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Inhalt AUFSÄTZE BUCHREZENSIONEN - ZIS

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<strong>Inhalt</strong><br />

AUFSÄTZE<br />

Internationales Strafrecht<br />

Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />

Geltung des § 127 StPO im Rahmen der Operation Atalanta<br />

Von Prof. Dr. Robert Esser, Passau, Ass. iur. Sebastian Fischer,<br />

Berlin 771<br />

Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen<br />

Entwicklungen in nationalen und internationalen<br />

Strafverfahren<br />

Von Prof. Dr. Christoph Safferling, LL.M. (LSE),<br />

Wiss. Mitarbeiterin Alena Hartwig, Marburg 784<br />

Strafrecht<br />

Die Obstruktion der Konstruktion<br />

Über die Bremswirkung gewohnter Denkmuster im<br />

Strafrecht<br />

Von Prof. Dr. Bernhard Hardtung, Rostock 795<br />

Neue Wege der Vorsatzdogmatik – Eine Auseinandersetzung<br />

mit drei neuen Monographien zum Vorsatzbegriff<br />

Von Wiss. Assistent Dr. Luís Greco, München 813<br />

<strong>BUCHREZENSIONEN</strong><br />

Strafrecht<br />

Fabian Pfefferkorn, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit<br />

im französischen und deutschen Recht, 2006<br />

(Prof. Dr. Martin Heger, Dr. Erol Rudolf Pohlreich, Berlin) 822<br />

Jorge F. Perdomo-Torres, Garantenpflichten aus<br />

Vertrautheit, 2006<br />

(Privatdozent Dr. Andreas Popp, M.A., Passau) 825<br />

Laila Mintas, Glücksspiele im Internet, 2009<br />

(Privatdozent Dr. Norbert Janz, Potsdam/Berlin) 827<br />

Annette Louise Herz, Menschenhandel, 2005<br />

(Dr. Stephanie Öner, Wien) 829


Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />

Geltung des § 127 StPO im Rahmen der Operation Atalanta<br />

Von Prof. Dr. Robert Esser, Passau, Ass. iur. Sebastian Fischer, Berlin*<br />

I. Einleitung<br />

Der Deutsche Bundestag hat am 19. Dezember 2008 die<br />

Beteiligung der Deutschen Marine an der ersten maritimen<br />

EU-(Militär-)Mission „EUNAVFOR/Operation Atalanta“<br />

und die Bereitstellung von Kriegsschiffen beschlossen. Mit<br />

der zunächst bis Dezember 2009 angesetzten und nunmehr<br />

um ein weiteres Jahr verlängerten Operation verfolgt die EU<br />

das Ziel, die am Horn von Afrika und im Seegebiet vor der<br />

Küste Somalias verstärkt agierenden Piraten abzuschrecken<br />

und die Seeräuberei 1 zu bekämpfen. Im Rahmen der Operation<br />

hat die Deutsche Marine ein vielschichtiges Aufgabenspektrum<br />

übernommen; 2 im Kern geht es neben der Durchsetzung<br />

des Völkerrechts um die Gewährung von Schutz für<br />

die Schiffe des Welternährungsprogramms sowie den Schutz<br />

anderer ziviler Schiffe im Operationsgebiet, die Überwachung<br />

der Gebiete vor der Küste Somalias einschließlich der<br />

somalischen Hoheitsgewässer und die Durchführung der<br />

erforderlichen Maßnahmen, einschließlich des Einsatzes von<br />

Gewalt, zur Abschreckung, Verhütung und Beendigung von<br />

seeräuberischen Handlungen, bewaffneten Raubüberfällen,<br />

Geiselnahmen und Lösegelderpressungen, die im Operationsgebiet<br />

begangen werden. 3<br />

* Der Autor Esser ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches,<br />

Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht<br />

sowie Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Passau.<br />

1 Art. 101 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen<br />

(SRÜ) vom 10.12.1982 (BGBl. 1994 II, S. 1799) – für<br />

Deutschland am 16.11.1995 (BGBl. II, S. 602) in Kraft getreten<br />

– definiert als „Seeräuberei“ die folgenden Handlungen:<br />

a) jede rechtswidrige Gewalttat oder Freiheitsberaubung oder<br />

jede Plünderung, welche die Besatzung oder die Fahrgäste<br />

eines privaten Schiffes oder Luftfahrzeugs zu privaten Zwecken<br />

begehen und die gerichtet ist i) auf Hoher See gegen ein<br />

anderes Schiff oder Luftfahrzeug oder gegen Personen oder<br />

Vermögenswerte an Bord dieses Schiffes oder Luftfahrzeugs;<br />

ii) an einem Ort, der keiner staatlichen Hoheitsgewalt untersteht,<br />

gegen ein Schiff, ein Luftfahrzeug, Personen oder<br />

Vermögenswerte; b) jede freiwillige Beteiligung am Einsatz<br />

eines Schiffes oder Luftfahrzeugs in Kenntnis von Tatsachen,<br />

aus denen sich ergibt, dass es ein Seeräuberschiff oder<br />

-luftfahrzeug ist; c) jede Anstiftung zu einer unter Buchstabe<br />

a oder b bezeichneten Handlung oder jede absichtliche Erleichterung<br />

einer solchen Handlung.“; vgl. gleich lautend<br />

auch: Art. 15 des Übereinkommens v. 29.4.1958 über die<br />

Hohe See (HSÜ; BGBl. 1972 II, S. 1091).<br />

2 Vgl. Antrag der Bundesregierung v. 10.12.2008, BT-Drs. 16/<br />

11337 v. 10.12.2008, S. 1 (5). Zur Verlängerung des Einsatzes<br />

vgl. Beschl. 2009/907/GASP des Rates v. 8.12.2009,<br />

ABl. EU Nr. L 322 v. 9.12.2009, S. 27, sowie Antrag der<br />

Bundesregierung v. 9.12.2009, BT-Drs. 17/179 v. 9.12.2009,<br />

S. 1 ff.<br />

3 Vgl. hierzu BT-Drs. 16/11337 v. 10.12.2008, S. 1 f.; BT-<br />

Drs. 16/11416 v. 19.12.2008, S. 1.<br />

Die EU und Kenia haben eine Vereinbarung in Form eines<br />

Briefwechsels über die Bedingungen und Modalitäten für<br />

die Übergabe von Personen getroffen, die seeräuberischer<br />

Handlungen verdächtigt und von den an der Operation Atalanta<br />

beteiligten Marineeinheiten in Gewahrsam genommen<br />

werden. 4 Im Zuge der Operation ist bislang in vier Fällen<br />

(vgl. Fn. 106) eine Ingewahrsamnahme von Piraterieverdächtigen<br />

durch deutsche Marinesoldaten erfolgt. In zwei Fällen<br />

schloss sich eine Überstellung an die kenianischen Behörden<br />

an, in einem weiteren Fall wurden die Verdächtigen nach<br />

einigen Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt. 5<br />

Mit diesem Einsatz betritt Deutschland in vielerlei Hinsicht<br />

juristisches Neuland. Insbesondere die Durchführung<br />

freiheitsentziehender Maßnahmen durch deutsche Soldaten<br />

auf Hoher See im Rahmen einer internationalen Mission und<br />

die Überstellung von Zivilpersonen an Drittstaaten werfen,<br />

neben völker- und verfassungsrechtlichen Fragen, zahlreiche<br />

strafrechtliche und strafprozessuale Fragen auf, die bislang,<br />

auch mangels praktischer Notwendigkeit in der Vergangenheit,<br />

in Rechtsprechung und Lehre kaum Erörterung erfahren<br />

haben. Dies stellt aktuell sowohl Politik als auch Justiz vor<br />

erhebliche Probleme und betrifft insbesondere die Zulässigkeit<br />

der Ingewahrsamnahme von Piraterieverdächtigen durch<br />

Soldaten der Deutschen Marine und die hierfür einschlägigen<br />

Rechtsgrundlagen.<br />

Vor diesem Hintergrund befasst sich die vorliegende Untersuchung<br />

mit der Frage, ob eine Ingewahrsamnahme Piraterieverdächtiger<br />

durch Marinesoldaten im Zuge der Operation<br />

Atalanta auf das strafprozessuale Festnahmerecht aus § 127<br />

StPO gestützt werden kann. Dabei wird zugrunde gelegt, dass<br />

4 Beschluss 2009/293/GASP des Rates v. 26.2.2009, ABl. EU<br />

Nr. L 79 v. 25.3.2009, S. 47; Briefwechsel v. 6.3.2009 zwischen<br />

der Europäischen Union und der Regierung Kenias<br />

über die Bedingungen und Modalitäten für die Übergabe von<br />

Personen, die seeräuberischer Handlungen verdächtigt werden<br />

und von den EU-geführten Seestreitkräften (EUNAVFOR)<br />

in Haft genommen wurden, und von im Besitz der EU-<br />

NAVFOR befindlichen beschlagnahmten Gütern durch die<br />

EUNAVFOR an Kenia und für ihre Behandlung nach einer<br />

solchen Übergabe, ABl. EU Nr. L 79 v. 25.3.2009, S. 49.<br />

Von einer ähnlichen, zwischen der EU und der Republik<br />

Seychellen geschlossenen Vereinbarung wurde bislang noch<br />

nicht Gebrauch gemacht. Vgl. Beschl. 2009/877/GASP des<br />

Rates v. 23.10.2009, ABl. EU Nr. L 315 v. 2.12.2009, S. 35<br />

f., 37 ff.<br />

5 Vgl. zum praktischen Ablauf freiheitsentziehender Maßnahmen<br />

auf Schiffen der Deutschen Marine im Rahmen der<br />

Operation Atalanta und die Zusammenarbeit mit der Bundespolizei:<br />

Kuhfahl/Althaus, MarineForum 3-2009, 16 (18 f.);<br />

Uhl, MarineForum 3-2009, 11 (12).<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

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Robert Esser/Sebastian Fischer<br />

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die Freiheitsentziehung auf Hoher See erfolgt. 6 Völker- und<br />

verfassungsrechtliche (Vor-)Fragen der Operation Atalanta 7<br />

stehen hingegen nicht im Fokus und werden lediglich insoweit<br />

erörtert, als sie im vorliegenden Kontext unmittelbar<br />

relevant sind.<br />

II. Rechtsgrundlage für freiheitsentziehende Maßnahmen<br />

der Deutschen Marine gegen Piraterieverdächtige<br />

1. Völkerrecht (Art. 105, 107 SRÜ)<br />

Nach Ansicht der Bundesregierung 8 erfolgt der Einsatz der<br />

Deutschen Marine im Rahmen der Operation Atalanta „auf<br />

der Grundlage von Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz 9 in Verbindung<br />

mit dem völkerrechtlichen Mandat aus der Sicherheits-<br />

[rats]resolution 1816/2008 und dem allgemeinen Völkerrecht,<br />

der darauf aufbauenden Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP<br />

vom 10.11.2008 10 , dem Mandat des Deutschen Bundestages<br />

(Drucksache 16/11416) 11 vom 19.12.2008 sowie entsprechender<br />

Einsatzregeln und Abkommen der Europäischen Union“<br />

12 . Nach Auffassung des BMJ bedarf es über diese Regelungen<br />

hinaus keiner weiteren Rechtsgrundlage für freiheitsentziehende<br />

Maßnahmen durch Einsatzkräfte der Bundeswehr<br />

im Rahmen der Pirateriebekämpfung. Grundlage der<br />

Ingewahrsamnahme durch die Deutsche Marine sei unmittelbar<br />

das Völkerrecht: einerseits Bestimmungen des UN-<br />

Seerechtsübereinkommens (insb. Art. 101 ff. SRÜ 13 ), andererseits<br />

die völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Befugnis<br />

zum Kampf gegen Piraterie, die gemäß Art. 25 GG Bestandteil<br />

des Bundesrechts sei. 14 Bei Erlass eines Haftbefehls trete<br />

6 Auf die durch UN-SR-Resolution 1846/2008 geschaffene<br />

Möglichkeit, solche Maßnahmen auch in somalischen Hoheitsgewässern<br />

vorzunehmen (Nr. 10), wird nicht eingegangen.<br />

7 Vgl. hierzu z.B. Heinicke, Kritische Justiz 2009, 179.<br />

8 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der<br />

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – BT-Drs. 16/12531 v.<br />

30.3.2009, BT-Drs. 16/12648 v. 17.4.2009, S. 3, Antwort zu<br />

Frage 5; vgl. auch Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs<br />

Lutz Diwell v. 13.3.2009, BT-Drs. 16/12356 v.<br />

20.3.2009, S. 18 f.<br />

9 Ob man auch bei Maßnahmen im Rahmen der Europäischen<br />

Sicherheits- und Verteidigungspolitik (noch) von einem System<br />

gegenseitiger kollektiver Sicherheit (Art. 24 Abs. 2 GG)<br />

sprechen kann, ist nach dem Urteil des BVerfG v. 30.6.2009<br />

zum Vertrag von Lissabon, NJW 2009, 2267 (2274), Rn. 254<br />

f., 390 f., fraglich geworden.<br />

10 Gemeinsame Aktion 2008/851/GASP des Rates v. 10.11.<br />

2008 über die Militäroperation der Europäischen Union als<br />

Beitrag zur Abschreckung, Verhütung und Bekämpfung von<br />

seeräuberischen Handlungen und bewaffneten Raubüberfällen<br />

vor der Küste Somalias, ABl. EU Nr. L 301 v. 12.11.<br />

2008, S. 33.<br />

11 BT-Drs. 16/11416 v. 19.12.2008.<br />

12 Antwort der Bundesregierung (Fn. 8), S. 3, Antwort zu<br />

Frage 5; vgl. auch Diwell (Fn. 8), S. 18 f.<br />

13 Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (Fn. 1).<br />

14 BMJ, Vorlage zur Sitzung des Rechtsausschusses des<br />

Deutschen Bundestages v. 17.12.2008, Antwort auf Frage 2<br />

dieser bis zur Übergabe der festgehaltenen Person – an die<br />

Bundespolizei bzw. die kenianischen Behörden 15 – und der<br />

damit einhergehenden Beendigung des völkerrechtlich legitimierten<br />

Gewahrsams der Bundeswehr neben diesen; insoweit<br />

bestehe eine Parallele zur Situation der Überhaft; da die<br />

Bundeswehr einen etwaigen Haftbefehl nicht vollziehe, werde<br />

sie nicht strafverfolgend tätig. 16 Bei den freiheitsentziehenden<br />

Maßnahmen gegen mutmaßliche Piraten handele es<br />

sich explizit nicht um eine vorläufige Festnahme auf der<br />

Grundlage deutschen Rechts. Die deutsche Strafprozessordnung<br />

(§§ 127, 163b StPO) sei nicht auf eine derartige „besondere<br />

Konstellation“ zugeschnitten, „soweit erforderlich“<br />

aber entsprechend anzuwenden. 17<br />

Nach Art. 105 S. 1 SRÜ kann jeder Staat auf Hoher See<br />

(u.a.) „ein Seeräuberschiff aufbringen und die Personen an<br />

Bord des Schiffes festnehmen“. Da Art. 107 SRÜ Kriegsschiffen<br />

ausdrücklich die Berechtigung zum „Aufbringen<br />

wegen Seeräuberei“ zuspricht, besteht jedenfalls völkerrechtlich<br />

eine ausreichende Grundlage sowohl für den Einsatz der<br />

Deutschen Marine als solchen als auch für die Ingewahrsamnahme<br />

von Piraterieverdächtigen. 18<br />

Es stellt sich aber die Frage, ob Art. 105 SRÜ i.V.m. Art. 1<br />

des Zustimmungsgesetzes zum SRÜ 19 auch verfassungsrechtlich<br />

eine ausreichende Rechtsgrundlage für Freiheitsentziehungen<br />

auf Hoher See darstellt oder ob insoweit eine Anwendung<br />

der StPO als Rechtsgrundlage für die Festnahme<br />

erforderlich ist.<br />

2. Verfassungsrechtliche Anforderungen des Art. 104 GG<br />

Eine Freiheitsentziehung gestützt auf Art. 105 SRÜ i.V.m.<br />

Art. 1 des Zustimmungsgesetzes respektive Völkergewohnheitsrecht<br />

müsste den hohen formalen Anforderungen entsprechen,<br />

die Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG an das „förmliche<br />

Gesetz“ und die „darin vorgeschriebenen Formen“ stellt, auf<br />

Grund dessen die Freiheit der Person beschränkt werden<br />

kann. Voraussetzung wäre allerdings, dass sich der Einsatz<br />

der Deutschen Marine überhaupt an den Grundrechten messen<br />

lassen muss.<br />

des Abgeordneten Montag, abrufbar unter http://www.jerzymontag.de/cms/default/dokbin/263/263180.beantwortung_der<br />

_fragen_vom_bmj.pdf. So schon zum mit Art. 105 SRÜ<br />

wortgleichen Art. 19 HSÜ (Fn. 1): Wille, Die Verfolgung<br />

strafbarer Handlungen an Bord von Schiffen und Luftfahrzeugen,<br />

1974, S. 100.<br />

15 Ggf. auch die Behörden eines anderen aufnahmebereiten<br />

Drittstaats. Diese Möglichkeit der Überstellung sieht die<br />

Gemeinsame Aktion v. 10.11.2008 (Fn. 10) ausdrücklich vor.<br />

16 Vgl. BMJ (Fn. 14), Antwort auf Fragen 2 und 5.<br />

17 Vgl. BMJ (Fn. 14), Antwort auf Frage 5.<br />

18 Weitergehende staats- und europarechtliche Fragestellungen<br />

zum Einsatz der Deutschen Marine bleiben außer Betracht.<br />

19<br />

Vertragsgesetz Seerechtsübereinkommen v. 2.9.1994<br />

(BGBl. II, S. 1798 ff.).<br />

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772<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />

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a) Bindung der Marinesoldaten an die Grundrechte<br />

Art. 1 Abs. 3 GG normiert die Bindung aller (deutschen) 20<br />

staatlichen Gewalt an die Grundrechte. 21 Diese Bindung<br />

staatlicher Gewalt erstreckt sich auf alle Zweige der deutschen<br />

Hoheitsgewalt: Durch den Begriff „vollziehende Gewalt“<br />

22 in Art. 1 Abs. 3 GG sollte insbesondere die Bindung<br />

der Streitkräfte an die Grundrechte klargestellt werden. 23<br />

Spätestens seit einem Urteil des BVerfG zum G-10-<br />

Gesetz aus dem Jahr 1999 steht fest, dass der Schutz von<br />

Grundrechten nicht auf das Inland beschränkt ist und die<br />

Grundrechtsordnung auch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten<br />

Anwendung findet. 24 Die Grundrechtsbindung<br />

deutscher Soldaten besteht daher prinzipiell auch für freiheitsentziehende<br />

Maßnahmen im Ausland. Sie hängt nicht<br />

davon ab, ob sich die Grundrechtseinwirkung auf deutschem<br />

Hoheitsgebiet oder solchem Gebiet vollzieht, welches von<br />

deutscher Hoheitsgewalt kontrolliert wird; vielmehr ist die<br />

Bindung an die Grundrechte geographisch ungebunden. 25 Die<br />

Staatsgrenze markiert jedenfalls nicht per se die Grenze der<br />

Grundrechtsbindung; 26 entscheidend ist, ob die Einwirkung in<br />

Grundrechte anderer von deutscher Hoheitsgewalt ausgeht. 27<br />

Diese Grundsätze gelten auch für das Gebiet der Hohen<br />

See, wenngleich deren rechtlicher Status nicht unumstritten<br />

ist. Zwar ist das Gebiet frei von staatlicher Souveränität; 28<br />

dies bedeutet allerdings nicht, dass die Hohe See ein rechtsfreier<br />

Raum wäre. Soweit deutsche Hoheitsgewalt auf dem<br />

Gebiet der Hohen See ausgeübt wird, besteht auch hier –<br />

20 Art. 1 Abs. 3 GG bindet nur die deutsche Staatsgewalt (vgl.<br />

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.<br />

3/1, 1988, 72 V 5, 1229); ausländische Staaten und internationale<br />

Organisationen sind nicht an deutsche Grundrechte<br />

gebunden (vgl. BVerfGE 1, 10 – kein tauglicher Beschwerdegegenstand).<br />

Allerdings kann das Handeln ausländischer<br />

Organe deutscher Hoheitsgewalt unter bestimmten Voraussetzungen<br />

zugerechnet werden (BVerfGE 66, 39 = NJW<br />

1984, 601 – Nachrüstung/Pershing II).<br />

21 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar,<br />

56. Lfg., Stand: September 2009, Art. 1 Abs. 3 Rn. 11.<br />

22 Geändert durch Art. 1 Nr. 1 G zur Änderung des GG v.<br />

19.3.1956 – Wehrverfassungsnovelle (BGBl. I, S. 111).<br />

23<br />

Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar,<br />

5. Aufl. 2009, Art. 1 Rn. 99; Antoni, in: Hömig (Hrsg.),<br />

Grundgesetz, Kommentar, 8. Aufl. 2007, Art. 1 Rn. 21 a.E.<br />

24 BVerfGE 100, 313 (362 ff.) = NJW 2000, 55. Die Frage,<br />

ob die deutschen Grundrechte auch im Ausland gegenüber<br />

Ausländern zu beachten sind, hat das BVerfG damals ausdrücklich<br />

offen gelassen, weil sie im konkreten Fall nicht<br />

entscheidungserheblich war.<br />

25 Herdegen (Fn. 21), Art. 1 Abs. 3 Rn. 71; Höfling (Fn. 23),<br />

Art. 1 Rn. 86.<br />

26 So treffend: Höfling (Fn. 23), Art. 1 Rn. 86.<br />

27 BVerfGE 6, 290 (295) = NJW 1957, 745; 57, 9 (23) =<br />

NJW 1981, 1154; Jarass, in: Ders./Pieroth, Grundgesetz,<br />

Kommentar, 10. Aufl. 2009, Art. 1 Rn. 44.<br />

28 Wolfrum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Handbuch des Seerechts,<br />

2006, Kap. 4 Rn. 5 ff.<br />

genau wie im Ausland – im Grundsatz eine Bindung an die<br />

Grundrechte. 29<br />

aa) Besonderheiten aufgrund organisatorischer Einbindung<br />

in die EU-Mission?<br />

Die von den deutschen Marinesoldaten ergriffenen grundrechtsbeschränkenden<br />

Maßnahmen könnten allerdings dann<br />

nicht mehr als deutsche Hoheitsgewalt angesehen werden,<br />

wenn die Bundesrepublik im Rahmen der Operation Atalanta<br />

rechtlich oder tatsächlich gehindert wäre, auf einen Geschehensablauf,<br />

der zu einem Eingriff in ein grundrechtlich geschütztes<br />

Rechtsgut führt, durch Steuerung der als maßgebend<br />

erscheinenden Umstände Einfluss zu nehmen. 30 Maßgebend<br />

für die grundrechtsbeschränkenden Geschehensabläufe<br />

ist hier zum einen der verfassungsrechtlich notwendige 31<br />

Bundestagsbeschluss 32 zur Entsendung deutscher Streitkräfte,<br />

zum anderen die unmittelbare Kommandogewalt im Einsatz<br />

über die deutschen Soldaten.<br />

Die Teilnahme deutscher Marineschiffe an internationalen<br />

Einsätzen wie der Operation Atalanta entbindet diese nicht<br />

von deutscher Kommandogewalt: Zwar liegt die operative<br />

Leitung beim Hauptquartier der Operation Atalanta in<br />

Northwood (UK); auch gelten die Rules of Engagement<br />

(RoE) der Gemeinsamen Aktion 33 , doch ist davon auszuge-<br />

29 Herdegen (Fn. 21), Art. 1 Abs. 3 Rn. 71; Höfling (Fn. 23),<br />

Art. 1 Rn. 86.<br />

30 So BVerfGE 66, 39 (62) = NJW 1984, 601 (Nachrüstung/<br />

Pershing II).<br />

31 BVerfGE 90, 286 (383 ff.) = NJW 1994, 2207 m. Anm.<br />

Arndt, NJW 1994, 2197.<br />

32 BT-Drs. 16/11416 v. 19.12.2008.<br />

33 Da diese nicht öffentlich zugänglich sind, können die darin<br />

im Vorfeld eines Einsatzes, der Durchführung freiheitsentziehender<br />

Maßnahmen gegen Piraten und einer evtl. Überstellung<br />

von Verdächtigen an einen Drittstaat geforderten<br />

Konsulationen und Abstimmungen zwischen den im Einzelfall<br />

betroffenen Entscheidungsträgern vorliegend nicht im<br />

Detail nachgezeichnet werden. Allerdings ist davon auszugehen,<br />

dass die Bundesrepublik Deutschland sich durch die<br />

Teilnahme an Atalanta nicht ihrer Hoheitsbefugnisse bzgl.<br />

der eingesetzten (deutschen) Schiffe und Soldaten entäußert<br />

hat. Selbst für den Fall, dass die RoE vorsehen sollten, dass<br />

an der Atalanta-Operation teilnehmende Einheiten vor Durchführung<br />

eines Zugriffs eine Freigabe des Hauptquartiers in<br />

Northwood (OHQ) oder des Force Commanders vor Ort<br />

(Force Headquarter FHQ an Bord eines Kriegsschiffs einer<br />

teilnehmenden Nation im Einsatzgebiet) einholen müssten,<br />

wäre eine völlige Aufhebung der deutschen Kommandogewalt<br />

und damit auch eine Auflösung der Bindung an die<br />

Grundrechte abzulehnen. Denn zumindest verbleiben die in<br />

der unmittelbaren Einsatzsituation vorgenommenen Maßnahmen<br />

(z.B. Stoppen piraterieverdächtiger Boote, Abgabe<br />

von Warnschüssen, Boarding, Durchsuchung des Boots und<br />

ggf. Durchführung freiheitsentziehender Maßnahmen) im<br />

Kommando und in der Entscheidungsbefugnis des jeweiligen<br />

(deutschen) Schiffsführers. Im Übrigen liegt trotz der organisatorischen<br />

bzw. militärischen Einbindung der deutschen<br />

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Robert Esser/Sebastian Fischer<br />

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hen, dass in der konkreten Situation – selbst nach erfolgter<br />

Absprache mit der Einsatzzentrale – der Kommandeur des<br />

deutschen Schiffes als Teil deutscher Hoheitsgewalt es selbst<br />

in der Hand hat, nach Art und Intensität geeignete und erforderliche<br />

Maßnahmen z.B. zur Ergreifung der Piraten zu treffen.<br />

Gegen eine Übertragung der unmittelbaren Kommandogewalt<br />

auf die EU spricht auch der Umstand, dass Deutschland<br />

gemäß Art. 11 Abs. 2 der Gemeinsamen Aktion 2008/<br />

749/GASP des Rates vom 17.9.2008 34 für Ansprüche Dritter<br />

im Zusammenhang mit dem Einsatz der Deutschen Marine<br />

im Rahmen der Operation Atalanta als Flaggenstaat haftet.<br />

bb) Einschränkung aufgrund völkerrechtlicher Pflicht zur<br />

Pirateriebekämpfung?<br />

Selbst eine völkerrechtliche Bindung der Bundesrepublik bei<br />

Ausübung ihrer Hoheitsgewalt bestünde lediglich in den<br />

Grenzen des Art. 1 Abs. 3; 20 Abs. 3 GG. 35 Anders wäre dies<br />

lediglich dann, wenn die völkerrechtliche Bindung einen<br />

Belang von Verfassungsrang innehätte. Dies ist regelmäßig<br />

nur bei Normen des ius cogens 36 der Fall. 37<br />

Zwar ist die Bekämpfung der Seeräuberei seit langem eine<br />

völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Befugnis der Staaten.<br />

38 Doch gab es auch schon vor Abschluss der ersten Kodifikation<br />

über die Hohe See, des HSÜ von 1958, nach allgemeiner<br />

Meinung keine Verpflichtung zur Bekämpfung der<br />

Piraterie. 39 Art. 14 HSÜ verpflichtet die Vertragsstaaten zur<br />

Zusammenarbeit in Bezug auf die Bekämpfung der Piraterie.<br />

40 Unstrittig ist insoweit nur, dass es eine Verpflichtung<br />

der Staaten gibt, nicht mit Piraten zu kooperieren oder ihnen<br />

sonstige Unterstützung zu gewähren. 41 Der zu Art. 14 HSÜ<br />

wortgleiche Art. 100 SRÜ verpflichtet gleichfalls die Staaten<br />

dazu, in größtmöglichem Maße zusammenzuarbeiten, um<br />

Seeräuberei zu bekämpfen. 42 Schon zu Art. 14 HSÜ wurde<br />

vertreten, dass die Vertragsparteien zwar dem generellen Ziel<br />

der Piratenbekämpfung verpflichtet seien, jedoch nicht zu<br />

Maßnahmen im Einzelfall. 43 Dies ist auch die Rechtsauffassung<br />

der Bundesregierung. 44<br />

Andere Stimmen entnehmen jedoch schon den einschlägigen<br />

Bestimmungen des HSÜ eine Pflicht zur Bekämpfung<br />

der Piraten, ohne dies allerdings näher zu begründen. 45 Auch<br />

dem SRÜ werden ohne weitere Begründung Verpflichtungen<br />

der Staaten zur Bekämpfung der Piraterie im konkreten Einzelfall<br />

entnommen. 46 Im Hinblick auf den Wortlaut der einschlägigen<br />

Bestimmungen des SRÜ über die Rechte der Vertragsstaaten<br />

zur Pirateriebekämpfung 47 kann dieser Auffassung<br />

indes nicht zugestimmt werden. Zwar sind die Vertragsstaaten<br />

des SRÜ zur Zusammenarbeit zur Bekämpfung der<br />

Seeräuberei verpflichtet; auch verpflichten sie sich, nicht mit<br />

Piraten zusammen zu arbeiten oder diese anders zu fördern.<br />

Es besteht jedoch keine Pflicht zum Eingreifen im konkreten<br />

Einzelfall. 48<br />

Damit besteht letztlich keine zwingende völkerrechtliche<br />

Verpflichtung zur Pirateriebekämpfung. Die Bundesrepublik<br />

Marineeinheiten in die Strukturen der EU-Operation die<br />

nationale Führungsverantwortung für die deutschen Einheiten<br />

im Atalanta-Einsatz und in OHQ und FHQ beim Befehlshaber<br />

des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr in Potsdam.<br />

Es wäre angesichts dessen, schon um Umgehungen zu<br />

vermeiden, nicht hinnehmbar, wollte man aufgrund der organisatorischen<br />

bzw. militärischen Einbindung der deutschen<br />

Marineeinheiten in die Strukturen der EU-Operation eine<br />

Aufgabe jeder Steuerungs- und Einflussmöglichkeit und eine<br />

Auflösung der Grundrechtsbindung der deutschen Soldaten<br />

annehmen. Vgl. zur Kommandostruktur des Einsatzes Uhl,<br />

MarineForum 3-2009, 11 (12).<br />

34 Gemeinsame Aktion 2008/749/GASP des Rates v. 17.9.<br />

2008, ABl. EU Nr. L 252 v. 20.9.2008, S. 39.<br />

35 Herdegen (Fn. 21), Art. 1 Abs. 3 Rn. 74.<br />

36 Zu diesen Normen vgl. Herdegen (Fn. 21), Art. 25 Rn. 16.<br />

37 Herdegen (Fn. 21), Art. 1 Abs. 3 Rn. 74. Die Bekämpfung<br />

der Piraterie stellt indes nach überwiegender Ansicht keine<br />

Norm des zwingenden Völkergewohnheitsrechts dar: Wolfrum<br />

(Fn. 28), Kap. 4 Rn. 47; Lagoni, in: J. Ipsen/Schmidt-<br />

Jortzig (Hrsg.), Recht, Staat, Gemeinwohl, Festschrift für<br />

Dietrich Rauschning, 2001, S. 501 (S. 520 ff., 533); wohl<br />

auch: K. Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 54 Rn. 16 („berechtigt“);<br />

a.A. Stein, in: J. Ipsen/Schmidt-Jortzig (a.a.O.),<br />

S. 487 (S. 489-491, 496).<br />

38 Beckert/Breuer, Öffentliches Seerecht, 1991, Rn. 284 unter<br />

Verweis auf Berber, in: H.P. Ipsen/Necker (Hrsg.), Recht<br />

über See, Festschrift, Rolf Stödter zum 70. Geburtstag am 22.<br />

April 1979, 1979, S. 147.<br />

39 Wille (Fn. 14), S. 100 m.w.N.<br />

40 Vgl. die englische Sprachfassung: „[…] shall co-operate to<br />

the fullest possible extent […]“; hierzu Wille (Fn. 14), S. 100 f.<br />

41 So zu den wortgleichen Bestimmungen des SRÜ: Wolfrum<br />

(Fn. 28), Kap. 4 Rn. 47.<br />

42 Ipsen (Fn. 37), § 54 Rn. 6.<br />

43 Ausdrücklich Wolfrum (Fn. 28), Kap. 4 Rn. 47: „es besteht<br />

keine Verpflichtung der Staaten, Akte von Piraterie auf Hoher<br />

See zu verfolgen.“ Vgl. auch Wille (Fn. 14), S. 101.<br />

44 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der<br />

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drs. 16/11382 v. 17.12.<br />

2008, Antwort auf Frage Nr. 28.<br />

45 Jescheck, in: Schroeder/Zipf (Hrsg.), Festschrift für Reinhard<br />

Maurach zum siebzigsten Geburtstag, 1972, S. 579<br />

(S. 591): „Für die Piraterie gilt seit alters her das Universalitätsprinzip,<br />

eine Strafpflicht gibt es jedoch erst neuerdings.<br />

Sie wurde durch die Konvention über die Hohe See von 1958<br />

eingeführt.“<br />

46 Stein (Fn. 37), S. 496, nimmt etwa an, dass die Deutsche<br />

Marine durch das vom BMVg ausgesprochene generelle<br />

Verbot, gekaperte Schiffe zu entern, der völkerrechtlich bestehenden<br />

Verpflichtung der Bundesrepublik nicht nachkommen<br />

könne.<br />

47 Vgl. z.B. Art. 105 SRÜ: „[…] every state may seize […].<br />

The courts of the State that carried out the seizure may decide<br />

upon the penalties to be imposed.“; Art. 110 SRÜ: „Right of<br />

visit“.<br />

48 So auch Lagoni (Fn. 37), S. 522; so auch – bezogen auf<br />

Art. 105 SRÜ: Tomuschat, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhoff<br />

(Hrsg.), Bonner Kommentar, Grundgesetz, 142. Lfg., Stand:<br />

Juni 2009, Art. 25 GG Rn. 106.<br />

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774<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

hat also keineswegs die Steuerung der als maßgebend erscheinenden<br />

Umstände des Einsatzes aus der Hand gegeben.<br />

Damit wird die Bindung an die Grundrechte durch Art. 1<br />

Abs. 3 GG auch nicht durch die völkerrechtlichen Bindungen<br />

der Bundesrepublik zur Bekämpfung der Seeräuberei gelöst.<br />

b) Gesetzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 GG<br />

aa) Das Grundgesetz legt für Freiheitsentziehungen in Art.<br />

104 Abs. 1 S. 1 GG hohe Maßstäbe an. Jede Art der Freiheitsentziehung<br />

49 darf nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes<br />

erfolgen. 50 Dies kann allein ein Parlamentsgesetz sein,<br />

welches nach dem vorgeschriebenen Verfahren (für den Bund<br />

nach Art. 77 ff. GG) verabschiedet werden muss. 51 Diese –<br />

im GG seltene direkte Nennung des förmlichen Gesetzes 52 –<br />

hat zur Folge, dass als gesetzliche Grundlage für Freiheitsentziehungen<br />

nur Bundes- oder Landesgesetze in Frage<br />

kommen. 53<br />

Ein solches Gesetz muss die materiellen Voraussetzungen<br />

der Freiheitsbeschränkung mit hinreichender Bestimmtheit<br />

regeln. 54 Voraussetzungen und Natur des Eingriffs sowie Art<br />

und Maß der Freiheitsbeschränkung müssen durch den Gesetzgeber<br />

selbst festgelegt werden. 55 Die gesetzlichen Bestimmungen<br />

müssen derart präzise sein, dass darauf ein Verwaltungsakt<br />

gestützt werden kann. 56 Eine Konkretisierung<br />

der Voraussetzungen der Freiheitsentziehung durch untergesetzliche<br />

Normen ist nur dann zulässig, wenn der Gesetzgeber<br />

wenigstens die Grundzüge im Gesetz geregelt hat. 57<br />

bb) Daher stellt sich die Frage, ob das von der Bundesregierung<br />

(s.o.) zur Begründung freiheitsentziehender Maßnahmen<br />

gegen Piraterieverdächtige herangezogene Völkergewohnheitsrecht<br />

ein förmliches Gesetz i.S.v. Art. 104 GG<br />

sein kann. Die völkergewohnheitsrechtliche Befugnis zum<br />

Kampf gegen Piraterie wird abgeleitet aus dem Weltrechtsprinzip<br />

(universal jurisdiction). Danach hat ein Staat die<br />

Befugnis, weltweit gegen Piraten auf der Hohen See vorzu-<br />

49 Degenhart, in: Sachs (Fn. 23), Art. 104 GG Rn. 9.<br />

50 BVerfGE 78, 374 (383) = NJW 1989, 1663; BGHZ 145,<br />

297 (304) = NJW 2001, 888 = JZ 2001, 821.<br />

51 BVerfGE 14, 174 (186 f.) = NJW 1962, 1339; Degenhart<br />

(Fn. 49), Art. 104 GG Rn. 9, 12; Rüping, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhoff<br />

(Fn. 48), 135. Lfg., Stand: August 2008) Art.<br />

104 GG Rn. 27; Müller-Franken, in: Stern/Becker (Hrsg.),<br />

Grundrechte-Kommentar, 2009, Art. 104 Rn. 55.<br />

52 Vgl. Jarass (Fn. 27), Art. 104 GG Rn. 3.<br />

53 BVerfGE 105, 239 (247) = NJW 2002, 3161.<br />

54 Vgl. Hömig, in: Ders. (Fn. 23), Art. 104 Rn. 3 („Grundzüge<br />

der Eingriffsvoraussetzungen”); Jarass (Fn. 27), Art. 104 Rn. 4.<br />

55 Kunig, in: von Münch/Ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar,<br />

Bd. 3, 5. Aufl. 2003, Art. 104 Rn. 8; vgl. auch: Rüping<br />

(Fn. 51), Art. 104 Rn. 32 ff. zum Erfordernis der „darin<br />

[im Gesetz] vorgeschriebenen Formen“.<br />

56 BVerfGE 109, 133 (188) = NJW 2004, 739.<br />

57 BVerfGE 14, 174 (186 f.) = NJW 1962, 1339 m. Anm.<br />

Weißauer, DÖV 1966, 114; 75, 329 = NJW 1987, 3175 m.<br />

Anm. Keller, JR 1988, 172; BVerfGE 78, 374 (383) = NJW<br />

1989, 1663; BGHZ 15, 61 (64) = DÖV 1954, 760.<br />

gehen. 58 Die Regeln des Völkergewohnheitsrechts gelten<br />

nach Art. 25 GG als Teil des Bundesrechts mit Vorrang vor<br />

den einfachen Bundesgesetzen und dem Landesrecht; ihre<br />

Berücksichtigung durch innerstaatliche Organe ist durch die<br />

Bestimmung umfassend sichergestellt. 59<br />

Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG macht indes ein förmliches Gesetz<br />

zur Bedingung jeder Freiheitsentziehung. 60 Gewohnheitsrecht<br />

muss daher als Rechtsgrundlage für eine Freiheitsentziehung<br />

ebenso ausscheiden wie eine analoge Anwendung<br />

von Normen. 61<br />

Dementsprechend genügt nach überwiegender Ansicht in<br />

der Literatur auch eine völkergewohnheitsrechtliche Regelung<br />

i.S.v. Art. 25 GG nicht den von Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG<br />

gestellten Anforderungen an das den Eingriff legitimierende<br />

förmliche Gesetz. 62 Selbst wenn man einer Norm des Völkergewohnheitsrechts<br />

aufgrund des ihr zugrunde liegenden Staatenkonsenses<br />

eine unmittelbare Anwendung auch ohne einfachgesetzliche<br />

Regelung zubilligte 63 , so kann dies – unabhängig<br />

von der durch Art. 25 GG aufgestellten, aber durchaus<br />

umstrittenen Normenhierarchie 64 – eine im Verfassungsrecht<br />

58 Der StIGH des Völkerbundes hatte sich im Lotus-Fall,<br />

Frankreich ./. Türkei, 7.9.1927, Series A No. 10, erstmals mit<br />

der Materie befasst und die Geltung des Weltrechtsprinzips<br />

statuiert.<br />

59 Herdegen (Fn. 21), Art. 25 GG Rn. 37.<br />

60 Hömig (Fn. 54), Art. 104 Rn. 3; Kunig (Fn. 55), Art. 104<br />

Rn. 8; Schmahl, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf<br />

(Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 11. Aufl. 2008, Art. 104<br />

Rn. 10; Degenhart (Fn. 49), Art. 104 Rn. 9; Herdegen<br />

(Fn. 21), Art. 104 Rn. 15; Schultze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.),<br />

Grundgesetz, Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 104<br />

Rn. 29. Darin unterscheidet sich die Vorschrift von Art. 114<br />

Abs. 1 S. 2 WRV, der nur ein materielles Gesetz vorsah; vgl.<br />

Rüping (Fn. 51), Art. 104 Rn. 27.<br />

61 BVerfGE 29, 183 (195 f.) = NJW 1970, 2205; Kunig<br />

(Fn. 55), Art. 104 Rn. 10; Degenhart (Fn. 49), Art. 104 Rn. 9;<br />

Schultze-Fielitz (Fn. 60), Art. 104 Rn. 29; Radtke, in: Epping/<br />

Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Grundgesetz,<br />

Stand: 15.7.2009, Art. 104 Rn. 6; Müller-Franken<br />

(Fn. 51), Art. 104 Rn. 56.<br />

62 Streinz, in: Sachs (Fn. 23), Art. 25 Rn. 46; Tomuschat<br />

(Fn. 48), Art. 25 Rn. 103 f.; a.A. Hillgruber, in: Schmidt-<br />

Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Fn. 60), Art. 25 Rn. 19; Pernice,<br />

in: Dreier (Fn. 60), Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 25 Rn. 30.<br />

63 In diese Richtung argumentieren: Röben, Außenverfassungsrecht,<br />

2007, S. 294 f.; Tomuschat (Fn. 48), Art. 25<br />

Rn. 64; Streinz (Fn. 62), Art. 25 Rn. 38; wohl auch BVerfGE<br />

18, 441 (448); 27, 253 (274).<br />

64 Nach h.M. besitzen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts<br />

einen Rang oberhalb von einfachem Gesetzesrecht,<br />

aber unterhalb des Verfassungsrechts: BVerfGE 111, 307<br />

(318); Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl. 2009,<br />

S. 152 f.; Risse, in: Hömig (Fn. 23), Art. 25 Rn. 3; Jarass<br />

(Fn. 27), Art. 25 Rn. 14; Herdegen (Fn. 21), Art. 25 Rn. 42;<br />

für einen Verfassungsrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts<br />

sprechen sich dagegen aus: Pernice (Fn. 62),<br />

Art. 25 Rn. 25; Streinz (Fn. 62), Art. 25 Rn. 90; Herzog,<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

775


Robert Esser/Sebastian Fischer<br />

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ausdrücklich niedergelegte Qualifikation eines Gesetzesvorbehalts<br />

(hier: förmliches Gesetz, ganz zu schweigen von der<br />

inhaltlichen Bestimmtheit des Gesetzes) nicht überwinden. 65<br />

Auch eine völkergewohnheitsrechtliche Befugnis i.S.v. Art. 25<br />

GG zur Festnahme Piraterieverdächtiger muss daher als<br />

Rechtsgrundlage für eine Freiheitsentziehung i.S.v. Art. 104<br />

Abs. 1 S. 1 GG ausscheiden. 66<br />

cc) Die einschlägigen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates<br />

67 sind gemäß Art. 25 UN-Charta i.V.m. dem Gesetz<br />

über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Charta<br />

der Vereinten Nationen 68 für Deutschland – auch innerstaatlich<br />

– bindend. Allerdings erscheint sehr fraglich, ob das<br />

Beitrittsgesetz bzw. die einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrates<br />

den Anforderungen an ein förmliches Gesetz<br />

i.S.v. Art. 104 GG genügen können. Das BVerfG verlangt<br />

vom Gesetzgeber, dass dieser die wesentlichen Grundzüge<br />

der Freiheitsentziehung bzw. -beschränkung im Gesetz selbst<br />

regelt. 69 Davon kann aber weder im Beitrittsgesetz zur UN-<br />

Charta noch in den Resolutionen des Sicherheitsrates die<br />

Rede sein; als Rechtsgrundlage für die Freiheitsentziehung<br />

scheiden diese also ebenfalls aus.<br />

dd) Dementsprechend kommt nur Art. 105 SRÜ als Teil<br />

eines völkerrechtlichen Übereinkommens als „förmliches<br />

Gesetz“ i.S.v. Art. 104 Abs. 1 GG – allein oder i.V.m. Art. 1<br />

des Zustimmungsgesetzes – in Betracht. Das Seerechtsübereinkommen<br />

wurde von Deutschland unterzeichnet und ratifiziert.<br />

Unabhängig davon, ob das SRÜ durch das Zustimmungsgesetz<br />

in nationales Recht transformiert 70 oder lediglich<br />

ein bloßer Rechtsanwendungsbefehl 71 erteilt wurde, 72<br />

steht es innerstaatlich durch Art. 1 des Zustimmungsgesetzes<br />

im Range einfachen Bundesrechts. Das Erfordernis eines<br />

Parlamentsgesetzes wird mithin erfüllt.<br />

Es stellt sich weiterhin die Frage, ob Art. 105 SRÜ die inhaltlichen<br />

Anforderungen des Gesetzesvorbehaltes des<br />

Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG erfüllt (s.o. II. 2. b). Art. 105 S. 1<br />

