<br />
INTERVIEW: Gibt es etwas, das Sie auf der<br />
Bühne stört?<br />
MANILOW: Feedback. Und grünes<br />
Licht.<br />
INTERVIEW: Haben Sie ein<br />
spezielles Bühnenoutfit?<br />
MANILOW: Ich habe Jacken,<br />
die mich besser aussehen<br />
lassen, als ich<br />
sollte.<br />
INTERVIEW: Haustiere?<br />
MANILOW: Ja, einen Labrador.<br />
Die Liebe meines Lebens.<br />
INTERVIEW: Wie heißt er?<br />
MANILOW: Das kann ich nicht<br />
erzählen, ich will nicht, dass<br />
alle seinen Namen wissen.<br />
<strong>Interview</strong> LAURA EWERT<br />
ZULETZT ERSCHIEN<br />
BARRY MANILOWS<br />
DOPPEL-CD<br />
FOREVER AND BEYOND<br />
BEI UNIVERSAL MUSIC<br />
Serialität<br />
Morrissey und Hebdige<br />
Popkonzepte<br />
Energie und Depression<br />
Lady Gaga<br />
„BRAUCHT<br />
MAN BRÜDER<br />
IM GEISTE?”<br />
NADJA GEER über<br />
die Selbstentwürfe<br />
der westdeutschen Popintelligenz<br />
H e f t 1 H e r b s t 2 0 1 2<br />
K u lt u r<br />
& K r i t i K<br />
INTERVIEW: Was eigentlich ist<br />
Sophistication und was Pop?<br />
NADJA GEER: Ja, das ist interessant,<br />
viele Leute glauben ja,<br />
bei Pop ginge es darum, dass<br />
einem etwas ins Gesicht<br />
springt, dass es poppig ist, farbig,<br />
banal. Ich meine, dass<br />
Pop sehr viel mit Verfeinerung<br />
zu tun hat und Sophistication,<br />
insofern man das,<br />
was schon da ist, reflektiert<br />
und zu toppen versucht. In<br />
den 80er-Jahren, in denen<br />
Pop in einen Prozess der<br />
Selbstreflexion eingetreten<br />
ist, war das ein Muss.<br />
INTERVIEW: Man musste sich also<br />
ein bisschen schlauer gerieren als die anderen?<br />
GEER: Ja, die Sophistication des Pop ist aber nicht so<br />
sehr die des Trendbewusstseins wie heute beim Hipstertum.<br />
Da ist schon der Wunsch nach einer Distinktion,<br />
die über die reine Oberfläche hinausgeht. Sophistication<br />
meint eine alternative Form von Bildung.<br />
INTERVIEW: Handelt es sich dabei nicht um Abfall für<br />
alle, wie Rainald Goetz eine seiner Alltagsbeobachtungen<br />
im Internet nannte?<br />
GEER: Abfall vielleicht, das ist Geschmackssache,<br />
aber bestimmt nicht für alle. Nach Diedrich Diederichsen<br />
ging es darum, Wissen zu vermitteln, aber auf<br />
keinen Fall an die Falschen. Da sehe ich eines der<br />
Probleme des Popdiskurses. Er hätte politischer wirken<br />
können, wenn er sich nicht so in den Kopf gesetzt<br />
hätte, zuallererst schön und geistreich sein zu müssen.<br />
Aber Sophistication funktioniert nur im Ensemble.<br />
Man kann nicht alleine sophisticated sein.<br />
INTERVIEW: Man braucht Brüder im Geiste?<br />
GEER: Ja, die wissen und schätzen, was man weiß.<br />
INTERVIEW: Und Schwestern im Geiste?<br />
GEER: Ja, wo sind die Frauen? Es gab Clara Drechsler<br />
bei der Spex, aber sie hat dort eher die Exzentrikerin<br />
gegeben. Thomas Meinecke sagte mal: „Pop<br />
hat eine harte Tür.“ Da ist wieder die Idee des Clubs,<br />
in den nicht jeder reinkommt. Das hab ich als junge<br />
Frau erlebt: Wenn man mitreden will in diesem Popdiskurs,<br />
darf man sich auf keinen Fall als Nichtwissende<br />
outen. Man musste bella figura machen, selbst<br />
wenn man die Anspielung nicht verstand. Es war immer<br />
alles klar. Und das war natürlich der größte Fake<br />
von allem.<br />
<strong>Interview</strong> BRIGITTE WERNEBURG<br />
SOPHISTICATION.<br />
ZWISCHEN DENKSTIL UND POSE IST<br />
BEI V&R UNIPRESS ERSCHIENEN<br />
Fotos: Penn Station, New York, 2009 © Sinaida Michalskaja, Gestaltung: Charlotte Cassel, Sinaida Michalskaja © Transcript Verlag; Larry Marano/Getty Images<br />
10<br />
AUSGABEN FÜR NUR<br />
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EAU DE PARFUM von<br />
COMME des GARÇONS<br />
Der Duft von explosivem Schießpulver,<br />
Rauch und Feuerstein<br />
trifft auf die grüne Energie<br />
des Urwalds und den anregenden<br />
Duft von Kräutern.<br />
Die Kreation des ultimativen<br />
grünen Duftes:<br />
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des Widerrufs. Im Fall eines wirksamen Widerrufs sind die beiderseits<br />
empfangenen Leistungen zurückzugewähren.<br />
34<br />
Datum<br />
Unterschrift
WOW!<br />
HITCHCOCK WÜRDE ERBLASSEN. Jacke CHANEL, Manschette HERMÈS<br />
DIE FREUDEN EINES ATHLETISCHEN LEBENS<br />
Nachdem Carine Roitfeld inzwischen in ihrem eigenen Universum agiert, ist die Engländerin Katie Grand<br />
chancenreiche Anwärterin auf den Titel „Umtriebigste Chefredakteurin einer cutting edge-Modezeitschrift“<br />
(in ihrem Fall heißt diese Love). Vergangenen Herbst kuratierte sie für Louis Vuitton eine Ausstellung<br />
in Mailand, jetzt hat sie sich mit der italienischen Schuhmarke Hogan zusammengetan<br />
und eine Kollektion entworfen, die die Freuden eines athletischen Lebens zu<br />
feiern scheint: Mini-Umhängetaschen, Sneakers, Ballerinas, Sonnenbrillen und<br />
Handgelenktaschen (die Herrenhandtasche jetzt auch für Frauen!). Verbindendes<br />
Element ist ein kleines Herz in Rot, Pink oder Schwarz, gleichermaßen<br />
inspiriert von der Comme-des-Garçons-Linie Play und, naheliegend ist ja<br />
immer am besten, vom Titel ihres Magazins. Was neben High Tops<br />
(unten) natürlich nicht fehlen darf: der Wedge-Sneaker, den sich<br />
Grand in papageienbunt ausgemalt hat. Bei den Modellen griff<br />
sie auf das Archiv der Mailänder Marke zurück, mit neuen<br />
Farben und Lederoberflächen hat sie ihnen die nötige<br />
nowness verliehen.<br />
Die RADIKAL<br />
MODERNISIERTE<br />
BLONDINE<br />
Was hier zu sehen ist, wenn auch nur im Anschnitt: eine radikal<br />
modernisierte Version der Hitchcock-Blondine. Kühl, kalkuliert und<br />
mit diskret loderndem Feuer. Wie jüngst zu lesen, waren die Beziehungen<br />
des Regisseurs zu seinen Darstellerinnen unberechenbar.<br />
Mit Grace Kelly (Das Fenster zum Hof, Über den Dächern von Nizza)<br />
blieb er zeitlebens befreundet, Tippi Hedren (Die Vögel) beschwert<br />
sich bis heute, dass er ihre Karriere ruiniert hätte. Das könnte dem<br />
Typ Frau auf dieser Seite garantiert nicht passieren.<br />
Foto MATT IRWIN<br />
Styling DARCY BACKLAR<br />
Fotos: Foto-Assistenz: Denis Shlovsky, Make-up: Ayami Nishimura/Julian Watson Agency mit Produkten von MAKE, Make-up-Assistenz: Miyuki Ishizuka, Haare: Alain Pichon/Streeters,<br />
Maniküre: Sophy Robson/Streeters, Model: Hana J/Silent; Katie Grand loves Hogan; Artwork: Rene Ricard, © 2012 David Armstrong & Mörel Books; Pierre Hardy für Le Bon Marché; AMD<br />
SELBST DALÍ<br />
WIRD WIEDERENTDECKT:<br />
AUSSTELLUNGEN<br />
IM NOVEMBER<br />
1<br />
HEIMO ZOBERNIG<br />
9. November 2012 bis 15. April 2013<br />
Museo Reina Sofía, Madrid<br />
Der österreichische Künstler (Jahrgang 1958)<br />
nutzt für seine Interventionen das gesamte<br />
Spek trum künstlerischer Ausdrucksformen wie<br />
Malerei, Skulptur, Architektur, Video und Installation.<br />
Seine Retrospektive mit 50 Arbeiten,<br />
darunter auch Frühwerke, macht deutlich, wie<br />
entscheidend der Künstler zum Wandel des<br />
Skulpturen begriffs beigetragen hat. Der Einsatz<br />
von alltäglichem Material korrespondiert mit<br />
der bewussten Reduktion der Form, die oft den<br />
Anschein des Unfertigen hat.<br />
LIGHT FROM THE MIDDLE EAST:<br />
NEW PHOTOGRAPHY<br />
13. November 2012 bis 7. April 2013<br />
Victoria and Albert Museum, London<br />
Schon weil die Bilder, die derzeit aus dem Nahen<br />
Osten zu uns kommen, immer nur Gewalt, Krieg<br />
und Tod zu zeigen scheinen, ist es eine großartige<br />
Idee, einmal der zeitgenössischen künstlerischen<br />
Fotografie dieser Region eine Bühne zu geben.<br />
30 Künstler und Künstlerinnen aus 13 Ländern<br />
setzten sich in mehr als 90 Arbeiten mit den<br />
sozialen und politischen Umbrüchen auseinander,<br />
die in ihren Ländern stattfinden. Sie zeigen dabei<br />
einen Prozess auf, in dem gerade Künstler Agenten<br />
des kulturellen und sozialen Wandels sind.<br />
KRIS MARTIN –<br />
EVERY DAY OF THE WEAK<br />
23. November 2012 bis 3. Februar 2013<br />
Kestnergesellschaft, Hannover<br />
Die erste umfassende Einzelausstellung des belgischen<br />
Künstlers (Jahrgang 1972) zeigt spektakuläre<br />
Installationen wie den von einem Ventilator<br />
aufgeblasenen Heißluftballon, der den Raum so<br />
komplett ausfüllt, dass die Besucher den Ballon<br />
begehen können. Bekannt ist auch die Anzeigetafel,<br />
die Martin jenen in Flughäfen und Bahnhöfen<br />
abgeschaut hat. Allerdings hat er sein in<br />
einem Zufallsrhythmus umklappendes Schild von<br />
allen Buchstaben und Zahlen bereinigt: Die<br />
Funktion läuft ins Leere.<br />
DALÍ<br />
21. November 2012 bis 25. März 2013<br />
Centre Pompidou, Paris<br />
Nach mehr als 30 Jahren will die erste große<br />
Retrospektive des spanischen Meisters in Paris<br />
den Künstler wiederentdecken, der gegenüber<br />
dem showman, politischen Provokateur und<br />
geldgierigen Egomanen etwas ins Hintertreffen<br />
geraten ist. Denn mit zunehmendem Alter und<br />
Erfolg hatte der Mann mit dem hochgezwirbelten<br />
Schnurrbart diese Rollen der des Malers vorgezogen.<br />
150 Arbeiten zeigen altmeisterliche Technik,<br />
gepaart mit einer immer wieder überraschend<br />
erfindungsreichen Fantasie. Diese Wiederbegegnung<br />
könnte ziemlich spannend werden.<br />
DENEUVE ALS NIXE<br />
WOW!<br />
Was man sich selbst zum Geburtstag schenkt, ist ja<br />
eine der kompliziertesten Fragen. Das Pariser<br />
Kaufhaus Le Bon Marché hat sie zu seinem 160.<br />
pragmatisch beantwortet: möglichst viel. Insgesamt<br />
600 Spezialanfertigungen gibt es zu diesem<br />
Anlass, teilweise in Eigenarbeit, teilweise von<br />
Marken, mit denen man eine besonders innige<br />
Beziehung pflegt: Jean Paul Gaultier, Fendi,<br />
Pierre Hardy, Gucci, Shiseido. Abgerundet<br />
werden die Feierlichkeiten durch eine Reihe<br />
von großformatigen Zeichnungen, die<br />
Catherine Deneuve in diversen Rollen zeigen:<br />
mit Sonnenbrille in den Straßen von Paris,<br />
im Animal-Print-Kleid beim Lianenschwingen,<br />
als Nixe am Brunnen von Saint-Sulpice.<br />
Entkleidung und<br />
Enthemmung<br />
David Armstrong ist ein amerikanischer<br />
Fotograf, den man der sogenannten<br />
Boston School zurechnet,<br />
deren bekannteste Vertreter Nan<br />
Goldin und Jack Pierson sind. Sein<br />
Bildband Night and Day (Mörel<br />
Books) zeigt 110 Aufnahmen von<br />
1979, als er zwischen Provincetown<br />
und New York hin- und herpendelte.<br />
Armstrong porträtierte junge Menschen<br />
in unterschiedlichen Graden<br />
von Entkleidung und Enthemmung.<br />
Beim Zigaretterauchen und Kokainhacken,<br />
in der Badewanne oder auf<br />
der Rückbank eines Autos. Oder<br />
einfach nur beim Ausschlafen. Die<br />
Beiläufigkeit, mit der hier Lebenslust,<br />
Selbstzerstörung, komische<br />
Frisuren und dreckige Wohnungen<br />
vorkommen, ist inzwischen vertraut.<br />
Ebenso die Quasi-Autobiografie,<br />
die ja nur eine andere Art der Fiktion<br />
ist. Aber die kunstvolle Kunstlosigkeit<br />
dieser Bilder wirkt noch heute<br />
frappierend und romantisch. Und<br />
natürlich verdankt das Frühwerk von<br />
Wolfgang Tillmans oder Ryan<br />
McGinley einiges der Ästhetik ihres<br />
amerikanischen Kollegen.<br />
CARA DELEVINGNE<br />
MIT HIGH-TOP-SNEAKERS VON HOGAN<br />
KARTEN-ETUI VON PIERRE HARDY,<br />
SPECIAL EDITION FÜR LE BON MARCHÉ<br />
SO nackt ES GEHT<br />
Selbst überzeugten Taxireisenden dürfte es schwerfallen,<br />
ihren Puls bei diesem Spielzeug im Griff<br />
zu behalten. Für das Thunderbike PainTTless<br />
hatte sich ein Team von Edelschraubern aus<br />
Hamminkeln vorgenommen, ein Motorrad zu<br />
bauen, bei dem jedes Einzelteil so nackt wie<br />
irgend möglich verarbeitet wird. Das Ergebnis<br />
ist, wie man so sagt, „Erotik pur“.<br />
36<br />
37
Brutal<br />
skulPtural und<br />
Begehrenswert<br />
traNSSilvaNiSche SchürzeN auS deN 50erN alS<br />
Kleider getrageN – uNd eiNe SticKtuNiKa<br />
wow!<br />
Jägerin und<br />
sammlerin<br />
Selbst bei größtmöglicher Klischeevermeidung<br />
muss man Katharina Koppenwallner<br />
eine Renaissancefrau nennen,<br />
was ja immer die Notlösung ist,<br />
wenn sich für mehrfach Begabte einfach<br />
keine Schublade finden lässt. Sie<br />
hat mal das Magazin Kid’s Wear zu<br />
einer brillanten und international beachteten<br />
Publikation gemacht, ist als<br />
Autorin und Stylistin tätig und betreibt<br />
seit einigen Jahren ein Projekt, das<br />
gleichermaßen fast schmerzhaft genau<br />
den Zeitgeist trifft und totale Herzensangelegenheit<br />
ist. Für ihren Webshop<br />
International Wardrobe fährt sie nach<br />
Transsilvanien, Kambodscha oder<br />
Laos und kauft dort alte, traditionelle<br />
Kleidung, Stoffe, Teppiche. Die werden<br />
online – und seit Kurzem auch in<br />
einem ultracharmanten Laden in Berlin<br />
– an Menschen verkauft, die sich an<br />
den Farbkombinationen, der ungehemmten<br />
Liebe zum Ornament oder<br />
auch an der Aura des Getragenen<br />
erfreuen. Wie man auf diesem Foto<br />
unschwer erkennt: Bei richtiger Ernährung<br />
ist auch ein rumänisches<br />
Schürzenkleid das perfekte Outfit für<br />
eine Vernissage, eine Modeparty oder<br />
einen Mädchenabend. Vorausgesetzt,<br />
die anderen Mädchen sind auch schon<br />
so weit (internationalwardrobe.com).<br />
Ach, wäre das eigene Leben doch eine Discokugel<br />
– stets in Bewegung, gleichzeitig fest verankert,<br />
und alle sind dankbar für die hübschen Lichtreflexe,<br />
die man ausstrahlt. Wenn dieser<br />
Tagtraum zu Ende ist, zückt man am besten<br />
die Kreditkarte und kauft ein<br />
Paar Schuhe von Andreia<br />
Chaves, einer der interessantesten<br />
neuen<br />
Designerinnen, die es vermag, ihre Entwürfe gleichzeitig brutal skulptural und ungeheuer begehrenswert<br />
aussehen zu lassen. Die Spannbreite zwischen verspiegelten Klumpschuhen und dem Modell, beim<br />
dem ein goldener Vorhang die Füße zu umhüllen scheint (oben), ist denkbar groß, aber wenn Sie die<br />
High Heels gesehen haben, die aussehen wie eine Skizze für den Film Tron (nur schwarze, scharfe<br />
Kanten), dann ahnen Sie, dass man bei dieser Frau mit allem rechnen darf.<br />
Auf<br />
Pandasohlen<br />
Der amerikanische Künstler Rob Pruitt<br />
ist für seine Pandabären bekannt und<br />
für subversiven, aber stets freundlichen<br />
Humor. Seine Kooperation mit der<br />
Marke Jimmy Choo ist folglich ziemlich<br />
fröhlich geraten: Animal-Print, Kunstfellpuschel,<br />
auf der Innensohle Comic-<br />
Pandas als Teufel- und Engelchen.<br />
Die Taschen sind ähnlich hysterisch.<br />
Fast untragbar und deswegen gut.<br />
ÄuSSerlich<br />
betrachtet: warum<br />
wir im November<br />
iNS KiNo geheN<br />
2<br />
„Skyfall”<br />
Weil Javier Bardem in dem neuen Bond-Film den<br />
Schurken spielt und er in seinen Schurkenrollen<br />
stets die fiesesten Frisuren trägt – wobei diese<br />
Frisur in ihrer beiläufig blondierten Fiesheit noch<br />
die besonders fiesen Frisuren aus Perdita Durango<br />
oder No Country For Old Men mühelos übertrifft<br />
(ab 1. November).<br />
„Oh BOy”<br />
Weil Tom Schilling als orientierungsloser junger<br />
Mann in Berlin einen so glaubwürdig nachläs -<br />
sigen Eindruck macht, wie man ihn so beeindruckend<br />
im deutschen Kino noch nie zu sehen<br />
bekam, sondern bestenfalls aus französischen<br />
Filmen kennt, wo ja alle wissen, wie man ein<br />
ungebügeltes Hemd oder eine ausgebeulte Anzughose<br />
mit Stil und Würde trägt (ab 1. November).<br />
„argO”<br />
Weil Ben Afflecks Film (Hauptrolle und Regie)<br />
über eine Rettungsaktion der CIA im Jahre 1979<br />
nach der Besetzung der US-Botschaft in Teheran<br />
nicht nur interessante historische Einblicke liefert,<br />
sondern auch den ästhetischen Umbruch zwischen<br />
den 70ern und den 80ern einwandfrei dokumentiert<br />
(ab 8. November).<br />
„fraktuS”<br />
Weil die interessante, aus dem Nichts zurückgekehrte<br />
Band Fraktus, von der dieser Dokumentarfilm<br />
erzählt, auf dem Plakat Overalls anhat und<br />
sich auch sonst nicht scheut, in Kostüme zu<br />
schlüpfen, die mit gewisser Berechtigung landläufig<br />
als unvorteilhaft gelten (ab 8. November).<br />
„the Sex Of angelS”<br />
Weil es in dieser bezaubernden Liebesgeschichte<br />
aus Spanien zwar um mehr als bloß Oberflächenreize<br />
geht, aber, meine Güte, sehen die drei<br />
Hauptdarsteller – ein Mädchen, zwei Jungs – gut<br />
aus! (ab 8. November)<br />
„Pieta”<br />
Weil, weil, weil … (ab 8. November).<br />
„POSSeSSiOn”<br />
Weil weiße Nachthemden eigentlich nur noch<br />
in Filmen getragen werden, in denen böse<br />
Geister von jungen Mädchen Besitz ergreifen<br />
(ab 8. November).<br />
„DreDD”<br />
Weil der Motorradhelm dem einigermaßen gewaltbereiten<br />
Helden den gesamten Film hin -<br />
durch derart prominent auf dem Schädel sitzt, als<br />
ginge es ihm dabei nicht nur um körperlichen<br />
Schutz, sondern um den Ausdruck seiner Individualität<br />
(ab 15. November).<br />
„Breaking Dawn – teil 2”<br />
Weil Edward und Bella jetzt, wo auch sie Vampir<br />
ist, endlich, endlich (endlich) gemeinsam im<br />
Sonnenlicht funkeln können (ab 22. November).<br />
„Der BöSe Onkel”<br />
Weil hier – es handelt sich um die schwungvolle<br />
Verfilmung eines Theaterstücks über einen Sportlehrer,<br />
der zu sexuellen Übergriffen neigt –<br />
einfach alle so fabelhaft schlecht angezogen sind<br />
(ab 22. November).<br />
„Back in the game”<br />
Nicht, weil der Film eigentlich Trouble With The<br />
Curve heißt und von unserem neuen Lieblingssport<br />
Baseball handelt (siehe Smalltalk), sondern<br />
weil Justin Timberlake mitspielt, weswegen<br />
denn sonst? (ab 29. November)<br />
Fotos: Tim Thiel/internationalwardrobe.com; Andreia Chaves; Rob Pruitt für Jimmy Choo; Bernardo, Jazmin and Ana, Noritoshi Hirakawa Unión de … Interactional Casa Barragán, Hatje Cantz; Jodie Foster, Taxi Driver, New York, 1975, Steve Schapiro, Then And Now, Hatje Cantz<br />
SelbSt SELBST mArloN MARLON brANdo BRANDO lÄchelt LÄCHELT<br />
Nicht schon wieder, glimmt der Abwehrgedanke auf, wenn man den nächsten<br />
prächtigen Bildband mit weltberühmten Menschen auf den Tisch donnert.<br />
Bei Steve Schapiros Then and Now (Hatje Cantz Verlag) ist das ein bisschen<br />
anders. Schon das Cover ist ungewöhnlich. Ein Bild von David Bowie in seiner<br />
großartigen Der Mann, der vom Himmel fiel-Phase, aber körnig, von der<br />
Seite und ins Irgendwo schauend. Schapiro muss ein großer Verführer sein:<br />
Die Stars machen vor seiner Kamera Unsinn und scheinen sich erstaunlich oft<br />
zu freuen, den Mann dahinter zu sehen. Selbst Marlon Brando lächelt. Und<br />
das Porträt von Dolly Parton, mit ihrer signature wig, aber einfach zum Verlieben<br />
melancholisch, lässt einen die Frau noch mal von Grund auf neu<br />
überdenken. Wer berühmte Menschen für grundsätzlich überschätzt hält,<br />
wird seine Meinung auch durch dieses Buch nicht ändern.<br />
Jeder normale Mensch wird wachsweich vor diesen Bildern.<br />
NACHTS<br />
im GARTEN<br />
Foto<br />
AMOS FRICKE<br />
Tom Ford hat für seine „Private Blend“-Linie eine weitere Kollektion<br />
entworfen und sie „Jardin Noir“ genannt. Jeweils eine Blütennote<br />
steht im Mittelpunkt und verströmt vor allem ihren dunklen Charakter:<br />
„Jonquille de Nuit“,„Lys Fume“,„Ombre de Hyacinth“ und „Café<br />
Rose“. Wie in einem nächtlichen Garten.<br />
WOW!<br />
DIFFUSE EROTIK IN EINEM SCHÖNEN HAUS:<br />
BERNARDO, JAZMIN AND ANA VON NORITOSHI HIRAKAWA<br />
Je LEERER,<br />
desto MEHR SEX<br />
Die suggestive Kraft, die Architektur auf kleinem<br />
Raum mit überschaubaren Mitteln entwickeln<br />
kann, lässt sich wunderbar in der Casa Luis Barragán<br />
studieren, die der mexikanische Baumeister<br />
1948 für sich entwarf. Seine Gebäude lassen sich<br />
so gut fotografieren, weil sie die Geometrie der<br />
klassischen Moderne mit einem tropischen Farbensinn<br />
verbinden. Sein Wohnhaus jedoch ist<br />
von fast klösterlicher Strenge und Enge, die sich<br />
nur gelegentlich auf dann allerdings sensationelle<br />
Licht- und Farbeindrücke öffnet. Nun hat der<br />
japanische Fotograf Noritoshi Hirakawa das Baudenkmal,<br />
das heute Museum ist, ganz neu bespielt:<br />
In dem Bildband Unión de … Interactional Casa<br />
Barragán (Hatje Cantz Verlag) sieht man Tänzer,<br />
mal nackt, mal nicht, in nicht ganz eindeutigen,<br />
aber eindeutig sexuell aufgeladenen Arrangements,<br />
als würde man die Dreharbeiten eines schwülen<br />
Autorenfilmes oder das Zusammenleben einer<br />
sehr aktiven Wohngemeinschaft beobachten.<br />
„Je leerer ein Haus oder eine Wohnung ist, desto<br />
schneller werden Menschen darin an Sex denken<br />
(siehe Der letzte Tango in Paris)“, schreibt in<br />
seinem Vorwort der Schweizer Kurator Tobia<br />
Bezzola. Wäre man selbst nicht draufgekommen,<br />
doch stimmt genau.<br />
STEVE SCHAPIRO: JODIE FOSTER 1975 AM SET VON TAXI DRIVER<br />
38<br />
39
WOW!<br />
BLICK ZURÜCK in ROT<br />
Ruhestand ist bei Valentino ein relativer Zustand. Gerade hat<br />
er Kostüme für die New Yorker Met entworfen, nun feiert eine<br />
große Ausstellung im Somerset House in London (29. November<br />
2012 bis 3. März 2013) seine Arbeit in der Haute Couture.<br />
In einigen der Hauptrollen: das Oscar-Kleid von Julia Roberts<br />
2001, das Hochzeitskleid von Jackie Onassis 1968, das perlenbesetzte,<br />
elfenbeinfarbene Kleid, in dem ein It-Girl aus Manhattan<br />
zur Prinzessin Marie-Chantal von Griechenland wurde.<br />
Anatomisch KORREKT<br />
Knochen, Totenköpfe, Gliedmaßen – zeitgenössischer Schmuck<br />
gleicht häufig einem Crashkurs in Anatomie. Die Designerin<br />
Shahla Kareen mit ihrem Label Ludevine hat sich ein bislang<br />
noch fehlendes Organ zum Vorbild für ihren Anhänger<br />
ge nommen: ein anatomisch<br />
korrektes Herz.<br />
Hübsche KLATSCHE<br />
40<br />
BIOMORPH<br />
Biomorph und mechanisch<br />
wirken die Entwürfe von<br />
Svenja John. Ihr Armreif<br />
ist aus Makrofol, zu<br />
Folie gezogenem<br />
Polycarbonat. Plastikschmuck<br />
also,<br />
aber ziemlich raffiniert.<br />
Mit dieser Clutch von Alexander McQueen<br />
hat man nur ein Problem: Sie kommt nicht<br />
durch den Sicherheitscheck am Flughafen.<br />
Allzu eindeutig ist der hübsch bestickte<br />
Korpus an einem modifizierten Einhörnerplus-Totenkopf-Schlagring<br />
montiert. Dessen<br />
Kampftauglichkeit ist fraglich, aber wer<br />
ein-mal seine vier Finger in Position gebracht<br />
hat, kann sie kaum noch verlieren (die Clutch).<br />
Silbernes DACH<br />
Bei Alessandro Daris Ring „Vecchio Castello“<br />
sind die Türme aus Gold, die Dächer aus<br />
Silber und Turmalin – und der<br />
Ring finger der Trägerin ist<br />
hoffentlich<br />
einigermaßen<br />
muskulös<br />
(über luisaviaroma.com).<br />
STICH-<br />
HALTIG<br />
Schillernde Roboterkäfer – auf<br />
solche Ohrclips kann eigentlich<br />
nur Roberto Cavalli kommen<br />
(über net-a-porter.com).<br />
GEGEN<br />
PEST und<br />
TEUFEL<br />
Wie man Minimalismus<br />
mit Üppigkeit<br />
verbindet, zeigt diese<br />
rubinbesetzte Herrenuhr<br />
von Dolce & Gabbana,<br />
ihr Debüt im Edeluhrensegment.<br />
Rubine sollen<br />
gegen die Pest und den Teufel<br />
schützen. Insofern ist man mit<br />
dieser Uhr nicht nur pünktlich,<br />
sondern auch sicher.<br />
Fotos: Valentino with models, 2007 © Lorenzo Agius/www.aandrphotographic.co.uk; Ludevine; Alessandro Dari/luisaviaroma.com; Roberto Cavalli/net-a-porter.com; Svenja John; Alexander McQueen; Dolce & Gabbana
wow!<br />
wow!<br />
mode & aCCessoires<br />
mAison<br />
mArtin mArgielA<br />
with h&m<br />
steppdeCKen-mantel,<br />
Kleid aUs aUtositZBeZUgsstoFF,<br />
Candy-ClUtCh<br />
(als top getragen),<br />
sChlÜsselanhÄnger-halsKette,<br />
strÜmpFe<br />
(als top getragen)<br />
Die Verschmelzung von geist und sex<br />
Das Maison Martin Margiela beschäftigt sich seit Jahren mit der Dekonstruktion und Neuerfindung der Mode. Der Gründer und Namensgeber ließ<br />
sich bekanntlich nie fotografieren, was zum Nimbus seines Labels beigetragen hat. Doch auch seit er die Firma verlassen hat, pflegt ein elegantes,<br />
halb anonymes Designerteam die Kernqualitäten des Hauses: Radikalexperimente, Humor, die Verschmelzung von Geist und Sex. Jetzt hat sich MMM<br />
mit H&M verbündet (in der Nachfolge u. a. von Karl Lagerfeld, Viktor & Rolf, Comme des Garçons und Versace). Die Kollektion ist ab 15. November<br />
erhältlich und enthält Highlights wie den Bettdeckenmantel oder die Gürtel-Lederjacke. Der Beweis gelingt: Intelligenz muss nicht teuer sein.<br />
Fotos willem jAspert, styling ingo nAhrwold<br />
Haare & Make-up: Stelli.eu mit Produkten von Tom Ford Cosmetics und Bumble and Bumble, Models: Corinna Ingenleuf/m4models, Niklas/m4models, Foto-Assistenz: Marius Uhlig, Styling-Assistenz: Julian Gadatsch, Produktion: Ingo Nahrwold/bigoudi<br />
corinna: Jeans, rollkraGenpullover, lininG-kleiD unD<br />
bikerJacke aus leDer<br />
niklas: car coat, insiDe-out-mantel unD -Jeans, anZuGweste,<br />
HanDbemalte scHuHe<br />
Jacke aus Gürteln, JeansJacke unter wollpullover<br />
mit Fair-isle-muster, Hose, bemalte weste<br />
corinna: rollkraGenpullover, Jacke mit scHmalen scHultern,<br />
mantel (als rock GetraGen)<br />
niklas: kunstpelZmantel (von innen nacH aussen GetraGen),<br />
FanscHal-pullover , bemalte Jeans<br />
kleiD, Jacke (als cape GetraGen), HanDscHuH-tascHe,<br />
leDer- leGGinGs, strümpFe (Darüber GetraGen)<br />
42<br />
43
RETROMANIA:<br />
DINGE<br />
VON GESTERN<br />
FÜR HEUTE<br />
3<br />
LANGE UNTERHOSEN<br />
Kennen Sie das Gefühl, warm genug angezogen<br />
zu sein?<br />
WOW!<br />
BADETÜCHER<br />
Weil es ja nun überhaupt keinen Sinn ergibt, den<br />
Körper in Einzelteilen abzutrocknen.<br />
BLOSSOM<br />
Das Mädchen sieht aus wie die Tochter von Raquel<br />
Ochmonek, ist schlau und witzig, hat einen Musikervater,<br />
einen Alki-Bruder und keine richtige<br />
Mutter, heißt Blossom und ist Hauptfigur einer<br />
Sitcom aus den 90ern. Eine der besten, nicht nur<br />
weil sie uns auf die modisch geniale Idee bringt,<br />
einen Friesennerz auf Bauchnabellänge zu kürzen.<br />
AUTO-TUNE<br />
Weil mit Auto-Tune einfach alles besser klingt.<br />
2009 erklärt Jay-Z das Software-Tool in Death Of<br />
Auto-Tune für hinüber. Damals hielten das viele<br />
für eine richtige Beobachtung, gilt doch Shawn<br />
Carter als beinah unfehlbare Geschmacksinstanz.<br />
Zum Glück hielt das nicht lange an. Aktuell<br />
klingen wieder insbesondere Rapper aus Chicago<br />
und Atlanta immer häufiger ein wenig so wie<br />
Cher. Toll!<br />
Making-Of/Shooting:<br />
HEIKE MAKATSCH<br />
LEBERWURST<br />
Zwei Leberwürste sitzen auf dem Baum, schubst<br />
die eine die andere runter. Wer bleibt oben? – Die<br />
grobe.<br />
BAYERISCHER<br />
GEBIRGSSCHWEISSHUND<br />
Welch angenehmer Name für eine Hunderasse!<br />
Man stelle sich nur die schönen Gespräche vor,<br />
die er nach sich zieht: „Der ist ja süß! Was ist<br />
denn das für einer!“ – „Ein Bayerischer Gebirgsschweißhund<br />
ist das.“ – „Ach, kommen Sie von<br />
dort?“ – „Nein, und der Hund auch nicht!“ –<br />
„Wieso überhaupt Schweißhund? Ist ihm warm?“<br />
– „Nein, nein, dieser Schweiß hat nichts mit<br />
schwitzen zu tun, das ist ein Begriff aus der Jagd.“<br />
– „Sie sind also Jäger?“ – „Nein, aber der Hund ist<br />
technisch gesehen ein Jagdhund, halb einheimische<br />
Bracke, halb Hannoverscher Schweißhund.“<br />
– „Und wen jagt er?“ – „Der jagt natürlich niemanden,<br />
der ist ganz friedlich. Schauen Sie doch<br />
nur mal seine Ohren an!“ – „Er trägt sie, als wären<br />
sie seine Frisur!“ – „Er hat einen gewissen<br />
Stolz …“ Hätte man einen Golden Retriever, man<br />
würde gewiss über ganz andere Dinge sprechen.<br />
BARBRA STREISAND<br />
Eigentlich ist ja jede Zeit Streisand-Zeit, aber<br />
manchmal eben noch mehr als sonst. Aber warum<br />
jetzt? Weil die große alte Dame der show tunes<br />
gerade mal wieder ihre erstaunlich geräumige<br />
show tunes-Schublade aufgezogen hat und dabei<br />
ein paar show tunes vorgefunden hat, die sie irgendwann<br />
mal eingesungen, dann aber doch nicht<br />
veröffentlicht hatte – jedenfalls nicht in dieser<br />
Form. Und weil es bald wieder weihnachtet und<br />
sie auch einen neuen Film (The Guilt Trip) hat,<br />
in dem sie die Mutter von Seth Rogen spielt, voll<br />
irre, kommt hier sozusagen eins zum anderen:<br />
Kino, CD und bam! Barbra. Einfach nur: bam!<br />
FAXMASCHINE<br />
Ideales Kommunikationsgerät für die kühlere<br />
Jahreszeit: Steht immer drinnen, kann man also<br />
super bedienen, ohne kalte Finger zu bekommen.<br />
LOLLIS<br />
Man könnte auch mal wieder einen Lolli lutschen.<br />
Es gibt ja so schöne!<br />
Zwischen ANTIK und AMORPH<br />
Die beste aller Welten, einigermaßen frei nach Voltaire, ist zweifellos die Welt<br />
von Versace. Ohne Donatella auf die Füße treten zu wollen, denn diese Frau<br />
flößt in gleichen Dosen Bewunderung und Respekt ein, ist der Stil dieses Hauses<br />
von einer erfrischenden Hemmungslosigkeit geprägt. Kritiker finden die<br />
Home Collection ein wenig zu bunt? Das schreit nach noch mehr Farbe. Die<br />
Antike-Zitate werden von anderen Designern geklaut? Dann erst recht. Ein<br />
Zierteller an der Wand würde vielleicht reichen? Dann schon lieber 39 davon.<br />
Eine Deckenhöhe von geschätzt 4,80 Meter hat ja wohl jeder im Wohnzimmer!<br />
Die Möbel und Einrichtungsvorschläge für diesen Herbst sind nur für<br />
Genießer, die auch in den eigenen vier Wänden eine ordentliche Show abziehen<br />
wollen: Wandspiegel in Form einer riesigen Sonnenbrille, Kristallkronleuchter<br />
wie riesige Quallen, überall Medusenköpfe, goldenes Blätterwerk und<br />
ein Formengewitter zwischen antik und amorph. Würde Julius Cäsar heute<br />
ein Luxushotel betreiben, es müsste so aussehen.<br />
FALTHOCKER<br />
Die Sitzfläche aus gefaltetem Porzellan auf<br />
verschobenen Beinen aus Eichenholz ergibt<br />
den vielleicht raffiniertesten Hocker<br />
der Saison. Die Arbeiten der Künstlerin<br />
Judith van den Boom sind über die Galerie<br />
Karena Schüssler in Berlin erhältlich.<br />
Fotos: Versace Home; Courtesy Judith van den Boom<br />
www.interview.de<br />
44
4<br />
NEUE BÜCHER<br />
ÜBER GELD UND<br />
KRANKE HUNDE<br />
„KAPITAL”<br />
Von John Lanchester. Klett-Cotta<br />
Die kritische Auseinandersetzung mit dem Internet<br />
und mit Geld scheint in diesem Herbst<br />
vorherrschendes Thema. Und seitdem Bücher zu<br />
ersterem Sujet mit Sätzen beworben werden wie<br />
„Wussten Sie, dass wir im Rahmen eines 75-jährigen<br />
Lebens acht Monate mit dem Löschen unerwünschter<br />
E-Mails verbringen und nur zwölf<br />
Stunden mit Orgasmen?“, haben wir überhaupt<br />
keine Lust mehr auf das Thema Internet und<br />
entscheiden uns für das Thema Geld. Dann landen<br />
wir nämlich bei diesem umfang- und aufschlussreichen<br />
Roman über die Auswirkungen von<br />
Geld – so ganz generell – auf eine Straße in London<br />
und ihrer vielen Bewohner, die natürlich<br />
mal mehr, mal weniger gut sind, je nachdem wie<br />
viel Geld eben vorhanden ist. Man ahnt es<br />
schon: Es geht um Gentrifizierung, aber das sollte<br />
auf keinen Fall abschreckend wirken.<br />
„DIE ABENTEUER MEINES<br />
EHE MALIGEN BANKBERATERS”<br />
Von Tilman Rammstedt. Dumont<br />
In diesem Roman geht es nicht nur um das Geld,<br />
das ein Bankberater bei einem Banküberfall zu<br />
klauen scheint, sondern auch – und vollkommen<br />
selbstverständlich – um Bruce Willis, der für<br />
den ganzen folgenden Schlamassel herhalten soll.<br />
Gleichzeitig handelt er aber auch von einem<br />
Hund, der vom Schriftsteller fast totgebissen und<br />
später von Polizisten erschossen wird. Also, kann<br />
man sagen, geht es hier vor allem um die kapitalistische<br />
Verwertungslogik, die uns alle zu Verrückten<br />
macht. Früher oder später.<br />
„EINEN TOTEN HUND IHM NACH”<br />
Von Jean Rolin. Berlin Verlag<br />
Und da es ja immer irgendwie um die kapitalistische<br />
Verwertungslogik geht, handelt auch dieses<br />
Buch vom Geld, obwohl es augenscheinlich erst<br />
mal von Hunden erzählt. Allerdings von Straßenhunden,<br />
die ja ebenfalls unter dem Mangel an<br />
Geld leiden und ab und an auch erschossen werden<br />
(siehe Buch oben). Der französische Autor<br />
dieses Reportagenbandes beobachtete streunende<br />
Hunde in Bangkok, in Beirut und Ulan-Bator und<br />
erzählt anhand ihres Lebens die ganze Welt.<br />
„DER HILLIKER-FLUCH: MEINE<br />
SUCHE NACH DER FRAU”<br />
James Ellroy. Ullstein<br />
Vielleicht hätte dieser Biografie ein Hund gutgetan.<br />
So ein kleiner, süßer, der ab und an den<br />
Kopf schräg legt, wenn die Schilderung von<br />
Ellroys Leben und Werden zu böse wird. Allerdings<br />
war seine ganze Zerstörtheit vielleicht<br />
notwendig, um so einen Superschriftsteller aus<br />
ihm zu machen. Denn nur wenn man super ist,<br />
verdient man ja als Schriftsteller genügend Geld.<br />
ZERSTREUTES<br />
SHOWGIRL<br />
WOW!<br />
Die letzten Jahre waren geprägt von ausladenden<br />
Tüchern, die sich modebewusste Menschen betont<br />
lässig um den Hals schlangen. Referenz war die<br />
Kuscheldecke des Peanuts-Linus, ein Hinweis auf<br />
grassierende Erwachsenenskepsis. Nun hat die wie<br />
immer richtig liegende Designerin Consuelo Castiglioni<br />
für ihr Label Marni eine scharfe Kehrtwende<br />
eingeläutet: klar konturierte Pelzkrägen in Tropfenform.<br />
Die erinnern mit ein paar wie zufällig daraufgehefteten<br />
Broschen nicht an die eigene Großmutter,<br />
sondern an ein liebenswert zerstreutes Showgirl.<br />
GLASKUNST<br />
Die Ausstellung der Glas objekte<br />
(oben) des Architekten Carlo<br />
Scarpa war ein Überraschungshit<br />
der Biennale. Bis 29.<br />
November auf der Insel<br />
San Giorgio Maggiore.<br />
EXPERIMENTELLER Geist<br />
Dem Creative Director der französischen Modemarke Givenchy, Riccardo Tisci, gelingt regelmäßig,<br />
wovon viele seiner Kollegen nur träumen können: Er provoziert Aufregung und erfin det<br />
Looks, die um die Welt und durch die Straßen gehen. Mal arbeitet er für seine Kampagne mit<br />
dem Transgender-Model Lea T, mal zeigt er auf Sweatshirts, Kleidern, Baseballkappen einen<br />
zähnefletschenden Rottweiler (nicht zwingend ein Sympathieträger) oder eine zum Rorschachtest<br />
gespiegelte Strelitzie. Kein Wunder, dass bei Givenchys Schauen auf den Stehplätzen regelmäßig<br />
ein Haufen Fans im total look zu sehen ist. Die Pariser Designagentur M/M gestaltet<br />
für Tisci seit 2005 die Einladungen und hat daraus eine eigene Kunstform gemacht. Quasi<br />
halluzinogen wirkende Zeichnungen und Collagen, die nicht die je aktuelle Kollektion zeigen<br />
(was für alle Beteiligten viel zu eindeutig wäre), sondern den experimentellen Geist des Labels<br />
kongenial begleiten. The Givenchy Files ist das magische Bildarchiv der Kooperation.<br />
HUND AUF RIND IN VARANASI, INDIEN<br />
MENSCHEN, TIERE,<br />
keine SENSATIONEN<br />
Wer glaubt, bereits alles gesehen zu haben, dem öffnet der<br />
finnische Fotograf Pentti Sammallahti die Augen. Seit fast 50<br />
Jahren fotografiert er die ganze Welt, auf eigenartige und<br />
