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Krise, Selbstorganisation und soziale Netze

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KRISE, SELBSTORGANISATION UND SOZIALE NETZE<br />

Bericht einer Bildungs- <strong>und</strong> Solidaritätsreise<br />

nach Thessaloniki, 28.10.–3.11.2013


IMPRESSUM<br />

KRISE, SELBSTORGANISATION UND SOZIALE NETZE<br />

Bericht einer Bildungs- <strong>und</strong> Solidaritätsreise nach Thessaloniki, 28.10. – 3.11.2013<br />

Erfurt, Dezember 2013<br />

Herausgeberin:<br />

DGB Jugend Thüringen<br />

Warsbergstraße 1<br />

99092 Erfurt<br />

Kontakt: dgb-jugend-thueringen@dgb.de<br />

Diese Broschüre gibt es auch in elektronischer Form im Internet.<br />

Hier findet Ihr auch weitere Informationen sowie sämtliche Termine von Veranstaltungen:<br />

http://solidaritaet.blogsport.eu<br />

Die Texte dieser Broschüre wurden von den Teilnehmenden der Solidaritäts- <strong>und</strong> Bildungsreise verfasst.<br />

Deshalb finden sich in dieser Broschüre mehrere Varianten, um eine geschlechtergerechte Schriftsprache<br />

umzusetzen. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass sich die Reisegruppe aus Menschen verschiedener politischer<br />

Hintergründe zusammensetzte. Die Vielfalt der Gruppe findet sich schließlich auch in der<br />

Vielfalt der gewählten Schriftsprache wieder.


Vorwort<br />

Eurokrise <strong>und</strong> Troika, Jugendarbeitslosigkeit<br />

<strong>und</strong> Generalstreik, „Pleitegriechen“ <strong>und</strong> Korruption...<br />

Über den Zustand Griechenlands wurde in den vergangenen<br />

Jahren in der Presse viel geschrieben, doch die<br />

Lebenssituation der Menschen wurde dabei allzu oft<br />

ausgeblendet.<br />

„Wir müssen uns selbst ein Bild von den Auswirkungen<br />

der <strong>Krise</strong> vor Ort machen“, dies war im November<br />

2012 der spontane Impuls nach einem Vortrag<br />

über die aktuelle Situation in Griechenland, der ein<br />

anschaulicheres Bild der griechischen Verhältnisse<br />

zeigte. Diesem Impuls sind wir nachgegangen. Knapp<br />

ein Jahr später machten sich 17 Aktive aus Thüringen<br />

mit ganz unterschiedlichen politischen Hintergründen<br />

gemeinsam auf den Weg, um Menschen in Griechenland<br />

zu treffen <strong>und</strong> ihre Lebens- <strong>und</strong> Arbeitssituation<br />

für eine Woche in den Blick zu nehmen. Wir<br />

wollten wissen, wie die aufoktroyierte Sparpolitik der<br />

Troika die Menschen vor Ort <strong>und</strong> ihr Leben verändert<br />

<strong>und</strong> wie die Dinge zusammenhängen. Wir wollten verstehen,<br />

was die <strong>Krise</strong> mit uns zu tun hat <strong>und</strong> was wir<br />

politisch bei uns vor Ort tun können.<br />

Was wir gesehen, gehört <strong>und</strong> erfahren haben,<br />

war widersprüchlich: Einerseits Menschen, die mit den<br />

Straßenh<strong>und</strong>en um die Abfälle konkurrieren. Chronisch<br />

Kranke, die keine Medikamente mehr erhalten.<br />

Beschäftigte, die ihren Job <strong>und</strong> jegliches Einkommen<br />

verloren haben. Die Auswirkungen der <strong>Krise</strong> sind für<br />

viele Menschen drastisch, der tägliche Überlebenskampf<br />

kostet Kraft <strong>und</strong> ist erschöpfend.<br />

Andererseits haben wir Menschen getroffen,<br />

die trotz aller Schicksalsschläge versuchen, ihr Leben<br />

selbst in die Hand zu nehmen. Die trotz aller Widrigkeiten<br />

versuchen, in der <strong>Krise</strong> solidarisch zueinander<br />

zu stehen <strong>und</strong> Widerstand zu leisten, um ihre<br />

Lebensqualität zu verteidigen <strong>und</strong> ihre Lebenslust<br />

zu behalten: Baustoffarbeiter, die ihre Fabrik besetzt<br />

halten <strong>und</strong> die Produktion unter eigener Regie wieder<br />

aufgenommen haben. Bedienstete des staatlichen<br />

R<strong>und</strong>funks, die seit Monaten autonom weitersenden,<br />

obwohl der Sender quasi über Nacht geschlossen worden<br />

ist. H<strong>und</strong>erte von Freiwilligen, die eine selbstorganisierte<br />

Krankenstation betreiben, in der Menschen<br />

ohne Krankenversicherung behandelt werden. Sie<br />

haben oft viel verloren, aber auch etwas gewonnen:<br />

Die der Not entsprungene Erfahrung, gemeinsam mit<br />

anderen etwas Neues geschaffen zu haben, selbstbestimmt<br />

<strong>und</strong> in Würde. Unterstützung fanden sie bei<br />

Gruppen, die bereits länger aktiv sind, wie dem <strong>soziale</strong>n<br />

Zentrum Mikropolis, das als unsere Partnerorganisation<br />

fungierte. Und es entstanden neue Allianzen,<br />

die unterschiedliche Kämpfe zusammenbringen. So<br />

waren fast alle von uns besuchten Gruppen am Widerstand<br />

gegen den Goldtagebau in Chalkidiki beteiligt,<br />

der eine blühende Region in eine tote Schutthalde zu<br />

verwandeln droht.<br />

Von unseren Gesprächspartner_innen wurden<br />

wir fre<strong>und</strong>lich empfangen. So unterschiedlich die<br />

Menschen <strong>und</strong> Projekte, die wir getroffen haben, auch<br />

waren, eines wurde uns von fast allen mit auf den Weg


gegeben: Wir wollen kein Mitleid <strong>und</strong> keine Almosen<br />

von euch, aber berichtet den Menschen in Deutschland,<br />

was hier passiert.<br />

Deshalb könnt Ihr unsere Eindrücke, die wir<br />

mitgebracht haben, in dieser Broschüre nachlesen.<br />

„The future is unwritten“ – Die Zukunft ist noch<br />

ungeschrieben. Niemand kann absehen, ob Griechenland<br />

<strong>und</strong> seine Menschen an der aktuellen Situation<br />

zerbrechen werden oder ob der Kampf der Menschen<br />

für ein besseres Leben <strong>und</strong> gegen eine falsche Politik<br />

Erfolg haben wird. Doch das entscheidet sich nicht<br />

(nur) in Griechenland, sondern auch in Deutschland<br />

<strong>und</strong> den anderen europäischen Staaten. Durch die<br />

Reise ist die <strong>Krise</strong>, die wir hier oft wenig spüren, dichter<br />

an uns herangekommen. Ebenso die Notwendigkeit<br />

zum politischen Handeln. Wir müssen unseren<br />

Beitrag zu einer europäischen Solidaritätsbewegung<br />

leisten, die nicht ein Europa der Märkte, sondern der<br />

Menschen in den Mittelpunkt stellt.<br />

In diesem Sinne danken wir allen, die ihr Wissen<br />

<strong>und</strong> ihre Perspektiven mit uns geteilt haben, <strong>und</strong><br />

wünschen Euch eine anregende Lektüre.<br />

Frank Lipschik<br />

DGB-Bildungswerk e.V.<br />

Jenny Zimmermann<br />

DGB Jugend Thüringen<br />

Bernd Löffler<br />

Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen<br />

2


Inhalt<br />

Mikropolis<br />

Vom kollektiven Gestalten politischer,<br />

<strong>soziale</strong>r <strong>und</strong> kultureller Ideen ...................................... 4<br />

Stadtr<strong>und</strong>gang, Thessaloniki ...................................... 7<br />

Gewerkschaftsarbeit in der <strong>Krise</strong><br />

Besuch im Arbeiterzentrum der GSEE ...................................... 15<br />

Besuch im Jüdischen Museum ...................................... 19<br />

Freiheit lernen?! ...................................... 22<br />

Vio.Me – eine Fabrik in ArbeiterInnenhand<br />

„Wenn ihr nicht könnt – wir können!“ ...................................... 26<br />

Die „Klinik der Solidarität“ ...................................... 32<br />

Im Clinch mit dem Großkapital<br />

Griechische Gewerkschafter legen sich mit der<br />

Coca Cola Hellenic Bottling Company an ...................................... 36<br />

Zu Gast bei ERT3<br />

„We are freedom TV“ ...................................... 45<br />

!"#"!"$%&'()*)(+$– S.O.S. Chalkidiki!<br />

Goldabbau stoppen, Repression bekämpfen! ...................................... 49


Mikropolis<br />

Vom kollektiven Gestalten politischer, <strong>soziale</strong>r <strong>und</strong> kultureller Ideen<br />

Das Mikropolis, ein sozialpolitisch-kulturelles<br />

Zentrum in<br />

der Innenstadt Thessalonikis, wird<br />

von fünf Kollektiven gestaltet. Neben<br />

dem Direkt-Vermarktungsladen<br />

Sintrofia gibt es eine Kinderbetreuung,<br />

einen Copyshop, eine linke<br />

Bibliothek mit kleinem Bücherladen<br />

<strong>und</strong> das Küchenkollektiv, welches<br />

in der Kneipe des Mikropolis<br />

mittags <strong>und</strong> abends mehrere Gerichte<br />

sehr preiswert anbietet. Alle<br />

diese selbstverwalteten Kollektive<br />

bestehen aus jeweils größeren<br />

Kreisen von Aktivist*innen. Aus<br />

ihrem Kreis beschäftigen sie für<br />

den täglichen Betrieb jeweils bis zu<br />

sechs Angestellte. Rotierend werden<br />

alle zwei Monate zwei der Beschäftigten<br />

ausgetauscht. Das gewährleistet<br />

zum einen Kontinuität<br />

im täglichen Ablauf, zum anderen<br />

werden mehr Beteiligte, zumindest<br />

vorübergehend, von ökonomischem<br />

Druck entlastet. Da sich die<br />

fünf Kollektive trotz Bemühung<br />

um Einnahmen nicht selbstständig<br />

tragen, betreiben sie gemeinsam<br />

die Kneipe, womit quasi das ganze<br />

Mikropolis inklusive der Löhne der<br />

in den Kollektiven Beschäftigten<br />

finanziert wird. In der, recht großen,<br />

Kneipe finden sehr oft Konzerte<br />

statt, in der Regel kostenfrei.<br />

Einmal wöchentlich treffen sich<br />

alle Kollektive zum großen gemeinsamen<br />

Plenum.<br />

tion für die Behandlung verletzter<br />

Tiere. Tierärzt*innen, Studierende<br />

<strong>und</strong> andere Interessierte kümmern<br />

sich hier ehrenamtlich um verletzte<br />

Tiere, die zu ihnen gebracht werden.<br />

Zumeist handelt es sich dabei<br />

Vom Acker direkt ins <strong>soziale</strong> Zentrum: Auslagen im Direktvermarktungsladen<br />

Das Mikropolis versteht um verletzte Wildvögel.<br />

sich als eingebettet in das Netz<br />

der selbstverwalteten Bewegungen<br />

Nun möchten wir etwas<br />

genauer Sintrofia vorstellen, das<br />

<strong>und</strong> Kollektive in Thessaloniki selbstverwaltete Direkt-Vermark-<br />