SRÜ normiert, dass jeder Staat auf Hoher See (vgl. Art. 86<br />

SRÜ) ein Seeräuberschiff (vgl. Art. 103 SRÜ) oder ein durch<br />

EuGRZ 1990, 483 (486); Steinberger, in: Isensee/Kirchhof<br />

(Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik<br />

Deutschland, Bd. 7, 1992, § 173 Rn. 61.<br />

65 Vgl. speziell zum Verhältnis von Art. 25 GG und der Lehre<br />

vom Gesetzesvorbehalt: Tomuschat (Fn. 48), Art. 25 Rn. 103 ff.<br />

66 Davon zu trennen ist die – hier aus strafrechtlicher Sicht<br />

nicht zu erörternde – Frage, ob völkergewohnheitsrechtliche<br />

Grundsätze über Art. 25 GG allgemein eine tragfähige<br />

Grundlage für den Einsatz der Bundeswehr (auf Hoher See)<br />

zum Zwecke der Pirateriebekämpfung liefern. Vgl. hierzu die<br />

Darstellung des Streitstandes bei: Wiefelspütz, NZWehrr<br />

2009, 133 (137-143).<br />

67 SR-Res. 1814 (2008); 1816 (2008); 1838 (2008), 1846<br />

(2008), 1851 (2008).<br />

68 Gesetz v. 6.6.1973 (BGBl. II, S. 430).<br />

69 BVerfGE 14, 174 (186 f.) = NJW 1962, 1339.<br />

70 So Maunz, in: Ders./Dürig (Fn. 21), 56. Lfg., Stand: September<br />

2009, Art. 59 GG Rn. 25.<br />

71 Vgl. Streinz (Fn. 62), Art. 59 GG Rn. 65.<br />

72 Zum Streitstand Herdegen (Fn. 21), Art. 25 GG Rn. 36.<br />

Seeräuber erbeutetes Schiff „aufbringen, die Personen an<br />

Bord des Schiffes festnehmen und die dort befindlichen Vermögenswerte<br />

beschlagnahmen“ kann. Damit geht Art. 105<br />

SRÜ zwar in seiner Formulierung über eine allgemeine völkerrechtliche<br />

Aufgabenzuweisung, wie sie in Art. 100 SRÜ<br />

niedergelegt ist, deutlich hinaus. Art. 105 SRÜ i.V.m. dem<br />

Zustimmungsgesetz zum SRÜ bietet aber letztlich nur eine<br />

hinreichende Befugnis, gegen Piraten zum Zweck der Strafverfolgung<br />

vorzugehen. Der Umfang der Zwangsmaßnahmen,<br />

die Reichweite des Festnahmerechts und insbesondere<br />

auch das weitere Verfahren nach einer Freiheitsentziehung,<br />

sind erst unter Heranziehung des nationalen Straf- und Strafverfahrensrechts<br />

zu ermitteln. Grund hierfür ist die Differenzierung<br />

zwischen der Ermächtigung durch das SRÜ und der<br />

(Einzel-)Entscheidung, wann diese Ermächtigung wahrgenommen<br />

werden soll. 73<br />

Zwar weist das BMJ 74 unter Bezugnahme auf das<br />

BVerfG 75 zutreffend darauf hin, dass das Verfassungsrecht<br />

bei Sachverhalten mit Auslandsbezug mit dem Völkerrecht<br />

abgestimmt werden muss und die Reichweite von Grundrechten<br />

„unter Berücksichtigung von Art. 25 GG aus dem Grundgesetz<br />

selbst zu ermitteln“ ist, „wobei je nach den einschlägigen<br />

Verfassungsnormen Modifikationen und Differenzierungen<br />

zulässig oder geboten sein können“. 76 Angesichts der<br />

herausragenden Bedeutung des Grundrechts auf Freiheit –<br />

wofür nicht zuletzt die exponierte Stellung des Art. 104 GG<br />

ein Beleg ist – kommen Einschränkungen der formalen Anforderungen<br />

an die „Gesetzlichkeit“ einer Freiheitsentziehung<br />

gemäß Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG durch deutsche Amtsträger<br />

bzw. Soldaten im Ausland aber nicht in Betracht. 77<br />

c) Zwischenergebnis<br />

Zwar bietet Art. 105 SRÜ eine Festnahmebefugnis bei Piraterie.<br />

Um den inhaltlichen Anforderungen des Art. 104 Abs. 1<br />

S. 1 GG für Freiheitsentziehungen zu genügen, bedarf es<br />

jedoch zusätzlich eines Rückgriffs auf die Vorschriften des<br />

nationalen Rechts, welche die Rahmenbedingungen der Freiheitsentziehung<br />

hinreichend inhaltlich konkretisieren. Damit<br />

73 Wille (Fn. 14), S. 101 f., hat diese Überlegungen bereits<br />

1974, also noch vor Einführung des SeeAufgG angestellt; die<br />

Ausführungen beziehen sich noch auf das HSÜ (Fn. 1) von<br />

1958; die Vorschriften bzgl. der Piraterie sind wortgleich in<br />

das SRÜ übernommen worden.<br />

74 BMJ (Fn. 14), Antwort auf Frage 5 a.E.<br />

75 BVerfGE 100, 313 (G-10; Fernmeldeüberwachung durch<br />

BND) = NJW 2000, 55 (58).<br />

76 BVerfGE 100, 313 (363) unter Hinweis auf: BVerfGE 31,<br />

58 (72 ff.) = NJW 1971, 1509; 92, 26 (41 f.) = NJW 1995,<br />

2339.<br />

77 Damit ist noch keine Aussage hinsichtlich einer einschränkenden<br />

Auslegung von Verfahrensgarantien getroffen, die –<br />

abhängig vom Einzelfall und jeweils bezogen auf die einzelne<br />

Garantie – u.U. bei Auslandssachverhalten in Betracht<br />

kommen kann. Siehe BVerfGE 100, 313 (363) unter Hinweis<br />

auf: BVerfGE 31, 58 (72 ff.) = NJW 1971, 1509; 92, 26 (41<br />

f.) = NJW 1995, 2339; Herdegen (Fn. 21), Art. 1 Abs. 3<br />

Rn. 72 f., 76.<br />

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776<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

wird die Anwendbarkeit der Vorschriften der Strafprozessordnung<br />

(StPO), insbesondere des Festnahmerechts aus § 127<br />

StPO, als Rechtsgrundlage für Freiheitsentziehungen auf Hoher<br />

See im Zuge der Operation Atalanta unmittelbar relevant.<br />

3. Geltung der StPO auf Hoher See<br />

a) Grundsätze des Internationalen Strafrechts (§§ 3 ff. StGB)<br />

Stimmen in der Literatur wollen schon aus praktischen Erwägungen<br />

die Anwendung der StPO bei Durchführung von<br />

Ermittlungshandlungen und insbesondere Zwangsmaßnahmen<br />

auf Hoher See herleiten. 78 Ein solcher Ansatz mag auf<br />

den ersten Blick eine gewisse Überzeugungskraft besitzen,<br />

bedarf aber selbstredend eines juristischen Fundamentes.<br />

Zur Anwendbarkeit der Festnahmevorschriften der StPO<br />

gelangte man, wenn im Einklang mit einer im Schrifttum<br />

vertretenen Ansicht bei einem strafprozessualen Handeln<br />

deutscher (Strafverfolgungs-)Behörden auf Schiffen (auch)<br />

außerhalb der deutschen Hoheitsgewässer – zur Aufklärung<br />

eines nach deutschem materiellen Strafrecht strafbaren Verhaltens<br />

– stets von der Geltung des deutschen Strafprozessrechts<br />

auszugehen wäre. 79<br />

Grundsätzlich ist der Geltungsbereich der StPO auf das<br />

Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland einschließlich<br />

der Eigengewässer und des Küstenmeeres sowie des zugehörigen<br />

Luftraums beschränkt. 80 Eine staatsgebietsübergreifende<br />

Strafverfolgungstätigkeit ist damit im Grundsatz ausgeschlossen.<br />

81 Eine allgemeine Gleichstellungsklausel, wie die<br />

78 Vgl. Kühne, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die<br />

Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 1,<br />

26. Aufl. 2006, Einl. E Rn. 12 ff.; differenzierend nach dem<br />

Ort der Vornahme der Handlung: Wille (Fn. 14), S. 91-121<br />

(z.T. überholt); ähnlich (unter Berufung auf allgemeine völkerrechtliche<br />

Grundsätze): Meyer-Goßner, Strafprozessordnung,<br />

Kommentar, 52. Aufl. 2009, Einl. Rn. 209; vgl. auch<br />

Affeld, HuV-I 2000, 95 (102-108). Allgemein zu den Grenzen<br />

deutscher Strafgewalt durch das Völkerrecht und insbesondere<br />

durch fremde Gebietshoheit: Werle/Jeßberger, in: Laufhütte/Ris-sing-van<br />

Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch,<br />

Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, Vor § 3 Rn. 5<br />

ff., 31 ff. m.w.N.<br />

79 Diese Frage wird indes bislang kaum diskutiert und ist<br />

nicht abschließend geklärt. Vgl. hierzu Kühne (Fn. 78), Einl.<br />

E Rn. 12 ff. unter Verweis auf Wille (Fn. 14). Auch der BGH<br />

hat in seinem Beschl. v. 7.4.2009 – 2 ARs 180/09 = NStZ<br />

2009, 464 – hierüber nicht befunden, da lediglich über das<br />

örtlich zuständige Gericht gemäß § 13a StPO bzw. § 10 StPO<br />

zu entscheiden war.<br />

80 Erb, in: Ders. u.a. (Fn. 78), § 10 Rn. 1; BGH, Beschl. v.<br />

7.4.2009 – 2 ARs 180/09: Ablehnung der Möglichkeit einer<br />

quasi akzessorischen Anwendung der StPO im Falle der<br />

Anwendbarkeit deutschen materiellen Strafrechts, da unter<br />

deutscher Flagge fahrende Schiffe kein Teil des deutschen<br />

Staatsgebietes seien.<br />

81 Fischer, Strafgesetzbuch, Kommentar, 56. Aufl. 2009, Vor<br />

§§ 3-7 Rn. 22.<br />

Regelung des § 4 StGB im materiellen Strafrecht, fehlt für<br />

den Bereich des Strafprozessrechts. 82<br />

Die StPO enthält in §§ 10, 10a lediglich Gerichtsstandsregelungen<br />

für außerhalb ihres Geltungsbereichs begangene<br />

Straftaten – d.h. auf Schiffen, die berechtigt sind, die Bundesflagge<br />

zu führen (§ 10 StPO) bzw. für allgemein im Bereich<br />

des Meeres begangene Straftaten (§ 10a StPO). Diese Normen<br />

treffen hingegen keine Aussage über den Geltungs- bzw.<br />

Anwendungsbereich der StPO an sich. Insbesondere können<br />

nicht bereits aus der „Hoheits- und Strafgewaltserstreckung“<br />

des § 4 StGB unmittelbar Rückschlüsse auf den Anwendungsbereich<br />

der StPO gezogen werden. 83<br />

Gleichwohl würde es keinen Sinn machen, über § 10<br />

StPO einen deutschen Gerichtsstand zu begründen und dann<br />

der örtlich zuständigen Staatsanwaltschaft bzw. dem Gericht<br />

(§ 143 GVG; § 162 StPO) für Ermittlungsmaßnahmen den<br />

Weg über die StPO zu versperren. „Außerhalb des Geltungsbereichs“<br />

i.S.v. § 10 StPO bezeichnet daher lediglich einen<br />

Tatort außerhalb des Hoheitsbereichs der Bundesrepublik<br />

Deutschland 84 – und daran anknüpfend einen anderen Gerichtsstand<br />

– verschließt aber damit der Anwendbarkeit der<br />

StPO auf Hoher See nicht generell den Weg. 85 Ein restriktiverer<br />

Ansatz 86 ist – jedenfalls für den Bereich der Hohen See<br />

– auch völkerrechtlich nicht geboten, da die Handlungen hier<br />

im hoheitsfreien Raum erfolgen.<br />

b) Verweis auf die Vorschriften der StPO im SeeAufgG 87<br />

Da es sich bei der Hohen See um ein Gebiet handelt, das<br />

keiner Gebietshoheit eines Staates untersteht, 88 weist § 1<br />

Nr. 3 lit. d lit. bb SeeAufgG dem Bund als Aufgabe auf dem<br />

82 Kühne (Fn. 78), Einl. E Rn. 12.<br />

83 Vgl. BGH, Beschl. v. 7.4.2009 – 2 ARs 180/09; LG Mannheim<br />

NStZ-RR 1996, 147 („Mit dem Flaggenprinzip des § 4<br />

StGB sollen Streitfragen und Strafbarkeitslücken vermieden<br />

werden, es wird lediglich die Geltung deutschen Strafrechts<br />

angeordnet, nicht ‚schwimmendes bzw. fliegendes Territorium‘<br />

des Flaggenstaates eingeführt“); Wolfrum (Fn. 28), Kap. 4<br />

Rn. 36. Anders noch RGSt 23, 266 (267) unter Hinweis auf<br />

die Entstehungsgeschichte des § 10 StPO; siehe auch: BAG<br />

AP § 116 BetrVG 1972 Nr. 1; Meyer-Goßner (Fn. 78), Einl.<br />

Rn. 209.<br />

84 In diesem Sinne auch: BGH, Beschl. v. 7.4.2009 – 2 ARs<br />

180/09.<br />

85 Insofern ist zu beachten, dass der BGH, Beschl. v. 7.4.2009<br />

– 2 ARs 180/09 seine Ausführungen mehrfach auf die Bestimmung<br />

des Geltungsbereichs der StPO ausschließlich<br />

i.S.d. § 10 Abs. 1 StPO bezogen hat, also gerade keine Aussagen<br />

zum Geltungsbereich der StPO an sich treffen wollte.<br />

86<br />

Vgl. Fischer-Lescano/Kreck, ZERP-Diskussionspapier<br />

3/2009, Piraterie und Menschenrechte, S. 20 f.<br />

87 Gesetz über die Aufgaben des Bundes auf dem Gebiet der<br />

Seeschifffahrt (Seeaufgabengesetz – SeeAufgG) in der Fassung<br />

der Bekanntmachung v. 26.7.2002 (BGBl. I, S. 2876),<br />

zuletzt geändert durch Art. 11 Abs. 2 UVMG v. 30.10.2008<br />

(BGBl. I S. 2130).<br />

88 Vgl. zum Rechtsstatus der Hohen See: Wolfrum (Fn. 28),<br />

Kap. 4 Rn. 2 ff., sowie Werle/Jeßberger (Fn. 78), § 5 Rn. 48 ff.<br />

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777


Robert Esser/Sebastian Fischer<br />

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Gebiet der Seeschifffahrt, seewärts des Küstenmeeres, also<br />

auf der Hohen See, „wenn das Völkerrecht dies zulässt oder<br />

erfordert“, die Aufgaben der Behörden und Beamten des<br />

Polizeidienstes nach der Strafprozessordnung zu – „soweit<br />

zur Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen oder zur<br />

Wahrnehmung völkerrechtlicher Befugnisse der Bundesrepublik<br />

Deutschland nach Maßgabe zwischenstaatlicher Abkommen<br />

erforderlich“.<br />

Noch eindeutiger formuliert § 4 Abs. 1 SeeAufgG, dass<br />

seewärts der Begrenzung des Küstenmeeres bei der Verfolgung<br />

von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zur Erfüllung<br />

völkerrechtlicher Verpflichtungen oder zur Wahrnehmung<br />

völkerrechtlicher Befugnisse die Vorschriften der Strafprozessordnung<br />

und des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten<br />

entsprechend gelten.<br />

Ob Art. 100 i.V.m. Art. 105 SRÜ sogar eine Verpflichtung<br />

der Staaten begründen, im konkreten Einzelfall gegen<br />

Piraten vorzugehen, ist umstritten. 89 Die Frage kann aber<br />

letztlich dahinstehen, da aus den Vorschriften jedenfalls eine<br />

völkerrechtliche Befugnis folgt, gegen Seeräuberei auf der<br />

Hohen See vorzugehen, und sich insofern eine Anwendbarkeit<br />

der Vorschriften der StPO begründen lässt. Da im Übrigen<br />

das SeeAufgG ohne weitere Einschränkungen auf die<br />

StPO in ihrer Gesamtheit verweist, ist zunächst festzustellen,<br />

dass § 127 StPO – vorbehaltlich des Vorliegens der tatbestandlichen<br />

Voraussetzungen – auch auf Hoher See grundsätzlich<br />

anwendbar ist. 90<br />

89 Ablehnend schon zu Art. 14 HSÜ (Fn. 1): Wille (Fn. 14),<br />

S. 100 f.; Faller, Gewaltsame Flugzeugentführungen aus<br />

völkerrechtlicher Sicht, 1972, S. 105 f. Auch aus dem<br />

SeeSchSiÜbk v. 10.3.1988 (BGBl. II 1990, S. 496, vgl. hierzu<br />

Werle/Jeßberger (Fn. 78), § 4 Rn. 77, Vor § 3 Rn. 176,<br />

182) folgt nur eine eingeschränkte völkerrechtliche Verfolgungspflicht,<br />

da Art. 6, 10 SeeSchSiÜbk eine Verpflichtung<br />

nur für Straftaten gemäß Art. 3 des Übereinkommens und nur<br />

für den Fall vorsehen, dass der Täter oder der Verdächtige im<br />

Vertragsstaat aufgefunden und nicht ausgeliefert wird (aut<br />

dedere aut iudicare). Gleiches gilt für die Geiselnahmekonvention.<br />

Vgl. Art. 8 der Geiselnahmekonvention v. 18.12.1979<br />

(BGBl. 1980 II, S. 1361); hierzu: Werle/Jeßberger (Fn. 78),<br />

Vor § 3 Rn. 155 ff. Hierzu eingehend Lagoni (Fn. 37), S. 524<br />

ff. Siehe auch bereits oben unter II. 2. a) bb).<br />

90 Hiervon ist die Frage der Zuständigkeit für die Strafverfolgung<br />

zu trennen. Im vorliegenden Kontext muss zwischen<br />

völkerrechtlicher Festnahmebefugnis, Aufgabenzuweisung<br />

für den Bund, Anwendbarkeit der StPO insgesamt, Festnahmerecht<br />

gemäß § 127 Abs. 1 S. 1 StPO und Zuständigkeit für<br />

die Strafverfolgung genau differenziert werden. Dabei ist zu<br />

beachten, dass die Frage der Zuständigkeit für Maßnahmen<br />

zur Bekämpfung der Seeräuberei auf Hoher See, die gemäß<br />

§ 4 Abs. 3 SeeAufgG i.V.m. § 1 ZustBV-See der Bundespolizei<br />

zugewiesen ist (vgl. hierzu unter II. 4. b), die grundsätzliche<br />

Anwendbarkeit des Jedermannfestnahmerechts des<br />

§ 127 Abs. 1 S. 1 StPO bei freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />

durch Marinesoldaten nicht berührt. Hierbei handelt es sich<br />

entgegen kritischer Stimmen in der Literatur keineswegs um<br />

eine extensive Interpretation des Festnahmerechts gemäß<br />

Vorbehaltlich der Erfüllung seiner tatbestandlichen Voraussetzungen<br />

kommt daher prinzipiell das Festnahmerecht<br />

aus § 127 StPO als Eingriffsgrundlage und förmliches Gesetz<br />

i.S.v. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG in Betracht. Insofern ist es<br />

bemerkenswert, dass die Bundesregierung das zur Ausführung<br />

des SRÜ erlassene SeeAufgG bei der Ermittlung der<br />

Ermächtigungsgrundlage für die Festnahme von Piraterieverdächtigen<br />

gänzlich außer Betracht gelassen hat und deren<br />

Festnahme unmittelbar auf die Vorschriften des SRÜ stützt.<br />

§ 127 StPO i.V.m. § 4 Abs. 1 SeeAufgG stellt somit das<br />

„förmliche Gesetz“ dar, das die Voraussetzungen des Art. 104<br />

Abs. 1 S. 1 GG erfüllt.<br />

Einer Anwendbarkeit des § 127 StPO auf Festnahmen<br />

von Piraterieverdächtigen auf deren Schiff steht das völkerrechtliche<br />

Flaggenstaatsprinzip nicht entgegen. Dieses besagt,<br />

dass Schiffe auch auf Hoher See grundsätzlich nur der Jurisdiktion<br />

des Flaggenstaates unterliegen (vgl. Art. 94, 97<br />

SRÜ). 91 Dass einem Schiff, von dem aus Piraterie betrieben<br />

wird, eine Flagge verliehen worden ist, wird in der heutigen<br />

Praxis nicht vorkommen. 92 In jedem Fall wären die Art. 100<br />

ff. SRÜ und die daraus abzuleitenden Befugnisse zur Pirateriebekämpfung<br />

als vorrangig einzustufen. 93<br />

4. Tatbestandliche Voraussetzungen des § 127 StPO<br />

a) § 127 Abs. 1 S. 1 StPO<br />

§ 127 Abs. 1 S. 1 StPO sieht vor, dass jedermann – auch ohne<br />

richterliche Anordnung – befugt ist, eine Person vorläufig<br />

festzunehmen, die auf frischer Tat betroffen oder verfolgt<br />

wird, wenn diese der Flucht verdächtig ist oder ihre Identität<br />

nicht sofort festgestellt werden kann.<br />

aa) Ermächtigungsgrundlage für Amtsträger<br />

Auf das Festnahmerecht aus § 127 Abs. 1 S. 1 StPO können<br />

sich nach h.M. auch Beamte der Staatsanwaltschaft und der<br />

Polizei berufen 94 – als öffentlich-rechtliche Ermächtigungs-<br />

§ 127 StPO. Es ist gerade kennzeichnend für das Jedermannfestnahmerecht,<br />

dass es durch Personen ausgeübt werden<br />

kann, denen keine Strafverfolgungszuständigkeit zugewiesen<br />

ist, weil der zuständige Amtsträger zum Zeitpunkt der Festnahme<br />

nicht vor Ort ist.<br />

91 Jurisdiktion umfasst neben der Gerichtsbarkeit im engeren<br />

Sinne auch strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, wie etwa<br />

Festnahmen und Durchsuchungen: Wolfrum (Fn. 28), Kap. 4<br />

Rn. 37; vgl. auch: Lagoni (Fn. 37), S. 528.<br />

92 Flaggenverleihung und Piraterie schließen sich jedoch<br />

nicht grundsätzlich aus, vgl. Wolfrum (Fn. 28), Kap. 4 Rn. 47<br />

(„erlauben […], unter Durchbrechung des Flaggenstaatsprinzips,<br />

die Verfolgung der Piraten auf Hoher See […]“);<br />

beachte aber auch Wolfrum (Fn. 28), Kap. 4 Rn. 52, sowie<br />

Art. 101 und 102 SRÜ.<br />

93 Wolfrum (Fn. 28), Kap. 4 Rn. 38, 47; in diesem Sinne auch:<br />

EGMR, Medvedyev u.a. ./. Frankreich, 10.7.2008, § 54 (nicht<br />

endgültig).<br />

94 Hilger, in: Erb. u.a. (Fn. 78), Bd. 4, 26. Aufl. 2007, § 127<br />

Rn. 26; Julius, in: Ders. u.a. (Hrsg.), Strafprozeßordnung,<br />

Heidelberger Kommentar, 4. Aufl. 2009, § 127 Rn. 1, 14;<br />

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<strong>ZIS</strong> 13/2009


Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />

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grundlage ihres Handelns. Für diese Amtsträger ist außerdem<br />

in Abs. 2 ein zusätzliches 95 , nicht an die engen räumlichen<br />

bzw. zeitlichen Verbindungen zur Tat anknüpfendes Festnahmerecht<br />

normiert. Dass sich auch Amtsträger im Rahmen<br />

der Strafverfolgung auf § 127 Abs. 1 S. 1 StPO berufen können,<br />

geht aus dem Wortlaut des § 127 Abs. 2 StPO unmissverständlich<br />

hervor („auch dann“). Der Annahme einer für<br />

Amtsträger abschließend in § 127 Abs. 2 StPO geregelten<br />

Festnahmebefugnis – unter Ausschluss des Jedermann-Festnahmerechts<br />

des Abs. 1 S. 1 96 – ist nicht zuletzt aus historischen<br />

und systematischen Erwägungen entgegenzutreten. 97<br />

Für Amtsträger eröffnet § 127 Abs. 1 S. 1 StPO – neben<br />

der für „Jedermann“ einschlägigen (materiell-)strafrechtlichen<br />

Rechtfertigung 98 – zugleich ein öffentlich-rechtliches<br />

Eingriffsrecht („befugt“). Ob andere öffentlich-rechtliche<br />

Festnahmebefugnisse – soweit tatbestandlich einschlägig 99 –<br />

Krey, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 3. Aufl. 2008,<br />

Rn. 596; Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn. 453;<br />

Paeffgen, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar<br />

zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz,<br />

61. Lfg., Stand: April 2009, § 127 Rn. 18; Meyer-Goßner<br />

(Fn. 78), § 127 Rn. 1, 7; Wankel, in: von Heintschel-Heinegg/Stöckel<br />

(Hrsg.), KMR, Kommentar zur Strafprozeßordnung,<br />

47. Lfg., Stand: Juni 2007, § 127 Rn. 11.<br />

95 Vgl. Lammer, in: Krekeler/Löffelmann (Hrsg.), Anwaltkommentar<br />

Strafprozessordnung, 2007, § 127 Rn. 1 („erweitert“).<br />

96 In diese Richtung argumentiert Heinen, NZWehrr 1995,<br />

138, der allerdings nicht klar zwischen der Notwehr und dem<br />

Festnahmerecht aus § 127 StPO differenziert.<br />

97 Vgl. Bülte, ZStW 121 (2009), 377 (379 ff.) zur Herleitung<br />

der Festnahmebefugnis Privater aus § 127 Abs. 1 S. 1 StPO:<br />

„derivativ eingeräumte Befugnis“, „Recht des Bürgers zur<br />

Wahrnehmung staatlicher Aufgaben“.<br />

98 Für Straftaten, die nach dem WStG mit Strafe bedroht sind<br />

und von einem Soldaten der Bundeswehr im Ausland begangen<br />

werden, sieht § 1a Abs. 1 Nr. 1 WStG die Geltung deutschen<br />

Strafrechts vor – unabhängig vom Recht des Tatortes;<br />

zum „Ausland“ zählt dabei auch die Hohe See (vgl. Dau, in:<br />

Joecks/Miebach [Hrsg.], Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch,<br />

Bd. 6/2, 2009, § 1 WStG Rn. 8). Das WStG<br />

erfasst in seinem Zweiten Teil aber lediglich „Militärische<br />

Straftaten“ (§§ 2 Nr. 1; 15-48 WStG). Die mit der Festnahme<br />

eines Piraterieverdächtigen durch einen Marinesoldaten verbundene<br />

Freiheitsberaubung (§ 239 StGB), einschließlich<br />

einer Nötigung (§ 240 StGB), fällt nicht darunter, stellt aber<br />

eine sonstige Auslandsstraftat eines Soldaten „in Beziehung<br />

auf seinen Dienst“ i.S.v. § 1a Abs. 2 WStG dar, auf die –<br />

ebenfalls unabhängig vom Recht des Tatorts – deutsches<br />

Strafrecht anwendbar ist. Schließlich ergäbe sich eine Anwendbarkeit<br />

deutschen Strafrechts auf Festnahmehandlungen<br />

im Zuge der Operation Atalanta (je nach Sachverhalt) über<br />

§ 4 bzw. § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB.<br />

99 Das Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges<br />

und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der<br />

Bundeswehr und verbündeter Streitkräfte sowie zivile Wachpersonen<br />

(UZwGBw) enthält zwar in § 9 Nr. 3 und § 15<br />

neben § 127 Abs. 1 S. 1 StPO zur Anwendung kommen,<br />

muss an dieser Stelle nicht entschieden werden, da sie der<br />

Anwendbarkeit des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO jedenfalls nicht<br />

entgegenstehen.<br />

Da sich demzufolge auch Soldaten als „Jedermann“ auf<br />

das Festnahmerecht aus § 127 Abs. 1 S. 1 StPO berufen können,<br />

kommt diese Vorschrift – über § 4 Abs. 1 SeeAufG –<br />

prinzipiell für Festnahmen im Rahmen der Operation Atalanta<br />

in Betracht.<br />

bb) Anwendbarkeit bei „gezielter Entsendung in Festnahmesituationen“<br />

Vor dem Hintergrund, dass § 127 StPO lediglich ein Recht<br />

zur vorläufigen Festnahme gewährt, wird allerdings im<br />

Schrifttum bezweifelt, ob die Vorschrift als Rechtsgrundlage<br />

für freiheitsentziehende Maßnahmen durch Marinesoldaten<br />

gegen Piraterieverdächtige im Rahmen der Operation Atalanta<br />

herangezogen werden kann, da die eingesetzten Verbände<br />

der Bundeswehr u.a. den Auftrag haben, neben diversen<br />

Maßnahmen zur Sicherung des Schiffsverkehrs und der Seeraumüberwachung,<br />

auch den Aufgriff, das Festhalten sowie<br />

die Überstellung von Personen durchzuführen, die seeräuberische<br />

Handlungen begangen haben oder im Verdacht stehen,<br />

solche Taten begangen zu haben. 100<br />

Eine Ansicht verneint die Anwendbarkeit des § 127 StPO<br />

in diesen Fällen, da die Norm „keine Rechtsgrundlage für die<br />

gezielte Entsendung in Festnahmesituationen“ biete. 101 Soweit<br />

ersichtlich ist diese Literaturmeinung – für die eine<br />

nähere Begründung fehlt – bislang unerwidert geblieben. 102<br />

So ist bereits zu hinterfragen, inwieweit die Prämisse der<br />

vorgenannten Ansicht zutrifft, die Einsatzkräfte der Marine<br />

Abs. 1 Nr. 3 einen ausdrücklichen bzw. inzidenten Verweis<br />

auf § 127 Abs. 1 StPO; dieses Gesetz berechtigt jedoch nur<br />

Soldaten der Bundeswehr, denen militärische Wach- oder<br />

Sicherheitsaufgaben übertragen sind (§ 1 UZwGBw) zu bestimmten<br />

Zwangsmaßnahmen, und auch dies nur zur Abwehr<br />

bzw. Verfolgung von Straftaten, die sich gegen die Bundeswehr<br />

richten. Auf die Pirateriebekämpfung findet das UZw-<br />

GBw (zumindest unmittelbar) keine Anwendung. Zu diskutieren<br />

wäre dies, wenn sich der Angriff der Piraterieverdächtigen<br />

gegen ein Schiff der Bundeswehr richtet.<br />

100 Vgl. Art. 2 lit. e der berichtigten deutschen Fassung der<br />

Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates v. 10.11.<br />

2008 über die Militäroperation der Europäischen Union als<br />

Beitrag zur Abschreckung, Verhütung und Bekämpfung von<br />

seeräuberischen Handlungen und bewaffneten Raubüberfällen<br />

vor der Küste Somalias, ABl. EU Nr. L 301 v. 12.11.2008,<br />

S. 33 sowie ABl. EU Nr. L 10 v. 15.1.2009, S. 35 sowie BT-<br />

Drs. 16/11337 v. 10.12.2008, S. 2.<br />

101 Fischer-Lescano/Tohidipur, NJW 2009, 1243 (1246); ebenso<br />

– unter Hinweis auf Rechtsmissbrauch – Fischer-Lescano/<br />

Kreck (Fn. 86), S. 20.<br />

102 Vgl. abweichend z.B. Wolfrum, Interview, Das Parlament,<br />

52/2008, S. 2, der von der Anwendbarkeit des § 127 Abs. 1<br />

StPO als Rechtsgrundlage für freiheitsentziehende Maßnahmen<br />

durch Marinesoldaten im Rahmen des Atalanta-Einsatzes<br />

ausgeht.<br />

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779


Robert Esser/Sebastian Fischer<br />

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würden gezielt in Festnahmesituationen entsandt. Zwar ist die<br />

Marine ausdrücklich auch befugt, Piraterieverdächtige festzuhalten.<br />

103 Ob diese Befugnis, die sich im Übrigen für<br />

Kriegsschiffe auf Hoher See auch außerhalb derartiger besonderer<br />

Operationen bereits aus Art. 105, 107 SRÜ ergibt,<br />

den von o.a. Ansicht gezogenen Schluss zulässt, es handle<br />

sich bei dem Einsatz um eine „gezielte Entsendung in Festnahmesituationen“,<br />

erscheint indes angesichts des militärischen<br />

Charakters des Einsatzes, der vielfältigen Aufgaben der<br />

Marine und der Vielgestaltigkeit der Einsatzszenarien (siehe<br />

Einleitung) 104 mehr als fraglich. 105 Das Aufgreifen und Festhalten<br />

von Verdächtigen stellt vielmehr lediglich ein Mittel<br />

zur Erfüllung des – komplexen – Auftrages dar. Dementsprechend<br />

ist, nach den bisherigen Erfahrungen seit Beginn des<br />

Einsatzes, die Durchführung freiheitsentziehender Maßnahmen<br />

durch Einsatzkräfte der Marine die Ausnahme geblieben.<br />

106 Insoweit erscheint das Argument einer gezielten Entsendung<br />

in Festnahmesituationen bereits aus tatsächlichen<br />

Gründen fraglich.<br />

Auch der Umstand, dass es sich beim Festnahmerecht aus<br />

§ 127 Abs. 1 S. 1 StPO um eine Art „Notrecht“ handelt<br />

(strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund), ist letztlich kein<br />

Argument, das die Gegenansicht für sich in Anspruch nehmen<br />

kann. Denn die „Not“ und die aus ihr resultierende<br />

„Vorläufigkeit“ der Eingriffsmaßnahme besteht allein im<br />

103 Vgl. zum Aufgabenspektrum im Rahmen des Einsatzes<br />

BT-Drs. 16/11337 v. 10.12.2008, S. 2.<br />

104 Hierzu weiterführend und zwischen verschiedenen, im<br />

Rahmen von Atalanta vorgesehenen Operationsarten differenzierend<br />

Uhl (Fn. 5), S. 12.<br />

105 Vgl. Heinicke (Fn. 7), 192 f.: „[…] Festnahme von Piraten<br />

[…] nicht das primäre Ziel der Operation.“<br />

106 Seit Beginn der Operation Atalanta wurden mehr als 200<br />

Handelsschiffe sowie 50 Schiffe des Welternährungsprogramms<br />

von im Rahmen der Mission eingesetzten Kriegsschiffen<br />

im Golf von Aden begleitet (Stand 22.10.2009).<br />

Lediglich in vier Fällen kam es bislang zu freiheitsentziehenden<br />

Maßnahmen gegen Piraterieverdächtige durch Schiffe<br />

der Deutschen Marine. Am 3.3.2009 wurden neun Personen,<br />

am 29.3.2009 weitere sieben Personen und am 7.9.2009 weitere<br />

vier Piraterieverdächtige in Gewahrsam genommen, ein<br />

weiterer Verdächtiger wurde hierbei getötet. Am 27.10.2009<br />

kam es zu einer Ingewahrsamnahme von insgesamt sieben<br />

Verdächtigen. Während die vier bei dem Einsatz vom 7.9. in<br />

Gewahrsam genommenen Personen nach einigen Tagen wieder<br />

auf freien Fuß gesetzt wurden, entschied die Bundesregierung<br />

in enger Abstimmung mit dem EUNAFVOR-Hauptquartier,<br />

die am 27.10.2009 festgehaltenen Personen an Kenia<br />

zum Zwecke der Strafverfolgung zu überstellen. Insgesamt<br />

wurden seit Beginn der EU-Mission im Dezember 2008<br />

ca. 90 Piratenangriffe abgewehrt und mehr als 80 Personen<br />

durch Marineeinheiten in Gewahrsam genommen; vgl. hierzu<br />

Tagesspiegel v. 16.9.2009 (Aus Mangel an Beweisen) sowie<br />

http://www.consilium.europa.eu/showPage.aspx?id=1518&la<br />

ng=de (Stand 9.10.2009). Zum Vorfall v. 7.9.2009 vgl.<br />

http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,649004,00.html<br />

(Stand 28.9.2009).<br />

Fehlen eines richterlichen Haftbefehls, durch den die Untersuchungshaft<br />

gegenüber einer bestimmten Person angeordnet<br />

wird (§ 114 StPO). Vergleichbare „Festnahmesituationen“, in<br />

die etwa Polizeibeamte „gezielt“ geschickt werden, gibt es<br />

auch bei Demonstrationen oder Menschenansammlungen<br />

(aus bestimmten Anlässen). Niemand käme auf die Idee, der<br />

Polizei in einer solche Konstellation das Recht auf eine vorläufige<br />

Festnahme von mutmaßlichen Straftätern nach § 127<br />

Abs. 1 S. 1 StPO streitig zu machen. Letztlich ist der Einsatz<br />

der Marinesoldaten „als Jedermann“ – in Bezug auf die zu<br />

erwartenden vorläufigen Festnahmen – vergleichbar mit einer<br />

polizeilichen Streifenfahrt in einem kriminalitätsbelasteten<br />

Wohnviertel oder dem Einsatz bei einer Großveranstaltung<br />

mit gewaltbereiten Teilnehmern.<br />

cc) Festnahmelage und Festnahmegrund<br />

Weiterhin wird im Schrifttum bei der Anwendung von § 127<br />

Abs. 1 S. 1 StPO bei Maßnahmen gegen Piraten auf Hoher<br />

See das Merkmal der Betroffenheit auf frischer Tat problematisiert.<br />

107 „Frisch“ im Sinne der Norm ist eine Tat während<br />

des Tatvorgangs und kurz danach. Das Tatgeschehen muss<br />

für einen Beobachter als rechtswidrige Tat 108 oder als strafbarer<br />

Versuch erkennbar sein, wobei sich die Beobachtung<br />

nicht auf den gesamten Tathergang erstrecken muss. Die<br />

wahrgenommenen Teile müssen jedoch ohne weitere Indizien<br />

nach der Lebenserfahrung den Schluss auf eine rechtswidrige<br />

Tat zulassen. 109 Nach überwiegender Ansicht im Schrifttum<br />

muss die Tat auch tatsächlich vorliegen; ein Verdacht reicht –<br />

anders als bei § 127 Abs. 2 StPO – nicht aus. 110<br />

Auf frischer Tat betroffen wird jemand, wenn er bei der<br />

Erfüllung des Straftatbestandes oder unmittelbar danach am<br />

Tatort oder in dessen unmittelbarer Nähe gestellt wird. 111 Auf<br />

frischer Tat verfolgt wird eine Person, wenn unmittelbar nach<br />

Entdeckung der kurz zuvor mutmaßlich von ihr verübten Tat<br />

Maßnahmen der Nacheile, die auf ihre Ergreifung gerichtet<br />

sind, beginnen. Zum Zeitpunkt der Entdeckung der Tat muss<br />

der Täter nicht mehr selbst anwesend sein. Es reicht aus, dass<br />

seine Verfolgung auf Grund konkreter auf ihn hinweisender<br />

Anhaltspunkte unverzüglich begonnen wird. 112 Die Verfolgung<br />

muss auch nicht sofort nach der Entdeckung beginnen,<br />

107 Vgl. hierzu Wolfrum (Fn. 102), S. 2.<br />

108 Vgl. zu den bei Piraterie in Betracht kommenden Straftatbeständen<br />

(StGB) die Antwort der Bundesregierung auf die<br />

Kleine Anfrage der FDP, BT-Drs. 16/12927 v. 8.5.2009, S. 6,<br />

Frage 16. Weitere in Betracht kommende Delikte bei Allmendinger/Kees,<br />

NZWehrr 2008, 60 (69).<br />

109 Schultheis, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar<br />

zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 127 Rn. 10.<br />

110 Vgl. Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 1, 2006, Rn. 532 ff.<br />

m.w.N.; Beulke, Strafprozessrecht, 10. Aufl. 2008, Rn. 235.<br />

111 RGSt 65, 392 (394); Meyer-Goßner (Fn. 78), § 127 Rn. 5;<br />

Schultheis (Fn. 109), § 127 Rn. 10; Satzger, Jura 2009, 107<br />

(110).<br />

112 Hilger (Fn. 94), § 127 Rn. 15; Meyer-Goßner (Fn. 78),<br />

§ 127 Rn. 6; Schultheis (Fn. 109), § 127 Rn. 12.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

780<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

sondern der Verfolger kann erst Helfer herbeirufen. 113 Nicht<br />

vorausgesetzt wird eine Verfolgung auf Sicht und Gehör, 114<br />

so dass im vorliegenden Kontext ggf. auch eine Nacheile<br />

aufgrund der Wahrnehmung eines Piratenbootes mittels Radar-<br />

oder Satellitenüberwachung im Einzelfall hierunter gefasst<br />

werden könnte.<br />

Nicht erforderlich ist, dass der Verfolger selbst die Tat<br />

entdeckt hat. Er kann vom Entdecker der frischen Tat, also<br />

z.B. dem Kapitän oder der Besatzung eines angegriffenen<br />

Schiffes, informiert worden sein oder die von diesem unmittelbar<br />

nach der Tat begonnene Verfolgung übernommen<br />

haben. 115 § 127 Abs. 1 S. 1 StPO verlangt auch nicht, dass<br />

der Festnehmende der erste Verfolger ist. Vielmehr reicht<br />

aus, dass er von diesem oder einer weiteren Person zur Verfolgung<br />

oder Festnahme veranlasst worden ist. 116 Im Übrigen<br />

enthält § 127 Abs. 1 S. 1 StPO keine zeitliche Begrenzung<br />

der Verfolgungsdauer. Die unmittelbar nach Entdeckung der<br />

frischen Tat aufgenommene und ununterbrochen andauernde<br />

Verfolgung kann daher bis zur Festnahme des Täters fortgesetzt<br />

werden. 117<br />

Eine „frische Tat“ im Sinne dieser Norm läge beispielsweise<br />

vor, wenn ein durch Marinesoldaten im Rahmen eines<br />

Konvois geschütztes Schiff durch Piraten angegriffen wird,<br />

sowie in Fällen, in denen z.B. eine Fregatte der Deutschen<br />

Marine außerhalb eines Konvois einem von Piraten angegriffenen<br />

Schiff auf dessen Funkspruch hin zur Hilfe eilt und die<br />

Piraten aufgrund des Eingreifens den Angriff abbrechen und<br />

flüchten 118 , da in diesen Fällen zumindest Teile des Tathergangs<br />

durch die verfolgenden Soldaten noch selbst wahrgenommen<br />

werden können. Selbst in Fällen, in denen die Piraten<br />

noch vor Erscheinen der Marine aufgrund des Hilferufs<br />

den Angriff abbrechen und die Flucht ergreifen, dürfte nach<br />

dem zuvor Gesagten eine Betroffenheit auf frischer Tat vorliegen,<br />

sofern die Verfolgung aufgrund des Notrufs und der<br />

Hinweise der Besatzung des angegriffenen Schiffs unverzüglich<br />

begonnen wird und die Täter im Rahmen der Nacheile<br />

noch in dem entsprechenden Seegebiet von den Marinesoldaten<br />

gestellt werden. 119<br />

Ein § 127 Abs. 1 S. 1 StPO genügender Festnahmegrund<br />

dürfte bei Freiheitsentziehungen im Zuge der Operation Atalanta<br />

schon darin zu sehen sein, dass die Piraterieverdächti-<br />

113 Hilger (Fn. 94), § 127 Rn. 15; Schultheis (Fn. 109), § 127<br />

Rn. 12.<br />

114 Hilger (Fn. 94), § 127 Rn. 15.<br />

115 Hilger (Fn. 94), § 127 Rn. 16.<br />

116 Hilger (Fn. 94), § 127 Rn. 16; Schultheis (Fn. 109), § 127<br />

Rn. 13.<br />

117 Hilger (Fn. 94), § 127 Rn. 17; Schultheis (Fn. 109), § 127<br />

Rn. 14. Völkerrechtliche Probleme der Verfolgung etwa in<br />

somalische Küstengewässer bleiben vorliegend außer Betracht.<br />

Vgl. hierzu die UN-Resolutionen 1846 (2008) und<br />

1851 (2008).<br />

118 Vgl. hierzu Pressemitteilung des BMVg v. 18.11.2008<br />

zum Einsatz der Fregatte Karlsruhe am 17.11.2008:<br />

http://www.marine.de, Suchwort: 18.11.2008 (Stand 24.12.2009).<br />

119 In diesem Sinn Wolfrum (Fn. 102), S. 2.<br />

gen der Flucht verdächtig sind oder aber ihre Identität nicht<br />

sofort festgestellt werden kann.<br />

dd) Festnahmemittel<br />

Erlaubte Mittel zur Ermöglichung der Festnahme sind – im<br />

Rahmen der Verhältnismäßigkeit – (leichte) Körperverletzungen,<br />

Freiheitsberaubungen sowie die Anwendung physischer<br />

Gewalt. 120 Eine Befugnis zum Gebrauch der Schusswaffe<br />

gegenüber (fliehenden) Tatverdächtigen gibt § 127<br />

Abs. 1 Satz 1 StPO dagegen nicht (weder für Private noch für<br />

Amtsträger) 121 ; eine solche Befugnis folgt für Amtsträger –<br />

auch im Bereich der Strafverfolgung – erst aus den Gesetzen<br />

über die Anwendung unmittelbaren Zwangs (für Soldaten der<br />

Bundeswehr: UZwGBw) bzw. aus den Landespolizeigesetzen.<br />

122 Das Androhen der Schussabgabe sowie die Abgabe<br />

von Warnschüssen sind dagegen zulässig. 123<br />

ee) Zwischenergebnis<br />

Das damit gegebene vorläufige Festnahmerecht deutscher<br />

Soldaten im Zuge der Operation Atalanta auf der Grundlage<br />

des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO ist auch mit dem durch das SRÜ<br />

gesteckten völkerrechtlichen Rahmen vereinbar. Danach darf<br />

ein Aufbringen wegen Seeräuberei nur von Kriegsschiffen<br />

oder von anderen Schiffen vorgenommen werden, die deutlich<br />

als im Staatsdienst stehend gekennzeichnet, als solche<br />

erkennbar und hierzu befugt sind (vgl. Art. 107 SRÜ). 124 Bei<br />

120 Im Einzelnen str.: vgl. Krey (Fn. 110), Rn. 537 ff.; Hilger<br />

(Fn. 94), § 127 Rn. 29 f.<br />

121 Beulke (Fn. 110), Rn. 237; Kühne (Fn. 94), Rn. 455;<br />

Paeffgen (Fn. 94), § 127 Rn. 21; Hilger (Fn. 94), § 127<br />

Rn. 29 m.w.N.; Schröder, Jura 1999, 10 (12 f.); befürwortend<br />

dagegen eine Mindermeinung in der Literatur (im Rahmen<br />

der Verhältnismäßigkeit): Schultheis (Fn. 109), § 127 Rn. 28;<br />

Wankel (Fn. 94), § 127 Rn. 11.<br />

122 Vgl. Krey (Fn. 94), Rn. 608; Satzger, Jura 2009, 107 (113);<br />

Schröder (Fn. 121), 13, Fn. 29; Hilger (Fn. 94), § 127 Rn. 31.<br />

123 Siehe: RGSt 65, 392 (396); Krey (Fn. 110), Rn. 537; Hilger<br />

(Fn. 94), § 127 Rn. 29; Paeffgen (Fn. 94), § 127 Rn. 21.<br />

124 Entgegen der von Fischer-Lescano/Tohidipour (Fn. 101),<br />

1245) vertretenen Ansicht setzt Art. 107 SRÜ zumindest bei<br />

Kriegsschiffen keine innerstaatliche Befugnis zum Aufbringen<br />

von Piratenschiffen voraus. Die entsprechende Einschränkung<br />

des zweiten Halbsatzes des Art. 107 SRÜ („[…]<br />

die deutlich als im Staatsdienst stehend gekennzeichnet und<br />

als solche erkennbar sind und die hierzu befugt sind“) gilt<br />

ausschließlich für andere Schiffe und Luftfahrzeuge im Sinne<br />

des Artikels. Dies ergibt sich aus einem Vergleich der deutschen<br />

Fassung mit dem Wortlaut der authentischen Sprachfassungen<br />

des SRÜ (vgl. hierzu Art. 320 SRÜ). So lautet<br />

Art. 107 SRÜ in der englischen Fassung: „A seizure on account<br />

of piracy may be carried out only by warships or military<br />

aircraft, or other ships or aircraft clearly marked and<br />

identifiable as being on government service and authorized to<br />

that effect.“ Hieran wird deutlich, dass die vier Aufzählungselemente<br />

nicht gleichrangig nebeneinander stehen. Es werden<br />

vielmehr zwei Gruppen gebildet, wobei sich der Relativsatz<br />

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781


Robert Esser/Sebastian Fischer<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

den derzeit eingesetzten Schiffen der Deutschen Marine wäre<br />

die erste Alternative eindeutig erfüllt; Schiffe der Bundespolizei<br />

würden die formalen Anforderungen des Art. 107 SRÜ<br />

ebenfalls erfüllen, werden aber zurzeit nicht eingesetzt. 125<br />

b) § 127 Abs. 2 StPO<br />

Einschlägig für Freiheitsentziehungen auf Hoher See könnte<br />

des Weiteren § 127 Abs. 2 StPO sein, wonach die Staatsanwaltschaft<br />

und die Beamten des Polizeidienstes bei Gefahr im<br />

Verzug zur vorläufigen Festnahme (auch dann) befugt sind,<br />

wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls […] vorliegen.<br />

Da § 4 Abs. 1 SeeAufgG vorsieht, dass seewärts der Begrenzung<br />

des Küstenmeeres bei der Verfolgung von Straftaten<br />

und Ordnungswidrigkeiten zur Erfüllung völkerrechtlicher<br />

Verpflichtungen oder zur Wahrnehmung völkerrechtlicher<br />

Befugnisse die Vorschriften der Strafprozessordnung<br />

und des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten entsprechend<br />

gelten, ist § 127 Abs. 2 StPO prinzipiell für Freiheitsentziehungen<br />

im Zuge der Operation Atalanta anwendbar – unabhängig<br />

von der Frage der Zuständigkeit bestimmter staatlicher<br />

Stellen zur Vornahme der Maßnahme.<br />

Eine Gefahr im Verzug liegt bei einer Festnahmesituation<br />

auf Hoher See regelmäßig vor, die Voraussetzungen eines<br />

Haftbefehls (§§ 112, 112a, 114 StPO) – dringender Tatverdacht<br />

sowie einer der in §§ 112, 112a StPO genannten Haftgründe<br />

(insb. Flucht oder Fluchtgefahr) – ebenfalls. Die auf<br />

allein auf die zweite Gruppe der sonstigen Schiffe und Luftfahrzeuge<br />

bezieht. Kriegsschiffe und Militärluftfahrzeuge<br />

sind demnach auch ohne besondere innerstaatliche Befugnis<br />

völkerrechtlich zur Pirateriebekämpfung ermächtigt. Überzeugend<br />

Arndt, Zu Rechtsgrundlagen und Fristen bei der<br />

Festnahme von Piraten, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen<br />

Bundestages, 2009, S. 6; zustimmend: Wiefelspütz,<br />

UBWV 2009, 361 (365); Fischer-Lescano/Kreck (Fn. 86),<br />

S. 29 f., leiten hingegen aus einer „Gesamtschau“ des<br />

Art. 107 SRÜ mit der in Art. 29 SRÜ enthaltenen Definition<br />

eines Kriegsschiffs das Erfordernis einer innerstaatlichen<br />

Befugnis zum Aufbringen von Piratenschiffen ab. Dem kann<br />

nicht gefolgt werden. Die Voraussetzung des Art. 29 SRÜ,<br />

wonach ein Kriegsschiff unter dem Befehl eines Offiziers<br />

stehen muss, der sich im Dienst des jeweiligen Staates befindet<br />

(in der authentischen englischen Sprachfassung „an officer<br />

duly commissioned by the government of the State“)<br />

wird von jedem an der Operation Atalanta beteiligten Schiff<br />

der Deutschen Marine erfüllt. Das Erfordernis ordnungsgemäßer<br />

Bevollmächtigung („duly commissioned“) bezieht sich<br />

eindeutig auf den Auftrag des Schiffskommandanten, der sich<br />

im Dienst des Flaggenstaates befinden muss und nicht etwa,<br />

z.B. nach einer Meuterei, „auf eigene Rechnung“ handeln<br />

darf. Eine Aussage über innerstaatliche, insbesondere verfassungsrechtliche<br />

Voraussetzungen eines Einsatzes ist Art. 29<br />

SRÜ weder nach Sinn und Zweck noch nach dem Wortlaut<br />

zu entnehmen.<br />

125 Für Militärluftfahrzeuge und sonstige staatlichen Luftfahrzeuge,<br />

z.B. für einen auf einer Fregatte stationierten<br />

Bordhubschrauber, gelten die Voraussetzungen und Bedingungen<br />

entsprechend.<br />

Hoher See begangene Tat, derer die Person dringend verdächtig<br />

sein muss, dürfte in den meisten Fällen als Angriff<br />

auf den (zivilen) Seeverkehr i.S.v. § 316c Abs. 1 Nr. 1 lit. b<br />

StGB – ggf. in Tateinheit mit §§ 223 ff., 239, 239a, 239b,<br />

240, 249, 253, 255, 303, 315 StGB – einzustufen sein.<br />

Es stellt sich allerdings die Frage, wer für die Durchführung<br />

einer vorläufigen Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO<br />

zuständig wäre. § 1 Nr. 3 lit. d lit. bb SeeAufgG weist dem<br />

Bund auf der Hohen See die Aufgaben der Behörden und<br />

Beamten des Polizeidienstes nach der Strafprozessordnung<br />

zu. Gemäß § 4 Abs. 3 SeeAufgG i.V.m. § 1 Nr. 1 126 und Nr. 2<br />

lit. a 127 ZustBV-See 128 besteht für Maßnahmen gegen die<br />

Seeräuberei auf der Hohen See die Zuständigkeit der Bundespolizei,<br />

die sich sowohl auf Schiffe unter deutscher Flagge<br />

als auch auf alle anderen Schiffe erstreckt.<br />

Unterstützung erfährt dieses Ergebnis – Zuständigkeit der<br />

Bundespolizei, nicht der Bundeswehr – für Festnahmen nach<br />

§ 127 Abs. 2 StPO auf Hoher See 129 auch durch die Regelung<br />

im BPolG. § 6 BPolG normiert die der Bundespolizei obliegenden<br />

„Aufgaben auf See“. Unbeschadet der Zuständigkeit<br />

anderer Behörden oder der Streitkräfte hat die Bundespolizei<br />

auf Hoher See die Maßnahmen zu treffen, zu denen die BR<br />

Deutschland nach dem Völkerrecht befugt ist. Bei der Aufbringung<br />

i.S.v. Art. 105 SRÜ ist dies der Fall; auch handelt<br />

es sich dabei nicht um eine Maßnahme, die durch Rechtsvorschriften<br />

des Bundes anderen Behörden oder Dienststellen<br />

zugewiesen oder die ausschließlich Kriegsschiffen vorbehalten<br />

ist. 130<br />

Eine Zuständigkeit der Bundeswehr im Rahmen des § 127<br />

Abs. 2 StPO ließe sich allenfalls noch über den Gedanken der<br />

Amtshilfe (Art. 35 GG) herleiten. Eine spezielle Vorschrift in<br />

126 Für Straftaten auf unter deutscher Flagge fahrender Schiffe.<br />

127 Für alle übrigen Schiffe.<br />

128 Verordnung zur Bezeichnung der zuständigen Beamten<br />

des Bundes für bestimmte Aufgaben nach der Strafprozessordnung<br />

auf dem Gebiet der Seeschifffahrt (ZustBV-See) v.<br />

4.3.1994 (BGBl. I, S. 442), zuletzt geändert durch Gesetz v.<br />

21.6.2005 (BGBl. I, S. 1818).<br />

129 Allgemein gegen eine „ausschließliche Kompetenzzuweisung“<br />

an die Bundespolizei aus § 6 BPolG: Wiefelspütz<br />

(Fn. 66), 142; keine Kompetenzzuweisung an die Bundeswehr<br />

wegen des verfassungsrechtlichen Trennungsgebotes<br />

i.V.m. § 6 BPolG dagegen: Fischer-Lescano/Kreck (Fn. 86),<br />

S. 34 f.<br />

130 Diese Zuständigkeit der Bundespolizei für Festnahmen<br />

gemäß § 127 Abs. 2 StPO vermag hingegen nichts an der<br />

(s.o.) begründeten Befugnis der Deutschen Marine zur Vornahme<br />

von Maßnahmen gemäß § 127 Abs. 1 S. 1 StPO zu<br />

ändern. Insoweit ist die Situation auf Hoher See mit der innerstaatlichen<br />

Rechtslage zu vergleichen. Hier greift das<br />

Jedermannrecht des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO gerade im Falle<br />

der Nichterreichbarkeit der zuständigen Strafverfolgungsbehörden<br />

mit ihrem Festnahmerecht gemäß § 127 Abs. 2 StPO<br />

ein und ermöglicht ein Festhalten des Täters bis zum Eintreffen<br />

der zuständigen Strafverfolgungsbehörden. Die hier vertretene<br />

Ansicht fügt sich damit nahtlos in die Dogmatik der<br />

Festnahmerechte nach der StPO ein.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

782<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Bezug auf die Kriminalitätsbekämpfung auf Hoher See fehlt<br />

sowohl im BPolG als auch im SeeAufgG. Hilfe im Sinne von<br />

Art. 35 GG meint die Tätigkeit einer Behörde, die diese auf<br />

Ersuchen einer anderen Behörde vornimmt, um die Durchführung<br />

der Aufgaben der ersuchenden Behörde zu ermöglichen<br />

oder zu erleichtern; Art. 35 Abs. 1 GG enthält keine Ermächtigung<br />

zur Vornahme von anderweitig nicht zulässigen<br />

Hoheitsakten durch eine andere Behörde. 131 Strittig ist, ob<br />

Art. 35 Abs. 1 GG nur eine Spezialregelung zur grundsätzlichen<br />

Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern ist<br />

und somit auch nur in diesem Verhältnis gilt, nicht jedoch<br />

zwischen unterschiedlichen Bundesbehörden. 132 Letztlich<br />

kann der Streit dahinstehen, da die Amtshilfe allein nicht zu<br />

Grundrechtseingriffen ermächtigt. 133 Soll in Grundrechte eingegriffen<br />

werden, bedarf die Amtshilfe daher – bei Überwindung<br />

der sachlichen Zuständigkeit – eines Spezialgesetzes. 134<br />

Die Amtshilfe ist weiterhin nicht auf Dauer ausgelegt; sie ist<br />

nur ausnahmsweises und punktuelles, nicht aber dauerhaftes<br />

Zusammenwirken. 135<br />

III. Ergebnis<br />

Die Befugnis zum Einschreiten gegen Piraten leitet sich völkerrechtlich<br />

aus Art. 105 SRÜ und dem völkergewohnheitsrechtlichen<br />

Recht zur Pirateriebekämpfung ab. Der Umfang<br />

der Zwangsmaßnahmen, insbesondere der Freiheitsentziehung,<br />

muss im Hinblick auf den nicht abdingbaren Art. 104<br />

Abs. 1 S. 1 GG durch den Gesetzgeber in einem förmlichen<br />

Gesetz geregelt werden, das die wesentlichen Grundzüge der<br />

Maßnahme selbst normiert. Eine solche gesetzliche Ausgestaltung<br />

liegt mit dem in § 4 Abs. 1 SeeAufgG enthaltenen<br />

Verweis auf die StPO vor, die damit anwendbar ist. Eine<br />

Befugnis der Soldaten der Deutschen Marine für vorläufige<br />

Freiheitsentziehungen auf Hoher See ergibt sich aus § 127<br />

Abs. 1 S. 1 StPO, soweit dessen tatbestandliche Voraussetzungen<br />

im Einzelfall erfüllt sind. § 127 Abs. 2 StPO ist hingegen<br />

für Soldaten der Deutschen Marine im Rahmen der<br />

Operation Atalanta nicht anwendbar.<br />

131 Maunz (Fn. 70), Stand: 5/2009, Art. 35 GG Rn. 1.<br />

132 So Pieroth, in: Jarass/Ders. (Fn. 27), Art. 35 GG Rn. 1;<br />

a.A. Erbguth, in: Sachs (Fn. 23), Art. 35 GG Rn. 5; Gubelt,<br />

in: von Münch/Kunig (Fn. 55), Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001,<br />

