Referat Prof. Dr. Andreas Strunk
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<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Andreas</strong> <strong>Strunk</strong><br />
In Between – Junge Wohnungslose<br />
Die jungen Menschen, über die wir hier reden, befinden sich in einem Dilemma:<br />
„Ohne Wohnung – keine Arbeit und ohne Arbeit keine Wohnung.“<br />
Sie befinden sich mithin in einer erheblich gestörten Person – Umwelt – Beziehung, die nicht über<br />
eine Strategie der isolierten Wohnungsnotfallarbeit behoben werden kann. Es geht um eine umfassende<br />
Lebensraumentwicklung, die multiperspektivisch bearbeitet werden muss.<br />
Von zentraler Bedeutung sind die Probleme, die diese jungen Menschen haben mit der Sicherung<br />
des eigenen Lebensunterhaltes durch eigene Arbeit als Ergebnis einer gelingenden Berufsbiografie.<br />
Aber wie will eine Berufsbiografie gelingen, wenn nicht die Wohnbiografie angemessen ins Lot gebracht<br />
werden kann? Wir müssen also über eine integrierte Strategie für die jungen Menschen<br />
nachdenken und diese entsprechend entwickeln.<br />
Es geht mithin um die Thematisierung eines Zusammenhanges von Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit<br />
und das heißt: es geht um die Auseinandersetzung mit Armut und Armutsrisiken.<br />
Im 14. Kinder- und Jugendbericht 2013 wird dazu folgendes ausgeführt:<br />
„Die in den letzten Jahren deutlich gestiegene und überproportionale Betroffenheit von Armutsrisiken<br />
bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen weist auf wachsende soziale Risiken bei der Bewältigung<br />
von Übergangsprozessen im jungen Erwachsenenalter hin. Junge Menschen, die unter Bedingungen<br />
materieller Ressourcenknappheit leben müssen, müssen z.T. erhebliche Einschränkungen<br />
ihrer Teilhabechancen in Kauf nehmen und verfügen z.T. nicht über ausreichende finanzielle Mittel,<br />
um anspruchsvollere und länger andauernde Qualifizierungswege zu beschreiten…“ 1<br />
Die Fragestellung muss also so lauten: Was muss passieren, damit junge Menschen in prekären<br />
Lebenslagen – wozu Wohnungsnot zählt – aus diesen heraus kommen, um durch eigene Arbeitskraft<br />
ihr Leben finanzieren zu können? Zunächst geht es also um das Thema „Jugend in Berufsnot“.<br />
Das Thema „Jugend in Berufsnot“ ist ein Thema, das nicht alle jüngeren Menschen betrifft. Es ist ein<br />
Thema, das nach den Ergebnissen der 16. Shell Jugendstudie „Jugend 2010“ aber immerhin 20% der<br />
Jugendlichen beschäftigt.<br />
„An vorderster Stelle der dringend zu bearbeitenden akuten Probleme steht die Tatsache, dass<br />
dauerhaft etwa ein Fünftel der Jugendlichen keine oder schlechte Schulabschlüsse erzielt, lange in<br />
Arbeitslosigkeit oder in hochprekären Arbeitsverhältnissen im Niedriglohnbereich verharrt (oder<br />
eine Erwerbsbiografie erst überhaupt nicht beginnt) und entsprechend auch geringere Chancen in<br />
vielen anderen Lebensbereichen hat.“ 2<br />
Es bringt wenig zur Einschätzung der aktuellen Lage, ob der Anteil der sozial an den Rand gedrängten<br />
jungen Menschen früher größer oder kleiner war.<br />
Der gegenwärtige Befund ist erdrückend genug. So wird im zitierten 14. Kinder- und Jugendbericht<br />
im Kapitel „Wege in die Ausbildungslosigkeit“ (S. 199 ff.) folgendes ausgesagt: Nur 15% der jungen<br />
Menschen im Alter von 25-35 Jahren haben einen berufsqualifizierenden Abschluss.<br />
1 Vergl. dazu: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode, <strong>Dr</strong>ucksache 17 (12200), Junge Erwachsene im SGB II-<br />
Leistungsbezug, S. 223 ff.<br />
2 Shell Deutsche Holding (Hrsg.). Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. Frankfurt 2010,<br />
S. 349<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Strunk</strong> (prof.strunk@t-online.de) Junge Menschen in Wohnungsnot_<strong>Referat</strong> Seite 1
In der Altersgruppe darunter (U-25) waren 33% langzeitarbeitslos. Und wenn es Arbeit gab, dann<br />
waren die Arbeitsangebote in der Regel schlecht (sehr hoher Anteil an Teilzeitarbeit, hohe Fluktuation<br />
im Arbeitssystem, sehr geringe Beschäftigungsdauer und ein Bruttoarbeitsentgeld unter der<br />
OECD-Niedriglohnschwelle.)<br />
Der gegenwärtige Zustand wird skandalisiert aus einem Bereich, der sich bisher kaum um die Lebenslage<br />
der Gruppe randständiger junger Menschen gekümmert hat: ich verweise auf ein Buch<br />
der Wirtschaftsjournalistin Inge Kloepfer: "Aufstand der Unterschicht. Was auf uns zukommt". Die<br />
Autorin, die im Jahr 2005 als „Wirtschaftsjournalistin des Jahres“ geehrt wurde und Mitglied der<br />
Wirtschaftsredaktion der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ist, beschreibt anhand der Schilderung<br />
der Lebensentwicklung von Jascha eine Biografie des Scheiterns, die aus ihrer Sicht typisch für die<br />
Masse der Unterschichtskinder ist.<br />
Warum widmet sie sich überhaupt dem Thema? Ihr Ausgangspunkt sind ökonomische Überlegungen:<br />
<br />
<br />
Deutschland leidet generell an einer „Humankapital-Schwäche“, die wir uns nicht leisten<br />
können: wir müssten jeden Menschen qualifizieren, um das „Humankapital“ der deutschen<br />
Wirtschaft zu stärken.<br />
Angesichts der demografischen Entwicklung dürften wir es nicht zulassen, dass es viele<br />
Menschen gibt, die nichts in die Rentenkasse einzahlen bzw. die dauerhaft der Sozialkasse<br />
auf der Tasche liegen.<br />