einzigartige Weise. Seine Bilder haben den malerischen Nuancenreichtum<br />
seines Kollegen Hiroshi Sugimoto, die Unerschrockenheit<br />
eines Kriegsfotografen und die<br />
Neugier eines Menschenfreundes.<br />
Er sucht nicht nach<br />
Sensationen, aber seine<br />
Motive sind durchdacht und<br />
schön. Der Löwe etwa, der unter<br />
einem hellen Mond klein, aber<br />
unübersehbar in der Savanne thront,<br />
ist eine überzeugende Dankesrede<br />
an … wer auch immer ihn dort hingesetzt<br />
haben mag. Hier weit entfernt ist<br />
eine Rückschau auf das Werk des Kamerawanderers<br />
(Kehrer Verlag).<br />
AUS M/M (PARIS) PRESENTS THE GIVENCHY FILES<br />
Fotos: Marni; Pentti Sammallahti, hier weit entfernt, Kehrer Verlag 2012; Ettore Bellini/Fondazione Giorgio Cini onlus; M/M (Paris)<br />
welt.de/neu<br />
Die Welt gehört denen,<br />
die neu denken.<br />
46
NiNA<br />
KrAviz<br />
Es heißt, NiNa Kraviz<br />
schaue erst einmal in ihren<br />
Handspiegel, wenn ihr beim<br />
Auflegen in der Panorama Bar<br />
ein Übergang missglückt.<br />
aber das macht nichts.<br />
Ein bisschen Eitelkeit gehört<br />
zum Geschäft. Sonst würde die<br />
studierte zahnärztin auch nicht<br />
die Musik für die Schauen von<br />
Hugo Boss zusammenstellen<br />
“instinkt statt idee –<br />
erst handeln, dann denken”<br />
voN<br />
EyAN AllEN<br />
Foto<br />
BENjAmiN lENNox<br />
StyliNG<br />
Gro CurtiS<br />
EyaN allEN: Nina, du hast die Musik für unsere aktuelle Modenschau gemacht.<br />
Mit jemandem wie dir zu arbeiten, der auch noch so gut in unseren Kleidern aussieht,<br />
ist toll. Ich freue mich!<br />
NiNa Kraviz: Ich danke euch für diese Erfahrung. Ich komme ja aus der etwas<br />
snobistischen Underground-House-Szene, da wirkst du als Frau in diesem Zusammenhang<br />
schon merkwürdig. Dann noch eine Frau, die wie ich Tanzvideos dreht,<br />
sich chic macht, versucht, mit dem Publikum zu kommunizieren – das kommt doppelt<br />
schräg. Das ist in der Mode natürlich anders … Wie spricht man deinen Namen<br />
eigentlich aus? Ian?<br />
allEN: Eyan.<br />
Kraviz: Eyan, entschuldige. Hast du auch manchmal Angst, dass deine Kreativität<br />
verschwindet? Einfach so, über Nacht?<br />
allEN: Man muss sich seine Inspirationsquellen bewahren. Vergangenes Jahr habe<br />
ich mir ein Haus in New York gekauft, ich pendele also zwischen Deutschland und<br />
New York. Es ist eine Stadt, in der dein Ausdruck gewünscht ist, es gibt nicht so<br />
viele Städte, in denen Individualität willkommen ist.<br />
Kraviz: Ja, Städte wie London oder New York fördern das Schaffen, allerdings<br />
glaube ich, wenn ich dort geboren wäre, stünde ich nicht da, wo ich heute bin. Ich<br />
komme aus Sibirien. Du kommst aus Leeds, das hat dich doch auch beeinflusst.<br />
Die Menschen dort sind hart, robust …<br />
allEN: … offen und ehrlich.<br />
48<br />
Kraviz: Wie die Menschen aus Sibirien. Zäh. Oder würdest du je eine Idee aufgeben,<br />
weil sie von anderen für nicht gut befunden wird?<br />
allEN: Nein, nicht wenn sie gut ist. Es ist ja auch nicht schlimm, mal danebenzuliegen.<br />
Wie sagt man so schön: Daraus lernen wir. Und wenn man anderen zeigen<br />
kann, dass man recht hatte, ist das doch eines der besten Gefühle überhaupt.<br />
Als Kreativer musst du dich von jedem Urteil frei machen. Aber das verwechseln<br />
die Menschen oft mit Arroganz.<br />
Kraviz: Stimmt. Es gibt ja einige tolle Designer, die aus Großbritannien kommen,<br />
meinst du, das hat einen bestimmten Grund?<br />
allEN: In England wirst du in deiner Kreativität bestärkt. Ich war vor Kurzem auf<br />
der Damien-Hirst-Retrospektive in der Tate, und es war so unglaublich! Er ist<br />
einer meiner Lieblingskünstler. Ich bin sehr stolz auf das Bild von ihm, das ich<br />
gekauft habe, als er noch unbekannt war. Jetzt ist es sehr viel Geld wert. Ich habe<br />
es aber gekauft, weil es mir gefiel.<br />
Kraviz: Wow.<br />
allEN: Die Retrospektive ist der Wahnsinn. Wenn du mich nach einem Ziel fragen<br />
würdest, würde ich sagen, in zehn Jahren möchte ich auch gerne ein hübsches<br />
Buch mit all meinen Arbeiten machen.<br />
Kraviz: Ich bin gerade in einer Phase, in der ich auch viel über die Vergangenheit<br />
nachdenke. Ich verliere mich in Gedanken – darüber, wer ich als Musikerin sein<br />
möchte und so weiter.<br />
allEN: Da muss ich wieder sagen, das ist eine Frage des Alters, aber vielleicht sage<br />
ich das auch nur, weil ich in der vergangenen Woche 41 geworden bin.<br />
Kraviz: Oh, happy Birthday.<br />
allEN: Danke. Ich hatte mit so vielen Enttäuschungen zu kämpfen, privat und<br />
beruflich.<br />
Kraviz: Was war deine größte Enttäuschung?<br />
allEN: Das ist eher eine Geschichte, die ich dir bei einem guten Glas Wein erzähle.<br />
Wie triffst du denn Entscheidungen beim Produzieren deiner Musik?<br />
Kraviz: Ich glaube nicht an Entscheidungen, die zu lange dauern. Ich glaube an<br />
den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Ort für Ideen. Je älter man wird, desto<br />
besser kann man sich wahrscheinlich von Ideen verabschieden. Darin liegt die<br />
wahre Kunst. Ich glaube, die besten Werke der Kunstgeschichte wurden sehr<br />
schnell fertiggestellt.<br />
allEN: Hmmm.<br />
Kraviz: Weil die Idee …<br />
allEN: … so klar war?<br />
Kraviz: Absolut.<br />
allEN: Hast du einen Lieblingskünstler?<br />
Kraviz: Klar, den habe ich. Meinst du einen Musiker, Fotografen oder Maler?<br />
allEN: Einen Maler.<br />
Kraviz: Einen Maler … Ich habe viele verschiedene Lieblingsmaler.<br />
allEN: Nenn mir einen.<br />
Kraviz: Das ist sehr schwer. So wie die Frage nach dem Lieblingsbuch.<br />
allEN: Ich liebe Picasso, seine Naivität, seine Position, seine Farben.<br />
Kraviz: Was ich an Picasso am meisten mag, ist seine Signifikanz und die Varianz<br />
seiner Einzigartigkeit. Für mich ist Grace Jones wichtig, gerade wenn es um den<br />
Dialog zwischen Musik und Mode geht.<br />
allEN: Sie ist großartig. Das Bild von ihr, auf dem sie den schwarzen Anzug trägt.<br />
Und die quadratische Frisur und eine Zigarette im Mund.<br />
Kraviz: Großartig.<br />
allEN: Ja, ich habe das Foto in New York. Sie ist eine Person, die Risiken eingegangen<br />
ist. Sie ist pur.<br />
Kraviz: Erinnerst du dich an den Film, in dem sie mit den Regenschirmen auftrat?<br />
Das hat mich nachhaltig begeistert, so edgy. Diese Mischung aus Musik, Performance,<br />
Kunst.<br />
allEN: Wirklich bedeutend.<br />
Kraviz: Ja, aber wenn du versuchst, Bedeutendes zu erschaffen, geht das nach hinten<br />
los. Ich bin froh, dass wir im Rahmen dieses <strong>Interview</strong>s über solche Dinge<br />
sprechen können. Ich bin sonst wirklich eher zurückhaltend, wenn es um meine<br />
Arbeit und meine Person geht.<br />
allEN: Zum Schutz vielleicht?<br />
Kraviz: Es gibt einfach Dinge, die ich nicht mit anderen teilen möchte – obwohl<br />
ich auf der Bühne alles teile. Da fühle ich mich sehr wohl. Ehrlich, ich könnte sogar<br />
nackt auftreten. Ich habe keine Angst vor Aufmerksamkeit oder vor Kameras.<br />
Manche Dinge kann ich sogar besser vor einer Kamera als vor meinem Freund.<br />
allEN: Das liegt wahrscheinlich daran, dass das ein Teil deiner Performance ist<br />
und nicht deines Alltags-Ichs. Wobei die Show natürlich auch Teil von dir ist.<br />
Kraviz: Glaubst du mir, wenn ich sage, dass ich zurückhaltend und bescheiden<br />
bin?<br />
pullover<br />
rAg & bone
Allen: Nein (lacht).<br />
KrAviz: Ich kann auch sehr offen sein, doch ich kann nicht über meine Kunst sprechen,<br />
das ist etwas, das ich von meiner Person trenne.<br />
Allen: Vielleicht liegt es daran, dass du immer noch versuchst herauszufinden, wie<br />
du den Schaffensprozess antreibst?<br />
KrAviz: Nein, ich finde einfach, ein Künstler sollte nicht über seine Kunst sprechen.<br />
Künstler sollten ihren Prozess erklären können, aber nicht mit einer Analyse<br />
daherkommen.<br />
Allen: Das ist wohl wahr.<br />
KrAviz: Journalisten sollten diesen Part übernehmen. Aber jetzt bin ich ja hier<br />
sozusagen die Journalistin und kann Fragen stellen.<br />
Allen: Aber erst habe ich noch eine Frage für dich: Was ist das Aufregendste, das<br />
du jemals erlebt hast?<br />
KrAviz: (lacht)<br />
Allen: (lacht) Das ist wohl auch eine Antwort, die du mir lieber bei einem Glas<br />
Wein geben würdest?<br />
KrAviz: Was jetzt gerade in meinem Leben passiert, ist ziemlich aufregend. Ich<br />
habe das Gefühl, dass ich gerade meinen Traum lebe, etwas, das ich nicht geplant<br />
habe. Ich habe mich so verändert in den vergangenen zwei Jahren. Das Spannende<br />
ist zu beobachten, wie ich auf all das reagiere, auch die Erkenntnis, dass, wenn du<br />
etwas zu sehr willst, du es niemals erreichen wirst.<br />
Allen: Cool.<br />
KrAviz: Gibt es etwas beim Aussehen einer Frau, das du unakzeptabel findest?<br />
Allen: Es ist wahrscheinlich eine recht naheliegende Antwort, aber ich finde es<br />
sehr traurig, dass wir in der Mode immer noch nur bestimmte Frauen bedienen.<br />
Total stereotypisch. Ich kenne Frauen, die nicht Größe 36 tragen und trotzdem<br />
wunderschön aussehen. Menschen sind, wie sie sind, und das sollten wir zelebrieren.<br />
Eines Tages möchte ich verschiedene Frauen hübsch aussehen lassen und<br />
nicht nur einen bestimmten Typ.<br />
KrAviz: Danke für dieses Statement, aber ich meinte eigentlich was anderes: Ich<br />
schaue sehr genau auf das Aussehen von Frauen, oft bin ich fast wie hypnotisiert<br />
von einer bestimmten Art von Schönheit. Aber manchmal sehe ich perfekte Schönheiten,<br />
und dennoch ist da etwas, das diese Schönheit aufhebt. Was ist es bei dir,<br />
das deine Rezeption von Schönheit beeinträchtigen kann?<br />
Allen: Ich werde keine Namen nennen.<br />
KrAviz: Das wäre doch aber interessant!<br />
Allen: Es ist die Persönlichkeit. Ich habe Schauspielerinnen getroffen, die ich<br />
über Jahre verehrt habe, und als ich sie kennenlernte, hat es zehn Minuten gedauert,<br />
bis ich dachte: Verschwinde bitte sofort, bevor ich dich erschlage. Und dann<br />
wieder lernt man Schauspielerinnen kennen – und jetzt nenne ich ihren Namen,<br />
weil sie so wunderbar ist – wie Tilda Swinton.<br />
KrAviz: Ja, sie ist toll.<br />
Allen: Sie war öfter bei unseren Schauen zu Gast. Ganz ehrlich, mit dieser Frau<br />
möchte ich zu Abend essen. Wir haben uns mal in Peking unterhalten. Nur zu<br />
zweit, über anderthalb Stunden lang. Nicht über Mode, sondern über das Leben.<br />
Sie ist so faszinierend. Ich weiß, es klingt klischeehaft, aber Schönheit kommt von<br />
innen.<br />
KrAviz: Ja, klar. Aber gibt es ein bestimmtes Accessoire, das du einfach richtig<br />
furchtbar findest?<br />
Allen: Die falschen Schuhe zu einem besonders schönen Kleid.<br />
KrAviz: Und würdest du die Trägerin darauf hinweisen?<br />
Allen: Wenn ich sie kenne, dann würde ich sie wieder nach Hause schicken. Wenn<br />
ich die Dame nicht kenne, natürlich nicht. Oder Stylisten, die mit dem falschen<br />
Lippenstift oder mit den falschen Strümpfen das beste Outfit zerstören. Die Liste<br />
ist endlos, Jesus!<br />
KrAviz: Ich kannte mal jemanden, der eine große Plattensammlung hatte. Und<br />
Teil davon war auch Bryan Adams.<br />
Allen: Und er hatte Poster von ihm in seiner Wohnung?<br />
KrAviz: Nein, nein. Nicht dass Bryan Adams der schlimmste Musiker überhaupt<br />
wäre, aber die Platte stand neben der von Thelonious Monk! Wie kann man diese<br />
beiden Platten nebeneinanderstellen? Das hat meine Zuneigung nachhaltig zerstört.<br />
Allen: Aber das war sicher nicht der einzige Grund.<br />
KrAviz: Ich weiß nicht …<br />
Allen: Das ist etwas extrem.<br />
KrAviz: Vielleicht. Aber die Kombination passt nicht. Und ich bin etwas snobistisch.<br />
Furchtbar.<br />
Allen: Wenigstens gibst du es zu.<br />
KrAviz: Hast du manchmal auch das Gefühl, dass du nicht gebildet genug bist?<br />
Allen: Es gibt doch oft Situationen, in denen du dir wünschst, mehr über ein bestimmtes<br />
Thema zu wissen.<br />
50<br />
KrAviz: Aber kennst du das Gefühl, wenn du dich nicht gebildet genug und bereit<br />
fühlst für eine bestimmte Situation oder Person, obwohl du weißt, das wird ein<br />
schicksalhafter Moment, ein Moment, der dich weiterbringt?<br />
Allen: Nein. Das kenne ich nicht.<br />
KrAviz: Also kommt jede Situation in deinem Leben gerade zum richtigen Zeitpunkt?<br />
Allen: Das würde ich nicht sagen. Ich habe vielleicht nicht immer genügend Zeit,<br />
um mich auf eine Person angemessen einzulassen, aber ich würde nicht fürchten,<br />
dass ich zu wenig weiß, um mit ihr umzugehen.<br />
KrAviz: Stell dir vor, du hast gerade deine Kollektion fertiggestellt und gehst zu<br />
einer Show eines Kollegen, hast du dich danach schon mal klein und unbedeutend<br />
gefühlt, weil die Show so viel besser war?<br />
Allen: Ja, aber das ist lange her. Heute inspiriert mich eine fantastische Kollektion.<br />
KrAviz: Hast du nie so etwas wie Neid gefühlt?<br />
Allen: Natürlich, Hunderte Male. Und ich bin mir nicht sicher, ob man das je<br />
loswird. Neid muss man umwandeln – lernen und adaptieren. Und es ist doch<br />
schön, von jemandem Komplimente zu bekommen, von dem du es nie erwartet<br />
hättest.<br />
KrAviz: Interessant, dass du Selbstvertrauen von Reife abhängig machst. Ich vermisse<br />
da ein wenig die Verrücktheit, das Impulsive. Instinkt statt Idee – erst handeln,<br />
dann denken. Das sind doch die kreativsten Momente.<br />
Allen: So arbeite ich in den Phasen vor Modenschauen.<br />
KrAviz: Also kannst du dir die Unbeschwertheit eines Anfängers bewahren?<br />
Allen: Ja. Und wichtig ist auch: Im Moment des Schaffens muss ich alleine sein,<br />
weg von meinem Team. Es beeinflusst mich sonst zu sehr.<br />
KrAviz: Und wenn du ein paar Tage vor der Präsentation realisierst, dass deine<br />
Anstrengung nicht ausgereicht hat?<br />
Allen: Das ist mir schon passiert. Ich habe mal am Tag vor der Schau zehn Looks<br />
geändert. Das Team hat eine ganze Nacht gearbeitet, der Stoff musste extra eingeflogen<br />
werden. Das war schon krass. Das Team hat mich gehasst. Heute bin ich<br />
froh darüber.<br />
KrAviz: Ähnliches ist mir auch mal passiert. Bei meinen ersten Liveshows fand ich,<br />
dass ich nicht sehr gut war, auch wenn die Leute mir sagten, wie toll es war. Ich<br />
wusste …<br />
Allen: … es war nicht gut genug.<br />
KrAviz: Ja, und keiner hat das verstanden.<br />
Allen: Du hast vorhin gesagt, dass man etwas nicht zu sehr wollen darf. Glaubst<br />
du, du willst vielleicht zu sehr gut sein?<br />
KrAviz: Ich hatte einfach diese Chance und wollte gut sein, ich hatte genügend<br />
Zeit, mich vorzubereiten, aber dann ging nichts mehr.<br />
Allen: Ich hab auch oft eine DesignBlockade. Man muss lernen, die Phasen zu<br />
nutzen. Manchmal sage ich einfach alle Termine ab und mache Skizzen.<br />
KrAviz: Ich produziere lieber weniger, aber dafür gute Tracks. Ich glaube nicht an<br />
Quantität.<br />
Allen: Und bist du zufrieden mit deinen Tracks?<br />
KrAviz: Wie gesagt, versuche ich nicht zu viel zu analysieren. Ich mache etwas aus<br />
dem, was da ist, ich drücke meine Gefühle aus, und dann schaue ich, was rausgekommen<br />
ist. Gibt es für dich eigentlich jemanden, der die Verbindung zwischen<br />
Mode und Kunst verkörpert, den du gerne mal treffen würdest?<br />
Allen: Ich hätte wirklich gerne Andy Warhol kennengelernt. Die Kombination<br />
aus Verrücktheit, Überkreativität und Vision – Wahnsinn. Stell dir mal vor, du<br />
würdest mit ihm reden können.<br />
KrAviz: Und wenn du dir vorstellst, er hätte irgendetwas Schlimmes gemacht, jemanden<br />
umgebracht oder so – glaubst du, kreative Menschen können böse sein?<br />
Allen: Das ist eine komische Frage. Sicherlich. Du kannst gut sein, böse, reich,<br />
arm – Kreativität ist etwas, das man hat oder nicht, das hat nichts damit zu tun, was<br />
du getan hast.<br />
KrAviz: Also kannst du Kunst und Moral trennen?<br />
Allen: Das muss man. Und nur weil Menschen Fehler machen, sind sie ja nicht<br />
unbedingt schlechte Menschen.<br />
KrAviz: Ich würde auch ein Kunstwerk nicht schlecht finden, nur weil es von einem<br />
Arschloch gemacht wurde.<br />
Allen: Natürlich nicht.<br />
KrAviz: Ich bin lieber von kreativen Menschen umgeben, auch wenn sie nicht so<br />
einfach im Umgang sind. Ich bevorzuge Härte statt Höflichkeit.<br />
Allen: Ja, und Ehrlichkeit.<br />
Photographer BenJAMin lennOX/<br />
MAnAGeMenT+ArTiSTS<br />
Hair KennA/DefAcTO fOr GHD<br />
Make-up JunKO KiOKA<br />
Photo Assistants neAl frAnc, YuKi TAni<br />
Digital Operator BlAKe riBBeY<br />
fashion Assistant lAuren BenSKY<br />
Producer GOrAn MAcurA<br />
INTERVIEW Cover 01 illustriert von haTTIE sTEWaRT<br />
www.interview.de
52<br />
Isabel<br />
Allende<br />
von<br />
lAurA EwErt<br />
porträt<br />
hEji shin<br />
“Wollen Sie die<br />
Entscheidungs macht über<br />
Ihre Vagina haben?”<br />
Ihr Großonkel hieß Salvador und ist<br />
wohl der einzige Chilene, der bekannter ist<br />
als sie. Über 50 MIllIonen verkaufte<br />
Bücher in 37 Sprachen machen die heute<br />
70-Jährige zu einer der erfolgreichsten<br />
Schriftstellerinnen der Welt. Ihr neuer roman<br />
Mayas Tagebuch ist wieder mal viel mehr<br />
als die Geschichte einer Frau auf dem Weg<br />
zur SelBStBeStIMMunG<br />
IntervIew: Frau Allende, entschuldigen Sie die Verspätung.<br />
Ich bin dummerweise in die falsche U-Bahn<br />
eingestiegen.<br />
Isabel allende: Ach, ich bitte Sie, meine Liebe. Es<br />
ist doch nichts Schlimmes passiert. Kommen Sie her,<br />
ich nehme Sie mal in den Arm. Dann setzen Sie sich,<br />
atmen durch, entspannen sich mal.<br />
IntervIew: Gerne.<br />
allende: Stellen Sie sich einfach vor, wir beide sitzen<br />
zusammen in Ihrer Küche und trinken Tee.<br />
IntervIew: Was für eine Sorte?<br />
allende: Bitte? Ach so, Mango vielleicht.<br />
IntervIew: Alles klar. Wie geht es Ihnen denn?<br />
allende: Sie meinen in meinem Leben so ganz<br />
grundsätzlich?<br />
IntervIew: Eher jetzt gerade.<br />
allende: Mir geht es sehr gut. Ich reise allerdings<br />
nicht sonderlich gerne, und morgen geht es ja schon<br />
weiter nach Kopenhagen, dann nach Paris.<br />
IntervIew: Das bringt der Beruf so mit sich, oder?<br />
Ist das Reisen eigentlich das Lästigste am Schriftstellerdasein?<br />
allende: Nein, das Sitzen. Ernsthaft. Das ständige<br />
Sitzen. Sie sitzen ja über Stunden für nur eine Seite!<br />
Also versuche ich, alle 50 Minuten aufzustehen, einmal<br />
durch den Garten oder eine Runde mit dem<br />
Hund rauszugehen.<br />
IntervIew: Haben Sie es mal im Stehen versucht?<br />
allende: Es bringt alles nichts. Es gibt auch so eine<br />
Art Laufband, das man unter dem Schreibtisch platzieren<br />
kann, um ein wenig Bewegung zu bekommen.<br />
Aber das funktioniert für mich nicht. Ich kann so<br />
nicht schreiben.<br />
IntervIew: Und was bringt Sie trotzdem dazu, so<br />
viel zu schreiben?<br />
allende: Dass ich mir all diese Geschichten ausdenken<br />
kann und die Welt so gestalte, wie sie mir<br />
gefällt. Allzu hübsche Frauen lasse ich gerne früh<br />
sterben, und ich schreibe mir gerne die tollsten Liebhaber.<br />
IntervIew: Sie haben gerade Ihr 19. Buch veröffentlicht.<br />
Da sind eine Menge Geschichten zusammengekommen.<br />
allende: Die Welt ist ja auch voll von ihnen. Ich<br />
habe außerdem nicht gerade wenig erlebt und musste<br />
gegen einiges kämpfen. Eine aktuelle Geschichte<br />
zum Beispiel: Vor ein paar Tagen hat jemand den<br />
Twitter-Account des spanischen Erziehungsministers<br />
gehackt und darüber die Nachricht verbreitet,<br />
ich sei tot. Das fand ich ganz unterhaltsam, aber meinem<br />
Mann fiel dann ein, dass wir schnellstens meine<br />
Mutter anrufen müssten. Die ist 92, die hätte einen<br />
bösen Schreck bekommen. Und dann schreiben mir<br />
auch viele Menschen ihre Geschichten.<br />
IntervIew: Und die benutzen Sie?<br />
allende: Ich darf natürlich nur meine Geschichten<br />
benutzen.<br />
IntervIew: Wann ist denn eine Geschichte Ihre?<br />
allende: Wenn ich sie mir selbst ausgedacht habe<br />
oder wenn ich sie erlebt habe oder wenn ich fremde<br />
Geschichten verändere. Ich benutze auch Gespräche,<br />
die ich im Restaurant am Nebentisch höre, aber da<br />
muss man aufpassen. In meinem Buch Paula etwa,<br />
was wohl am meisten Reaktionen hervorrief …<br />
IntervIew: … weil es eines Ihrer persönlichsten ist.<br />
allende: Ja, es handelt von dem Tod meiner Tochter,<br />
aber eben auch von meinem Schwiegersohn, der<br />
damals ein Witwer war, der seine große Liebe verloren<br />
hatte. Ich bekam damals viele E-Mails von<br />
Frauen, die ihn kennenlernen wollten.<br />
IntervIew: Wahnsinn.<br />
allende: Aber heute, zehn Jahre später, ist er ja nicht<br />
mehr der Witwer. Heute ist er wieder verheiratet, obwohl<br />
das Buch diese Momentaufnahme von ihm festhielt.<br />
Mit fremden Geschichten muss man aufpassen.<br />
IntervIew: Ihr neues Buch handelt von einer jungen<br />
Frau, die unter anderem ein Drogenproblem hat. Recherchieren<br />
Sie viel für solche Geschichten?<br />
allende: Ich habe für eine Figur meist ein oder<br />
mehrere Modelle in meinem Umfeld.<br />
IntervIew: Sie haben vor Kurzem in einem <strong>Interview</strong><br />
gesagt, Sie hätten selbst auch Marihuana und<br />
Ecstasy genommen. Da gehören Sie sicherlich zu einer<br />
großen Minderheit; aber die meisten reden ja<br />
nicht drüber.<br />
allende: Weil es illegal ist. Aber ich kenne niemanden,<br />
der nicht schon mal Marihuana versucht hat.<br />
Wieso auch nicht? Und in meinem Alter kann ich das<br />
doch auch ruhig zugeben. Wer schert sich denn darum,<br />
ich bitte Sie!?<br />
IntervIew: Sie könnten plötzlich in so einem gewissen<br />
Licht stehen.<br />
allende: Marihuana ist eine weibliche Droge, sie<br />
macht weich und lustig und ist dennoch verboten.<br />
Alkohol ist erlaubt, obwohl er sehr aggressiv macht.<br />
Das ist doch schwierig. Heroin, Crack, das sind wirklich<br />
gefährliche Drogen. Klar, das muss man sehen,<br />
aber der Krieg gegen Drogen ist doch gescheitert.<br />
53<br />
Und langsam verbreitet sich die Erkenntnis: Mit<br />
Strafen können wir das Problem nicht mehr lösen.<br />
IntervIew: Glauben Sie, in den USA setzt in Sachen<br />
Drogenpolitik langsam ein Umdenken ein?<br />
allende: Nein, an dem Geschäft mit den Drogen<br />
verdienen viel zu viele Menschen mit.<br />
IntervIew: Unterhalten Sie sich mit Ihren Enkeln<br />
über Ihre Drogenerfahrungen?<br />
allende: Oh ja, und ich kann mir vorstellen, dass<br />
mindestens eine meiner Enkelinnen schon gekifft<br />
hat. Ich kann mit denen über alles reden – Sex, Drogen.<br />
Das ist toll.<br />
IntervIew: Haben Sie in den USA eigentlich Wahlrecht?<br />
allende: Ja, und ich wähle Obama!<br />
IntervIew: Und wer gewinnt?<br />
allende: Obama, weil Romney eine schlechte Kampagne<br />
führt. Und weil er eben seinen dummen Mund<br />
öffnet. Die jungen Leute haben das letzte Mal Obama<br />
gewählt, und sie werden ihn wieder wählen.<br />
IntervIew: Wissen Sie eigentlich, wie alt Ihre Leser<br />
sind?<br />
allende: Ja, ich bekomme jeden Tag Hunderte E-<br />
Mails von ihnen.<br />
IntervIew: Hunderte?<br />
allende: Ja. Und es sind etwa zu 70 Prozent Frauen.<br />
Und die meisten sind recht jung.<br />
IntervIew: Sprechen Sie sich auch auf öffentlichen<br />
Veranstaltungen für Obama aus?<br />
allende: Ja, mittlerweile schon. Denn es ist an der<br />
Zeit, dass man nicht mehr den Mund hält. Mein<br />
Mann etwa macht viele Hausbesuche, läuft von Haus<br />
zu Haus und spricht mit den Menschen über Politik.<br />
IntervIew: In Deutschland kann man sich das kaum<br />
vorstellen. Hier ist die politische Meinung etwas viel<br />
Privateres.<br />
allende: Aber wir müssen doch unsere Stimme erheben<br />
und gegen etwas kämpfen!<br />
IntervIew: Wogegen kämpfen denn die jungen<br />
Menschen in den USA?<br />
allende: Gegen Gier, gegen die ungleiche Ver teilung<br />
von Kapital, und so wie wir früher gegen Atomwaffen<br />
waren, setzen die sich heute für nichts weniger<br />
als die Rettung des Planeten ein. Für die gibt es<br />
auch keine Rassenunterschiede mehr. Die schwarze<br />
und weiße Kultur hat sich endgültig gemischt.<br />
IntervIew: Endlich.<br />
allende: Und die jungen Menschen werden sauer.<br />
Gott sei Dank. Gerade die jungen Frauen. Wussten<br />
Sie, dass Mitt Romney gegen die berufliche Gleichberechtigung<br />
von Frauen ist? Und er bewertet die<br />
Pille danach ähnlich wie eine Abtreibung, während<br />
Obama die Antibabypille durch die Krankenversicherung<br />
abdecken lassen will. Es ist unglaublich.<br />
IntervIew: Es ist eigenartig, in fast jedem <strong>Interview</strong>,<br />
das ich mit einer Frau führe, kommen wir auf feministische<br />
Themen.<br />
allende: Wieso eigenartig? Haben Sie eine Vagina?<br />
IntervIew: Ja.<br />
allende: Und wollen Sie die Entscheidungsmacht<br />
über Ihre Vagina haben?<br />
IntervIew: Ich würde sagen, das tue ich, ja.<br />
allende: Sehen Sie!? Dann sind Sie eine Feministin!<br />
Niemand sollte das Recht haben, über unseren<br />
Körper zu bestimmen. Niemals!<br />
Mayas Tagebuch Ist<br />
beI suhrkamp erschIenen
BRad<br />
Pitt<br />
Die Metamorphosen des BraD Pitt sind legendär. Er kann sich<br />
durchschlagen (Fight Club), Miniröcke tragen (Troja), Casinos<br />
in Vegas ausrauben (Ocean’s 11–13), Nazis in französischen Wäldern<br />
abmurksen (Inglourious Basterds). Und kuschelig kann er auch<br />
(angie & die sechs Zwerge). Zudem ist der 48-jährige amerikaner<br />
der einzige Mann, der es geschafft hat, die Schwerkraft der Körner<br />
in der Sanduhr des Lebens aufzuheben, nein, umzukehren<br />
(Benjamin Button). Und selbst als auftragskiller in seinem neuen Film<br />
Killing Them Softly hat er einen ganz eigenen Stil<br />
von<br />
guy ritchie<br />
Szene auS dem film killing them softly<br />
54<br />
55
„eR hat auch kein<br />
inteResse,<br />
die Leute extRa<br />
Leiden zu Lassen.<br />
sie müssen<br />
steRBen,okay,<br />
aBeR wenn man<br />
ihnen schon<br />
das LeBen nimmt,<br />
kann das auch<br />
mit wüRde<br />
Geschehen”<br />
Guy Ritchie: Okay, die Aufnahme läuft. Anscheinend<br />
im Flugzeugmodus.<br />
BRad Pitt: Schalt das andere auch noch an. Zur Sicherheit.<br />
Check, eins, zwei.<br />
Ritchie: Läuft. Jetzt noch dein Aufnahmegerät, dann<br />
sind wir dreifach abgesichert. Hervorragend.<br />
Pitt: Finde ich auch. Wie kommst du eigentlich mit<br />
dem Werbeclip voran, den du gerade drehst?<br />
Ritchie: Oh, der Clip … Schaust du etwa bewusst<br />
Werbung?<br />
Pitt: Nicht wirklich.<br />
Ritchie: Das ist schade. Denn Werbung ist das Format,<br />
in dem neue Technologien ausprobiert werden. Es<br />
gibt nun mal kaum Filme, bei denen man drei Millionen<br />
Dollar für eine Minute ausgeben darf. Deswegen<br />
mache ich Werbung – um all die neuen Spielereien in<br />
die Finger zu bekommen und draufloszuballern.<br />
Pitt: In Sherlock Holmes 2 gibt es diese Kampfszenen im<br />
Wald gegen die Deutschen: Hast du da Tricks aus deiner<br />
Werbeerfahrung angewendet? Ich kenne keinen<br />
Film, der eine vergleichbare Szene hätte. So etwas gab<br />
es vorher nicht.<br />
Ritchie: Das war eine Vermischung vieler Ideen, auch<br />
einiger neuer Techniken, die so noch nicht in Filmen<br />
verwendet wurden. Es gibt generell bei Filmen noch<br />
ziemlich viel Luft nach oben. Und das, ohne irgendeine<br />
Seite zu verprellen: Man kann neue Technik so verwenden,<br />
dass der Film immer noch indie und kantig<br />
bleibt, gleichzeitig gefällt er den Kids, all das geht.<br />
Am Ende finden ihn alle gut, jeder gewinnt, jeder bekommt,<br />
was er will.<br />
Pitt: Gibt es dafür eine Blaupause?<br />
Ritchie: Ich weiß nicht. Man muss es fühlen.<br />
Pitt: Ich frage mich immer, was einen dazu verleitet,<br />
einen Film wieder und wieder und wieder sehen zu<br />
wollen. Darüber reden wir doch eigentlich, oder?<br />
Ritchie: Deshalb muss ich dich jetzt fragen, was bei<br />
dir den Ausschlag gibt, eine Rolle anzunehmen.<br />
Pitt: Okay, es ist doch so: Ich bin an einem Punkt in<br />
meiner Karriere, an dem ich eigentlich alles machen<br />
kann. Ich kann jede Rolle spielen und etwas Besonderes,<br />
ein bestimmtes Maß an Qualität, rausholen. Es<br />
mag Menschen geben, die für diese oder jene Rolle<br />
besser geeignet wären – oder auch nicht –, aber wenn<br />
ich einen Part fühle, entsteht etwas Interessantes.<br />
Deswegen geht es mir heute mehr darum, mit wem<br />
ich drehe. Wer sind die Menschen, mit denen ich<br />
meine Zeit verbringe? Mit denen ich 14 Stunden am<br />
Tag über Wochen oder Monate zusammen bin? Ich<br />
lege großen Wert darauf, dass es Menschen sind, die<br />
ich respektiere, deren Gesellschaft ich genieße, von<br />
denen ich weiß, dass wir auf dasselbe hinarbeiten.<br />
Darum geht es mir eigentlich.<br />
Ritchie: Dir geht es also um einen bestimmten Tonfall,<br />
den ein Schreiber oder Regisseur vorgibt.<br />
Pitt: Ja, auch. Mich interessiert es, mit Leuten zu arbeiten,<br />
die eine eigene Stimme haben. Heutzutage ist<br />
es schwer, mit einem Film zu überraschen. Und es<br />
kommt nicht oft vor, dass mich die schauspielerische<br />
Leistung oder die Leistung eines Regisseurs wirklich<br />
überrascht. Dafür habe ich zu viel gesehen und bin zu<br />
lange in diesem Geschäft. Aber wenn es dann doch<br />
passiert, wenn ich vergesse, dass ich einen Film von<br />
jemandem sehe, wenn es eine Wendung in der Handlung<br />
gibt, die ich nicht vorhersehen konnte, wenn jemand<br />
mich mit seiner Darstellung umhaut, dann bin<br />
ich dabei. Dann mache ich mit.<br />
Ritchie: Wahrscheinlich magst du lieber die Arbeiten<br />
von Personen, wenn du den Menschen dahinter auch<br />
schätzt.<br />
Pitt: Klarer Fall. Und mir ist aufgefallen, dass alle Regisseure,<br />
mit denen ich gerne zusammenarbeite, auf<br />
ihre jeweilige Art sehr neugierig waren. Es sind allesamt<br />
Denker, Menschen, die sich nicht scheuen, große<br />
Fragen zu stellen.<br />
Ritchie: Und was hat dich daran gereizt, in Andrew<br />
Dominiks Killing Them Softly mitzuspielen?<br />
Pitt: Ich bin ein großer Fan des frühen Jimmy Caan.<br />
Da ich aus einer eher ländlichen Gegend komme,<br />
macht es mir Spaß, urbane Stoffe zu spielen.<br />
Ritchie: Wegen der Akzente … Mittlerweile bist du<br />
sehr gut darin, urban zu sprechen.<br />
Pitt: Mir gefällt es, wenn es einen gewissen Singsang<br />
gibt. Und Dialekte haben das oftmals. Am liebsten<br />
spiele ich Südstaatenakzente, darin bin ich wirklich<br />
gut. Irisch fällt mir auch leicht, da viele Menschen in<br />
der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, irische<br />
Wurzeln haben. Dort gibt es auch deutsche Einflüsse.<br />
Ritchie: Welche Akzente fallen dir besonders schwer?<br />
Was wäre eine echte He rausforderung?<br />
Pitt: Ich habe nie einen echten Briten gespielt.<br />
Ritchie: Hast du es mal versucht?<br />
Pitt: Nicht wirklich. Es müsste zudem eine besondere<br />
Rolle sein.<br />
Ritchie: Cockney?<br />
Pitt: Das kennen zu viele Leute zu gut.<br />
Ritchie: Ich kann dafür keinen amerikanischen Akzent,<br />
keine Chance. Es ist zu nah dran.<br />
Pitt: Aber du hast es versucht – in Snatch, kannst du<br />
dich daran erinnern?<br />
Ritchie: (lacht) Ich kann es einfach nicht. Aber zurück<br />
zum Film. Wovon handelt Killing Them Softly?<br />
Pitt: Andrew hatte eine interessante Idee: Er wollte<br />
mit dem Film etwas über Amerika sagen, über Amerika<br />
als Geschäftsmodell – getarnt in einem KleingangsterMilieu.<br />
Wir haben in Amerika ein paar große<br />
Ideale und Werte, oft sind sie jedoch reines<br />
Marketing.<br />
Ritchie: Sticht das Geschäftliche die Menschlichkeit<br />
aus?<br />
Pitt: Ja, gut formuliert. In gewisser Weise geht es also<br />
um den Aufruf nach einem verantwortungsbewussten<br />
Kapitalismus. Diese Idee wollte Andrew der Wirtschaftskrise<br />
und ihren Folgen gegenüberstellen, da<br />
sich daraus interessante Fragen ergeben: Wer sind<br />
wir? Und was passiert, wenn dem Menschen zu viel<br />
Raum gelassen wird? All das begann in guter Absicht<br />
in den 90ern unter Clinton, als jeder plötzlich ein<br />
Haus besitzen sollte und einen Freischuss in Richtung<br />
des amerikanischen Traums bekam. Man öffnet also<br />
die Türen und gewährt den Menschen billige Kredite.<br />
Dann kam Bush und delegierte alles weg, niemand<br />
übernahm die Führung, was wiederum den Missbrauch<br />
begünstigte, da es keine Verantwortlichkeiten<br />
gab. Was danach kam, kennt man – und das hat vielen<br />
Menschen geschadet. Man konnte einiges über Gier<br />
und Selbstsucht lernen. Und darüber, was passiert,<br />
wenn wir die Dinge nicht hinterfragen. Letztendlich<br />
geht es im Film also darum, dass wir uns selbst nicht<br />
trauen können, dass wir eigentlich eine Form der Regulierung<br />
brauchen. Denn eigentlich wussten etliche<br />
Menschen, wohin das alles führen würde – sie wussten,<br />
dass die Banken eigentlich genau gegen die wetten,<br />
denen sie einen Kredit gegeben hatten.<br />
Ritchie: Das Problem der DoubleDipRezession.<br />
Pitt: Genau. Und irgendwann wurde es hässlich. Weil<br />
das alte Diktum des Kapitalismus lautet: Raff, so viel<br />
du kannst – mit so wenig Aufwand wie möglich. Das<br />
ist die simple Arithmetik, die dahintersteckt. Es gibt<br />
jedoch noch die ethischen Fragen …<br />
Ritchie: Der Film kommentiert zudem das Verhältnis,<br />
das die Menschen in Amerika zu Politik und<br />
Medien haben.<br />
Pitt: Ja, darüber haben wir uns auch schon mal unterhalten.<br />
Oft gerät die Berichterstattung, zumindest in<br />
Amerika, zu einer Parodie ihrer selbst. Wir sind ein<br />
Land, das in Geschichten denkt. Vorhin habe ich das<br />
mit dem Wort Marketing angedeutet – wobei das letzten<br />
Endes auch nur ein neues Wort für Propaganda<br />
ist. Amerikaner brauchen Geschichten, damit sie sich<br />
für eine Sache engagieren.<br />
Ritchie: Du meinst, dass die Geschichte …<br />
Pitt: … wichtiger wird als das eigentliche Anliegen, ja.<br />
Zumal der Alltag der meisten Menschen darin besteht<br />
zu überleben. Ihre Leben drehen sich darum, die Leere<br />
der Woche zu überstehen und am Sonntag einen<br />
Ausflug mit den Kindern zu unternehmen. Sie haben<br />
keine Zeit, sich mit den wirklichen Themen ernsthaft<br />
auseinanderzusetzen. Eine Demokratie funktioniert<br />
aber nur, wenn die Leute gut informiert sind – und ich<br />
wüsste nicht, dass wir das sind. Die Menschen haben<br />
keine Zeit mehr dafür.<br />
Ritchie: Was mir zudem am Film gefallen hat, ist die<br />
Art und Weise, wie kleinlich bürokratisch das organisierte<br />
Verbrechen dargestellt wird. Das hat mich amüsiert.<br />
Man weiß am Ende gar nicht, wer die illegalen<br />
Kartenspiele eigentlich organisiert. Wahrscheinlich<br />
spielt das eh keine Rolle.<br />
Pitt: Richtig, man erfährt es nicht. Das hat mich auch<br />
zum Lachen gebracht. Zumal da die Parallele zur Politik<br />
wieder so deutlich wird: Die Typen im Film beschäftigen<br />
sich nie mit dem eigentlichen Problem,<br />
sondern immer nur mit der Wahrnehmung desselben.<br />
Wenn die nämlich stimmt, können die Menschen, die<br />
Geld verdienen, weiterhin Geld verdienen. Und alle<br />