Art. 35 GG Rn. 1; Magen, in: Umbach/Clemens (Hrsg.),<br />

Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. 1,<br />

2002, Art. 35 GG Rn. 10; Hömig (Fn. 54), Art. 35 GG Rn. 2.<br />

133 BVerwGE 119, 123 = NJW 2004, 1191.<br />

134 So ausdrücklich Pieroth (Fn. 132), Art. 35 GG Rn. 2.<br />

135 Epping, in: Ders./Hillgruber (Fn. 61), Stand 1.2.2009,<br />

Art. 35 GG Rn. 4 unter Verweis auf BVerfGE 63, 1 = NVwZ<br />

1983, 527.<br />

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783


Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen<br />

Entwicklungen in nationalen und internationalen Strafverfahren<br />

Von Prof. Dr. Christoph Safferling, LL.M. (LSE), Wiss. Mitarbeiterin Alena Hartwig, Marburg<br />

I. Einleitung<br />

Die Rechtsstellung des Beschuldigten ist dadurch gekennzeichnet,<br />

dass er nicht nur Untersuchungsobjekt, sondern<br />

zugleich ein mit besonderen Rechten und Pflichten ausgestattetes<br />

Prozesssubjekt ist. 1 Eine der elementarsten Garantien<br />

des Verfahrensrechts, die aus dieser Überlegung hervorgeht,<br />

ist das Recht des Beschuldigten, sich nicht selbst belasten zu<br />

müssen. Der Beschuldigte darf nicht gezwungen werden, zur<br />

Strafverfolgung gegen sich selbst beizutragen. 2 Denknotwendig<br />

verbunden mit einem solchen Recht ist, dass der Beschuldigte<br />

das Recht haben muss, ohne Gefahr von Nachteilen<br />

auf die Anschuldigungen und Fragen der ermittelnden<br />

Personen hin zu schweigen. Untrennbar mit dem Verbot des<br />

Selbstbelastungszwanges hängt somit die Aussagefreiheit<br />

zusammen. Diese gewährleistet eine umfassende Verhaltensfreiheit,<br />

innerhalb derer der Beschuldigte sowohl über das<br />

„Ob“ als auch über das „Wie“ seiner Aussage frei bestimmen<br />

kann. 3 Er soll die Möglichkeit haben, frei und eigenverantwortlich<br />

zu entscheiden, ob er sich selbst belastet oder nicht,<br />

und dabei Herr seiner Entschlüsse sein. Das Recht zu<br />

schweigen schützt den Beschuldigten in erster Linie vor unzulässigem<br />

Druck oder Zwang durch die Strafverfolgungsbehörden,<br />

beugt der Erlangung von Beweismitteln gegen bzw.<br />

ohne den Willen des Beschuldigten vor und hilft, Justizirrtümer<br />

zu vermeiden. 4<br />

1 Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn. 102; Ransiek,<br />

Die Rechte des Beschuldigten in der Polizeivernehmung,<br />

1990, S. 49, 52; Peters, Strafprozess, 4. Aufl. 1985, S. 203.<br />

2 Gollwitzer, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung<br />

und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 8, 25.<br />

Aufl. 2005, Art. 6 MRK Rn. 248; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung,<br />

Kommentar, 52. Aufl. 2009, Einl. Rn. 29a;<br />

Böse, GA 2002, 98 (99); Abernathy/Perry, Civil Liberties<br />

under the Constitution, 1993, S. 84; Harris, I.C.L.Q. 16<br />

(1967), 355 (369). Zur geschichtlichen Entwicklung des<br />

nemo-tenetur-Grundsatzes siehe von Gerlach, in: Ebert u.a.<br />

(Hrsg.), Festschrift für Ernst-Walter Hanack zum 70. Geburtstag,<br />

1999, S. 117.<br />

3 Eser, ZStW 79 (1967), 565 (576); Rogall, Der Beschuldigte<br />

als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 45.<br />

4 EGMR, Funke ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-A, Rn. 44;<br />

Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I, Rn. 45.<br />

Nach den Urteilen in Funke und Murray sah der EGMR den<br />

Sinngehalt des Schweigerechts vorrangig darin, den Willen<br />

des Beschuldigten, zu schweigen, zu schützen, vgl. Saunders<br />

./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, Rn. 69 („The<br />

right not to incriminate oneself is primarily concerned with<br />

respecting the will of an accused person to remain silent<br />

[…]“). Über diese Interpretation des Sinngehaltes der Selbstbelastungsfreiheit<br />

durch den EGMR hinaus wird versucht, die<br />

ratio dieser Garantie auf Genaueres festzulegen. Siehe hierzu<br />

Redmayne, OJLS 27 (2007), 209 unter 3. D.; Judge Martens,<br />

In jüngerer Zeit ist das Schweigerecht in erhebliche Bedrängnis<br />

geraten. Es sind nicht die Folterberichte aus Ländern<br />

mit zweifelhafter rechtsstaatlicher Struktur, auch in westlich<br />

demokratischen Staaten werden Vorwürfe von Folter oder<br />

menschenunwürdiger Behandlung laut. Selbst in Deutschland<br />

zeigen die Fälle Jalloh 5 und Gäfgen 6 , dass die Strafverfolgung<br />

auch hier keine lupenreine Weste trägt. In England wird<br />

ganz offen schon seit längerem das Schweigerecht des Angeklagten<br />

in Frage gestellt. Vor internationalen Strafgerichtshöfen<br />

wird über die Reichweite des Angeklagtenschutzes gestritten.<br />

In diesem Beitrag sollen die Entwicklungen in verschiedenen<br />

nationalen Rechtsordnungen (Deutschland, USA,<br />

England) mit denen vor internationalen Strafgerichtshöfen<br />

erörtert und verglichen werden.<br />

II. Nationale Rechtssysteme<br />

1. Verschiedene Einzelstaaten: Deutschland, USA, England<br />

a) Grundregelungen des Schweigerechts<br />

In der deutschen Strafprozessordnung hat der nemo-tenetur-<br />

Grundsatz seinen Niederschlag in den §§ 55, 136 Abs. 1,<br />

136a Abs. 1, 3, 163a Abs. 3, 4, 243 Abs. 4 S. 1 StPO gefunden.<br />

Zwar ist die Selbstbelastungsfreiheit in der deutschen<br />

Strafprozessordnung nicht ausdrücklich normiert, sie wird<br />

jedoch nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO für den Beschuldigten<br />

und nach § 55 StPO für den Zeugen vorausgesetzt. 7 Dabei<br />

weisen die §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 3, 4 StPO auf die<br />

Pflicht der vernehmenden Institution (gleich, ob Richter,<br />

Staatsanwalt oder Polizeibeamter) hin, den Beschuldigten<br />

über seine Rechte, unter anderem auch das Recht zu schweigen,<br />

aufzuklären. Der Beschuldigte kann zunächst von seinen<br />

Rechten immer nur dann Gebrauch machen, wenn er zuvor<br />

darüber in Kenntnis gesetzt wurde und ihm die Möglichkeit<br />

eröffnet wurde, diese Rechte auch faktisch auszuüben. Gleiches<br />

gilt, geprägt durch den Gedanken der Verfahrensfairness,<br />

für das Recht zu schweigen. 8 Aus diesem Grund muss<br />

zeitlich gesehen vor der ersten Vernehmung durch Angehörige<br />

der Strafverfolgungsbehörden eine Belehrung des Beschuldigten<br />

erfolgen, in der er über die ihm zustehenden<br />

Dissenting Opinion, Saunders ./. Vereinigtes Königreich,<br />

Rn. 9 ff.; Butler, C.L.F. 11 (2000), 461 (482).<br />

5 EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Urt. v. 11.7.2006, Safferling,<br />

Jura 2008, 100; Schuhr, NJW 2006, 3538.<br />

6 EGMR, Gäfgen ./. Deutschland, Urt. v. 30.6.2008 = NStZ<br />

2008, 699; dazu Jäger, JA 2008, 678; umfassend Lamprecht,<br />

Darf der Staat foltern, um Leben zu retten?, 2009.<br />

7 Safferling, Jura 2008, 100 (106); Meyer-Goßner (Fn. 2),<br />

Einl. Rn. 29a.<br />

8 Eser, ZStW 79 (1967), 565 (573); Stürner, NJW 1981, 1757<br />

(1758); Diemer, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar<br />

zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 136 Rn. 11.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

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<strong>ZIS</strong> 13/2009


Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen<br />

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Rechte informiert wird. 9 Neben der Sicherung des wohl wichtigsten<br />

Verfahrensrechts des Beschuldigten soll dadurch auch<br />

der Gefahr begegnet werden, dass der Beschuldigte wegen<br />

des amtlichen Charakters der Vernehmung irrtümlich annimmt,<br />

Angaben machen zu müssen. 10 Allerdings wird das<br />

Schweigerecht – wohl in Ansehung von § 136a StPO – verstanden<br />

als Freiheit von Zwang zur Aussage bzw. Mitwirkung<br />

am Strafverfahren und nicht als Ausfluss der allgemeinen<br />

Entschließungsfreiheit. 11 Täuschung und List beeinträchtigen<br />

nach Meinung des BGH die Aussagefreiheit daher<br />

nicht.<br />

Ebendies gilt im amerikanischen Strafprozessrecht. Hier<br />

ist es der 5. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten<br />

Staaten, der sicherstellen soll, dass niemand in einer Untersuchung<br />

gegen sich selbst aussagen muss. 12 Die Pflicht zur<br />

Belehrung ergibt sich für die ermittelnden Behörden aus<br />

einem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten<br />

Staaten aus dem Jahre 1966. In der Sache Miranda v.<br />

Arizona wurde entschieden, dass aufgrund der zwanghaften<br />

Natur polizeilicher Verhöre kein Geständnis zuzulassen sei,<br />

sofern der Verdächtige nicht vorher über seine ihm im 5. und<br />

6. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten zugestandenen<br />

Rechte belehrt worden sei und ausdrücklich auf<br />

diese verzichtet habe. 13 Die seitdem bestehende Aufklärungspflicht<br />

vor Beginn der polizeilichen Vernehmung wird auch<br />

als „Miranda Warning“ bezeichnet. 14 Im englischen Recht<br />

ergibt sich eine solche, dem § 136 StPO entsprechende Belehrungspflicht<br />

aus dem als Konkretisierung der section 78<br />

des Police and Criminal Evidence Act 1984 (PACE) ausgestalteten<br />

Code C 10.5. 15<br />

9 Ransiek (Fn. 1), S. 8; Hanack, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg,<br />

Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz,<br />

Bd. 4, 26. Aufl. 2007, § 136 Rn. 22.<br />

10 Diemer (Fn. 8), § 136 Rn. 11; Herrmann, NStZ 1997, 209<br />

(211).<br />

11 BGHSt 42, 139 (153); zuletzt auch BGH NJW 2007, 3138<br />

(3140). Auch in der deutschen Literatur scheint teilweise von<br />

einem Schutz lediglich vor Zwang zur Selbstüberführung<br />

ausgegangen zu werden, siehe nur Rogall, in: Rudolphi u.a.<br />

(Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung<br />

und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 14. Lfg., Stand: Juli<br />

1995, Vor § 133 Rn. 139; Kühl, StV 1986, 187 (190).<br />

12 Siehe zur geschichtlichen Herkunft des Fünften Zusatzartikels<br />

und des Rechts auf Freiheit von Selbstbelastung ausführlich<br />

Levy, Political Science Quarterly 84 (1969), 1.<br />

13 U.S. Supreme Court Miranda v. Arizona 384 U.S. 436<br />

(1966).<br />

14 Der Mindeststandard einer solchen Aufklärungspflicht ist<br />

dem Urteil Miranda v. Arizona gemäß folgender: „You have<br />

the right to remain silent. Anything you say can and will be<br />

used against you in a court of law. You have the right to<br />

speak to an attorney, and to have an attorney present during<br />

any questioning. If you cannot afford a lawyer, one will be<br />

provided for you at government expense.“<br />

15 „Code of Practice for the Detention, Treatment and Questioning<br />

of Persons by Police Officers“; zur Erforderlichkeit<br />

der Belehrung auch Feldman, Crim.L.R. 1990, 452 (454).<br />

b) Folgen des Schweigens<br />

Darüber hinaus muss die Frage gestellt werden, ob das<br />

Schweigen des Beschuldigten mit nachteiligen Folgen für den<br />

Betroffenen verbunden ist, bzw. überhaupt mit Nachteilen in<br />

Verbindung gebracht werden darf. Hier kollidiert das<br />

Schweigerecht des Beschuldigten mit den Zielen eines Strafverfahrens<br />

(bspw. der Wahrheitsfindung) und der Effektivität<br />

der Strafrechtspflege. 16<br />

Nach deutschem Recht ist es den Strafgerichten nicht gestattet,<br />

dem Schweigen eine belastende Bedeutung beizumessen<br />

– zumindest nicht bei vollständigem Schweigen. 17 Anders<br />

hingegen, sofern sich der Beschuldigte grundsätzlich zur<br />

Sache einlässt und lediglich im Hinblick auf bestimmte Punkte<br />

die Einlassung ablehnt. Für den Fall eines solchen „teilweisen<br />

Schweigens“ dürfen aus dem gesamten Verhalten des<br />

Betreffenden nachteilige Schlüsse gezogen werden. 18 Dem<br />

Beschuldigten steht es grundsätzlich frei, die ihm am zweckmäßigsten<br />

erscheinende Verteidigungsart zu wählen, nämlich<br />

sich zur Sache einzulassen oder zu schweigen. Entscheidet<br />

sich der Beschuldigte für letztere Alternative, so darf prinzipiell<br />

kein Schluss zu seinem Nachteil aus dieser Entscheidung<br />

gezogen werden. Es obliegt allein den Strafverfolgungsbehörden,<br />

den Beschuldigten zu überführen, denn<br />

schließlich muss sich auch und gerade im Fall des Schweigens<br />

des Beschuldigten die Unschuldsvermutung bewähren. 19<br />

Dies ist nur dann gewährleistet, wenn aus dem Schweigen<br />

keine Rückschlüsse auf die Schuld gezogen werden. Andernfalls<br />

würde das Schweigerecht des Beschuldigten wirkungslos,<br />

da es von den Strafverfolgungsbehörden mittelbar, quasi<br />

„durch die Hintertür“, umgangen werden könnte. Überdies<br />

können die Motive, aus denen heraus sich der Angeklagte<br />

(oder der Beschuldigte) für das Schweigen entscheidet, so<br />

vielschichtig sein, dass schon aus diesem Grund nicht auf ein<br />

Schuldeingeständnis geschlossen werden kann, zumal nach<br />

dem Grund des Schweigens nicht gefragt werden darf. 20 Der<br />

Zur geschichtlichen Entwicklung McConville/Hodgson/<br />

Bridges/Pavlovic, Standing Accused, 2003, S. 72 ff.<br />

16<br />

Dazu Stalinski, Aussagefreiheit und Geständnisbonus,<br />

2000, S. 24; Eser, ZStW 79 (1967), 565 (570); Kirsch, in:<br />

Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt/Main (Hrsg.),<br />

Vom unmöglichen Zustande des Strafrechts, 1995, S. 229,<br />

236 ff.<br />

17 BGHSt 20, 281 (282 f.); Diemer (Fn. 8), § 136 Rn. 10;<br />

Jäger, JR 2003, 166 (167); Stalinski (Fn. 16), S. 29 ff.<br />

18 BGHSt 1, 366 (368); 20, 298 (300); 38, 302 (307). In Bezug<br />

auf die Einlassung des Angeklagten im Rahmen der<br />

Hauptverhandlung mache dieser sich aufgrund eines freien<br />

Entschlusses zu einem Beweismittel und unterstelle sich<br />

hiermit der freien richterlichen Beweiswürdigung. Ausführlich<br />

zur Problematik des „Teilschweigens“ siehe Verrel, Die<br />

Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001, S. 24 ff.<br />

19 Salditt, in: Michalke u.a. (Hrsg.), Festschrift für Rainer<br />

Hamm zum 65. Geburtstag am 24. Februar 2008, 2008, S. 595<br />

(S. 607 Fn. 53); Rau, Schweigen als Indiz der Schuld, 2004,<br />

S. 175.<br />

20 Schoreit, in: Hannich (Fn. 8), § 261 Rn. 39; Miebach, NStZ<br />

2000, 234 (235). Diesbezüglich weist Hanack (Fn. 9), § 136<br />

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Christoph Safferling/Alena Hartwig<br />

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schweigende Beschuldigte kann sich demnach sicher sein,<br />

dass sich sein Schweigen nicht nachteilig für ihn auswirkt,<br />

wohingegen er mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen<br />

darf, dass es ihm auch nicht zum Vorteil gereicht. 21<br />

Gleiches gilt nach der anglo-amerikanischen Rechtstradition.<br />

Auch im Geltungsbereich des common law wird das<br />

Recht zu schweigen dem Beschuldigten nicht zugestanden,<br />

um es sogleich wieder dadurch zu unterlaufen, dass die Ausübung<br />

dieses Rechts mit einem Schuldeingeständnis gleichgesetzt<br />

wird. 22 Ausnahmen gelten allerdings, obwohl auf<br />

derselben Rechtstradition beruhend, unter bestimmten Bedingungen<br />

für die Rechtslage in Großbritannien. 23 Zunächst<br />

wurde mit der Criminal Evidence (Northern Ireland) Order<br />

1988 24 das Schweigerecht für Beteiligte in Strafverfahren in<br />

Nordirland dergestalt eingeschränkt, dass nachteilige Schlussfolgerungen<br />

ohne weiteres gezogen werden konnten. Diese<br />

anfangs vorläufige, für die Bekämpfung des Terrorismus in<br />

Nordirland gedachte Regelung manifestierte sich mit dem<br />

Criminal Justice and Public Order Act 1994 auch für England<br />

und Wales 25 mit weit reichenden Folgen für den Beschuldigten.<br />

26 Zur Gesetzesbegründung wird angeführt, dass es das<br />

Schweigerecht den Beschuldigten ermöglichen würde, einer<br />

gerechten Strafe zu entgehen und daher fälschlicherweise<br />

Rn. 21 darauf hin, dass die Sachvernehmung des Beschuldigten<br />

in wesentlichem Maße auch seiner Verteidigung diene<br />

und demnach derjenige, der sich nicht zur Sache einlasse, auf<br />

ein wichtiges Verteidigungsrecht verzichte.<br />

21 Stalinski (Fn. 16), S. 35; Green, Brooklyn L.R. 65 (1999),<br />

627 (646 ff.); Seidmann/Stein, Harv.L.R. 114 (2000), 430<br />

(446 f.).<br />

22 Van Kessel, Hastings L.J. 38 (1986), 1 (13, 137 f.); Van der<br />

Walt/de la Harpe, African Hum. Rts. L. J. 5 (2005), 70 (78).<br />

23 Eser, ZStW 79 (1967), 565 (593); Berger, Colum. J. Eur.<br />

L. 12 (2006), 339 (373 ff.); von Gerlach (Fn. 2), S. 141 f. Zu<br />

der lang anhaltenden Diskussion über die Sinnhaftigkeit der<br />

common law-Tradition siehe Mirfield, Silence, Confessions<br />

and Improperly Obtained Evidence, 1997, S. 242 ff. und<br />

Cownie/Bradney/Burton, English Legal System in Context,<br />

2007, S. 277 ff., sowie Greer, MLR 53 (1990), 709 (715 ff.).<br />

Die Bedingungen, unter denen nachteilige Schlussfolgerungen<br />

gezogen werden können, finden sich in Court of Appeal,<br />

16.12.1996, R v Argent [1997] 2 Cr.App.R. 27.<br />

24 Diese wurde in Nordirland zu dem Zweck eingeführt, der<br />

wachsenden terroristischen Bedrohung durch die IRA und<br />

anderer paramilitärischer Organisationen entgegenzutreten. S.<br />

allgemein zu einer kritischen Auseinandersetzung der Beschränkungen<br />

des Schweigerechts mit dem Ziel der Bekämpfung<br />

des Terrorismus Carrara Friends, Suffolk Transnat’l L.<br />

Rev. 23 (1999), 207.<br />

25 Dazu Cownie/Bradney/Burton (Fn. 23), S. 280; Berger,<br />

Colum. Human Rights L. Rev. 31 (2000), 243 (254 ff.); Van<br />

Kessel, Ind.L.R. 35 (2001/2002), 925 (951 f.).<br />

26 Pattenden, Crim.L.R. 1995, 602 (607): „Silence becomes<br />

an evidential poly-filler for cracks in the wall of incriminating<br />

evidence which the prosecution has built around the accused“.<br />

Sehr ausführlich dazu Berger, Colum. Human Rights<br />

L. R. 31 (2000), 243 und Mirfield (Fn. 23), S. 248 ff.<br />

einen Schutz eher für Schuldige als für Unschuldige bieten<br />

würde. 27 Hier muss die Frage erlaubt sein, ob von der ursprünglichen<br />

Idee des nemo tenetur-Grundsatzes überhaupt<br />

noch etwas übrig geblieben ist. 28<br />

2. Menschenrechtliche Vorgaben<br />

a) Konventionstexte<br />

Das Schweigerecht ist in internationalen und regionalen<br />

Menschenrechtsabkommen grundsätzlich enthalten. Menschenrechtsinstrumentarien<br />

wie der IPbpR 29 und die AMRK 30<br />

haben die Selbstbelastungsfreiheit explizit in ihren Vertragstext<br />

aufgenommen. 31 In der EMRK findet sich demgegenüber<br />

keine ausdrückliche Regelung dieser fundamentalen strafprozessualen<br />

Gewährleistung; sie wird jedoch aus dem Grundsatz<br />

des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 EMRK hergeleitet<br />

32 und gehört nach der Rechtsprechung des EGMR zum<br />

Kernbereich der Verfahrensfairness. 33 Der durch die EMRK<br />

27 Ganz im Gegensatz dazu Seidmann/Stein, Harv.L.R. 114<br />

(2000), 430 (461 ff.), die darauf eingehen, warum das Schweigerecht<br />

gerade den unschuldigen Beschuldigten privilegiere.<br />

28 Fenwick, Crim.L.R. 1995, 132 (134); Redmayne, OJLS 27<br />

(2007), 209 unter 3. C., der das persönliche „Trilemma“<br />

aufzeigt, in dem sich allerdings auch nur Schuldige befinden<br />

könnten: Einerseits Gefahr zu laufen, dass Nachteile aus der<br />

Weigerung, mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten,<br />

d.h. dem Schweigen, gezogen werden können; zum<br />

anderen, Informationen an die Behörden weiterzugeben und<br />

sich dadurch selber zu belasten; und letztens, zu lügen und<br />

das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Meineides<br />

einzugehen. Redmayne scheint darin allerdings keinen<br />

Anstoß zu finden, da Unschuldige sich seiner Ansicht nach<br />

erst gar nicht in diesem „Trilemma“ befinden könnten. Nach<br />

deutschem Strafprozessrecht entfällt dieser zusätzliche Aspekt<br />

freilich, da der Angeklagte nicht wegen falscher Aussage<br />

und erst recht nicht wegen Meineids strafbar sein kann.<br />

29 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte<br />

(International Covenant on Civil and Political Rights), GV<br />

Res. 2200/A (XXI), UN Doc. A/6316 (1966).<br />

30 Amerikanische Menschenrechtskonvention (American Convention<br />

on Human Rights, „Pact of San José, Costa Rica“)<br />

vom 22.11.1969, 1144 United Nations Treaty Series 17955.<br />

31 Art. 14 Abs. 3 lit. g IPbpR: „[… everyone shall be entitled<br />

…] Not to be compelled to testify against himself or to confess<br />

guilt.“ Art. 8 Abs. 2 lit. g AMRK: „[… every person is<br />

entitled …] the right not to be compelled to be a witness<br />

against himself or to plead guilty.“<br />

32 Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention,<br />

Handkommentar, 2. Aufl. 2006, Art. 6 Rn. 52; Gollwitzer<br />

(Fn. 2), Art. 6 MRK Rn. 248; Rogall (Fn. 11), Vor § 133 Rn.<br />

131; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention,<br />

Studienbuch, 4. Aufl. 2009, § 24 Rn. 119.<br />

33 EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I,<br />

Rn. 45; Saunders ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-<br />

VI, Rn. 68 („[…] there can be no doubt that the right to remain<br />

silent […] and the privilege against self-incrimination<br />

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786<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

gewährte Schutz vor Selbstbelastung bleibt demnach keinesfalls<br />

hinter dem einer ausdrücklichen Regelung zurück. Dem<br />

EGMR zufolge gilt das Schweigerecht unabhängig davon, ob<br />

sich der Beschuldigte bereits in einer Situation sieht, in der er<br />

Zwang widerstehen muss oder nicht. Das Recht zu schweigen<br />

diene prinzipiell der Freiheit einer verdächtigen Person zu<br />

entscheiden, ob sie aussagen oder schweigen wolle. 34 Der<br />

EGMR versteht demnach den nemo tenetur-Grundsatz als<br />

positive Gewährleistung dahingehend, eine eigenverantwortliche<br />

Entscheidung über die Mitwirkung an der Tataufklärung<br />

treffen zu können.<br />

Im Hinblick auf die Relevanz einer vorherigen Belehrung<br />

ist anzumerken, dass sowohl die EMRK, wie auch der IPbpR,<br />

eine Belehrung zu Beginn der ersten Vernehmung des Beschuldigten<br />

nicht ausdrücklich vorsehen. 39 Hierbei gilt es<br />

jedoch zu berücksichtigen, dass EMRK und IPbpR als völkerrechtliche<br />

Regeln auf Übereinkünfte von Staaten mit unterschiedlichen<br />

Rechtssystemen zurückzuführen sind. Ziel<br />

kann demnach nur sein, einen gemeinsamen Mindeststandard<br />

zu garantieren, wobei es für die Ausgestaltung des Verfahrens<br />

auf das Recht der Mitgliedstaaten und deren allgemeine<br />

Grundsätze ankommt.<br />

b) Unschuldsvermutung<br />

Das Recht zu schweigen ist ferner eng mit der Unschuldsvermutung<br />

der Art. 6 Abs. 2 EMRK bzw. Art. 14 Abs. 2<br />

IPbpR verknüpft. Derjenige, dessen Unschuld vermutet werde,<br />

könne nicht gehalten sein, sich selbst zu belasten. 35 Für<br />

das Schweigerecht des Beschuldigten folgt aus dieser Verknüpfung<br />

zum einen, dass er in Ergänzung dessen auch nicht<br />

verpflichtet ist, aktiv mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten<br />

und auf diese Weise zur Sachverhaltsaufklärung<br />

beizutragen. Zum anderen verdeutlicht der Bezug zur<br />

Unschuldsvermutung, dass die Beweislast bei der Anklagebehörde<br />

liegt und dass es durch eine Würdigung des Schweigens<br />

jedweder Art nicht zu einer Verschiebung dieser Beweislast<br />

auf den Beschuldigten kommen darf. 36 Der Beschuldigte<br />

darf sich nicht in die Position gedrängt fühlen, dass er<br />

seine Unschuld zu beweisen hätte und dadurch zu Angaben,<br />

gleich welcher Art, veranlasst wird. Dieser Aspekt zeigt noch<br />

deutlicher als der zuerst genannte auf, dass es allein den<br />

Strafverfolgungsbehörden obliegt, den Beschuldigten zu<br />

überführen. Es dürfen zu diesem Zweck keine durch Druck<br />

oder Zwang erlangten Beweismittel herangezogen werden. 37<br />

Wegen dieser Verknüpfung mit der Unschuldsvermutung<br />

wird sie auch „Spiegelbild des Schweigerechts“ genannt. 38<br />

are generally recognised international standards which lie at<br />

the heart of the notion of a fair procedure under Article 6“).<br />

34 Hierzu EGMR, Allan ./. Vereinigtes Königreich, Reports<br />

2002-IX, Rn. 50.<br />

35 EGMR, Weh ./. Österreich, Urt. v. 8.4.2004, Rn. 46; Böse,<br />

GA 2002, 98 (123); Guradze, in: Commager u.a. (Hrsg.),<br />

Festschrift für Karl Loewenstein aus Anlass seines achtzigsten<br />

Geburtstages, 1971, S. 151 (S. 160); Mahoney, Judicial<br />

Studies Institute Journal, 2004, 107 (121).<br />

36 Vgl. Safferling, Towards an International Criminal Procedure,<br />

2003, S. 123.<br />

37<br />

Grabenwarter, in: Ehlers/Becker (Hrsg.), Europäische<br />

Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005, § 6 Rn. 47;<br />

Jacobs/White, The European Convention on Human Rights,<br />

3. Aufl. 2002, S. 175; Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche<br />

und politische Rechte und Fakultativprotokoll, CCPR-Kommentar,<br />

1989, Art. 14 Rn. 59.<br />

38 So Salditt (Fn. 19), S. 608. Anders hingegen Redmayne, 27<br />

OJLS (2007), 209 unter 3. A., der zumindest für die Selbstbelastungsfreiheit<br />

eine derart weitgehende Verknüpfung mit der<br />

Unschuldsvermutung nicht erkennen kann.<br />

c) Negative Schlussfolgerungen aus dem Schweigen<br />

Was nachteilige Schlussfolgerungen aus dem Schweigen des<br />

Beschuldigten anbelangt, so ist den Menschenrechten und<br />

deren Handhabung durch die jeweiligen Spruchkörper zufolge<br />

ein Verbot dieser Rückschlüsse naheliegend. Dies gilt<br />

zumindest insofern, als man gemeinsam mit der Rechtsprechung<br />

des EGMR den Standpunkt einnimmt, dass das Verbot<br />

der Selbstbelastung von staatlichen Stellen verlange, den<br />

Willen des zum Schweigen entschlossenen Beschuldigten zu<br />

respektieren. 40 Gleichwohl misst der EGMR dem Recht zu<br />

schweigen nicht den Charakter eines absoluten Rechts bei. 41<br />

Das steht in Übereinstimmung mit der generellen Zurückhaltung<br />

des Gerichtshofs, kategorische Festlegungen zu treffen.<br />

In ständiger Rechtsprechung wird daher bezogen auf Art. 6<br />

EMRK stets in einer Gesamtwürdigung untersucht, ob das<br />

Verfahren insgesamt als „fair“ anzusehen ist. 42 In Bezug auf<br />

das Schweigerecht wird es daher für zulässig erachtet, dass<br />

39 Esser, Auf dem Weg zu einem Europäischen Strafverfahrensrecht,<br />

2002, S. 528. Das Bedürfnis einer vorherigen Belehrung<br />

erkennt auch Trechsel, Human Rights in Criminal<br />

Proceedings, 2005, S. 352, an, äußert aber Bedenken im Hinblick<br />

auf eine solche Verpflichtung zur Belehrung der Konvention<br />

zufolge.<br />

40 So EGMR, Saunders ./. Vereinigtes Königreich, Reports<br />

1996-VI, Rn. 69.<br />

41 EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I,<br />

Rn. 47; Condron ./. Vereinigtes Königreich, Reports 2000-V,<br />

Rn. 56; Heaney u. McGuinness ./. Irland, Reports 2000-XII,<br />

Rn. 47. Anders hingegen Müller, EuGRZ 2002, 546 (551,<br />

554), der aus den Ausführungen des EGMR das Postulat<br />

eines absoluten, ausnahmslosen Charakters herleitet. Er zitiert<br />

hierzu die Entscheidung im Fall Saunders, wobei sich<br />

der EGMR in diesem Urteil jedoch ausdrücklich nicht zu der<br />

Frage der Ausnahmslosigkeit des nemo-tenetur-Grundsatzes<br />

äußert (Rn. 74: „Nor does the Court find it necessary […] to<br />

decide whether the right not to incriminate oneself is absolute<br />

or wheter infringements of it may be justified in particular<br />

circumstances.“). Der EGMR äußerte sich hier lediglich zu<br />

der Verwertbarkeit erzwungener Aussagen und lehnte diese ab.<br />

42 EGMR, Schenk ./. Schweiz, Serie A Nr. 140, Rn. 46; Pélissier<br />

und Sassi ./. Frankreich, Reports 1999-II, Rn. 45; Allan<br />

./. Vereinigtes Königreich, Reports 2002-XI, Rn. 42; Jalloh ./.<br />

Deutschland, Urt. v. 11.7.2006, Rn. 95; Esser (Fn. 39),<br />

S. 402; Gollwitzer, Menschenrechte im Strafverfahren, MRK<br />

und IPBPR, Kommentar, 2005, Art. 6 MRK Rn. 64.<br />

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unter bestimmten Voraussetzungen nachteilige Schlussfolgerungen<br />

(sog. „adverse inferences“) aus dem Schweigen des<br />

Beschuldigten gezogen werden. 43 Dies gilt jedenfalls dann,<br />

wenn bestimmte Schutzvorkehrungen weiterhin die Fairness<br />

des Verfahrens gewährleisten. Im Urteil Murray bezeichnet<br />

der EGMR den Rahmen, innerhalb dessen das Schweigen des<br />

Beschuldigten verwertet werden kann wie folgt: Wird das<br />

Urteil ausschließlich oder hauptsächlich („solely or mainly“)<br />

darauf gestützt, dass sich der Beschuldigte auf sein Recht zu<br />

schweigen berufen hat, liegt ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK<br />

vor. Das Schweigen soll jedoch in Situationen berücksichtigt<br />

werden können, die eine Erklärung erwarten lassen, und der<br />

Beschuldigte eine solche auch ohne weiteres abgeben könnte.<br />

44 Gestaltet sich die Beweislage jedoch als derart schwach,<br />

dass eine solche Erklärung des Beschuldigten nicht ohne<br />

weiteres zu erwarten sei, könne sich das Schweigen auch<br />

nicht zum Nachteil des Betroffenen auswirken. 45 Gleichwohl<br />

müssten im Fall von zulässigerweise 46 gezogenen Schlussfolgerungen<br />

diese von gesundem Menschenverstand bestimmt<br />

sein sowie der freien Würdigung unterliegen, damit das Verfahren<br />

nicht als unfair anzusehen sei. 47 Der EGMR stützt<br />

seine Argumentation auf bekannte Muster: zweifelhafte Beweismittel<br />

sind demnach immer dann zulässig, wenn diese<br />

nicht die alleinige oder die hauptsächliche Grundlage der<br />

strafrechtlichen Verurteilung darstellen. 48<br />

Anders hingegen der Menschenrechtsausschuss der Vereinten<br />

Nationen als Kontrollorgan des IPbpR. In seinen Abschließenden<br />

Bemerkungen hat er 1995 gegenüber Großbritannien<br />

und Nordirland festgestellt, dass deren nationale<br />

Regelungen, nach denen nachteilige Schlussfolgerungen aus<br />

dem Schweigen eines Beschuldigten gezogen werden können,<br />

„gegen mehrere Vorschriften des Art. 14 IPbpR verstoßen“.<br />

49<br />

3. Zusammenfassung<br />

Dieser kurze Überblick verdeutlicht eine gewisse Diskrepanz<br />

zwischen der nationalen Rechtsprechung und den europäischen<br />

Menschenrechtsvorgaben. Während der EGMR den<br />

Grund des Schweigerechts in der grundsätzlichen Anerkennung<br />

der menschlichen Entscheidungsfreiheit sieht, folgt der<br />

BGH einem deutlich engeren Konzept, indem er mit Blick<br />

auf § 136a StPO auf die Freiheit von Zwang als Substrat des<br />

Schweigerechts abstellt. 50 Uneinheitlich wird außerdem der<br />

Umgang mit den Folgen des Schweigens gesehen. Hier fällt<br />

das englische Recht aus dem Rahmen, da es negative Schlüsse<br />

auf die Schuld des Beschuldigten zulässt und damit vom<br />

EGMR jedenfalls partiell Rückendeckung erhält.<br />

43 EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I,<br />

Rn. 47. Diese Grundsätze bestätigte er in Averill ./. Vereinigtes<br />

Königreich, Reports 2000-VI, Rn. 44 f. Einigkeit dahingehend<br />

besteht allerdings nicht, wie die abweichenden Meinungen<br />

im Anschluss an das Urteil Murray schon zeigen, vgl.<br />

Partly Dissenting Opinion of Judge Pettiti, joined by Judge<br />

Valticos und Partly Dissenting Opinion of Judge Walsh,<br />

joined by Judges Makarczyk and Lohmus. Siehe dazu auch<br />

Berger, Colum. J. Eur. L. 12 (2006), 339 (380 f.).<br />

44 EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I,<br />

Rn. 47.<br />

45 So der EGMR in der Sache Telfner ./. Österreich, Urt. v.<br />

20.3.2001, Rn. 17 f. Siehe auch Jacobs/White (Fn. 37),<br />

S. 176, mit Hinweis darauf, dass ansonsten in einem solchen<br />

Fall die Beweislast auf den Beschuldigten bzw. Angeklagten<br />

verschoben würde.<br />

46 Nicht mehr zulässig wäre dem EGMR zufolge die Ausübung<br />

„unzulässigen Zwangs“ auf den Beschuldigten. Dieses<br />

Kriterium kommt zum Tragen im Hinblick auf eine – erforderliche<br />

– Belehrung darüber, dass unter Umständen nachteilige<br />

Schlussfolgerungen aus dem Schweigen des Beschuldigten<br />

gezogen werden dürfen und dem hierdurch ausgeübten<br />

indirekten Zwang seitens der Strafverfolgungsbehörden;<br />

ausführlich hierzu Esser (Fn. 39), S. 522 ff.<br />

47 Der EGMR führt hier das Kriterium des „common sense“<br />

ein (EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports<br />

1996-I, Rn. 51, 54), welches aber wenig hilfreich scheint.<br />

Kritisch hierzu Esser (Fn. 39), S. 524 f. und Kühne, EuGRZ<br />

1996, 571 (572). Butler, C.L.F. 11 (2000), 461 (497) bezeichnet<br />

diese Formulierung als „potentielles Sprungbrett für<br />

spätere Ausnahmen zu diesem Recht“ („potential springboard<br />

for later exceptions to the right“).<br />

III. Internationales Strafverfahrensrecht<br />

Begibt man sich auf die Ebene des internationalen Strafrechts,<br />

genauer des Völkerstrafprozessrechts 51 , so findet man<br />

48 Eine parallele Argumentation findet sich etwa in den Fällen<br />

der Verdeckten Ermittler; vgl. dazu in Gegenüberstellung zur<br />

Rspr. des BGH: Safferling, NStZ 2006, 75.<br />

49 CCPR/C/79/Add. 55, 27.7.1995: „The Committee notes<br />

with concern that the provisions of the Criminal Justice and<br />

Public Order Act of 1994, […] whereby inferences may be<br />

drawn from the silence of persons accused of crimes, violates<br />

various provisions in article 14 of the Covenant […].“<br />

50 Vgl. BGHSt 42, 139 (153). Einen Unterschied im Hinblick<br />

auf die durch den EGMR zugestandene Reichweite dieses<br />

Grundsatzes und die restriktivere Handhabung durch das<br />

deutsche Bundesgericht sieht der BGH in einer späteren Entscheidung<br />

selber, vgl. BGH NJW 2007, 3138 (3140). Der<br />

nemo tenetur-Grundsatz habe nicht den Schutz der allgemeinen<br />

Entschließungsfreiheit zum <strong>Inhalt</strong>, sondern es solle eine<br />

Selbstüberführung aufgrund von Zwangsausübung verhindert<br />

werden. Andernfalls würde die Freiheit der Entscheidung<br />

durch jede Täuschung oder List, die von Einfluss auf die<br />

Äußerung des Beschuldigten ist, verletzt. Dem kann u. E. so<br />

allerdings nicht zugestimmt werden. Siehe dazu auch Ransiek<br />

(Fn. 1), S. 47 ff. Relevanz erlangt diese Unterscheidung insbesondere<br />

dann, wenn es um heimliche Ermittlungsmethoden<br />

und die Frage geht, ob diese gegen die Selbstbelastungsfreiheit<br />

verstoßen. Siehe dazu Weßlau, ZStW 110 (1998), 1 (14,<br />

22 ff.).<br />

51 Zum Begriff s. Safferling, in: Renzikowski (Hrsg.), Die<br />

EMRK im Zivil-, Straf- und Öffentlichen Recht, 2003, S. 123.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

788<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

auch in den Vorschriften der internationalen Strafgerichtshöfe<br />

dieses überaus relevante Verfahrensrecht verankert.<br />

1. Die UN-Tribunale<br />

a) Der rechtliche Rahmen<br />

Für die Ad Hoc-Tribunale der Vereinten Nationen 52 beinhalten<br />

die Art. 21 Abs. 4 lit. g JStGH-St. und Art. 20 Abs. 4<br />

lit. g RStGH-St. die Freiheit von Selbstbelastung mit ergänzenden<br />

Regelungen in den Regeln 42 (A) (iii), 55 (A) und 63<br />

JStGH-VBO. 53 Während in den Statuten der Tribunale die<br />

Selbstbelastungsfreiheit lediglich dem Angeklagten zugesprochen<br />

wird, gewährt Regel 42 (A) (iii) JStGH-VBO das<br />

Recht zu schweigen auch für den Beschuldigten 54 – quasi als<br />

Gegenstück zu der in Art. 18 Abs. 2 JStGH-St., Art. 17<br />

Abs. 2 RStGH-St. geregelten Befugnis des Anklägers, Beschuldigte<br />

zu befragen. In Anlehnung an die Begriffsbestimmung,<br />

die die Verfahrens- und Beweismittelordnungen des<br />

JStGH und des RStGH in Regel 2 (A) VBO enthalten, wird<br />

der Beschuldigte in dem Moment zum Angeklagten, in dem<br />

die Anklageschrift durch einen Richter des Tribunals bestätigt<br />

wurde. 55 Insofern lässt sich eine klare Trennlinie zwischen<br />

dem Geltungsbereich von Regelung für den Beschuldigten<br />

in Regel 42 (A) (iii) JStGH-VBO einerseits und der<br />

Regelung für den Angeklagten in Art. 21 Abs. 4 lit. g JStGH-<br />

St., Art. 20 Abs. 4 lit. g RStGH-St., Regeln 55 (A), 63<br />

JStGH-VBO andererseits, erkennen.<br />

Vom Gewährleistungsgehalt und auch vom Verständnis<br />

her beschreibt das „right to remain silent“ in Regel 42 (A)<br />

(iii) JStGH-VBO das Schweigerecht, wie es auch im Sinne<br />

52 Die Kriegsverbrechertribunale für das ehemalige Jugoslawien,<br />

„JStGH“ (International Criminal Tribunal for the Former<br />

Yugoslavia, ICTY) sowie für Ruanda, „RStGH“ (International<br />

Criminal Tribunal for Rwanda, ICTR).<br />

53 Im Folgenden wird lediglich nach der Verfahrens- und<br />

Beweismittelordnung, „VBO“ (Rules of Procedure and Evidence,<br />

RPE) des JStGH zitiert, da diejenige des RStGH dieser<br />

entspricht.<br />

54 Die JStGH-VBO enthielten in ihrer ursprünglichen Fassung<br />

von 1994 das Schweigerecht des Beschuldigten noch<br />

nicht. Dieses wurde erst später durch eine Regeländerung<br />

vom 30.1.1995 und die Einfügung von Regel 42 (A) (iii)<br />

JStGH-VBO aufgenommen. Gleichwohl hätte es auch ohne<br />

ausdrückliche Regelung hergeleitet werden können. Siehe<br />

dazu Nsereko, C.L.F 5 (1994), 507, 524 unter Verweis auf<br />

Art. 21 Abs. 4 lit. g JStGH-St. und dem Argument, dass ein<br />

Schweigerecht lediglich für den Angeklagten wenig Sinn<br />

ergeben würde, da die für den Ausgang des Verfahrens relevante<br />

Phase diejenige der Vernehmungen im Vorfeld sei.<br />

Ebenso der Report des Generalsekretärs der VN, Report of<br />

the Secretary-General pursuant to Paragraph 2 of Security<br />

Council Resolution 808 (1993), U.N. Doc. S/25704 & Add. 1<br />

(1993), der in Rn. 106 darauf hinweist, dass das Tribunal<br />

international anerkannte Standards betreffend der Rechte von<br />

Angeklagten auf allen Ebenen des Verfahrens zu beachten<br />

habe und hierfür im speziellen auf Art. 14 IPbpR verweist.<br />

55 Dazu auch Regel 47 (H) (ii) JStGH-VBO.<br />

der EMRK bzw. der Rechtsprechung des EGMR und des<br />

IPbpR zu verstehen ist. 56 Zunächst ist der Beschuldigte vor<br />

der anstehenden Vernehmung über sein Schweigerecht zu<br />

belehren und darüber in Kenntnis zu setzen, dass jede Aussage<br />

seinerseits aufgenommen wird (dazu Regel 43 JStGH-<br />

VBO) und als Beweis gegen ihn verwendet werden kann. Auf<br />

den Schutz durch diese Vorschrift kann der Beschuldigte<br />

zwar verzichten, allerdings muss dieser Verzicht bewusst,<br />

freiwillig und frei von jeglicher Art der Einflussnahme oder<br />

Zwang sein. 57 Die Belehrung hat so zu erfolgen, dass der<br />

Beschuldigte in einer ihm verständlichen Sprache über die<br />

ihm zustehenden Rechte aufgeklärt wird. Einer weiter reichenden<br />

Verpflichtung zur Aufklärung unterliegt der Ankläger<br />

hingegen nicht. Insbesondere müssen dem Beschuldigten<br />

keine detaillierten Auswirkungen und Folgen der Regel 42<br />

JStGH-VBO dargelegt werden. 58 Kritisch angemerkt wird in<br />

dieser Hinsicht, dass sich Regel 42 JStGH-VBO (ebenso wie<br />

Regel 63 JStGH-VBO für den Angeklagten) lediglich auf die<br />

Befragung durch den „Ankläger“ bezieht. So bestünde die<br />

Gefahr, dass die Gewährleistungen nicht zur Geltung kämen,<br />

sofern der Beschuldigte durch andere Angehörige der Strafverfolgungsbehörde<br />

befragt werde. 59 Allerdings muss in<br />

diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass<br />

Regel 37 (B) JStGH-VBO ausdrücklich vorsieht, dass die<br />

Befugnisse und Verpflichtungen des Anklägers auch auf<br />

dessen Mitarbeiter übertragen werden können. Zu diesen<br />

Verpflichtungen gehört auch die Belehrung des Beschuldigten<br />

vor einer anstehenden Vernehmung über dessen Rechte<br />

aus Regel 42 JStGH-VBO, so dass sich hiermit die eben<br />

genannten Bedenken erübrigen würden.<br />

Für den Fall einer Aussage des Beschuldigten verdeutlicht<br />

das Zusammenspiel von Regel 42 und Regel 95 JStGH-VBO<br />

die Verteilung der Beweislast im Hinblick auf die Freiwilligkeit<br />

der Aussage. Diesbezüglich gilt, dass Aussagen, die<br />

56 Die Einführung dieser Vorschrift basiert auf dem Gedanken,<br />

dass der Beschuldigte, festgenommen und sich den Ermittlungsbehörden<br />

gegenüber stehend sehend, eine verletzliche<br />

Rolle innehat, die ihn zu unüberlegten Äußerungen veranlassen<br />

und zu Missbrauch seitens der Behörden führen<br />

kann, siehe Bagosora (ICTR-98-41), Trial Chamber, Decision<br />

on the Prosecutor’s Motion for the Admission of Certain<br />

Materials under Rule 89 (c), 14.10.2004, Rn. 16.<br />

57 Delalić et al. (IT-96-21), Trial Chamber, Decision on Hazim<br />

Delić’s Motions Pursuant to Rule 73, 1.9.1997, Rn. 18:<br />

„A person’s conscious, uncoerced and voluntary exercise of<br />

his rights cannot, within our jurisprudence, be regarded as<br />

involuntary.“<br />

58 Delalić et al. (IT-96-21), Appeals Chamber, Judgement, 20.<br />

Februar 2001, Rn. 552: „[…] there is no duty incumbent on<br />

an investigator to explain in greater depth the implications of<br />

Rule 42, the duty is only to interpret to the suspect the rules<br />

in a language he or she understands‘.“<br />

59 So Creta, Houst. J. Int’l L. 20 (1998), 381 (405) und Falvey,<br />

Fordham Int’l L. J. 19 (1995), 475 (492), die sich dafür<br />

aussprechen, die Vorschrift auch auf „agents of the Prosecutor“<br />

zu erstrecken, um mögliche Lücken in der Geltung der<br />

Rechte des Beschuldigten zu schließen.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

789


Christoph Safferling/Alena Hartwig<br />

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unter Zwang getätigt wurden, gemäß Regel 95 JStGH-VBO<br />

als unzulässig anzusehen sind, und dass die Beweislast für<br />

die Freiwilligkeit der Aussage bei der Anklagebehörde<br />

liegt. 60 Der Beschuldigte darf demnach, sofern er auf seinem<br />

Schweigerecht beharrt, nicht dazu veranlasst werden, als<br />

Beweismittel gegen sich selbst zu wirken. 61 Insofern wird den<br />

menschenrechtlichen Vorgaben Rechnung getragen und<br />

durch Einführung bestimmter Schutzvorrichtungen das Recht<br />

zu schweigen in seinem Kernbestand geschützt. Damit wird<br />

auch der Zusammenhang zur in Art. 21 Abs. 3 JStGH-St.,<br />

Art. 20 Abs. 3 RStGH-St. verankerten Unschuldsvermutung<br />

erkennbar.<br />

b) Nachteilige Schlussfolgerungen aus dem Schweigen<br />

Was die schon an anderer Stelle problematisierten nachteiligen<br />

Schlussfolgerungen anbelangt, sehen zwar weder die<br />

Statuten noch die Verfahrens- und Beweismittelordnungen<br />

eine ausdrückliche Regelung vor. 62 Allerdings besteht Einigkeit<br />

unter den Kammern des JStGH und RStGH, dass aus<br />

dem Gebrauch des Schweigerechts durch den Beschuldigten<br />

oder Angeklagten keine Rückschlüsse auf dessen Schuld<br />

gezogen werden dürfen. 63 Dies gilt ausnahmslos, so dass die<br />

60 Delalić et al. (IT-96-21), Trial Chamber, Decision on<br />

Zdravko Mucić’s Motion for the Exclusion of Evidence,<br />

2.9.1997, Rn. 41 f. und Bagosora (Fn. 56), Rn. 21 im Zusammenhang<br />

mit dem Recht auf den Beistand eines Verteidigers,<br />

welches wiederum eng mit dem Recht zu schweigen<br />

verknüpft ist. Anderes gilt für den Fall der Abgabe eines<br />

Geständnisses. Hierfür regelt Regel 92 JStGH-VBO, dass<br />

grundsätzlich die Freiwilligkeit eines solchen Geständnisses<br />

vermutet wird und dass aus diesem Grund die Beweislast<br />

(Nachweis der Unfreiwilligkeit bzw. der Anwendung von<br />

Zwang) in einem solchen Fall beim Angeklagten liegt.<br />

61 Dies wird auch deutlich in Tadić (IT-94-1), Trial Chamber,<br />

Separate Opinion of Judge Stephen on Prosecution Motion<br />

for Production of Defence Witness Statements, 27.11.1997.<br />

In diesem Zusammenhang unterstreicht die Berufungskammer<br />

in Boškoski & Tarčulovski (IT-04-82), Appeals Chamber,<br />

Decision on Johan Tarčulovski’s Interlocutary Appeal on<br />

Provisional Release, 4.10.2005, dass ein vor dem Tribunal<br />

Angeklagter nicht dazu verpflichtet ist, die Anklagebehörde<br />

bei der Beweisführung gegen sich selbst zu unterstützen. Dies<br />

muss ebenso für den Beschuldigten gelten.<br />

62 Calvo-Goller, The Trial Proceedings of the International<br />

Criminal Court, 2006, S. 63. Dies wird zu Recht kritisiert von<br />

Wladimiroff, in McDonald/Swaak-Goldman (Hrsg.), Substantive<br />

and Procedural Aspects of International Criminal Law,<br />

2000, S. 415 (447) und Creta, Houst. J. Int’l L 20 (1998), 381<br />

(405).<br />

63 Delalić et al. (IT-96-21), Trial Chamber, Decision on the<br />

Prosecution’s Oral Request for the Admission of Exhibit 155<br />

into Evidence and for an Order to Compel the Accused,<br />

Zdravko Mucić, to Provide a Handwriting Sample, 19.1.<br />

1998, Rn. 46, 50; Kupreškić et al. (IT-95-16), Trial Chamber,<br />

Judgement, 14.1.2000, Rn. 339; Brñanin (IT-99-36), Trial<br />

Chamber, Judgement, 1.1.2004, Rn. 24; Niyitegeka (ICTR-<br />

96-14-T), Trial Chamber, Judgement and Sentence, 16.5.2003,<br />

Tribunale diesbezüglich einen weiterreichenden Schutz postulieren<br />

als – wie oben gesehen – der EGMR.<br />

c) Transnationale Kooperation<br />

Im Hinblick auf das Zusammenspiel von nationalem Recht<br />

und dem Recht der Tribunale gilt zunächst, dass während des<br />

Aufenthaltes des Beschuldigten im Gewahrsamsstaat nur das<br />

nationale Recht mit den dortigen Gewährleistungen gilt. An<br />

dieses Recht sind die Verfahrenskammern der Tribunale nicht<br />

gebunden, Regel 89 (A) JStGH-VBO. Für den Fall, dass die<br />

nationalen Vorschriften ihrem Gewährleistungsgehalt zufolge<br />

hinter denen des JStGH bzw. RStGH zurückbleiben und<br />

dabei Rechte des Beschuldigten, die ihm internationalen<br />

Standards zufolge zustehen würden, verletzt oder missachtet<br />

werden, gibt es die Möglichkeit, derart erlangte Aussagen als<br />

unzulässig zu erachten. Grundsätzliches Kriterium sind nach<br />

Regel 5 (C) JStGH-VBO die „fundamental principles of<br />

fairness“. Bezogen auf das Schweigerecht sind die nationalen<br />

Vorschriften im Zusammenhang mit Art. 18 JStGH-St.<br />

(Art. 17 RStGH-St.) und den Regeln 42, 95 JStGH-VBO zu<br />

betrachten und deren Geltungsbereich als „Test“ für die Zulassung<br />

anzusehen. Davon ausgehend ist zu prüfen, ob das<br />

nationale Recht die „fundamental principles of fairness“<br />

unterschreitet bzw. hinter diesen zurückfällt und dadurch eine<br />

Zulassung der Aussage im grundsätzlichen Widerspruch zur<br />

Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens stehen und dieser schweren<br />