<strong>und</strong> seiner Umgebung. In diesem<br />

Sinne spenden sie einen Teil ihrer<br />

Einnahmen an die Bürgerinitiativen<br />

in Chalkidiki (siehe S. 49ff.).<br />

Außerdem gibt es unter dem Dach<br />

des Mikropolis noch eine Tierstatungskollektiv.<br />

Es arbeitet seit<br />

etwa fünf Jahren <strong>und</strong> funktioniert<br />

wie oben beschrieben. Der Bioladen<br />

ist täglich von 12 bis 20 Uhr<br />

geöffnet <strong>und</strong> die Einnahmen reichen<br />

für das Einkommen von vier<br />

4


Das Netzwerk funktioniert: Auch hier werden Vio.Me-Produkte verkauft.<br />

Personen. Es werden vor allem Produkte<br />

kleiner Produzent*innen abgekauft<br />

<strong>und</strong> versucht, neue Handelsbeziehungen<br />

möglichst ohne<br />

weitere Zwischenhändler*innen zu<br />

knüpfen. Da die Qualität der angebotenen<br />

Waren oft besser als im Supermarkt<br />

ist, besucht eine breitere<br />

K<strong>und</strong>schaft den Bioladen. Hier gibt<br />

es auch Produkte der besetzten <strong>und</strong><br />

selbstverwalteten Fabrik Vio.Me.<br />

Zum Hintergr<strong>und</strong>: Griechische<br />

Verbraucher*innen verfügen<br />

durchschnittlich nur noch über<br />

ca. zwei Drittel ihres Einkommens<br />

von vor 2010. Der Mindestlohn<br />

liegt derzeit bei 480€. Die Arbeitslosigkeit<br />

ist enorm hoch. Soziale<br />

Unterstützung, vergleichbar dem<br />

deutschen Hartz IV (SGB II), gibt<br />

es nur für wenige Monate. Gleichzeitig<br />

stiegen insbesondere die<br />

Lebensmittelpreise. Seit <strong>Krise</strong>nbeginn<br />

geht eine junge Generation<br />

von Enkel*innen zurück auf den<br />

ländlichen Familienbesitz <strong>und</strong> betreibt<br />

wieder Landwirtschaft. Bewirtschafteten<br />

2008 noch 8% der<br />

griechischen Bevölkerung Land,<br />

waren es 2009 schon 10%. Ca. 80%<br />

dieser Rückkehrer*innen betreiben<br />

Ökolandwirtschaft. Jedoch<br />

haben Konsument*innen kein Geld<br />

für teure Produkte. Viele dieser<br />

neuen Landwirt*innen versuchen<br />

nun, direkt an K<strong>und</strong>*innen zu verkaufen<br />

<strong>und</strong> den teuren Zwischenhandel<br />

zu umgehen.<br />

Sintrofia ist Teil eines aus<br />

ca. 50 Gruppen bestehenden regionalen<br />

Open Network for direct<br />

Distribution. Dies ist kein explizit<br />

politisches Netzwerk. In ihm sind<br />

jedoch auch Soli- bzw. Politgruppen<br />

aktiv, die versuchen gute <strong>und</strong><br />

preiswerte Lebensmittel unter die<br />

Bevölkerung zu bringen. Ihnen ist<br />

wichtig, dass Menschen die von der<br />

Politik verlassenen gesellschaftlichen<br />

Räume besetzen <strong>und</strong> selbst<br />

gestalten. Direktvermarktung an<br />

sich findet inzwischen, wie auch<br />

wir fast täglich sehen konnten,<br />

großen Nachhall in der Bevölkerung,<br />

aber auch bei Stadtverwaltungen.<br />

Letztere unterstützen teils<br />

mit Räumen, teils mit Geld solche<br />

Initiativen.<br />

Ziel von Kollektiven wie<br />

Sintrofia ist es aber, dass sich<br />

Produzent*innen <strong>und</strong> K<strong>und</strong>*innen<br />

an der Gestaltung der Handelsbeziehungen<br />

<strong>und</strong> der Qualitätskontrolle<br />

direkt beteiligen. Es geht<br />

ihnen nicht um Absicherung von<br />

Dienstleistungen, sondern um<br />

bessere Formen des Austausches -<br />

auch über die Frage der Selbsthilfe<br />

in <strong>Krise</strong>nzeiten hinaus. Starten viele<br />

Menschen diese Arbeit anfangs<br />

aus eher unpolitischen Beweggründen,<br />

kommen sie folgerichtig<br />

dann zu konkreten Fragen, wie z.B.<br />

Entscheidungen getroffen werden<br />

sollen <strong>und</strong> was direkte Demokratie<br />

sein kann. Die Parteien-Linke,<br />

z.B. SYRIZA, praktiziert Reale Demokratie<br />

(Parlamentarische Parteiendemokratie,<br />

Abstimmungsmehrheiten<br />

etc.), das Mikropolis<br />

<strong>und</strong> Sintrofia hingegen praktizie-<br />

5


en Direkte Demokratie (Basisentscheidungen,<br />

Konsensfindung). In<br />

diesem Kontext fragten sich zehn<br />

Menschen, die sich vorher nicht<br />

kannten <strong>und</strong> in Thessaloniki eine<br />

Nudelproduktion auf die Beine<br />

stellen wollten, wie sie sich ökonomisch<br />

strukturieren sollten. Die<br />

Lösung war für sie eine Genossenschaftsgründung,<br />

ein durchaus alternativer<br />

Ansatz <strong>soziale</strong>r <strong>und</strong> ökonomischer<br />

Vergesellschaftung.<br />

Armenspeisungen werden<br />

wiederum auch durch Stadtverwaltungen,<br />

die Kirche <strong>und</strong> auch durch<br />

Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte,<br />

neonazistische Partei, im Folgenden<br />

CA) durchgeführt. Der griechischen<br />

Regierung ist es wichtig,<br />

die inzwischen schon revolutionäre<br />

Unzufriedenheit der Menschen<br />

über Armenspeisungen zu kanalisieren,<br />

auch durch CA. Diese kopierte<br />

dafür Aktionsansätze linker<br />

anarchistischer Bewegungen <strong>und</strong><br />

pfropfte nationalistische Propaganda<br />

auf: Lebensmittel nur für<br />

Griechen! Parlamentarier*innen<br />

spendeten Geld für Armenspeisungen<br />

an Griech*innen. Der Zustrom<br />

zum Essen umsonst ist, bedingt<br />

durch die ökonomische Lage vieler<br />

Griech*innen, riesig, egal von wem<br />

es angeboten wird. Allerdings wird<br />

insbesondere CA dabei mit großen<br />

Protestbewegungen konfrontiert,<br />

so dass unter starkem Polizeischutz<br />

dann nur wenige die Speisung annehmen.<br />

Konservative Massenmedien<br />

wiederum argumentieren<br />

dann plakativ, dass böse Linke<br />

Armenspeisungen verhindern, z.T.<br />

in Form von Massenpropaganda in<br />

den Hauptnachrichten.<br />

Ziel des Kollektivs Sintrofia<br />

im Sinne direkter Demokratie ist<br />

die möglichst unmittelbare Kontrolle<br />

von Produktionsbedingungen,<br />

verb<strong>und</strong>en mit der fairen Verteilung<br />

von Lebensmitteln. Deshalb<br />

ist das Kollektiv auch an europäischen<br />

Kontakten <strong>und</strong> Netzwerkarbeit<br />

zum Erfahrungsaustausch interessiert!<br />

Sylvia, Thomas, Jan<br />

Das Mikropolis im Internet:<br />

micropolis-socialspace.blogspot.de<br />

La otra biblioteca, die etwas andere Bibliothek im Mikropolis


Stadtr<strong>und</strong>gang,<br />

Thessaloniki<br />

Wie herrlich es ist, aufzuwachen<br />

<strong>und</strong> festzustellen, dass<br />

man unmittelbar aufs Meer blicken<br />

kann. Am Montag, dem 28. Oktober,<br />

ist unsere Reisegruppe in Thessaloniki<br />

angekommen. Mit Spannung<br />

erk<strong>und</strong>eten wir am Vorabend beim<br />

ersten Mikropolis-Besuch die hiesigen<br />

Kneipengepflogenheiten. Später<br />

fielen wir dann recht erschöpft,<br />

aber doch voller Vorfreude auf das<br />

Kommende in den Schlaf.<br />

„Guten Morgen Thessaloniki!“<br />

Das Aufstehen fällt ob der<br />

Erwartung an unsere Bildungsreise<br />

leicht. Schnell sind wir aus unseren<br />

Schlafsäcken geschlüpft <strong>und</strong> nun<br />

schon als „Einkaufs-Crew“ unterwegs<br />

zu den Markthallen. Kleinigkeiten<br />

für ein erstes gemeinsames<br />

Frühstück auf der Dachterrasse<br />

sind alsbald besorgt, sodass wir<br />

die morgendliche Sonne mit Kaffee<br />

genießen können. Das Beisammensein<br />

nutzen wir für ein Plenum, um<br />

gemeinsam zu klären, was für den<br />

Tag geplant ist <strong>und</strong> dafür entsprechende<br />

Absprachen zu treffen.<br />

Gegen 11 Uhr sind wir mit<br />

unserer Reisebegleitung am verabredeten<br />

Treffpunkt. Unser Stadtr<strong>und</strong>gang<br />

mit Eindrücken zur anarchistischen<br />

Bewegungsgeschichte<br />

Thessalonikis beginnt auf dem<br />

Aristoteles-Boulevard in der Nähe<br />

der Promenade. Auf dem zentralen<br />

Platz fanden am Vortag die Festivitäten<br />

zum Nationalfeiertag statt<br />

– nun wird aufgeräumt: Der dafür<br />

ausgelegte Fußballrasen wird zusammengerollt,<br />

dennoch spielen<br />

einige Kinder freudig weiter. Wir<br />

schlendern über den Platz, ein Heer<br />

von Tauben wird von uns aufgescheucht,<br />

die ersten Straßenh<strong>und</strong>e<br />

werden gesichtet, zahlreiche Menschen<br />

sind unterwegs. Thessaloniki<br />

ist nach Athen die zweitgrößte<br />

Stadt Griechenlands. Im Großraum<br />

leben etwa eine Million Menschen.<br />

Es entsteht ein lebhafter Eindruck<br />

des innerstädtischen Lebens.<br />

Zur ersten Orientierung<br />

Sogleich gibt unsere Reisebegleitung,<br />

heute auch Stadtführer,<br />

uns Anhaltspunkte zur Orientierung:<br />

Richtung Süden sehen wir<br />

das Meer mit der Promenade, die<br />

einerseits zum Hafen <strong>und</strong> andererseits<br />

zum Wahrzeichen der Stadt,<br />

dem „Weißen Turm“, führt. Der<br />

„Weiße Turm“ ist auf nahezu allen<br />

erhältlichen Postkarten der Stadt<br />

abgebildet <strong>und</strong> hat eine lange Geschichte.<br />

In früher osmanischer<br />

Zeit errichtet, hatte er schon viele<br />

Funktionen inne: Nahrungsmittel<strong>und</strong><br />

Waffenlager, Wetterstation,<br />

Knast („Blutturm“ genannt) – heute<br />

beherbergt er ein Museum zur<br />

Stadtgeschichte. Richtung Norden<br />

sehen wir den sich erstreckenden<br />

Aristoteles-Boulevard, dieser führt<br />

bis zur Agora, darüber hinaus gelangt<br />

man in die Altstadt <strong>und</strong> zur<br />

alten Stadtmauer.<br />

Während wir nun von Süden<br />

nach Norden entlang der prächtigen,<br />

hohen Häuserwände blicken,<br />

welche mit allerhand Balkonen<br />

bestückt sind, erzählt unser Stadtführer<br />

vom großen Brand, der 1917<br />

östlich <strong>und</strong> westlich vom Boulevard<br />

wütete. In einer Ausdehnung<br />

von etwa einem Quadratkilometer<br />

7


ach ein Großbrand aus, der fast<br />

das ganze südliche Stadtzentrum<br />

zerstörte – vor allem das jüdische<br />

Viertel, das dort angesiedelt war.<br />

In Thessaloniki existierte bis zur<br />

deutschen Besatzung im Zweiten<br />

Weltkrieg die größte jüdische<br />

Gemeinde Griechenlands. Etwa<br />

60.000 Jüdinnen <strong>und</strong> Juden wurden<br />

dann zwangsinterniert, deportiert<br />

<strong>und</strong> in Konzentrationslagern<br />

in Zentraleuropa ermordet. Heute<br />

erinnert ein sehr kleines jüdisches<br />

Museum, das in einer Seitenstraße<br />

liegt, an die Gemeinde. Dieses Museum<br />

werden wir am kommenden<br />

Tag besuchen (siehe S. 19ff.).<br />

Unser Weg führt uns weiter<br />

in nördliche Richtung, bis wir links<br />

in die „Irakliou“-Straße einbiegen,<br />

um die Markthallen Thessalonikis<br />

zu erreichen. Leider fehlt uns die<br />

Zeit alles zu erk<strong>und</strong>en, doch das<br />

duftende Obst <strong>und</strong> die eingelegten<br />

Oliven helfen darüber hinweg<br />

– Wegproviant wird ergattert. Frischer<br />

Fisch liegt zuckend auf Eis in<br />

den Auslagen, auch die gerade erst<br />

zerteilten Fleischstücke erwecken<br />

nicht bei allen frohe Mienen, sodass<br />

sich wohl einige freuen, dass<br />

es alsbald weitergeht durch das<br />

bunte <strong>und</strong> laute Gewimmel.<br />

Reaktionen auf die <strong>Krise</strong><br />

<strong>und</strong> deutsche Bewältigungsstrategien<br />

Weiter geht es durch die<br />

Straßen in Richtung Altstadt <strong>und</strong><br />

wir bemerken, dass einige Ladenflächen<br />

leer stehen. Wie bereits<br />

vermutet, ist dies eine direkte Auswirkung<br />

der <strong>Krise</strong> in Griechenland.<br />

Vor allem die Kleinhändler*innen<br />

konnten sich die Mieten für die Ladenflächen<br />

nicht mehr leisten <strong>und</strong><br />

mussten schließen – der Leerstand<br />

ist nicht zu übersehen. Daneben<br />

fällt jedoch auch auf, dass es viele<br />

neue Bars <strong>und</strong> Tavernen gibt – so<br />

verändert sich die Stadt.<br />

Es herrscht reges Treiben<br />

auf den Straßen. Ein Mitreisender<br />

entdeckt unterwegs einen kleinen<br />

Straßenstand mit Holzwaren. Er<br />

guckt sich eine Zwille aus, während<br />

der ältere Herr, der seine Waren<br />

hier feilbietet, erkennt, dass wir<br />

wohl aus Deutschland kommen. Er<br />

erk<strong>und</strong>igt sich bei unserem Stadtführer<br />

<strong>und</strong> Übersetzer, warum wir<br />

nach Griechenland gekommen sind<br />

<strong>und</strong> ein fre<strong>und</strong>liches Gespräch entspinnt<br />

sich. Nachdem wir ihm unser<br />

Reise-Motto „Solidarität <strong>und</strong><br />

<strong>Selbstorganisation</strong>“ kurz umrissen<br />

haben, gibt er uns mit auf den<br />

Weg, Angela Merkel auszurichten,<br />

dass sie die Leute hier in Ruhe lassen<br />

solle. Der ältere Herr <strong>und</strong> seine<br />

umstehenden Bekannten sind dabei<br />

etwas erregt. Uns wünschen sie<br />

aber neben all der Politik, von welcher<br />

wir uns nicht allzu sehr stressen<br />

lassen sollen, eine w<strong>und</strong>erbare<br />

Reise. Wir freuen uns über den netten<br />

Austausch <strong>und</strong> ahnen schon,<br />

dass wir als „Deutsche“ öfter erkannt<br />

<strong>und</strong> angesprochen werden.<br />

Nun verlassen wir das<br />

Marktviertel mit seinen urigen Passagen<br />

<strong>und</strong> gelangen ans nördliche<br />

Ende des Boulevards, das durch die<br />

Querung der „Egnatia“, einer großen<br />

Straße, bezeichnet wird. Es ist<br />

viel Verkehr – Taxis, Busse, LKWs<br />

<strong>und</strong> PKWs sind unterwegs. Der<br />

Stadtführer erläutert uns, dass dies<br />

in früherer Zeit einer der zentralen<br />

Handelswege war, von welchen<br />

Thessaloniki profitierte. Oberhalb<br />

der Straße befindet sich ein großer<br />

Platz mit Park, heutzutage ein<br />

beliebter Startpunkt für Demonstrationen.<br />

Auf dem Platz fällt zunächst<br />

eine kleine Kirche auf, die<br />

unterhalb des Niveaus des restlichen<br />

Platzes liegt. Die Stadt wachse<br />

auf dem Bauschutt vieler Jahre,<br />

wird uns erzählt, weshalb vor allem<br />

manche ältere Bauwerke tiefer<br />

liegen. Die Erklärung bestätigend<br />

treffen wir auf eine Ausgrabungsstätte,<br />

welche eine antike Agora<br />

offenlegt. Von oben blicken wir in<br />

das Areal, das zu früherer Zeit als<br />

Marktplatz, aber auch als Versammlungsort<br />

für seine Bürger*innen<br />

diente <strong>und</strong> damit eine wichtige<br />

gesellschaftliche Rolle einnahm.<br />

Als in den 1970er-Jahren hier ein<br />

Gerichtsgebäude errichtet werden<br />

sollte, wurden die Ruinen gef<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> freigelegt. Nun liegt sie<br />

zu Füßen des „Arbeiterzentrums“<br />

(Gewerkschaftshaus), das nördlich<br />

von ihr mit einem riesigen Plakat<br />

auf sich aufmerksam macht.<br />

Erste Begegnungen mit griechischen<br />

Gewerkschaftsvertretern<br />

Auf dem Plakat steht in<br />

etwa „Rote Karte für alle Produkte<br />

von Coca Cola, bis wieder in Thessaloniki<br />

produziert wird – Nein zu<br />

9


ulgarischer Coca Cola!“ Unsere<br />

Reisebegleitung erklärt, dass der<br />

Coca Cola-Standort in Thessaloniki<br />

gerade geschlossen <strong>und</strong> nach<br />

Bulgarien verlegt wird (siehe S.<br />

36ff.) <strong>und</strong> merkt in Bezug auf die<br />

Formulierung „bulgarische Coca<br />

Cola“ an, dass auch in der griechischen<br />

Linken häufig patriotisch<br />

bzw. nationalistisch argumentiert<br />

werde. Während einige Reisemitglieder<br />

in das Gewerkschaftshaus<br />

gehen, um Kontakt mit den hiesigen<br />

Gewerkschaften aufzunehmen,<br />

sitzen andere vor dem Haus<br />

in der Sonne <strong>und</strong> machen Pause.<br />

Dabei entwickelt sich ein etwas<br />

wirres Gespräch mit einem Passanten.<br />

Als dieser hört, dass wir<br />

aus Deutschland kommen, spuckt<br />

er vor uns auf den Boden. „Greece<br />

is a colony of Germany“, ist seine<br />

Einschätzung der aktuellen europäischen<br />

<strong>Krise</strong>npolitik - „We must<br />

fight the German state!“. Als einige<br />

erklären, dass die Gruppe u.a. aus<br />

Anarchos, Gewerkschafter*innen,<br />

Antifaschist*innen besteht, winkt<br />

er ab: „We need actions, not words!“<br />

Der Rest der Gruppe ist inzwischen<br />

wieder aus dem Gewerkschaftshaus<br />

gekommen. Der kurze Besuch war<br />

ein Erfolg: Unsere Reisegruppe ist<br />

zu einem Treffen aller nordgriechischen<br />

Arbeiterzentren zur Planung<br />

des Generalstreiks am 06.11.13 eingeladen<br />

<strong>und</strong> außerdem zu einem<br />

Treffen mit dem Vorsitzenden des<br />

hiesigen Gewerkschaftszentrums.<br />

So wird unser ohnehin schon volles<br />

Programm noch voller – wir haben<br />

uns wirklich einiges vorgenommen<br />

(siehe S. 15ff.)!<br />

Aber vorerst geht es weiter<br />

den Hügel hinauf, wir nähern uns<br />

langsam der Altstadt Thessalonikis.<br />

Dabei werden wir auf das „Terra Incognita“<br />

aufmerksam gemacht.<br />

Das besetzte Haus fungiert in der<br />

anarchistischen <strong>und</strong> autonomen<br />

Szene als Polit-Zentrum. Leider<br />

sind die Rollläden heruntergelassen,<br />

Aufkleber <strong>und</strong> Graffiti zeugen<br />

vom soziokulturellen Hintergr<strong>und</strong>.<br />

Es ist zu bemerken, dass das Straßen-<br />

<strong>und</strong> Stadtbild Thessalonikis<br />

im Allgemeinen stark geprägt ist<br />

von allerhand „Street Art“ verschiedenster<br />

Art: einerseits klare<br />

politische Parolen <strong>und</strong> Symboliken,<br />

andererseits auch künstlerisches<br />

Gestalten. Die Stadt wirkt vielleicht<br />

deshalb so lebendig, weil sich der<br />

politische Kampf in den Straßen<br />

in Form von „Streetart“ materialisiert?<br />

Vor allem in den zum Teil engen<br />

Gassen der Altstadt, oberhalb<br />

der Straße „Olympiados“, begegnet<br />

uns dies vermehrt.<br />

Die Altstadt: Niederschlag<br />

der Bewegungsgeschichte<br />

Bis ins zwanzigste Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

hinein war die Altstadt<br />

ein türkisches Viertel. Nach dem<br />

Balkankrieg fand 1922 ein Bevölkerungsaustausch<br />

zwischen Griechenland<br />

<strong>und</strong> der Türkei statt,<br />

sodass in der Altstadt viele griechische<br />

Flüchtlinge aus Kleinasien<br />

angesiedelt wurden. Das Viertel<br />

war danach vor allem durch ein<br />

Arbeitermilieu geprägt. Unsere<br />

Reisebegleitung erzählt vom „Viertel<br />

des Widerstands“, während der<br />

Besatzung im 2. Weltkrieg hatten<br />

Menschen hier die Möglichkeit,<br />

10


sich vor staatlichem Zugriff zu<br />

schützen. Im Jahr 1936 war das<br />

Viertel sogar einige Tage lang anlässlich<br />

eines wilden Streiks von<br />

Tabakarbeiter*innen in Arbeiterhand,<br />

bis der bewaffnete Aufstand<br />

blutig niedergeschlagen wurde.<br />

Heute zeugt oberflächlich nichts<br />

mehr davon, es scheint vor allem<br />

eine ruhige Wohngegend zu sein.<br />

Dieser Eindruck wird mit dem Erfahrungsbericht<br />

unserer Reisebegleitung<br />

konfrontiert, als wir an<br />

einem kleinen zerfallenen Haus<br />

mir verwildertem Gr<strong>und</strong>stück vorbeikommen.<br />

In den 1990er Jahren<br />

fanden in der Altstadt erhebliche<br />

Auseinandersetzungen um die<br />

Aufwertung bzw. Instandhaltung<br />

des alten Viertels statt. Unter anderem<br />

durch Hausbesetzungen<br />

wurde versucht, den Charakter des<br />

Viertels zu bewahren <strong>und</strong> stadtteilpolitisch<br />

Einfluss zu nehmen,<br />

doch die Anstrengungen scheiterten.<br />

Viele Häuser wurden abgerissen:<br />

Die Hauseigentümer*innen<br />

investierten mit Hilfe der Stadt in<br />

Neubauten, sodass mehrstöckige<br />

Wohnhäuser entstanden. Nur an<br />

wenigen Stellen ist in den Straßen<br />

zu erkennen, was einmal war. An<br />

allerlei Ecken erinnert sich unsere<br />

Reisebegleitung an ehemalige<br />

Besetzungen, Menschen <strong>und</strong> Erlebnisse.<br />

Bedrückt gehen wir weiter<br />

<strong>und</strong> zeichnen uns ein Bild von<br />

kleinen einstöckigen Bauten, um<br />

die sich bunte Gärten winden.<br />

Ein weiterer bitterer Eindruck<br />

ereilt uns an der Stadtmauer.<br />

An diese hatten griechische Flüchtlinge<br />

nach dem Bevölkerungsaustausch<br />

Häuser gebaut. Seit Jahren<br />

ist nun ein Prozess im Gange, der<br />

alle Bebauung in unmittelbarer<br />

Nähe zur Stadtmauer zu Gunsten<br />

eines tourismusfre<strong>und</strong>licheren Eindrucks<br />

abreißen lässt. Hier bestehen<br />

wohl noch einige individuelle<br />

Besetzungen, um den Abriss zu<br />

verhindern <strong>und</strong> günstig zu leben.<br />

In einzelnen Ruinen umgeben von<br />

Schutt <strong>und</strong> Gestrüpp entdecken wir<br />

eine Besetzung durch Roma. Lange<br />

werden sie hier sicherlich nicht<br />

mehr leben dürfen – in diesen<br />

schrecklichen Ruinen.<br />

Auf Seiten der Stadtmauer<br />

die konkreten Auswirkungen von<br />

ökonomischer <strong>und</strong> <strong>soziale</strong>r Unterdrückung<br />

erkennend, wenden wir<br />

uns nun dem Panorama zu, welches<br />

sich mit Blick aufs Meer über<br />

die Stadt ergibt. Die Sonne scheint,<br />

in kleinen Gr<strong>und</strong>stücken blühen<br />

Blumen, aufgeplatzte Granatäpfel<br />

schimmern in ihrer Reife <strong>und</strong><br />

Straßenkatzen strecken ihre Glieder<br />

genussvoll von sich. Wir gehen<br />

einige Treppen hinab in die Stadt,<br />

vorbei an diesen paradiesischen<br />

(umzäunten!) Gärten <strong>und</strong> beenden<br />

unseren R<strong>und</strong>gang vor dem Gebäude<br />

einer Stadtteilbibliothek, ein<br />

ehemals besetztes Haus, das Ende<br />

der 1990er Jahre geräumt wurde.<br />

Der Stadtr<strong>und</strong>gang hat uns auch<br />

eine Geschichte des Scheiterns <strong>soziale</strong>r<br />

Bewegungen <strong>und</strong> politischen<br />

Kampfes aufgezeigt. Anlässlich der<br />

Eindrücke der nächsten Tage <strong>und</strong><br />

der verheerenden <strong>Krise</strong>nauswirkungen<br />

fragen wir uns: Kann es<br />

noch dringender werden die Veränderung<br />

zu erreichen? Die kommenden<br />

Tage werden zeigen: Der Kampf<br />

geht weiter!<br />

Franzie & Lisa


Als Küstenstadt profitiert Thessaloniki von seinem Hafen.<br />

Heute ist nur noch vereinzelt das ursprüngliche Bild der Altstadt mit ihren kleinen Häusern sichtbar.


Protest an Häuserwänden: Freiheit für Gustavo Quiroga (kolumbianischer Anarchist <strong>und</strong> Hausbesetzer)<br />

Die KNE ist die Jugendorganisation<br />

der kommunistischen Partei KKE


Die Cafés sind voll, die Geschäfte aber sind verlassen – Thessaloniki in der <strong>Krise</strong>.