anderen folgen brav, wie man das von ihnen erwartet.<br />
Nach einem ähnlichen Muster läuft es doch auch in<br />
unserer Wirtschaft und in unserer Politik. Politische<br />
Entscheidungen werden in Amerika äußerst selten<br />
dem eigentlichen Problem entsprechend gefällt –<br />
sondern fast immer danach, wie das Problem wahrgenommen<br />
wird. Deshalb befinden wir uns derzeit auch<br />
in so einer hässlichen Lage in Amerika. Das Land ist<br />
gespalten, aber diese Spaltung gibt es nicht, weil alle<br />
überlegen, was am besten für die Menschen ist, sondern<br />
deshalb, weil eine Seite vor der anderen Seite<br />
gewinnen will.<br />
Ritchie: Killing Them Softly ist ein politischer Film?<br />
DRinking haRD, getting soft: BRaD Pitt unD James ganDolfini in Killing Them sofTly<br />
Pitt: Ja, es ist ein politischer Film.<br />
Ritchie: Gleichzeitig macht er auch Spaß.<br />
Pitt: Ja, das tut er. Dennoch stellt er ein paar durchaus<br />
interessante Fragen: Wer zerreißt Jefferson, zum Beispiel<br />
(lacht). Andrew verfährt sehr geschickt: Eigentlich<br />
weiß man bis zur letzten Szene nie so ganz genau,<br />
was man eigentlich sieht.<br />
Ritchie: Dann weiß man es jedoch sehr genau.<br />
Pitt: Klar, dann kommen die Hinweise und der Nebel<br />
lichtet sich.<br />
Ritchie: Ich mag zudem die humanistische Seite des<br />
Films. Diese eine Szene, in der dein Charakter darüber<br />
spricht, dass er es nicht leiden kann, Leute zu ermorden,<br />
die er kennt. Weil er dann so gefühlig wird.<br />
Einen Fremden kann er einfach so wegpusten, doch<br />
bei Bekannten wird er weich. Zumal er schon zu viele<br />
Bekannte umgebracht hat und ihn das einfach emotional<br />
erschöpft hat.<br />
Pitt: Ja. Er hat auch kein Interesse, die Leute extra<br />
leiden zu lassen. Sie müssen sterben, okay, aber wenn<br />
man ihnen schon das Leben nimmt, kann das auch mit<br />
Würde geschehen.<br />
Ritchie: Du hast mit Andrew ja bereits an Jesse James<br />
gearbeitet. Der Film wird maßlos unterschätzt. In<br />
meinem Bekanntenkreis gibt es mit Sicherheit ein<br />
Dutzend Typen, die ich sehr schätze, die Jesse James<br />
zu den zehn besten Filmen zählen.<br />
Pitt: Er gehört auch zu den Filmen, die ich am liebsten<br />
gedreht habe. Und trotzdem haftet dem Film das<br />
VerliererImage an. Einfach nur, weil er am ersten<br />
Wochenende nicht genug eingespielt hat. Dominik<br />
bekam deshalb über mehrere Jahre kein einziges vernünftiges<br />
Angebot. Wir wussten jedoch immer, dass<br />
Jesse James wie ein feiner Wein ist – er altert gut.<br />
Ritchie: Du hattest ein paar sehr interessante Rollen<br />
in den vergangenen Jahren: Aldo Raine in Inglourious<br />
Basterds …<br />
Pitt: Großer Spaß!<br />
Ritchie: Zumal in dem Film ein paar echte Geniestreiche<br />
versteckt sind.<br />
Pitt: Ich weiß doch, dass du Tarantino genauso liebst<br />
wie ich (lacht).<br />
Ritchie: Hat sich deine Einstellung zur Schauspielerei<br />
über die Jahre eigentlich verändert?<br />
Pitt: Ich versuche, mich nicht zu wiederholen. Das<br />
langweilt mich zu Tode. Und ich bin auch nicht gut<br />
darin. Am Ende schadet das den Filmen. Wie du<br />
weißt, bin ich nicht der Typ, der einen Film nach dem<br />
anderen dreht. Dieses Jahr ging es mir vor allem darum,<br />
Dinge fertigzustellen, lose Enden abzuschneiden<br />
und den Kopf freizukriegen. Und langsam spüre<br />
ich auch wieder die Lust auf Neues. Ich muss jedoch<br />
etwas entdecken, was mich wirklich interessiert …<br />
Ritchie: … mit den richtigen Leuten.<br />
Pitt: Genau. Das muss auch alles stimmen. Und alle<br />
müssen zur selben Zeit frei sein. Quentin kenne ich<br />
seit True Romance, das war 1993 – und trotzdem haben<br />
sich unsere Wege bis Inglourious Basterds nicht<br />
mehr gekreuzt. Weil jeder immer irgendein Projekt<br />
am Laufen hatte. Wir wollten beide und wussten,<br />
dass es irgendwann passiert. Und dann hat auf einmal<br />
alles gepasst. Er rief an, ich sagte Ja. Fertig. So schnell<br />
kann es gehen. Wobei heute auch die Frage des<br />
Dreh orts eine ziemlich bedeutende Rolle spielt. Es<br />
gibt nämlich ein paar Länder, in denen ich nie wieder<br />
drehen werde.<br />
Ritchie: Lustigerweise denkt man immer, Projekte<br />
würden nur an kreativen Differenzen scheitern. In<br />
Wirklichkeit tun sie es jedoch fast genauso oft aus<br />
logistischen Gründen: Wer ist wo, wer hat Zeit, wie<br />
lange dreht man, wie weit ist das Set von der Familie<br />
entfernt.<br />
Pitt: Yeah. Die Geschichte, die der Film erzählt, muss<br />
es wert sein, die Familie zurückzulassen. Sie ist mein<br />
Leben. Familie geht vor. Und ich will ihnen ja auch<br />
nicht peinlich sein …<br />
Ritchie: (lacht) Wie schätzt du dich denn jetzt als<br />
Schauspieler ein?<br />
Pitt: Verdammt solide, würde ich sagen.<br />
Ritchie: Du produzierst mittlerweile auch ziemlich<br />
viel.<br />
Pitt: Mehr denn je! Das macht mir gerade mehr Spaß<br />
als alles andere.<br />
Ritchie: Wirklich? Mehr Spaß als schauspielern?<br />
Pitt: Irgendwie ja. Ich finde es gerade super, im Team<br />
mitzuarbeiten, das den Film auf die Leinwand bringt.<br />
Ritchie: Du produzierst unter anderem Steve Mc<br />
Queens nächsten Film Twelve Years A Slave.<br />
Pitt: Darauf freue ich mich besonders, weil ich ein<br />
großer Fan von McQueen bin. Hast du Shame gesehen,<br />
seinen Film mit Michael Fassbender?<br />
Ritchie: Nein, ich habe Shame verpasst.<br />
Pitt: Du solltest dich schämen, dass du Shame verpasst<br />
hast! Die Art und Weise, wie McQueen seine Filme<br />
angeht, erinnert mich sehr an einen Maler. Seine<br />
Filme sind sehr ruhig … Es scheint beinahe so, als<br />
würden sie gären. Der Film Twelve Years A Slave, den<br />
wir gerade gedreht haben, erzählt eine sehr spezielle<br />
Geschichte der amerikanischen Sklaverei. Es gibt<br />
Leute, die behaupten, dieses Thema sei auserzählt<br />
und abgehandelt. Aber sie irren sich. Und das werden<br />
sie merken, wenn sie den Film sehen. Er basiert auf<br />
den Memoiren eines freien schwarzen Mannes aus<br />
dem Norden, der unter widrigen Umständen in den<br />
Süden gelockt und dort versklavt wird. So betrachtet<br />
ist es ein Horrorfilm.<br />
Ritchie: Arbeitet ihr gerade noch daran?<br />
Pitt: Nein, er ist fertig.<br />
Ritchie: Ein Film, in dem man dich bald sehen wird,<br />
ist World War Z.<br />
Pitt: Da fehlt der letzte Schliff. Meine Jungs werden<br />
ihn lieben. Der Film ist groß. Und unterhaltsam.<br />
Ritchie: Okay, lass uns zum Abschluss noch ein paar<br />
schnelle Fragen durchgehen.<br />
Pitt: Okay. Leg los!<br />
Ritchie: Du interessierst dich sehr für Architektur.<br />
Gibt es Überschneidungen zwischen Architektur und<br />
der Art, wie du denkst?<br />
Pitt: Wahrscheinlich die, dass ich immer nach Struktur<br />
suche und auf sie achte.<br />
Ritchie: Du vertraust auf dein Bauchgefühl. Was war<br />
das Überraschendste, das passiert ist, weil du deinen<br />
Instinkten gefolgt bist?<br />
Pitt: Ach, ich will keine Anekdoten erzählen. Ich hasse<br />
Anekdoten.<br />
Ritchie: Okay. Aber gab es Momente, in denen du mit<br />
deinem Bauchgefühl besser lagst als mit den Ratschlägen<br />
anderer Leute?<br />
Pitt: Ja. Oft.<br />
Ritchie: Und auch solche, in denen du eigentlich alles<br />
richtig gemacht hast, das Ergebnis dennoch eine Katastrophe<br />
war?<br />
Pitt: Klar. Aber man lernt aus Fehltritten. Auf einen<br />
Fehltritt folgt irgendwann der richtige Schritt.<br />
Ritchie: Was tut sich an der politischen Front – die<br />
Wahlen stehen ja bald an in Amerika.<br />
Pitt: Ich möchte gerne vermeiden, dass dieser Film<br />
und meine Unterstützung für Obama in einen Topf<br />
geworfen werden. Aber ich denke, er ist unsere beste<br />
Antwort für die nächsten vier Jahre.<br />
Ritchie: Ich komme mir schon vor wie der drängelnde<br />
<strong>Interview</strong>er, der sagt: „Wir würden gerne ein wenig<br />
darüber hören, was Brad Pitt über die Ehe und<br />
seine Rolle als Vater denkt.“<br />
Pitt: Ja, genau. Ich wette darauf, dass dich das interessiert<br />
(lacht).<br />
Ritchie: Es ist ziemlich amüsant, wie man plötzlich<br />
tatsächlich zum Fragenden wird, wenn man so ein<br />
Gespräch führen soll.<br />
Pitt: Das passt schon. Mir macht es Spaß.<br />
Ritchie: Sollen wir das Spiel abpfeifen?<br />
Pitt: Ja, lass uns Schluss machen.<br />
Ritchie: Und? Bist du auf dem Weg nach Frankreich?<br />
Pitt: Yep.<br />
Ritchie: Wann kommst du zurück?<br />
Pitt: Freitagabend. Wo steckst du eigentlich? In L. A.?<br />
Ritchie: Ich fliege morgen für ein paar Tage nach<br />
L. A.<br />
Pitt: Fun, Fun, Fun!<br />
Ritchie: Okay, bis bald!<br />
Pitt: Cheerio!<br />
Ritchie: Cheerio!<br />
56<br />
57<br />
Killing Them sofTly kommt<br />
am 29. novemBeR in Die kinos
Victoire de<br />
castellane<br />
mit ihrer neueSten kollektion für dior<br />
hAute joAillerie greift die pAriSer deSignerin<br />
Auf den urSprung der couture zurück<br />
von<br />
StephAnie lAcAvA<br />
porträt<br />
kAtjA rAhlweS<br />
oben linkS: ohrringe COFFRET DE<br />
VICTOIRE: weißgold, diamanten,<br />
peridot, Saphire, pink- und<br />
orange farbene, gelbe und<br />
violette Saphire, rote und<br />
schwarze Spinelle und lack.<br />
dior fine jewellery<br />
mitte: ring INCROYABLES ET<br />
MERVEILLEUSES TOUCAN: gelbgold,<br />
diamanten, grüner beryll,<br />
Smaragde, tsavorite, rubine, Saphire,<br />
pink- und orangefarbene und gelbe<br />
Saphire und schwarze Spinelle.<br />
dior fine jewellery<br />
oben rechtS: broSche DIORETTE:<br />
gelbgold, diamant, Amethyst und lack.<br />
dior fine jewellery<br />
Die Dior-Schmuckdesignerin Victoire<br />
de Castellane steht auf dem Balkon<br />
ihres Apartments, der den Blick auf<br />
eine ruhige Straße im 16. Arrondissement<br />
freigibt. Mit hochrot geschminkten Lippen lächelt<br />
sie, während sie schnell in einen dieser cartoonartigen<br />
Telefonhörer spricht, dessen gezwirbeltes Kabel<br />
in ihr Handy gestöpselt ist. Sie trägt ein marineblaues<br />
Alaïa-Outfit, kombiniert mit High Heels von Balenciaga<br />
und einem Armreif aus Goldgeflecht. Als das Telefonat beendet<br />
ist, setzt sie sich auf ihr Sofa von Jean-Michel Frank unter eine<br />
Thomas-Ruff-Fotografie – eine Supernova elektrisierender Neonfarben<br />
ähnlich den Tönen, die de Castellane in ihren Schmuckentwürfen<br />
benutzt. Die in Paris geborene Designerin ist der Inbegriff des urbanen Chic,<br />
vergleicht die Ästhetik ihrer Wohnung jedoch mit der eines Ferienhauses. „In<br />
Paris scheint selten die Sonne“, sagt sie. „Sobald ich meinen Arbeitsplatz verlasse<br />
und hierher zurückkomme, fühlt sich das für mich an wie Urlaub.“<br />
Ansonsten ist es für de Castellane auch eher schwierig, Zeit für Ferien zu finden,<br />
weil sie mit gleich zwei Aufgaben jongliert: einerseits der Arbeit an der ihren<br />
Namen tragenden eigenen Linie aus Schmuck-Unikaten – im vergangenen Jahr<br />
zeigte sie diese organisch geformten, irisierenden Skulpturen im Rahmen einer<br />
Solo-Ausstellung in der Pariser Gagosian Gallery. Und andererseits natürlich mit<br />
ihren Designs für Dior. Ihre aktuelle Kollektion für das Modehaus, Dear Dior, ist<br />
zugleich ihre erste unter der Ägide des neuen Kreativchefs Raf Simons. Über<br />
dessen Haute-Couture-Debüt, das am Morgen unseres Treffens stattfand, sagt de<br />
Castellane: „Es war fantastisch, intelligent, poetisch und voller wunderschöner<br />
Ideen!“ Und fügt hinzu: „Rafs Geist, seine Vorstellungskraft, ist sehr präzise, aber<br />
er interpretiert die Identität Diors auf leichtere Art und Weise.“<br />
Dear Dior geht mit der klassischen Couture-Kultur spielerisch um. De Castellane<br />
fasste seltene Gemmen wie äthiopische Welo-Opale, Sphene und neonblaue<br />
Apatite in filigranes Gold. Für dieses Design bediente sie sich einer Vorlage, die sie<br />
in einer Couture-Skizze für Dior aus den 50ern entdeckt hatte. Traditionell zeigten<br />
Couturiers nämlich auf dem Laufsteg ausschließlich Modeschmuck (Echtschmuck<br />
58<br />
galt als separates Business) – de Castellane versucht<br />
nun, genau diesen frisson, diesen Original-versus-Kopie-Kick,<br />
einzufangen.<br />
Eine Karriere als Schmuckdesignerin hatte<br />
sie nie angestrebt. Alles begann, als ein Freund sie<br />
1984 bat, an Chanels Modeschmuckkollektion mitzuarbeiten.<br />
Doch Karl Lagerfeld bot ihr schnell eine<br />
Vollzeitstelle an. „Ich sagte: ‚Ich will gar nicht arbeiten,<br />
ich will nur ausgehen und Spaß mit meinen Freunden haben‘“,<br />
erinnert sie sich. „Aber dann blieb ich 14 Jahre bei<br />
Chanel.“ Sie verließ die Marke, als Bernard Arnault von LVMH<br />
sie 1998 bat, sich eine neue Welt für Dior Haute Joaillerie auszudenken.<br />
Sein Angebot, „etwas aus dem Nichts zu erschaffen“, empfand<br />
sie als wirklich inspirierend. Seither hat de Castellane die Accessoires-Welt nicht<br />
bloß verwandelt, sondern deren Grenzen auch öfter überschritten, um in den Bereich<br />
der zeitgenössischen Kunst vorzudringen, etwa mit ihrer exotisch-floralen<br />
Belladone Island-Kollektion, die 2007 im Musée de l’Orangerie ausgestellt war.<br />
Als Inspirationsquellen nennt sie Sigmund Freud und Stanley Kubrick – obgleich<br />
in ihrem Apartment weder Fernseher noch Bücher zu sehen sind (wie sich<br />
herausstellt, verbirgt sich beides in einer Nische, getarnt von einer scheinbaren<br />
Zimmertür). Auch wenn sie scherzt: „Ich kann nicht lesen, weil ich tagträume.“<br />
In ihren Entwürfen hat de Castellane sich mit psychotropen Drogen, fleischfressenden<br />
Pflanzen und Märchenprinzessinnen auseinandergesetzt. „Ich bin besessen<br />
vom weiblichen Universum“, erklärt sie. Schmuck hat sie nie als Statussymbol<br />
verstanden, sondern als Talisman – gar als Waffe. „Wenn du gelangweilt<br />
bist oder dich alleine fühlst, beschützt dich Schmuck“, sagt de Castellane. „Ich mag<br />
es, wenn alles Schlechte verschwindet und nur die Erinnerung an das Schöne im<br />
Gedächtnis bleibt. Aber so ist das Leben nicht. Darum mache ich Schmuck.“<br />
Styling ondine AzoulAy/clm<br />
hair mAxime mAce/cAlliSte pAriS<br />
make-up cArole colombAni/l’Atelier 68<br />
ALLE SCHMUCKSTÜCKE: VICTOIRE DE CASTELLANE<br />
59
Beauty<br />
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trotzdem überall zu haben<br />
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eine kolumne von susanne opalka<br />
Sie haben Ihre Reise nach New York noch nicht gebucht?<br />
Dann wird es aber Zeit. Manche Menschen lehnen ja Geschenke<br />
zu allgemein anerkannten Anlässen wie Weihnachten<br />
oder Geburtstagen aus ideologischen Gründen ab –<br />
„Ich schenke lieber spontan, wenn ich etwas Schönes entdecke“,<br />
lautete die sich freidenkerisch gebende Ausrede, die doch tatsächlich<br />
meist eine Mischung aus Faulheit und Geiz ist. Ich persönlich ziehe<br />
den generalstabsmäßigen Ansatz vor: 24 Stunden Manhattan – und<br />
alle sind versorgt. Eine belastbare Kreditkarte und ein Paar bequemer<br />
Schuhe vorausgesetzt.<br />
Was die Auswahl der Geschenke betrifft, gehe ich monothematisch<br />
vor. Glauben Sie mir: Von einer Beauty-Redakteurin wird das<br />
erwartet. Als Allererstes geht es natürlich zu Bergdorf Goodman, wegen<br />
des Schals von Truman Capote (beste Szene im Biopic mit Philip<br />
Seymour Hoffman) und wegen der New Yorker Make-up-Ikone<br />
Sylvie Chantecaille und ihrer Tochter Olivia, die jedes Jahr Sondereditionen<br />
auflegen, mit denen immer Tierschutz- und Umweltorganisationen<br />
unterstützt werden. Dann zu Bond No. 9 im Meat packing<br />
District, um schon mal den neuesten Duft zu kaufen, der wie immer<br />
erst Monate später nach Deutschland kommen wird. Nun vielleicht<br />
schnell ins Hotel The Standard über dem High Line Park auf ein<br />
zweites Frühstück. Nach dem imposanten brioche french toast müssen<br />
Sie sich ums Mittagessen keine Gedanken mehr machen.<br />
Besonders am Herzen liegt mir ein Abstecher zu Aedes de<br />
Venustas in der Christopher Street. Hier haben die beiden Süddeutschen<br />
Karl Bradl und Robert Gerstner seit 1995 ihre avantgardistische<br />
Duftboutique, in der auch Liv Tyler und Sarah Jessica Parker<br />
einkaufen. Nicht unumstritten, aber überraschend charmant John<br />
Varvatos: Dessen Flagshipstore war bis 2006 der legendäre Punkclub<br />
CBGB (weswegen Dogmatiker den Designer für einen Vorreiter<br />
der Gentrifizierung halten), und neben seiner Mode und den<br />
Düften verkauft der leidenschaftliche Rockfan hier seltene und<br />
besonders gut erhaltene Aufnahmen auf Vinyl. Weiter geht’s nach<br />
Nolita in die Elizabeth Street zum Atelier Cologne (Duft kerzen!).<br />
20 Meilen später liegen dann alle Einkäufe hübsch verpackt auf<br />
dem Hotelbett.<br />
Ich muss dieses Jahr zwar zu Hause bleiben, mache aber die gleiche<br />
Einkaufstour – im Internet. Tatsächlich gibt es inzwischen alle<br />
meine Lieblingsmarken in deutschen Onlineshops zu kaufen. Georg<br />
Wuchsa war mit seiner Website ausliebezumduft.de der Pionier. Exklusive<br />
Parfümerien wie Meister in Hamburg oder Brückner in<br />
München stellten ihr Angebot online, nun folgen departmentstorequartier206.com,<br />
niche-beauty.com, duft-villa.de oder, gerade ganz<br />
neu, ludwigbeck.de und bellerebelle.de. Es wimmelt im Netz von<br />
erlesenen Nischenmarken aus Paris, London und New York. Über<br />
dem Internet scheint eine große Duftwolke zu schweben.<br />
Die großen Marken reagieren darauf und präsentieren regelmäßig<br />
kleine, exklusive Produkte und Dienstleistungen. So lädt<br />
Dior Mitte November zur exklusiven „Privée“-Audienz nach Berlin<br />
ins KaDeWe, wo man sich vom hauseigenen Parfümeur höchstpersönlich<br />
seinen Duft maßschneidern lassen kann. Oder sie legen,<br />
wie Chanel, einmalige Sondereditionen auf, die es eben doch nur<br />
vor Ort in der Chanel-Boutique gibt (oder etwa in New York bei<br />
Bergdorf Goodman). Wie zum Beispiel, das klingt jetzt vielleicht<br />
exzentrisch, „Le Coton“, die geliebten Wattepads von Chanel. Aber<br />
die sind ja eh nur etwas für verrückte Beauty-Redakteurinnen …<br />
foto aMos friCke<br />
60<br />
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cream color vc07 benisakura”<br />
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foundation „parure de lumière<br />
light diffusing foundation 02 beige<br />
clair” von guerlain<br />
puder „le prisme visage mat 88<br />
acoustic pastel” von givenchY
classics<br />
Frühling<br />
Sommer<br />
MÖRDER, denen<br />
VERZWEIFLUNG fehlt<br />
Die Kolumne von Helene Hegemann<br />
Letztens wurde ich über den Tod eines Menschen aufgeklärt, von dem ich überhaupt<br />
nicht wusste, dass er bis vor Kurzem noch am Leben war: ALAin CorneAu,<br />
ein französischer Typ, der schlau genug war, um keine gewissentlichen<br />
Konsequenzen für sein Handeln tragen zu wollen, und deshalb Filme über perfekt<br />
arrangierte Morde drehte, anstatt sie selbst zu begehen. er ist irgendwann mal<br />
Musiker gewesen und hat dann glücklicherweise mit den aus seinem Studium<br />
übernommenen Jazzstandards Filme durchkomponiert, die alles haben, was ein<br />
Film noir haben muss, der sich durch die zur konventionellen Hollywoodmoral<br />
entgegengesetzte Düsterheit und entfremdung auszeichnet – und gleichzeitig in<br />
einer großen Geste von romantik und Feinsinnigkeit darüber hinausgehen, sehr<br />
weit sogar, würde ich sagen. er hat die Filme von JeAn-Pierre MeLviLLe<br />
geliebt und unabhängig davon, oder grade deshalb, starke kriminelle energien entwickelt.<br />
Die sind grade aber auch nicht wichtig. Sein letzter Film heißt Crime<br />
d’amour. es geht um ein mittzwanzigjähriges Mädchen, sympathisch, weil nett,<br />
schlau, selbstbestimmt und auf eine leicht prollige Weise schwer attraktiv. Das von<br />
LuDvine SAGnier gespielt wird und in einem multinationalen Pr-Konzern<br />
arbeitet. Die Chefin ist KriSTin SCoTT THoMAS, an Durchtriebenheit kaum<br />
zu übertreffen. Logischerweise fädelt KriSTin SCoTT THoMAS mit irgendwelchen<br />
Femme-fatale-nuancen einige latent amouröse Projektionen von Seiten<br />
ihrer Angestellten auf sich selbst ein, zumal das Mädchen, es heißt im Film, glaub<br />
ich, isa, wie gesagt, voll schlau ist und weder sich noch ihre Fähigkeiten manipulieren<br />
ließe, wäre da kein Sex im Spiel. isa ist also verknallt in KriSTin SCoTT<br />
THoMAS, die ihr gehirnwäscheüblich die große Liebe, die Aussicht auf großen<br />
erfolg und einfach auch ihre ehrenwerte High-Class-Präsenz vor Augen führt –<br />
erstens, um isas fantastische ideen als ihre eigenen auszugeben, zweitens, um das<br />
Mädchen vollständig für ihre Zwecke einzuvernehmen, und drittens aus purem<br />
Spaß an einem Lebensentwurf, der auf dem unbesorgten Hinterlassen zerstörter<br />
existenzen aufbaut. Dabei guckt man ihr gerne zu, da muss man „journalistisch“<br />
auch gar nicht weiter ins Detail gehen, weil es einfach wirklich sexy und typisch<br />
und großes entertainment ist. Die Beziehung der beiden endet damit, dass Mrs.<br />
Thomas isa vor der kompletten Firmenbelegschaft mit einem aus Überwachungsvideos<br />
zusammengeschnittenen Film denunziert – was das Mädchen in große verzweiflung<br />
stürzt, sie sitzt dann halt nur noch heruntergekommen auf ihrem Sofa<br />
und ist traurig und apathisch.<br />
Doch irgendwas arbeitet in ihr, sie schmiedet einen Plan, auf den man als Bildungsbürger<br />
keinen Zugriff hat, der einem aber eine vorahnung vermittelt darauf,<br />
dass die sogenannte erzählstruktur jetzt radikal gebrochen und man selbst von nun<br />
an nichts anderes mehr als verunsichert wird. Dieser Moment ist so eindringlich,<br />
dass er vermutlich was mit der fantastischen Kamera zu tun haben muss – die so<br />
dermaßen simpel ist, dass man vorschnell und kompromisslos jeden Kamerakran<br />
der Welt zu Charity-Zwecken recyceln will, augenblicklich.<br />
Was isa tut, ist ziemlich folgerichtig: Sie bringt ihre Chefin um. im rahmen<br />
einer perfekten Mordstrategie, für die ein Großteil der Zuschauer, inklusive mir und<br />
aller meiner Freunde, schlechterdings zu dumm ist, und zwar bis zum Schluss. Das<br />
ist unfassbar erleichternd, nicht permanent zur Wertung von individuen auf Bildschirmen<br />
aufgefordert zu werden, nicht permanent Antworten entgegengeschleudert<br />
zu kriegen oder Fragen auf Themen, die angeblich die „Menschheit bewegen“<br />
und bei denen es dann eigentlich doch nur um den ehrgeiz des verantwortlichen<br />
geht, sein Kunstwerk in einem „weltbewegenden“ Kontext platzieren zu können.<br />
Man kommt hier ausschließlich in den Genuss, jemandem dabei zusehen zu<br />
können, wie er, intelligent bis zum exzess, jemanden ermordet, der es verdient hat,<br />
und sich eine Grundlage dafür schafft, ohne Schuld weiterleben zu können.<br />
CHABroL hat mal gesagt (oder war es mein Zahnarzt?): „Mord ist das<br />
menschliche Handeln, bei dem entscheidungen am kritischsten sind und die größten<br />
Konsequenzen haben.“<br />
Das ist das, was Film noir ausmacht – sich mit diesem umstand zu beschäftigen<br />
anstatt mit einem Cliffhanger. Die entscheidung gegen eine nur der Aufdeckung<br />
des Mordes zugeschriebene Spannung.<br />
66<br />
Die Spannung nicht aufzubauen auf der Frage „Wer hat es getan?“, sondern<br />
darauf, was dem, der es getan hat, zustößt, wie er sich durch den ganzen Dreck<br />
durchkämpft, ist der irgendwann mal revolutionär gewesene Wille, Menschen im<br />
Film jenseits ihrer suspensekompatiblen Handlungen zu betrachten und ihnen bei<br />
ihrer Arbeit (dem Mord, dem vertuschen des Mordes oder dem idyllischen Leben<br />
auf einer Pferdefarm mit CATHerine Deneuve) und ihren Gedanken zuzusehen.<br />
Jenseits einer die Grundlagen der Gesellschaft festigenden „psychologischen<br />
Betrachtungsweise“, die dem Täter eine histrionische oder psychotische<br />
oder narzisstische Störung unterstellt und sein Handeln damit vollständig entkräftet.<br />
es ist auch nicht eine dem Publikum aufgezwungene identifikation mit<br />
dem Bösen, sondern unterhaltsam und eine legitime Grundlage dafür, sich beim<br />
Parkscheinholen am Potsdamer Platz irre cool zu fühlen, weil man es unweigerlich<br />
mit dem komischen Parkhausmord in LouiS MALLeS Atlantic City assoziiert.<br />
(Da wird roBerT Joy von zwei rauschgift-Gangstern verfolgt, falls jemand den<br />
Film nicht gesehen hat.)<br />
Das mag ein teeniehaftes runterbrechen des Facettenreichtums sein, aber genau<br />
darum geht’s ja auch – sich selbst in seinen unzulänglichkeiten zu genügen<br />
und sie als das Beruhigendste aller ressentiments einordnen zu können, die Coolness<br />
–, wahrscheinlich hat das mit dem leicht verdreckten Pokerfacesystem des<br />
Gangsteruniversums zu tun, diesem nihilismus, der Herrschaftlichkeit, der vorstellung<br />
einer Männlichkeit, die nichts mit dem Geschlecht zu tun hat. Das Kalkül,<br />
das Fehlen des emotionalen Antriebs in diesen Zerstörungsakten, hievt das Ganze<br />
auf einen Level von demonstrativer Überlegenheit und irgendeinem Horroransatz,<br />
der einen zutiefst verunsichern kann. Die Typen in CorneAuS Filmen<br />
(in den früheren, z. B. Wahl der Waffen, werden die meistens von yveS Mon-<br />
TAnD gespielt) müssen sich in erster Linie weder an jemandem rächen noch<br />
brauchen sie Geld oder handeln aus konkreter verzweiflung, da ist kein direkter<br />
impuls – sie bewegen sich deshalb nicht in der typischen, mit der Handkamera<br />
aufgezeichneten Panikshow eines Strasbergschülers, der irgendeine emotionsexplosion<br />
spielen und das auch noch für große Kunst halten muss. nein, nein. es<br />
geht im äußersten Fall um die Wahrung eines Besitzstandes, der durch eine, des<br />
Zuschauers vorstellungskraft überschreitende „Dunkelheit in der vergangenheit“<br />
ermöglicht worden ist. um das „aus dem Weg schaffen“ eines Störfaktors, der<br />
grade das friedliche Zusammenleben mit CATHerine Deneuve auf der genannten<br />
Pferdefarm beeinträchtigt, oder den Stolz einer unglücklich verliebten,<br />
leider zu erfolgsorientierten, aufrichtigen jungen Frau. Darum, dass diese durchgängige,<br />
depressive Überlegenheit ab und zu mal von irgendeinem dummen Polizisten<br />
oder einer zu kaltherzigen Chefin oder einem Jungkriminellen aus dem<br />
Ghetto versehentlich durchbrochen wird. und das Substitut für Selbstmord dann<br />
der Mord am Störfaktor ist. Diese Knarren, mein Gott, diese rituale und diese<br />
ignoranz, all das nennt man wahrscheinlich Kaltblütigkeit, dabei ist das immer nur<br />
die perfekt inszenierte Hoffnung darauf, dass es gotthafte Charaktere gibt, mit<br />
denen wir uns nicht identifizieren müssen, weil sie „etwas Größeres“ darstellen,<br />
vielleicht eine mutierte version einer Abspaltung von uns selbst. ihre Superkräfte<br />
sind nicht physisch, sondern hängen mit ihrer grenzenlosen entscheidungsfreiheit<br />
zusammen. und deshalb gibt es wenig, was mehr Spaß<br />
macht, als von vornherein zu wissen, wer der Mörder ist.<br />
The End<br />
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<strong>Halle</strong>,<br />
yeaH!<br />
von<br />
Tom Tykwer<br />
… also haben wir Tom Tykwer ins<br />
rennen geschickT. Und da halle berry<br />
nichT eine, sondern sechs rollen in<br />
Cloud AtlAs, dem TeUersTen deUTschen<br />
Film aller zeiTen, übernommen haT,<br />
konnTe berry den mann, der sie so in<br />
szene seTzT, ja kaUm abbliTzen lassen<br />
FoTos<br />
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Die Gesprächsanbahnung gestaltete sich einigermaßen<br />
schwierig. Nicht, dass sich <strong>Halle</strong> Berry und Tom<br />
Tykwer bei den Dreharbeiten nicht bestens verstanden<br />
hätten; wochenlang hatten sie gemeinsam am Set<br />
verbracht und sich durch einen denkbar komplizierten<br />
Drehplan gearbeitet. Doch dann, als der Film<br />
endlich fertig war, gingen sie beide ihrer Wege und<br />
fanden einfach keinen Termin. Zunächst wollten sie<br />
das Gespräch noch von Angesicht zu Angesicht führen,<br />
weshalb es schien, dass die Filmpremiere in Toronto<br />
eine ideale Gelegenheit wäre. Doch je näher<br />
die Premiere rückte, desto kleiner wurden die Zeitfenster,<br />
bis sie sich irgendwann ganz geschlossen hatten<br />
und die Suche von Neuem begann. Dass Tykwer<br />
nebenher damit beschäftigt war, von Festival zu Festival<br />
zu reisen, hier und da noch letzte Hand an den<br />
Film legen musste, während Berry eine grundsätzliche<br />
Skepsis gegenüber Pressegesprächen aller Art<br />
entwickelte, machte die Sache nicht leichter. Aber<br />
dann, eines Tages im Oktober, als es beinah schon zu<br />
spät war und es kaum noch Hoffnung gab, meldete<br />
sich eine gut gelaunte <strong>Halle</strong> Berry am Telefon und<br />
erklärte, sie sei bereit.<br />
Warum sollte sie auch nicht bereit sein? Für die<br />
46-jährige Schauspielerin ist Cloud Atlas der größte<br />
Auftritt seit ihrem Oscar-Gewinn 2001 für ihre Rolle<br />
in Monster’s Ball. Wobei Cloud Atlas im Grunde für<br />
alle Beteiligten ein großer Auftritt ist: Die Romanvorlage<br />
von David Mitchell galt als unverfilmbar und<br />
erzählt eine denkbar komplex verschachtelte Geschichte,<br />
die nicht weniger als tausend Jahre abdeckt.<br />
Die Regie hat sich Tom Tykwer gleichberechtigt mit<br />
den Geschwistern Lana und Andy Wachowski geteilt,<br />
was so ungewöhnlich ist, dass die Schauspieler zu<br />
Drehbeginn in höchster Sorge waren. Aber dann<br />
wurde alles gut.<br />
„Im 22. JaHrHunderT<br />
keHre IcH zurück<br />
als männlIcHer<br />
GenTecHnIker,<br />
der unTerdrückTe<br />
klone aus IHrer<br />
GefanGenscHafT<br />
zu BefreIen HIlfT.<br />
der umweG üBer<br />
dIe männlIcHkeIT<br />
erscHIen mIr<br />
seHr eInleucHTend”<br />
75<br />
Tom Tykwer: <strong>Halle</strong>, es gibt hier also diese Idee eines<br />
<strong>Interview</strong>s, das wir führen sollen, als wären wir völlig<br />
privat und spontan – und als ob es uns nichts ausmacht,<br />
dass einer dabei zuhört, wie wir so ganz natürlich<br />
miteinander plaudern.<br />
<strong>Halle</strong> Berry: Ja, ich weiß. Aber wie geht das?<br />
Tykwer: Es ist natürlich eine Illusion, denn wir wissen,<br />
dass eine Gesprächssituation sich radikal ändert,<br />
sobald ein Aufnahmegerät eingeschaltet wird.<br />
Berry: Eben. Wobei ich sagen muss, dass ich es nicht<br />
prinzipiell ablehne, persönlichere Dinge preiszugeben<br />
– ich finde es toll, wenn sich das in einem<br />
Inter view organisch entwickelt. Mein Problem ist vor<br />
allem, dass ich immer wieder die Erfahrung machen<br />
musste, dass das, was ich nachher lese, nicht viel mit<br />
dem zu tun hat, was ich ausdrücken wollte. Dass es<br />
auf eine absurde Weise umgeformt oder absichtlich<br />
missverstanden wurde, um letztlich doch irgendwelche<br />
Klischees zu bedienen. Gern wird auch weggelassen,<br />
was mir besonders wichtig oder interessant<br />
erschien, aber aus der kleinsten Nebenbemerkung<br />
über mein Privatleben eine fette Überschrift gemacht.<br />
Alle diese Erfahrungen haben mich dazu<br />
gebracht, <strong>Interview</strong>s zu meiden.<br />
Tykwer: Versuchen wir einfach, das Persönliche in<br />
einem Gespräch über unsere gemeinsame Arbeit zu<br />
finden. Das ist auch angemessen, denn wir beide kennen<br />
uns zwar ausschließlich durch die Arbeit an Cloud<br />
Atlas, sind uns aber über dieses intensive Projekt<br />
doch auch ganz schön auf die Pelle gerückt.<br />
Berry: Allerdings. Der Film hat von Anfang an eine<br />
Dynamik entwickelt, in der wir uns sehr intensiv aufeinander<br />
einlassen mussten.<br />
Tykwer: Als Schauspielerin ist die Genese eines solchen<br />
Films über weite Strecken ein ganz anderer<br />
Prozess als für den Regisseur. Es fängt, nehme ich an,<br />
erst mal damit an, dass du einfach ein Drehbuch bekommst.<br />
Berry: Ja, genau.<br />
Tykwer: Aber du bekommst ja wahrscheinlich ständig<br />
Drehbücher. Wie unterscheidest du in deiner<br />
Aufmerksamkeit, deinem Interesse?<br />
Berry: Ich bekomme tatsächlich eine Menge Drehbücher<br />
zugesandt, und leider sind die meisten ziemlich<br />
schlecht. Aber das ist wohl überall auf der Welt<br />
so. Gute Drehbücher sind immer ein kleines Wunder<br />
und ein großes Glück. Und oft sind die guten diejenigen,<br />
die am häufigsten an der Finanzierung scheitern.<br />
Bei Cloud Atlas war es so, dass ich zwar den Roman<br />
nicht kannte, aber schon auf David Mitchell aufmerksam<br />
geworden war. Er klang nach einem Autor, den<br />
ich entdecken wollte. Dann kam dieses Drehbuch<br />
von dir, Lana und Andy – und ich dachte: Interessant,<br />
diese drei haben zusammen ein Drehbuch geschrieben?<br />
Ich war ein großer Fan von eurer jeweiligen Arbeit,<br />
aber wusste nicht, wie das zusammengeht.<br />
Tykwer: Wusstest du nicht?<br />
Berry: Nein, zu dem Zeitpunkt war mir noch gar<br />
nicht klar, dass ihr auch zusammen Regie führen<br />
wolltet. Und mein Agent sagte: Es ist seltsam und faszinierend<br />
und verrückt, und ich weiß auch nicht so<br />
recht. Aber die drei sitzen schon ewig dran und sind<br />
vollkommen davon überzeugt. Das klang irgendwie<br />
wirr, aber hat mich sehr neugierig gemacht, und ich<br />
habe es dann auch sofort in einem Rutsch, quasi über<br />
Nacht, gelesen. (Pause) Und kein Wort verstanden.<br />
Tykwer: (lacht) Wie bitte?<br />
Berry: (lacht) Ich fand es fantastisch, aber ich hab’s<br />
nicht verstanden. Das klingt vielleicht idiotisch, aber<br />
ich wusste, dass es ein großartiger Film werden würde<br />
und dass ich es irgendwann auf dem Weg dorthin<br />
auch durchschauen würde, aber nach dem ersten Lesen<br />
hatte ich keine Ahnung, worum es eigentlich<br />
geht.<br />
Tykwer: Wurde dir von deinen Agenten erklärt, was<br />
die besonderen Bedingungen des Angebots waren?<br />
Berry: Na ja, sie sagten: Du sollst mehrere Rollen<br />
spielen. Aber zu dieser Zeit schienen sie nur zu wissen,<br />
dass eine von diesen Rollen Meronym war (die<br />
Heldin aus der Geschichte, die in ferner Zukunft<br />
spielt). Dass es am Ende sechs verschiedene Figuren<br />
sind, von denen eine sogar ein Mann ist, darauf wäre<br />
ich nie gekommen.<br />
Tykwer: Es ist völlig absurd, dass solche Vorgespräche<br />
allen Ernstes über die Agenten laufen. Warum<br />
haben wir denn eigentlich nicht direkt miteinander<br />
telefoniert?<br />
Berry: Ich weiß es auch nicht, aber so läuft es halt. Es<br />
ist ein System voller Lücken und Umwege.<br />
Tykwer: Und wann hat sich die Unklarheit über das<br />
Drehbuch gelichtet?<br />
Berry: Eigentlich erst, als wir wirklich zusammenkamen<br />
und intensiv in die Vorbereitung des Films einstiegen.<br />
Als ich mit euch und den anderen Schauspielern<br />
sprechen konnte. Die Kostümtests waren sehr<br />
wichtig und hilfreich – und natürlich die Proben.<br />
Tykwer: Für mich war das sehr ähnlich. Insbesondere<br />
die Kostüm- und Make-up-Tests bei Cloud Atlas<br />
haben den Film in mir erst plastisch und lebendig<br />
werden lassen. Ich habe auch selten so viele ausführliche<br />
Gespräche mit den Schauspielern über die Kleidung<br />
und das äußere Erscheinungsbild der Protagonisten<br />
gehabt – insbesondere mit dir. Über diesen<br />
Weg sind wir gleich sehr tief in die Figuren hineingekrochen.