Eine entsprechende Aussage der Autorin ist:<br />
„Wir können darüber hinaus heute schon absehen, dass es im Jahr 2020 in Deutschland ein Heer<br />
von Menschen geben wird, die zum Fortschritt und Wohlstand unserer Gesellschaft nichts mehr<br />
beitragen können. Das wird nicht nur die steigende Zahl der Rentner sein, von denen ein erheblicher<br />
Teil in bitterer Armut leben wird. Im Jahr 2020 wird Jascha, der heute 19 Jahre alt und im<br />
Grunde schon gescheitert ist, fast sein ganzes junges Leben lang von der Sozialhilfe gelebt haben. Er<br />
wird einer von mehreren Millionen Menschen sein, die ihre erste Lebenshälfte noch nicht hinter<br />
sich gebracht haben und dennoch nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt mit eigener Arbeit<br />
zu verdienen. Jascha und Millionen anderer junger Menschen werden Deutschland seit Jahren auf<br />
der Tasche liegen und unsere Sozialsysteme einem erbarmungslosen Stresstest unterziehen. „ 3<br />
Inge Kloepfer ermahnt uns, endlich aufzuwachen und nachhaltig wirksame Strategien zur Bekämpfung<br />
der Jugendberufsnot und der damit zusammenhängenden Belastungen im Lebensraum der<br />
jungen Menschen zu unternehmen.<br />
Es sei denn, dass wir stillschweigend einen "geheimen Plan" akzeptieren, der bewusst zur gesellschaftlichen<br />
Spaltung führen soll nach dem Motto "Je sichtbarer und umfangreicher Armutskarrieren<br />
werden", desto besser lassen sich die Potentiale der Leistungswilligen und Leistungsbereiten in<br />
unserer Gesellschaft entwickeln. 4<br />
Dazu könnten Forschungsergebnisse von Wilhelm Heitmeyer passen (Herausgeber der Langzeitstudie<br />
„Deutsche Zustände“), der feststellte, dass das soziale Klima in der Bundesrepublik immer eisi-<br />
3 Kloepfer, Inge. Aufstand der Unterschicht. Was auf uns zukommt. Hamburg 2008, S. 16<br />
4 Diese Auffassung vertrat Stefan Sell in einem <strong>Referat</strong> anlässlich des Bundeskongresses der Evangelischen<br />
Obdachlosenhilfe e.V. "Bürger oder Bettler" am 03.11.2010 in Mainz. Der "geheime Plan" bestünde in der<br />
Ausrichtung der neuen "Sozialhilfe" (SGB II) an einem sehr einseitigen Menschenbild ("Arbeitskraft") und<br />
einer teilweisen besinnungslosen Praxis des Forderns. In diesem Zusammenhang ist es beachtenswert, dass<br />
der Gründer des dm-<strong>Dr</strong>ogeriemarktes Goetz W. Werner das System Hartz IV als "offenen Strafvollzug" bezeichnet<br />
hat.<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Strunk</strong> (prof.strunk@t-online.de) Junge Menschen in Wohnungsnot_<strong>Referat</strong> Seite 2
ger wird. Die Zahl der Deutschen steigt, die mit Abneigung auf Fremde und Menschen blicken, die<br />
nicht als Leistungsträger dieser Gesellschaft gelten.<br />
Heitmeyer spricht von einem „eisigen Jargon der Verachtung durch die Eliten“ 5<br />
Inge Klöpfer hat eine umfangreiche wissenschaftliche Recherche durchgeführt und beschreibt eine<br />
Problem- und Konfliktlandschaft, in der sich junge und problembelastete Menschen orientieren<br />
müssen. Das Ergebnis kann man mit folgender Abbildung verdeutlichen.<br />
Vererbte Armut<br />
Probleme in der Schule (Sortieranstalt)<br />
Mängel in der Wohnungs- und<br />
Sozialpolitik<br />
Segregation<br />
Schulschwänzen<br />
Erziehungsdefizite<br />
Leben auf der Straße („Deckgeschichte“)<br />
Aneignung des Verhaltenskodex dort („Disziplin-<br />
Übung“) als eine andere Art der Ersatzfamilie<br />
Wachsende Hoffnungslosigkeit in der Familie<br />
„Sonderschule“<br />
Neo-Urban-<br />
Underclass<br />
Verwerfungen<br />
am Arbeitsmarkt<br />
Perspektivlosigkeit der Kinder<br />
Teufelskreis<br />
Verengung der Erfahrungswelt<br />
Manifestierung der Spaltung<br />
Multiple Problemlagen<br />
„Sozialdarwinismus“<br />
Kein Einstieg in eine gelingende Berufsbiographie<br />
Gewalterlebnisse („Du stehst im Mittelpunkt“)<br />
Radikalisierung<br />
Wachsendes Distanzverhalten der<br />
Mittelschicht<br />
Abstiegsängste<br />
Die „heile Welt“ der Mittelschicht<br />
Prekäre Lebenslagen in der<br />
Mittelschicht<br />
Abb. 1: Modellierung einer Problem- und Konfliktlandschaft, in der sich junge und deklassierte<br />
Menschen orientieren müssen.<br />
Diese Systematisierung lässt sich durch folgende Aussagen ergänzen bzw. vertiefen.<br />
1. Jascha war im Job-Center und hat Sanktionen erlebt. Junge Menschen werden dort wesentlich<br />
häufiger sanktioniert als ältere Hartz-IV-Bezieher. Generell nehmen Sanktionen zu. Anlässlich<br />
einer Bundestagsanfrage mehrt sich die Kritik am „Strafsystem“ (vergl. dazu: „Frankfurter<br />
Rundschau“ vom 14.2.2011).<br />
5 Vergl. dazu: „Rechtspopulismus wächst unter Besserverdienern“ in: „Frankfurter Rundschau“ vom<br />
04.12.2010<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Strunk</strong> (prof.strunk@t-online.de) Junge Menschen in Wohnungsnot_<strong>Referat</strong> Seite 3
In diesen Zusammenhang passt auch eine Aussage, die der Gründer des dm-<strong>Dr</strong>ogeriemarkts<br />
Götz W. Werner gemacht hat: das System Hartz IV sei „offener Strafvollzug“ (Stern 17-2006).<br />
Ein Fallmanager aus einem Jobcenter schreibt: „Sanktionen geben ein vollkommen falsches Signal<br />
an den Jugendlichen. Du hast es wieder nicht geschafft! Und nur du bist schuld!... Es macht<br />
wütend und traurig zu sehen, wie wenig Menschen sich für diese Probleme interessieren. Die<br />
