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Yasemin Enthusiasmus

Der Point of no Return war längst unbemerkt überschritten. Yasemin hatte die Lippen leicht geöffnet und atmete tief, die Lider hatte sie geschlossen, nur manchmal riss sie die Augen weit auf und starrte dabei Friedrich lächelnd an. „Hau ab!“ stieß Yasemin Friederich lachend zurück. Sie empfand, er würde drängeln. Von der Seite über Friederich gebeugt erklärte sie: „Ich will es doch auch, Friederich, aber nicht so hastig, langsam mit Gefühl und behutsam. Wir wollen es doch möglichst lange genießen. Oder stehst du auf Brutalo Sex?“ Friederich umschlang Yasemin und kugelte sich lachend mit ihr. „Was redest du für einen Unsinn, Yasemin. Wie kannst du nur auf so einen Blödsinn kommen?“ reagierte er. „Friederich, wie sprichst du denn. So redet man nicht bei der Liebe.“ gemahnte Yasemin. „Sondern?“ wollte Friederich wissen. „Bei der Liebe sagt man nur zärtlich, leise einzelne liebevolle Wörter, vielleicht auch zwei.“ meinte Yasemin. „Ah ha, und woher weißt du das? Macht man das eben so, oder steht das im 'How to for Couples in Love'?“ mutmaßte Friederich. Yasemin zog eine krause Mimik. „Wir quasseln schon wieder. Wir können das gar nicht. Wir können nur reden, immer nur reden und reden. Wir sind scharf aufeinander, aber was tun wir? Wir fangen wieder an zu reden.“ erklärte Yasemin missmutig. Ein günstiger Moment, aufzustehen und sich wieder anzuziehen. Yasemin wollte es ja grundsätzlich nicht und prinzipiell nicht und auch heute hatte sie es eigentlich nicht gewollt.

Der Point of no Return war längst unbemerkt überschritten. Yasemin hatte die Lippen leicht geöffnet und atmete tief, die Lider hatte sie geschlossen, nur manchmal riss sie die Augen weit auf und starrte dabei Friedrich lächelnd an. „Hau ab!“ stieß Yasemin Friederich lachend zurück. Sie empfand, er würde drängeln. Von der Seite über Friederich gebeugt erklärte sie: „Ich will es doch auch, Friederich, aber nicht so hastig, langsam mit Gefühl und behutsam. Wir wollen es doch möglichst lange genießen. Oder stehst du auf Brutalo Sex?“ Friederich umschlang Yasemin und kugelte sich lachend mit ihr. „Was redest du für einen Unsinn, Yasemin. Wie kannst du nur auf so einen Blödsinn kommen?“ reagierte er. „Friederich, wie sprichst du denn. So redet man nicht bei der Liebe.“ gemahnte Yasemin. „Sondern?“ wollte Friederich wissen. „Bei der Liebe sagt man nur zärtlich, leise einzelne liebevolle Wörter, vielleicht auch zwei.“ meinte Yasemin. „Ah ha, und woher weißt du das? Macht man das eben so, oder steht das im 'How to for Couples in Love'?“ mutmaßte Friederich. Yasemin zog eine krause Mimik. „Wir quasseln schon wieder. Wir können das gar nicht. Wir können nur reden, immer nur reden und reden. Wir sind scharf aufeinander, aber was tun wir? Wir fangen wieder an zu reden.“ erklärte Yasemin missmutig. Ein günstiger Moment, aufzustehen und sich wieder anzuziehen. Yasemin wollte es ja grundsätzlich nicht und prinzipiell nicht und auch heute hatte sie es eigentlich nicht gewollt.

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Carmen Sevilla<br />

<strong>Yasemin</strong><br />

<strong>Enthusiasmus</strong><br />

oder wie man es eben so macht<br />

Erzählung<br />

“We lose ourselves in what we read, only to return to ourselves,<br />

transformed and part of a more expansive world.”<br />

Judith Butler<br />

<strong>Yasemin</strong> möchte nichts mit neuer Liebe zu tun haben, und mit Friederich<br />

kommt es sowieso nicht in Frage. Was sich aber entwickelt, und wie <strong>Yasemin</strong><br />

und Friederich weiter damit umgehen, erzählt die Geschichte. Ein heißer<br />

Sommertag. Heute gab es keinen Kaffee sondern eisgekühlten Orangensaft.<br />

Auch wenn die Hitze quälte, schien sie doch fast übermütige Glücksgefühle zu<br />

erzeugen. Friederich war gerade von der Uni gekommen, und die beiden juxten<br />

und alberten. An so einem Tag war es wirklich ein Genuss, wenn man liegen<br />

konnte. <strong>Yasemin</strong> und Friedrich lachten und scherzten, bis sie sich schließlich<br />

doch mal innig umarmen mussten. Sie lösten sich gar nicht wieder, wollten<br />

anscheinend das Küssen und das Empfinden des anderen Körpers<br />

perpetuieren. <strong>Yasemin</strong> hatte nur ein dünnes Sommerkleidchen und einen Slip<br />

an. Dass der Stoff so dünn und die Beine nicht mit einer Hose bedeckt waren,<br />

spielte für <strong>Yasemin</strong>s Empfinden offensichtlich doch eine Rolle. „Zieh das aus.“<br />

forderte sie Friederich auf und meinte sein Oberhemd, das sie schon fast ganz<br />

aufgeknüpft hatte. „Du auch.“ reagierte Friederich. Sie zogen sich beide aus,<br />

den Slip ließen sie vorerst noch an. Der Point of no Return war längst<br />

unbemerkt überschritten. <strong>Yasemin</strong> hatte die Lippen leicht geöffnet und atmete<br />

tief, die Lider hatte sie geschlossen, nur manchmal riss sie die Augen weit auf<br />

und starrte dabei Friedrich lächelnd an. „Hau ab!“ stieß <strong>Yasemin</strong> Friederich<br />

lachend zurück. Sie empfand, er würde drängeln. Von der Seite über Friederich<br />

gebeugt erklärte sie: „Ich will es doch auch, Friederich, aber nicht so hastig,<br />

langsam mit Gefühl und behutsam. Wir wollen es doch möglichst lange<br />

genießen. Oder stehst du auf Brutalo Sex?“ Friederich umschlang <strong>Yasemin</strong> und<br />

kugelte sich lachend mit ihr. „Was redest du für einen Unsinn, <strong>Yasemin</strong>. Wie<br />

kannst du nur auf so einen Blödsinn kommen?“ reagierte er. „Friederich, wie<br />

sprichst du denn. So redet man nicht bei der Liebe.“ gemahnte <strong>Yasemin</strong>.<br />

„Sondern?“ wollte Friederich wissen. „Bei der Liebe sagt man nur zärtlich, leise<br />

einzelne liebevolle Wörter, vielleicht auch zwei.“ meinte <strong>Yasemin</strong>. „Ah ha, und<br />

woher weißt du das? Macht man das eben so, oder steht das im 'How to for<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 1 von 39


Couples in Love'?“ mutmaßte Friederich. <strong>Yasemin</strong> zog eine krause Mimik. „Wir<br />

quasseln schon wieder. Wir können das gar nicht. Wir können nur reden,<br />

immer nur reden und reden. Wir sind scharf aufeinander, aber was tun wir? Wir<br />

fangen wieder an zu reden.“ erklärte <strong>Yasemin</strong> missmutig. Ein günstiger<br />

Moment, aufzustehen und sich wieder anzuziehen. <strong>Yasemin</strong> wollte es ja<br />

grundsätzlich nicht und prinzipiell nicht und auch heute hatte sie es eigentlich<br />

nicht gewollt.<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 2 von 39


<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> Inhalt<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong>............................................................................ 4<br />

<strong>Yasemin</strong> wusste nicht so genau................................................................4<br />

Ich kann das nicht.................................................................................. 5<br />

Verschenktes Ich.................................................................................... 7<br />

Wer bin ich denn?................................................................................... 9<br />

Enthusiastisch leben..............................................................................10<br />

Die Blume <strong>Yasemin</strong> neu erwecken...........................................................12<br />

Opernbanause...................................................................................... 14<br />

Oiseau rebelle...................................................................................... 16<br />

Liebesfrquenzen................................................................................... 17<br />

Hast du das öfter?................................................................................ 18<br />

Friederichs Gesicht................................................................................21<br />

Adagietto............................................................................................ 23<br />

Profunde Liebe..................................................................................... 24<br />

Point of no Return................................................................................. 25<br />

Britta.................................................................................................. 26<br />

Summertime........................................................................................ 26<br />

Beziehungsdekonstruktion.....................................................................28<br />

Friederichs Qualen................................................................................ 30<br />

Trennung von Britta.............................................................................. 32<br />

Friederich erkennt seine wirklichen Gefühle nicht.......................................34<br />

Habilitation und Professur...................................................................... 35<br />

Züngelnde Flämmchen..........................................................................37<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 3 von 39


<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong><br />

<strong>Yasemin</strong> wusste nicht so genau<br />

„Soll ich dir ein Taxi rufen,oder schaffst du das allein?“ erkundigte sich <strong>Yasemin</strong>,<br />

als sie meinte, dass es langsam Zeit sei. Nur Benny wollte heute nicht<br />

nach Hause. „Aber wo willst du denn schlafen?“ fragte <strong>Yasemin</strong>. „Hier.“ mehr<br />

wusste Benny anscheinend nicht. „Hier? Auf der Couch, auf dem Teppich?“<br />

wollte es <strong>Yasemin</strong> genauer wissen. „Nein, bei dir, in deinem Bett.“ lautete Bennys<br />

Vorstellung. <strong>Yasemin</strong> lachte schallend laut auf. „<strong>Yasemin</strong>, wir kennen uns<br />

doch schon so lange. Wir mögen uns gut leiden. Was hast du denn dagegen?“<br />

meinte Benny. „Stimmt, du hast Recht, könnte man gut machen, nicht war,<br />

und viele würden es wahrscheinlich auch tun. Aber ich will es nicht, Benny.<br />

Warum nicht? Genau weiß ich es nicht, aber dann müsste ich eine andere sein.<br />

Möglicherweise ist mein Empfinden und sind meine Einstellungen konservativ,<br />

das ist mir aber egal. Auf den Mann für's Leben, mit dem ich dann auch ins<br />

Bett ginge, warte ich keinesfalls, aber mehr als gut leiden mögen und sich öfter<br />

getroffen haben, muss es doch sein. Sonst hätte ich schon mit vielen ins Bett<br />

gehen können, tun ja auch sicher nicht wenige. Aber zur Befriedigung sexueller<br />

Bedürfnisse lieber einen Mann nehmen als seine Finger, so kann ich das nicht<br />

empfinden.“ erklärte <strong>Yasemin</strong>. „Bitte, <strong>Yasemin</strong>, wie redest du? Ich mag dich<br />

wirklich, und ich komme mir nicht vor wie ein x-beliebiger Bekannter.“ Benny<br />

darauf. „Wie auch immer, Benny, du hast es gehört. Wenn du heute Nacht Bedürfnis<br />

nach einer Dame hast, bin ich nicht die dafür geeignete Person.“ erklärte<br />

ihm <strong>Yasemin</strong>.<br />

Was sie genau wollte, wusste <strong>Yasemin</strong> aber auch nicht. Sie studierte bereits im<br />

vierten Semester Erziehungswissenschaften. Natürlich hatte sie schon mit<br />

Männern geschlafen. Zum ersten mal mit ihrem Freund in der Schule. Kinder<br />

seien sie eigentlich, ein substanzloses Teenyschwärmen, wie <strong>Yasemin</strong> im Laufe<br />

der Zeit aufgegangen war. Ändern würde sich das nicht, <strong>Yasemin</strong> wollte nicht<br />

mehr. Mit einem Freund hatte sie sogar zusammengelebt, eineinhalb Semester<br />

lang. Ihr über alles geliebter Freund hatte mit einer anderen Frau geschlafen<br />

und wollte <strong>Yasemin</strong> erklären, dass es mit Liebe nichts zu tun habe und eigentlich<br />

gar nichts Besonderes sei. <strong>Yasemin</strong> wollte das so nicht sehen, sondern sah<br />

die große Enttäuschung ihrer Liebe. Aber so genau verstand sie es auch nicht.<br />

Sie war eine eher extrovertierte junge Frau, hatte immer viele Freundinnen<br />

und Freunde, aber mit Liebe, da wusste sie nicht mehr genau. Sicherheit konnte<br />

es ja letztendlich nicht geben, nur sie hatte auch, vielleicht wegen der Enttäuschung,<br />

noch nie wieder konkrete Anlässe oder Bedürfnisse dafür erkannt.<br />

Aber nicht nur bei der Liebe wusste <strong>Yasemin</strong> es nicht so genau. Sie war ein<br />

freundliches Mädchen, war fleißig und hatte immer gute Zensuren in der Schule<br />

gehabt. Ihre Eltern waren stolz auf sie. Etwas Besonderes, das sie von der<br />

Allgemeinheit abhob, gab es allerdings nicht. Sie spielte kein Instrument, war<br />

in keinem Sportverein und gestaltete nichts anderweitig Künstlerisches. Sie erledigte<br />

immer nur das, was in der Schule von ihr erwartet wurde. Etwas, das<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 4 von 39


sie als Hobby bezeichnen könnte, oder das sie mit besonderer Intensität<br />

betrieb, gab es auch nicht. Sie verbrachte ihre Tage, wie man so lebt, wie die<br />

anderen es auch tun. Vielleicht las sie ein wenig mehr als der Durchschnitt<br />

ihrer Mitschülerinnen. Da konnte sie auch schon ihr Interesse definieren.<br />

Studieren? Was sollte sie denn studieren? Was willst du denn mal werden? Nie<br />

hatte sich <strong>Yasemin</strong> Gedanken darüber gemacht. Sie hatte den Anforderungen,<br />

die sich jeden Tag stellten, immer gut zu entsprechen versucht, aber jetzt<br />

musste sie Entscheidungen für ihre Zukunft treffen, und da wusste sie eben<br />

nicht so genau. Ein glückliches, goldenes Ziel, auf das sie mit leuchtender<br />

Hoffnung zusteuerte, kannte <strong>Yasemin</strong> nicht. Was sollte man da schon machen?<br />

Lehrerin werden, mit den Fächern Deutsch und Geschichte. Ein besonderes<br />

Interesse, ihr späteres Leben als Lehrerin zu verbringen, konnte <strong>Yasemin</strong> bei<br />

sich auch nicht ausmachen. Aber sie würde eine gute Lehrerin werden, fleißig,<br />

freundlich und bei den Schülerinnen und Schülern beliebt. Unzufrieden war<br />

<strong>Yasemin</strong> keineswegs, auch wenn die Anforderungen im Studium das Lernen in<br />

der Schule in allen Bereichen weit übertrafen.<br />

Benny würde auch Lehrer werden, sie hatten mal gemeinsam ein Referat übernommen<br />

und trafen sich auch anschließend hin und wieder. Benny hatte erst<br />

im Studium sein großes Interesse für Pädagogik, und hier besonders die frühkindliche<br />

Sozialisation, entdeckt. „Du müsstest eigentlich Psychologie studieren.“<br />

hatte <strong>Yasemin</strong> gemeint, „Da könntest du erfahren, auf welchen Wegen<br />

aus Babys erwachsene Mitglieder der Gesellschaft werden.“ <strong>Yasemin</strong> hörte<br />

Benny gern zu, aber die Flamme für eigenes Interesse konnte er bei <strong>Yasemin</strong><br />

nicht entzünden. Wenn <strong>Yasemin</strong> nicht mit Freundinnen oder Freunden zusammen<br />

war, las sie in ihrer Freizeit. Sie las auch moderne, neue Literatur, aber<br />

lieber waren ihr die Klassiker, die einen ja meistens in ganz andere Welten zu<br />

anderen Zeiten entführten. Flaubert und Balzac hatte sie zum Beispiel schon in<br />

der Schule verschlungen. Im Moment war sie wieder auf Fontane gestoßen,<br />

wunderte sich und staunte und träumte von den kuriosen vergangenen Zeiten.<br />

Das Träumen gefiel ihr schon, aber verträumt war sie deshalb keineswegs.<br />

Über alles und jedes war sie stets gut informiert. Kannte sich mit den Entwicklungen<br />

im politischen Bereich aus und schaute jeden Abend wenigstens die Tagesschau.<br />

Sie als lebenslustige, lebendige junge Frau zu bezeichnen, traf schon<br />

zu.<br />

Ich kann das nicht<br />

Theodor Ballauff? Gehörte der nicht zu den längst Vergessenen, den toten Seelen<br />

der Pädagogik? Was sollte der denn mit der philosophischen Postmoderne<br />

zu tun haben? Ein junger Assistent bot ein Seminar dazu an. Ein kurioses Thema,<br />

vielleicht würde es ja ganz interessant. Es machte sie neugierig, <strong>Yasemin</strong><br />

wollte es belegen. Offensichtlich hatte <strong>Yasemin</strong> sich die Ankündigung nicht genau<br />

durchgelesen. Sie hatte sogar ein Referat übernommen, aber sie kam sich<br />

vor, als ob sie im Urwald stünde. Natürlich meinte sie grob zu wissen, was<br />

Postmoderne bedeutete, aber beschäftigt hatte sie sich damit näher noch nie.<br />

In allen Bereichen bedeutete es eine Abkehr vom bisherigen philosophischen<br />

Denken, aber weder das philosophische Denken der Moderne noch die Philosophie<br />

der Postmoderne waren ihr im Einzelnen bekannt. Mit philosophischen<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 5 von 39


Fragen hatte sie sich nie tiefer befasst, wusste nur, was sie in der Schule dazu<br />

kennen musste. Ich kann das nicht. „Ich werde das Referat zurückgeben.“<br />

nahm sie sich vor.<br />

„<strong>Yasemin</strong> Klatt,“ las er, „sind sie Türkin?“ <strong>Yasemin</strong> blickte ihn nur straff an,<br />

während ihre Lippen und die übrige Mimik ein mokantes Format zeigten. „Oh,<br />

ja, Entschuldigung. Wie konnte ich? <strong>Yasemin</strong> fällt mir nur auf, weil es bei uns<br />

kein sehr gebräuchlicher Name ist, in der Türkei hingegen schon.“ meinte Herr<br />

Dr. Sander, der Leiter des Seminars. „Trotzdem bin ich keine Türkin, habe keine<br />

türkischen Eltern, keine türkischen Großeltern und eine türkische Familie gehört<br />

noch nicht einmal zu meinen Bekannten. Vielleicht habe ich ja einen heimlichen<br />

Vater, der Türke ist, und meine Mutter sagt nur, sie fände <strong>Yasemin</strong> als<br />

Name so schön. Aber wer will das schon wissen?“ <strong>Yasemin</strong> darauf. „Ihre Mutter<br />

müsste es doch wissen.“ bemerkte Herr Sander. „Ja, aber die sagt es doch<br />

nicht.“ <strong>Yasemin</strong> schon nicht mehr ganz ernst. „Wie dem auch sei, ich finde<br />

auch, dass <strong>Yasemin</strong> ein schöner Name ist. Vielleicht ist das die türkische Bezeichnung<br />

für Jasmin.“ vermutete Herr Sander. „Vielleicht das auch, aber ich<br />

glaube eher, es ist persisch und bedeutet Blume.“ kommentierte <strong>Yasemin</strong>.<br />

„Noch schöner. Die Welt ist meistens noch viel schöner, als man es vermuten<br />

könnte. Was kann ich für sie tun, Frau Klatt?“ erkundigte sich Herr Sander. „Ich<br />

hatte mich für ein Referat gemeldet, aber mir ist etwas dazwischen gekommen.<br />

Ich würde es gerne zurückgeben.“ erklärte <strong>Yasemin</strong>. „Wollen sie uns verlassen?“<br />

fragte Herr Sander. „Nein, es ist etwas anderes. Ach, Quatsch, ich<br />

kann das nicht. Ich verstehe das alles gar nicht. Unermessliche neue philosophische<br />

Welten tun sich da für mich auf. Philosophisch bin ich keinesfalls sehr<br />

bewandert.“ erklärte <strong>Yasemin</strong>. Herr Sander musterte sie. „Aber sie wollten das<br />

Seminar doch belegen, haben sich doch dafür interessiert, und jetzt wollen sie<br />

sofort das Handtuch werfen?“ Herr Sander verwundert. „Ich habe mich wohl<br />

getäuscht, dachte ich könnte etwas lernen, das werde ich sicher auch, aber ich<br />

verfüge nicht über die erforderlichen Voraussetzungen.“ erläuterte <strong>Yasemin</strong>.<br />

„Wer zur Uni kommt, hat die erforderlichen Voraussetzungen, sonst bekäme er<br />

keinen Studienplatz.“ scherzte Herr Sander und beide lachten. „Ich finde, dass<br />

es für eine intelligente Frau kein Problem darstellen dürfte, sich da einzuarbeiten.<br />

Haben sie Angst?“ fragte er. „Nein, wovor soll ich Angst haben? Es ist nur<br />

so überwältigend und ich verstehe das alles nicht.“ antwortete <strong>Yasemin</strong>. „Also<br />

ich würde gern mal mit ihnen darüber sprechen. Ich will sie zu nichts überreden,<br />

drängen oder vielleicht sogar zwingen. Mich erstaunt das nur. Oder möchten<br />

sie lieber nicht?“ erkundigte sich Herr Sander. „Doch, doch, gern, was will<br />

ich denn mehr.“ reagierte <strong>Yasemin</strong> emphatisch und ließ Herrn Sander schmunzeln.<br />