Berry: Ja, es gab aber auch wirklich eine Menge ungewöhnlicher<br />
Entscheidungen zu treffen. Meronym<br />
in diesem futuristischen weißen, engen Anzug zwischen<br />
all den wilden Eingeborenen; oder natürlich<br />
Jocasta, eine weiße jüdische Europäerin Mitte der<br />
30er-Jahre – damit musste ich mich besonders ausführlich<br />
beschäftigen.<br />
Tykwer: Ich erinnere mich, dass ich dich in Bezug<br />
auf Jocasta fragte, ob du diese Art von Kostüm magst<br />
und solche Figuren grundsätzlich gern spielst – und<br />
du mich lange verwundert angeschaut hast und sagtest:<br />
Tom, in Filmen dieser Epoche habe ich bisher<br />
nur Dienerinnen, Kellnerinnen oder Prostituierte<br />
spielen dürfen.<br />
Berry: Ja, ich bin für diesen Teil des Films erstmals in<br />
die bürgerliche Welt dieser Zeit aufgestiegen, weil<br />
wir meine Hautfarbe verändert haben.<br />
Tykwer: Das gehörte zu den irren Momenten am<br />
Set, als du – an dem ersten Drehtag als Jocasta – an<br />
der gesamten Crew vorbeistolziert bist, um zu deiner<br />
Startposition zu gehen, und keiner dich begrüßt hat.<br />
Alle staunten: Wer ist diese faszinierende Frau? Und<br />
als deine Stimme plötzlich erklang, konnten es die<br />
meisten nicht glauben, dass du es warst.<br />
Berry: Aber das war ja der Running Gag des gesamten<br />
Drehs. Ich bin während der Make-up-Tests<br />
mehrmals an Hugh Grant vorbeigelaufen, der vielleicht<br />
gerade aussah wie ein asiatischer Mode designer<br />
oder ein greisenhafter Playboy. Wir haben uns völlig<br />
ignoriert, da wir uns nicht erkannten. Auch an Tom<br />
Hanks als Dermot Hoggins, diesen obszönen Schreiberling,<br />
musste ich mich extrem gewöhnen. Die<br />
Make-up-Designer haben wirklich unglaubliche Dinge<br />
hingekriegt, finde ich.<br />
Tykwer: Allerdings. Aber wie hast du einen Weg in<br />
die Verbindung zwischen deinen Figuren gefunden?<br />
Wie hast du dir eine Landkarte deiner Persönlichkeit<br />
vorgestellt?<br />
Berry: Ich habe irgendwann begriffen, dass alle sechs<br />
Charaktere zu einer Persönlichkeit, einer „Seele“ gehören.<br />
Dass diese Seele auf einer Reise durch viele<br />
Figuren fortschreitet, stärker und reifer wird. Ich beginne<br />
als eine Ureinwohnerin auf einer pazifischen<br />
Insel im 19. Jahrhundert, wo ich als Frau keinerlei<br />
relevante Position zugewiesen bekomme. Im frühen<br />
20. Jahrhundert dann entwickle ich mich als Jocasta<br />
immerhin zu einer selbstbewussteren Person, die<br />
aber immer noch Opfer der politischen Lage und<br />
Spielball der Männer bleibt. Mitte der 70er habe ich<br />
mich als Luisa Rey tatsächlich als Feministin zu definieren<br />
gelernt, hadere aber noch mit dem Übervater<br />
und suche nach einer gelungenen Liebe – die kurz als<br />
Möglichkeit aufflackert, wenn ich Tom Hanks in der<br />
Rolle von Isaac begegne. Aber das geht leider schief.<br />
In der Gegenwart begegne ich ihm als indische Autorin<br />
auf einer Literaturparty erneut, aber er entscheidet<br />
sich für Mord statt für die Romanze. Im 22.<br />
Jahrhun dert kehre ich zurück als männlicher Gentechniker,<br />
der unterdrückte Klone aus ihrer Gefangenschaft<br />
zu befreien hilft. Der Umweg über die<br />
Männlichkeit erschien mir sehr einleuchtend, damit<br />
ich in der – vorerst – letzten „Inkarnation“ als Meronym<br />
mit einem so großen Erfahrungshorizont, mit<br />
Souveränität und Klarsicht auftreten kann. Eine geschlechtlich<br />
subtil bipolare Vision von Frau, die irgendwann<br />
im 25. Jahr hundert mit Mitgefühl und Mut<br />
versucht, die Welt und ihre friedliche Spezies vor<br />
dem Untergang zu bewahren. Und die erneut auf<br />
Tom Hanks trifft, der sich, nach mehreren Anläufen<br />
über viele Jahrhunderte hinweg, mühsam auf sie einlässt<br />
– und damit über sich selbst hinauswächst.<br />
„Ich erInnere<br />
mIch, als Ihr mIch<br />
dann BesuchT<br />
haBT, kurz nach<br />
dem unfall –<br />
und mIr sagTeT:<br />
,enTspann dIch,<br />
wIr werden es<br />
schon IrgendwIe<br />
hInkrIegen.<br />
ohne dIch können<br />
und wollen<br />
wIr den fIlm auch<br />
nIchT machen’”<br />
76<br />
Tykwer: Ich fand es einleuchtend, wie sehr du in all<br />
deinen Figuren immer nach dem Kern dieser Persönlichkeit<br />
geforscht hast, die in all ihnen steckt.<br />
Berry: Du hast gesagt: <strong>Halle</strong>, du spielst eigentlich<br />
einen genetischen Strang. Damit hast du auch das<br />
Gewicht ein wenig von der religiösen Anmutung<br />
weggenommen.<br />
Tykwer: Ja, denn die Lesart ist jedem selbst überlassen.<br />
Die spirituelle Dimension des Films ist subjektiv<br />
variabel. Als wir dann bei der Arbeit immer<br />
wieder darüber sprachen, spürte ich, dass es unglaublich<br />
bedeutend war, wie sehr wir den Instinkten des<br />
anderen vertrauen, weil so viele Entscheidungen mit<br />
dem intuitiven Wissen um die vielen Aspekte der zu<br />
erzählenden „Seele“ verbunden waren.<br />
Berry: Oh, Vertrauen ist alles zwischen einem Schauspieler<br />
und dem Regisseur.<br />
Tykwer: Wie haben wir das gefunden, weißt du das<br />
noch?<br />
Berry: Ich glaube, in Situationen, in denen wir Dinge<br />
voneinander verlangt haben, die anders waren als<br />
vor gesehen. Beim Kostüm hattest du einen bestimmten<br />
Farbcode im Hinterkopf, und dazu gehörte Grün<br />
– was einfach eine schwierige Farbe für mich ist. Das<br />
hat mit meinem Hautton und meinen Augen zu tun.<br />
Und das ist etwas, das ich über die vielen Jahre, in<br />
denen ich irgendwelche Klamotten überziehen musste,<br />
gelernt habe. Ich spürte, wie sehr du dich mit dem<br />
Thema Farben schon beschäftigt hattest, und befürchtete,<br />
dass du meine Einwände nicht akzeptieren<br />
würdest. Aber nachdem wir ein, zwei Teile ausprobiert<br />
hatten und ich dir die Probleme beschreiben<br />
konnte, hast du die Idee einfach fallenlassen. Das ist<br />
ein kleines Beispiel, aber ich fand das sehr ermutigend,<br />
denn in solchen frühen Auseinandersetzungen<br />
entscheiden sich oft schon Vertrauensverhältnisse.<br />
Tykwer: Am ersten Drehtag hast du mich sehr<br />
schüchtern gefragt, ob es mir was ausmacht, wenn ich<br />
dir nicht zu viel „vorspiele“. Denn dann würdest du<br />
verführt, mich zu imitieren. Das fand ich sehr lustig,<br />
da mir das gar nicht bewusst war, dass ich das mache.<br />
So haben wir unseren eigenen Sprachcode entwickelt.<br />
Berry: Ja, er war ziemlich schnell ziemlich symbiotisch,<br />
unser Arbeitsprozess. Ich habe oft Dinge einfach<br />
nur probiert, weil ich deinem Instinkt vertraut<br />
habe, ohne selbst genau zu wissen, wohin das führt.<br />
Gemessen daran, wie lange ihr an dem Projekt geschrieben<br />
hattet und wie tief ihr in die Materie vorgedrungen<br />
seid, wart ihr unglaublich offen für fremde<br />
Ansätze und Ideen.<br />
Tykwer: Du warst allerdings auch keine „Fremde“,<br />
denn von allen Besetzungen, die wir beim Schreiben<br />
vor unserem inneren Auge sahen, warst du die Erste,<br />
die für uns mit Sicherheit feststand. So sehr übrigens,<br />
dass der Moment, als wir das Drehbuch an deinen<br />
Agenten schickten, uns plötzlich vor Augen führte:<br />
Für uns war deine Besetzung alternativlos. Was machen<br />
wir eigentlich, wenn es ihr gar nicht gefällt?<br />
Berry: Das ist natürlich wunderbar, und ich habe das<br />
ja nicht gewusst, sondern erst durch eigentlich ziemlich<br />
dramatische Umstände realisiert.<br />
Tykwer: … als du dir den Fuß gebrochen hast. Sechsfach.<br />
Berry: Ja.<br />
Tykwer: Am vierten Drehtag!<br />
Berry: Ja.<br />
Tykwer: Bei einem Film mit dem wahrscheinlich<br />
kompliziertesten Drehplan aller Zeiten.<br />
Berry: Es war ein Albtraum. Nach drei Drehtagen,<br />
in denen ich von dir in Schuhen mit hohen Absätzen<br />
kleid<br />
gucci<br />
ohrringe<br />
vAn cleef & Arpels
kleid<br />
thomAs wylde<br />
ohrringe<br />
solAnge<br />
AzAgury-pArtridge<br />
gelbgoldringe<br />
tiffAny & Co.<br />
weissgoldring<br />
vAn Cleef & Arpels<br />
sonnenbrille<br />
merCurA nyC<br />
sChuhe<br />
briAn Atwood<br />
über Pflastersteinstraßen gejagt wurde, stolpere ich<br />
im Garten über einen albernen Stein. Und ich erinnere<br />
mich an den Weg ins Krankenhaus. Ich dachte:<br />
Das war’s. Sie werden mich rausschmeißen. Den<br />
Drehplan kriegen sie nie so hin, dass sie jetzt wochenlang<br />
auf mich warten können. Ich war wirklich verzweifelt.<br />
Dieser Film und diese Rollen waren etwas,<br />
auf das ich mein ganzes Leben gewartet hatte. Und<br />
jetzt schien es vorbei; unmöglich.<br />
TYKWER: Für Lana, Andy und mich stand das nie zur<br />
Debatte. Aber der Anruf selbst, als man mir sagte,<br />
was passiert ist, war schon ein Schock. Ich glaube, du<br />
hattest von allen Schauspielern die meisten Drehtage,<br />
das heißt, es war überhaupt schwierig, Tage zu<br />
finden, an denen du nicht drehen musstest. Wir<br />
konnten aber auch wegen des Wetters und unter<br />
Druck der Versicherung den Dreh nicht anhalten<br />
und auf dich warten. Dann haben wir uns mit den<br />
Regieassistenten zwei Tage lang eingeschlossen, die<br />
Köpfe zusammengesteckt und eine völlig andere<br />
Drehreihenfolge ausgespuckt. Und zumindest theoretisch<br />
konnten wir dann weitermachen. Voraussetzung<br />
war, dass dein Gelenk in Höchstgeschwindigkeit<br />
wieder zusammenwächst – zweieinhalb Wochen<br />
später musstest du zumindest wieder stehen können.<br />
Und das hat tatsächlich irgendwie geklappt.<br />
<strong>BERRY</strong>: Ich erinnere mich, als ihr mich dann besucht<br />
habt, kurz nach dem Unfall – und mir sagtet: „Entspann<br />
dich, wir werden es schon irgendwie hinkriegen.<br />
Ohne dich können und wollen wir den Film<br />
auch nicht machen“ – da bin ich in Tränen ausgebrochen;<br />
es war ein Riesenknoten im Hals, der platzte,<br />
weil ich so dankbar und verzweifelt zugleich war.<br />
TYKWER: Eine zentrale Idee, die den Film antreibt, ist<br />
Verbundenheit. Banden zwischen Menschen, sichtbare<br />
und unsichtbare. Verantwortung in der Gemeinschaft.<br />
Film ist die kollaborativste Kunstform der<br />
Welt, und wir wollten, dass der Film in dem Geist<br />
gemacht wird, den er verkörpert. Weil es ein unabhängig,<br />
also frei finanziertes Projekt war, konnten wir<br />
auch riskante Entscheidungen wie diese nach unserem<br />
Herzen fällen und nicht nach rein pragmatischen<br />
Gesichtspunkten. Natürlich half es auch in diesem<br />
Fall, dass es drei Regisseure gab und nicht nur einen.<br />
<strong>BERRY</strong>: Inwiefern?<br />
TYKWER: Wir konnten uns gegenseitig Mut zusprechen<br />
(lacht).<br />
<strong>BERRY</strong>: Das ist ein Phänomen, das ich nicht genug<br />
betonen kann. Die Tatsache, dass drei Regisseure mit<br />
dir als Schauspieler an einem Film arbeiten, hat mich<br />
nämlich vor Drehbeginn enorm beunruhigt. Ich hatte<br />
ja noch nicht mal mit zwei Regisseuren gleichzeitig<br />
gearbeitet, aber drei? Als ich die anderen Schauspieler<br />
zu den Proben traf, merkte ich, dass alle ein<br />
wenig besorgt waren: Was ist, wenn die drei sich jetzt<br />
ständig uneinig sind? Wenn wir von Set zu Set marschieren<br />
und immer widersprüchlichere Ansagen und<br />
Informationen bekommen?<br />
TYKWER: Und?<br />
<strong>BERRY</strong>: Das Gegenteil ist eingetreten. Es war nicht<br />
verwirrend, nicht beunruhigend, sondern bereichernd.<br />
Ihr habt euch eigentlich niemals wider sprochen.<br />
Wenn ich vom Set mit Lana und Andy kam und am<br />
nächsten Tag bei dir weiterdrehte, war es so, als<br />
würde ein Gedanke einfach nur aufgenommen und<br />
weitergesponnen. Und weil ihr dennoch so verschieden<br />
seid, hat sich trotzdem nie etwas wirklich wiederholt.<br />
Aber im Geist und in der Idee wart ihr absolut<br />
in euren Köpfen miteinander vernetzt.<br />
TYKWER: Ja, wir sind sehr verschieden als Personen,<br />
aber in der Kunst fühlen wir uns wie Drillinge.<br />
„GUTE DREHBÜCHER<br />
SIND IMMER EIN<br />
KLEINES WUNDER<br />
UND EIN<br />
GROSSES GLÜCK.<br />
UND OFT SIND DIE<br />
GUTEN DIEJENIGEN,<br />
DIE AM HÄUFIGSTEN<br />
AN DER<br />
FINANZIERUNG<br />
SCHEITERN”<br />
79<br />
<strong>BERRY</strong>: Ihr hattet auch nie größere Konflikte in all<br />
den Jahren?<br />
TYKWER: Nein, eigentlich nicht. Natürlich Auseinandersetzungen,<br />
aber nie ernsthafte Streits. Das ist<br />
natür lich auch die Magie der Dreierkonstellation. Einer<br />
von dreien sieht die Sache immer etwas mehr von<br />
außen. Dadurch gibt es ein sehr frühzeitig anspringendes<br />
diplomatisches Warnsystem.<br />
<strong>BERRY</strong>: Es war ein völlig neuartiges Modell für mich<br />
– und für alle anderen natürlich auch. Wir haben oft<br />
zusammengestanden, besonders Tom Hanks, Hugo<br />
Weaving und ich, und festgestellt, wie faszinierend es<br />
ist, dass ihr drei so harmoniert, und wie viel Spaß das<br />
für den Schauspieler bedeutet.<br />
TYKWER: Als du dann schließlich, ein Dreivierteljahr<br />
nach Ende der Dreharbeiten, den Film bei der Premiere<br />
in Toronto sahst: Wie hast du ihn erlebt?<br />
<strong>BERRY</strong>: Ich hatte direkten, ungefilterten, unverstellten<br />
Zugang zu dem Film, und ich glaube, ich habe<br />
ihn erlebt wie alle anderen im Saal. Damit meine ich,<br />
ich war gar nicht damit beschäftigt, an den Prozess zu<br />
denken oder mir bei meiner Arbeit zuzuschauen. Ich<br />
war völlig von dem Film vereinnahmt.<br />
TYKWER: Aber ist es denn nicht so, dass man als<br />
Schauspieler beim ersten Sehen immer zunächst vor<br />
allem auf sich selbst achtet?<br />
<strong>BERRY</strong>: Das ist so ein Klischee, und vielleicht stimmt<br />
es, aber ich kam irgendwie gar nicht dazu. Einerseits<br />
natürlich, weil es ja auch längere Strecken ohne mich<br />
gibt, aber vor allem, weil ich so verstrickt war mit allen<br />
Figuren. Weil ich während der Dreharbeiten von<br />
der Entstehung mancher Episoden auch nur sehr wenig<br />
mitbekommen hatte. Weil ich nicht geahnt habe,<br />
wie irrwitzig und wirklich lustig die Geschichte von<br />
Cavendish, dem Verleger, ist. Oder wie tragisch die<br />
von Frobisher, dem Komponisten. Oder wie spektakulär<br />
die Befreiung von Sonmi-451 inszeniert wurde.<br />
Und wie unglaublich gut alle Kollegen spielten, allein<br />
deshalb hab ich nicht viel über mich selbst nachgedacht.<br />
Und weil ich nicht erwartet habe, dass der<br />
Film mich so ergreifen würde. Ich war fix und fertig<br />
danach. Wir haben bis drei Uhr morgens im Hotelzimmer<br />
gesessen und geredet und geredet. Ich konnte<br />
nicht aufhören, obwohl ich am nächsten Morgen<br />
gleich früh zur Pressekonferenz musste. Entsprechend<br />
verstrahlt hab ich dann auch dagesessen, aber<br />
das war mir egal.<br />
TYKWER: Du hast auf mich einen tipptoppen Eindruck<br />
gemacht bei der Pressekonferenz.<br />
<strong>BERRY</strong>: (lacht) Na klar, es ist ja mein Job, eine gute<br />
Show zu bereiten, vor allem für dich.<br />
Styling MARYAM MALAKPOUR/CLM<br />
Haare NEEKO ABRIOL<br />
Make-up KARA YOSHIMOTO BUA<br />
Maniküre ASHLIE JOHNSON/THE WALL GROUP<br />
Digital Operator GRAY HAMNER/MILK STUDIOS<br />
Foto-Assistenz JAVIER VILLEGAS, GUY LOWNDES<br />
Styling-Assistenz CATLIN MEYERS, BEAU BARELA<br />
Retusche OUTPUT<br />
Produktion SYLVIA FARAGO<br />
Produktion vor Ort WES OLSON/<br />
CONNECT THE DOTS,<br />
MEGHAN GALLAGHER/<br />
CONNECT THE DOTS<br />
Dank an MIAUHAUS L.A.
Fotos<br />
mert AlAs & mArcus piggott<br />
kArl templer<br />
styling
diese seite:<br />
mantel<br />
j. w. Anderson<br />
sonnenbrille<br />
generAl eyeweAr<br />
schuhe<br />
céline<br />
linke seite:<br />
kleid<br />
dAvid komA<br />
ohrringe<br />
givenchy by<br />
riccArdo tisci<br />
kette<br />
lynn bAn
diese seite:<br />
cape<br />
(spezialanfertigung)<br />
nicole miller<br />
Artelier<br />
rock & ärmel<br />
urstAdt swAn<br />
ohrringe<br />
givenchy by<br />
riccArdo tisci<br />
kette<br />
(von new york vintage)<br />
pierre cArdin<br />
ring<br />
lynn bAn<br />
linke seite:<br />
mantel & kleid<br />
fendi<br />
hut<br />
new york<br />
vintage<br />
kette<br />
vivekA bergström
diese seite:<br />
kleid<br />
hAkAAn<br />
visor<br />
AlexAnder mcqueen<br />
ohrringe<br />
givenchy by<br />
riccArdo tisci<br />
linke seite:<br />
kleid<br />
louis vuitton<br />
ohrringe<br />
givenchy by<br />
riccArdo tisci<br />
kette & armbänder<br />
kArry’o<br />
ärmel<br />
urstAdt swAn
diese seite:<br />
kleid<br />
miu miu<br />
ohrringe<br />
givenchy by<br />
riccArdo tisci<br />
rechte seite:<br />
mantel, kleid & top<br />
prAdA<br />
sonnenbrille<br />
(von general eyewear)<br />
ostrAnder<br />
ärmel<br />
urstAdt swAn<br />
ring<br />
lynn bAn
diese seite:<br />
cape & kapuze<br />
fAnnie schiAvoni<br />
kleid<br />
mArc jAcobs<br />
rechte seite:<br />
kleid, visor & gürtel<br />
AlexAnder mcqueen<br />
schuhe<br />
chAdo rAlph rucci<br />
Photographer<br />
Mert alas &<br />
Marcus Piggott/<br />
art PartNer<br />
Hair garreN For<br />
garreN NeW YorK<br />
Make-up lucia PieroNi<br />
For clé de Peau<br />
Beauté/streeters<br />
Manicure aNatole raiNeY/<br />
PreMier Hair aNd MaKeuP<br />
Models Frida gustaVssoN/<br />
iMg, NiMue sMit/NeXt<br />
casting MicHelle lee/Kcd, iNc.<br />
set design JacKi castelli<br />
Production lalalaNd<br />
digital imaging aNtoNio PiZZicHiNo/<br />
dtoucH NY<br />
stylist assistants eliN sVaHN,<br />
Jessica MYcocK, ellie caMPagNa<br />
Hair assistant FraNcis cataNese<br />
Make-up assistants lYNseY aleXaNder, daNiel Kolaric<br />
special thanks BlacK islaNd studios
Kreayshawn<br />
erst rappte sie, dass „Basic<br />
BitcHes” Gucci traGeN,<br />
daFür wäHNte MaN sie Bereits<br />
NewcOMeriN des jaHres Bei MtV.<br />
daNN wartete die welt jedOcH Fast<br />
Zwei jaHre auF das deBütalBuM der<br />
rapperiN. dOcH diese ZOG erst Mal aM<br />
jOiNt uNd traNK NOcH eiN Glas MilcH<br />
VON<br />
BONApArte<br />
FOtOs<br />
MAttHiAs VrieNs-McGrAtH<br />
styliNG<br />
seAN KNiGHt<br />
92<br />
Kleid & Gürtel<br />
tHe BlONds Ny<br />
sHirt<br />
BluMAriNe<br />
OHrriNGe<br />
dOlce & GABBANA<br />
Kette, MaNscHette & riNG<br />
tOM BiNNs<br />
wasserFlascHeNHalter & Kette<br />
(iN die Haare GeFlOcHteN)<br />
cHANel ViNtaGe<br />
GeseHeN Bei<br />
decAdes lOs ANGeles
Es war 2011, als Natassia Gail Zolot alias Kreayshawn<br />
zu einem Internet-Hit wurde. In dem Video Gucci<br />
Gucci lief sie samt pink glitzernden Minnie-Maus-<br />
Ohren und anderen unverzichtbaren Uten silien<br />
durch L. A., rappte angenehm ironiefrei davon, dass<br />
ihr die großen Modehäuser zu durchschnittlich seien,<br />
und drehte dabei auf ganz entzückende Weise ihre<br />
stechenden Zeigefinger in die Luft. Es dauerte etwa<br />
drei Millionen Klicks, bis sich Sony die ausgiebig<br />
tätowierte Tochter einer Punksängerin schnappte.<br />
Nachdem die 23-Jährige durch Europa getourt war<br />
und ein Video für die Red Hot Chili Peppers gedreht<br />
hatte, das dann aber nie veröffentlicht wurde, erschien<br />
ihr Albumdebüt, an dem unter anderem Diplo<br />
und Kid Cudi mitwirkten. Und da der Sänger der<br />
Band Bonaparte sich bestens mit ausgefallenen Kostümen,<br />
Punkbands und dem Musikbusiness im Allgemeinen<br />
auskennt, baten wir ihn, in L. A. anzurufen.<br />
Monsieur Bonaparte: Guten Tag, hier spricht<br />
Monsieur Bonaparte.<br />
Kreayshawn: Na, wie geht’s?<br />
Bonaparte: Gut! Ich bin gespannt, wie das hier<br />
wird. Ich weiß ja erst seit gestern, dass wir miteinander<br />
sprechen werden. Ich konnte leider in der Zeit<br />
nur ein paar deiner Lieder hören, die meisten sind<br />
auf YouTube bei uns in Deutschland von der Gema<br />
gesperrt worden. Oder deine Plattenfirma hat sie<br />
sperren lassen.<br />
Kreayshawn: Ja, ich konnte auch nur ein paar Sachen<br />
von dir hören.<br />
Bonaparte: Ah, aber du hast dir was angehört?<br />
Kreayshawn: Ja, ein paar Videos. Die fand ich<br />
ziemlich geil.<br />
Bonaparte: Cool, ich hab deine Songs gehört, die<br />
du mit Alex gemacht hast, weißt du? Boys Noize?<br />
Kreayshawn: Ja, klar.<br />
Bonaparte: Wir waren ein paar Jahre Nachbarn, er<br />
ist aber gerade ausgezogen. Habt ihr beide persönlich<br />
zusammengearbeitet?<br />
Kreayshawn: Ja, er kam ein paar Mal zu uns ins<br />
Studio.<br />
Bonaparte: Nach Los Angeles?<br />
Kreayshawn: Ja.<br />
Bonaparte: Cool. Die Verbindung ist mal mehr,<br />
mal weniger gut. Manchmal bist du weg.<br />
Kreayshawn: Hallo? Ja, keine Ahnung.<br />
Bonaparte: Egal, wie geht’s dir?<br />
Kreayshawn: Mir geht es gut. Was hast du heute so<br />
gemacht?<br />
Bonaparte: Ich liege im Bett, denn wir hatten heute<br />
einen Dreh für das Fernsehen, so eine Art Wohnzimmerkonzert.<br />
Kreayshawn: Wirklich? Das hört sich wahnsinnig<br />
an. Du bist in einem Wohnzimmer von fremden<br />
Menschen aufgetreten?<br />
Bonaparte: Ja, und sie hatten da so einen Globus,<br />
der eigentlich eine Bar war, also da waren Schnapsflaschen<br />
drin. Und das schon am Nachmittag.<br />
Kreayshawn: Wussten die, dass ihr kommt?<br />
Bonaparte: Ja, und sie haben auch Freunde eingeladen.<br />
Aber irgendwann stellte sich heraus, dass die<br />
dort gar nicht wirklich wohnen, sondern die haben<br />
einfach eine Wohnung von anderen Leuten geliehen.<br />
Hey, ich habe gelesen, dass du mal einen pinkfarbenen<br />
Mustang hattest. Stimmt das?<br />
Kreayshawn: Ja!<br />
Bonaparte: Hast du den noch?<br />
Kreayshawn: Nein, leider. Er ist irgendwann kaputtgegangen,<br />
und ich habe ihn dann für ungefähr<br />
40 Dollar verkauft.<br />
94<br />
“<br />
Der Mond beeinflusst<br />
die Meere, und unsere Körper<br />
bestehen auch zu<br />
90 Prozent aus Wasser<br />
”<br />
95<br />
korsett & helm<br />
mit pferdeschwanz<br />
the blonds ny<br />
höschen<br />
AmericAn AppArel<br />
schuhe<br />
isAbel mArAnt<br />
ring & manschette<br />
tom binns<br />
schuhe (an ihm)<br />
pumA
onApArte: Oh, das ist schade. Ich habe nämlich<br />
auch ein Auto aus den 60ern. Es sieht aus wie ein<br />
kleiner Rennwagen.<br />
kreAyshAwn: Ja? Was ist das für ein Auto?<br />
bonApArte: Ein alter Fiat von 1969. Ein italienischer<br />
Wagen, die sind super, weil sie sehr einfach zu<br />
reparieren sind.<br />
kreAyshAwn: Ah, das habe ich schon mal gehört.<br />
Sag mal, wann hast du Geburtstag?<br />
bonApArte: Geburtstag? Interessierst du dich etwa<br />
für Sternzeichen und willst jetzt rausbekommen, was<br />
für ein Typ ich bin?<br />
kreAyshAwn: Ja, ganz genau!<br />
bonApArte: Ich bin am 20. Oktober geboren.<br />
kreAyshAwn: Ah, dann bist du Waage? Ich auch!<br />
bonApArte: Wirklich?<br />
kreAyshAwn: Ja, ich bin am 24. September geboren!<br />
Wir haben das allerbeste Sternzeichen.<br />
bonApArte: Meinst du? Ich weiß nicht, es gibt ja<br />
eine Menge Leute, die meinen, daraus irgendwas<br />
he rauslesen zu können, ich habe das nie so richtig<br />
nachvollziehen können.<br />
kreAyshAwn: Ja, das verstehe ich. Aber ich sage dir,<br />
wir Waagen sind oft künstlerisch begabt und superkreativ.<br />
Wir arbeiten immer an etwas, uns fehlt es<br />
nicht an Inspiration, wir können einen Abfluss betrachten<br />
und irgendeine Idee daraus erspinnen. Weil<br />
wir immer voller Gedanken sind, immer voller Inspiration.<br />
bonApArte: Okay, das könnte vielleicht zutreffen.<br />
kreAyshAwn: Und wir sind recht streitlustig, oder<br />
zumindest scheint es so. Aber gleichzeitig versuchen<br />
wir, Situationen immer zu entschärfen.<br />
bonApArte: Na ja, das ist in diesem Gespräch bisher<br />
ja nicht so.<br />
kreAyshAwn: Waagen sind sehr diplomatisch.<br />
Wenn ein Freund ein Problem hat, sind Waagen die<br />
besten Gesprächspartner überhaupt. Wir sind gute<br />
Berater in allen Situationen, weil wir alles von beiden<br />
Seiten her betrachten können. Waagen haben die<br />
Gabe, sich in andere Menschen hineinversetzen zu<br />
können. Deswegen sind wir wirklich das beste Sternzeichen,<br />
glaub mir.<br />
bonApArte: (lacht) Ja, das hört sich immer ganz<br />
plausibel an, wenn man diese Charakterisierung so<br />
hört. Aber es fällt mir schwer, Menschen nur aufgrund<br />
ihres Geburtstages auf ihre Eigenschaften<br />
festzunageln. Man spricht jemandem damit ja oft<br />
auch Qualitäten ab. Aber das Lustige ist, es funktioniert<br />
immer. Man entdeckt immer einen Funken<br />
Wahrheit darin.<br />
kreAyshAwn: Eben. Ich mein, schau mal, die Planeten<br />
bewegen sich um die Erde, die verschiedenen<br />
Sternenbilder am Himmel, die immer wieder wechseln.<br />
Und der Mond beeinflusst die Meere, das ist<br />
doch alles sehr kraftvoll. Und unsere Körper bestehen<br />
auch zu 90 Prozent aus Wasser! Okay, ich gebe<br />
zu, das ist jetzt wirklich ganz schöner Hippiescheiß.<br />
bonApArte: (lacht) Na gut, die Sache mit dem Wasser<br />
könnte vielleicht stimmen. Wir sind ja beide auch<br />
Musiker, also könnte an der Kreativität von Waagen<br />
auch etwas dran sein. Wie geht es dir eigent lich so<br />
mit all den <strong>Interview</strong>s? Ich denke mir immer Geschichten<br />
aus, wenn ich allzu blöde Fragen gestellt<br />
bekomme. Gibt es Fragen, die du nicht mehr hören<br />
kannst?<br />
kreAyshAwn: Vielleicht die Frage danach, wie ich<br />
angefangen habe, Musik zu machen. Oder: „Oh, du<br />
kommst aus Kalifornien, wie ist das so?“ Ich meine,<br />
das ist doch eine komische Frage. Was soll ich denn<br />
da antworten? Ich weiß nicht, ich lebe schon mein<br />
„AnstAtt dAss<br />
mAn von mir Als<br />
musikerin spricht,<br />
nennt mAn<br />
mich eine weisse<br />
rApperin, die<br />
Auf frAuen steht.<br />
dAbei bin ich<br />
doch noch nicht<br />
mAl eine lesbe!”<br />
96<br />
ganzes Leben in Kalifornien und habe auch genauso<br />
lange mit Musik zu tun. Es ist schwer, eine gute Antwort<br />
zu geben, wenn die Frage schon so langweilig<br />
ist. Und bei dir?<br />
bonApArte: Ich werde immer wieder gefragt, warum<br />
meine Band Bonaparte heißt. Lustig ist doch,<br />
dass man selten nach der Musik gefragt wird. Ständig<br />
geht es um die Show, die Kostüme oder Sachen, die<br />
man mal gesagt oder getan hat. Dabei sind die Songs<br />
doch das Zentrum von allem. Ohne Songs keine<br />
Konzerte. Seit Jahren hat keiner mehr mit mir in<br />
Inter views über Musik gesprochen.<br />
kreAyshAwn: Das ist verrückt.<br />
bonApArte: Ja, aber jetzt rede ich gerade mit dir<br />
und muss zugeben, dass ich nicht weiß, wie dein<br />
Name ausgesprochen wird. Erst dachte ich, so wie<br />
creation.<br />
kreAyshAwn: Ja, klar. Daher kommt der Name.<br />
Aber die Betonung liegt auch auf „Shawn“.<br />
bonApArte: Okay. Danke. Und als ich mich im<br />
Inter net für das <strong>Interview</strong> vorbereiten wollte, bin ich<br />
vor allem auf ein paar nebensächliche Videos gestoßen,<br />
viele Fotos, aber nichts, wo ich wirklich viel<br />
über dich und deine Musik erfahren hätte. Also bin<br />
ich fast geneigt, dich auch zu fragen, wie du eigentlich<br />
zu der Musik gekommen bist.<br />
kreAyshAwn: (lacht) Ach, deswegen.<br />
bonApArte: Ich habe insgesamt mehr über deine<br />
Vorliebe für Milch und Marihuana gefunden.<br />
kreAyshAwn: Die Leute lieben eben Drama, das<br />
Drumherum und die Show. Mehr als alles andere.<br />
Einmal habe ich ein <strong>Interview</strong> gegeben, bei dem<br />
mich die Journalistin einen ganzen Tag begleitet hat.<br />
Ich habe sie mit zu dem Haus genommen, wo ich als<br />
Kind gewohnt habe, sie hat Leute kennengelernt, mit<br />
denen ich aufgewachsen bin.<br />
bonApArte: Das ist aber ziemlich persönlich.<br />
kreAyshAwn: Ja, und anstatt über das zu schreiben,<br />
was sie erlebt und gesehen hat, ging es in dem Artikel<br />
vor allem um Schwachsinn. Ich hätte die ganze Zeit<br />
über Scheiße, also über echte Kacke, gesprochen,<br />
hieß es. Sie hat darüber geschrieben, wie ich aufs Klo<br />
gehe, und nicht darüber, wie meine Nachbarschaft so<br />
ist. Ich glaube ja, dass die Leute an echten Sachen interessiert<br />
sind und nicht an Kacke.<br />
bonApArte: Da hätten sie doch was über die Person,<br />
die hinter Kreayshawn steckt, erfahren können! Aber<br />
warum ist das so? Warum interessiert die Leute die<br />
Verpackung mehr als der Inhalt?<br />
kreAyshAwn: Ich glaube, die ganze Industrie funktioniert<br />
so. Wenn du erst mal angefangen hast, <strong>Interview</strong>s<br />
zu geben, und die Leute im Internet schreiben,<br />
was sie über dich denken, hört es mehr und mehr auf,<br />
um deine Musik zu gehen. Es geht ums Image. Ich<br />
bin nicht der Typ dafür, man wird verkürzt dargestellt,<br />
und zum Schluss bist du eben die Verrückte,<br />
oder du gehst zum Schönheitschirurgen. Am liebsten<br />
würde ich manchmal das Gegenteil machen, mir den<br />
Kopf rasieren oder so.<br />
bonApArte: Das verstehe ich. Was ist denn die Frage,<br />
die dir bisher noch keiner gestellt hat?<br />
kreAyshAwn: Ich weiß nicht, da fällt mir so schnell<br />
nicht die eine Frage ein. Aber ständig werde ich gefragt,<br />
ob ich lesbisch bin oder auf Typen stehe, und<br />
langsam habe ich wirklich das Gefühl, dass ich jede<br />
einzelne Frage auf der ganzen Welt bereits beantwortet<br />
habe.<br />
bonApArte: Entschuldige, aber über diese Frage<br />
habe ich ebenso nachgedacht. Denn in Zusammenhang<br />
mit deinem Namen liest man oft: „Gelegenheitslesbe“<br />
… Ist das das genaue Wort?<br />
tunika<br />
jeAn pAul gAultier<br />
shorts<br />
pumA<br />
ring & manschette<br />
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gliederarmband & ketten<br />
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zierkamm<br />
yves sAint lAurent<br />
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gesehen bei<br />
decAdes los Angeles<br />
schuhe<br />
ruthie dAvis
KReAYSHAWN: Ja, Gelegenheitslesbe (lacht).<br />
BONAPARTe: Was bedeutet denn das? Wir haben<br />
Gays und Heteros in der Band, aber es redet keiner<br />
darüber. Seit wann bloß, wird die sexuelle Orientierung<br />
als Verkaufe genutzt?<br />
KReAYSHAWN: Keine Ahnung.<br />
BONAPARTe: Ich weiß nicht, wie es in den USA ist,<br />
aber ob du hier ein weißer oder ein schwarzer Rapper,<br />
eine Rapperin oder ein Mann bist, das macht<br />
nicht wirklich einen großen Unterschied.<br />
KReAYSHAWN: Ich glaube, bei uns ist es anders. So<br />
wie ich vorhin meinte, man kategorisiert dich. Es<br />
geht nicht darum, dass du ein Rapper bist. Erst heißt<br />
es ein weiblicher Rapper, dann eine weiße Rapperin<br />
und dann: oh, eine weiße, lesbische Rapperin! So etwas<br />
ist der Grund dafür, dass es immer weniger um<br />
die Musik geht. Anstatt dass man von mir als Musikerin<br />
spricht, nennt man mich eine weiße Rapperin,<br />
die auf Frauen steht. Dabei bin ich doch noch nicht<br />
mal eine Lesbe!<br />
BONAPARTe: (lacht) Wusstest du, dass es in Russland<br />
ein Gesetz gibt, das dir verbietet, Homosexualität in<br />
irgendeiner Weise zu unterstützen?<br />
KReAYSHAWN: Wirklich? Eigenartig.<br />
BONAPARTe: Ja, wir hatten allerdings merkwürdigerweise<br />
bei unseren Shows bisher keine Probleme.<br />
Aber wenn man so etwas hört, macht es vielleicht<br />
doch Sinn, über sexuelle Vorlieben zu sprechen. Nicht<br />
unbedingt in deinem Fall, wenn es schlicht nicht viel<br />
zu berichten gibt.<br />
KReAYSHAWN: Ja, da hast du recht. Ich meine, es ist<br />
mir egal, ob sie jetzt sagen, ich sei lesbisch oder nicht.<br />
Ich habe keine Lust, das öffentlich zu bestreiten.<br />
Und ich unterstütze Gays. Natürlich, ich bin in San<br />
Francisco aufgewachsen, da ist doch sowieso alles<br />
bunt durcheinandergemischt. Ich definiere mich über<br />
nichts als über mich selbst – Kreayshawn.<br />
BONAPARTe: Yeah!<br />
KReAYSHAWN: Es ist unglaublich, dass sich überhaupt<br />
jemand dafür interessiert, welche Hautfarbe<br />
oder Geschlecht du hast. Ich meine, es gibt sicher<br />
Orte in den USA, an denen das ein Thema ist, aber<br />
definitiv gehört es nicht zu meinem …<br />
KReAYSHAWNS AGeNTiN: Okay! Sorry, Leute, tut<br />
mir leid, wenn ich hier unterbreche, aber ihr müsst<br />
jetzt langsam fertig werden.<br />
BONAPARTe: Oh, jetzt schon?<br />
KReAYSHAWN: Ja, ich glaube, wir müssen jetzt aufhören.<br />
BONAPARTe: Oh, okay. Was hast du heute noch vor?<br />
KReAYSHAWN: Ich fahre gleich nach Little Tokyo,<br />
das ist so ein Viertel in Los Angeles, wo es lauter japanische<br />
Geschäfte gibt.<br />
BONAPARTe: Ah, da sind wir durchgefahren, als wir<br />
im März durch Amerika getourt sind. Und was hast<br />
du da vor?<br />
KReAYSHAWN: Ach, ich will in den Handyshop und<br />
mein Telefon ein wenig aufrüsten (kichert). Schlaf gut.<br />
Somethin ’bout kreay VON KReAYSHAWN<br />
eRSCHeiNT Bei SONY MUSiC<br />
Haare JOHN RUGGieRO/STARWORKS ARTiSTS<br />
MiT PRODUKTeN VON BUMBLe AND BUMBLe<br />
Make-up SAMUeL PAUL/JeD ROOT<br />
MiT PRODUKTeN VON ORLANe PARiS<br />
Maniküre MADeLiNe POOLe/<br />
NAiLiNG HOLLYWOOD<br />
MiT PRODUKTeN VON GiNGeR + Liz<br />
Produktion PeTeR McCLAFFeRTY<br />
Produktion vor Ort NiCK MAVAR/<br />
PeTeR McCLAFFeRTY<br />
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99<br />
shirt<br />
the cut comme<br />
des fuckdown<br />
gesehen bei ssur<br />
shorts & leggings<br />
blumArine<br />
schuhe (an beiden)<br />
pumA<br />
manschette & ring<br />
(linke hand)<br />
tom binns<br />
ohrringe & armbänder<br />
(rechte hand)<br />
privat<br />
tasche<br />
mcm
Naomi<br />
Campbell<br />
trifft<br />
jeff<br />
kooNs<br />
Foto: Craig McDean/Art + Commerce<br />
dieser Mann verkauft keine italienischen<br />
sportwagen in new Jersey.<br />
dieser Mann heisst Jeff koons und ist<br />
der popeye der aMerikanischen pop-art.<br />
seine kunst ist grell, glatt und glänzend.<br />
genau wie Jeff koons selbst<br />
linke seite: hulk elvis ii, 2007, hulk elvis, Öl auf leinwand<br />
diese seite: porträt craig Mcdean
Naomi Campbell: Ich mochte deine Ausstellung<br />
Popeye Series gerne, die du vor ein paar Jahren in<br />
London hattest.<br />
Jeff KooNs: Danke.<br />
Campbell: Wieso ausgerechnet Popeye?<br />
KooNs: Ich fühlte mich zu Popeye hingezogen. Vielleicht<br />
wegen meiner Eltern. Für diese Generation ist<br />
Popeye ein Symbol männlicher Kraft, analog zum<br />
Priapos in der griechischen Mythologie. Bei Popeye<br />
sorgt der Spinat für Stärke, in unserer Gesellschaft<br />
entspricht das der Kunst, die Transzendenz ins Leben<br />
bringt. Verstehst du, wie ich das meine? Ich mag die<br />
Parallelen, die Erhöhung der Empfindsamkeit. Kunst<br />
kann das leisten. Sie lehrt uns, zu fühlen und unsere<br />
Parameter zu justieren, sie hilft, engagierter zu leben.<br />
Campbell: Eines deiner Werke, Balloon Flower, wurde<br />
für zwölf Millionen Pfund verkauft. Ist solch ein<br />
Wert für dich ein Zeichen der Anerkennung oder rein<br />
akademischer Natur?<br />
KooNs: Ich werte das als Zeichen unserer Gesellschaft.<br />
Zumindest ein paar Menschen scheinen zu denken,<br />
dass meine Objekte diesen Preis wert und darüber<br />
hinaus im Sinne der Gesellschaft zu schützen seien –<br />
weil sie einen Wert für die Gesellschaft darstellen.<br />
Campbell: Wie exzessiv darf Kunst werden? Was<br />
treibt dich an? Deine berühmte Puppy-Skulptur, die<br />
du vor dem Guggenheim Museum in Bilbao errichtet<br />
hast, ist 13 Meter hoch. Und man braucht 25 Tonnen<br />
Erde und 70 000 Pflanzen, um sie zu erhalten.<br />
<strong>Interview</strong>-Verleger Peter Brant, der ebenfalls einen<br />
Puppy besitzt, kostet der Unterhalt der Skulptur im<br />
Jahr gerüchtweise knapp 100 000 Euro.<br />
KooNs: Damit Kunst funktioniert, muss man offen<br />
bleiben. Das gilt für jede Art der Kunst. Puppy<br />
entstand nach meiner Serie Made in Heaven. Ich beschäftigte<br />
mich eingehend mit Barock und Rokoko,<br />
irgendwann entdeckte ich diese gigantischen Blumen-<br />
Arrangements, die man im Norden Italiens und im<br />
Süden Deutschlands, in Bayern, findet. Da kam ich<br />
auf die Idee, ein lebendes Kunstwerk zu schaffen, eine<br />
Skulptur, die einen eigenen Lebenszyklus beheimatet,<br />
in diesem Fall den der Pflanzen. Und das ist gar nicht<br />
so einfach. Ursprünglich wollte ich Puppy im Winter<br />
bauen. Als gigantische Skulptur aus Eis. Das wäre<br />
