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Simone Keil: Guy Lacroix: Auf der Jagd nach dem Rosenkranzmörder (Clockwork Cologne)

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Das Buch<br />

Europa hat sich noch immer nicht von <strong>dem</strong> Quantenmagischen GAU<br />

erholt, <strong>der</strong> die Welt 40 Jahre zuvor erschüttert hat. Die quantenmagische<br />

Strahlung verseucht den halben Kontinent. Die Dampfmagische Gesellschaft<br />

hat einen Schutzschirm über Cöln errichtet, doch dieser Schutz<br />

hat seinen Preis. Die Dampfmagier nutzen die Furcht vor <strong>der</strong> Strahlung<br />

aus, um die Bürger zu kontrollieren.<br />

Die Quantenmagier sind in den Untergrund geflüchtet und haben unter<br />

den Gassen Cölns eine Welt geschaffen, die ihren eigenen Regeln<br />

folgt. Aber auch in <strong>der</strong> Oberstadt nehmen Korruption und Verbrechen<br />

erschreckende Ausmaße an. Die Dezernate des Kaiserlichen Kriminalamtes<br />

sind unterbesetzt, die Beamten überlastet. Viele haben sich korrumpieren<br />

lassen o<strong>der</strong> resigniert.<br />

Nicht so Kommissär <strong>Lacroix</strong>. Für ihn sind Recht und Gesetz nicht<br />

nur leere Floskeln. Er steht mit beiden Beinen fest auf <strong>dem</strong> geschwärzten<br />

Boden Cölns und kämpft für Gerechtigkeit. Bis ein schwerer Schicksalsschlag<br />

auch seine Welt ins Wanken bringt.<br />

Die Autorin<br />

<strong>Simone</strong> <strong>Keil</strong> lebt und arbeitet in Hessen. Seit den ersten Leseversuchen<br />

hat sie ihr Herz an Märchen und phantastische Geschichten verloren.<br />

Zum Schreiben fand sie relativ spät, kann es aber seit <strong>dem</strong> nicht mehr<br />

lassen. www.simonekeil.com


<strong>Simone</strong> <strong>Keil</strong><br />

<strong>Guy</strong> <strong>Lacroix</strong>:<br />

<strong>Auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Jagd</strong> <strong>nach</strong> <strong>dem</strong><br />

Rosenkranzmör<strong>der</strong><br />

<strong>Clockwork</strong> <strong>Cologne</strong>


Originalausgabe Januar 2014<br />

Copyright © 2014 <strong>Simone</strong> <strong>Keil</strong>, Oberaula<br />

email@simonekeil.com<br />

www.simonekeil.com<br />

Covergestaltung Jacqueline Spieweg, www.jspieweg.de,<br />

unter Verwendung folgen<strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>:<br />

dark times © Andrey Kiselev - Fotolia.com, vintage clocks black<br />

background frame © pixel_dreams - Fotolia.com, Steampunk<br />

style ad board © Masek - Fotolia.com<br />

All rights reserved.<br />

ISBN-10: 1495264203<br />

ISBN-13: 978-1495264207


1<br />

Fuchs hatte gute Arbeit geleistet. Ohne seinen unermüdlichen<br />

Einsatz hätten sie den Wechselbalg, wie die<br />

Presse den Verbrecher getauft hatte, nicht in dieser<br />

kurzen Zeit dingfest machen können. <strong>Guy</strong> <strong>Lacroix</strong><br />

schüttelte die Hand des frischgebackenen Kommissärs.<br />

»Gute Arbeit, Fuchs. Ich gratuliere zur Beför<strong>der</strong>ung.«<br />

»Danke, Herr Kommissär.« Fuchs deutete eine<br />

Verbeugung an. »Ich durfte vom Besten lernen, <strong>der</strong><br />

Ruhm gebührt also Ihnen.«<br />

<strong>Lacroix</strong> winkte ab. »Am Ende zählen nur Erfolge.<br />

Und ich hatte meine Stücke vom Ruhm.« Er klopfte<br />

sich auf den leichten Bauchansatz. »Wahrscheinlich zu<br />

viele davon. Nun verschwinden Sie schon, Ihr Dienst<br />

ist beendet und Sie wollen sicher noch feiern. Also,<br />

Abmarsch, das ist ein Befehl. Wir sehen uns morgen<br />

zur Einsatzbesprechung am Frachthafen.«<br />

Fuchs schlug die Hacken zusammen und stürzte<br />

den Rest seines Champagners herunter. Er reichte<br />

Fräulein Schiermann das leere Glas, nahm ihr Gesicht<br />

1


zwischen seine Hände und drückte ihr einen Kuss auf<br />

die Stirn, bevor er lachend zum Ausgang eilte.<br />

Die Sekretärin errötete. »Frecher Lümmel«, murmelte<br />

sie und räumte summend die leeren Gläser zusammen.<br />

<strong>Guy</strong> sah Fuchs <strong>nach</strong> und schüttelte leicht den<br />

Kopf. Ungestüme Jugend. Aber Fuchs war ein fähiger<br />

Polizist, in fünf, sechs Jahren konnte er<br />

Hauptkommissär sein.<br />

»So, dann wären nur noch wir beide übrig. Die alte<br />

Garde, sozusagen.«<br />

<strong>Lacroix</strong> drehte sich um. Er hatte gar nicht bemerkt,<br />

dass Molter noch anwesend war. »Alte Garde<br />

und bald altes Eisen«, antwortete er und schenkte<br />

Molter den Rest aus <strong>der</strong> Flasche ein. Dann legte er<br />

ihm die Hand auf die Schulter. »Machen Sie sich<br />

nichts draus, beim nächsten Mal sind Sie an <strong>der</strong> Reihe.«<br />

Molter nippte an seinem Glas und nickte langsam.<br />

»Ja, sicher.« Dann ging er ans Fenster und sah in den<br />

Hof hinaus.<br />

<strong>Lacroix</strong> betrachtete den gebeugten Rücken des Assistenten.<br />

Er wusste, dass es für Molter kein nächstes<br />

Mal geben würde, und Molter wusste es auch. Der<br />

Mann war zuverlässig, immer bereit Überstunden zu<br />

machen, wenn es nötig war. Aber ihm fehlte <strong>der</strong> Biss,<br />

Intuition, <strong>der</strong> richtige Riecher, das, was einem Polizeibeamten<br />

im Blut liegen musste. Deshalb war er<br />

immer noch Assistent und würde es für den Rest seiner<br />

Dienstjahre auch bleiben.<br />

<strong>Guy</strong> sah auf seine Taschenuhr. Wenn er zu spät<br />

<strong>nach</strong> Hause käme, würde Hedwig ihn teeren und fe<strong>der</strong>n.<br />

Er hatte versprochen, pünktlich zu sein.<br />

Er nahm seinen Mantel vom Haken und setzte den<br />

2


Hut auf. »Es wird Zeit für mich, Molter. Wir sehen<br />

uns morgen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ<br />

er den Raum.<br />

Molter starrte noch einige Minuten aus <strong>dem</strong> Fenster,<br />

dann stellte er das halbvolle Glas ab und ging in<br />

das Büro <strong>der</strong> Assistenten, setzte sich an seinen<br />

Schreibtisch, entzündete die Lampe und nahm eine<br />

<strong>der</strong> Akten von <strong>dem</strong> Stapel. »Guter Molter«, murmelte<br />

er. »Machst Überstunden, kümmerst dich um die Ablage<br />

<strong>der</strong> Herren Kommissäre. Braver Molter.«<br />

Als Fräulein Schiermann die Lichter löschte und<br />

ihm beschwingt einen guten Abend wünschte, hob er<br />

nicht einmal den Kopf. Er hatte viel zu tun. Und er<br />

hatte Zeit, niemand wartete auf ihn. Niemand wartete<br />

auf den guten, alten Molter. »Dummer alter Mann«,<br />

sagte er und nahm den nächsten Ordner vom Stapel.<br />

<strong>Guy</strong> <strong>Lacroix</strong> ging die wenigen Blocks zu Fuß <strong>nach</strong><br />

Hause. Der Abend war lau. Er atmete tief ein. Kaum<br />

Ruß in <strong>der</strong> Luft und es roch nur schwach <strong>nach</strong> Rauch.<br />

Fast wie früher. Er erinnerte sich an die Tage, als die<br />

Welt noch in Ordnung gewesen war, noch kein<br />

Schutzschild die Stadt vor <strong>der</strong> Strahlung schützen<br />

musste. Das war lange her, die Zeiten hatten sich geän<strong>der</strong>t,<br />

die Menschen hatten sich mit ihrem Schicksal<br />

arrangiert. Was man nicht än<strong>der</strong>n konnte, musste man<br />

akzeptieren.<br />

Frau Lehmann winkte ihm zu. »Einen guten<br />

Abend, Herr Hauptkommissär«, rief sie fröhlich.<br />

<strong>Lacroix</strong> griff an die Krempe seines Hutes und<br />

nickte <strong>der</strong> Blumenfrau zu. »Einen beson<strong>der</strong>s schönen<br />

Abend!«<br />

»Ich hab in <strong>der</strong> Zeitung gelesen, dass Sie das<br />

Monster gefasst haben. Endlich können wir wie<strong>der</strong><br />

3


uhig schlafen.«<br />

Ruhig. Wenn Frau Lehmann wüsste, was sich in<br />

den Armenvierteln abspielte, keine fünf Kilometer<br />

von ihrem Blumenstand entfernt, hinter hohen Zäunen<br />

und vergitterten Toren, sie würde kein Auge<br />

mehr zumachen. Vor Angst und vor Scham. Aber das<br />

waren Informationen, die die Zeitungen nicht druckten.<br />

Nicht drucken durften. Die Dampfmagische Gesellschaft<br />

beschützte die Bürger <strong>der</strong> Stadt vor schlechten<br />

Meldungen.<br />

»Sie können schlafen wie ein Baby«, sagte er. Es<br />

gab keinen Grund eine alte Frau zu beunruhigen, das<br />

Leben war schwer genug. »Ich brauche Ihren schönsten<br />

Strauß, Frau Lehmann, für die schönste Frau.«<br />

»Gibt es einen beson<strong>der</strong>en Anlass, Herr<br />

Hauptkommissär?«<br />

»Oh ja, den gibt es. Jeden Tag.«<br />

Frau Lehmann lachte auf. »Frau <strong>Lacroix</strong> hat großes<br />

Glück«, sagte sie. »Mein Frie<strong>der</strong> ist nun schon vor<br />

fast zwanzig Jahren gegangen.« Sie schüttelte den<br />

Kopf und fasste zwei Sträuße roter Rosen zusammen.<br />

»Aber er hat nicht leiden müssen, das haben mir die<br />

Ärzte versichert. Er hat nicht leiden müssen.« Sie<br />

nickte immer wie<strong>der</strong>, als wollte sie sich ihre Aussage<br />

bestätigen.<br />

<strong>Lacroix</strong> biss die Zähne zusammen. Friedrich Lehmann<br />

war im staatlichen Hospiz gestorben. Er hatte<br />

sich buchstäblich die Seele aus <strong>dem</strong> Leib gehustet.<br />

<strong>Guy</strong> hatte einige <strong>der</strong> Strahlenkranken sterben sehen<br />

und er wusste, wozu die Einrichtungen wirklich da<br />

waren. Ärzte gab es kaum, die armen Schweine in den<br />

völlig überbelegten Schlafsälen wurden am Leben gehalten,<br />

solange es möglich war, um möglichst viele<br />

Blausteine zu sammeln. Angehörige hatten keinen<br />

4


Zutritt, um die »Ruhe <strong>der</strong> Sterbenden« nicht zu stören.<br />

Alles hatte sich verän<strong>der</strong>t <strong>nach</strong> <strong>dem</strong> großen GAU,<br />

auch die Menschen. Schlimme Ereignisse brachten<br />

immer das Beste im Menschen zum Vorschein – und<br />

das Schlechteste.<br />

<strong>Guy</strong> nahm den Strauß entgegen und drückte Frau<br />

Lehmann einige Scheine in die Hand.<br />

»Nicht doch, Herr Hauptkommissär!«, rief sie entrüstet.<br />

Doch er hatte sich bereits abgewandt und seinen<br />

Weg fortgesetzt.<br />

Wenige Minuten später öffnete Fräulein Weber ihm<br />

die Haustür. Sie nahm ihm Hut und Mantel ab und<br />

lief in die Küche, um eine Vase zu holen.<br />

»Du bist pünktlich!« Hedwig kam aus <strong>dem</strong> Wohnzimmer,<br />

sie war bereits für den Abend angekleidet.<br />

<strong>Guy</strong> sah sie stumm an. Perlen schimmerten in ihrem<br />

roten Haar. Ihre Augen leuchteten aufgeregt, die kleinen<br />

Fältchen vom Lächeln vertieft, <strong>der</strong> weiße Hals<br />

von einem schlichten Collier betont.<br />

Sie betaste ihre Frisur und sah an sich herunter.<br />

»Ist etwas nicht in Ordnung?«<br />

<strong>Guy</strong> legte die Blumen auf die Kommode, nahm<br />

seine Frau in die Arme und küsste sie. »Ich bin <strong>der</strong><br />

glücklichste Mann auf <strong>der</strong> Erde«, sagte er dann. »Was<br />

findest du nur an mir?«<br />

»Du bist dumm«, antwortete sie. »Wie kann jemand,<br />

<strong>der</strong> so klug ist, gleichzeitig so dumm sein?«<br />

<strong>Guy</strong> drückte seine Nase in ihr Haar und atmete<br />

den Duft <strong>nach</strong> frischen Limonen ein. »Ich bin eben<br />

vielseitig. Ist das <strong>der</strong> Grund, warum du mich liebst?«<br />

»Natürlich«, sagte sie. »Und weil du im Smoking so<br />

eine fantastische Figur abgibst. Also los«, sie deutete<br />

5


auf die Wanduhr, »zieh dich um, sonst verpassen wir<br />

die Ouvertüre.«<br />

<strong>Guy</strong> verzog das Gesicht, als sie sich aus seinen<br />

Armen wand und ihn unbarmherzig zur Treppe<br />

schob. »Fügen Sie sich in Ihr Schicksal, Herr Kommissär.<br />

Je<strong>der</strong> bekommt, was er verdient.«<br />

»Du bist grausam«, sagte er lachend und stapfte die<br />

Treppe hinauf.<br />

Nach<strong>dem</strong> <strong>der</strong> letzte Ton verklungen war, herrschte<br />

vollkommene Stille im Cölner Opernhaus. Die Primadonna<br />

hatte die Augen geschlossen. <strong>Guy</strong> hielt den<br />

Atem an und Hedwig drückte seine Hand so fest, dass<br />

es weh tat. Dann brandete Applaus auf. <strong>Guy</strong> blieb auf<br />

seinem Stuhl sitzen, beobachtete die Menschen, die<br />

begeistert von ihren Sitzen sprangen, und spürte den<br />

Tönen <strong>nach</strong>, die trotz des Lärms noch immer in ihm<br />

<strong>nach</strong>klangen. Dann erhob er sich ebenfalls und fiel in<br />

die frenetischen Beifallrufe ein.<br />

Hedwig strahlte ihn an. Sie war glücklich. Und<br />

<strong>Guy</strong> war froh, dass er endlich ihrem Drängen <strong>nach</strong>gegeben<br />

und eine Vorstellung mit ihr zusammen besucht<br />

hatte. Die Musik, aber vor allem Edda Felices<br />

Stimme, hatten eine Seite in ihm berührt, die er viel<br />

zu tief in sich verschlossen hatte.<br />

Der Vorhang fiel zum wie<strong>der</strong>holten Male. Die<br />

Primadonna stand immer noch an ihrem Platz und<br />

neigte nur gelegentlich den Kopf, als perlten <strong>der</strong> Applaus,<br />

die Jubelrufe, die allgemeine Verzückung von<br />

ihr ab wie ein Frühlingsschauer von frischen Trieben.<br />

Sie schwankte ein wenig. Zwei Männer tauchten von<br />

<strong>der</strong> Bühnenseite auf, überreichten ihr ein riesiges<br />

Bouquet. Sie hakten sie ein und führten sie von <strong>der</strong><br />

Bühne, obwohl das Publikum noch immer tobte.<br />

6


»Vollkommen«, sagte Hedwig, als sie im Foyer standen<br />

und <strong>Guy</strong> ihr in den Mantel half. »Professor<br />

Küpperbusch hat die vollkommene Stimme geschaffen.<br />

Es ist zu traurig.«<br />

»Traurig?« <strong>Guy</strong> drückte Hedwigs Hand, führte sie<br />

die Eingangsstufen hinab. »Traurig ist nur, dass du<br />

mich erst heute mitgenommen hast und ich viel zu<br />

viele Vorstellungen verpasst habe.«<br />

»Du Lügner!« Hedwig gab ihm einen Klaps auf<br />

den Arm. »Wie viele Male habe ich dich schon gebeten,<br />

mich zu begleiten? Hun<strong>der</strong>t? Tausend?«<br />

»Unendlich viele Male! Wie kannst du es nur mit<br />

einem solchen Banausen aushalten?«<br />

Eine Mietkutsche näherte sich und <strong>Guy</strong> hob den<br />

Arm. Hedwig nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände<br />

und sah ihm tief in die Augen. »Ich liebe dich, du<br />

Banause.«<br />

<strong>Guy</strong> beugte sich zu ihr hinunter, berührte sacht ihre<br />

Lippen mit seinen. Das Hupen des Chauffeurs ließ<br />

sie auseinan<strong>der</strong>fahren. »Möchtest du noch etwas essen?«<br />

Hedwig schüttelte den Kopf. »Lass uns <strong>nach</strong> Hause<br />

fahren.«<br />

Sie stiegen in die Mietkutsche und <strong>Guy</strong> nannte<br />

<strong>dem</strong> Chauffeur ihre Adresse. Mit einem lauten Knall<br />

stieß das Automobil eine Dampfwolke aus und setzte<br />

sich in Bewegung.<br />

»Ich werde mich nie an diese stinkenden Gefährte<br />

gewöhnen«, sagte Hedwig. »Ich liebte das gemächliche<br />

Traben <strong>der</strong> Pferde, ihren Geruch, das Geräusch<br />

<strong>der</strong> Hufe auf <strong>dem</strong> Asphalt.«<br />

»Bei dieser Witterung mögen auch Pferdekutschen<br />

noch fahren können, aber wenn <strong>der</strong> Rußausstoß <strong>der</strong><br />

Dampfkraftwerke wie<strong>der</strong> stärker wird …«<br />

7


»Ich weiß.« Mit einem Seufzen lehnte sie den Kopf<br />

an seine Schulter und <strong>Guy</strong> legte den Arm um ihre<br />

Schultern.<br />

»Was meintest du vorhin damit, dass es traurig sei?<br />

Die Primadonna war fantastisch, ihre Stimme ist die<br />

Krönung von Professor Küpperbuschs Schaffensperiode.«<br />

»Hast du nicht gesehen, wie sie schwankte? Den<br />

Schmerz in ihren Augen? Ihre Karriere neigt sich <strong>dem</strong><br />

Ende zu. Bald werden die Apparaturen an ihren<br />

Stimmbän<strong>der</strong>n Rost ansetzen, die Organe versagen.<br />

Sie steht schon länger auf <strong>der</strong> Bühne als alle an<strong>der</strong>en<br />

Primadonnen vor ihr.«<br />

<strong>Guy</strong> sah aus <strong>dem</strong> Fenster. Noch waren die Straßen<br />

voller Leben, aber bald schon würden sie sich leeren.<br />

Die DMG hatte eine Ausgangssperre ab 23.00 Uhr<br />

angeordnet. Tiefdruck war angekündigt worden.<br />

»Ich erinnere mich«, sagte er. »Ich habe seinerzeit<br />

einen Artikel darüber gelesen. Die letzte Primadonna<br />

brach auf <strong>der</strong> Bühne zusammen. Nach<strong>dem</strong> sie den<br />

letzten Ton gesungen hatte, hörte ihr Herz auf zu<br />

schlagen. Einfach so. Du hast recht, es ist traurig.«<br />

Die Mietkutsche stoppe vor ihrem Haus. <strong>Guy</strong> bezahlte<br />

den Fahrer und sie gingen hinein. Die Haushälterin<br />

half ihnen aus den Mänteln und fragte <strong>nach</strong><br />

ihren Wünschen.<br />

»Wir sind wunschlos glücklich«, sagte <strong>Guy</strong>. »Sie<br />

können zu Bett gehen, Fräulein Weber.«<br />

Als sich die Tür zum Dienstbotenbereich geschlossen<br />

hatte, nahm er Hedwig auf die Arme und<br />

trug sie <strong>nach</strong> oben ins Schlafzimmer.<br />

8


2<br />

<strong>Guy</strong> stand mit verschränkten Armen am Fenster und<br />

sah auf die Straße. Die Sonne war gerade aufgegangen<br />

und ließ die geschwärzten Fassaden <strong>der</strong> Backsteinhäuser<br />

noch düsterer erscheinen. In diesem Teil <strong>der</strong> Stadt<br />

hielt sich <strong>der</strong> Verfall in Grenzen, kaum Unrat in den<br />

Gassen, nur wenige Bettler, die in den Hauseingängen<br />

kauerten, schmutzige Tücher um die Gesichter geschlungen.<br />

Doch auch diese hatten sich heute verkrochen.<br />

Keine Menschenseele war unterwegs. Selbst die<br />

Chauffeure schienen ihre Mietkutschen an diesem<br />

Tag in den Unterständen zu lassen. Eine gute Entscheidung.<br />

Es herrschte Tiefdruck und <strong>der</strong> Wind trieb den<br />

Ruß <strong>der</strong> Dampfkraftwerke durch die Gassen. Die<br />

schwarzen Wolken ließen schon an guten Tagen das<br />

Atmen zur Qual werden. An Tagen wie diesem grenzte<br />

es an Selbstmord, den Schutz des Hauses ohne<br />

Rußmaske zu verlassen. Doch Atemschutzgeräte waren<br />

knapp und teuer, in den kaiserlichen Warenhäusern<br />

schwer zu bekommen. <strong>Auf</strong> <strong>dem</strong> Schwarzmarkt<br />

9


erzielten die Hehler mit veralteten Geräten Höchstpreise,<br />

die nicht einmal schlichte Staubkörner filtern<br />

konnten, geschweige denn den schweren schwarzen<br />

Ruß, <strong>der</strong> die Stadt unter sich begrub wie böser<br />

Schnee.<br />

In <strong>Guy</strong> <strong>Lacroix</strong>' Besitz befanden sich natürlich eine<br />