„Kommen sie zu mir am Donnerstag in die Sprechstunde. Oder nein kommen<br />

sie anschließend um 15:30 Uhr ins Büro, dann suchen wir uns einen<br />

Raum, da haben wir mehr Zeit.“ <strong>Yasemin</strong> bedankte sich. So etwas hatte sie an<br />

der Uni noch nie erlebt. In der Schule kümmerten sich die Lehrer um einzelne<br />

Schüler, wenn sie Probleme hatten, aber an der Uni war man eine Ameise in<br />

der amorphen Masse des Studentenvolkes. Was motivierte diesen Sander? War<br />

er noch so jung und ehrgeizig und wollte alles besser machen, als er es selbst<br />

erfahren hatte? <strong>Yasemin</strong> würde ja sehen. Vorsichtshalber informierte sie sich<br />

vorher noch ein wenig über Lyotard, damit sie nicht als völlig tumbe Nuss er-<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 6 von 39


schiene. Aber wieso die Philosophien Kants und Hegels auf einmal nichts mehr<br />

wert sein sollten und er sie als Erzählungen bezeichnete, das konnte sie doch<br />

alles nicht verstehen. „Ich bin kein Mensch, der aus philosophischen Erklärungen<br />

und Gedanken die für sein Leben relevanten Schlussfolgerungen zum Entscheiden<br />

und Handeln ableitet. Das ist doch auch normal. Wer tut das denn?“<br />

dachte sich <strong>Yasemin</strong>.<br />

Verschenktes Ich<br />

Wovon Herr Sander genau sprechen wollte, wusste <strong>Yasemin</strong> ja nicht, von Lyotard<br />

und seinen postmodernen Kollegen sprach er jedenfalls nicht. Auch Kant<br />

und Hegel erwähnte er mit keinem Wort. „Geht ihnen das öfter so?“ fragte er<br />

<strong>Yasemin</strong>. „Was meinen sie?“ wollte die es genauer wissen. „Na, ich meine, ob<br />

sie schnell bei Dingen und Anforderungen kapitulieren, und ihnen leicht der<br />

Gedanke kommt: „Ich kann das nicht. Ich schaff das nicht.“?“ erläuterte Herr<br />

Sander. <strong>Yasemin</strong> lachte. „Dann müsste ich das Studium ja aufgeben, wenn ich<br />

ständig meinte, dass ich etwas nicht schaffen würde.“ antwortete sie. „Es hätte<br />

ja sein können, dass es mit geringem Selbstvertrauen zusammen hinge. Aber<br />

sie werden sich für etwas anderes stärker interessieren als philosophische Fragen.“<br />

vermutete Herr Sander. <strong>Yasemin</strong>s Mimik zeigte zwar ein leichtes Grinsen,<br />

dass aber eher auf Verlegenheit zu basieren schien, und ihre Augen sagten<br />

auch: „Ich wüsste nicht.“ „Na irgendetwas wird ihnen außer Freizeitaktivitäten<br />

auch am Studium Spaß machen. <strong>Yasemin</strong> zeigte wieder ihr ratloses Grinsen,<br />

bei dem sie offensichtlich überlegte. „Für's Studium ist doch alles festgelegt,<br />

welche Veranstaltungen sie besucht haben müssen, welche Scheine sie brauchen<br />

und wodurch sie die bekommen. Ob es mir Spaß macht, wen soll das<br />

denn interessieren?“ erklärte sie schließlich. „Na, sie selbst, <strong>Yasemin</strong> Klatt,<br />

wenn denn sonst.“ fuhr Herr Sander auf. „Und was habe ich davon? Bekomme<br />

ich dafür bessere Zensuren? Wenn ich ein tolles Buch lese, das macht mir<br />

Spaß, aber bei der Klausur kommt es doch nur darauf an, dass ich mich gut<br />

vorbereitet habe, und den gestellten Anforderungen entspreche.“ meinte <strong>Yasemin</strong><br />

dazu. Nachdenklich musterte Herr Sander sie. „Also, sie selbst haben damit<br />

gar nichts zu tun. Sie persönlich kommen dabei überhaupt nicht vor, spielen<br />

dabei gar keine Rolle. Eine Studiumsmaschine erfüllte die gestellten Anforderungen.<br />

Ja, empfinden sie das so?“ wollte Herr Sander wissen. <strong>Yasemin</strong> lachte<br />

anhaltend, wobei sie aber zu überlegen schien. „Vielleicht schon ein bisschen<br />

so ähnlich, aber die Maschine das bin doch ich.“ erwiderte sie. „Und dieses Ich,<br />

wer ist das? Ist es nicht nur diese Anforderungserfüllungsmaschine. Wenn es<br />

sagt, ob ich Spaß daran habe, ob mich etwas interessiert, ist doch unerheblich.<br />

Ich würde ihnen gern mal zuschauen, wie bei ihnen die Tage verlaufen.“ erklärte<br />

Herr Sander. <strong>Yasemin</strong> blies die Luft hörbar durch die Lippen. „Na, ganz normal.<br />

Ich könnte es ihnen ja erzählen, aber warum wollen sie das wissen?“ erkundigte<br />

sich <strong>Yasemin</strong>. „Nichts Besonderes, reicht es ihnen, wenn ich ihnen das<br />

hinterher beantworte?“ Herr Sander darauf. „Ganz ausführlich?“ fragte <strong>Yasemin</strong><br />

noch nach, und Herr Sander nickte nur Zustimmung. <strong>Yasemin</strong> fand offensichtlich<br />

Gefallen daran, unerträglich detailliert zu erzählen. So würde die Erzählung<br />

wahrscheinlich länger dauern als die Handlung selbst. Nachdem sie aus dem<br />

Bad gekommen war, erklärte sie: „Dann ziehe ich mir zuerst die Söckchen an.<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 7 von 39


Dass ich den BH anziehe, soll ich das auch erzählen, oder ist das zu erotisch?“<br />

fragte sie. „Nein, aber völlig unerheblich.“ lachte Herr Sander laut. „Sie haben<br />

sich also angezogen, und dann?“ <strong>Yasemin</strong> erzählte vom Frühstück, wie sie zur<br />

Uni ging, eine Vorlesung besuchte. Und immer wieder fragte Herr Sander, ob<br />

<strong>Yasemin</strong> sich darauf freue, und <strong>Yasemin</strong> konnte nur immer wieder die gleiche<br />

Reaktion zeigen, ratlose Mimik, manchmal begleitet durch zuckende Schultern.<br />

„Noch weiter?“ fragte sie, als sie berichtet hatte, wie sie nach der letzten<br />

Übung auf dem Heimweg noch einkaufen gegangen sei. Herr Sander<br />

antwortete gar nicht. Er musterte <strong>Yasemin</strong>, lächelte zwar, aber seine Mimik<br />

brachte auch Skeptisches, Bedenkliches zum Ausdruck. „Sie sind eine<br />

lebendige, junge Frau, wirken auf mich sehr sympathisch. Bei ihnen hätte ich<br />

das gar nicht vermutet.“ ließ sich Herr Sander schließlich vernehmen. „Oh je,<br />

was ist denn los? Haben sie eine Krankheit bei mir entdeckt, oder festgestellt,<br />

dass Mephisto mich in seiner Gewalt hat?“ wollte <strong>Yasemin</strong> gespielt erschrocken<br />

wissen. „Ja, ja, so wird es sein. Mephisto wird dahinter stecken.“ sinnierte Herr<br />

Sander, „Nur die Menschen haben ihm nicht ihre Seele verkauft, sondern ihre<br />

Persönlichkeit, ihr eigentliches Selbst. Er nennt sich nicht mehr Mephisto,<br />

sondern die Allgemeinheit, das allgemein Übliche, das, was man so denkt und<br />

tut. Sie sind ganz normal, Frau Klatt, sehr normal, äußerst normal, nur noch<br />

normal.“ „Ich verstehe sie nicht, was meinen sie?“ fragte <strong>Yasemin</strong> nach. „Als<br />

sie geboren wurden, hat eine Blume begonnen ihre Knospen zu öffnen. Nicht<br />

irgendein Baby, sondern nur diese <strong>Yasemin</strong> hat ihre Mutter geliebt. Diese<br />

<strong>Yasemin</strong> hat sich allmählich unsere Sprache zu eigen gemacht, zu ihrer, zu<br />

<strong>Yasemin</strong>s Sprache. In vielem ist diese neue Blume <strong>Yasemin</strong> weitergewachsen,<br />

aber nach und nach hat sie immer mehr von der eigentlichen <strong>Yasemin</strong><br />

abgegeben und immer mehr so gemacht, wie sie es alle eben machen, wie<br />

man es so macht. Nicht <strong>Yasemin</strong>, die gibt es kaum noch, dieses 'man'<br />

bestimmt, was <strong>Yasemin</strong> zu tun und zu lassen hat. Aus der neuen Blume<br />

<strong>Yasemin</strong> ist ein Sandkörnchen am Strand des Teiches der Allgemeinheit<br />

geworden. Ihr eigenes Leben hat sie abgegeben.“ erläuterte Herr Sander.<br />

<strong>Yasemin</strong> überlegte und Herr Sander schaute ihr dabei zu. „Die Allgemeinheit,<br />

das hört sich so abschätzig nach Bildzeitungsmeinung an, aber das umfasst<br />

doch nicht nur Negatives, unsere gesamte Kultur und unser gesamter<br />

Lebensstil gehören doch dazu. Das hat auch zwangsläufig jeder Mensch in<br />

seiner Entwicklung aufgenommen. Davon frei sein, das geht gar nicht.“<br />

erklärte <strong>Yasemin</strong>. „Das sehe ich absolut genauso wie sie, Frau Klatt, nur darf<br />

sich der Einzelne dem nicht bedenkenlos ausliefern, sich voll von ihm<br />

vereinnahmen lassen, dann nehmen die allgemeinen Verhaltensangebote ihm<br />

sein eigentliches Sein ab. Er ist den anderen, der Alltäglichkeit des Allgemeinen<br />

verpflichtet, das 'Man' bestimmt sein Denken und Handeln.“ erklärte Herr<br />

Sander. „Also, was ich tue und mache, bekomme ich von der <strong>Yasemin</strong> 'Man'<br />

gesagt, die wirkliche <strong>Yasemin</strong> Klatt merkt es gar nicht. Würde die denn alles<br />

ganz anders machen? Zum Beispiel bei einem Seminar sagt sie: „Ach, ich habe<br />

heute keinen Bock.“ und geht nicht hin. Dann hätte ich aber Angst vor ihr.“<br />

meinte <strong>Yasemin</strong> und beide lachten. „Das ist gut möglich, denn so hat das'Man'<br />

die Verantwortung für ihr Dasein, und darauf können sie sich stets berufen:<br />

Das macht man eben so. Wenn sie ihre eigentliche Existenz leben wollen,<br />

bedarf es dazu schon mehr Selbstbewusstsein und bestimmt auch manchmal<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 8 von 39


etwas Mut.“ antwortete Herr Sander. „Die eigentliche <strong>Yasemin</strong>, gibt es die denn<br />

noch, oder hat sie alles von sich an die Allgemeinheit abgegeben, ist selbst<br />

völlig verschwunden? Und wenn es sie noch gäbe, wie könnte ich sie denn<br />

dann wiederentdecken?“ wollte <strong>Yasemin</strong> wissen. „Ein Mensch verschwindet nie,<br />

das bringt auch die Allgemeinheit nicht fertig. Sie können beruhigt sein,<br />

<strong>Yasemin</strong> Klatt gibt es noch. Stellen sie sich vor, ich würde sie kneifen. Sie<br />

merken das, ein unangenehm, schmerzhaftes Gefühl, ihr eigenes, wirkliches<br />

Gefühl. <strong>Yasemin</strong>s Klatts persönliches Gefühl. Sei haben noch viele andere<br />

Gefühle, nur viele kennen sie wahrscheinlich gar nicht mehr. Alles wird<br />

dominiert und überwuchert von dem vorherrschenden Gefühl suggerierter<br />

Anerkennung und Bestätigung für's Erbringen gestellter und angenommener<br />

Anforderungen der Allgemeinheit. Aber zum Beispiel bei unserem Seminar, da<br />

hat sich auch die wirkliche <strong>Yasemin</strong> gezeigt. Es handelt sich nicht um eine<br />

Pflichtveranstaltung, sie brauchen den Schein nicht, aus ihrem eigenen<br />

Interesse haben sie sich entschieden. Was hatten sie für ein Gefühl dabei?“<br />

<strong>Yasemin</strong> zeigte wieder verunsichertes Grinsen. Darüber hatte sie sich noch<br />

keine Gedanken gemacht. „Schauen sie, bei allem was sie tun und allem woran<br />

sie denken, entsteht ein Bild vor ihren inneren Augen, und jedes Bild ist immer<br />

auch an ein Gefühl geknüpft. Das sind sie persönlich, ihre wirklichen Gefühle.<br />

Sie müssen sie nur zulassen und erkennen können, dann entdecken sie die<br />

wirkliche <strong>Yasemin</strong> wieder.“ erläuterte Herr Sander. Über das Seminar und das<br />

Referat hatten sie gar nicht gesprochen, aber was Herr Sander gesagt hatte,<br />

musste <strong>Yasemin</strong> erstmal aufnehmen, verarbeiten, überdenken.<br />

Wer bin ich denn?<br />

Kant und Hegels Philosophien sollten nichts wert sein und jetzt auch ihr eigenes<br />

Leben nicht. Wer war dieser Sander denn eigentlich? Was wollte er von ihr?<br />

Waren es auch nur Sanders Erzählungen? Nein, nein, <strong>Yasemin</strong> nahm es schon<br />

sehr ernst. Sonderbar, was Herr Sander gesagt hatte, stimmte <strong>Yasemin</strong> keineswegs<br />

enttäuscht oder gar traurig. Er hatte sie zwar als abhängig von der Allgemeinheit,<br />

dem Common Sense verpflichtet, dargestellt, aber er hatte auch eine<br />

Hoffnung aufgezeigt, von der <strong>Yasemin</strong> bislang nie etwas gespürt hatte. Sie<br />

merkte aber, wie es sie freudig stimmte. Er hatte ihr das Bild von einer anderen<br />

<strong>Yasemin</strong> gezeigt, die in ihr verborgen sei. Unzufrieden war sie mit sich<br />

sonst eigentlich nicht gewesen, aber diese andere <strong>Yasemin</strong> kennen zu lernen,<br />

erfüllte sie mit brennender Spannung. Sie konnte gar nicht schlafen, weil sie<br />

an tausende Situationen in ihrem Leben dachte, und überprüfte, ob sich die<br />

wirkliche <strong>Yasemin</strong> darin gezeigt haben könne. Mit ihrem Freund, mit der Liebe,<br />

war das auch alles so, wie man es gemeinhin so macht. Nachgemachte Liebe,<br />

nachgemachte Gefühle? Vielleicht gehörte das auch dazu, aber allein war es<br />

das doch nicht. Sie war schon mit ihren wirklichen, eigenen Gefühlen involviert.<br />

Wie eine Mischung aus beidem kam es ihr vor. Allgemein Übliches verbunden<br />

mit wirklicher, persönlicher Betroffenheit, nur hatte sie sich darüber<br />

damals überhaupt keine Gedanken gemacht und konnte es ja auch gar nicht.<br />

Jetzt würde sie es aber äußerst spannend finden, alles zu untersuchen, ob sie<br />

es auf Anforderung der Allgemeinheit so mache, oder ob <strong>Yasemin</strong> Klatt sich<br />

darin selbst verwirkliche. Am nächsten Morgen fing sie gleich an, aber es war<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 9 von 39


ungeheuer schwer zu entscheiden. Sie wusste ja auch gar nicht, wer <strong>Yasemin</strong><br />

Klatt denn eigentlich wirklich war. „Herr Dr. Sander, ich würde mich gern<br />

nochmal mit ihnen unterhalten. Mir ist da noch etwas eingefallen. Hätten sie<br />

nochmal Zeit?“ fragte <strong>Yasemin</strong> nach dem nächsten Seminar. „Wieder<br />

Donnerstag, wie in der letzten Woche?“ suchte Herr Sander Bestätigung.<br />

Enthusiastisch leben<br />

„Möchten sie einen Kaffee? Sollen wir uns Kaffee machen?“ fragte Herr Sander.<br />

„Ja, macht man so, man trinkt immer Kaffee, nicht wahr? Aber ich selbst, ganz<br />

persönlich mag Kaffee auch gerne.“ antwortete <strong>Yasemin</strong>. Herr Sander stutzte<br />

kurz, und beide lachten. „Hat sie unser Gespräch von letzter Woche stark beschäftigt?“<br />

erkundigte sich Herr Sander. „Na klar, ständig, ich komme zu nichts<br />

anderem mehr, muss dauernd überprüfen, ob ich das selbst will, oder ob es <strong>Yasemin</strong><br />

'Man' ist, die das von mir verlangt.“ antwortete <strong>Yasemin</strong>. Sie kamen mit<br />

dem Kaffee aus der kleinen Küche und nahmen in zwei Sesseln des Besprechungszimmers<br />

Platz. „Friederich. Ich finde das ist ein schöner Name. Sie finden,<br />

dass <strong>Yasemin</strong> ein schöner Name ist. Wäre es da nicht besser, wenn wir<br />

uns bei den Namen, die wir beide schön finden, nennen würden, oder wäre ihnen<br />

das unangenehm, hielten sie das für unbotmäßig. Herr Sander lächelte<br />

verdutzt. „Wenn dir nach unbotmäßigem Verhalten ist, <strong>Yasemin</strong>, gerade dann<br />

sollten wir es tun. Aber was ist an Friederich so schön, sonst nennen sie mich<br />

immer Freddy?“ erkundigte sich Herr Sander belustigt. „Na, Friederich, Theodor,<br />

Eberhard, das sind noch richtige Männernamen.“ so <strong>Yasemin</strong>. Kurze Pause,<br />

in der sich beide mit schon gespannten Lippen anblickten, dann prusteten sie<br />

los. „Und die anderen?“ wollte Herr Sander wissen. „Heute heißen sie alle Tim<br />

und Bill und Eddy und Gerri. Ich bitte dich, was sind das denn für Namen?“ <strong>Yasemin</strong><br />

dazu. „Was für welche sind es denn? Ich weiß es nicht.“ scherzte Herr<br />

Sander. „Kindergarten, Namen für den Kindergarten sind das.“ erklärte <strong>Yasemin</strong>,<br />

„Ich werde dich immer Friederich nennen.“ „Dir gefallen die Namen besser,<br />

bei deren Nennung man schon das Klappern der Rüstung hört.“ vermutete<br />

Herr Sander. „Warum denn nicht, ein bisschen Ritterlichkeit kann doch nicht<br />

schaden, oder? Aber in der Postmoderne ist so etwas ja komplett obsolet.“ antwortete<br />

<strong>Yasemin</strong>. „Du willst jetzt also eine postmoderne Frau werden. Ist das<br />

schon die neue, die andere <strong>Yasemin</strong>, die ich heute erlebe, oder konnte ich sie<br />

am letzten Donnerstag nur nicht erkennen?“ fragte sich Herr Sander. „Vielleicht<br />

beides. So Nonsenstalk gab es ja am letzten Donnerstag nicht, aber ich bin<br />

schon eifrig dabei, alles zu überdenken. Sich bei allem nach seinen wirklichen<br />

Gefühlen zu fragen, finde ich ohne alle Abstriche fantastisch. Das wird mich<br />

verändern, da bin ich absolut sicher, aber nach innen zu schauen und nach mir<br />

selbst, der wirklichen <strong>Yasemin</strong>, zu suchen, fällt mir nicht nur schwer, ich denke<br />

auch, dass es gar nicht möglich ist, die authentische <strong>Yasemin</strong> zu finden.“ erklärte<br />

<strong>Yasemin</strong>. Herr Sander sagte nichts, blickte <strong>Yasemin</strong> nur an. „Deshalb<br />

wollte ich mich mit dir treffen, um darüber reden zu können, aber du<br />

schweigst.“ gemahnte <strong>Yasemin</strong>. „Kannst du deine Überlegungen ein wenig erläutern,<br />

warum es nicht möglich ist, sich selbst zu finden?“ bat Herr Sander.<br />

„Also ich habe das Gefühl, dass bei mir nichts zusammen passt, alles ist furchtbar<br />

durcheinander, unklar und widerspricht sich nicht selten. Aber ich denke,<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 10 von 39


das hat sich so entwickelt, bei anderen Menschen wird das nicht anders sein.<br />

Entscheidend ist aber, wenn du nach dir selbst suchst, ist da nicht eine Statue<br />

oder das Bild eines festen Zustandes. <strong>Yasemin</strong> verändert sich ständig, ihr<br />

Selbst ist ein Prozess, der sich jeden Tag ein kleines bisschen entwickelt. Und<br />

sogar wenn ich ein Bild von mir selbst generieren könnte, wäre es das, was<br />

mein Bewusstsein sagt. Mein Selbstbild wäre es, das mir bewusst ist, aber die<br />

wirkliche <strong>Yasemin</strong> hat die nicht im Unbewussten noch viel mehr verborgen, das<br />

sie wirklich ausmacht?“ erläuterte <strong>Yasemin</strong>. „Ich gebe dir schon Recht. Das<br />