zwar dann sehr temperaturabhängig gewesen. Aber<br />
ich dachte, dass es einfacher sei – man kennt ja diese<br />
Skulpturen, die in den Alpen in den Skiresorts rumstehen.<br />
Einfach ein bisschen Wasser draufsprühen,<br />
fertig. Kennst du diese Skulpturen?<br />
Campbell: Ja, klar.<br />
KooNs: Puppy wäre ein riesiger Eishund geworden.<br />
Aber da sich das Klima so rasant schnell ändert …<br />
Campbell: Bepflanzt du Peter Brants Puppy jede Saison<br />
aufs Neue?<br />
KooNs: Ich habe Peter und seine Familie darin unterrichtet,<br />
wie man Puppy pflegt. Er war immer ein<br />
großer Fan der Skulptur – und als er seinen eigenen<br />
„WeNN maN es so<br />
seheN möChte,<br />
War miChael<br />
JaCKsoN die Jesusfigur<br />
uNserer Zeit.<br />
er hat deN<br />
meNsCheN<br />
vergebeN uNd<br />
sie als das<br />
aNgeNommeN,<br />
Was sie siNd”<br />
Puppy kaufte, erarbeiteten wir ein Programm dafür.<br />
Ich bin mehrere Saisons vorbeigekommen und habe<br />
ihn mit Peter neu bepflanzt, alles wurde dokumentiert,<br />
und jetzt wissen sie, wie man alleine weitermacht.<br />
Eigentlich kann man auch gar nichts falsch machen.<br />
Wenn man hundert Schulkindern eine Hundezeichnung<br />
zum Ausmalen gibt: Alle sind unterschiedlich,<br />
aber alle sind auf ihre Art auch richtig.<br />
Campbell: Man kann also gar nichts falsch machen<br />
mit dem Riesenhund?<br />
KooNs: Ich sitze oft da, schaue mir irgendwelche<br />
Pläne an und stelle mir vor, ich wäre nicht involviert.<br />
Und denke dann oft: Wow, das ist toll, sie haben es<br />
fantastisch hinbekommen. Alles ist schön, wie es ist.<br />
Campbell: Ein anderes wichtiges Werk deiner Karriere<br />
ist die Skulptur Michael Jackson and Bubbles. Wie<br />
wichtig ist Humor als Schlüssel zu deiner Arbeit? Ich<br />
habe Bubbles nie getroffen …<br />
KooNs: … und ich habe Bubbles getroffen, aber nie<br />
Michael!<br />
Campbell: Den habe ich wiederum kennenlernen<br />
dürfen.<br />
KooNs: Yin und Yang, Naomi. Als ich die Skulptur<br />
anfertigte, war ich ziemlich eingeschüchtert vom<br />
überbordenden Talent, das Michael ausstrahlte. Er<br />
war so voller Energie und Leben, und das wollte ich<br />
mit der Skulptur einfangen. Genau das ist es, was ich<br />
eingangs meinte, als ich von der Erhöhung der Empfindsamkeit<br />
sprach. Das macht es leichter für Leute,<br />
sich, ihre Kultur und ihre Geschichte zu akzeptieren.<br />
Deswegen brauche ich diese spirituellen und autoritären<br />
Figuren – um den Menschen das Gefühl geben<br />
zu können, dass es okay ist. Wenn man es so sehen<br />
möchte, war Michael Jackson die Jesus-Figur unserer<br />
Zeit. Er hat den Menschen vergeben und sie als das<br />
angenommen, was sie sind.<br />
Campbell: Ich hätte nicht erwartet, dass du dich um<br />
das Wohlergehen deiner Mitmenschen so sehr sorgst.<br />
Dass du so sensibel ihnen gegenüber bist. Es ist schön,<br />
das zu hören.<br />
KooNs: Danke, Naomi. Es ist interessant: Die meisten<br />
Menschen schauen sich meine Kunst gern an und<br />
deuten sie auf eine bestimmte Weise. Wenn du mich<br />
fragst, ist sie vor allem eins: Sie kritisiert nicht, will auch<br />
nicht richten. Sie ist antikritisch. Auch wenn manch einer<br />
sie für oberflächlich hält, sie als Kitsch bezeichnet.<br />
Campbell: Ein Wort, das ich nicht mag.<br />
KooNs: Ich auch nicht. Schon der Gebrauch des<br />
Wortes alleine ist ein Urteil. Sie vergessen, was für ein<br />
mächtiges Medium Kunst ist. Kunst kann berauschen.<br />
Genau wie Alkohol. Deshalb fing ich auch an, mich<br />
mit Luxus und spiegelnden Oberflächen zu beschäftigen,<br />
mir gefällt die berauschende Wirkung. Genau<br />
wie der proletarische Aspekt daran. Auch auf die Gefahr<br />
hin, dass manche Leute es als irgendein doofes<br />
Bling-Bling abschreiben.<br />
Campbell: (lacht)<br />
Fotos: vorherige linke Seite: Privatsammlung, Courtesy Gagosian Gallery © Jeff Koons; diese linke Seite (3): Jeff Koons; diese rechte Seite: Rob McKeever, Privatsammlung, Courtesy Gagosian Gallery © Jeff Koons<br />
Linke seite: BaLLoon FLower (Magenta), 1995–2000, high chroMiuM stainLess steeL with transparent coLor coating; puppy, 1992,<br />
stainLess steeL, soiL, geotextiLe FaBric, internaL irrigation systeM, and Live FLowering pLants; MichaeL Jackson and BuBBLes, 1988, porceLain<br />
diese seite: popeye train (craB), 2008, popeye, ÖL auF Leinwand. nächste doppeLseite: tripLe eLvis, 2009, oiL on canvas<br />
102<br />
103
Koons: Hey, ich komme aus Pennsylvania. Mir geht<br />
es um Attraktion. Nicht viele Menschen in dieser Gegend<br />
haben eine Gartenkugel im Vorgarten liegen.<br />
Aus reflektierendem Glas!<br />
Campbell: Das haben wir in London auch nicht.<br />
Koons: Aber es gab sie im 19. Jahrhundert in<br />
Deutschland und Österreich. König Ludwig II. von<br />
Bayern setzte sich sehr für die Gartenkugeln ein.<br />
Einfach nur, um seinen Nachbarn einen schönen<br />
Anblick zu bieten.<br />
Campbell: Wirklich?<br />
Koons: So hörte ich.<br />
Campbell: Du hast in Chicago studiert. An derselben<br />
Schule wie Walt Disney und Orson Welles. Hast<br />
du auch einen Mann namens Barack Obama in der<br />
windy city getroffen?<br />
Koons: Nein, ich war ja nur mein letztes Schuljahr<br />
wirklich dort. Davor habe ich in Baltimore studiert.<br />
Dann bin ich nach Chicago gegangen, weil ich von<br />
Künstlern wie Ed Paschke und Jim Knott etwas über<br />
Ikonografie lernen wollte. Sie brachten mir bei, wie<br />
man fühlt und wie man andere Leute dazu bringt,<br />
etwas zu fühlen. Das ganze Vokabular. In Paschkes<br />
Bildern ist alles so unterschwellig angelegt wie<br />
antiquity 1, 2011, oil on Canvas<br />
bei den alten Meistern. Er entfernt nur später die<br />
Farbe, um dieses Flackern des Lichtes zu erzeugen.<br />
Jim Knotts Arbeiten beziehen sich mehr auf den<br />
dadais tischen Surrealismus. Eigentlich verhält es<br />
sich ähnlich wie bei Pop, wobei es sich mehr auf die<br />
persönliche Ikonografie bezieht und Pop mehr auf<br />
Objekten basiert. Irgendwann habe ich mich jedoch<br />
in Chicago gelangweilt und beschlossen, nach New<br />
York zu ziehen.<br />
Campbell: Dort hast du erst einmal als commodity<br />
trader an der Wall Street gearbeitet. Ist Kunst eine<br />
gute commodity?<br />
Koons: Ich bevorzuge die Vorstellung, dass Kunst<br />
eine Erfahrung ist. Sie ist sehr bedeutungsvoll, codiert,<br />
voller Informationen, wie das Internet oder<br />
eine Bibliothek. Sie hilft uns, lebendig zu bleiben.<br />
Deshalb finde ich es sehr schade, wenn der wirtschaftliche<br />
Aspekt zu sehr in den Mittelpunkt gerückt<br />
wird.<br />
Campbell: Dabei hast du schon als Kind deine gemalten<br />
Werke im Laden deines Vaters verkauft.<br />
Koons: Das stimmt. Er war Dekorateur und hatte<br />
einen Laden für Inneneinrichtung in Pennsylvania.<br />
Er war es, der meine ersten Bilder rahmte und im<br />
106<br />
Schaufenster ausstellte. Da war ich gerade mal neun<br />
Jahre alt.<br />
Campbell: Weißt du noch, für wie viel er dein erstes<br />
Bild verkauft hat?<br />
Koons: Ich glaube, es waren 900 Dollar.<br />
Campbell: Wow! 900 Dollar sind viel für einen<br />
Neunjährigen!<br />
Koons: Vielleicht waren es auch nur 300, aber ich<br />
denke, es waren 900.<br />
Campbell: Was hast du dir von dem Geld gekauft?<br />
Einen Popeye?<br />
Koons: Wir haben ein ziemlich beschauliches Leben<br />
gelebt. Aber wenn ich etwas wirklich wollte, bekam<br />
ich es. Auch den Popeye.<br />
Campbell: Du hast wirklich sehr jung angefangen.<br />
Koons: Ja, und mein Dad hätte viel bessere Bilder<br />
ausstellen können. Aber er wollte mich unterstützen.<br />
Später, als ich nach New York ging, war es Patrick<br />
Lamnon, der mein erstes erwachsenes Kunstwerk<br />
kaufte: den Hoover Celebrity Vacuum Cleaner, den ersten<br />
Hoover, den ich überhaupt gemacht habe. Lamnon<br />
ist leider schon gestorben, aber ich erinnere mich<br />
noch genau, wie er in mein Studio kam. Er sagte:<br />
„Weißt du, Jeff, als ich angefangen habe, ging ich von<br />
Tür zu Tür und habe Staubsauger verkauft.“<br />
Campbell: Er konnte deine Kunst mit seiner eigenen<br />
Erfahrung aufladen.<br />
Koons: Genau wie ich, schließlich habe ich auch damit<br />
gesaugt. Zudem mag ich die Reverenz, dass die<br />
reisenden Handelsvertreter eigentlich an der Frontlinie<br />
unserer Kultur arbeiten. Ich habe ebenfalls Dinge<br />
von Tür zu Tür verkauft.<br />
Campbell: Wirklich?<br />
Koons: Ja, als Kind bin ich durch die Viertel gezogen,<br />
um Geschenkpapier, Schleifchen und Schokolade<br />
zu verkaufen. Meine Eltern fuhren mich extra in<br />
andere Vororte und warteten dann am Auto, bis ich<br />
alles verkauft hatte. Ich habe es geliebt: an eine fremde<br />
Tür zu klopfen, ohne zu ahnen, wer gleich aufmacht<br />
– eine tolle Erfahrung. Man wusste ja nie, was<br />
kommt: Ist der Mensch attraktiv? Ist er freundlich?<br />
Oder schlampig? Bittet er dich rein? Oder ist das Sofa<br />
mit Plastikfolie überzogen?<br />
Campbell: Und du hast dein eigenes Geld verdient.<br />
Koons: Ja, und noch mehr gelernt. Über Produkte,<br />
über das Verkaufen an sich. Über mich und mein<br />
Selbstvertrauen. Und vor allem über Menschen und<br />
ihre Bedürfnisse. Davon profitiere ich noch heute.<br />
Campbell: Du hast oft gesagt, Salvador Dalí habe<br />
großen Einfluss auf deine Arbeit gehabt. Was inspiriert<br />
dich am meisten? Die Formen, die Farben oder<br />
allgemein die surrealistische Natur seines Werkes?<br />
Koons: Die surrealistische Natur. Dalí war der erste<br />
Künstler, den ich als Kind für mich entdeckte, der mir<br />
auf der Reise zu mir selbst beibrachte, was Kunst ist<br />
und was Kunst sein kann.<br />
Campbell: Wie hast du ihn entdeckt?<br />
Koons: Meine Eltern kauften mir ein großes Coffee-Table-Book,<br />
eine Werkschau. Und als ich 17 war,<br />
rief ich ihn an und fragte, ob ich ihn treffen dürfe.<br />
Er willigte sofort ein. Daraufhin besuchte ich ihn in<br />
seinem Hotel in New York, wir redeten über Kunst,<br />
er nahm mich mit in seine Ausstellung, erklärte mir<br />
die Bilder und posierte für Fotos. Salvador war ungemein<br />
großzügig.<br />
Campbell: Wow, das hat sicher großen Eindruck auf<br />
dich gemacht.<br />
Koons: Ja, ein Kid aus Baltimore, das den großen<br />
Dalí treffen darf! Dalí war so innovativ. Viel von dem,<br />
was später Pop-Art ausmachte, basiert auf seiner Arbeit.<br />
Die Idee, dass Maschinen Kunst fertigen, hatte<br />
Fotos: vorherige Doppelseite: ©Jeff Koons; diese linke Seite: © Jeff Koons; diese rechte Seite: Privatsammlung, Courtesy Gagosian Gallery © Jeff Koons<br />
monkey train, 2007, hulk elvis,<br />
Öl auf leinwand<br />
„Bei PoPeye sorgt<br />
der sPinat für<br />
stärke, in unserer<br />
gesellschaft<br />
entsPricht das<br />
der kunst, die<br />
transzendenz ins<br />
leBen Bringt.<br />
kunst lehrt uns<br />
zu fühlen,<br />
sie hilft,<br />
engagierter zu<br />
leBen”<br />
107<br />
er 1958. Und als der Papst nach New York kam, nahm<br />
er ein Foto, das er in einer Zeitung gefunden hatte,<br />
vergrößerte es und malte Maria und ihr Kind in sein<br />
Ohr. Heute kann man das Bild in der Sammlung des<br />
Mets bewundern … Dalí experimentierte gerne, er las<br />
Wissenschaftszeitungen, interessierte sich für Illusionen<br />
und Mathematik.<br />
camPBell: Starb Dalí eigentlich in Amerika?<br />
koons: Nein, er verbrachte hier eine gewisse Zeit.<br />
Gestorben ist er in Spanien, in seinem Haus, soviel<br />
ich weiß …<br />
camPBell: Ich liebe dieses Haus. Mit den Eiern auf<br />
dem Dach.<br />
koons: Hast du auch den Garten gesehen? Und den<br />
Glaspavillon?<br />
camPBell: Nein, leider nicht. Ich hatte nicht genug<br />
Zeit. Wir standen nur davor. Mehr ging nicht, da wir<br />
eigentlich eine Titelgeschichte für Sports Illustrated<br />
schießen mussten.<br />
koons: Die Leute der Dalí Foundation erzählten<br />
mir, dass das Haus ohne Strom war, als Dalí einzog.<br />
camPBell: Ich habe gelesen, dass er viele Bilder von<br />
seinen Assistenten hat malen lassen. Du hast ja auch<br />
eine eigene Factory, um Dinge schneller umsetzen zu<br />
können.<br />
koons: Es ist aber nicht so, dass andere malen und<br />
ich nur vorbeikomme und unterschreibe. Es dauert<br />
einfach immens lange, ein großes Bild zu malen.<br />
Ich schaffe zwischen sechs und acht Bilder pro Jahr.<br />
Gleichzeitig arbeite ich an anderen Dingen, Skulpturen,<br />
Projekten. Ich könnte auch den ganzen Tag<br />
nur malen. Letztendlich geht es darum, ein System<br />
zu kontrollieren, in dem Dinge entstehen, die in ihrer<br />
Absolutheit so sind, als hätte ich sie selbst gemacht.<br />
camPBell: Eine ähnliche Arbeitsweise wie die von<br />
Andy Warhol. Hat er dich inspiriert?<br />
koons: Alles inspiriert, die ganze Welt um einen<br />
herum. Ed Paschke sagte damals in Chicago immer:<br />
„Junge, alles ist schon da, alles liegt ausgebreitet vor<br />
dir. Du musst es nur sehen.“<br />
camPBell: Deine Partnerin ist ebenfalls Künstlerin.<br />
Arbeitet ihr oft zusammen oder ist es besser, die Kreativität<br />
unabhängig voneinander auszuleben?<br />
koons: Unser ganzes Leben ist ein Zusammenspiel.<br />
Wir haben vor fünf Wochen unser sechstes Kind bekommen.<br />
camPBell: Oh mein Gott! Meine Glückwünsche!<br />
Das ist auch eine Form der Kunst!<br />
koons: Ja, ist es. Wir haben anfangs zusammen<br />
Schmuck designt, mittlerweile ist sie jedoch vor allem<br />
mit der Familie beschäftigt.<br />
camPBell: Haben die Kinder eine künstlerische Begabung?<br />
Hast du sie schon an deine Farbtöpfe gelassen?<br />
koons: Meine Tochter scheint sich eher für dein<br />
Metier zu interessieren. Sie ist sehr weiblich. Ihr<br />
Lieblingsbuch ist Shoe-La-La.<br />
camPBell: Ich kenne das Buch.<br />
koons: Ja? Es geht um ein junges Mädchen, das<br />
Schuhe und Shopping liebt. Genau wie meine Tochter.<br />
Sie kommt immer zu mir und zeigt mir irgendwelche<br />
Klamotten, die sie in Katalogen sieht. Daraus<br />
soll ich ihr dann vorlesen (lacht). Nein, meine Kinder<br />
sind sehr typische Kinder. Sie lieben die Familie, das<br />
Mädchen geht ins Ballett, die Jungs spielen Fußball.<br />
camPBell: Jeff, wer versteht Kunst eigentlich besser:<br />
Amerikaner oder Europäer?<br />
koons: Ach, Naomi, das ist …<br />
camPBell: … eine schwierige Frage, ich weiß.<br />
koons: Die Antwort fängt mit einer Gegenfrage an:<br />
Wie versteht der Mensch? Eine Spielart des Verstehens<br />
ist bewusstes Verstehen. Und im bewussten Verstehen<br />
von Kunst sind Europäer wahrscheinlich besser.<br />
Aber es gibt so viele Arten, Dinge zu verstehen,<br />
einzuordnen, zu fühlen … Was man mit Sicherheit jedoch<br />
festhalten kann, ist, dass Europa und Kunst eine<br />
gemeinsame Vergangenheit haben. Kunst wurde als<br />
politische Kraft benutzt, teilweise auch missbraucht.<br />
Beispielsweise von der Kirche.<br />
camPBell: Aber Kunst wird in Europa auch institutionell<br />
geehrt – du wurdest 2002 in die französische<br />
Ehrenlegion aufgenommen.<br />
koons: Ja, ich besitze einen Verdienstorden.<br />
camPBell: Ebenso wie Paul McCartney und David<br />
Bowie.<br />
koons: Ich verehre David Bowie wie kaum einen<br />
anderen Künstler des 20. Jahrhunderts. Er ist eine<br />
Gottheit, er ist Apollo. Und Paul McCartney, herrje,<br />
ich kann mich noch an den Auftritt der Beatles in<br />
der Ed Sullivan Show erinnern. Später, mit 16, hörte<br />
ich dann eher Led Zeppelin, Jimmy Page und Robert<br />
Plant. Damals träumte ich davon, ein interessantes<br />
Leben zu leben. Ich fuhr mit dem Auto durch die<br />
Gegend, hörte ihre Musik und malte mir die Zukunft<br />
aus. Als ich Robert Plant vor einem Jahr zum ersten<br />
Mal traf, sagte ich ihm, dass er mir beigebracht hat,<br />
zu fühlen. Heute kann man Musik gar nicht mehr so<br />
laut hören wie damals. Schon gar nicht in meinem<br />
Studio.<br />
camPBell: Weil heute alle ihre weißen Kopfhörer<br />
aufhaben?<br />
koons: Ja. Früher habe ich selber welche getragen,<br />
aber heute nervt mich das. Weil ich wissen und mitkriegen<br />
will, was um mich herum geschieht.<br />
camPBell: Deine Kunst ist sehr kostspielig. Die<br />
Celebration-Serie hat dich an den Rand des Bankrotts<br />
geführt. Was ist der größte Luxus, den du dir leistest,<br />
abgesehen von deiner Kunst?<br />
koons: Die Möglichkeit, Dinge einfach zu machen,<br />
sie einfach umzusetzen. Das gilt sowohl für<br />
die Kunst als auch für mein Leben. Meine Familie<br />
und ich besitzen eine Farm in Pennsylvania, die ich<br />
sehr liebe. Dort können meine Kinder wirklich frei<br />
sein, sie können rumrennen, ihrer Fantasie freien<br />
Lauf lassen. Das gönne ich mir. Dafür habe ich keine<br />
Sportwagen.<br />
camPBell: Aber einen großen Geländewagen, oder?<br />
koons: Ja, das schon.<br />
der künstler und das model: naomi camPBell Besuchte<br />
im sePtemBer 2012 Jeff koons in dessen new yorker factory
Kylie<br />
Minogue<br />
Als sie geboren wurde,<br />
brAnnte sAigon, zu mAdonnA<br />
tAnzte sie in der schuldisco,<br />
Als die zwillingstürme fielen,<br />
sAng sie lAlAlA,<br />
den refrAin ihres grössten hits.<br />
in diesem jAhr feiert KYlie<br />
minogue ihr bühnenjubiläum –<br />
und wir feiern sie mit einem<br />
schnellen ritt durch ihr leben:<br />
44 jAhre, 44 frAgen<br />
von<br />
jörg hArlAn rohleder<br />
fotos<br />
williAm bAKer<br />
Foto: Copyright Darenote
„wIr fuhren<br />
an der<br />
berühMtesten<br />
schwulenbar<br />
von sydney<br />
vorüber, und<br />
eIn freund rIef:<br />
‚oh, heute Ist<br />
KylIe-nIght’”<br />
1968<br />
IntervIew: Vietnam brannte, ebenso die Barrikaden<br />
in Paris, Berkeley, Berlin. Und im Mai kommt ein<br />
kleines Mädchen zur Welt.<br />
KylIe MInogue: Damals war es jedoch noch nicht<br />
so gemütlich in den Krankenhäusern wie heute. Zudem<br />
hatten meine Eltern kein Telefon, weswegen<br />
meine Mum erst einmal zur Telefonzelle rennen<br />
musste, um meinem Dad Bescheid zu sagen. Offen<br />
gestanden, ich weiß gar nicht, ob er überhaupt bei<br />
der Geburt dabei war. Jedenfalls gestand meine Mutter<br />
mir Jahre später, dass sie während der Schwangerschaft<br />
ziemlich viel transzendentale Meditation<br />
gemacht hatte. Eigentlich empfand ich meine Eltern<br />
immer als ziemlich spießig – rückblickend kann ich<br />
jedoch sagen: Ich war ein kleines Hippie-Baby. Geboren<br />
am 28. Mai 1968, um genau zu sein.<br />
IntervIew: Sie haben sich nie jünger gemacht?<br />
MInogue: Das Schicksal eines Kinderstars: Selbst<br />
wenn ich ein klein wenig bescheißen wollte, es ist einfach<br />
alles zu gut dokumentiert.<br />
IntervIew: Stimmt es, dass der Name Kylie in der<br />
Sprache der Aborigines Bumerang bedeutet?<br />
MInogue: So ist es. Und ja, es gefällt mir.<br />
1969<br />
IntervIew: Neil Armstrong stolpert als erster Mann<br />
über den Mond, Sie hingegen durch das Kinderzimmer<br />
in einem Vorort von Melbourne.<br />
MInogue: Sie werden es nicht glauben, aber es gibt<br />
Super-8-Aufnahmen, in denen ich als Einjährige vor<br />
unserem Schwarz-Weiß-Fernseher rumstakse, während<br />
auf dem Bildschirm Armstrong zu sehen ist.<br />
IntervIew: Wow.<br />
MInogue: Ja. Außerdem bin ich als Einjährige aus<br />
meinem Stuhl gefallen, voll auf den Kopf, woraufhin<br />
dieser blau anlief. Darüber machen sich heute noch<br />
alle in der Familie lustig.<br />
1970<br />
IntervIew: Die Australierin Germaine Greer veröffentlicht<br />
ihr Buch Der weibliche Eunuch – ein Standardwerk<br />
für Mädchen aus Melbourne, nehme ich an.<br />
MInogue: Das hoffe ich doch – auch wenn ich es<br />
selbst nie gelesen habe (lacht).<br />
1971<br />
IntervIew: Dannii Minogue kommt zur Welt. Mochten<br />
Sie Ihre kleine Schwester von Anfang an, oder<br />
fanden Sie es eher nervig, die Eltern zu teilen?<br />
MInogue: Dummerweise hatten wir ja noch einen<br />
Bruder, der zwischen uns lag. Und deshalb war ich<br />
schon nicht mehr die Chefin im Haus, als Dannii zur<br />
Welt kam. Nein, eigentlich war es klasse, als Kinder<br />
so eng beieinanderzuliegen. Auch wenn das für unsere<br />
Eltern sicher mehr Stress bedeutete.<br />
1972<br />
IntervIew: Stanley Kubricks Clockwork Orange feiert<br />
Premiere. Jahre später diente der Film als Inspiration<br />
für Ihre Fever-Tour. Mochten Sie den Film so sehr?<br />
MInogue: Mit drei? (lacht)<br />
IntervIew: Nein.<br />
MInogue: Natürlich ist der Film sehr brutal und<br />
herausfordernd. Was mich jedoch viel mehr an<br />
Clockwork Orange beeindruckt hat, war die ästhetische<br />
Vision. Der Film wird immer futuristisch bleiben,<br />
ähnlich wie Kraftwerk, es ist total egal, ob man<br />
ihn vor 30 Jahren, heute oder in 30 Jahren anschaut.<br />
Wer den Film einmal gesehen hat, wird niemals wieder<br />
Kubricks Bilder vergessen.<br />
1973<br />
IntervIew: 1973 fand das erste AC/DC-Konzert in<br />
Sydney statt. In gewisser Weise schließt sich hier und<br />
heute ein Kreis: die vergangenen 40 Jahre Aussie-Pop<br />
– AC/DC und Kylie Minogue.<br />
MInogue: Bei uns nennt man sie AKADEKA.<br />
IntervIew: Ach ja?<br />
MInogue: Ja, AKADEKA, so wird es ausgesprochen.<br />
Allerdings muss ich zu meiner Schande gestehen, dass<br />
ich noch nie auf einem Konzert der Jungs war.<br />
IntervIew: Warum nicht?<br />
MInogue: Ich weiß es nicht.<br />
1974<br />
IntervIew: Ihr erstes Jahr in der Schule. Wie muss<br />
man sich die Erstklässlerin Kylie vorstellen?<br />
MInogue: Ich war immer die Kleinste! Und musste<br />
deshalb bei den Klassenfotos immer ganz rechts in der<br />
ersten Reihe knien. Jedes Jahr! In jeder Klasse. Immer<br />
die Kleinste. Das war sehr demütigend. Allerdings<br />
kann ich mich noch an meine Stiefel im ersten Jahr<br />
erinnern: Sie waren weiß, aus Vinyl, mit Reißverschluss.<br />
Vorne, auf jedem Zeh, waren gelbe Smileys –<br />
das fanden alle unfassbar chic. Mein erstes Fashion-<br />
Statement!<br />
1975<br />
IntervIew: Der Vietnamkrieg endet, die Amerikaner<br />
stellen die Bombardierung Kambodschas ein, der Sueskanal<br />
wird wiedereröffnet. Wo waren Sie?<br />
MInogue: In der zweiten Klasse. An Fasching ging<br />
ich als Dosenmännchen.<br />
IntervIew: Wie geht das denn?<br />
MInogue: Meine Mutter half mir, ein Kostüm aus<br />
Alufolie und Pappe zu bauen, das mir dann umgeschnallt<br />
wurde. Ich konnte mich zwar kaum bewegen,<br />
sah aber sehr gut aus.<br />
1976<br />
IntervIew: Mein Geburtsjahr.<br />
MInogue: Ich hätte gratuliert, wenn ich es damals<br />
gewusst hätte!<br />
IntervIew: Ansonsten ist auch nicht wirklich viel<br />
passiert – Steve Jobs und Steve Wozniak gründeten<br />
eine Computerfirma namens Apple. Können Sie sich<br />
Ihr Leben ohne Apple vorstellen?<br />
MInogue: Ich würde einfach die Gerätschaften eines<br />
anderen Herstellers benutzen (lacht). Und das<br />
sage ich, deren erster Rechner selbstverständlich ein<br />
Apple war.<br />
1977<br />
IntervIew: In diesem Jahr fand die letzte Hinrichtung<br />
per Guillotine in Frankreich statt.<br />
MInogue: ERNSTHAFT?<br />
IntervIew: Vor 35 Jahren.<br />
MInogue: Wow. Das ist verrückt.<br />
1978<br />
IntervIew: Ihr zehnter Geburtstag. Sie waren mit<br />
Sicherheit das süßeste Mädchen auf dem Schulhof.<br />
Hatten Sie schon einen Freund?<br />
MInogue: Mit zehn? Nein! Aber danke für das Kompliment.<br />
IntervIew: Sie hatten keinen Verehrer?<br />
MInogue: Es gab einen Jungen, den ich mochte. Er<br />
gab mir meinen ersten Kuss. Leider kann ich mich<br />
nicht an seinen Namen erinnern – wir spielten damals<br />
immer Kuss-Fangen. Die anderen Mädchen waren<br />
ziemlich eifersüchtig, weil er nur mich küssen wollte …<br />
IntervIew: … und Sie haben seinen Namen vergessen?<br />
MInogue: Hey, er war nicht mein Freund!<br />
1979<br />
IntervIew: Während in Teheran die Revolution ausgerufen<br />
wird, steht die kleine Kylie erstmals für The<br />
Sullivans und Skyways vor der Kamera: Wie kam es<br />
dazu? Sie waren gerade mal elf!<br />
MInogue: Ich habe aber nicht darum gebettelt, das<br />
möchte ich festhalten. Eine Bekannte meiner Mutter<br />
suchte nach einem Mädchen für die Rolle in The Sullivans<br />
und fragte, ob Dannii eventuell zum Vorsprechen<br />
kommen könne. Da meine Mutter keinen Babysitter<br />
fand, nahm sie uns beide zum Casting mit.<br />
IntervIew: Und Sie stahlen Ihrer kleinen Schwester<br />
einfach die Show?<br />
MInogue: Wie bitte? Das war doch nicht meine<br />
Entscheidung!<br />
1980<br />
IntervIew: Die ersten Schecks aus dem Fernsehgeschäft<br />
landeten im Briefkasten, was haben Sie sich<br />
vom ersten selbst verdienten Geld gekauft?<br />
MInogue: Nichts. Mir wurde davon gar nichts gesagt!<br />
Ich bekam ja noch Taschengeld. Und das hätte<br />
den Kurs verdorben.<br />
IntervIew: Wie reagierten die Mitschüler auf Ihre<br />
neue Freizeitbeschäftigung?<br />
Foto: Copyright Darenote<br />
Minogue: Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.<br />
Vielleicht haben sie es auch gar nicht mitbekommen,<br />
weil die Sendungen erst nach dem Wechsel<br />
auf die Oberschule ausgestrahlt wurden. Ich weiß es<br />
leider wirklich nicht.<br />
1981<br />
interview: „Ladies and gentlemen, rock ’n’ roll“ – am<br />
1. August dieses Jahres ging MTV auf Sendung.<br />
Minogue: (singt) I want my, I want my, I want my<br />
MTV.<br />
interview: Genau.<br />
Minogue: Das erste Musikvideo, an das ich mich erinnern<br />
kann, ist I Wanna Dance With Somebody von<br />
Whitney Houston. Ich dachte wirklich, sie sei ein Engel,<br />
das schönste Wesen, das ich jemals gesehen habe.<br />
Was für eine Frau! Diese Stimme! Eine Erleuchtung.<br />
1982<br />
interview: Eine New Yorker Göre, die sich Madonna<br />
nennt, singt Kaugummi kauend ihr erstes Lied.<br />
Erinnern Sie sich noch an Everybody?<br />
Minogue: Selbstverständlich. Aber das erste Mal,<br />
dass ich wirklich zu Madonna tanzte, war später. Holiday<br />
und Borderline waren Riesenhits bei uns in der<br />
Schuldisco. Und die war an sich schon das wichtigste<br />
gesellschaftliche Ereignis des Jahres, wie Sie sich sicher<br />
denken können.<br />
1983<br />
interview: Am 26. September 1983 wäre es beinahe<br />
um die Menschheit geschehen gewesen, doch der<br />
Sow jetgeneral Stanislaw Petrow behielt die Nerven.<br />
Der Bildschirm, vor dem Petrow saß, zeigte an, dass<br />
amerikanische Atomraketen auf dem Weg nach Moskau<br />
seien, das Protokoll verlangte von Petrow, den<br />
nuklearen Gegenschlag einzuleiten. Doch er verweigerte<br />
dies, da er an einen Computerfehler glaubte –<br />
womit er recht behalten sollte.<br />
Minogue: Oh mein Gott, dass wusste ich gar nicht.<br />
interview: Welche drei Dinge in Ihrem Leben hätten<br />
Sie in den folgenden 29 Jahren am meisten vermisst,<br />
wenn Petrow seinen Dienstanweisungen gefolgt<br />
und die Menschheit innerhalb der nächsten zwölf Minuten<br />
in einen nuklearen Krieg geführt hätte?<br />
Minogue: Sie haben mich in Sicherheit gewogen<br />
und jetzt kommt so etwas Tiefgründiges. Da kann ich<br />
ja nur banal antworten.<br />
interview: Bitte.<br />
Minogue: Das ist eine so schwierige Frage, so existenziell.<br />
Alles, was ich jetzt sage, klingt doof.<br />
interview: Okay, nennen Sie nur eins.<br />
Minogue: Leben.<br />
interview: Hm.<br />
Minogue: Familie.<br />
interview: Okay.<br />
Minogue: Liebe.<br />
interview: Gut.<br />
Minogue: Kokosnusswasser!<br />
1984<br />
interview: Sony und Philips bringen den ersten CD-<br />
Spieler auf den Markt.<br />
Minogue: Das war 1984?<br />
interview: Ja.<br />
Minogue: Damals hatte ich noch keinen CD-Player,<br />
so viel ist sicher. Ich weiß leider auch nicht mehr, wel-<br />
che meine erste CD war. Die erste Platte war irgendwas<br />
von den Jackson Five, daran erinnere ich mich.<br />
1985<br />
interview: Rainbow Warrior I, das Forschungsschiff<br />
der Umweltschutzorganisation Greenpeace, wird von<br />
französischen Agenten im Hafen von Auckland,<br />
Neuseeland, versenkt. Die Rainbow Warrior sollte<br />
eigentlich zum Mururoa-Atoll fahren, um gegen die<br />
dort stattfindenden französischen Atomtests zu protestieren.<br />
Minogue: Das hat in Australien jeder mitbekommen,<br />
der mediale Aufschrei war gigantisch.<br />
interview: Und? Ist die 17-jährige Kylie protestieren<br />
gegangen?<br />
Minogue: Nein, die genauen Zusammenhänge habe<br />
ich damals nicht verstanden. Es war aber auch eine<br />
andere Zeit. Die 17-Jährigen von heute denken viel<br />
komplexer. Wenn ich heute 17 wäre, würde ich dementsprechend<br />
reagieren. Weil ich wüsste, dass auch<br />
der Protest eines Einzelnen einen Unterschied macht.<br />
1986<br />
interview: Der große Durchbruch: Sie werden<br />
Charlene Mitchell in Neighbours.<br />
Minogue: Ein gutes Jahr.<br />
interview: Haben Sie noch Kontakt zu Jason Donovan?<br />
Minogue: Ach, Jason! Wir hätten eigentlich Especially<br />
For You dieses Jahr bei einem Reunion-Konzert<br />
im Hydepark singen sollen. Leider machte uns das<br />
Wetter in diesem schönen Land einen Strich durch<br />
die Rechnung.<br />
1987<br />
interview: Wie fühlte es sich an, Jason wiederzusehen?<br />
Immerhin heirateten Sie ihn 1987.<br />
Minogue: Ja, aber nur im Fernsehen! Darauf lege<br />
ich auch großen Wert. Dennoch war es toll, ihn nach<br />
so langer Zeit mal wieder zu sehen. Wir standen bei<br />
den Proben und da fiel uns auf, dass wir das Lied in<br />
den 80ern nie live gesungen hatten. Wo auch? Bei Top<br />
of the Pops musste man nur die Lippen bewegen …<br />
interview: Wahrscheinlich auch zu Locomotion, Ihrem<br />
ersten Hit, ebenfalls 1987. Wo waren Sie, als das<br />
Lied von null auf eins schoss?<br />
Minogue: In Melbourne, in der Küche meiner Eltern.<br />
interview: Sie haben damals noch bei den Eltern gewohnt?<br />
Minogue: Selbstverständlich! Ich war doch erst 19.<br />
Und so viel Geld bekamen wir bei Neighbours auch gar<br />
nicht. Also kaufte ich mir ein Auto, um pünktlich am<br />
Set zu sein, und wohnte dafür bei den Eltern. Wir saßen<br />
alle in der Küche, im Radio lief Top Eight at Eight,<br />
eine Chartshow, bei der die Zuschauer anrufen konnten.<br />
Und mein Lied kam einfach nicht. Nachdem<br />
Platz acht bis vier durch waren, gab ich die Hoffnung<br />
auf, Popstar zu werden. Meine Mum nahm mich in<br />
den Arm und versuchte, mich zu trösten …<br />
interview: … und dann kam Locomotion schließlich<br />
doch noch – auf Platz eins!<br />
Minogue: Zudem war es das erste Mal, dass ich das<br />
Lied im Radio hörte. Ein Wahnsinnsgefühl.<br />
interview: Der Song rettete Sie davor, Schauspielerin<br />
zu werden.<br />
Minogue: Das ist frech! Die Musik hat mich der<br />
Schauspielerei gestohlen!<br />
1988<br />
interview: I Should Be So Lucky – ja, das waren Sie.<br />
Mochten Sie den Song eigentlich?<br />
Minogue: Nein. Überhaupt nicht. Zumindest am<br />
Anfang nicht.<br />
interview: Warum nicht?<br />
Minogue: Mein Manager und ich waren in London,<br />
um Stücke fürs Album rauszusuchen – und die Produzenten<br />
von Stock, Aitken & Waterman hatten<br />
schlichtweg vergessen, dass wir einen Termin im Studio<br />
hatten. Wir standen da mit leeren Händen. Die<br />
Produzenten schickten uns vor die Türe – und eine<br />
Viertelstunde später präsentierten sie I Should Be So<br />
Lucky. Angeblich haben sie das Stück komponiert,<br />
während wir vor der Tür warteten. In einer Viertelstunde!<br />
Ich wurde in die Aufnahmebox geschickt,<br />
lernte meine Zeilen, sang es runter. Fertig. Ob ich<br />
mich lucky gefühlt habe? Eher nicht.<br />
1989<br />
interview: Die Berliner Mauer fällt, der Kalte Krieg<br />
endet. Sie hatten 13 Top-Ten-Hits innerhalb von zwei<br />
Jahren in den britischen Charts. Einer davon war<br />
Espe cially For You.<br />
Minogue: Ja, schon wieder Jason. Damals waren wir<br />
zudem ein Paar. Ach, lange ist es her.<br />
interview: Bereuten Sie es jemals, Ihren Teenie-<br />
Prinzen ziehen gelassen zu haben? Muss sich Ihr<br />
Freund, das spanische Model Andres Velencoso, Sorgen<br />
machen?<br />
Minogue: Erscheint dieses <strong>Interview</strong> nur auf<br />
Deutsch? (lacht) Nein, Jason wird immer einen ganz<br />
speziellen Platz in meinem Herzen habe.<br />
1990<br />
interview: Den Rest des Herzens eroberte ein Jahr<br />
später bereits Michael Hutchence, der als Hobby damals<br />
gerne „Corrupting Kylie“ angab. War er es, der<br />
aus Kylie, dem Mädchen von nebenan, jene Kylie hervorzauberte,<br />
die Better The Devil You Know sang und<br />
erstmals sexy sein wollte?<br />
Minogue: Ja, das hat er immer gesagt. Aber glauben<br />
Sie mir: Michael war ebenso wenig nur der wilde bad<br />
boy, wie Kylie nur das unschuldige Mädchen von nebenan<br />
war. Wir haben uns irgendwo in der Mitte getroffen.<br />
Und trotzdem hat mit ihm die Verwandlung<br />
begonnen, das stimmt schon.<br />
1991<br />
interview: Ein blonder Schlacks aus Seattle fordert<br />
„Here we are now, entertain us“, zertrümmert seine<br />
Gitarre und wird zum Antihelden im Ringelpulli.<br />
Konnten Sie mit der Wut und dem Schmerz des Kurt<br />
Cobain etwas anfangen?<br />
Minogue: Ich habe ihn nie ganz verstanden, aber ich<br />
schätze seine rohe Energie und mochte die Lieder. Mein<br />
Leben war einfach das genaue Gegenteil von dem, was<br />
Grunge ausmachte. Meine Welt war das Elfenland.<br />
1992<br />
interview: Miley Cyrus wird geboren, Peking bekommt<br />
endlich einen McDonald’s, Whitney singt I<br />
Will Always Love You und Bill Clinton wird Präsident:<br />
Welches der vier Ereignisse hat die größte Auswirkung<br />
auf Ihr Leben?<br />
Minogue: Bill Clinton.<br />
110<br />
111
“<br />
Ich wurde in die Aufnahmebox<br />
geschickt, lernte meine Zeilen,<br />
sang sie runter. Fertig<br />
”<br />
Foto: Copyright Darenote
1993<br />
IntervIew: Der erste beutelfreie Staubsauger …<br />
MInogue: … der Dyson! Ja, ich besitze einen. Hab<br />
ich sofort gekauft.<br />
IntervIew: Und auch schon mal das Schlafzimmer<br />
damit selbst gesaugt?<br />
MInogue: Selbstverständlich. Was denken Sie eigentlich<br />
von mir?<br />
1994<br />
IntervIew: Where The Wild Roses Grow: Nick Cave<br />
schickt Sie als Wasserleiche Ophelia auf eine Reise<br />
und schenkt Ihnen mit dem Duett das, was man neudeutsch<br />
Street Credibility nennt. Im selben Jahr spielten<br />
Sie zudem im Film Street Fighter!<br />
MInogue: Ja, aber Nick verdanke ich tatsächlich<br />
mehr. He is the real deal, ein absoluter Gentleman<br />
und großer Künstler, der immer nach Neuem sucht.<br />
Die Tatsache, dass er mich als seine Partnerin aussuchte,<br />
mich in seine Welt einführte, war für viele<br />
eine große Überraschung.<br />
IntervIew: Für Sie auch?<br />
MInogue: Wir hatten sechs Jahre zuvor schon darüber<br />
gesprochen, etwas gemeinsam zu versuchen.<br />
Sonst hätte ich womöglich gedacht, er meint es ironisch<br />
und will mich veräppeln. So war es ein Ritterschlag.<br />
1995<br />
IntervIew: Der FootballStar O. J. Simpson rast in<br />
einem Jeep über die Highways von Los Angeles.<br />
MInogue: Bilder, die sich in mein Hirn eingebrannt<br />
haben. Ich saß wie festgenagelt vor dem Fernseher,<br />
obwohl ich vor diesem Nachmittag nicht einmal<br />
wusste, wer O. J. Simpson genau war. CNN war relativ<br />
neu in meinem Leben, und plötzlich das: eine Verfolgungsjagd<br />
wie in Hollywood, live im Fernsehen,<br />
gefilmt aus einem Hubschrauber. Live und doch in<br />
ständiger Wiederholung. Wow.<br />
1996<br />
IntervIew: Dolly, das Schaf, wird geklont.<br />
MInogue: Ohhh.<br />
IntervIew: Und eBay geht an den Start. Verraten Sie<br />
uns, was Sie zuletzt bei eBay ersteigert haben?<br />
MInogue: Nein.<br />
IntervIew: Aber Sie bieten mit?<br />
MInogue: Klar. Ich mag eBay zudem, weil es schön<br />
voyeuristisch ist. Man kann den Leuten quasi in Keller<br />
und Kleiderschrank schauen.<br />
IntervIew: Bieten Sie selbst – oder haben Sie Angst,<br />
dass die Leute die Ware nicht abschicken, wenn als<br />
Empfänger Kylie Minogue steht?<br />
MInogue: Ich lasse bieten. Und kaufe auch sonst<br />
gerne Sachen online.<br />
IntervIew: Darf man erfahren, wer für Sie online<br />