Rußmaske und eine Schutzbrille, ebenso ein<br />

sechsschüssiger Revolver. Die Standardausrüstung <strong>der</strong><br />

Kommissäre des Kaiserlichen Kriminalamtes. Er war<br />

so gut ausgerüstet, wie es in diesen Zeiten möglich<br />

war. Er hatte nicht die Wahl, in seinem Haus zu bleiben,<br />

er hatte seine Pflicht zu erfüllen, die heute darin<br />

bestand, im Hafenviertel einen Ambrosia-Händler<br />

festzunehmen.<br />

Er ließ die Trommel seiner Dienstwaffe rotieren<br />

und steckte sie in das Schulterholster. Dann zog er<br />

seinen schwarzen Gehrock darüber, richtete ihn und<br />

überprüfte den Sitz in <strong>dem</strong> großen Spiegel.<br />

Hedwig seufzte im Schlaf und er beugte sich über<br />

sie, betrachtete ihr Gesicht, die ein wenig zu große<br />

Nase, den Schwung ihrer vollen Lippen. Sie war noch<br />

so schön wie an <strong>dem</strong> Tag, als er sie das erste Mal gesehen<br />

hatte. Er konnte sich nicht sattsehen an ihrem<br />

zarten Hals, <strong>dem</strong> kleinen Leberfleck hinter <strong>dem</strong> rechten<br />

Ohr, ihrem Haar, das ihren Kopf umspülte wie<br />

rotes Schilfgras. Er küsste sie sacht auf die Stirn und<br />

sie öffnete die Augen.<br />

»Wo gehst du hin?« Sie zog ihn an sich, rieb ihre<br />

Wange an seinem stoppeligen Kinn. »Schon wie<strong>der</strong><br />

ein Einsatz?«<br />

Ihre Stimme klang besorgt und <strong>Guy</strong> schüttelte den<br />

Kopf. »Nur eine Übung. Während <strong>der</strong> Ausgangssperre<br />

können wir das Hafengelände nutzen.«<br />

Hedwig schob ihre Hand zwischen den Knöpfen<br />

10


seines Hemdes hindurch und streichelte seine Brust.<br />

»Du könntest dich krank melden«, flüsterte sie. »Tag<br />

und Nacht stehst du auf Abruf bereit, du hast einen<br />

freien Tag verdient.«<br />

Sie nickte resigniert, als er ihr Handgelenk packte<br />

und einen Kuss in die Handfläche hauchte.<br />

»Es wird nicht lange dauern«, sagte er. »Versprochen.<br />

Dann gehöre ich wie<strong>der</strong> ganz dir.«<br />

»Du gehörst mir«, sagte sie und legte die Hand auf<br />

ihr Herz. »Hier drinnen halte ich dich gefangen. Für<br />

immer.«<br />

»Für immer.«<br />

Neben <strong>der</strong> Tür hing seine Schutzkleidung an einem<br />

Haken. Er griff seine Gasmaske und bemerkte<br />

nicht, dass er die Schutzbrille auf <strong>dem</strong> Nachttisch<br />

vergaß.<br />

<strong>Guy</strong> nahm den Weg durch die U-Bahntunnel. Einer<br />

<strong>der</strong> Eingänge lag nur wenige Schritte von seinem<br />

Haus entfernt und das unterirdische Schienensystem<br />

würde ihn direkt zum Hafen führen. Viele <strong>der</strong> Tunnel<br />

waren baufällig und die Bahn fuhr bereits seit zehn<br />

Jahren nicht mehr.<br />

Das Betreten <strong>der</strong> unterirdischen Anlage war unter<br />

Strafe verboten. Und tatsächlich hielten sich die meisten<br />

Bürger fern von den düsteren Tunneln, wenn<br />

auch nicht aus Furcht vor Strafe – <strong>der</strong> Arm des Gesetzes<br />

war viel zu kurz, um in die Tunnel zu reichen,<br />

die wenigen Beamten erstickten in Arbeit. Die Furcht,<br />

die die Bürger von den Tunneln fern hielt, wohnte<br />

tiefer. Tief unter <strong>dem</strong> Tunnelsystem, das sich unter<br />

<strong>der</strong> Cölner Innenstadt zu einem feinmaschigen unübersichtlichen<br />

Netz verästelte.<br />

<strong>Guy</strong> drehte die Kurbel <strong>der</strong> Taschenlampe, bis <strong>der</strong><br />

11


Akku vollständig aufgeladen war und folgte <strong>dem</strong><br />

Lichtkegel. Die meisten Fliesen waren von den Wänden<br />

gefallen, die Feuchtigkeit durchdrang die Mauern.<br />

Bald würde auch dieser Teil <strong>der</strong> Tunnel nicht mehr<br />

begehbar sein. Unter den Kachelhaufen raschelte es.<br />

Der Geruch <strong>nach</strong> Mäusedreck war durchdringend.<br />

Hinter <strong>der</strong> nächsten Gabelung stand eine U-Bahn, die<br />

Türen geöffnet, als wartete sie nur darauf, dass die<br />

Passagiere endlich einstiegen und sie losfahren konnte.<br />

Gespenstisch glitt das Licht <strong>der</strong> Taschenlampe<br />

über die blinden Scheiben. Gänsehaut kroch über<br />

<strong>Guy</strong>s Arme, er fühlte sich beobachtet, hielt inne und<br />

lauschte in die Dunkelheit außerhalb seines bescheidenen<br />

Lichtkegels. Ein Klappern, <strong>Guy</strong> zuckte zusammen<br />

und atmete auf, als eine Ratte über die verrosteten<br />

Schienen huschte.<br />

»Dummkopf«, flüsterte er und schüttelte den<br />

Kopf. Die Tunnel beunruhigten ihn immer wie<strong>der</strong>,<br />

obwohl es nichts Gefährlicheres als Ratten und Mäuse<br />

und hin und wie<strong>der</strong> einen herrenlosen Hund hier<br />

unten zu finden gab. Die DMG hatte diesen Teil des<br />

Tunnelsystems systematisch abgesucht und für sicher<br />

befunden. Es gab keine Eingänge zur Unterwelt.<br />

Nicht hier.<br />

Tageslicht erhellte die Düsternis. <strong>Guy</strong> stieg die<br />

Treppe hinauf. Er setzte die Rußmaske auf und tastete<br />

<strong>nach</strong> seiner Schutzbrille. Verdammt! Ein Blick auf<br />

seine Taschenuhr zeigte ihm, dass es zu spät war, um<br />

umzukehren und die Brille zu holen. Er würde ohne<br />

sie gehen müssen.<br />

Die Einsatzbesprechung fand in einem leer stehenden<br />

Lagerhaus statt. Inspektor Voigt sah auf seine Taschenuhr,<br />

als <strong>Guy</strong> eintrat und räusperte sich. »Nun, da<br />

12


alle anwesend sind, wird Kommissär <strong>Lacroix</strong> Sie mit<br />

den Details vertraut machen.«<br />

<strong>Guy</strong> nahm den Platz seines Chefs ein. Anwesend<br />

waren (außer Kriminalinspektor Voigt) Kommissär<br />

Fuchs und zwei Kriminalassistenten-Anwärter.<br />

Frischlinge, noch nicht trocken hinter den Ohren.<br />

<strong>Guy</strong> seufzte unhörbar, als er ihre jungen Gesichter<br />

betrachtete. Er würde froh sein können, wenn sie<br />

nicht über ihre eigenen Füße stolperten. Die Beamten<br />

des KKA waren völlig überlastet, so dass man dankbar<br />

sein musste, wenigstens Frischlinge zugeteilt zu<br />

bekommen. Der Einsatz würde durchgeführt werden<br />

und die zur Verfügung stehenden Beamten würden<br />

ausreichen müssen.<br />

»Meine Herren.« Er nickte den Kollegen zu. »Wir<br />

haben Informationen erhalten, dass heute um genau<br />

9.00 Uhr die Übergabe stattfinden wird. Es handelt<br />

sich um Ambrosia im Wert von über tausend<br />

Cölnmark. Zielobjekte sind ein Straßenhändler und<br />

sein Zulieferer, sowie <strong>der</strong> Fahrer des Automobils.<br />

Reine Routine also und selbst mit unseren knappen<br />

personellen Möglichkeiten spielend zu bewältigen.«<br />

Inspektor Voigt zog die Mundwinkel <strong>nach</strong> unten.<br />

Für diesen unangemessenen Hinweis würde <strong>Guy</strong> eine<br />

Rüge kassieren, aber das war es ihm wert.<br />

»Kommissär Fuchs?« Der Angesprochene erhob<br />

sich. »Sie beziehen Stellung an <strong>der</strong> westlichen Ausfahrt<br />

und kümmern sich um den Wagen des Lieferanten.<br />

Unsere beiden Anwärter sichern das östliche<br />

Tor.« Nervös fingerte <strong>der</strong> Kleinere an seiner Waffe<br />

herum. Hoffentlich schoss er sich damit keinen Zeh<br />

ab. »Und ich«, fuhr <strong>Guy</strong> fort, »werde den Händler<br />

übernehmen. Ich beziehe Stellung hinter den Containern.<br />

Der Mann wird auf <strong>dem</strong> freien Gelände zwi-<br />

13


schen den Anlegeplätzen und den Lagerhallen leicht<br />

zu überwältigen sein. Der Einsatz wird keine fünfzehn<br />

Minuten dauern. Und das sollte er auch nicht,<br />

denn meine Frau wartet mit <strong>dem</strong> Frühstück auf<br />

mich.« Höfliches Gelächter. »Noch Fragen? Gut.« Er<br />

sah auf seine Taschenuhr. »Es ist genau 8.40 Uhr.<br />

Nehmen wir unsere Plätze ein.«<br />

»Danke, Kommissär.« Inspektor Voigt klemmte<br />

sich seine Aktentasche unter den Arm und zog den<br />

Hut auf. »Ich erwarte dann Ihren Bericht.«<br />

»Selbstverständlich, Inspektor. Gleich Montag früh<br />

haben Sie ihn auf <strong>dem</strong> Schreibtisch.« <strong>Guy</strong> sah seinem<br />

Vorgesetzten <strong>nach</strong>, als er zum Ausgang eilte, wo sein<br />

Dienstwagen mit laufen<strong>dem</strong> Motor wartete. Er hatte<br />

das dringende Bedürfnis auszuspucken, besann sich<br />

aber, als er sich <strong>der</strong> Blicke <strong>der</strong> jungen Anwärter bewusst<br />

wurde. »Also, meine Herren, verlieren wir keine<br />

Zeit.«<br />

Die Burschen eilten auf den ihnen zugewiesenen<br />

Platz. <strong>Guy</strong> schüttelte Kommissär Fuchs' Hand und<br />

sah ihm <strong>nach</strong>, wie er sich beeilte, den westlichen Ausgang<br />

zu erreichen.<br />

Um 8.45 Uhr spannte <strong>Guy</strong> <strong>Lacroix</strong> den Hahn seines<br />

Revolvers und bezog Stellung hinter den Containern.<br />

Der Händler erschien pünktlich um kurz vor<br />

neun. <strong>Guy</strong>s Pulsschlag erhöhte sich und doch war er<br />

ganz ruhig. Er drückte sich mit <strong>dem</strong> Rücken an den<br />

Containern entlang, <strong>der</strong> Ruß brannte in seinen Augen<br />

und trieb ihm die Tränen hinein.<br />

Der Händler lief auf die Kräne zu, wo soeben ein<br />

schwarzes Automobil zum Stehen kam. Das Gefährt<br />

dampfte und kleine Explosionen spuckten graue<br />

Wolken in die von Rußpartikeln geschwärzte Luft.<br />

Die Übergabe ging eilig vonstatten. Der Wagen fuhr<br />

14


davon, noch bevor sich die Tür des Fonds geschlossen<br />

hatte. Um ihn würde sich Kommissär Fuchs<br />

kümmern. Ein zuverlässiger Mann.<br />

<strong>Guy</strong> hob die Waffe. Der Händler passierte sein<br />

Versteck, blickt sich um, stockte kurz und lief eilig<br />

weiter. <strong>Guy</strong> sah im Augenwinkel eine Bewegung,<br />

schnellte herum und legte an. Eine Kugel streifte seinen<br />

Oberarm und zog eine schmerzende Furche<br />

durch sein Fleisch. Er riss den Revolver herum, folgte<br />

<strong>der</strong> Bewegung mit seinem Körper. Der Schrei einer<br />

Frau durchdrang seine Konzentration nur gedämpft.<br />

<strong>Guy</strong> drückte ab, einmal, zweimal, <strong>der</strong> Händler stürzte<br />

getroffen zu Boden.<br />

Wie<strong>der</strong> wandte <strong>Guy</strong> sich <strong>der</strong> Gestalt hinter seinem<br />

Rücken zu und sah, wie sie ebenfalls zu Boden sank.<br />

Irgendetwas, an <strong>der</strong> Art wie sie Arme in die Höhe<br />

riss, kam ihm vertraut vor. Vertraut und einzigartig.<br />

Hedwig <strong>Lacroix</strong> starb um 9.15 Uhr am 40. Jahrestag<br />

des großen GAUs. Nicht an den Folgen <strong>der</strong> magischen<br />

Verstrahlung, sie befand sich nur zur falschen<br />

Zeit am falschen Ort.<br />

Es war eine 8mm Kugel aus Kommissär <strong>Lacroix</strong>'<br />

Dienstwaffe, die an einem Stahlträger abprallte, abrupt<br />

die Richtung än<strong>der</strong>te, die Frontalplatte ihres<br />

Schädels durchdrang, eine Arterie zerfetzte, das<br />

Großhirn zerschnitt wie Butter und im Kleinhirn stecken<br />

blieb. Hedwig spürte keinen Schmerz. Zuerst<br />

verlor sie die Fähigkeit zu sehen, dann das Gehör.<br />

Sie hörte nicht das Brechen ihres Schädelknochens,<br />

als sie auf das Metallgelän<strong>der</strong> prallte, sah nicht<br />

das Entsetzen in <strong>Guy</strong>s Gesicht, als er sie erkannte,<br />

spürte nicht seine Hände, die ihren Körper an sich<br />

rissen, seine Lippen, die sich auf ihre pressten.<br />

15


Es war still und dunkel, als Hedwig <strong>Lacroix</strong> für<br />

immer die Augen schloss. Die Schutzbrille ihres<br />

Mannes hielt sie fest umklammert.<br />

16


3<br />

Immer wie<strong>der</strong> ließ er die Trommel des Revolvers rotieren,<br />

einschnappen, rotieren, aufschnappen. Betrachtete<br />

die verbliebenen Kugeln, die beiden leeren<br />

Fächer. <strong>Guy</strong> lehnte mit <strong>dem</strong> Rücken am Schlafzimmerschrank,<br />

die schweren Vorhänge hielten das Licht<br />

fern. Die Umrisse <strong>der</strong> Möbel waren nur zu erahnen.<br />

Die Kommode mit <strong>der</strong> Waschschüssel, <strong>der</strong> Stuhl, auf<br />

<strong>dem</strong> sein Gehrock lag, die beiden Nachttischchen.<br />

Das Bett.<br />

Ein Klopfen drang ich sein Bewusstsein. Es dauerte<br />

einige Sekunden, bis er begriff, dass es sein Hinterkopf<br />

war, <strong>der</strong> gegen den Schrank schlug und das Geräusch<br />

verursachte.<br />

Er hörte ihre Stimme, sah ihr Gesicht, ihr Lächeln,<br />

das sich im Halbschlaf auf ihre Lippen schlich, als er<br />

sie zum Abschied küsste. Und dann sah er sie stürzen,<br />

die Arme wie zu einem Winken über den Kopf erhoben.<br />

Immer noch klebte Blut an den Manschetten<br />

seines Hemdes, seiner Weste, seinen Händen.<br />

Ein weiteres Klopfen. Diesmal an <strong>der</strong> Schlafzim-<br />

17


mertür. Fräulein Weber steckte den Kopf herein.<br />

»Herr Kommissär?« Als sie keine Antwort bekam, trat<br />

sie ein. »Bitte, Herr Kommissär, Sie müssen etwas<br />

essen und sich umkleiden. In einer Stunde beginnt die<br />

Trauerfeier.«<br />

Kommissär <strong>Lacroix</strong> erhob sich, schob die Haushälterin<br />

wortlos aus <strong>dem</strong> Zimmer und verriegelte die<br />

Tür, lehnte sich mit <strong>dem</strong> Rücken dagegen und lauschte<br />

Fräulein Webers Schritten, die langsam die Treppe<br />

hinabstieg. Gedämpfte Stimmen von unten. Noch<br />

immer schnappte die Trommel des Revolvers klackend<br />

auf und zu. Rotierte. Schnappte.<br />

Dann entzündete er die Petroleumlampe und starrte<br />

in den Spiegel. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen,<br />

das Haar war zerzaust, die Lippen zu einem schmalen<br />

Strich zusammengepresst. Aber alles, was <strong>Guy</strong> sah,<br />

war Hedwigs Gesicht. Und wie<strong>der</strong> fiel sie und wie<strong>der</strong><br />

presste er ihren leblosen Körper an sich. Er hob den<br />

Arm, steckte sich den kalten Lauf in den Mund und<br />

betätigte den Abzug. Nur ein Klicken.<br />

<strong>Guy</strong> atmete aus, legte den Revolver in den mit<br />

Samt ausgeschlagenen Kasten und schloss den Deckel.<br />

Er wusch sich mit kaltem Wasser, zog sich ein<br />

frisches weißes Hemd an, putzte seine schwarzen<br />

Schuhe, nahm eine Weste aus <strong>dem</strong> Schrank, betrachtete<br />

sie einen Moment und hängte sie zurück auf den<br />

Bügel. Dann nahm er die blutige Weste vom Bett und<br />

zog sie an. Gewissenhaft schloss er die Knöpfe. Als<br />

Fräulein Weber noch einmal an <strong>der</strong> Tür klopfte und<br />

ihn mit ängstlicher Stimme darauf hinwies, dass es<br />

höchste Zeit sei, setzte er gerade den Zylin<strong>der</strong> auf<br />

und streifte seine Le<strong>der</strong>handschuhe über.<br />

»Ich bin soweit«, sagte er und Fräulein Weber stieß<br />

erleichtert den Atem aus.<br />

18


Bevor er mit ihr in die Eingangshalle ging, verstaute<br />

er den Pistolenkoffer im obersten Regal des Klei<strong>der</strong>schrankes<br />

und würde ihn von Stunde an nicht<br />

wie<strong>der</strong> hervorholen. Nie wie<strong>der</strong> würde Kommissär<br />

<strong>Lacroix</strong> eine Schusswaffe anrühren. Niemals wie<strong>der</strong>.<br />

Die Worte des Priesters drangen als monotones Rauschen<br />

in <strong>Guy</strong>s Bewusstsein. Die Stimme klang blechern,<br />

mechanisch verstärkt durch das integrierte<br />

Mikrofon seiner Rußmaske. Die Lautsprecher knarzten,<br />

gefolgt von einem schrillen Pfeifen. Schwarze<br />

Flocken fielen vom Himmel und wirbelten zwischen<br />

den wenigen Anwesenden umher. Fräulein Webers<br />

Schultern zuckten unkontrolliert. Sie weinte in ihre<br />

Schutzmaske. In <strong>der</strong> Hand hielt sie ein verschmutztes<br />

Taschentuch, mit <strong>dem</strong> sie über die Brillengläser<br />

wischte, die sofort wie<strong>der</strong> zugeschneit wurden.<br />

Hedwigs Sarg hing an Ketten über <strong>dem</strong> Loch. Das<br />

Grabmal, <strong>der</strong> Eingang zu den unterirdischen Krematorien.<br />

Aber für die Bürger Cölns war es nur das<br />

»Loch«. Bizarr. Das alles war zu bizarr, um ein Traum<br />

zu sein. <strong>Guy</strong> würde nicht aufwachen, Hedwigs Kopf<br />

in seiner Armbeuge, ihren Atem auf seiner Haut. Er<br />

würde schlafen und schlafen, bis an sein Ende.<br />

<strong>Guy</strong>s Vater war noch in Erde beigesetzt worden,<br />

an <strong>der</strong> Seite seiner Frau. Mit einem Grabstein am<br />

Kopfende und Platz für Blumen und stilles Gedenken.<br />

Nach<strong>dem</strong> Paragraph 14 des Strahlenschutzprogramms<br />

in Kraft getreten war, rückten die Maschinen<br />

an. Zerpflügten die Beete mit ihren Ketten, rissen die<br />

Steine von den Grabstätten, nahmen den Toten ihre<br />

Namen, den Hinterbliebenen den Ort, an <strong>dem</strong> sie ihnen<br />

nahe sein konnten.<br />

Eine Notwendigkeit, hatte es die DMG genannt.<br />

19


Bürgermeister Bauer hatte die Hände gerungen und<br />

mit betretener Stimme verkündet, dass die Exhumierung<br />

<strong>der</strong> Leichen ein notwendiges Übel sei, eine unvermeidliche<br />

Schutzmaßnahme. Die Jungfer hatte sogar<br />

geschluchzt, bevor sie ihm mit kaum hörbarer<br />

Stimme zustimmte. Und die Schafe haben nicht einmal<br />

mehr geblökt. Zu groß war die Furcht vor <strong>der</strong><br />

Strahlenkrankheit und die Unsicherheit über das tatsächliche<br />

Ausmaß <strong>der</strong> Bedrohung.<br />

<strong>Guy</strong> wusste, was die DMG wirklich damit bezweckte,<br />

er hatte die Akten gesehen, bevor sie mit<br />

Sicherheitsstufe Blau gekennzeichnet und weggeschafft<br />

wurden. Er ballte die Fäuste, die Nägel gruben<br />

sich tief in seine Handflächen, aber er spürte es<br />

nicht. Der Schmerz, <strong>der</strong> in ihm lo<strong>der</strong>te, überdeckte<br />

alles an<strong>der</strong>e. Die Stimme des Pfaffen, das Knirschen<br />

<strong>der</strong> Zahnrä<strong>der</strong>, als die Apparatur sich in Bewegung<br />

setzte und <strong>der</strong> Sarg langsam in die Tiefe pendelte.<br />

Hedwig würde brennen und <strong>Guy</strong> brannte mit ihr.<br />

20


4<br />

Ich habe es geschafft. Es war lächerlich einfach und fast bin ich<br />

ein wenig enttäuscht, dass meine Kenntnisse ausreichten, <strong>der</strong><br />