Verlangen nach Authentizität ist eine moderne, allgegenwärtige, aber vielleicht<br />

auch verlogene Idee. Ich denke auch, dass es die Möglichkeit eines völlig<br />

authentischen Lebens, dem eigentlichen Selbst-sein-können, in der Praxis nicht<br />

geben kann. Im Bewusstsein wirst du dich selbst nie voll entdecken können.<br />

Da sammelt sich immer nur, was du von dir selbst weißt. Unerheblich ist das<br />

keinesfalls, aber in deinen wirklichen Gefühlen, darin findest du dich stärker<br />

selbst wieder. Es geht nicht darum, rationale Entscheidungen zu missachten,<br />

aber du solltest deinen Gefühlen mehr Beachtung schenken, ihnen größere<br />

Bedeutung zukommen lassen.“ erklärte Herr Sander dazu. „Sentimentaler<br />

werden, oder wie?“ fragte <strong>Yasemin</strong> schelmisch. „Na klar, nur das sind gerade<br />

nicht deine eigenen, wirklichen Gefühle. Nein, gefühlsbetonter leben, sich zum<br />

Beispiel von einem Seminar klare Vorstellungen machen, Lust dazu haben, sich<br />

engagiert, involviert darauf einlassen, es selbst leben. Kinder tun das noch<br />

ganz von selbst, sie sind absolut versunken in ihre Bauklötzchenburg, nehmen<br />

sonst nichts mehr wahr. Bei machen Erwachsenen ist das auch<br />

selbstverständlich. Die Primaballerina kann nicht beim Tanzen noch daran<br />

denken, was sie morgen alles einkaufen muss.“ erläuterte Herr Sander. „Du<br />

lebst immer so, Friederich, bist immer eine Primaballerina.“ schlug <strong>Yasemin</strong><br />

scherzhaft vermutend vor. Die beiden schmunzelten sich zu. Welche Gefühle<br />

ihre gegenseitigen Blicke bei <strong>Yasemin</strong> auslösten, konnte sie selbst nicht genau<br />

identifizieren, jedenfalls lagen sie dem Bereich Wohlgefallen nicht fern. „Ich<br />

wollte mit dir auch nicht über dein Leben reden, es hat sich zufällig so<br />

ergeben. Ich denke schon, dass ich mein Leben an von mir selbst für<br />

erstrebenswert erachteten Interessen ausrichte und versuche dabei mein<br />

Handeln möglichst enthusiastisch zu gestalten.“ erklärte Herr Sander. „Jetzt<br />

auch?“ fragte <strong>Yasemin</strong>. „Was jetzt auch?“ wollte Herr Sander es erläutert<br />

haben. „Na, enthusiastisch, bist du jetzt auch enthusiastisch?“ fragte <strong>Yasemin</strong>.<br />

Darauf gab es keine Antwort, nur einen tiefen Blick mit anschließendem<br />

gemeinsamem Lachen. Mehr wollte <strong>Yasemin</strong> auch gar nicht wissen.<br />

Wieder hatten sie nicht über das Referat gesprochen, aber das war in <strong>Yasemin</strong>s<br />

Gefühlshaushalt auch auf einen abseitigen Fensterplatz gerückt. Dieser Friederich,<br />

was für ein wundervoller Mensch. Benny war nicht nur ein Kindergartenname,<br />

so kamen <strong>Yasemin</strong> auch die Gespräche mit ihm vor. Keineswegs nur mit<br />

Benny, im Grunde sah sie fast alle Gespräche mit ihren Bekannten, im Gegensatz<br />

zu den Gesprächen mit Friederich, wie Smalltalk an. So hatte <strong>Yasemin</strong><br />

noch nie mit jemandem geredet. Friederich hatte sie lebendig gemacht. Ihr zu<br />

einem neuen Leben verholfen? So kam es <strong>Yasemin</strong> vor. Ihr Vater hatte ihr so<br />

etwas nie erzählt, wie sollte er auch. Er war ja selbst ein Sklave der Allgemeinheit.<br />

Friederich war Pädagoge, wie viele Kinder könnten von ihm profitieren,<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 11 von 39


nur leider war er nicht in der Schule. <strong>Yasemin</strong> versuchte sich vorzustellen, dass<br />

Friederich ihr Vater wäre, wie ganz anders sie dann wohl ihr Leben gestaltet<br />

hätte. Bestimmt hätte er ihr geraten: „Sei widerspenstig, lass dir nichts<br />

anschwatzen.“ Welche Wünsche, Träume und Hoffnungen sie dann wohl gehabt<br />

hätte? Lehrerin sein wollen, hätte bestimmt nicht dazu gehört. Ob sie auch<br />

jeden Tag mit enthusiastischen Empfindungen alles begehen würde. Wenn man<br />

selbst total involviert war, konnte man ja nicht mehr von erleben sprechen,<br />

man hatte es sich ja zu eigen gemacht. Aber einen Vater, der nur wenige Jahre<br />

älter war? So hatte sie Friederich auch keinesfalls empfunden. Freunde wie ihn<br />

würde sie gern haben, ihre derzeitigen Bekannten kamen ihr dagegen eher vor<br />

wie in die Jahre gekommene Mitschülerinnen und Mitschüler, aber da war sie ja<br />

auch selbst Schuld. Forderte Friederich von ihr auch, erwachsener zu sein.<br />

Indirekt bestimmt. Wenn sie sich selbst finden und ihr Handeln an ihren<br />

wirklichen Interessen orientieren wollte, war sie auch selbst verantwortlich.<br />

'Das-macht-man-eben-so' schied als Verantwortungsträger aus. Ihr Leben<br />

sollte ihr gehören, sie sollte planen und entscheiden wie es auszusehen hätte,<br />

wie sie es sich wünschte, was sie für wichtig und richtig hielt, nach ihrem<br />

eigenen Gewissen und in ihrer eigenen Verantwortung. Das wusste <strong>Yasemin</strong><br />

doch alles gar nicht. Aber sie würde es entdecken, da war sie sicher, und<br />

darauf freute sie sich. Isabella stand vielleicht ein wenig über den anderen<br />

Freundinnen. Die Beziehung zu ihr war <strong>Yasemin</strong> auch am wichtigsten. Wenn,<br />

dann könnte sie sich nur mit ihr beraten. <strong>Yasemin</strong> hatte mal versucht, Betty<br />

von ihren neuen Entdeckungen zu erzählen, nur Betty hatte gar kein Ohr dafür.<br />

Sie verstand nichts und wollte es offensichtlich auch gar nicht. Das war auch<br />

typisch für die Allgemeinheit, alles wurde eingeebnet, geglättet, als ob man es<br />

schon längst gekannt hätte, auch wenn man im Grunde nichts von der<br />

Ursprünglichkeit verstand. Es konnte nur etwas geben, was der<br />

Durchschnittlichkeit angepasst war. Das 'Man' dominierte nicht nur Denken und<br />

Handeln, es hatte auch Filter für Wahrnehmung und Verstehen eingebaut.<br />

Die Blume <strong>Yasemin</strong> neu erwecken<br />

„Einen Kaffee? Hast du Lust auf einen Kaffee? Wir müssten aber in die Cafeteria.“<br />

fragte Friederich <strong>Yasemin</strong> im Anschluss an das nächste Seminar. Natürlich<br />

hatte sie. Wenn Friederich sich mit ihr unterhalten wollte, gehörte das für <strong>Yasemin</strong><br />

nicht nur zum gefühlsbetonten, sondern auch zum lustvollen Leben.<br />

„Magst du das eigentlich, wenn ich dich Friederich nenne, oder gefällt dir Freddy<br />

besser?“ fragte <strong>Yasemin</strong>, als sie mit dem Kaffee Platz genommen hatten.<br />

„Nein, nein, von dir höre ich Friederich sehr gern.“ antwortete Friederich. Was<br />

sollte das denn heißen? Ganz schnell liefen <strong>Yasemin</strong> alle Möglichkeiten durch<br />

den Kopf, dann scherzte sie: „Bei Friederich hat meine Stimme ein ganz spezielles<br />

Timbre, nicht war?“ Friederich schmunzelte nur, und seine Augen schenkten<br />

<strong>Yasemin</strong> freundliche, vielleicht liebevolle Blicke. Mochte er <strong>Yasemin</strong> leiden?<br />

Musste ja schon. Zweimal hatte er sich mit ihr länger unterhalten, ihr geholfen,<br />

sie regelrecht befreit. Bei achtzig Prozent der anderen Studentinnen wäre das<br />

auch angezeigt. <strong>Yasemin</strong> hatte ihm nur gesagt, dass sie das Referat nicht halten<br />

könne und er wollte ihr helfen. Zum Referat hatte er nichts gesagt, nur zu<br />

ihr persönlich. Sie kannte ihn ja gar nicht, aber ihr Gespräch war von Anfang<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 12 von 39


an offen und vertrauensvoll. Sie hatten sich gegenseitig genau zugehört,<br />

hatten gescherzt und gemeinsam gelacht. Friederich musste ihr Freund sein,<br />

das hatten die Mächte des Schicksals so verfügt, denn <strong>Yasemin</strong> wusste ja sonst<br />

nichts von ihm. Aber was konnte er denn an einer so grauen Maus wie ihr<br />

finden. Ob er in ihr etwas sehen konnte, was <strong>Yasemin</strong> selbst nicht kannte?<br />

Vielleicht war es ja auch nur ein Beispiel für Friederichs enthusiastisches<br />

Leben. Das ließ <strong>Yasemin</strong> sowieso nicht in Ruh. Wenn sie sich vorzustellen<br />

versuchte, was sie zu tun hätte, alles würde sie mit großer Leidenschaft und<br />

überschwänglicher Begeisterung machen, lachte sie sich schief. Leidenschaft<br />

und große Begeisterung, in ihrem Alltag kam so etwas eigentlich gar nicht vor.<br />

Ob Friederich das auch gelernt hatte, oder ob Menschen, die ein<br />

selbstbestimmtes Leben führten, so etwas automatisch konnten? Gehörte das<br />

originär zum wirklichen Menschen und musste schon früh an die Allgemeinheit<br />

abgeliefert werden? Aber die ganzen Fußballfans zum Beispiel, die gehörten<br />

doch fast ausschließlich zur biedersten Allgemeinheit. Die waren aber<br />

enthusiastisch, frenetisch, begeistert. Sie brauchte ja nicht in der nächsten<br />

Vorlesung vor Begeisterung zu grölen, aber zu Leidenschaft und <strong>Enthusiasmus</strong><br />

würde sie zurückfinden, da war sich <strong>Yasemin</strong> sicher. „Du schreibst an deiner<br />

Habilitation, nicht war? Wirst Professor werden.“ erkundigte sich <strong>Yasemin</strong>. „Das<br />

liegt ja nicht allein an mir. Dazu muss ich mich bewerben und einen Ruf<br />

bekommen.“ antwortete Friederich. „Dann gehst du fort, bist nicht mehr hier.<br />

Das ist schade.“ <strong>Yasemin</strong> darauf. „Warum ist das schade?“ wollte Friederich<br />

genauer wissen. <strong>Yasemin</strong> antwortete nicht direkt. Eine Welt ganz ohne<br />

Friederich, da fehlte ihr Entscheidendes. So sagte sie es aber nicht. „Na, ich<br />

finde schon, das du ein ganz Toller bist. Und da ist es doch einfach schade,<br />

wenn so jemand nicht mehr da ist.“ erklärte <strong>Yasemin</strong> zögernd. „Ich finde auch,<br />

dass ich ein ganz Toller bin,“ scherzte Friederich, „aber was ist es denn, das du<br />

so toll an mir findest?“ <strong>Yasemin</strong> lachte laut auf. Sie blickte Friederich an, aber<br />

ihre Augen sprachen etwas anderes, als was sie dann sagte. „Na, ich finde, was<br />

du in den Seminaren und Übungen machst, ist doch klasse, aber ich persönlich<br />

bin natürlich begeistert, von dem was du mir zu meiner Lebensweise gesagt<br />

hast. Ich bin sehr glücklich darüber und möchte dir ausdrücklich dafür<br />

danken.“ Friederich schmunzelte. „Danke.“ sagte er nur. Eine Pause, in der<br />

beide vor sich hindachten. „<strong>Yasemin</strong>,“ druckste Friederich, „ich würde eigentlich<br />

gern mal mit dir gemeinsam essen gehen. Ich möchte dich einladen.“ <strong>Yasemin</strong><br />

lachte. „Das macht man so, nicht wahr?“ suchte sie Bestätigung. Friederichs<br />

Mimik wünschte nur fragend nähere Erläuterung. „Ist doch klar, wenn man<br />

beabsichtigt die Beziehung zu einer Dame möglicherweise zu intensivieren, lädt<br />

man sie zunächst mal zum Essen ein. Das macht man eben so.“ erläuterte<br />

<strong>Yasemin</strong>. Friederich schmunzelte. „Was würdest du denn vorschlagen?“ wollte<br />

er lachend von <strong>Yasemin</strong> wissen. „Friederich, du bist ein netter Mensch. Ja, und<br />

ich mag dich schon, aber irgendetwas in Richtung Beziehung? Ich kenne dich<br />

doch überhaupt nicht.“ erwiderte <strong>Yasemin</strong>. „Beziehung? Wir haben schon lange<br />

eine Beziehung. Seitdem du mich zum ersten mal angesprochen hast, haben<br />

wir eine Beziehung.“ meinte Friederich dazu. „Na klar, zu meinem Kaufmann<br />

habe ich auch eine irgendwie geartete Beziehung, aber auf die Idee, mich zum<br />

Essen einladen zu wollen, käme der, glaube ich, eher nicht. Wenn du dir<br />

vorstellst, dass wir zusammen essen gehen, hast du ein Bild, die Gefühle, die<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 13 von 39


ei dir mit diesem Bild verbunden sind, darüber musst du mich aufklären.“<br />

forderte <strong>Yasemin</strong>. Friederich lachte nur. „Du hast Recht, <strong>Yasemin</strong>, ich sollte es<br />

dir sagen. Du hast gesagt, du könntest es nicht. Ich wollte dir helfen, warum<br />

ist mir nicht bewusst geworden. Bei anderen hätte ich das wahrscheinlich nicht<br />

gemacht. Zu sagen, dass du mir in unserem Gespräch immer sympathischer<br />

wurdest, ist eine banale Beschreibung. Ich hatte Lust an dir, mir lag persönlich<br />

daran, dass du ein selbstbestimmtes Leben führen könntest, die Blume<br />

<strong>Yasemin</strong> neu erwecken würdest. Was da mit mir geschah, und warum es sich<br />

so entwickelte, <strong>Yasemin</strong>, das weiß ich nicht, das kann ich nicht erklären.<br />

Seitdem ist es einfach so, dass ich mich freue, dich zu sehen, dass es meine<br />

Stimmung hebt, wenn wir miteinander sprechen. So verhält sich das mit<br />

meinen Gefühlen für dich.“ erläuterte Friederich und lächelte. „Ich habe ja<br />

schon gesagt, das ich dich mag.“ reagierte <strong>Yasemin</strong> darauf, „Wenn ich an dich<br />

denke, habe ich natürlich ein Bild. Vieles betrifft das, was ich mit dir erlebt<br />

habe, aber da ist auch immer noch etwas anderes. Ich kenne dich ja gar nicht<br />

näher, aber in meinem Bild taucht es auch auf. Visionen, Illusionen von dem,<br />

der du sein könntest. Von viel zu positiven Vorurteilen ist es wohl gemalt. Als<br />

absolute Idealgestalt tauchst du nicht auf, aber du bist ein anderer Mann.<br />

Entsprichst nicht meinem üblichen Männerbild. Mit dem Ritter hat das nichts zu<br />

tun. Selbstbewusst bist du schon, aber ich sehe auch Leidenschaft,<br />

Verletzbarkeit, Gefühle, die dir viel bedeuten. Ja, was ich sehe, gefällt mir<br />

schon, aber das ist ja nur der Geist, den mein Wunsch von dir kreiert.“ „Ein<br />

freundlicher Geist, mir gefällt er auch.“ stimmte Friederich lächelnd zu. „Wie<br />

dem auch sei, Friederich. Du wirkst auf mich sehr vertrauenserweckend, und<br />

wahrscheinlich bist du es auch. Du bist aber doch sicher verheiratet oder hast<br />

eine feste Partnerin, und beginnst einfach so mit mir anzubändeln? Ich habe<br />

keinen festen Freund und trotz intensivster Selbstfindungsbemühungen, weiß<br />

ich überhaupt nicht was ich will, wie ich es mir vorstelle, was ich mir wünschen<br />

könnte. Alles ziemlich verworren, verstehst du? Alles durcheinander.“ erklärte<br />

<strong>Yasemin</strong>. Friederichs Mimik nahm ernste Züge an. Er blickte <strong>Yasemin</strong> an und<br />

sagte: „Ja, ich habe eine feste Freundin, aber soweit ich weiß, habe ich nichts<br />

davon gesagt, dass ich dich zum Fremdgehen einladen wollte. Auch einen<br />

Antrag auf Gründung einer Liebesbeziehung habe ich nicht gestellt. Ich mag<br />

dich, <strong>Yasemin</strong>, mehr nicht, und das ist einfach so.“ <strong>Yasemin</strong> erschrak leicht,<br />

und ihr glückliches Hintergrundgefühl zeichnete sich in ihrem Gesicht jedenfalls<br />

nicht mehr ab. „Friederich, du bist böse, aber das ist ungerecht.“ erklärte<br />

<strong>Yasemin</strong> noch, bevor sie sich trennten.<br />

Opernbanause<br />

Heulen hätte sie können, vor Wut heulen. <strong>Yasemin</strong> machte sich Vorwürfe.<br />

Warum musste sie so etwas nur sagen? Dass er eine Freundin haben würde,<br />

war ihr doch klar, und die Gedanken zu ihrer möglichen Beziehung, warum<br />

musste sie Friederich das denn auf die Nase binden? Jetzt war das Essen passé<br />

und Friederich war sauer. <strong>Yasemin</strong> wollte ja nichts von Friederich, gut leiden<br />

mochte sie ihn allerdings schon. Ein Flirt unter zweien, die sich mögen. Nein,<br />

das stimmte so nicht. Ein Flirt Getändel war mit Friederich nicht mehr möglich,<br />

dazu waren ihre Gespräche schon zu ernsthaft und Wesentliches betreffend ge-<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 14 von 39


wesen. Friederich bedeutete <strong>Yasemin</strong> schon viel, sie mochte ihn ja auch, aber<br />

irgendwelche amourösen Gedanken oder Wünsche waren bei ihr nicht entstanden.<br />

Vielleicht gab es ja derartige verdrängte Impulse im Unbewussten, die sie<br />

nur offen nicht zulassen wollte. Wahrscheinlich wollte sie überhaupt nichts in<br />

dieser Richtung mit wem auch immer zulassen. Sie wusste zwar nicht, was sie<br />

wollte, aber Gedanken daran waren nicht mit glücklichen Hoffnungsgefühlen,<br />

sonder eher mit dem unangenehmen Gefühl von Unsicherheit und Zweifel belegt.<br />

Beim nächsten Seminar gab es nur vielsagende aber nicht eindeutig verständliche<br />

Blickwechsel, keiner sprach den anderen an. „Verrückt,“ dachte <strong>Yasemin</strong>,<br />

„er kann doch nicht einfach so tun, als ob er mich nicht mehr kennt. Ich<br />

habe ihn doch nicht beleidigt oder etwas Schlechtes über ihn gesagt. Der<br />

spinnt ja.“ Enttäuscht? Traurig? Ja, so empfand <strong>Yasemin</strong> schon. Wenn er auch<br />

nicht ihr Liebster war, aber zu spüren, dass jemand, den du schätzt, nichts<br />

mehr mit dir zu tun haben will, schmerzt auch ungemein. Beim nächsten Seminar<br />

kam Friederich vorher auf <strong>Yasemin</strong> zu. „Was ist eigentlich mit deinem Referat?<br />

Wir haben gar nicht mehr darüber gesprochen. Wir streichen es, nicht<br />

war?“ meinte er. Warum, wusste sie auch nicht genau, aber <strong>Yasemin</strong> musste<br />

das Wunder, das wieder mit ihr sprach, zunächst mal tief anstarren. „Nein, auf<br />

keinen Fall, es ist doch schon fast fertig.“ forderte <strong>Yasemin</strong> energisch. Sie<br />

musste etwas dazu sagen, denn Friederichs erstaunte Mimik verlangte Erklärung.<br />

„Was meinst du, was ich seit Wochen mache? Wie eine Primaballerina im<br />

Tutu der Postmoderne drehe ich mich nur noch um das Referat. Meine erste,<br />

wahrgenommene, selbstbestimmte Lebensäußerung. Was kann es für <strong>Yasemin</strong><br />

Klatt Wichtigeres geben, als damit fertig zu werden? Ich glaube, dass ich mittlerweile<br />

nicht nur verstehe, sondern dass es mir Spaß macht.“ erläuterte <strong>Yasemin</strong>.<br />

Friederich grinste breit. „Ich könnte dir noch mehr davon erzählen, wenn<br />

es dich interessiert, aber dazu müssten wir schon mal wieder miteinander reden.“<br />

fügte <strong>Yasemin</strong> hinzu. „Das tun wir doch auch. So kindisch sein passt ja<br />

wohl nicht mehr zu uns, oder?“ meinte Friederich dazu. „Ich habe dummes<br />

Zeug geredet, entschuldige.“ <strong>Yasemin</strong> darauf. „Da ist nichts zu entschuldigen,<br />