Schaden zufügen würde. 64 Mit anderen Worten, die Relevanz<br />

und der Beweiswert der erlangten Beweise fließt als<br />

„Abwägungskriterium“ in die Entscheidung mit ein, diese<br />

zuzulassen. 65<br />

d) Zusammenfassung<br />

Durch eine Zusammenschau der Statuten und Verfahrensund<br />

Beweismittelordnungen ist folglich ein ausgeprägter<br />

Schutz des Schweigerechts an den Ad Hoc-Tribunalen der<br />

Vereinten Nationen verankert. Dieses schützt den Beschul-<br />

Rn. 46. Zur Ausdehnung dieser Praxis auf die Phase der Festlegung<br />

des Strafmaßes siehe Delalić et al. (IT-96-21), Appeals<br />

Chamber, Judgement, 20.2.2001, Rn. 783, die das Verbot<br />

nachteiliger Schlussfolgerungen damit begründet, dass<br />

sich andernfalls eine ausdrückliche Regelung mit angemessenen<br />

Schutzvorkehrungen im Statut finden ließe. Siehe auch<br />

Nsereko, C.L.F. 5 (1994), 507 (540); Creta, Houst. J. Int’l L.<br />

20 (1998), 381 (405); Schabas, The UN International Criminal<br />

Tribunals, 2000, S. 358; Jones/Powles, International<br />

Criminal Practice, 3. Aufl. 2003, 8.5.94.<br />

64 Delalić et al. (Fn. 60), 2.9.1997, Rn. 55: „This is because<br />

though the rules relating to silence and confession are contradictory<br />

to the relevant rules in Rule 42, they do not fall below<br />

fundamental fairness and such as to render admission antithetical<br />

to or to seriously damage the integrity of the proceedings.“<br />

Als Schwelle, die es für die Folge der Unzulässigkeit<br />

zu unterschreiten gilt, wird demnach sowohl Regel 5 (C)<br />

JStGH-VBO als auch Regel 95 JStGH-VBO herangezogen.<br />

65 Hierzu auch Rastan, Leiden J. Int’l L. 21 (2008), 431 (452<br />

und Fn. 82) m.w.N.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

790<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

digten, ebenso wie den Angeklagten, angemessen vor jeglichem<br />

Zwang zur Selbstbelastung. Im Vergleich zu dem in<br />

menschenrechtlichen Übereinkommen garantierten Standard,<br />

gewähren die Vorschriften an den Tribunalen ein mindestens<br />

ebenso hohes bzw. bedenkt man das konsequente Verbot,<br />

nachteilige Schlussfolgerungen aus dem Schweigen zu ziehen,<br />

sogar ein höheres Schutzniveau.<br />

2. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH)<br />

a) Rechtlicher Rahmen<br />

Das Statut des IStGH enthält die modernste Formulierung<br />

von Rechten der verdächtigen Person während des gesamten<br />

Strafverfahrens. Der rechtliche Rahmen gewinnt seine Komplexität<br />

durch den Versuch, die Rechte des Beschuldigten<br />

(Art. 55 IStGH-St.) von den Rechten des Angeklagten<br />

(Art. 67 IStGH-St.) zu differieren. 66 Entsprechend wird im<br />

Folgenden unterschieden.<br />

aa) Zunächst soll näher auf die Beschuldigtenrechte in<br />

Art. 55 IStGH-St. eingegangen werden. Diese Vorschrift<br />

enthält für den Beschuldigten in doppelter Hinsicht einen<br />

Schutz vor Selbstbelastung. Zum einen ist in Absatz 1 festgelegt,<br />

dass allgemein Personen während der Ermittlungen<br />

nicht gezwungen werden dürfen, sich selbst zu belasten oder<br />

sich schuldig zu bekennen. Lit. a enthält somit eine direkte<br />

Ausprägung des nemo tenetur-Grundsatzes aus Art. 14 Abs. 3<br />

lit. g IPbpR. Zum anderen umfasst Art. 55 Abs. 2 lit. b<br />

IStGH-St. speziell mit Bezug auf seine Vernehmung das<br />

Recht des Beschuldigten zu schweigen. 67 Dieses fließt als<br />

Komponente der Unschuldsvermutung und der Selbstbelastungsfreiheit<br />

in den Katalog von Rechten mit ein, die in Absatz<br />

2 speziell dem Beschuldigten in Anbetracht einer anstehenden<br />

Vernehmung zugestanden werden. 68<br />

Zunächst ist der ermittelnden Institution die Pflicht zur<br />

Belehrung über die Rechte in Art. 55 IStGH-St. auferlegt.<br />

Während sich diese Pflicht für Abs. 2 ausdrücklich aus dem<br />

Wortlaut der Vorschrift ergibt, bedarf es für die Rechte des<br />

Abs. 1 einer darüber hinausgehenden Herleitung, da sich in<br />

66 Safferling (Fn. 51), S. 123.<br />

67 Ausführlich zur Abgrenzung und zur unterschiedlichen<br />

ratio dieser beiden Vorschriften siehe Zappalá, Human<br />

Rights in International Criminal Proceedings, 2003, S. 78 f.<br />

68 Die Unterscheidung des Geltungsbereichs von Absatz 1<br />

und 2 gestaltet sich im Hinblick auf die Person des „suspect“<br />

(in der Literatur wird dieser Begriff verwendet, obwohl er<br />

sich nicht im Statut des IStGH findet) etwas schwierig. Eine<br />

Abgrenzung könnte derart getroffen werden, dass Personen<br />

nach Abs. 1, die nicht als Zeugen gelten und auf die sich die<br />

strafrechtlichen Ermittlungen fokussieren, mit dem im deutschen<br />

Strafprozessrecht geläufigen Begriff des „Verdächtigen“<br />

übersetzt werden und in Absatz 2 der Beschuldigte<br />

bezeichnet ist. Als „Person während der Ermittlungen“ kann<br />

der Betreffende zwar verdächtig sein. Dies bedeutet aber<br />

nicht zugleich, dass der Ankläger speziell gegen den Betreffenden<br />

ermittelt, er mithin Beschuldigter nach Absatz 2 ist.<br />

Siehe dazu Edwards, Yale J. Int’l L. 26 (2001), 323 (345<br />

Fn. 76).<br />

dessen Wortlaut kein Hinweis auf eine dahingehende Belehrungspflicht<br />

findet. 69 So ist zum einen darauf hinzuweisen,<br />

dass diese Rechte nur dann effektiven Schutz bieten können,<br />

wenn eine Wahrnehmung durch die betreffende Person überhaupt<br />

möglich ist. Zum anderen ist Regel 111 Abs. 2 IStGH-<br />

VBO heranzuziehen. Danach haben der Ankläger und die<br />

staatlichen Behörden während der Ermittlungen die Gewährleistungen<br />

des Art. 55 IStGH-St. zu achten. 70 Für den Ankläger<br />

regelt Art. 54 Abs. 1 lit. c IStGH-St. außerdem ausdrücklich,<br />

dass er im Hinblick auf laufende Ermittlungen die Rechte<br />

der Personen, die sich aus dem Statut ergeben, uneingeschränkt<br />

zu achten habe.<br />

bb) Während Art. 55 IStGH-St. die Rechte des Beschuldigten<br />

im Ermittlungsverfahren enthält, birgt Art. 67 IStGH-<br />

St. die Rechte des Angeklagten. Das Schweigerecht findet<br />

sich in Art. 67 Abs. 1 lit. g IStGH-St. und beruht terminologisch<br />

auf Art. 14 Abs. 3 lit. g IPbpR. Hier geht das IStGH-St.<br />

wie schon in Art. 55 Abs. 2 lit. b IStGH-St. insofern über den<br />

Text der Menschenrechtskonvention hinaus, als auch für den<br />

Angeklagten die Gewährleistung auf das Verbot nachteiliger<br />

Schlussfolgerungen erstreckt wird. Dabei vereint Art. 67 Abs.<br />

1 lit. g IStGH-St. den Wortlaut des Art. 55 Abs. 1 lit. a, Abs.<br />

2 lit. b IStGH-St. mit dem einzigen Unterschied, dass der<br />

Beschuldigte nicht gezwungen werden darf, sich selbst zu<br />

belasten 71 , wohingegen der Angeklagte nicht gezwungen<br />

werden darf, als Zeuge auszusagen. 72 Art. 67 Abs. 1 lit. g<br />

IStGH-St. gilt nicht erst ab dem Zeitpunkt, zu dem die betreffende<br />

Person formell „Angeklagter“ ist, sondern – wie Regel<br />

121 Abs. 1 IStGH-VBO belegt – bereits zum Zeitpunkt der<br />

ersten Anhörung nach der Überstellung der Person an den<br />

Gerichtshof nach Art. 60 IStGH-St. Im Übrigen sei auf die<br />

69 In Bezug auf die Freiheit des Zwangs zur Selbstbelastung<br />

enthielt zwar Art. 26 Abs. 6 ILC Draft Statute (1994) eine<br />

solche Belehrungspflicht. Allerdings wurde dort dieses Recht<br />

als das Recht eines Beschuldigten konzipiert (dazu auch<br />

Kommentar 6), über die auch nach dem heutigen Art. 55<br />

Abs. 2 IStGH-St. belehrt werden muss. Insofern besteht in<br />

dieser Hinsicht keine Vergleichbarkeit der damaligen Fassung<br />

zu dem aktuellen Art. 55 Abs. 1 IStGH-St.<br />

70 Dazu Hall, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome<br />

Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl. 2008,<br />

Art. 55 Rn. 4.<br />

71 Art. 55 Abs. 1 lit. a IStGH-St.: „Shall not be compelled to<br />

incriminate himself or herself or to confess guilt“.<br />

72 Art. 67 Abs. 1 lit. g IStGH-St.: „Not to be compelled to<br />

testify or to confess guilt […]“. Der Passus „against himself“,<br />

der sich im IPbpR findet, wurde für das IStGH-St. nicht ü-<br />

bernommen, so dass es dem Angeklagten grundsätzlich freisteht,<br />

sich zu äußern, und nicht nur dann, wenn entsprechende<br />

Beweise gegen ihn vorliegen, vgl. Schabas, in: Triffterer<br />

(Fn. 70), Art. 67 Rn. 46. Die deutsche Übersetzung des Römischen<br />

Statuts scheint insofern nicht ganz richtig, als es dort<br />

heißt, dass der Angeklagte nicht gezwungen werden dürfe<br />

„[…] gegen sich selbst als Zeuge auszusagen […]“. Hierdurch<br />

erfolgt eine Beschränkung der Freiheit von Zwang zur<br />

Selbstbelastung auf Befragungen oder ähnliches, die einen<br />

Kontext zum Angeklagten aufweisen.<br />

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791


Christoph Safferling/Alena Hartwig<br />

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obigen Ausführungen zu Art. 55 IStGH-St. verwiesen. Hinzuweisen<br />

ist lediglich noch auf den Umstand, dass Art. 67<br />

Abs. 1 lit. i IStGH-St. den Angeklagten vor jeglicher Beweislastumkehr<br />

oder Widerlegungspflicht schützt. Dies wird dann<br />

relevant, wenn man sich die Rechtslage an den Ad Hoc-<br />

Tribunalen vergegenwärtigt, der zufolge ein Geständnis des<br />

Angeklagten als freiwillig und ohne Zwang abgegeben gilt,<br />

sofern nicht das Gegenteil bewiesen wird (Regel 92 JStGH-<br />

VBO). In einem solchen Fall liegt die Beweislast für das<br />

Vorliegen von Zwang nicht, wie von der Unschuldsvermutung<br />

grundsätzlich vorgesehen, beim Ankläger, sondern beim<br />

Angeklagten. Vor einer solchen Umkehr der Beweislast<br />

schützt Art. 67 Abs. 1 lit. i IStGH-St. 73<br />

cc) Die dritte Vorschrift, auf die in diesem Zusammenhang<br />

noch hinzuweisen ist, ist Art. 66 IStGH-St. Dieser beinhaltet<br />

die Unschuldsvermutung und steht damit in direktem<br />

Zusammenhang zu Art. 67 Abs. 1 lit. g, lit. i IStGH-St. Im<br />

Schweigerecht des Angeklagten manifestiert sich die Unschuldsvermutung<br />

als universelles Rechtsprinzip. Als zentraler<br />

Pfeiler eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens verkörpert<br />

dieses Prinzip einen Schutz vor Vorverurteilungen und<br />

Schuldzuweisungen im Vorfeld der gerichtlichen Feststellung<br />

und sichert demnach die Grundlage für Gerechtigkeit und<br />

Fairness in strafrechtlichen Verfahren. 74 Art. 66 Abs. 1<br />

IStGH-St. beinhaltet die generelle Aussage, dass jeder bis<br />

zum Nachweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten hat.<br />

Ferner legt Art. 66 IStGH-St. im zweiten und dritten Absatz<br />

dar, dass die Beweislast für den Nachweis dieser Schuld der<br />

Ankläger zu tragen hat, und dass eine Verurteilung nur für<br />

den Fall möglich ist, dass keine vernünftigen Zweifel an der<br />

Schuld des Angeklagten bestehen. Neben der Beweislastverteilung<br />

wird somit zugleich auch das Beweismaß festgelegt.<br />

Die Unschuldsvermutung sticht im Römischen Statut zum<br />

einen durch ihre regulative Eigenständigkeit, da sie nicht<br />

zwischen den Rechten des Angeklagten eingestellt ist, sondern<br />

in einer eigenen Vorschrift den Angeklagtenrechten<br />

vorgeht, und zum anderen durch ihre Ausführlichkeit deutlich<br />

hervor. Auf diese Art und Weise sollte der höchstmögliche<br />

Standard für den Schutz der fundamentalen Rechte des Angeklagten<br />

sichergestellt werden. 75 Es besteht außerdem Ei-<br />

73 Dazu auch May/Wierda, International Criminal Evidence,<br />

2002, S. 292 und Zappalá (Fn. 67), S. 94, welcher die auf die<br />

zuvor hingewiesene Beweislastumkehr an den Tribunalen<br />

nach Regel 92 JStGH-VBO stark kritisiert („This [Art. 67<br />

Abs. 1 lit. i IStGH-St., Anm. d. Verf.] is a major breakthrough<br />

because in the system of the ad hoc Tribunals there<br />

are reversals that virtually require a probatio diabolica.“).<br />

74 Cassese, International Criminal Law, 2. Aufl. 2008, S. 390;<br />

Bassiouni, Introduction to International Criminal Law, 2003,<br />

S. 603; Calvo-Gollar (Fn. 62), S. 227; Zappalá, in: Cassese/<br />

Gaeta/Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International<br />

Criminal Court, Bd. 2, 2002, S. 1340 ff. Zur Unschuldsvermutung<br />

in menschenrechtlichen Übereinkommen s. Nowak<br />

(Fn. 37), Art. 14 Rn. 33; Trechsel (Fn. 39), S. 154 ff.<br />

75 Zappalá (Fn. 67), S. 84. Zur geschichtlichen Entwicklung<br />

dieses Artikels s. Schabas (Fn. 72), Art. 66 Rn. 3 ff. und<br />

Baum, Wisc. Int’l L. J. 19 (2001), 197 (203 f.).<br />

nigkeit dahingehend, dass die Unschuldsvermutung trotz<br />

ihrer systematischen Stellung und trotz ihres Wortlautes nicht<br />

bloß für den Angeklagten, sondern bereits zu einem früheren<br />

Zeitpunkt auch für den Beschuldigten Geltung beansprucht. 76<br />

So ist neben Art. 67 Abs. 1 lit. a IStGH-St. auch Art. 55<br />

Abs. 2 lit. b IStGH-St. mit dem Verbot, nachteilige Schlussfolgerungen<br />

aus dem Schweigen des Beschuldigten zu ziehen,<br />

direkter Ausfluss der Unschuldsvermutung und der dort<br />

niedergelegten Beweislastverteilung.<br />

b) Negative Schlussfolgerungen aus dem Schweigen<br />

Ein weiterer Unterschied ergibt sich im Hinblick auf den<br />

Umfang der Gewährleistung des Schweigerechts. Der Wortlaut<br />

des Art. 55 Abs. 2 lit. b IStGH-St. besagt ausdrücklich,<br />

dass das Schweigen des Beschuldigten bei der Feststellung<br />

von Schuld oder Unschuld nicht in Betracht gezogen wird.<br />

Hiermit trifft die Vorschrift eine Anordnung, die über sämtliche<br />

Regelungen, einschließlich der menschenrechtlichen<br />

Standards, hinausgeht. Eine Diskussion über die Zulässigkeit<br />

nachteiliger Schlussfolgerungen aus dem Schweigen wird<br />

dadurch obsolet: durch eine solche Formulierung verdeutlicht<br />

der Wortlaut unmissverständlich, dass nachteilige Schlussfolgerungen<br />

aus dem Schweigen nicht gezogen werden dürfen.<br />

Dieses Schutzniveau wird durch die „Unvollständigkeit“<br />

der Regelung relativiert. Im Vergleich zu den Regelungen an<br />

den Tribunalen fehle der Hinweis, dass jegliche Aussage als<br />

Beweis gegen den Beschuldigten verwendet werden könne. 77<br />

Sofern anfangs die Hoffnung bestand, dass dies in der Verfahrens-<br />

und Beweismittelordnung oder den “Regulations“<br />

nachgeholt werden würde, bleibt lediglich festzustellen, dass<br />

dies bis dato nicht der Fall ist. Trotz dieses Umstandes fällt<br />

das Schweigerecht nicht hinter den Standard zurück, den<br />

menschenrechtliche Übereinkommen vorsehen.<br />

c) Transnationale Kooperation<br />

In Bezug auf den Adressaten dieser Verpflichtung ist das<br />

IStGH-Statut zumindest umfassender als die Verfahrens- und<br />

Beweismittelordnung des JStGH, welche sich lediglich auf<br />

eine Befragung durch den Ankläger beziehen und demzufolge<br />

nur diesen mit einer Belehrungspflicht versehen. 78 Hingegen<br />

nimmt Art. 55 Abs. 2 IStGH-St. neben dem Ankläger<br />

auch einzelstaatliche Behörden und deren Mitarbeiter in die<br />

Pflicht. Was die Bindung einzelner Staaten anbelangt, so<br />

wird durch den in Art. 55 Abs. 2 IStGH-St. gewählten Wortlaut<br />

deutlich, dass die Gewährleistungen dieser Vorschrift in<br />

den Vertragsstaaten zu berücksichtigen sind, sofern deren<br />

Behörden auf der Grundlage eines Ersuchens um Zusammenarbeit<br />

nach Teil 9 des Statuts bei den Ermittlungen behilflich<br />

sind, wobei idealerweise im Vorfeld eine Umsetzung der<br />

76 Cryer/Friman, An Introduction to International Criminal<br />

Law and Procedure, 2008, S. 356; Cassese (Fn. 74), S. 390;<br />

Schabas (Fn. 63), S. 203 mit Verweis auf Bassiouni, Cornell<br />

Int’l L. J. 32 (1999), 443 (454).<br />

77 Safferling (Fn. 36), S. 124; Hall (Fn. 70), Art. 55 Rn. 12.<br />

78 Siehe zu der diesbezüglich geäußerten Kritik oben, S. 64.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

792<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Regelung in nationales Recht hätte erfolgt sein sollen. 79 Hierdurch<br />

soll ein zusätzlicher Schutz geschaffen werden, da der<br />

IStGH in erheblicher Art und Weise auf die Kooperation der<br />

Staaten und deren Durchsetzungsmechanismen angewiesen<br />

ist. 80 Sofern diese Rechte durch die staatlichen Behörden oder<br />

den Ankläger verletzt werden, sind hierdurch erlangte Beweismittel<br />

nach Art. 69 Abs. 7 IStGH-St. nicht zulässig. 81<br />

Eine gewisse Parallelität besteht diesbezüglich zu den obigen<br />

Ausführungen betreffend den JStGH (sowie den RStGH),<br />

wobei dort die Regeln 42, 95 JStGH-VBO staatliche Behörden<br />

nicht in demselben Umfang binden wie Art. 55 IStGH-<br />

St. die Vertragsstaaten des Römischen Statuts. Es wird demzufolge<br />

insofern ein Unterschied deutlich, als nach dem<br />

Recht an den Tribunalen die nationalen Rechtsordnungen<br />

unbeeinflusst durch die Statuten und Verfahrens- und Beweismittelordnungen<br />

bleiben, wohingegen die Vorschriften<br />

des Römischen Statuts als Bestandteil der vertraglichen Verpflichtung<br />

auch in den Unterzeichnerstaaten gelten sollen.<br />

Für den Fall einer Verletzung der dem Beschuldigten zugestandenen<br />

Rechte (Maßstab sind hier die in den Statuten oder<br />

Verfahrens- und Beweismittelordnungen verankerten Gewährleistungen)<br />

kommt es in der Gestalt eines „gemeinsamen<br />

Nenners“ an diesen internationalen Gerichtshöfen zumindest<br />

auch darauf an, ob die Zulassung der auf diese Weise erlangten<br />

Beweismittel in einem grundsätzlichen Widerspruch zur<br />

Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens steht und dieser schweren<br />

Schaden zufügen würde.<br />

d) Zusammenfassung<br />

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Garantie des Art. 55<br />

Abs. 2 lit. b IStGH-St. in Teilen über den Maßstab hinausgeht,<br />

der in anderen Rechtsordnungen vorhanden ist. Was die<br />

Menschenrechte anbelangt, so garantiert diese Vorschrift den<br />

79 Amnesty International: „International Criminal Court: The<br />

failure of states to enact effective implementing legislation“,<br />

1.9.2004, AI Index: IOR 40/019/2004, S. 33, unter Hinweis<br />

auf eine eher mangelhafte Umsetzung in das nationale Recht<br />

der Staaten. Zu dem Bedürfnis einer solchen Umsetzung<br />

siehe Oosterveld/Perry/McManus, Fordham Int’l L. J. 25<br />

(2002), 767 (787 ff.); Triffterer, in: Kreß/Lattanzi (Hrsg.),<br />

The Rome Statute and Domestic Legal Orders, Bd. 1, 2000,<br />

S. 1, 12 f.<br />

80 May/Wierda (Fn. 73), S. 278; Terracino, J.I.C.J. 5 (2007),<br />

421 (422). In den Worten des Anklägers am IStGH, Luis<br />

Moreno-Ocampo: „[T]here seems to be a paradox: the ICC is<br />

independent and interdependent at the same time. It cannot<br />

act alone. It will achieve efficiency only if it works closely<br />

with other members of the international community.“ (Statement<br />

made at the ceremony for the solemn undertaking of the<br />

Chief Prosecutor of the ICC, 16.6.2003).<br />

81 Rastan, Leiden J. Int’l L. 21 (2008), 431 (452), der auf die<br />

Ähnlichkeit dieser Vorschrift zu Regel 95 JStGH-VBO und<br />

zugleich auf den Umstand hinweist, dass Art. 69 Abs. 7<br />

IStGH-St. deutlicher formuliert ist und daher entsprechend<br />

erlangte Beweise – anders als das Gegenstück in der JStGH-<br />

VBO – eindeutig von der Zulassung ausschließt (sofern die<br />

Verletzung von ausreichender Schwere ist).<br />

konventionellen Mindeststandard und übertrifft diesen in<br />

mancherlei Hinsicht. Gleiches gilt für die in Art. 55 Abs. 1<br />

lit. a IStGH-St. verankerte Freiheit von Zwang zur Selbstbelastung.<br />

Allein schon der Umstand, dass Art. 55 IStGH-St.<br />

dieses Recht in doppelter Hinsicht gewährleistet, verdeutlicht<br />

die Fortschrittlichkeit der Vorschrift und den derart postulierten<br />

Schutz. Flankiert wird die Regelung der Beschuldigtenrechte<br />

durch die Angeklagtenrechte des Art. 67 IStGH-St.<br />

und Art. 66 IStGH-St. als die Zentralnorm der Unschuldsvermutung.<br />

IV. Ausblick<br />

Strafprozessrecht steht im Spannungsfeld zwischen Effizienz<br />

und Fairness. Das zeigt sich auch an dem Umgang mit dem<br />

Recht zu Schweigen, das in diesem Spannungsfeld eine ambivalente<br />

Rolle einnimmt. Während es einerseits die Arbeit<br />

der Ermittlungsbehörden zu behindern scheint, garantiert es<br />

zugleich die Güte der Wahrheitsfindung, da der Wahrheitsgehalt<br />

einer unter Druck getätigten Aussage des Angeklagten<br />

sehr zweifelhaft ist. Das Recht zu schweigen ist daher nicht<br />

nur eine menschenrechtliche Garantie der Verfahrensfairness<br />

gegenüber dem Angeklagten, sondern zugleich ein wichtiges<br />

Grundelement der rechtsstaatlichen Wahrheitsfindung. Die<br />

seit einiger Zeit zu beobachtende Erosion kategorischer<br />

Rechte im Strafverfahren droht auch das Schweigerecht in<br />

nationalen Rechtssystemen zu beeinträchtigen. In dieser<br />

Situation wird die Rechtsposition des Angeklagten durch<br />

Entwicklungen im internationalen Strafverfahrensrecht gestärkt.<br />

Zwar hat das Völkerstrafprozessrecht keinen unmittelbaren<br />

Einfluss auf nationale Rechtssysteme; wenigstens mittelbar<br />

könnte und sollte das Römische Statut des Internationalen<br />

Strafgerichtshofs allerdings Vorbildcharakter entwickeln.<br />

Eine weitere Besonderheit des Strafverfahrensrechts im<br />

21. Jahrhundert wird hierbei deutlich. Trotz des immer wieder<br />

betonten, grundsätzlich nationalen Charakters des Strafprozesses<br />

82 , ist Strafverfahrensrecht nicht mehr nur eindimensional<br />

zu betrachten. Verschiedene Spruchkörper auf<br />

europäischer, aber auch auf internationaler Ebene beeinflussen<br />

die Entwicklung des Strafprozesses. Es entstehen Überschneidungen<br />

und Spannungen. In dieser dynamischen und<br />

facettenreichen Evolution ist es besonders wichtig, sich auf<br />

die Funktion des rechtsstaatlichen, aufgeklärten Strafverfahrens<br />

überhaupt zu besinnen und die traditionellen Errungenschaften<br />

immer neu zu begründen. Das gilt auch für die Integration<br />

der Rechtsprechung des EGMR. Wegen seiner<br />

Natur als supranationales Organ zur Implementierung der<br />

EMRK bedürfen seine Entscheidungen – wie auch das<br />

BVerfG in seinem sehr umstrittenen Beschluss in der Sache<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

82<br />

EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Urt. v. 11.7.2006 –<br />

54810/00, in: NJW 2006, 3117 Rn. 94, mit Verweis auf<br />

Schenk ./. Schweiz, Serie A Nr. 140 Rn. 45 f.; Teixera de<br />

Castro ./. Portugal, Slg. 1998-IV, S. 1462 Rn. 34; vgl. Safferling,<br />

Jura 2008, 100 (103); ebenso der EuGH in ständiger<br />

Rspr. vgl. etwa EuGH C-176/03 vom 13.9.2005, Kommission<br />

./. Rat, Rn. 47.<br />

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Christoph Safferling/Alena Hartwig<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Görgülü festgestellt hat 83 – genauer Analyse hinsichtlich der<br />

systematischen Integration in das nationale Recht. Nicht<br />

alles, was vom EGMR hinsichtlich anderer Rechtsordnungen<br />

für menschenrechtskonform erachtet wird, wie etwa negative<br />

Schlussfolgerungen aus dem Schweigen nach englischem<br />

Recht 84 , kann im innerstaatlichen Recht zulässig sein. Ebenso<br />

kann, was bzgl. einer anderen Prozessordnung für menschenrechtswidrig<br />

erachtet wurde, sich im deutschen Strafverfahrensrecht<br />

als menschenrechtskonform erweisen, weil Fairness<br />

strukturell anders hergestellt wird. 85<br />

Angesichts dieser Dilemmata zeigt diese Untersuchung,<br />

dass hinsichtlich des Schweigerechts auf mehreren Ebenen<br />

eine erfreulich weitgehende Übereinstimmung zu verzeichnen<br />

ist. Das ist umso begrüßenswerter, als eine Harmonisierung<br />

des rechtsstaatlichen Standards hinsichtlich der weiteren<br />

Entwicklung des europäischen wie des internationalen Strafrechts<br />

dringend erforderlich ist.<br />

83 BVerfGE 111, 307. Dazu auch Sachs, JuS 2005, 164;<br />

Breuer, NVwZ 2005, 412; Klein, JZ 2004, 1176; Meyer-<br />

Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15; Hartwig, German Law<br />

Journal 6 (2005), 869; Safferling, Jura 2008, 100 (107).<br />

84 S.o. bei Fn. 23.<br />

85 Das kann etwa im Fall der verdeckten Ermittler und Lockspitzel<br />

gelten, wenn vom BGH das Heil in einer Rechtsfolgen-<br />

bzw. Vollstreckungslösung gesucht wird. Hierzu BGH,<br />

Urt. v. 18.11.1999 – BGHSt 45, 321; NJW 2000, 1123. Freilich<br />

steht eine Bewertung durch den EGMR selbst für das<br />

deutsche Strafprozessrecht noch aus.<br />

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794<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Die Obstruktion der Konstruktion<br />

Über die Bremswirkung gewohnter Denkmuster im Strafrecht*<br />

Von Prof. Dr. Bernhard Hardtung, Rostock<br />

I. Konstruktion und Obstruktion<br />

1. Die Konstruktion<br />

Ein Igel geht niemals über eine Straße. Das ist sozusagen der<br />

erste Hauptsatz des Konstruktivismus. Ein Igel geht, in seiner<br />

Igelwelt, niemals über eine Straße. Er geht über einen langen,<br />

flachen und stinkenden Stein. Und dass auf diesem Stein oft<br />

schnelle, harte und schwere Dinge („Autos“) sind, dafür hat<br />

er keinen Sinn.<br />

Ich möchte über das, was man „Konstruktivismus“ nennt,<br />

nicht philosophisch sprechen und nicht allgemein erkenntnistheoretisch.<br />

Ich möchte nur aufgreifen die erste und ganz<br />

schlichte, geradezu banale Einsicht des Konstruktivismus,<br />

dass wir die Welt nicht so sehen, wie sie ist, sondern immer<br />

nur so, wie wir sie sehen. Wir machen uns ein Bild von der<br />

Welt. Wir konstruieren uns unsere Welt. Unsere Konstruktionen<br />

sind Urteile über die Welt. Und sie hängen ab von unseren<br />

Konstruktionsmöglichkeiten.<br />

Unser Bild von der physischen Welt wird geprägt von unseren<br />

fünf Sinnen. Hätten wir andere Sinne, wäre unser Weltbild<br />

anders. Der Grubenotter zum Beispiel besitzt zwischen<br />

Augen und Nasenlöchern zwei grubenförmige kleine Organe,<br />

die auf Infrarotstrahlung reagieren. Damit kann er eine warme<br />

Maus sogar im Dunkeln so gut „sehen“, dass er sie fangen<br />

und fressen kann. Oder etwa der Hai hat mehrere spezielle<br />

Sinnesorgane, unter anderem das Seitenlinienorgan, mit dem<br />

er Druckschwankungen registrieren kann. Damit ist er in der<br />

Lage, in einer uns Menschen fremden Weise zu spüren, wo<br />

sich etwas im Wasser bewegt. Wären also unsere Sinne anders,<br />

wäre auch unser Weltbild anders.<br />

Aber auch unser Bild von der nicht physischen Welt ist<br />

geprägt von unseren Möglichkeiten. Hätten wir unsere<br />

menschlichen Sinneswahrnehmungen, im Übrigen aber das<br />

Gehirn eines Igels, dann hätten auch wir keinen Sinn für die<br />

Bedeutung eines langen, flachen und stinkenden Steines.<br />

Dann würde auch uns „ums Verrecken“ nicht in den Sinn<br />

kommen, dass auf dem Stein, den Menschen „Straße“ nennen,<br />

etwas kommen könnte, was Menschen „Auto“ nennen.<br />

Und auch in der Welt des Sollens und der Normen gibt es<br />

Konstruktionen: Was man soll und warum man es soll; moralische<br />

Konstruktionen, rechtliche Konstruktionen.<br />

Vor allem die Wissenschaft, die nach Systemen sucht,<br />

konstruiert gern, auch die Rechtswissenschaft. Die Rechtspraxis<br />

tut es weniger. Sie sucht die rechtliche Lösung des<br />

Einzelfalles. Natürlich greift sie dafür zurück auf vorhandene<br />

Konstruktionen. Gibt es aber für einen Fall noch keine Konstruktion,<br />

muss die Rechtsprechung sich ein neues Bild von<br />

* Der Beitrag ist die Schriftfassung meiner Antrittsvorlesung,<br />

die ich am 20.1.2004 an der Rostocker Juristischen Fakultät<br />

gehalten habe (Form und <strong>Inhalt</strong> habe ich etwas geändert),<br />

sowie die aktualisierte Fassung der Erstveröffentlichung in:<br />

Harald Koch (Hrsg.), Recht zwischen Verfahren und materieller<br />

Wertung, Berliner Wissenschaftsverlag (www.bwvverlag.de),<br />

Berlin 2005, S. 33 ff.<br />

der Rechtslage machen. Das tut sie oft intuitiv; man beruft<br />

sich auf das „geschulte Judiz“. Das hat Vorteile (dazu gleich<br />

unter 2.), aber auch Nachteile. Denn entweder (selten) beruht<br />

dieses „Judiz“ in der Tat auf keinerlei Konstruktionen; dann<br />

beruht die Entscheidung allein auf Belieben und Tagesstimmung,<br />

also auf Einflüssen, die wir lieber aus rechtlichen<br />

Entscheidungen herausgehalten sähen. Oder (so ist es meist)<br />

hinter diesem „geschulten Judiz“ stecken in Wahrheit durchaus<br />

Konstruktionen, aber unbewusste oder kaum reflektierte.<br />

Und aber auch dann können sie die Entscheidung nur wenig<br />

gegenüber sachfremden Einflüssen stabilisieren; die Entscheidung<br />

kann nicht richtig begründet werden, eben weil der<br />

Richter über seine Gründe selber nicht ganz im Bilde ist; und<br />

wegen der Begründungsschwäche können andere die Entscheidung<br />

nicht zutreffend nachvollziehen.<br />

Die Vorteile sorgfältig durchdachter Konstruktionen sind<br />

damit deutlich: Sie beruhen auf einer Durchdringung der<br />

Sache, sie verschaffen uns ein klares Bilder davon, sie leiten<br />

unser Verhalten kraftvoll an und sie machen es anderen verständlich.<br />

2. Die Obstruktion<br />

Aber unsere Konstruktionen haben auch Nachteile. Ihr größter<br />

ist: ihre Hartnäckigkeit.<br />

Machen wir uns zunächst dieses klar: Unser Bild von der<br />

Welt kann falsch sein. Ein Kind etwa lebt zunächst mit der<br />

Konstruktion, dass eine Herdplatte ein hartes kühles Ding ist,<br />

wie es im familiären Haushalt viele gibt: Fußbodenfliesen,<br />

Teller, Frisbee-Scheiben ... Es hat sowenig einen Sinn für die<br />

Herdplatte wie der Igel für die Straße. Aber irgendwann wird<br />

es ganz wörtlich be-„greifen“, dass Herdplatten etwas besonders<br />

sind.<br />

Das Kind zeigt uns damit: Konstruktionen können „richtig“<br />

sein oder eben nicht. Allerdings ist „richtig“ ein riskantes<br />

Wort. Denn wenn unsere Sicht auf die Welt nur eine von<br />

mehreren möglichen ist, dann kann nicht unsere Sicht „richtig“<br />

und die des Pottwals „falsch“ sein. Besser ist die Rede<br />

von „nützlichen“ Konstruktionen. Eine Konstruktion ist<br />

„nützlich“, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt, und das heißt:<br />

wenn sie uns dabei hilft, dass wir uns in der Welt zurechtfinden.<br />

Unsere Bilder, unsere Konstruktionen, unsere Urteile sind<br />

also in Wahrheit Vor-Urteile. Und ich meine das ohne negativen<br />

Klang: Unsere Konstruktionen sind immer nur vorläufige<br />

Urteile. Jederzeit kann es sein, dass eine andere Konstruktion<br />

nützlicher ist. Darauf müssen wir immer gefasst<br />

sein. Und wenn wir uns in der Welt immer besser zurechtfinden<br />

wollen, müssen wir auch bereit sein, uns von einem unserer<br />

Vor-Urteile zu lösen und uns ein neues zu bilden. Das<br />

Streben nach einem solchen immer besseren Bild von der<br />

Welt ist das Streben insbesondere der Wissenschaft.<br />

Aber die Konstruktionen sind hartnäckig: Wer sich einmal<br />

eine Meinung gebildet hat, wird sie kaum wieder los.<br />

Unser gewohntes Welt-„bild“ mögen wir ungern aufgeben.<br />

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795


Bernhard Hardtung<br />

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Wir haben unsere Vor-Urteile lieb. Unsere Konstruktionen<br />

ruhen tief in uns. Und aus der Physik weiß man: Ruhende<br />

Körper neigen dazu, weiter zu ruhen.<br />

Dies wissenschaftlich zu erklären, ist die Gehirnforschung<br />

mittlerweile in der Lage. Die Bahnen, in denen sich unser<br />

Denken vollzieht, sind wirkliche Bahnen, auf denen elektrische<br />

Impulse durch unser Gehirn jagen (wobei ich mir darüber<br />

im Klaren bin, dass diese Aussage zwischen grober Vereinfachung<br />

und bildhafter Vorstellung oszilliert). Die Bahnen<br />

werden, irgendwann, angelegt, durch Erlebnisse, durch Nachdenken,<br />

durch Einüben (denken Sie an das Lernen des Fahrradfahrens<br />

oder an das Erlernen eines Musikinstrumentes).<br />

Sind sie da, benutzen wir sie auch. oder würden Sie, um von<br />

Rostock nach Schwerin zu kommen, die Autobahn meiden<br />

und über die Äcker fahren?<br />

Fehl-Konstruktionen der physischen Welt halten sich oft<br />

nicht gut, denn sie können der Wirklichkeit nichts entgegensetzen.<br />

Ein Beispiel: Vor fünf Millionen Jahren hatte ein<br />

schielender Gibbon das Vor-Urteil vor Augen, dass dort in<br />

zwei Meter Entfernung ein Ast hinge. Als er sprang, stellte<br />

sich sein Welt-„bild“ als wenig nützlich heraus. So funktioniert<br />

Evolution: Ausmerzung von Fehl-Konstruktionen durch<br />

Ausmerzung ihrer Konstrukteure. Dasselbe passiert heute den<br />

Igeln auf der Straße. Ihre Fehl-Konstruktion lautet: Wenn auf<br />

einem langen, flachen und stinkenden Stein die Sinnesorgane<br />

etwas wahrnehmen, wovon das Signal „Gefahr!“ ausgelöst<br />

wird, dann ist die richtige Reaktion darauf immer dieselbe,<br />

nämlich Einigeln. Nützlicher wäre ein Aus-der-Gefahr-Herausigeln,<br />

aber das kann der Igel nicht verstehen.<br />

Fehl-Konstruktionen der physischen Welt halten sich aber<br />

dann gut, wenn sie einen Umstand betreffen, der für das Sichzurecht-Finden<br />

in der Welt belanglos ist. Dass die Erde eine<br />

Scheibe sei, war gewiss eine Fehl-Konstruktion. Aber sie<br />

schadete Jahrhunderte lang nicht und bewies deshalb erstaunliche<br />

Lebenskraft.<br />

Deshalb halten sich Fehl-Konstruktionen der nicht physischen<br />

Welt besonders gut. Und normative Fehl-Konstruktionen<br />

halten sich am besten. Denn sie sind das, was man „enttäuschungsfest“<br />

nennt. Sie sind nicht „widerlegbar“. Ihre Konstrukteure<br />

und Anhänger haben logisch und psycho-logisch<br />

die Möglichkeit, ihren Fehl-Konstruktionen treu zu bleiben<br />

und sie konsequent in Ehren zu halten. Als Juristen etwa<br />

erklären sie dann ihre Konstruktionen und deren Konsequenzen<br />

für „gerecht“ oder jedenfalls für „Recht“, also „normativ<br />

richtig“.<br />

Wer hingegen nicht so sehr an seinen Konstruktionen<br />

hängt, kann eher zu neuen Ansichten und Einsichten kommen.<br />

Das gilt zum Beispiel für die Rechtsprechung. Sie hat es<br />

manchmal leichter, moderner zu sein als die Wissenschaft,<br />

weil sie eher bereit ist, auf die konstruktive Abstützung einer<br />

für „richtig“ gehaltenen Entscheidung zu verzichten als auf<br />

die „richtige“ Entscheidung selbst. Aber auch junge Menschen,<br />

darunter auch die jungen Juristen, die sich zum ersten<br />

Mal mit einem Stoff befassen, werden von der Hartnäckigkeit<br />

der bestehenden Konstruktionen nicht so sehr gefährdet.<br />

Denn sie selber haben noch keine Konstruktion verinnerlicht,<br />

von der sie sich erst mühsam lösen müssten. Sie wählen unbefangen<br />

und frei aus den konkurrierenden Konstruktionen<br />

die „bessere“, „passendere“, „einleuchtendere“ – eben die<br />

„nützliche“, die „richtige“ aus. Vielleicht ist auch das mit ein<br />

Grund für den gelegentlich aufgestellten 1 Satz, dass es im<br />

Mittel dreißig Jahre dauert von der ersten Äußerung einer<br />

neuen Idee bis zu ihrer Anerkennung: Das Aus-„bilden“ einer<br />

Anschauung in den Köpfen der Jüngeren ist leichter als das<br />

Um-„bilden“ bei den Älteren.<br />

Über diese Klemme will ich sprechen: Darüber, dass Verbesserungen<br />

des Weltbildes häufig eine Änderung der gewohnten<br />

Konstruktionen brauchen. Und dass eben dies nicht<br />

nur Igeln schwer fällt, sondern auch Strafrechtlern. Die alten<br />

Konstruktionen behindern den Fortschritt; sie hemmen uns,<br />

sie leisten Widerstand, sie sind nicht konstruktiv, sondern im<br />

Gegenteil obstruktiv. Dafür will ich Beispiele nennen: Für die<br />

Obstruktion der Konstruktion, für die Bremswirkung gewohnter<br />

Denkmuster im Strafrecht.<br />

II. Obstruktive Konstruktionen im Strafrecht<br />

Drei Bemerkungen vorab. Erstens: Ich möchte nicht in den<br />

Tiefen des Strafrechts schürfen, sondern in die Höhen fliegen,<br />

nämlich hinauf in die Meta-Ebene der Wissenschaftstheorie<br />

und der Argumentationstheorie oder auch der „Erkenntnissoziologie“.<br />

Ich werde deshalb manche strafrechtlichen<br />

Details unerwähnt lassen; denn ich brauche sie nicht für<br />

mein Thema. Zweitens: Weil ich über strafrechtliche Konstruktionen<br />

in unseren Köpfen sprechen will, möchte ich<br />

diese Konstruktionen sichtbar und anschaubar machen und<br />

benutze deshalb mehrere Bilder und Schemas 2 . Drittens: Ich<br />

befasse uns nur mit zwei strafrechtlichen Konstruktionen. Es<br />

sind sehr „Grund legende“, und ich will sie an diesem Fall<br />

zum Vorschein bringen.<br />

Fall 1: Täter T schlägt sein Opfer O mit Absicht schmerzhaft<br />

zu Boden. T tut das, weil er leichtsinnigerweise denkt, O hole<br />

gerade mit dem Fuß aus, um T zu treten. O holt wirklich<br />

gerade mit dem Fuß aus, aber nur, um eine Coladose wegzukicken.<br />

T hat einen Straftatbestand verwirklicht, nämlich den der<br />

vollendeten einfachen vorsätzlichen Körperverletzung nach<br />

§ 223 Abs. 1 StGB. Er war auch nicht aus Notwehr (§ 32<br />

StGB) gerechtfertigt, weil er von O nicht angegriffen wurde.<br />

Er dachte aber, er werde angegriffen und verteidige sich im<br />

Rahmen des Erforderlichen und Gebotenen. Er nahm also<br />

Umstände an, die ihm die Körperverletzung erlaubt hätten. Er<br />

befand sich im so genannten Erlaubnisumstandsirrtum. 3<br />

1 So insb. von Dayson, zitiert nach Kitaigorodski, Unwahrscheinliches<br />

– möglich oder unmöglich?, 2. Aufl. 1977, S. 144.<br />

2 Um schon hier eine alte und eine neue Konstruktion zu<br />

bringen, aber zur Sprache: Die im Text gewählte Mehrzahl<br />

von „Schema“ ist nach neuer deutscher Rechtschreibung<br />

korrekt. Aber wer sie immer in der älteren (und noch zulässigen)<br />

Form der „Schemata“ ge-„bildet“ hat, wird die „Schemas“<br />

nicht mögen. – Übrigens auch die „Paragrafen“ nicht.<br />

3 Gängiger ist die Bezeichnung „Erlaubnistatbestandsirrtum“,<br />

ebenso wie der in § 16 Abs. 1 S. 1 StGB geregelte Irrtum<br />

über Tatumstände nur selten „Tatumstandsirrtum“ und meist<br />

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796<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Die Obstruktion der Konstruktion<br />

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Zur rechtlichen Beurteilung gibt es etwa zehn Lösungen,<br />

wenn man auf die Details blickt. Für unsere Überlegungen<br />

genügt eine grobe Gruppierung. In der üblichen Sprache des<br />

Strafrechts stellt sich der Streit der Meinungen über die rechtliche<br />

Behandlung dieses Falles so dar, dass im älteren Lager<br />

der Lösungen festgestellt wird, T habe zwar das Unrecht<br />

einer vollendeten vorsätzlichen Körperverletzung verwirklicht,<br />

aber ohne Schuld gehandelt, wohingegen im neueren<br />

Lager vertreten wird, T habe schon nicht das Unrecht einer<br />

vollendeten vorsätzlichen Körperverletzung begangen. Ich<br />

nenne die erste Ansicht die „Schuldlösung“ und die zweite<br />

die „Unrechtslösung“. Sie halte ich für sachlich richtig. Aber<br />

darüber sage ich hier nichts. 4 Denn ich will mit Betonung<br />

nicht strafrechtsdogmatisch werden, sondern nur über die<br />

gestaltende und beharrende Kraft von gedanklichen Bildern<br />

und Denkmustern sprechen. Ich will zeigen, dass die Schuldlösung<br />

(auch) auf zwei konservativen Konstruktionen beruht<br />

und dass diese Konstruktionen es uns Strafjuristen schwerer<br />

machen als nötig, den Weg zur Unrechtslösung zu finden. Ich<br />

will zeigen, dass man sich von diesen Konstruktionen lösen<br />

sollte, wenn man die Unrechtslösung für richtig hält, und wie<br />

eine neue Konstruktion aussehen sollte.<br />

1. Zwei konservative Konstruktionen<br />

Die ältere Schuldlösung ruht auf zwei konservativen Konstruktionen.<br />

Die erste ist die vom traditionellen dreistufigen<br />

Deliktsaufbau (sogleich unter a). Für die zweite gibt es keine<br />

gängige Kurzbezeichnung. Ich nenne sie in diesem Beitrag<br />

die Konstruktion von der Unteilbarkeit des Unrechts, weil das<br />

für den weiteren Gedankengang die nützlichste Kurzbezeichnung<br />

ist, und erkläre später (unter b), was ich damit meine.<br />

a) Der traditionelle dreistufige Deliktsaufbau<br />

Die traditionelle Lehre (oder in unserer Terminologie: die<br />

traditionelle Konstruktion) vom dreistufigen Deliktsaufbau<br />

besagt, dass eine Straftat aus drei Elementen bestehe und<br />

diese drei Elemente in einer bestimmten Reihenfolge zu prüfen<br />

seien (sie ist also zugleich eine Lehre von der Deliktsprüfung).<br />

Sie besagt: Das den Grund legende Element ist der<br />

„Tatbestand“, was ein verkürzter Ausdruck für „Straftatbe-<br />

„Tatbestandsirrtum“ genannt wird. Die Rede vom Irrtum über<br />

den (Straf- oder Erlaubnis-) „Tatbestand“ ist aber ungenauer<br />

als die von den „Umständen“. Denn wer beispielsweise einen<br />

anderen Menschen aus Versehen tötet, verkennt ja nicht den<br />

in § 16 Abs. 1 S. 1 StGB erwähnten „Tatbestand“ des Totschlags<br />

(§ 212 Abs. 1 StGB) – er weiß doch, dass vorsätzliche<br />

Tötungen strafbar sind! Er verkennt vielmehr den ebenfalls<br />

in § 16 Abs. 1 S. 1 StGB erwähnten tatsächlichen „Umstand“,<br />

dass er in diesem Moment einen Menschen tötet.<br />

Genauer und deshalb besser ist also die Rede vom Irrtum<br />

über die „Umstände“.<br />

4 Nachzulesen sind die Gründe etwa bei den in Fn. 53 Genannten.<br />

standlichkeit“ ist 5 und meint: Die unterste und erste Stufe<br />

bildet die Feststellung, dass das Verhalten einer Person die<br />

Voraussetzungen eines Straftatbestandes erfüllt, also einer<br />

Vorschrift, die als Rechtsfolge Strafe androht. Auf der zweiten<br />

Stufe findet sich die „Rechtswidrigkeit“, wo entschieden<br />

wird, ob die Person rechtmäßig oder rechtswidrig gehandelt,<br />

ob sie Recht oder Unrecht getan hat. 6 Auf der dritten Stufe<br />

prüft man in der „Schuld“, terminologisch genauer: der<br />

„Schuldhaftigkeit“, ob die rechtswidrig handelnde Person<br />

(mit den Worten des § 20 StGB) in der Lage war, das Unrecht<br />

der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.<br />

Bild (siehe Bild 1 unten auf S. 810) und Prüfschema sind<br />

schlicht:<br />

I. Straftatbestand<br />

II. Rechtswidrigkeit<br />

III. Schuld<br />

Prüfschema 1: Der traditionelle dreistufige Deliktsaufbau<br />

So machen es fast alle, 7 und vor allem der Bundesgerichtshof<br />

sah nie Veranlassung, davon abzurücken. So hat etwa im<br />

Jahre 1952 der Große Senat für Strafsachen dargelegt, dass<br />

„die Verwirklichung des Tatbestandes nicht [...] rechtswidrig<br />

ist [...], wenn die tatbestandsmäßige Handlung nach einer<br />

gestattenden Gegennorm [...] erlaubt ist.“ 8 Und so sieht er es<br />

zum Beispiel in einer Entscheidung aus dem Jahr 1999 noch<br />

immer. 9 Zu den Gründen für diese Festigkeit später (unter 2.<br />

b] und d]).<br />

5 Ich verwende hier die Worte „Tatbestand“ und „Straftatbestand“<br />

mit derselben Bedeutung, weil das im Strafrecht so<br />

üblich ist. S. auch Fn. 11.<br />

6 Die Begriffe „Rechtswidrigkeit“ und „Unrecht“ sind oft<br />

austauschbar. Aber ein Unterschied besteht: Beispielsweise<br />

ein Mord und eine Sachbeschädigung sind gleichermaßen<br />

„rechtswidrig“ (seltener auch: „widerrechtlich“); aber das<br />

„Unrecht“ des Mordes ist größer als das der Sachbeschädigung.<br />

7 Aus der Lit. Gropp, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl.<br />

2005, § 6 Rn. 1-20; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2.<br />

Aufl. 1993, 6/54-58; Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner<br />

Teil, 5. Aufl. 1996, S. 248 ff.; Kühl, Strafrecht, Allgemeiner<br />

Teil, 6. Aufl. 2008, § 6 Rn 1-8; Lackner/Kühl,<br />

Strafgesetzbuch, Kommentar, 26. Aufl. 2007, Vor § 13 Rn. 17;<br />

Rönnau, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, Strafgesetzbuch,<br />

Leipziger Kommentar, Bd. 2, Vor § 32 Rn. 5-19;<br />

Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006,<br />

§ 10 Rn 13-26; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder,<br />

Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, Vor § 13 Rn.<br />

18; Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (a.a.O.),<br />

§ 15 Rn. 35; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze,<br />

Kommentar, 56. Aufl. 2009, Vor § 13 Rn. 46; Wessels/Beulke,<br />

Strafrecht, Allgemeiner Teil, 39. Aufl. 2009, Rn 123-129.<br />

8 BGHSt 2, 194 (195).<br />

9 BGH NStZ 2000, 87 (88), wo die Frage behandelt wird, ob<br />

der Angeklagte „bei der mittels Sprühen von Reizgas zum<br />

Nachteil des Zeugen S begangenen gefährlichen Körperver-<br />

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Bernhard Hardtung<br />

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b) Die Unteilbarkeit des Unrechts<br />