Materia ihre Geheimnisse zu entlocken. Sollte nicht mehr dahinter<br />

stecken? Komplexere Vorgänge, unbekannte Zusammensetzungen?<br />

Aber es handelt sich nur um eine Verbindung<br />

aus den Grundstoffen des Lebens mit Ætherblau, die sich rasend<br />

schnell zu etwas ganz neuem entwickelt hat. Und sie entwickelt<br />

sich immer weiter. Während ich diesen Satz schreibe,<br />

verän<strong>der</strong>t sie ihre Form abermals, und bevor die Tinte getrocknet<br />

ist, hat sie eine an<strong>der</strong>e Gestalt angenommen.<br />

Sie belauert jede meiner Bewegungen, wehrt sich aber we<strong>der</strong><br />

gegen die Untersuchungen, noch dagegen, dass ich Proben entnehme.<br />

Sie regeneriert sich. Sobald ich ein Stück entnommen<br />

habe, entsteht neues. Sie ersetzt nicht nur das Fehlende, sie<br />

scheint sich zu verbessern. Ich bin mir sicher, dass sie lernt. Sie<br />

ist intelligent.<br />

Was könnte ich entstehen lassen, wenn es gelänge, die<br />

Materia mit menschlichem Leben zu verbinden … Krankheiten<br />

gehörten bald <strong>der</strong> Vergangenheit an. Die Menschheit würde<br />

zu einer ganz neuen, wi<strong>der</strong>standfähigeren Spezies werden, die in<br />

21


<strong>der</strong> Lage wäre, sich auf alle erdenklichen Gegebenheiten einzustellen.<br />

Selbst die verstrahlten Gebiete könnten wie<strong>der</strong> bevölkert<br />

werden. Und natürlich <strong>der</strong> Mond. Die Ætherraumfahrt machte<br />

einen in hun<strong>der</strong>t Jahren nicht zu erreichenden Entwicklungssprung,<br />

in wenigen Jahrzehnten könnten wir das gesamte Weltall<br />

bevölkert haben.<br />

Ich bin aufgeregt wie ein Schuljunge und schäme mich dessen<br />

nicht. Magister Pötts wäre unglaublich stolz auf mich, wenn er<br />

mich jetzt sehen könnte. Aber wer weiß, vielleicht kann er das<br />

bald tatsächlich wie<strong>der</strong>.<br />

Ich beginne mit Versuchen an Tieren. Felix, mein treuer<br />

Kater, wird <strong>der</strong> erste sein.<br />

Ich habe die Quintessenz <strong>der</strong> Materia extrahiert und zusammen<br />

mit einer Lösung aus Wasser, Sodium, Chlor, Proteinen,<br />

Glukose, acidum lacticum und urea auf 37 Grad erhitzt.<br />

Es ist soweit. Meine Hände zittern. Das ist ein denkwürdiger<br />

Tag.<br />

Absolon Quast legte die Fe<strong>der</strong> in die Schale und verschloss<br />

das Tintenfass. Versonnen kraulte er den<br />

Kopf des Katers, <strong>der</strong> sich auf seinem Schoß zusammengerollt<br />

hatte und leise schnurrte. In seinem Kopf<br />

kreisten die Gedanken wie Strudel, spülten Worte,<br />

Formeln und Thesen durch seinen Geist. Er ging jeden<br />

Schritt noch einmal durch, suchte <strong>nach</strong> Fehlern,<br />

<strong>nach</strong> möglichen Abweichungen, unvorhersehbaren<br />

Entwicklungen, spontanen Mutationen, kam aber<br />

immer wie<strong>der</strong> zu <strong>dem</strong> gleichen Schluss. Es war möglich.<br />

Aber es schien so einfach, dass er seinen Berechnungen<br />

nicht traute. Sein ganzes Leben hatte er <strong>nach</strong><br />

<strong>dem</strong> Allheilmittel – <strong>dem</strong> Panacea – gesucht, genau wie<br />

sein Meister und alle Alchemisten davor. Konnte es<br />

ihm auf so lächerlich einfache Weise in den Schoß<br />

gefallen sein? Nach einer Weile schüttelte er den<br />

22


Kopf und setzte den Kater auf den Boden, stand auf<br />

und schnitt eine Rin<strong>der</strong>leber in kleine Stückchen. Der<br />

alte Kater humpelte hinter seinem Herrn her, strich<br />

um seine Beine und maunzte.<br />

»Ja, mein Bester.« Absolons Stimme klang belegt.<br />

Er steckte einige Stücke <strong>der</strong> rohen Leber in den Mund<br />

und kaute gedankenverloren, dann wischte er sich<br />

über die Augen, bevor er die restliche Leber in die<br />

Futterschale gab. »Es wird dir nichts geschehen«, sagte<br />

er. »Ich verspreche es. Du wirst sehen, es wird dir<br />

besser gehen. Dein Bein wird heilen, deine Augen<br />

werden klar.« Wie um seine Worte zu bestätigen, nickte<br />

er immer wie<strong>der</strong>. »Es wird dir gut gehen.«<br />

Der Kater leckte die Schale sauber und Absolon<br />

nahm ihn auf den Arm. Er trat vor den Flüssigkeitsbehälter<br />

und küsste seinen alten Freund auf den Hinterkopf.<br />

Dann warf er ihn in die Nährlösung und verschloss<br />

den Deckel. Der Kater kämpfte. Er strampelte<br />

und versuchte sich an <strong>der</strong> Glaswand festzukrallen,<br />

rutschte aber immer wie<strong>der</strong> ab. Schließlich ließen seine<br />

Kräfte <strong>nach</strong> und er sank auf den Grund; seinen<br />

Blick hilfesuchend auf Absolon gerichtet, bis zuletzt.<br />

»Es wird alles gut«, sagte Absolon noch einmal.<br />

Dann goss er sich eine Tasse Tee ein und tat einen<br />

kräftigen Schuss Weinbrand hinzu, setzte sich in seinen<br />

Ohrensessel und wartete.<br />

Er hatte das Richtige getan. Man durfte <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

keine Zügel anlegen, sie musste frei und<br />

ungehin<strong>der</strong>t laufen können. Sie musste sich entwickeln,<br />

sonst starb sie, wurde unnütz und verstaubte<br />

wie ungelesene Bücher in den Regalen <strong>der</strong> Stadtbibliothek.<br />

Eine Stunde verging. Felix rührte sich nicht und<br />

<strong>der</strong> Zweifel begann an Absolon zu fressen wie ein<br />

23


Krebsgeschwür. Die Wanduhr tickte unnatürlich laut.<br />

Die Zeit arbeitete gegen ihn. Je länger es dauerte, desto<br />

unwahrscheinlicher wurde die Aussicht auf einen<br />

Erfolg.<br />

Der Tee war längst kalt geworden und die Flasche<br />

Weinbrand zur Hälfte geleert, als Absolon die Augen<br />

zufielen.<br />

Absolon schreckte auf und hob schützend die Hände<br />

vors Gesicht, dann besann er sich, wischte den Schlaf<br />

aus den Augenwinkeln und sah zu <strong>dem</strong> Behälter.<br />

Lange starrte er den Glasbehälter mit <strong>der</strong> Nährlösung<br />

an. Er hatte keine Hoffnung mehr gehabt, seinen Kater<br />

gesund und lebend vorzufinden, <strong>nach</strong> so langer<br />

Zeit, doch was er vorfand war nichts, gar nichts. Felix<br />

hatte sich komplett aufgelöst.<br />

Absolon rieb sich über die Stirn und ging auf und<br />

ab, Formeln und Zutaten vor sich hinmurmelnd – auf<br />

<strong>der</strong> Suche <strong>nach</strong> einem Fehler, <strong>nach</strong> irgendetwas, das<br />

ihm entgangen sein mochte. Aber er konnte keine<br />

Lücken entdecken, alles passte zusammen wie exakt<br />

aufeinan<strong>der</strong> abgestimmte Zahnrä<strong>der</strong>.<br />

»Du bist zu ungeduldig.« Magister Pötts hustete.<br />

»Das warst du schon immer, Absolon.« Die letzten<br />

Worte waren nur noch ein heiseres, schleimbelegtes<br />

Röcheln.<br />

»Ihr seid wach?« Absolon nahm die Lampe von<br />

seinem Schreibtisch und ging zu seinem Meister. Seine<br />

Hand zitterte, als er den schweren Vorhang zur<br />

Seite zog und in die Nische trat. Er drückte ein Taschentuch<br />

auf Mund und Nase und unterdrückte ein<br />

Würgen.<br />

Magister Pötts‘ Haut war von grünen<br />

Marmorierungen überzogen, Blasen hatten sich an<br />

24


Hals und Armen gebildet und die Zunge hing wie eine<br />

fette Made zwischen seinen Lippen hervor. Aber<br />

das Schlimmste war <strong>der</strong> Gestank, <strong>der</strong> wie ein riesiger<br />

Blutegel an <strong>dem</strong> dürren Körper klebte.<br />

»Ich kann deine Gedanken hören«, sagte Magister<br />

Pötts und lachte röchelnd. Seine Zunge wippte dabei,<br />

als führte sie ein Eigenleben. »Es geht zu Ende.«<br />

»Nein! So etwas dürft Ihr nicht sagen.« Absolon<br />

stellte die Lampe auf den kleinen Tisch und ergriff<br />

<strong>nach</strong> kurzem Zögern die Hand des Magisters. Kalt<br />

und schwammig lag sie in seiner. Eine Blase in <strong>der</strong><br />

Handfläche des alten Mannes platzte auf und zähe<br />

Flüssigkeit ergoss sich über Absolons Finger. Er unterdrückte<br />

den Wunsch, die Hand des Magisters von<br />

sich zu werfen wie ein ekliges Reptil, legte sie stattdessen<br />

sachte ab und wischte sich die Finger an seiner<br />

Kutte sauber.<br />

Er kontrollierte die Schläuche, die Blut und Sauerstoff<br />

durch den Körper pumpten. Die Maschinen arbeiteten<br />

einwandfrei und doch verfiel er immer<br />

schneller. Der Verwesungsvorgang schritt unaufhaltsam<br />

voran.<br />

»Ja«, sagte er dann. »Es geht zu Ende. Ich kann<br />

nichts mehr für Euch tun. Ich habe versagt.«<br />

»Du musst lernen, geduldiger zu sein. Wissenschaft<br />

braucht Zeit, um zu reifen.« Wie<strong>der</strong> das röchelnde<br />

Husten. Gelber Schleim troff aus einem Mundwinkel.<br />

»Zeit«, sagte Absolon leise, »ist das Einzige, das<br />

uns nicht zur Verfügung steht. Es schien alles so klar,<br />

so einfach. Alles fügte sich ineinan<strong>der</strong> und doch muss<br />

ich etwas Entscheidendes übersehen haben. Die<br />

Materia hätte sich mit Felix verbinden, ihn heilen, erstarken,<br />

zu etwas Neuem und Besserem formen müssen.<br />

Stattdessen hat sie seinen Körper vollständig auf-<br />

25


gelöst. Das ist mir unbegreiflich.« Er begann vor <strong>dem</strong><br />

Bett auf und ab zu gehen, leise vor sich hinmurmelnd.<br />

Selbst den Gestank nahm er nicht mehr wahr.<br />

»Vielleicht war eine Katze nicht das richtige Versuchsobjekt.<br />

Tierkörper sind unseren einfach nicht<br />

ähnlich genug. Du solltest es an Menschen testen.«<br />

Absolon blieb stehen und verschränkte die Arme<br />

vor <strong>der</strong> Brust. »Menschen?«, fragte er. Er hatte selbst<br />

schon mit <strong>dem</strong> Gedanken gespielt, ihn aber immer<br />

wie<strong>der</strong> beiseitegeschoben. Menschen. Er nickte. »Ihr<br />

habt recht, Meister. Schlaft jetzt und spart Eure Kräfte.«<br />

Er schloss den Vorhang, warf sich den Mantel<br />

über und zog die Kapuze tief ins Gesicht. Bevor er<br />

aus <strong>dem</strong> Laboratorium eilte, nahm er den Behälter mit<br />

<strong>der</strong> wirkungslosen Lösung vom Feuer und goss den<br />

Inhalt in den Abfluss. Menschen. Es war <strong>der</strong> einzige<br />

Weg. Der richtige Weg.<br />

Die Janusklause war bereits zu dieser frühen Stunde<br />

voller Menschen. Aber an diesem ewig dunklen Ort<br />

spielte die Tageszeit keine Rolle. Viele <strong>der</strong> Menschen,<br />

die tief unter Cölns Straßen lebten, hatten lange schon<br />

kein Tageslicht mehr gesehen – einige noch nie.<br />

Absolon suchte sich einen freien Tisch in einer Nische,<br />

etwas abseits des Trubels, und beobachtete die<br />

Gäste. Zwielichtige Gestalten, denen die Dummheit<br />

aus den Augen schien, die nichts als die Befriedigung<br />

ihrer Gelüste im Sinn hatten. Blausüchtige, Trinker,<br />

Spieler, Hurenstecher – allesamt eitriger Auswurf, <strong>der</strong><br />

schlimmer stank als Magister Pötts‘ verwesen<strong>der</strong><br />

Körper.<br />

Ein Mädchen kam an seinen Tisch und er bestellte<br />

einen Krug Bier. Sie musste neu hier sein, er kannte<br />

26


sie nicht. Er sah ihr <strong>nach</strong>, als sie sich auf <strong>dem</strong> Weg<br />

zur Theke mit wiegenden Hüften zwischen den Betrunkenen<br />

hindurch schlängelte. Festes weißes<br />

Fleisch, schlanke Fesseln, knospende Brüste, das Gesicht<br />

noch nicht vom Alkohol gezeichnet o<strong>der</strong> von<br />

<strong>der</strong> Syphilis entstellt. Wie alt mochte sie sein? Elf,<br />

zwölf Jahre? Absolon leckte über seine Lippen. Als<br />

sie das Bier vor ihn auf den Tisch stellte, packte er ihr<br />

Handgelenk. Er konnte die Ekelwellen spüren, die ihr<br />

bei <strong>der</strong> Berührung seiner knotigen Finger durch den<br />

Körper schossen, doch sie versuchte nicht, sich aus<br />

<strong>dem</strong> Griff zu lösen.<br />

»Wann findet die nächste Auktion statt?«, fragte er.<br />

Sie schüttelte den Kopf und sah sich ängstlich um.<br />

Absolon ließ eine Münze über den Tisch rollen und<br />

steckte sie wie<strong>der</strong> in die Tasche. Er ließ ihre Hand los<br />

und schlug die Kapuze zurück. Das Mädchen atmete<br />

flach. »Ich kenne Euch«, sagte sie. »Ihr seid Magister<br />

Pötts‘ Schüler.« Ihre Blicke glitten über die Narben in<br />

seinem Gesicht. Unbefangen musterte sie das grobmaschige<br />

rote Netz, das die rechte Seite vollkommen<br />

bedeckte.<br />

Absolon schüttelte den Kopf. »Der bin ich, doch<br />

du kennst mich nicht.« Seine Stimme wurde zu einem<br />

rauen Flüstern. »Und du solltest es dir auch nicht<br />

wünschen.« Er hielt ihr die Münze hin und sie<br />

schnappte sie ihm aus <strong>der</strong> Hand, berührte dabei seine<br />

Finger. Wie<strong>der</strong> das unwillkürliche Zittern ihres Körpers.<br />

Daran war Absolon gewöhnt und es kümmerte<br />

ihn nicht. Nicht mehr. »Also«, sagte er. »Die Auktion.<br />

Wann findet sie statt?«<br />

»Übermorgen«, flüsterte sie und wandte sich um.<br />

Wie<strong>der</strong> griff er ihr Handgelenk und zog sie zu sich<br />

heran bis er ihren Atem auf <strong>der</strong> Wange spüren konn-<br />

27


te. Mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Hand griff er unter den Rock und<br />

berührte das zarte Fleisch ihrer Schenkel, ließ die Finger<br />

langsam <strong>nach</strong> oben gleiten, beobachtete, wie ihr<br />

Gesicht sich vor Ekel und Furcht verzerrte. Dann<br />

stieß er sie von sich und machte eine abwehrende<br />

Handbewegung. »Geh«, sagte er.<br />

Sie flüchtete ins Gewimmel <strong>der</strong> betrunkenen, lauten,<br />

schmutzigen Gestalten, ohne sich noch einmal<br />

umzusehen. Absolon hob die Hand an seine Nase<br />

und schloss die Augen – sog ihren Duft ein und bewahrte<br />

ihn in <strong>dem</strong> kleinen schwarzen Kästchen in<br />

einem weit abgelegenen Raum seines Geistes auf.<br />

Er leerte seinen Krug und machte sich auf den<br />

Heimweg.<br />

Zwei Tage. Es war unwahrscheinlich, dass er Magister<br />

Pötts‘ Körperfunktionen noch zwei Tage aufrechterhalten<br />

konnte. Er würde das Gehirn seines<br />

Meisters isolieren müssen.<br />

***<br />

Feuer, Erde, Wasser, Luft. Und das fluoreszierende<br />

Blau, das alles zu etwas Vollkommenen einte.<br />

Auseinan<strong>der</strong>gestoben, verflüchtigt, verloren und gefunden.<br />

Weggeschwemmt und zerrissen, aufgelöst,<br />

verdampft und herabgeregnet. Kreisläufe, die so einfach<br />

und einzig sind, und so beson<strong>der</strong>s wie die Made,<br />

die irgendwann ihre schimmernden Flügel ausbreitet;<br />

wie ein Ahornblatt im Herbstwind; ein Tropfen, <strong>der</strong><br />

sich mit an<strong>der</strong>en eint, zu fließen und zu strömen beginnt,<br />

um im unendlichen Meer zu enden und wie<strong>der</strong><br />

aufzusteigen.<br />

Doch was treibt die Tropfen <strong>dem</strong> Meer entgegen,<br />

was bringt die Made dazu, sich zu verpuppen? Warum<br />

28


klammert das Blatt sich nicht an seinem Ast fest und<br />

lässt sich stattdessen willig vom Baum reißen, wissend,<br />

dass dies das Ende bedeutet?<br />

Hunger. Hunger <strong>nach</strong> Vollkommenheit, <strong>nach</strong> Wissen,<br />

<strong>nach</strong> Wandlung. Nach Leben.<br />

Und die zerstobenen, verwässerten Moleküle regten<br />

sich im Abwasserkanal, erinnerten sich ihrer<br />

Form, ihrer Zusammenhänge, suchten und fanden<br />

sich. Entstanden neu, an<strong>der</strong>s, gleich und einzig.<br />

Felix erwachte in einem kalten stinkenden Rinnsal.<br />

Verfaulte Essensreste und Fäkalien schwammen um<br />

ihn herum. Er schüttelte sich das Fell aus, watete an<br />

den trockenen Rand und begann sich zu putzen. Pedantisch<br />

leckte er jeden Winkel seines Körpers sauber.<br />

Als er seine Genitalien säuberte, spürte er ein<br />

Ziehen in den Hoden, das durch seinen gesamten<br />

Körper schoss wie ein elektrischer Schlag. Wie lange<br />

war es her, dass er so etwas gespürt hatte? Er hielt<br />

inne und schnupperte an seinem Fell. Er roch an<strong>der</strong>s.<br />

Es war nicht <strong>der</strong> Gestank des Abflusses, den er so<br />

intensiv wahrnahm, da war noch etwas An<strong>der</strong>es, Frisches,<br />

Starkes. Etwas, das ihn die Krallen ausfahren<br />

und ein tiefes Knurren ausstoßen ließ. Noch niemals<br />

hatte er eine solche Kraft in sich wahrgenommen.<br />

Aus <strong>der</strong> Dunkelheit schälten sich die Umrisse von<br />

Körpern. Sie näherten sich vorsichtig, mit aufgeregt<br />

wedelnden Schwänzen. Katzen und auch einige Kater<br />

strichen um Felix‘ Körper, rieben sich an seinem<br />

Hals, boten ihm den Hintern dar. Er beschnupperte<br />

jeden einzelnen von ihnen, lernte sie kennen und zu<br />

unterscheiden, teilte je<strong>dem</strong> einen Rang zu. Dann zog<br />

er los, sein Gefolge im Schlepptau, ohne zu wissen,<br />

wohin er wollte, was er tun wollte. Aber das war nicht<br />

29


wichtig, er wusste, dass er alles erreichen konnte –<br />

was das war, würde er zu gegebener Zeit schon herausfinden.<br />

30


5<br />

<strong>Guy</strong> lehnte mit <strong>dem</strong> Rücken an einer Mauer, keuchte,<br />

riss sich die Krawatte vom Hals, die Rußmaske vom<br />

Gesicht, beugte sich vor und stützte sich mit den<br />

Händen auf den Knien ab. Die dicke Luft brannte in<br />

seinen Lungen, er versuchte seine Atmung unter<br />

Kontrolle zu bekommen.<br />

Als <strong>der</strong> Sarg im Boden verschwunden war und die<br />

Eisentüren mit einem Scheppern zuschlugen, hatte<br />

<strong>Guy</strong> sich umgedreht und war gegangen. Er hatte die<br />

Blicke in seinem Rücken gespürt, gehört, wie Fräulein<br />

Weber seinen Namen rief. Keinen Moment länger<br />

hätte er diesen Ort ertragen können. Die Sinnlosigkeit<br />

<strong>der</strong> Beisetzung, die keine Beisetzung war. Sie würden<br />

ihre Leiche öffnen, in ihr herumwühlen wie Stadtstreicher<br />

in Mülltonnen. <strong>Auf</strong> <strong>der</strong> Suche <strong>nach</strong> Blausteinen,<br />

<strong>dem</strong> Grundstoff für das, was die Welt anzutreiben<br />

schien. Ambrosia. Dieses verdammte Teufelszeug.<br />

<strong>Guy</strong> wischte sich über die Augen und sah sich<br />

um. Der Turm des Doms ragte über den Häuserdächern<br />

auf. Er musste über eine Stunde ziellos durch<br />

31


die Straßen gelaufen sein. Der Schmerz hatte ihn gefangen<br />

genommen, alles an<strong>der</strong>e ausgeblendet, ihm<br />

den Hals zugeschnürt. Er brauchte etwas zu trinken.<br />

Etwas Starkes, etwas, das ihm half, den Schmerz zu<br />

bändigen, <strong>der</strong> in ihm tobte.<br />

<strong>Auf</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Straßenseite flackerten Laternen<br />

über <strong>dem</strong> Eingang eines <strong>der</strong> bekannten »Etablissements«.<br />

Ein Hurenhaus, Treffpunkt für zwielichtiges<br />

Volk und angesehene Bürger. <strong>Guy</strong> lachte bitter. Gab<br />

es einen Unterschied? Vielleicht hatte es den einmal<br />

gegeben, aber das war lange her.<br />

Er steckte seine Schutzmaske in die Manteltasche<br />

und ging über die Straße, wich einem Automobil aus<br />

und öffnete die Eingangstür. Süße, warme Luft schlug<br />

ihm ins Gesicht. Und <strong>der</strong> Geruch <strong>nach</strong> hochprozentigen<br />