<strong>Yasemin</strong>. Wir waren nur ein wenig infantil.“ erklärte Friederich. „Das mit dem<br />

gemeinsamen Essen ist aber trotzdem vorbei, nicht wahr? Ich finde es schon<br />

gemütlich, zusammen zu dinieren, aber du willst doch enthusiastisch leben.<br />

Beim Essen? Wie willst du das denn machen?“ fragte <strong>Yasemin</strong> und lachte. „Fällt<br />

dir etwas Besseres mit größerem <strong>Enthusiasmus</strong>potential ein?“ wollte Friederich<br />

wissen. „Wenn wir essen und gemeinsam reden kann das schon sehr gefühlsbetont<br />

sein, das wird an uns liegen, aber im Theater oder beim Konzert werden<br />

doch die Gefühle viel stärker direkt angesprochen. Vor allem in der Oper, als<br />

nächstes steht Carmen auf dem Spielplan. Magst du so etwas? Hättest du Lust,<br />

gemeinsam mit mir in die Oper zu gehen?“ fragte <strong>Yasemin</strong>. „Stehst du auf<br />

Opern?“ fragte Friederich. „Ja, nein, eine junge Frau aus der bildungsbürgerlichen<br />

Mittelschicht geht auch in die Oper. Das macht man eben so. Widerwillig<br />

bin ich aber keineswegs in die Oper gegangen, klassische Musik und die wundervollen<br />

Stimmen natürlich gefielen mir schon. Aber es war einfach selbstverständlich<br />

so. Ich habe schon über vieles in meinem bisherigen Leben nachgedacht.<br />

Du sagst, die Allgemeinheit hätte mich dirigiert, mir kommt es jetzt so<br />

vor, dass sich das meiste in meinem Leben fern von mir abgespielt hat. Als ob<br />

ich es persönlich gar nicht selbst gelebt hätte. Alles will ich neu leben, mit neu-<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 15 von 39


er Einstellung, anderen Sichtweisen und vielleicht sogar mit <strong>Enthusiasmus</strong>.“ erklärte<br />

<strong>Yasemin</strong>. „Vielleicht werde ich ja ein Opernfan, wer weiß? Die Habanera<br />

zum Beispiel, finde ich jetzt schon klasse.“ fügte <strong>Yasemin</strong> hinzu und lachte.<br />

„Die Habanera kenne ich natürlich auch, ist ja schon fast Volksmusik, aber<br />

sonst bin ich ein ziemlicher Opernbanause. Ich muss und will auch alles neu<br />

erleben, und du wirst mir dabei helfen, nicht wahr?“ bat Friederich.<br />

Oiseau rebelle<br />

„Wundervoll siehst du aus in deinem Kleid.“ bemerkte Friederich an der Garderobe.<br />

„Ich mag es nicht. Es passt nicht mehr zu mir. Aber was passt denn zu<br />

mir? Ich kann nur vermuten, wer ich bin, und morgen vermute ich eine ganz<br />

andere. Meine Mutter hat das Kleid ausgesucht.“ erwiderte <strong>Yasemin</strong>. Friederich<br />

sah das zwar nicht so, aber er schmunzelte nur und fragte: „Hat deine Mutter<br />

immer alles bestimmt?“ „Nein, sie hat mich keineswegs okkupiert, aber wenn<br />

sie sagt, dass mir das Kleid gut steht, und die Verkäuferin sagt es auch, was<br />

willst du da schon machen. Ich liebe meine Mutter über die Maßen, und trotzdem<br />

ist sie letztendlich an allem Schuld. Ich war glücklich, wenn meine Mutter<br />

sich über mich freute. Im Prinzip ist das von Anfang an bis heute so geblieben.<br />

Sklavenmentalität eben. Aber was will eine Mutter denn auch machen? Soll sie<br />

ihrer Tochter sagen: „Widersprich mir, sei widerspenstig, lehn dich auf, sei ungehorsam?“<br />

und die Tochter befolgt brav die Anweisungen der Mutter?“ überlegte<br />

<strong>Yasemin</strong> und beide lachten. „Mir gefällt das Kleid aber auch. Du wirkst<br />

darin richtig...“ Friederich suchte nach dem passenden Wort, „na, sagen wir<br />

mal, attraktiv. Du bist eine schöne Frau.“ „Das weiß ich.“ sagte <strong>Yasemin</strong> aber<br />

keineswegs in einem Tonfall, als ob sie sich für ein Kompliment bedanken wollte,<br />

sie sprach scharf und harsch, „Über meinen Hintern und meine Titten<br />

kannst du auch noch etwas sagen. Was ist in dich gefahren, Friederich? Hast<br />

du einen zu großen Schluck aus der Testosteronflasche genommen? Ich wollte<br />

mit dir gemeinsam eine Oper erleben, und bin nicht mit dir zu einer Weibershow<br />

gefahren.“ Friederich war ganz erschrocken. „Oh je, wie kannst du dich<br />

anstellen.“ hätte er sagen können, das sagte er aber nicht, sondern: „Entschuldigung,<br />

<strong>Yasemin</strong>, es wird kein Wort mehr zu deinem Erscheinungsbild und deinem<br />

Äußeren meine Lippen passieren. Meine Wahrnehmung verbieten, kann<br />

ich mir aber doch nicht.“ „Dann bist du eben auch ein schöner Mann, da hat<br />

deine Wahrnehmung etwas anderes, woran sie sich abarbeiten kann. Sind wir<br />

damit quitt und können das Thema beschließen?“ fragte <strong>Yasemin</strong>. „Es hat das<br />

Thema nie gegeben. Das einzige Thema ist die Oper, wie wir sie hören, was wir<br />

erleben und was wir uns darüber erzählen,“ antwortete Friederich. Bei der Habanera<br />

blickten <strong>Yasemin</strong> und Friederich sich lange mit versonnener, Wonne erfüllter<br />

Mimik an. Jeder hätte gesagt, dass die beiden sich gleich küssen würden,<br />

aber auf diese Gedanken durften <strong>Yasemin</strong> und Friederich, bei welcher Mimik<br />

auch immer, nicht kommen. In der Pause standen sich die beiden gegenüber.<br />

Nicht wie Sparringspartner, die miteinander kämpfen wollen, sondern als<br />

ob es darum ging, den oder die andere zum Tanz um das erlebte Glück herauszufordern.<br />

Sprache kann wundervolle Worte formulieren, ihre Intonation kann<br />

wie Musik wirken, trotzdem gibt es Momente, in denen sie nur stört. Worte<br />

können Gefühle beschreiben, aber mit den Augen lassen sie sich direkt ins<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 16 von 39


Zentrum des anderen übertragen. Erstauen, Bewunderung und Stolz über ihre<br />

kluge Entscheidung, gemeinsam die Carmen zu erleben, lagen bestimmt auch<br />

in ihren anhaltenden Blicken, bis sich die beiden schließlich einfach um den<br />

Hals fielen. Dann mussten sich <strong>Yasemin</strong> und Friederich alles erzählen, was sie<br />

gehört, gesehen und erlebt, und was sie dabei empfunden hatten. Vielleicht<br />

kann der <strong>Enthusiasmus</strong> während der Oper selbst nur im Stillen blühen, bei dem<br />

Gespräch der beiden entfaltete er jedoch seine volle Pracht. Den oiseau<br />

rebelle, den unzähmbaren Vogel Liebe, wirst du umsonst rufen, aber du kannst<br />

intensiv suchen und etwas finden, oder etwas finden, ohne es zu suchen. Es<br />

gab keine Aktivitäten zu suchen, es bestand nur die Intention, die kurz nach<br />

der Pause <strong>Yasemin</strong> und Friederich gemeinsam ihre Hände finden ließ. Tausend<br />

mal hatte <strong>Yasemin</strong> jemandem die Hand gegeben. Es vermittelt einen Eindruck<br />

von kräftigem oder schlaffem Händedruck. Welche banalen Gedanken. Nicht als<br />

ob sie etwas berührte, was sie eigentlich nicht anfassen durfte, aber<br />

ergreifend, als ob sie noch nie eine andere Hand berührt hätte, empfand es<br />

<strong>Yasemin</strong> schon. Gern hätte sie Friedrichs Hand näher befühlt, aber zur<br />

Andacht, die die Oper vermittelte und zur Andacht des Händehaltens selbst,<br />

hätte das nicht gepasst. Lächelnd, vielleicht ein wenig stolz über ihren kühnen,<br />

emotional einzig richtigen Entschluss, trafen sich ihre Blicke. Vieles kann darin<br />

liegen, sich gegenseitig an der Hand zu halten, für <strong>Yasemin</strong> herrschte das<br />

Gefühl vor, nicht nur die Haut von Friederichs Hand an ihrer zu spüren, sie<br />

meinte Friedrich insgesamt zu empfinden. Die Haut seiner Hand erschien ihr<br />

wie die Haut seiner Seele. Erst zum Schlussapplaus lösten sie ihre Hände<br />

wieder. Sie sprachen kaum noch, redeten nur das Notwendigste.<br />

„Der Eine spricht, der Andere schweigt:<br />

es ist der Andere den ich bevorzuge,<br />

er sagte nichts, doch gefällt er mir.“<br />

singt der Oiseau rebelle in der Habanera. Vielleicht dachten sie ja daran, als<br />

<strong>Yasemin</strong> und Friederich nach Hause fuhren. In völliger Ferne konnte sich der<br />

unzähmbare Vogel Liebe jedenfalls nicht befinden, denn bei der Verabschiedung<br />

kam es zu einem leidenschaftlichen Kuss zwischen den beiden.<br />

Liebesfrquenzen<br />

<strong>Yasemin</strong>s Herz schwebte in Wonne. Es war wie verliebt, nur konnte das nicht<br />

sein. Aber was sollte es denn sonst sein, wenn es sich genauso anfühlt. Vielleicht<br />

gab es ja temporäre Verliebtheitszustände, hatte der Oiseau rebelle nur<br />

mal eine Stippvisite gemacht. Nein, nein, <strong>Yasemin</strong>s Gefühle waren jetzt keine<br />

anderen als in der Oper. Mit der Liebe wusste sie nicht und wollte eher nicht,<br />

aber jetzt hatten sich diese Gefühle ungefragt ihrer bemächtigt. Du kannst sie<br />

suchen und findest sie nicht, aber sie können dich auch okkupieren, obwohl du<br />

sie gar nicht gerufen hast, rebellisch eben. Eine nähere Beziehung mit Friederich<br />

weiterzuentwickeln, war völlig ausgeschlossen. Das Erlebnis bei Carmen<br />

beeinträchtigten solche Gedanken für <strong>Yasemin</strong> allerdings nicht. Auch nicht am<br />

nächsten Vormittag. Verstehen konnte <strong>Yasemin</strong> das alles gar nicht, aber was<br />

wollte sie auch verstehen? Gefühle verstehen? Und die Gefühle nach einer Perspektive<br />

fragen? Völlig zwecklos. Sie hatte diese wundervolle Erfahrung eben<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 17 von 39


genossen, wiederholen ließe sich da überhaupt nichts. Im Moment verstand sie<br />

ja sowieso nichts. Nein, nein, nach den alten Mustern nicht, nur jetzt war das<br />

Gegenteil der Fall. Es kam ihr vor, als ob sie jetzt erst zu verstehen beginne.<br />

Alles war neu und spannend. Das 'Macht-man-eben-so' hatte absolut<br />

ausgedient. In dieser kurzen Zeit hatte sich ihr Lebensstil total verändert. „Es<br />

ruht in dir, ist immer verfügbar, du musst es nur erkennen und erwecken.“<br />

hatte Friederich gesagt. Ob ihre Tage enthusiastisch verliefen? Das wusste<br />

<strong>Yasemin</strong> nicht, nur war sie ständig hoch erregt beschäftigt. Sie hatte viel mehr<br />

zu leben. Der Nebeldunst der Allgemeinheit hatte wie ein Schleier auf ihren<br />

Tagen gelegen und alles eingeebnet und geglättet, kraftlos war ihr Leben<br />

verlaufen. Das Erlebnis mit Friederich passte zu ihrer neuen Lebensweise und<br />

ihrer neuen Selbstsicht, früher hätte sich so etwas gar nicht ereignen können.<br />

Als temporäres Glückserlebnis wollte <strong>Yasemin</strong> es für sich bewerten und<br />

bewahren. Um Liebesgefühle hatte es sich ja eindeutig gehandelt, aber sollte<br />

sie etwa alle Theorien über Liebe, Libido und Begierde erforschen, um es sich<br />

erklären zu können? Vielleicht entsprach es ja bei ihr nur einem Bedürfnis, das<br />

aus Mangel an Zuneigung resultierte. Friederich hatte sich aber doch genauso<br />

verhalten. Dass Liebesempfindungen nicht dadurch entstehen, dass man sich<br />

besonders gut kennt, wusste <strong>Yasemin</strong> auch, aber wenn man so wenig von<br />

einander wusste? Vielleicht sendete man ja irgendwelche Liebeswellen aus, die<br />

der andere empfangen konnte, wenn sie auf der richtigen Frequenz geschickt<br />

wurden, oder die Blicke konnten Röntgenstrahlen ähnliche Signale senden, die<br />

den anderen durch die Augen direkt ins Herz trafen. Wie dem auch sei,<br />

spezielle Sensoren für Liebesgefühle musste es auf jeden Fall geben, sonst<br />

wäre das alles zwischen zwei sich so fremden Menschen wie <strong>Yasemin</strong> und<br />

Friederich nicht möglich gewesen.<br />

Hast du das öfter?<br />

Absolut völlig fremde Menschen konnten die beiden für einander aber doch<br />

wohl nicht sein. Die Form ihrer Begrüßung glich nicht den unter Fremden bekannten<br />

Usancen kommunikativer Kontaktaufnahme. Eine breite, freundliche<br />

Schnute zog Friederich und nickte bedächtig anerkennend dazu. <strong>Yasemin</strong><br />

machte ebenfalls eine Schnute, die aber nur fast kindliche, leicht diebische<br />

Freude symbolisierte, wozu sie noch ihre Augenbrauen anhob und die Lieder<br />

fast schloss. Beide verstanden es gut und waren überzeugt, dass sich ihre<br />

Schnuten jetzt erst mal zu treffen hätten. Das Referat war fertig. <strong>Yasemin</strong> hatte<br />

es Friederich zu lesen gegeben, heute musste sie es halten. Nicht nur Friederich<br />

hatte sie mit dem Referat überzeugt, sie schien auch ihre Zuhörer lebendig<br />

zu machen. Statt der sonst üblichen obligaten Nachfragen, wurde <strong>Yasemin</strong><br />

richtiggehend bestürmt. Sie hatte nicht als Expertin doziert, sondern war<br />

von sich ausgegangen, von ihrer eigenen Unkenntnis und hatte alles ausgezeichnet<br />

verständlich entwickelnd erklärt. Gut, dass sie selbst schon viel weiter<br />

war und ein breiteres Spektrum hatte, als es im Referat zur Sprache kam. Wie<br />

eine Expertin für die Postmoderne wurde sie, die vor einigen Wochen selbst<br />

noch keine Ahnung hatte, von den Kommilitoninnen und Kommilitonen zu allen<br />

Bereichen befragt. „Ich würde gern noch mit dir einen Kaffee trinken und mit<br />

dir reden, aber ich habe einen ganz dringenden Termin.“ erklärte Friederich.<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 18 von 39


„Ruf doch einfach an, wenn es dir passt, und komm zum Kaffee zu mir. Wo ich<br />

wohne, weißt du ja.“ schlug <strong>Yasemin</strong> vor. Friederich stockte kurz, war aber<br />

einverstanden. Einen Kuss zum Abschied gab es aber doch. Das wurde jetzt<br />

zum ständigen Ritual unter den beiden Fremden, einen richtigen Kuss zur<br />

Begrüßung und zum Abschied.<br />

<strong>Yasemin</strong> war ständig hoch beschäftigt. Bis tief in die Nacht las sie, allerdings<br />

nichts zur Methodik und Didaktik und auch Frau Jenny Treibel musste sich<br />

durch Fontane trösten lassen, bis <strong>Yasemin</strong> mal wieder Zeit für sie hätte. Besuche<br />

von Freundinnen vielen aus, aber Isabella musste sie es doch erzählen,<br />

was sich mit ihr zugetragen hatte. „Du bist verknallt, meine Liebe. Gib es zu.<br />

Dieser Friederich hat nicht nur dein Denken verändert, er hat sich auch in deinem<br />

Herzen eingenistet.“ interpretierte es Isabella. „Ja, in der Oper war es,<br />

glaube ich, schon so, aber ich denke nicht ständig an ihn, kann die Zeit ohne<br />

ihn nicht ertragen und sehne mich danach, dass wir zusammenkommen.“ erwiderte<br />

<strong>Yasemin</strong>. „Für zwei Stunden verliebt und dann nicht mehr. Wie geht das<br />

denn? Das musst du mir mal erklären. Da muss es sich aber um einen sehr<br />

flüchtigen Vogel handeln. Vermutest du denn, dass er noch mal wieder<br />

kommt?“ spottete Isabella. Die beiden redeten noch weiter darüber. Isabella<br />

blieb dabei, dass <strong>Yasemin</strong> sich in Friederich verliebt hätte. „Ganz Unrecht hatte<br />

sie ja nicht, aber wenn, dann war es eine Liebe ohne Perspektive einer Beziehung.<br />

War sie dann nicht unsinnig und irrational. Eine unerfüllte Liebe? Aber<br />

Friederich hatte ja auch diese Empfindungen für sie.“ sinnierte <strong>Yasemin</strong>.<br />

Es war ja nichts Besonderes, nur verspürte <strong>Yasemin</strong> einen permanenten Kitzel,<br />

als Friederich zu ihr zum Kaffee kam. Sie setzten sich mit dem Kaffee an den<br />

kleinen Küchentisch. Friederich begann kurz etwas vom Tage zu erzählen und<br />

kam dann auf <strong>Yasemin</strong>s Referat zu sprechen. Die platzte einfach hinein: „Sag<br />

mal, Friederich, wenn es mir am liebsten ist, dass ich mich mit dir unterhalte,<br />

bist du dann mein Liebster, oder mein Geliebter?“ Friederich hätte sich bestimmt<br />

gerne Gedanken dazu gemacht, aber weil <strong>Yasemin</strong> schallend lachte,<br />

hielt er es auch für einen Scherz und lachte ebenfalls. „Sollen wir uns nicht bei<br />

mir auf die Couch setzen? Mit Freundinnen setzen wir uns immer aufs Bett,<br />

wenn wir uns unterhalten.“ fragte <strong>Yasemin</strong>. Auf dem Bett, das gefiel Friederich<br />

auch. „Aber nur reden.“ fühlte <strong>Yasemin</strong> sich noch bemüßigt warnend zu erwähnen.<br />

Dass es dabei nicht blieb, lag aber hauptsächlich an <strong>Yasemin</strong>. Ihr kitzeliges<br />

Hintergrundgefühl vermittelte ihr, dass ihr Zwerchfell sie gern häufig lachen<br />

lassen wollte. Sie unterhielten sich schon ernst, aber <strong>Yasemin</strong> suchte in<br />

allem Anlässe zum Lachen. Bei gemeinsamem Lachen mussten sich <strong>Yasemin</strong><br />

und Friederich auch öfter um den Hals fallen. Dass es dabei auch zu leidenschaftlichen<br />

Küssen kommen konnte, war nicht auszuschließen. Besonders erstaunt<br />

war Friederich über <strong>Yasemin</strong>s Wissen bei der Diskussion im Anschluss<br />

an das Referat. „Es hat mich gepackt, Friederich. Ich bin besessen von den<br />

neuen Welten, die sich jeden Tag für mich erschließen. Einzelne Wissenschaftler<br />

faszinieren mich ungemein und ich beschäftige mich noch näher mit ihnen.<br />

Vor allem aber hat mich Luce Irigaray auf neue Wege gebracht. Ich wusste<br />

zwar, dass Feministinnen sich für die Rechte der Frauen einsetzen, und von Simone<br />

de Beauvoir hatte ich auch schon mal gehört, aber da war auch schon<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 19 von 39


fast Schluss bei mir. Eine taube Nuss war ich auch beim Feminismus.“ erklärte<br />

<strong>Yasemin</strong>. „Willst du jetzt aktive Feministin werden, das Patriarchat<br />

abschaffen?“ erkundigte sich Friederich scherzend. „Das ist doch antiquiert, die<br />

Männer abschaffen, darum geht’s.“ <strong>Yasemin</strong> darauf. Auf Friederichs fragendes<br />

Lächeln antwortete <strong>Yasemin</strong> nicht direkt. „Bei Luce Irigaray habe ich zum<br />

ersten mal Depressionen bekommen. Was hätte ich alles machen können, aber<br />

alles nur Schrott in meinem bisherigen Leben. Die Allgemeinheit nimmt dir<br />

nicht nur dein Selbst, sie verführt dich auch zu einem wertlosen, unnützen<br />

Leben. Mit Luce Irigaray hat es nur angefangen, ich bin da schon viel weiter.<br />

Du glaubst nicht, wie viele wahnsinnig tolle Frauen es gibt. Unsere<br />

bedeutendsten Epistemologen sind heute Frauen. Philosophie hätte ich<br />

studieren müssen, das wirklich Spannende. Wie konnte ich nur so einen<br />

Schwachsinn wie Lehramt machen. Ich war eben nicht bei mir selbst zu Hause.<br />

Als Mann werde ich dich intuitiv längst abgeschafft haben, deshalb kann ich<br />

dich wahrscheinlich auch so gut leiden.“ erklärte <strong>Yasemin</strong>. Friederich lächelte<br />

zwar, aber er verstand nichts. <strong>Yasemin</strong> erklärte es ihm: „Die Kategorien<br />

