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Selektiver Mutismus: Bei Fremden stumm

Baby und Familie Selektiver Mutismus: Bei Fremden stumm Außenstehende halten sie teilweise für stumm oder autistisch. Doch selektiv mutistische Kinder können sprechen. Nur nicht mit jedem „Manchmal vergesse ich meinen Mund“, sagt Josephine. Nur so kann das fünfjährige Mädchen erklären, warum es in vielen Situationen nichts sagen kann. Dabei erging es ihr nicht immer so. Früh hatte sie gelernt zu sprechen. Mit zwei Jahren redete Josephine viel und gerne, auch mit Fremden. Dann erfassten diese Schmerzen ihren Körper, Rheuma...

Baby und Familie

Selektiver Mutismus: Bei Fremden stumm
Außenstehende halten sie teilweise für stumm oder autistisch. Doch selektiv mutistische Kinder
können sprechen. Nur nicht mit jedem
„Manchmal vergesse ich meinen Mund“, sagt Josephine. Nur so kann das fünfjährige Mädchen
erklären, warum es in vielen Situationen nichts sagen kann. Dabei erging es ihr nicht immer so. Früh
hatte sie gelernt zu sprechen. Mit zwei Jahren redete Josephine viel und gerne, auch mit Fremden.
Dann erfassten diese Schmerzen ihren Körper, Rheuma...

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Druckansicht - <strong>Selektiver</strong> <strong>Mutismus</strong>: <strong>Bei</strong> <strong>Fremden</strong> <strong>stumm</strong><br />

http://www.baby-und-familie.de/print/article/257523<br />

von 3 25.11.2013 07:13<br />

<strong>Selektiver</strong> <strong>Mutismus</strong>: <strong>Bei</strong> <strong>Fremden</strong> <strong>stumm</strong><br />

Außenstehende halten sie teilweise für <strong>stumm</strong> oder autistisch. Doch selektiv mutistische Kinder<br />

können sprechen. Nur nicht mit jedem<br />

„Manchmal vergesse ich meinen Mund“, sagt Josephine. Nur so kann das fünfjährige Mädchen<br />

erklären, warum es in vielen Situationen nichts sagen kann. Dabei erging es ihr nicht immer so. Früh<br />

hatte sie gelernt zu sprechen. Mit zwei Jahren redete Josephine viel und gerne, auch mit <strong>Fremden</strong>.<br />

Dann erfassten diese Schmerzen ihren Körper, Rheuma.<br />

Josephine musste immer wieder zum Arzt, schließlich für zweieinhalb Wochen ins Krankenhaus. In<br />

der Klinik ver<strong>stumm</strong>te sie plötzlich. „Ihr Kind spricht nicht mit uns“, sagten die Ärzte ihrer Mutter<br />

Jacqueline L.* „Und auch mit niemandem sonst.“ Die Mutter konnte es erst nicht glauben. Bald<br />

merkte sie, dass ihre Tochter sich nur noch mit der engsten Familie verständigte. Außerhalb des<br />

Hauses schwieg Josephine beharrlich. Es war, als habe ihre Stimme einen Wackelkontakt bekommen.<br />

Plötzliches Zurückziehen<br />

Jacqueline L. war ratlos. Auch im Kindergarten bekam Josephine kein Wort heraus. Sie zog sich<br />

vollkommen zurück, schaute niemandem in die Augen. Nicht einmal weinen konnte sie im<br />

Kindergarten, und auch sonst zeigte sie keinerlei Emotionen.<br />

„Das Kind ist doch autistisch“, sagte einmal eine Erzieherin zur Mutter. Aber das war Josephine<br />

nicht, zu Hause war sie aufgeschlossen und redselig. „Ich fand das so unheimlich. Auf einmal schien<br />

Josi zwei Persönlichkeiten zu haben“, schildert Jacqueline L. Ratlos probierte sie verschiedene<br />

Behandlungen aus: Bachblüten, Homöopathie, Osteopathie.<br />

<strong>Selektiver</strong> <strong>Mutismus</strong>: Außer Haus <strong>stumm</strong><br />

Das Schweigen ihrer Tochter bekam erst eineinhalb Jahre später einen Namen: selektiver <strong>Mutismus</strong>.<br />

Die Sprachtherapeutin Kerstin Bahrfeck-Wichitill erkannte die Kommunikationsstörung, die<br />

Menschen in bestimmten Situationen ver<strong>stumm</strong>en lässt, obwohl sie in anderen sprechen.<br />

Die meisten mutistischen Kinder reden zu Hause ganz normal. Schätzungsweise sieben von tausend<br />

Kindern sind davon betroffen. Bahrfeck-Wichitill leitet das <strong>Mutismus</strong>-Netzwerk des<br />

Sprachtherapeutischen Ambulatoriums an der TU Dortmund. Sie sagt: „Das Schweigen ist eine Art<br />