Träumen.<br />

Ein donnern<strong>der</strong> Knall, kurz darauf ein zweiter.<br />

<strong>Guy</strong> schreckte herum. Über den Dächern <strong>der</strong> gegenüber<br />

liegenden Häuser stieg eine Rauchwolke auf. Jemand<br />

schrie. <strong>Guy</strong> setzte sich in Bewegung, rannte<br />

über die Straße und bog in die nächste Gasse ein.<br />

Glassplitter und Backsteine bedeckten die Pflastersteine,<br />

in einer Häuserfront klaffte ein riesiges Loch.<br />

Alles war voller Qualm, <strong>der</strong> die schwere Luft noch<br />

schwerer machte.<br />

Männer rannten auf die Unglücksstelle zu. Ein<br />

kleines Mädchen lief weinend zwischen ihnen umher.<br />

Aus einer Stirnwunde rann Blut. Eine Frau schrie, riss<br />

das Kind an sich, verschwand im Qualm. Eine Trillerpfeife<br />

schrillte. In <strong>der</strong> Ferne heulten Sirenen. Einige<br />

Männer bildeten eine Kette. Wassereimer wurden<br />

durchgereicht, in die Hausöffnung geschüttet. Es roch<br />

<strong>nach</strong> Feuer, aber keine Flammen waren zu sehen.<br />

Durcheinan<strong>der</strong>rennen, Schreien, Weinen.<br />

32


Nur ein Mann ging unbeteiligt durch das aufgeregte<br />

Treiben. Er richtete seinen Hut, schlang den Schal<br />

fester um den Hals, hielt sich dicht an den Häuserwänden.<br />

<strong>Guy</strong> griff <strong>nach</strong> seiner Schutzmaske und wurde zu<br />

Seite gestoßen. Er prallte gegen einen herabgestürzten<br />

Balken, stolperte, fing sich ab und sah, wie <strong>der</strong> Mann<br />

um die Ecke bog.<br />

Verfluchtes Anarchistenpack! <strong>Guy</strong> nahm die Verfolgung<br />

auf. Als <strong>der</strong> Mann die Unglücksstelle hinter<br />

sich gelassen hatte, beschleunigte er seine Schritte.<br />

Gelegentlich sah er über die Schulter, aber <strong>Guy</strong> hielt<br />

sich im Schatten und drückte sich in die Hauseingänge,<br />

wenn <strong>der</strong> Verdächtige stehen blieb, o<strong>der</strong> den Kopf<br />

wandte. Er bog in eine Gasse ein. <strong>Guy</strong> legte einen<br />

kurzen Spurt ein. Vor <strong>der</strong> Abzweigung blieb er stehen,<br />

lauschte, zählte tonlos bis fünf, erst dann bog er<br />

ebenfalls in die Gasse ein.<br />

Düster erhoben sich die Häuser zu beiden Seiten,<br />

im Rinnstein häufte sich Unrat, es roch durchdringend<br />

<strong>nach</strong> Urin. Kein Mensch war zu sehen. Langsam<br />

ging <strong>Guy</strong> weiter. Vor einer schmutzigen Schaufensterscheibe<br />

blieb er stehen. Über <strong>der</strong> Ladentür hing<br />

kein Schild, das einen Hinweis auf die Art <strong>der</strong> Waren<br />

gab, die hier angeboten wurden. <strong>Guy</strong> legte die Hände<br />

ans Gesicht, drückte die Nase an <strong>der</strong> Scheibe platt<br />

und versuchte etwas von den Auslagen zu erkennen.<br />

Ein Bunsenbrenner, ein offener Koffer, in <strong>dem</strong> Reagenzgläser<br />

auf abgegriffenem Samt lagen, eine billig<br />

aussehende Wasserpfeife.<br />

Die Türglocke klingelte und <strong>Guy</strong> griff geistesgegenwärtig<br />

in die Innentasche seines Mantels, steckte<br />

seine Pfeife in den Mund und kramte in den Taschen<br />

<strong>nach</strong> Streichhölzern.<br />

33


Der Mann steckte ein in alte Zeitungen gewickeltes<br />

Päckchen ein und kam direkt auf <strong>Guy</strong> zu. »Feuer?«,<br />

fragte er und riss ein Streichholz an, ohne <strong>Guy</strong>s Antwort<br />

abzuwarten. Um seine Augen bildeten sich<br />

Lachfältchen, er musterte den Kommissär aus wachen,<br />

blauen Augen. <strong>Guy</strong> saugte die Flamme in den<br />

Tabak und blies eine Rauchwolke aus. Er nickte <strong>dem</strong><br />

Rücken des Fremden zu, <strong>der</strong> sich bereits umgedreht<br />

hatte und langsam in die Richtung ging, aus <strong>der</strong> sie<br />

eben gekommen waren.<br />

<strong>Guy</strong> paffte noch einen Kringel in die Luft und<br />

ging <strong>dem</strong> Mann <strong>nach</strong>. Also ein Spaßvogel. Na, mal<br />

sehen, wer am Ende lachen würde.<br />

Diesmal hielt er weiteren Abstand, verließ sich auf<br />

sein gutes Gehör und seine Intuition. Nach einer ganzen<br />

Stunde ziellosem Umherschlen<strong>der</strong>ns blieb <strong>der</strong><br />

Verdächtige vor einem Mietshaus stehen, lehnte sich<br />

an die Hauswand und zündete sich eine Zigarette an.<br />

<strong>Guy</strong> wartete hinter <strong>dem</strong> Schutz eines ausgebrannten<br />

Automobils. Er hatte Zeit. Viel Zeit.<br />

Eine gute halbe Stunde und drei Glimmstängel<br />

später schlüpfte <strong>der</strong> Mann in einen Hauseingang. Wenige<br />

Sekunden da<strong>nach</strong> flackerte hinter einem Fenster<br />

im ersten Stock ein Gaslicht auf. Touché!<br />

Die Haustür war verschlossen, neben den Klingeln<br />

waren keine Namensschil<strong>der</strong> angebracht. Im Untergeschoss<br />

des Mietshauses befand sich eine Wäscherei.<br />

»Fräulein Loni bügelt mit Dampf«, stand auf einem<br />

selbstgezimmerten Holzschild über <strong>dem</strong> Fenster. <strong>Guy</strong><br />

klopfte gegen die Scheibe.<br />

Eine junge Frau öffnete und lehnte sich mit verschränkten<br />

Armen auf das Fensterbrett. »Wir ham<br />

schon zu«, sagte sie. »Kutt morge fröh wid<strong>der</strong>.«<br />

<strong>Guy</strong> setzte ein Lächeln auf. »Deswegen bin ich<br />

34


nicht hier, obwohl ich in Zukunft sicher meine Wäsche<br />

in Ihre zarten Hände legen werde. Fräulein Loni,<br />

nehme ich an?« Die Angesprochene kicherte und<br />

strich sich eine verschwitzte Strähne aus <strong>der</strong> Stirn.<br />

»Ich möchte meinen Bru<strong>der</strong> besuchen«, fuhr <strong>Guy</strong><br />

fort. »Er wohnt im ersten Stock.«<br />

»Ach, <strong>der</strong> Havener«, sagte sie. »Ene feine Häär.<br />

Trägt nur gestärkte Hemden und das sogar Wochentags!«<br />

»Genau, das ist er. Wären Sie wohl so freundlich,<br />

mir die Tür zu öffnen? Wir haben uns seit einem halben<br />

Jahr nicht mehr gesehen und ich möchte ihn<br />

überraschen.«<br />

Fräulein Loni schloss das Fenster, einen Augenblick<br />

später erschien sie in <strong>der</strong> Haustür. »Bitte, dä<br />

Häär«, sagte sie und knickste unbeholfen. »Dann<br />

künnt ehr im glich sage, dat sing Hembde fäädig sin.«<br />

<strong>Guy</strong> ergriff die Hand <strong>der</strong> jungen Frau und deutete<br />

einen Handkuss an, was sie in lautes Lachen ausbrechen<br />

ließ. Er blinzelte ihr noch zu und stieg die Treppe<br />

hinauf.<br />

Nach zweimaligem Klopfen hörte er in <strong>der</strong> Wohnung<br />

eine Tür zuschlagen und jemand bellte ein<br />

knappes »Ja?«<br />

<strong>Guy</strong> räusperte sich. »Fräulein Loni schickt mich<br />

mit den Hemden.«<br />

»Sagen Sie ihr, dass ich sie morgen abhole.«<br />

»Fräulein Loni lässt ausrichten, dass sie morgen<br />

geschlossen hat – ein Todesfall in <strong>der</strong> Familie -, deswegen<br />

soll ich <strong>dem</strong> Herrn die Hemden persönlich<br />

bringen.«<br />

Ein Moment Stille, dann drehte sich <strong>der</strong> Schlüssel<br />

im Schloss. Als <strong>der</strong> Mann erkannte, wer vor seiner<br />

Tür stand, hatte <strong>Guy</strong> sich bereits Zugang zur Woh-<br />

35


nung verschafft.<br />

Havener starrte ihn verblüfft an. Gemütlich zog<br />

<strong>Guy</strong> seine Pfeife heraus und steckte sie in den Mund.<br />

»Sie hätten nicht zufällig Feuer?«<br />

Die Augen des Verdächtigen blitzten, er kniff die<br />

Lippen zusammen und sah <strong>Guy</strong> eine Weile lang an.<br />

»Also«, sagte er dann. »Was wollen Sie von mir?«<br />

<strong>Guy</strong>s Pfeife qualmte, er steckte die Streichhölzer in<br />

seine Tasche zurück. »Antworten. Ich will Antworten.«<br />

Erst jetzt sah er sich in <strong>der</strong> Wohnung um. Ein<br />

kleiner Tisch, auf <strong>dem</strong> ein voller Aschenbecher und<br />

mehrere benutzte Gläser standen, ein abgenutzter<br />

Sessel. Ein leeres Bücherregal. »Nett haben Sie er hier,<br />

Herr Havener. Verraten Sie mir doch bitte, was einen<br />

feinen Herrn, <strong>der</strong> selbst wochentags nur gestärkte<br />

Hemden trägt, in eine solche Absteige treibt?«<br />

»Es wäre besser, wenn Sie jetzt gehen Herr …«<br />

»<strong>Lacroix</strong>. Wie unhöflich von mir. <strong>Guy</strong> <strong>Lacroix</strong>,<br />

Kommissär im Dienste des Kaiserlichen Kriminalamtes.«<br />

<strong>Guy</strong> zeigte seine Dienstmarke, auf die Havener<br />

nicht einen Blick verschwendete.<br />

»Herr Kommissär, ich habe mich keines Verbrechens<br />

schuldig gemacht, Sie belästigen einen unbescholtenen<br />

Bürger.« Er wies auf die Tür. »Gehen Sie.<br />

Bitte.«<br />

Blitzschnell drehte <strong>Guy</strong> Haveners Arm auf den<br />

Rücken und drückte den Mann an die Wand. »Sie haben<br />

ein Wohnhaus in die Luft gejagt, Sie verdammter<br />

Anarchist, und dafür werden Sie büßen.«<br />

Zu <strong>Guy</strong>s Verwun<strong>der</strong>ung lachte Havener. »Anarchist?<br />

Sie haben keine Ahnung, <strong>Lacroix</strong>. Sie haben<br />

keine Ahnung, mit wem Sie sich anlegen.«<br />

»Ich kenne dich. Dich und deinesgleichen. Und ich<br />

habe noch jeden von euch kleingekriegt.« Ein geziel-<br />

36


ter Schlag in die Nieren. »Warum lachst du nicht<br />

mehr?« Ein zweiter folgte und Havener sackte keuchend<br />

zu Boden.<br />

<strong>Guy</strong> nahm die Handschellen vom Gürtel, zerrte<br />

den Mann zum Bett und kettete ihn ans Kopfende.<br />

»Du musst nicht reden, wenn du nicht willst«, sagte<br />

er. »Ich kriege dich, so o<strong>der</strong> so.« Er wandte sich zu<br />

<strong>der</strong> offenen Tür, die in eine kleine Küche führte. Bevor<br />

er sie betrat, drehte er sich noch einmal um. »Geh<br />

nicht weg, hörst du?«<br />

»Ich habe Freunde.« Havener hustete und hielt<br />

sich die Seite. »Die werden Sie zur Rechenschaft ziehen,<br />

Kommissär. Ich bin sicher, dass Sie nicht scharf<br />

auf eine Dienstaufsichtsbeschwerde sind. Aber Sie<br />

können jetzt einfach gehen, dann vergesse ich den<br />

Vorfall.«<br />

»Ich gehe«, sagte <strong>Guy</strong>, »sobald ich mit meiner Arbeit<br />

fertig bin.«<br />

<strong>Auf</strong> <strong>dem</strong> Herd stand eine Pfanne mit Rühreiresten,<br />

auf <strong>dem</strong> Tisch ein schmutziger Teller und eine halbleere<br />

Milchflasche. Ansonsten war <strong>der</strong> Raum so kahl<br />

wie das an<strong>der</strong>e Zimmer. <strong>Guy</strong> klopfte die Bodendielen<br />

ab, eine davon schien locker zu sein. Er zog sein Messer,<br />

hob sie an und griff in den Hohlraum, tastete und<br />

fühlte einen Beutel. Er zog ihn heraus und breitete<br />

den Inhalt des Beutels auf <strong>dem</strong> Tisch aus. Dabei biss<br />

er die Zähne so fest aufeinan<strong>der</strong>, dass seine Kieferknochen<br />

knirschten.<br />

Durchsichtige Phiolen, von <strong>der</strong>en Inhalt ein<br />

Leuchten ausging. ætherblaues Leuchten. Ambrosia.<br />

Er trat in den Türrahmen und starrte Havener an,<br />

<strong>der</strong> auf <strong>dem</strong> Bett lag und aufhörte, an den Handschellen<br />

zu zerren, als er <strong>Guy</strong> bemerkte. Aber <strong>Guy</strong> sah<br />

nicht den Mann, nicht das Bett, nicht das Zimmer. Er<br />

37


sah Hedwig.<br />

Hedwigs nackten Körper auf einem kalten Stahltisch.<br />

Geschlossene Augen, bleiche Haut. Männer mit<br />

Skalpellen in den Händen. Blitzende Klingen, die die<br />

Hautschichten durchdrangen, das Fleisch. Hedwig. Er<br />

ballte die Fäuste. Knochensägen, Knirschen und<br />

dröhnendes Brechen. Blut. Überall Blut.<br />

Ein Schrei. Ein Wimmern. <strong>Guy</strong> sah seine Faust auf<br />

Haveners Nase hämmern, hörte Knochen brechen.<br />

Er starrte auf seine blutigen Knöchel. Öffnete die<br />

Faust, schloss sie wie<strong>der</strong>. Und schlug erneut zu. Seine<br />

Fäuste hämmerten auf die Wangen, die Schultern, die<br />

Brust. Der Mann zog die Beine an, versuchte sich zu<br />

schützen.<br />

Verdammter Drogenhändler! Ein Schlag in die<br />

Rippen. Ein Treffer ins Zwerchfell. Der Kiefer. <strong>Guy</strong><br />

konnte nicht aufhören, den Körper mit Schlägen zu<br />

traktieren. Er wollte nicht aufhören. Er wollte sehen,<br />

wie das Stück Dreck litt. Litt wie die armen Schweine,<br />

denen er das Teufelszeug andrehte, die ihre Töchter<br />

verkauften, ihre Frauen auf den Strich schickten für<br />

ein paar Stunden Lin<strong>der</strong>ung ihrer Schmerzen, die da<strong>nach</strong><br />

umso gewaltiger zurückkehrten.<br />

Der Mann hatte aufgehört sich zu bewegen. <strong>Guy</strong><br />

starrte auf den Körper auf <strong>dem</strong> Bett, das blutverschmierte<br />

Laken. Seine Augen waren zugequollen, die<br />

Lippen aufgeplatzt und angeschwollen, das ganze Gesicht<br />

ein Gebilde aus Blau und Rot. Blutrot.<br />

<strong>Guy</strong> nahm das Handgelenk des Bewusstlosen,<br />

fühlte den Puls. Gut. Dann nahm er ihm die Handschellen<br />

ab, steckte sie in die Tasche, klaubte die<br />

Phiolen mit <strong>dem</strong> Teufelszeug vom Küchentisch.<br />

»Hedwig«, flüsterte er. »Ich hätte dich ihnen nicht<br />

überlassen dürfen. Es tut mir leid. Es tut mir so leid«<br />

38


Er ging aus <strong>der</strong> Wohnung, ohne sich noch einmal<br />

umzudrehen.<br />

Draußen atmete er tief ein und aus. Hustete. Jetzt<br />

brauchte er wirklich etwas zu trinken.<br />

<strong>Guy</strong> richtete seine Klei<strong>der</strong> und zündete die Pfeife an.<br />

Ohne Eile ging er die Straße entlang. Einige wenige<br />

Gaslaternen beleuchteten die Wege nur spärlich.<br />

Als er an die Abzweigung gelangte, die ihn zurück<br />

zu <strong>der</strong> Wirtschaft führen würde, stoppte er und wandte<br />

sich in eine an<strong>der</strong>e Richtung. Wenn er sich schon<br />

am Tag von Hedwigs Beerdigung betrank, dann stilvoll.<br />

Er hatte sich den Salon schon lange einmal ansehen<br />

wollen, aber Inspektor Voigt hatte seine Beamten<br />

angewiesen, die Inhaberin nicht zu behelligen. Natalja<br />

Nikolajewna Poljakow. Eine Russin, über <strong>der</strong>en Vergangenheit<br />

<strong>Guy</strong> nur herausgefunden hatte, dass sie im<br />

Waisenhaus aufgewachsen war. Bevor sie dort abgegeben<br />

worden war, schien sie nicht existiert zu haben.<br />

Das war nicht ungewöhnlich in diesen Zeiten, viele<br />

Menschen wurden nicht registriert, führten ein Schattendasein<br />

abseits <strong>der</strong> bürgerlichen und gesetzestreuen<br />

Gesellschaft. Aber warum war Inspektor Voigt daran<br />

gelegen, Natalja Poljakow unbehelligt gewähren zu<br />

lassen? Wahrscheinlich schmierte sie ihn. Welche an<strong>der</strong>en<br />

Geschäfte sie darüber hinaus abwickelte, interessierte<br />

<strong>Guy</strong> schon lange. Warum also nicht das<br />

Notwendige mit <strong>dem</strong> Nützlichen verbinden? Und es<br />

war notwendig, dass er sich betrank, bis seine Gedanken<br />

aufhörten zu kreisen und zu vibrieren und in seinem<br />

Schädel zu lärmen wie aufziehbares Kin<strong>der</strong>spielzeug.<br />

39


Das Haupttor war verschlossen. <strong>Guy</strong> läutete. Der<br />

Wachmann gähnte, kratzte sich im Schritt und musterte<br />

den Störenfried eingehend. »Verschwinde«, sagte<br />

er dann und drehte sich um.<br />

»Kommissär <strong>Lacroix</strong>«, rief <strong>Guy</strong> ihm <strong>nach</strong> und hielt<br />

seine Dienstmarke hoch.<br />

Der Wachmann betrachtete die Marke, sah <strong>Guy</strong><br />

an. »Einen Moment, Kommissär.« Dann ging er in<br />

sein Häuschen zurück. <strong>Guy</strong> konnte durch das beleuchtete<br />

Fenster sehen, wie er den Hörer eines Telefonapparates<br />

abnahm, die Kurbel drehte und kurze<br />

Zeit später etwas in die Sprechmuschel sagte, wartete,<br />

nickte.<br />

<strong>Guy</strong> steckte die Marke ein und richtete seine Krawatte.<br />

Der Wachmann öffnete das Tor und führte<br />

<strong>Guy</strong> zum Haupteingang. Die schlanke Silhouette eine<br />

Frau zeichnete sich vor <strong>dem</strong> hellen Hintergrund ab.<br />

Er wurde also bereits erwartet. Das schien ein interessanter<br />

Abend zu werden.<br />

»Willkommen im Salon, Kommissär <strong>Lacroix</strong>.« Sie<br />

reichte ihm die Hand und er hauchte einen Kuss darauf.<br />

»Ich bin Natalja Nikolajewna. Was verschafft<br />

mir die Ehre Ihres Besuches?« Ihre Stimme klang wie<br />

eine Mischung aus Fingernägeln, die sich in den Rücken<br />

krallen, und sanftem Streicheln. Sie musterte ihn<br />

aus klaren blauen Augen, ihre Lippen umspielte ein<br />

amüsiertes Lächeln.<br />

»Zerstreuung«, antwortete <strong>Guy</strong>. »Ich bin auf <strong>der</strong><br />

Suche <strong>nach</strong> einem guten schottischen Whiskey in angenehmer<br />

Gesellschaft.«<br />

»Beides werden Sie hier finden.« Sie trat zur Seite<br />

und bat ihn mit einer Geste herein.<br />

Ein Mädchen in schwarzer Uniform und blendend<br />

weißer Spitzenschürze nahm ihm Mantel und Hut ab.<br />

40


<strong>Guy</strong> zog seine Weste straff und wurde sich des Blutes<br />

bewusst, das auf <strong>der</strong> Vor<strong>der</strong>seite getrocknet war.<br />