gesellschaftliche Relevanz dieses Themas wird vernachlässigt…aber wenn wir als Gesellschaft<br />
keine Perspektive abseits von Arbeitsgelegenheiten bieten und mit der Sanktionspraxis so weitermachen,<br />
werden wir uns in 15 Jahren über die Probleme der Kinder meiner jetzigen Kunden<br />
unterhalten müssen. Denn dann werden diese Hartz IV beziehen.“ 6<br />
Zur Sanktionspraxis liegt aus der Sicht der Sozialen Arbeit und der Menschenrechte inzwischen<br />
eine sorgfältige Analyse vor. 7<br />
In diesem Zusammenhang ist auch die Frage zu erörtern, ob die alte BSHG-Norm und die entsprechende<br />
höchstrichterliche Rechtsprechung nicht auch noch für den Rechtskreis des SGB II<br />
gilt. Im BSHG galt das Prinzip: Wenn Sanktionen ausgesprochen werden, muss die pädagogische<br />
Begleitung intensiviert werden, weil nur so ermittelt werden kann, ob durch die Sanktion das<br />
Ziel („Verhaltensänderung“) erreicht wird. Wenn das nicht der Fall ist, musste die Sanktion zurückgenommen<br />
werden, weil sonst der Tatbestand des „Arbeitszwanges“ erfüllt wird.<br />
2. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung hat anlässlich der Datenerhebung zum „Sozioökonomischen<br />
Panel“ festgestellt, dass der prozentuale Anteil an sogenannten unverbundenen<br />
Jugendlichen in Deutschland im aktuellen Untersuchungszeitraum (2006-2008) im Gegensatz<br />
um zum gesamten Untersuchungszeitraum (2000-2008) von 13% auf 17,7% gestiegen ist.<br />
Die Zielgruppe wird beschrieben als Jugendliche zwischen 17 und 19 Jahren, die nicht zur Schule<br />
gehen, arbeitslos sind und in keiner Beziehung leben 8 .<br />
3. Ein Mitarbeiter des Deutschen Jugendinstitutes berichtet aus der Forschungspraxis des genannten<br />
Institutes und wird wie folgt zitiert: „Arme Kinder haben zu wenig Bildung, zu wenig Integration,<br />
zu wenig Freunde und zu wenig Möglichkeiten, dies zu kompensieren….Diese Kinder<br />
sind irgendwann nicht mehr fähig, in dieser Gesellschaft Fuß zu fassen. … Wir reproduzieren eine<br />
Armutsgruppe, die sich nicht aus dem Armutsschlamassel rausziehen kann.“ ("Frankfurter<br />
Rundschau“ vom 28.8.10).<br />
4. Bessere Bildung führt zu deutlich weniger Verbrechen. Das ist das Ergebnis einer Studie der<br />
Bertelsmann Stiftung. Die Autoren weisen darin erstmals einen kausalen Zusammenhang zwischen<br />
unzureichender Bildung und Kriminalität nach. Demnach würde die Zahl der Gewalt- und<br />
Eigentumsdelikte deutlich sinken, könnte die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss<br />
halbiert werden. Hochgerechnet auf das vergangene Jahr hätte es in diesem Fall rund 420 Fälle<br />
von Mord und Totschlag, 13500 Raubüberfälle und 320 000 Diebstähle weniger gegeben, so die<br />
Forscher. (Pressemitteilung der Bertelsmann Stiftung vom 11.11.2010).<br />
Die Autoren fordern u. a. 9<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Förderschulsystem konsequent umbauen<br />
Hauptschulen - schwierige Milieus identifizieren und verändern<br />
Gute Schule ist guter Unterricht - individuelle Förderung für starke und schwache Schülerinnen<br />
und Schüler an jeder Schule<br />
Früh investieren statt reparieren<br />
Lebensperspektiven schaffen - Recht und Pflicht auf Ausbildung.<br />
6 Aussage eines Fallmanagers; veröffentlicht in: FORUMsozial 1 (2010), S. 34<br />
7 Nicolas Grießmeier, Der disziplinierende Staat, Grünwald 2012<br />
8 "Immer mehr unverbundene Jugendliche" in: SOZIALwirtschaft aktuell 12 (2010), S. 5f.<br />
9 Entorf, Horst, Philip Sieger (im Auftrag der Bertelsmann Stiftung), Unzureichende Bildung: Folgekosten<br />
durch Kriminalität, Bielefeld 2010, S. 54-59<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Strunk</strong> (prof.strunk@t-online.de) Junge Menschen in Wohnungsnot_<strong>Referat</strong> Seite 4
Die Aussage „Lebensperspektiven schaffen“ wird im Prinzip auch im 14. Kinder- und Jugendbericht<br />
betont, wenn im Sinne einer „öffentlichen Verantwortungsübernahme“ gefordert wird,<br />
dass vor allem für junge Menschen entsprechende Angebote gemacht werden müssen,<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
die aus bildungsschwachen Elternhäusern kommen,<br />
die schlechte schulische Bildungsvoraussetzungen mitbringen,<br />
die von Migrationshintergründen bestimmt sind,<br />
die nicht die Möglichkeit des Weiterlernens im Bildungssystem nutzen können und die aus<br />
Regionen mit hoher und mittlerer Siedlungsdichte kommen.<br />
5. Weniger Jugendhilfepolitik mehr Kinder- und Jugendpolitik! Das ist eine Forderung der Autoren<br />
der 16. Shell Jugendstudie.<br />
Sie beklagen, dass die Gestaltung der Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche vor allem<br />
für die „abgehängten“ Jugendlichen zu sehr fokussiert wird auf den engen Bereich der Jugendhilfe,<br />
also auf jene Teilpopulation junger Menschen, die schon in den „Brunnen gefallen“ sind.<br />
Die Normalisierung der Lebenszusammenhänge durch die Abstimmung von Jugend-, Bildungs-,<br />
Familien- Wohnungs- und Wirtschaftspolitik u. a. durch eine stärkere Sozialraumorientierung<br />
sei dringend nötig. 10<br />
Die Forderung nach einer integrierenden Jugendpolitik wurde aktuell vom Deutschen Bundesjugendring<br />
in einem Beitrag „Jugendcheck für die Politik“ formuliert:<br />
„Weil zudem Beschäftigungs- und Einkommensunsicherheit eine langfristige Lebensplanung erschweren,<br />
weil besonders der Berufseinstieg immer schwieriger wird und ein hohes Maß an<br />