Gewerkschaftsarbeit<br />

in der <strong>Krise</strong><br />

Besuch im Arbeiterzentrum der GSEE<br />

Panagiotis Tsaraboulidis,<br />

der Leiter des Arbeiterzentrums,<br />

ist ein fre<strong>und</strong>licher, ruhiger Mann.<br />

Als wir unangekündigt auftauchten<br />

<strong>und</strong> um ein Treffen mit ihm<br />

gebeten hatten, hatten wir bereits<br />

am nächsten Tag einen Termin erhalten.<br />

Nun empfängt er uns im<br />

Konferenzsaal im obersten Stock<br />

eines siebengeschossigen Hauses<br />

mitten im Zentrum von Thessaloniki.<br />

Das Arbeiterzentrum ist das<br />

Herzstück der sozialdemokratisch<br />

dominierten Arbeiterbewegung der<br />

Stadt, r<strong>und</strong> 100.000 abhängig Beschäftigte<br />

wurden vor der <strong>Krise</strong> von<br />

hier aus vertreten.<br />

Analyse der <strong>Krise</strong><br />

Zu Beginn unseres Treffens<br />

erhalten wir eine kurze Analyse der<br />

<strong>Krise</strong> in Griechenland aus gewerkschaftlicher<br />

Sicht. Tsaraboulidis<br />

betont, dass der Ausgangspunkt<br />

der <strong>Krise</strong> zu einem Großteil in Griechenland<br />

selbst liege, denn die<br />

Menschen hätten in den vergangenen<br />

20 Jahren versucht, in Sachen<br />

Lebensstandard aufzuholen,<br />

mit der Folge, dass vor allem im<br />

Staatssektor die Beschäftigung mit<br />

Schulden bezahlt worden sei. Auch<br />

sei Geld verschleudert worden <strong>und</strong><br />

Klientelwirtschaft sei mit im Spiel<br />

gewesen. Der öffentliche Sektor<br />

habe einen großen Raum bei der<br />

Beschäftigung eingenommen, die<br />

Privatwirtschaft sei international<br />

kaum konkurrenzfähig <strong>und</strong> zudem<br />

sehr kleinteilig strukturiert, was<br />

die Zahlen eindrücklich zeigen: In<br />

Griechenland existieren bei r<strong>und</strong><br />

10 Millionen Einwohner_innen<br />

knapp 1 Million Unternehmen.<br />

Doch die Probleme in Griechenland<br />

seien nicht über Nacht entstanden,<br />

<strong>und</strong> niemand könne sagen, er habe<br />

die Entwicklung nicht vorausgesehen.<br />

Außerdem sei es logisch, dass<br />

Griechenland zu Schulden genötigt<br />

wurde, um die Importe aus dem<br />

europäischen Ausland (u.a. aus<br />

Deutschland) finanzieren zu können.<br />

Und so sei das, was derzeit<br />

in Griechenland geschehe, historisch<br />

einmalig: Über Nacht sei eine<br />

180°-Wende vollzogen worden, die<br />

Kredite seien gestoppt <strong>und</strong> stattdessen<br />

ein Spardiktat ohne Beispiel<br />

verordnet worden. Keinem<br />

Land der Welt sei in der Vergangenheit<br />

je zuvor eine solche Rosskur<br />

verschrieben worden.<br />

Folgen der <strong>Krise</strong><br />

Die Wirkungen der Sparpolitik,<br />

die Griechenland von der Troika<br />

aufoktroyiert bekommen habe,<br />

seien brutal. Das Land befinde sich<br />

nun das sechste Jahr in Folge in<br />

einer Rezession, insgesamt sei das<br />

Bruttosozialprodukt in dieser Zeit<br />

um 25% gesunken.<br />

Die Folgen zeigten sich vor<br />

allem in einer stark gestiegenen<br />

Arbeitslosenquote, die bisher nicht<br />

gekannte Ausmaße annehme.<br />

Laut offizieller Zahlen betrage die<br />

Arbeitslosigkeit in Griechenland<br />

mittlerweile 30%, unter Jugendlichen<br />

seien es sogar annähernd<br />

70%, also nur ein Drittel der im<br />

Land lebenden jungen Menschen<br />

sei noch in Lohn <strong>und</strong> Brot. Diese<br />

Zahlen seien dabei noch geschönt,<br />

denn wer z.B. nur zwei St<strong>und</strong>en<br />

pro Woche arbeite, gelte gar nicht<br />

als arbeitslos <strong>und</strong> gehe nicht in die<br />

Statistik ein. R<strong>und</strong> 200.000 überwiegend<br />

junge Menschen hätten<br />

15


Das Arbeiterzentrum von außen: Aufruf zum Coca Cola-Boykott<br />

das Land in den letzten Jahren<br />

verlassen. Zusammenfassend könne<br />

man sagen, dass ein Drittel der<br />

Griech_innen arbeite, ein Drittel in<br />

Rente <strong>und</strong> ein Drittel arbeitslos sei,<br />

letztere jedoch nach einem Jahr<br />

Arbeitslosigkeit keinerlei finanzielle<br />

Unterstützung mehr erhalten.<br />

Die politischen Folgen seien<br />

unübersehbar: Griechenland<br />

sei eine „Geisel der Troika“, die<br />

„Task Force Griechenland“ kontrolliere<br />

das Land <strong>und</strong> führe sich auf<br />

wie dessen Verwalter. Immer mehr<br />

Menschen fühlten sich deklassiert,<br />

fremdbestimmt <strong>und</strong> hilflos.<br />

Tsaraboulidis prophezeit, dass es<br />

nach den nächsten Wahlen keine<br />

stabile politische Mehrheit mehr<br />

geben werde. Stattdessen drohe<br />

der Aufstieg der neofaschistischen<br />

„Goldenen Morgenröte“ als eine besorgniserregende<br />

Konsequenz der<br />

<strong>Krise</strong>.<br />

Die Rolle Deutschlands<br />

Als es um die deutsche<br />

Verantwortung an den <strong>Krise</strong>nauswirkungen<br />

geht, bleibt Tsaraboulidis<br />

fre<strong>und</strong>lich, aber bestimmt. Er<br />

kennt Deutschland <strong>und</strong> die Debatte<br />

um „faule Griechen“ aus eigenem<br />

Erleben, denn er war nicht nur als<br />

griechischer Delegierter Gast beim<br />

ver.di-Gründungskongress, sondern<br />

2012 auf Einladung des Bürgermeisters<br />

zu Gast in Detmold,<br />

um über die Situation in Griechenland<br />

zu berichten. Die EU sei keine<br />

wirkliche Union, sondern von der<br />

BRD dominiert. Dabei sei die EU in<br />

erster Linie eine Währungsunion,<br />

von der Deutschland profitiere. Es<br />

müsse einen anderen Blick auf die<br />

Wirtschaftseinheit geben, sonst<br />

16


drohe eine Sackgasse mit fatalen<br />

Folgen, <strong>und</strong> zwar für alle. Auf die<br />

Nachfragen, was er in dieser Situation<br />

von den deutschen Gewerkschaften<br />

erwarte, antwortet Tsaraboulidis<br />

diplomatisch: Er wisse,<br />

dass die deutschen Gewerkschaften<br />

nicht solidarisch in den Streik<br />

treten könnten. Dennoch müssten<br />

sie die Bevölkerung über die falsche<br />

<strong>Krise</strong>npolitik aufklären <strong>und</strong><br />

politischen Druck aufbauen.<br />

Gewerkschaft in der <strong>Krise</strong><br />

Die griechischen Gewerkschaften<br />

waren in der Vergangenheit<br />

eine starke Kraft in der Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> konnten zahlreiche<br />

Errungenschaften durchsetzen.<br />

Doch aufgr<strong>und</strong> der <strong>Krise</strong> befinden<br />

sie sich seit sechs Jahren in einem<br />

Abwehrkampf nach dem nächsten<br />

<strong>und</strong> die Angriffe auf Arbeitnehmer_innenrechte<br />

werden mit einer<br />

Vehemenz geführt, die zuvor unvorstellbar<br />

erschien. Der Kündigungsschutz<br />

wurde genauso außer Kraft<br />

gesetzt wie Tarifverträge. Statt Kollektivrecht<br />

herrscht in vielen Bereichen<br />

nur noch Individualrecht.<br />

Klassische gewerkschaftliche Vertretungsrechte<br />

wie das Einklagen<br />

von Lohn, werden immer weniger<br />

in Anspruch genommen, weil die<br />

Beschäftigten Angst haben, ihren<br />

Job dann ganz zu verlieren. Und<br />

auch ihre stärkste Waffe, nämlich<br />

der Streik, ist stumpf geworden.<br />

An den letzten Generalstreiks – der<br />

36. wurde gerade während unserer<br />

Anwesenheit für den 6. November<br />

2013 geplant – beteiligten sich<br />

auch diejenigen Menschen nicht<br />

mehr, die das Anliegen gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

unterstützen, weil sie sich den<br />

Lohnausfall für einen Tag finanziell<br />

nicht leisten können oder weil<br />

sie in einem eintägigen Streik nur<br />

noch ein hohles Ritual sehen, das<br />

keine Wirkung zeigt.<br />

Die Folgen sind dramatisch:<br />

Die grassierende Arbeitslosigkeit<br />

raubt der Gewerkschaft ihre klassischen<br />

Mitglieder – in den vergangenen<br />

Jahren r<strong>und</strong> ein Drittel.<br />

Durch die faktischen Lohnsenkungen<br />

sinken die Mitgliedsbeiträge,<br />

derzeit kann die Gewerkschaft teilweise<br />

noch nicht einmal mehr ihre<br />

eigenen Beschäftigten bezahlen.<br />

Die Struktur der Aktiven ist überaltert,<br />

weil vor allem die Jugendlichen<br />

von Arbeitslosigkeit <strong>und</strong><br />

Prekariat betroffen sind. Und nicht<br />

zuletzt steckt die Gewerkschaft in<br />

einer Legitimationskrise, weil sie<br />

durch ihre Nähe zur sozialdemokratischen<br />

PASOK selbst mit dem<br />

von vielen als korrupt wahrgenommenen<br />

alten System identifiziert<br />

wird.<br />

Was bleibt?<br />

Am Ende blieb der Eindruck<br />

von Ratlosigkeit. Gewerkschaften<br />

in Griechenland kämpfen nicht nur<br />

gegen den Verlust von Jobs oder<br />

für eine andere Politik, sondern<br />

ums eigene Überleben. Die alte,<br />

an Sozialpartnerschaft <strong>und</strong> starker<br />

Vertretung im öffentlichen Sektor<br />

orientierte Politik erscheint völlig<br />

hilflos angesichts der aktuellen<br />

Verhältnisse. Der Richtungsstreit<br />

innerhalb der Organisation ist voll<br />

entbrannt. Eine Radikalisierung<br />

ist eine mögliche Antwort. So gewann<br />

die kommunistisch orientierte<br />

PAME bei den letzen internen<br />

Gewerkschaftswahlen r<strong>und</strong> ein<br />

Viertel aller Stimmen. Aber auch<br />

nationalistische Töne werden laut,<br />

die beispielsweise mit den für uns<br />

irritierenden antibulgarischen Untertönen<br />

der Boykottkampagne gegen<br />

Coca Cola angestimmt werden.<br />

Der Ausgang ist unklar. Klar ist jedoch,<br />

dass die Organisation in der<br />

griechischen Gesellschaft kaum<br />

eine Zukunft haben wird, wenn<br />

es ihr nicht gelingen sollte, auch<br />

die anerkannte Stimme der Arbeitslosen<br />

<strong>und</strong> der Jugend zu sein.<br />

Doch um die Politik als Ganzes zu<br />

ändern, braucht sie Verbündete<br />

auch <strong>und</strong> gerade in den Ländern<br />

wie Deutschland, die von der <strong>Krise</strong><br />

profitieren. Der Blick vom Dach des<br />

Arbeiterzentrums auf die antiken<br />

Trümmer der Stadt zeigte es sinnbildlich:<br />

Wenn Gewerkschaften in<br />

Europa keine gemeinsamen Strategien<br />

der transnationalen Solidarität<br />

entwickeln <strong>und</strong> damit eine<br />

Antwort auf die Fragen der <strong>Krise</strong><br />

finden, landen sie schneller als sie<br />

denken auf dem Müllhaufen der<br />

Geschichte.<br />

Frank<br />

17


Panagiotis Tsaraboulidis ist Leiter des Arbeiterzentrums in Thessaloniki.<br />

Vom Dach des Arbeiterzentrums kann man die antiken Trümmer der Stadt sehen.


Besuch im<br />

Jüdischen Museum<br />

Das Jüdische Museum in<br />

Thessaloniki befindet sich in der<br />

Agiou Mina-Straße Nr. 13 <strong>und</strong><br />

damit im ehemaligen jüdischen<br />

Viertel der Stadt. Über viele Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

stellte Thessaloniki das<br />

Zentrum des sephardischen Judentums<br />

in Europa dar <strong>und</strong> wurde „das<br />

Jerusalem des Balkans“ genannt.<br />

Der Geschichte <strong>und</strong> dem Schicksal<br />

dieser Jüd*innen hat die Stadt ein<br />

Museum gewidmet, welches 1997<br />

eröffnet wurde <strong>und</strong> im Internet unter<br />

www.jmth.gr zu erreichen ist.<br />

Vorbei an Grabsteinen vom<br />

ehemaligen jüdischen Friedhof<br />

Thessalonikis gibt es im hinteren<br />

Ende des Erdgeschosses die Information,<br />

wo mensch auch Audioguides<br />

im Smartphone-Design<br />

bekommen kann (finanziert vom<br />

deutschen Konsulat). Alle Schautafeln<br />

des Museums sind mit Nummern<br />

versehen, deren Eingabe den<br />

Audioguide loslegen lässt. In der<br />

deutschen Version ist ein Sprecher<br />

mit einem schweizerischen Akzent<br />

zu hören, welcher zwar alle hebräischen<br />

Begriffe fließend ausspricht,<br />

allerdings einige deutsche Wörter<br />

merkwürdig betont. Trotzdem ist<br />

der Stimme angenehm zu lauschen.<br />

Die Ausstellung startet im<br />

ersten Stock mit einer Zeitleiste,<br />

beginnend mit der Gründung der<br />

Stadt 315 v. Chr. <strong>und</strong> dem Entstehen<br />

der jüdischen Gemeinde 140<br />

v. Chr. Seine Bedeutung für die<br />

jüdische Diaspora bekommt Thessaloniki<br />

im ausgehenden 15. Jh.,<br />

als 20.000 spanische Jüd*innen<br />

vor der Inquisition nach Thessaloniki<br />

fliehen <strong>und</strong> sich dort ansiedeln.<br />

Thessaloniki stand damals<br />

unter Osmanischer Herrschaft <strong>und</strong><br />

sollte es bis 1912/13 bleiben. Danach<br />

wurde es „befreit“ <strong>und</strong> Teil<br />

des neuen griechischen Staates.<br />

Deutlich merkt mensch an dieser<br />

Stelle das nationale Narrativ Griechenlands.<br />

Es stellt sich die Frage,<br />

von wem denn Thessaloniki befreit<br />

wurde, wenn es seit über 500 Jahren<br />

Teil des Osmanischen Reiches<br />

war, die jüdische Bevölkerung relativ<br />

autonom in der Verwaltung<br />

ihrer Stadt war, in der sie die absolute<br />

Bevölkerungsmehrheit stellte<br />

<strong>und</strong> außerdem als Gruppe mit dem<br />

höchsten Lebensstandard im Osmanischen<br />

Reich galt.<br />

In Griechenland hingegen<br />

waren die Jüd*innen nun eine<br />

Minderheit in einem sich christlich<br />

definierenden Nationalstaat. Hinzu<br />

kam, dass sich ab 1922 im Zuge<br />

eines Bevölkerungsaustauschs mit<br />

der Türkei r<strong>und</strong> eine Million griechischsprachige<br />

Kleinasier*innen<br />

in Thessaloniki ansiedelten. Damit<br />

wurden die Jüd*innen zu einer<br />

Minderheit in ihrer eigenen Stadt,<br />

was zu vielfältigen <strong>soziale</strong>n Spannungen<br />

führte. Die jüdische Bevölkerung<br />

befand sich zwar quantitativ<br />

in der Minderheit, hatte<br />

aber seit Jahrh<strong>und</strong>erten gefestigte<br />

<strong>soziale</strong>, politische <strong>und</strong> ökonomische<br />

Strukturen. Mit der Eroberung<br />

der Stadt durch die Deutschen im<br />

Jahe 1941 wurden diese Konflikte<br />

endgültig gelöst. Das Schicksal<br />

der griechischen Jüd*innen ist bekannt<br />

– nur wenige überlebten den<br />

deutschen Vernichtungswillen.<br />

Neben der Zeitleiste enthält<br />

der zweite Stock noch vier kleine<br />

19


»Jerusalem des Balkans«<br />

Die jüdische Gemeinde in Thessaloniki bis zur Besatzung 1941<br />

315 v. Chr.<br />

Gründung von Thessaloniki<br />

– benannt nach der Halbschwester Alexanders des Großen: Thessalonikeia<br />

140 v. Chr.<br />

Erste jüdische Siedler*innen aus Alexandria<br />

– „Romaniots Jews“, welche Griechisch sprachen<br />

1376<br />

1423<br />

Ansiedlung einiger mitteleuropäischer Jüd*innen<br />

Ansiedlung einiger norditalienischer Jüd*innen<br />

– Thessaloniki wurde in diesem Jahr an Venedig verkauft<br />

1430<br />

Eroberung der Stadt durch das Osmanische Reich<br />

– Jüd*innen fielen unter islamisches Recht ! als Buchreligion rechtlich<br />

gleichgestellt mit Christ*innen<br />

1492/93<br />

20.000 Jüd*innen aus Spanien siedeln sich an<br />

– Vertreibung der Jüd*innen aus Spanien: Alhambra-Edikt<br />

– sephardische Jüd*innen ! eigene Sprache: Ladino (Judenspanisch)<br />

– Synagogen häufig nach Herkunftsregion benannt, bildeten autonome Gemeinden<br />

1496<br />

1545<br />

1715<br />

1890<br />

1912/13<br />

1917<br />

Portugiesische Jüd*innen siedeln sich ebenfalls an<br />

Feuer zerstört 8.000 Häuser <strong>und</strong> 18 Synagogen im jüdischen Viertel<br />

Italienische jüdische Händler*innen siedeln sich an<br />

Feuer zerstört fast das jüdische Viertel<br />

Balkankrieg ! Thessaloniki wird Teil Griechenlands<br />

Feuer zerstört jüdisches Viertel im Stadtzentrum<br />

– inkl. 34 Synagogen, 11 Schulen<br />

– 53.737 Jüd*innen obdachlos<br />

1922<br />

1931<br />

1940<br />

1941<br />

Bevölkerungsaustausch mit der Türkei: 100.000 Griech*innen aus Kleinasien siedeln<br />

sich an<br />

Anti-jüdische Riots ! 20.000 Jüd*innen gehen v.a. nach Frankreich <strong>und</strong> Palästina<br />