Die zweite konservative Konstruktion, um die es mir geht<br />

und die ich hier sehr verkürzt die „Unteilbarkeit des Unrechts“<br />

nenne, bedeutet dies: Alle Tatbestände und alle<br />

Rechtfertigungsgründe enthalten mehrere Voraussetzungen.<br />

Häufig sind diese Voraussetzungen zum einen Teil objektiver<br />

und zum anderen Teil subjektiver Art. Den Straftatbestand<br />

einer vollendeten vorsätzlichen Körperverletzung verwirklicht<br />

gemäß §§ 223 Abs. 1, 15 StGB nur, wer (objektiv) eine<br />

andere Person körperlich misshandelt und dies (subjektiv)<br />

vorsätzlich tut. Die Schmerzen des Opfers (das Erfolgsunrecht)<br />

und das Fehlverhalten des Täters (das Verhaltensunrecht)<br />

machen dabei das objektive Unrecht aus; sein böser<br />

Vorsatz (das Vorstellungsunrecht) bildet das subjektive Unrecht.<br />

10 Und umgekehrt: Den Rechtfertigungsgrund des Notstandes<br />

erfüllt gemäß § 34 StGB nur, wer (objektiv) bei wesentlichem<br />

Überwiegen des geschützten Interesses gegenüber<br />

dem beeinträchtigten und in angemessener Weise eine nicht<br />

anders abwendbare Gefahr für ein Rechtsgut von sich oder<br />

einem anderen abwendet und (subjektiv) dies tut, „um“ die<br />

Gefahr abzuwenden. Dass der Täter ein größeres Interesse<br />

schützt als beeinträchtigt, beseitigt das (nach Bejahung des<br />

Tatbestandes vermutete) Erfolgsunrecht. Dass er das größere<br />

Interesse auf zulässige Weise schützt, beseitigt das (nach<br />

Bejahung des Tatbestandes vermutete) Verhaltensunrecht.<br />

Beides zusammen gehört auch hier zum objektiven Unrecht.<br />

Dass er das objektiv Gute und Richtige vorsätzlich tut, beseitigt<br />

das (nach Bejahung des Tatbestandes vermutete) Vorstellungsunrecht,<br />

also das subjektive Unrecht.<br />

Um das Verhältnis dieser objektiven und subjektiven Teile<br />

in den Straftatbeständen und den Rechtfertigungsgründen<br />

geht es, um das Verhältnis von objektivem und subjektivem<br />

Unrecht. Die Anschauung von der Unteilbarkeit des Unrechts<br />

besagt, dass diese Teile untrennbare Voraussetzungsbündel<br />

bilden. Es ist ein Alles-oder-nichts-Denken: Der Tatbestand<br />

ist entweder erfüllt oder nicht, und ebenso ist ein Rechtfertigungsgrund<br />

entweder erfüllt oder nicht; ein Denken in einzelnen<br />

Tatbestandsteilen oder einzelnen Komponenten eines<br />

Rechtfertigungsgrundes kommt nicht vor. Ist der (Straf-)<br />

Tatbestand nicht komplett erfüllt, gibt es kein (strafbares) 11<br />

letzung durch Einwilligung des Tatopfers gerechtfertigt gewesen“<br />

sei.<br />

10 Üblicherweise werden nur die Termini „Erfolgsunrecht“<br />

und „Handlungsunrecht“ verwendet, wobei mit „Handlungsunrecht“<br />

manchmal das „Verhaltensunrecht“, manchmal das<br />

„Vorstellungsunrecht“ und manchmal beides gemeint ist; s.<br />

stellvertretend für viele Wessels/Beulke (Fn. 7), Rn. 15 f.<br />

Wegen seiner Uneindeutigkeit verwende ich diesen Terminus<br />

nicht. – „Verhaltens-“ Unrecht (und nicht „Handlungs-“ Unrecht)<br />

sage ich, weil das Verhalten nicht nur eine Handlung,<br />

sondern auch eine Unterlassung sein kann. „Vorstellungs-“<br />

Unrecht (und nicht „Vorsatz-“ Unrecht) sage ich, weil die<br />

Vorstellung nicht nur richtig, also „Vorsatz“ (§ 16 StGB),<br />

sondern auch falsch, also bloße „Vorstellung“ (§ 22 StGB)<br />

sein kann.<br />

11 An anderer Stelle der Rechtsordnung kann das Verhalten<br />

dennoch „Unrecht“ sein, zum Beispiel im Ordnungswidrig-<br />

Unrecht. Ist der Tatbestand komplett erfüllt, liegt aber auch<br />

ein Rechtfertigungsgrund komplett vor, so fehlt das nach<br />

Bejahung des Tatbestandes vermutete strafbare Unrecht. Ist<br />

der Tatbestand vollständig erfüllt und liegt kein Rechtfertigungsgrund<br />

komplett vor (er mag gar nicht oder eben nur<br />

zum Teil erfüllt sein), so ist das nach Bejahung des Tatbestandes<br />

vermutete strafbare Unrecht gegeben (die Strafbarkeit<br />

des Täters hängt dann von seiner Schuld ab).<br />

Es gibt allerdings Vorschriften, in denen entweder nur objektive<br />

oder nur subjektive Umstände beschrieben sind. Das<br />

sind zunächst die Fahrlässigkeitsdelikte. Den Straftatbestand<br />

einer fahrlässigen Körperverletzung erfüllt gemäß § 229<br />

StGB, wer (objektiv) durch Fahrlässigkeit (also durch Nichtbeachtung<br />

der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, vgl. § 276<br />

Abs. 2 BGB) die Körperverletzung einer anderen Person<br />

verursacht. Hier stellt sich nicht die Frage nach der Teilbarkeit<br />

oder Unteilbarkeit objektiver und subjektiver Umstände.<br />

Man ist sich (natürlich) darin einig, dass die objektiven Umstände<br />

den Fahrlässigkeitstatbestand erfüllen und seine<br />

Rechtsfolge auslösen. Umgekehrt beim Versuchsdelikt: Den<br />

Straftatbestand eines Körperverletzungsversuches erfüllt gemäß<br />

§§ 223 Abs. 1, 22 StGB, wer (subjektiv) nach seiner<br />

Vorstellung unmittelbar dazu ansetzt, eine andere Person<br />

körperlich zu misshandeln. 12 Hier besteht dieselbe Einigkeit,<br />

dass die subjektiven Umstände genügen.<br />

Solche „einteiligen“ Vorschriften finden sich aber nur bei<br />

den Straftatbeständen. Für die Rechtfertigungsgründe besteht<br />

nahezu Einigkeit 13 darüber, dass sie alle neben den objektiven<br />

Voraussetzungen immer auch die subjektive Voraussetzung<br />

keitenrecht (etwa ein Rotlichtverstoß ohne Gefährdung anderer)<br />

oder im Zivilrecht (etwa die strafrechtlich nicht erfassten<br />

Formen verbotener Eigenmacht, § 858 BGB). In diesem<br />

Beitrag geht es nur um das strafbare Unrecht, auch wenn ich<br />

es ab jetzt nicht immer dazusage. Siehe auch Fn. 5.<br />

12 Gewiss kann man das unmittelbare Ansetzen als etwas<br />

Objektives ansehen, weil es ein äußerliches Verhalten (Tun<br />

oder Unterlassen) ist. Das unmittelbare Ansetzen hat aber nur<br />

die Funktion, den Täter nicht allein für seinen bösen Willen,<br />

sondern erst für dessen Betätigung zu bestrafen. Diese notwendige<br />

Manifestation des subjektiven Unrechts ist aber kein<br />

für den Versuch notwendiges objektives Unrecht. Denn mit<br />

der Betätigung des subjektiven Unrechts kann objektives<br />

Unrecht einhergehen, muss es aber nicht. Denn auch der<br />

vollkommen untaugliche Versuch ist gemäß § 22 StGB strafbar,<br />

etwa wenn der Täter in Tötungsabsicht eine Waffe auf<br />

einen Menschen richtet und abdrückt, die Waffe aber ungeladen<br />

und der Mensch schon tot ist (objektiv gewiss kein Fehlverhalten).<br />

Das von § 22 StGB tatbestandlich eingefangene<br />

Unrecht des Versuchs besteht demnach allein in der (freilich<br />

betätigten) bösen Vorstellung des Täters, also in reinem subjektiven<br />

Unrecht.<br />

13 Zur älteren Ansicht, es seien gar keine subjektiven rechtfertigenden<br />

Umstände erforderlich, s. Rönnau/Hohn, in:<br />

Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Fn. 7), § 32 Rn.<br />

262. Für diese Ansicht stellt sich unser Problem einer nur<br />

teilweisen Rechtfertigung nicht. Diese Ansicht blende ich für<br />

das Weitere aus.<br />

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<strong>ZIS</strong> 13/2009


Die Obstruktion der Konstruktion<br />

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enthalten, dass der Handelnde die objektiven Rechtfertigungsumstände<br />

kennt, 14 einerlei ob das schon im Normtext<br />

angelegt ist (wie im oben erwähnten § 34 StGB) oder nicht<br />

(wie zum Beispiel bei der Notwehr, § 32 StGB 15 ). Und vor<br />

allem hier wirkt sich die Konstruktion von der Unteilbarkeit<br />

des Unrechts besonders aus (gleich unter c] zu unserem<br />

Fall 1).<br />

Mit der Unteilbarkeits-Konstruktion geht einher die Anschauung,<br />

dass Straftatbestand und Rechtfertigungsgrund<br />

sich zueinander verhalten wie Norm und Gegennorm. Auf der<br />

ersten Deliktsstufe, im „Tatbestand“, ist die Verwirklichung<br />

des untersuchten Straftatbestandes positiv festzustellen. Auf<br />

der zweiten Deliktsstufe, der „Rechtswidrigkeit“, ist aber<br />

prozedural nicht die positive Feststellung der Rechtswidrigkeit,<br />

sondern die negative Feststellung der Abwesenheit aller<br />

Rechtfertigungsgründe zu leisten. 16<br />

Wieder wollen wir uns die Sachgedanken in Bild und<br />

Prüfschema veranschaulichen (siehe Bild 2 unten auf S. 810).<br />

Der Straftatbestand führt ins strafbare Unrecht, in die<br />

strafbare Rechtswidrigkeit hinein, aber nur bei Vorliegen all<br />

seiner Voraussetzungen. Der Rechtfertigungsgrund führt dort<br />

wieder heraus, aber ebenfalls nur bei Vorliegen all seiner<br />

Voraussetzungen.<br />

Welche Strafjuristen dieses Bild im Kopf haben, ist<br />

schwer auszumachen. Denn viele, die im Fall 1 die Rechtswidrigkeit<br />

bejahen, und das heißt: so denken, wie es Bild 2<br />

veranschaulicht, viele von ihnen lösen vergleichbare Fälle<br />

anders und haben dabei offenbar andere Bilder im Kopf; dazu<br />

aber erst später unter 3. Jedenfalls darf man sagen, dass das<br />

Bild von der Unteilbarkeit des Unrechts in früheren Jahrzehnten<br />

recht fest und unangefochten in den Köpfen der Strafjuristen<br />

saß.<br />

Füllt man im dreistufigen Deliktsaufbau (Prüfschema 1)<br />

die Stufen „Tatbestand“ und „Rechtswidrigkeit“ mit den<br />

objektiven und subjektiven Unrechtskomponenten an und hat<br />

dabei das Bild von der Unteilbarkeit des Unrechts vor Augen,<br />

so gelangt man für das vollendete Vorsatzdelikt zu folgender<br />

Verfeinerung:<br />

I. Straftatbestand<br />

= Vorliegen aller Straftatbestandsumstände<br />

1. Objektiver Tatbestand<br />

= Vorliegen aller objektiven Straftatbestandsumstände<br />

2. Subjektiver Tatbestand<br />

= Vorliegen aller subjektiven Straftatbestandsumstände<br />

II. Rechtswidrigkeit<br />

= Vorliegen keines Rechtfertigungsgrundes<br />

1. Nichtvorliegen des Rechtfertigungsgrundes 1<br />

(Für diese Feststellung „Umkehrung der Prüfrichtung“:)<br />

a) Vorliegen aller objektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />

1<br />

b) Vorliegen aller subjektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />

1<br />

2. Nichtvorliegen des Rechtfertigungsgrundes 2<br />

...<br />

III. Schuld<br />

Prüfschema 2: Tatbestand und Rechtswidrigkeit bei Unteilbarkeit<br />

des Unrechts<br />

Das Wichtigste steckt hier unter II. 1. a) und b). Was dort im<br />

Prüfschema nicht so deutlich zu erkennen ist wie im Bild und<br />

deshalb dort als Anmerkung steht, ist die Umkehrung der<br />

Prüfrichtung auf der Stufe der Rechtswidrigkeit: Man prüft<br />

nicht, ob die Rechtswidrigkeit, sondern ob ein Rechtfertigungsgrund<br />

gegeben ist; damit der Rechtfertigungsgrund als<br />

„Gegennorm“ seine rechtfertigende Wirkung entfalten kann,<br />

muss er komplett mit all seinen (objektiven und subjektiven)<br />

Voraussetzungen vorliegen.<br />

Dieses Denk- und Prüfschema ist so verbreitet und uns so<br />

gewohnt, dass der Strafrechtler mit allen anderen und von<br />

allen anderen auf dieser Bahn geradezu weiter gezogen wird.<br />

Sogar diejenigen, die das Bild von der Unteilbarkeit des Unrechts<br />

gar nicht mehr im Kopf, sondern schon durch neue<br />

Bilder ersetzt haben, arbeiten trotzdem fast immer mit dem<br />

Prüfschema 2. Darauf komme ich später (unter 3. e) zurück.<br />

14 Umstritten ist nur, ob dieser Rechtfertigungsvorsatz genügt<br />

oder ob zur Rechtfertigung ein (noch stärkerer) Wille gehört,<br />

etwa bei Notwehr und Notstand eine echte Rettungsabsicht.<br />

Darauf brauche ich hier nicht einzugehen.<br />

15 Dort steht das „um [...] zu“ in einem anderen grammatischen<br />

Kontext als bei § 34 StGB. Bezeichnet es beim Notstand<br />

in der Tat einen Rettungswillen, bezeichnet es bei der<br />

Notwehr nur das objektiv Erforderliche, „um“ den Angriff<br />

abzuwenden. Das wird gelegentlich verkannt, zum Beispiel<br />

von Duttge, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar<br />

zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2003, § 15 Rn. 197.<br />

16 Es gibt nur höchst wenige Ausnahmen. So ist bei der Nötigung<br />

und der einfachen Erpressung für die Bejahung der<br />

Rechtswidrigkeit die Verwerflichkeit der Tat positiv festzustellen<br />

(§§ 240 Abs. 2, 253 Abs. 2 StGB). Aber das ändert<br />

nichts an der ganz üblichen Anschauung, dass auch dort zuerst<br />

das Nichtvorliegen eines jeden Rechtfertigungsgrundes<br />

festzustellen ist.<br />

c) Konstruktive Konsequenzen für Fall<br />

Wir haben zwei Konstruktionen betrachtet: den traditionellen<br />

dreistufigen Deliktsaufbau (Bild 1) und die Unteilbarkeit des<br />

Unrechts (Bild 2). Aus ihnen ist das übliche Prüfschema 2<br />

hervorgegangen. Wendet man es auf unseren Fall 1 an, um<br />

die Strafbarkeit des T aus § 223 Abs. 1 StGB zu untersuchen,<br />

dann gelangt man zu dem Befund, dass alle objektiven und<br />

subjektiven Umstände, die von § 223 Abs. 1 StGB vorausgesetzt<br />

werden, gegeben sind und dass kein einziger Rechtfertigungsgrund<br />

mit all seinen Voraussetzungen vorliegt, denn<br />

immer fehlen die objektiven Umstände einer Rechtfertigung:<br />

O hat T nicht angegriffen (also keine Notwehr), O hat nicht<br />

in seine Verletzung eingewilligt (also keine Einwilligung)<br />

usw. Ts Vorstellung, dass die objektiven Notwehrumstände<br />

vorlägen, also das Vorliegen allein des subjektiven Notwehrumstandes,<br />

kann nichts ändern am Befund „rechtswidrig!“<br />

und allenfalls bei der Schuld bedeutsam werden.<br />

Die Konstruktionen führen im Fall 1 also zur Schuldlösung.<br />

Wer zur Unrechtslösung kommen will, muss das Prüf-<br />

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schema ändern. Grund dafür kann ihm sein, dass er sich von<br />

der ersten Konstruktion löst, vom traditionellen dreistufigen<br />

Deliktsaufbau, oder von der zweiten, der Unteilbarkeit des<br />

Unrechts. Über solche Gegenkonstruktionen und ihre Chancen,<br />

sich durchzusetzen, will ich im Folgenden sprechen.<br />

2. Gegenkonstruktionen zum traditionellen dreistufigen Deliktsaufbau<br />

a) Der rechtstheoretische Deliktsaufbau<br />

Wenden wir uns wieder dem „dreistufigen Deliktsaufbau“ zu.<br />

Wie ist es dazu gekommen? Ein „rechtstheoretischer“ Deliktsaufbau<br />

sieht anders aus. Er beginnt bei den allgemeinen<br />

Voraussetzungen und endet mit den besonderen: Für die<br />

Bestrafung eines Menschen ist zunächst nötig, dass er sich<br />

falsch verhalten hat, in der Sprache des Rechts: sich rechtswidrig<br />

verhalten, Unrecht begangen hat. Ein rechtswidriges<br />

Verhalten kann viele verschiedene rechtliche Konsequenzen<br />

haben. Für die bekanntesten, nämlich Schadenersatz (§ 823<br />

Abs. 1 BGB) und Strafe, genügt ein rechtswidriges Verhalten<br />

aber noch nicht. Das Fehlverhalten muss dem Handelnden<br />

auch noch persönlich vorwerfbar sein, in der Sprache des<br />

Strafrechts: schuldhaft sein. Ein schuldhaftes rechtswidriges<br />

Verhalten kann wiederum viele verschiedene rechtliche Konsequenzen<br />

haben, zum Beispiel Schadenersatz (§ 823 Abs. 1<br />

BGB) oder Geldbuße (§ 1 OWiG). Speziell für eine Bestrafung<br />

muss das Verhalten auch noch mit Strafe bedroht sein;<br />

es muss in einem Straftatbestand beschrieben sein. – Weil<br />

man mit jeder zusätzlichen Voraussetzung die Menge der<br />

erfassten Fälle verringert, 17 lassen sich die Voraussetzungen<br />

in sich verengenden Stufen veranschaulichen (siehe Bild 3<br />

unten auf S. 810).<br />

Dieses Bild ist eindeutig „richtiger“ als Bild 1 zum traditionellen<br />

Deliktsaufbau, und zwar „richtiger“ in dem Sinne,<br />

dass sich nur hier im Bild 3 eine wirkliche Stufenfolge findet,<br />

die man hinauf schreiten kann. Der traditionelle dreistufige<br />

Deliktsaufbau hingegen verdient seinen Namen nicht. Das<br />

erkennt man aber erst, wenn man ihn so veranschaulicht, wie<br />

es ihm gebührt (siehe Bild 4 unten auf S. 810).<br />

Warum stellen wir Strafjuristen die Dinge derart auf den<br />

Kopf und fühlen uns auch noch wohl dabei? Die Antwort ist<br />

so einfach wie menschlich: Weil es praktischer ist. Bild 4<br />

mag wackelig aussehen, aber wir prüfen die Strafbarkeit von<br />

Personen nicht in Bildern, sondern in Prüfschemas, denen<br />

unser Deliktsaufbau zu Grunde liegt. Fragen wir uns also, zu<br />

welchem Prüfschema der „rechtstheoretische“ Deliktsaufbau<br />

führt, und wenden wir es auf Fall 1 an!<br />

Eine daran orientierte Lösung von Fall 1 sähe so aus:<br />

I. Rechtswidrigkeit: Ts Verhalten war objektiv rechtswidrig.<br />

Um das zu begründen, muss man nun aber doch wieder<br />

zunächst eine Verbotsnorm nennen. Das muss keine strafrechtliche<br />

sein (es ginge auch zum Beispiel § 823 Abs. 1<br />

BGB); aber am deutlichsten wird das Verhalten des T nun<br />

einmal von § 223 Abs. 1 StGB verboten. Erst nach dem Greifen<br />

der Verbotsnorm kann man feststellen, dass das Verbot<br />

auch nicht von einer spezielleren Erlaubnis komplett aufgehoben<br />

wurde.<br />

II. Schuld: T hat die Situation leichtsinnigerweise verkannt,<br />

hätte also seinen Irrtum und damit das Unrecht seines<br />

Verhaltens erkennen und sich danach richten können.<br />

III. Straftatbestand: T hat den Straftatbestand des § 223<br />

Abs. 1 StGB verwirklicht, denn er hat vorsätzlich eine andere<br />

Person körperlich misshandelt.<br />

Wir kämen zur Verneinung weder der Rechtswidrigkeit<br />

(Unrechtslösung) noch der Schuld (Schuldlösung), sondern<br />

zu Ts Strafbarkeit. Das muss uns jedenfalls zu denken geben.<br />

Ich will nicht behaupten, das Prüfschema sei falsch oder<br />

schwer verständlich. Denn wahrscheinlich würde ich damit<br />

nur offenbaren, dass auch ich dem gewohnten Denkmuster so<br />

verhaftet bin, dass mir das Umdenken Mühe bereitet. Was<br />

man aber guten Gewissens sagen darf, ist dies: Erstens gibt es<br />

offenbar im traditionellen Prüfschema 2 auf den Stufen der<br />

Rechtswidrigkeit und Schuld Verfeinerungen und Rückbezüge<br />

zum Straftatbestand, die erst die Unrechts- und die<br />

Schuldlösung ermöglichen. Diese Überlegungen müssten<br />

auch im „rechtstheoretischen“ Prüfschema 3 unterzubringen<br />

sein. Das könnte zwar schwierig werden, weil der Bezugspunkt<br />

„Tatbestand“ erst am Ende der Prüfung steht, scheint<br />

mir aber ein eher „technisches“ Problem zu sein. Ich halte es<br />

für lösbar, denke allerdings, dass es die Mühe nicht lohnt.<br />

Denn zweitens ist das „rechtstheoretische“ Prüfschema wenig<br />

zupackend und führt deshalb oft zu müßiger Mühe. Zum<br />

einen haben wir bei Prüfung der Rechtswidrigkeit gesehen,<br />

dass man entweder schon auf den Straftatbestand vorgreifen<br />

(und ihn dann später erneut nennen) oder aber ihn zwanghaft<br />

heraushalten muss. Zum anderen: Was müsste man in den<br />

vielen Fällen rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens<br />

machen, für die es keinen Straftatbestand gibt? Man müsste<br />

zwei Prüfungsstufen erklimmen, oft gewiss auch mit schwierigen<br />

Überlegungen zu Rechtswidrigkeit und Schuld, um erst<br />

am Ende festzustellen, dass das Verhalten zwar rechtswidrig<br />

und schuldhaft, aber von keinem Straftatbestand erfasst ist.<br />

Ein inakzeptabel langwieriges Verfahren, wenn nur nach der<br />

Strafbarkeit gefragt ist.<br />

I. Rechtswidrigkeit<br />

II. Schuld<br />

III. Straftatbestand<br />

Prüfschema 3: Der „rechtstheoretische“ Deliktsaufbau<br />

17 Zum Verhältnis von Rechtswidrigkeit und Straftatbestandlichkeit<br />

sagt das StGB selber, dass diese nur eine Teilmenge<br />

von jener ist (in § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB).<br />

b) Der traditionelle dreistufige Deliktsaufbau als pragmatisch<br />

nützliche Konstruktion für einfache Fälle<br />

Deshalb hat sich der übliche dreistufige Deliktsaufbau durchgesetzt.<br />

Er beginnt zupackend mit der engsten Voraussetzung,<br />

nämlich der Straftatbestandlichkeit, und konzentriert<br />

sich damit sogleich auf dasjenige, was für die gestellte Frage<br />

(Strafbarkeit?) von Belang ist. Erst nach Bejahung dieser<br />

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Die Obstruktion der Konstruktion<br />

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Frage erörtert man zweitens, ob das Verhalten auch rechtswidrig,<br />

und drittens, ob es auch schuldhaft ist. 18<br />

Das ist denn auch ein wichtiger Grund für den Vorzug des<br />

herkömmlichen dreistufigen Aufbaus gegenüber dem rechtstheoretischen:<br />

Er ist pragmatisch. Er ist effektiver. Alles läuft<br />

durch das Nadelöhr des Straftatbestandes; andere Rechtswidrigkeiten<br />

(Ordnungswidrigkeiten, Zivilrechtswidrigkeiten) interessieren<br />

von vornherein nicht. Der traditionelle dreistufige<br />

Deliktsaufbau lebt nicht von den normtheoretischen Stufenverhältnissen,<br />

sondern vom faktischen Regel-Ausnahme-<br />

Verhältnis: Wer einen Straftatbestand verwirklicht, handelt in<br />

der statistischen Regel rechtswidrig; das Eingreifen eines<br />

Rechtsfertigungsgrundes ist die Ausnahme. – Das ist der eine<br />

Grund. Zu einem anderen komme ich später (unter d).<br />

c) Der zweistufige Deliktsaufbau<br />

Nähern wir uns aber erst einer weiteren Alternative zum<br />

traditionellen dreistufigen Deliktsaufbau, dem zweistufigen.<br />

Er lebt von der Einsicht, dass die traditionelle erste Stufe<br />

„Tatbestand“ noch keine abschließende rechtlich relevante<br />

Bewertung enthält. Nach Bejahung des Tatbestandes ist alles<br />

noch offen und steht unter dem Vorbehalt der weiteren Prüfung.<br />

Die im Tatbestand formulierte Rechtsfolge „wird [...]<br />

bestraft“ gilt ja eben nicht schon für den, der eine andere<br />

Person körperlich misshandelt, sondern nur für den, der es<br />

rechtswidrig und schuldhaft tut. Die erste materielle Aussage<br />

ist deshalb erst mit dem Erklimmen der traditionell zweiten<br />

Stufe „Rechtswidrigkeit“ getroffen. Deshalb kann man die<br />

traditionell ersten zwei Stufen zusammenfassen zu einer<br />

Stufe, dem „Strafunrecht“. Darauf liegt dann nur noch die<br />

Stufe der „Schuld“ (siehe Bild 5 unten auf S. 811). 19<br />

Füllen wir auch den zweistufigen Deliktsaufbau mit den<br />

objektiven und subjektiven Unrechtskomponenten an, so<br />

gelangen wir für das vollendete Vorsatzdelikt zum Beispiel<br />

zu folgendem Prüfschema:<br />

I. Unrechtstatbestand<br />

= Vorliegen aller Unrechtstatbestandsumstände<br />

1. Objektives Unrecht<br />

a) Positive objektive Unrechtstatbestandsumstände<br />

= Vorliegen aller objektiven Straftatbestandsumstände<br />

b) Negative objektive Unrechtstatbestandsumstände<br />

= Vorliegen keiner objektiven Rechtfertigungsumstände<br />

aa) Keine objektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />

1<br />

bb) ...<br />

2. Subjektives Unrecht<br />

a) Positive subjektive Unrechtstatbestandsumstände<br />

= Vorliegen aller subjektiven Straftatbestandsumstände<br />

b) negative subjektive Unrechtstatbestandsumstände<br />

= Vorliegen keiner subjektiven Rechtfertigungsumstände<br />

aa) Keine subjektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />

1<br />

bb) ...<br />

II. Schuld<br />

Prüfschema 4: Der zweistufige Deliktsaufbau<br />

Mit dieser Sicht- und Prüfweise geht an zwei Stellen ein<br />

Umdenken einher. Erstens werden die Straftatbestände und<br />

die Rechtfertigungsgründe nicht mehr als Norm und Gegennorm<br />

verstanden, sondern so miteinander verschmolzen, dass<br />

ein alles umfassender Unrechtstatbestand entsteht, der ins<br />

(strafbare) Unrecht führt. Er muss dann zwangsläufig als<br />

„negatives“ Merkmal das Nichtvorliegen der rechtfertigenden<br />

Umstände enthalten. Negative Tatbestandsmerkmale sind<br />

nichts Besonderes. 20 Das Besondere an dieser Lehre ist nur,<br />

dass sie die Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen konsequent<br />

zu negativen Unrechtstatbestandsmerkmalen macht<br />

(„ohne Einwilligung, ohne Notwehr, ohne Notstand usw.“);<br />

deshalb nennt man sie auch die „Lehre von den negativen<br />

Tatbestandsmerkmalen“. Zweitens behält diese Lehre die aus<br />

dem Straftatbestand bekannte Trennung objektiver und subjektiver<br />

Unrechtsvoraussetzungen konsequent bei und kommt<br />

18 Die Reihenfolge des zweiten und des dritten Schrittes kann<br />

man nicht umkehren: Weil Schuld die Fähigkeit ist, das Unrecht<br />

des Verhaltens einzusehen und nach dieser Einsicht zu<br />

handeln (vgl. § 20 StGB), kann man die Schuld nicht prüfen,<br />

bevor das Unrecht bejaht ist.<br />

19 Einen zweistufigen Deliktsaufbau vertreten (in verschiedenen<br />

Spielarten) beispielsweise Schlehofer, in: Joecks/Miebach<br />

(Fn. 15), Vor § 32 Rn. 33-46; Rinck, Der zweistufige Deliktsaufbau,<br />

2000; Schroth, in: Haft (Hrsg.), Strafgerechtigkeit,<br />

Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, 1993, S<br />

595 (S. 596-601); Schünemann, GA 1985, 341 (347-351).<br />

20 Beispiele: „ohne Amtsträger zu sein“ (§ 11 Abs. 1 Nr. 4<br />

StGB); „ohne Befugnis“ (§ 123 Abs. 1 StGB); „ohne von<br />

diesem hierzu aufgefordert zu sein“ (§ 184 Abs. 1 Nr. 6<br />

StGB); „ohne [...] schriftliche Feststellung eines Arztes“<br />

(§ 218b Abs. 1 S. 1 StGB); „ohne der Frau Gelegenheit gegeben<br />

zu haben [...]“ (§ 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB); „ohne die<br />

Schwangere [...] beraten zu haben“ (§ 218c Abs. 1 Nr. 2<br />

StGB); „ohne sich [...] überzeugt zu haben“ (§ 218c Abs. 1<br />

Nr. 3 StGB); „ohne dessen Angehöriger zu sein“ (§ 235 Abs. 1<br />

Nr. 2 StGB), „gegen den Willen des Berechtigten“ (§ 248b<br />

Abs. 1 StGB); „nicht bestimmt“ zur Energieentnahme (§ 248c<br />

Abs. 1 StGB); „ohne marktmäßige Gegenleistung“ (§ 264<br />

Abs. 7 Nr. 1 lit. a und Nr. 2 StGB); „ohne Wissen des Reeders“<br />

(§ 297 Abs. 1 StGB); „ohne erhebliche eigene Gefahr<br />

und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten“ (§ 323c<br />

StGB).<br />

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gerade dadurch zu einer Teilung der „negativen“ Unrechtsvoraussetzungen,<br />

also der Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen,<br />

in objektive und subjektive Umstände.<br />

Das schlägt auf die Lösung im Fall 1 durch: T hat zwar<br />

das objektive Unrecht des § 223 Abs. 1 StGB verwirklicht,<br />

denn es liegen alle positiven objektiven Unrechtstatbestandsumstände<br />

vor (also: die objektiven Straftatbestandsumstände)<br />

und auch die negativen (also: es fehlen die objektiven Rechtfertigungsumstände).<br />

Das subjektive Unrecht jedoch ist nicht<br />

gegeben: Es liegen zwar die positiven subjektiven Unrechtstatbestandumstände<br />

vor (also: der auf die objektiven Straftatbestandsumstände<br />

bezogene „Vorsatz“), aber es fehlt der<br />

negative subjektive Unrechttatbestandsumstand, nämlich die<br />

Nichtvorstellung objektiver Rechtfertigungsumstände. T hat<br />

danach also nicht das Unrecht einer vollendeten vorsätzlichen<br />

Körperverletzung begangen.<br />

d) Die Chancen der neuen Konstruktionen<br />

Den „rechtstheoretischen“ Deliktsaufbau vertritt niemand,<br />

wenn ich richtig sehe. Den zweistufigen vertraten immer nur<br />

wenige, und auch jetzt ist nicht zu sehen, dass er an Boden<br />

gewinnt. 21 Es gibt noch weitere Konstruktionen zum Deliktsaufbau,<br />

auf die ich hier nicht eingehe; 22 aber auch sie<br />

ändern nichts an der Vorherrschaft des traditionellen dreistufigen<br />

Deliktsaufbaus. Warum ist das so? Den ersten Grund<br />

habe ich schon oben (unter b) genannt: Pragmatismus. Der<br />

traditionelle dreistufige Aufbau ist praktischer als der „rechtstheoretische“.<br />

Auch gegenüber dem zweistufigen hat er<br />

pragmatische Vorteile. 23 Er ist „einfacher“. In der Stilkunde<br />

ist nicht unbekannt, dass doppelte Verneinungen ungeeignet<br />

sind, die Unverständlichkeit von Texten zu verringern – besser:<br />

man weiß, dass sie schwer verständlich sind. Diese Erschwerung<br />

enthält auch der zweistufige Deliktsaufbau: Die<br />

Abwesenheit „positiver“ Umstände (etwa eines Angriffs)<br />

wird umformuliert und umgedacht in die Anwesenheit „negativer“<br />

Umstände (dem Fehlen eines Angriffs). Das bereitet<br />

größere Lern- und Anwendungsprobleme als die „Umkehrung<br />

der Prüfrichtung“ bei der traditionellen Rechtswidrigkeitsprüfung.<br />

Natürlich gibt es auch Sachgründe. Die meisten Juristen<br />

finden, dass sich unserem Strafgesetzbuch an mehreren Stellen<br />

entnehmen lässt, dass es von einem dreistufigen Deliktsaufbau<br />

ausgeht (etwa §§ 11 Abs. 1 Nr. 5, 228, 240 Abs. 2<br />

StGB) und dass deshalb mit „Tatbestand“ in § 16 Abs. 1 S. 1<br />

StGB nur der „Straftatbestand“ im Sinne des dreistufigen<br />

Deliktsaufbaus gemeint sei, nicht der „Unrechtstatbestand“<br />

im Sinne des zweistufigen. Das halte auch ich für zutreffend.<br />

Und wenn wir das deutsche Strafrecht so verstehen, dass es<br />

auf einem dreistufigen Deliktsaufbau beruht, dann gibt es<br />

dort eine dem Rechtsanwender vorgegebene normative Konstruktion,<br />

die wir als rechtsanwendende Juristen akzeptieren<br />

müssen. Aber ich will, wie eingangs gesagt, nicht dogmatisch<br />

werden.<br />

Ich nenne deshalb einen zweiten Grund für die hartnäckige<br />

Unverrückbarkeit des traditionellen Aufbaus: Gewöhnung.<br />

Lesen wir, was Haft dazu geschrieben hat:<br />

„So ist es kein Widerspruch, dass derselbe Liszt, der die<br />

moderne Schule anführte, ein dogmatisches Strafrechtssystem<br />

entwickelte, welches später als ‚klassischer Verbrechensbegriff‘<br />

bezeichnet wurde. Da er dieser Dogmatik nur<br />

einen bescheidenen Rang einräumte, sie eigentlich nur als<br />

Hilfsmittel bei der ‚pädagogischen‘ Aufgabe ansah, ‚der<br />

lernbegierigen juristischen Jugend‘ die Rechtssätze zu vermitteln,<br />

schuf er ein bestechend einfaches und klares System,<br />

welches dann natürlich überaus erfolgreich war. Generationen<br />

von Juristen haben nach diesem System gelernt, die<br />

Straftat in die Bestandteile Tatbestand, Rechtswidrigkeit und<br />

Schuld zu zerlegen. Auch heute noch beherrscht dieses System<br />

[...] Theorie und Praxis des Strafrechts.“ 24<br />

Nur zu wahr. Das Prüfschema des traditionellen dreistufigen<br />

Deliktsaufbaus hat sich nicht nur praktisch bewährt,<br />

sondern auch in unseren Köpfen festgesetzt. Er ist im Strafrecht<br />

einer der am häufigsten beschrittenen Denkwege und<br />

deshalb eine so breite und bequeme Bahn mit so stabilen<br />

Leitplanken, dass es geradezu Mühe bereitet, von dieser Bahn<br />

abzukommen.<br />

Einfachheit gepaart mit wohliger Gewöhnung – das hat in<br />

der Welt des Denkens und der Bilder große beharrende Kraft.<br />

Ich stelle deshalb die „wissenschaftssoziologische“ These<br />

auf, dass sich die Konstruktion des traditionellen dreistufigen<br />

Deliktsaufbaus auf unabsehbare Zeit als stabil erweisen wird.<br />

Daran knüpfe ich einen Rat: Wer im Fall 1 die Unrechtslösung<br />

für richtig hält (aus sachlichen Erwägungen natürlich),<br />

der rüttle dennoch nicht am traditionellen Aufbau! Denn der<br />

wird davon nicht ins Wanken geraten. Ich empfehle statt<br />

eines Neubaus den Umbau der zweiten Stufe „Rechtswidrigkeit“.<br />

Damit komme ich zur zweiten Hauptkonstruktion, der<br />

Unteilbarkeit des Unrechts.<br />

21 Nachweise in Fn. 19.<br />

22 Erwähnt sei vor allem das von Freund, Strafrecht, Allgemeiner<br />

Teil, 2. Aufl. 2008, S. 457-459, vorgestellte und so<br />

genannte „grundlagenorientierte Gliederungsschema“.<br />

23 So auch Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),<br />

Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, Vor § 13<br />

Rn. 8. Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allgemeinter Teil,<br />

Bd. 1, 5. Aufl. 2004, § 7 Rn. 10-13. – Sehr klar und zutreffend<br />

unterscheidet Puppe (a.a.O.), Rn. 16 zwischen dem<br />

Delikts-Aufbau, der nur die zwei Stufen „Unrecht“ und<br />

„Schuld“ hat, und dem Prüfungs-Aufbau, der aus pragmatischen<br />

Gründen die drei Stufen „Tatbestand“, „Rechtswidrigkeit“<br />

und „Schuld“ haben solle.<br />

3. Die Gegenkonstruktion zur Unteilbarkeit des Unrechts: die<br />

Teilbarkeit des Unrechts<br />

a) Der Angriff auf mehrere Rechtsgüter – das Beispiel des<br />

Diebstahls<br />

Beginnen wir für das, was ich sagen will, bei einem Straftatbestand,<br />

in dem der Angriff auf zwei Rechtsgüter unter Strafe<br />

gestellt ist: beim Straftatbestand des Diebstahl (§ 242 Abs. 1<br />

StGB). Er lautet verkürzt: „Wer eine fremde Sache einem<br />

24 Haft, Aus der Waagschale der Justitia, eine Reise durch<br />

4000 Jahre Rechtsgeschichte, zitiert nach der 2. Aufl. 1990,<br />

S. 192.<br />

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anderen in der Absicht rechtswidriger Zueignung wegnimmt,<br />

wird bestraft.“ Hier geht es zum einen um einen Angriff auf<br />

den Gewahrsam desjenigen, der die Sache bei sich hat und<br />

dem der Täter sie „wegnimmt“. Zum anderen geht es um<br />

einen Angriff auf das Eigentum, denn der Täter muss die<br />

„fremde Sache“ sich rechtswidrig zueignen wollen. Hier ist<br />

anerkannt, dass man das Unrecht in diese beiden Unrechtskomponenten<br />

teilen kann und auch teilen muss.<br />

Was bedeutet das für die Frage, wann das Unrecht des<br />

Diebstahls vorliegt? Die allgemeine Antwort darauf lautet:<br />

Erst dann, wenn beide Unrechtskomponenten vorliegen, denn<br />

erst dann ist das Diebstahlsunrecht komplett. Sobald die<br />

Gewahrsamsverletzung fehlt oder die Eigentumsverletzung,<br />

ist das Diebstahlsunrecht nicht gegeben. Das bedeutet zunächst,<br />

dass die Sache „fremd“ sein und der Täter sie in der<br />

Absicht rechtswidriger Zueignung „wegnehmen“ muss. Es<br />

bedeutet aber auch, dass weder Gewahrsamsinhaber noch<br />

Eigentümer dem Geschehen zugestimmt haben dürfen. Gemeinhin<br />

sieht man es so, dass die Zustimmung des Gewahrsamsinhabers<br />

das Merkmal „Wegnahme“ unerfüllt sein lässt<br />

und die Zustimmung des Eigentümers die beabsichtigte Zueignung<br />

nicht rechtswidrig sein lässt. 25 Unabhängig von der<br />

Platzierung im Deliktsaufbau ist beiden Zustimmungen gemeinsam,<br />

dass jede für sich das für einen Diebstahl nötige<br />

Unrecht nicht zustande kommen lässt (siehe Bild 6 unten auf<br />

S. 811).<br />

fahrlässigen Erfolgsdelikt wie der fahrlässigen Körperverletzung<br />

(§ 229 StGB) muss der Täter einen Unrechtserfolg<br />

verursachen („Erfolgsunrecht“), und er muss es durch ein<br />

Fehlverhalten tun, nämlich „durch Fahrlässigkeit“ („Verhaltensunrecht“).<br />

Der Täter muss das Unrecht, das er verwirklicht,<br />

sich nicht vorstellen (es ist kein „Vorsatz“ nötig). Im<br />

Fall 2 liegt bei M dieses objektive Unrecht vor. Seine Tat<br />

finden wir im Bild 7 im Bereich „fahrlässige Vollendung“,<br />

und allein die objektiven Tatbestandsumstände (fahrlässige<br />

Verursachung von Schmerzen) haben ihn dorthin gebracht.<br />

Fall 3: Herr B versucht, den X zu schlagen, schlägt jedoch<br />

daneben.<br />

Beim Versuchsdelikt geht es um die Bestrafung allein subjektiven<br />

Unrechts (auch dazu schon unter 1. b): Beim Versuch<br />

(§ 22 StGB) eines Erfolgsdelikts wie der vorsätzlichen Körperverletzung<br />

(§ 223 Abs. 1 StGB) muss der Täter sich nur<br />

vorstellen, einen Unrechtserfolg durch ein Fehlverhalten 26 zu<br />

verursachen (und er muss gemäß § 22 StGB zur Verwirklichung<br />

des vorgestellten Tuns unmittelbar ansetzen). Aber der<br />

Täter muss das Unrecht, dass er sich vorstellt, nicht verwirklichen.<br />

Im Fall 3 liegt bei B das nötige subjektive Unrecht<br />

vor. Seine Tat finden wir im Bild 7 im Bereich „Versuch“,<br />

und allein die subjektiven Tatbestandsumstände haben das<br />

bewirkt.<br />

b) Die Teilung von objektivem und subjektivem Unrecht auf<br />

der Stufe des Tatbestandes<br />

Dieser eigentlich ganz schlichte Gedanke der Teilbarkeit der<br />

Unrechtskomponenten lässt sich auch beim Zusammenspiel<br />

anderer Unrechtskomponenten teilweise im Gesetz vorfinden.<br />

Für unsere Zwecke am Wichtigsten ist die Teilung von objektiven<br />

und subjektiven Unrechtskomponenten.<br />

Gesetzlicher Anhaltspunkt und Ausgangspunkt sind die<br />

schon oben (unter 1. b) erwähnten Fahrlässigkeits- und Versuchsdelikte,<br />

die auf Tatbestandsebene nur eine (entweder<br />

objektive oder subjektive) Unrechtskomponente voraussetzen,<br />

sowie die vollendeten Vorsatzdelikte, die mehr sind als<br />

das bloß gleichzeitige Zusammentreffen von objektivem<br />

Unrecht (Erfolgs- und Verhaltensunwert) und subjektivem<br />

Unrecht (Vorstellungsunwert), nämlich deren Verknüpfung.<br />

Diese drei Deliktstypen und die dafür tatbestandlich erforderlichen<br />

Unrechtskomponenten lassen sich so darstellen (siehe<br />

Bild 7 unten auf S. 811).<br />

Dazu die folgenden drei Fälle.<br />

Fall 2: Bei einem Einkaufsbummel dreht Herr M sich plötzlich<br />

mit gestrecktem Arm um, weil er seiner Frau ein neues<br />

Geschäft zeigen will. Dabei schlägt seine Hand schmerzhaft<br />

gegen die Nase des Passanten P.<br />

Beim Fahrlässigkeitsdelikt geht es um die Bestrafung allein<br />

objektiven Unrechts (dazu schon vorne unter 1. b): Bei einem<br />

25 Siehe nur Eser, in: Schönke/Schröder (Fn. 7), § 242 Rn. 35<br />

und 59; Schmitz, in: Joecks/Miebach (Fn. 15), Bd. 3, § 242<br />

Rn. 74 und 144.<br />

Fall 4: Täter T schlägt sein Opfer O grundlos mit Absicht<br />

schmerzhaft zu Boden.<br />

Beim vollendeten Vorsatzdelikt geht es um die Bestrafung<br />

von objektivem und subjektivem Unrecht im Verbund: Bei<br />

einem vollendeten Vorsatzdelikt wie der einfachen Körperverletzung<br />

(§ 223 Abs. 1 StGB) muss der Täter durch ein<br />

unrechtes Verhalten einen Unrechtserfolg verursachen (objektives<br />

Unrecht), und er muss sich auch zutreffend vorstellen,<br />

dies zu tun, das heißt: vorsätzlich handeln, §§ 15 und 16<br />

StGB (subjektives Unrecht). Im Fall 4 liegt bei T sowohl das<br />

objektive als auch das subjektive Unrecht vor. Seine Tat<br />

finden wir im Bild 7 im Bereich „vorsätzliche Vollendung“,<br />

und nur der Verbund von objektivem und subjektivem Unrecht<br />

hat dorthin geführt.<br />

26 Beim Vorsatzdelikt kleidet man die Voraussetzung, dass<br />

der Täter den Erfolg durch ein Fehlverhalten verursachen<br />

muss, üblicherweise in die Worte, der Erfolg müsse ihm „objektiv<br />

zurechenbar“ sein, was voraussetze, dass der Täter eine<br />

„unerlaubte Gefahr schaffe“, die sich „im Erfolg verwirkliche“.<br />

Das ist in der Sache dasselbe wie beim Fahrlässigkeitsdelikt<br />

(was freilich umstritten ist), denn auch hier muss der<br />

Täter den Erfolg durch ein Fehlverhalten verursachen. Nur<br />

die Terminologie ist üblicherweise eine andere. Hier sagt<br />

man (meist), der Täter müsse eine „objektive Sorgfaltspflichtverletzung“<br />

begangen haben und der Erfolg müsse mit ihr in<br />

einem „Pflichtwidrigkeitszusammenhang“ stehen. Etwas<br />

ausführlicher dazu Hardtung, in: Joecks/Miebach (Fn. 15),<br />

Bd. 3, 2003, § 222 Rn. 1-3 mit weiteren Nachweisen.<br />

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c) Die entsprechende Teilung von objektivem und subjektivem<br />

Unrecht auf der Stufe der Rechtswidrigkeit<br />

Wenn man diese im Gesetz auf Tatbestandsebene fest fundierte<br />

Teilung von objektivem und subjektivem Unrecht<br />

konsequent beibehält, dann nimmt man sie auch auf der Stufe<br />

der Rechtswidrigkeit vor. Ergänzen wir also unser Bild 7 um<br />

die „rechtfertigenden“ Pfeile, die den Täter aus dem jeweiligen<br />

Unrecht wieder hinausführen (siehe Bild 8 unten auf<br />

S. 812).<br />

Auch dazu zunächst drei Fälle.<br />

Fall 5: Wie Fall 2. Aber Herr H trifft die Nase des Taschendiebes<br />

T, der sich gerade angeschickt hat, ihm das Portmonee<br />

aus der Gesäßtasche zu ziehen.<br />

Im Fall 5 hat H (wie im Fall 2) den Tatbestand der fahrlässigen<br />

Körperverletzung (§ 229 StGB) verwirklicht, das heißt:<br />

Allein objektives Unrecht steht als Vorwurf im Raum. Im<br />

Fall 5 liegen aber (anders als im Fall 2) auch die objektiven<br />

Umstände eines Rechtfertigungsgrundes vor, nämlich die der<br />

Notwehr (§ 32 StGB): H hat den gegenwärtigen rechtswidrigen<br />

Angriff des T mit der erforderlichen Verteidigung in<br />

gebotener Weise von sich abgewendet. 27 Diese objektiven<br />

Rechtfertigungsumstände führen den H aus dem Unrecht des<br />

Fahrlässigkeitsdelikts wieder heraus (s. Bild 8). Er ist vollständig<br />

„gerechtfertigt“, wie wir zu sagen pflegen. Und diese<br />

Rechtfertigung beruht allein auf den objektiven Umständen<br />

des Rechtfertigungsgrundes.<br />

Fall 6: Wie Fall 3. Aber Herr B tut das, weil er irrtümlich<br />

denkt, X seinerseits wolle ihn schlagen.<br />

Im Fall 6 hat B (wie im Fall 3) den Tatbestand des Körperverletzungsversuchs<br />

(§§ 223 Abs. 1, 22 StGB) verwirklicht,<br />

das heißt: Allein subjektives Unrecht steht als Vorwurf im<br />

Raum. Im Fall 6 liegen aber (anders als im Fall 3) auch die<br />

subjektiven Umstände eines Rechtfertigungsgrundes vor,<br />

nämlich die der Notwehr: B hat sich vorgestellt, einen gegenwärtigen<br />

rechtswidrigen Angriff des X mit der erforderlichen<br />

Verteidigung in gebotenen Weise von sich abzuwenden.<br />

Diese subjektiven Rechtfertigungsumstände führen den B aus<br />

dem Unrecht des Versuchs wieder heraus (s. Bild 8). Auch er<br />

ist komplett „gerechtfertigt“, und zwar allein wegen der subjektiven<br />

Rechtfertigungsumstände.<br />

Fall 7: Wie Fall 4. Aber T schlägt den O nieder, weil der ihn<br />

würgen will.<br />

Im Fall 7 hat T (wie im Fall 4) den Tatbestand der vorsätzlichen<br />

Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) verwirklicht,<br />

also steht der Verbund von objektivem und subjektivem Unrecht<br />

als Vorwurf im Raum. Im Fall 7 liegen aber (anders als<br />

im Fall 4) auch die objektiven und die subjektiven Umstände<br />

der Notwehr vor: T hat den gegenwärtigen rechtswidrigen<br />

Angriff des O mit der erforderlichen Verteidigung in gebotener<br />

Weise von sich abgewendet und sich das alles auch zutreffend<br />

vorgestellt. Die objektiven Rechtfertigungsumstände<br />

führen den T aus dem objektiven Unrecht heraus, die subjektiven<br />

Rechtfertigungsumstände führen ihn aus dem subjektiven.<br />

So ist auch er komplett gerechtfertigt.<br />

Das Besondere dieser Sichtweise kommt uns erst bei den<br />

nächsten zwei Fällen vor Augen (auch wenn wir uns schon<br />

jetzt denken können, wohin die Reise geht). Bei einer Deliktsprüfung<br />

interessiert uns ja nicht, ob jemand komplett<br />

gerechtfertigt ist, sondern ob er das Unrecht der gerade untersuchten<br />

Straftat komplett verwirklicht hat. Das nötige Unrecht<br />

fehlt aber nicht erst dann, wenn der Täter komplett gerechtfertigt<br />

ist, sondern schon dann, wenn er nur teilweise gerechtfertigt<br />

ist. Hier gibt es zwei Varianten.<br />

In der ersten ist der Täter objektiv gerechtfertigt, er weiß<br />

das aber nicht.<br />

Fall 8: In einer Disco schüttet Girlie G dem Macho M eine<br />

Flasche Rigo ins Gesicht, weil sie ihn ätzend findet. Ohne es<br />

zu wissen, verhindert sie nur so eine sexuelle Belästigung, zu<br />

der M gerade angesetzt hat.<br />

Nehmen wir an, das Überschütten sei eine vollendete vorsätzliche<br />

Körperverletzung. Dann ist G objektiv aus Notwehr<br />

gerechtfertigt, weiß das aber nicht. Das Rechtsproblem ist<br />

den Strafrechtler bekannt unter dem Namen „Verkennung<br />

rechtfertigender Umstände“ oder auch als umgekehrter Erlaubnisumstandsirrtum.<br />

Zum Unrecht einer vorsätzlichen<br />

vollendeten Körperverletzung fehlt das objektive Unrecht. Es<br />

bleibt Gs betätigter böser Wille, also das subjektive Unrecht;<br />

und das macht das Unrecht einer Versuchsstrafbarkeit aus. Im<br />

Bild 8 würden wir sagen, dass die objektiven Tatbestandsumstände<br />

die G in das objektive Unrecht hinein- und die objektiven<br />

Rechtfertigungsumstände sie dort wieder herausgeführt<br />

haben, und außerdem, dass ihr subjektiver Tatbestandsumstand<br />

(ihr Vorsatz) sie in das subjektive Unrecht hinein- und<br />

nichts sie dort wieder herausgeführt hat.<br />

Die zweite Variante ist unser Fall 1: der Erlaubnisumstandsirrtum:<br />

Der Täter T ist nicht gerechtfertigt, er stellt sich<br />

aber rechtfertigende Umstände vor. Hier liegt es genau umgekehrt<br />

wie beim Girlie G. Zum Unrecht einer vorsätzlichen<br />

vollendeten Körperverletzung fehlt das subjektive Unrecht.<br />

Es bleibt das von T begangene objektive Unrecht; und das<br />

macht das Unrecht des Fahrlässigkeitsdeliktes aus.<br />

d) Der Umbau im Prüfschema und Konsequenzen für Fall 1<br />

Wenn man diese Bilder und ihre Konsequenzen für richtig<br />

hält, stellt sich die Frage, wo und wie sich diese Konstruktion<br />

im Deliktsaufbau und im Prüfungsgang niederschlägt. Die<br />

Antwort darauf sieht so aus:<br />

27 So ist Fall 5 gemeint. Wer ihn anders versteht, möge das<br />

Geschehen so verändern, dass auch er es so beurteilt, wie wir<br />

es für den weiteren Gedankengang brauchen. Das gilt auch<br />

für die anderen Fälle.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

804<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Die Obstruktion der Konstruktion<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