Flexibilität erfordert, gerade deshalb ist es auch die Aufgabe der Jugendpolitik, den Übergang<br />
von jungen Menschen in die Arbeitswelt zu stützen. Der Berufseinstieg junger Menschen muss<br />
durch eine neue, faire Ordnung des Arbeitsmarktes abgesichert sein. Jugendliche müssen eine<br />
ernsthafte Möglichkeit haben, über ihren Lebensweg und ihre berufliche Weiterentwicklung<br />
frei zu entscheiden. Jugendpolitik steht in der Verantwortung, frühzeitig anzusetzen, Perspektiven<br />
zu eröffnen und Lösungen für diese Problemlagen zu bieten.“ 11<br />
6. Die Entwicklung einer solchen integrierten Politik wäre eine Aufgabe vor allem der Bundesregierung.<br />
Nur scheint es so zu sein, dass eine solche Vision möglicherweise an zwei Sachverhalten<br />
scheitert.<br />
‣ In den letzten Jahren hat sich Politik weitgehend als „unmündig“ erklärt durch solche Sätze<br />
wie: „Probleme, die der Markt lösen kann, soll dieser auch lösen.“ Dieses Selbstverständnis<br />
hat verheerende Konsequenzen: einerseits führt es zu einer wachsenden Ökonomisierung<br />
der Sozialen Arbeit, andererseits führt es zur Fremdbestimmung öffentlicher Verwaltung<br />
durch falsch verstandene Managementtechniken.<br />
Solche Zusammenhänge, die viele soziale Bezüge zerstört haben, werden unter dem Stichwort<br />
„Postdemokratie“ erörtert 12 .<br />
‣ Andererseits fühlen sich viele Abgeordnete machtlos im Politikbetrieb durch die Zwänge<br />
der Fraktions- und Parteiapparate 13 .<br />
Eine integrierte Politik, die sich im Sozialraum - also auch dort, wo die „randständige Jugend“<br />
lebt, bewähren muss - ist eher eine Angelegenheit basisorientierter Politik, die sich in<br />
den Apparaten kaum artikulieren kann: denn dort nimmt die Wirtschaftslobby einen viel zu<br />
starken Einfluss.<br />
10 Shell Deutschland Holding (Hrsg.), op. cit., S. 343ff.<br />
11 Sven Frye, Jugendcheck für die Politik, in: ndv 5 (2013), S. 205f.<br />
12 Ein lesenswertes Essay gibt es vom Politikwissenschaftler Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt 2008<br />
13 Vergl. dazu einen Bericht in der "Frankfurter Rundschau" vom 09.02.2011 über ein Forschungsprojekt an<br />
der Universität Düsseldorf.<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Strunk</strong> (prof.strunk@t-online.de) Junge Menschen in Wohnungsnot_<strong>Referat</strong> Seite 5
7. Reinhold Gaier, Richter des Bundesverfassungsgerichtes macht darauf aufmerksam, dass sich<br />
die Angst vor sozialem Abstieg offensichtlich oft verwandelt in Fremdenfeindlichkeit und Gewalt<br />
gegen Arme. Er argumentiert gegen die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen<br />
in unserer Gesellschaft: „Vielleicht ist es an der Zeit, sich der zentralen Bedeutung von<br />
Gleichheit für eine stabile, freie und solidarische Gesellschaft ohne Ausgrenzung namentlich<br />
von Fremden, aber auch von Schwachen und Armen bewusst zu werden.“ („Frankfurter Rundschau“<br />
vom 7.2.2011).<br />
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt der Historiker Hans-Ulrich Wehler, der das „Auseinanderdriften<br />
von Arm und Reich für die gefährlichste Herausforderung einstuft, vor der Deutschland<br />
steht.“ („Der Spiegel 7-2013, S. 40ff.). Um diese Einschätzung zu belegen, hat Wehler eine<br />
Untersuchung veröffentlicht. 14<br />
8. Wir sind gemeinsam in einem "Niemandsland" und suchen nach Auswegen aus dem gegenwärtigen<br />
Dilemma: es könne weder ökonomisch, noch ökologisch und auch nicht sozial so weitergehen<br />
wie bisher.<br />
Auf einem Symposium, das gemeinsam veranstaltet wurde von der BHF-Bank-Stiftung und dem<br />
Frankfurter Institut für Sozialforschung 15 skizzierte der Ökonom Werner Plumpe u. a. folgenden<br />
Ausweg aus dem "Niemandsland":<br />
Ruhe bewahren und darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoller sei, einen Bank-Crash hinzunehmen,<br />
um dann die Zeit zu haben, um darüber nachzudenken zu können, was nun wirklich<br />
systemrelevant sei.<br />
Systemrelevant ist sicherlich ein adäquater Umgang mit jungen Menschen in Berufs- und Wohnungsnot.<br />
Solange aber präventive Strategien wenig greifen, müssen wir das gegenwärtige Unterstützungssystem<br />
und seine Logik anschauen.<br />
Dieses ist vor allem gegenüber den jungen Menschen von Misstrauen geprägt. Schauen wir uns das<br />
anhand der folgenden Grafik an (Abb 2. Systemarchetyp "Misstrauen").<br />
Wie ist dieser "Systemarchetyp" modelliert?<br />
Mit "Systemarchetyp" wird ein Bedeutungs- und Handlungsraum bezeichnet, in dem relevante Institutionen<br />
bzw. Personen jeweils symbolisch betrachtet "Sätze" sprechen, die Ausdruck ihrer jeweiligen<br />
Selbstorganisation beim Umgang mit Jugendarmut sind.<br />
Skizziert wird hier die Selbstorganisation von<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Öffentlichkeit<br />
Politik<br />
Träger der Sozialen Arbeit (hier: Jugendberufshilfe)<br />
Job Center<br />
Junge Menschen.<br />
Die Selbstorganisation wird jeweils von systemischen Kräften aufrechterhalten und erzielt entsprechende<br />
Effekte.<br />
Bezogen auf die jungen Menschen kann es bezüglich ihrer Wohn- und Berufsbiografie eine gute<br />
Lösung geben ("Gelungene Resozialisierung") oder eine schlechte Lösung ("Weg in die Chronifizierung").<br />
14 Hans-Ulrich Wehler, Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013<br />