„männlich“ und „weiblich“ sind reine Konstrukte, sie stellen keine<br />

naturgegebenen Absolutheiten dar, sondern sind gesellschaftlich, soziokulturell<br />

bedingt. Es gibt keine Geschlechtsidentität, sondern nur die Individualität eines<br />

jeden Menschen. Also kannst du auch nicht zu den Männern gehören, selbst<br />

wenn du es gerne wolltest. Es gibt sie nicht, die Gruppe der absoluten,<br />

naturgegebenen Männer.“ „Und mit der Liebe?“ fragte Friederich, „Gibt es da<br />

auch keine Männer und Frauen?“ „Nein, wozu? Das eine Individuum liebt das<br />

andere. Das kann zwischen allen geschehen.“ <strong>Yasemin</strong> darauf. „Ich habe also<br />

Liebesempfindungen für das Individuum, das neben mir auf dem Bett sitzt,<br />

aber ob es eine Frau ist, das weiß man nicht?“erkundigte sich Friederich. Eine<br />

Antwort gab es darauf nicht. Stattdessen grinsten sich zwei Gesichter an, die<br />

sich zu einem nicht enden wollenden Kuss vereinigten. „Hast du das denn öfter,<br />

Friederich, oder nur, wenn wir zusammen sind?“ wollte <strong>Yasemin</strong> erfahren. „Ich<br />

weiß es doch auch nicht, <strong>Yasemin</strong>. Bestimmt ist das Wort Liebe auch ein<br />

gesellschaftlich produziertes Konstrukt, das es absolut gar nicht gibt. Ich wollte<br />

so etwas doch auch nicht. Zuerst war es nur schön, ich fand dich sehr nett,<br />

aber du hast dich bei mir eingegraben.“ erklärte sich Friederich zu seinen<br />

amourösen Empfindungen. „Daraus wird aber nichts, mein Teuerster, auch<br />

wenn ich dich noch so gern möchte. Du hast schon eine Liebe. Deine zweite,<br />

eine zusätzliche Geliebte werde ich nicht spielen wollen. Als Zweitfrau oder<br />

Kebse bin ich nicht geeignet.“ machte <strong>Yasemin</strong> deutlich. Friederich sinnierte:<br />

„Lass es uns doch so nicht sehen, <strong>Yasemin</strong>. Wenn wir beide zusammen waren,<br />

gab es immer für jeden von uns wundervolle Momente. Sollen wir uns das in<br />

Zukunft versagen, weil wir uns mit einer überfüssigen Suche nach der<br />

Perspektive quälen?“ <strong>Yasemin</strong> wollte ja auch auf Friederich nicht verzichten,<br />

aber Liebe komplett, in allen Ausprägungsformen würde es nicht geben, nur<br />

gemeinsame, glückliche Momente.<br />

Friederichs Gesicht<br />

Wie diese glücklichen Momente aber aussehen sollten, und wie sie konkret zu<br />

gestalten wären, das wusste <strong>Yasemin</strong> auch nicht. Zunächst kam Friederich jetzt<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 20 von 39


öfter mal für einen Moment vorbei. Häufig waren es wirklich nur kurze Momente,<br />

eine Tasse Kaffee und ein paar Worte. So konnte <strong>Yasemin</strong> gut schlafen,<br />

denn es war ein erfüllter Tag gewesen, man hatte sich gegenseitig gesehen. Zu<br />

viel mehr hatte <strong>Yasemin</strong> auch eigentlich gar keine Zeit. Friederich fragte immer,<br />

ob sie mal einen Moment Zeit habe? „Ja.“ sagte <strong>Yasemin</strong> immer, obwohl<br />

sie die nie hatte. 'Extempore', außerhalb der geplanten Zeit, traf sie sich immer<br />

mit Friederich, und so empfand sie es auch. Ihre Zeit war strukturiert, alles<br />

war geplant und organisiert, nur wenn Friederich kam, war alles offen, kalkulatorisches<br />

Denken war abgeschaltet. Es beeinträchtigt zu sehr die Wahrnehmung<br />

der Gefühle. Das hinderte <strong>Yasemin</strong> aber nicht daran, zu wütenden Gefühlsausbrüchen<br />

zu kommen. Sie schimpfte auf sich selbst, alle Lehrer, Erziehungswissenschaftler<br />

und dass Studium insgesamt. „Friederich, ich war blind<br />

und taub, konnte nichts sehen, nichts hören und nichts verstehen. Da beginne<br />

ich einfach mit etwas, mit dem ich überhaupt nichts zu tun habe, was mich<br />

nicht betrifft und was mich nicht berührt. Und im Übrigen ist diese Pflanze Ballauff<br />

für mich längst ein toter Mann. Von dem will ich nie wieder etwas hören.“<br />

ereiferte sich <strong>Yasemin</strong>. „Du hast doch das Seminar über ihn belegt, wie passt<br />

das zusammen?“ wollte Friederich wissen. „Ja, wenn du geschrieben hättest,<br />

was er für einer war, hättest du allein im Seminar gesessen. Kein Mitläufer, ein<br />

glühender Nazi war er, hat durch sie seine Posten bekommen und in Reichskommissionen<br />

gesessen. Ein Geisteswissenschaftler, dazu noch Pädagoge, der<br />

die Unmenschlichkeit des Faschismus nicht erkennen kann. Was will der noch<br />

erkennen wollen. Der hat mir nichts mehr zu sagen, von so einem will ich kein<br />

Wort hören.“ <strong>Yasemin</strong>s Kritik zu Theodor Ballauff. „Heidegger war auch Nazifreund.“<br />

kommentierte Friederich. „Schlimm genug, nur ist er ja früher schon<br />

davon abgerückt. Man hätte allen Nazis nach dem Krieg den Ton abdrehen sollen.<br />

Sie hätten sich unserer Sprache nicht mehr bemächtigen dürfen, niemand<br />

brauchte mehr etwas von diesen Menschen zu hören.“ erklärte <strong>Yasemin</strong>. „Eine<br />

phantastische Idee, nur hätten wir dann wirklich die schweigende Mehrheit gehabt.“<br />

kommentierte Friederich. „Weißt du, Friederich, ich bin nicht der liebe<br />

Gott, der reumütigen Sündern vergibt, aber jemand, der mit Feuer und Flamme<br />

den Nazis zujubelt, kann doch nicht hinterher sagen: „Tut mir leid, war ein<br />

Fehler.“. Er hat es doch gemacht, dieses Denken und Handeln gehört doch zu<br />

ihm, er kann es doch nicht ungeschehen machen. Das ist doch ein Bestandteil<br />

seiner Persönlichkeit, seines Wesens.“ argumentierte <strong>Yasemin</strong>, „Und du verschweigst<br />

das bei Ballauff einfach.“ Friederich überlegte und meinte: „Du hast<br />

Recht, <strong>Yasemin</strong>. Ich habe es zwar nicht absichtlich verschwiegen, aber ich hätte<br />

es nicht unerwähnt lassen dürfen.“ <strong>Yasemin</strong> hatte häufig Recht, weil Friederich<br />

über ihre neuen erkenntnistheoretischen Aussagen nur staunen konnte. Er<br />

war aber höchst interessiert und bewunderte <strong>Yasemin</strong>s intellektuellen Kapazitäten.<br />

„Wieso konnte ich den Ruf nicht hören, das ist es was ich machen muss,<br />

dabei finde ich zu mir, jeden Tag und jede Seite in einem Buch, das ich lese.“<br />

beklagte sich <strong>Yasemin</strong>. „Was willst du tun? Jetzt zu den Philosophen wechseln,<br />

dann hast du zwei Jahre verloren, denn anerkennen wird man dir kaum etwas.<br />

Aber ganz abgesehen davon studierst du dann ja nicht feministische Philosophie.<br />

Du wirst dich ganz ordinär mit allem Möglichen beschäftigen müssen.“<br />

gab Friederich zu bedenken. „Das mache ich jetzt doch auch schon. Da findet<br />

doch nicht ein Kaffeekränzchen auf einer losgelösten Damenwolke statt. Frie-<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 21 von 39


derich, was hast du für Vorstellungen. Aristoteles, Kant, Nietzsche, Hegel, auf<br />

alle bezieht es sich. Judith Butler zum Beispiel hat mit einer Dissertation über<br />

Hegel promoviert.“ entgegnete <strong>Yasemin</strong>. Friederich rieb sich nachdenkend über<br />

Mund und Kinn, fuhr sich dann über die Stirn und schob seine Haare zurück. In<br />

diesem Moment empfand <strong>Yasemin</strong>, dass sie dieses Individuum wohl auch lieben<br />

würde. „<strong>Yasemin</strong>, wozu brauchst du das Lehramt, wenn du dir sicher bist,<br />

dass du sowieso nicht in die Schule willst?“ begann Friederich, „Ich könnte mir<br />

vorstellen, dass du deinen Magister machst und anschließend promovierst. Du<br />

hast zwar noch deine ganzen erziehungswissenschaftlichen Pflichtveranstaltungen,<br />

aber bei der Arbeit und der Dissertation hast du doch fast absolute Freiheit.<br />

Du stellst im ersten Satz eine Verbindung zu den Erziehungswissenschaften<br />

her, viel mehr brauch es doch nicht zu sein.“ Als sie mit den Gedanken<br />

über die Konsequenzen und Möglichkeiten spielten, schwiegen sie. <strong>Yasemin</strong><br />

schienen ihre Gedanken zu gefallen, zumindest zeigte sie es so in ihrem freudig,<br />

sonnigen Lächeln, mit dem sie sich auf Friederich zubewegte. Sie umschlang<br />

ihn und drückte so intensiv, als ob sie sich schon entschieden hätte,<br />

und sich bei Friederich bedanken wollte. Bei ihrem heftigen Drücken verloren<br />

die beiden das Gleichgewicht. Lachend lagen sie nebeneinander auf dem Bett<br />

mit ihren Gesichtern direkt voreinander. Ganz nah gesehen hatten sie sich doch<br />

immer. Kann man sich näher sein als beim Küssen? <strong>Yasemin</strong> kam es aber so<br />

vor, als ob sie Friederichs Gesicht zum ersten mal bewusste wahrnähme. Sie<br />

blickten sich doch ständig an, nur jetzt schien alles wie neu, noch nie so gesehen.<br />

Nicht wie mit einer Lupe sah <strong>Yasemin</strong> es, sondern viel intensiver nahm sie<br />

jede Parzelle wahr. Ganz vertieft hatte sie sich in die Betrachtung von Friederichs<br />

Gesicht. Seine Stirn seine Augenbrauen und Augen. <strong>Yasemin</strong> touchierte<br />

sie sanft mit ihren Fingern, ließ sie zur Wölbung der Augenbrauen gleiten. Fuhr<br />

über die vorgereckte Nase zu den Wangen, ließ ihre Fingerkuppen hauchzart<br />

über Ober- und Unterlippe gleiten. So hatte <strong>Yasemin</strong> noch nie ein Gesicht,<br />

einen anderen Menschen in seinem Gesicht entdeckt. Wie meditierend hatte sie<br />

sich in Friederich vertieft. Jetzt gehörte sein Gesicht <strong>Yasemin</strong>, sie hatte es in<br />

sich aufgenommen. Friederich hatte die Lider geschlossen und es sich mit wonnevoller<br />

Mimik gefallen lassen. Als er die Augen wieder öffnete, stoppte <strong>Yasemin</strong><br />

und wetzte mit ihrer heftig Friedrichs Nase, als ob sie alles wieder auswischen,<br />

sich aus der Trance erwecken wollte. Dazu passten auch die mehrfachen,<br />

oberflächlichen Schmatzer, die Friederichs Gesicht überall verpasst bekam.<br />

Ungeschehen machen wollte <strong>Yasemin</strong> es keinesfalls, nur sich wieder zurückholen<br />

aus ihrer Ekstase ähnlichen Versunkenheit. „Wir kennen uns ja gar<br />

nicht.“ hatte <strong>Yasemin</strong> gesagt. Viel mehr aus Friederichs Bio kannte sie jetzt<br />

auch noch nicht. Alles, was er über sich erzählen müsste, wenn er sich irgendwo<br />

vorstellen würde, davon wusste <strong>Yasemin</strong> auch so gut wie nichts. Trotzdem,<br />

<strong>Yasemin</strong> war sicher, dass sie noch nie einen Menschen so gut gekannt hatte wie<br />

Friederich. Also alles nur Tand und Tingeltangel, was man meint, so unbedingt<br />

vordringlich voneinander wissen zu müssen? „Das wäre gut möglich,“ vermutete<br />

<strong>Yasemin</strong>, „denn für den wirklichen Menschen interessiert sich doch niemand.<br />

Wer könnte ihn denn auch schon erkennen? Nur seine Maske mit all ihren Verzierungen,<br />

Schnörkeln und Arabesken ist in der Welt von Bedeutung.“<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 22 von 39


Adagietto<br />

In der Philharmonie gab man einen Mahler Abend. „Da müssen wir hin, Friederich.“<br />

forderte <strong>Yasemin</strong>. „Was kennst du von Mahler oder überhaupt nichts?“<br />

erkundigte sie sich. „Ja, aber ganz wenig. 'Ich bin der Welt abhanden gekommen.'<br />

zum Beispiel, das kenne ich.“ antwortete Friederich. Lieder von ihm<br />

kommen aber an dem Abend nicht vor, kein Gesang, dafür aber zum Beispiel<br />

das Adagietto aus der 5 Sinfonie, das entschädigt für alles, was sonst fehlen<br />

könnte.“ erklärte <strong>Yasemin</strong>. „Was meinst du, Friederich, merkt es die Allgemeinheit<br />

eigentlich, wenn ich ihrer Welt abhanden gekommen bin?“ wollte <strong>Yasemin</strong><br />

wissen. Friederich zeigte durch seine ganze Mimik mit Grinselächeln nur, dass<br />

ihm die Frage gefiel, zu einer Antwort veranlasste sie ihn aber deshalb nicht.<br />

„Mit der sogenannten Allgemeinheit habe ich mittlerweile schon meine Probleme,<br />

aber das ist ja auch gleichgültig. Ich war verloren gegangen und habe<br />

mich wiederentdeckt, du hast es mir ermöglicht. Erst jetzt fange ich an, mich<br />

weiterzuentwickeln und Neues zu leben. Ganz anders ist das Leben, das jetzt<br />

erst für mich begonnen hat.“ fügte <strong>Yasemin</strong> an. „Die Allgemeinheit willst du<br />

auch abschaffen? Sie wird dir aber Probleme machen, wenn du dich völlig daneben<br />

benimmst.“ meinte Friederich dazu. „Es war nicht die Allgemeinheit,<br />

sondern die Verhaltenserwartungen und -ansprüche der Leute in meiner<br />

Schicht. Natürlich hast du Gefühle. Du freust dich oder bist traurig, das ist<br />

selbstverständlich. Nur die Schwingungen haben sich für ein anständiges Mädchen<br />

innerhalb eines bestimmten Spektrums zu bewegen. Amplituden, die<br />

nach oben oder unten darüber hinausgehen, sind höchst unschicklich, disgusting,<br />

das tut man nicht. Gefühle ja, aber nur mit gebremstem Schaum. Eigentlich<br />

liebe ich Mahler, besuche seine fünfte Sinfonie, ich freue mich auch. Es war<br />

schon ganz nett. Ich gehe nach Hause und stecke es weg. Friederich, wo habe<br />

ich gelebt? Warum bin ich nicht vor Freude ausgerastet? Ich könnte und müsste<br />

glücklich sein, aber ich weiß es nicht und darf es nicht merken. Du lebst,<br />

aber deine Seele hat tot zu sein.“ erklärte <strong>Yasemin</strong>. Der Mahler Abend wurde<br />

zum musikalischen Liebesabend. Sie hielten sich nicht nur zeitweilig ihre Hände,<br />

sondern streichelten und betasteten sich auch sonst bei allen Passagen, die<br />

Anlass dazu boten. Das Adagietto nahmen beide mit aneinanderliegenden<br />

Wangen auf. <strong>Yasemin</strong> war sicher, so auch zu spüren, wie Friederich es hörte,<br />

und was er empfand. „Eine Liebeserklärung ist das, von Mahler für seine Frau<br />

Alma.“ wusste <strong>Yasemin</strong>. Als Friederich sich bei ihr für den wundervollen Abend<br />

bedanken wollte, schimpfte sie. „Es war unser Abend, Friederich. Ich habe ihn<br />

dir nicht geschenkt. Wenn, dann habe ich dir höchstens etwas ganz anderes<br />

geschenkt.“<br />

Profunde Liebe<br />

Dass <strong>Yasemin</strong> am glücklichsten war, wenn sie Friederich ihre Liebe schenken<br />

konnte, hatte sonst niemanden zu interessieren, aber Isabella musste es unbedingt<br />

erfahren. „Also zwei oder drei mal die Woche für ein, zwei Stunden oder<br />

nur bei einem Kaffee Liebesrausch?“ verstand es Isabella und blickte <strong>Yasemin</strong><br />

skeptisch an. „Du spinnst, Isabella. Liebesrausch, so ein Unfug. Unsere Liebe<br />

ist immer gegenwärtig und ein Rausch ist sie nie gewesen.“ <strong>Yasemin</strong> darauf.<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 23 von 39


„Aber ich bitte dich, wenn ihr euch nur manchmal kurz seht, verliebt spielt und<br />

sonst nur voneinander träumen könnt, was ist das denn für eine Liebe? Ich<br />

gönne dir dein Glück doch, <strong>Yasemin</strong>, und möchte dir auch nicht Angst machen,<br />

aber du musst es doch mal realistisch sehen.“ meinte Isabella. „Und was ist es,<br />

was du realistisch siehst?“ wollte <strong>Yasemin</strong> wissen. „Na ja, Liebe ist immer<br />

wunderschön, aber es ist ein Gefühl, und Gefühle ändern sich. Ich vermute,<br />

dass es nicht lange dauern wird, bis es dir kein Hochgefühl mehr bereitet,<br />

Friederich zu sehen, sondern du es als ganz normal empfinden wirst.“<br />

erläuterte Isabella. „Dann ist es mit der Liebe vorbei, meinst du. Dann ist der<br />

Rausch verklungen. So wird es nicht sein, Isabella. Meine Gefühle für<br />

Friederich werde ich nicht wieder vergessen können.“ antwortete <strong>Yasemin</strong>.<br />

„Das wünschen sich alle Paare, aber immer verschwindet die Verliebtheit über<br />

kurz oder lang. Warum sollte es bei euch anders sein?“ Isabella dazu. „Das<br />

magst du so einschätzen, aber Liebe kann doch durchaus von Dauer sein und<br />

muss sich nicht verflüchtigen. Meine Mutter zum Beispiel, ich habe sie immer<br />

geliebt, liebe sie heute und weiß, dass ich sie stets lieben werde. Das sind auch<br />

Gefühle, aber sie ändern sich nicht permanent.“ entgegnete <strong>Yasemin</strong>. „Ja,<br />

natürlich,“ meinte Isabella, „aber das ist doch eine ganz andere Liebe, sie ist<br />

tiefgründig und komplex, sie beruht auf vielfältigen gemeinsamen liebevollen<br />

Erfahrungen und umfasst euch beide umfänglich. Sie rekurriert sich nicht aus<br />

dem Gefühl amourösen Schwärmens. Wie wollt ihr beide denn eine so<br />

tiefgründige Liebe erreichen, wenn ihr nichts gemeinsam macht, nicht<br />

zusammen lebt und noch nicht mal miteinander ins Bett geht.“ „Ich gehe mit<br />

meiner Mutter auch nicht ins Bett.“ erklärte <strong>Yasemin</strong> patzig und vielleicht auch<br />

ein wenig wütend. „Ich finde, was du sagst mag in seiner Allgemeinheit so<br />

zutreffend sein. Natürlich haben Friederich und ich uns fast von Anfang an auf<br />

eine unerklärliche weise gemocht, aber zu amourösem Schwärmen ist es nie<br />

gekommen. Ich kann gut allein leben und verzehre mich nicht in Sehnsucht<br />

nach Friederich. Tiefgründig sollte eine Liebe schon sein, da gebe ich dir Recht.<br />

Als ich damals verliebt war, konnte man davon nicht sprechen, aber bei<br />

Friederich entwickelte sich die Liebe mit der Tiefgründigkeit unseres<br />

gegenseitigen Verstehens. Isabella, mit Friedrich ist das anders, als was die<br />

Allgemeinheit so unter verliebt sein versteht. Keinesfalls sind es Gefühle an der<br />

Oberfläche, die morgen wieder verschwunden sein können.“ erklärte <strong>Yasemin</strong><br />

zu ihrer Liebe. Isabella blieb skeptisch. Auch wenn sie mehr verstand, <strong>Yasemin</strong><br />

zuhörte und sich auf sie einließ, war sie doch in ihrem Denken und Handeln<br />

weitgehend der Allgemeinheit verbunden.<br />

Point of no Return<br />

„M, m.“ brummte <strong>Yasemin</strong> nur ablehnend, als sie Friederichs Hand zurück<br />

schob. „Das fühlt sich aber so gut an.“ wusste der nur entschuldigend anzumerken.<br />

„Meine Haut fühlt sich überall gut an, aber du wirst sie nicht überall<br />

berühren.“ <strong>Yasemin</strong> darauf scherzend. Ihr Top war hochgerutscht, sodass bis<br />

zur Hose ein Stück von <strong>Yasemin</strong>s Bauch frei war. Friederich hatte seine Hand<br />

darauf gelegt, sie gestreichelt und seine Hand weiter nach oben unter das Top<br />

gleiten lassen. Das wollte <strong>Yasemin</strong> nicht. Sie legten sich jetzt immer gleich aufs<br />