einkauft?<br />
MInogue: Nein, solche Informationen verrate ich<br />
nicht. Das verdirbt die Preise. Sorry.<br />
1997<br />
IntervIew: Das Album Impossible Princess erscheint.<br />
In Ihrer Autobiografie schreiben Sie, es gebe einen<br />
Kampf zwischen „Dance Kylie, Cute Kylie, Sex Kylie<br />
und Indie Kylie“. Welche Kylie hat gewonnen?<br />
MInogue: Hm.<br />
IntervIew: Welche Kylie sitzt heute vor mir?<br />
MInogue: Das wird sich bald zeigen. In mir fühle<br />
ich, dass der Rückkampf zu „Kylie: Rumble In The<br />
Jungle“ ansteht.<br />
IntervIew: Ach ja?<br />
MInogue: Sie müssen sich noch ein wenig gedulden.<br />
Aber ich verspreche Ihnen, vorher Bescheid zu geben.<br />
1998<br />
IntervIew: Impossible Princess wird in England nicht<br />
gerade wohlwollend aufgenommen, Virgin Radio verbannt<br />
es sogar, Sie fliegen heim nach Australien, wo<br />
das Album euphorisch gefeiert wird. Vor allem die<br />
GayCommunity hält Ihnen die Treue. Zum Dank<br />
treten Sie beim Sydney Gay and Lesbian Mardi Gras<br />
auf. Wie wird man eigentlich eine Schwulenikone?<br />
MInogue: Ich wurde adoptiert! Und das ist toll!<br />
IntervIew: In den 80ern gab es angeblich in den<br />
Schwulenbars von Sydney und Melbourne ziemlich<br />
berüchtigte KylieNights. Waren Sie mal bei einer?<br />
MInogue: Ich durfte nicht.<br />
IntervIew: Warum denn nicht?<br />
MInogue: Mein Manager und ich fuhren irgendwann<br />
in den späten 80ern durch die Oxford Street in<br />
Sydney, wo damals die berühmteste Schwulenbar der<br />
Stadt war. Ein Freund, der mit im Auto saß, rief:<br />
„Oh, heute ist KylieNight!“ Ich fragte: „Wie bitte?“<br />
Daraufhin meinte mein Manager, dass ich da nicht<br />
hereindürfe. Und weil ich so ein unschuldiges Mädchen<br />
war, hörte ich auf ihn. Das bereue ich bis heute.<br />
Immerhin habe ich einmal in Melbourne ein paar<br />
Dragqueens gesehen, die auf Kylie machten.<br />
IntervIew: Und? Waren sie gut?<br />
MInogue: Ich glaube, in dem Moment war ich am<br />
wenigsten Kylie im gesamten Raum. Sie waren fabelhaft!<br />
1999<br />
IntervIew: Kurz vor dem Millennium verbrachten<br />
Sie etliche Monate auf Barbados und spielten die<br />
weibliche Hauptrolle in Shakespeares Der Sturm.<br />
Wie kam es denn zu diesem Engagement?<br />
MInogue: Ich war zuvor noch nie auf Barbados –<br />
und hatte nie Shakespeare gespielt. Mehr guter Gründe<br />
bedarf es nicht.<br />
2000<br />
IntervIew: Die Olympischen Spiele finden in Sydney<br />
statt: Kylie Minogue singt Dancing Queen: Von<br />
der Impossible Princess zur Dancing Queen in gerade<br />
mal drei Jahren – Prinz Charles muss gekocht haben<br />
vor Wut.<br />
MInogue: Das ist sehr lustig! (lacht)<br />
2001<br />
IntervIew: Der 11. September: Wo waren Sie, als die<br />
Zwillingstürme fielen?<br />
MInogue: Bei einem Radiosender in London, mitten<br />
in einem <strong>Interview</strong>. Das tatsächliche Ausmaß der<br />
Katastrophe sah ich erst, als wir wieder in unserer<br />
Limousine saßen. Dort gab es einen kleinen, ziemlich<br />
zerkratzten Monitor auf der Rückbank. Das<br />
werde ich nie vergessen.<br />
IntervIew: Es gibt Mitmenschen, die werden Ihren<br />
Hit Can’t Get You Out Of My Head niemals wieder aus<br />
dem Kopf bekommen. Dieses Lalala …<br />
114<br />
MInogue: … und ich verstehe nicht, warum so viele<br />
Leute immer nanana singen.<br />
IntervIew: Im Video tragen Sie ein ziemlich gewagtes<br />
Kleid, das wie durch Zauberhand Ihre Brüste<br />
notdürftig verdeckt. Verraten Sie uns den Trick?<br />
MInogue: Das könnte ich. Aber danach muss ich Sie<br />
leider erschießen.<br />
2002<br />
IntervIew: In Moulin Rouge gaben Sie Ihr BurlesqueDebüt<br />
als Schauspielerin. Wie burlesque ist<br />
Kylie Minogue?<br />
MInogue: Sehr. Vielleicht sogar zu viel.<br />
IntervIew: Sie sagten in einem früheren <strong>Interview</strong>,<br />
im Herzen seien Sie ein Showgirl.<br />
MInogue: Und ein HippieMädchen. Aber ich mag<br />
es, Showgirl zu sein: die Haare, die langen Wimpern,<br />
das ganze Makeup.<br />
2003<br />
IntervIew: Saddam wurde aus seinem Loch geholt,<br />
die Amerikaner nannten French Fries plötzlich Freedom<br />
Fries …<br />
MInogue: … was ein schlechter Witz war. French<br />
Fries sind French Fries und ein French Kiss bleibt ein<br />
French Kiss.<br />
IntervIew: Im selben Jahr flog die Concorde zum<br />
letzten Mal.<br />
MInogue: Ich habe sie geliebt. Okay, sie war teuer,<br />
sie war laut, sie war eng. Aber der Moment, in dem<br />
der Pilot sagt: „Ladies and gentlemen, we are now supersonic.“<br />
Unvergesslich.<br />
2004<br />
IntervIew: Janet Jackson entblößt ihren Nippel beim<br />
Super Bowl, die Welt spricht von einem Nipplegate.<br />
Kann der Versuch, zu sexy sein zu wollen, eine Karriere<br />
zerstören?<br />
MInogue: In jedem Fall zerstört er jedwede Leidenschaft<br />
– und vielleicht auch die Karriere.<br />
2005<br />
MInogue: Das Jahr, in dem ich erfahren musste,<br />
dass ich Brustkrebs habe. Nicht das leichteste Jahr,<br />
wie Sie sich sicher vorstellen können.<br />
IntervIew: Vor allem für eine Frau, die so körperbetont<br />
auftritt wie Sie.<br />
MInogue: Die Krankheit ist für alle Frauen gleich<br />
schlimm. Sie steckt so tief in einem drin, im Körper,<br />
in der Weiblichkeit. Ich musste mir mein Selbstbewusstsein<br />
danach wieder sehr hart erarbeiten.<br />
2006<br />
IntervIew: Trotz der Erkrankung standen Sie zwölf<br />
Monate später wieder auf der Bühne.<br />
MInogue: Wenn ich mir das heute überlege, verstehe<br />
ich nicht, wie ich die HomecomingTour durchstehen<br />
konnte. Damals befahl mein Körper jedoch, es zu<br />
tun. Es war meine Bestimmung.<br />
IntervIew: Gehen Sie regelmäßig zur Vorsorge?<br />
MInogue: Selbstverständlich.<br />
2007<br />
IntervIew: Im Hafen von Melbourne wird eine Kylie<br />
aus Bronze errichtet, bei Madame Tussauds wird fei<br />
Foto: Copyright Darenote<br />
erlich die vierte Kylie aus Wachs eingeweiht. Die einzige<br />
Person, von der es bis dato mehr Figuren aus<br />
Wachs gibt, ist Ihre Majestät, die Queen.<br />
Minogue: Und darauf bin ich sehr stolz.<br />
2008<br />
interview: Die Queen verleiht Ihnen den OBE, einen<br />
Orden für Ihre Dienste an der Musik.<br />
Minogue: Ja. Sie dürfen mich gerne Offizier Kylie<br />
nennen.<br />
interview: Glauben Sie an das englische Klassensystem?<br />
Minogue: Glauben ist vielleicht ein wenig hoch angesetzt.<br />
interview: Zumal Sie Australierin sind.<br />
Minogue: Richtig.<br />
interview: Dennoch wählten die Engländer Sie 2010<br />
zur wichtigsten Berühmtheit Großbritanniens.<br />
Minogue: Ja. Aber Großbritannien und Australien<br />
stehen sich auch sehr nahe. Da fällt mir gerade noch<br />
etwas zum Klassensystem ein: Grundsätzlich halte ich<br />
nichts davon. Aber ich liebe Downton Abbey. Die Serie<br />
ist fantastisch – ohne Klassensystem undenkbar.<br />
2009<br />
interview: Nach über 20 Jahren im Popgeschäft<br />
tourten Sie erstmals in Amerika. Warum haben Sie<br />
sich so lange damit Zeit gelassen?<br />
Minogue: Weil meine Shows so groß und so teuer<br />
geworden sind über die Jahre, dass es sich für die verhältnismäßig<br />
wenigen Kylie-Fans in Amerika nicht<br />
wirklich gelohnt hätte, mit der ganzen Produktion<br />
“Wie eine Frischzellenkur”<br />
anzureisen. 2008 haben wir es dennoch gemacht –<br />
und es war fantastisch.<br />
interview: Lesen Sie eigentlich, was in Blogs über<br />
Sie geschrieben wird?<br />
Minogue: Ich kann nicht anders.<br />
interview: 2009 tauchte nämlich erstmals auf, Sie<br />
hätten einen Bum-Lift, eine Po-Korrektur, machen<br />
lassen.<br />
Minogue: Das habe ich auch gelesen. Ich wusste gar<br />
nicht, dass es so etwas gibt.<br />
interview: Und?<br />
Minogue: Man braucht heute eigentlich für nichts<br />
mehr das Skalpell. Schönheitseingriffe im rechten<br />
Maße finde ich generell auch okay. Aber den Po?<br />
NEIN!<br />
2010<br />
interview: Das Jahr, in dem Sie durch Ihr achtes Album<br />
zur Aphrodite wurden.<br />
Minogue: Die Göttin der Liebe, eine tolle Frau ...<br />
interview: ... die ständig ihren Mann betrogen hat –<br />
mit anderen Göttern, sogar mit Normalsterblichen.<br />
Minogue: Diese Hexe! Ich verspreche, mich zu benehmen.<br />
interview: Aphrodites Eitelkeit war zudem schuld,<br />
dass 40 Jahre lang der Trojanische Krieg wütete.<br />
Minogue: Um eine tolle Frau lohnt es sich eben zu<br />
kämpfen.<br />
2011<br />
interview: Leos Carax bittet Sie, in seinem Film<br />
Holy Motors mitzuspielen. Später wird er sagen, Sie<br />
115<br />
seien der „Engel gewesen, den er brauchte“. Wie kam<br />
es zu dieser Zusammenarbeit?<br />
Minogue: Unsere gemeinsame Freundin Claire Denis<br />
schlug mich vor. Und die Zusammenarbeit war<br />
außergewöhnlich. Es fühlte sich gut an, wieder vor<br />
der Kamera zu stehen. Wie eine Frischzellenkur.<br />
interview: Haben Sie deswegen gleich noch die Rolle<br />
in Jack and Diane angenommen?<br />
Minogue: Vielleicht unterbewusst. Aber mein Part<br />
als Tara ist sehr klein. Wenn Sie nicht ganz genau aufpassen,<br />
übersehen Sie mich.<br />
interview: Das glaube ich nicht. Immerhin hat Tara<br />
ein Tête-à-Tête mit einem Teenagermädchen.<br />
Minogue: Mein ganzes Leben ist ein Tête-à-Tête.<br />
2012<br />
interview: 2012 heißt im internen Sprachgebrauch<br />
bei Ihnen nur K25.<br />
Minogue: 25 Jahre Kylie Minogue im Popgeschäft.<br />
Das feiern wir mit den Abbey Road Sessions, einem<br />
Best-of-Album mit Orchesterbegleitung, aufgenommen,<br />
wie der Name schon suggeriert, in den ehrwürdigen<br />
Abbey Road Studios. Nächstes Jahr wird es<br />
dann eine ganz neue Kylie geben. Sie dürfen gespannt<br />
sein!<br />
interview: Hätte Sie gedacht, dass Sie 25 Jahre in<br />
diesem Geschäft durchhalten?<br />
Minogue: Niemals.<br />
Das albuM The Abbey RoAd SeSSionS<br />
von Kylie Minogue ist geraDe erschienen
Ick owens<br />
& keMbrA PFAhLer<br />
Fotos<br />
zoË ghertner<br />
stYLIng<br />
MeL ottenberg<br />
116<br />
Mode & schMuck<br />
rIck owens<br />
herbst/wInter 2012/2013
Er ist dEr mEistEr dEs Luxus-Goth,<br />
siE ist EinE wirkLich EiGEnartiGE und<br />
GrossartiGE PErformancE-künstLErin:<br />
dEr modEdEsiGnEr rick owEns und<br />
kEmbrA PfAhLEr sPrEchEn übEr dEn<br />
GartEn von cLaudE monEt, das<br />
modEvErständnis von basquiat und<br />
divErsE sExuaLPraktikEn<br />
Porträt<br />
dusAn rELjin<br />
Sein Label ist vergleichsweise klein, seine Vision dunkel,<br />
sinnlich, postapokalyptisch, aber perfekt geschnitten<br />
und aus feinstem Leder oder Nerz. Rick Owens<br />
ist einer der meistkopierten Designer dieser Tage.<br />
Seine Furchtlosigkeit ist legendär, insofern ist Kembra<br />
Pfahler, eine alte Freundin, die perfekte Gesprächspartnerin<br />
für ihn.<br />
rick owEns: Oh, Gott. Wir skypen!<br />
kEmbra PfahLEr: Fühlt sich komisch an.<br />
owEns: Generation Technik!<br />
PfahLEr: Kannst du meine Wohnung sehen?<br />
owEns: Ja.<br />
PfahLEr: Leider ein totales Chaos. Ich hatte eine<br />
Augen entzündung. Ich glaube vom Analverkehr.<br />
owEns: Kriegt man davon eine Augenentzündung?<br />
PfahLEr: Keine Ahnung. Ich hatte echt lange Sex.<br />
Eine Stunde oder so …<br />
owEns: Wieso denn so lang? Warst du auf Crystal<br />
Meth?<br />
PfahLEr: Weiß ich gar nicht. Ich war jedenfalls echt<br />
stolz auf mich und fühlte mich sehr hart im Nehmen.<br />
60 Minuten!<br />
owEns: Mit dem Typen, von dem du schon mal erzählt<br />
hast?<br />
PfahLEr: Ja, das ist der Einzige, mit dem ich Sex<br />
habe …<br />
owEns: Wir nehmen das Gespräch auf, besser keinen<br />
Namen nennen!<br />
PfahLEr: Schon okay. Er heißt Ben.<br />
owEns: Das ist ja immer noch anonym genug.<br />
PfahLEr: Wir hatten uns lange nicht gesehen und<br />
sind dann in diesen Extremsport reingeraten. Ich<br />
habe es noch nie länger als zehn Minuten ausgehalten.<br />
owEns: Mir ist nicht ganz klar …<br />
PfahLEr: … in der passiven Rolle, meine ich!<br />
owEns: Ich habe nie verstanden, warum heterosexuelle<br />
Paare Analverkehr haben. Wenn ich die Wahl<br />
habe zwischen einem Hintern und einer Muschi,<br />
wähle ich die Muschi. Sie massiert dich viel besser.<br />
Jungs mit Muschi im Hintern, das wäre toll.<br />
PfahLEr: Frauen können vaginale Orgasmen haben.<br />
Extrem angenehm. Ich habe allerdings lange gebraucht,<br />
rauszubekommen, wie es funktioniert.<br />
owEns: Wahrscheinlich können nicht alle Frauen …<br />
PfahLEr: Ich kann Analorgasmen haben. Du auch.<br />
owEns: Ich kann mir vorstellen, dass man einen<br />
Anal... Also ich habe jedenfalls mal einen Typen gesehen,<br />
der gekommen ist, ohne sich zu berühren.<br />
PfahLEr: Na ja, das ist die alte Geschichte mit der<br />
Reibung. Aber ich habe für mich entdeckt, wie sehr<br />
ich den weiblichen Analorgasmus liebe. Das ist wie<br />
ein sehr glamouröser Kurzurlaub. Die ganze Rückseite<br />
deines Körpers öffnet sich. Dein hinteres Chakra.<br />
owEns: Sehr interessant. Ich hatte immer angenommen,<br />
bei heterosexuellem Analverkehr ginge es um<br />
Unterwerfung und Dominanz, also um Psychologie.<br />
PfahLEr: Oder um Schmerz. Der Mann, der die Frau<br />
118<br />
verletzt und ihr alles wegnimmt. In Wirklichkeit aber<br />
geht es um Orgasmen.<br />
owEns: Aber dich interessiert das stärker als die<br />
meisten Frauen. Du warst da immer offen.<br />
PfahLEr: Ich wollte einfach wissen, was die ganzen<br />
schwulen Männer daran so toll finden. Ich werde<br />
noch ein bisschen weiterforschen.<br />
owEns: Das finde ich sehr gut.<br />
PfahLEr: Aber in Maßen. Schließlich habe ich auch<br />
noch meine Kunst. Im Oktober habe ich wegen Halloween<br />
wahnsinnig viel zu tun. Die ganzen Shows. Ich<br />
trage kein Makeup, aber tu einfach so, als ob.<br />
owEns: Ganz ehrlich: Du siehst fantastisch aus.<br />
PfahLEr: Echt?<br />
owEns: Wir sind beide 50 Jahre alt, oder?<br />
PfahLEr: Ich bin 51.<br />
owEns: Ich werde im November 51. Für unser Alter<br />
sehen wir beide gut aus, finde ich.<br />
PfahLEr: Total. Du siehst großartig aus.<br />
owEns: Und du bist super fuckable. Buttfuckable (lacht).<br />
Wie lange kennen wir uns? Eigentlich gar nicht so<br />
lang. Vielleicht zehn oder zwölf Jahre …<br />
PfahLEr: Ryan Robin hat uns in den 90ern vorgestellt.<br />
Das war in einem GothClub, in dem ich aufgetreten<br />
bin. Ich balancierte auf Bowlingkugeln und<br />
sang Lieder von Celine Dion. Ich war ganz allein,<br />
hatte meine Band nicht dabei, und Ryan sagte: „Hier<br />
ist jemand Wichtiges, den du treffen musst.“<br />
owEns: Ich erinnere mich noch genau, wie du vor<br />
dem Club auf einem Sportwagen getanzt hast. Das<br />
Auto war rot mit einem weißen Streifen, und du warst<br />
blau angemalt. Und komplett nackt. Du hast einfach<br />
immer genau das Richtige gemacht. Und du bist immer<br />
auf den Punkt, was Grafik betrifft. Du auf dem<br />
Auto, das war wirklich ein schöner Anblick.<br />
PfahLEr: Ich habe das Gefühl, ich bin eher eine<br />
Extrem dekorateurin als eine Künstlerin. Ich habe<br />
mehr gemeinsam mit Martha Stewart als mit …<br />
owEns: Marina Abramovic?<br />
PfahLEr: Genau. Ich bin keine große Theoretikerin.<br />
Natürlich habe ich ein paar Alltagsphilosophien, aber<br />
kein theoretisches Konstrukt, das meiner Kunst zugrunde<br />
liegt. Ich will nur etwas Schönes erschaffen.<br />
owEns: Glaubst du, dass deine Arbeit die Schönheit<br />
feiert? Das sehe ich jedenfalls darin.<br />
PfahLEr: Vor allem macht sie einen Wahnsinnsspaß.<br />
Aber so wird es dir mit deiner tollen Mode ja auch<br />
gehen. Ich fand deine Inszenierung mit dem Schaum<br />
groß artig. Diese EcstasyIbizaKulisse, die wie Schnee<br />
aussah!<br />
owEns: Schaum ist ein viel zu selten eingesetztes<br />
Material.<br />
PfahLEr: Absolut. Das sah so gut aus. Der Schaum<br />
hätte eine Metapher für so viele Dinge sein können!<br />
Um auf deine Frage zurückzukommen: Ich komme<br />
aus Los Angeles und bin deshalb ohne echte, mythologische<br />
Schönheit aufgewachsen. Klar haben wir den<br />
Ozean und die Berge. Aber eigentlich bestand mein<br />
Leben darin, am Sonntag zu McDonald’s zu gehen<br />
und am Dienstag zu Taco Bell. Und Kleider musste<br />
ich mir bei Sears kaufen. Ich habe mich nach einem<br />
Leben gesehnt, das reicher an Schönheit ist. Das hätte<br />
ich vielleicht auch in Los Angeles haben können, aber<br />
ich musste meinen eigenen Weg finden.<br />
owEns: Hast du eigentlich studiert?<br />
PfahLEr: 1987 war ich an der School of Visual Arts in<br />
New York. Ich war erst 17, und meine Mitschüler hießen<br />
Keith Haring und JeanMichel Basquiat … Moment,<br />
ich muss mal eben ans Telefon … (wimmelt die<br />
Anruferin ab) … Das war die Frau, die das Vaginabild<br />
von mir verkauft hat, da musste ich rangehen.<br />
Owens: Das ist schon ein bisschen her, oder?<br />
Pfahler: Ja, aber wir haben gestern telefoniert, es<br />
ging um was ganz anderes. – Also, ich habe ungefähr<br />
zwei Jahre an der SVA studiert und die Jungs, der<br />
Künstler Tom Sachs war auch dabei, waren ein paar<br />
Jahre über mir. Die waren schon ein bisschen berühmt<br />
und haben mich immer wegen meines California-Punk-Looks<br />
aufgezogen. Der war damals noch<br />
nicht so angesagt. Ich war nur fünf Jahre jünger als<br />
die, aber es fühlte sich an wie 20 Jahre.<br />
Owens: Wie sah dein Look denn genau aus?<br />
Pfahler: Krankenhauskittel, falsch rum getragen<br />
und sehr kurz abgeschnitten. Krasses Augen-Make-up<br />
und, äh, eigentlich insgesamt sehr wenig Kleidung.<br />
Die standen damals auf den Cocktailkleider-Look aus<br />
den 50ern. Die mochten es ein bisschen kultivierter,<br />
und mein Look machte es allen etwas zu leicht. Ein<br />
echtes beach girl eben.<br />
Owens: Warst du blond damals?<br />
Pfahler: Nein. Ich hatte schwarze Haare.<br />
Owens: Wann hast du angefangen, sie zu färben?<br />
Pfahler: In der Schule. An der Santa Monica High<br />
School. Eine meiner Lehrerinnen war Mary Heilmann,<br />
eine wunderbare Künstlerin. Jahre später waren<br />
wir auf der gleichen Whitney Biennial vertreten.<br />
Mit dieser Frau, für die ich mal gearbeitet habe!<br />
Owens: Du hattest also auch eine Verbindung zu der<br />
akademischen Kunstwelt. Du stellst deine Arbeit dar,<br />
als sei sie sehr ausgedacht und selbst gemacht, aber<br />
tatsächlich ist sie sehr durchdacht.<br />
Pfahler: Ich bin auf eigene Faust nach Deutschland,<br />
Wien und Italien gefahren, weil unsere Kunstgeschichtskurse<br />
so langweilig waren.<br />
Owens: Immer nur Theorie, das hat mich auch<br />
wahnsinnig gemacht. Alles musste abstrahiert werden,<br />
bevor irgendeiner die Basis verstanden hatte.<br />
Pfahler: Es gibt eine Phase in der Geschichte der<br />
Menschheit, die so rasant ist wie eine Achterbahnfahrt<br />
in Disneyland. Kurz nach der industriellen Revolution<br />
wurde die Filmkamera erfunden und die<br />
Elektrizität. Und es war toll, das alles zu lernen, indem<br />
ich mir die Kunst anschaute, die damals produziert<br />
wurde. In Wien zum Beispiel …<br />
Owens: Ich war noch nie in Wien. Verrückt, oder?<br />
Hole ich nach, versprochen.<br />
Pfahler: Wahrscheinlich wirst du es lieben.<br />
Owens: Ich liebe die Architektur von Joseph Hoffmann.<br />
Und Klimt.<br />
Pfahler: Oh, Gott. Ich liebe den Klimt-Look.<br />
Owens: Die Models in meiner letzten Show hatten<br />
Klimt-Haare.<br />
Pfahler: Total.<br />
Owens: Und auch bei den Schnitten habe ich überlegt,<br />
wie ich Klimt-Kleider machen kann, die trotzdem<br />
absolut modern aussehen. Zu diesem <strong>Interview</strong><br />
werden die Bilder gezeigt, die du mit deiner Freundin<br />
Zoë und der Hole Gallery gemacht hast, im Garten<br />
von Giverny. Ich habe schon wieder vergessen, ob<br />
man das Gi-verny oder Dschi-verny ausspricht?<br />
Pfahler: Ich glaube Gi-verny. Das ist der Garten von<br />
Claude Monet. Er hatte sich dieses kleine Grundstück<br />
außerhalb von Paris gekauft und drehte in seinem<br />
Garten durch. Er ließ sich Blumen und Tiere aus der<br />
ganzen Welt schicken und behandelte seine Pflanzen<br />
wie Skulpturen. Er hatte im Garten eine japanische<br />
Brücke, den Seerosenteich, dessen reflektierende<br />
Ober fläche auf seinen berühmtesten Bildern zu sehen<br />
ist. Evie Day, eine Freundin von mir, hatte mich dorthin<br />
eingeladen, und in Giverny lernte ich den Impressionismus<br />
kennen. Evie sollte in Giverny für die Versailles<br />
Foundation eine Arbeit realisieren und sie<br />
„das autO war<br />
rOt Mit eineM<br />
weissen streifen,<br />
und du warst<br />
blau anGeMalt<br />
und nacKt.<br />
ein schöner<br />
anblicK”<br />
sagte: „Kembra würde sehr gut hierherpassen.“ Sie<br />
interessierte der Gegensatz zwischen dem Garten und<br />
einer Anti-Natur-Person wie mir.<br />
Owens: Die Fotos sind unglaublich. Diese schwarze<br />
Figur auf der Brücke in Monets Garten, das ist einfach<br />
perfekt. Du trägst Pink. Oder bist du blau?<br />
Pfahler: Drei verschiedene Schattierungen von Rot<br />
und Pink. Wir haben drei verschiedene Motive mit<br />
einer seltsamen orange-tomatigen Farbe gemacht.<br />
Owens: Du siehst sehr gut darauf aus.<br />
Pfahler: Die Foundation hatte erst mal Bedenken,<br />
weil ich nackt sein würde. Aber nackt ist man, wenn<br />
man die Beine spreizt und seine Vagina zeigt. In<br />
Giverny allerdings war ich angemalt, das milderte die<br />
Nacktheit ab. Die Gärtner waren total glücklich, mich<br />
zu sehen, und wollten Fotos machen. Am Ende waren<br />
sogar die Leute von der Foundation beruhigt.<br />
Owens: Weil sie zugeben mussten, dass das Resultat<br />
wunderschön ist.<br />
Pfahler: Ja, Evie ist eine echte Künstlerin. Wer hätte<br />
gedacht, dass ich mich jemals für den Impressionismus<br />
interessieren könnte? Sie hat mir erklärt, wie<br />
Monet die Spiegelungen im Wasser zu jeder Tageszeit<br />
und bei jedem Wetter beobachtet hat. Monets Art, die<br />
Welt zu betrachten, war so … impressionistisch! Mit<br />
dem Begriff haben ihn seine Kollegen verspottet –<br />
und er hat ihn einfach angenommen.<br />
Owens: Was ich selbst bei meiner Arbeit versuche<br />
und was ich an dir so schätze: Du betrachtest dich immer<br />
wieder aus einem anderen Blickwinkel und entdeckst<br />
neue Dinge innerhalb der von dir geschaffenen<br />
Welt. Deine letzte Performance in Watermill war<br />
wunderschön. Und etwas total Neues.<br />
Pfahler: Sehr viele Schwänze. Überall. Das gab es<br />
noch nie bei mir. Alle waren total perplex und meinten:<br />
„Was soll das denn jetzt? Du bist doch für Vaginas<br />
zuständig!“ Wie du weißt, haben wir das Future<br />
Feminism Movement ins Leben gerufen. Mein Ziel<br />
ist es, gerade als Feministin total pro Penis zu sein.<br />
Owens: Wie aufmerksam und höflich von dir!<br />
Pfahler: Außerdem besteht meine Band zur Hälfte<br />
aus Jungs. Und die Hälfte meiner Kooperationspartner<br />
sind Männer. Es fühlte sich einfach unfair an,<br />
wenn ich mich nur um Vaginas kümmere.<br />
Owens: Du lädst die Männer ein mitzumachen?<br />
Pfahler: Die Leute waren sehr glücklich, diesen riesigen<br />
Schwanz auf der Bühne zu sehen. Der war so<br />
119<br />
groß, dass er eher wie das Raumschiff von Aliens aussah.<br />
Meine neueste Show heißt Fuck Island …<br />
Owens: Worum geht’s da eigentlich?<br />
Pfahler: Um Schwänze. Ein Element ist ein großer<br />
Schwanz auf einer achteckigen Bühne. Hast du mal<br />
Bilder aus dem Schwarzwald in Deutschland gesehen,<br />
von der Walpurgisnacht? Da tanzen Hexen um ein<br />
großes Feuer, das eigentlich ein Phallussymbol ist. Ich<br />
wollte da immer mal hingehen, aber das Publikum besteht<br />
aus unheimlichen, religiösen Typen – da habe<br />
ich keine Lust drauf. Aber um noch mal auf die Bilder<br />
mit Evie in Giverny zurückzukommen: Das war eine<br />
meiner Lieblingsarbeiten. Ich wollte unbedingt, dass<br />
du Teil dieses Projekts bist, weil dieser impressionistische<br />
Garten so großmütterlich und lieb ist, dass ich<br />
den Kontrast mit deiner Mode wollte. Die sehen toll<br />
aus in dieser Umgebung, oder?<br />
Owens: Hm.<br />
Pfahler: Wie Außerirdische in einem audiovisuellen<br />
Garten.<br />
Owens: Weißt du schon, was als Nächstes kommt?<br />
Pfahler: Ich kümmere mich weiter um den Future<br />
Feminism, die unbeliebteste Bewegung aller Zeiten.<br />
Owens: Die klingt doch ganz reizvoll …<br />
Pfahler: Die Leute in den USA, vor allem in New<br />
York, haben eine Riesenangst, ihrer eigenen Karriere<br />
zu schaden. Oder ihren Aussichten, noch mehr Geld<br />
zu verdienen. Sich mit etwas so Haarigem, Leidenschaftlichem<br />
und 70er-Jahre-haftem wie Feminismus<br />
gemein zu machen, löst bei ihnen die Angst aus, dass<br />
keiner ihnen mehr einen Job geben oder mit ihnen<br />
Sex haben will.<br />
Owens: Ich wäre sehr gern einer der Feministen in<br />
deiner Bewegung. Kann ich irgendwo unterschreiben?<br />
Pfahler: Du hast mich ohnehin schon wahnsinnig<br />
unterstützt. Nicht sehr viele Menschen stehen voll<br />
und ganz hinter The Voluptuous Horror Of Karen<br />
Black. Vielleicht insgesamt vier.<br />
Owens: Ein paar mehr sind es schon, glaube ich.<br />
Und ich bin dabei, weil du jeden einzelnen Tag die<br />
Schönheit feierst.<br />
Pfahler: Wir haben neulich auch mal wieder mit<br />
dem Playboy gearbeitet. Komisch, oder?<br />
Owens: Ihr habt ja auch eine lange gemeinsame Geschichte.<br />
Diese eine Figur von dir mit den hohen Stiefeln<br />
war doch ursprünglich aus dem Playboy.<br />
Pfahler: Der Femlin, richtig. Eine Kombination aus<br />
Wednesday und Morticia Adams, Elvira, Vampiria –<br />
eine Ode an alle dunkelhaarigen Frauen. In der Playboy-Produktion<br />
bin ich so eine Art Mötley-Crüe-<br />
Model, nackt auf dem Pooltisch und mit diesen klassischen<br />
Posen. Die werden demnächst veröffentlicht.<br />
Owens: Toll. Dann kann ich sie ja endlich sehen. Ich<br />
glaube, insgeheim wollen wir alle Karen-Black-Mädchen<br />
sein. Ich jedenfalls.<br />
Pfahler: Sehr gern. Jeder darf mitmachen. Aber das<br />
Outfit ist nicht ganz leicht zu tragen. Nicht so wie bei<br />
deiner Kleidung, die man einfach anzieht, und alles ist<br />
perfekt und passt.<br />
Owens: Ich will jetzt etwas Rotes entwerfen. Ich<br />
sehe dich gerade vor einem roten Hintergrund.<br />
Pfahler: Das ist Ziegelrot. Das ganze Haus ist ziegelrot.<br />
Owens: Wieso „Ziegelrot“?<br />
Pfahler: Das nennt man einfach so. Das ist … (Stille)<br />
Owens: Oh. Ich glaube, du bist weg.<br />
stylist assistant lauren snyder<br />
Model KeMbra Pfahler<br />
(the vOluPtuOus hOrrOr Of Karen blacK)<br />
location the hOle Gallery,<br />
shOt durinG KeMbra’s exhibitiOn
Jessica S.<br />
Fotos<br />
steven PAn<br />
styling<br />
kAren kAiser<br />
122<br />
diese seite:<br />
Mantel<br />
viktor & rolF<br />
toP<br />
dries vAn noten<br />
rollkragenPUllover<br />
MiU MiU<br />
kragen<br />
eleven objects<br />
oHrringe<br />
dior<br />
recHte seite:<br />
jacke<br />
bAlenciAgA by<br />
nicolAs gHesqUière<br />
kragen<br />
eleven objects<br />
Hose<br />
céline<br />
scHUHe<br />
bAlly<br />
oHrringe<br />
dAvid yUrMAn
linke SeiTe:<br />
Top<br />
givenchy by<br />
riccArdo TiSci<br />
rock & hoSe<br />
louiS vuiTTon<br />
kragen (SpezialanferTigung)<br />
hwA c pArk STudio<br />
Schuhe<br />
prAdA<br />
ring<br />
de beerS<br />
ohrringe<br />
vAn cleef & ArpelS<br />
dieSe SeiTe:<br />
Top<br />
boTTegA veneTA<br />
hoSe<br />
giorgio ArmAni<br />
rollkragenpullover<br />
miu miu<br />
kragen<br />
eleven objecTS<br />
uhr<br />
dior<br />
ring miT Schwarzen und<br />
weiSSen diamanTen<br />
cArrerA y carrerA<br />
ring miT<br />
verSchiedenen edelSTeinen<br />
dAvid yurmAn<br />
125
photographer sTeven pan/managemenT+arTisTs<br />
hair riTa marmor/sTreeTers<br />
make-up kaoru okubo/managemenT+arTisTs<br />
manicure gina viviano/<br />
arTisTs by TimoThy priano<br />
props roberT sumrell<br />
model jessica sTam/img<br />
photo assistants paul park, Trevor smiTh<br />
stylist assistant julia chu<br />
casting piergiorgio del moro/sTreeTers<br />
production sTacee roberT/<br />
managemenT+arTisTs<br />
126<br />
diese seiTe:<br />
kleid<br />
dolce & gAbbAnA<br />
kragen<br />
(spezialanferTigung)<br />
hwA c pArk sTudio<br />
ohrringe<br />
r.j. graziano<br />
ringe & broschen<br />
vAn cleef & Arpels<br />
rechTe seiTe:<br />
manTel, uhr,<br />
ohrringe & ringe<br />
chAnel<br />
hose<br />
bAlmAin<br />
kragen & schuhe<br />
miu miu<br />
kragen miT pailleTTen<br />
eleven objecTs
Heike<br />
MakatscH<br />
von<br />
LeyLA PiedAyesh<br />
fotos<br />
giAmPAoLo sgurA<br />
styLing<br />
kLAus stockhAusen<br />
Ja, heike makatsch ist ein star,<br />
so modern, unaufgeregt<br />
und erfoLgreich, wie sich<br />
deutschLand heute gerne sieht.<br />
sie dreht fiLme, sPieLt theater,<br />
ist gefragte werbebotschafterin.<br />
aber wer redet schon gerne<br />
über die arbeit? aLso unterhieLten<br />
sich heike mAkAtsch und ihre<br />
freundin LeyLa Piedayesh Lieber<br />
über buffaLo boots, knutschende<br />
Paare und die sehnsucht<br />
nach einer Zigarette<br />
kLeid<br />
emiLio Pucci
LeyLa Piedayesh: Heike, wie geht es dir? Wir sehen<br />
uns ja kaum noch. Was hast du in der letzten Zeit gemacht?<br />
heike Makatsch: Im Moment ist es bei mir gerade<br />
ziemlich viel. Seit drei Wochen lebe ich in so einem<br />
ausgeklügelten System, auf das ich ziemlich stolz bin:<br />
morgens alle anziehen, dann die Kinder mit dem<br />
Fahrrad zur Kita bringen, anschließend das Fahrrad<br />
wechseln, dann damit zum Bahnhof …<br />
Piedayesh: Mit dem Rad? Also dazu wäre ich zu faul,<br />
ich würde ein Taxi nehmen.<br />
Makatsch: Das denkst du, aber dann steckst du eine<br />
halbe Stunde im Stau. Sonst würde ich natürlich auch<br />
ein Taxi nehmen, aber das funktioniert nicht. Also<br />
holpere ich mit dem Rad über all die Baustellen, die<br />
auch mit dem Rad kaum zu bewältigen sind, sitze<br />
dann um zehn vor neun im Zug, fahre nach Leipzig,<br />
mache meine Faust-Proben …<br />
Piedayesh: Um zehn vor neun? Sag mal, wann stehst<br />
du denn da auf? Um halb sieben?<br />
Makatsch: So ungefähr.<br />
Piedayesh: Zwei Kinder anzuziehen ist nämlich<br />
überhaupt nicht so einfach.<br />
Makatsch: Nein, das ist nicht so einfach. Und sie<br />
dann auch noch wohlbehütet abzugeben und so zu<br />
tun, als wäre man überhaupt nicht gestresst. Jedenfalls<br />
probe ich dann in Leipzig vier, fünf Stunden und nehme<br />
kurz vor drei den Zug zurück. Um vier bin ich<br />
dann wieder in Berlin und hole die Kinder ab. Danach<br />
hab ich manchmal noch ein paar kleinere Termine.<br />
Das mache ich jeden Tag. Und zweimal die Woche<br />
werde ich vom Bahnhof abgeholt und habe noch einen<br />
halben Drehtag …<br />
Piedayesh: In Leipzig?<br />
Makatsch: Nein, in Berlin. Ich drehe doch diesen<br />
Film mit Dieter <strong>Halle</strong>rvorden. Ach ja, und dann hatte<br />
ich in Leipzig noch die Wiederaufnahme von Krieg<br />
und Frieden, dieser 6-Stunden-Inszenierung. So sieht<br />
das Leben bei mir im Moment aus. Und bei dir?<br />
Piedayesh: Ich war gerade in Paris.<br />
Makatsch: Wie war’s?<br />
Piedayesh: Ach, Paris ist natürlich immer wieder<br />
schön. Aber mir ist da wieder aufgefallen, in was für<br />
einer uniformierten Zeit wir eigentlich leben. Du<br />
läufst durch die Straßen, und alle sehen gleich aus. Es<br />
gibt ungefähr sieben Modeketten, bei denen alle kaufen,<br />
also sehen auch alle Leute gleich aus. Das ist ein<br />
bisschen traurig.<br />
Makatsch: Aber bei uns sehen doch auch alle gleich<br />
aus. Vielleicht liegt es nur an der Blase, in der ich im<br />
Berliner Osten lebe, aber ich finde, dass die Mädchen<br />
hier schon alle so aussehen wie kleine Ladys. Es gibt<br />
auch kaum noch subkulturelle Strömungen. Es gibt<br />
keine Ökos, keine Mods, keine Punks, keine Gruftis,<br />
ich meine, die gibt es vielleicht noch, aber die haben<br />
keine Bedeutung mehr. Alle sehen aus wie Mango und<br />
H&M.<br />
Piedayesh: Was hast du denn getragen, als du jung<br />
warst?<br />
Makatsch: Gute Frage. Ich habe verschiedene Phasen<br />
durchgemacht. Eine Zeit lang war ich Mod, weil<br />
ich so von der Musik der 60er geprägt war. Ich hatte<br />
diese Miniröcke an, Lidstriche, spitze Schuhe …<br />
Piedayesh: So ein richtiges Mod-Mädchen warst du?<br />
Makatsch: Ja.<br />
Piedayesh: Süß. Hast du auch einen Parka angehabt,<br />
einen mit Kapuze?<br />
Makatsch: Ja, und dann hing ich auf einer Vespa<br />
drauf.<br />
Piedayesh: Und Paul Weller hast du gehört?!<br />
Makatsch: Ja, Paul Weller auch.<br />
„Wenn Man in<br />
PrenzLauer berg<br />
heruMLäuft,<br />
sieht Man vor<br />
aLLeM gestresste<br />
eLtern Mit<br />
ihren kindern.<br />
die koMMen<br />
nicht Mehr zuM<br />
knutschen”<br />
kleid<br />
gucci 131<br />
Piedayesh: Klar, was sonst? Und was kam nach der<br />
Mod-Phase?<br />
Makatsch: Weil meine erste große Liebe so aussah<br />
wie Axl Rose, ging es dann ein wenig in die Guns-N’-<br />
Roses-Richtung. Das heißt: viele Tücher und Ketten,<br />
so ein bisschen Sleaze-Rock-mäßig – oh Gott, oh<br />
Gott, oh Gott!<br />
Piedayesh: Und dann?<br />
Makatsch: Dann wurde ich erwachsen. Obwohl die<br />
Leute ja behaupten, dass ich ein Girlie gewesen sei.<br />
Piedayesh: Du warst das Vorzeige-Girlie, mit T-<br />
Shirts und engen Jeans …<br />
Makatsch: Ja, T-Shirts mit Aufdruck …<br />
Piedayesh: Die T-Shirts waren auch ein bisschen<br />
bauchfrei und relativ eng und hatten die Rolling-<br />
Stones-Zunge drauf.<br />
Makatsch: Zum Beispiel. Aber das haben damals<br />
doch alle getragen, oder?<br />
Piedayesh: Je nachdem, was für eine Figur die hatten,<br />
haben die das getragen, ja.<br />
Makatsch: Und was warst du?<br />
Piedayesh: Ich war Popper.<br />
Makatsch: Deswegen auch die Bundfaltenhosen.<br />
Piedayesh: Ja, ich war schon immer gern schnieke<br />
angezogen. Ich hatte Jetset-Sweatshirts an und Pullover,<br />
die man sich um den Arsch gebunden hat.<br />
Makatsch: Ich dachte, die hat man sich über die<br />
Schulter gebunden?<br />
Piedayesh: Das haben die Spießer gemacht. Ich habe<br />
sie lieber um den Arsch getragen, ist ja klar. Und dann<br />
ging ich über in dieses Baggy-Dasein mit Vans und<br />
solchen Sachen. Und als junges, kleines Mädchen hatte<br />
ich Sachen von Esprit an.<br />
Makatsch: Das hatte ich auch. Mit zwölf etwa.<br />
Piedayesh: Wobei, mit zwölf kam ja schon Nena mit<br />
ihren Miniröcken aus Sweatshirt-Stoff.<br />
Makatsch: Du meinst diese Stufen-Miniröcke?<br />
Piedayesh: Genau! Nena war übrigens mein erstes<br />
Konzert.<br />
Makatsch: Mein erstes war Shakin’ Stevens.<br />
Piedayesh: Nein!<br />
Makatsch: Doch! Da bin ich mit meiner Mutter gewesen,<br />
da war ich erst neun. Vor Aufregung bin ich<br />
beinah in Ohnmacht gefallen und hatte solche Bauchschmerzen,<br />
dass ich mich auf eine Bank legen musste,<br />
während Shakin’ Stevens vorne auf der Bühne gerockt<br />
hat oder wie man das nennen möchte. Das hat mich<br />
damals sehr geärgert. Und ich weiß heute noch, dass<br />
ich eine hellblaue Hose und ein hellblaues T-Shirt anhatte.<br />
Und dazu diese Schuhe von Buffalo, die an der<br />
Seite ein Zeichen hatten. Kennst du die?<br />
Piedayesh: Na klar kenne ich die. Ich bin in Wiesbaden<br />
aufgewachsen, von dort kommen Buffalo Boots<br />
doch her.<br />
Makatsch: Die waren wie Turnschuhe, halbhoch<br />
und mit diesem Zeichen an der Seite.<br />
Piedayesh: Die hatte ich in allen Farben.<br />
Makatsch: Ich auch! Die waren toll. Die sind immer<br />
noch toll.<br />
Piedayesh: Aber die sieht man nicht mehr.<br />
Makatsch: Die würde ich heute noch anziehen …<br />
Oh je, wenn die Leute das lesen, was wir hier reden,<br />
denken die, wir wären total oberflächliche Ziegen.<br />
Piedayesh: Nein, überhaupt nicht. Wir sind in den<br />
80ern aufgewachsen, und da war Fashion, ach, das<br />
war ja eigentlich gar keine Fashion, da war die<br />
Kleidung …<br />
Makatsch: … da war die Kleidung Teil der Identitätsfindung.<br />
Piedayesh: Da hat man sich auch das Geld zusammengespart,<br />
wenn man irgendetwas haben wollte.