15 Vergl. dazu: "Wo bleibt die neue Sozialordnung?" in: Frankfurter Rundschau" vom 07.01.11. Die <strong>Referat</strong>e<br />
können bei der BHF-Bank-Stiftung in Frankfurt angefordert werden.<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Strunk</strong> (prof.strunk@t-online.de) Junge Menschen in Wohnungsnot_<strong>Referat</strong> Seite 6
EINTRITT INS<br />
SYSTEM<br />
Zu wenig normalisierende<br />
Angebote<br />
Strukturelle Rahmenbedingungen<br />
stimmen nicht<br />
Vernachlässigung einer offensiven<br />
Jugendpolitik<br />
Konzentration auf<br />
Jugendhilfepolitik<br />
Verhinderung von Innovation<br />
Reaktionszwang auf lebensweltferne<br />
Standardisierung<br />
Fokussierung auf „Bestandserhaltung“<br />
Politik<br />
„Du bist<br />
ein Fall“<br />
Träger<br />
„Eigentlich bist<br />
Du nicht so<br />
wichtig!“<br />
Kein lebensweltorientiertes Case<br />
Management<br />
Geringe Fachlichkeit<br />
Vertreibungseffekte für junge<br />
Menschen<br />
„<strong>Dr</strong>op out“ als Erfolg<br />
„Geheimer Plan“<br />
Bearbeitung von<br />
Abstiegsängsten<br />
Inszenierung einer<br />
Leistungsmoral<br />
„Schmarotzer“<br />
„Du musst mit<br />
einer Bestrafung<br />
rechnen!“<br />
Job Center<br />
Öffentlichkeit<br />
„Leckt mich<br />
am Arsch!“<br />
Junge<br />
Menschen<br />
GELUNGENE<br />
RESOZIALISIERUNG ALS<br />
„GLÜCKSZUFALL“<br />
„FLIPPERSPIEL“<br />
WEG IN DIE<br />
CHRONIFIZIERUNG<br />
Ausweichen in Schwarzmarkt<br />
und Delinquenz<br />
„Aufstand der Unterschicht“<br />
Abb. 2: System-Archetyp „Misstrauen“<br />
prof.strunk@t-online.de<br />
Ich gehe davon aus, dass wir diesen Systemarchetyp „Misstrauen“ schleunigst verlassen müssen.<br />
Wir müssen lernen, anders mit diesen jungen Menschen umzugehen. (Der Begriff "Flipperspiel"<br />
kommt nicht von mir 16 .)<br />
16 Die Aussage "Resozialisierung als Flipperspiel" stammt von einem Klienten, der im Rahmen eines Bildes, das<br />
er gemalt hat, zum Ausdruck bringen wollte, dass die helfenden Institutionen und ihr Personal, die Hilfsbedürftigen<br />
oft wie eine "Kugel" behandeln würden, die im Gesamtsystem der Hilfe hin- und Her geschossen<br />
würde. Das Bild kann als Kunstdruck vom Autor des vorliegenden Textes bezogen werden.<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Strunk</strong> (prof.strunk@t-online.de) Junge Menschen in Wohnungsnot_<strong>Referat</strong> Seite 7
An dieser Stelle müssten wir ausführlich über das Prinzip Vertrauen in helfenden Organisationen<br />
nachdenken.<br />
Dazu reicht aber der hier vorgegebene Rahmen nicht.<br />
Die Jugendhilfeforschung hat aber eindeutig belegt, dass wir bei diesen jungen Menschen in multiplen<br />
Problemlagen nur dann eine Chance haben, wenn sie uns vertrauen können.<br />
Das bedeutet 17<br />
‣ tragfähige und belastbare Beziehungen zu einem Kollegen oder einer Kollegin, die Erfahrungen<br />
hat im Umgang mit jungen Menschen<br />
‣ bewusstes „Matching“ zwischen Bezugsperson und dem Jugendlichen<br />
‣ aktive vertrauensbildende Maßnahmen, damit eine erfahrbare Koproduktion entstehen kann<br />
‣ bewusste Momente der Exklusivität im Unterstützungs-Setting<br />
‣ wahrnehmbare Orientierungsgebung<br />
und schließlich muss bei einer erfolgreichen Unterstützung die gesamte Lebenslage des jungen<br />
Menschen beachtet und gegebenenfalls restrukturiert werden. Eine<br />
lebensraumorientierte Vorgehensweise kann anhand der folgenden Abbildung deutlich werden<br />
(Abb. 3 Lebensraumentwicklung für junge Menschen). Dieses Lebensraummodell haben wir im<br />
Rahmen einer Evaluationsstudie für einen Träger der Wohnungslosenhilfe entwickelt, der gleichzeitig<br />
im Auftrag des Jobcenters die Koordination der Berufshilfe übernahm.<br />
Probleme mit<br />
WOHNEN und<br />
HAUSHALTUNG<br />
Probleme mit dem<br />
LEBENSUNTERHALT<br />
und SCHULDEN<br />
Probleme mit<br />
DELINQUENZ<br />
Probleme mit dem<br />
HILFESYSTEM<br />
P6<br />
P7<br />
L7<br />
L6<br />
L5<br />
P8<br />
L8<br />
Der junge Mensch in<br />
einer nicht akzeptablen<br />
Situation der<br />
Lebensführung<br />
L1<br />
P1<br />
L2<br />
L3<br />
P2<br />
Probleme mit<br />
BEZIEHUNGEN<br />
Der zu entwickelnde<br />
Lebensraum<br />
P5<br />
P4<br />
L4<br />
P3<br />
Probleme mit<br />
AUSBILDUNG UND ARBEIT<br />
Probleme mit<br />
der<br />
GESUNDHEIT<br />
Probleme mit<br />
SUCHT<br />
Unterstützung<br />
Abb. 3: Lebensraumentwicklung für junge Menschen<br />
Die Skizze soll zeigen, welche Person-Kontext-Konstellationen relevant sind für die Gestaltung und<br />
Unterstützung im Bereich der Hilfe für junge Menschen. Strategisch geht es darum, den Lebens-<br />
17 Vergl. dazu: Dirk Nüsken, Erwachsen werden in öffentlicher Verantwortung, in: "Jugend, Beruf, Gesellschaft"<br />
1(2007), S. 63-72<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Strunk</strong> (prof.strunk@t-online.de) Junge Menschen in Wohnungsnot_<strong>Referat</strong> Seite 8
aum eines jungen Menschen zu normalisieren. Ausgangspunkt ist, dass sich ein junger Mensch in<br />
einer nicht akzeptablen Situation der Lebensführung befindet. Es handelt sich um einen sehr eingeschränkten<br />
Lebensraum, der gekennzeichnet sein kann durch nicht gelungene Problembewältigung<br />
in den Bereichen:<br />
• Wohnen und Haushaltung<br />
• Lebensunterhalt<br />
• Beziehungen<br />
• Ausbildung und Arbeit<br />
• Sucht<br />
• Gesundheit 18<br />
• Hilfesystem<br />