Bett, auch wenn sie nur einen Kaffee trinken wollten. Das sei am einfachsten<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 24 von 39


und bequemsten, meinten <strong>Yasemin</strong> und Friederich. „Alles haben wir von den<br />

Griechen übernommen, nur dass man beim Diskutieren und Essen liegt,<br />

scheinen alle vergessen zu haben. Bei Platons Gastmahl zum Beispiel haben sie<br />

alle gelegen.“ bemängelte <strong>Yasemin</strong>. „Ja, aber nur die Männer.“ wandte<br />

Friederich ein. „Und Diotima, die war doch auch dabei.“ wusste <strong>Yasemin</strong>. „Nein,<br />

nein,“ korrigierte Friederich, „von der hat Sokrates ja nur erzählt.“ „Wie dem<br />

auch sei, wir werden es übernehmen und in erweiterter Form mit liegenden<br />

Frauen fortführen. „Weißt du, Friederich, wir hatten früher zu Hause eine<br />

Katze. Die lag ständig in ihrem Körbchen. Manchmal schlief sie auch, aber oft<br />

konnte man vermuten, sie würde die warmen Wonnestrahlen der Glückssonne<br />

direkt in ihr Gemüt scheinen lassen. Ich habe sie beneidet, mir gewünscht,<br />

dass wir Menschen auch so unbeschwert direkt uns glücklich fühlen können<br />

sollten. Was die Mieze wirklich empfand, weiß ich zwar nicht, aber so wie<br />

meine Einschätzung es sah, so fühle ich mich immer, wenn du bei mir bist.“<br />

erzählte <strong>Yasemin</strong>. „Und wenn du sie dann gestreichelt hast, kam es zum<br />

Wohlfühlhöhepunkt, und sie begann zu schnurren.“ vermutete Friederich.<br />

„Genau weiß man das gar nicht, warum Katzen beim Streicheln schnurren.“<br />

<strong>Yasemin</strong> dazu. „Wenn ich dich streichele, dauert es oft nicht lange, bis du<br />

aufspringst und deklamierst: „Nein, nein, ich will das nicht.“ wusste Friederich<br />

zu berichten. <strong>Yasemin</strong> lachte verschmitzt, und nach einem ausführlichen<br />

Liebkosungszenario erklärte sie: „Ich hab es doch schon mal gesagt, das ist<br />

eine Warnung für mich selbst. Ich empfinde es einfach angenehm, gestreichelt<br />

zu werden, auch als Kind schon. Wenn du mich streichelst ist das aber nicht<br />

nur allgemein schön. Ich spüre immer, dass es deine Hand ist. Friederichs<br />

Hand liegt auf meinem Rücken, streicht mir die Beine hoch und über meinen<br />

Po. Es ist nicht nur deine Hand, mir kommt es vor, als ob ich dich ganz spüren<br />

würde. Wie viel Stoff dazwischen ist, spielt keine Rolle. Ich spüre es im ganzen<br />

Körper bis in die Zehen. Da habe ich Angst, dass es zu einem Punkt kommen<br />

könnte, an dem ich nicht mehr stop sagen kann. Verstehst du? Ein Punkt, an<br />

dem meine Libido die Herrschaft bei <strong>Yasemin</strong> übernimmt. Libido? So ein<br />

Quatsch, ja oder vielleicht doch. Wenn wir uns drücken streicheln küssen, dann<br />

wollen wir uns auch körperlich, nur wenn du mich so streichelst, dann wird das<br />

Bedürfnis immer intensiver, dann möchte ich immer mehr von dir. Alles möchte<br />

ich dann von dir. Und nur das, sonst sehe ich nichts mehr. Dazu möchte ich es<br />

aber nicht kommen lassen.“ erläuterte <strong>Yasemin</strong>.<br />

Britta<br />

„Ich habe mich mit Britta gestritten. Sie möchte dich kennenlernen.“ erklärte<br />

Friederich als er an einem Tag im April <strong>Yasemin</strong> besuchte. „Nein,“ erklärte <strong>Yasemin</strong><br />

strikt, „das wird es nicht geben. Ich habe mit Britta nichts zu tun und<br />

will es auch nicht. Sie ist deine Freundin. Ich weiß von ihr nichts und will auch<br />

von ihr nichts wissen.“ Friederichs Mimik ließ deutlich erkennen, dass er von<br />

<strong>Yasemin</strong>s Reaktion nicht begeistert war. „Sie ist deine Liebe, und was du mit ihr<br />

hast, damit habe ich nichts zu tun. Das müsst ihr beide unter euch klären. Wir<br />

haben nur unsere schönen Momente.“ verdeutlichte ihm <strong>Yasemin</strong>. „Ah ja, und<br />

was macht die Momente so schön? Dass wir so gut miteinander reden können<br />

und dass der Kaffee so gut schmeckt?“ ironisierte Friederich leicht missmutig.<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 25 von 39


Wie das wohl ablief, wenn Friederich und seine Freundin sich stritten, überlegte<br />

<strong>Yasemin</strong>. Ob sie sich richtig beschimpfen würden, so Streit, was man<br />

gemeinhin darunter verstand, bei dem jeder immer der Sieger sein wollte? Sie<br />

konnte sich ja auch mit Friederich streiten, aber das ganze Spektrum von<br />

Herabwürdigungen und Beschimpfungen des anderen lag für sie außerhalb<br />

jeder Vorstellungsmöglichkeiten. Ob Friederich so etwas doch konnte und Britta<br />

gegenüber praktizierte? Als Junge hatte er so etwas doch bestimmt gelernt.<br />

Aber nein, das wollte <strong>Yasemin</strong> sich nicht vorstellen. Was Britta motivierte, sie<br />

kennenlernen zu wollen, hätte <strong>Yasemin</strong> schon gern mal gewusst. Nein, nein,<br />

sie wollte mit all dem nichts zu tun haben. Friederich blickte ratlos. Er hatte<br />

sich bestimmt etwas von dem Treffen der beiden erhofft. „Männer können<br />

leicht hilflos sein, nicht war?“ sprach ihn <strong>Yasemin</strong> an. „Ich dachte, es gäbe sie<br />

nicht mehr, die Männer.“ bemerkte Friederich kühl. „Stimmt, du hast Recht,<br />

aber dieses Individuum, dass man unter unseren derzeitigen gesellschaftlichen<br />

Verhältnissen in der Regel mit der Bezeichnung Mann belegen würde, scheint<br />

sich mit etwas schwer zu tun. Ich würde dir ja gern helfen, nur das kann ich<br />

gar nicht. Dieser Bereich deiner Welt ist fern von mir, und ich möchte auch,<br />

dass es so bleibt. Ich wollte für uns beide Probleme vermeiden, als ich sagte,<br />

Liebe kann es zwischen uns nicht geben, dafür gibt es deine Freundin Britta.<br />

Wir wollten nicht über Perspektiven nachdenken, und ich kann mir auch jetzt<br />

keine vorstellen, aber verändert hat sich doch wohl einiges. Friederich, es ist<br />

einfach so gekommen, ich konnte mich nicht dagegen wehren und habe es<br />

auch nie versucht, obwohl ich es ja im Grunde eigentlich nicht wollte. Daraus<br />

resultiert unsere verrückte Situation. Wir lieben uns unsterblich, aber nur mit<br />

Worten und Küssen, und du hast noch eine Liebe, die für mich völlig im<br />

Dunkeln liegt. Wenn sich für dich Probleme daraus ergeben, bist du der<br />

einzige, der sie lösen kann und muss. Ich kann dazu nichts sagen, kann dir<br />

dabei nicht helfen, ich habe damit nichts zu tun.“ erklärte <strong>Yasemin</strong>. Versöhnt<br />

war Friederich schon. Offensichtlich hatte er <strong>Yasemin</strong> verstanden, denn die<br />

beiden drückten und liebkosten sich ausdauernd. Friederichs Problem war<br />

dadurch aber nicht gelöst.<br />

Summertime<br />

Ein heißer Sommertag. Heute gab es keinen Kaffee sondern eisgekühlten Orangensaft.<br />

Auch wenn die Hitze quälte, schien sie doch fast übermütige Glücksgefühle<br />

zu erzeugen. Friederich war gerade von der Uni gekommen, und die<br />

beiden juxten und alberten. An so einem Tag war es wirklich ein Genuss, wenn<br />

man liegen konnte. <strong>Yasemin</strong> und Friedrich lachten und scherzten, bis sie sich<br />

schließlich doch mal innig umarmen mussten. Sie lösten sich gar nicht wieder,<br />

wollten anscheinend das Küssen und das Empfinden des anderen Körpers perpetuieren.<br />

<strong>Yasemin</strong> hatte nur ein dünnes Sommerkleidchen und einen Slip an.<br />

Dass der Stoff so dünn und die Beine nicht mit einer Hose bedeckt waren,<br />

spielte für <strong>Yasemin</strong>s Empfinden offensichtlich doch eine Rolle. „Zieh das aus.“<br />

forderte sie Friederich auf und meinte sein Oberhemd, das sie schon fast ganz<br />

aufgeknüpft hatte. „Du auch.“ reagierte Friederich. Sie zogen sich beide aus,<br />

den Slip ließen sie vorerst noch an. Der Point of no Return war längst unbemerkt<br />

überschritten. <strong>Yasemin</strong> hatte die Lippen leicht geöffnet und atmete tief,<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 26 von 39


die Lider hatte sie geschlossen, nur manchmal riss sie die Augen weit auf und<br />

starrte dabei Friedrich lächelnd an. „Hau ab!“ stieß <strong>Yasemin</strong> Friederich lachend<br />

zurück. Sie empfand, er würde drängeln. Von der Seite über Friederich gebeugt<br />

erklärte sie: „Ich will es doch auch, Friederich, aber nicht so hastig, langsam<br />

mit Gefühl und behutsam. Wir wollen es doch möglichst lange genießen. Oder<br />

stehst du auf Brutalo Sex?“ Friederich umschlang <strong>Yasemin</strong> und kugelte sich<br />

lachend mit ihr. „Was redest du für einen Unsinn, <strong>Yasemin</strong>. Wie kannst du nur<br />

auf so einen Blödsinn kommen?“ reagierte er. „Friederich, wie sprichst du<br />

denn. So redet man nicht bei der Liebe.“ gemahnte <strong>Yasemin</strong>. „Sondern?“ wollte<br />

Friederich wissen. „Bei der Liebe sagt man nur zärtlich, leise einzelne liebevolle<br />

Wörter, vielleicht auch zwei.“ meinte <strong>Yasemin</strong>. „Ah ha, und woher weißt du<br />

das? Macht man das eben so, oder steht das im 'How to for Couples in Love'?“<br />

mutmaßte Friederich. <strong>Yasemin</strong> zog eine krause Mimik. „Wir quasseln schon<br />

wieder. Wir können das gar nicht. Wir können nur reden, immer nur reden und<br />

reden. Wir sind scharf aufeinander, aber was tun wir? Wir fangen wieder an zu<br />

reden.“ erklärte <strong>Yasemin</strong> missmutig. Ein günstiger Moment, aufzustehen und<br />

sich wieder anzuziehen. <strong>Yasemin</strong> wollte es ja grundsätzlich nicht und prinzipiell<br />

nicht, und auch heute hatte sie es eigentlich nicht gewollt. Sie stand aber nicht<br />

auf, sondern legte sich halb schräg auf Friederich. Ihr linkes Bein hatte sie<br />

angewinkelt und über seine Hüfte gelegt und ihre linke Hand hielt sich an<br />

Friederichs rechtem Oberarm. Ihren Kopf hatte sie in seiner Schulter<br />

vergraben. Weinte <strong>Yasemin</strong>? Unmöglich wäre es nicht. Nach geraumer Zeit<br />

kroch sie ganz auf Friederich. „Du fühlst dich aber auch gut an, ich meine<br />

deine Haut und ins gesamt so.“ sagte sie mit einem Lächeln. „Weißt du, früher<br />

gab es beim Christkind immer einen Teller mit Süßigkeiten. Was ich am<br />

liebsten mochte, habe ich bis zuletzt zurückgelassen. So konnte ich es jeden<br />

Tag sehen und mich jeden Tag darauf freuen, wie gut es mir schmecken würde,<br />

wenn ich es äße. Mit der Verzögerung wächst die Begierde und die Lust.“<br />

Friederich lachte. „Und wie viele Tage werden wir uns darauf freuen müssen<br />

mit der Vorstellung, wie schön es wäre, wenn wir miteinander schliefen?“<br />

wollte er von <strong>Yasemin</strong> wissen. Schmunzelnd erklärte sie: „Keinen Tag mehr,<br />

das andere haben wir alles schon an den vielen Tagen bisher probiert.“ Auch<br />

wenn sie sich noch so viel zu erzählen wüssten und der Drang miteinander zu<br />

reden noch so stark war, irgendwann übernahm das gegenseitige Empfinden<br />

ihrer Körper die Führung und schien ihre Sprachzentren abgeschaltet zu haben.<br />

Ob sie Friederich jetzt liebte, daran dachte <strong>Yasemin</strong> im Moment gar nicht, sie<br />

wollte ihn einfach nur, voll und ganz und intensiv. Abgekämpft und völlig<br />

verschwitzt lagen sie nebeneinander auf <strong>Yasemin</strong>s Bett. Friederich beugte sich<br />

über <strong>Yasemin</strong> und wollte offensichtlich etwas sagen. „Silence, pas un mot.“<br />

sagte <strong>Yasemin</strong> leise und legte Friederich einen Finger auf seinen Mund.<br />

Orgasmic Bliss? Oder wolle <strong>Yasemin</strong> nur durch nichts im Nachhall ihrer Gefühle<br />

und in ihren Gedanken gestört werden. Nach einiger Zeit erklärte Friederich:<br />

„Ich würde jetzt doch gern einen Kaffee trinken.“ <strong>Yasemin</strong> stand auch auf,<br />

drückte und herzte Friederich und sagte: „Ich müsste eigentlich mal zuerst<br />

duschen, oder besser nach dem Kaffee, was meinst du?“ Nach allem würde<br />

jetzt Friederich befragt. <strong>Yasemin</strong> kam es vor, als ob er zu einem Teil von ihr<br />

geworden sei. Wirkte es sich doch auf das Verhältnis zueinander, auf Liebe und<br />

Zuneigung aus, wenn man auch Sex miteinander hatte? Unbedeutend war es<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 27 von 39


keinesfalls, das spürte <strong>Yasemin</strong>, aber erklären konnte sie es sich nicht.<br />

„Ausgesprochen behutsam warst du.“ ironisierte Friederich beim Kaffee. „Na ja,<br />

ich brauchte ja auch Entschädigung für die lange Zeit ohne Liebe, aber ich<br />

möchte da gar nicht drüber reden. Es waren fantastische Gefühle für uns<br />

beide, die wir durch Worte und Analysen nur beschädigen können. Ich möchte<br />

den Schatz einfach so bewahren und die Erinnerung daran genießen.“ erklärte<br />

<strong>Yasemin</strong>. Früher wusste <strong>Yasemin</strong> ja oft nicht so recht, aber jeder Tag ein<br />

Sommertag, morgens frühstücken, anschließend zur Uni und nachmittags mit<br />

Friederich Liebe machen. Das wäre doch eine Perspektive. Aber auch wenn<br />

<strong>Yasemin</strong> absolut begeistert war, und sie es zweifellos gern wiederholen würde,<br />

blieb es ein Versehen. Sie bereute nichts und war glücklich, aber das gehörte<br />

nicht zu ihrer Beziehung mit Friederich. Da war sie sich ganz sicher.<br />

Nachmittags mit ihr, und abends ging Friederich mit Britta ins Bett. Das kam<br />

für <strong>Yasemin</strong> nicht in Frage, auch wenn es ihr noch so gut gefallen hatte.<br />

„Kannst du nicht die Nacht über bleiben?“ fragte <strong>Yasemin</strong>. „Natürlich würde ich<br />

gerne, meine Liebste, dich nie mehr verlassen, immer mit dir im Bett bleiben.<br />

Nur es wird Stress geben, und der Ausgang ist nicht abzusehen. Ich weiß nicht,<br />

ob es sich dafür lohnt? Wir werden bestimmt mal eine Nacht für uns haben.“<br />

erklärte Friederich. „Das werden wir nicht.“ dachte <strong>Yasemin</strong>, „Heute wäre es<br />

möglich, aber ein anderes mal würde es nicht geben.“ Sie sagte es aber nicht.<br />

Beziehungsdekonstruktion<br />

Als Friederich wieder kam, lagen sie auf <strong>Yasemin</strong>s Bett und schmusten. Friederich<br />

schien selbstverständlich davon auszugehen, dass sie wieder miteinander<br />

schlafen würden. „Nein, Friederich, einmal ist es geschehen, und es war wundervoll,<br />

aber das ist nicht unsere Beziehung. Ich habe gesagt: „Es wird keine<br />

Liebe zwischen uns geben.“, aber das ließ sich nicht verhindern, dass wir Sex<br />

miteinander haben, lässt sich aber sehr wohl verhindern. Ich will es nicht und<br />

stehe dafür nicht zur Verfügung.“ erklärte <strong>Yasemin</strong> apodiktisch. Erfreut war<br />

Friederich über ihre Worte keinesfalls, aber akzeptieren würde er es wohl müssen.<br />

Er liebte <strong>Yasemin</strong>. Mit ihr zusammen zu sein, mit ihr zu diskutieren oder<br />

gemeinsam etwas zu unternehmen, das hatte ihn immer glücklich empfinden<br />

lassen. Es war zwar wundervoll mit ihr im Bett gewesen, aber daraus bestand<br />

seine Liebe nicht. <strong>Yasemin</strong> hatte es so selbstbewusst verkünden können, aber<br />

wenn sie jetzt an Friederich dachte, war immer auch ihr Erlebnis im Bett dabei.<br />

Es kam ihr so vor, als ob sie viel öfter an Friederich denken müsste als sonst.<br />

Es ging ihr nicht um Sex, aber das Erlebnis im Bett hatte für <strong>Yasemin</strong> ihre Beziehung<br />

verändert. Sie würde ihre Beziehung mal genau analysieren und dekonstruieren<br />

müssen. Sie sei ein Produkt von gesellschaftlichen, politischen<br />

und triebhaften Strukturen und gelte nicht als kreatives Wesen, erklärte die<br />

Postmoderne. Dass sie kein Ergebnis der Vorstellungen und Anforderungen einer<br />

globalen Allgemeinheit war, sah sie schon so, welche Strukturen aber wie<br />

dem Individuum, dem Selbst von <strong>Yasemin</strong> zu Grunde lagen, war ihr allerdings<br />

nicht ganz deutlich. Es mussten auch wohl triebhafte Strukturen sein, die ihr<br />

bisher verborgen geblieben waren, aber das lag doch nur an Friederich. Sie<br />

hatte doch nicht das allgemeine Bedürfnis, mit einem Mann ins Bett zu wollen.<br />

Alles schon mal dagewesen, alles nur wiederbeschriebenes Papier, wie die Post-<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 28 von 39


moderne meinte? Das konnte nicht sein. Absolut kreative Wesen waren sie und<br />

Friederich in ihrer Liebe. Natürlich liebten sich andere auch und fickten auch<br />

miteinander, aber ihre Liebe war ein genuin schöpferischer Akt, eine absolute<br />

Neuschaffung der Liebe, wie sie nur in der Beziehung von Friederich und <strong>Yasemin</strong><br />

entwickelt werden konnte. Liebesrausch, das hatte <strong>Yasemin</strong> wirklich nicht<br />

gekannt, aber jetzt spürte sie, wie sie sich öfter nach Friederich sehnte, auch<br />

wenn sie den Beschluss, nicht mit ihm zu schlafen, strikt beachtete. Friederich<br />

hatte sich in ihrer Wahrnehmung verändert.<br />

„Die These, dass es keine absolute theoretische Wahrheit geben kann, schließt<br />

das menschliche Erkennen und Forschen, Einsehen und Formulieren von jeder<br />

Endgültigkeit aus oder besser: bewahrt sie vor jeder Endgültigkeit und hält sie<br />

in Bewegung.“ hatte Ballauff gesagt. Auch wenn <strong>Yasemin</strong> nichts mehr von ihm<br />

wissen wollte, aber das hätte Ausgangspunkt für die Postmoderne sein können.<br />

Endgültig war auch in der Beziehung zwischen <strong>Yasemin</strong> und Friederich nichts.<br />

Sie bestand aus immerwährender Bewegung, aus ständigem Austausch, in<br />

dem auch all ihre Vorstellungen, Visionen und Gespenster eine Rolle spielten.<br />

Sie machten ja nichts gemeinsam, hatte Isabella bemängelt. Natürlich schrieben<br />

sie nicht gemeinsam eine Arbeit oder erledigten den Haushaltskram zusammen,<br />

aber sie begegneten sich nicht, wie zwei, die um den Zustand ihrer<br />

Liebe wussten. Den gab es nicht. Ihre Liebe entsprach ebenso einem Prozess,<br />

wie <strong>Yasemin</strong> es von ihrem Selbst definiert hatte, sie kam eher einem Fluss<br />

gleich, der an keinem Tag, wie am vorhergehenden ist. <strong>Yasemin</strong> und Friederich<br />

schafften ihn immer wieder neu. „Ich liebe dich, <strong>Yasemin</strong>.“ erklärte Friederich<br />

unvermittelt. <strong>Yasemin</strong> lachte. „Es ist zwar immer schön, es von dir zu hören,<br />

Friederich, aber meinst du nicht, dass ich das weiß. Was motiviert dich denn im<br />