Hedwigs Blut. An seinen Manschetten klebte das frische<br />

Blut von Havener. Natalja Nikolajewna verlor<br />

kein Wort über seine ramponierte Kleidung, beachtete<br />

sie nicht einmal. Sie führte ihn einen langen Gang<br />

entlang. An den Wänden flackerten Kerzen in Wandhaltern<br />

und tauchten die dunkelroten Samttapeten<br />

und die dicken Teppiche, die ihre Schritte dämpften,<br />

in warmes Licht. Es war still im Haus. Ungewöhnlich<br />

still für ein gut frequentiertes Etablissement dieser<br />

Art. Erst als ein Türsteher eine massive Flügeltür für<br />

sie öffnete, drangen Musik und Stimmen zu ihnen<br />

durch.<br />

Sie durchquerten einen kleinen Rauchsalon. Auch<br />

hier schwere Tapeten, diesmal in einem satten Moosgrün,<br />

auf denen schwarzer Efeu rankte, Parkettfußboden,<br />

Läufer mit orientalischen Mustern.<br />

Einige <strong>der</strong> Anwesenden waren <strong>Guy</strong> bekannt. Er<br />

nickte Professor Küpperbusch zu, <strong>der</strong> am Kaminsims<br />

lehnte, ein Glas und eine Zigarre in <strong>der</strong> Hand. Noch<br />

vor wenigen Tagen hatte er mit Hedwig über ihn gesprochen.<br />

Über ihn und seine Primadonnen. Vor wenigen<br />

Tagen? <strong>Guy</strong> schien es, als wären Jahre vergangen<br />

seit er Hedwigs Lachen gehört, ihre Hände gehalten<br />

hatte.<br />

Es folgte ein weiterer, ähnlich gestalteter Raum, in<br />

<strong>dem</strong> einige <strong>der</strong> »Damen« Tee tranken und Rommee<br />

spielten, als hätten sie sich zum wöchentlichen Kaffeekränzchen<br />

verabredet. In einem Ohrensessel saß<br />

ein Mann mit übereinan<strong>der</strong> geschlagenen Beinen, die<br />

Hände akkurat auf den Armlehnen platziert. Sein<br />

Blick klebte an den Spielerinnen, ließ sich keine ihrer<br />

Bewegungen entgehen.<br />

41


Natalja lächelte, als sie <strong>Guy</strong>s erstaunten Blick sah.<br />

»Es gibt viele Vorlieben, Schwächen. Fetische.« Sie<br />

berührte seinen Arm und zog ihn mit sich in einen<br />

spärlich beleuchteten Gang. Tiefviolette Tapeten, von<br />

irgendwoher drang gedämpfte Musik. Wie<strong>der</strong> ein Türsteher,<br />

<strong>der</strong> Flügeltüren für sie öffnete. Hinter ihnen<br />

lag ein run<strong>der</strong> Raum, ganz in Purpur gehalten. Frauen<br />

und einige junge Männer saßen o<strong>der</strong> lagen auf den im<br />

Raum verteilten Sofas und Sesseln.<br />

Natalja machte eine einladende Geste. »Fühlen Sie<br />

sich als mein Gast, Kommissär. Der Salon bietet für<br />

jeden Geschmack das Passende, wie Sie sehen können.«<br />

Sie winkte eine junge schlanke Rothaarige heran,<br />

Sommersprossen auf <strong>der</strong> Nase, das Haar zu einem<br />

filigranen Gebilde aufgetürmt, aus <strong>dem</strong> sich einige<br />

Strähnen gelöst hatten, die ihr keck ins Gesicht fielen.<br />

Natalja folgte <strong>Guy</strong>s Blick, <strong>der</strong> über die üppigen Kurven<br />

einer Brünetten strich. »Ah, Sie haben einen an<strong>der</strong>en<br />

Geschmack, Kommissär. Ophelia!«<br />

»Nein!« Er berührte Nataljas Arm und schüttelte<br />

den Kopf. »Das ist ausgesprochen freundlich und verlockend,<br />

aber ich würde zuerst gerne etwas trinken.«<br />

»Natürlich, wie Sie wünschen.« Abermals durchschritten<br />

sie dunkle Gänge, Räume, in denen getanzt<br />

und gespielt wurde. Der Salon war ein weitläufiges<br />

Haus aus einer schier unendlichen Zahl von Gängen,<br />

Türen und Zimmern, eins prachtvoller als das an<strong>der</strong>e.<br />

Und immer wie<strong>der</strong> erkannte <strong>Guy</strong> Persönlichkeiten<br />

aus Wirtschaft, Ämtern und Politik und selbst hohe<br />

Beamte des KKA, die den Kopf wandten und unbeteiligt<br />

taten, sobald sie ihn sahen.<br />

Endlich erreichten sie einen weitläufigen Raum, in<br />

hellem Gelb und Orange gehalten, mit kleinen Tischen<br />

und Nischen, in denen Männer o<strong>der</strong> Paare<br />

42


tranken und lachten. <strong>Guy</strong> wählte einen Platz an <strong>der</strong><br />

Theke aus, strich mit <strong>der</strong> Hand über das blankpolierte<br />

dunkle Holz des Tresens und sah sich selbst in <strong>dem</strong><br />

großen Spiegel an, <strong>der</strong> dahinter angebracht war, und<br />

ihm Einblick in nahezu jeden Winkel bot.<br />

Natalja winkte den Schankkellner heran. »Herr<br />

<strong>Lacroix</strong> ist mein persönlicher Gast, erfüll ihm jeden<br />

Wunsch, Jakob. Jeden. Er soll sich wohlfühlen bei<br />

seinem ersten Besuch.« Sie legte <strong>Guy</strong> die Hand auf die<br />

Schulter. »Und bei je<strong>dem</strong> weiteren. Lei<strong>der</strong> muss ich<br />

mich jetzt von Ihnen verabschieden.«<br />

<strong>Guy</strong> hauchte einen Kuss auf ihre Hand. »Vielen<br />

Dank für Ihre nette Gesellschaft, Natalja. Was für ein<br />

wun<strong>der</strong>schöner Name!«, fügte er hinzu, als sie sich<br />

bereits abwenden wollte. »Russisch? Aus welchem<br />

Teil des Russischen Reichs stammen Sie?«<br />

Sie musterte ihn lächelnd. »Herr <strong>Lacroix</strong>, legen Sie<br />

den Kommissär für ein paar Stunden beiseite, entspannen<br />

Sie sich und lassen Sie einer Frau ein paar<br />

Geheimnisse.« Sie blinzelte ihm zu und verschwand<br />

durch eine <strong>der</strong> hinteren Türen.<br />

Er lachte auf. Glitschig wie eine Kröte, aber schön<br />

wie eine russische Prinzessin. »Bringen Sie mir einen<br />

Whiskey, Jakob. Und geizen Sie nicht damit.«<br />

Der Barmann schenkte ihm zwei Finger hoch ein<br />

und <strong>Guy</strong> leerte das erste Glas in einem Zug.<br />

43


6<br />

Das Automobil des Fürstbischofs wartete vor <strong>dem</strong><br />

Eingang des Salons. Natalja blieb auf <strong>der</strong> Treppe stehen<br />

und sah zum Himmel. Irgendwo dort oben mussten<br />

die Sterne sein. Der Mond. Wie gerne würde sie in<br />

ein Luftschiff steigen und zum Mond fliegen. Weg<br />

aus <strong>der</strong> vollkommenen Dunkelheit, die durch keinen<br />

Funken durchbrochen wurde.<br />

Das war <strong>der</strong> Preis, den sie für ihre Sicherheit zu<br />

zahlen hatten. Die Dampfmagier hatten ganze Arbeit<br />

geleistet, <strong>der</strong> Schutzschild hielt die Strahlung ab - aber<br />

auch das Sternenlicht, das Gesicht des Mondes, wachsend<br />

und schwindend wie die Gezeiten, denen er befehligte.<br />

Natalja lächelte. All das kannte sie nur aus Erzählungen<br />

<strong>der</strong> Alten, aus Büchern und von Bil<strong>der</strong>n. Aber<br />

wenn sie die Augen schloss und in die Dunkelheit<br />

lauschte, dann war es ihr, als könnte sie die Schönheit<br />

<strong>der</strong> Nacht mit eigenen Augen sehen.<br />

Das Hupen des Chauffeurs riss sie aus ihren Gedanken.<br />

Sie stieg in den Wagen. Der Fahrer ließ die<br />

44


Trennscheibe hinunter und suchte ihren Blick durch<br />

den Rückspiegel.<br />

»Du bist pünktlich«, sagte sie.<br />

»Ist Rosa heute im Salon?«<br />

»Natürlich. Das ist sie doch immer.«<br />

»Gut. Zur Oper?«<br />

»Nein, zuerst zum Stift.«<br />

Er startete den Wagen und brachte sie zum Eingang<br />

des St. Benediktus-Stifts.<br />

»Lass den Motor laufen.« Natalja stieg aus und<br />

ging zu <strong>dem</strong> hohen Tor. Der große Hof war menschenleer,<br />

die Fenster erleuchtet. Hier und da bewegten<br />

sich menschliche Konturen hinter den Vorhängen.<br />

Bald würden die Lichter verlöschen, es war<br />

Schlafenszeit.<br />

Natalja ergriff die kalten Eisenstangen und legte<br />

die Stirn daran. War es falsch, immer wie<strong>der</strong> hier her<br />

zu kommen, sie aus <strong>der</strong> Ferne zu beobachten? Zu<br />

sehen, wie sie mit ihren Freundinnen lachte, den<br />

Nonnen zum Unterricht folgte; ihr so nah zu sein und<br />

zu wissen, dass sie Annuschka niemals würde in den<br />

Arm nehmen können?<br />

Nein, sagte sie sich. Es war besser so. Hier bekam<br />

sie eine Chance. Eine Chance, die Natalja niemals gehabt<br />

hatte.<br />

»Gute Nacht, Annuschka.«<br />

Sie atmete tief durch und stieg wie<strong>der</strong> in den Wagen.<br />

»Los«, sagte sie.<br />

Der Chauffeur drehte sich um und deutete mit<br />

<strong>dem</strong> Kinn auf das Gebäude des Internats. »Was tust<br />

du nur immer hier?«<br />

Blitzschnell umfasste sie seinen Hals, zog gleichzeitig<br />

ihre Waffe und drückte sie in seine Wange.<br />

»Weißt du, welche Tugend ich an Menschen am meis-<br />

45


ten zu schätzen weiß?« Er gab einen Grunzlaut von<br />

sich, als sie den Griff um seinen Hals verstärkte. »Die<br />

Fähigkeit zu schweigen. Verstanden?«<br />

»Ja«, keuchte er und sie gab ihn frei, lehnte sich<br />

entspannt in den Sitz zurück und warf einen letzten<br />

Blick auf die Fenster, die <strong>nach</strong> und <strong>nach</strong> dunkel wurden.<br />

»Bring mich zur Oper.«<br />

Ohne ein weiteres Wort chauffierte er sie ans Ziel<br />

und stoppte vor <strong>dem</strong> Hintereingang. »Eine Stunde«,<br />

sagte sie und er nickte.<br />

Sie ging direkt zu den Gar<strong>der</strong>oben und öffnete die<br />

Tür <strong>der</strong> Primadonna, ohne anzuklopfen. Edda saß<br />

vor <strong>dem</strong> großen Spiegel, die Augen geschlossen, den<br />

Mund zu einem dünnen Strich zusammengepresst.<br />

<strong>Auf</strong> ihrer Stirn glänzten Schweißperlen. Mariechen,<br />

ihre Gar<strong>der</strong>obiere, nahm ihr die gepu<strong>der</strong>te Perücke ab<br />

und stülpte sie über den Perückenkopf. Natalja griff<br />

eine Bürste vom Frisiertisch, schickte das Mädchen<br />

mit einem Kopfnicken aus <strong>dem</strong> Raum und begann<br />

Eddas Haar mit langen gleichmäßigen Strichen zu<br />

bürsten.<br />

»Es ist schlimmer geworden«, sagte sie <strong>nach</strong> einer<br />

Weile. »Du hast Schmerzen.«<br />

Die Primadonna nahm Nataljas Hand und legte sie<br />

an ihre Wange. »Nur eine kleine Schwäche. Sie wird<br />

gleich vorbei sein.«<br />

Ihre Haut fühlte sich kalt an. Natalja fröstelte. Wie<br />

lange noch? Einen Monat? Ein Jahr vielleicht? Ihre<br />

Hand begann zu zittern und sie zog sie zurück. Sie lief<br />

durch den Raum, nahm einen <strong>der</strong> kleinen Porzellanelefanten<br />

in die Hand, betrachtete die Fotos, die in<br />

kostbaren Rahmen die Wände bedeckten, als sähe sie<br />

die Gar<strong>der</strong>obe zum ersten Mal. Edda in extravaganten<br />

Kostümen, mit strahlen<strong>dem</strong> Lächeln, geröteten Wan-<br />

46


gen. Edda als Königin <strong>der</strong> Nacht, Edda als Lucia di<br />

Lammermoor. Edda. Natalja schluckte trocken. Edda<br />

hustete.<br />

Sie goss ein Glas voll Wasser und hielt es an Eddas<br />

Lippen. Ein kleiner Schluck, <strong>der</strong> Versuch eines Lächelns.<br />

Augen voller Schmerz. Dunkler, als Natalja sie<br />

je gesehen hatte. Dunkel wie die Nacht unter <strong>dem</strong><br />

Schutzschirm. Sie kniete nie<strong>der</strong> und legte ihren Kopf<br />

in Eddas Schoß, die Primadonna streichelte über ihr<br />

Haar und gemeinsam schwiegen sie.<br />

Die Uhr auf <strong>der</strong> Kommode schlug zur vollen<br />

Stunde. Natalja hob den Kopf. Noch zwanzig Minuten,<br />

dann musste sie fort. Der Fürstbischof wartete<br />

nicht gerne. Edda hatte den Kragen des Kleides geöffnet<br />

und die Hand an den Hals gelegt. Sie atmete<br />

schwer. Natalja nahm die kühle Hand in ihre und betrachtete<br />

Eddas Tätowierungen. Zahlen und Zeichen,<br />

die sich um den Kehlkopf wanden wie eine Python,<br />

die ihre Beute umschlingt.<br />

»Du könntest es entfernen lassen«, sagte sie. »Du<br />

könntest ihn bitten …«<br />

Edda hob abwehrend die Hand und stand auf. Sie<br />

begann sich aus <strong>dem</strong> schweren Kostüm zu schälen.<br />

»Du weißt, dass dies keine Option ist. Es ist unmöglich.«<br />

»Hat er dir das gesagt? Der Professor? Er lügt! Er<br />

will sein Spielzeug nicht kaputt machen. Sein Meisterstück.«<br />

Sie nahm eins <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Wand und<br />

hielt es vor Eddas Gesicht. »Sieh doch nur, was er aus<br />

dir gemacht hat. Die Primadonna.« Sie lachte verächtlich.<br />

»Eine Puppe, ein Ding, das für sein Publikum<br />

singt, wie es <strong>dem</strong> Herrn Professor gefällt.« Nataljas<br />

Lippen zitterten. Sie schleu<strong>der</strong>te das Bild auf den Boden<br />

und wandte sich ab.<br />

47


Edda klaubte das Foto aus den Scherben und legte<br />

die Hand auf Nataljas zuckende Schultern. »Bitte, lass<br />

es gut sein. Wir haben das schon so oft besprochen.<br />

Du verstehst einfach nicht.«<br />

Natalja drehte sich langsam um, sah in Eddas Augen,<br />

die in tiefen Höhlen lagen. »Du stirbst«, sagte sie.<br />

»Was gäbe es sonst noch zu verstehen?«<br />

Edda strich mit den Fingern über das Foto. »Das«,<br />

flüsterte sie, »bin ich. Und das«, sie berührte die Tätowierungen<br />

an ihrem Hals, »ist ein Teil von mir.<br />

Wenn er mir meine Stimme nähme, wäre ich nicht<br />

mehr ich. Und das wäre schlimmer als sterben.«<br />

Natalja wischte die Hand <strong>der</strong> Primadonna von ihrer<br />

Schulter wie ein klebriges Insekt und wandte sich<br />

zur Tür. »Ich schicke Mariechen herein, damit sie dir<br />

hilft.« Sie drückte die Klinke hinunter.<br />

»Natalja!«<br />

Sie sah über die Schulter. Ein Blick, drei endlose<br />

Sekunden lang, und Natalja nickte. »Morgen <strong>nach</strong> <strong>der</strong><br />

Vorstellung.«<br />

Der Chauffeur holte sie pünktlich am Hintereingang<br />

ab. Seine Wangen waren gerötet und er grinste selig.<br />

<strong>Auf</strong> Rosa war Verlass. Natalja ignorierte seine Blicke<br />

und sah aus <strong>dem</strong> Fenster. Edda. Warum lehnte sie<br />

jede Hilfe ab, wollte nicht einmal darüber <strong>nach</strong>denken,<br />

ob es eine Möglichkeit gab, sie zu retten? Wie<br />

konnte sie nur so stur sein? So blind?<br />

Sie blinzelte eine Träne weg und straffte den Rücken.<br />

Für den Besuch beim Fürstbischof benötigte sie<br />

all ihre <strong>Auf</strong>merksamkeit. Sie konnte sich keine<br />

Schwäche leisten. Nicht jetzt.<br />

Keine Viertelstunde später betrat sie Fürstbischof<br />

Clemens Pauls Büro und wartete an <strong>der</strong> Tür, bis er ihr<br />

48


endlich <strong>Auf</strong>merksamkeit schenkte. Er erhob sich<br />

stöhnend von seinem Stuhl, drückte den Rücken<br />

durch und den beachtlichen Bauch heraus, und kam<br />

um den Schreibtisch herum, um ihr die Hand zum<br />

Kuss zu reichen. Er roch <strong>nach</strong> Pu<strong>der</strong> und einer Mischung<br />

aus altem Schweiß und Rosenwasser.<br />

»Setz dich«, sagte er und sie nahm auf einem <strong>der</strong><br />

rotgepolsterten Stühle Platz, die Hände auf den Knien<br />

gefaltet. »Was gibt es Neues?«<br />

»Baron von Schenk hat den Weg in den Salon gefunden.<br />

Er findet Gefallen an Veronique.«<br />

Fürstbischof Clemens Paul lachte und winkte seinen<br />

Sekretär heran, <strong>der</strong> ihm Rotwein <strong>nach</strong>goss. Dessen<br />

Miene war unbeteiligt, sein Blick arrogant wie<br />

immer. »Solch außergewöhnliche Vorlieben hätte ich<br />

<strong>dem</strong> Baron gar nicht zugetraut.« Der Fürstbischof<br />

tupfte sich die Lippen mit einem weißen Spitzentaschentuch<br />

ab.<br />

»Und ich hatte Besuch von einem Kommissär des<br />

KKA«, fuhr Natalja fort. »<strong>Guy</strong> <strong>Lacroix</strong>.«<br />

Der Fürstbischof hob die Augenbrauen. »Was<br />

wollte er?«<br />

»Trinken. Eine Frau. Nichts Beson<strong>der</strong>es. Aber ich<br />

dachte, Ihr hättet den Leiter des KKA …«<br />

Er brachte sie mit einer Geste zum Schweigen, faltete<br />

die Hände und legte die Zeigefinger an die Lippen.<br />

Dann nickte er. »Gut. Ich denke, das ist nicht<br />

von Belang, aber ich behalte ihn im Blick. Was ist mit<br />

<strong>dem</strong> Leitenden Dampfmagischen Direktor? Hast du<br />

in Erfahrung bringen können, wie seine Pläne für die<br />

Durchsetzung <strong>der</strong> Einschränkungen zum Magiegebrauch<br />

aussehen? Paragraph 12/16 ist bereits seit<br />

zwei Wochen in Kraft und ich konnte noch keine<br />

Bemühungen seinerseits ausmachen, den Paragraphen<br />

49


auch in <strong>der</strong> Praxis umzusetzen.«<br />

»Er hält den Paragraphen für zu extrem. Nicht<br />

praxistauglich, nannte er ihn.«<br />

»Das hatte ich erwartet. Sturer Bock. Hieronymus!«<br />

»Exzellenz?«<br />

»Kontaktieren Sie unseren Vertrauten in <strong>der</strong><br />

DMG. Ich muss sichergehen, dass man Direktor<br />

Sandvoss noch trauen kann.«<br />

Der Sekretär ging aus <strong>dem</strong> Zimmer. Clemens Paul<br />

trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch und<br />

starrte in die Flamme des Gaslichts, das den Arbeitsplatz<br />

erhellte. Natalja wartete schweigend, bis er ihr<br />

den Blick wie<strong>der</strong> zuwandte.<br />

»So«, sagte er und setzte ein Lächeln auf, das Natalja<br />

nur zu gut kannte. »Wenden wir uns erfreulicheren<br />

Dingen zu. In <strong>der</strong> nächsten Woche erwarte ich<br />

den Inquisitor. Zu seinen Ehren wird ein kleiner, aber<br />

sehr exklusiver Empfang stattfinden, den Lord St.<br />

Maur an Bord seines Luftschiffes ausrichten wird.«<br />

Natalja nickte. »Kennt Ihr die Vorlieben des Inquisitors?«<br />

»Ich hörte, er hätte eine Schwäche für Jünglinge<br />

und Fesselspiele.« Clemens Paul zog verächtlich die<br />

Mundwinkel <strong>nach</strong> unten. »Such etwas Passendes aus.<br />

Mit Einzelheiten möchte ich nicht belästigt werden.«<br />

Er nippte an seinem Wein, tupfte die Lippen, schüttelte<br />

den Kopf, als wolle er sich von einem schlechten<br />

Gedanken befreien. Dann lächelte er. »Meine Vorlieben<br />

sind dir ja bekannt. Samstag, <strong>nach</strong> <strong>der</strong> abendlichen<br />

Messe. Ich möchte, dass es perfekt ist, verstehst<br />

du? Keine Zwischenfälle!«<br />

»Natürlich. Ich habe ein Mädchen, blond, mit großen<br />

braunen Augen …«<br />

50


»Keine Einzelheiten! Überrasch mich.« Er erhob<br />

sich, das Gespräch war beendet.<br />

Natalja verließ das fürstbischöfliche Arbeitszimmer.<br />

Sie lehnte sich von außen an die Tür und atmete<br />

tief ein und aus. Was für ein Tag. Die Begegnungen<br />

mit <strong>dem</strong> Fürstbischof strengten sie an. Man musste<br />

beständig auf <strong>der</strong> Hut sein. Ein falsches Wort konnte<br />

seinen Unwillen heraufbeschwören und das wollte sie<br />

nicht riskieren. Unwillkürlich griff sie <strong>nach</strong> ihrer Pistole<br />

und streichelte über den kühlen Perlmuttgriff.<br />

Noch nicht.<br />

51


7<br />

Eine Fliege krabbelte an <strong>der</strong> Stuckdecke entlang und<br />

blieb im Nasenloch eines kleinen dicken Engels sitzen.<br />

Unfähig, sich zu bewegen, starrte <strong>Guy</strong> an die Decke.<br />

Er tastete neben sich. Die Betthälfte war leer,<br />

strahlte aber noch Körperwärme aus. In seinem<br />

Schädel tanzten Elefanten. Das Gebilde in seinem<br />

Mund war viel zu groß für eine Zunge. Er stöhnte.<br />

Langsam verdichte sich das Rauschen in seinem<br />

Schädel zu Bil<strong>der</strong>n. Natalja Poljakow, <strong>der</strong> Salon,<br />

Whiskey. Ein ganzes Meer voller Whiskey. Er war<br />

betrunken gewesen. Sein Kopf erinnerte ihn<br />

schmerzhaft daran, wie betrunken er tatsächlich gewesen<br />

war. Vorsichtig setzte er sich hin, an das Kopfende<br />

des riesigen Bettes gelehnt.<br />

Seine Klei<strong>der</strong> lagen ordentlich gefaltet auf einem<br />

Stuhl. Er griff <strong>nach</strong> seiner Weste und zog die Taschenuhr<br />

heraus. Verdammt! Mit einem Satz stand er<br />

auf wackligen Beinen. Er musste ins Revier.<br />

»Na Tiger, wie wäre es mit einem Frühstück?« Eine<br />

üppige Brünette lehnte im Türrahmen. Ihr Mor-<br />

52


genmantel klaffte aufreizend auseinan<strong>der</strong> und gab den<br />

Blick auf ihre Brüste frei. »Du musst Hunger haben<br />

<strong>nach</strong> <strong>der</strong> anstrengenden Nacht. O<strong>der</strong> möchtest du vor<br />