• Delinquenz<br />
Entsprechende Kräfte engen diesen Lebensraum ein. Ziel der Sozialen Arbeit wäre nun, Gegenstrategien<br />
für und mit den jungen Menschen zur Entwicklung in Richtung auf die Ausweitung des Lebensraumes<br />
für eine gelingende und integrierte Haushaltung.<br />
In der von uns entwickelten Strategie der Sozialen Arbeit haben sich folgende Prinzipien der Unterstützungsgestaltung<br />
bewährt:<br />
(1) Rechtsverwirklichung<br />
(2) Ankoppeln an die Lösungsideen des jungen Menschen<br />
(3) Beachtung und Nutzung der individuellen Menschenkräfte<br />
(4) Differenzierung der Möglichkeiten von Wohnen und Arbeit (Kriterien/verschiedene Typen)<br />
(5) Konzentration auf Strategien entsprechender Ressourcenbeschaffung<br />
(6) Organisation einer integrierten persönlichen Unterstützung unter Beachtung der jeweiligen<br />
Sektoren<br />
(7) Erfolgskontrolle<br />
(8) Organisationsentwicklung im Sinne eines lernenden Systems<br />
(9) Sozialraumorientierung.<br />
Zu einem für diesen Hilfeansatz notwendigen Gesamtplan kommt man, wenn man diesen in folgender<br />
Matrix entwickelt.<br />
18 Probleme mit Gesundheit im Kontext von Jugendobdachlosigkeit werden oft nicht ausreichend thematisiert.<br />
Eine Ausnahme bildet das Forschungsprojekt: Uwe Flick, Gundula Röhsch, Gesundheit auf der Straße.<br />
Gesundheitsvorstellungen und Umgang mit Krankheit im Kontext von Jugendobdachlosigkeit, Weinheim und<br />
München 2008<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Strunk</strong> (prof.strunk@t-online.de) Junge Menschen in Wohnungsnot_<strong>Referat</strong> Seite 9
Lebensunterhalt<br />
Beziehungen<br />
Ausbildung<br />
und Arbeit<br />
Sucht<br />
Gesundheit<br />
Hilfesystem<br />
Delinquenz<br />
Wohnen,<br />
Haushaltung<br />
Wie stellt der junge<br />
Mensch seine<br />
Lebenslage selbst<br />
dar?<br />
Welche Lösungsideen<br />
formuliert der<br />
junge Mensch?<br />
Beurteilung durch<br />
die Fachkraft der<br />
Sozialen Arbeit<br />
Konsequenzen für<br />
einen Gesamtplan<br />
Abb. 4: Ebenen der Lebensraumbeschreibung<br />
Eine solche Strategie der Lebensraumentwicklung betrifft nun mindestens vier Rechtskreise, die auf<br />
sehr unterschiedliche Normstrategien setzen. Das kann an folgender Abbildung deutlich werden:<br />
Grundsicherung für Arbeitssuchende<br />
• Marktorientierung<br />
• Betreuungsstufen<br />
• (Kundendifferenzierung)<br />
• Eingliederungsvereinbarung<br />
(Kontrahierungszwang)<br />
• Sanktionen<br />
• Sozialarbeit unter Zwang<br />
Arbeitsförderung<br />
• harte Marktorientierung<br />
• Kundendifferenzierung<br />
• Eingliederungsprofil<br />
• Eingliederungsvereinbarung<br />
U - 25<br />
Jugendhilfe<br />
• hohe Marktdistanz<br />
• Sozialarbeit unter der Perspektive<br />
des Rechts auf Erziehung und<br />
Förderung junger Menschen<br />
• Prinzip der Freiwilligkeit<br />
• Hilfeplanung<br />
Sozialhilfe<br />
• mäßige Marktdistanz<br />
• Sozialarbeit unter der Perspektive<br />
„Sicherung der Menschenwürde“<br />
• Prinzip der Freiwilligkeit<br />
• Gesamtplanung<br />
“Es ist nicht Aufgabe des Staates,<br />
seine Bürger gegen ihren Willen zu<br />
bessern.“<br />
Abb. 5: Überblick über Normstrategien<br />
Wenn man eine solche Strategie der Unterstützung als fachlich geboten fordert, dann ergeben sich<br />
eine Reihe von Fragen der Zusammenarbeit zwischen den Handelnden in den unterschiedlichen<br />
Rechtssystemen.<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Strunk</strong> (prof.strunk@t-online.de) Junge Menschen in Wohnungsnot_<strong>Referat</strong> Seite 10
Vor allem geht es um eine Abstimmung zwischen den Bereichen SGB II, SGB III, SGB VIII und SGB<br />
XII. 19<br />
Das ist gar nicht so einfach, weil die unterschiedlichen Rechtskreise – wie dargestellt - sehr verschiedenen<br />
Selbstorganisationsmustern folgen. So sind die Rechtskreise nach SGB II und III sehr<br />
arbeitsmarktorientiert. Die Rechtskreise VIII und XII sind eher therapeutisch und resozialisatorisch<br />
orientiert, was im Zweifelsfall dazu führen kann, dass Interventionen zunächst arbeitsmarktfern<br />
verlaufen. So gibt es Autoren, die sagen, dass sich Maßnahmen nach SGB VIII zu denen nach SGB II<br />
sich verhalten wie "Feuer und Wasser".<br />
Nun kann man sein Heil in der additiven Verknüpfung von Maßnahmen im Sinne einer Vorstellung<br />
Bundesarbeitsagentur für Arbeit suchen, wie diese das in folgender Grafik vorstellt. 20<br />
„Arbeitsbündnis Jugend und Beruf“<br />
Transparenz<br />
Harmonisierte<br />
Abläufe und<br />
Maßnahmen<br />
Durchlässiger<br />
Informationsaustausch<br />
One-stopgovernment<br />
Angebotsseite:<br />
Trägerangebote,<br />
Ggf. Betreuungslücken<br />
oder<br />
Doppelstrukturen<br />
Nachfrageseite:<br />
Kundenstruktur,<br />
Aktionsfelder<br />
Zielgerichteter ITunterstützter<br />
Daten- und<br />
Informationstransfer<br />
Z.B. dezentrale<br />
Ausgestaltung<br />
und Vernetzung<br />
relevanter<br />
Handlungsstrategien<br />
Z.B. enge<br />
räumliche<br />
Zusammenarbeit<br />
unter einem Dach<br />
Kooperationsvereinbarung<br />
Grundsicherungsstelle Agentur für Arbeit, Kommunaler Träger der<br />
Jugendhilfe<br />
Abb 6: Eckpunkte lokaler Kooperationen (Quelle: Bundesagentur für Arbeit)<br />
Dazu ist aus meiner Sicht folgendes zu sagen.<br />
(1) Auffallend ist, das die Zuständigkeit der Sozialhilfe im Sinne der §§ 67 ff. überhaupt nicht erwähnt<br />