Schutzmechanismus, der sich verselbstständigt.“ Josephine ist wahrscheinlich ver<strong>stumm</strong>t, weil die<br />

schmerzhaften Behandlungen beim Arzt sie überforderten.<br />

Ursache oft radikale Veränderung<br />

<strong>Selektiver</strong> <strong>Mutismus</strong> tritt oft auf, wenn sich das Leben eines Kindes radikal verändert, zum <strong>Bei</strong>spiel<br />

beim Kindergarten- oder Schuleintritt.<br />

Anfangs gilt das Schweigen als unbedenkliche Eingewöhnungsreaktion. „Einen Monat haben<br />

deutschsprachige Kinder Zeit, bis sie das erste Mal den Mund aufmachen sollten“, sagt die<br />

Sprachtherapeutin Anne Zorn, die in München zum Thema Mehrsprachigkeit und selektiver<br />

<strong>Mutismus</strong> forscht. „Kinder aus fremdsprachigen Familien dürfen sogar ein halbes Jahr lang<br />

schweigen.“


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Bleiben sie länger <strong>stumm</strong>, sollten sich Eltern bei einer spezialisierten Fachkraft Rat einholen. Je<br />

früher mit der Behandlung begonnen wird, umso besser die Aussichten auf Heilung.<br />

Ver<strong>stumm</strong>en: Verschiedene Auslöser<br />

Für Saskia K. (8), war es wohl ihre turbulente Kindheit, die sie ver<strong>stumm</strong>en ließ. Die ersten<br />

Lebensjahre verbrachte das zierliche blonde Mädchen in einem großen Zirkus. Ihre Mutter arbeitete<br />

dort als Akrobatin, ihr Vater in der Verwaltung. In einem Wohnwagen tourte sie mit ihren Eltern<br />

durch Deutschland.<br />

Ab drei Jahren sprach Saskia mit immer weniger Menschen. „Vielleicht schüchterten sie die vielen<br />

Eindrücke unseres Tourneelebens beim Zirkus ein“, meint ihre Mutter Livia K. rückblickend.“ Um<br />

ihrer Tochter mit dem Schuleintritt ein geregeltes Leben zu sichern, kündigte sie ihre Stelle, zog in ein<br />

Haus in München. Das Schweigen hielt dennoch an. Als Saskia in die Schule kam, sprach sie im<br />

Unterricht kein Wort. Nur alleine mit der Lehrerin konnte sie leise reden. „Zu Hause schlägt Saskia<br />

Räder und erzählt stundenlang“, schildert ihre Mutter. Wenn aber Besuch kommt, ist es, als würde<br />

Saskia ihre Stimme verschlucken. „Ihr Blick wird starr, sie zieht sich zurück“, sagt Livia K.<br />

Betroffene Kinder meist zutiefst verunsichert<br />

Eltern mutistischer Kinder wissen oft nicht, was sie tun sollen. Außenstehende können anfangs nicht<br />

glauben, dass das Kind auch aufgeschlossen sein kann. Hinter dem Schweigen vermuten viele ein<br />

dunkles Familiengeheimnis. „Dabei stecken meist andere Faktoren dahinter“, sagt Zorn. „Oft liegen<br />

Sprachentwicklungsverzögerungen, Sprechfehler oder Mehrsprachigkeit zugrunde, die die Kinder<br />

verunsichern.“ Manchmal tritt das Phänomen ohne erkennbaren Grund auf. Offenbar gibt es auch<br />

eine erbliche Komponente. Der Auslöser ist dann oft eine Lebensumstellung.<br />

So wie bei Anna R.*, die eigentlich anders heißt. Die Achtzehnjährige aus Bochum fiel mit drei Jahren<br />

ins Schweigen, als sich ihre Eltern trennten. Als Annas Schweigen auch in der Schule anhielt, kam sie<br />

mit sechs Jahren in stationäre Behandlung. Die zehn Wochen in der Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie<br />

waren für sie ein verstörendes Erlebnis. Nie war sie alleine, ihr Zimmer teilte sie mit einer<br />

Vierzehnjährigen, Besuch war nur samstags erlaubt. Die Behandler kannten sich mit <strong>Mutismus</strong> nicht<br />

aus, Anna flüchtete noch tiefer in ihr Schweigen, wurde entlassen, ohne dass sich die geringste<br />

Besserung abzeichnete. Expertin Bahrfeck-Wichitill sagt: „In welchem Fall und zu welchem Zeitpunkt<br />

eine spezialisierte stationäre Behandlung geeignet sein könnte, muss im Einzelfall abgewogen<br />

werden. Kurzzeitige stationäre Aufenthalte vermögen das Schweigen oft nicht aufzulösen.“<br />

Oft fehlt Verständnis von Lehrern und Erziehern<br />

In der Schule ging der Druck für Anna weiter, nur wenige Lehrer verstanden, dass sie sich im<br />

Unterricht einfach nicht melden konnte. Und dass sie erstarrte, wenn sie aufgerufen wurde. Einmal<br />

wollte ein Englischlehrer sie zwingen, eine Buchpassage vorzulesen. Sie schaffte es nicht. Er sagte:<br />