<strong>dem</strong> Essen einen Nachschlag?« Sie lächelte und öffnete<br />

den Morgenmantel noch weiter.<br />

<strong>Guy</strong> zog sich schweigend an. Er kramte in seinem<br />

Gedächtnis, konnte sich aber nicht an den Namen <strong>der</strong><br />

Hure erinnern. Sie hatte ihn die Treppe hinauf geschleppt,<br />

in dieses Zimmer. Mit geschickten Händen<br />

hatte sie ihn entkleidet und aufs Bett gezogen. Da<strong>nach</strong><br />

war alles schwarz.<br />

Vor <strong>dem</strong> großen Facettenspiegel band er seine<br />

Krawatte und strich über die Weste. Der Blutfleck<br />

war verschwunden, auch die Manschetten seines<br />

Hemdes waren makellos weiß. Die Klei<strong>der</strong> waren gereinigt<br />

und gebügelt worden.<br />

Die namenlose Hure legte ihre Hand auf seine<br />

Schulter. »Wie hast du geschlafen?«, fragte sie und<br />

küsste ihn auf den Hals. Er warf ihr einen kalten Blick<br />

im Spiegel zu und sie fasste ihren Morgenrock zusammen.<br />

»Du bist nicht sehr gesprächig, was?«<br />

Er warf sich den Mantel über und tastete <strong>nach</strong> seiner<br />

Börse, die sich noch an ihrem Platz befand. Dann<br />

ging er, ohne die Frau noch eines Blickes zu würdigen.<br />

»Wenn du wie<strong>der</strong> einmal im Salon bist«, rief sie<br />

ihm <strong>nach</strong>, »dann frag <strong>nach</strong> Milla!«<br />

<strong>Guy</strong> ging die Treppe hinunter. Es roch <strong>nach</strong> kaltem<br />

Rauch. Eine Bedienstete wischte die Tische sauber.<br />

Als sie ihn bemerkte, ließ sie den Lappen in einen<br />

Eimer klatschen und trocknete sich die Hände an ihrer<br />

Schürze. »Guten Morgen, Herr Kommissär. Wünschen<br />

Sie ein Frühstück?«<br />

Er schüttelte den Kopf, durchquerte den Gast-<br />

53


aum, Spielzimmer, Rauchsalons und Korridore und<br />

gelangte endlich in den Gang, <strong>der</strong> <strong>nach</strong> draußen führte.<br />

Ein livrierter Diener hielt ihm die Tür auf. »Ich<br />

hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht«, sagte er.<br />

»Beehren Sie uns bald wie<strong>der</strong>, Herr Kommissär!«<br />

Der Wachmann öffnete das Tor, bevor <strong>Guy</strong> dort<br />

angelangt war, zog seine Mütze vom Kopf und deutete<br />

eine Verbeugung an. »Ich wünsche einen guten<br />

Tag, Herr Kommissär!«<br />

<strong>Auf</strong> <strong>der</strong> Straße winkte <strong>Guy</strong> eine <strong>der</strong> stinkenden<br />

Mietkutschen heran und nannte <strong>dem</strong> Fahrer die Adresse<br />

des Reviers. Und es hätte ihn nicht gewun<strong>der</strong>t,<br />

wenn auch <strong>der</strong> ihn mit Namen angesprochen hätte.<br />

54


8<br />

Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Ich habe das Becken<br />

mit flüssigem Æther gefüllt, <strong>der</strong> als Katalysator dient. Die Teslatransformatoren<br />

sind auf die Frequenz <strong>der</strong> Hirnwellen eingestellt<br />

und arbeiten einwandfrei.<br />

Ich hätte gerne zuerst ein Versuchsgehirn isoliert, doch dazu<br />

bleibt keine Zeit. Wenn <strong>der</strong> Transport gelingt, werde ich Magister<br />

Pötts wie<strong>der</strong> vollständig herstellen können, sobald die<br />

Materia ihr letztes Geheimnis preisgegeben hat. Und das wird<br />

sie. In Trismegistos Namen, das wird sie!<br />

Absolon trat ans Bett seines Meisters und sah ihn lange<br />

an. O<strong>der</strong> das, was von ihm übrig war. Magister<br />

Pötts‘ Körper war nur noch eine gallertartige Masse<br />

und doch beugte sich Absolon vor und gab ihm einen<br />

Kuss auf Stirn. Er spürte ein warmes Gefühl in seinem<br />

Magen. Er liebte diesen Mann mehr als irgendetwas<br />

an<strong>der</strong>es auf <strong>der</strong> Welt – soweit er zu einem Gefühl<br />

wie Liebe fähig war. Magister Pötts hatte ihn zu<br />

sich genommen, hatte sich um ihn gekümmert, ihn in<br />

die Geheimnisse seines Standes eingewiesen.<br />

55


Absolon betastete unwillkürlich seine vernarbte,<br />

taube Gesichtshälfte. Magister Pötts war ein strenger<br />

Lehrmeister gewesen – streng, aber gerecht. Fehlverhalten<br />

wurde hart bestraft. Kin<strong>der</strong> brauchten eine harte<br />

Hand, die ihnen den rechten Weg wies. Und nun<br />

war es an Absolon zu beweisen, dass Magister Pötts‘<br />

Vertrauen in seine Fähigkeiten gerechtfertigt war, dass<br />

er seine Zeit nicht an seinen Schüler verschwendet<br />

hatte.<br />

»Es wird gelingen«, sagte er und machte sich daran,<br />

den Schädel aufzusägen.<br />

Magister Pötts stöhnte leise, bewegte sich aber<br />

nicht. Absolon hob die Schädeldecke ab, löste die<br />

Hirnhaut mit einem scharfen Messer und durchtrennte<br />

die Rückenmarksverbindung. Dann entnahm er das<br />

Gehirn, das schon eine leicht gräuliche Färbung angenommen<br />

hatte. Es war wirklich höchste Zeit gewesen!<br />

Noch ein Tag und das unersetzliche Wissen seines<br />

Meisters wäre für immer verloren gegangen. Er<br />

ließ das Gehirn vorsichtig in den flüssigen Aether<br />

gleiten. Die Nervenzellen reagierten sofort auf die<br />

Stromstöße. Magister Pötts lebte!<br />

Absolon verschloss das Ætherbecken und strich<br />

fast zärtlich über den Silberdeckel. Dann faltete er die<br />

stinkenden Laken über Magister Pötts Überresten zusammen<br />

und verbrannte alles im Ofen. Um die Knochen<br />

würde er sich später kümmern.<br />

Es juckte ihn in den Fingern, weitere Versuche an<br />

<strong>der</strong> Materia zu unternehmen, doch er zwang sich, zu<br />

warten. Geduld, hörte er die Stimme seines Meisters<br />

und fast spürte er dessen Handfläche auf seinen Hinterkopf<br />

klatschen.<br />

»Morgen«, flüsterte er. »Morgen wird es gelingen.«<br />

Er goss sich einen Cognac ein und machte es sich<br />

56


in seinem Sessel bequem. Mit geschlossenen Augen<br />

tastete er <strong>nach</strong> <strong>dem</strong> Kästchen, das er tief in seinem<br />

Geist verwahrt hatte, und öffnete den Deckel. Im<br />

Laufe <strong>der</strong> Jahre hatte er einen wahren Schatz an Erinnerungen<br />

gehortet. Er holte den Geruch des Mädchens<br />

hervor und erfreute sich eine Weile an ihm. So<br />

frisch und neu war er noch, kaum abgenutzt. Dann<br />

grub er tiefer in <strong>der</strong> kleinen Truhe und fand Feuer,<br />

süßen Schmerz und etwas, das so alt und verblasst<br />

war, dass er es kaum noch greifen konnte. Zärtlichkeit.<br />

Er spürte ihre Hände auf seinem Körper, ihre<br />

Lippen auf seinen Wangen, roch ihren unvergleichlichen<br />

Duft <strong>nach</strong> warmem Apfelkuchen und Buchenrauch.<br />

Und dann flüsterte sie seinen Namen.<br />

Ein Zittern schüttelte Absolons Körper und er<br />

schleu<strong>der</strong>te die Erinnerung zurück in den Kasten und<br />

schlug den Deckel zu, bevor er den feuchten Geruch<br />

<strong>der</strong> Steintreppe wahrnehmen konnte, auf <strong>der</strong> sie den<br />

Korb abgelegt hatte, in <strong>dem</strong> er fror und aus Leibeskräften<br />

schrie, bis ihn jemand in die Dunkelheit trug.<br />

Am nächsten Tag überprüfte Absolon seine Berechnungen<br />

und verän<strong>der</strong>te die Zusammensetzung <strong>der</strong><br />

Nährlösung geringfügig. Er gab noch einen Teil flüssigen<br />

Aether hinzu. Nun fehlten nur noch die Materia<br />

und das Versuchsobjekt.<br />

Magister Pötts war wohlauf und gutgestimmt. Die<br />

Großhirnrinde schimmerte rosig, als Absolon über<br />

das Aetherbecken streichelte. »Ich bin bald zurück«,<br />

sagte er. »Und dann wird uns <strong>der</strong> entscheidende<br />

Schritt gelingen.«<br />

»Wähle mit Bedacht, Absolon, lass nicht die Ungeduld<br />

über dein Handeln bestimmen.«<br />

Absolon zuckte zusammen. Magister Pötts‘ Stim-<br />

57


me schien direkt in seinem Kopf zu sprechen. »Natürlich,<br />

Meister«, antwortete er. »Ich werde Euch das<br />

beste Menschenmaterial bringen, das für Geld zu bekommen<br />

ist.«<br />

Er warf sich den Mantel über die Schultern und<br />

überprüfte seine Börse, in <strong>der</strong> sich mehr als genug<br />

Geld befand, um drei Kin<strong>der</strong> zu kaufen. Aber er benötigte<br />

nur eins.<br />

Mit gesenktem Kopf durchquerte er den überfüllten<br />

Schankraum. Niemand rempelte die gedrungene Gestalt<br />

an, unwillkürlich wichen die Betrunkenen zur<br />

Seite, sobald er ihnen nahe kam. Absolon lächelte in<br />

sich hinein. Diese Aura, die die Menschen sich abwenden<br />

und den Blick senken ließ, sobald sie seine<br />

Nähe spürten, hatte ihn als Kind angeekelt. Er hatte<br />

sie gehasst und er hatte sich selbst gehasst, doch Magister<br />

Pötts hatte ihn gelehrt, seine Beson<strong>der</strong>heit als<br />

das anzunehmen, was sie war: Ein Geschenk, das die<br />

meisten Menschen nicht verstanden. Ihre ekelerfüllten<br />

Gesichter hatten ihn mehr geschmerzt, als die<br />

Steine, die sie <strong>nach</strong> ihm warfen, doch jetzt wusste er<br />

das Geschenk zu schätzen. Es gewährte ihm Freiheiten,<br />

die nicht mit Gold aufzuwiegen waren, nicht mit<br />

Freundschaft, o<strong>der</strong> <strong>dem</strong>, was man Liebe nannte. Es<br />

machte ihn einzigartig.<br />

Der Türsteher öffnete ihm den schweren Vorhang,<br />

<strong>der</strong> die hinteren Bereiche abtrennte, und ließ ihn ohne<br />

die obligatorische Leibesvisitation passieren.<br />

Absolon hatte kaum einen Blick für die Absurditäten<br />

übrig, die in den Zimmern hinter weit geöffneten<br />

Türen auf Kundschaft warteten, den Besuchern ihre<br />

nackten Körper präsentierend. Freaks, allesamt,<br />

schlechte Launen <strong>der</strong> Natur, die aus einem einzigen<br />

58


Grund noch am Leben waren: Es gab genügend Menschen,<br />

die noch abartiger waren als diese bedauernswerten<br />

Kreaturen, an denen sie ihre wi<strong>der</strong>lichen Gelüste<br />

befriedigten. Und sie zahlten gut dafür.<br />

Einige Türen waren geschlossen und gedämpfte<br />

Laute waren dahinter zu hören, Stöhnen, Schreien,<br />

knirschende Zahnrä<strong>der</strong>, knallende Peitschenhiebe.<br />

Absolon hustete und spuckte einen Schleimklumpen<br />

auf den Teppich. Ein Mädchen lachte und Absolon<br />

sah auf, in ihr Gesicht, das von einer Fülle<br />

kastanienfarbener Locken umrahmt wurde. Er musterte<br />

ihren Körper. Ein schlanker weißer Hals, volle<br />

straffe Brüste, ein perfekt gewölbter Bauch. Ihr Torso<br />

war in ein Gestell gespannt, das offensichtlich mit<br />

Hilfe <strong>der</strong> daran angebrachten Kurbeln in Höhe und<br />

Neigung verstellt werden konnte, ganz wie es den<br />

Kunden beliebte. Ihre Arme mussten unglaublich<br />

weich sein, die Haut ihrer Schenkel warm und zart -<br />

hätte sie denn Arme o<strong>der</strong> Beine besessen. Aber da<br />

war nur dieser Torso, ein Stück Fleisch, das atmete<br />

und lebte, obwohl es besser gewesen wäre, man hätte<br />

ihm den Hals umgedreht, sofort <strong>nach</strong><strong>dem</strong> es aus <strong>dem</strong><br />

Schoß einer an<strong>der</strong>en Missgeburt o<strong>der</strong> einer billigen<br />

Hure gepresst worden war.<br />

Ein Betrunkener stolperte aus <strong>dem</strong> gegenüberliegenden<br />

Zimmer und Absolon hastete weiter. An<br />

Spielzimmern vorbei, in denen schon manch einer<br />

nicht nur seinen gesamten Besitz, son<strong>der</strong>n auch seine<br />

Frau, seine Tochter o<strong>der</strong> seine Seele verloren hatte.<br />

Blausteine waren ein begehrter Einsatz, aber selbst<br />

Körperteile o<strong>der</strong> Organe wechselten von Zeit zu Zeit<br />

den Besitzer.<br />

59


Die Versteigerungen fanden in einem abgeschiedenen<br />

Raum hinter <strong>der</strong> »Küche« statt, in <strong>der</strong> kein Essen,<br />

aber gepanschte Drogen zubereitet wurden. Ein gutes<br />

Dutzend Kaufwillige hatten sich bereits eingefunden.<br />

Absolon nickte einem Quantenmagier zu, <strong>der</strong> die<br />

Lippen zu einem frostigen Lächeln verzog. Eingebildetes<br />

Pack! »Magister Van Rijn, wie schön Euch zu<br />

sehen«, sagte Absolon und streckte ihm die Hand hin,<br />

die <strong>der</strong> Mann kurz ergriff und sofort wie<strong>der</strong> losließ.<br />

Mit kindischer Freude registrierte Absolon das Frösteln,<br />

das den Magister dabei überlief. »Ich bin überrascht,<br />

Euch hier anzutreffen.«<br />

»Nun«, antwortete Van Rijn gedehnt, »mich hingegen<br />

überrascht Eure Anwesenheit nicht«, er zog arrogant<br />

die buschigen Augenbrauen <strong>nach</strong> oben, »Magister<br />

Quast.«<br />

Absolon trat näher an ihn heran. »Ich hörte einst<br />

von einem Mann, <strong>der</strong> an seiner Arroganz erstickte,<br />

mein lieber Van Rijn«, flüsterte er.<br />

»Manche Art zu sterben ist erstrebenswerter, als<br />

ein Leben, das zu nichts weiter taugt, als kostbaren<br />

Sauerstoff zu verschwenden.«<br />

Absolon machte eine wegwerfende Geste. »Könnten<br />

wir den Teil mit den Beleidigungen heute überspringen<br />

o<strong>der</strong> zumindest abkürzen? Es langweilt mich<br />

und ich bin müde.«<br />

Van Rijn lachte. »Nun gut. Aber beim nächsten<br />

Mal wirst du nicht darum herum kommen, mir meinen<br />

Sieg zu gönnen, Absolon. Also sag, warum bist<br />

du hier? Willst du kaufen o<strong>der</strong> nur zusehen?«<br />

»Kaufen.« Er betastete seine Tasche, in <strong>der</strong> sich die<br />

Börse befand. »Magister Pötts Körper hat versagt.«<br />

»Er ist tot?«<br />

»Nein, nur sein Körper hat versagt.«<br />

60


»Dann willst du ihm einen neuen besorgen?« Van<br />

Rijn runzelte die Stirn. »Du weißt, dass selbst die<br />

klügsten Köpfe unserer Kunst an diesem Vorhaben<br />

kläglich gescheitert sind. Und du kennst die Ergebnisse<br />

dieser Versuche.«<br />

Absolon schüttelte den Kopf. »Ich habe Magister<br />

Pötts‘ Gehirn isoliert, es besteht kein Grund zur Eile.«<br />

»Ah! Und es ist gelungen? Wie wun<strong>der</strong>bar! Welche<br />

Methode hast du angewandt? Du musst mir unbedingt<br />

mehr darüber erzählen.«<br />

»Du hättest <strong>der</strong>jenige sein können, den Magister<br />

Pötts ins Vertrauen zog, Theodorus, aber du hast es ja<br />

vorgezogen, das Fach zu wechseln, also denke ich<br />

nicht, dass es in seinem Sinn wäre, wenn ich dich jetzt<br />

in die Methode einweihe.« Absolon zog sein Messer<br />

aus <strong>der</strong> Tasche und begann seine Fingernägel zu säubern.<br />

»Wenn du allerdings bereit wärst, im Gegenzug<br />

etwas für mich zu tun, könnte ich darüber <strong>nach</strong>denken.«<br />

Van Rijn verschränkte die Arme vor <strong>der</strong> Brust.<br />

»Was?«<br />

»Lass uns später darüber reden«, Absolon deutete<br />

<strong>nach</strong> vorne, »das Spektakel beginnt.«<br />

Der Vorhang hob sich und ein Kleinwüchsiger in<br />

einer schwarzen Nonnentracht betrat die Bühne.<br />

»Verehrte Gäste«, sagte er. »Es ist mir ein vorzügliches<br />

Vergnügen, an diesem wun<strong>der</strong>samen Abend vor<br />

euch zu stehen und in eure schweinebackigen Gesichter<br />

zu sehen.« Jemand grunzte und <strong>der</strong> Zwerg kratzte<br />

sich das stoppelige Kinn. »Ich hoffe, eure Börsen sind<br />

so fett wie eure Wänste.«<br />

»Zeig mal, was unter deiner Kutte steckt!«, rief jemand<br />

aus <strong>dem</strong> Publikum.<br />

61


Der Zwerg faltete die Hände vor <strong>dem</strong> Bauch. »Ich<br />

darf doch bitten!« Er räusperte sich und spuckte auf<br />

den Boden. »Äh … Also: Ihr feisten Freunde des frischen<br />

Fleisches, <strong>der</strong> allseits beliebte Auktionator wird<br />

in Kürze bereit sein. Bis es soweit ist, werde ich euch<br />

mit einigen feinsinnigen Versen beglücken.«<br />

»Verpiss dich, Schwester Camillo!«<br />

Ein Glas traf den Zwerg am Kopf und er torkelte<br />

rückwärts. Er wischte sich das Blut von <strong>der</strong> Stirn und<br />

richtete seine Haube. »Banausen!« Er duckte sich und<br />

das nächste Glas knallte gegen die Bretterwand hinter<br />

ihm.<br />

Magister Van Rijn lachte und Absolon schüttelte<br />

den Kopf. »Was an diesem wi<strong>der</strong>wärtigen Schauspiel<br />

belustigt dich? Die Missgeburt, die sich selbst erniedrigt<br />

und es nicht einmal bemerkt? Das ist ekelhaft.«<br />

»Ich habe einen roten Cölner gewettet, dass Camillo<br />

die ersten fünf Minuten seines <strong>Auf</strong>tritts überlebt.<br />

Die Quoten standen 5:1, dass ihn heute jemand tötet,<br />

bevor er den ersten Satz zu Ende gesprochen hat.«<br />

Mittlerweile waren ein Stuhl und zwei weitere Gläser<br />

auf die Bühne geflogen und etwas, das aussah wie ein<br />

Gebiss. Camillo wehrte alle Geschosse ab und versuchte<br />

dabei möglichst würdevoll auszusehen. Magister<br />

Van Rijn wischte sich eine Lachträne aus <strong>dem</strong> Augenwinkel<br />

und sah Absolon an. »Du solltest wirklich<br />

etwas lockerer werden, das ist doch ein Heidenspaß!«<br />

Spaß. Absolon war nicht belustigt. Der Zwerg<br />

wich langsam zurück, die Hände schützend vors Gesicht<br />

gehoben, und Absolon sah sich selbst, in einer<br />

engen Gasse, die Knie aufgeschürft, die Nase blutend,<br />

und eine Horde Kin<strong>der</strong>, die Worte <strong>nach</strong> ihm warfen,<br />

die härter und schmerzvoller waren, als die Steine, die<br />

auf seinen Körper prasselten. Friss Dreck, Absolon!<br />

62


Na, wie schmeckt dir das? Er spürte den Unrat zwischen<br />

seinen Zähnen knirschen und den Geschmack<br />

von Urin und Kot, den beißenden Schmerz <strong>der</strong> Demütigung.<br />

Camillo rappelte sich auf und wischte sich Rotz<br />

und Blut von <strong>der</strong> Nase. Trotzig hob er den Kopf und<br />

schrie über das Lachen und die Beschimpfungen hinweg:<br />

»Ein Mädchen stand am Waldesrand,<br />

in ihrer Hand trug sie ein Häschen …«<br />

Das Getöse im Saal übertönte seine Worte. Ein<br />

bärtiger Hüne riss eine <strong>der</strong> Bänke aus ihrer Verankerung<br />

und schleu<strong>der</strong>te sie auf die Bühne. Eine <strong>der</strong><br />