I. Straftatbestand<br />

= Vorliegen aller Straftatbestandsumstände<br />

1. Objektiver Tatbestand<br />

= Vorliegen aller objektiven Straftatbestandsumstände<br />

2. Subjektiver Tatbestand<br />

= Vorliegen aller subjektiven Straftatbestandsumstände<br />

II. Rechtswidrigkeit<br />

= Vorliegen aller Rechtswidrigkeitsumstände<br />

1. Objektive Rechtswidrigkeit<br />

= Vorliegen keiner objektiven Rechtfertigungsumstände<br />

a) Keine objektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />

1<br />

b) ...<br />

2. Subjektive Rechtswidrigkeit<br />

= Vorliegen keiner subjektiven Rechtfertigungsumstände<br />

a) Keine subjektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />

1<br />

b) ...<br />

III. Schuld<br />

Prüfschema 5: Tatbestand und Rechtswidrigkeit bei konsequenter<br />

Teilung des Unrechts<br />

Nach diesem Prüfschema ist die traditionelle Frage auf der<br />

Stufe der Rechtswidrigkeit falsch gestellt. Man darf nicht<br />

fragen (wie im Prüfschema 2): „Ist das für dieses Delikt nötige<br />

Unrecht komplett beseitigt? = Ist ein Rechtfertigungsgrund<br />

vollständig gegeben?“ Man muss vielmehr umgekehrt<br />

fragen: „Ist das für dieses Delikt nötige Unrecht komplett<br />

vorhanden? = Ist ein Rechtfertigungsgrund nicht einmal zum<br />

Teil gegeben?“<br />

Im Ausgangsbeispiel, dem Fall 1, fehlt bei der Prüfung<br />

einer Strafbarkeit aus § 223 Abs. 1 StGB die „subjektive<br />

Rechtswidrigkeit“ (Prüfungspunkt II. 2.), und damit ist das<br />

für eine vollendete vorsätzliche Körperverletzung nötige<br />

Unrecht zu verneinen. Es liegt nur eine „kleinere“ Rechtwidrigkeit<br />

vor, ein kleineres Unrecht, nämlich das einer fahrlässigen<br />

Körperverletzung, weil T bei Beachtung der im Verkehr<br />

erforderlichen Sorgfalt (vgl. § 276 Abs. 2 BGB) seinen<br />

Irrtum und damit auch seine Handlung hätte vermeiden können.<br />

e) Die Chancen der neuen Konstruktionen<br />

Welches Bild steckt in den Köpfen der Strafjuristen? Das alte<br />

von der Unteilbarkeit des Unrechts (Bild 2) oder das neue<br />

von der Teilbarkeit in objektive und subjektive Komponenten<br />

(Bild 8)? Das ist schwer auszumachen, denn wir Juristen<br />

argumentieren kaum in Bildern, sondern legen sie meist still<br />

unseren Argumenten zugrunde. Wohl aber kann man aus den<br />

Lösungen, die ein Jurist in den fraglichen Fällen vertritt,<br />

rückschließen auf seine An-„sichten“, seine Bilder. Einfacher<br />

ist zu beantworten, welches Prüfschema ein Jurist anwendet.<br />

Denn dazu muss man nur seinen expliziten Aufbaumustern<br />

oder seinem Prüfungs- und Argumentationsgang folgen.<br />

Wir wollen unterscheiden. Auf der Stufe des Straftatbestandes<br />

ist das Denken in Unrechtsteilen ohnehin seit langer<br />

Zeit üblich; dazu passen das alte (Bild 2) und das neue Bild<br />

(Bild 8) ebenso wie das alte (Prüfschema 2) und das neue<br />

Prüfschema (Prüfschema 5). Hingegen auf der Stufe der<br />

Rechtswidrigkeit, und nur darum geht es im Folgenden, liegen<br />

die Dinge verwickelter. Wir werden sehen, dass hier die<br />

Bilder überwiegend die neuen, die Prüfschemas aber überwiegend<br />

die alten sind. Wir betrachten dazu nacheinander<br />

Fahrlässigkeits-, Versuchs- und vollendetes Vorsatzdelikt.<br />

aa) Beim Fahrlässigkeitsdelikt<br />

Beim Fahrlässigkeitsdelikt (Fall 5) ist auf der Stufe der<br />

Rechtswidrigkeit das neue Bild von der Teilbarkeit des Unrechts<br />

fast allgemein anerkannt.<br />

(1) Nur noch wenige folgen dem alten Bild 2 und prüfen<br />

wie im Prüfschema 2. 28 Ihr Prüfungsaufbau für das Fahrlässigkeitsdelikt<br />

sieht so aus:<br />

I. Straftatbestand<br />

= Vorliegen aller objektiven Straftatbestandsumstände<br />

II. Rechtswidrigkeit<br />

= Vorliegen keines Rechtfertigungsgrundes<br />

1. Nichtvorliegen des Rechtfertigungsgrundes 1.<br />

a) Vorliegen aller objektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />

1<br />

b) Vorliegen aller subjektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />

1<br />

2. ...<br />

III. Schuld<br />

Prüfschema 6: Das Fahrlässigkeitsdelikt bei Unteilbarkeit<br />

des Unrechts<br />

Wer so vorgeht, muss im Fall 5 feststellen, dass kein Rechtfertigungsgrund<br />

komplett vorliegt, also die fahrlässige Körperverletzung<br />

des H rechtswidrig ist. An der Schuld besteht<br />

auch kein Zweifel, sodass im Ergebnis die Strafbarkeit aus<br />

§ 229 StGB festzustellen ist. Diejenigen, die dieses Prüfschema<br />

verwenden, sind aber mit ihrem Ergebnis nicht recht<br />

zufrieden, denn sie fühlen, was sie nicht sehen: dass eigentlich<br />

Straflosigkeit angebracht wäre. Das führt zu Notbremsungen<br />

wie dieser:<br />

„Wegen der aus dem Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsmerkmale<br />

folgenden Unrechtsminderung greift eine<br />

Strafmilderung nach dem Milderungsschlüssel des § 49 I<br />

StGB ein. Beim fahrlässigen Delikt kann diese im konkreten<br />

Fall zur Unterschreitung der Grenze strafrechtlich relevanten<br />

Fahrlässigkeitsunrechts und damit zur Straflosigkeit führen.“<br />

29<br />

(2) Andere haben zwar das neue Bild 8 vor Augen, scheuen<br />

sich aber, dies so konsequent wie im Prüfschema 7 umzusetzen.<br />

Sie sagen, auch bei Fahrlässigkeitstaten sei für die<br />

Rechtfertigung ein subjektives Rechtfertigungselement nötig,<br />

die Tat sei aber wegen der objektiven Rechtfertigungsumstände<br />

objektiv erlaubt und der verbleibende „Handlungsun-<br />

28 Zum Beispiel Alwart, GA 1983, 433 (455).<br />

29 Hirsch, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch,<br />

Leipziger Kommentar, Bd. 1, 11. Aufl. 2003, Vor § 32<br />

Rn. 59.<br />

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wert“ 30 sei mangels Strafbarkeit des fahrlässigen Versuchs<br />

straflos. 31 Sie verwenden also zwar das Prüfschema 6, prüfen<br />

darin unter II. 1. b) das Vorliegen des subjektiven Rechtfertigungsumstandes<br />

und stellen sein Fehlen fest, erklären dann<br />

jedoch, dass es darauf für das Unrecht des untersuchten Delikts<br />

aber auch gar nicht ankomme.<br />

(3) Nur wenige gehen noch einen Schritt weiter und haben<br />

neben dem neuen Bild 8 auch einen neuen Prüfungsaufbau<br />

im Kopf. Sie lassen für die Verneinung der Rechtswidrigkeit<br />

sogleich genügen, dass die objektiven Rechtfertigungsumstände<br />

vorliegen. 32 Ihr Fahrlässigkeitsaufbau sieht<br />

so aus:<br />

I. Straftatbestand<br />

= Vorliegen aller objektiven Straftatbestandsumstände<br />

II. Rechtswidrigkeit<br />

= Vorliegen keiner objektiven Rechtfertigungsumstände<br />

1. Keine objektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />

1<br />

2. ...<br />

III. Schuld<br />

Prüfschema 7: Das Fahrlässigkeitsdelikt bei Teilung des Unrechts<br />

Die Begründung dafür ergibt sich aus dem bislang Gesagten:<br />

Es liegt kein tatbestandlich eingefangener böser Wille vor,<br />

der auf der Stufe der Rechtswidrigkeit von einem guten Wille<br />

ausgeglichen werden müsste, sondern nur objektives Unrecht,<br />

für dessen Ausgleich objektive Rechtfertigungsumstände<br />

genügen. Auch der Bundesgerichtshof hat in einer Entscheidung<br />

aus dem Jahr 2001 gesagt:<br />

„Kommt bei objektiv gegebener Notwehrlage der Angreifer<br />

durch Fahrlässigkeit des Abwehrenden zu Schaden, so ist<br />

in den Grenzen dessen, was als Abwehrhandlung objektiv<br />

erforderlich gewesen wäre, die Herbeiführung eines deliktischen<br />

Erfolgs auch dann gerechtfertigt, wenn er konkret vom<br />

Abwehrenden nicht gewollt war [...]“ 33<br />

30 Damit ist hier gemeint, dass der Täter sich mit Blick allein<br />

auf die Tatbestandsverwirklichung (also unter Ausblendung<br />

der rechtfertigenden Umstände) unaufmerksam („fahrlässig“)<br />

verhält.<br />

31 So etwa Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht,<br />

Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 16 Rn. 69 f.; Ebert, Strafrecht,<br />

Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2001, S. 168; Gropp (Fn. 7),<br />

§ 12 Rn. 99-102; Jakobs (Fn. 7), 11/30; Jescheck/Weigend<br />

(Fn. 7), S. 589; Duttge (Fn. 15), § 15 Rn. 197 f.; Otto,<br />

Grundkurs Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2004, § 10<br />

Rn. 29; Roxin (Fn. 7), § 24 Rn. 103.<br />

32 Zum Beispiel Schlehofer (Fn. 19), Vor § 32 Rn. 91; Hardtung<br />

(Fn. 26), § 222 Rn 54-58; Lenckner/Eisele (Fn. 7), Vor<br />

§ 32 Rn. 99; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 23), § 15 Rn. 42.<br />

33 BGH NStZ 2001, 591 (592). Das Zitat ist gekürzt, um eine<br />

Besonderheit herauszuhalten, die für den Gedankengang<br />

keine Rolle spielt.<br />

bb) Beim Versuchsdelikt<br />

Die Rechtsprechung hat sich, soweit ich sehe, zur Rechtfertigung<br />

beim Versuchsdelikt, also zu Konstellationen wie in<br />

Fall 6, noch nicht geäußert.<br />

(1) Die meisten im Schrifttum behaupten, die Rechtswidrigkeit<br />

sei beim Versuch genauso zu behandeln wie beim<br />

vollendeten Delikt. 34 Sie würden also prüfen wie im Prüfschema<br />

2, das heißt hier:<br />

I. Straftatbestand<br />

= Vorliegen aller subjektiven Straftatbestandsumstände<br />

II. Rechtswidrigkeit<br />

= Vorliegen keines Rechtfertigungsgrundes<br />

1. Nichtvorliegen des Rechtfertigungsgrundes 1.<br />

a) Vorliegen aller objektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />

1<br />

b) Vorliegen aller subjektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />

1<br />

2. ...<br />

III. Schuld<br />

Prüfschema 8: Das Versuchsdelikt bei Unteilbarkeit des<br />

Unrechts<br />

In den knappen Verweisen auf das vollendete Delikt ist aber<br />

nicht zu erkennen, ob die Autoren die Frage nach der Teilbarkeit<br />

des Unrechts gesehen und sich für die Unteilbarkeit<br />

(Bild 2) entschieden haben oder ob sie die Frage gar nicht<br />

bedacht haben.<br />

(2) Nur manche Autoren haben sich diese Frage erkennbar<br />

gestellt. Wer das getan hat, beantwortet sie so, dass er für<br />

die Rechtfertigung der Versuchstat die subjektiven rechtfertigenden<br />

Umstände genügen lässt. 35 Ihr Deliktsaufbau:<br />

I. Straftatbestand<br />

= Vorliegen aller subjektiven Straftatbestandsumstände<br />

II. Rechtswidrigkeit<br />

= Vorliegen keiner subjektiven Rechtfertigungsumstände<br />

1. Keine subjektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />

1<br />

2. ...<br />

III. Schuld<br />

Prüfschema 9: Das Versuchsdelikts bei Teilung des Unrechts<br />

Die Begründung dafür lautet sachgemäß genau umgekehrt<br />

wie beim Fahrlässigkeitsdelikt: Tatbestandlich wird nur sub-<br />

34 Als Auswahl siehe nur Gropp (Fn. 7), S. 319; Haft, Strafrecht,<br />

Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 2004, S. 225; von Heintschel-<br />

Heinegg, Prüfungstraining Strafrecht, Bd. 1, 1992, Rn. 899;<br />

Wessels/Beulke (Fn. 7), Rn. 610, 874.<br />

35 Arzt, Die Strafrechtsklausur, 7. Aufl. 2006, S. 196; Mitsch<br />

(Fn. 31), 10. Aufl. 1995, § 26 Rn 21 Fn. 57 (diese Stellungnahme<br />

fehlt in der 11. Aufl. 2003); Lampe, JuS 1967, 564<br />

(568 Fn. 6); Hillenkamp, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/<br />

Tiedemann (Fn. 7), § 22 Rn. 177; Herzberg, in: Joecks/Miebach<br />

(Fn. 15), § 22 Rn. 178-180.<br />

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Die Obstruktion der Konstruktion<br />

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jektives Unrecht eingefangen, nämlich der betätigte böse<br />

Wille; also muss auf der Stufe der Rechtswidrigkeit auch nur<br />

dieser böse Wille von einem guten ausgeglichen werden.<br />

cc) Beim vollendeten Vorsatzdelikt<br />

(1) Bei Vorliegen nur der objektiven Rechtfertigungsumstände<br />

(umgekehrter Erlaubnisumstandsirrtum), wie in unserem<br />

Fall 8, vertreten nur noch sehr wenige die Ansicht, das Delikt<br />

sei vollendet. 36 Bemerkenswerterweise berufen sie sich dafür<br />

insbesondere auf den „Boden der Realität“:<br />

„Gegen eine Bestrafung wegen Versuchs anstatt Vollendung<br />

spricht [...], dass man dabei den Boden der Realität<br />

verlässt. Denn der tatbestandsmäßige Erfolg ist eingetreten.<br />

Wer beispielsweise vorsätzlich einen anderen Menschen<br />

tötet, vollendet einen Totschlag und versucht ihn nicht nur.<br />

Auch gehört zum Wesen des Versuchs, dass man etwas verwirklichen<br />

will, ohne dass dies erreicht wird, während es sich<br />

hier hinsichtlich der objektiven Rechtfertigungsmerkmale<br />

gerade umgekehrt darum handelt, dass die Merkmale zwar<br />

objektiv gegeben sind, eine entsprechende subjektive Beziehung<br />

aber fehlt. Diese Sachgesichtspunkte lassen sich<br />

schwerlich als nur formal bezeichnen und auch nicht durch<br />

den Hinweis verdrängen, es gehe nur um Analogie.“ 37<br />

Gehen wir die Sätze durch. Zweiter Satz: Ja, der „tatbestandsmäßige<br />

Erfolg“ ist im Fall 8 eingetreten, aber eben<br />

nicht der „Unrechtserfolg“, weil das objektive Unrecht fehlt:<br />

M hat das Getränk mit Recht ins Gesicht bekommen. Dritter<br />

Satz: Dasselbe; gewiss hat G einen Totschlag tatbestandlich<br />

vollendet, aber damit ist eben noch nichts über die Vollendung<br />

des Unrechts gesagt. Vierter Satz: Fast schon ein Sophismus,<br />

denn umgekehrt wird ein Schuh daraus – G wollte<br />

eine ungerechtfertigte Körperverletzung verwirklichen und<br />

hat das nicht erreicht, das trifft voll und ganz das beschriebene<br />

„Wesen des Versuchs“. Erster und sechster Satz: Ich sehe<br />

in solchen Äußerungen einen deutlichen Beleg dafür, wie<br />

sehr wir Menschen dazu neigen, den Boden der Realität mit<br />

unserem Bild von der Realität zu verwechseln. Sobald wir es<br />

aber schaffen, den eigenen Standpunkt zu ändern und vom<br />

neuen Standpunkt aus die Sache aus einem neuen Blickwinkel<br />

zu betrachten, ändert sich auch unser Bild, das wir uns<br />

von der Sache machen.<br />

Viele haben hier diese Veränderung des Blickwinkels<br />

vollbracht und bestrafen in Konstellationen wie in Fall 8 nur<br />

wegen Versuchs. 38 Die meisten von ihnen wenden dabei die<br />

Versuchregeln nur analog an, 39 und zwar deswegen, weil es<br />

im Regelfall des Versuchs schon zu keinem tatbestandsmäßi-<br />

36 Alwart, GA 1983, 433 (454 f.); Haft (Fn. 34), S. 70 ff.;<br />

Hirsch (Fn. 29), Vor § 32 Rn. 59.<br />

37 Hirsch (Fn. 29), Vor § 32 Rn. 61.<br />

38 Jakobs (Fn. 7), 11/22-23a; Joecks, Strafgesetzbuch, Studienkommentar,<br />

8. Aufl. 2009, Vor § 32 Rn. 12; Jescheck/<br />

Weigend (Fn. 7), S. 330; Kühl (Fn. 7), § 6 Rn. 14-16; Schlehofer<br />

(Fn. 19), Vor § 32 Rn. 91; Roxin (Fn 7), § 14 Rn. 101<br />

f.; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 23), § 9 Rn. 151-154; Fischer<br />

(Fn. 7), § 32 Rn. 27; Wessels/Beulke (Fn. 7), Rn. 279.<br />

39 Z.B. Jakobs, Jescheck/Weigend, Kühl, Stratenwerth/Kuhlen,<br />

Wessels/Beulke (alle Nachweise in Fn. 38).<br />

gen Erfolg komme, während die hier behandelte Konstellation<br />

sich dadurch auszeichne, dass erst das Erfolgsunrecht<br />

fehle. Damit sei „eine Lage gegeben, die ebenso wie der<br />

Versuch einer Straftat zu bewerten ist: in beiden Fällen will<br />

der Täter Unrecht begehen, der Erfolg bleibt aber aus bzw. er<br />

kann nicht als Unrechtserfolg angesehen werden.“ 40 Dieses<br />

Denken beruht auf einem weiteren gängigen Bild: dass zum<br />

„Wesen“ des Versuchs das Ausbleiben der Vollendung gehöre.<br />

Wer es so sieht, kann § 22 StGB in der Tat nur analog<br />

anwenden. Aber ich halte das für unnötig. § 22 StGB ist (laut<br />

seiner gesetzlichen Überschrift) eine „Begriffsbestimmung“,<br />

und in ihr ist nicht enthalten, dass zum Versuch das Ausbleiben<br />

der Vollendung gehöre. 41 Die Versuchsregeln können<br />

also im Fall 8 direkt angewendet werden.<br />

Zum Prüfungsaufbau in diesen Fällen äußern sich nur<br />

wenige. Kühl meint, einer förmlichen Versuchsprüfung bedürfe<br />

es nicht mehr; 42 Joecks sagt, die Prüfung des Versuchs<br />

dürfe im Hinblick auf die bereits durchgeführte Prüfung des<br />

subjektiven Tatbestandes sehr kurz ausfallen. 43 Das zweite<br />

halte ich für „sauberer“. Denn für strafrechtliche Fallgutachten<br />

gilt die Regel, dass man innerhalb einer Deliktsprüfung<br />

sich nur mit dem in der Überschrift genannten Delikt befassen<br />

und am Ende nur zu diesem Delikt die Antwort geben<br />

soll, ob der Täter daraus strafbar ist oder nicht; hingegen soll<br />

man nicht in einer Deliktsprüfung auf ein anderes Delikt<br />

„umsteigen“. Das dient der Klarheit des Gutachtens und führt<br />

dem Leser die Ergebnisse deutlicher vor Augen. Im Fall 8<br />

wäre also zunächst eine vollendete vorsätzliche Körperverletzung<br />

zu prüfen und wegen der objektiven Rechtfertigungslage<br />

(also wegen des Fehlens der objektiven Rechtswidrigkeit)<br />

zu verneinen (Prüfschema 5); sodann wäre eine versuchte<br />

Körperverletzung zu prüfen (Prüfschema 9) und in all ihren<br />

Voraussetzungen direkt (und nicht nur analog) zu bejahen: G<br />

stellte sich die körperliche Misshandlung einer anderen Person<br />

vor, hat dazu unmittelbar angesetzt und sich dabei keine<br />

rechtfertigenden Umstände vorgestellt.<br />

Für unser Thema sind die Antworten der Rechtsprechung<br />

auf die hier behandelte Frage interessant. Der Bundesgerichtshof<br />

ist im Jahr 1952 noch der Vollendungslösung gefolgt.<br />

44 Erstmals im Jahr 1975 ist die Versuchslösung gerichtlich<br />

vertreten worden, nämlich vom Kammergericht Berlin. 45<br />

Aus dem Jahr 1991 stammt die erste Entscheidung des Bundesgerichtshofes,<br />

worin auch er nur wegen Versuchs bestraft.<br />

Zu einer Konstellation des § 218a Abs. 2 StGB (Schwangerschaftsabbruch<br />

mit Einwilligung der Schwangeren) schreibt er:<br />

„Wer als Arzt die Indikationslage nicht oder nur unsorgfältig<br />

prüft, wird – weil er nicht ‚nach ärztlicher Erkenntnis’<br />

40 Jescheck/Weigend (Fn. 7), S. 330.<br />

41 Ausführlicher dazu meine Darlegungen „Gegen die Vorprüfung<br />

beim Versuch“, Jura 1996, 293.<br />

42 Kühl (Fn. 7), § 6 Rn. 16.<br />

43 Joecks (Fn. 38), Vor § 32 Rn. 13.<br />

44 BGHSt 2, 111 (115): „Die Strafkammer hat [...] mit Recht<br />

angenommen, dass sich der Beschwerdeführer schon wegen<br />

des Fehlens dieses ‚subjektiven Rechtfertigungselements’<br />

nicht auf [...] Notstand berufen könne.“<br />

45 KG GA 1975, 213 (215).<br />

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gehandelt hat – regelmäßig nach § 218 I StGB bestraft. Lässt<br />

sich freilich [...] feststellen, dass, wenn er sorgfältig geprüft<br />

hätte, der sich ergebende Sachverhalt objektiv eine Indikation<br />

ergeben hätte, so ist nur Bestrafung wegen Versuchs gerechtfertigt.“<br />

46<br />

Der Fall lag kompliziert. Reduziert man die Überlegungen<br />

des Gerichtes auf das, was für unsere Zwecke nötig ist,<br />

so lautet die Feststellung: Der Arzt hatte tatbestandlich einen<br />

Schwangerschaftsabbruch begangen (§ 218 Abs. 1 StGB).<br />

Die objektiven Rechtfertigungsumstände des § 218a Abs. 2<br />

StGB (Einwilligung der Schwangeren nebst objektiver Prognose,<br />

dass der Abbruch zur Abwendung einer näher bezeichneten<br />

Gefahr für die Schwangere angezeigt war) lagen aber<br />

vor, sodass der Arzt objektiv rechtmäßig handelte, sodass<br />

weiterhin eine Vollendungsstrafbarkeit ausschied. Weil der<br />

Arzt aber nicht sorgfältig geprüft hatte, wusste er nichts vom<br />

Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsumstände, sah sich<br />

also nicht gerechtfertigt und war deshalb für seinen betätigten<br />

bösen Willen wegen Versuchs zu bestrafen. – Ich erinnere an<br />

dieser Stelle an den eingangs referierten Satz, dass es im<br />

Mittel dreißig Jahre dauert von der ersten Äußerung einer<br />

neuen Idee bis zu ihrer Anerkennung. 47<br />

(2) Das Vorliegen nur der subjektiven Rechtfertigungsumstände<br />

ist die letzte Konstellation, mit der wir uns befassen,<br />

und zugleich diejenige, mit der wir begonnen haben. Es ist<br />

die Situation des Erlaubnisumstandsirrtums. Der Täter ist<br />

objektiv nicht gerechtfertigt, stellt sich aber rechtfertigende<br />

Umstände vor (Fall 1). Hier haben die Strafrichter schon<br />

lange das neue Bild von der Teilbarkeit des Unrechts auch<br />

auf der Stufe der Rechtswidrigkeit vor Augen. Schon aus<br />

dem Jahr 1952 stammt eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes,<br />

deren Leitsatz lautet:<br />

„Die irrige Annahme eines zur Züchtigung an sich berechtigenden<br />

Sachverhalts, aus dem der Täter auf seine Züchtigungsbefugnis<br />

in diesem Falle schließt, ist als Tatirrtum<br />

nach § 59 StGB (heute: § 16 I 1 StGB) zu behandeln.“ 48<br />

Das ist, soweit ersichtlich, das erste Urteil des Bundesgerichtshofes,<br />

das diese Rechtsansicht so klar ausspricht. In ihm<br />

ist deutlich gesagt, dass ein Stück Vorsatz fehlt (denn allein<br />

dies ist die Rechtsfolge, die die genannten Vorschriften an<br />

den „Tatirrtum“ knüpfen) und also schon das Unrecht der<br />

vollendeten Vorsatztat nicht gegeben ist. Nicht klar ist nur,<br />

ob die „Behandlung“ als „Tatirrtum“ eine direkte oder analoge<br />

Anwendung der Vorschrift über den Tatumstandsirrtum<br />

war. Mittlerweile darf aber die Haltung des Bundesgerichtshofes<br />

als klar gelten. Es finden sich zwar immer noch Formulierungen,<br />

die nicht erkennen lassen, ob § 16 Abs. 1 S. 1 StGB<br />

direkt oder analog angewendet worden ist. 49 Immer wieder<br />

46 BGHSt 38, 144 (155).<br />

47 Siehe dazu bei Fn. 1.<br />

48 BGHSt 3, 105; Klammerzusatz von mir.<br />

49 BGHSt 31, 264 (286 f.): „Die Annahme eines rechtfertigenden<br />

Sachverhalts schließt Strafbarkeit wegen vorsätzlicher<br />

Tat auch aus, wenn die Annahme nicht zutrifft. Ein<br />

solcher Irrtum ist wie ein den Vorsatz ausschließender Irrtum<br />

über Tatumstände nach § 16 I 1 StGB zu bewerten.“ –<br />

BGHSt 45, 378 (384): „Die irrige Annahme eines rechtfertiaber<br />

gibt es auch deutliche Stellungnahmen für eine direkte<br />

Anwendung, zum Beispiel:<br />

„Vergeblich wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision<br />

dagegen, dass das Landgericht seinen Irrtum nicht als<br />

einen nach § 16 I StGB zu behandelnden Erlaubnistatbestandsirrtum<br />

bewertet hat [...] Der Irrtum ist nur dann nach<br />

§ 16 I StGB beachtlich, wenn [...].“ 50<br />

Oder noch deutlicher:<br />

„Damit war dem Angeklagten nicht bewusst, dass ihm<br />

weniger gefährliche Abwehrmittel in dieser Situation zur<br />

Verfügung standen. Im Verkennen dieses Sachverhalts liegt<br />

ein Erlaubnistatbestandsirrtum, der gemäß § 16 I 1 StGB die<br />

Strafbarkeit wegen vorsätzlichen Handelns entfallen lässt.“ 51<br />

In der Strafrechtslehre aber ist die Behandlung des Erlaubnisumstandsirrtum<br />

noch sehr umstritten. Nur die wenigstens<br />

verwenden den zweistufigen Deliktsaufbau, mit dem sie<br />

zur Verneinung des Unrechts kommen; das soll hier nicht<br />

mehr interessieren. 52 Von denjenigen, die einen dreistufigen<br />

Deliktsaufbau verwenden, kommen mittlerweile viele (wie<br />

die Gerichte) zur Verneinung des Unrechts; sie teilen also auf<br />

der Stufe der Rechtswidrigkeit das Unrecht in eine objektive<br />

und eine subjektive Komponente (Prüfschema 5). 53 Die<br />

Schuldlösungen tun das nicht, bejahen also die Rechtswidrigkeit<br />

und lassen (allenfalls) die Schuld entfallen (Prüfschema<br />

2). 54 Manche Anhänger der Schuldlösung behaupten übrigens<br />

zu Unrecht, auch der Bundesgerichtshof lasse bei einem<br />

Erlaubnisumstandsirrtum erst die Schuld entfallen. Sie berufen<br />

sich dafür auf diejenigen Entscheidungen, die offen formuliert<br />

sind, und lassen die eindeutigen beiseite. 55 Hier sehen<br />

genden Sachverhalts wäre wie ein den Vorsatz ausschließender<br />

Irrtum über Tatumstände nach § 16 I 1 StGB zu bewerten<br />

[...], sodass der Vorwurf (vorsätzlicher) Körperverletzung [...]<br />

entfiele.“<br />

50 BGH NJW 1996, 1604 (1605).<br />

51 BGH NStZ 2001, 530.<br />

52 Dazu schon oben unter 2. c).<br />

53 Lackner/Kühl (Fn. 7), § 17 Rn. 14; Puppe (Fn. 23), § 16<br />

Rn. 137 f.; Lenckner/Eisele (Fn. 7), Vor § 13 Rn. 19; Cramer/Sternberg-Lieben<br />

(Fn. 7), § 15 Rn. 35, § 16 Rn. 18; Rudolphi,<br />

in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar<br />

zum Strafgesetzbuch, 37. Lfg., Stand: Oktober 2002, § 16<br />

Rn. 10; Kühl (Fn. 7), § 13 Rn. 71 f. und 77; Roxin (Fn. 7),<br />

§ 14 Rn. 64-78, insb. Rn. 64.<br />

54 Siehe nur Gropp (Fn. 7), § 13 Rn. 110-116; Haft (Fn. 34),<br />

S. 257 ff.; Wessels/Beulke (Fn. 7), Rn. 478 f.<br />

55 Nur zwei Beispiele: Gropp (Fn. 7), § 13 Rn. 112, beruft sich<br />

auf BGHSt 31, 264 (286 f.); die Textpassage ist in Fn. 49<br />

wiedergegeben. Wessels/Beulke (Fn. 7), Rn. 479, berufen sich<br />

ebenfalls darauf und auf BGHSt 45, 378 (384), ebenfalls in<br />

Fn. 49 wiedergegeben; noch dazu wird das Verständnis in die<br />

gewünschte Richtung „gedrückt“, indem es beispielsweise<br />

über BGHSt 31, 264 (286 f.) heißt, dass danach ein Erlaubnisumstandsirrtum<br />

„(lediglich) wie ein Irrtum im Sinne des §<br />

16 Abs. 1 S. 1 StGB zu bewerten ist und (nur) die Strafbarkeit<br />

wegen vorsätzlicher Tat ausschließt“ – weder die Klammerzusätze<br />

noch die Hervorhebungen finden sich in der Ge-<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

808<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Die Obstruktion der Konstruktion<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

wir, wie ich finde, erneut ein obstruktives Charakteristikum<br />

der Konstruktionen: Wer sein Weltbild hat („Schuldlösung!“),<br />

kann oft nicht anders, als die Welt genau so zu sehen.<br />

Wahrnehmungen, zu denen die eigene Sicht nicht passt,<br />

werden ignoriert oder in einer Weise „für wahr genommen“,<br />

dass sie sich ins eigene Weltbild fügen. So verfährt man auch<br />

mit dem, was man von anderen mitgeteilt bekommt; auch die<br />

Äußerungen anderer werden selektiv oder gefärbt wahrgenommen<br />

– und wiedergegeben.<br />

dd) Alles in allem<br />

Die Konstruktion von der Unteilbarkeit des Unrechts auf der<br />

Stufe der Rechtswidrigkeit ist längst nicht so stabil wie die<br />

des traditionellen dreistufigen Deliktsaufbaus. Das liegt daran,<br />

dass auf der Stufe des Tatbestandes die Teilbarkeit in<br />

objektive und subjektive Unrechtselemente vom Gesetz vorgegeben<br />

ist; daraus erwächst die Neigung, nach dem Grundriss<br />

dieses Erdgeschosses auch die zweite Etage zu bauen<br />

(und das ist Sachlogik und Psychologik zugleich). Die Neukonstruktion<br />

ist beim Fahrlässigkeitsdelikt nahezu vollzogen,<br />

beim Versuchsdelikt in den Anfängen und beim vollendeten<br />

Vorsatzdelikt mittendrin; die hinter allem stehenden Bilder<br />

sind dabei weiter entwickelt als die Prüfschemas.<br />

III. Instruktion statt Obstruktion<br />

Erinnern wir uns: Ein Igel geht niemals über eine Straße. Wir<br />

Strafrechtler sind kaum anders. Und der zweistufige Deliktsaufbau<br />

ist wahrscheinlich tatsächlich eine Straße, über<br />

die wir bei der gegenwärtigen Gesetzeslage nie gehen werden.<br />

Wir werden auf dem Weg des dreistufigen Deliktsaufbaus<br />

bleiben. Er steckt so tief im Gesetz oder jedenfalls in<br />

den Köpfen der Strafrechtler, dass eine Abkehr von ihm<br />

höchst unwahrscheinlich ist. Ein Igel geht niemals über eine<br />

Straße.<br />

Aber neue Wege können Igel gehen. Und auch wir Strafrechtler<br />

müssen nicht auf dem Weg bleiben, den uns das<br />

traditionelle Prüfschema durch die Rechtswidrigkeit weist.<br />

Wir können uns dort lösen vom Bild der Unteilbarkeit des<br />

Unrechts, bei dem es nur ein „Alles oder nichts“ gibt. Wir<br />

haben diesen Weg in manchen Dickichten schon vor über<br />

fünfzig Jahren verlassen und haben den neuen Weg beschritten,<br />

der uns zur getrennten Betrachtung von objektivem und<br />

subjektivem Unrecht führt. In anderem Gestrüpp aber halten<br />

wir uns auf dem alten Weg und gehen so vorbei an den neuen<br />

Einsichten.<br />

Einen wichtigen Grund für die Langsamkeit der Entwicklung<br />

sehe ich darin, dass auch diejenigen, die die neuen Lösungen<br />

vertreten, am traditionellen Prüfschema bei der<br />

Rechtswidrigkeit festhalten. Die neuen Bilder haben die<br />

meisten wohl schon im Kopf, auch wenn sie sich vielleicht<br />

andere Bilder machen als gerade meine Vektorenrechnung.<br />

Aber im Gutachten prüft man keine Bilder, sondern den Deliktsaufbau.<br />

Und weil hier bislang der Umbau ausgeblieben<br />

ist, entfaltet die traditionelle Konstruktion vom Prüfungsaufbau<br />

ihre enorme obstruktive Kraft. Das gängige Prüfschema<br />

in der Rechtswidrigkeit hindert viele und behindert alle, der<br />

Teilbarkeit von objektivem und subjektivem Unrecht Rechnung<br />

zu tragen. Die Sachgründe, die für diese Teilung sprechen,<br />

halte ich für stark. Wer in der Sache nicht meiner Meinung<br />

ist, wird das Prüfschema gewiss so lassen, wie es ist.<br />

Wer aber meiner Meinung ist, wird mit mir bedauern, dass<br />

die neuen Sacheinsichten sich in Jahrzehnten erst so wenig<br />

durchsetzen konnten.<br />

Wir können es den Sacheinsichten leichter machen, wenn<br />

wir entschieden und konsequent im Deliktsaufbau die Prüfung<br />

der Rechtswidrigkeit umstellen:<br />

Wir dürfen auf der Stufe der Rechtswidrigkeit nicht mehr<br />

fragen, ob das Unrecht des geprüften Delikts komplett beseitigt<br />

ist, sondern müssen umgekehrt fragen, ob das Unrecht<br />

komplett vorliegt.<br />

Mit anderen Worten:<br />

Wir dürfen nicht mehr fragen, ob der Täter komplett gerechtfertigt<br />

ist, sondern müssen fragen, ob er nicht einmal<br />

zum Teil gerechtfertigt ist.<br />

Dann sagen wir wieder, was wir denken. Dann geben wir<br />

denjenigen, die noch die anderen Bilder vor Augen haben,<br />

deutlicher zu verstehen, wo und wie wir anders denken. Dann<br />

geben wir den jungen Juristen eine Konstruktion, die die<br />

Sacheinsichten, die wir für richtig halten, befördert und nicht<br />

behindert. Dann sind unsere Konstruktionen nicht mehr obstruktiv,<br />

sondern instruktiv. Dann werden die Strafrechtler auf<br />

dem neuen Weg besser vorankommen. Aber natürlich auch<br />

dann auf Igelart: Immer schön langsam.<br />

richtsentscheidung! – Im Übrigen bleibt in diesen Entscheidungen<br />

ohnehin nur die Frage einer direkten oder analogen<br />

Anwendung des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB offen, nicht aber die<br />

mit beiden Anwendungsarten eintretende Rechtsfolge dieser<br />

Vorschrift: „[...] handelt nicht vorsätzlich“.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

809


Bernhard Hardtung<br />

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Anhang<br />

Bild 1: Der traditionelle dreistufige Deliktsaufbau im üblichen Bild<br />

Schuld<br />

Rechtswidrigkeit<br />

Tatbestand<br />

Bild 2: Tatbestand und Rechtswidrigkeit bei Unteilbarkeit des Unrechts<br />

kein strafbares Unrecht<br />

strafbares Unrecht<br />

Alle (obj. und subj.) Rfg-Umstände<br />

Alle (obj. und subj.) Tb-Umstände<br />

Bild 3: Der „rechtstheoretische“ Deliktsaufbau<br />

Tatbestand<br />

Schuld<br />

Rechtswidrigkeit<br />

Bild 4: Der traditionelle „dreistufige“ Deliktsaufbau im richtigen Bild<br />

Schuld<br />

Rechtswidrigkeit<br />

Tatbestand<br />

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810<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Die Obstruktion der Konstruktion<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Bild 5: Der zweistufige Deliktsaufbau<br />

Schuld<br />

Unrecht<br />

Bild 6: Teilung des Unrechts, hier: zwei Rechtsgüter<br />

2. Rechtsgut:<br />

Eigentum<br />

Unrecht<br />

Tatobjekt: fremde Sache<br />

Zustimmung des<br />

Eigentümers<br />

Wegnahme<br />

Zustimmung des Gewahrsamsinhabers<br />

1. Rechtsgut: Gewahrsam<br />

(Besitz)<br />

Bild 7: Teilung des Unrechts, hier: objektives und subjektives Unrecht im Tatbestand<br />

subjektives<br />

Unrecht<br />

Versuch<br />

vorsätzliche<br />

Vollendung<br />

subjektive Tb-Umstände<br />

objektive Tb-Umstände<br />

fahrlässige<br />

Vollendung<br />

objektives Unrecht<br />

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Bernhard Hardtung<br />

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Bild 8: Teilung des Unrechts, hier: objektives und subjektives Unrecht im Tatbestand und in der Rechtswidrigkeit<br />

subjektives<br />

Unrecht<br />

subjektive Tb-Umstände<br />

subj. Rfg-Umstände<br />

Versuch<br />

obj. Rfg-Umstände<br />

objektive Tb-Umstände<br />

vorsätzliche<br />

Vollendung<br />

fahrlässige<br />

Vollendung<br />

objektives Unrecht<br />

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812<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Neue Wege der Vorsatzdogmatik – Eine Auseinandersetzung mit drei neuen Monographien<br />

zum Vorsatzbegriff<br />

Von Wiss. Assistent Dr. Luís Greco, LL.M., München<br />

Zufall oder nicht – in den letzten zwei Jahren erschienen drei<br />

Habilitationsschriften zum Begriff des Vorsatzes. 1 Dabei fällt<br />

auf, dass sie zu dem alten Thema einen neuen Zugang suchen<br />

– sei es durch eine Übertrag der Diskussion in das Völkerstrafrecht<br />

(so Stuckenberg), sei es durch eine im klassischen<br />

Sinne rechtsvergleichende Untersuchung (Safferling) oder<br />

durch einen Anschluss an die Philosophie des Geistes und<br />

der Handlung (Bung) – und dass die Diskussion „klassischer“<br />

Probleme, wie die Unterscheidung von bedingtem<br />

Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit oder die Vorsatzabweichungen,<br />

eine relativ untergeordnete Rolle spielt.<br />

Das ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Erstens wird<br />

durch die monographische Aufarbeitung in der edlen Form<br />

der Habilitationsschrift eine umfassende Diskussion aller<br />

Probleme des Vorsatzbegriffs ermöglicht. Während ein Aufsatz<br />

schon wegen seines beschränkten Umfangs entweder<br />

sektoriell oder abstrakt bleibt, kann allein eine Monographie<br />

und erst Recht eine Habilitation den Anspruch einlösen, den<br />

vielen Facetten einer Problematik in ganz konkreter Weise<br />

gerecht zu werden. Zweitens, und das ist noch wichtiger,<br />

erweitern die von den drei Autoren gewählten neuen Zugänge<br />

zum Vorsatzbegriff die Horizonte einer Diskussion, in der<br />

eine gewisse Ermüdung zu verzeichnen ist, als ob es nichts<br />

Neues mehr zu sagen gäbe. Insofern zeigen die neuen Monographien,<br />

dass die Vorsatzlehre noch nicht fertig geschrieben<br />

ist und liefern ein Beispiel für noch unausgeschöpfte argumentative<br />

Fundgruben, aus denen man langsam anfangen<br />

könnte, sich Einfälle herauszuholen.<br />

Die vorliegende Abhandlung soll die Monographien informativ<br />

zusammenfassen und sich mit einigen der in ihnen<br />

vertretenen Thesen auseinandersetzen.<br />

I. Stuckenbergs Metatheorie des Vorsatzes<br />

1. Die Monographie<br />

Gegenstand der Arbeit von Stuckenberg ist nicht der herkömmliche<br />

strafrechtliche Vorsatzbegriff, sondern der Vorsatz<br />

im Völkerstrafrecht. Er bezeichnet seine beeindruckenden<br />

Überlegungen nur als „Vorstudien“, weil er eine fertig<br />

ausgearbeitete Theorie weder verspricht noch liefert. Ihm<br />

geht es vielmehr darum, eine „Elementarlehre“ bzw. einen<br />

„analytischen Bezugsrahmen“ (S. 1, ferner S. 27 ff.) anzubieten,<br />

um eine fruchtbare Diskussion auf der übernationalen<br />

Ebene zu ermöglichen. Die Arbeit, die sich als ein Beitrag zu<br />

einer „universellen Strafrechtswissenschaft“ (S. 35) versteht,<br />

verarbeitet eine kaum fassbare Fülle von Material (fast<br />

gleichgültig, in welcher Sprache geschrieben wurde!) und<br />

bereichert ihre Reflexionen durch eine ernsthafte Berücksich-<br />

1 Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht,<br />

Versuch einer Elementarlehre für eine übernationale<br />

Vorsatzdogmatik, 2007; Safferling, Vorsatz und Schuld.<br />

Subjektive Täterelemente im deutschen und englischen Strafrecht,<br />

2008; Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht. Zur<br />

Theorie und Dogmatik des subjektiven Tatbestands, 2009.<br />

tigung des Standes der philosophischen und psychologischen<br />

Forschung.<br />

Ausgangspunkt soll dabei weder ein bestimmter Handlungsbegriff<br />

noch eine für richtig gehaltene Straftheorie sein,<br />

sondern eine Beschreibung (S. 36) von in den einzelnen<br />

Rechtsordnungen vorhandenen in ihrer Funktion vergleichbaren<br />

Instituten (S. 37). Stuckenberg begründet diese von ihm<br />

vorgezogene sog. „funktionale Methodik“ in Auseinandersetzung<br />

mit dem Rückgriff auf die Natur der Sache bzw. auf<br />

sachlogische Strukturen (S. 56 ff.), auf die Allgemeinsprache<br />

(S. 64 ff.) oder auf einzelne empirische Wissenschaften<br />

(S. 66 f.). Er nimmt einen nominalistischen Standpunkt ein,<br />

demzufolge Begriffe keine im Voraus feststehenden Essenzen<br />

hätten (S. 38), sondern nach Zweckmäßigkeitsüberlegungen<br />

zu konstruierende Konventionen seien (etwa S. 49 ff.,<br />

56).<br />

Er wendet sich der Referenz des Wortes Vorsatz, d.h. den<br />

mentalen Zuständen, auf die durch den Gebrauch des Wortes<br />

Bezug genommen wird, zu (S. 68 ff.). Dabei wird die Diskussion<br />

sowohl der Philosophie des Geistes (S. 69-103) als auch<br />

der Psychologie (S. 104-150) umfassend registriert. Er behauptet<br />

immer wieder, dass nicht die Psychologie, sondern<br />

nur die Rechtswissenschaft entscheiden könne, in welchem<br />

Maße fremde Erkenntnisse für sie von Bedeutung sind<br />

(S. 109), wobei sie aber die Einsichten dieser Wissenschaften<br />

nicht völlig ignorieren dürfe (S. 117). Als Teilfazit heißt es:<br />

„Den psychologischen Willensbegriff gibt es nicht“ (S. 149),<br />

so dass „die strafrechtlichen Begriffe sich wohl nur noch als<br />

alltagstheoretische Begriffe begreifen lassen“ (S. 150). Dies<br />

lege die Frage nach dem Verhältnis von Alltagstheorien und<br />

wissenschaftlichen Theorien im Strafrecht nahe (S. 151 ff.).<br />

Stuckenberg stellt fest, dass Alltagstheorien die gängige Deutung<br />

der Welt und das Selbstverständnis der handelnden<br />

Subjekte widerspiegeln, so dass jede juristische Theorie, die<br />

sich in der sozialen Praxis bewähren wolle, grundsätzlich von<br />

diesen Theorien auszugehen habe (S. 157 ff.). Dieser Ausgangspunkt<br />

legt es nahe, dass man sich mit Handlungsbegriffen<br />

näher befasst: Zunächst untersucht Stuckenberg die sog.<br />

naiven Verhaltenstheorien der sozialpsychologischen Attributionsforschung<br />

(S. 168 ff.), dann philosophische Handlungsmodelle,<br />

vor allem das sog. desire-belief-Modell (S. 174 ff.),<br />

und an letzter Stelle rechtliche und strafrechtliche Handlungsbegriffe<br />

(S. 190 ff.). Als Ergebnis wird das Primat des<br />

Begriffs der Zurechnung vor dem Begriff der Handlung festgehalten:<br />

Erst nach Vollendung der Zurechnungslehre könne<br />

ein strafrechtlicher Handlungsbegriff konstruiert werden<br />

(S. 207).<br />

Der weitere Verlauf der Arbeit hat eine Klärung der Alltagskonzepte,<br />

die allgemein als Elemente des Vorsatzes gelten,<br />

zum Gegenstand (S. 210 ff.). Zunächst behandelt Stuckenberg<br />

das volitive Vorsatzelement (S. 211 ff.) und kümmert<br />

sich um die unter Strafrechtlern „erstaunlich selten behandelte<br />

Frage“ (S. 220) nach dem Gegenstand der Absicht<br />

(S. 220 ff.). Hier versucht er, die sprachphilosophische Dis-<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

813


Luís Greco<br />

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kussion über den Bezugsgegenstand von Intentionen strafrechtlich<br />

fruchtbar zu machen und kommt zu dem Ergebnis,<br />

dass das Problem anhand einer „pragmatischen Semantik“,<br />

also letztlich ohne genaue Kriterien zu lösen ist (S. 231). Es<br />

wird dann genauer beschrieben, wie sich die Absicht zu Routinehandlungen,<br />

unbewussten Motiven, End- und Nebenzwecken,<br />

direkten und indirekten Folgen und künftigen Umständen<br />

verhält (S. 252 ff.). Der Begriff des Motivs wird knapp<br />

untersucht und Stuckenberg schließt sich der verbreiteten<br />

Kritik an, dass Motive auf Kosten der Bestimmtheit eine<br />

Ethisierung fördern (S. 278).<br />

Anschließend wendet er sich dem kognitiven Vorsatzelement<br />

zu (S. 283 ff.). Unter anderem wird behauptet, dass es<br />

bei dem Wissen nie um volle Gewissheit gehe, so dass man<br />

letztlich immer nur Vorstellungen von Möglichkeiten bzw.<br />

von Gefahren oder Risiken haben könne (S. 291). Stuckenberg<br />

entwirft eine Palette möglicher Gegenstände des Wissens<br />

– von deskriptiven und normativen Merkmalen bis zu<br />

gesamttatbewertenden und Blankettmerkmalen, von Tatsachen<br />

bis zu Wertungen (S. 301 ff.), wobei als Ausgangspunkt<br />

wieder seine bereits beim Willenselement entworfene pragmatische<br />

Semantik ausschlaggebend ist (S. 297). Die negative<br />

Seite des Wissens, also der Irrtum, ist das nächste Thema<br />

(S. 318 ff.) und wieder wird eine Karte von möglichen Fehlerquellen<br />

(S. 321 ff.) und von Objekten einer Fehlvorstellung<br />

(S. 325 ff.) gezeichnet und die zwei gängigsten Irrtumskategorisierungen,<br />

nämlich die in Tat- und Rechtsirrtum oder<br />

in Tatbestands- und Verbotsirrtum, werden dargestellt<br />

(S. 327 ff.). Die Behandlung der Vorsatzabweichungen wird<br />

ebenfalls diskutiert (S. 357 ff., 377 ff.), außerdem die von<br />

Irrtümern auf der Rechtswidrigkeits- und der Entschuldigungsebene<br />

(S. 364 ff., 367 ff.). Interessanterweise untersucht<br />

Stuckenberg auch die in verschiedenen Rechtsordnungen<br />

vorgesehenen Möglichkeiten des Vorsatzbeweises, vom<br />

Geständnis über Indizien zu verschiedenen Vermutungen<br />

(S. 384 ff.) und er stellt fest, dass es häufig Wechselwirkungen<br />

zwischen dem materiell-rechtlichen Vorsatzbegriff und<br />

Beweisanforderungen gibt (S. 401 ff.).<br />

Um die Frage nach der Begründung für die strengere Bestrafung<br />

vorsätzlich begangener Straftaten kreist der nächste<br />

Abschnitt (S. 406 ff.). In Anlehnung an viele deutsche Autoren<br />

behauptet er, dass jede Bestimmung des Vorsatzbegriffs<br />

ohne einen Versuch seiner Rückführung auf die Gründe, die<br />

eine Zurechnung rechtfertigen und letztlich auf die Gründe,<br />

die eine Strafe rechtfertigen, sinnlos bleibe (S. 407). Trotzdem,<br />

stellt er fest, werde diese Frage erstaunlich selten aufgeworfen<br />

(S. 407). Man könnte zunächst meinen, der Vorsatz<br />

sei deshalb strafwürdiger, weil die darin verkörperte intentionale<br />

Handlung den Prototyp der menschlichen vollverantwortlichen<br />

Handlung darstelle (S. 408 ff.). Diese Begründung<br />

sei aber nur für ein vergeltendes und moralisierendes Strafrecht<br />

nachvollziehbar, so dass ein präventives Strafrecht auf<br />

andere Überlegungen angewiesen bleibe (S. 415). Auch die<br />

Annahme, dass derartige Handlungen in erhöhter Weise vermeidbar<br />

seien, sei zweifelhaft, denn fahrlässige Wissensfehler<br />

seien ebenfalls vermeidbar (S. 415 f.). Der erhöhte moralische<br />

Unwert der vorsätzlichen Tat lasse die Frage nach dem<br />

Bezug zum Zweck der Strafe unbeantwortet (S. 416 ff.) und<br />

der Verweis darauf, dass der Vorsatz einen Ungehorsam<br />

gegen das Recht verkörpere, sei nur dann tragfähig, wenn der<br />

Vorsatz als dolus malus begriffen werde (S. 419 f.). Dass die<br />

vorsätzliche Tat eine Herabwürdigung des Opfers impliziere,<br />

treffe entweder nur bei Delikten gegen ein Individualrechtsgut<br />

zu oder – wenn „Opfer“ in einem weiten Sinne verstanden<br />

werde, so dass auch die Rechtsordnung als solche darunter<br />

fallen könne – verlange ebenfalls ein Verständnis des<br />

Vorsatzes als dolus malus (S. 421). Gefährlichkeitsbezogene<br />

Begründungen werden an nächster Stelle überprüft: Gegen<br />

die Annahme, die vorsätzliche Tat sei gefährlicher, wird<br />

angeführt, dies sei erstens eine Frage des Einzelfalls, zweitens<br />

sei fahrlässiges Verhalten viel häufiger und deshalb<br />

quantitativ gefährlicher und drittens habe sich aus der ex post<br />

Sicht, also nach Eintritt des Erfolgs, die Gefahr bei Vorsatz<br />

und Fahrlässigkeit als identisch erwiesen (S. 422 f.). Der<br />

Hinweis auf eine erhöhte Gefährlichkeit des Vorsatztäters<br />

könne nicht alle Vorsatzformen erklären (S. 423 ff., 425) und<br />

das Abstellen auf die Inkompetenz des Fahrlässigkeitstäters<br />

in der Verwaltung eigener Angelegenheiten, der sich durch<br />

unaufmerksames Verhalten der Gefahr einer poena naturalis<br />

aussetze, führe zwar um einiges weiter, treffe aber aus mehreren<br />

Gründen nicht zu (S. 425 ff.). Entscheidend für die höhere<br />

Strafwürdigkeit des Vorsatzes ist nach Stuckenberg vielmehr<br />

die unterschiedliche Symbolik vorsätzlicher und fahrlässiger<br />

Taten: Vorsatz bedeute, dass der Täter die Norm<br />

nicht für entscheidungserheblich halte, drücke also einen<br />

größeren Mangel an Normbefolgungsmotivation aus<br />

(S. 428 ff.). Die Fahrlässigkeit habe keinen derartigen eindeutigen<br />

Sinn des Normwiderspruchs (S. 430). Ein besonderer<br />

Vorzug dieser Ansicht sei deren Unabhängigkeit von der<br />

jeweils vertretenen, im Einzelnen immer problematischen<br />

Straftheorie (S. 430 ff.). An letzter Stelle diskutiert Stuckenberg<br />

seine sog. Teleologie der Irrtumslehre, d.h. die Frage,<br />

welche Kenntnis gegeben sein müsse, um eine Vorsatzstrafe<br />

zu rechtfertigen (S. 440 ff.). Es wird eine breite Palette von<br />

Gründen für und wider einen Vorsatzausschluss bei Tat- und<br />

Rechtsirrtümern (S. 442 ff., 450 ff.) dargestellt und diskutiert,<br />

die etwa die praktischen Beweisprobleme (S. 464 f.) und die<br />

Anforderung der/an die Staatsraison (S. 476 ff.) sowie die<br />

einzelnen Straftheorien selbst (S. 486 ff.) umfasst.<br />

Der Haupttext endet mit grundsätzlichen Überlegungen<br />

zum Verhältnis von System und Sachgründen und mit der<br />

Erklärung, dass vor allem im Völkerstrafrecht die Diskussion<br />

unter Ausklammerung von häufig landesspezifischen systematischen<br />

Einordnungen, also allein nach Sachgründen geführt<br />

werden solle (S. 497 ff.). In einem umfassenden Anhang<br />

bietet Stuckenberg eine reichlich belegte Dogmengeschichte<br />

von Vorsatz und Irrtum, die vom Alten Testament<br />

und vom Koran ausgeht, das Gemeine Recht und die Aufklärung<br />

bis zu den Partikularrechten des 18. und 19. Jahrhunderts<br />

und schließlich das Reichstrafgesetzbuch und das<br />

östStGB von 1974 umfasst (S. 501-604).<br />

2. Kritik<br />

Eine kritische Würdigung der Arbeit Stuckenbergs fällt nicht<br />

leicht. Denn seine Vorstudien wollen weniger einzelne Thesen<br />

zu herkömmlichen in Deutschland diskutierten Proble-<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