“<br />
Nach Guns N’ Roses wurde<br />
ich erwachsen. Obwohl die Leute ja<br />
behaupten, dass ich ein Girlie war<br />
”<br />
kleid<br />
Tom Ford<br />
möbel<br />
FirmA loNdoN<br />
20Th CeNTUrY deSiGN
Makatsch: Absolut. Meine Tochter bekommt jetzt<br />
zwei Euro Taschengeld in der Woche. Neulich, als<br />
wir auf dem Flohmarkt waren, hatte sie ihr Geld dabei<br />
und ist zielstrebig auf ein altes Dirndl zugegangen,<br />
das sogar ihre Größe hatte. Das hat sie von zehn auf<br />
sechs Euro runtergehandelt, und das war das erste<br />
Stück, das sie sich selbst gekauft hat. Ich musste es ihr<br />
noch etwas ausbessern, und jetzt zieht sie es zu Hause<br />
immer voller Stolz an – ich hoffe, nur zu Hause.<br />
Piedayesh: Ach, nein, ich finde ein Dirndl auch draußen<br />
super. Mit einer Jeansjacke oder so …<br />
Makatsch: Aber damals war das, was man anhatte,<br />
auch immer wahnsinnig stark mit der Musik verquickt,<br />
die man gehört hat. Wahrscheinlich ist das<br />
heute immer noch so. Nur kann ich das nicht so genau<br />
sagen, ich bin da einfach raus.<br />
Piedayesh: Klar, das war mit der Musik verbunden.<br />
Ich war ja auch nicht nur äußerlich Popper.<br />
Makatsch: Du hast Wham! gehört?<br />
Piedayesh: Ja, Wham! und Kool & The Gang.<br />
Makatsch: Bei uns in Düsseldorf gab es damals so<br />
eine Bhagwan-Disco …<br />
Piedayesh: … die gab es bei uns auch.<br />
Makatsch: Man würde es nicht denken, weil sich<br />
Bhagwan ja so barfuß anhört, aber das war der Popper-Treff<br />
überhaupt. Bei euch auch?<br />
Piedayesh: Nein, bei uns war das ziemlich sektenmäßig.<br />
Ich weiß noch, wie ich da mit 15, 13 oder 14<br />
reingegangen bin und alle so rot gekleidet waren.<br />
Makatsch: Nein, bei uns war das anders. Da lief<br />
dann so The Look Of Love von ABC …<br />
Piedayesh: Herrlich. Und Illusion?<br />
Beide: (singen) „It’s just an illusion, ha, ha, ha, haha.“<br />
Piedayesh: Das höre ich heute immer noch gern,<br />
wenn es irgendwo läuft. Das Rockigste, was ich gehört<br />
habe, waren vielleicht die Rolling Stones.<br />
Makatsch: Meine größten Helden waren ja die<br />
Beat les und dann drumherum alles aus den 60ern:<br />
The Who, Kinks, Yardbirds. Und dann habe ich auch<br />
viel Punk gehört, Bands wie Hüsker Dü oder 999.<br />
Piedayesh: Bist du auch auf Konzerte gegangen?<br />
Makatsch: Ja, ich war dauernd auf Konzerten und<br />
überhaupt sehr nachtlebig unterwegs. Ich war zwar<br />
immer auf Kirschsaft, aber schon sehr früh in der<br />
Altstadt aus und mit 14, 15 auch im Ratinger Hof<br />
und so. Aber dann kamen die Guns N’ Roses, und es<br />
ging ein bisschen bergab. Ich weiß noch, wie ich mit<br />
meinem damaligen Freund, der so aussah wie Axl<br />
Rose, auf dem einzigen Guns-N’-Roses-Konzert in<br />
Mannheim war, bei der Use Your Illusion-Tour. Das<br />
war so 1990.<br />
Piedayesh: 1990 – ging es da nicht schon so langsam<br />
mit Elektro los?<br />
Makatsch: Ja, bei den anderen vielleicht, aber nicht<br />
bei mir.<br />
Piedayesh: 1990 hatte ich mir, glaube ich, gerade die<br />
Haare feuerrot gefärbt und mir noch mal Christiane F.<br />
durchgelesen.<br />
Makatsch: Ich hatte mir mit Crazy Colors die Haare<br />
so rot wie Paprikaschoten gefärbt.<br />
Piedayesh: Crazy Colors sind ja heutzutage auch<br />
wieder sehr beliebt.<br />
Makatsch: Ja, aber heute sind die Farben eher ausgewaschen,<br />
damals hatte man sie lieber kräftig und<br />
satt. Jedenfalls: Damals gab es viel Nachtleben.<br />
Piedayesh: Wenn ich jetzt an die Zeit zurückdenke,<br />
in der ich angefangen habe, auszugehen, frage ich<br />
mich, wie es wohl ist, wenn meine Tochter in dem Alter<br />
ist. Meine Kleine ist jetzt vier, das ist also auch nur<br />
noch zehn, zwölf Jahre hin. Ich meine, ich bin so ein<br />
Schisser, dass ich schon bei der Vorstellung, sie mal<br />
„ich haBe den<br />
Rauch iMMeR so<br />
halB ausgeBlasen<br />
und dann wiedeR<br />
eingesogen.<br />
das waR teil MeineR<br />
PeRsönlichkeit.<br />
und als ich dann<br />
aufhöRen wollte,<br />
Meinte eine<br />
fReundin zu MiR:<br />
,hM, dann Bist du<br />
aBeR nicht MehR<br />
die gleiche’”<br />
134<br />
alleine auf die Straße zu lassen, es mit der Angst zu<br />
tun bekomme. Geht dir das auch so?<br />
Makatsch: Nein, das geht mir nicht so. Ich bin zwar<br />
auch eine ziemliche Glucke, aber ich habe nicht so<br />
viel Angst.<br />
Piedayesh: Vor allem frage ich mich, wie es denn<br />
später sein wird, wenn sie um zwölf zu Hause sein<br />
muss und dann um halb eins immer noch nicht da<br />
ist?<br />
Makatsch: Bist du denn immer pünktlich zu Hause<br />
gewesen?<br />
Piedayesh: Ich bin ja sehr streng erzogen worden<br />
und durfte eigentlich nie etwas. Aber wenn ich ausnahmsweise<br />
doch mal was durfte, hab ich es immer<br />
gleich übertrieben und bin erst viel zu spät zu Hause<br />
gewesen.<br />
Makatsch: Ich durfte auch nicht so viel. Bis ich 18<br />
war, musste ich immer die letzte Bahn nehmen, die<br />
ging um acht Minuten nach eins. Das war also nicht<br />
so wahnsinnig locker. Mein Freund durfte nie bei mir<br />
schlafen. Und ich glaube, ich würde es ähnlich halten<br />
mit meiner Tochter.<br />
Piedayesh: Aber wir leben doch heute in einer ganz<br />
anderen Zeit. Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt<br />
funktionieren würde.<br />
Makatsch: Ich glaube, dass man den Kindern einfach<br />
einen Schutzraum bieten muss. Ich habe später<br />
mal meine Mutter gefragt, warum denn nie mein<br />
Freund bei mir übernachten durfte, und sie meinte:<br />
„Na ja, wenn du mit deinem Freund was machen<br />
wolltest, dann hast du das ja sowieso gemacht, da hätte<br />
ich gar nichts gegen machen können. Aber für den<br />
Fall, dass du das nicht wolltest, sollte dir das Verbot<br />
einen Schutzraum bieten. Du konntest sagen: ,Nein,<br />
ich will jetzt nicht! Nein, ich muss nach Hause!‘ Du<br />
konntest damit alles auf mich schieben.“ Dadurch<br />
war ich als 16-Jährige nicht so sehr der Situation ausgeliefert.<br />
Das war mir allerdings damals natürlich<br />
nicht klar.<br />
Piedayesh: Bei mir waren die Verbote so kategorisch,<br />
dass ich sie nicht als Unterstützung verstanden habe,<br />
sondern als etwas, das alles in mir erstickt hat. Ich<br />
fand das nicht so cool.<br />
Makatsch: Allerdings war ich, glaube ich, auch ein<br />
wahnsinnig liebes Kind. Meine Mutter sagt immer, es<br />
habe mit mir nie Probleme gegeben. Das sagt die immer<br />
zu mir. Ich denke dann: Das muss mein Problem<br />
gewesen sein.<br />
Piedayesh: Dass du so nett warst?<br />
Makatsch: Ja.<br />
Piedayesh: Wann hast du rebelliert?<br />
Makatsch: In den letzten fünf Jahren.<br />
Piedayesh: Oh, jetzt erst. Ich denke, irgendwie muss<br />
man immer rebellieren.<br />
Makatsch: Ja, sicher. Dass ich so angepasst war,<br />
hing auch damit zusammen, dass ich so eng mit meinen<br />
Eltern war. Die waren ja auch so jung und so cool.<br />
Es gab da einfach nur wenig Widerstand, gegen den<br />
ich mich hätte auflehnen müssen.<br />
Piedayesh: Bei mir war das anders. Ich kam aus dem<br />
konservativen Iran plötzlich nach Deutschland in eine<br />
freie Gesellschaft …<br />
Makatsch: Wann war das?<br />
Piedayesh: 1979, da war ich neun.<br />
Makatsch: Ach, da warst du ja schon groß. Das<br />
muss ja ein Kulturschock gewesen sein?<br />
(Sie schauen zum Pärchen am Tisch gegenüber.)<br />
Makatsch: Die sind nur am Knutschen da drüben,<br />
nur am Knutschen.<br />
Piedayesh: Ja, Frischverliebte sind toll. Manchmal<br />
nerven sie allerdings auch …<br />
Kleid<br />
CAlViN KleiN<br />
COlleCTiON<br />
gelbgOldArmreif<br />
miT diAmANTeN<br />
TiffANy & CO.<br />
TApeTe<br />
HermèS
kleid<br />
giorgio ArmAni<br />
gelbgoldArmreif<br />
mit diAmAnten<br />
tiffAny & Co.<br />
MAKATSCH: Aber guck mal, die sind total verknallt!<br />
PIEDAyESH: Süß! In Paris hab ich auch an jeder Ecke<br />
ein frisch verliebtes Pärchen gesehen, das nur geknutscht<br />
hat. Fand ich herrlich.<br />
MAKATSCH: Du meinst Pärchen, die dort ihren Honeymoon<br />
verbracht haben? Oder waren die aus Paris?<br />
PIEDAyESH: So sehr bin ich denen jetzt nicht auf die<br />
Pelle gerückt, ich bin ja nur an denen vorbeigegangen.<br />
Und da sie geknutscht haben, weiß ich auch<br />
nicht, in welcher Sprache sie gesprochen haben. Die<br />
haben sich verständigt in der internationalen Sprache<br />
der Liebe. In Berlin sieht man übrigens nicht so oft<br />
knutschende Paare.<br />
MAKATSCH: Nein. Wenn man zum Beispiel in Prenzlauer<br />
Berg herumläuft, sieht man vor allem gestresste<br />
Eltern mit ihren Kindern. Die kommen nicht mehr<br />
zum Knutschen.<br />
PIEDAyESH: Stimmt, die haben das Knutschen schon<br />
hinter sich, die schieben nur noch.<br />
(starkes Husten)<br />
MAKATSCH: Oh, was ist da los?<br />
PIEDAyESH: Ich habe zu viel geraucht.<br />
MAKATSCH: Rauchst du wieder?<br />
PIEDAyESH: Ja, ich habe wieder angefangen zu rauchen,<br />
und jetzt will ich wieder anfangen, damit aufzuhören.<br />
MAKATSCH: Wie viele waren es denn heute?<br />
PIEDAyESH: Erst eine.<br />
MAKATSCH: Das ist ja nicht so viel.<br />
PIEDAyESH: Ja, aber wenn ich ein Glas Wein trinken<br />
würde, käme die zweite, die dritte, vierte, fünfte.<br />
MAKATSCH: Ja, aber trotzdem denke ich manchmal,<br />
dass Rauchen auch eine schöne Sache ist. Ich rauche ja<br />
nicht mehr.<br />
PIEDAyESH: Du hast mal geraucht?<br />
MAKATSCH: Ja, das kannst du dir bestimmt nicht vorstellen,<br />
oder? Ich war mal eine Starkraucherin, vor<br />
zehn Jahren. Ein, zwei Packungen am Tag hab ich<br />
gebraucht.<br />
PIEDAyESH: Ein, zwei Packungen?! Das ist viel.<br />
MAKATSCH: Ich hatte da auch so eine bestimmte<br />
Technik. Ich habe den Rauch immer so halb aus geblasen<br />
und dann wieder eingesogen. Das hat viel Spaß<br />
gemacht. Das war auch Teil meiner Persönlichkeit.<br />
Und als ich dann aufhören wollte, meinte eine Freundin<br />
zu mir: „Hm, dann bist du aber nicht mehr die<br />
Gleiche.“<br />
PIEDAyESH: Wie nett.<br />
MAKATSCH: Das hat mich damals schwer getroffen.<br />
Ich habe seitdem jedenfalls keine Zigarette mehr angerührt.<br />
Aber ich weiß, dass das Rauchen immer noch<br />
ein alter Freund ist, den ich manchmal vermisse.<br />
PIEDAyESH: Aber lass uns doch noch mal über deinen<br />
Beruf sprechen. In was für Filmen würdest du eigentlich<br />
gerne mal spielen?<br />
MAKATSCH: Ach, in so Dramen, wo alle völlig aufgelöst<br />
aus dem Kino kommen und unter Schluchzen<br />
sagen: „Dieser Film hat gerade mein Leben erzählt,<br />
aber auf eine ganz andere Weise.“ (lacht)<br />
PIEDAyESH: Also ich würde ja gerne in einem AlmodóvarFilm<br />
mitspielen, diese großen Tragödien.<br />
MAKATSCH: Bei mir wären das einerseits so Michael<br />
HanekeFilme, aber auf der anderen Seite auch Filme<br />
mit Ben Stiller.<br />
PIEDAyESH: Du meinst Komödien?<br />
MAKATSCH: Ja.<br />
PIEDAyESH: Aber findet man Ben Stiller wirklich richtig<br />
lustig?<br />
MAKATSCH: Ja! Zoolander musst du dir anschauen.<br />
Kennst du Zoolander?<br />
PIEDAyESH: Nein.<br />
„BIS ICH 18 WAR,<br />
MUSSTE ICH<br />
IMMER DIE LETzTE<br />
BAHN NEHMEN,<br />
DIE gINg UM<br />
ACHT MINUTEN<br />
NACH EINS.<br />
MEIN FREUND<br />
DURFTE NIE BEI MIR<br />
SCHLAFEN. ICH<br />
gLAUBE, ICH<br />
WüRDE ES äHNLICH<br />
HALTEN MIT<br />
MEINER TOCHTER”<br />
137<br />
MAKATSCH: Einer der wichtigsten Filme überhaupt:<br />
„This is Hansel, he is so hot right now! Hansel is so<br />
hot right now!“ Ich weiß gar nicht, wie oft ich den<br />
Film gesehen habe.<br />
PIEDAyESH: Hast du überhaupt schon mal Komödien<br />
gespielt?<br />
MAKATSCH: Ja, am Anfang meines schauspielerischen<br />
Schaffens. Und damals wurden mir eigentlich<br />
auch nur Komödien angeboten. Aber das waren dann<br />
oft Komödien, die nur eine Replik auf eine andere<br />
Komödie waren – oft am Reißbrett entworfen und<br />
auch nicht besonders gut geschrieben. Und weil ich<br />
mir selbst am liebsten Dramen ansehe, habe ich versucht,<br />
das irgendwie zu durchbrechen, was zur Folge<br />
hatte, dass mir heute gar keine Komödien mehr angeboten<br />
werden. Aber ich würde gerne mal wieder<br />
eine drehen.<br />
PIEDAyESH: Das kennst du wahrscheinlich auch, dass<br />
du manchmal ein Buch liest und dich so sehr mit dem<br />
Protagonisten identifizierst, dass du denkst: Mensch,<br />
das hätte ich auch gerne erlebt! Bei welchem Buch<br />
war das bei dir zuletzt so?<br />
MAKATSCH: Wahrscheinlich bei Vom Winde verweht.<br />
PIEDAyESH: Oh, nein.<br />
MAKATSCH: Die Geschichte hätte ich vielleicht nicht<br />
gerne selber erlebt, aber das Buch habe ich gelesen, als<br />
ich 14 war, und damals war ich in den falschen Jungen<br />
verliebt und mit dem richtigen zusammen.<br />
PIEDAyESH: Hahaha. Als ich die Biografie von Fassbinder<br />
gelesen habe, dachte ich: Mit dem hätte ich<br />
gerne mal zusammengearbeitet. Ich fand das so zerstörerisch,<br />
diese Welt, die sie sich geschaffen haben.<br />
Völlig unglaublich, wie die drauf waren.<br />
MAKATSCH: Ja, solche zerstörerischen Sachen findet<br />
man irgendwie immer attraktiv.<br />
PIEDAyESH: Ja, total.<br />
MAKATSCH: Weil es auch so lebendig wirkt, so von<br />
beiden Seiten zu brennen. Gehst du eigentlich noch<br />
zum Yoga? Wir haben noch gar nicht über unsere<br />
YogaLeidenschaft gesprochen.<br />
PIEDAyESH: Dabei haben wir uns doch beim Yoga<br />
kennengelernt. Damals war ich ja noch 20 Kilo<br />
schwerer.<br />
MAKATSCH: Das kann man sich heute gar nicht mehr<br />
vorstellen. Du sahst aus wie so eine iranische Mutti.<br />
PIEDAyESH: Hahaha!<br />
MAKATSCH: Und, gehst du noch zum Yoga?<br />
PIEDAyESH: Ja, wenn ich es schaffe, gehe ich dreimal<br />
die Woche, immer morgens. Erst bringe ich die Kleine<br />
in die Kita, und dann geht es los. Morgens ist Yoga<br />
super.<br />
MAKATSCH: Würde ich auch gern machen. Aber gerade<br />
geht es nicht. Ich war auch schon so richtig muskulös<br />
geworden, aber das ist jetzt wieder weg. Aber<br />
wenn sich im November der ganze Stress ein wenig<br />
gelegt hat, gehe ich wieder hin.<br />
Mein Faust MIT HEIKE MAKATSCH<br />
HAT AM 15. NOVEMBER IM CENTRALTHEATER<br />
LEIPzIg PREMIERE. DORT LäUFT DERzEIT MIT IHR<br />
AUCH DAS STüCK Krieg und Frieden,<br />
BEIDE IN DER REgIE VON SEBASTIAN HARTMANN<br />
IM FERNSEHEN IST HEIKE MAKATSCH<br />
NEBEN MARK WASCHKE AM 28. NOVEMBER<br />
IN DEM FILM sechzehneichen VON<br />
HENDRIK HANDLOEgTEN zU SEHEN<br />
Haare & Make-up STELLI.EU MIT PRODUKTEN VON<br />
L’ORÉAL PARIS UND TOM FORD COSMETICS<br />
Props IRINA KROMAyER<br />
Foto-Assistenz ANgELA IMPROTA, VIKTOR EBELL<br />
Digital Operator gIULIANO CARPARELLI<br />
Styling-Assistenz CAROLINE LEMBLÉ<br />
Haare- & Make-up-Assistenz MANUELA KOPP<br />
Props-Assistenz EMILIE BRUNER<br />
Produktion FRANK SEIDLITz, DOROTHEA FIEDLER<br />
Dank an DELIgHT STUDIOS BERLIN<br />
UND FIRMA LONDON BERLIN
fotoAlbuM<br />
fotoalbum<br />
More pASSion, 2010, red neon<br />
Tracey emin<br />
Running naked, 2011, C-PRint<br />
Sie Scheut Sich nicht, öffentlich<br />
über Abtreibung und AnAlverkehr<br />
zu Sprechen, Stellte ihr verSiffteS bett<br />
inS MuSeuM und kennt Auch<br />
SonSt kAuM SchAM, ihr innerSteS<br />
nAch AuSSen zu kehren.<br />
doch SelbSt trAceY eMin wird iM Alter<br />
etwAS ruhiger. wenige wochen,<br />
bevor ihre Arbeiten in frAnkfurt<br />
gezeigt werden, SprAchen wir Mit der<br />
künStlerin über einige wichtige werke<br />
von<br />
Jörg hArlAn rohleder<br />
More pASSion ein neon-Schriftzug, den ich für die downing Street no. 10 Angefertigt<br />
hAbe. er hängt iM erSten Stock iM gAng vor deM terrAcottA-ziMMer. wie eS dAzu kAM?<br />
preMierMiniSter cAMeron nAhM Mich bei eineM AbendeSSen beiSeite und Meinte, er hätte<br />
gerne etwAS, dAS der Altehrwürdigen no. 10 ein biSSchen kAnte verleiht. etwAS Anrüchig<br />
SexuelleS wAr nicht drin – und „Mehr leidenSchAft” kAnn nie SchAden!<br />
138<br />
Fotos: © the artist, Courtesy Lehmann Maupin; Ben Westoby, © the artist, Courtesy white cube<br />
Schauen Sie sich meinen Hintern an! 2000 fotografiert, ein Jahrzehnt später veröffentlicht. Dieses Bild entstand<br />
um fünf Uhr in der Früh. Matt filmte mich, während ich die Brick Lane und ein paar Seitenstraßen runterrannte.<br />
Nackt. Danach trieben wir es auf einem Dach.<br />
Sie waren also noch wach?<br />
Selbstverständlich! Wir waren verrückt. Heute bin ich das nicht mehr. Zumal ich niemanden mehr an meiner Seite weiß, mit<br />
dem ich bis zum Sonnenaufgang wach sein könnte.<br />
Tracey Emin, die Queen of British Popo Art.<br />
Dabei hege ich seit jeher den Verdacht, dass ich im Ausland ernster genommen werde als in Großbritannien.<br />
Wie kommen Sie darauf? Sie leuchten in der Downing Street, sind Professorin an der Royal Academy of Arts,<br />
haben Ihr Land bei der Biennale in Venedig vertreten, waren für den Turner-Preis nominiert.<br />
Aber ich habe den Turner-Preis nicht gewonnen. Als es eine Ausstellung aller Turner-Preis-Gewinner in der Tate gab, dachten<br />
die Leute fälschlicherweise, mein Raum dort sei Teil der Ausstellung.<br />
Immerhin haben Sie einen eigenen Raum in der Tate. Come on!<br />
Trotzdem fällt es Museen schwer, meine Arbeiten anzukaufen. Denken Sie nur an My Bed: Ein Museum, das das Bett besitzen<br />
will, braucht eine Gefrierkammer. Sonst verrottet es. Andere Werke sind den Gremien zu explizit – sie scheuen sich, Wandteppiche<br />
mit Sprüchen wie „Wir sehen uns Live-Abtreibungen im Fernsehen an“ aufzuhängen. Unterstützt wird der Widerstand<br />
durch die englischen Medien: Mein Beitrag in Venedig – international bekam ich Bestnoten, in England lästerte die<br />
Presse dennoch. Das schmerzt. Ich mag Teil der Popkultur sein, Teil des Londoner Establishments, aber für den Geschmack<br />
einiger britischer Kunstkritiker bin ich zu sehr Mainstream. In Amerika tue ich mich ähnlich schwer wie in England: Deshalb<br />
freue ich mich auch auf meine Ausstellung in Buenos Aires. Ich erobere den Kontinent vom Süden her.<br />
Sind einem nörgelnde Kritiker nicht irgendwann egal? Zur großen Retrospektive in Ihrer Heimatstadt Margate<br />
kamen 170 000 Besucher, Ihre Autobiografie ist Teil des britischen Schulkanons.<br />
Gegen Kritik ist man ja nie immun. Die Ausstellung in Margate war toll – welcher Künstler bekommt schon die Chance, es<br />
seiner alten Heimatstadt zu Lebzeiten heimzuzahlen? Mehr als 170 000 Besucher, die Hälfte davon unter 25 Jahre alt. Das<br />
finde ich toll. Und ja, die Schüler lesen Strangeland im Unterricht. Darauf bin ich sehr stolz. Deswegen kichern jetzt ab und<br />
zu irgendwelche Teenies, wenn sie mich sehen. Da heißt es dann: „Oha, schaut, das ist Tracey!“<br />
139
fotoalbum<br />
fotoalbum<br />
A<br />
Cunt<br />
a cunt is a rose is a cunt, 2000,<br />
monoprint<br />
is a Rose is a Cunt. Eine eindeutige Zeichnung. Was gibt es da zu erklären? Ich habe das Wort „Cunt“<br />
nicht erfunden: Henry Miller schrieb einst: „Sie hat spanische Augen, einen englischen Mund und eine internationale<br />
Cunt.“ So oder so ähnlich. Brillant, wie ich finde.<br />
Der „New Yorker“ hat Ihrem geradezu inflationären Gebrauch des Wortes Cunt<br />
eine Abhandlung gewidmet. Das Fazit: Cunt ist eine Unabhängigkeitserklärung des Feminismus.<br />
Aber auch der Werktitel ist ein ziemlich schlagkräftiger Satz für eine Frau,<br />
die sich bis zum dritten Lebensjahr weigerte, überhaupt ein Wort zu sprechen.<br />
Das stimmt nur bedingt. Mein erster Satz lautete tatsächlich: „Schau. Apfel.“ Ich war drei. Und „Schau. Apfel“ habe ich vor<br />
Mummy oder Daddy gesagt. Aber mein Zwillingsbruder und ich hatten eine Geheimsprache. Und die habe ich sehr wohl vor<br />
meinem dritten Geburtstag gesprochen.<br />
Sie arbeiten eindrucksvoll mit Sprache. Sätze wie „With you I can breathe“, „If I have to be honest I’d rather not be painting“<br />
oder „The first cigarette of the day always makes me want to s---.“ brennen sich ein.<br />
„With you I can breathe“ ist schön, nicht wahr? Er stammt von der neuen, ruhigeren, lebensbejahenden Tracey. Die beiden<br />
anderen entstanden in meiner wilden Zeit in den Neunzigern. Sie wollen gar nicht wissen, was genau da war. Okay, bevor Sie<br />
nachfragen: Ich habe mich 1996 splitternackt für 14 Tage in ein Zimmer sperren lassen, alleine, nur ich, meine Farben und die<br />
Leinwände.<br />
Geht es darum zu schocken?<br />
Ich provoziere manchmal, aber ich will nicht schocken. Es gibt eben Leute, die halten so ziemlich alles für schockierend. Die<br />
zählen, wie oft ich „Fuck“ oder „Cunt“ verwende. Aber jetzt hat mich der New Yorker ja anscheinend rehabilitiert.<br />
Und der Spruch: „Free and really wet“?<br />
Handelt davon, dass man wieder und wieder kommt. Ein brillantes Motto, finden Sie nicht?<br />
140<br />
Fotos: Stephen White, © Tracey Emin, Courtesy White Cube; Carl Freedman<br />
the Shop, bethnal Green<br />
Ach, das war vor fast 20 Jahren. Sarah Lucas und ich, vor unserem Laden in Bethnal Green. Der Laden hieß<br />
The Shop, eine gute Zeit.<br />
Einer Ihrer Verkaufsschlager war ein Aschenbecher, den das Konterfei von Damien Hirst zierte.<br />
Ja, der kam gut an. Damien fand ihn auch lustig. Wenn Sie ihn heute sehen würden, würden Sie Damien auf dem Aschenbecher<br />
nicht erkennen.<br />
Stört es Sie, dass Damien und andere Young British Artists in Auktionsergebnissen erfolgreicher sind als Sie?<br />
Nein. Ich arbeite mit einfachen Materialien und beschränke mich nicht in der Form. Ich zeichne auf Papier, male auf Leinwand,<br />
arbeite mit Film, Neon, Skulpturen, Textilien. Ich bin Künstlerin. Ich bin kreativ und kann mit allem arbeiten. Die<br />
meisten Künstler sind gut in einer Disziplin, in einer Richtung, mit einer Idee. Damit erzielen sie höhere Auktionsergebnisse<br />
als ich. Aber das interessiert mich nicht. Ich verkaufe genug. Und meine Warteliste ist lang.<br />
Die Ausstellung in der Frankfurter Schirn, bei der Ihre Arbeiten ab November zu sehen sind,<br />
trägt den Titel „Privat“. Ist das für jemanden wie Sie – zumal in Zeiten von Facebook – nicht ein obsoletes Konzept?<br />
Einige Theorieschaffende beschwören bereits das Zeitalter der Post-Privacy.<br />
Ich war und bin nicht bei Facebook. Was soll ich da? Facebook ist nicht intim. Das gestrige Mahl, ein neues Kleid, die schicke<br />
Reise – das hat nichts mit Intimität zu tun. Facebook ist allenfalls gut, um zu spionieren, was Freunde und Exfreunde gerade<br />
so treiben. Ich bin Künstlerin und gewähre ausgewählte Einblicke in mein Privatleben. Aber: Wer mein Bett sehen will, muss<br />
ins Museum gehen. Googeln Sie mich! Sie werden vermeintlich intime Details finden. Aber kaum etwas über die Privatperson<br />
Tracey Emin.<br />
141
fotoalbum<br />
fotoalbum<br />
my bed, 1998, mixed media<br />
mad tracey from margate. everyone’s been there, 1997, appliquéd blanket fabric<br />
from clothing provided by friends<br />
Mad Tracey from Margate. Ja, ein Teil der Serie ist eine alte Matratze, die ich eigentlich wegwerfen wollte,<br />
das aber nicht konnte, da manche Leute wissen, wo ich wohne. Also brachte ich sie in mein Atelier, um<br />
sie dort loszuwerden. Sie lag also da rum, ich legte Zeugs darauf ab und als ich die Ausstellung in Margate<br />
vorbereitete, dachte ich plötzlich: Hey, das ist das perfekte Objekt für Margate. Interessant ist, dass die<br />
Matratze am Rand überall Flecken hat. Die Flecken sind nicht nachträglich entstanden, sondern auf natürliche Weise. Vielleicht<br />
ein Zeichen meiner Unausgeglichenheit, eine Metapher für Leben oder Liebe. Das Zentrum scheint unbefleckt, alles<br />
deutet auf die Extreme hin. Ein anderes Exponat der Ausstellung war diese blaue Wolldecke, bestickt mit Erinnerungen<br />
meiner Jugend. An einer Stelle steht: „Oh mein Gott, du weinst“, an einer anderen „Jedes Mal, wenn ich an einem Dunkin’<br />
Donuts vorbeikomme, denke ich an dich.“ Die Buchstaben habe ich aus Kleiderspenden ausgeschnitten, die mir Freunde und<br />
Bekannte gegeben haben.<br />
Ihre Kindheit in Margate war nicht gerade sonnig. In Ihrer Autobiografie „Strangeland“ schreiben Sie verschwommen<br />
von sexuellem Missbrauch durch einen Freund der Familie, von der Vergewaltigung durch einen älteren Jungen,<br />
als Sie zwölf waren, später dann von der Rebellin Tracey, die Sex als Ausdrucksform, ihren Körper als Waffe begreift.<br />
War es schmerzhaft, nach Margate zurückzukehren?<br />
Ich habe versucht, die Erinnerungen auszublenden. Aber das ist mir nur teilweise gelungen. Außerdem war das Wetter beschissen.<br />
Dann musste ich noch mit dem olympischen Feuer durch Margate laufen – da fühlte ich mich wieder wie das Schulmädchen,<br />
das dem Bus hinterherrennt.<br />
Mit 15 beendeten Sie die Schule, um nach London zu ziehen.<br />
Ihr Gepäck bestand aus einer Tasche Klamotten, 20 Pfund und zwei Alben von David Bowie.<br />
Anfangs wohnte ich bei einer Freundin, später in einem besetzten Haus. Die meisten Mitbewohner studierten Mode oder<br />
Kunst an der Saint Martins. Es waren Hausbesetzer, ja, aber sie waren gebildet und wollten etwas verändern. Da merkte ich,<br />
dass in meinem Leben etwas fehlt, etwas, das ich auch möchte. Also fing ich an zu lesen, mich zu bilden, aufzuholen.<br />
… und auf der Überholspur zu leben. Erinnern Sie sich, wann Sie das erste Mal den Spitznamen „Mad Tracey“ hörten?“<br />
Den verpasste mir die Presse irgendwann im Zuge der Berichterstattung über die Young British Artists. Ich war eben „Crazy<br />
Tracey“.<br />
Nein, niemals.<br />
Hätten Sie gedacht, dass Sie 2012 noch erleben würden?<br />
142<br />
Fotos: Stephen White, © Tracey Emin, Courtesy White Cube; Prudence Cuming Associates Ltd., © the artist, Courtesy The Saatchi Gallery, London<br />
Mein Bett. Neben dem Zelt wahrscheinlich mein bekanntestes Werk. Wenn ich mir das anschaue, weiß ich,<br />
dass ich eigentlich aufhören könnte.<br />
Wie meinen Sie das?<br />
Na ja, andere Künstler versuchen ein Leben lang, ein relevantes Werk, eine Mona Lisa, zu erschaffen. Ich habe zwei. Mein<br />
Bett und mein Zelt. Und kann mich sehr glücklich schätzen.<br />
Auch darüber, dass – im Gegensatz zu Damien Hirsts Haien in Formaldehyd – Ihr Bett im fortgeschrittenen Alter nicht tropft.<br />
Nein, das tut es nicht (lacht).<br />
„My Bed“ besteht aus dem Bett, dazu gehören aber auch: leere Wodkaflaschen, diverse Flecken nicht näher bestimmter Körperflüssigkeiten,<br />
Kippenstummel, aufgerissene Kondompackungen. Die offensichtliche Frage lautet: Wie sieht Tracey Emins Bett heute aus?<br />
Es ist ein wenig zerwühlt. Darauf liegen/stehen: ein iPad, mein BlackBerry, das Buch, das ich gerade lese, ein Teepott mit Earl<br />
Grey, Grapefruitsaft, Honig. Da ich gerade in Los Angeles aufgewacht bin, in einem Hotel direkt am Strand, ist das nicht<br />
wirklich typisch. Aber die Aussicht ist fantastisch. Ich sehe den Pazifik, Wellen, die an den Strand rollen, Palmen, Nebelschleier,<br />
die sich gerade lüften, dahinter einen kristallklaren blauen Himmel, Sonne.<br />
Das kommt darauf an, wie Sie das meinen (lacht).<br />
Finden Sie es komisch, wenn ich Ihnen sage, dass ich jede Nacht mit Ihnen schlafe?<br />
In meinem Schlafzimmer hängt ein Selbstporträt von Ihnen. Und ich schlafe vorzüglich damit.<br />
Um welches Selbstporträt handelt es sich?<br />
Sie stehen in der Mitte des Bildes, sind nackt, gezeichnet in schnellen Strichen. Es ist signiert.<br />
Die Jahreszahl steht darauf. Ansonsten nichts.<br />
Eigentlich muss der Titel des Bildes irgendwo verzeichnet stehen. Jede meiner Zeichnungen trägt einen Namen. Ich will Sie<br />
nicht beunruhigen, aber Ihr Bild klingt wie eine Fälschung. Vielleicht kann ich mich auch nicht an ein unbetiteltes Selbstporträt<br />
erinnern, da ich mehr als 2 000 Zeichnungen veröffentlicht habe. Zeichnungen gehen schnell: Für die meisten brauche<br />
ich kaum mehr eine halbe Minute. Schicken Sie mir das Bild: Es wäre ein Jammer, wenn Sie jeden Morgen neben einer gefälschten<br />
Tracey Emin aufwachen (lacht).<br />
143
fotoalbum<br />
fotoalbum<br />
EvEryonE I HavE EvEr SlEpt WItH 1963–1995, 1995, applIquEd tEnt,<br />
mattrESS and lIgHt<br />
How it feels, 1996, single screen projection and sound (sHot on Hi8 transferred to dVd),<br />
duration: 22 minutes 33 seconds<br />
Mein Zelt. Das muss ja in der Auswahl sein. Sie werden jetzt fragen, ob es schlimm ist, dass es in einem<br />
Feuer zerstört wurde, aber das ist es nicht. Am selben Tag sind 70 Kinder bei einem Selbstmordanschlag<br />
in einer Schule in Afghanistan umgekommen. 70 tote Kinder. Das ist schlimm.<br />
Charles Saatchi wollte das Zelt für seine Sammlung erwerben.<br />
Sie haben abgelehnt. Warum?<br />
Am Ende war es seins. Aber nicht, weil ich es ihm verkauft habe. Er hat das Zelt über Umwege erstanden. Die ersten acht<br />
Jahre hat er überhaupt kein Werk von mir bekommen. Aus dem einfachen Grund, weil Charles geholfen hat, Margaret Thatcher<br />
ins Amt zu heben. Und diese Frau hat weiß Gott vielen Menschen großes Leid zugefügt.<br />
Im Inneren des Zeltes haben Sie die Namen aller Personen notiert, mit denen Sie Ihr Bett geteilt haben.<br />
Insgesamt sind das 102 Namen.<br />
Das war der Stand damals. Heute ist es so, dass ich seit drei Jahren keine ernsthafte Beziehung mehr gehabt habe.<br />
Warum finden Sie keinen Partner?<br />
Weil Männer Angst haben vor Frauen, die Geld haben, die oben mitspielen. Ich bin unabhängig und kann jederzeit in ein<br />
Flugzeug steigen und abhauen. Außerdem finden es Männer nicht attraktiv, wenn eine Frau ihnen keine Kinder gebären kann.<br />
Vielleicht finden manche Männer auch die Vorstellung,<br />
nach dem Verkehr zu einem Kunstwerk verarbeitet zu werden, abschreckend.<br />
Oder die durchaus explizite Sprache, über die wir vorher geredet haben.<br />
Nein, es liegt am Geld, glauben Sie mir. Ich weiß, wovon ich spreche. Meine Bekannten haben längst aufgegeben, mich zu<br />
verkuppeln. Ich suche heute ja auch etwas anderes als früher: Ich suche jemanden, der mich intellektuell liebt, mit dem ich<br />
angeregte Unterhaltungen führen kann, der mit mir ein Buch liest, das Feuer anzündet, gutes Essen genießt, mit mir spazieren<br />
geht und für mich da ist. Einen Seelenverwandten, Freund, Beschützer. Wie gesagt: Früher wollte ich raus aufs stürmische<br />
Meer, heute sehne ich mich nach einem sicheren Hafen. Ich werde im nächsten Jahr 50 Jahre alt, befinde mich in der Menopause<br />
und habe keine Lust mehr, jeden Tag in den Arsch gefickt zu werden.<br />
144<br />
Fotos: © the artist, Courtesy white cube; © Tracey Emin, Courtesy White Cube<br />
Eine Szene aus How it feels, einem 22-minütigen Film, der sehr wichtig für mich war, in dem ich die Abtreibung<br />
meiner Zwillinge thematisiere. Es gibt Leute, die behaupten, ich hätte mit How it feels schocken wollen,<br />
was grundlegend falsch ist. Ich wollte damit niemandem Schuld zuweisen. Wir leben nach wie vor in einer<br />
Welt, in der Frauen montagmorgens aufwachen, zur Abtreibung gehen und Dienstag wieder zur Arbeit<br />
kommen. Als wäre nichts geschehen. Über eine Abtreibung spricht man nicht. Es bleibt ein Tabu. Und das ist ein verdammter<br />
Skandal. Man hat acht Wochen Zeit – und muss die Entscheidung alleine treffen. Ich denke, keine Frau möchte abtreiben.<br />
Bereuen Sie die Abtreibung?<br />
Ich habe früher gesagt, die Abtreibung sei ein Fehler. Aber sie war der beste Fehler meines Lebens. Heute bin ich froh darüber,<br />
keine Kinder zu haben. Ich wäre eine beschissene Mutter. Das merke ich schon an meiner Rolle als Patentante.<br />
Wie kommen Sie darauf, dass Sie keine gute Mutter gewesen wären?<br />
Ich hätte gerne Kinder gehabt. Aber dafür braucht man die richtige Person zur richtigen Zeit. Einen Menschen, den man<br />
wirklich liebt. Und den habe ich in den infrage kommenden Jahren nie getroffen. Jetzt ist es zu spät. Vielleicht war es für mich<br />
einfach nicht vorgesehen. Mittlerweile denke ich, dass beides ohnehin nicht gegangen wäre. Ich hätte mich entscheiden müssen:<br />
Kunst oder Kinder. Alles oder nichts.<br />
Ihre Kunst ist seit ein paar Jahren weniger grell als noch in den 90ern. Ist die durchgeknallte Tracey Emin ein wenig<br />
zur Ruhe gekommen? Sie tauchen nicht mehr betrunken im Fernsehen auf, Liebe, Schmerz und Erotik bleiben Ihre Themen,<br />
den triebhaften Sex hingegen scheinen Sie ein wenig runtergedimmt zu haben.<br />
Das stimmt. Der Trieb ist schwächer geworden. Dafür gibt es eine ziemlich banale biologische Erklärung: Ich befinde mich<br />
in der Menopause. Mein Sextrieb ist einfach nicht mehr der einer 20-Jährigen. Und was die Farben angeht: Irgendwann, so<br />
um 2003, ist mir aufgefallen, wie kreischend bunt meine Kunst eigentlich ist. So bunt, dass mir davon geradezu schlecht wurde.<br />
Also wählte ich dezentere Farben, änderte meine Palette. Jetzt wirken meine Arbeiten reifer. Okay, sie sind immer noch<br />
total unreif, aber wenigstens sehen sie ansprechender aus.<br />
Älter schon. Aber nicht unbedingt erwachsen.<br />
Sind Sie als Mensch reifer geworden?<br />
Haben Sie eigentlich jemals einen Therapeuten besucht?<br />
Ja. Aber noch besser sind <strong>Interview</strong>s. Deswegen rede ich heute mit Ihnen.<br />
145<br />
die ausstellung privat ist<br />
Vom 1.11.2012 bis 3.2.2013<br />
in der frankfurter scHirn zu seHen,<br />
tracey emin. how it feels<br />
Vom 16.11.2012 bis 25.2.2013 im malba –<br />
museo de arte latinoamericano<br />
de buenos aires
kurzgeschichte<br />
Die Legende<br />
der guten Männer<br />
von<br />
dAvid vAnn<br />
Fotos<br />
ChristiAn Werner<br />
Ausgewählt von<br />
JAn Brandt<br />
UnderCover 16 (London, 2012)<br />
“<br />
Sie waren wie die Zirkusse,<br />
die in unsere Stadt kamen. Sie packten<br />
aus und verschwanden wieder<br />
146”<br />
Einmal stand ich in einem Hain am Ende eines Sees<br />
und hörte um mich herum hundert Kügelchen durch<br />
die Blätter rieseln wie Regen, so sanft, dass ich eins<br />
mit der Zunge hätte auffangen können. Dann der<br />
Donner über dem Wasser, Johns Schrei, der Schrei<br />
meiner Mutter, die wedelnden Arme. Ich streckte die Hände aus und<br />
wartete auf den nächsten. Die Luft war so dünn geworden, dass jede<br />
Entfernung aufgehoben schien, als könnte ich alles – die Blätter, eine<br />
Uferlinie, roten Flanell, Felder, den Horizont – mit zwei Fingern<br />
aufpicken. Das Schwirren und Ächzen von Wildentenflügeln wurde<br />
stärker, dann schwächer. Obwohl ich nicht getroffen war, taumelte<br />
ich nach hinten, achtete darauf, dass mich meine herbeihastende<br />
Mutter sah, und fiel in den Matsch. Zum ersten Mal erfuhr ich einen<br />
Gewehrschuss vom anderen Ende her.<br />
John Laine wollte mich nicht erschießen. Er war mit meiner<br />
Mutter zusammen und versuchte, sich bei mir einzuschmeicheln. Er<br />
hatte mich weiter seitlich postiert, hinter einigen Rohrkolben, aber<br />
ich war auf allen vieren vorgekrochen, durch Matsch und Weizenstoppeln,<br />
und hatte mich aufgerichtet, als ich die dumpfe Explosion<br />
von Entenflügeln auf Wasser hörte. John konnte mich erst gesehen<br />
haben, als sein Finger den Abzug schon wieder freigab.<br />
Am Boden war mir, als käme das Rufen und Platschen aus allen<br />
Richtungen. Dann sickerte mir der Matsch in die Ohren. Ich starrte<br />
leer in den grauen Himmel. Daran werde ich mich erinnern, dachte<br />
ich. Heute ist Samstag, der achte November. Ich bin dreizehn. Sogar<br />
meine Knöchel sinken ein.<br />
Als die Hände meiner Mutter mich aus dem Matsch zerrten,<br />
musste ich lächeln, und das verriet mich. Ich landete mit einem nassen<br />
Klatschen.<br />
„Du Rotzbraten“, sagte meine Mutter. Dann lachte sie. Dann<br />
lachte John, erleichtert, dass er mich nicht umgebracht hatte. Er war<br />
Polizist, das hätte nicht so gut ausgesehen.<br />
Meine Mutter warf eine Handvoll Matsch nach ihm; wie eine<br />
Wunde breitete der sich über sein rotes Flanellhemd aus. Sie warf<br />
sich rückwärts neben mich in den Matsch und fing an zu weinen.<br />
Das war der Anfang vom Ende für John. Er wusste es noch nicht, als<br />
er dort nervös lächelnd stand, unsicher, ob meine Mutter nun tatsächlich<br />
weinte, aber er war auf dem Abmarsch. Ich blinzelte ihn<br />
einäugig an und konnte beinahe sehen, wie er verschwand.<br />
Meine Mutter war nach der Scheidung mehrere Jahre mit einem<br />
Mann zusammen gewesen, aber nichts hielt lange, seit sich<br />
mein Vater umgebracht hatte. Die neuen Männer waren mehr oder<br />
weniger wie die Zirkusse, die in unsere Stadt kamen. Sie zogen<br />
rasch ein und packten alles aus, was sie hatten, als wollten sie bleiben.<br />
Sie lockten uns mit knallbunten Sachen – Blumen, Ballons,<br />
ferngesteuerten Rennautos –, vollführten Tricks mit ihren Bärten<br />
und Händen, gaben uns komische Namen wie Knirps oder mein<br />
kleiner Kürbis, Ding Dong und Apfelstrudel und brüllten uns Tag<br />
und Nacht ihre Geschichten ins Gesicht. Dann verschwanden sie,<br />
und nichts blieb zurück, nicht mal eine Erwähnung, als hätten wir<br />
sie uns bloß ausgedacht.<br />
John war nur einer in einer langen Reihe. Angel war sein wichtigster<br />
Vorgänger. Als meine Mutter Angels Namen nannte, dachte<br />
ich, sie habe „on hell“ gesagt. Das fand ich toll, die Vorstellung, dass<br />
man auf der Hölle sein konnte, ohne drinzustecken, wie „nur zu<br />
Besuch“ bei Monopoly. Mit Angel fuhren wir in den Sierras Ski,<br />
d östen am Kamin, „erlebten“ die Oper und waren insgesamt besser<br />
angezogen. Unter dem ganzen Glitzer jedoch war meine Mutter<br />
noch dieselbe. Ohne Vorwarnung, soweit ich es mitbekommen habe,<br />
servierte sie Angel an einem späten Dienstagnachmittag nach knapp<br />
zweieinhalb Monaten ab. Am Telefon. Im Gegensatz zu sonst weinte<br />
sie allerdings. Ich auch, aber nicht, weil Angel mir fehlte.<br />
Leonard war der Nächste. Er war im Sommer an der Reihe.<br />
Was für ein hässlicher Mann, dachte ich, als ich ihn kennenlernte. Er<br />
war Astrologe und erklärte mir, mein Jupiter in der Venus bedeute,<br />
dass ich von der Liebe Großes zu erwarten habe. In der Männerwahl<br />
147<br />
meiner Mutter konnte ich überhaupt kein Muster entdecken. Angel<br />
und Leonard hätten unterschiedlicher nicht sein können.<br />
„Männer“, sagte meine Mutter, „stecken voller Überraschungen.<br />
Sie sind immer anders, als man denkt.“ In mir entstand die Vorstellung,<br />
dass alle Männer verkleidet seien, dass jeder von ihnen irgendwo<br />
hinten einen Reißverschluss habe. Dann dämmerte mir,<br />
dass auch ich eines Tages ein Mann sein würde, und das mit dem<br />
Reißverschluss kam mir fragwürdig vor.<br />
Meine Mutter und ich hatten beide unsere Gewohnheiten. Sie<br />
unterrichtete an der Highschool, unternahm lange Spaziergänge<br />
durch die umliegenden Naturschutzgebiete, las Detektivromane<br />
und verschwand hin und wieder mit spärlichen Erklärungen wie<br />
„Ich brauche ein paar Tage für mich“ oder „Ich besuche eine<br />
Freundin“.<br />
„Was für eine Freundin?“, fragte ich dann.<br />
„Eben“, antwortete sie.<br />
Ich löffelte vor dem Fernseher Eis, machte einigermaßen meine<br />
Hausaufgaben und schlich mich nachts mit dem Gewehr meines Vaters<br />
raus, um auf Straßenlaternen zu schießen. Innerhalb eines halben<br />