7000 Jüd*innen aus Thessaloniki kämpfen an der albanischen Front gegen Italien<br />

Thessaloniki von Deutschen erobert


Räume. In drei Räumen findet eine<br />

Auseinandersetzung mit der Kultur<br />

der sephardischen Jüd*innen<br />

statt <strong>und</strong> der vierte ist der Besetzung<br />

Thessalonikis durch die<br />

Deutschen <strong>und</strong> dem Schicksal der<br />

damals aus über 50.000 Personen<br />

bestehenden jüdischen Gemeinde<br />

der Stadt gewidmet. Dabei sticht in<br />

diesem Raum vor allem ein Rechner<br />

heraus, auf welchem sich eine<br />

Datenbank mit Namen <strong>und</strong> Schicksalen<br />

der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus<br />

öffnen lässt. Ein<br />

jüdischer Auschwitz-Überlebender<br />

hat 55 Jahre damit verbracht, die<br />

Namen zu recherchieren <strong>und</strong> inzwischen<br />

enthält die Datenbank<br />

die Namen von fast 400.000 Menschen,<br />

darunter 48.000 Namen von<br />

Jüd*innen aus Thessaloniki.<br />

Nicht unerwähnt in den<br />

Räumen bleibt auch die Zionistische<br />

Bewegung in Thessaloniki<br />

Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong><br />

die 12.880 Jüd*innen, welche im<br />

Zweiten Weltkrieg in der griechischen<br />

Armee gedient haben <strong>und</strong><br />

zunächst erfolgreich gegen Italien<br />

<strong>und</strong> später gegen die Wehrmacht<br />

kämpften. Auch spielten die<br />

Jüd*innen Griechenlands eine Rolle<br />

im jüdischen Widerstand in Griechenland<br />

<strong>und</strong> darüber hinaus. So<br />

waren griechische Jüd*innen Teil<br />

des Sonderkommandos, welches<br />

bei einem Aufstand in Auschwitz-<br />

Birkenau 1944 das Krematorium III<br />

sprengen konnte.<br />

Ebenfalls im oberen Geschoss<br />

gibt es einen Bibliotheksraum<br />

mit umfassender Literatur<br />

r<strong>und</strong> um die Thematik Judentum<br />

in Thessaloniki, Griechenland <strong>und</strong><br />

der Shoah. Dort stehen auch Tische<br />

<strong>und</strong> Stühle, allerdings ist die<br />

meiste Literatur auf Griechisch<br />

<strong>und</strong> deswegen wohl den wenigsten<br />

Tourist*innen verständlich.<br />

Im Erdgeschoss befindet<br />

sich das Ende der Ausstellung mit<br />

den schon erwähnten jüdischen<br />

Grabsteinen. Leider fehlt eine Tafel,<br />

welche über das Schicksal des<br />

jüdischen Friedhofs berichtet, von<br />

dem diese Grabsteine stammen.<br />

Schon in den 1930er Jahren gab es<br />

wiederholt Versuche das Gelände<br />

des Friedhofs zu erwerben, um die<br />

nahegelegene Universität auf diesem<br />

Gelände zu erweitern. Unter<br />

der deutschen Besatzung konnte<br />

dies dann 1942 durchgesetzt werden.<br />

Aber anstatt diese zu beleuchten,<br />

werden die Grabsteine vom<br />

Audioguide nur übersetzt, mensch<br />

erfährt also nur, um wessen Grabstein<br />

es sich handelt <strong>und</strong> wie die<br />

Inschrift lautet, jedoch nicht, warum<br />

der Grabstein im Museum steht.<br />

Insgesamt gesehen ist<br />

das Museum recht klein, sodass<br />

mensch es in einer knappen St<strong>und</strong>e<br />

besichtigen kann. Uns verw<strong>und</strong>erte<br />

dies, denn Thessaloniki galt als<br />

das wichtigste Zentrum des sephardischen<br />

Judentums. Möglicherweise<br />

zeigt dies die Wertschätzung für<br />

die Relevanz der Jüd*innen für<br />

die Geschichte des heutigen Griechenlands.<br />

Die Jahrh<strong>und</strong>erte zwischen<br />

antikem Griechenland <strong>und</strong><br />

modernem Nationalstaat scheinen<br />

dafür nicht relevant <strong>und</strong> die Spuren<br />

dieser „Zwischenzeit“, wenn<br />

auch nicht aktiv getilgt, werden<br />

dem Vergessen überlassen. So existiert<br />

heute in Thessaloniki nur<br />

noch eine der ehemaligen Synagogen,<br />

diese ist aber auf den kostenlos<br />

verfügbaren Stadtplänen der<br />

Tourist*innenbüros nicht aufzufinden.<br />

Caro & Thomas<br />

21


Freiheit lernen?!<br />

Schule zur Erlernung der<br />

Freiheit – ein pathetischer Name,<br />

unter dem sich niemand so richtig<br />

etwas vorstellen konnte. Angekommen<br />

erlebten wir einen Ort<br />

voller Menschen <strong>und</strong> voller Leben.<br />

Das Plenum würde erst 20 Uhr beginnen,<br />

wir hatten also noch eine<br />

gute St<strong>und</strong>e Zeit, eigenständig<br />

auf Erk<strong>und</strong>ungstour zu gehen.<br />

Und somit zerstreute sich unsere<br />

Gruppe. Einige gingen direkt zur<br />

gut besuchten Bar, in der die ersten<br />

Verkaufsgüter schon jetzt rar<br />

wurden. Andere gingen in einen<br />

Raum gegenüber, in dem sich ein<br />

kleiner selbstverwalteter Lebensmittelladen<br />

befand. Der Flur lud<br />

mit Plakaten, für uns unlesbaren<br />

Informationsblättern <strong>und</strong> Ausstellungsstücken<br />

eine weitere Gruppe<br />

zum Verweilen ein.<br />

Doch letztendlich zog es<br />

alle auf den Hof der Schule. Dort<br />

hatten Direktvermarkter*innen<br />

kleine Stände aufgebaut <strong>und</strong> verkauften<br />

verschiedenste Produkte:<br />

Obst <strong>und</strong> Gemüse, Wein, Duftöle<br />

<strong>und</strong> Pflegeprodukte, Gewürze, Honig,<br />

Brot <strong>und</strong> noch einiges mehr.<br />

Leute befanden sich miteinander<br />

im Gespräch, H<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Katzen<br />

huschten zwischen den vielen<br />

Beinen umher, die Lampen warfen<br />

ein stimmungsvolles Licht auf<br />

den Nachtmarkt <strong>und</strong> unterstrichen<br />

die behagliche <strong>und</strong> familiäre Stimmung.<br />

Die St<strong>und</strong>e verging<br />

wie im Flug<br />

Im ersten Obergeschoss fanden<br />

wir uns schließlich in einem<br />

kleinen Raum zusammen. Marcos<br />

<strong>und</strong> Andres erzählten uns mehr<br />

über die Schule <strong>und</strong> die dahinter<br />

stehenden Ideen:<br />

Die Schule wurde vor drei<br />

Jahren besetzt. Belebt wird dieses<br />

Projekt von Menschen aus<br />

verschiedenen linken politischen<br />

Richtungen. Jeden Montag findet<br />

ein Plenum statt, bei dem Personen<br />

privat <strong>und</strong> nicht als Delegierte ihrer<br />

Strukturen auftreten. Ziel ist, dass<br />

diesem Netzwerk möglichst viele<br />

Spektren, Strömungen <strong>und</strong> Initiativen<br />

angehören. Die Akteur*innen<br />

handeln nach folgenden, selbst<br />

ausgehandelten Prinzipien:<br />

• keine Wahlen<br />

• Versuch der Hierarchielosigkeit<br />

• Entscheidungen werden im<br />

Konsens getroffen<br />

Die Menschen hier verstehen<br />

den Ort auch als <strong>soziale</strong>s Zentrum.<br />

Dabei versuchen sie zwar<br />

autonom, aber nicht unabhängig<br />

von der Gesellschaft zu agieren.<br />

Sie wollen entlang der Bedürfnisse<br />

der griechischen Bevölkerung<br />

handeln. Um zum Beispiel Lebensmittel<br />

preiswerter anzubieten,<br />

entstand die Idee, Produkte ohne<br />

Zwischenhändler*innen auszutauschen.<br />

Dadurch fingen die Menschen<br />

an, sich mit der Herkunft<br />

<strong>und</strong> den Bestandteilen der Waren,<br />

die sie konsumieren, auseinanderzusetzen.<br />

Nachhaltigkeit spielt somit<br />

eine immer größer werdende<br />

Rolle.<br />

Auf unsere Frage, was man<br />

denn hier in der Schule lernen<br />

könne, reagierten Andres <strong>und</strong> Mar-<br />

22


Näher zusammenrücken: Direktvermarktung auf dem Schulhof<br />

cos mit einem Lachen: „Alles. Beispielsweise<br />

gab es mal einen Kurs<br />

zum Bierbrauen. Man hatte die<br />

Hoffnung, irgendwann eigenes Bier<br />

in der Bar verkaufen zu können.“<br />

Im Prinzip seien sie hier offen für<br />

alles. Wenn jemand eine Idee hat,<br />

kann er oder sie diese hier umsetzen.<br />

So gab es neben einem „Kreatives<br />

Recycling“-Kurs auch Angebote<br />

wie Boxen, Pilates, Tanzunterricht,<br />

die verschiedensten Sprachkurse,<br />

einen Malraum, Instrumentenbau,<br />

einen Proberaum, eine Küche.<br />

Wer aber lehrt in den<br />

Sprachkursen, wenn es<br />

keine Hierarchien geben<br />

soll?<br />

Die Rolle der Lehrenden<br />

wird tatsächlich als schwierig eingeschätzt.<br />

Deswegen wurde sich<br />

auf folgende Methode geeinigt: Wer<br />

eine Sprache beherrscht, kommt<br />

hierher <strong>und</strong> bringt sie Interessierten<br />

bei. Diese können ihr Wissen<br />

dann später an Andere weiter geben.<br />

Es gibt immer wieder den Versuch,<br />

Lehrende auch zu bezahlen.<br />

Jedoch ist das Geld oft knapp. Zusätzlich<br />

zu den Nebenkosten fallen<br />

Gelder zum Beispiel auch für Gerichtsverhandlungen<br />

an. Die einzigen<br />

beiden Einnahmequellen sind<br />

momentan die Bar <strong>und</strong> der Lebensmittelladen.<br />

Wie die Gelder verteilt<br />

werden, entscheiden sie beim Montagsplenum.<br />

Am Anfang erreichte man<br />

mit der Besetzung <strong>und</strong> mit den<br />

Angeboten vor allem Studierende.<br />

Inzwischen bringen sich auch<br />

Leute aus der Nachbarschaft ein.<br />

Der Erstkontakt entsteht häufig<br />

durch die Sprachkurse. Dadurch<br />

kommen Nutzer*innen auch verstärkt<br />

mit den politischen Inhalten<br />

in Kontakt. Im Verlauf kristallisierte<br />

sich heraus, dass sie in der<br />

Schule eine Community mit bestimmten<br />

Werten sind. „Wer diese<br />

Werte nicht vertritt, wird auch auf<br />

Dauer kein Teil dieser Community<br />

werden.“ Für ihr Konzept müssen<br />

sie weiter werben. Es ist auch ein<br />

Kampf gegen Vorurteile gegenüber<br />

Hausbesetzer*innen.<br />

Darüber hinaus sehen sie<br />

sich in der Pflicht, ihr Haus stets<br />

vor einer möglichen polizeilichen<br />

Räumung zu schützen. Ihre Kraft<br />

ist dabei die Zahl der Beteiligten:<br />

„Wir sind viele!“<br />

Dabei bekommen sie auch<br />

Unterstützung von anderen besetzten<br />

Hausprojekten. Die Vernetzung<br />

hier ist sehr gut. Inzwischen gehen<br />

sie auch gemeinsam auf Demonstrationen.<br />

Zuletzt aus Anlass der<br />

Ermordung eines Antifaschisten<br />

durch die Goldene Morgenröte. Sie<br />

kämpfen auch gemeinsam mit den<br />

23


Arbeiter*innen von Vio.Me <strong>und</strong><br />

den Menschen aus Chalkidiki. Es<br />

sind unerwartet gute Beziehungen<br />

zum Radio <strong>und</strong> zum Fernsehen entstanden.<br />

Eine Gruppe aus Köln hat<br />

beispielsweise einen Beitrag über<br />

Faschismus erstellt <strong>und</strong> diesen ausgestrahlt.<br />

Gibt es denn Probleme mit<br />

Faschist*innen hier in der<br />

Schule?<br />

Hier in Thessaloniki sind<br />

Faschist*innen eher in der Minderheit<br />

<strong>und</strong> es kommt kaum zu<br />

Auseinandersetzungen.<br />

Schätzungsweise<br />

alle drei bis vier Monate<br />

werden Rechtsradikale von<br />

Hooligans angegriffen. Allerdings<br />

können die Faschist*innen an den<br />

Stadträndern <strong>und</strong> in der Umgebung<br />

von Thessaloniki eher Fuß fassen.<br />

Jüngst erhielten sie fünf Prozent<br />

bei den Wahlen. Seit Beginn der<br />

<strong>Krise</strong> werden sie vermehrt als <strong>soziale</strong><br />

Bewegung betrachtet. Von denen<br />

gibt es seither viele. Aber der<br />

Unterschied zu linken Bewegungen<br />

liegt auf der Hand: „Die Goldene<br />

Morgenröte sagt: ‚Wir sorgen<br />

für euch‘. Wir aber sagen: ‚Lernt,<br />

euch selbst zu organisieren <strong>und</strong><br />

euch selbst zu helfen!‘“ Prinzipiell<br />

haben die Leute des Hausprojektes<br />

aus der <strong>Krise</strong> gelernt, ihr Leben<br />

eigenständig zu organisieren <strong>und</strong><br />

dass Demokratie nicht bedeutet,<br />

nur alle paar Jahre wählen zu gehen.<br />

Das durch die <strong>Krise</strong> entstandene<br />

politische Vakuum kann von<br />

ihnen gefüllt werden.<br />

Wie kann man mehr über<br />

euch erfahren?<br />

Die Schule zur Erlernung der<br />

Freiheit wird bald auf twitter <strong>und</strong><br />

facebook zu finden sein. Aber kein<br />

<strong>soziale</strong>s Netzwerk kann Gespräche<br />

wie an diesem Abend ersetzen.<br />

Christina & Jenny<br />

24


Egal ob Pilates-, Spanisch- oder Klaviergruppe: jeder Kurs übernimmt mal eine Schicht an der selbstorganisierten Bar.


Vio.Me – eine Fabrik in<br />

ArbeiterInnenhand<br />

„Wenn ihr nicht könnt – wir können!“<br />

Es ist Donnerstag, der vierte<br />

Tag unserer Bildungsreise. Das<br />

Wetter ist w<strong>und</strong>erschön. Bei Sonnenschein<br />

<strong>und</strong> 23°C machen wir<br />

uns auf den Weg in das Industriegebiet<br />

von Thessaloniki. Schon<br />

bei unserer Ankunft ist uns aufgefallen,<br />

dass viele Gebäude leer<br />

stehen <strong>und</strong> ganze Betriebe brachliegen.<br />

Dieser Eindruck bestätigt<br />

sich. Kein W<strong>und</strong>er bei mehr als<br />

30% Erwerbslosigkeit. Doch unser<br />

Weg führt uns in eine Fabrik, die<br />

mit Leben erfüllt ist, auf ein ganz<br />

besonderes Fleckchen Erde in der<br />

großen kapitalistischen Verwertungsmaschine<br />

- Vio.Me.<br />

Was war geschehen?<br />

Vio.Me gehörte zu einem<br />

größeren Firmenkonsortium, der<br />

Johnson-Gruppe. Als die Fabrik<br />

noch in den Händen der „EigentümerInnen“<br />

lag, wurden dort Baustoffe<br />

<strong>und</strong> chemische Reinigungsmittel<br />

hergestellt. Wie uns die<br />

ArbeiterInnen berichteten, unterlagen<br />

sie dauerhafter Aufsicht <strong>und</strong><br />

harten Strafen bei angeblichen Verfehlungen.<br />

Fließbandarbeit, Stress<br />

<strong>und</strong> die Angst, den Arbeitsplatz zu<br />

verlieren, waren bestimmende Momente<br />

in ihrem Arbeitsleben. Wer<br />

einen Fehler gemacht hatte, bekam<br />

eine Abmahnung, beim zweiten<br />

Fehler erfolgte die Kündigung.<br />

Wer eine Toilettenpause brauchte,<br />

musste sich kümmern, dass die<br />

Arbeit von jemand anderem wei-


ter gemacht wurde, die Produktion<br />

musste ja laufen.<br />

Im Zuge der sich ausdehnenden<br />

<strong>Krise</strong> ging es dem Firmenkonsortium<br />

immer schlechter. Nun<br />

wurde Vio.Me herangezogen <strong>und</strong><br />

sollte die Verluste wieder ausgleichen.<br />

Die Produktion wurde auf<br />

Hochtouren gebracht. Die Lager<br />

mussten noch einmal richtig voll<br />

gemacht werden. 14-St<strong>und</strong>en-Tage<br />

waren keine Ausnahme, die Überst<strong>und</strong>en<br />

wurden natürlich nicht<br />

bezahlt.<br />

Dann krachte das ganze<br />

Kartenhaus zusammen <strong>und</strong> Vio.Me<br />

wurde mit in den Strudel gerissen.<br />

Trotz schwarzer Zahlen <strong>und</strong> voller<br />

Auftragsbücher verkündeten die<br />

EigentümerInnen, der Betrieb sei<br />

unrentabel <strong>und</strong> schreibe rote Zahlen<br />

<strong>und</strong> müsse daher geschlossen<br />

werden.<br />

Seit Mai 2011 wurden den<br />

ArbeiterInnen die Löhne nicht<br />

mehr ausbezahlt. Gleichzeitig wurde<br />

ihnen aber auch bekannt, dass<br />

der Betrieb demontiert werden<br />

sollte. Um die Demontage der Produktionsmittel<br />

zu verhindern <strong>und</strong><br />

damit die Zahlung der ausstehenden<br />

Löhne zu erzwingen, besetzten<br />

die ArbeiterInnen die Fabrik. Das<br />

Kapital kam den Lohnforderungen<br />

der ArbeiterInnen nicht nach.<br />

Auch die üblichen Wege – Gerichtsverfahren,<br />

InvestorInnensuche –,<br />

die der Kapitalismus für eine solche<br />

Situation bereit hält, blieben<br />

ohne Erfolg.<br />

So beschlossen die ArbeiterInnen<br />

die Sache in die eigene<br />

„Früher gab es Konkurrenz <strong>und</strong> Streit,<br />

wer denn zu viel Geld bekommt für das,<br />

was er tut <strong>und</strong> wer zu wenig,<br />

<strong>und</strong> der eine hat auf den anderen geschaut.<br />

Aber das ist Geschichte.<br />

Seit wir in unserer Fabrik alle zusammen unser Produkt herstellen<br />

<strong>und</strong> zwar so, wie wir es wollen, <strong>und</strong> es keinen gibt, der über uns steht,<br />