wird, obwohl dort ausdrücklich der Personenkreis der jungen Erwachsenen angespro-<br />
19 Vergl. dazu: Positionspapier der AGJ vom 2./3.12.2010 "Chancen für junge Menschen beim Übergang von<br />
Schule zu Beruf verbessern - Schnittstellenprobleme zwischen SGB II, III und VIII beheben!<br />
20 Vergl. dazu: Bundesagentur für Arbeit, Projekt Arbeitsbündnis Jugend und Beruf, Verbesserung der Zusammenarbeit<br />
zwischen Berufsberatung, Jugendhilfe und Grundsicherung im Bereich U 25, Nürnberg o.J.<br />
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chen und die Bereiche „Wohnen“ und "Ausbildung, Erlangung und Sicherung eines Arbeitsplatzes"<br />
thematisiert wird.<br />
Dieser Hilfeansatz ist durch SGB II und III nicht obsolet geworden. Im Gegenteil: es entstehen<br />
wichtige methodische Fragen; z.B. wie verhalten sich die Gesamtplanung nach SGB XII zur Eingliederungsvereinbarung<br />
nach SGB II? Wer hat den Hut auf?<br />
(2) Aus meiner Praxis der Sozialarbeit mit jungen Menschen, die sich in besonderen Lebensverhältnissen<br />
befinden, die mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, weiß ich, dass additive Hilfen<br />
in der Regel zur Verwirrung bei den Betroffenen führen. Ein Kollege bezeichnete das in einem<br />
Interview: "Die Betroffenen werden parzelliert. Arbeitsgelegenheit bei Träger C, Bewerbungstraining<br />
bei Träger Y, sozialpädagogische Begleitung bei Träger Z. und Wohnraumversorgung<br />
bei Träger X."<br />
(3) Oft stehen im System der Bundesagentur nicht genügend Mittel zu einer bedarfsgerechten<br />
Unterstützung der Betroffenen zur Verfügung. Beispiel: Maßnahmen nach § 16 f. SGB II (Freie<br />
Förderung). Diese Mittel beschneiden den Gesamtetat der örtlichen Jobcenter, stehen also in<br />
Konkurrenz mit anderen Instrumenten für erfolgsversprechende Zielgruppen, bzw. auch direkt<br />
mit Mitteln für Arbeitsgelegenheiten. Zusammen mit er generellen Kürzung der Eingliederungsmittel<br />
erklärt dies die beobachtbare Zurückhaltung bei der Bewilligung nach SGB II.<br />
Hierzu kommt die allgemeine Orientierung der Mitarbeitenden in den Jobcentern auf schnelle<br />
Erfolge. Dazu wieder eine Aussage aus unseren Interviews: "Grundsätzlich ist die Instrumentenreform<br />
auf schnelle Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet und wendet sich an<br />
die fitten Menschen."<br />
Hinzu kommt die generelle Kritik an der Arbeit der Jobcenter – so wieder der 14. Kinder- und Jugendbericht<br />
(a.a.O., S. 227):<br />
„Faktisch erweist sich das Angebot an Leistungen und Maßnahmen der Förderung und Unterstützung<br />
junger Menschen in prekären materiellen Lagen als zu undifferenziert und wenig tragfähig und<br />
kommt – angesichts der Überlastung des Personals in den Jobcentern und Arbeitsagenturen - entgegen<br />
den ursprünglichen Absichten der Gesetzgebung deutlich zu kurz. Demgegenüber wird die<br />
verschärfte Sanktionspraxis gegenüber jungen Menschen unter 25 Jahren ganz offensichtlich ohne<br />
Abstriche umgesetzt mit der Folge, dass die Gewichte zwischen Fordern und Fördern aus der Balance<br />
geraten. Hier deutet sich ein erheblicher Nachjustierungsbedarf sowohl im Wirkungskreis des<br />
SGB II als auch vor allem in der Abstimmung zwischen den Ansätzen und Angeboten im Wirkungskreis<br />
von SGB VIII, SGB II und SGB III an.“<br />
Was ist hier rechtssystematisch passiert?<br />
Für viele junge Menschen in der Gruppe U-25 bestehen Rechtsanspräche auf eine umfassende Hilfe<br />
nach § 67 ff. SGB XII, sofern sich diese in besonderen Lebensverhältnissen befinden.<br />
<br />
<br />
die verbunden sind mit sozialen Schwierigkeiten<br />
aus denen sich die jungen Menschen nicht aus eigener Kraft befreien können.<br />
In besonderer Weise sind hier - wie erwähnt - vom Gesetzgeber auch Hilfen zur Ausbildung und zur<br />
Erlangung und Sicherung eines Arbeitsplatzes gemeint.<br />
Diese jungen Menschen haben bei vorhandener Bedarfslage einen Rechtsanspruch auf entsprechende<br />
persönliche Unterstützung. Der Träger der Sozialhilfe kann diese Hilfen nicht ablehnen mit<br />
der Begründung, dass nicht genügend Geld in seiner Kasse sei.<br />
Maßnahmen nach SGB II substituieren nicht die Hilfe nach SGB XII.<br />
Diese Zusammenhänge werden oft übersehen - wie wir gesehen haben auch von der Bundesagentur<br />
für Arbeit in dem erwähnten Papier.<br />
Im Bereich von U-25 stehen wirklich viele junge Menschen in einem "Dazwischen"<br />
→ Möglichkeiten der Unterstützung nach § 67 ff. SGB XII werden systematisch übersehen und<br />
entsprechend nicht aktiviert. Das betrifft übrigens auch Hilfen nach § 41 SGB VIII (Hilfen für<br />
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junge Volljährige, Nachbetreuung).<br />
Generell habe ich Zweifel, ob die Jugendhilfe für den Personenkreis U-25 immer der richtige<br />
Kooperationspartner ist. Die Erfahrung zeigt, dass bei der überwiegenden Zahl der jungen Menschen<br />
Hilfe nach SGB XII zielführender sind. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass sich die<br />
Jugendhilfe für diesen Sektor der Armutsarbeit bisher nicht sonderlich professionalisiert hat.<br />
Für viele junge Menschen endet Jugendhilfe oft unmittelbar mit Erreichen der Volljährigkeit<br />
aufgrund verweigerter Kostenzusagen seitens der Jugendämter. Hinzu kommt, dass 75% der<br />
betreffenden jungen Menschen Angebote der Wohnungslosenhilfe nutzen – so das Ergebnis einer<br />