Lampen ging zu Bruch und die Nonnentracht des<br />

Zwergs fing Feuer. Er hüpfte und schlug auf die<br />

Flammen ein. Die Zuschauer grölten. Absolon erhob<br />

sich von seinem Platz und zog ein kleines Fläschchen<br />

aus <strong>der</strong> Manteltasche, warf es auf den Zwerg und traf<br />

ihn an <strong>der</strong> Brust. Es gab eine ohrenbetäubende Explosion.<br />

Einige <strong>der</strong> Anwesenden warfen sich auf den<br />

Boden, die Bühne war in eine Rauchwolke gehüllt.<br />

Als <strong>der</strong> Rauch sich verzogen hatte, war Camillo verschwunden,<br />

nur seine Schuhe blieben zurück, aus denen<br />

grünlicher Qualm waberte.<br />

»Verdammt!« Van Rijn wischte sich einen Finger<br />

von <strong>der</strong> Schulter und sah Absolon vorwurfsvoll an.<br />

»Bist du verrückt geworden? Du hast mich um meine<br />

nächsten Wettgewinne gebracht! Wer weiß, wer zukünftig<br />

vor den Versteigerungen auftreten wird?«<br />

»Die <strong>Auf</strong>führung hat mich gelangweilt«, antwortete<br />

Absolon und setzte sich wie<strong>der</strong> hin. »Meine Zeit ist zu<br />

kostbar, um sie mit solch einem Schmierentheater zu<br />

verschwenden.«<br />

»Aber musstest du Camillo denn gleich …« Van<br />

63


Rijn verstummte.<br />

Die Zuschauer hatten ihre Plätze eingenommen<br />

und es war still geworden. Ein blaues Leuchten erhellte<br />

die Bühne. Absolon reckte den Hals, um besser<br />

sehen zu können. Jemand hatte die Schuhe des<br />

Zwergs fortgeräumt und die Scherben beseitigt. Fluoreszieren<strong>der</strong>,<br />

blendend weißer Qualm waberte über<br />

die Bühne.<br />

»Meine Güte«, murmelte Absolon. »Ich weiß nicht,<br />

wie viel Schmierentheater ich heute noch ertragen<br />

kann.«<br />

Der Hüne, <strong>der</strong> die Bank auf Camillo geschleu<strong>der</strong>t<br />

hatte, drehte sich zu ihm um und zischte ungehalten.<br />

Van Rijn legte die Hand auf Absolons Arm, schüttelte<br />

den Kopf und deutete <strong>nach</strong> vorne. Der Rauch wurde<br />

stärker, dichter und das blaue Leuchten begann blitzartig<br />

zu zucken und ein monotones Summen schwoll<br />

an. Die blauen Blitze bildeten eine Kugel, die über <strong>der</strong><br />

Bühne schwebte. Absolon lächelte in sich hinein. Für<br />

eine zweitklassige Theatervorstellung war das gar<br />

nicht übel. Er bemühte sich, die Teslaspulen zu entdecken,<br />

aber sie mussten gut versteckt sein. Auch <strong>der</strong><br />

Ursprung des Summens war nicht auszumachen. Die<br />

Blitze zuckten schneller und schneller, bildeten einen<br />

abgeschlossenen Raum, ein Donnerschlag und inmitten<br />

<strong>der</strong> Kugel manifestierten sich die Umrisse einer<br />

Gestalt. Die Blitze zuckten durch den Körper, als wäre<br />

er durchlässig wie Dampf. Spiegel? Gebannt beobachtete<br />

Absolon, wie die Gestalt sich verfestigte, die<br />

Blitze an ihr abprallten und zurückgeschleu<strong>der</strong>t wurden.<br />

Sie hob die Arme und beendete das Schauspiel.<br />

In <strong>der</strong> Bühnenmitte stand nun ein kleiner<br />

schmächtiger Mann in einem schäbigen grauen Anzug,<br />

die Arme verschränkt, den Kopf gesenkt. Sein<br />

64


langes Haar hing ihm strähnig in die Stirn. Niemand<br />

regte sich, niemand applaudierte, und als er zu sprechen<br />

anfing, lief ein kalter Schau<strong>der</strong> Absolons Nacken<br />

hinab. Die Stimme des Auktionators war kaum mehr<br />

als ein heiseres Flüstern und sie schien wie das Summen<br />

von überallher zu hallen und sich in Absolons<br />

Ohren zu schlängeln wie giftiger Nebel.<br />

»Ich kenne euch«, sagte er. »Jeden einzelnen.« Jetzt<br />

hob er den Kopf und Absolon sog die Luft durch die<br />

Zähne ein. Blaues Leuchten drang aus den Augen des<br />

schmächtigen Mannes, als er seinen Blick über die<br />

Zuschauer wan<strong>der</strong>n ließ. »Weißes Fleisch«, hörte<br />

Absolon ihn in seinem Kopf. »Beste Qualität, kaum<br />

gebraucht.«<br />

Zwei Helfer schoben einen großen Kasten auf die<br />

Bühne. Im Publikum reckten sich Köpfe, wurde unruhig<br />

auf den Stühlen hin und her gerutscht. Der<br />

Raum war angefüllt von gespannter Erwartung, <strong>dem</strong><br />

Gestank von schwitzenden Körpern und wi<strong>der</strong>licher<br />

Erregung, die auch auf Absolon überschwappte, obwohl<br />

er damit kämpfte, das Theater nicht an sich heran<br />

zu lassen. Das war nicht echt, nur ein Schauspiel.<br />

Leicht zu erklären, wenn man das Prinzip von Ursache<br />

und Wirkung kannte.<br />

Aber warum leuchteten die Augen des Auktionators<br />

wie reinstes Ætherblau? War er verstrahlt?<br />

Absolon schüttelte den Kopf. Das war einfach unmöglich,<br />

noch niemand hatte jemals solche Symptome<br />

gezeigt.<br />

»Zarteste Haut«, fuhr <strong>der</strong> Auktionator fort.<br />

»Weich, duftend. Willige Schenkel.« Er lachte ein<br />

freudloses Lachen. Noch leiser und heiserer: »Ich<br />

kann eure Gier spüren, euer Verlangen. Und da haben<br />

wir das erste lächerliche Gebot: Hun<strong>der</strong>t Cölntaler.«<br />

65


Absolon sah sich um. Er hatte nicht bemerkt, dass<br />

jemand geboten hatte.<br />

»Geiz ist kein guter Begleiter«, sagte <strong>der</strong> Auktionator.<br />

»Und eine Beleidigung für diese ausgesuchte Ware.<br />

Haar, so weich wie feinste japanische Seide … Ah,<br />

ich höre 250.«<br />

Wie<strong>der</strong> hatte niemand etwas gesagt o<strong>der</strong> ein Zeichen<br />

gegeben. Der kalte blaue Blick schweifte unablässig<br />

über die Zuschauer, stoppte, wan<strong>der</strong>te weiter.<br />

Als er Absolon streifte, spürte er ein eisiges Messer<br />

seine Stirn zerschneiden und zuckte zurück, doch die<br />

Kälte kroch durch seine Nervenbahnen, leckte an den<br />

Synapsen. Er spürte, wie die Scharniere <strong>der</strong> kleinen<br />

Kiste vereisten, wie das Schloss erzitterte. Nein! Er<br />

presste die Hände auf seine Schläfen, hielt mit aller<br />

Kraft den Deckel geschlossen. Der Auktionator lachte,<br />

doch jetzt war es ein amüsiertes, (überraschtes?)<br />

Lachen.<br />

»Seht her«, sagte er. »Seht und lockert die Börsen.«<br />

Blaues Leuchten erhellte die Kiste auf <strong>der</strong> Bühne,<br />

gebündelt und hell. Ein Helfer nahm den Holzdeckel<br />

ab und zog ein Kind an seinen Armen heraus. Der<br />

Auktionator stand plötzlich neben <strong>der</strong> Kiste und ließ<br />

seine Hände durch die langen Haare des Kindes gleiten,<br />

drückte seine Nase hinein und schloss einen<br />

Moment die Augen. »Frühling«, flüsterte er. »Hinter<br />

den Bergen geht die Sonne auf. Es duftet <strong>nach</strong> Narzissen.<br />

Schmetterlinge flattern über frisches Grün.«<br />

Seine Hand strich an <strong>dem</strong> schmächtigen Körper entlang,<br />

über die knochigen Hüften, die zitternden<br />

Schenkel. »Ich höre 300. 350, 500.«<br />

Absolon schluckte und klemmte die Hände unter<br />

die Achseln. Er atmete schwer. Fast konnte er den<br />

Frühling riechen. Und er wünschte sich nichts sehnli-<br />

66


cher. Er betastete seine Börse und die Kälte kehrte<br />

zurück.<br />

»600, 700, 750!« Die Stimme des Auktionators<br />

schwoll an. »850, wie wun<strong>der</strong>bar!«<br />

Absolon presste den Kiefer so fest zusammen,<br />

dass es schmerzte. Niemand sollte diesen Duft besitzen.<br />

Diese Haut, das Haar, das bläulich schimmerte,<br />

als bestünde es aus Ambrosia. Und sicher war es<br />

ebenso berauschend.<br />

»1000! Oh ja! Das ist wahre Kennerschaft. Verkauft,<br />

für eintausend Cölntaler.«<br />

Den Rest <strong>der</strong> Versteigerung nahm Absolon nur als<br />

nebliges Gebilde aus blauem Rauschen und Gerüchen<br />

wahr. Aus Kälte und Gier und <strong>der</strong> Stimme in seinem<br />

Kopf, die sich in seinen Geist fraß, jeden Winkel erkundete,<br />

berührte, leckte, ihn vögelte wie eine billige<br />

Hure, ohne, dass er etwas dagegen tun konnte.<br />

Absolon fand sich in <strong>dem</strong> düsteren, stinkenden Gang<br />

vor <strong>der</strong> Janusklause wie<strong>der</strong>. Frierend, schwitzend, die<br />

Finger um das schmale Handgelenk eines Kindes gekrallt.<br />

Wie war er hierhergekommen? Das letzte, an<br />

das er sich erinnerte, war ein grellblauer Blitz, <strong>der</strong> in<br />

seinen Schädel schlug und alles in Brand setzte. Kaltes,<br />

blaues Feuer, das wie an einer Lunte entlang<br />

durch seine Synapsen raste und unter <strong>der</strong> Großhirnrinde<br />

explodierte.<br />

»Absolon, warte!« Van Rijn blieb schwer atmend<br />

neben ihm stehen. Seine Wangen waren gerötet und<br />

in seinen Augen glänzte die gleiche wi<strong>der</strong>liche Geilheit,<br />

die in Absolons Lenden riss und zerrte und die<br />

er kaum bändigen konnte. Dieser verdammte Auktionator!<br />

Wie hatte er das geschafft? Magie? Diese<br />

Stimme. Sie klang in Absolons Ohren <strong>nach</strong>, als be-<br />

67


stünde die Verbindung noch immer. Das Kind zuckte,<br />

als sich sein Griff unwillkürlich verstärkte.<br />

Er schüttelte den Kopf und rieb sich über die Augen.<br />

»Was? Was hast du gesagt?«<br />

»Du wolltest mir Magister Pötts‘ Gehirn zeigen,<br />

hast du das vergessen?«<br />

»Ich besuche dich morgen in deinem Laboratorium,<br />

Theodorus, dann werde ich dir sagen, was du für<br />

mich tun kannst. Falls du es kannst, wirst du es zu<br />

sehen bekommen.«<br />

Van Rijn runzelte die Stirn und betrachtete das<br />

Kind mit unverhohlener Begierde. »Nun, heute<br />

scheinst du an<strong>der</strong>weitig beschäftigt zu sein. Also gut,<br />

ich sehe dich morgen.« Er drehte sich um und betrat<br />

wie<strong>der</strong> die Janusklause.<br />

Das Kind gab einen erstickten Laut von sich und<br />

Absolon lockerte den Griff. Erst jetzt sah er sich seine<br />

überteuerte Errungenschaft genauer an. Bleiche<br />

Wangen, ein glasiger Blick, <strong>der</strong> unter fettigen Haaren<br />

ins Leere starrte. Eintausend Cölntaler für dieses magere<br />

Stück Fleisch. Er spuckte aus und machte sich<br />

auf den Heimweg. Mager o<strong>der</strong> nicht, für seine Zwecke<br />

war es genau das Richtige.<br />

***<br />

Felix strich an den Wänden <strong>der</strong> Höhle entlang. Die<br />

Unruhe wurde stärker und stärker und trieb ihn voran.<br />

Er musste seine Kraft nutzen, sonst würde er explodieren.<br />

In seinen Barthaaren klebte Blut und auch<br />

sein Fell war von dunkelroten Spritzern übersät, die<br />

zu schwarzen Knoten trockneten. Er blieb stehen und<br />

knurrte. Zwei Katzen näherten sich ihm mit zwischen<br />

die Beine geklemmten Schwänzen und begannen sein<br />

68


Fell sauber zu lecken. Gedämpfte Geräusche drangen<br />

in die abgelegene Höhle. Menschen. Er hatte sich von<br />

<strong>der</strong> Menschensiedlung fern gehalten, war immer auf<br />

<strong>der</strong> Hut gewesen, keinem von ihnen zu begegnen.<br />

Er erinnerte sich an seinen Menschen. Er hatte<br />

ihm Futter gegeben, doch er hatte schlecht gerochen.<br />

Krank und böse. Nie wie<strong>der</strong> hatte er einem von ihnen<br />

begegnen wollen. Er hatte keinen Grund dazu. Und<br />

doch zog es ihn mit einem Mal zu ihren schmutzigen<br />

Häusern hin. Was hatte er schon zu fürchten? Er war<br />

stärker als sie. Klüger. Und er trug die Kraft in sich.<br />

Niemand konnte ihm etwas anhaben, sie waren viel<br />

zu einfältig und schwach, sie würden ihn nicht einmal<br />

als das erkennen, was er war. <strong>Auf</strong>regung und Vorfreude<br />

machte sich breit. Ja, er freute sich darauf, ihre<br />

Siedlungen zu durchstreifen, in ihre Häuser einzudringen.<br />

Warum? Weil er es konnte. Er stieß die Katzen<br />

beiseite und machte sich auf den Weg.<br />

69


9<br />

Es war zum Ersticken warm in <strong>dem</strong> kleinen Zimmer.<br />

Martha hätte nur zu gerne das Fenster geöffnet, aber<br />

heute war wie<strong>der</strong> einer <strong>der</strong> Tage, an denen die Wolke<br />

aus Qualm und Ruß so dicht über den Häusern hing,<br />

dass kaum Tageslicht bis zum Grund <strong>der</strong> Straßen gelangte.<br />

Das war eine Nebenwirkung des Schutzschirms,<br />

den die Dampfmagische Gesellschaft seit<br />

<strong>dem</strong> britannischen Unglück über <strong>der</strong> Stadt aufrecht<br />

erhielt. Der Luftaustausch funktionierte unter <strong>dem</strong><br />

Schirm nicht beson<strong>der</strong>s gut. Martha blickte sehnsüchtig<br />

zum Fenster. Nur ein paar Minuten, ein wenig<br />

Luft schöpfen. Aber ihre Erfahrung ließ sie von diesem<br />

Impuls Abstand nehmen. Statt <strong>der</strong> erwarteten<br />

frischen Luft würde sie nur Gestank und Schmutz<br />

hereinlassen.<br />

Sie blickte zur Uhr über <strong>der</strong> Tür. Die Stunde bis zu<br />

ihrem Dienstschluss würde sie schon noch überstehen.<br />

Martha seufzte und lehnte sich in <strong>dem</strong> knarzenden<br />

Bürostuhl zurück, streckte die Beine lang aus.<br />

Das war keine damenhafte Haltung, aber es war ja<br />

70


niemand außer ihr im Zimmer, <strong>der</strong> sie deswegen hätte<br />

rügen können. Sie starrte auf die abgestoßenen Spitzen<br />

ihrer bequemen Knöpfstiefel. Die Sohle schien<br />

sich zu lösen, sie musste unbedingt bald zum Schuster<br />

damit.<br />

Die Minuten dehnten sich endlos. Heute war ein<br />

ruhiger Tag, das lag am Wetter. Die Menschen blieben<br />

lieber in ihren Wohnungen. Noch vierzig Minuten.<br />

Der Dienst am «Vertrauenstelephon«, für den je<strong>der</strong><br />

Sicherheitsbeamte <strong>der</strong> DMG einmal im Monat<br />

eingeteilt wurde, war Martha verhasst. Sie hatte vor<br />

zwei Jahren sogar einmal ihren Vorgesetzten gebeten,<br />

sie davon zu befreien - natürlich ohne Erfolg. Das<br />

gehörte nun mal zu den lästigen, aber notwendigen<br />

<strong>Auf</strong>gaben, die erledigt werden mussten. Überall in <strong>der</strong><br />

Stadt standen die kleinen, leuchtend roten Zellen mit<br />

einem Telefonapparat, <strong>der</strong> ohne Umweg über das<br />

Amt direkt mit <strong>dem</strong> Sicherheitsdienst <strong>der</strong> DMG verbunden<br />

war. Wer eine dieser Zellen betrat und den<br />

Hörer abnahm, <strong>der</strong> landete …<br />

Das Telefon klingelte, und Martha zuckte heftig<br />

zusammen. Sie griff <strong>nach</strong> <strong>dem</strong> Hörer und legte ihn<br />

ans Ohr. «Vertrauenstelephon«, sagte sie, «Ihre Sorgen<br />

sind unsere Sorgen. Sie sprechen mit Martha<br />

Kühn. Was kann ich für Sie tun?«<br />

Sie lauschte abwesend <strong>der</strong> quakenden Stimme am<br />

an<strong>der</strong>en Ende, die ihr in einem endlosen, monotonen<br />

Sermon etwas über den Ärger mit einer frechen<br />

Hauswirtin und den dreckigen, lauten Nachbarn erzählte.<br />

Sie gab zustimmende, besänftigende Brummlaute<br />

von sich, krakelte die Schreibtischunterlage weiter<br />

voll und klopfte dann mit ihrem Bleistift mit zunehmen<strong>der</strong><br />

Gereiztheit auf die Tischplatte. Als <strong>der</strong><br />

71


Anrufer endlich zu <strong>dem</strong> Punkt kam, wo er sich über<br />

den verkommenen Mieter über seiner eigenen Wohnung<br />

beschwerte, <strong>der</strong> ständig betrunken <strong>nach</strong> Hause<br />

kam und seine Frau prügelte, und <strong>der</strong> seit einiger Zeit<br />

verdächtigen nächtlichen Besuch erhielt, unterbrach<br />

sie den Redestrom mit einigen gezielten, knappen<br />

Fragen, notierte Namen, Zeiten und Adresse und erklärte<br />

dann, man werde sich um alles kümmern.<br />

Sie legte auf und versah die Notizen mit den passenden<br />

Chiffren, damit die Beamten, die sich um die<br />

Sache kümmern würden, eine erste Einschätzung bekamen.<br />

Querulant, Beobachtung <strong>der</strong> Dringlichkeitsstufe<br />

II (kein akuter Handlungsbedarf, aber eine<br />

Überprüfung wäre angebracht), mögliche Verbindung<br />

zu Anarchisten und/o<strong>der</strong> Schwarzmarkaktivitäten.<br />

Sie legte das ausgefüllte Formular in den Ausgangskorb<br />

und blickte wie<strong>der</strong> zur Uhr. Noch fünf<br />

Minuten. Ihr Dienst an <strong>der</strong> Denunziationsleitung war<br />

gleich beendet. <strong>Auf</strong> <strong>dem</strong> Heimweg würde sie noch<br />

schnell Milch und ein paar Eier einkaufen, und dann<br />

wartete ein stiller, friedlicher Abend am Kamin auf<br />

sie, mit einem schönen Buch und keinem Geräusch<br />

als <strong>der</strong> tickenden Uhr auf <strong>dem</strong> Kaminsims.<br />

Martha stützte den Kopf in die Hände und stieß<br />

einen kleinen Jammerlaut aus. Der kleine Moment <strong>der</strong><br />

Schwäche ging vorbei, sie erhob sich und überprüfte<br />

im Spiegel den Sitz ihrer Frisur, steckte zwei Nadeln<br />

fest, die sich gelöst hatten und musterte flüchtig ihr<br />

Gesicht. Ordentlich. Mehr als das würde es auch nie<br />

sein. «Bierkutschers Tochter, Gesicht wie'n Gaul« hatten<br />

die Nachbarskin<strong>der</strong> ihr früher <strong>nach</strong>gerufen. Als<br />

junges Mädchen war sie darüber so unglücklich gewesen,<br />

dass sie am liebsten gar nicht mehr aus <strong>dem</strong> Haus<br />

gegangen wäre. Inzwischen war sie alt genug, um nur<br />

72


noch stille Resignation darüber zu empfinden, wie sie<br />

aussah. Es gab eben Schönheiten, denen das Leben<br />

zulächelte, und dann gab es solche wie sie - brave,<br />

fleißige, unauffällige «späte Mädchen«.<br />

Wenn sie nicht damals das unverschämte Glück<br />

gehabt hätte, bei einer <strong>der</strong> jährlich stattfindenden Prüfungen<br />

<strong>der</strong> Dampfmagischen Gesellschaft als magisch<br />

talentiert beurteilt zu werden und dadurch diese wun<strong>der</strong>bare<br />

und erfüllende <strong>Auf</strong>gabe erhalten zu haben -<br />

was hätte sie dann vom Leben erwarten können? So<br />

aber ging sie jeden Morgen mit frischem Elan an ihren<br />

Schreibtisch, wurde in regelmäßigen Abständen<br />

einem <strong>der</strong> Kriminalfälle zugeteilt, bei <strong>dem</strong> die Anwesenheit<br />

eines Beamten <strong>der</strong> DMG als notwendig erachtet<br />

wurde, und hatte ein ausgefülltes und interessantes<br />

Leben - so, wie sie es sich immer gewünscht hatte.<br />

Die Uhr schlug die volle Stunde. Martha setzte mit<br />

routinierten Handbewegungen ihren Hut auf und<br />

schlüpfte in den Mantel, zog ihren Schirm aus <strong>dem</strong><br />

Stän<strong>der</strong> neben <strong>der</strong> Tür und legte zum Schluss die<br />