seitdem erkennen wir uns als Fre<strong>und</strong>e.“<br />

Ein Arbeiter von Vio.Me<br />

Hand zu nehmen <strong>und</strong> gründeten<br />

einen ArbeiterInnenrat, um über<br />

das weitere Vorgehen zu beraten.<br />

Sie versuchten Unterstützung für<br />

ihr Anliegen von den etablierten<br />

Organisationen der ArbeiterInnenbewegung<br />

zu erhalten, stießen dabei<br />

aber nur auf Ablehnung. Starke<br />

Unterstützung <strong>und</strong> Solidarität erhielten<br />

sie jedoch von linksradikalen<br />

<strong>und</strong> anarchistischen Gruppen.<br />

Im Zuge dessen beschlossen sie<br />

eine ArbeiterInnenkooperative zu<br />

gründen. Im Februar 2013 dann,<br />

umringt von Solidaritätsaktionen<br />

<strong>und</strong> einer großen Eröffnungsfeier,<br />

nahmen die ArbeiterInnen die Fabrik<br />

wieder in Betrieb.<br />

Sie erarbeiteten einen Plan<br />

<strong>und</strong> legten Folgendes fest:<br />

• zukünftig sollen nur noch nützliche<br />

<strong>und</strong> ökologische Dinge hergestellt<br />

werden, d.h. biologisch<br />

abbaubare Reinigungsmittel wie<br />

Handseife, Waschpulver etc.<br />

• alle sollen das gleiche Geld bekommen,<br />

von der Reinigungskraft<br />

bis zum Elektriker<br />

• jede Entscheidung soll eine Entscheidung<br />

im Konsens sein, sodass<br />

niemand ungehört bleibt<br />

• diese Entscheidungen werden in<br />

der für alle verpflichtenden Generalversammlung<br />

getroffen<br />

Probleme!?<br />

Natürlich stehen die ArbeiterInnen<br />

vor Problemen <strong>und</strong> das<br />

sind keine einfachen. An erster<br />

Stelle steht, dass sie einen legalen<br />

Status bekommen, damit sie<br />

die Produktion ausweiten <strong>und</strong> ihre<br />

Produkte überhaupt legal verkaufen<br />

können. Dabei ist die rechtliche<br />

Situation, d.h. wem die Fabrik<br />

gehört, nach wie vor ungeklärt <strong>und</strong><br />

wird wohl vor Gericht entschieden<br />

werden. Auch ist der derzeitige<br />

Vertrieb ihrer Produkte noch improvisiert<br />

<strong>und</strong> erfolgt über die Läden<br />

in den <strong>soziale</strong>n Zentren <strong>und</strong><br />

besetzten Häusern. Ebenso wird<br />

Vieles im Moment noch mit Spenden<br />

finanziert.<br />

Was bleibt...<br />

… ist ein weiterer Beweis,<br />

dass es auch ohne KapitalistInnen<br />

geht. Wir haben Menschen erlebt,<br />

die die Sache jetzt selbst in die<br />

Hand nehmen <strong>und</strong> am eigenen Leib<br />

erfahren, dass die, die produzieren,<br />

auch die sind, die die Produktion<br />

organisieren können. Wir haben<br />

erlebt, dass die Herausbildung<br />

27


des dafür notwendigen Bewusstseins<br />

ein harter <strong>und</strong> langer Weg<br />

ist, aber dass das Alter dabei keine<br />

Rolle spielt. Wir haben KollegInnen<br />

erlebt, die einen ganz neuen <strong>und</strong><br />

anderen Abschnitt in ihrem Leben<br />

beginnen, die kämpfen <strong>und</strong> etwas<br />

Neues schaffen. Wir haben Menschen<br />

erlebt, die bewusst für ihre<br />

Interessen, für sich <strong>und</strong> ihre Klasse<br />

eintreten.<br />

Ein unvergleichlicher Eindruck<br />

tiefer Verb<strong>und</strong>enheit mit<br />

KollegInnen <strong>und</strong>, ja auch, Genoss-<br />

Innen, die den Kampf aufgenommen<br />

haben, um sich zu wehren <strong>und</strong><br />

ihre Würde wieder zu erlangen. Der<br />

Besuch, wie überhaupt die ganze<br />

Reise, hat tiefe Spuren in uns hinterlassen.<br />

Wir haben Empfindungen<br />

<strong>und</strong> Gefühle mitgenommen, die<br />

uns in unserem Kampf bestärken<br />

<strong>und</strong> uns Mut machen.<br />

Was tun?<br />

Die KollegInnen brauchen<br />

Unterstützung! Ihr Kampf erfordert<br />

Kraft <strong>und</strong> Mut. Das braucht<br />

Solidarität. Also schickt ihnen eure<br />

Solidaritätsbek<strong>und</strong>ung per Brief<br />

<strong>und</strong> Bild oder besucht sie in ihrer<br />

Fabrik. Ebenso wichtig sind aber<br />

auch Spenden, damit das Projekt<br />

leben kann.<br />

Aufklären!<br />

Die wichtigste Aufgabe, die<br />

sie uns mitgegeben haben, heißt<br />

aufzuklären: über die Verhältnisse<br />

in Griechenland, über die Auswirkungen<br />

der <strong>Krise</strong> auf die lohnabhängige<br />

Klasse in Griechenland,<br />

aber auch über den Widerstand,<br />

den sie leisten <strong>und</strong> nicht zuletzt<br />

über die manipulative Berichterstattung<br />

in den hiesigen bürgerlichen<br />

Medien.<br />

Organisieren!<br />

Wir müssen den Widerstand<br />

gegen <strong>Krise</strong> <strong>und</strong> kapitalistische<br />

Zustände auch hier organisieren:<br />

im Betrieb, an Schule <strong>und</strong> Uni, in<br />

unserer Gegend. Wir müssen Partei<br />

ergreifen für unsere KollegInnen<br />

<strong>und</strong> GenossInnen in Griechenland<br />

<strong>und</strong> anderswo. Denn sie schlagen<br />

Griechenland <strong>und</strong> meinen damit<br />

uns alle.<br />

Schreibkollektiv H&S<br />

Die Vio.Me-Fabrik im Internet:<br />

www.viome.org


Übersetzt: „Die Fabrik der Viomichanikí Metallevtikí eröffnet <strong>und</strong> geht in Betrieb in den Händen der Arbeiter.“


Schnapspralinen! Unser Gastgeschenk kommt gut an.


Die „Klinik der Solidarität“<br />

Wir werden durch die Straßen<br />

Thessalonikis geführt, vorbei<br />

an weiteren Sehenswürdigkeiten,<br />

zwischen parkenden Autos, <strong>und</strong><br />

plötzlich heißt es: „Hier sind wir!“<br />

Noch schnell werden einige organisatorische<br />

Fragen für den Abend<br />

geklärt, dann nimmt uns Katharina,<br />

eine Psychologin, die ehrenamtlich<br />

im <strong>soziale</strong>n Krankenhaus<br />

arbeitet, vor der Krankenstation in<br />

Empfang <strong>und</strong> begrüßt uns.<br />

Gemeinsam gehen wir die<br />

Treppen hoch in den ersten Stock<br />

eines eher schmucklosen Baues,<br />

eine Tür geht auf, hinter der reges<br />

Treiben herrscht: Hier befindet sich<br />

die „Klinik der Solidarität“. Einige<br />

Frauen sitzen am Empfang, andere<br />

warten <strong>und</strong> sind im Gespräch. Im<br />

Nebenraum befindet sich die hauseigene<br />

Apotheke, deren Regale bis<br />

unter die Decke mit Medikamenten<br />

gefüllt sind.<br />

Wir dürfen im Wartebereich<br />

Platz nehmen. Oder müssen es –<br />

denn die Behandlungszimmer sind<br />

in Betrieb. Nebenan wird gerade<br />

ein Patient von einer Zahnärztin<br />

versorgt <strong>und</strong> bei vielen von uns<br />

lösen die dazu gehörenden Geräusche<br />

unangenehme Erinnerungen<br />

aus. Kurze Zeit später stellt sich<br />

heraus, dass die Zahnärztin fließend<br />

deutsch spricht <strong>und</strong> mehrere<br />

Jahre in der B<strong>und</strong>esrepublik gelebt<br />

hat.<br />

Nachdem Christina unsere<br />

Gruppe <strong>und</strong> unser Anliegen kurz<br />

vorgestellt hat, bedankt sich Katharina<br />

zuallererst bei uns <strong>und</strong><br />

bekräftigt, dass die Menschen hier<br />

<strong>und</strong> die Aktiven im Krankenhaus<br />

genau diese Unterstützung benötigten.<br />

Es brauche Menschen, die<br />

auch außerhalb Griechenlands berichten<br />

können, was die Sparpolitik<br />

mit den Menschen mache <strong>und</strong><br />

was zu genau dieser Politik geführt<br />

habe.<br />

Flüchtlinge waren<br />

die Ersten...<br />

Dann erzählt sie uns mehr<br />

über die Entstehung des Krankenhauses:<br />

Die Klinik der Solidarität<br />

existiert seit dem 2. November<br />

2011. Damals waren 400 in Griechenland<br />

gestrandete Flüchtlinge<br />

in einen Hungerstreik getreten,<br />

weil sie von der Gesellschaft <strong>und</strong><br />

der öffentlichen Daseinsvorsorge<br />

völlig ausgeschlossen wurden. Dieser<br />

Hungerstreik wurde von Ärzt_<br />

innen begleitet, in denen schnell<br />

der Impuls aufkam, dauerhafte<br />

Unterstützungsstrukturen für diese<br />

Menschen aufzubauen. Sie ergriffen<br />

die Initiative zur Gründung<br />

eines <strong>soziale</strong>n Krankenhauses, in<br />

dem zunächst nur Migrant_innen<br />

ohne Papiere kostenlos versorgt<br />

werden sollten. Doch mit der <strong>Krise</strong><br />

wurde bald klar, dass auch Arbeitslose,<br />

Alte, Obdachlose <strong>und</strong> nicht<br />

versicherte Beschäftigte diese Hilfe<br />

benötigen. Seitdem versucht die<br />

Klinik im Kleinen <strong>und</strong> Konkreten,<br />

die „barbarischen Verbrechen“ zu<br />

lindern, die den Menschen mit der<br />

Politik des Staates <strong>und</strong> der Europäischen<br />

Union angetan werden.<br />

...doch die <strong>Krise</strong> macht<br />

viele krank<br />

Die Auswirkungen der <strong>Krise</strong><br />

sind im Ges<strong>und</strong>heitsbereich besonders<br />

drastisch zu bemerken <strong>und</strong><br />

haben Dimensionen erreicht, die<br />

32


für Viele noch vor 10 Jahren unvorstellbar<br />

waren. Katharina nennt<br />

nüchterne Fakten <strong>und</strong> Zahlen, die<br />

uns dennoch erschüttern:<br />

R<strong>und</strong> ein Drittel der Einwohner_innen<br />

des Landes haben<br />

keine Krankenversicherung mehr.<br />

Alle, die nicht versichert sind,<br />

müssen sämtliche Kosten einer<br />

medizinischen Versorgung selbst<br />

tragen. Selbst diejenigen, die eine<br />

Versicherung haben, müssen oft<br />

die Hälfte dazu bezahlen.<br />

Da die griechischen Krankenkassen<br />

bei den internationalen<br />

Pharmakonzernen Schulden<br />

haben, werden viele Medikamente<br />

nur noch gegen Bargeld herausgegeben.<br />

Für chronisch Kranke, insbesondere<br />

für Krebspatient_innen,<br />

kann dies tödlich sein.<br />

30 Prozent der Kinder sind<br />

nicht mehr geimpft <strong>und</strong> es tauchen<br />

inzwischen wieder Kinderkrankheiten<br />

auf, von denen man bisher<br />

annahm, sie seien in Griechenland<br />

verschw<strong>und</strong>en.<br />

Die Kosten für eine Entbindung<br />

müssen selbst bezahlt<br />

werden. Eine Entbindung kostet<br />

r<strong>und</strong> 900,- Euro. Ein Kaiserschnitt<br />

aktuell 1.500,- Euro. Wer sich diesen<br />

nicht leisten kann, bekommt<br />

keinen. Mütter dürfen ihre Neugeborenen<br />

erst dann aus dem Krankenhaus<br />

mit nach Hause nehmen,<br />

wenn sie das Geld für den Krankenhausaufenthalt<br />

bezahlt haben.<br />

Zahnärztliche Versorgung<br />

findet so gut wie gar nicht mehr<br />

statt. Selbst öffentliche Krankenhäuser<br />

haben zum Teil nicht genug<br />

Geld, um Patient_innen ausreichend<br />

zu versorgen. Hilfesuchende<br />

werden zurückgeschickt <strong>und</strong> sterben<br />

im Ernstfall allein zu Hause.<br />

Politik statt Caritas<br />

Hier in der Klinik versuchen<br />

die r<strong>und</strong> 150 ehrenamtlich arbeitenden<br />

Ärzt_innen die zu ihnen<br />

kommenden Menschen mit dem<br />

Nötigsten zu versorgen. Daneben<br />

unterstützen noch einmal ca. 150<br />

Engagierte in Laboren, Röntgenstationen<br />

oder in der Verwaltung<br />

die Klinik der Solidarität. Darunter<br />

sind sowohl Menschen, die<br />

noch einer regulären Arbeit nachgehen<br />

als auch Aktive, die selbst<br />

erwerbslos <strong>und</strong> zum Teil auch einkommenslos<br />

sind. Entscheidungen<br />

werden in einem Plenum von allen<br />

Engagierten gemeinsam getroffen.<br />

Ohne nach Papieren zu fragen, leisten<br />

sie als Team eine medizinische<br />

Erstversorgung für alle. Manchen<br />

Patient_innen kann jedoch nur in<br />

öffentlichen Krankenhäusern geholfen<br />

werden, die mit ausreichend<br />

33


Technik <strong>und</strong> medizinischen Instrumenten<br />

ausgestattet sind. Einmal<br />

im Monat gehen die ehrenamtlichen<br />

Mediziner_innen mit diesen<br />

Menschen in reguläre Krankenhäuser<br />

<strong>und</strong> fordern sie öffentlichkeitswirksam<br />

auf, diese Patient _innen<br />

kostenfrei zu versorgen. Oft ist dieses<br />

Vorgehen erfolgreich, aber eine<br />

Garantie dafür kann hier niemand<br />

übernehmen.<br />

Die „Klinik der Solidarität“<br />

versteht sich trotz der konkreten<br />

Hilfe, die hier geleistet wird, als<br />

politisches Projekt. Denn den Beteiligten<br />

ist klar, dass hier zwar<br />

Schmerzen gelindert, aber keine<br />

Ursachen bekämpft werden können.<br />

Solidarität muss<br />

praktisch werden<br />

Obwohl alle Aktiven unentgeltlich<br />

arbeiten <strong>und</strong> die Räume<br />

vom gewerkschaftlichen Dachverband<br />

GSEE zur Verfügung gestellt<br />

werden, kostet die Arbeit Geld. Jeden<br />

Monat braucht die „Klinik der<br />

Solidarität“ r<strong>und</strong> 5.000,- Euro für<br />

Material <strong>und</strong> Medikamente. Staatliche<br />

Hilfe lehnen sie ab, um ihre<br />

Unabhängigkeit zu bewahren. Katharina<br />

erzählt uns, dass die „Klinik<br />

der Solidarität“ landesweit bekannt<br />

sei <strong>und</strong> bisher sehr viel Unterstützung<br />

aus ganz Griechenland erfahren<br />

habe. Gewerkschaften, Kollektive<br />

<strong>und</strong> Initiativen organisierten<br />

Solidaritätsaktionen <strong>und</strong> veranstalteten<br />

mehrere Benefizkonzerte,<br />

auf denen Künstler_innen ohne<br />

Gage aufgetreten sind.<br />

Trotz allem ist die Klinik<br />

auch auf die Unterstützung aus<br />

anderen europäischen Ländern angewiesen.<br />

Auch dort gibt es bereits<br />

Solidaritätskampagnen. Der Österreichische<br />

Gewerkschaftsb<strong>und</strong> hat<br />

beispielsweise ein eigenes Spendenkonto<br />

eingerichtet <strong>und</strong> auf<br />

einer von ihm betriebenen Internetseite<br />

gibt es aktuelle Informationen<br />

über die Klinik auf Deutsch<br />

(klinik-der-solidaritaet.at).<br />

Auch jede_r von uns kann<br />

praktische Hilfe leisten. Da Medikamente<br />

nicht ins Ausland verschickt<br />

werden dürfen, werden<br />

neben Geld vor allem Verbrauchsmaterialien<br />

benötigt, etwa Zahnfüllungen,<br />

Watte <strong>und</strong> Mullbinden,<br />

aber auch Babymilch.<br />

Das Wichtigste bei aller Hilfe<br />

ist den Engagierten in der Klinik<br />

aber, dass immer auch die Gründe<br />

für die Entstehung des Krankenhauses<br />

thematisiert werden. Denn<br />

das Problem ist ein System, das<br />

Profite in den Mittelpunkt stellt,<br />

<strong>und</strong> Menschen, die zur Herstellung<br />

der Profite überflüssig geworden<br />

sind, mit ihren Schicksalen allein<br />

lässt.<br />

Frank <strong>und</strong> Jenny<br />

Die Klinik hat eine<br />

deutschsprachige<br />

Unterstützer_innenseite:<br />

www.klinik-der-solidaritaet.at


Im Clinch<br />

mit dem Großkapital<br />

Griechische Gewerkschafter legen sich mit der Coca Cola Hellenic Bottling Company an<br />