Moment?“ fragte sie. „Ja, natürlich, aber ich musste es mal ausdrücklich sagen,<br />

weil es mir das Wichtigste ist.“ erklärte Friederich. „Hat das etwas mit Britta zu<br />

tun?“ wollte <strong>Yasemin</strong> wissen. „Ach, es quält mich total. Ich liebe Britta, sie ist<br />

eine so wundervolle Frau, und sie hat ja nichts verändert. Du verkörperst für<br />

mich aber nicht etwas Gewohntes, das ich immer wieder erfahre, du bist für<br />

mich das Leben, an dich muss ich immer denken. Es ist unerträglich. Ich liege<br />

mit Britta im Bett und denke an uns.“ erklärte Friederich. „Wie willst du das lösen?<br />

Wie willst du da rauskommen? Brauchst du zwei Frauen? Wünscht du dir<br />

etwa eine Menage a Trois?“ fragte <strong>Yasemin</strong> provokant. „Ich konnte das doch<br />

nicht vorhersehen.“ Friederich nur kurz. „Sonst hättest du auch gleich von Anfang<br />

an gesagt: „Liebe kann es nicht geben.“ und hättest alles ganz anders gemacht,<br />

nicht wahr?“ vermutete <strong>Yasemin</strong> ironisch. „Du machst dich über mich<br />

lustig, <strong>Yasemin</strong>, und ich weiß nicht, was ich tun soll.“ erklärte Friederich. „Na,<br />

ehrlich sein, zu dir selbst stehen, darauf hören, was deine Gefühle dir sagen<br />

und es enthusiastisch leben, was denn sonst? Mir würdest du das jedenfalls raten.“<br />

lautete <strong>Yasemin</strong>s Empfehlung. „Da liegt ja das Problem, meine Gefühle<br />

sind eindeutig mehr bei dir, du versprichst mir das Leben, ein enthusiastisches<br />

Leben.“ erklärte Friederich leicht scherzend, „Aber ich kann Britta doch nicht<br />

sagen: „Ich brauche dich nicht mehr.“ Was zwischen uns ist und gewesen ist,<br />

kann ich doch nicht einfach abhaken und beenden. Stell dir vor, du solltest deiner<br />

Schwester sagen: „Ich liebe dich nicht mehr. Ich liebe jetzt eine andere.“<br />

so ähnlich kommt mir das mit Britta vor. Es ist nichts geschehen, wir haben<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 29 von 39


uns nichts vorzuwerfen, nur du bist eben ständig in mir gegenwärtig.“ erklärte<br />

Friederich. „Wie soll ich dir da konkret helfen? Du wirst verstehen, dass ich das<br />

gar nicht kann. Platon bezeichnet in seinem Symposion das Streben nach<br />

Unsterblichkeit und Ewigkeit als das Wesen des Eros. Ein Streben setzt aber<br />

ein Entbehren voraus. Empfindest du denn, dass du etwas entbehren musst?“<br />

fragte <strong>Yasemin</strong>. „Vielleicht hat es auch etwas mit Ewigkeit und Unsterblichkeit<br />

zu tun, woran ich denke, aber was ich entbehre weiß ich genau.“ antwortete<br />

Friederich. <strong>Yasemin</strong>s Liebkosungen und Zärtlichkeiten brauchte Friederich<br />

heute nicht zu entbehren, aber wie sich alles entwickeln würde, wusste keiner<br />

ganz genau.<br />

Friederichs Qualen<br />

Friederichs Worte hatten <strong>Yasemin</strong> geschmeichelt. Dass er sie liebte, stand für<br />

<strong>Yasemin</strong> ohne jeden Zweifel fest, nur sie hatten es kaum verbalisiert, weil <strong>Yasemin</strong><br />

ja offiziell keine Liebe wollte, solange er mit Britta zusammenlebte. Aber<br />

in ihrem Verhalten hatten sie sich wenig darum geschert. Wenn <strong>Yasemin</strong> immer<br />

wieder Friedrichs Glücksempfinden erleben konnte, solange sie zusammen waren,<br />

empfand sie es als stärksten Liebesbeweis. Sie verspräche Friederich das<br />

Leben, so hatte sie es noch nie gehört. Was er da wohl für Visionen hatte.<br />

Wenn <strong>Yasemin</strong> dachte, Friederich käme zu dem Schluss, sich für eine Frau entscheiden<br />

zu müssen, und er würde sagen: „Ich will mit Britta weiter leben,<br />

deshalb ist jetzt für uns Schluss.“ musste sie lachen. Aber Friederich quälte es,<br />

er würde nach einer Lösung suchen. Ob er sich von Britta die Erlaubnis holen<br />

würde, <strong>Yasemin</strong> auch lieben zu dürfen? Ob sie zustimmen würde, weil sie Friederich<br />

sonst ganz verlöre. Das alles konnte <strong>Yasemin</strong> nicht wissen, aber es war<br />

bestimmt nicht das letzte mal, das Friederich davon gesprochen hatte. Friederich<br />

sprach gar nicht mehr. Er hatte schon eine Woche nichts von sich hören<br />

lassen. Gewöhnlich kam er drei oder wenigsten zwei mal in der Woche. <strong>Yasemin</strong><br />

war besorgt. Dass er überhaupt nichts von sich hören ließ, machte ihr<br />

Angst. Sie rief ihn an. Ein Anrufbeantworter, er möge sich, bitte, dringend melden,<br />

sprach <strong>Yasemin</strong> darauf. Eine halbe Stunde später tat er es und entschuldigte<br />

sich ständig. Er diskutiere permanent mit Britta. „Es ist entsetzlich, <strong>Yasemin</strong>.<br />

Ich habe mir immer vorgemacht, sie wüsste ja alles, aber das war eben<br />

nur die triviale Oberfläche, die mich zufriedenstellen sollte. Wir möchten uns<br />

gut leiden und tränken ab und zu einen Kaffee miteinander. Was ich für dich<br />

empfinde, davon wusste sie natürlich nichts. Sie weint immer. Ich halte das<br />

nicht aus. Sie erzählt von ihren Perspektiven und Hoffnungen, und weint und<br />

weint. Du hast Recht, ich bin doch kein Mann, zumindest was Britta betrifft.“<br />

erklärte Friederich. „Und was machte ein richtiger Mann?“ wollte <strong>Yasemin</strong> wissen.<br />

„Der hätte klare Vorstellungen, würde sie erklären und umzusetzen versuchen.“<br />

wusste Friederich. „Und du, was machst du?“ fragte <strong>Yasemin</strong> nach. „Ich<br />

höre Britta nur zu und möchte sie verstehen. Alles Glück dieser Welt, würde<br />

ich, wenn ich es könnte, ihr schenken, um sie zu entschädigen. Ich hätte ihr<br />

gehört, sagt sie, und das sei ja nun definitiv nicht mehr der Fall. Sie meint,<br />

dass ihr mein Herz gehört hätte. Es gehört ihr ja immer noch, aber das will sie<br />

nicht so sehen und verstehen. <strong>Yasemin</strong>, ich bin kein Mensch, der so etwas<br />

kann. Ich kann nicht mit Gefühlen und Zuneigung handeln. Ich sollte mich<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 30 von 39


auch an der Allgemeinheit orientieren, dann wüsste ich, wie man mit so etwas<br />

eben umgeht. Und dann immer diese Enttäuschung, dass sie das von mir<br />

niemals erwartet hätte. Es kommt mir manchmal vor, dass ich selbst noch<br />

stärker darunter leide als Britta. Ich kann das nicht.“ klagte Friederich. Sie<br />

schwiegen. <strong>Yasemin</strong> wusste auch gar nicht, was sie direkt dazu sagen sollte.<br />

„Friederich, wie du erzählst, kommt es mir vor, als ob du auch ein wenig<br />

konfus wärest. Willst du nicht doch mal vorbei kommen, ein wenig andere Luft<br />

schnappen?“ fragte <strong>Yasemin</strong>. Friederich kam. „Ah, tut das gut.“ stöhnte er<br />

nach dem Begrüßungskuss, „Ein wenig mehr als nur frische Luft, nicht wahr?“<br />

<strong>Yasemin</strong> strich ihm zärtlich über Stirn und Wangen. Ein Trost für den Armen,<br />

aber so gefiel er ihr auch, so hatte sie sich ihn vorgestellt. Frauen gehen<br />

meistens stärker in ihrer Leidenschaft auf, für Männer gilt das eher als uncool,<br />

sie wahren immer eine gewisse Distanziertheit, können ihre Gefühle handlen.<br />

Wenn sich etwas besseres ergibt, entscheiden sie sich eben dafür. Friederich<br />

schienen seine Emotionen und Leidenschaften zu überwältigen. Bestimmt war<br />

er auch deshalb Pädagoge. Nicht weil es ihm gefiel, seinen Zöglingen den<br />

rechten Weg zu weisen, sondern weil er es leidenschaftlich liebte, andere<br />

Menschen zu verstehen, sie zu erkennen und ihnen menschlich näher zu<br />

kommen. Dass Britta es sich bei Friederich niemals hätte vorstellen könne, war<br />

für <strong>Yasemin</strong> gut nachzuempfinden. „Es ist vorbei, <strong>Yasemin</strong>. Britta trauert<br />

schon. Eine andere Perspektive zeichnet sich ja auch überhaupt nicht ab.<br />

Innerlich hat sie mich verloren, es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann wir es<br />

offiziell aussprechen.“ erklärte Friederich. „Und für dich, wie ist es für dich,<br />

hasst du Britta auch schon verloren?“ fragte <strong>Yasemin</strong>. „Es ist eine Krux.<br />

Selbstverständlich liebst du deine Mutter oder deine Schwester wie bisher,<br />

wenn du einen Freund oder eine Freundin hast, aber zwischen Mann und Frau<br />

geht das nicht.“ klagte Friederich. „Prinzipiell geht das schon, nur ist das ein<br />

weites Feld, das für Britta, dich und mich, wahrscheinlich indiskutabel ist. Ich<br />

denke, du wirst es Britta verdeutlichen können, dass du auch weiterhin ein<br />

guter Mensch bist und ihr deine Wertschätzung und Zuneigung gehört, selbst<br />

wenn deine Liebe primär bei mir ist.“ erklärte <strong>Yasemin</strong>.<br />

Trennung von Britta<br />

Friederich und <strong>Yasemin</strong> trafen sich jetzt wieder regelmäßig zum Kaffee und redeten<br />

keineswegs nur über den Stand der Entwicklung zwischen Britta und<br />

Friederich. Friederich schien gelöster und konnte auch wieder scherzen. Offensichtlich<br />

brauchte er <strong>Yasemin</strong> wirklich zum Leben. Oder er brauchte die Liebe.<br />

An deine Liebe zu denken macht wundervolle Gefühle, deine Liebste oder deinen<br />

Liebsten zu sehen und mit ihm zu reden, potenziert diese Gefühle noch<br />

einmal. Es sind keine Gefühle, die du einfach jetzt erfährst, und die morgen<br />

ganz anders sein können. Sie beeinflussen dich in deinem Denken, Handeln<br />

und gesamten Leben. Nirgendwo sonst erfährst du das, nur die Liebe ist nicht<br />

eigennützig, sondern sie ist absichtslos und kennt kein Kalkulieren. Wenn du<br />

tiefgründig verliebt bist, stellt sich das Leben für dich anders dar, die Liebe dominiert<br />

dein Empfinden, deine Sichtweisen und deine Entscheidungen, sie ist<br />

allgegenwärtig und immer vorhanden. Bestimmt war es für Friederich einfacher<br />

und erträglicher, weil <strong>Yasemin</strong> und er sich wieder trafen und sich gegenseitig<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 31 von 39


austauschten. „Du hast immer gesagt: „Ich weiß nicht so genau.“, jetzt bin ich<br />

der Ratlose. Du kannst alles verlieren, was du besitzt. Angenehm ist das sicher<br />

nicht, aber bei der Vorstellung merkst du, dass du nicht aus deinen materiellen<br />

Gütern und deiner beruflichen Stellung, sondern aus deinen sozialen<br />

Beziehungen bestehst. Die Kirche sagt: „Alles ist nichts wert, wenn du die<br />

Liebe nicht hast.“ Dem kann ich nur zustimmen, aber davon etwas zu<br />

verlieren, bereitet folglich auch die größten Schmerzen. Es wird so kommen,<br />

das lässt sich nicht verhindern, sondern nur betrauern.“ erklärte Friederich.<br />

„Mir gefällt es, wie du darunter leidest. Ich mag dich sehr dafür.“ sagte<br />

<strong>Yasemin</strong> und lachte, „Früher hätte ich das gar nicht verstanden, aber ich habe<br />

mich enorm entwickelt und meine auch ganz viel von dir zu kennen, vielleicht<br />

sogar manchmal mehr als du selbst weißt. Du bist in der Tat kein Mann, wie die<br />

Männer eben so sind. Dein Umgang mit Liebe, Leidenschaft, Verletzlichkeit<br />

entspricht überhaupt nicht dem üblichen Männerbild. „Wie jemand liebt, ist<br />

Ausdruck der Größe seines Charakters.“ das hat schon Platon gesagt, und ich<br />

bin mittlerweile so weit, dass ich meine, es verstehen zu können.“ erklärte<br />

<strong>Yasemin</strong>.<br />

Es dauerte noch drei Wochen, bis Friederich kam und sagte: „Es ist entschieden.“<br />

<strong>Yasemin</strong> merkte, wie sie plötzlich erschrak. Jetzt kam sie sich wieder als<br />

die Ratlose vor. Sie konnte nicht nur damit rechnen, es war ja sicher, dass es<br />

sich so entwickeln würde. Nur an die Konsequenzen hatte sie keinen Gedanken<br />

verschwendet. Die Regelungen in ihrer Beziehung mit Friederich hatten sich so<br />

entwickelt, und <strong>Yasemin</strong> war im Prinzip glücklich damit, auch wenn sie sich<br />

manchmal nach Friederich sehnte. Jetzt hatten sich die grundlegenden Bedingungen<br />

völlig verändert, und ob sie sich die möglichen Konsequenzen wünschen<br />

würde, wusste sie gar nicht. „Jetzt sind wir völlig frei, können gemeinsam<br />

tun und lassen was wir wollen, und ich kann mich gar nicht freuen.“ meinte<br />

Friederich erstaunt. „Du brauchst es mir nicht zu erklären. Ich kann dich<br />

sehr gut verstehen.“ reagierte <strong>Yasemin</strong>. „Ich werde mir jetzt eine neue Wohnung<br />

suchen müssen. Ich bin ja das Enfant terrible. Unsinn, Britta hat es für<br />

sich auch überlegt, nur sie kann unsere jetzige Wohnung auch allein finanzieren,<br />

ich kann das nicht.“ erklärte Friederich. „Wie, die Studienrätin Britta verdient<br />

mehr als du?“ <strong>Yasemin</strong> erstaunt. „Ja, grauenhaft, nicht wahr?Der akademische<br />

Nachwuchs nagt am Hungertuch.“ Friederich darauf, und er erklärte es<br />

<strong>Yasemin</strong>. „Ich habe schon mal überlegt, ob wir beide uns nicht eine gemeinsame<br />

Wohnung suchen sollten.“ meinte Friederich. „Nein!“ entfuhr es <strong>Yasemin</strong><br />

strikt, „Oh, Entschuldigung für den Tonfall. Ich werde dir erläutern was ich meine.<br />

Friederich, du weißt, wie ich mich freue, wenn wir zusammen sind, und<br />

dass ich oft Verlangen nach dir habe, wenn du nicht bei mir sein kannst. Nur<br />

ich liebe dich viel zu sehr. Wenn du immer bei mir wärst, käme ich zu nichts<br />

mehr, würde immer nur noch bei dir auf dem Schoß sitzen, und dabei habe ich<br />

doch so schrecklich viel zu tun.“ scherzte <strong>Yasemin</strong>, aber Friederich verstand<br />

nicht. „Du musst akzeptieren, dass ich mein eigenes Leben brauche. Die Blume<br />

<strong>Yasemin</strong> ist gerade angefangen neu zu wachsen, sie muss ihre Knospen noch<br />

entfalten und sich entwickeln, und das muss ich selbst, ganz allein machen.<br />

Wenn wir ständig zusammen wären, würde ich in unserer Gemeinsamkeit untergehen,<br />

das befürchte ich.“ „Das käme doch darauf an, wie wir unser Zusam-<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 32 von 39


menleben gestalten würden. Ich kann das nicht so sehen, dass ein eigenständiges<br />

Leben nicht möglich sein soll, nur weil man zusammen in der gleichen<br />

Wohnung lebt. In allen WGs ist das auch so.“ erwiderte Friedrich. „Ich möchte<br />

auch nicht mit dir zusammen in einer WG leben. Wenn ich auch nicht bei dir<br />

auf dem Schoß sitzen würde, aber eine gewisse Art von Abhängigkeit und Verpflichtung<br />

lässt sich bei Liebe gar nicht vermeiden. Ich fühle mich in einer eigenen<br />

Wohnung freier, auch wenn ich mich dir verbunden und verpflichtet sehe.“<br />

erklärte <strong>Yasemin</strong>. Dass Überzeugungsversuche bei <strong>Yasemin</strong> zwecklos sei könnten,<br />

hatte Friederich gleich bei der Art und Weise ihres 'Nein' vermutet. „Wir<br />

müssen ja nicht zusammen leben, aber es gibt doch nicht wenige, die das tun<br />

und keinen Schaden daran nehmen. Ich denke, möglich müsste es durchaus<br />

sein.“ meinte Friederich. „Ha, keinen Schaden daran nehmen. Ich möchte doch<br />

auch gern so oft wie möglich mit dir zusammen sein, das steht doch gar nicht<br />

in Frage, Friederich. Nur bis jetzt haben wir es immer als unsere glücklichsten<br />

Momente angesehen, wenn wir zusammen sein konnten. Es war etwas ganz<br />

Besonderes. Wir haben uns immer darauf gefreut, unsere stärksten Gefühle erlebt.<br />

Wenn du immer anwesend bist, wird das nicht mehr so sein. Du raubst<br />

mir meine Sehnsucht, machst sie gegenstandslos, bist ja immer zu haben. Genau<br />

wie das andere auch, wie mein Herd, mein Kühlschrank, mein Schreibtisch,<br />

bist selbstverständlich immer da und wirst selbst zu etwas Selbstverständlichem.<br />

Davor habe ich Angst. Ich möchte, dass unsere Liebe immer etwas<br />

Besonderes bleibt.“ erklärte <strong>Yasemin</strong>. „Das muss doch nicht so sein. Es<br />

liegt doch an uns, wie wir mit unserer Beziehung umgehen.“ erwiderte Friederich.<br />

„Ich gebe dir schon Recht, es muss nicht zwangsläufig so sein, aber frag<br />

mal die Verliebten zehn oder zwanzig Jahre später, fast immer ist es so gelaufen.<br />

Ich habe Angst, mich auf diesen Weg zu begeben, auf den Weg, auf dem<br />

die Liebe langsam zerbröselt und versickert.“ sah es <strong>Yasemin</strong>. „Wir werden also<br />

jeder eine eigen Wohnung haben. Es gibt ja keinerlei Zwang oder Verpflichtung,<br />

es nicht so machen zu dürfen, aber reden würde ich mit dir schon gern<br />

nochmal, über Eigenständigkeit und die zerbröselnde Liebe.“ wünschte Friederich.<br />

Friederich erkennt seine wirklichen Gefühle nicht<br />

Nein, bei <strong>Yasemin</strong> bleiben sollte Friederich heute nicht. Liebe machen als Trost<br />

für den noch ziemlich aufgewühlten Friederich, das wollte <strong>Yasemin</strong> nicht. Er<br />

solle für sich selbst erst mal alles klarer sehen, Abstand gewinnen, zu einem<br />

neuen Rhythmus finden, dann bereite es ihr auch wieder Lust, an so etwas zu<br />

denken. Friederich hatte sehr schnell eine neue, kleine Wohnung gefunden,<br />

aber treffen wollten sich <strong>Yasemin</strong> und er dort nicht. Auch wenn sie um einiges<br />

größer war als <strong>Yasemin</strong>s Appartement, aber sie hatte mit ihrer Liebe nichts zu<br />

tun. Die hatte ihr zu Hause und ihre Heimat in <strong>Yasemin</strong>s Räumen. Viel mehr<br />

Zeit als früher hatte <strong>Yasemin</strong> ja jetzt auch nicht zur Verfügung, oder sie hätte<br />

ihre persönlichen Studien reduzieren müssen. Das wollte sie aber auf keinen<br />

Fall. Für ihre persönliche Entwicklung sei es unverzichtbar. Zehn verlorene Jahre<br />

habe sie nachzuholen, sagte sie. Nur diese Jahre, wie <strong>Yasemin</strong> sie jetzt<br />

nachholte, würden wohl die meisten Frauen verloren haben. Über Fragen feministischer<br />

Philosophie, könnte sie auch mit Isabella nicht reden. Die von ihr<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 33 von 39


verehrten, neuen Lieblinge waren gewiss nur in gebildeten<br />

Intellektuellenkreisen oder unter Philosophen bekannt. Dafür gab es<br />

Unmengen an geistig völlig bedeutungslosen, populistischen Halbgöttern, die in<br />

der Allgemeinheit jede und jeder kannte. Friederich war trotz allem immer<br />

häufiger bei <strong>Yasemin</strong>. Er brachte sich auch Arbeit mit und bedeckte den kleinen<br />

Küchentisch und den Fußboden mit seinen Unterlagen. Warum es für ihn<br />

angenehmer war, als bei sich an seinem Schreibtisch, konnte <strong>Yasemin</strong> gut<br />

nachempfinden. Alle Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten können nicht das<br />