„Ich kann warten – und wenn es bis zum Ende der Stunde dauert.“ Er wartete tatsächlich. „Ich habe<br />

keinen Ton herausgebracht“, sagt Anna.<br />

„Lehrer können schwer verstehen, dass ein Schüler mal reden kann und mal nicht“, sagt Bahrfeck-<br />

Wichitill. „Sie können eher damit umgehen, wenn ein Kind in der Schule ganz schweigt.“ Das<br />

Problem: Jeder kennt den Frosch, der sich vor einem Vortrag in der Kehle einnistet. Und jeder muss<br />

sich anstrengen, ihn loszuwerden. „Sag doch was“, will man Kindern zurufen, die schweigen. Doch so<br />

einfach ist es nicht. Sie können sich nicht ein paarmal nervös räuspern – und dann munter<br />

drauflosreden. Meist wissen die Betroffenen nicht, was sie daran hindert. „Die eigenen körperlichen<br />

und psychischen Mechanismen beim Schweigen verstehen und beeinflussen zu lernen, ist ein<br />

wichtiges Ziel in der Arbeit mit schweigenden Jugendlichen“, erklärt Expertin Bahrfeck-Wichitill.


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Sprache ist blockiert<br />

Anna fällt es schwer, ihr Schweigen zu schildern. „Auf einmal steckt da etwas Großes in meinem Hals<br />

und blockiert meine Zunge“, murmelt sie. „Meine Knie zittern, ich blende alles um mich herum aus,<br />

genauso wie meine Gefühle. Als ob ich mich totstellen würde, bis die Gefahr vorbei ist.“ Anna spricht<br />

eher in sich hinein als hinaus. Anfangs scheint jedes Wort eine große Überwindung zu sein, dann<br />

redet sie flüssiger. Während des Gesprächs zwirbelt sie nervös den Ärmel ihres Pullovers.<br />

Hilfe finden<br />

Wenn Sie den Verdacht haben, dass Ihr Kind an selektivem <strong>Mutismus</strong> leidet, sollten Sie beim<br />

Kinderarzt Rat suchen. Er kann eine Therapie verordnen, die die Krankenkasse bezahlt. Je früher<br />

damit begonnen wird, umso besser die Prognose. Vor allem Logopäden und Sprachtherapeuten<br />

behandeln <strong>Mutismus</strong>. Sie sollten eine Zusatzausbildung haben.<br />

Von Therapeutin Bahrfeck-Wichitill fühlt sich Anna verstanden. Hier ist sie nicht der hoffnungslose<br />

Fall wie damals in der Klinik. In den Sitzungen spielen die beiden Unterrichtssituationen nach,<br />

bereiten Referate vor. Anna macht durch die Übungen Fortschritte. Gutgetan hat ihr ein<br />

Schulwechsel vor vier Jahren. Zu festgefahren war ihre Statisten-Rolle in der alten Klasse. Auf der<br />

Gesamtschule hat sie ihren ersten Freund gefunden, obwohl sie sich anfangs nicht getraut hat, mit<br />

ihm zu sprechen. „Wir haben uns immer Zettel geschrieben“, erzählt sie. „Er hat mein Schweigen<br />

nicht einfach ignoriert, sondern wollte wissen, warum ich nicht rede.“<br />

Eltern: Kind stärken und Expertenrat suchen<br />

Nicht ignorieren dürfen Eltern und Außenstehende, wenn ein Kind schweigt. Zu großen Druck sollten<br />

sie aber auch vermeiden. „Am besten funktionieren positive Unterstellungen“, sagt Bahrfeck-<br />

Wichitill. Das heißt, Eltern sollten ihr Kind stärken, ihm sagen: „Noch kannst du nicht mit manchen<br />

Menschen sprechen. Aber das wirst du lernen, so wie alle Kinder!“<br />

Väter und Mütter sollten Expertenrat suchen und dem Kind zeigen, dass es kleine Schritte zum<br />

Sprechen gibt. Dass das Kind erst mit dem Finger zeigen kann, was es will. Dass es nicht gleich ganze<br />

Sätze sagen muss. Viele selektiv mutistische Kinder können mit Unterstützung durch ihre Eltern und<br />

eine Therapie ihre Sprechblockade schrittweise überwinden. Studienergebnisse zum<br />

Behandlungserfolg variieren: Zwischen 40 und 78 Prozent der untersuchten Kinder fanden zu einem<br />

recht normalen Sprechverhalten zurück.<br />

Anna, Saskia und Josephine sind auf einem guten Weg: Josephine lernte erst wieder nicken, dann<br />

ahmte sie im Spiel Tiergeräusche nach, schließlich traute sie sich zu sprechen. <strong>Bei</strong>m Einschulungstest<br />

schaffte sie es, ein paar Worte zu flüstern. Saskia trug kürzlich im Unterricht ein Gedicht vor. In der<br />

Pause spricht sie schon mit einzelnen Kindern. Und Annas größter Erfolg? Sie hat sich in einem<br />

Seminar Sprachtherapie-Studenten gestellt. Und das Interview für diesen Artikel gegeben.<br />

* Name von der Redaktion geändert<br />

Franziska Draeger / Baby und Familie / Baby und Familie, 24.09.2013

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