814<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Neue Wege der Vorsatzdogmatik<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

men formulieren, als vielmehr eine Art Kartographie der<br />

möglichen Konstruktionen eines Vorsatzbegriffs zeichnen. 2<br />

Gemessen an diesem Zweck ist das Werk zweifelsohne als<br />

ein erfolgreiches Unternehmen zu qualifizieren. 3 Stuckenberg<br />

hat eine kaum zu glaubende Masse an Material verarbeitet<br />

und der künftigen Diskussion in verständlicher und geordneter<br />

Form zur Verfügung gestellt. Zwar mag es schwer fallen,<br />

nach Abschluss einer Lektüre von 600 Seiten die Frage zu<br />

unterdrücken, warum keine ausgearbeitete Theorie des Vorsatzes<br />

angeboten wurde. Dennoch soll die Arbeit dafür gelobt<br />

werden, der Versuchung nicht erlegen zu sein, diese Frage<br />

auf einfache Weise zu meiden, nämlich durch eilige, kaum<br />

mehr als auf Intuitionen gegründete Stellungnahmen. Deshalb<br />

sollen an hiesiger Stelle bloß zwei Thesen aus dem Gesamtwerk<br />

besonders diskutiert werden, eine metatheoretische zur<br />

Methodik der dogmatischen Begriffsbildung im Völkerstrafrecht<br />

und eine materielle zur ratio der Vorsatzbestrafung.<br />

Stuckenbergs Einsatz für eine funktionale Methodik ist sicherlich<br />

nicht zu beanstanden und scheint auch dem Stand<br />

der Forschung im Völkerstrafrecht zu entsprechen. 4 Trotzdem<br />

erscheint es unklar, ob dies zu bedeuten hat, dass für die<br />

völkerstrafrechtliche Begriffsbildung eine andere Methodik<br />

als für die allgemein strafrechtsdogmatische gelten solle. 5<br />

Zwar sind die Rechtsquellen im Völkerstrafrecht andere, aber<br />

dies ist auch für das Verhältnis von Deutschland, Spanien<br />

und Italien der Fall, ohne dass ein internationaler Austausch<br />

von Argumenten unmöglich wird. M.E. dürfte diese an sich<br />

erklärungsbedürftige Tatsache bereits mit der Struktur der<br />

praktischen Argumentation zusammenhängen, nämlich mit<br />

dem Universalitätsanspruch von Gründen: 6 Jedes Argument,<br />

das nicht allein exegetischen Charakter aufweist, d.h. dass<br />

sein Gewicht nicht allein daraus ableitet, dass es die Bedeutung<br />

einer Rechtsquelle erschließt, muss grundsätzlich den<br />

Anspruch erheben, auch an anderen Orten und Zeiten Gewicht<br />

zu haben. Der naheliegende Einwand, es gebe so etwas<br />

wie einen nationalen Stil – etwa argumentiere man in<br />

Deutschland häufig aus dem dogmatischen System (z.B.:<br />

„Der Vorsatz ist Teil des Unrechts, also kann er das Unrechtsbewusstsein<br />

nicht voraussetzen“) oder mit Verweis auf<br />

eine bestimmte philosophische Richtung, während in Frankreich<br />

der Gesetzeswortlaut und die Sprüche der Cassation<br />

eine prominente Rolle spielen – trifft zwar als Beschreibung<br />

der dogmatischen Tätigkeit in einigen Länder zu, widerlegt<br />

aber nicht das Behauptete. Denn systematische Argumente<br />

sind bei einem richtig, d.h. nach Sachgesichtspunkten, aufgebauten<br />

System nichts anderes als Abkürzungen für Sachargumente<br />

7 („der Vorsatz ist Teil des Unrechts“ = „der Vorsatz<br />

2 Dem nahestehend die Besprechung von Schroeder, ZStW<br />

120 (2008), 619 (622).<br />

3 Ähnlich die Besprechung von Ambos, JZ 2008, 683 (684).<br />

4 Vgl. nur Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts,<br />

2. Aufl. 2004, S. 44 f. m.w.N.<br />

5 In diesem Sinne wird Stuckenberg wohl von Ambos, JZ<br />

2008, 684 verstanden.<br />

6 Etwa Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983,<br />

S. 234 f.<br />

7 Bereits Schünemann/Greco, GA 2007, 777 (791 f.).<br />

weist einen Bezug zur Sozialschädlichkeit der Tat oder bzw.<br />

zu dem, was man für den materiellen Gehalt des Unrechts<br />

hält, auf, und nicht etwa zur persönlichen Vorwerfbarkeit des<br />

Täters“); Argumente, die einer philosophischen Richtung<br />

verpflichtet sind, sind entweder Verschönerungen allgemeiner<br />

Sachargumente oder letztlich schlechte Argumente ab<br />

auctoritate; und exegetische Argumente sind entweder Wiederholungen<br />

der Machtsprüche und insofern keine Argumente<br />

oder eigenständige Fortbildungen, die dann auf zusätzliche<br />

Argumente angewiesen sind. Im Ergebnis sollte Völkerstrafrechtsdogmatik<br />

nicht anders betrieben werden als die interne,<br />

wenn diese so betrieben würde, wie sie betrieben werden<br />

sollte.<br />

Zu der Frage nach der ratio der Vorsatzbestrafung nimmt<br />

Stuckenberg, wie gesehen, ausführlich Stellung. Die Vorsatztat<br />

symbolisiere mangelnde Normbefolgungsbereitschaft. Das<br />

leuchtet aus zwei Gründen aber nicht ein. Erstens bemängelte<br />

Stuckenberg selbst bei der Ansicht, die den Vorsatz als Ausdruck<br />

des Ungehorsams begriff, dass sie nur einen als dolus<br />

malus verstandenen Vorsatz erklären könne. Sein Vorschlag,<br />

dessen Nähe zur Ungehorsamslehre von ihm nicht übersehen<br />

wird, 8 ist für denselben Einwand anfällig. Fehlende Normbefolgungsbereitschaft<br />

kann prototypisch nur derjenige manifestieren,<br />

der die Norm kennt. Kein Wunder, dass andere<br />

Autoren, die die kommunikative Dimension der Straftat in<br />

den Vordergrund rücken und somit eine ähnliche Ansicht<br />

vertreten, zum dolus malus zurückkehren wollen. 9 Zweitens<br />

und wichtiger – denn auf den ersten Einwand könnte Stuckenberg<br />

immer noch replizieren, Vorsatz müsse eben das<br />

Unrechtsbewusstsein umfassen – hat der Rückgriff auf das<br />

Symbolische ein allgemeines Problem, das auch von Stuckenberg<br />

nicht gelöst wird. Denn dadurch werden die nicht<br />

allein symbolischen Dimensionen der Straftat und der Strafe<br />

zu Sekundärerscheinungen erklärt, was nur schwer einleuchtet.<br />

Eine ausführliche Kritik an dem Ansatz würde den hiesigen<br />

Rahmen sprengen, 10 weshalb hier nur behauptet werden<br />

8 Siehe S. 433 Fn. 2337, wo Bindings Ungehorsamslehre<br />

zustimmend zitiert wird.<br />

9 Jakobs, in: Rogall u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Joachim<br />

Rudolphi zum 70. Geburtstag, 2004, S. 107 (110); Pawlik, in:<br />

Pawlik u.a. (Hrsg.),Festschrift für Günther Jakobs zum 70.<br />

Geburtstag, 2007, S. 468 ff. (488 f.); am ausführlichsten<br />

Heuchemer, Der Erlaubnistatbestandsirrtum, 2005, S. 292.<br />

10 Greco, GA 2009, 642 f. Ausführlich vor allem Schünemann,<br />

in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale<br />

Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte,<br />

1995, S. 49 (50 f.); ders., GA 1995, 201 (217<br />

ff.); ders., in: Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus<br />

Roxin zum 70. Geburtstag, 2001, S. 1 ff. (13 ff.); ferner Puppe,<br />

in: Samson u.a. (Hrsg.), Festschrift für Gerald Grünwald<br />

zum 70. Geburtstag, 1999, S. 469 ff.; Hörnle, in: Hefendehl<br />

(Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer<br />

Impetus, 2005, S. 105 (106 f.); Sacher, ZStW 118<br />

(2006), S. 574 ff.; Stratenwerth, in: Pawlik u.a. (Fn. 9),<br />

S. 663 ff.; H. Schneider, Kann die Einübung in Normanerkennung<br />

die Strafrechtsdogmatik leiten? Eine Kritik des<br />

strafrechtlichen Funktionalismus, 2004, S. 84 ff., 143 ff.<br />

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815


Luís Greco<br />

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soll, dass, wenn die Symbolik tatsächlich das Entscheidende<br />

wäre, es keinen Unterschied zwischen einer wirklich begangenen<br />

und einer nur vorgetäuschten Straftat gäbe, und umgekehrt<br />

wäre eine heimliche Straftat, von der niemand erfährt<br />

und die deshalb nichts symbolisieren kann, eigentlich keine<br />

Straftat.<br />

II. Safferling über Vorsatz und Schuld in Deutschland<br />

und England<br />

1. Die Monographie<br />

Safferling verfährt streng rechtsvergleichend. Gegenstand<br />

seiner Überlegungen ist nicht nur der Vorsatz, sondern auch<br />

die „Schuld“ – also die Gesamtheit der Fragestellungen, die<br />

man üblicherweise mit dem Begriff des „Subjektiven“ umschreibt,<br />

vom Vorsatz bis zur Fahrlässigkeit, vom Tatbestands-<br />

über den Erlaubnistatbestands-, zum Verbotsirrtum,<br />

sowie die Schuldfähigkeit und die actio libera in causa. Safferling<br />

versucht, den Stand dieser Fragen im deutschen und<br />

im englischen Recht zunächst kursorisch darzustellen und die<br />

Ansichten zu diesen Fragen am Ende des Buches miteinander<br />

zu vergleichen. Die Arbeit bekennt sich zur Bescheidenheit:<br />

Sie sei „in dem Bewusstsein geschrieben, dass eine Antwort<br />

auf die Frage, was Schuld sei, auch ihr nicht gelingen wird“<br />

(S. 1).<br />

Im 1. Teil wird das deutsche Strafrecht behandelt. Safferling<br />

holt weit aus: Er fängt nicht erst beim Vorsatz an, sondern<br />

bei den Grundlagen der strafrechtlichen Systembildung<br />

und nicht etwa erst in der Nachkriegszeit, sondern bei Hegel<br />

(S. 7 ff., 11 ff.), den Hegelianern (S. 24 f.) 11 , Binding, Merkel<br />

und Jhering (S. 25, 26, 27 ff.) – also bei der unmittelbaren<br />

Vorgeschichte unseres dreistufigen Verbrechenssystems. Es<br />

erfolgt eine Darstellung der verschiedenen Phasen der Entwicklung<br />

der Verbrechenslehre, vom klassischen System des<br />

Naturalismus (S.29 ff.) zu den heutigen funktionalen Konzepten<br />

(S. 89 ff., 98 ff.). Safferling interessiert sich insbesondere<br />

für die Gestalt, die die subjektive Verbrechensseite nach<br />

jedem dieser Ansätze bekommt.<br />

Nach diesem geschichtlichen Überblick fährt er mit bestimmten<br />

Merkmalen des Verbrechens fort. Zunächst wendet<br />

er sich dem Handlungsbegriff zu, der als „schlanker Handlungsbegriff“<br />

im Sinne eines „willensgetragenen Verhaltens“<br />

verstanden wird (S. 113 ff., 117), an zweiter Stelle behandelt<br />

er den Vorsatz (S. 118 ff.). Dabei untersucht er die objektiven<br />

Strafbarkeitsbedingungen (S. 120 ff.). Diese seien in der Tat<br />

als Unrechtselemente zu verstehen, so dass dem erhöhten<br />

Legitimationsbedarf vor dem letztlich verfassungsrechtlich<br />

fundierten Schuldprinzip nicht ausgewichen werden könne<br />

(S. 123). Sie seien deshalb nur unter der doppelten Voraussetzung<br />

eines extrem hohen Risikos und der Verantwortlichkeit<br />

für diese Risikosituation als Ausnahmen vom Schuldprinzip<br />

legitimierbar (S. 125). Dies sei bei § 231 StGB<br />

11 Wobei anzumerken ist, dass dies einen Anachronismus<br />

darstellt: Hegel wird hier auf 13 Seiten behandelt (S. 11-23),<br />

ihm wird also mehr Relevanz zugeschrieben als den Hegelianern<br />

(S. 24 f.) oder Binding (S. 25 f.), was nur aus der Perspektive<br />

einiger heutiger Autoren sinnvoll erscheint.<br />

grundsätzlich zu bejahen, bei § 323a StGB dagegen nur,<br />

wenn die Begehung der Rauschtat vorhersehbar ist (S. 125).<br />

Er fährt mit der Wissenskomponente des Vorsatzes fort<br />

(S. 125 ff.). Der Gedanke der Parallelwertung in der Laiensphäre<br />

wird abgelehnt, weil er die eigentliche Frage, ob zum<br />

Vorsatz die Vornahme einer Wertung gehöre, verschleiere<br />

(S. 132). Dieser Frage wendet sich Safferling dann ab S. 132<br />

mit dem Ergebnis zu, dass aus der Trennung von Schuld und<br />

Vorsatz die Irrelevanz von rechtlichen Wertungen für den<br />

Vorsatz folge (S. 135). Alle Rechtsirrtümer – auch Irrtümer<br />

über die „Fremdheit“ der Sache i.S.v. § 242 StGB (S. 145,<br />

147 f.) – seien vorsatzirrelevant und nach dem flexiblen Modell<br />

von § 17 StGB zu behandeln (S. 136). Das heiße aber<br />

nicht, dass die Bedeutungskenntnis für den Vorsatz nicht<br />

erforderlich sei: Den sozialen Sinngehalt der Merkmale müsse<br />

der Täter schon verstehen, ihren rechtlichen Sinngehalt<br />

aber nicht (S. 140 ff.: „Schichtenmodell“). Nach der Parallelwertung<br />

werden auch der Begriff des Subsumtionsirrtums<br />

(S. 138) und die Unterscheidung von deskriptiven und normativen<br />

Tatbestandsmerkmalen abgelehnt (S. 139). Letztere<br />

sei ein „Relikt aus naturalistischem Denken“ (S. 139). Safferlings<br />

Modell führe schon nach seiner eigenen Einschätzung<br />

zu einer „Erhöhung der Rechtskenntnispflicht der Bürger“<br />

(S. 149). Zum Tatbestand gehörten somit keine rechtlichen<br />

Wertungen (S. 153).<br />

An nächster Stelle behandelt Safferling den Bezug des<br />

Vorsatzes zu dem Erfolg und dessen Zurechnung (S. 154 ff.).<br />

Dass die Wesentlichkeit von Kausalabweichungen eine Frage<br />

objektiver Zurechnung sei, gelte als „gesichert“ (S. 156).<br />

Nach der Behandlung der Problematik des dolus generalis<br />

und des vorzeitigen Erfolgseintritts, die seiner Ansicht nach<br />

durch die allgemeinen Zurechnungsgrundsätze zu lösen seien<br />

(S. 157 ff.), wendet er sich dem error in persona und der<br />

aberratio ictus zu. Von einer vorsatzausschließenden aberratio<br />

ictus solle man nur dann reden, wenn die sich im Erfolg<br />

verwirklichende Gefahr vom Täter nicht erkannt wurde<br />

(S. 165 f.). Die Rechtswidrigkeit sei – entgegen der Lehre<br />

von den negativen Tatbestandsmerkmalen, meint Safferling –<br />

kein Gegenstand des Vorsatzes (S. 169 f.).<br />

Der Willenskomponente des Vorsatzes widmet sich Safferling<br />

als Nächstes (S. 170 ff.). Er glaubt, auf ein Willenselement<br />

nicht verzichten zu können, verlangt aber bei dessen<br />

Feststellung die Berücksichtigung einer Vielzahl von Umständen<br />

(S. 175). Es wird folgende Vorsatzdefinition angeboten<br />

Vorsatzdefinition: Vorsätzlich handle „derjenige, der die<br />

Umstände der Tat, das Risiko seines Verhaltens erkennt und<br />

sich dennoch für sein Handeln entscheidet“ (S. 178). Die drei<br />

Vorsatzformen werden besprochen und der andauernde Streit<br />

über den bedingten Vorsatz wird als „zutiefst bedauerlich und<br />

nachgerade verstörend“ bezeichnet und mit einem „Vabanque-Spiel“<br />

verglichen (S. 183). Für Safferling liegt bedingter<br />

Vorsatz vor, wenn der Täter das Risiko erkennt und trotzdem<br />

handelt (S. 184). Dieses „Trotzdem Handeln“ sei im Wege<br />

einer Gesamtschau zu ermitteln (S. 185), und für die heißt es:<br />

„Eine eindeutige Erkenntnismöglichkeit […] gibt es nicht<br />

und kann es nicht geben“ (S. 186).<br />

Nach einer kurzen Behandlung des Fahrlässigkeitsbegriffs<br />

(S. 191 ff.) fährt Safferling mit den subjektiven Elementen<br />

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816<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Neue Wege der Vorsatzdogmatik<br />

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auf der Ebene der Rechtswidrigkeit fort (S. 199 ff.). Ein solches<br />

subjektives Rechtfertigungselement müsse zur Kompensation<br />

des subjektiven Handlungsunwertes des Vorsatzes<br />

verlangt werden (S. 201), und genauso wie ein bedingter<br />

Vorsatz zur Begründung dieses Unwertes ausreiche, genüge<br />

ein „bedingter Rechtfertigungswille“ zu dessen Ausschluss<br />

(S. 202 f.). Dementsprechend verlange die Rechtfertigung<br />

fahrlässigen Verhaltens kein subjektives Rechtfertigungselement<br />

(S. 204). Das Problem des Erlaubnistatbestandsirrtums<br />

wird auf knapp vier Seiten gelöst (S. 205-208), und dies im<br />

Sinne des Vorsatzausschlusses, wobei trotz Ablehnung der<br />

rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie<br />

(S. 208 oben) behauptet wird, dass der Handlungsunwert der<br />

Tat teilnahmefähig bleibe, weil der Vorsatz des Täters zwar<br />

kompensiert, aber nicht eliminiert werde, eine Konsequenz,<br />

die bei einem dreistufigen System sogar „zwingend“ sei<br />

(S. 208). Das Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements<br />

führe dagegen zur Versuchsbestrafung (S. 209).<br />

Bei der Schuld wiederholt Safferling die überwiegende<br />

Meinung zum Verbotsirrtum (S. 213 ff.) und dessen Vermeidbarkeit<br />

(S. 226 ff.) und bzgl. des sog. bedingten Unrechtsbewusstseins<br />

plädiert er für eine Behandlung im Rahmen<br />

des § 17 StGB (S. 218 ff., 221). Das Problem, wie das<br />

Vermeidbarkeitsurteil beim Verbotsirrtum das Vorverhalten<br />

einbeziehen kann, ohne ein Bekenntnis zur Charakterschuld<br />

zu implizieren, wird dadurch gelöst, dass das Bewusstsein<br />

verlangt wird, einer Erkundigungspflicht nicht nachgekommen<br />

zu sein (S. 234). Er meint, die Tatschuld umfasse auch<br />

das Vorverhalten (S. 235), ein Gedanke, durch welchen er<br />

sich auch eine Erklärung der actio libera in causa verspricht<br />

(S. 245 f.). Nach einigen Bemerkungen zur Schuldfähigkeit<br />

(S. 235 ff.), behandelt er § 35 StGB (S. 249 ff.), den er generalpräventiv<br />

deutet (S. 250), und an letzter Stelle besondere<br />

Probleme im Grenzbereich der Entschuldigung (S. 254 ff.).<br />

Im 3. Teil geht es um die Schuld im englischen Recht.<br />

Allgemein betrachtet Safferling sich jetzt eher als Beobachter<br />

einer Diskussion als ein Beteiligter, denn selten nimmt er zu<br />

einem Streit Stellung, er äußert höchstens Kritik. Weil die<br />

vorliegende Zusammenfassung nicht so groß werden soll wie<br />

das Buch selbst, wird man nicht jede von Safferling angesprochene<br />

Frage erwähnen können. Zwar liegt ein Hauptverdienst<br />

des Buches wohl in dieser für den deutschen Leser<br />

zugeschnittenen Darstellung des englischen Rechts, aber<br />

gerade weil in diesem Abschnitt mehr berichtet als argumentiert<br />

wird, muss sich eine Besprechung kürzer fassen. Interessant<br />

ist zunächst die Behauptung, dass es eine systematisierende<br />

Strafrechtswissenschaft in England nicht gebe (S. 271),<br />

was zum einen auch mit der einzelfallbezogenen richterrechtlichen<br />

Tradition des Common Law, zum anderen mit der<br />

Institution des Geschworenengerichts in Verbindung gebracht<br />

wird (S. 286 ff.). Safferling berichtet sogar von manchen<br />

willkürlichen Unterscheidungen, wie die Bestimmung der<br />

strafbarkeitsausschließenden insanity durch den Begriff des<br />

disease of the mind, der wiederum nur dann angenommen<br />

wird, wenn der Umstand auf interne und nicht auf externe<br />

Umstände zurückgeführt werden kann (S. 309). Die Unterscheidung<br />

führt dazu, dass der Diabetiker, der deshalb die<br />

Kontrolle verliert und jemanden niederschlägt, weil er es<br />

vergisst, sich die notwendige Dosis Insulin zu injizieren,<br />

wegen disease of the mind bzw. insanity freigesprochen wird,<br />

denn die Ursache seines Kontrollverlusts war der interne<br />

Umstand der Krankheit, während der Diabetiker, der deshalb<br />

außer Kontrolle gerät, weil er sich zu viel Insulin einspritzt,<br />

bestraft wird, denn die Straftat beruhe jetzt auf einem externen<br />

Umstand, nämlich dem Insulin (S. 309 f.). Auffällig ist<br />

auch, dass es in England neben der Verantwortlichkeit für ein<br />

Verhalten, nämlich für eine Handlung oder Unterlassung,<br />

eine Zustandsverantwortlichkeit in Form der sog. Status- und<br />

Besitzdelikte gibt (S. 333 ff.) und dass zusätzlich zu der intention<br />

und der negligence die recklessness (S. 360 ff.) und<br />

eine Haftung ohne subjektiven Bezug existiert, nämlich die<br />

sog. strict liability (S. 372 ff.). Diese Rechtsfigur wird von<br />

Safferling mit Argumenten kritisiert (S. 377), auf die unten<br />

zurückzukommen ist. Es erstaunt auch, dass die Maxime<br />

ignorantia iuris nocet in England immer noch gilt (S. 386 ff.).<br />

Ein Erlaubnistatbestandsirrtum gebe es in England eigentlich<br />

nicht, denn entscheidend seien dort nicht die objektiven Voraussetzungen<br />

des Rechtfertigungsgrundes, sondern wie sich<br />

der Täter die Lage vorstellt (S. 401 ff.). Das voluntative<br />

Schuldelement der Steuerungsfähigkeit ist im englischen<br />

Strafrecht noch unentdeckt (S. 445), was von Safferling sogar<br />

eine tiefere Deutung erfährt, nämlich als Ausprägung eines<br />

individualistischen, auf Selbstbeherrschung abstellenden<br />

Menschenbildes, das davon ausgeht, bei Kenntnis des Unrechts<br />

könne sich der Täter automatisch selbst beherrschen<br />

(S. 450). Komischerweise ist die Steuerungsfähigkeit aber bei<br />

der sog. diminished responsability, die aus einem Mord einen<br />

Totschlag macht, sonst aber keine Bedeutung hat, relevant<br />

(S. 451 f.).<br />

Die durch die vergleichende Gegenüberstellung der zwei<br />

Regelungssysteme ermöglichte Gesamtbewertung des englischen<br />

Systems ist hart und verdient wörtliche Zitierung: „Das<br />

utilitaristische englische System erweist sich dabei insgesamt<br />

als sehr viel repressiver und punitiver, während das kategoriale<br />

deutsche System deutlich ‚kompromissbereiter’, jedenfalls<br />

darauf bedacht ist, dem Individuum in seiner Gesamtheit<br />

gerecht zu werden (Schuldprinzip)“ (S. 482).<br />

2. Kritik<br />

Das Buch von Safferling erfüllt in Zeiten, wo gefragt wird, ob<br />

die Dogmatik deutschen Stils eine Zukunft in Europa hat,<br />

eine wichtige Besinnungsrolle. 12 Es führt nicht bloß abstrakt<br />

und pauschal, sondern anhand gewisser Einzelfragen anschaulich<br />

vor Augen, wie sehr Systematisierung und wissenschaftliche<br />

Durchdringung Gewähr für eine gut begründete<br />

und insofern nicht willkürliche Rechtsanwendung bieten. Die<br />

Kritik am englischen Recht ist mutig und es ist zu loben, dass<br />

Safferling nicht den Verführungen der political correctness<br />

erlegen ist.<br />

12 Zweifelnd etwa Tiedemann, in: Eser u.a. (Hrsg.), Festschrift<br />

für Theodor Lenckner zum 70. Geburtstag, 1998,<br />

S. 411 ff.; Vogel, GA 1998, 127 ff., 146 ff.; dagegen zu Recht<br />

Schünemann (Fn. 10), S. 8 ff.; Silva Sánchez, GA 2004,<br />

679 ff.<br />

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Luís Greco<br />

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Auf der anderen Seite bringt der sich in die Breite ziehende<br />

rechtsvergleichende Ansatz gewisse unvermeidbare Kosten<br />

mit sich, nämlich dass Safferling sich letztlich mit zu<br />

vielen Themen befassen musste. 13 Dies hat zwei Probleme<br />

zur Folge: Zum einen werden die abgelehnten Meinungen<br />

nicht selten mit kaum mehr als schlagwortartigen Behauptungen<br />

kritisiert, zum anderen bleiben viele der gelegentlich<br />

durchaus interessanten Einfälle Safferlings mindestens stark<br />

ausbaubedürftig.<br />

Einige Beispiele für das erste Problem seien angeführt.<br />

Gegen die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen<br />

wird eingewandt: „Die Unterscheidung zwischen verboten<br />

und erlaubt, zwischen Regel und Ausnahme, ist zu fundamental,<br />

als dass sie durch einen konstruktiven Kniff eingeebnet<br />

werden könnte“ (S. 170). Die Bejahung des Vorsatzes bei<br />

der Konstellation der Tatsachenblindheit wird mit folgender<br />

Begründung abgelehnt: „Damit wäre de facto ein rein objektiver<br />

Unrechtsbegriff eingeführt, was mir aus generalpräventiven<br />

Erwägungen vor allem wegen fehlender Akzeptanzchancen<br />

als ein Irrweg erscheint“ (S. 190). Der individualisierende<br />

Fahrlässigkeitsbegriff „führt meines Erachtens zu<br />

einer zu starken Subjektivierung des Unrechtsbegriffs“<br />

(S. 193); die Erweiterung des Unrechtsbewusstseins zum<br />

Strafbarkeitsbewusstsein „scheint aber zu einer zu weit gehenden<br />

Einengung der Schuld zu führen“ (S. 216). Sogar die<br />

Kritik am englischen Recht wirkt dadurch gelegentlich geschwächt,<br />

etwa wenn die strict liability deshalb zurückgewiesen<br />

wird, weil sie „sicherlich das Ende des traditionellen<br />

Schuldstrafrechts“ bedeute: „Eine reine Erfolgshaftung entspricht<br />

nicht dem modernen Strafrecht“ (S. 377), ein derartig<br />

umfassender strafrechtlicher Rechtsgüterschutz „macht vor<br />

dem Hintergrund der Strafzwecke wenig Sinn“ (S. 377).<br />

Auch im dogmengeschichtlichen Teil findet man Ähnliches:<br />

So soll die Ablösung des Hegelianismus und seiner „Verabsolutierung<br />

des Staates“ durch den Liberalismus einen Zusammenhang<br />

mit der Wende vom Tat- zum Täterstrafrecht<br />

haben (S. 29 f.).<br />

Auch viele der von Safferling vertretenen Lösungen dürften<br />

zweifelhaft oder ausbaubedürftig sein. So sollen alle<br />

rechtlichen Wertungen aus dem Vorsatzbereich generell<br />

ausgeschieden werden (S. 135 ff.). Dies leuchtet nicht ein,<br />

sobald man bedenkt, dass rechtliche Wertungen teilweise<br />

anderen Tatsachen gleich stehen oder sogar Tatsachen sind,<br />

nämlich institutionelle Tatsachen. 14 Bloß der Verweis darauf,<br />

dass sie rechtliche Wertungen sind, reicht als Argument für<br />

eine strengere Behandlung des diese Merkmale nicht kennenden<br />

Täters nicht aus. 15 Ein anderer zweifelhafter Vorschlag<br />

ist, dass bereits ein bedingter Rechtfertigungswille, m.a.W.<br />

13 So auch die Rezension von Roxin, JZ 2008, 988: Die Arbeit<br />

könne „nicht mehr bieten als einen wissenschaftlich<br />

anspruchsvollen Grundriss“.<br />

14 So überzeugend Puppe, zuletzt in : Putzke u.a. (Hrsg.),<br />

Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum 70. Geburtstag,<br />

2008, S. 275 ff. (S. 277). Zur Problematik ausführlich Roxin,<br />

in: Sieber u.a. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Tiedemann zum<br />

70. Geburtstag, 2008, S. 375 ff.<br />

15 Krit. auch Roxin, JZ 2008, 988.<br />

eine Vorstellung des möglichen Vorliegens der objektiven<br />

Elemente eines Rechtfertigungsgrundes als subjektives<br />

Rechtfertigungselement ausreichen solle (S. 202). Dieses<br />

Kriterium ist aber eigentlich ambivalent: Die Vorstellung, es<br />

sei möglich, dass die objektiven Voraussetzungen eines<br />

Rechtfertigungsgrundes gegeben sind, kann auch beschrieben<br />

werden als die Vorstellung der Möglichkeit des Nichtgegebenseins<br />

dieser Voraussetzungen. Nur die Vorstellung des<br />

sicheren Nichtvorliegens eines Rechtfertigungsgrundes käme<br />

als subjektives Rechtfertigungselement nicht mehr in Betracht.<br />

Somit befände sich jeder über das objektive Vorliegen<br />

eines Rechtfertigungsgrundes zweifelnde Täter in einem<br />

Erlaubnistatbestandsirrtum, was nicht richtig sein kann. 16<br />

Auch die Lösung aller Fälle des sog. bedingten Unrechtsbewusstseins<br />

unter Rückgriff auf § 17 StGB (S. 221) legt die<br />

Frage nahe, ob den Besonderheiten dieser kaum erforschten<br />

Problematik hinreichend Rechnung getragen wird. 17<br />

III. Die „kognitive Willenstheorie“ Bungs<br />

1. Die Monographie<br />

Bung beginnt seine Habilitationsschrift über „Wissen und<br />

Wollen im Strafrecht“ mit einer Kampferklärung gegen die<br />

objektive Zurechnungslehre. Die von ihr betriebene Schwerpunktverlagerung<br />

vom Subjektiven ins Objektive sei etwas,<br />

das rückgängig gemacht werden sollte. Die objektive Zurechnung<br />

mache die Sorgfaltspflichtverletzung zum Kern des<br />

Unrechts, was Hand in Hand mit einer Tendenz zu Vorverlagerungen<br />

gehe (S. 1 f.). Erkläre man dagegen den Vorsatz<br />

zum „Dreh- und Angelpunkt des strafrechtlichen Systems“<br />

(S. V), berge das ein „Potential zu einer Reliberalisierung“<br />

des Strafrechts (S. 2). Als Beispiel nennt Bung die Entscheidung<br />

des BGH im Fall Kanther/Weyrauch, in dem der Vorsatz<br />

benutzt wurde, um die durch die Figur der schadensgleichen<br />

Vermögensgefährdung ermöglichte Strafbarkeitsausweitung<br />

rückgängig zu machen (S. 2).<br />

Bung befasst sich mit vielen für eine strafrechtsdogmatische<br />

Arbeit zum Vorsatz untypischen Fragen. Zunächst geht<br />

es ihm um die Folgen der neueren von der Neurowissenschaft<br />

propagierten Revision des Menschenbildes für das Strafrecht<br />

im Allgemeinen (S. 5 ff.). Er bestreitet die humanisierende<br />

Tendenz dieser Ansätze, erblickt in ihnen vielmehr „das<br />

Prinzip der Polizei“ (S. 14) und bemüht ein transzendentales<br />

Argument, nämlich das, wonach eine solche Diskussion nicht<br />

bloß das Strafrecht, sondern sogar sich selbst in Frage stellt:<br />

Diskutieren impliziere die Übernahme von Verantwortung,<br />

deshalb könne man keine Diskussion führen, um abzulehnen,<br />

dass es so etwas wie Verantwortung gebe (S. 17, 30). Bung<br />

stellt sich dann die Frage, ob die Unterteilung in objektiven<br />

und subjektiven Tatbestand nicht das Pendant einer überholten<br />

Sicht des Geistigen, die das Mentale als eine Substanz<br />

oder Seele begreift, darstelle (S. 60). Er behandelt das sog.<br />

Problem der mentalen Verursachung, also die Frage, wie<br />

etwas Nichtphysisches Physisches bewirken könne, wenn die<br />

16 Zum Problem Schünemann/Greco, GA 2007, 784.<br />

17 Vgl. die differenzierteren Überlegungen von Roxin, Strafrecht,<br />

Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 21 Rn. 29 ff.<br />

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<strong>ZIS</strong> 13/2009


Neue Wege der Vorsatzdogmatik<br />

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physische Welt geschlossen sei (S. 68, 69). Eine Lösung<br />

erblickt Bung im Rückgriff auf Davidsons Gedanken, nach<br />

dem es auch Kausalbeziehungen ohne Naturgesetze gebe, den<br />

sog. anomalen Monismus (S. 80). Da dies nicht mehr als eine<br />

Anwendung der condicio-Formel bedeute, sieht Bung in dem<br />

Beitrag dieser Formel zur Lösung des Problems der mentalen<br />

Verursachung eine Vindikation dieser von der Literatur<br />

überwiegend kritisierten dogmatischen Figur (S. 80, 82 ff.).<br />

Die in der Einleitung angekündigte Kritik an der objektiven<br />

Zurechnung wird ab S. 99 vertieft. Diese Lehre verkörpere<br />

eine „Tendenz der Externalisierung und Normativierung<br />

der Verantwortungszuschreibung“ (S. 107) bzw. eine „Entprivilegierung<br />

des Subjekts“ (S. 108) und sei dogmatisch<br />

entbehrlich (S. 105). Das Gegenmodell, das den Schwerpunkt<br />

auf das Subjektive hin verlagert, wird gegen den naheliegenden<br />

Einwand des Gesinnungsstrafrechts bzw. der Illiberalität<br />

mit dem Argument in Schutz genommen, es sei liberaler, das<br />

von der Person Gewollte für maßgeblich zu halten, als das,<br />

was sie hätte wollen müssen (S. 112 f., auch S. 120 f.). Vor<br />

allem auch aus diesem Grund bestehe bei einer Subjektivierung<br />

ebenfalls keine Gefahr der Ausdehnung des Strafrechts<br />

auf das Vorfeld (S. 117 ff.).<br />

Bung kümmert sich dann um die philosophisch umstrittene<br />

These des sog. privilegierten Zugangs zu eigenen geistigen<br />

Zuständen (S. 121 ff.) – konkret also um die Frage, ob die<br />

Behauptung „ich habe Kopfschmerzen“ ceteris paribus besser<br />

begründet ist als der Satz „er hat Kopfschmerzen“ (mein<br />

eigenes Beispiel, L.G.) – und kommt zu dem Ergebnis, an<br />

einer solchen Autorität der ersten Person bezüglich eigener<br />

mentaler Zustände sei nicht zu zweifeln (S. 127), woraus<br />

gleichzeitig die Erforderlichkeit der Berücksichtigung des<br />

Wissens und des Wollens bei der Deutung eines Verhaltens<br />

folge (S. 127 ff.). Er knüpft an Davidsons Handlungstheorie<br />

an, die davon ausgeht, man könne ein Verhalten nur als solches<br />

verstehen, wenn man ihm diese Struktur des Wissens<br />

und Wollens zuschreibt (S. 128 ff.). Dieses Konzept der<br />

Handlung wird anhand des praktischen Syllogismus in Auseinandersetzung<br />

mit den Philosophen Anscombe und v.<br />

Wright näher verdeutlicht (S. 136 ff., 140 ff., 144 ff., 163 ff.).<br />

Dieser Syllogismus habe immer als Prämissen zumindest<br />

einen Wunsch, also eine volitive Prämisse („A beabsichtigt<br />

Y“), und eine Vorstellung über die Welt („A glaubt, X sei der<br />

Fall“), die beide die Handlung As als die eines Vernünftigen<br />

deutbar machen (S. 163 ff.). Wichtig sei dabei vor allem, dass<br />

„der praktische Syllogismus keine ontologische Struktur<br />

repräsentiert, sondern Ausdruck einer Deutung“ sei (S. 165):<br />

Wissen und Wollen werden demnach nicht als mentale Substanzen<br />

begriffen, sondern als Zuschreibungen des Beobachters,<br />

der das Verhalten zu interpretieren sucht. Darin liege das<br />

„Wesen des Vorsatzes“ (S. 166 f.): „Wer eine Handlung<br />

verstehen möchte, muss unterstellen, dass der Handelnde<br />

rational ist: Dass er richtige Mittel zur Verwirklichung eines<br />

bestimmten Wunsches gewählt hat und dass er das Mittel<br />

ohne das Entgegenstehen eines stärkeren Wunsches nicht<br />

zum Einsatz gebracht hätte“ (S. 166 f.). „Das Wesen des<br />

Vorsatzes liegt in der Entscheidung für die Handlung“<br />

(S. 168). Diese Struktur passe auch auf den bedingten Vorsatz:<br />

Dieser liege nämlich vor, wenn man lieber wolle, dass<br />

der eigene Plan gelinge und dabei gewisse schwere Folgen<br />

eintreten, als vom Ganzen abzusehen (S. 172, 184). Beim<br />

bedingten Vorsatz gehe es also um ein „komparatives Wollen“<br />

(S. 184, ferner 208, 269). Bung setzt sich mit Schmidhäuser,<br />

Kindhäuser, Puppe und Jakobs auseinander<br />

(S. 171 ff., 179 ff., 185 ff., 193 ff.), womit auch der Gehalt<br />

seiner Gedanken um vieles klarer wird. Hier wird der Leser<br />

an mehreren Punkten überrascht, und dies aus Gründen, die<br />

zur Vermeidung von Wiederholungen erst unter III. 2. darzustellen<br />

sind. Am Ende dieses Kapitels wendet sich Bung einer<br />

weiteren philosophischen Frage zu, nämlich dem Problem der<br />

sog. Willensschwäche – also dem Problem, wie es möglich<br />

ist, dass jemand X tut, obwohl er eigentlich Gründe hat, X zu<br />

unterlassen (S. 198 ff.).<br />

Im letzten Kapitel wird auf die dogmatische Struktur des<br />

Vorsatzes näher eingegangen, vor allem auf die Grenzen<br />

zwischen Absicht, dolus directus 2. Grades und dolus eventualis<br />

(S. 207 ff.). Trotz der Unterschiede wird immer betont,<br />

dass das Gemeinsame aller Vorsatzformen überwiege<br />

(S. 219, 263). Anschließend wird insbesondere über den<br />

<strong>Inhalt</strong> des Absichtsbegriffs im Besonderen Teil reflektiert<br />

(S. 224 ff.). Am Ende der Monographie wird betont, dass<br />

„die Formel von Wissen und Wollen […] ein normatives<br />

Konstrukt“ sei (S. 270).<br />

2. Kritik<br />

Das Buch von Bung enthält eine Reihe von Gedanken und<br />

Anregungen. Es empfiehlt sich deshalb, die kritischen Bemerkungen<br />

auf zwei Ebenen zu entwickeln, zunächst auf<br />

einer methodischen und anschließend einer inhaltlichen.<br />

Auf der methodischen Ebene ist die Interdisziplinarität<br />

ein Hauptzug der Monographie. Strafrechtliche Fragen werden<br />

durch einen Rückgriff auf philosophische Theorien und<br />

Konzepte entweder gelöst oder neu gestellt. Dies ist zwar<br />

interessant und im Einzelnen sogar weiterführend, nur reizt<br />

die konkrete Vorgehensweise Bungs zu einiger Kritik. Gelegentlich<br />

werden philosophische Fragen aufgegriffen, die eine<br />

eher entfernte strafrechtliche Relevanz haben dürften: Man<br />

denke an die Erörterung des Problems der Willensschwäche.<br />

Ferner werden Anleihen bei philosophischen Theorien gemacht,<br />

ohne über deren Geschichte und vor allem die an der<br />

jeweiligen Theorie geübten Kritik zu berichten. Das gilt nicht<br />

nur für die in der Monographie eine zentrale Stellung einnehmende<br />

Handlungstheorie von Davidson, sondern auch bei<br />

anderen Fragen, wie etwa bei dem Verweis auf die sog.<br />

Gebrauchstheorie des Personalpronomens der ersten Person<br />

Singular, um die These des dezentralen Ichs zu widerlegen<br />

(S. 45 ff.). Drittens hat der Leser nicht selten den Eindruck,<br />

dass in der Arbeit die Philosophie gewissermaßen zum wissenschaftlichen<br />

Oberstgericht erhoben wird, das als Superrevisionsinstanz<br />

die Autorität habe, bezüglich rechtlicher Fragen<br />

das letzte Wort zu sprechen. Vorsatz sei Wille, weil nach<br />

Davidsons Handlungstheorie Handlungen einen Willen voraussetzten.<br />

Es gebe nichts Bedenkliches an der condicio-sinequa-non-Formel,<br />

weil ihr Verzicht auf Kausalgesetze sich mit<br />

Davidsons anomalem Monismus decke.<br />

Auch der Schreibstil des Buches verdient besondere Hervorhebung.<br />

Die Schreibweise ist elegant und fließend, so dass<br />

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Luís Greco<br />

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selbst ein Fremdsprachler die Erörterungen von Bung mit<br />

Genuss lesen kann. Nicht immer dürften die belletristischen<br />

Ansprüche des Werkes für die Genauigkeit oder Sachlichkeit<br />

der Diskussion förderlich sein. Vom sozialen Handlungsbegriff<br />

heißt es etwa, er sei „überhaupt kein Handlungsbegriff<br />

mehr, sondern die sich als Handlungsbegriff tarnende Verlegenheitsauskunft,<br />

dass Handlung alles sozialerhebliche Verhalten<br />

sei“ (S. 71), ferner dass „[…] solche ungreifbaren<br />

Institute wie der soziale Handlungsbegriff Anzeichen des<br />

grenzenlosen Strafrechts sind“ (S. 99). Zum systematisch<br />

bedeutsamen Streit, ob Vorsatz und Fahrlässigkeit sich als<br />

plus-minus oder aliud zueinander verhalten, nimmt Bung<br />

dadurch Stellung, dass er eine unklare Metapher des Verhältnisses<br />

vom Blues zum Jazz heranzieht (S. 186 f.). Das Prinzip<br />

der Eigenverantwortlichkeit wird als „besonders anschauliches<br />

Beispiel für nutzlose Dogmatik“ bezeichnet (S. 102).<br />

Trotzdem dürfte es seinem farbigen Stil zu verdanken sein,<br />

dass es Bung gelingt, schwierige philosophische Fragen verständlich<br />

und reizvoll zu präsentieren.<br />

<strong>Inhalt</strong>lich verdienen viele Thesen eine nähere Betrachtung.<br />

Die Rehabilitierung der in der Rechtsprechung und<br />

juristischen Ausbildung kaum bestrittenen, in der Wissenschaft<br />

aber überwiegend verpönten condicio-sine-qua-non<br />

Formel dürfte im Ergebnis weitgehend zustimmungswürdig<br />

sein, was im vorliegenden Rahmen nicht begründet werden<br />

kann. In der jetzigen Abhandlung soll die Aufmerksamkeit<br />

eher zwei anderen Fragen gelten, nämlich dem Plädoyer<br />

Bungs für eine Schwerpunktverlagerung zum subjektiven<br />

Tatbestand und der genaueren Rolle des Willens in seiner<br />

Theorie des Vorsatzes.<br />

Wie gesagt erwartet Bung von einer Stärkung des subjektiven<br />

Tatbestands einen Widerstand gegen das unbegrenzte<br />

Strafrecht. Das dürfte m.E. nicht nur dogmatisch, sondern<br />

auch rechtspolitisch zweifelhaft sein. Dass sich dogmatische<br />

Konstellationen, wie die Risikoverringerung oder die Kausalabweichung,<br />

„genauso gut oder besser im Rahmen des Vorsatzes<br />

erörtern lassen“ (S. 105), wird behauptet, aber kaum<br />

mehr als mit einem Verweis auf die finalistische Kritik begründet.<br />

Und rechtspolitisch dürfte eine Verlagerung des<br />

Schwerpunkts auf den objektiven Tatbestand, wie sie durch<br />

die objektive Zurechnung durchgeführt wurde, dem liberalen<br />

Tatprinzip besser entsprechen als eine Ansicht, die die<br />

Reichweite strafrechtlicher Verbote anhand des Willens (und<br />

nicht nur der Kenntnisse 18 ) des Täters bestimmen will. Dies<br />

vor allem, wenn es stimmt, dass – mit den Worten Bungs –<br />

„die politische Auseinandersetzung um die Freiheit […]<br />

wesentlich ein Kampf gegen die Durchleuchtung und Besichtung<br />

des Internums durch die zuständigen Agenturen des<br />

Staates“ (S. 123) ist, dann ist die von der objektiven Zurechnung<br />

in der Tat geförderte „Externalisierung und Normativierung<br />

der Verantwortungszuschreibung“ (S. 107) zu begrüßen<br />

und vor allem auf der individualisierenden Ebene der Schuld<br />

von möglichen Unbilligkeiten zu bereinigen.<br />

Bung verspricht nicht nur eine Verteidigung des subjektiven<br />

Tatbestands, sondern vor allem auch eine Verteidigung<br />

der Willenstheorie des Vorsatzes. Nur ist es mir unklar, ob<br />

18 Hierzu Greco, ZStW 117 (2005), 519.<br />

die von ihm vorgeschlagene Version der Willenstheorie noch<br />

eine Willenstheorie im herkömmlichen Sinne ist. Denn Wille<br />

wird nicht, wie von der herrschenden Meinung, als der reelle<br />

mentale Zustand verstanden, von dem die Alltagspsychologie<br />

des strafrechtlichen Vorsatzes ausgeht, sondern als interpretativer<br />

Rahmen, als Zuschreibung, die es dem Beobachter eines<br />

Verhaltens ermöglicht, dieses als etwas Vernünftiges zu verstehen.<br />

Die Willenstheorie von Bung ist also genauso oder<br />

genauso wenig volitiv wie die kognitive Theorie von Puppe,<br />

weil er den Willensbegriff vollständig normativiert. Im Falle<br />

des sog. dolus directus oder der auf ein Zwischenziel bezogenen<br />

Absicht „muss der Täter diesen Erfolg zwangsläufig auch<br />

wollen, wenn er ein rational handelndes Wesen ist“ (S. 164).<br />

Mit Berufung auf Puppe wird behauptet, „wer in dem Bewusstsein<br />

handelt, den Weg zu einem bestimmten Ziel zu<br />

beschreiten, der billigt diesen Weg (sonst würde er ihn wahrscheinlich<br />

nicht gehen)“ (S. 169; s. auch S. 219, S. 267 f., wo<br />

Gemeinsamkeiten mit Puppe ausgearbeitet werden). Er<br />

stimmt dem Kognitionstheoretiker Hruschka zu, wenn dieser<br />

sagt: „Wer tötet und weiß, daß er tötet, der will auch töten“<br />

(S. 173). Aufschlussreich ist vor allem Bungs Auseinandersetzung<br />

mit Puppe. Letztlich meint er, die herrschende Auffassung<br />

vertrete kein „derart psychologistisches Verständnis<br />

vom Vorsatz, wie es Puppe unterstellt“ (S. 190). Er sei mit<br />

Puppes Kriterium der vernünftigen Tatbestandsverwirklichungsmethode<br />

„völlig einverstanden“ (S. 191) und erwäge<br />

sogar, auf die Dreiteilung des Vorsatzes zu verzichten<br />

(S. 192). Zwar heißt es später, „die Auffassung, dass Wollen<br />

Wissen ist, ist unverständlich“ (S. 207); aber gleichzeitig<br />

wird immer wieder beteuert, mit einem Wissen liege gleichzeitig<br />

auch ein Wollen vor (S. 217). Positive oder negative<br />

Stimmungen und Gefühle seien völlig irrelevant (S. 220). Die<br />

kognitivistischen Vorsatztheorien werden bei dolus directus<br />

2. Grades vor allem deshalb kritisiert, weil sie einen zu langen<br />

und deshalb „unplausiblen“ „begrifflichen Umweg“<br />

postulieren (S. 223), also gerade nicht, weil sie auf einen<br />

Willen verzichten. „Wer ein Wollen als notwendig erkennt,<br />

muss notwendigerweise wollen, wenn es um das geht, für<br />

welches das Wollen als notwendig erkannt wurde“ (S. 224) –<br />

das Wollen-Müssen Bungs erinnert an das Billigen im<br />

Rechtssinne des BGH im Lederriemenfall (BGHSt 7, 363)<br />

und ist ebenso wenig wie dieses ein psychologischer Zustand.<br />

Bungs Bemühungen sind als Pyrrhussieg der Willenstheorie<br />

anzusehen.<br />

Die Normativierung macht aber nicht bei der Willenskomponente<br />

halt, sondern betrifft auch die Wissenskomponente,<br />

was in einer Arbeit, die sich als Plädoyer für den subjektiven<br />

Tatbestand versteht, überrascht. Das wird in der<br />

Auseinandersetzung mit Jakobs’ Theorie der Tatsachenblindheit<br />

deutlich: „Das in einer solch drastischen Form des Desinteresses<br />

zum Ausdruck kommende Nichtwissenwollen ist<br />

dem bedingten Wollen des tatbestandlichen Erfolges mit<br />

guten Gründen gleichzustellen“ (S. 198).<br />

IV. Schluss<br />

Ein Gesamtfazit kann man aus Überlegungen zu drei so verschiedenen<br />

Monographien nicht ziehen. Ich erlaube mir deshalb<br />

nur zwei Anmerkungen. Zunächst ist es zu begrüßen,<br />

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<strong>ZIS</strong> 13/2009