Jahres hatte ich ganze Viertel ausgeknipst, und nach der Reparatur<br />
noch einmal.<br />
Nichts fand ich schöner als die blauweiße Explosion einer Laterne<br />
im Fadenkreuz. Das Geräusch – der Knall, fast ein Röhren,<br />
dann Stille, dann Glasregen – kam erst, nachdem jedes Teilchen und<br />
jeder Splitter davongesegelt oder nebelglitzernd durch die Luft gewirbelt<br />
war.<br />
John Laine war außergewöhnlich, weil er mehr als drei Monate<br />
überdauerte. Selbst der Tag am See hatte ihn nicht beirrt. Es war<br />
völlig offen, wie lange er bleiben würde.<br />
Obwohl ich erst dreizehn war, brachte mir John in seinem Pickup<br />
– „Silberkugel“ nannte er ihn – Autofahren bei und ließ mich<br />
über Schotterstraßen durch ganz Sonoma County brettern. Wenn<br />
wir an einem Polizeikollegen vorbeikamen, winkten wir. Ich erinnere<br />
mich an Weingärten im späten September, wie sie bei hundert<br />
Meilen pro Stunde in verwaschenem Lila, Rot und Grün wie Algenflicken<br />
auf einem überwucherten Meer vorbeiwischten. John sagte<br />
mit einer Stimme, die auch dann noch ruhig blieb, wenn die Reifen<br />
wie Seife unter uns wegrutschten, ich sei ein Naturtalent. Er sagte,<br />
eines Tages würde ich vielleicht sogar ein guter Polizist werden.<br />
John hatte dunkle Koteletten, mit denen er auf- und abwackeln<br />
konnte. Er stamme von einem Baum ab, erzählte er uns, als wir ihn<br />
fragten, wo er her sei. „Und davor?“, fragte ich. Er kniff mir mit<br />
seinen rauen Fingern in die Nase und sagte, ich solle ins Bett gehen.<br />
Ich saß mit ihm und meiner Mutter auf der Couch. Grinsend streckte<br />
sie beide Daumen Richtung Schlafzimmer.<br />
Als meine Mutter mit John Schluss machte, auf ebenjener<br />
Couch, während ich mich in der Küche herumdrückte und durch die<br />
Jalousien der Tür spähte, sagte er „okay“ und hielt weiter ihre Hand.<br />
Ohne Streit war meine Mutter ganz ratlos. Mein Vater hatte sie belogen<br />
und betrogen, sodass sie ihn anbrüllen konnte. Aber bei John<br />
gab es für uns beide nur die schmerzliche Erkenntnis, dass wir ihn<br />
eigentlich bei uns behalten wollten.<br />
Nach John kam Emmet. Das war im Januar, als meine Mutter<br />
von Legoland und Ruhm träumte. Mit Emmets Hilfe schleppte sie<br />
den Esstisch ins Wohnzimmer und montierte die Verlängerungsplatten,<br />
dann bat sie um Ruhe. Sie hatte beim Motorland Magazine<br />
angefragt, ob sie an einem Artikel über unseren Ausflug nach Legoland<br />
in Dänemark interessiert seien, und wider Erwarten war die<br />
Antwort positiv ausgefallen. Jeden Abend saß sie vor ihren Notizen<br />
und 35-mm-Dias, während Emmet und ich brav auf der Wohnzimmercouch<br />
saßen, wo er Louis-L’Amour-Western las und ich Hausaufgaben<br />
machte.<br />
Emmet erzählte uns immer wieder, wer er war. Und dauernd<br />
änderte es sich. Eine Woche war er in Sandpoint, Idaho, aufgewachsen,<br />
die nächste in Red Bluff, Kalifornien. Schulterzuckend behauptete<br />
er dann, sein Gedächtnis werde besser, sonst nichts. Und wenn
kurzgeschichte<br />
man ihn im Schlaf aufscheuchte, wie ich einmal, wurden seine Behauptungen<br />
noch wilder.<br />
„Mittenwald“, seufzte er und schob den Kopf weiter in die<br />
Ecke. Ich hatte ihn um halb fünf Uhr morgens hinten in unserer<br />
Abstellkammer gefunden, um den Staubsauger gewickelt, unterm<br />
Kopf unsere alten Vorhänge. „Geht nicht anders, ich bin aus Mittenwald.<br />
Kleinstadt gleich hier im Norden. Viele Brände.“ Er hatte die<br />
Abstellkammer mit dem Zimmer meiner Mutter verwechselt, da war<br />
ich mir sicher. Ich konnte das nachempfinden. Vor Jahren hatte ich<br />
dieselbe Abstellkammer mit dem Klo verwechselt und in die Ecke<br />
gepinkelt, in der er jetzt lag, und beim Versuch zu spülen zwei alte<br />
Röcke meiner Mutter runtergerissen.<br />
„Das Unmögliche wird wahr“, hatte meine Mutter an einem der<br />
ersten Legoland-Abende zu uns gesagt. Sie trug ihren lila Velours-<br />
Morgenrock und hob tatsächlich die Hände empor.<br />
Emmet und ich lächelten uns an. Übertreibungen lagen ihm.<br />
Auf den Dias meiner Mutter war ich mit einem dänischen Mädchen<br />
zu sehen, das sie damals im August mitsamt seinem alleinstehenden<br />
Vater in Beschlag genommen hatte. Es war reine Berechnung<br />
gewesen: Meine Mutter wusste, dass ein potenzieller Zeitschriftenartikel<br />
zwei Kinder und beide Elternteile enthalten musste. Dieses<br />
Mädchen hatte einen blonden Pferdeschwanz und sehr große Augen.<br />
Auch ihre Stirn war ungewöhnlich breit. Meine Mutter nannte sie<br />
Helga, weil wir uns beide ihren Namen nicht merken konnten.<br />
Helga und ich fuhren Lego-Autos, hielten Lego-Führerscheine<br />
hoch, segelten in Lego-Booten am Lego-Mount-Rushmore vorbei<br />
und erschossen einander mit Wildwest-Lego-Revolvern. Auf dem<br />
Lieblingsdia meiner Mutter türmten sich zwanzig oder dreißig Lego-Pferde<br />
und Lego-Männer auf der Veranda eines Lego-Schlosses,<br />
und ein sehr großer echter Gärtner kam mit einem Rasenmäher angerückt.<br />
Helga und ich lugten über je einen Flügel des Schlosses.<br />
Irgendwas an dem Bild entzückte meine Mutter. Es mochte sie an<br />
das schmucke kleine Europa erinnern, aber all diese Männer, wie sie<br />
mal eben mit ihren Pferden dort abgeladen worden waren, hatten<br />
auch ihren Reiz. Hinweise gab es reichlich, wenn Emmet sie denn<br />
hätte wahrnehmen wollen.<br />
Gegen Ende der Emmet-Phase stieß ich weiter in die Hügel<br />
vor, schoss aus dichtem Unterholz und erledigte aus vierhundert<br />
Metern Entfernung meine erste Ampel. Über das Survivalist Magazine<br />
hatte ich mir ein Umbau-Kit bestellt, mit dem ich 32er-Patronen<br />
aus der 300er-Magnum meines Vaters abfeuern konnte. Die<br />
Patronen waren für Straßenlaternen ideal, weil sie leiser waren und<br />
sogar für Feuerwerkskörper gehalten werden konnten. Bei den Ampeln<br />
allerdings stieg ich auf großes Kaliber um. Der Schuss hallte<br />
glasklar von der anderen Seite des Tals wider, Meilen entfernt.<br />
Drei Kugeln prallten irgendwo aufs Pflaster, bevor ich eine rote<br />
Ampel erwischte. An der Tankstelle rannten die Leute in Deckung,<br />
duckten sich hinter Säulen und Autos, einige boten mir dabei ihren<br />
Rücken dar. Keiner wusste, woher die Schüsse kamen. Ich war zu<br />
weit weg.<br />
Die Ampel schwang an ihrem Kabel, das rote Licht war jetzt<br />
silbern. Ich roch Schwefel und hörte Hunde jaulen und Sirenen auf<br />
der anderen Talseite. Im Fadenkreuz beobachtete ich einen Streifenwagen,<br />
der mit quietschenden Reifen stoppte, und ich fragte mich,<br />
ob John drinsaß.<br />
Pat war der Mann, der immer lachte. Gefolgt von einer Wolke<br />
Amway-Aftershave lachte er sich zu einer Tür herein und zur anderen<br />
wieder hinaus. Soweit ich mich erinnere, fand Pat selbst die<br />
Trennung lustig.<br />
Merril wohnte nebenan. Ein paar Monate, nachdem seine<br />
Frau ihn verlassen hatte, kam er mit Gemüse aus seinem Garten<br />
und ging erst drei Tage später wieder nach Hause. Hinten war<br />
seine Glasschiebetür die ganze Zeit offen, also ging ich in sein<br />
Haus und machte eine Bestandsaufnahme; ich öffnete sogar den<br />
Billigsafe und notierte mir, wie viel Geld er vorrätig hatte. Unter<br />
seinem Bett fand ich Ausgaben von Playboy und The Joy of Sex. Aus<br />
148<br />
seinem Medizinschränkchen schloss ich, dass er unter Hämorrhoiden<br />
und Herpes litt, Ellbogenprobleme hatte und Zahnfleischbluten.<br />
Ich sah Fotos von seinen Kindern – inzwischen erwachsen<br />
und aus dem Haus – und fand sogar den Grund für seine Scheidung.<br />
Seine Frau Carolyn Somers, geborene Alexander, hatte ein<br />
halbes Jahr zuvor in einem Brief alles akribisch festgehalten. Merril<br />
hatte sich selbst dabei gefilmt, wie er mit der Freundin einer<br />
seiner Töchter schlief, und das Video dann jahrelang rumliegen<br />
lassen. Alise, die Freundin der Tochter, war damals erst fünfzehn.<br />
Ich sah mir sogar das Video an. Merril hatte es noch immer nicht<br />
entsorgt.<br />
Meine Mutter entsorgte Merril, als er sich eines Abends weigerte,<br />
nach Hause zu gehen. Es war schon spät. Sie schlug ihn sogar,<br />
mit einem Keramikfrosch, den meine Tante aus Neuseeland<br />
mitgebracht hatte. Dann rief sie die Polizei, erwirkte tags darauf<br />
eine einstweilige Verfügung, und er ließ uns in Ruhe.<br />
In diesem Sommer nahm ich Merril an einigen Wochenendnachmittagen,<br />
an denen er sich auf seiner Liege sonnte, vom Badfenster<br />
meiner Mutter aus mit der 300er-Magnum ins Visier. Ich konnte den<br />
wabbeligen Bauch sehen und sogar die dünnen blauen Venen in seinen<br />
Armen. Wie hätte es ausgesehen, wenn ich abgedrückt hätte? Als<br />
ich einmal in Johns Pick-up mit neunzig Meilen eine Taube überfahren<br />
hatte, sah ich im Rückspiegel eine Wolke aus Federn.<br />
Meine Mutter war von der ganzen Geschichte mit Merril entmutigt.<br />
Er hatte von Familie geredet und von Verantwortung und<br />
dass er sich bei ihr wieder fühlte wie in der Highschool, und sie war<br />
dabei, ihm Glauben zu schenken. Ich erwähnte Alise nicht. Meine<br />
Mutter weinte neben mir auf der Wohnzimmercouch und sagte, Angel<br />
und John fehlten ihr immer noch.<br />
„Und dein Vater“, fügte sie hinzu. Da weinten wir beide. Nach<br />
einer Weile wirkte allerdings selbst das komisch.<br />
„Was für ein dummer, dummer Mann“, sagte meine Mutter<br />
lachend.<br />
„Du heiratest nie wieder“, sagte ich.<br />
Sie starrte durch die Glasschiebetür. „Hallo?“, sagte sie. „Nach<br />
alledem?“<br />
“<br />
Dann rief sie die Polizei,<br />
erwirkte tags darauf<br />
eine einstweilige Verfügung,<br />
und er ließ uns in Ruhe<br />
”<br />
Im Spätsommer, nach Merril, als meine Mutter gerade mit niemandem<br />
zusammen war, als es nur uns beide gab, brach ich in unser<br />
Haus ein. Mein Schlüssel hing in der Schule in meinem Spind. Wir<br />
hatten keinen Ersatz mehr unter der Fußmatte, und meine Mutter<br />
kam selten vor sechs oder sieben nach Hause. Ich prüfte alle Fenster<br />
und Türen, und da nichts offen war, nahm ich einen flachen grauen<br />
Stein aus unserem Garten und warf ihn durchs Badfenster. Ich drehte<br />
den Knauf, drückte die Scheibe nach innen und kroch hinein.<br />
Zuerst ging ich ins Elternschlafzimmer. Ich fand sechzehn<br />
Tüten im Schrank, mit allem Möglichen von Klassenarbeiten über<br />
Kleidung bis Ersatzbatterien. Die unvermeidlichen Ringe steckten<br />
in Schuhen, in Nylonstrümpfe gewickelt. Einen Safe gab es nur als<br />
Kinderspielzeug, auf dessen Boden deutlich die Zahlenkombination<br />
stand. BHs und Schlüpfer hingen an Wäscheklammern, aber<br />
Krawatten gab es nicht, also war dies eindeutig ein Zimmer ohne<br />
Männer.<br />
Im Bad hing eine lila Zahnbürste an der Wand. Das Diaphragma<br />
im Schränkchen neben dem Waschbecken war eine Neuigkeit.<br />
Die Zähne dieser Frau waren morsch, oder sie knirschte im Schlaf,<br />
denn im selben Schränkchen lagen Sensodyne-Zahnpasta und eine<br />
Plastikschiene für die Nacht.<br />
Diese Frau hatte nirgendwo Fotos hängen oder stehen, also war<br />
schwer zu sagen, ob sie Familie hatte. Im anderen Schlafzimmer hing<br />
eine Tapete mit Bambusmuster, sogar an der Decke. In der Ecke gab<br />
es ein Aquarium mit ausgeschaltetem Licht und ein Plakat, das 250<br />
Hai-Arten aufführte. Das Hai-Plakat und die über den Fußboden<br />
verstreuten kleinen Sets mit weißer Fruit-of-the-Loom-Unterwäsche<br />
legten nahe, dass in diesem Zimmer ein oder mehrere<br />
Jungs wohnten. Das eine Paar Wanderstiefel im Schrank und das<br />
eine Paar Fußballstollenschuhe grenzten es auf einen Jungen ein.<br />
Die Waffen in seinem Schrank – ein Browning-Gewehr Kaliber .22,<br />
ein .30-30-Winchester-Karabiner, eine 300er-Winchester-Magnum<br />
mit Zielfernrohr, eine Winchester Model-25-Pumpgun Kaliber .12,<br />
ein Sheridan-Blue-Streak-Luftgewehr und eine Ruger-44er-Magnum-Pistole<br />
– waren schwer zu erklären. Wo hatte er die alle her?<br />
Die Ablagerung von Karbon in der Patronenkammer der<br />
300er-Magnum deutete darauf hin, dass die Waffe häufig benutzt<br />
wurde, vielleicht sogar vor Kurzem. Der Holzklotz unter seinem<br />
Bett mit lauter Löchern, die nicht ganz durchgingen, ließen vermuten,<br />
dass er die 22er nicht nur abgefeuert, sondern vielleicht<br />
sogar im Haus abgefeuert hatte. Die Kiste mit Playboy, Penthouse,<br />
Hustler und Schundromanen mit Nur-für-Erwachsene-Aufklebern<br />
ließ darauf schließen, dass dieser Junge irgendwie pervers war, und<br />
dass er in derselben Kiste so viele Bilder von seinem Vater aufbewahrte,<br />
aber keines auf seinem Schreibtisch oder an der Wand<br />
hatte, war auch verquer.<br />
Undercover 9 (Berlin, 2012)<br />
149<br />
Einige Zeit nachdem ich in der Kiste gewühlt hatte, lud ich die<br />
.12-Kaliber meines Vaters und zerschoss fast alle Fenster und Türen.<br />
Das war ziemlich extrem, wie mir hinterher klar wurde. Ich<br />
leerte zweieinhalb Munitionskisten, bevor ich fertig war; vor allem<br />
die Haustür brauchte etliche Ladungen – eine pro Scharnier und<br />
noch zwei, um sie auszuhebeln. Die Glasschiebetür in unserem<br />
Wohnzimmer war mit Abstand das Schönste. Ich pustete ein kleines<br />
Loch in die Mitte, etwa so groß wie eine Halbdollarmünze. Einen<br />
Augenblick herrschte vollkommene Stille, dann fing das Glas an zu<br />
beben. Es zitterte und schlackerte von oben bis unten, das Glas bog<br />
sich in Wellen, dann zersprang es in eine Milliarde Fasern.<br />
John Laine war der einzige Mann, der ein zweites Mal in unser<br />
Leben trat. Als ich vorne auf der Veranda auf die Streifenwagen<br />
wartete, hoffte ich, er würde in einem sitzen, und so war es auch.<br />
Sein Partner und er saßen im vierten Wagen. Quietschend hielten<br />
sie auf unserem Bordstein, rissen die Türen auf und zielten mit ihren<br />
Pistolen auf mich, wie die anderen vorher auch. Ich war unbewaffnet<br />
und kooperationsbereit, wusste aber nicht recht, was ich<br />
machen sollte. Mir sagte ja keiner was. Ich erwartete ein Megafon,<br />
aber die starrten mich bloß an.<br />
Ich winkte. „John“, sagte ich. Hier war er also, praktisch frei<br />
Haus geliefert.<br />
AUs dem AmerikAnischen englisch<br />
von miriAm mAndelkow.<br />
diese kUrzgeschichte erscheint<br />
exklUsiv in IntervIew.<br />
im April kAm dAvid vAnns romAn<br />
DIe UnermesslIchkeIt Bei sUhrkAmp herAUs.<br />
Fotos AUs der serie UnDercover von<br />
christiAn werner – mehr AUF IntervIew.De.<br />
weitere ArBeiten AUs UnDercover sind<br />
vom 18.11.–9.12. im AUsstellUngs rAUm<br />
grosse Bären in Berlin zU sehen<br />
(grossebaeren.worDpress.com)
PARTY<br />
PARTY<br />
Auftritt von Tourist<br />
FOTOS<br />
LUKAS VON MONKIEWITSCH<br />
INTERVIEW-<br />
PARTY,<br />
FACTORY<br />
KÖLN<br />
Marc Comes und Kerstin-Anna Berger<br />
DJ Tobias Thomas<br />
Daniel Hug und Eva Gödel<br />
Michelle Elie und Joerg Koch<br />
Von links: Chris Koch, Hendrik Simon, Nicholas Cintrón,<br />
Francesca Bendixen, Thea Barkhoff, Rayan Odyll<br />
„<strong>Interview</strong>“-Cover und „<strong>Interview</strong>“-Gründer<br />
Inky Timez, Sängerin von Tourist<br />
Claudia Hornemann und Bernd Runge<br />
Auf einer großen Leinwand jagte Andy Warhol<br />
seinen Hund, sämt liche Cover der deutschen<br />
<strong>Interview</strong> waren von der englischen Künstlerin<br />
Hattie Stewart veredelt worden. Das Publikum<br />
war rheinländisch-eklektisch: von Birgit<br />
Schrowange (RTL) bis Rosemarie Trockel<br />
(Galerie Sprüth Magers)<br />
Rosemarie Trockel, Mike Meiré und Monika Sprüth<br />
Kunst von Hattie Stewart<br />
Max Mayer und Johannes Wohnseifer<br />
150<br />
Anja Schwing und Stephanie Fresle<br />
Die Factory von Meiré und Meiré<br />
151
PARTY<br />
Diane von Furstenberg, Christian Louboutin, Olivier Zahm<br />
PARTY<br />
Poppy Delevingne und Peter Dundas<br />
Cyprien Gaillard<br />
Xerxes Cook und Erika Kurihara<br />
Ellen von Unwerth<br />
SOME<br />
NIGHTS<br />
IN PARIS<br />
FOTOS<br />
MAXIME BALLESTEROS<br />
Ania Rubik<br />
Haider Ackermann<br />
Vanessa Bruno und Elizabeth von Guttman<br />
Isabell de Hillerin<br />
Giancarlo Giammetti und Carine Roitfeld<br />
„Black tie and smokey eyes” lautete<br />
der Dresscode für die Party der<br />
Partys, auf der Smokey-Eye-Expertin<br />
Carine Roitfeld ihre Kollektion für<br />
die Beauty-Marke MAC vor stellte.<br />
Fast ebenso schillernd und<br />
weniger förmlich: die Party zum<br />
20. Geburtstag des Magazins Purple<br />
Elena Perminova<br />
Gaspar Noé<br />
Ricardo Perna Cabibbo und Claudio Cortini<br />
Arizona Muse<br />
152<br />
Valentino Garavani<br />
Derek Blasberg und Natalia Vodianova<br />
153<br />
Louis-Marie de Castelbajac
PARTY<br />
André Saraiva<br />
Johann Haehling von Lanzenauer<br />
und Dunja Kara<br />
ANDRÉ<br />
SARAIVA &<br />
INTERVIEW,<br />
HAMBURG<br />
Zur Vernissage bei Circle Culture<br />
in Hamburg kam der Künstler, Clubbetreiber<br />
und Lebemann selbstver -<br />
ständlich mit Spraydose – auch wenn<br />
seine sehr aktiven Zeiten schon ein<br />
wenig zurückliegen<br />
Stefan Mentz und Jessica Joffe<br />
Maurice Gourdault-Montagne und Emmanuel de Bayser<br />
Rosa Merino Claros und Debbie Walice<br />
Von rechts: Josef Voelk,<br />
Lionel Richie und<br />
Emmanuel de Bayser<br />
Niki Pauls und Martin Turansky<br />
THE<br />
CORNER<br />
BERLIN<br />
Zwei Anlässe, eine Party: The Corner<br />
eröffnete, manche sagen: endlich, ihren<br />
Herrenshop, <strong>Interview</strong> feierte seine<br />
Oktober- Ausgabe. Überraschungsgast<br />
Lionel Richie (All Night Long) zeigte<br />
sich ebenso erfreut wie der französische<br />
Botschafter Maurice Gourdault-Montagne<br />
Marie Louise Stoffel und Caroline von Linsingen<br />
FOTOS<br />
MAXIME BALLESTEROS<br />
Jörg Rohleder, Anja Schwing und Joerg Koch<br />
Judith Guckler und Rainer Metz<br />
Lionel Richie<br />
Anja Schwing, Petra Fladenhofer und Stephanie Fresle<br />
FOTOS<br />
KARL ANTON KOENIGS<br />
Hili Ingenhoven und Sakia Axt<br />
Bent Angelo Jensen<br />
Belvedere-Barkeeper<br />
Exzellente Zeitschriftenauswahl in The Corner
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156<br />
Datum<br />
Unterschrift
FLASHBACK, NOVEMBER 1998<br />
F LA S H B A C K<br />
WHAM!BAM!<br />
PAM!<br />
WENN MAN DIE SINUSKURVE DER 90ER-JAHRE<br />
IN EINER PERSON DARSTELLEN MÜSSTE,<br />
FIELE DIE WAHL NICHT SCHWER:<br />
PAMELA ANDERSON RETTET IM ROTEN<br />
BADEANZUG DIE FERNSEHNACHMITTAGE DES<br />
KUSCHELJAHRZEHNTS QUASI IM ALLEINGANG.<br />
SIE SETZTE MIT DER COMICVERFILMUNG<br />
BARB WIRE MASSSTÄBE UND IST DER<br />
BESTE BEWEIS, DASS MAN EINE<br />
AMERIKANISCHE IKONE WERDEN KANN,<br />
WENN MAN IN HOTPANTS UND HIGH HEELS<br />
DURCH HOLLYWOOD STAKST<br />
“Meine Oma hört<br />
den Polizeifunk ab”<br />
INTERVIEW<br />
HAL RUBENSTEIN<br />
FOTOS<br />
DAVID LACHAPELLE<br />
158<br />
HAL RUBENSTEIN: Alle, denen ich erzählt habe, dass<br />
ich Sie heute interviewen würde, haben gesagt: „Wow!<br />
Wir lieben Pamela, sie ist so cool.“<br />
PAMELA ANDERSON: „… aber sie hat immer Ärger!“<br />
Ich finde es natürlich immer sehr lustig, so etwas zu<br />
hören. Man realisiert ja gar nicht, dass die Leute wissen,<br />
wer man ist. Es wird alles irgendwie surreal nach<br />
all den Coverfotos und <strong>Interview</strong>s. Ich<br />
habe aber mittlerweile kapiert, dass nur<br />
die Journalisten schlechte Dinge über<br />
mich erzählen, insbesondere diejenigen,<br />
die mich nicht persönlich treffen konnten<br />
und sich was ausdenken müssen. Allerdings<br />
habe ich bisher keinen getroffen, der mir irgendwelche<br />
Gemeinheiten ins Gesicht gesagt hätte.<br />
RUBENSTEIN: Kurz bevor Barb Wire 1996 herauskam,<br />
habe ich ein Foto von Ihnen ganz ohne Make-up gesehen<br />
und dachte: Wow, sie ist wirklich hübsch.<br />
ANDERSON: Oh …<br />
RUBENSTEIN: Dann sah ich den Film und dachte …<br />
ANDERSON: Aaaahhhhh!!! (lacht)<br />
RUBENSTEIN: … warum macht sie das nur?<br />
ANDERSON: Es sollte ursprünglich gar nicht so aussehen.<br />
Als ich den Comic sah, auf dem der Film basiert,<br />
dachte ich: Oh Gott, die sitzt in Lederkluft auf<br />
einem Motorrad, mit dieser riesigen Frisur, glamourös<br />
und völlig hysterisch. Das bin ich! Der Film sollte<br />
einen dunklen Humor haben und sehr comichaft werden.<br />
Kurz bevor die Produktion begann, war ich in<br />
Cannes, um Werbung zu machen. Es gab sehr viel<br />
Aufmerksamkeit, und Polygram, die den Film finanzierten,<br />
merkten, dass die Sache vielleicht größer wird<br />
als gedacht. Sie haben daraufhin versucht, das Ganze<br />
kommerzieller zu gestalten: mehr Action, weniger<br />
Ironie, ein anderer Regisseur. Das Drehbuch wurde<br />
Millionen Mal geändert. Das war sehr anstrengend<br />
für mich, weil all das meinem Bauchgefühl widersprach.<br />
All die Ironie, das Augenzwinkernde, war weg.<br />
Dennoch hat er eine kleine Fangemeinde von unterschiedlichsten<br />
Leuten. Ich kenne eine Menge Dragqueens,<br />
die sich wie ich in Barb Wire anziehen.<br />
RUBENSTEIN: Sind Sie mit Ihren alten Baywatch-Folgen<br />
zufriedener?<br />
ANDERSON: Ich habe nie eine davon gesehen.<br />
RUBENSTEIN: Sie haben sich nie Ihre eigene Serie angeschaut?<br />
ANDERSON: Nein, ich sehe mich selbst nicht gerne<br />
im Fernsehen.<br />
RUBENSTEIN: Warum nicht?<br />
ANDERSON: Ob Sie es glauben oder nicht, Tommy<br />
geht es genauso. Ich hätte ihm nie erlaubt, auch nur<br />
eine Folge zu gucken. Einmal habe ich mir einen kleinen<br />
Teil angeschaut und bin fast ohnmächtig geworden.<br />
Ich war nie besonders zufrieden mit meinen Arbeiten,<br />
andererseits bereue ich auch nichts. Es waren<br />
gute Erfahrungen, und ich habe sehr davon profitiert!<br />
Wirklich sehr. Aber hätte ich noch Baywatch-Partys<br />
veranstalten und meine Freunde einladen sollen, mit<br />
mir gemeinsam alle Folgen zu sehen?<br />
RUBENSTEIN: Ich habe gehört, Sie seien Executive<br />
Producer bei V.I.P., wollen aber nicht, dass das öffentlich<br />
wird, weil Sie glauben, man würde Sie auslachen.<br />
ANDERSON: Ganz genau.<br />
RUBENSTEIN: Mir können Sie davon erzählen, ich<br />
werde nicht lachen! (lacht)<br />
ANDERSON: Nach dem, wie es bei Barb Wire gelaufen<br />
ist, wollte ich unbedingt bei den kreativen Prozessen<br />
Mitspracherecht haben. Ich war an allem beteiligt<br />
– von der Anstellung von Produktdesignern<br />
Foto: David LaChapelle für <strong>Interview</strong> Magazine, November 1998<br />
159<br />
CRASH, BOOM, BANG …
F LA S H B A C K<br />
FlashbAck<br />
… WHAM, BAM, PAM!<br />
und Artdirektoren bis hin zum Casting. Ich habe eine<br />
genaue Vorstellung davon, was ich spielen will und<br />
was im Fernsehen meiner Meinung nach fehlt. Ich liebe<br />
Serien wie Bezaubernde Jeannie oder Gilligans Insel<br />
– verrückt, leicht und unterhaltend. V.I.P. ist bunt und<br />
hell und alle tragen verrückte Klamotten.<br />
RUBENSTEIN: Also ein komplett anderes Image als<br />
das, was Sie als Ehefrau von Tommy Lee und Darstellerin<br />
in Barb Wire haben, das ja recht düster ist.<br />
ANDERSON: Ich weiß. Das hat mit mir gar nichts zu<br />
tun. Ich war immer ein sehr positiver Mensch, ein unendlicher<br />
Optimist. Selbst mein Bruder, der meine<br />
Website betreut, der mein bester Freund ist und mich<br />
besser kennt als jeder andere, ruft mich an und fragt,<br />
ob alles in Ordnung sei, wenn mal wieder in irgendeiner<br />
Zeitung steht, dass ich heroinabhängig sei. Und er<br />
weiß, dass ich total gegen Drogen bin. Aber ich muss<br />
darüber lachen. Ich meine, wer hätte gedacht, dass es<br />
in so kurzer Zeit so abgeht? Es ist ja nicht so, dass ich<br />
schon wahnsinnig viel gemacht hätte. Und ich glaube<br />
nicht, dass ich in irgendwas bisher sonderlich erfolgreich<br />
war.<br />
RUBENSTEIN: Baywatch war erfolgreich.<br />
ANDERSON: Ich habe aber nur Baywatch, Hör mal,<br />
wer da hämmert, Barb Wire und V.I.P. gemacht. Das ist<br />
doch nicht viel. Aber ab und an picken sich die Medien<br />
eben einen raus. Allerdings dachte ich, die Freude<br />
daran würde sich irgendwann abnutzen.<br />
RUBENSTEIN: Und tut sie das?<br />
ANDERSON: Es ist, als wären überall, wo ich auftauche,<br />
Paparazzi. Hallo, ich gehe doch nur in den<br />
Supermarkt! Aber da warten sie auch schon.<br />
RUBENSTEIN: Akzeptieren Sie das als Teil Ihres neuen<br />
Lebens oder sind Sie verletzt?<br />
ANDERSON: Es gibt verschiedene Phasen. Als ich im<br />
neunten Monat schwanger war, wollte ich spazieren<br />
gehen, wurde von Paparazzi verfolgt und fing letztendlich<br />
an, mit einem zu raufen. Sie treffen dich<br />
manchmal so schutzlos. Einmal war ich mit meinen<br />
Kindern am Strand, und ein Jeep fuhr sehr schnell<br />
rückwärts auf uns zu und überfuhr dabei fast andere<br />
Kinder, nur um ein Foto von mir und meinen Kids zu<br />
bekommen. Es muss Grenzen geben. Ich verstehe,<br />
dass sie einen Job machen, und es gibt auch Fotografen,<br />
die sich professionell bewegen, aber andere fahren<br />
über rote Ampeln oder in der falschen Richtung<br />
durch Einbahnstraßen, total bizarr.<br />
RUBENSTEIN: Was kriegen Ihre Kinder davon mit?<br />
ANDERSON: Sie sehen mich manchmal im Fernsehen.<br />
„Da ist Mami!“ Aber für sie ist noch jede blonde<br />
Frau im Fernsehen ihre Mami.<br />
RUBENSTEIN: Wollten Sie als Kind eigentlich Hollywoodstar<br />
werden?<br />
ANDERSON: Nein. Ich habe das damals nicht als Beruf<br />
verstanden oder etwas, das ich eines Tages machen<br />
könnte. Ich hatte die Vorstellung, dass ein Schauspieler<br />
auch Schauspielerkinder hat und die zusammen in<br />
einer Art Kommune leben.<br />
RUBENSTEIN: Wann haben Sie realisiert, dass Schauspielerei<br />
eine Möglichkeit für Sie sein könnte?<br />
ANDERSON: Als ich im Playboy war und dann nach<br />
L.A. gezogen bin. Ich habe Leute kennengelernt, die<br />
mir ganz ähnlich waren und die auch in dem Business<br />
arbeiteten.<br />
RUBENSTEIN: Was war eigentlich Ihre erste Reaktion,<br />
als der Playboy anfragte?<br />
ANDERSON: Ich habe damals gerade eine Freundin<br />
bei einer Modenschau besucht, als sie mich gefragt<br />
haben. Ich habe Nein gesagt und dachte, die würden<br />
spinnen. Aber als sie mich ein zweites Mal fragten und<br />
dieses Mal für den Titel, dachte ich, für das Cover<br />
muss man ja nicht nackt sein. Und ein Cover bedeutet,<br />
bekannt zu werden. Aber mein damaliger Freund<br />
war ziemlich sauer. Der hat mir die Fotos verboten,<br />
also habe ich es aus Trotz gemacht. Ich meine, was<br />
auch immer, es hat Spaß gemacht.<br />
RUBENSTEIN: Machen Sie immer das, was man Ihnen<br />
verbietet?<br />
ANDERSON: Nicht immer. Aber jeder muss sein Leben<br />
selbst leben, und jemandem etwas aufzuzwingen<br />
– ich mag das nicht.<br />
RUBENSTEIN: Bietet Ihnen Hollywood mehr oder weniger<br />
Freiheit, als Sie vorher hatten?<br />
ANDERSON: Oh, mehr. Ich mache das ja hauptberuflich,<br />
ich bin alleinerziehende Mutter und ich bin sehr<br />
unabhängig. Ich verdiene genügend Geld, um mich<br />
um meine Kinder und mich selbst zu kümmern. Ich<br />
brauche niemanden.<br />
RUBENSTEIN: Glauben Sie wirklich, dass Sie niemanden<br />
brauchen?<br />
ANDERSON: Na ja, das ändert sich gerade. Langsam.<br />
RUBENSTEIN: Liegt es daran, dass man in den vergangenen<br />
Jahren dermaßen in Ihr Privatleben eingedrungen<br />
ist?<br />
ANDERSON: Was ich durchgemacht habe, hat mich<br />
nur stärker gemacht, wie alles, was man überlebt. Ich<br />
habe gelernt, Geduld zu haben und meine Person von<br />
all dem Müll nicht beeinflussen zu lassen. Man kann<br />
alles durchstehen, wenn man darauf vertraut, dass<br />
eben alles aus einem Grund passiert.<br />
RUBENSTEIN: Glauben Sie wirklich daran, dass all diese<br />
ungewollte Aufmerksamkeit ein Segen war?<br />
ANDERSON: Ich bin mir nicht ganz sicher, was ein<br />
Segen ist, aber ich fühle mich recht glücklich.<br />
RUBENSTEIN: Haben Sie jemals Schauspielunterricht<br />
genommen?<br />
ANDERSON: Nein, aber das sollte ich wohl mal machen.<br />
RUBENSTEIN: Warum denken Sie das?<br />
ANDERSON: Weil es ein Handwerk ist, und man sollte<br />
an der Beherrschung seines Handwerks arbeiten.<br />
Foto: David LaChapelle für <strong>Interview</strong> Magazine, November 1998<br />
Gerade jetzt, wo ich angefangen habe, das Schauspielerdasein<br />
zu genießen. Am Anfang habe ich durch die<br />
Arbeit gelernt. Und glücklicherweise habe ich ein gutes<br />
Gedächtnis, ich muss nur einmal auf meinen Text<br />
schauen. Aber ich habe mir nie viele Gedanken darüber<br />
gemacht, und allmählich merke ich, dass ich das<br />
mittlerweile ja alles ganz schön ernsthaft betreibe.<br />
Rubenstein: Sind Sie eigentlich jemals bedroht worden?<br />
AndeRson: Ich hatte mal einen Stalker, aber ich<br />
habe gute Bodyguards. Es hält mich auch nicht davon<br />
ab, Dinge allein zu machen.<br />
Rubenstein: Jetzt, wo Sie ein Single sind.<br />
AndeRson: Genau, ich mag das. Ich habe nun zwei<br />
und nicht mehr drei Kinder. Das ist viel einfacher.<br />
Rubenstein: Wie meinen Sie das?<br />
AndeRson: Ich habe nicht noch einen Dritten, der<br />
um meine Aufmerksamkeit buhlt.<br />
Rubenstein: Wusste Tommy nicht richtig, wie man<br />
ein guter Vater ist?<br />
AndeRson: Ich glaube, er wollte wirklich ein guter<br />
Vater sein, und er mochte die Vorstellung, Kinder zu<br />
haben. Er liebt sie auch. Aber ich glaube, es hat ihm<br />
ein wenig die Lust genommen, dass ich den Kindern<br />
so viel Aufmerksamkeit geschenkt habe und letztlich<br />
wenig für ihn übrig blieb. Ich glaube, er hatte eine Art<br />
Babyblues.<br />
Rubenstein: Sobald man Kinder hat, dreht sich die<br />
Welt nur noch um sie.<br />
AndeRson: Unsere Beziehung fing sehr intensiv<br />
und verrückt an, weil wir selbst wie zwei Kinder waren.<br />
Wir waren total verknallt. Das hatte nichts mit<br />
Alkohol oder Drogen zu tun, wir waren einfach sehr<br />
leidenschaftlich. Aber genau diese Leidenschaft empfand<br />
ich dann auch für meine Kinder. Es überwältigt<br />
mich, wie sehr ich Brandon und Dylan liebe. Sie zu<br />
beobachten, sie zu umsorgen, von ihnen zu lernen.<br />
Brandon ist jetzt schon so klug.<br />
Rubenstein: Und Tommy konnte diese Konkurrenz<br />
nicht aushalten. Läuft es denn jetzt besser mit ihm?<br />
AndeRson: Nein, es läuft überhaupt nicht gut. Wir<br />
werden sehen. Ich wünschte einfach, er könnte begreifen,<br />
was mit uns geschehen ist. Aber wenn er über<br />
die Vergangenheit, über uns spricht, frage ich mich,<br />
über wen er da eigentlich genau spricht.<br />
Rubenstein: Leugnet er immer noch, dass er Sie<br />
misshandelt hat?<br />
AndeRson: Es gibt eine Menge Verleugnung, ja. Ich<br />
dachte, es würde sich vielleicht ändern, aber nein.<br />
Rubenstein: Haben Sie mit ihm gesprochen, seit er<br />
die Haftstrafe dafür abgesessen hat?<br />
AndeRson: Nein, nur mit seinem Therapeuten.<br />
Tommy redet gerade nicht mit mir.<br />
Rubenstein: Setzt er sich denn mit all dem auseinander?<br />
AndeRson: Ich habe keine Ahnung, wo er mit seinem<br />
Kopf ist. Ich fürchte, er ist in einem erschreckenden<br />
Zustand. Das ist nicht gut, wer weiß, was noch<br />
passiert. Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen,<br />
dass ich wirklich froh bin, dass er so viel gelernt hat,<br />
gelesen hat und dass es nur besser werden kann. Und<br />
dass sich nichts an unserer Beziehung ändern würde,<br />
nur weil er gerade nicht mit mir sprechen will und es<br />
ihm schlecht geht. Und ich wollte ihm sagen, dass ich<br />
ihn unterstützen werde und ihn für immer liebe. Aber<br />
mit dem Abstand zwischen uns kann er diese Liebe<br />
nicht verstehen. Er sagt, dass ich entweder mit ihm<br />
verheiratet bin oder er mich hassen würde. Wenn ich<br />
mich scheiden lassen würde, will er nie wieder mit mir<br />
sprechen. Für Tommy gibt es nur ganz oder gar nicht.<br />
Wenn jemand aus seinem Leben tritt, versucht er alles,<br />
um diese Person zu hassen und nur das Negative<br />
an ihr zu sehen. Er hat nie etwas Nettes über seine<br />
Exfrau gesagt. Ich kenne dieses Muster, das ist seine<br />
Art, sich selbst zu schützen.<br />
Rubenstein: Aber es ist nicht so, dass Heather Locklear<br />
ihn oder Sie öffentlich schlechtmacht, oder?<br />
AndeRson: Nein. Ich habe sie nie kennengelernt,<br />
aber sie scheint sehr nett zu sein. Und sie hat sich weiterentwickelt,<br />
sie ist glücklich in ihrem Leben, da bin<br />
ich mir sicher.<br />
Rubenstein: Ich weiß nicht, wie ernst Ihre Beziehung<br />
zu Kelly Slater ist, aber haben Sie Angst, dass<br />
Sie beide nun wieder so von der Presse verfolgt werden<br />
wie Sie und Tommy damals?<br />
AndeRson: Es setzt dich auf jeden Fall ganz schön<br />
unter Druck. Und Kelly ist der letzte Mensch auf der<br />
Welt, der unter meinem Lifestyle leiden sollte. Ich<br />
habe eine Menge Respekt vor ihm und davor, wie er<br />
sein Leben lebt. In diesem Moment gibt es nichts zu<br />
unserer Beziehung zueinander zu sagen. Es ist nicht<br />
so wie mit Tommy. Ich hatte oft das Gefühl, ich müsste<br />
Tommy verteidigen, weil die Leute ein falsches Bild<br />
von ihm hatten, wohingegen Kelly für sich selbst<br />
steht. Er muss nicht von mir verteidigt werden.<br />
Rubenstein: Aber Ihrer beider Welten sind so unterschiedlich.<br />
AndeRson: Nicht wirklich, nicht unser privates<br />
Leben.<br />
Rubenstein: Aber ist er sich bewusst, wie schnell Ihres<br />
außer Kontrolle geraten kann?<br />
AndeRson: Er kennt mich ja schon eine Weile. Er<br />
weigerte sich allerdings, mit mir zu sprechen, als ich<br />
verheiratet war …<br />
Rubenstein: Warum?<br />
AndeRson: Oh, während der Ehe hatte ich gar keine<br />
männlichen Freunde.<br />
Rubenstein: War Tommy Lee so eifersüchtig?<br />
AndeRson: Wir verbrachten jede Minute miteinander,<br />
24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. So war es<br />
einfach. Deswegen habe ich mich auch bei Kelly entschuldigt.<br />
Weil es mir leid tat, wie das alles gelaufen<br />
ist. Und er findet es okay. Er versteht. Jetzt habe ich<br />
ihm gesagt, dass ich ihn nie wieder verlassen werde –<br />
und er antwortete: „Das hast du nie.“ Gleichzeitig<br />
fühle ich mich noch nicht bereit, eine neue Beziehung<br />
anzufangen. Noch nicht. Unsere Freundschaft ist sehr<br />
eng. Wir lieben uns. Er unterstützt mich. Er weiß,<br />
wer ich bin, und lässt sich von dem ganzen Bohei<br />
nicht abschrecken.<br />
Rubenstein: Er glaubt also nicht alles, was in den<br />
Zeitungen über Sie geschrieben steht?<br />
AndeRson: Nein, aber meine Oma tut das, sie kauft<br />
jedes dieser Schundblätter. Aber sie besitzt auch einen<br />
Scanner, um den Polizeifunk auf Vancouver Island abzuhören.<br />
Sie will einfach all die Gerüchte kennen, jedes<br />
noch so kleine Detail. Sie will alles über jeden<br />
wissen. Einmal rief sie meinen Vater an und behauptete,<br />
ich sei auf einer Hochzeit auf der Queen Mary<br />
gewesen und hätte das ganze Buffet leer gegessen.<br />
Daraufhin rief mein Dad mich an und fragte: „Pamela,<br />
stimmt das?“ „Klar, Dad“, meinte ich, „abgesehen<br />
davon, dass ich nie auf der Queen Mary war, nie eine<br />
Hochzeit auf der Queen Mary besucht habe und nie<br />
an Buffets esse.“ Und wissen Sie, was mein Vater daraufhin<br />
zu mir sagte?<br />
Rubenstein: Nein, erzählen Sie es mir!<br />
AndeRson: Sein Kommentar lautete: „Ich finde, das<br />
ist kein angemessenes Verhalten.“ Er hat mir nicht<br />
geglaubt! Mir, seiner Tochter! Leider glaubt mein<br />
Dad, wie so viele Leute, alles, was irgendwo gedruckt<br />
steht. Einfach nur, weil es gedruckt da steht. Was gedruckt<br />
wird, ist die Wahrheit.<br />
Rubenstein: Ist der Ruhm das wert?<br />
AndeRson: In derlei Kategorien denke ich nicht.<br />
Mein Leben ist, was es ist. Tag für Tag. Meine beste<br />
Freundin arbeitet in der Zulassungsstelle für Fahrzeuge<br />
in Victoria auf Vancouver Island. Und auch in ihrem<br />
Job gibt es gute und schlechte Seiten. Alles ist<br />
irgendwie relativ. Und alles ist ein Drama, wenn Sie<br />
verstehen, was ich damit meine. Es mag sein, dass<br />
mehr Menschen denken, sie würden mein Leben<br />
durchschauen, aber ihr Leben kann ebenso schmerzhaft<br />
für sie sein.<br />
Rubenstein: Aber Sie haben sich nun mal nicht dazu<br />
entschlossen, bei der Zulassungsstelle zu arbeiten.<br />
AndeRson: Aber das, was ich mache, habe ich ebenso<br />
wenig geplant. Eigentlich dachte ich, es hört halt<br />
irgendwann auf. Ich hatte keinen Schimmer, dass es<br />
von solch einer Dauer sein würde.<br />
Rubenstein: Es ist nicht unüblich, dass Schauspieler,<br />
die über Nacht große Anerkennung erfahren, plötzlich<br />
von Selbstzweifeln geplagt werden. Wachen Sie<br />
manchmal nachts im kalten Schweiß gebadet auf?<br />
AndeRson: Ich lasse mich davon nicht verrückt<br />
machen, nein. Was die Presse schreibt, ist ohnehin<br />
surreal für mich. Einfach, weil darin ein Monster erschaffen<br />
wird. Das hat mit meinem eigentlichen Leben<br />
nichts zu tun, mit dem Leben, dass ich zu Hause<br />
mit meinen Kindern führe. Das ist sehr einfach und<br />
bereitet mir Freude. Große Freude! Ich lasse mein<br />
Privatleben nicht von meinem öffentlichen Leben beeinflussen.<br />
Rubenstein: Was erwarten Sie von Ihrer neuen Sendung,<br />
von V.I.P.? Einen Emmy? Oder Angebote für<br />
Filmrollen?<br />
AndeRson: Wer weiß? Alles, was mit meiner Karriere<br />
zu tun hat – wenn man es denn so nennen möchte<br />
–, liegt außerhalb meiner Kontrolle. Ich habe keine<br />
Kontrolle über gar nichts. Es wird wie immer sein:<br />
Die Show wird gesendet, die Besprechungen werden<br />
furchtbar sein, Kritiker zerreißen sie …<br />
Rubenstein: Glauben Sie wirklich?<br />
AndeRson: Klar, auf jeden Fall. Es ist schließlich<br />
keine Hochkultur.<br />
Rubenstein: Na ja, Baywatch wurde anfangs auch<br />
zerrissen …<br />
AndeRson: … und wird es immer noch. Dennoch<br />
ist es ein großer Hit.<br />
Rubenstein: Genau wie Xena und Hercules.<br />
AndeRson: Exakt, und die sind geradezu hysterisch!<br />
Weil sie einfach nur gut unterhalten und gar nicht<br />
mehr wollen. Dementsprechend haben wir jetzt eine<br />
groß angelegte ActionShow konzipiert. Es gibt Drama,<br />
Glamour und scharfzüngigen Humor – und ich,<br />
mittendrin, auf High Heels und in Hotpants, springe<br />
von Hochhäusern, während hinter mir irgendwelche<br />
Bomben hochgehen.<br />
Rubenstein: Okay, aber hatten Sie nicht eben erwähnt,<br />
dass Sie das schauspielerische Handwerk nun<br />
von der Pike auf erlernen wollen? Glauben Sie, dass<br />
die Industrie Sie irgendwann als Schauspielerin ernst<br />
nehmen wird, wenn Sie High Heels und Hotpants<br />
tragen?<br />
AndeRson: Ich BIN eine Schauspielerin. Auch in<br />
High Heels und Hotpants (lacht). Damit verdiene ich<br />
mein Geld. Und es amüsiert mich. Mir ist egal, was<br />
die Leute denken, ob sie es mögen oder nicht. Hauptsache,<br />
ich habe Spaß!<br />
160<br />
161
Foto: David LaChapelle für <strong>Interview</strong> Magazine, November 1998<br />
<strong>Interview</strong>- Cover, November 1998<br />
DIE NÄCHSTE AUSGABE<br />
VON INTERVIEW<br />
ERSCHEINT AM<br />
30. NOVEMBER 2012<br />
162<br />
163
dior.com