Gefühl überbieten, nicht allein, sondern bei der Liebsten zu sein. Das konnte<br />

<strong>Yasemin</strong> ja auch nicht leugnen, dass es herrlich war, wenn sie etwas<br />

Aufregendes gelesen hatte, direkt in die Küche gehen und Friederich davon<br />

berichten konnte. Einfach nur jederzeit mit jemandem reden zu können, und<br />

wenn das zudem noch der Liebste war, kam es ihr göttlich vor. Ob <strong>Yasemin</strong><br />

doch nicht für's Alleinsein geschaffen war. Mag sein, aber an ihren<br />

Einstellungen änderte das nichts. Dadurch, dass Friederich immer mehr Zeit<br />

bei <strong>Yasemin</strong> verbrachte, blieb in der Praxis vom Alleinleben nicht allzu viel, und<br />

die Räume für <strong>Yasemin</strong>s Sehnsucht wurden immer schmaler. Wie <strong>Yasemin</strong><br />

erkennen sollte, ob Friederich Abstand gewonnen und zu einem neuen<br />

Rhythmus gefunden hätte, das wusste sie nicht so genau, aber Gedanken<br />

machte sie sich darüber auch nicht. So wie die Liebe eigenmächtig ihr<br />

Empfinden, Denken und Handeln dirigiert hatte, schien es jetzt die Faktizität<br />

der neuen Bedingungen zu sein, die in der Lage war, verkündete rationale<br />

Beschlüsse außer Kraft setzen zu können. Was sollte <strong>Yasemin</strong> hindern? Warum<br />

sollte sie das abbrechen, was ihr äußerst gut gefiel, wenn es die Barriere vor<br />

dem Point of no Return nicht mehr gab. Wenn sie nicht an der Uni oder sonst<br />

außerhalb zu tun hatten, lebten sie im Prinzip tagsüber zusammen, und es<br />

dauerte nicht lange, bis sie auch die Nächte gemeinsam verbrachten. Auch<br />

wenn sie keinen Sex miteinander hatten, war es schlicht wundervoll, seinen<br />

Liebsten ständig im Bett gegenwärtig zu haben. „Sag mal, Friederich, kannst<br />

du deine wirklichen Gefühle eigentlich erkennen, oder nimmst du sie gar nicht<br />

richtig wahr?“ wollte <strong>Yasemin</strong> von Friedrich, der sich schief lachte, wissen.<br />

„Gibt es eine begründete Basis für deine Zweifel, dann nenn sie mir.“ forderte<br />

er. „Na klar. Kann es größeres Glück geben, als wenn wir zwei warm<br />

aneinander gekuschelt gemeinsam im Bett sind. Aber du liegst nur still dabei.<br />

Wo ist da die große Leidenschaft und überschwängliche Begeisterung? Keine<br />

Spur von <strong>Enthusiasmus</strong>.“ erläuterte <strong>Yasemin</strong>. Jetzt mussten sie beide lachen<br />

und sich zuerst mal umschlingen. „Du hast völlig Recht, <strong>Yasemin</strong>. Unmöglich ist<br />

das. Aber was schlägst du vor? Was könnten wir tun, um es zu ändern, um<br />

unsere wirklichen Gefühle deutlich zum Ausdruck zu bringen?“ wollte Friederich<br />

lachend wissen. <strong>Yasemin</strong> machte einen krausen Mund und überlegte: „Tanzen<br />

vielleicht.“ Damit traf sie nicht Friederichs Bedürfnislage. „Wie wär's mit vor<br />

Glück ausgelassenem Balgen?“ erkundigte sich <strong>Yasemin</strong>. Das taten sie zwar<br />

auch nicht, aber ihre albernen Gespräche ließen sie viel lachen, und führten<br />

dazu, dass sie ihre Körper die gemeinsamen Glücksgefühle ebenfalls auf ihre<br />

spezielle Art sehr enthusiastisch ausleben ließen. Wenn man Sigmund Freud<br />

und Wilhelm Reich glaubte, bedeute <strong>Yasemin</strong>s Lust am Sex mit Friederich eine<br />

Intensivierung libidinöser Bedürfnisse oder eine Ausweitung ihrer orgiastischen<br />

Kompetenz, aber so sah und empfand <strong>Yasemin</strong> es überhaupt nicht. Sie nahm<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 34 von 39


es wahr als Höchstmaß körperlichen Ausagierens des Glücks ihre<br />

Gemeinsamkeit. Die glücklich gemeinsam erlebten intimen Erfahrungen, sah<br />

sie als zusätzliches Band in der Tiefe ihrer Beziehung.<br />

Habilitation und Professur<br />

Friederich hatte sich zu einem heavy-duty-worker entwickelt. Absolut hochintensiv<br />

war er meistens in seine Habilitationsschrift vertieft. <strong>Yasemin</strong> durfte ihn<br />

nicht stören und ihn aus seiner Trance wecken. Die Arbeit war ins Endstadium<br />

gekommen. Friederich überlegte, sie von einem Bekannten lesen zu lassen, bevor<br />

er sie abgab. „Ach was, kannst du sie nicht lesen, ich bin überzeugt, du<br />

wirst sie viel kritischer sehen.“ bat er <strong>Yasemin</strong>. „Mag sein, nur in wissenschaftlichem<br />

Arbeiten bin ich nicht besonders versiert. Vielleicht könnte ich schon<br />

mal einen Zitierfehler übersehen. Aber ich werde sie gern lesen.“ erklärte <strong>Yasemin</strong>.<br />

Vor allem hoffte sie auch, für sich selbst viel daraus zu lernen. Die Habilitation<br />

wurde angenommen, und das Kolloquium war bei ihnen, wenn man keine<br />

ausgesprochenen Feinde hatte, eine simple Übung. Eine extra Vorlesung<br />

brauchte Friederich auch nicht mehr zu halten, da ihm seine Lehrveranstaltungen<br />

angerechnet wurden. Hier schien man die Habilitation, wie bei vielen anderen<br />

Wissenschaftlern auch, eher für ein antiquiertes Verfahren zu halten. Jetzt<br />

würde sich Friederich überall bewerben, von Regensburg bis Konstanz und von<br />

Kiel bis Rostock. Selbstverständlich war, dass man ihn annahm, wenn man<br />

einen Ruf auf eine Professur bekommen sollte. Und <strong>Yasemin</strong>? Würde sie einfach<br />

Friederich folgen, gleichgültig wohin? In Rostock sterben, weil sie Friederich<br />

nachgelaufen war. Früher hätte <strong>Yasemin</strong> alles getan, was man von ihr erwartete,<br />

aber heute würde ihr so etwas als unerträgliche Abhängigkeitsbekundung<br />

erscheinen. Nur Friederich würde ja auch nicht nach Rostock gehen, weil<br />

er es sich wünschte, es wäre ja eine Konsequenz, die sich aus seinem Leben<br />

und seiner Arbeit zwangsläufig ergeben würde. Damit stand er aber nicht allein,<br />

das war ihre gemeinsame Sache. <strong>Yasemin</strong> würde Friederich nicht folgen,<br />

sondern sie würden gemeinsam nach Rostock gehen und gemeinsam vielleicht<br />

dort untergehen. Nur Friederich ging nirgendwo hin. „Es ist menschenunwürdig,“<br />

schimpfte Friederich, „längst steht es vorher fest, wer den Ruf bekommen<br />

soll, und sie lassen dich Affen jedes mal vorsingen, weil die Stelle ja offen ausgeschrieben<br />

ist. Mir fehlen auch die Connections. Ich habe nur immer fleißig<br />

getan, was getan werden musste.“ „Vielleicht, aber wenn, dann hast du es<br />

doch mit <strong>Enthusiasmus</strong> getan.“ wand <strong>Yasemin</strong> ein, und sie konnten wieder lachen.<br />

Trotzdem musste sich Friederich überall bewerben, sonst gab es eben<br />

keine Chance. Die Professur in Göttingen war doch längst versprochen, aber<br />

Friederich musste natürlich hin. Er bekäme es selbstverständlich schriftlich mitgeteilt,<br />

aber nach einer Beratung erklärte man ihm, dass man sich für ihn entschieden<br />

hätte. Er war ganz sprachlos, konnte es gar nicht fassen und fragte<br />

nach dem Grund. Er habe eben überzeugt, sagte ihm der Professor nur. <strong>Yasemin</strong><br />

war schon ganz verrückt, als sie es am Telefon von Friederich erfuhr. Sie<br />

lud sich den alten Chanson „Göttingen“ von Barbara aus dem Internet runter,<br />

und holte Blumen und Kuchen, um Friederich zu empfangen. „Ich glaube, ich<br />

bin genauso froh wie du.“ erklärte <strong>Yasemin</strong> mit fast weinerlicher Stimme, „Eigentlich<br />

kenne ich Göttingen gar nicht, aber ich bin so glücklich. Ich weiß nur,<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 35 von 39


dass es eine alte Universitätsstadt ist und dass es dort auch sonst noch viel<br />

Wissenschaft gibt. Von den Göttinger Sieben, zu denen auch meine geliebten<br />

Brüder Grimm gehörten, weiß ich auch noch.“ Friederich konnte <strong>Yasemin</strong>s<br />

Wissen noch um bekannte Wissenschaftler ergänzen. „Ich habe ein schönes<br />

Bild und bin einfach nur glücklich für uns beide. Wir werden uns in Göttingen<br />

gut aufgehoben fühlen, da bin ich sicher. „If it makes you happy, it can't be<br />

that bad.“. Oder siehst du das anders?“ fragte <strong>Yasemin</strong>. „Na klar, das sehe ich<br />

auch so, aber letztendlich wird es immer noch an uns liegen, ob wir dort<br />

glücklich werden.“ meinte Friederich dazu. „Ja, natürlich. Vielleicht lernst du<br />

eine Frau kennen, die für dich noch mehr das Leben verkörpert als ich.“<br />

<strong>Yasemin</strong> sarkastisch. „<strong>Yasemin</strong>,“ fuhr Friederich böse auf, „wie redest du?<br />

Warum tust du das.?“ „Entschuldigung für den Tonfall. Eigentlich wollte ich<br />

etwas ganz anderes sagen. Hier hat sich das Leben zwischen uns beiden<br />

selbstverständlich immer neu entwickelt. Aber demnächst wirst du deinen Job<br />

haben, und ich habe auch zu tun. Wir werden jeder unseren Alltag leben und<br />

um den Zustand unserer Liebe wissen, so wie du um den Zustand deiner Liebe<br />

zu Britta wusstest. Du nennst es zwar immer noch Liebe, aber so geht Liebe<br />

nicht, so kann Liebe nicht gehen. Wir ziehen nach Göttingen und nehmen<br />

unsere Liebe mit. Das geht nicht, das heißt nichts. Aus meiner Kindheit und<br />

Jugend kenne ich kein enthusiastisches Leben. Du brauchtest nur alles<br />

ordentlich erledigt haben, dann konntest du zufrieden sein, hattest nichts zu<br />

befürchten. So eine Einstellung bringt jeder Liebe zwangsläufig den Tod. Davor<br />

habe ich immer Angst, dass auch der Lebensalltag einen Liebesalltag<br />

aufkommen lässt. Den kann es nicht geben. Liebe ist das was du tust, wie du<br />

lebst, wie du dich austauscht. Liebe kann nur lebendig sein oder sie stirbt.<br />

Liebe muss zwangsläufig immer enthusiastisch sein, denn bei welchen<br />

Gefühlen willst du mehr Leidenschaft und Begeisterung empfinden, als wenn<br />

du geliebt wirst und Liebe geben kannst.“ erläuterte <strong>Yasemin</strong>. „Du meinst, es<br />

sei zwangsläufige Voraussetzung, dass wir auch in Göttingen ein<br />

enthusiastisches Leben führen müssen, weil es sonst, selbst in Göttingen, den<br />

Tod bedeuten könnte. Wahrscheinlich bist du Schuld daran, dass ich den Ruf<br />

bekomme. Natürlich musst du auch immer einen Satz zur Wissenschaftstheorie<br />

sagen, aber es ist außergewöhnlich lange über Philosophie gesprochen worden.<br />

Es ergab sich eine regelrechte Diskussion und ich war bestimmt manchem<br />

überlegen. Das war sehr ungewöhnlich und hat mich bestimmt in einem<br />

besonderen Licht erscheinen lassen. Das lag ja an unseren Gesprächen, sonst<br />

hätte ich mich dabei nicht so gut ausgekannt.“ erklärte Friederich. „Ist auch<br />

über die Postmoderne gesprochen worden?“ fragte <strong>Yasemin</strong>. „Ja, aber da<br />

wusste ich ja auch von mir aus einiges, aber erkenntnistheoretische Fragen<br />

und feministische Philosophie waren für die Teilnehmer des Auswahlverfahrens<br />

wohl auch böhmische Dörfer.“ erläuterte Friederich. „Darauf müssen wir aber<br />

tanzen, Friederich, auf Göttingen müssen wir doch tanzen.“ forderte <strong>Yasemin</strong>.<br />

Vielleicht hätten sie besser einen wilden Rock gewählt, um ihr Glück<br />

ausgelassen austoben zu können, aber bei „Göttingen“ von Barbara mussten<br />

sie natürlich zum träumen und schmusen kommen. So ausdauernd körperlich<br />

nah, wie an diesem Nachmittag und diesem Abend, waren <strong>Yasemin</strong> und<br />

Friederich sich wohl noch nie gewesen.<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 36 von 39


Züngelnde Flämmchen<br />

Natürlich würden sie in Göttingen nicht zwei getrennte Wohnungen haben, sondern<br />

zusammen leben. Faktisch machten sie das ja jetzt auch schon. Als ein<br />

erlebtes Märchen würde <strong>Yasemin</strong> es bezeichnen. Für <strong>Yasemin</strong> waren alle Erzählungen,<br />

Romane und Dramen Märchen. Sie hörte zwar die Beschreibungen,<br />

aber nachempfinden, miterleben konnte sie es nicht, niemand konnte es. Eine<br />

Möglichkeit, sich in vergangene Zeiten einzufühlen, gab es nicht. Deshalb waren<br />

ihr zum Beispiel die Brüder Karamasow genau so nah oder fern wie Dornröschen<br />

und Aschenputtel. Aber alle Geschichten sagten auch etwas Grundsätzliches<br />

zum Menschen, was unabhängig war von der Zeit, der Kultur und der<br />

Politik. Wenn sie das nicht taten, waren sie wertlos und gingen auch bald unter,<br />

aber das immerwährende Menschliche ist es, dass uns die Dramen der Griechen<br />

von vor zweitausend Jahren in ihrer furiosen Welt und ebenso die Märchen<br />

als interessant erscheinen lässt. Was sagen die Bremer Stadtmusikanten<br />

allen missachteten Menschen, für die es keinerlei Anerkennung mehr gibt, auf<br />

eine lustige Art denn anders als: „Gemeinsam im Kampf seid ihr stark.“ Das<br />

hatte <strong>Yasemin</strong> früher schon erkannt, es war ihr heimlicher Schatz beim Lesen,<br />

der es für sie interessant machte. Jetzt hatte Friederich sie dazu gebracht, das<br />

wirklich Menschliche in ihr selbst erkennen zu wollen und wahrnehmen zu können.<br />

Der Zusammenhang und Rahmen, in dem sich das ereignete, kam <strong>Yasemin</strong><br />

nicht selten weniger unwahrscheinlich vor als die Historie in manchem<br />

Märchen. Erklären konnte sie sich das aus ihrer früheren Sicht sowieso alles<br />

nicht. Zum ersten mal erfuhr sie tiefe Liebe, obwohl sie sich eigentlich gar<br />

nicht darauf einlassen wollte. Sie überlegte: „Wann hatte die Liebe denn eigentlich<br />

begonnen? Als sie sich in der Oper die Hände gaben? Das hätten sie<br />

gar nicht getan, wenn die Liebe nicht schon längst dagewesen wäre. Bei ihm<br />

eingegraben habe sie sich, hatte Friederich gesagt, waren das schon die ersten<br />

Schritte? Oder war da auch bei ihr selbst schon vorher etwas. Du kannst die<br />

Liebe ruhig verleugnen wollen, sie ist es, die für sich allein entscheidet. Ganz<br />

nett gefunden? Das könnte sie von Friederich auch sagen, aber das ist genauso<br />

banal, als zu sagen, man habe in sympathisch gefunden. Darüber befinde man<br />

beim ersten Blick, aber es ist eine so schwafelige, nichtssagende Bezeichnung.“<br />

<strong>Yasemin</strong> meinte, man empfinde eher eine Art von Temperatur in seinem Gegenüber.<br />

Und bei Friederich, wie war es da? Hatte er in ihr gleich glühende Hitze<br />

erzeugt? Absoluter Quatsch, aber züngelnde Flämmchen, die sich prickelnd<br />

und kitzlig anfühlten waren es schon. So war es fast vom ersten Wort an. Bei<br />

Friederich dachte sie nicht daran, nach Distanz zu suchen, für <strong>Yasemin</strong> machte<br />

er grundsätzlich Lust auf mehr. Wie hoch die Temperaturen sind, die ein Kontakt<br />

mit ihm jetzt auslösen, weiß <strong>Yasemin</strong> gar nicht, aber die Lust auf mehr<br />

von Friederich ist heute noch genauso vorhanden, wie bei der ersten Begegnung.<br />

Sie ist unstillbar und kann nie abschließend befriedigt werden.<br />

“Love is not a state, a feeling, a disposition, but an exchange, uneven, fraught<br />

with history, with ghosts, with longings that are more or less legible to those<br />

who try to see one another with their own faulty vision.”<br />

Judih Butler<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 37 von 39


FIN<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 38 von 39


“We lose ourselves in what we read, only to return to ourselves,<br />

transformed and part of a more expansive world.”<br />

Judith Butler<br />

<strong>Yasemin</strong> möchte nichts mit neuer Liebe zu tun haben, und mit Friederich<br />

kommt es sowieso nicht in Frage. Was sich aber entwickelt, und wie <strong>Yasemin</strong><br />

und Friederich weiter damit umgehen, erzählt die Geschichte. Ein heißer<br />

Sommertag. Heute gab es keinen Kaffee sondern eisgekühlten Orangensaft.<br />

Auch wenn die Hitze quälte, schien sie doch fast übermütige Glücksgefühle zu<br />

erzeugen. Friederich war gerade von der Uni gekommen, und die beiden juxten<br />

und alberten. An so einem Tag war es wirklich ein Genuss, wenn man liegen<br />

konnte. <strong>Yasemin</strong> und Friedrich lachten und scherzten, bis sie sich schließlich<br />

doch mal innig umarmen mussten. Sie lösten sich gar nicht wieder, wollten<br />

anscheinend das Küssen und das Empfinden des anderen Körpers<br />

perpetuieren. <strong>Yasemin</strong> hatte nur ein dünnes Sommerkleidchen und einen Slip<br />

an. Dass der Stoff so dünn und die Beine nicht mit einer Hose bedeckt waren,<br />

spielte für <strong>Yasemin</strong>s Empfinden offensichtlich doch eine Rolle. „Zieh das aus.“<br />

forderte sie Friederich auf und meinte sein Oberhemd, das sie schon fast ganz<br />

aufgeknüpft hatte. „Du auch.“ reagierte Friederich. Sie zogen sich beide aus,<br />

den Slip ließen sie vorerst noch an. Der Point of no Return war längst<br />

unbemerkt überschritten. <strong>Yasemin</strong> hatte die Lippen leicht geöffnet und atmete<br />

tief, die Lider hatte sie geschlossen, nur manchmal riss sie die Augen weit auf<br />

und starrte dabei Friedrich lächelnd an. „Hau ab!“ stieß <strong>Yasemin</strong> Friederich<br />

lachend zurück. Sie empfand, er würde drängeln. Von der Seite über Friederich<br />

gebeugt erklärte sie: „Ich will es doch auch, Friederich, aber nicht so hastig,<br />

langsam mit Gefühl und behutsam. Wir wollen es doch möglichst lange<br />

genießen. Oder stehst du auf Brutalo Sex?“ Friederich umschlang <strong>Yasemin</strong> und<br />

kugelte sich lachend mit ihr. „Was redest du für einen Unsinn, <strong>Yasemin</strong>. Wie<br />

kannst du nur auf so einen Blödsinn kommen?“ reagierte er. „Friederich, wie<br />

sprichst du denn. So redet man nicht bei der Liebe.“ gemahnte <strong>Yasemin</strong>.<br />

„Sondern?“ wollte Friederich wissen. „Bei der Liebe sagt man nur zärtlich, leise<br />

einzelne liebevolle Wörter, vielleicht auch zwei.“ meinte <strong>Yasemin</strong>. „Ah ha, und<br />

woher weißt du das? Macht man das eben so, oder steht das im 'How to for<br />

Couples in Love'?“ mutmaßte Friederich. <strong>Yasemin</strong> zog eine krause Mimik. „Wir<br />

quasseln schon wieder. Wir können das gar nicht. Wir können nur reden,<br />

immer nur reden und reden. Wir sind scharf aufeinander, aber was tun wir? Wir<br />

fangen wieder an zu reden.“ erklärte <strong>Yasemin</strong> missmutig. Ein günstiger<br />

Moment, aufzustehen und sich wieder anzuziehen. <strong>Yasemin</strong> wollte es ja<br />

grundsätzlich nicht und prinzipiell nicht und auch heute hatte sie es eigentlich<br />

nicht gewollt.<br />

<strong>Yasemin</strong> <strong>Enthusiasmus</strong> – Seite 39 von 39

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