Neue Wege der Vorsatzdogmatik<br />

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dass versucht wird, eine teilweise als stagniert empfundene<br />

Diskussion, in der die Willenstheorie sich sowohl auf das<br />

träge Gewicht einer gefestigten Rspr. als auch auf die Intuitionen<br />

der deutschen Sprachgemeinschaft stützen kann, durch<br />

eine Öffnung für das Völkerstrafrecht, die Rechtsvergleichung<br />

oder die Philosophie in Bewegung zu bringen. Trotzdem<br />

wird dieser neu erschaffene Freiraum eigentlich nur von<br />

Stuckenberg dazu genutzt, das mindestens seit Engisch 19 als<br />

Urfrage erkannte Problem nach der ratio der Vorsatzbestrafung<br />

zu stellen. Auch wenn man Stuckenbergs kommunikationstheoretisch<br />

verpflichtete Antwort nicht akzeptiert, muss<br />

man die Akribie bewundern, mit der er sich um das Problem<br />

gekümmert hat. Hätte er die Frage für das Willens- und das<br />

Wissenselement getrennt gestellt, wäre es vielleicht ersichtlicher<br />

geworden, dass die Begründung der erhöhten Strafwürdigkeit<br />

des Willens in einem nicht moralisierenden Strafrecht<br />

nicht so einfach ist. 20 Schünemanns Bemerkung, wonach<br />

„überraschenderweise […] diese eigentlich zentrale Frage im<br />

Schrifttum immer nur ganz knapp und selbst in dickleibigen<br />

Monographien nur auf wenigen Seiten abgehandelt“ werde, 21<br />

behält also auch nach zehn Jahren ihren Mahnungsgehalt in<br />

Bezug auf künftige Beiträge zur Vorsatzdiskussion.<br />

19 Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit<br />

im Strafrecht, 1930, etwa S. 52; vorbildhaft auch Roxin, JuS<br />

1964, 54 (58); Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 31 ff.<br />

(34); Schünemann, in: Weigend u.a. (Hrsg.),Festschrift für<br />

Hans Joachim Hirsch zum 70. Geburtstag, 1999, S. 363 ff.<br />

(371).<br />

20 Ausf. Greco, Liber Amicorum Sousa e Brito, Lisabon,<br />

2009, S. 885 ff. (897 ff.) mit entschiedener Stellungnahme für<br />

eine kognitive und gegen jede volitive Vorsatzlehre.<br />

21 Schünemann (Fn. ), S. 371 Fn. 28.<br />

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Pfefferkorn, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit im französischen und deutschen Recht<br />

Heger/Pohlreich<br />

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B u c h r e z e n s i o n<br />

Fabian Pfefferkorn, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit im<br />

französischen und deutschen Recht, (Kölner Kriminalwissenschaftliche<br />

Schriften, Bd. 49), Verlag Duncker & Humblot,<br />

Berlin 2006, 314 S., € 98,-<br />

Die Auseinandersetzung mit zumeist kriminalpolitisch motivierten<br />

Forderungen gewinnt dann an Plastizität, wenn auf<br />

Erfahrungen aus kulturell ähnlich verfassten Strafrechtsordnungen<br />

zurückgegriffen werden kann, in denen die Forderungen<br />

längst die Zustimmung des Gesetzgebers gefunden haben.<br />

So erscheint es nur selbstverständlich, dass Pfefferkorn<br />

mit dem hier zu besprechenden Werk eine grundlegende<br />

Debatte des deutschen Strafrechtskreises, nämlich die Debatte<br />

um die Entkriminalisierung leichter Fahrlässigkeit, im<br />

Lichte jüngerer Rechtsentwicklungen aus Frankreich bereichert<br />

und hinterfragt. Denn im Rahmen zweier Reformen aus<br />

den Jahren 1996 und 2000 reduzierte der französische Strafgesetzgeber<br />

die Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens in bestimmten<br />

Bereichen. Pfefferkorn durchleuchtet diese Reformen<br />

und ihre Folgen in der Rechtswirklichkeit kritisch, was<br />

freilich nicht allein für denjenigen von Interesse sein wird,<br />

welcher der Rechtsvergleichung schon um ihrer selbst willen<br />

in besonderem Maße zugetan ist. Vielmehr nutzt er die bei<br />

der kritischen Durchleuchtung gewonnenen Erkenntnisse<br />

geschickt zu einer Überprüfung der gebotenen Grenzen strafbarer<br />

Fahrlässigkeit im deutschen Recht und macht seine<br />

Arbeit auf diese Weise auch für denjenigen wertvoll, der sich<br />

für die Kernfragen des deutschen Fahrlässigkeitsstrafrechts<br />

interessiert. Die Umsetzung des Anliegens des Autors, ausgehend<br />

von den französischen Reformen der strafbaren Fahrlässigkeit<br />

die Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit im deutschen<br />

Strafrecht zu bestimmen, ist ihm dabei ungeachtet aller Widrigkeiten<br />

auf bemerkenswerte Weise gelungen. Denn zum<br />

einen spiegeln die französischen Reformen, wie Pfefferkorn<br />

selbst einräumt, das Ergebnis „spezifischer, auf deutsche<br />

Verhältnisse kaum übertragbarer rechtspolitischer Beweggründe<br />

des französischen Gesetzgebers“ wider (S. 170). Der<br />

französische Gesetzgeber reduzierte nämlich nicht etwa die<br />

Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens im Bereich der Arzthaftung<br />

oder des Straßenverkehrs, sondern nahezu ausschließlich<br />

zugunsten öffentlicher Entscheidungsträger (S. 22). Zum<br />

anderen beschreibt Pfefferkorn – völlig zu Recht – die französische<br />

Strafrechtsprechung als „im Zuge ihrer kriminalpolitisch<br />

orientierten Herangehensweise pragmatisch und ergebnisbezogen“<br />

(S. 94) und beklagt an anderer Stelle das Fehlen<br />

einer einheitlichen Terminologie zur Fahrlässigkeit im französischen<br />

Strafrecht (S. 35 f.). Nichtsdestoweniger vermag<br />

Pfefferkorn jenseits dieser nur augenscheinlich gegen einen<br />

Blick auf das französische Fahrlässigkeitsstrafrecht sprechenden<br />

Widrigkeiten aus seinen Beobachtungen Schlüsse<br />

für die Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit zu ziehen, die nur<br />

Zustimmung verdienen.<br />

Wenn Pfefferkorn im Titel seiner Untersuchung von den<br />

„Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit“ spricht, geht es ihm trotz<br />

der Offenheit des Begriffs „Grenzen“ wohl um die Frage<br />

nach der Reichweite der Straflosigkeit im Bereich leichter<br />

Fahrlässigkeit. Gleichwohl kann schon der erste Teil der<br />

Untersuchung (S. 27 ff.), in dem Pfefferkorn über die historische<br />

Entwicklung, die Grundlagen sowie die Besonderheiten<br />

der französischen Fahrlässigkeitsdogmatik aufklärt, die hiesige<br />

Diskussion um die Ausweitung der Strafbarkeit fahrlässigen<br />

Verhaltens befruchten. Hier beobachtet Pfefferkorn kritisch<br />

die Tendenz der französischen Strafrechtsprechung zu<br />

einer Erweiterung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. Eine von<br />

ihr anerkannte Beweiserleichterung hinsichtlich des Nachweises<br />

des Kausalverlaufs betrifft Fälle, die Pfefferkorn<br />

„fahrlässiger Mittäterschaft“ zuordnet. Hat nachweislich<br />

jeder Beteiligte einer Gruppe ein möglicherweise erfolgsursächliches<br />

Risiko geschaffen, ohne dass sich feststellen ließe,<br />

welche dieser Pflichtverletzungen für den Erfolg ursächlich<br />

geworden ist, bejaht die französische Rechtsprechung die<br />

Strafbarkeit jedes Beteiligten, sofern er sich an einer gefährlichen<br />

Handlung beteiligt und gemeinsam ein schweres Risiko<br />

verursacht hat (S. 66 f.). Pfefferkorn schließt sich der Kritik<br />

der französischen Lehre an dieser Entwicklung an und weist<br />

darauf hin, dass die Rechtsprechung auf diesem Wege fahrlässige<br />

Erfolgsdelikte zu konkreten Gefährdungsdelikten<br />

umdeute (S. 69 f.).<br />

Im zweiten Teil beschreibt der Autor die Reformen der<br />

Fahrlässigkeitsstrafbarkeit aus den Jahren 1996 und 2000<br />

einschließlich ihrer Auswirkungen. Was die Reform vom<br />

13.5.1996 angeht, setzt er sich zunächst mit der Entstehungsgeschichte<br />

(S. 95 ff.) und der Reichweite (S. 101 f.) der damals<br />

eingeführten Privilegierung für öffentliche Entscheidungsträger<br />

in Art. 121-3 Abs. 3 Code pénal (CP) auseinander.<br />

Dieser Vorschrift zufolge liegt keine strafbare Fahrlässigkeit<br />

vor, wenn der Betreffende die gewöhnliche Sorgfalt<br />

eingehalten hat, und zwar unter Berücksichtigung der Natur<br />

seiner im konkreten Einzelfall bestehenden Aufgaben, Funktionen,<br />

Kompetenzen sowie der Befugnisse und Mittel, über<br />

die er verfügte. Anhand eines Vergleich mit der vorherigen<br />

Strafrechtsprechung (S. 105 ff.) bezweifelt der Autor das<br />

Ausmaß der gegen öffentliche Entscheidungsträger gerichteten<br />

Strafverfolgung, das den Reformgesetzgeber von 1996<br />

zur Einführung des dritten Absatzes in Art. 121-3 Abs. 3 CP<br />

bewog (S. 107). Im Zuge eines Abrisses der Reform in der<br />

Rechtswirklichkeit (S. 110 ff.) zeigt Pfefferkorn auf, dass die<br />

Rechtsprechung teilweise das gesetzgeberische Ziel einer<br />

Privilegierung öffentlicher Entscheidungsträger teilweise<br />

völlig verdrehe (S. 113 f.).<br />

Sein Entkriminalisierungsanliegen verfolgte der französische<br />

Gesetzgeber mit der Reform vom 10.7.2000 weiter.<br />

Gemäß Art. 121-3 Abs. 4 CP unterliegen im Fall des vorangehenden<br />

Absatzes solche Personen erhöhten Strafbarkeitsanforderungen,<br />

die einen Schaden durch aktives Handeln oder<br />

durch unterlassene Verhinderungsmaßnahmen indirekt verursacht<br />

haben, sofern sie entweder auf offensichtlich bewusste<br />

Weise eine besondere, durch Gesetz oder Rechtsverordnung<br />

geregelte Sorgfalts- oder Sicherheitspflicht verletzt haben,<br />

oder sie ein gesteigertes Fehlverhalten („faute caractérisée“,<br />

dazu S. 140 ff., 220 ff.) begangen haben, durch die eine andere<br />

Person einem besonders schweren Risiko ausgesetzt wurde,<br />

das sie nicht übersehen konnten. Unter die zweite Alternative<br />

fallen vor allem öffentliche Entscheidungsträger und<br />

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<strong>ZIS</strong> 13/2009


Pfefferkorn, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit im französischen und deutschen Recht<br />

Heger/Pohlreich<br />

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die für die Einhaltung von Sicherheitsvorschriften zuständigen<br />

Betriebsleiter. Nach einer umfassenden Auseinandersetzung<br />

mit den einschlägigen Lehrmeinungen (S. 123 ff.) und<br />

der Darstellung der in diesem Zusammenhang eher kasuistischen<br />

Rechtsprechung (S. 127 ff.) konstatiert Pfefferkorn,<br />

dass sich bislang kein einheitliches Konzept zur Abgrenzung<br />

von direkter und indirekter Kausalität herausgebildet habe<br />

und dass nicht nur Personen mit garantenähnlichen Schutzund<br />

Überwachungsaufgaben der neuen Vorschrift unterfielen,<br />

sondern teilweise auch Falschparker, Automechaniker und<br />

Retter (S. 139).<br />

Dass weder die Rechtsprechung noch die Literatur bei der<br />

Auslegung der beiden qualifizierten Fahrlässigkeitsmodalitäten<br />

in Art. 121-3 Abs. 4 CP versucht hätten, sich dogmatisch<br />

mit deren Voraussetzungen auseinanderzusetzen (S. 159),<br />

folgert Pfefferkorn wiederum aus der – von ihm breit dargestellten<br />

– Diskussion um die von Art. 121-3 Abs. 4 CP erfasste<br />

bewusste Sondernormverletzung und die besondere<br />

Pflichtverletzung (S. 139 ff.).<br />

Im dritten Teil der Arbeit untersucht Pfefferkorn Art. 121-<br />

3 Abs. 4 CP aus rechtsvergleichender Sicht und diskutiert<br />

anhand einer Auseinandersetzung mit der dortigen Abstufung<br />

des Fahrlässigkeitsmaßstabes die Grenzen der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit<br />

im deutschen Recht. Auf eine rechtsvergleichende<br />

Untersuchung unter dem Gesichtspunkt des Art. 121-<br />

3 Abs. 3 CP verzichtet der Autor demgegenüber, weil die<br />

dahinter stehenden rechtspolitischen Beweggründe des Gesetzgebers<br />

keinen Aufschluss über die Grenzen strafbarer<br />

Fahrlässigkeit im deutschen Recht ermöglichten (S. 170).<br />

Überhaupt wendet sich Pfefferkorns Blick nunmehr von der<br />

strafrechtlichen Fahrlässigkeitshaftung von Amtsträgern ab<br />

(S. 171) und hiervon losgelöst den Tatbestandsmerkmalen<br />

des Art. 121-3 Abs. 4 CP zu.<br />

Zuvor diskutiert er aber die Notwendigkeit der hierzulande<br />

vielfach geforderten Entkriminalisierung leichter Fahrlässigkeit<br />

und beschäftigt sich hierzu zunächst mit den an das<br />

Schuldprinzip anknüpfenden sowie kriminalpolitischen Ansätzen<br />

mit ihren jeweiligen Begründungen (S. 176 ff.). Da die<br />

Forderung nach „Entkriminalisierung“ bestimmter Fahrlässigkeitsgrade<br />

auch von der inhaltlichen Bestimmung des<br />

Begriffs strafrechtlicher Fahrlässigkeit abhänge (S. 190),<br />

erörtert Pfefferkorn umfassend die Fahrlässigkeitsmodelle<br />

Kindhäusers, Zielinskis, Struensees und Koriaths (S. 191 ff.),<br />

denen er entweder inhaltliche Unschärfe oder eine übermäßige<br />

Weite vorwirft (S. 201). Duttges Fahrlässigkeitsmodell<br />

(S. 201 ff.) erachtet Pfefferkorn dagegen zwar unter anderem<br />

deshalb als kritikwürdig, als es mathematisch genaue, vom<br />

Einzelfall losgelöste Ergebnisse zu fördern scheine (S. 205);<br />

Pfefferkorn schließt sich aber Duttges Modell insoweit an, als<br />

es den Fahrlässigkeitsbegriff „auf einen wesentlichen Kern in<br />

Gestalt des ‚triftigen Anlasses’“ zurückführe und damit die<br />

Unbeachtlichkeit einer abstrakten „Denkbarkeit“ entsprechender<br />

Risiken herausstelle, deren Schaffung mangels Erfolgsvorhersehbarkeit<br />

keine Missachtung fremder Rechtsgüter<br />

darstelle (S. 209). Die Gefahrindikatoren der Anschaulichkeit,<br />

Zugänglichkeit, Kodierung, Regelmäßigkeit, zeitlichen<br />

Präsenz, der signalisierten Gefährdungswahrscheinlichkeit<br />

und Schadensfolge, der Abhängigkeit der Wahrnehmbarkeit<br />

von dritten Personen sowie der Dauer der Vorwarnzeit,<br />

auf die es bei Duttges Fahrlässigkeitsmodell ankommt, überzeugen<br />

auch Pfefferkorn, auch wenn er sich vor allem wegen<br />

des oben genannten Grundes Duttges Auffassung nicht voll<br />

anschließen will (S. 209 f.). Hiervon ausgehend meint Pfefferkorn,<br />

dass es keiner die Strafwürdigkeit unbewusster oder<br />

leichter Fahrlässigkeit eigenständig problematisierender<br />

Strafzweckdiskussion bedürfe (S. 210). Gehe man mit Duttge<br />

von einem restriktiven, an besonderen Gefahrindikatoren<br />

orientierten Fahrlässigkeitsbegriff des Strafrechts aus, dann<br />

könne der verbleibende Bereich „leichter“ und dennoch zugleich<br />

strafbarer Fahrlässigkeit nur noch im Rahmen des<br />

Opportunitätsprinzips oder bei der Strafzumessung berücksichtigt<br />

werden (S. 211).<br />

Hierauf diskutiert Pfefferkorn, ob die Fahrlässigkeitskriterien<br />

des Art. 121-3 Abs. 4 CP aus Sicht eines materiell restriktiven<br />

Straftatbegriffs die notwendige Grenze strafbarer<br />

Fahrlässigkeit markieren bzw. markieren sollten. Zur abstrakt-regelbezogenen<br />

Bestimmung der Grenzen der Fahrlässigkeit<br />

erscheinen Pfefferkorn sowohl die Modalität der bewussten<br />

Gefährdung in Art. 121-3 Abs. 2 CP (S. 212 ff.) als<br />

auch die Modalität der gesteigerten Fahrlässigkeit in<br />

Art. 121-3 Abs. 4 CP (S. 220 ff.) ungeeignet. Anhand des<br />

präziseren Kriteriums der Erkennbarkeit eines Risikos skizziert<br />

Pfefferkorn eine mögliche Struktur des strafbaren Fahrlässigkeitsunrechts<br />

(S. 222 ff.). Das Kriterium des „Risikos<br />

von besonderer Schwere“ in Art. 121-3 Abs. 4 CP strukturiere<br />

vor dem Hintergrund eines straftatbestandlich restriktiven<br />

Fahrlässigkeitsbegriffs als Fundament einer generalisierenden<br />

Bewertungsnorm jedes strafbare Fahrlässigkeitsunrecht. Zu<br />

bestimmen sei es aus der ex-ante-Perspektive eines Beobachters<br />

mit (quasi-)idealem Sachverhaltswissen, wobei diesbezügliche<br />

Defizite des Handelnden auf subjektiver Unrechtsebene<br />

Berücksichtigung finden müssten. Dies entspreche<br />

sachlich dem Tatbestandsmerkmal des Nicht-Übersehen-<br />

Könnens in Art. 121-3 Abs. 4 CP (S. 229) und stehe im Übrigen<br />

Duttges Fahrlässigkeitsmodell nahe (S. 230 ff.). Damit<br />

identifiziert Pfefferkorn in der zweiten Fahrlässigkeitsmodalität<br />

des Art. 121-3 Abs. 4 CP „eine Umschreibung der Grundvoraussetzungen<br />

erfolgsstraftatbestandlicher Fahrlässigkeit“,<br />

was die Forderungen nach einer Entkriminalisierung leichter<br />

Fahrlässigkeit methodisch betrachtet entbehrlich erscheinen<br />

lasse (S. 232).<br />

Eine Einschränkung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bei<br />

indirekt verursachten Erfolgen (S. 233 ff.) lehnt Pfefferkorn<br />

dagegen überzeugend mit Blick auf die stets wertungsgebundene<br />

Abgrenzung zwischen direkter und indirekter Kausalität<br />

ab (S. 244). Dies bestätigt die nachfolgende Untersuchung<br />

der normativen Tragweite des Unmittelbarkeitskriteriums<br />

(S. 244 ff.).<br />

Schließlich erwägt Pfefferkorn die Gebotenheit einer Privilegierung<br />

in Fällen mittelbarer Kausalität aufgrund des<br />

Eigenverantwortungsgrundsatzes (S. 251 ff.). Das deliktische<br />

Anschlussverhalten Dritter begründe keine pauschale Einschränkung<br />

(S. 263 f.). In Fällen vorwerfbar-unbewussten<br />

Fehlverhaltens des Opfers (S. 264 ff.) erscheine aufgrund des<br />

Selbstschutzprinzips eine Einschränkung geboten; die jeder<br />

Fahrlässigkeitsbewertung notwendig innewohnende Unbe-<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

823


Pfefferkorn, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit im französischen und deutschen Recht<br />

Heger/Pohlreich<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

stimmtheit sei hier nicht überdehnt. Der Unbestimmtheit<br />

könne durch hohe Anforderungen an Gefahrenindikatoren,<br />

etwa der Sachkompetenz des Erstverursachers, begegnet<br />

werden (S. 272).<br />

Das durchweg deutlich werdende Engagement des Autors<br />

um einen restriktiven, aber zugleich auch greifbaren und<br />

möglichst objektiv nachvollziehbaren Fahrlässigkeitsbegriff<br />

ist schon aus rechtsstaatlichen Erwägungen zu begrüßen.<br />

Lässt sich das Engagement einiger Strafrechtswissenschaftler<br />

um eine Begrenzung der Bestrafung leichter Fahrlässigkeit<br />

kriminalpolitisch durchaus nachvollziehen, so darf das Gebot<br />

vorhersehbaren Strafens nicht aus dem Blick verloren werden.<br />

Eingedenk dessen bleibt Pfefferkorn zu wünschen, dass<br />

seine Gedanken in der hiesigen Debatte um die Grenzen<br />

strafbarer Fahrlässigkeit Gehör und Zustimmung finden.<br />

Prof. Dr. Martin Heger/Dr. Erol Rudolf Pohlreich, Humboldt-Universität<br />

zu Berlin<br />

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824<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Perdomo-Torres, Garantenpflichten aus Vertrautheit<br />

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B u c h r e z e n s i o n<br />

Jorge F. Perdomo-Torres, Garantenpflichten aus Vertrautheit,<br />

Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2006, 254 S., € 76,-<br />

Für Delikte, die nach ihrer gesetzlichen Tatbestandsfassung<br />

nicht ohnehin nur durch eine Unterlassung verwirklicht werden<br />

können, trifft § 13 Abs. 1 StGB eine doppelte Regelung:<br />

Zum einen wird ausdrücklich klargestellt, dass auch solche<br />

Tatbestände, die ihrer Formulierung nach lediglich Begehungsdelikte<br />

zu betreffen scheinen, die Handlungsform<br />

schlichten Unterlassens mit zu umfassen vermögen. Die phänomenologische<br />

Differenz von Energieaufwand (aktives Tun)<br />

und Unterlassen bleibt dann für die Bewertung des fraglichen<br />

Sachverhalts grundsätzlich irrelevant. Zum anderen wird<br />

diese Gleichstellung jedoch auch an einige einschränkende<br />

Bedingungen geknüpft. Insbesondere muss der etwas Unterlassende<br />

„rechtlich dafür einzustehen“ haben, dass der tatbestandliche<br />

Erfolg nicht eintritt. Unter welchen Voraussetzungen<br />

aber nun jemand „rechtlich“ – genauer noch: strafrechtlich<br />

– das Ausbleiben eines tatbestandlichen Erfolges zu<br />

garantieren hat, lässt das Gesetz bekanntlich offen; die Entwicklung<br />

dogmatisch überzeugender und zugleich praktikabler<br />

Kriterien liegt damit in den Händen von Rechtsprechung<br />

und Strafrechtswissenschaft.<br />

Die dort entwickelte Unterscheidung zwischen Überwachungs-<br />

und Schutzpflichten liefert zunächst nicht mehr als<br />

eine äußere Systematisierung von Fallgruppen, in denen<br />

Garantenverhältnisse im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB grundsätzlich<br />

anerkannt sind. Ob zu Recht und aus welchem Grunde,<br />

bleibt unbeantwortet. 1 Auf Günther Jakobs geht der Versuch<br />

einer gleichsam zweispurigen materialen Garantentheorie<br />

zurück: Neben die – gewissermaßen allgemeine – Zuständigkeit<br />

für den eigenen Organisationskreis treten besondere<br />

Verantwortlichkeiten aus bestimmten (scil. rechtlich anerkannten)<br />

„Institutionen“ 2 . Die erstgenannte Zuständigkeit<br />

stellt schlicht die Kehrseite rechtlich zuerkannter Handlungsund<br />

Organisationsfreiheit dar: Wer davon Gebrauch macht,<br />

muss dann eben auch zusehen, dass andere dadurch keinen<br />

Schaden erleiden. Diesem Verbot, den anderen in dem Seinen<br />

zu verletzen, entsprechen – das ist sozusagen die normentheoretische<br />

Pointe jener Theorie – auf der Ebene der strafrechtlichen<br />

Deliktsformen sowohl die Verbote hinter den Begehungstatbeständen,<br />

als auch die Gebote, deren Missachtung<br />

die Handlungsform der (unechten) Unterlassungsdelikte<br />

darstellt. 3 Wer sich einen bissigen Hund hält, darf ihn nicht<br />

von der Leine lassen, wenn sich Passanten nähern; läuft das<br />

Tier bereits frei herum, muss er es wieder einfangen. Der<br />

technisch bedingte Unterschied in der jeweils geforderten<br />

Handlungsform ändert nichts am gemeinsamen Haftungs-<br />

1 Vgl. nur Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003,<br />

§ 32 Rn. 22; Weigend, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann<br />

(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1,<br />

12. Aufl. 2007, § 13 Rn. 22.<br />

2 Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 29/26 ff.<br />

3 Instruktiv dazu Sánchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung,<br />

1999, S. 67 ff., 89 ff.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Popp<br />

grund des Verletzungsverbots. Ebenso indifferent gegenüber<br />

der konkret geforderten Handlungsform ist auch die zweite<br />

Säule der Jakobs’schen Garantenlehre, die strafrechtliche<br />

Haftung wegen besonderer „institutioneller“ Verantwortlichkeit.<br />

Sie zielt nicht lediglich auf ein negativum („Nicht-<br />

Verletzen“), sondern verlangt dem Betreffenden eine positive<br />

Leistung ab: die Übernahme einer spezifischen Rolle (jenseits<br />

der Allerweltsrolle des „Nichtverletzers“), die Entfaltung von<br />

Fürsorge und Schutz. Strafrechtlich sanktioniert wird in diesen<br />

Fällen nicht das allgemeine „neminem laedere“ als<br />

Grundprinzip rechtlich geordneten Miteinanders, sondern<br />

jeweils eine darüber hinausgehende Sonderverpflichtung von<br />

freilich gleichem Rang. Solche besonderen Zuständigkeiten<br />

können sich aus bestimmten familiären Beziehungen, aber<br />

auch aus gewissen öffentlichen Ämtern ergeben; denkbar ist<br />

aber auch, dass jemand eine solche Zuständigkeit freiwillig<br />

übernommen hat und sie – das ist sozusagen der clou dabei –<br />

auch nicht mehr ohne weiteres wieder ablegen kann, weil er<br />

das von ihm mit der Übernahme beanspruchte „besondere<br />

Vertrauen“ auf Schutz und Hilfe eben auch einlösen muss.<br />

All dies vorausgeschickt, lässt sich die bei Günther Jakobs<br />

entstandene Bonner Dissertation von Jorge F. Perdomo-<br />

Torres über „Garantenpflichten aus Vertrautheit“ leicht einordnen:<br />

Es handelt sich um nichts anderes als um eine (freilich<br />

theoretisch aufwändige und anspruchsvolle) Explikation<br />

der Institution „Vertrautheit“, die bei Jakobs noch „besonderes<br />

Vertrauen“ heißt.<br />

Als Ausgangsfall dient Perdomo-Torres die bekannte<br />

Entscheidung BGHSt 48, 301 aus dem Jahre 2003: Die Angeklagte<br />

hatte es unterlassen, ihren Ehemann vor einem nach<br />

ihrer Kenntnis bevorstehenden körperlichen Angriff eines<br />

Dritten zu warnen bzw. diesen von seinem Vorhaben abzuhalten.<br />

In der Tat wurde der Ehemann hierauf von ihm „bis<br />

an die Grenze der Bewusstlosigkeit“ gewürgt und mit der<br />

Faust in den Magen geschlagen. Eine strafbare Beteiligung 4<br />

der Ehefrau hieran setzt voraus, dass sie als Garantin für die<br />

Gesundheit und körperliche Unversehrtheit ihres Gatten zum<br />

Einschreiten verpflichtet war. Zweifelhaft war dies in casu<br />

aber deshalb, weil die hier üblicherweise als Garantieverhältnis<br />

angeführte eheliche Lebensgemeinschaft in tatsächlicher<br />

Hinsicht nicht mehr bestand; die Frau hatte sich nämlich etwa<br />

vier Wochen vor der Tat „von ihrem Ehemann getrennt und<br />

einem anderen Mann zugewandt“. Im Hinblick darauf hat<br />

sich der 3. Strafsenat des BGH gegen eine unmittelbare Verknüpfung<br />

der strafrechtlichen Einstandspflicht mit dem formalen<br />

Bestand einer Ehe (ggf. bis zum Eintritt der Rechtskraft<br />

des Scheidungsurteils) ausgesprochen und auf zahlreiche<br />

denkbare Lebensgestaltungen hingewiesen, in denen<br />

gleichwohl „keiner der beiden Ehegatten tatsächlich darauf<br />

vertraute oder auch nur Anlass hätte, darauf zu vertrauen, der<br />

andere Teil würde ihm zum Schutz seiner Rechtsgüter beistehen“<br />

5 . Erkennt das Gericht hier anstelle der Ehe als solcher<br />

die mit ihr regelmäßig – aber eben nicht immer und auch<br />

4 Der BGH hält eine „Beihilfe durch Unterlassen“ – hier: zur<br />

gefährlichen Körperverletzung – grundsätzlich für möglich.<br />

5 BGHSt 48, 301 (305) – Hervorhebung A. P.<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

825


Perdomo-Torres, Garantenpflichten aus Vertrautheit<br />

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Popp<br />

nicht gerade nur mit ihr – einhergehende besondere Vertrauensbeziehung<br />

als entscheidend für § 13 Abs. 1 StGB an?<br />

Nachdem Perdomo-Torres zunächst das verschiedentliche<br />

Aufblitzen des „Vertrauensgedankens“ in der bisherigen<br />

Diskussion noch einmal zusammengefasst hat (S. 20 ff.),<br />

verschafft er seiner Untersuchung ein breit angelegtes Fundament,<br />

in dem sich neben verschiedenen systemtheoretischen<br />

und institutionentheoretischen Elementen vor allem die<br />

Rechts- und Staatsphilosophie Hegels verarbeitet findet (S. 67-<br />

136). Die damit erreichte Abstraktionshöhe erscheint angesichts<br />

der konkret zur Entscheidung anstehenden Sachprobleme<br />

bemerkenswert, rechtfertigt sich aber aus Perdomo-<br />

Torres‘ Anliegen, einer sich gleichsam von Fall zu Fall hangelnden<br />

Kasuistik ein theoretisch geschlossenes Konzept<br />

entgegenzusetzen, das, wie gesagt, im wesentlichen auf den<br />

Fundamenten der Jakobs’schen Garantenlehre mit ihren beiden<br />

Pfeilern „Organisation“ und „Institution“ ruht. Wie vordem<br />

schon Jakobs 6 lehnt es auch Perdomo-Torres ausdrücklich<br />

ab, der heutigen bürgerlich-rechtlichen Ehe den Charakter<br />

einer „Institution“ im eingangs referierten Sinne zuzuerkennen<br />

(S. 101 ff.), weil ihre Beendigung durch Scheidung –<br />

„wie von Hegel befürchtet“ – inzwischen nur allzu leicht<br />

möglich geworden sei; auch stelle die rechtliche Anerkennung<br />

von gleichgeschlechtlichen Beziehungen (scil.: durch<br />

das LPartG) „das Vertrauen auf die Ehe per se in Frage“<br />

(S. 102; weshalb dies so sein soll, bleibt allerdings unklar).<br />

Stattdessen sollen all diese Lebensgemeinschaften unabhängig<br />

von ihrem familienrechtlichen Status auf eine andere<br />

„Institution“ gestützt werden (die freilich – angesichts der<br />

schon von Jakobs notierten „individualistisch-hedonistischen“<br />

Tendenzen – in ihrem Bestand nicht minder gefährdet sein<br />

dürfte als eine Ehe): eben die in diesen Gemeinschaften bestehende<br />

„Vertrautheit“, die die Beteiligten nicht nur in kognitiver,<br />

sondern auch in normativer Hinsicht zu der Erwartung<br />

berechtigt, der jeweils andere Teil werde die Gemeinschaft<br />

auch in schlechten Zeiten – nämlich dann, wenn den<br />

Rechtsgütern des einen Gefahr droht – Wirklichkeit werden<br />

lassen und sich zu ihrem Schutz bereit finden. Ihre spezifisch<br />

rechtliche Wurzel hat diese Erwartung im (als Rechtsprinzip<br />

allgemein anerkannten) Verbot, sich in Widerspruch zu seinem<br />

bisherigen Verhalten zu setzen (venire contra factum<br />

proprium). 7 Freilich kettet „Vertrautheit“ in diesem normativen<br />

Sinne die Beteiligten nicht für alle Ewigkeit als Garanten<br />

aneinander, sondern nur so lange, wie sie tatsächlich besteht<br />

und gelebt wird, und deshalb erscheint die Lösung des BGH<br />

im Ausgangsfall wohl auch aus Sicht der von Perdomo-<br />

Torres entfalteten Konzeption als im Ergebnis zutreffend.<br />

Auch in weiteren Fallgruppen – neben dem Eltern-Kind-<br />

Verhältnis und anderen familiären Beziehungen etwa auch<br />

besondere Gefahrengemeinschaften – liegen die Lösungen<br />

meist nicht allzu weit entfernt von denen der schon bisher<br />

herrschenden Auffassung. Abweichende Ergebnisse waren<br />

für den Wert (strafrechts-) wissenschaftlicher Beiträge frei-<br />

lich noch nie ausschlaggebend. Die neue Sicht auf ein altbekanntes<br />

Problemfeld, die Perdomo-Torres‘ Monographie hier<br />

liefert, lohnt die Lektüre jedenfalls gewiss nicht nur für<br />

Rechtsphilosophen (seien sie nun, was auch immer das heißen<br />

mag, „Hegelianer“ oder nicht), sondern auch und gerade<br />

für Strafrechtsdogmatiker.<br />

Privatdozent Dr. Andreas Popp, M.A., Passau<br />

6 Jakobs, Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen,<br />

1996, S. 34.<br />

7 Jakobs (Fn. 6), S. 34 ff.<br />

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826<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Mintas, Glücksspiele im Internet<br />

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B u c h r e z e n s i o n<br />

Laila Mintas, Glücksspiele im Internet. Insbesondere Sportwetten<br />

mit festen Gewinnquoten (Oddset-Wetten) unter strafrechtlichen,<br />

verwaltungsrechtlichen und europarechtlichen<br />

Gesichtspunkten, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2009,<br />

329 S., € 72,-<br />

Die sogenannten Oddset-Wetten beschäftigen seit nunmehr<br />

bald zehn Jahren Rechtsprechung wie Schrifttum in Deutschland<br />

und haben jüngst auch den Gesetzgeber nachhaltig auf<br />

den Plan gerufen: Die Sportwettengesetze aller 16 Bundesländer<br />

legen hiervon überaus beredt Zeugnis ab. Im engen<br />

sachlichen Zusammenhang damit steht die mittlerweile fein<br />

ziselierte Judikatur des BVerfG und der obersten Gerichtshöfe<br />

des Bundes. Cum grano salis lässt sich sagen, dass Erste<br />

wie Dritte Gewalt in einem bemerkenswerten (und viel kritisierten!)<br />

Schulterschluss den privaten Wettanbietern und<br />

Wettvermittlern den Kampf angesagt haben; unverdrossen<br />

und marktabgewandt spielen sie das Hohelied des wettveranstaltenden<br />

Staates, wie es von der Exekutive vorgegeben<br />

wurde: Nur er allein sei willens und in der Lage, die grassierende<br />

Spielsucht wirksam einzudämmen. Selbst der EuGH ist<br />

aus dieser „Wettallianz“ bisher nicht ausgeschert und hat erst<br />

jüngst wieder in seiner Liga Portuguesa-Entscheidung vom<br />

8.9.2009 ein mitgliedstaatliches Verbot für Internetglücksspiele<br />

für europarechtskonform erklärt.<br />

Dass die Thematik weiterhin virulent bleibt, ist letztlich<br />

vor allem dem Internet geschuldet, weil hier „(Wett-) Spiele<br />

ohne Grenzen“ Wirklichkeit werden und ein nationalstaatlichen<br />

Agieren von vornherein nur einen begrenzten Effekt<br />

liefern kann.<br />

Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, die<br />

Sportwette gleich auf drei Teilgebieten des Rechts näher zu<br />

untersuchen. Das Unterfangen erscheint überdies ambitioniert,<br />

beschränkt sich doch die Verf. auf nur 280 Seiten Text.<br />

Dabei liegt der Schwerpunkt der Arbeit – wenig überraschend<br />

bei einer von Heinrich betreuten Dissertation der HU Berlin<br />

aus dem SS 2008 – letztlich doch im Strafrecht. Zutreffend<br />

schlüsselt Mintas dessen ungeachtet die Gemengelage der<br />

verschiedenen Rechtsgebiete im deutschen Glücksspielwesen<br />

auf. Dies erscheint auch unerlässlich, weil eine isolierte Betrachtung<br />

kaum einen Erkenntnisgewinn verspräche.<br />

Nach einer Einführung werden im zweiten Teil („Das<br />

Grundprinzip der ‚Oddset-Wette‘“) die Grundlagen der Oddset-Wetten<br />

beleuchtet. Verständlich und ohne unnützes Beiwerk<br />

erläutert Mintas die Sportwette, zeichnet ihre Entwicklung<br />

nach und ordnet sie – mit stimmiger Begründung und<br />

einhergehend mit der überwiegenden Ansicht – rechtlich als<br />

Glücksspiel ein.<br />

Das dritte Kapitel ist dem von den §§ 284 ff. StGB geschützten<br />

Rechtsgut gewidmet. Mintas beschränkt sich dabei<br />

auf die Volksgesundheit (Gefahr der Glücksspielsucht) und<br />

blendet im Einklang mit der Rechtsprechung fiskalische<br />

Interessen des Staates aus. Ebenso werde ein Vermögensschutz<br />

oder die Bekämpfung der organisierten Kriminalität<br />

nicht bezweckt. Letzteres vermag den Rezensenten nicht<br />

recht zu überzeugen, hegt er doch an der Lauterkeit der vielen<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Janz<br />

Wettbürobetreiber in seinem Berliner Wohnumfeld erhebliche<br />

Bedenken.<br />

Das internationale Strafrecht wird dann im vierten Abschnitt<br />

näher ausgeführt, was angesichts von mehr als 1.500<br />

Glücksspielanbietern im Internet allein im karibischen Raum<br />

ohne weiteres einleuchtet. Dieses Kapitel bildet auch und<br />

gerade wegen des innovativen Ansatzes der Verf. einen<br />

Schwerpunkt der Arbeit. Mintas lehnt nach einer knappen<br />

Erläuterung der Grundsätze des Strafanwendungsrechts mit<br />

überzeugender Argumentation einen Handlungsort in Deutschland<br />

bei den vom Ausland aus agierenden Glücksspielveranstaltern<br />

ab. Die Anwendung deutschen Strafrechts scheide<br />

daher aus, und zwar unabhängig davon, ob das Glücksspielangebot<br />

von einem ausländischen oder deutschen Server<br />

erfolge.<br />

Dennoch dürfe man bei abstrakten Gefährdungsdelikten<br />

wie § 284 StGB nicht auf das Erfordernis eines Erfolgsortes<br />

verzichten. Mit stringenter Argumentation wird postuliert,<br />

dass Erfolgsort ein jeder sei, an dem eine abstrakte Gefahr für<br />

das geschützte Rechtsgut vorliege; die bloße Möglichkeit der<br />

Abrufbarkeit der Internetseiten durch den Internetbenutzer<br />

reiche bei Internetstraftaten aus. Allerdings müsse auf ein<br />

„virtuelles Ausland“ rekurriert werden. Danach folge sozusagen<br />

hier der Erfolgsort dem Handlungsort nach. Bei gewerblichen<br />

Internetangeboten komme es immer auf den virtuellen<br />

Ort des Geschäftsbereichs an. Liege der Firmensitz im (realen)<br />

Ausland, komme also weder einer Strafbarkeit des Veranstalters<br />

noch des Spielers nach deutschem Strafrecht in<br />

Betracht. Anders sei die Rechtslage zu beurteilen, wenn der<br />

ausländische Glücksspielveranstalter E-Mails an deutsche<br />

Spieler schicke; in diesem Fall trete der Erfolg, d.h. die abstrakte<br />

Gefahr der Spielsucht, in Deutschland ein, weil der<br />

Spieler dort Kenntnis von der Werbung bekomme. Anhand<br />

von fünf Fällen wird dieser Ansatz auf andere Internetdelikte<br />

mit Erfolg übertragen.<br />

Auch wenn diese Differenzierung etwas gekünstelt anmutet,<br />

kann man sich doch nicht der inneren Logik verschließen.<br />

Ob damit eine klare Remedur des Glücksspielmarktes gelingt,<br />

sei dahingestellt.<br />

Es schließt sich der fünfte Teil „Die Tathandlungen der<br />

§§ 284 ff. StGB“ an. Die einzelnen Tatbestandsmerkmale<br />

werden sauber durchdekliniert. Hinsichtlich der (heftig umstrittenen)<br />

Strafbarkeit des Vermittelns von Oddset-Wetten<br />

wird auf das Bereitstellen von Einrichtungen zum unerlaubten<br />

Glücksspiel gem. § 284 Abs. 1 3. Fall StGB erkannt.<br />

Das „Handeln ohne behördliche Erlaubnis“ bildet den<br />

letzten Teil der Arbeit, am Ende stehen – recht knapp auf gut<br />

fünf Seiten – Ausblick und Zusammenfassung. Angesichts<br />

der Verwaltungsakzessorietät des § 284 StGB sind Fragen<br />

der Genehmigung von eminenter Bedeutung für die Beurteilung<br />

der Strafbarkeit.<br />

Die Verf. schließt sich zunächst der verbreiteten Auffassung<br />

an, wonach die alten DDR-Genehmigungen selbst im<br />

20. Jahr der deutschen Einheit nur auf dem Gebiet der ehemaligen<br />

DDR Anwendung finden. Sodann werden die geltenden<br />

deutschen Regelungen zum Glücksspielwesen als nicht europarechtskonform<br />

erachtet. Sie stellten kein geeignetes Mittel<br />

zur Bekämpfung der Wettgefahren, insbesondere der Spiel-<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik –www.zis-online.com<br />

827


Mintas, Glücksspiele im Internet<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

sucht, dar. Es fehle an einer nennenswerten Eindämmungswirkung.<br />

Zudem sei auch ein reglementiertes Lizenzmodell<br />

denkbar, was nicht zu einem generellen Ausschluss Privater<br />

führe. Zwar sei nationalstaatlich die Messe gesungen, auf<br />

supranationaler Ebene hingegen stehe eine detaillierte und<br />

umfassende Prüfung des deutschen Glücksspielwesens noch<br />

aus.<br />

Insgesamt handelt es sich um eine sehr kenntnisreich und<br />

anschaulich geschriebene Arbeit, die den einschlägig Interessierten<br />

zuverlässig und umfassend mit der Materie vertraut<br />

macht. Auf der Höhe der Zeit stehend weist Mintas einen<br />

plausiblen Weg in die Zukunft des § 284 StGB. Ob dieser<br />

beschritten wird, bleibt wie immer abzuwarten.<br />

Privatdozent Dr. Norbert Janz, Potsdam/Berlin<br />

Janz<br />

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828<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009


Herz, Menschenhandel<br />

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B u c h r e z e n s i o n<br />

Annette Louise Herz, Menschenhandel, Eine empirische<br />

Untersuchung zur Strafverfolgungspraxis, Schriftenreihe des<br />

Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales<br />

Strafrecht, Band K 129, Duncker & Humblot, Berlin 2005, €<br />

35,-<br />

Menschenhandel stellt ein wichtiges kriminologisches Phänomen<br />

dar, dessen Immanenz angesichts der Fallzahlen nicht<br />

zu unterschätzen ist. Es handelt sich um einen Kriminalitätsbereich,<br />

der immer wieder in die Schlagzeilen gerät und in<br />

den vergangenen Jahren des öfteren Gegenstand von materiell-<br />

wie auch formellrechtlichen Rechtssetzungsmaßnahmen<br />

sowohl auf nationaler als auch auf europäischer bzw. internationaler<br />

Ebene wurde. Zudem ist Menschenhandel stets sehr<br />

eng mit dem Bereich des Menschenrechtsschutzes verknüpft<br />

und spiegelt regelmäßig weltpolitische Entwicklungen wider.<br />

Nicht zuletzt auch auf Grund der Tatsache, dass mit Menschenhandelsfällen<br />

in der Regel großes menschliches Leid<br />

verbunden ist und sich die Ermittlungen in derartigen Fällen<br />

üblicher Weise besonders schwierig gestalten, woran nicht<br />

selten auch eine effektive Strafverfolgung scheitert, lohnt<br />

sich ein Blick nicht nur auf die rechtlichen Rahmenbedingungen,<br />

sondern – als deren Basis und Folge – auch ein solcher<br />

auf die empirischen Grundlagen und Daten des Phänomens.<br />

Das vorliegende Werk vereint sowohl rechtliche als auch<br />

empirische Aspekte in sich, sodass dessen Lektüre für all<br />

jene, die sich in Praxis und Wissenschaft mit der Thematik<br />

Menschenhandel befassen, besonders lohnenswert ist. Wie<br />

bereits angesichts des Titels unschwer erkennbar, liegt der<br />

Schwerpunkt der Abhandlung auf der Erfassung und der<br />

Analyse empirischer Daten zur Strafverfolgungspraxis in<br />

Bezug auf Menschenhandel in Deutschland, doch kommen<br />

auch rechtliche Aspekte und eine Untersuchung sowohl der<br />

im Zeitpunkt des Erscheinens des Werkes geltenden als auch<br />

der damals schon geplanten zukünftigen (und nunmehr geltenden)<br />

Rechtslage nicht zu kurz. Die Autorin setzt sich im<br />

Zuge ihres Werkes – systematisch geglückt – zunächst mit<br />

den rechtlichen Rahmenbedingungen auf internationaler,<br />

europäischer und nationaler Ebene auseinander und scheut<br />

dabei auch eine kurze historische Aufarbeitung der Rechtslage<br />

nicht. Auch verwandte Tatbestände, wie z.B. jene der<br />

Prostitution, des Einschleusens von Ausländern und der Zuhälterei,<br />

werden thematisiert und in Relation zu den Menschenhandelstatbeständen<br />

gesetzt. Besonders wichtig erscheint<br />

an diesem Punkt zudem die von Herz vorgenommene<br />

Abgrenzung zwischen Menschenhandel und dem Einschleusen<br />

von Ausländern/der Schlepperei, welche nicht nur zum<br />

Verständnis des vorliegenden Werkes, sondern vielmehr für<br />

die Problematik des Menschenhandels an sich von essentieller<br />

Bedeutung ist.<br />

Im nächsten Abschnitt befasst sich Herz mit der registrierten<br />

Menschenhandelskriminalität und stellt diese an<br />

Hand der Polizeilichen Kriminalstatistik und der jährlich vom<br />

Bundeskriminalamt erstellten Lagebilder dar. Besonders<br />

interessant erscheint dabei der Blick auf die Zusammenschau<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Öner<br />

dieser Informationsquellen im Rahmen der Analyse der Entwicklungen<br />

der registrierten Menschenhandelskriminalität im<br />

Zeitraum 1994 bis 2003.<br />

Es folgt sodann die Darstellung der von der Autorin selbst<br />

durchgeführten empirischen Untersuchung, welche zunächst<br />

durch die Schilderung der gewählten Methode (Aktenanalyse,<br />

schriftliche Befragung mit 336 versendeten und davon 216<br />

retournierten Fragebögen, Expertengespräche mit 30 Personen<br />

aus Polizei, Justiz, Rechtsanwaltschaft, Beratungsstellen<br />

und – zur Gewinnung eines zusätzlichen Aspektes besonders<br />

interessant – auch Betreibern bordellartiger Einrichtungen)<br />

eingeleitet wird. In der Folge werden die Ergebnisse dieser<br />

umfassenden Studie eingehend dargestellt, wobei diese in<br />

mehrere Punkte unterteilt werden: Verfahrensmerkmale,<br />

Opfermerkmale und Täter- sowie Tatbegehungsmerkmale<br />

werden eigens und ausführlich analysiert. Angesichts der<br />

Fülle des hier verarbeiteten Materials und der daraus gezogenen<br />

Schlussfolgerungen bleibt an dieser Stelle nur, darauf<br />

hinzuweisen, dass bei der Lektüre der Ergebnisse einige der<br />

gewonnenen Aspekte als besonders interessant und teilweise<br />

sogar überraschend auffielen, was den Wert dieser Untersuchung<br />

verdeutlicht. So erscheint es – als eines von vielen<br />

Beispielen herausgegriffen – im Bereich der Analyse der<br />

Tatbegehungsmerkmale bemerkenswert, dass vor allem ländliche<br />

Regionen in Deutschland zunehmend an Bedeutung für<br />

den Kriminalitätsbereich Menschenhandel gewinnen. Herz<br />

analysiert dabei, dass nur etwa 50% der Menschenhandelsfälle<br />

in Großstädten angesiedelt seien, was einen für den Leser<br />

unerwartet niedrigen Prozentsatz darstellt und zudem weitere<br />

Entwicklungen in diesem Bereich mit Spannung erwarten<br />

lässt.<br />

Besonders interessant erscheint weiters die Erkenntnis,<br />

dass Menschenhandel nicht typischerweise einen Bereich der<br />

organisierten Kriminalität darstellt, sondern vielmehr bloß<br />

einzelne Merkmale dieses Bereichs aufweist. Diese Schlussfolgerung<br />

gewinnt Herz aus der ausführlichen Analyse von<br />

ausgewählten Parametern der Organisierten Kriminalität im<br />

Zuge der von ihr durchgeführten Studie.<br />

Den Abschluss der vorliegenden Arbeit bildet schließlich<br />

eine kritische Auseinandersetzung mit den zum Zeitpunkt der<br />

Fertigstellung des Manuskripts noch nicht in Kraft getretenen<br />

Änderungen der Menschenhandelstatbestände im deutschen<br />

StGB durch das 37. StrRÄG (in Kraft seit 19.2.2005). Herz<br />

lobt dabei in ihren Schlussfolgerungen die Entwicklung der<br />

deutschen Rechtslage hin zu einem effektiveren Rechtsschutz<br />

und einem mehrdimensionalen Ansatz, der nicht nur in strafrechtlichen<br />

und ermittlungstechnischen Maßnahmen bestehe,<br />

sondern vielmehr auch die besonders schwierige Situation<br />

von Menschenhandelsopfern berücksichtige.<br />

Im Anhang zum vorliegenden Werk sind – methodologisch<br />

lohnend – die im Rahmen der Studie von der Autorin<br />

verwendeten Fragebögen abgedruckt, was einen Einblick in<br />

die Vorgangsweise bei der Gewinnung der Untersuchungsergebnisse<br />

zulässt und das Bild des vorliegenden Werkes perfekt<br />

abzurunden vermag.<br />

Zusammenfassend ist hinsichtlich der vorliegenden Studie<br />

– neben den bereits ausführlich dargestellten Punkten – insbesondere<br />

die Fülle an Material, welches verarbeitet und zur<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

829


Herz, Menschenhandel<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Gewinnung informativer Schlussfolgerungen herangezogen<br />

wurde, als äußerst positiv hervorzuheben. Die Tatsache, dass<br />

in der Zwischenzeit in der deutschen Rechtslage massive<br />

Änderungen in Bezug auf die Menschenhandelstatbestände<br />

eingetreten sind, tut der Wichtigkeit des in Rede stehenden<br />

Werkes wie auch dessen Informationsgehalt keinerlei Abbruch,<br />

sind doch – wie die Autorin zu Beginn der Arbeit auch<br />

erläutert – wesentliche Elemente der alten Regelungen in die<br />

neuen Tatbestände übernommen worden. Zudem vermag die<br />

Studie nicht zuletzt auch dazu zu dienen, die Effektivität und<br />

Sinnhaftigkeit der jüngsten Änderungen zu überprüfen und<br />

die Entwicklungen der bestehenden Phänomene zu beobachten.<br />

Das gegenständliche Werk sollte jedenfalls zur Standardlektüre<br />

eines mit dem Bereich des Menschenhandels befassten<br />

Wissenschafters oder Praktikers gehören und stellt – wie<br />

bereits erwähnt – auch für in die Materie eingelesene Personen<br />

neue und interessante Aspekte bereit.<br />

Dr. Stephanie Öner (vormals Reiter), Wien<br />

Öner<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

830<br />

<strong>ZIS</strong> 13/2009

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