„Ah, ihr sprecht Deutsch?<br />

Woher seid ihr?“ – Während wir<br />

am Dienstagabend noch etwas unschlüssig<br />

auf den Beginn der regionalen<br />

Konferenz zur Vorbereitung<br />

des 36. Generalstreiks im Konferenzsaal<br />

des Arbeiterzentrums<br />

warten, spricht uns ein griechischer<br />

Kollege auf Deutsch an <strong>und</strong><br />

will wissen, was uns denn hierher<br />

verschlagen habe. Es ist Omiros<br />

Tachmazidis, der eine Zeit lang in<br />

Deutschland gelebt hat <strong>und</strong> in Thessaloniki<br />

als Journalist arbeitet. Wir<br />

berichten, warum wir hier sind <strong>und</strong><br />

erzählen ihm von unserem Ziel,<br />

uns mit Kollegen der griechischen<br />

Gewerkschaften auszutauschen<br />

<strong>und</strong> etwas über ihre Situation zu<br />

erfahren. Omiros schaltet schnell:<br />

„Wartet mal kurz. Vielleicht kann<br />

ich euch da jemanden vorstellen“,<br />

sagt er <strong>und</strong> eilt zum anderen Ende<br />

der Halle. Er kommt zurück mit<br />

drei Kollegen, die offenbar in den<br />

Streik bei Coca Cola involviert sind,<br />

von dem wir bereits gehört hatten.<br />

Etwas überrumpelt schütteln wir<br />

Hände, lächeln, stellen uns vor –<br />

verstehen aber kein Wort der drei,<br />

Omiros muss dolmetschen. Ob wir<br />

nicht später kurz mit in ihr Büro<br />

kommen wollen, um uns über ihre<br />

Kampagne zu informieren, möchten<br />

sie wissen. Wir sagen zu <strong>und</strong><br />

freuen uns, nun auch einmal mit<br />

Aktiven der gewerkschaftlichen<br />

Basis sprechen zu können. Zum<br />

Treffen mit dem Kollektiv im Mikropolis<br />

müssen wir dann wohl oder<br />

übel später dazu stoßen.<br />

Seit September im Streik<br />

Das Büro der „Autonomen<br />

Demokratischen Arbeiter-Gewerkschaft“,<br />

die in Thessaloniki offenbar<br />

den Streik organisiert, liegt<br />

unweit vom „Arbeiterzentrum“<br />

entfernt. Sie gehört zur P.O.E.E.P.,<br />

zu Deutsch „Griechischer Gewerkschaftsb<strong>und</strong><br />

der Beschäftigten in<br />

der Getränkeindustrie“. Überall<br />

stehen Kartons mit Kampagnenmaterial,<br />

an den Wänden hängen<br />

Fotos, Banner <strong>und</strong> Wimpel anderer<br />

Gewerkschaften. Man hat uns<br />

angekündigt, wir werden herzlich<br />

empfangen <strong>und</strong> mit Getränken versorgt.<br />

Wir treffen Vasilis Artemiou,<br />

der den Streik maßgeblich leitet<br />

<strong>und</strong> der uns in den Besprechungsraum<br />

einlädt, um uns von seiner<br />

Arbeit zu berichten. Er nimmt sich<br />

Zeit <strong>und</strong> ist bemüht, uns das Anliegen<br />

der Kampagne gegen Coca<br />

Cola näher zu bringen. Dabei ist er<br />

locker <strong>und</strong> macht ein paar Scherze,<br />

aber trotzdem ist spürbar: Hier<br />

geht es um etwas, der Mann meint<br />

es ernst.<br />

Seit dem 30. September<br />

2013 sind eine Handvoll Arbeiter<br />

einer Coca Cola-Abfüllanlage im<br />

Norden der Stadt nun im Streik,<br />

weil 24 von ihnen direkt am Arbeitsplatz<br />

mitgeteilt wurde, dass<br />

sie entlassen seien. Das haben sie<br />

nicht hingenommen – auch, weil<br />

das griechische Gesetz eine behördliche<br />

Anerkennung der Entlassungen<br />

fordert, die gar nicht<br />

vorliegt. Parallel zum Streik gibt<br />

es darum auch einen Rechtsstreit<br />

über die Gültigkeit der Kündigun-<br />

36


Daumen hoch für die Kollegen der NGG – Vasilis in seinem Büro<br />

gen. Das Unternehmen hat den Arbeitern<br />

eine Abfindung angeboten,<br />

die sie allerdings abgelehnt haben.<br />

In ihrer Abwesenheit riefen ihre<br />

Chefs darum sogar gezielt bei den<br />

Familien der Arbeiter zu Hause an,<br />

um ihnen die angebotene Abfindung<br />

nahezulegen – eine perfide<br />

Strategie, um sie bis in ihr Privatleben<br />

hinein unter Druck zu setzen<br />

<strong>und</strong> zu verunsichern. Und da sie<br />

für die Auszahlung des einjährigen<br />

Arbeitslosengeldes eine offizielle<br />

Kündigung vorlegen müssten,<br />

bringt sie ihr Rechtsstreit gerade<br />

in eine akut prekäre Situation. Sie<br />

sind alle Mitglied in der Gewerkschaft<br />

<strong>und</strong> haben vor dem Werkstor<br />

einen Streikposten eingerichtet.<br />

Ihr ehemaliger Arbeitgeber organisiert<br />

derweil mit einem Subunternehmen<br />

den Streikbruch. Im Jahr<br />

zuvor gab es bereits 49 Entlassungen<br />

<strong>und</strong> 43 Tage Streik.<br />

Machtkampf mit dem Multi<br />

Über diesen Arbeitskampf<br />

hinaus haben die griechischen<br />

Gewerkschaften auch eine breite<br />

Kampagne gegen die Coca Cola Hellenic<br />

Bottling Company initiiert.<br />

„Nein zur bulgarischen Coca Cola!“,<br />

heißt es auf einem riesigen Plakat,<br />

das wir schon an der Hauswand des<br />

„Arbeiterzentrums“ gesehen hatten.<br />

Was hat es damit auf sich?<br />

Die Coca Cola Hellenic Bottling<br />

Company S.A. (kurz Coca Cola<br />

HBC) ist der weltweit zweitgrößte<br />

Produzent <strong>und</strong> Abfüller von lizensierten<br />

Coca Cola-Produkten. Sie<br />

gehört zu 23% dem US-amerikanischen<br />

Original, der Coca Cola Company.<br />

Die Coca Cola HBC ist in 28<br />

Ländern auf drei Kontinenten aktiv<br />

<strong>und</strong> beschäftigt laut eigenen Angaben<br />

über 38.000 Menschen. Lange<br />

Zeit lag der Führungssitz in Athen<br />

<strong>und</strong> die Coca Cola HBC war dem<br />

Marktwert nach das größte Unternehmen<br />

des Landes. Entsprechend<br />

wichtig waren die gezahlten Steuern<br />

für den griechischen Staat. Allerdings<br />

wurden 95% des Umsatzes<br />

außerhalb von Griechenland generiert.<br />

Im Jahr 2012 wurde der Firmensitz<br />

in die Schweiz verlagert,<br />

laut Konzernangaben nicht zuletzt<br />

wegen der steigenden Steuern. „Die<br />

Verlegung der Firmenzentrale ist<br />

gut, weil das die Gefahren höherer<br />

Steuern oder einer Verstaatlichung<br />

reduziert“, hieß es damals in einem<br />

37


Handelsblatt-Artikel. Klar, dass der<br />

Umzug ein breites Medienecho <strong>und</strong><br />

empörte Reaktionen griechischer<br />

Politiker <strong>und</strong> Arbeitgeberverbände<br />

zur Folge hatte. Dem Geschäftsbericht<br />

der Coca Cola HBC zufolge hat<br />

das Unternehmen 2012 einen Profit<br />

von 190,4 Mio. Euro erwirtschaftet.<br />

Für Griechenland stellt er rückläufigen<br />

Umsatz <strong>und</strong> verschlechterte<br />

Bedingungen für Wirtschaft <strong>und</strong><br />

Handel fest. Vor allem der mögliche<br />

Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone<br />

habe die Kreditwürdigkeit<br />

des Unternehmens belastet.<br />

Im Norden Griechenlands<br />

stehen mehrere Abfüllanlagen der<br />

Coca Cola HBC, ein ganzes Distributionsnetz<br />

hängt daran. Doch<br />

die Produktion soll nun nach Bulgarien<br />

verlagert, das Verteilernetz<br />

zerschlagen <strong>und</strong> durch den öffentlichen<br />

griechischen Transport ersetzt<br />

werden. Das spart Geld. Bulgarien<br />

führt der Geschäftsbericht<br />

von 2012 unter den „Emerging<br />

Markets“ – hier gibt es das größte<br />

Wachstumspotential, die Produktion<br />

ist billiger. Für die griechischen<br />

Angestellten würde das den Verlust<br />

ihrer Arbeitsplätze bedeuten. Zumal<br />

das Unternehmen hier immer<br />

noch schwarze Zahlen schreibt.<br />

Die griechischen Gewerkschaften<br />

machen darum gegen<br />

das transnationale Unternehmen<br />

mobil. Zweifelsohne ein defensiver<br />

Kampf, aber etwas anderes ist<br />

gerade auch kaum möglich. Dem<br />

Großkapital weniger Mobilität <strong>und</strong><br />

den Erhalt von Arbeitsplätzen aufzwingen<br />

zu wollen, ist angesichts<br />

der Situation schon ein kämpferisches<br />

Unterfangen. Für die griechischen<br />

Gewerkschaften steht dabei<br />

einiges auf dem Spiel. An dem Distributionsnetz<br />

der Abfüllanlagen<br />

hängt eine ganze Menge Jobs der<br />

Region. Und wenn sie die verlieren,<br />

sinkt ihre Kampfkraft auch noch<br />

weiter – es ist ein Präzedenzfall. Es<br />

geht ihnen auch nicht darum, dass<br />

es in Bulgarien keine Abfüllanlagen<br />

geben soll, sondern sie fordern<br />

die Möglichkeit, weiterhin ein geregeltes<br />

Einkommen erhalten zu<br />

können. Vor allem der Propaganda<br />

des Unternehmens, mit der es die<br />

Verlagerung der Produktion öffentlich<br />

rechtfertigt, wollen sie etwas<br />

entgegensetzen. Die Abfüllanlagen<br />

arbeiten profitabel, wirtschaftlich<br />

gesehen müsste man also nicht ab-<br />

38


wandern. Dass sich die Coca Cola<br />

HBC zugleich noch als <strong>soziale</strong>s<br />

Unternehmen inszeniert, das für<br />

die Region Sorge trägt, finden die<br />

Gewerkschafter zynisch. Sie haben<br />

darum Kampagnenmaterial drucken<br />

lassen, fahren mit Lautsprechern<br />

durch die Straßen <strong>und</strong> rufen<br />

zum Boykott auf. Die Kampagne<br />

läuft gerade an.<br />

„Wir können ein paar<br />

Autos organisieren!“<br />

Nachdem wir mit Vasilis<br />

über den Streik <strong>und</strong> die Kampagne<br />

gesprochen haben, haben wir<br />

noch viele Fragen. Ob sie Kontakte<br />

zu deutschen Gewerkschaften<br />

haben <strong>und</strong> wie das Verhältnis sei,<br />

wollen wir wissen. Und wie ist ihre<br />

Wahrnehmung der b<strong>und</strong>esdeutschen<br />

Gewerkschaften – haben sie<br />

Kritik an der <strong>Krise</strong>npolitik der DGB-<br />

Gewerkschaften? Wir sollten vor allem<br />

den Lügen über die griechische<br />

Schuldenkrise etwas entgegensetzen,<br />

sagt er. Und natürlich ihren<br />

Streik <strong>und</strong> die Boykott-Kampagne<br />

bekannt machen. Ganz offen antwortet<br />

er wohl nicht. Wie die anderen<br />

Gewerkschafter, die wir treffen,<br />

äußert auch er nur im Unterton<br />

seinen Unmut über die Politik der<br />

deutschen Kollegen – das ist der<br />

erstaunlich kurzen <strong>und</strong> wohlwollenden<br />

Antwort anzumerken. Aber<br />

dass wir nach Thessaloniki gekommen<br />

sind, um Arbeitskämpfe wie<br />

den der Coca Cola-Arbeiter zu unterstützen,<br />

ist ihm natürlich nicht<br />

entgangen. Und darum bietet er<br />

uns an, die Kollegen beim Streik<br />

vor der Abfüllanlage doch einfach<br />

zu besuchen. „Wir können ein paar<br />

Autos organisieren <strong>und</strong> euch hinfahren“,<br />

sagt er. „Das wäre kein<br />

Problem!“ Die kommenden Tage<br />

beratschlagen wir, ob wir das noch<br />

in unserem Zeitplan unterbringen<br />

können. Doch schließlich sagen<br />

wir zu <strong>und</strong> fahren am Freitagmorgen<br />

gespannt zum Streikposten vor<br />

der Abfüllanlage.<br />

Vormittag am Streikposten<br />

Wir wissen gar nicht, wie<br />

viele Menschen in diese Kampagne<br />

eigentlich involviert sind. Aber auf<br />

der Autofahrt zur Abfüllanlage sehen<br />

wir viele Geschäfte <strong>und</strong> Läden,<br />

die sich ein Plakat der Boykottkampagne<br />

ins Fenster gehangen<br />

haben. Viele scheinen den Kampf<br />

der Gewerkschaften gegen den<br />

Multi unterstützen zu wollen.<br />

Vor dem Werk angekommen<br />

treffen wir die r<strong>und</strong> 20 griechischen<br />

Kollegen beim Streikposten.<br />

An der Straße, vor der Zufahrt zur<br />

Anlage, haben sie sich postiert <strong>und</strong><br />

einen kleinen Unterstand mit einigen<br />

Bänken aufgebaut. Den halten<br />

sie 24 St<strong>und</strong>en am Tag besetzt. Wir<br />

begrüßen einander, verständigen<br />

uns mit etwas Englisch oder<br />

eben mit Händen <strong>und</strong> Füßen. Zum<br />

Glück ist Omiros mitgekommen, er<br />

muss wieder übersetzen. Für viele<br />

aus unserer Gruppe ist es der<br />

erste Besuch eines Streikpostens<br />

überhaupt. Und dass ein Haufen<br />

junger Linker aus Deutschland anreist<br />

um sich irgendwie solidarisch<br />

zu zeigen, kommt hier wohl auch<br />

nicht alle Tage vor. Umso interessierter<br />

werden wir empfangen <strong>und</strong><br />

direkt mit T-Shirts <strong>und</strong> Mützen<br />

der P.O.E.E.P. ausgestattet. Vasilis<br />

stellt uns den griechischen Arbeitern<br />

vor <strong>und</strong> berichtet noch einmal<br />

kurz den Stand der Dinge. Er<br />

bedankt sich für die Solidarität,<br />

die Streikenden klatschen. Dann<br />

zeigt er auf die Kameras auf dem<br />

Firmengelände hinter dem Zaun –<br />

wir werden beobachtet. Die Leute<br />

vom Sicherheitsdienst hätten klare<br />

Anweisungen, insgesamt seien<br />

sie aber schon okay, sagt er. Zum<br />

Schluss schießen wir ein Gruppenfoto<br />

<strong>und</strong> die griechischen Kollegen<br />

verteilen Grillspieße, Bier <strong>und</strong> Cola<br />

– seit Beginn des Streiks trinken<br />

die Arbeiter demonstrativ Pepsi<br />

Cola vor der Abfüllanlage.<br />

Am Tag zuvor gab es eine<br />

Pressekonferenz anlässlich des<br />

Kampagnenstarts. Von der hatte<br />

auch der Vertreter der GSEE schon<br />

erzählt. Doch wie erwartet ist die<br />

bürgerliche Presse nicht erschienen.<br />

Mehr als sonst sind sie in<br />

Zeiten wie diesen vom Anzeigengeschäft<br />

abhängig, mit dem Großkapital<br />

will sich keiner anlegen. Aber<br />

SYRIZA <strong>und</strong> die kommunistische<br />

Partei KKE unterstützen den Streik<br />

39


<strong>und</strong> die Kampagne. In einer parlamentarischen<br />

Anfrage hat die KKE<br />

die griechische Regierung gefragt,<br />

was sie in dieser Sache zu unternehmen<br />

gedenke. Coca Cola benutzt<br />

den Rahmen bürgerlicher Gesetzgebung<br />

für den Klassenkampf<br />

von oben <strong>und</strong> bürdet der Bevölkerung<br />

die Lasten der <strong>Krise</strong> auf, heißt<br />

es in der Anfrage. Die streikenden<br />

Arbeiter haben sie ausgedruckt<br />

<strong>und</strong> gemeinsam mit anderen Unterstützungserklärungen<br />

an eine<br />

Info-Wand gehangen. Natürlich ist<br />

ihre Situation nicht einfach, sagen<br />

die meisten im Gespräch. Aber<br />

wehleidig ist hier keiner. Sie sind<br />

guter Dinge <strong>und</strong> unterstützen einander,<br />

der gemeinsame Arbeitskampf<br />

scheint ihnen trotz allem<br />

Kraft zu geben.<br />

R<strong>und</strong> zwei St<strong>und</strong>en verbringen<br />

wir bei den griechischen<br />

Coca Cola-Arbeitern <strong>und</strong> tauschen<br />

uns über ihre Situation aus, fragen<br />

nach ihrer Einschätzung der<br />

Lage, oder machen einfach zusammen<br />

Scherze. Dann müssen wir<br />

los, weiter zum nächsten Treffen.<br />

Was außer T-Shirts <strong>und</strong> anderen<br />

Gewerkschafts-Gimmicks nehmen<br />

wir mit? Zumindest bei einem ihrer<br />

Streiktage konnten wir die streikenden<br />

Arbeiter unterstützen <strong>und</strong><br />

einen Einblick in ihre Situation<br />

bekommen. Die <strong>Krise</strong> in Griechenland<br />

ist nicht für alle Kapitalfraktionen<br />

die selbe: Das Beispiel der<br />

Coca Cola HBC zeigt, wie multinationales<br />

Großkapital die Situation<br />

nutzt, um seine Stellung auf dem<br />

Weltmarkt auszubauen. Und Kollegen<br />

wie die, die wir getroffen haben,<br />

gehören zu jenem Teil der arbeitenden<br />

Klasse, der unter diesen<br />

Politiken <strong>und</strong> den <strong>Krise</strong>n des Kapitals<br />

immer als erstes zu leiden hat.<br />

Macht unsere Arbeit bekannt <strong>und</strong><br />

tut was gegen die Lügen, sagen sie.<br />

Das ist ein Auftrag – auch <strong>und</strong> gerade<br />

für die b<strong>und</strong>esdeutschen DGB-<br />

Gewerkschaften.<br />

John<br />

Weitere Informationen:<br />

• chronico-apergias.blogspot.de<br />

• facebook.com/pages/Coca-cola-apergia/238774946277939<br />

• twitter.com/cocacolastrike<br />

40


Geschenkübergabe am Streikposten


Die streikenden Arbeiter haben ihren Unterstand mit Kampagnenmaterial dekoriert.


Im Gespräch mit Omiros<br />

Das Tor der Abfüllanlage


Zu Gast bei ERT3<br />

„We are freedom TV“<br />

Beim Betreten des Studios<br />

scheint alles normal. Die Journalist_innen<br />

begrüßen uns fre<strong>und</strong>lich<br />

<strong>und</strong> die Abendnachrichten<br />

werden vorbereitet. Wären da nicht<br />

die Transparente an der Außenwand<br />

<strong>und</strong> die zahlreichen eingeschickten<br />

Kinderzeichnungen<br />

– nichts würde darauf hindeuten,<br />

dass dieser Sender besetzt ist.<br />

400 Mitarbeiter_innen des<br />

staatlichen lokalen Fernsehsenders<br />

ERT3 in Thessaloniki bekamen am<br />

11. Juni 2013 einen Brief mit ihrer<br />

Kündigung. Über Nacht sah sich<br />

die gesamte Belegschaft mit der<br />

Arbeitslosigkeit konfrontiert, in<br />

dem überregionalen Muttersender<br />

ERT traf es insgesamt 2.600 Mitarbeiter_innen.<br />

Ohne Ankündigung<br />

wurde der Sender geschlossen.<br />

Der Bildschirm auf dem Kanal<br />

wurde schwarz, doch die Journalist_innen<br />

beschlossen weiter zu<br />

produzieren <strong>und</strong> die Sendungen via<br />

Internet zu verbreiten. Aus Angestellten<br />

des Staates wurden Besetzer_innen,<br />

die Unterstützung der<br />

Bevölkerung hatten sie auf ihrer<br />

Seite. Eine Menschenmasse versammelte<br />

sich am Tag der Schließung<br />

vor dem Sender <strong>und</strong> demonstrierte<br />

spontan gegen die Schließung von<br />

ERT3. Das kam auch für die Journalist_innen<br />

überraschend, denn<br />

trotz des Widerstands gegen inhaltliche<br />

Eingriffe in das Programm<br />

seitens der Regierung galt ERT<br />

nicht unbedingt als regierungskritisch.<br />

In der Gesprächsr<strong>und</strong>e mit<br />

fünf der betroffenen Journalist_innen<br />

<strong>und</strong> dem Nachrichtensprecher<br />

Alexander Triantafylidi entwickelt<br />

sich schnell eine emotionale<br />

Stimmung. Auch wenn die Arbeit<br />

weitergeht, „es verändert uns als<br />

Menschen“, erklärt Triantafylidi,<br />

der durch seine Bekanntheit auch<br />

Jobchancen bei anderen Fernsehsendern<br />

hätte. „Es ist doch Wahnsinn,<br />

was hier passiert! In einer<br />

Situation wie dieser hat man zwei<br />

Möglichkeiten: Jammern oder<br />

Kämpfen. Wir haben uns für das<br />

Kämpfen entschieden. Wir haben<br />

nichts mehr <strong>und</strong> möchten unser<br />

Leben <strong>und</strong> unseren Stolz zurück!“,<br />

ergänzt seine Kollegin Penny Tompri.<br />

„Es ist keine Besetzung,<br />

sondern <strong>Selbstorganisation</strong>. Es ist<br />

unser Zuhause!“ Während er diese<br />

Worte ausspricht, muss Triantafylidi<br />

um Fassung ringen.<br />

Diese Erfahrung schlägt<br />

sich in der Berichterstattung nieder,<br />

sie wurde kritischer. Innerhalb<br />

der viermonatigen Besetzung stieg<br />

die Zahl der Onlinezuschauer_innen<br />

auf 25 Millionen, eine Quote<br />

der Utopie zu offiziellen Tagen.<br />

ERT3 wurde seit der Besetzung zum<br />

Sprachrohr derjenigen, die unter<br />

dem Troika-Diktat <strong>und</strong> den Maßnahmen<br />

der griechischen Regierung<br />

leiden – die Bevölkerung.<br />

Dennoch verließ zwei Monate<br />

nach der Schließung die Hälfte<br />

der Besetzer_innen ERT3 <strong>und</strong><br />

nahm das Angebot an, bei dem neu<br />

aufgebauten staatlichen Sender<br />

NERIT anzufangen. 125 Millionen<br />

Euro investiert die Regierung für<br />

45


Der Protest gegen die Schließung <strong>und</strong> Entlassungen wird bereits außerhalb der ERT3-Studios deutlich.<br />