Düsseldorfer Studie meines Kollegen Reinhold Knopp, die im Herbst 2013 veröffentlicht<br />
wird.<br />
→ Für viele dieser jungen Menschen stellen die Maßnahmen nach § 16 f. SGB II Notlösungen dar,<br />
die nach Kassenlage gewährt werden.<br />
→ Das Armutspotential in dieser Zielgruppe wächst bundesweit und dies vor allem in den Städten.<br />
Dazu Aussagen des Monitors Jugendarmut 2012. 21<br />
"Junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren sind in Deutschland die am stärksten von Armut<br />
betroffene Altersgruppe. Dabei ist Jugendarmut vor allem ein urbanes Phänomen…..Junge<br />
Menschen sind vor allem nach dem Erleben von Misserfolgen und Lebenskrisen von Ausgrenzung<br />
bedroht. Mindestens 80.000 junge Menschen leben am äußersten Rande unserer Gesellschaft<br />
ohne Anschluss an das Erwerbs-, Bildungs- oder Sozialsystem. Nach Meinung von Experten<br />
der Jugendhilfe führt vor allem die Streichung der Bezüge durch die Jobcenter am stärksten<br />
zu gesellschaftlicher Ausgrenzung und Jugendarmut……"Junge, von Armut bedrohte Menschen<br />
dürfen nicht im Niemandsland unseres Sozialstaates landen" 22 .<br />
Was müssten wir tun?<br />
1. Ich gehe davon aus, dass wir zunächst einen STRATEGIEWECHSEL im Umgang mit jungen Menschen<br />
brauchen, die sich in Berufs- und Wohnungsnot befinden. Nicht "Misstrauen" sollte im<br />
Mittelpunkt unserer Maßnahmen stehen, sondern Vertrauen.<br />
Das bedeutet, dass wir das System so attraktiv machen müssten, dass die jungen Menschen<br />
gerne kommen. Unsere professionelle Grundhaltung wäre dann: Ressourcenorientierung (Anknüpfung<br />
an das, was die jungen Menschen können und wollen) und Lösungsorientierung (persönliche<br />
Begleitung bis zu einem von den Betroffenen akzeptierten Ziel).<br />
2. Aus dem Verwirrspiel der vier Rechtskreise kommen wir nur heraus, wenn es vor der Verwirklichung<br />
der Unterstützung die Möglichkeit einer Zuweisung der Betroffenen zu einem Anbieter<br />
der Sozialen Arbeit mithilfe einer Clearing-Stelle gibt. Aufgabe einer solchen Clearingstelle wäre:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Lebensraumanalyse im Einzelfall<br />
Ausarbeitung eines Gesamtplanes und darin eingeordnet entsprechende Eingliederungsvereinbarungen<br />
Beschreibung eines Case Managements<br />
Festlegung eines Finanzierungsmix<br />
Auswahl eines geeigneten Trägers der Sozialen Arbeit<br />
Beauftragung des Trägers<br />
Sicherstellung von Monitoring und Evaluation<br />
21 Der "Monitor Jugendarmut 2012" findet sich unter www.jugendarmut.de<br />
22 so Simon Rapp, ein Autor des Monitors<br />
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Entwicklung einer kommunalen Sozialplanung, die auf der systematischen Auswertung relevanter<br />
Einzelfälle basiert.<br />
In der Clearingstelle müssten Vertreter der Jugendhilfe, der Sozialhilfe, des Job Centers und der<br />
kommunalen Sozialplanung arbeiten. Für eine solche Clearings-Stelle sollten Verfahrensregeln<br />
gelten, die mit den Kostenträgern und Leistungserbringern verbindlich abgestimmt sind.<br />
Sie hätten die Aufgabe der Regelung aller für den integrierten Hilfevollzug notwendigen Modalitäten<br />
- und zwar "hinter dem Ladentisch".<br />
3. Der Vollzug der Hilfe wird verwirklicht von einem Träger der Sozialen Arbeit, der den Prinzipien<br />
folgt, die wir schon als Ergebnis eines Forschungsprojektes skizziert hatten:<br />
‣ tragfähige und belastbare Beziehungen zu einer Fachkraft, die Erfahrungen hat im Umgang<br />
mit jungen Menschen<br />
‣ bewusstes "Matching" zwischen Bezugsperson und dem Jugendlichen<br />
‣ aktive vertrauensbildende Maßnahmen, damit eine erfahrbare Koproduktion entstehen<br />
kann<br />
‣ bewusste Momente von Exklusivität in der helfenden Beziehung<br />
‣ wahrnehmbare Orientierungsgebung<br />
Ein solcher Träger braucht Planungssicherheit in den Bereichen Finanzierung, Netzwerkintegration<br />
und Fachlichkeit.<br />
4. Notwendig wäre, dass der Träger der Sozialen Arbeit viele seiner Angebote im konkreten Lebensraum<br />
der jungen Menschen entwickeln kann:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Definition von Arbeits- und Beschäftigungsangeboten im Quartier<br />
Entwicklung zivilgesellschaftlicher Unterstützungsmöglichkeiten vor Ort<br />
Abstimmung mit den Anbietern der Normalmärkte von Wohnen und Arbeit<br />
Entwicklung von Arbeits- und Beschäftigungsangeboten im Subsidiärmarkt der Arbeit für<br />
junge Menschen, die keinerlei Perspektive im Normalmarkt haben (sog. Nischenprojekte<br />
dauerhaft finanziert).<br />
Ich komme zum Schluss.<br />
Was fordert eigentlich die Wirtschaftsjournalistin Inge Kloepfer in ihrer Analyse?<br />
Deutlich wird, dass sie ähnliche Vorstellungen hat bezogen auf den Umgang mit den jungen Menschen<br />
und ihren Problemen, wenn sie sagt bzw. fordert:<br />
(1) Vertrauensorientierung und Talente entdecken<br />
(2) Offensive Politik für Kinder, Jugendliche und ihre Familien<br />
(3) Paradigmenwechsel vor allem in der örtlichen Politik: mehr Infrastruktur, engmaschigere Netzwerke,<br />
nachhaltige Unterstützung im Einzelfall<br />
(4) Netzwerkentwicklung für Familien<br />
(5) Quartiersentwicklung<br />
(6) Schulentwicklung: Schluss mit der Sortieranstalt.<br />
E-mail-Adresse des Autors: prof.strunk@t-online.de<br />
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