NERIT, eine Summe, die die Mitarbeiter_innen<br />

vermuten lässt, dass<br />

die Schließung von ERT nicht aus<br />

finanziellen Gründen geschah, sondern<br />

um stärkere Kontrolle über die<br />

Inhalte zu erlangen. Für die übergewechselten<br />

Journalist_innen<br />

bedeutet die Anstellung bei NERIT<br />

weniger Lohn <strong>und</strong> weniger Freiheit<br />

in der Berichterstattung, doch die<br />

existenziellen Nöte siegten über<br />

den Idealismus. In Griechenland<br />

gibt es nur 18 Monate Arbeitslosengeld,<br />

eine Gesetzesänderung<br />

seit den EU-Troika-Diktaten. Wie<br />

dramatisch die Lage ist, zeigt der<br />

Selbstmord einer Mitarbeiterin<br />

kurz nach der Zwangsschließung.<br />

Nur ein Fall von 4.000 gemeldeten<br />

Suiziden seit Beginn der sogenannten<br />

<strong>Krise</strong>.<br />

Es hat einen Bruch in der<br />

Belegschaft gegeben, die übrig Gebliebenen<br />

sind jedoch nicht weniger<br />

kampfbereit. Sie wissen nicht<br />

worauf sie hoffen sollen, denn die<br />

Neuschaffung des neuen staatlichen<br />

Senders NERIT hat bereits<br />

begonnen. Die Journalist_innen<br />

nutzten ihre weitere Ausstrahlung<br />

auch um mit allen Parteivorsitzenden<br />

zu sprechen, „außer mit der<br />

Goldenen Morgenröte“, bekräftigt<br />

Penny Tompri. Sie überzeugten die<br />

Oppositionsparteien, nicht für NE-<br />

RIT zur Verfügung zu stehen, <strong>und</strong><br />

sind damit der einzige Fernsehsender,<br />

der alle Parteien interviewt.<br />

Während die privaten Sender<br />

türkische Seifenopern in Dauerschleife<br />

zeigen <strong>und</strong> der neue öffentlich-rechtliche<br />

Sender starker<br />

Zensur unterworfen ist, ist ERT3<br />

die einzige regionale Informationsquelle<br />

für die Bevölkerung. Bevölkerung<br />

<strong>und</strong> ERT3 Mitarbeiter_innen<br />

brauchen sich gegenseitig.<br />

Und so werden die Journalist_innen<br />

nicht müde auf ihre Situation<br />

aufmerksam zu machen.<br />

Wir begleiten sie zu einem<br />

Proteststand vor dem Filmfestival<br />

in Thessaloniki, bei dem sie im vergangenen<br />

Jahr selbst noch live be-<br />

46


ichteten. Nun stehen sie draußen<br />

<strong>und</strong> versuchen die Besucher_innen<br />

darauf hinzuweisen, dass sie noch<br />

da sind <strong>und</strong> arbeiten. Denn leider<br />

erreicht der Broadcast lediglich<br />

die jüngeren Zuschauer_innen. Sie<br />

sprechen mit allen interessierten<br />

Passant_innen, <strong>und</strong> wenn man ihre<br />

Situation kennt, überrascht ihre<br />

positive Energie.<br />

Sie stehen im Visier der Regierung,<br />

sie müssen jederzeit mit<br />

einer Räumung <strong>und</strong> Festnahme<br />

rechnen. Der Kampf gegen die Ungerechtigkeiten<br />

ist weiterhin das,<br />

was die Journalist_innen antreibt.<br />

Seit der Besetzung sind sie Teil eines<br />

großen Aktivist_innennetzwerkes<br />

in Griechenland <strong>und</strong> sie freuen<br />

sich über jede Unterstützung aus<br />

dem Ausland. „Die Freiheit, die wir<br />

hier erfahren, wird uns ein Leben<br />

lang prägen, <strong>und</strong> das können sie<br />

uns nicht nehmen. Es verändert<br />

uns als Menschen.“ sind die letzten<br />

Worte von Alexander Triantafylidi,<br />

bevor wir das Studio verlassen.<br />

Nur eine Woche nach unserem<br />

Besuch räumten am 7. November<br />

Polizeikräfte den Muttersender<br />

ERT in Athen.<br />

Katja<br />

Selbstmord einer<br />

ERT3-Mitarbeiterin:<br />

http://www.keeptalkinggreece.<br />

com/2013/10/10/thessalonikif<br />

ired-er t-employee-jumps-todeath/<br />

Weitere Informationen:<br />

www.ert.gr<br />

Die Besetzer_innen öffnen das ERT3 Studio interssierten Gästen.


Die Besetzer_innen schildern ihre Situation im Nachrichtenstudio.<br />

Alexander Triantafylidi mit den Bürger_innen im Gespräch am ERT 3 Informationsstand in Thessalonikis Innenstadt.


S.O.S. %&'()*)(+ –<br />

S.O.S. Chalkidiki!<br />

Goldabbau stoppen, Repression bekämpfen!<br />

Es ist Samstag <strong>und</strong> wir sitzen<br />

in einem Café im Dorf Megali Panagia.<br />

Die Leute tragen schwarze Kapuzenpullis,<br />

auf denen mit weißen<br />

Buchstaben "#$#"#% &'()*+*),<br />

steht <strong>und</strong> noch einige Worte mehr.<br />

Was soll das denn heißen...?<br />

An den vorangegangen Tagen<br />

haben wir schon ein wenig<br />

über Halkidiki gehört. Halkidiki<br />

ist eine Halbinsel auf dem griechischen<br />

Festland, knapp 100<br />

km von Thessaloniki entfernt.<br />

Berühmt <strong>und</strong> beliebt ist die Region<br />

bei Bewohner*innen <strong>und</strong><br />

Tourist*innen für seine unvergleichliche<br />

Landschaft aus Wäldern<br />

<strong>und</strong> Bergen, Meer <strong>und</strong> Stränden,<br />

mit denen auf zahlreichen<br />

Postkarten für dieses Urlaubsziel<br />

geworben wird. Doch nun gefährdet<br />

der geplante Goldabbau die<br />

gesamte Gegend. Dagegen protestierende<br />

Aktivist*innen <strong>und</strong><br />

Umweltschützer*innen werden<br />

mit massiven staatlichen Repressionswellen<br />

drangsaliert. Chalkidiki<br />

scheint so etwas wie „das griechische<br />

Wendland“ zu sein. Eine konkrete<br />

Vorstellung, was das bedeutet,<br />

haben wir jedoch noch nicht.<br />

Das Gold geht –<br />

Zerstörung bleibt<br />

Im Dorf Megali Panagia treffen<br />

wir Irini [Name geändert]. Sie<br />

engagiert sich in der Kampagne<br />

S.O.S. CHALKIDIKI. Megali Panagia<br />

Wem gehört das Gold?<br />

ist eines von 14 Dörfern der Gemeinde<br />

Aristoteles, das vom schleichend<br />

vorangetriebenen Goldabbau<br />

der Region Skouries betroffen ist.<br />

Ein Berg ist die Szenerie für eine<br />

perfide Umgangsweise mit Mensch,<br />

Tier <strong>und</strong> Natur; er liegt nur 3 km<br />

vom Dorf entfernt in einer bewaldeten<br />

Region. Metallische Bodenschätze<br />

sind hier reichlich vorhanden<br />

(Zink, Blei, Mangan, Kupfer,<br />

Silber <strong>und</strong> eben Gold), was die Region<br />

schon zur Zeit Alexanders des<br />

Großen im 4. Jahrh<strong>und</strong>ert v.u.Z.<br />

1995 übernahm die Firma TVX Hellas die Schürfrechte der Region. Ihr Ziel war<br />

der Abbau von Gold in großem Stil, doch nicht zuletzt aufgr<strong>und</strong> des Widerstands<br />

der Bevölkerung zog sich die Firma zurück <strong>und</strong> ging 2003 pleite – die<br />

Überbleibsel wurden vom Staat einkassiert. Ohne öffentliche Ausschreibung<br />

verkaufte dieser die Schürfrechte an den Kassandra-Minen in nur einer einzigen<br />

Nacht der Firma Hellas Gold zum lächerlichen Preis von 11 Millionen Euro. Hellas<br />

Gold gehört zu 95% dem kanadischen Goldförderer Eldorado Gold <strong>und</strong> zu 5%<br />

der griechischen Baufirma Ellaktor, die dem einflussreichen Clan um Medien<strong>und</strong><br />

Baumogul Georgios Bobolas gehört. Seit der Genehmigung des Goldabbaus<br />

durch das griechische Umweltministerium im Jahr 2011 stieg der Marktwert des<br />

Unternehmens auf satte 2,2 Milliarden Euro. Führend bei diesem Geschäft war<br />

Christos Pachtas, der ehemalige Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Finanzen der sozialdemokratischen PASOK <strong>und</strong> heutige Oberbürgermeister<br />

der Gemeinde Aristoteles. Er gilt als einer der vehementesten Befürworter<br />

des Goldabbaus in der Region. Ein Schelm, wer hier an Korruption denkt.<br />

Lesenswerter Artikel: „Land in Flammen“ von Alexandros Stefanidis <strong>und</strong> Ferry<br />

Batzoglou, SZ Magazin 15/2013: http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/<br />

anzeigen/39803/Land-in-Flammen<br />

49


zu einer Bergbauregion machte.<br />

Bisher spielte die griechische Goldförderung<br />

innerhalb Europas nur<br />

eine geringe Rolle. Doch was nach<br />

Jahrh<strong>und</strong>erten des Goldschürfens<br />

in Minen jetzt geplant ist, erreicht<br />

eine völlig neue Dimension: Ab sofort<br />

soll der Goldabbau nicht mehr<br />

nur in Minen, sondern auch über<br />

Tage unter massivem Einsatz von<br />

Chemie erfolgen. Der Goldminenbetreiber<br />

Hellas Gold möchte Griechenland<br />

bis 2015 zum größten<br />

Goldproduzenten Europas werden<br />

lassen. Allein in der Region Skouries<br />

soll die Tagebaumine einen<br />

Durchmesser von 700 Metern, eine<br />

Tiefe von 200 Metern <strong>und</strong> unter<br />

Tage sogar 770 Meter Tiefe haben.<br />

Um Gold zu finden, werden hier 150<br />

Millionen Tonnen Erde ausgehoben.<br />

In einer Tonne Erdaushub steckt weniger<br />

als 1 Gramm Gold! Der erwartete<br />

Gewinn aus den vorhandenen<br />

Goldvorkommen wird auf 15 bis 20<br />

Milliarden Euro geschätzt.<br />

Um Gold überhaupt aus dem<br />

Gestein herauslösen zu können,<br />

ist viel Wasser <strong>und</strong> Chemie nötig.<br />

Hellas Gold behauptet, dass das<br />

Gold mit einem umweltfre<strong>und</strong>lichen<br />

Schwebeschmelzverfahren<br />

gewonnen werden wird, für das kein<br />

Zyanid notwendig ist. Dabei handelt<br />

es sich allerdings um ein Verfahren,<br />

das für die Goldgewinnung<br />

noch gar nicht erprobt wurde. Der<br />

toxische Schlamm <strong>und</strong> Müll (u.a.<br />

Arsen, Zyanid, Quecksilber), der<br />

bei der Auswaschung in den bisher<br />

üblichen Verfahren ensteht, muss<br />

danach irgendwo entsorgt werden.<br />

Die Aktivist*innen gehen davon<br />

aus, dass der Giftschlamm einfach<br />

in den angrenzenden Tälern in einem<br />

Staubecken gelagert werden<br />

soll. Ob sich die Betreiber*innen<br />

auch daran erinnern, dass im Jahr<br />

2000 in Rumänien genau so ein<br />

Damm einer Golderz-Aufbereitungsanlage<br />

brach, dabei Unmengen<br />

von Giften <strong>und</strong> Schwermetallschlamm<br />

in angrenzende Flüsse<br />

<strong>und</strong> schließlich in die Donau gelangten<br />

<strong>und</strong> damit eine riesige<br />

Umweltkatastrophe verursachten?<br />

Hellas Gold lässt bereits fleißig bauen;<br />

in zwei angrenzenden Dörfern<br />

gibt es mittlerweile Niederlassungen<br />

<strong>und</strong> einen Fuhrpark – schließlich<br />

soll hier auf dem (ehemals)<br />

bewaldeten Berg eine Fläche von<br />

31.700 Hektar (317 km²) ganz dem<br />

Profit mit dem Gold-Tagebau dienen.<br />

Was den Anwohner*innen längst<br />

klar ist, stößt bei Politiker*innen<br />

auf taube Ohren: Die vorhersehbaren<br />

Risiken für die Umwelt sind<br />

weitaus größer als die Vorteile, die<br />

der Tagebau angeblich für die Wirtschaft<br />

der Region bieten soll.<br />

Der Widerstand beginnt<br />

Diese Entwicklungen blieben<br />

<strong>und</strong> bleiben nicht ohne Protest.<br />

Der Widerstand in der betroffenen<br />

Gemeinde Aristoteles begann 2006,<br />

als Hellas Gold den Antrag auf offenen<br />

Tagebau stellte. Engagierte<br />

Dorfbewohner*innen gründeten<br />

eine erste Bürgerinitiative, die “Initiative<br />

gegen Ges<strong>und</strong>heitsschädlichkeit”,<br />

verbreiteten die Nachricht<br />

der Gründung <strong>und</strong> hielten<br />

50


Der geplante Gold-Tagebau...<br />

...schädigt das Wasser:<br />

• Senkung des Meeresspiegel um 600m, weil enorme Wassermengen zur<br />

Auswaschung von Gold verbraucht werden<br />

• Vergiftung von Landflächen <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>wasser durch Schwermetalle<br />

• Überschwemmungsgefahr steigt<br />

• Gefahr der Versalzung des Gr<strong>und</strong>wassers<br />

• Wasserverschwendung, im größten Wasserspeichergebiet Halkidikis<br />

...schädigt die Wälder:<br />

• jahrh<strong>und</strong>ertealte Wälder <strong>und</strong> Ökosysteme werden irreversibel zerstört<br />

...schädigt den Boden:<br />

• Schwermetalle im Wasser vergiften Boden, (Nutz-)Pflanzen <strong>und</strong> Tiere in<br />

einem weiten Umkreis r<strong>und</strong> um die Mine<br />

...schädigt die Luft:<br />

• Luftverschmutzung durch winzige Partikel <strong>und</strong> Schwermetalle, v.a. Arsen<br />

• Minen produzieren Giftstaub, der sich über kilometerlange Strecken mit<br />

der Luft verbreitet<br />

...schädigt die Ges<strong>und</strong>heit:<br />

• Schwermetalle gelangen über den Boden, die Luft <strong>und</strong> das Wasser in den<br />

Nahrungskreislauf<br />

• verursachen Krankheiten wie Krebs, Beeinflussung des Nervensystems,<br />

Nieren- <strong>und</strong> Leberversagen, Anämie, Magen-Darm-Entzündungen usw.<br />

In den Kassandra-Minen wurden seit der Antike in 2400 Jahren 33 Millionen<br />

Tonnen Gold gefördert. Innerhalb der nächsten 25 Jahre sollen 380 Millionen<br />

Tonnen abgebaut werden.<br />

eine erste öffentliche Großdemonstration<br />

mit 800 Teilnehmenden ab.<br />

In ihrem „Nein!“ zum Goldabbau<br />

sind sich die Dorfbewohner*innen<br />

einig. Selbst die Bergbauarbeiter<br />

wissen mittlerweile um die Risiken:<br />

der Goldabbau zerstört nicht nur<br />

massiv die Umwelt, sondern führt<br />

bei den Minenarbeitern zu schwerwiegenden<br />

Ges<strong>und</strong>heitsproblemen,<br />

Lungenkrankheiten, Arbeitsunfällen.<br />

Angeblich liegen in jedem<br />

Haus Sauerstoffflaschen, weil der<br />

Abbau so ges<strong>und</strong>heitsschädlich<br />

ist. Die durchschnittliche Lebenserwartung<br />

eines Minenarbeiters<br />

liegt bei 56 Jahren. Irini bringt<br />

es auf den Punkt: „Es reicht!“<br />

Von hier aus verbreitete sich der<br />

Widerstand in ganz Griechenland,<br />

es gab K<strong>und</strong>gebungen, Infoveranstaltungen<br />

<strong>und</strong> Demonstrationen.<br />

Außerdem gründete sich in den<br />

Dörfern r<strong>und</strong> um das geplante Goldabbaugebiet<br />

in Halkidiki ein Kampfkommittee.<br />

Die Organisierung läuft<br />

gleichberechtigt, mit einer horizontalen<br />

Entscheidungsfindung.<br />

Diese gut organisierten Dorfbewohner*innen<br />

verhinderten<br />

2009 mit ihrem Protest die Versuche<br />

der Baufirma, erste Erdbohrungen<br />

auf dem Berg vorzunehmen. Von<br />

da an wurden sowohl die Fahrzeuge<br />

als auch der Wald jeden Tag r<strong>und</strong><br />

um die Uhr von den Aktivist*innen<br />

bewacht. Dazu errichteten sie ein<br />

Zeltcamp <strong>und</strong> bauten eine feste<br />

51


Schutzhütte. Neben Protesten fanden<br />

wöchentliche Vollversammlungen<br />

statt <strong>und</strong> <strong>Selbstorganisation</strong><br />

<strong>und</strong> Netzwerkebilden waren an der<br />

Tagesordnung. Zu dieser Zeit führten<br />

noch schmale Waldwege auf<br />

den Berg, von Abholzung, Straßen<br />

<strong>und</strong> Baufahrzeugen keine Spur.<br />

„Wir dachten, es würde nie klappen,<br />

dass hier gebaut wird.“<br />

Im Frühjahr 2013 brach der<br />

Protest erneut los: Es gab nächtliche<br />

Angriffe auf die Baustelle,<br />

Baufahrzeuge brannten ab <strong>und</strong><br />

es kam zu schweren Auseinandersetzungen<br />

zwischen Bergarbeitern<br />

von Hellas Gold <strong>und</strong> den<br />

Aktivist*innen, bei denen Menschen<br />

verletzt <strong>und</strong> die Schutzhütte<br />

der Aktivist*innen zerstört wurde.<br />

In den folgenden Tagen <strong>und</strong> Wochen<br />

wurde das Bürgermeisteramt<br />

im Dorf Ierissos besetzt, es gab weitere<br />

Demos hinauf zum Berg <strong>und</strong><br />

erste Kämpfe mit der Polizei. Der<br />

Versuch der Aktivist*innen, den<br />

Berg wieder zu erlangen, wurde<br />

mit Tränengas <strong>und</strong> Blendgeschossen<br />

niedergeschlagen. Seit diesen<br />

Konfrontationen im Frühjahr 2013<br />

forciert Hellas Gold seine Bauvorhaben<br />

<strong>und</strong> die Arbeiter haben den<br />

Berg fest im Griff.<br />

All die Angriffe blieben<br />

nicht ohne Folgen. Sie dienten als<br />

Vorwand, um die Menschen der<br />

gesamten Region als terroristisch<br />

einzustufen <strong>und</strong> eine Repressionswelle<br />

loszubrechen: unzählige<br />

DNA-Proben, zahlreiche Festnahmen<br />

<strong>und</strong> Anklagen wegen Gründung<br />

oder Mitgliedschaft in einer<br />

terroristischen Vereinigung, wegen<br />

Beteiligung an Demonstrationen<br />

usw. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt<br />

es in der Summe 218 Anklagen <strong>und</strong><br />

vier Menschen sitzen in Untersuchungshaft.<br />

Ein W<strong>und</strong>er, wenn hier<br />

noch jemand den Überblick über<br />

das Klagenaufkommen <strong>und</strong> die<br />

Kosten behält. Und trotzdem den<br />

Mut <strong>und</strong> die Kraft hat, weiterzukämpfen.<br />

Auf dem Berg<br />

Nach dem Gespräch mit Irini<br />

sind wir bewegt <strong>und</strong> beeindruckt,<br />

aber auch nervös, als es heißt,<br />

dass wir gleich auf den Berg fahren<br />

werden, um uns selbst ein Bild<br />

der Situation vor Ort zu machen.<br />

Nervös, weil nicht klar ist, wer oder<br />

was uns dort erwartet. Wird es Polizeikon-trollen<br />

geben? Haben wir<br />

alle einen Ausweis dabei? Werden<br />

sie uns überhaupt durch das Gebiet<br />

gehen lassen? Auf der Fahrt<br />

Ende Gelände. Zutritt verboten auf dem pivatisierten Wald von Hellas Gold


Der Goldabbau spaltet eine ganze Region<br />

Bei so viel Protest stellt sich die Frage, wer eigentlich in den Minen arbeitet. Die<br />

Bergarbeiter kommen ebenfalls aus der Region, aus angrenzenden Dörfern <strong>und</strong><br />

Städten, denn der Konzern schafft Arbeitsplätze, über die die Bewohner*innen<br />

in Zeiten der <strong>Krise</strong> froh sind. Derzeit sind es 1.200, 5.000 sollen es einmal werden.<br />

Darauf verweisen die Befürworter*innen in Politik <strong>und</strong> Gewerkschaft.<br />

Andererseits arbeiten sie für einen Konzern, der trotz beteuernder Worte, die<br />

Region wieder aufforsten zu wollen, systematisch ihr Lebensumfeld zerstören<br />

<strong>und</strong> ihre eigene Ges<strong>und</strong>heit gefährden wird. Der Bergbau lässt sich so nur<br />

schwer mit den bestehenden Wirtschaftszweigen in Einklang bringen, die auf<br />

der Halbinsel Halkidiki verankert sind: Tourismus, Imkerei, Agrar- <strong>und</strong> Forstwirtschaft,<br />

Tierhaltung, Lebensmittelherstellung, Fischerei. Wenn der Tagebau<br />

die Umwelt nachhaltig zerstört, sind diese Zweige existenziell gefährdet.<br />

Und so spaltet die Auseinandersetzung um den Goldabbau ganze Dorfgemeinschaften,<br />

der Konflikt zieht sich bis in Familienstrukturen hinein: Ein Bruder<br />

arbeitet auf dem Berg, der andere gehört zu den Protestierenden. Die Folgen<br />

können drastisch sein, denn es kommt vor, dass sich Nachbar*innen gegenseitig<br />

bei der Polizei verpfeifen, wenn diese versuchen, auf den Berg zu gelangen.<br />

Griechenland hat sich mit dem Verkauf der Minen an Hellas Gold nicht nur selbst<br />

verkauft, sondern zerstört jetzt Schritt für Schritt die Region, Landschaft <strong>und</strong><br />

Lebensperspektiven der Menschen in Halkidiki. Die Spannungen innerhalb der<br />

Dörfer nehmen zu, aber der Goldabbau soll unter den Vorzeichen der <strong>Krise</strong> unter<br />

allen Umständen durchgesetzt werden.<br />

dahin sehen wir mehrere Graffitis:<br />

„Nein zum Gold!“ oder „Trink Ouzo.<br />

Vergiss die <strong>Krise</strong>.“ Wir schlängeln<br />

uns mit dem Reisebus ca. 8 km<br />

hinauf. Der ganze Wald (oder was<br />

davon entlang der gebauten Straßen<br />

übrig geblieben ist) ist grau<br />

von Baudreck <strong>und</strong> – staub, der<br />

sich schon seit Monaten auf den<br />

Blättern absetzt. Dort, wo wir jetzt<br />

fahren, kam es vor einem Jahr auf<br />

Waldwegen zu Demos, Straßenschlachten<br />

<strong>und</strong> Polizeiangriffen<br />

auf die Dorfbewohner*innen. Derzeit<br />

finden mit Straßenbau <strong>und</strong><br />

Waldrodung die Vorarbeiten für<br />

den Goldabbau statt; aus staatlichen<br />

Mitteln finanziert <strong>und</strong> unter<br />

penibler Überwachung des<br />

Baugeländes durch Securityangestellte.<br />

Die gesamte Strecke ist<br />

also eine öffentliche Straße, dennoch<br />

verfolgt uns für die nächsten<br />

zwei St<strong>und</strong>en ein Wagen, wir<br />

werden beobachtet <strong>und</strong> abgefilmt.<br />

Soweit das Auge reicht, riesige<br />

Brachflächen, Fahrstrecken <strong>und</strong><br />

Baufahrzeuge – solche Bilder auf<br />

Postkarten von Halkidiki lassen<br />

sich nicht verkaufen. Überall stehen<br />

Beschäftigte von privaten Sicherheitsfirmen,<br />

die das Gelände<br />

bewachen. Dass wir irgendwann<br />

nicht weiter kommen, machen uns<br />

die Securities, die Absperrungen<br />

<strong>und</strong> das Schild „Privatgr<strong>und</strong>stück.<br />

Betreten verboten” klar.<br />

Ein zweiter Einblick<br />

Wir fahren weiter in das<br />

Küstendorf Ierissos <strong>und</strong> machen<br />

Mittagspause. Von der netten Imbissverkäuferin<br />

erhalten wir nicht<br />

nur gefüllte Pitabrote, sondern<br />

ganz nebenbei die Information,<br />

dass auch sie von den staatlichen<br />

Verfolgungen um Halkidiki betroffen<br />

ist. So langsam bekommen wir<br />

eine Vorstellung davon, welche<br />

Ausmaße die Repressionswelle annimmt.<br />

Nach der Mittagspause<br />

sind wir in einem Café mit aktiven<br />

Dorfbewohner*innen von Ierissos<br />

verabredet. Als wir durch die Fensterscheiben<br />

des Cafés nach drinnen<br />

blicken, sehen wir wieder viele<br />

bunte Pullover <strong>und</strong> eine Botschaft:<br />

"#$#"#% &'()*+*),. Hier sind<br />

wir richtig! Bei heißen Getränken<br />

<strong>und</strong> Knabbereien kommen wir ins<br />

Gespräch. Es ist eine gemütliche<br />

Kaffeer<strong>und</strong>e mit vorwiegend älteren<br />

Damen. Und sie sollen alle Teil<br />

einer terroristischen Vereinigung<br />

sein? Sie erzählen von ihren regelmäßigen<br />

Treffen, auf der alle Entscheidungen<br />

gemeinsam getroffen<br />

werden. Im Gespräch wird deutlich,<br />

dass die Aktivist*innen die Verantwortung<br />

für die derzeitige Situation<br />

bei den (Lokal-)Politiker*innen<br />

sehen, doch auch diese seien – wie<br />

Bürgermeister Pachtas exemplarisch<br />

zeige – durch Korruption belastet.<br />

Als wir die Aktivist*innen zu<br />

ihren Erfahrungen mit den Medien<br />

befragen, berichten sie uns, dass<br />

das Interesse insbesondere der großen<br />

Medien zunächst gering war.<br />

Doch mittlerweile haben sie gute<br />

Kontakte zu ERT – dem über Nacht<br />

geschlossenen<br />

Staatsfernsehen,<br />

das von den Mitarbeiter*innen<br />

besetzt wurde <strong>und</strong> weitersendet<br />

(siehe Seite 45ff.). Chalkidiki ist<br />

seitdem kontinuierlich Thema in<br />

der Berichterstattung, es gibt jetzt<br />

wahrheitsgemäße Berichte, gegenseitige<br />

Hilfe <strong>und</strong> Solidarität. Nicht<br />

53


Nein zum Goldabbau aus Kindersicht<br />

alle, die mit uns im Café sitzen,<br />

waren vorher politisch aktiv. Doch<br />

der gemeinsame Kampf, die Erfahrungen<br />

mit einer unkritischen<br />

Presse, korrupten Politiker*innen<br />

<strong>und</strong> brutalen Polizeieinheiten haben<br />

die Menschen politisiert <strong>und</strong><br />

zusammengeschweißt.<br />

„Der Berg <strong>und</strong> die Dörfer sind<br />

unser Leben. Das Wasser wird<br />

verschmutzt <strong>und</strong> das fällt auf<br />

alle Bereiche des Lebens zurück.<br />

Es ist ein Kreislauf. Wir<br />

haben nichts anderes. Wir wollen<br />

hier leben!“<br />

Nach all diesen Ausführungen<br />

wird man den Vergleich zur<br />

Goldgräberstimmung in Nordamerika<br />

nicht los. Die von der Troika<br />

herbeigeführte politische <strong>und</strong> <strong>soziale</strong><br />

Lage in Griechenland ist ein „El<br />

Dorado“ für Konzerne außerhalb<br />

Griechenlands: mit wenig Aufwand<br />

<strong>und</strong> geringem Einsatz von Kapital<br />

maximalen Profit. Der Mensch, welcher<br />

bei allem zuerst kommen sollte,<br />

spielt hier die letzte Geige.<br />

Abschließend sprechen wir<br />

lange darüber, was wir Zuhause<br />

tun können, um die Menschen <strong>und</strong><br />

Kämpfe in Chalkidiki zu unterstützen:<br />

Aufklärung <strong>und</strong> Informationsverbreitung,<br />

Vernetzung mit bereits<br />

bestehenden Soligruppen oder die<br />

Beteiligung an Solidaritätsaktionen<br />

wie den weltweiten Aktionstag<br />

am 9. November. Und unsere<br />

Gesprächspartner*innen schlagen<br />

vor, ob sich nicht auch Geistes<strong>und</strong><br />

Kulturwissenschaftler*innen<br />

motivieren lassen, aktiv zu werden,<br />

schließlich liege der Geburtsort<br />

von Aristoteles, dem die Gemeinde<br />

ihren Namen verdankt, nur 15 km<br />

entfernt. Der dringlichste Wunsch<br />

der Aktiven an uns war, die Menschen<br />

in Deutschland über die<br />

tatsächlichen Zustände in Griechenland<br />

zu informieren <strong>und</strong> somit<br />

das medial verzerrte Bild über “die<br />

Griech*innen” ein Stück gerade zu<br />

rücken.<br />

„Wo ihr geht <strong>und</strong> steht: Informiert<br />

die Menschen in Deutschland<br />

über unsere Situation!”<br />

Nach dem bewegenden Gespräch<br />

bleibt ein Teil der Gruppe<br />

noch zum Adressenaustausch im<br />

Café, ein anderer Teil folgt den älteren<br />

Damen ins Vereinshaus <strong>und</strong><br />

kommt freudestrahlend wieder<br />

54


OXI - NEIN zum Goldabbau<br />

Mehr Informationen:<br />

www.soshalkidiki.wordpress.com<br />

www.soshalkidiki.gr<br />

SOS HALKIDIKI-Magazin in englischer Sprache:<br />

http://issuu.com/soshalkidikisintfor/docs/soshalkidiki_01_en/3?e=7172202/1764616<br />

raus – gehüllt in einen eben erworbenen<br />

Pullover, auf dem in leuchtend<br />

weißen Buchstaben steht:<br />

"#$#"#% &'()*+*), <strong>und</strong> darunter<br />

noch einige Worte mehr. Wir tragen<br />

den Pulli, <strong>und</strong> mit ihm tragen wir<br />

eine Botschaft nach Hause. Es sind<br />

Informationen <strong>und</strong> Hintergründe<br />

um (griechische) Wirtschaftsinteressen,<br />

<strong>Krise</strong> <strong>und</strong> Korruption auf<br />

der einen Seite <strong>und</strong> den solidarischen<br />

Kampf um die Umwelt <strong>und</strong><br />

gegen Repression auf der anderen<br />

Seite. Leuten, die uns später fragen:<br />

„Hä, was steht‘n auf deinem<br />

Pulli?“, können wir antworten: „Da<br />

steht S.O.S. Chalkidiki – Nein zum<br />

Goldabbau!” <strong>und</strong> haben nun eine<br />

Vorstellung davon, was wir zu Chalkidiki<br />

erzählen können.<br />

Kristin & Christian<br />

Am Flughafen lockt Chalkidiki mit seinen landschaftlichen<br />

Vorzügen. Besser passt wohl: Profit and Destruction.


Kaffeer<strong>und</strong>e mit einer terroristischen Vereinigung?!<br />

Unsere Reisegruppe im Visier von Polizei <strong>und</strong> privater Security


Die Zerstörung von Chalkidikis Wäldern nimmt ihren Lauf, auch samstags rollen die Bagger.


Kazáni pou brázei – der Kessel, der kocht<br />

„Ohne Verpflegung keine Bewegung“, die Wahrheit<br />

dieses Sprichworts zeigte sich auch auf unserer Bildungsreise.<br />

Die ersten Fragen r<strong>und</strong> ums Essen stellten sich schon<br />

mit dem Frühstück: Individuell oder in der Gruppe? Süß oder<br />

kräftig? Flüssig oder fest? Und wer macht den Abwasch?<br />

Eine gute Gr<strong>und</strong>lage zu legen erwies sich als sinnvoll, denn<br />

es war meist nicht klar, wann es die nächste richtige Mahlzeit<br />

geben würde. Außerdem musste man sich wappnen für<br />

die Verlockungen, die fast an jeder Straßenecke zu finden<br />

waren: Raffinierte kleine Törtchen in den Schaufenstern<br />

der Konditoreien, die typischen Sesamkringel, die auf kleinen<br />

Handwagen verkauft wurden, oder die einladenden<br />

Auslagen mit mediterranen Köstlichkeiten auf dem gut besuchten<br />

Markt.<br />

Obwohl wir von unseren Gesprächspartner_innen<br />

herzlich empfangen <strong>und</strong> mit Getränken <strong>und</strong> Knabbereien<br />

versorgt wurden, stieg spätestens am Nachmittag der<br />

Stresspegel bei Gruppenentscheidungen proportional zum<br />

Hungergefühl.<br />

Umso überraschender war es für uns, als wir<br />

am zweiten Tag ins Souterrain eines gesichtslosen<br />

Mehrfamilienhauses geführt wurden. „Kazáni pou brázei<br />

– der Kessel, der kocht“, so der Name des Kollektivs,<br />

das seit r<strong>und</strong> vier Jahren in dieser Taverne kocht.<br />

Gleichberechtigt <strong>und</strong> ohne Chef_in, versteht sich.<br />

Was auf den ersten Blick wie ein etwas besserer Imbiss auf<br />

uns wirkte, entpuppte sich rasch als frische Küche erster<br />

Güte. Egal, ob Gemüse, Fleisch oder Fisch, man merkte sofort,<br />

dass die Köch_innen ihr Handwerk verstanden. Zwar<br />

fiel es einigen zunächst schwer, den in Deutschland weit<br />

verbreiteten Individualismus des eigenen Tellers aufzugeben,<br />

doch die servierten Gerichte sahen einfach zu lecker<br />

aus, als dass man nicht einmal von einem anderen Teller<br />

probieren wollte.<br />

Schnell war man sich einig: Wir wollen wiederkommen!<br />

Und so fanden wir uns einen Tag später<br />

am selben Tisch wieder. Rasch kamen die gleichen<br />

Wasserkaraffen, es wurden mehrere Portionen<br />

Zaziki <strong>und</strong> Oliven für alle bestellt <strong>und</strong> der Tisch war am<br />

Ende ähnlich vollgepackt wie unser Tagesprogramm.<br />

Trotz <strong>Krise</strong> sollte uns das gute Essen auf unserer Reise<br />

noch mehrmals begegnen: Bester ökologisch produzierter<br />

Feta, der im Laden eines <strong>soziale</strong>n Zentrums verkauft<br />

wurde. Ein Direkterzeuger_innenmarkt, auf dem<br />

es fruchtig-aromatischen Rotwein zum Probieren gab.<br />

Gegrillte Souvlakispieße vor dem Werkstor bei den streikenden<br />

Coca-Cola-Arbeitern, bei denen sogar Vegetarier_innen<br />

im Sinne der Solidarität beherzt zubissen.<br />

„Ohne Mampf kein Kampf“ - nach einer Woche griechischer<br />

Küche ahnt man, warum in Griechenland so viel entschiedener<br />

gekämpft wird als in Deutschland.


Negation mit drei Buchstaben<br />

Bereits im Vorbereitungsseminar tauchten<br />

die drei Buchstaben auf, die uns auf unserer Reise<br />

begleiten sollten: -./ – Nein. Mit diesem einen Wort<br />

soll der griechische Diktator Metaxas auf das 1940<br />

von Mussolini gestellte Ultimatum zur Kapitulation<br />

Griechenlands gegenüber dem faschistischen Italien<br />

reagiert haben. Seitdem ist der 28. Oktober, an dem<br />

wir anreisten, als so genannter „Nein-Tag“ griechischer<br />

Nationalfeiertag.<br />

Viele Griech_innen sehen sich heute in einer<br />

ähnlichen Lage wie damals: Die aufoktroyierte Politik<br />

der Troika wird als Ultimatum wahrgenommen, das<br />

die eigene Unabhängigkeit angreift <strong>und</strong> das Überleben<br />

gefährdet. Wieder ist Deutschland die Macht, die<br />

im Hintergr<strong>und</strong> die Politik bestimmt.<br />

Auch in konkreten Kämpfen begegnete uns<br />

das laute Nein der Menschen wieder. Ob auf dem riesigen<br />

Plakat an der Hauswand des Arbeiterzentrums,<br />

das zur Unterstützung der entlassenen Arbeiter zum<br />

Boykott gegen Coca-Cola aufruft, oder bei der Protestbewegung<br />

gegen den zerstörerischen Goldabbau<br />

in Halkidiki: Unabhängig von der Frage, wie Alternativen<br />

aussehen könnten, summieren die Menschen<br />

ihren Widerstand zur derzeit herrschenden Politik<br />

unter einem schlichten -./ – Nein.<br />

59


αλληλεγγύη<br />

Solidarität<br />

<strong>Selbstorganisation</strong><br />

αυτοοργάνωση<br />

Nicht alle Reiseerlebnisse passen in diese Broschüre. Wenn Ihr Interesse an einer Veranstaltung habt <strong>und</strong> mit<br />

uns diskutieren möchtet, dann nehmt Kontakt mit uns auf!<br />

Viele der Menschen <strong>und</strong> Gruppen, die wir in Griechenland getroffen haben, freuen sich über praktische <strong>und</strong><br />

finanzielle Unterstützung. Wir haben deshalb ein Konto für Spenden eingerichtet.<br />

Spenden für die Projekte könnt ihr auf folgendes Konto überweisen.<br />

Leider können wir aber keine Spendenquittung ausstellen.<br />

Empfänger: DGB-Bezirk Hessen-Thüringen<br />

IBAN: DE63 2505 000 0152 012316<br />

BIC: NOLADE2HXXX<br />

Betreff: 130610 Griechenland<br />

Bitte gebt einen eindeutigen Verwendungszweck an, damit wir das Geld entsprechend weiterleiten können.


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