Atemmaske um, ehe sie in den Korridor trat und die<br />

Tür abschloss. Rührei, ein Glas kaltes Bier und <strong>der</strong><br />

wun<strong>der</strong>bar kitschige Liebesroman, den sie gestern<br />

angefangen hatte, warteten auf sie. Was für ein schönes<br />

Leben sie doch hatte.<br />

73


10<br />

Die Besprechung hatte bereits begonnen, als <strong>Guy</strong> in<br />

das Büro seines Chefs trat. Inspektor Voigt warf ihm<br />

einen säuerlichen Blick zu, fuhr aber unbeirrt fort.<br />

Offensichtlich war er am Ende seiner allwöchentlichen<br />

Montagsrede angelangt, denn er griff <strong>nach</strong> einem<br />

Aktenstapel auf seinem Schreibtisch, blätterte die<br />

Dokumente durch und ordnete sie zu einigen kleineren<br />

Stapeln. Zwischendurch nippte er immer wie<strong>der</strong><br />

an seinem Kaffee, <strong>der</strong> in einer Porzellantasse dampfte<br />

und einen verlockenden Duft verbreitete. Ein Königreich<br />

für ein schwarzes starkes Gebräu, dachte <strong>Guy</strong><br />

und begrüßte seine Kollegen mit einem Kopfnicken.<br />

Fuchs, Haberland, Friedrichs. Hinter den Kommissären<br />

stand Molter, in <strong>der</strong> für ihn typischen, leicht<br />

vorgebeugten Haltung, die ihn unterwürfig erscheinen<br />

ließ und kleiner, als er tatsächlich war. Neben ihm ein<br />

junger Asiate, den <strong>Guy</strong> noch nie gesehen hatte. Ein<br />

neuer Anwärter? Er trug einen dunklen Anzug, <strong>der</strong><br />

das Monatsgehalt eines Kommissärs gekostet haben<br />

musste. Blankpolierte schwarze Schuhe. Eine Haut,<br />

74


weich und zart wie die eines Kindes. Wahrscheinlich<br />

doch kein Anwärter, aber was hatte er in ihrer Besprechung<br />

zu suchen?<br />

Inspektor Voigt räusperte sich und lenkte <strong>Guy</strong>s<br />

<strong>Auf</strong>merksamkeit von <strong>dem</strong> Schlitzauge ab. »Fuchs!«<br />

Der Angesprochene trat vor den Schreibtisch und<br />

nahm eine Akte entgegen. »Raubüberfall auf einen<br />

Juwelier in <strong>der</strong> Glockengasse. Gehen Sie diskret vor.«<br />

Haberland bekam einen Einbruch in einer Villa,<br />

Friedrichs Taschendiebstähle, die alle in <strong>dem</strong> gleichen<br />

Lokal begangen worden waren und auf eine organisierte<br />

Gruppe schließen ließen. Als <strong>Guy</strong> vortrat, erhob<br />

sich Voigt und klatschte in die Hände. »An die<br />

Arbeit, meine Herren, das Kaiserliche Kriminalamt<br />

bezahlt Sie nicht fürs Herumstehen.«<br />

<strong>Guy</strong> zuckte mit den Schultern und wandte sich mit<br />

den an<strong>der</strong>en zur Tür.<br />

»Sie nicht, <strong>Lacroix</strong>.« Inspektor Voigt gab Molter<br />

und <strong>dem</strong> Asiaten ein Zeichen und die beiden traten<br />

ebenfalls vor. »Das sind Ihre Assistenten. Molter kennen<br />

Sie natürlich, und das ist Kriminalassistent Haruki<br />

Kimura, soeben aus Düsseldorp ins schöne Cöln versetzt.«<br />

Assistenten? Und gleich zwei davon? <strong>Guy</strong><br />

schnaubte. »Inspektor, ich brauche wirklich niemanden<br />

…«<br />

»<strong>Lacroix</strong>! Hören Sie auf zu diskutieren. Ich erwarte,<br />

dass Sie Kimura mit allen Details unserer Arbeitsweise<br />

vertraut machen. Haben wir uns verstanden?«<br />

»Natürlich, Inspektor.«<br />

»Gut, dann kommen wir zu Ihrem Fall. Vor genau<br />

…«, Voigt klappte seine Taschenuhr auf, »fünfunddreißig<br />

Minuten hat eine junge Frau einen Todesfall<br />

gemeldet.« Er kramte in einer Akte. »Streifenbe-<br />

75


amte haben die Wohnung bereits abgeriegelt. Das<br />

wenige, das wir bis jetzt wissen, finden Sie hier.«<br />

<strong>Guy</strong> nahm die dünne Akte entgegen, reichte sie an<br />

Molter weiter und sah Inspektor Voigt fragend an.<br />

»Warum stellen Sie für einen gewöhnlichen Mord<br />

gleich drei Beamte ab?«<br />

»Kommissär <strong>Lacroix</strong>«, Voigt stützte sich mit beiden<br />

Händen auf den Schreibtisch, »machen Sie Ihre<br />

Arbeit und lassen Sie mich meine machen. Abmarsch!«<br />

<strong>Guy</strong> verließ das Büro mit seinen beiden Assistenten<br />

im Schlepptau. Das versprach interessant zu werden.<br />

Für einen einfachen Mord würde Voigt nicht so<br />

ein <strong>Auf</strong>gebot ins Rennen schicken. Er spürte dieses<br />

Kribbeln unter <strong>der</strong> Haut, die Spannung vor einem<br />

ungewöhnlichen Fall. Das war ihm mehr als recht.<br />

Alles, was ihn vom Grübeln abhielt, war willkommen.<br />

Kimura hatte im Fond Platz genommen, Molter fuhr<br />

den Wagen und <strong>Guy</strong> warf einen Blick in die Akte.<br />

Hämergasse 12. <strong>Guy</strong> stockte, blätterte um und suchte<br />

den Namen <strong>der</strong> Frau, die den Todesfall gemeldet hatte.<br />

Apollonia Mattes, Wäschereibesitzerin. Apollonia –<br />

Fräulein Loni. Das konnte kein Zufall sein. Er rieb<br />

sich die pochenden Schläfen und schloss einen Moment<br />

die Augen, öffnete sie aber schnell wie<strong>der</strong>, als<br />

sein Magen zu rebellieren begann. Molter steuerte das<br />

Automobil bedächtig, stoppte in <strong>der</strong> Straße, in <strong>der</strong> die<br />

Sprengladung hochgegangen war und wartete, bis die<br />

Feuerwehr ihren Löschwagen zur Seite gefahren hatte.<br />

Die Unglücksstelle war abgesperrt, ein Streifenpolizist<br />

bewachte den Eingang. Ein unauffälliger<br />

schwarzer Wagen parkte direkt davor. »Der Sicher-<br />

76


heitsdienst«, knurrte <strong>Guy</strong>. Er wandte sich Molter zu.<br />

»Was hat die DMG mit <strong>der</strong> Explosion zu schaffen?<br />

Und warum wurde das KKA nicht hinzugezogen?«<br />

»Magische Sprengladung?« Molter zuckte die<br />

Schultern.<br />

»Bei <strong>dem</strong> kleinsten Verdacht auf Magieeinflüsse ist<br />

die Dampfmagische Gesellschaft zu informieren. Die<br />

Beamten des KKA haben ihre Ermittlungen einzustellen,<br />

bis die Spezialisten <strong>der</strong> DMG ihre Arbeit beendet<br />

und den Fall zur weiteren Untersuchung freigegeben<br />

haben. Paragraph 12b <strong>der</strong> Dienstvorschriften.«<br />

<strong>Guy</strong> legte den Arm über die Rücklehne und starrte<br />

Kimura aus zusammengekniffenen Augen an. »Vielen<br />

Dank für die Belehrung, Assistent Kimura. Kennen<br />

Sie vielleicht auch ein nettes Gedicht, das Sie zum<br />

Besten geben möchten? O<strong>der</strong> ein hübsches Lied? Nur<br />

zu, ich bin ganz Ohr.«<br />

Kimura zuckte die Schultern und sah <strong>dem</strong>onstrativ<br />

aus <strong>dem</strong> Fenster. Molter legte den Gang ein und das<br />

Automobil ruckte <strong>nach</strong> vorne, begleitet von einem<br />

ohrenbetäubenden Knall. »Kommissär <strong>Lacroix</strong>«, sagte<br />

er und würgte den zweiten Gang rein, was eine weitere<br />

Fehlzündung zu Folge hatte, »lassen Sie doch den<br />

Jungen, er ist neu und kennt sich noch nicht aus.<br />

Düsseldorper«, fügte er mit einem Zwinkern hinzu.<br />

<strong>Guy</strong> winkte ab und wandte sich wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Akte<br />

zu. In wenigen Minuten erreichten sie den Tatort und<br />

Fräulein Loni würde ihn erkennen. Verdammt noch<br />

mal! Havener hatte gelebt, als er ihn verlassen hatte.<br />

Der Puls war stabil gewesen, er konnte doch unmöglich<br />

an den Folgen <strong>der</strong> Schläge gestorben sein.<br />

Molter parkte direkt vor <strong>der</strong> Haustür. <strong>Auf</strong> <strong>der</strong> gegenüberliegenden<br />

Straßenseite standen einige Schaulustige.<br />

Kin<strong>der</strong> spielten im Staub mit Murmeln. Die<br />

77


Gegend war nicht die schlechteste, aber auch hier<br />

kam man <strong>der</strong> Polizei lieber nicht zu nahe, wenn es<br />

sich vermeiden ließ.<br />

<strong>Lacroix</strong> zeigte seine Dienstmarke, <strong>der</strong> wachhabende<br />

Polizist grüßte und trat zur Seite. Die Tür zur Wäscherei<br />

war nur angelehnt und man hörte Fräulein<br />

Lonis aufgelöstes Schluchzen. <strong>Lacroix</strong> gab Molter ein<br />

Zeichen. Ȇbernehmen Sie die Befragung <strong>der</strong> Zeugin.<br />

Ich sehe mir den Tatort an. Kommen Sie, Kimura.«<br />

Vor Haveners Wohnungstür stand ein weiterer Polizist,<br />

<strong>der</strong> sofort salutierte, als er <strong>Lacroix</strong> erkannte. »So<br />

was habe ich noch nicht gesehen, Herr<br />

Hauptkommissär«, sagte er und öffnete die Tür. »Im<br />

meinem ganzen Leben nicht.«<br />

<strong>Guy</strong> blieb im Türrahmen stehen. Die Wohnung<br />

war düster, irgendjemand hatte die Vorhänge zugezogen.<br />

Im Zimmer sah alles genauso aus, wie <strong>Guy</strong> es in<br />

Erinnerung hatte. Der kleine Tisch mit Aschenbecher<br />

und Gläsern, <strong>der</strong> Sessel, das leere Bücherregal. Die<br />

Tür zur Küche stand offen. Kein Anzeichen, dass jemand<br />

hier gewesen war, <strong>nach</strong><strong>dem</strong> <strong>Guy</strong> die Wohnung<br />

verlassen hatte. Es roch ein wenig salzig und <strong>nach</strong> …<br />

Er schloss die Augen. Tang? Wie ein Morgen am<br />

Meer. »Kimura? Lassen Sie etwas Licht herein. Aber<br />

passen Sie auf, wo Sie hintreten.«<br />

Der Assistent zog die Vorhänge auf. Staubkörner<br />

tanzten in <strong>dem</strong> Lichtstreifen. <strong>Guy</strong> ging zum Bett, die<br />

Hände tief in den Manteltaschen vergraben.<br />

Havener lag auf <strong>der</strong> Seite, als schliefe er, die Beine<br />

angezogen, die Arme an die Brust gepresst, den Mund<br />

leicht geöffnet. Das Gesicht war zu einem dunkelblauen<br />

Ballon angeschwollen. <strong>Guy</strong> stieß den Atem<br />

aus. Die Augen waren verbrannt. Als hätte jemand<br />

eine Zigarre darauf ausgedrückt.<br />

78


Er trat näher an das Bett heran. Unter seinen Sohlen<br />

knisterte etwas und er zog das Bein zurück, bückte<br />

sich und hob die zerknüllten Seiten einer Tageszeitung<br />

auf. Das Päckchen, das Havener in <strong>dem</strong> Laden<br />

abgeholt hatte!<br />

»Kimura, sehen Sie mal unter <strong>dem</strong> Bett <strong>nach</strong>, ob<br />

Sie irgendetwas finden.«<br />

Der Assistent ging auf die Knie. »Nichts, Herr<br />

Kommissär, nur Staub.«<br />

<strong>Guy</strong> betrachtete die Brandwunden aus <strong>der</strong> Nähe.<br />

Keine Zigarre, dafür waren die Wunden zu sauber.<br />

Regelrecht akkurat und gleichförmig wie von einem<br />

Stempel. <strong>Guy</strong> schüttelte den Kopf. Welches kranke<br />

Hirn konnte sich so etwas ausdenken?<br />

Er sah sich in <strong>der</strong> Wohnung um. Die Regale waren<br />

leer, in <strong>der</strong> Küche standen immer noch die angetrockneten<br />

Rühreireste und im Schrank eine Grundausstattung<br />

an Geschirr. Im Mantel des Toten steckten<br />

eine halbleere Packung Zigaretten und Streichhölzer.<br />

Keine Papiere, keine persönlichen Dinge. Nichts.<br />

<strong>Lacroix</strong> setzte sich in den Sessel und sah die Leiche<br />

an. Irgendetwas war ihm an <strong>dem</strong> Tag, als er das<br />

erste Mal in <strong>der</strong> Wohnung gewesen war, merkwürdig<br />

erschienen. Er war zu aufgebracht gewesen, um es<br />

bewusst zu registrieren. Aber da war etwas. Er verschränkte<br />

die Arme und schloss die Augen.<br />

Er hörte wie<strong>der</strong> Haveners Nase brechen, spürte<br />

das Blut auf seinen Knöcheln, fühlte die Wut in sich<br />

aufsteigen wie Gewitterwolken. Nein. Er musste ruhig<br />

bleiben. Konzentriere dich, <strong>Lacroix</strong>. »Die Küchentür«,<br />

flüsterte er. »Sie stand offen.«<br />

»Herr Kommissär?«<br />

Mit einer Handbewegung brachte er den Assistenten<br />

zum Schweigen. Die Küchentür war offen gewe-<br />

79


sen, aber bevor er eingetreten war, hatte er eine Tür<br />

zuschlagen gehört. Es musste also noch ein Zimmer<br />

geben.<br />

Er stand auf und klopfte die Wände ab. An einer<br />

Stelle klang die Wand dumpf und hohl. »Schieben Sie<br />

das Regal zur Seite«, befahl er.<br />

Kimura stemmte sich dagegen, aber das Regal<br />

blieb an seinem Platz. »Es muss festgeschraubt sein«,<br />

sagte er und tastete die Bretter ab. Es klickte, und das<br />

Regal schwang in den Raum, samt Rückwand und<br />

Tapete.<br />

Kimura ging in die Knie. »Herr Kommissär,<br />

schnell!«<br />

<strong>Guy</strong> starrte in das Innere <strong>der</strong> kleinen Kammer, die<br />

hinter <strong>dem</strong> Regal zum Vorschein gekommen war. In<br />

die Ecke gedrückt, die Arme um die dünnen Beine<br />

geschlungen, in den Händen eine kleine Stoffpuppe,<br />

saß ein Kind – ein etwa zehnjähriger Junge. <strong>Guy</strong><br />

fluchte. »Kimura, rufen Sie einen Arzt!«<br />

<strong>Guy</strong> hockte vor <strong>der</strong> dunklen Kammer. Der Junge bewegte<br />

sich nicht, starrte ins Leere, die Finger um die<br />

Puppe geklammert, als hielte er sich daran fest.<br />

Kimura kam zurück und ging neben <strong>Lacroix</strong> in die<br />

Knie. »Hilfe ist unterwegs«, sagte er leise.<br />

Molter kam herein und blieb unschlüssig vor <strong>dem</strong><br />

Bett stehen. »Haben Sie etwas aus <strong>der</strong> Frau herausbringen<br />

können?«, fragte <strong>Guy</strong> ungeduldig.<br />

»Wir haben einen Verdächtigen. Die Wäschereibesitzerin<br />

hat gestern Abend einen Mann hereingelassen,<br />

<strong>der</strong> behauptete, <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong> des Toten zu sein.<br />

Laut ihrer Beschreibung ein feiner Herr mit guten<br />

Manieren. Groß, kräftig, dunkler Mantel und Hut.<br />

Backenbart. Er hat ihr gleich Angst eingejagt, sagt<br />

80


sie.«<br />

<strong>Guy</strong> fuhr sich mit den Fingern durch den Bart.<br />

Wie schnell sich die Eindrücke von Zeugen doch än<strong>der</strong>ten,<br />

wenn eine Gewalttat im Spiel war. Gestern<br />

Abend wäre sie mit ihm ausgegangen, ohne auch nur<br />

eine Sekunde zu zögern. Er bemerkte, dass Molter ihn<br />

anstarrte und starrte zurück, bis sein Assistent den<br />

Blick senkte.<br />

»Wir bestellen Fräulein Loni heute Nachmittag<br />

aufs Revier und lassen eine Zeichnung des Verdächtigen<br />

anfertigen.«<br />

»Fräulein Loni? Sie kennen die Wäschereibesitzerin?«<br />

»Molter. Ich habe Augen im Kopf und benutze sie<br />

auch. Der Name stand auf <strong>dem</strong> Schild über <strong>dem</strong><br />

Fenster.«<br />

Molter nickte ergeben und sackte noch ein wenig<br />

mehr in sich zusammen.<br />

Kimura hatte sich im Schnei<strong>der</strong>sitz vor <strong>der</strong> Kammer<br />

nie<strong>der</strong>gelassen und redete leise auf das Kind ein.<br />

<strong>Guy</strong> ließ seine Blicke über die Leiche wan<strong>der</strong>n. Irgendjemand<br />

war hier gewesen, <strong>nach</strong><strong>dem</strong> er gestern<br />

gegangen war, und hatte Havener den Rest gegeben.<br />

Aber wie? Genügten die Verbrennungen, um jemanden<br />

zu töten? Er beugte sich über den Toten, lockerte<br />

den Kragen.<br />

»Sehen Sie«, sagte er. »Er wurde erdrosselt.«<br />

Molter pustete den Atem aus. »Wer würde so etwas<br />

… Gottloses Pack!«<br />

»Ein Rosenkranz?« Kimura klang amüsiert.<br />

»Mit einem Ave Maria direkt zur Hölle«, bemerkte<br />

<strong>Guy</strong> trocken und Molter wandte sich angewi<strong>der</strong>t ab.<br />

Der Streifenpolizist schlug geräuschvoll die Hacken<br />

zusammen und salutierte, dann trat eine Frau<br />

81


ein. <strong>Guy</strong> fuhr herum. »Ich darf doch bitten? Das ist<br />

ein Tatort, Sie haben hier nichts zu suchen!«<br />

»Sie sind bestimmt Kommissär <strong>Lacroix</strong>.« Die Frau<br />

kam unbeeindruckt auf ihn zu und streckte ihm die<br />

Hand entgegen. »Kühn«, sagte sie und lächelte, den<br />

Toten auf <strong>dem</strong> Bett würdigte sie mit keinem Blick.<br />

<strong>Guy</strong> ignorierte die ihm entgegengestreckte Hand und<br />

Frau Kühn zog ihre Kostümjacke glatt und drückte<br />

ihre überdimensionale Handtasche an die Brust. »Sie<br />

können sich und mir das Leben schwer machen, Herr<br />

Kommissär«, fuhr sie fort, »aber besser wäre es, Sie<br />

finden sich mit meiner Anwesenheit ab und kooperieren.«<br />

Mit zusammengekniffenen Augen musterte <strong>Guy</strong><br />

die Frau. Das Haar streng frisiert, ein etwas zu breiter<br />

Mund in einem breiten, nichtssagenden Gesicht. Abgetretene,<br />

aber blankgeputzte Schuhe. Eine graue<br />

Maus in einem grauen Kostüm. Am Kragen trug sie<br />

das goldene Abzeichen, das die Beamten <strong>der</strong> DMG<br />

kennzeichnete. <strong>Guy</strong> biss die Zähne so fest zusammen,<br />

dass es schmerzte. Wie, zum Teufel, hatte die DMG<br />

so schnell von <strong>dem</strong> Mord erfahren?<br />

Frau Kühn ließ seine Musterung über sich ergehen<br />

und stellte ihre Tasche auf <strong>dem</strong> Boden ab. Das Lächeln<br />

gefror auf ihren Lippen, als <strong>Guy</strong> weiter schwieg.<br />

Sie wandte sich an Kimura. »Begleiten Sie den Herrn<br />

Kommissär <strong>nach</strong> draußen, bei <strong>der</strong> Besichtigung des<br />

Tatorts wäre ich gerne ungestört.«<br />

<strong>Guy</strong> ballte die Fäuste in den Manteltaschen. Kimura<br />

machte mit einer entschuldigenden Handbewegung<br />

einen Schritt auf ihn zu. <strong>Guy</strong> warf ihm einen vernichtenden<br />

Blick zu und stürmte hinaus. Seine Assistenten<br />

folgten ihm.<br />

Er machte sich mit einigen deftigen Flüchen Luft,<br />

82


dann schickte er Molter zurück in Haveners Wohnung,<br />

um sich um das Kind zu kümmern. »Und lassen<br />

Sie sich von <strong>der</strong> DMG-Hexe nicht abwimmeln! Kimura,<br />

ich möchte, dass Sie alle Ladenbesitzer in <strong>der</strong><br />

näheren Umgebung befragen. Die Zeitung neben<br />

Haveners Bett sah aus, als wäre darin etwas eingewickelt<br />

gewesen, möglicherweise hat er vor kurzem etwas<br />

gekauft und ich möchte wissen, was das war.«<br />

Kimura lief die Treppe hinab und <strong>Guy</strong> folgte ihm<br />

gemächlich. Er wollte selbst noch einmal mit Fräulein<br />

Loni reden, aber ohne Zeugen. Die Tür zur Wäscherei<br />

stand immer noch offen und er trat ein, ohne anzuklopfen.<br />

Fräulein Loni wuchtete gerade einen Korb voll<br />

Wäsche auf einen Tisch und prüfte mit <strong>dem</strong> Finger<br />

die Temperatur des Bügeleisens. Erst als <strong>Guy</strong> sich<br />

räusperte, blickte sie auf. Ihre Augen weiteten sich, sie<br />

machte ein Schritt rückwärts und schlug die Hände<br />

vor den Mund.<br />

»Nur die Ruhe, Fräulein Loni«, sagte <strong>Guy</strong> beschwichtigend<br />

und hielt seine Dienstmarke hoch,<br />

»mein Assistent hat Sie ja bereits befragt und ich will<br />

auch nicht weiter stören. Nur damit keine Missverständnisse<br />

aufkommen: Ich habe Herrn Havener gestern<br />

dienstlich aufgesucht.«<br />

<strong>Guy</strong> ging auf Fräulein Loni zu. Sie sah sich ängstlich<br />

um, als suchte sie einen Fluchtweg. »Hören Sie«,<br />

fuhr er fort. »Wir wollen doch meine Kollegen nicht<br />

mit Spuren verwirren, die in die falsche Richtung führen<br />

könnten. Verstehen Sie?«<br />

Langsam schüttelte sie den Kopf. »Se welle, dat ich<br />

lüje«, sagte sie <strong>nach</strong> einer Weile.<br />

»Aber nein!« <strong>Guy</strong> begann seine Pfeife zu stopfen<br />

und sah sich im Zimmer um. »Einen schönen Wasch-<br />

83


salon haben Sie hier, Fräulein Loni. Es ist sicher nicht<br />

leicht, ein Geschäft zu führen, so ohne männliche<br />

Hilfe. Behördengänge müssen erledigt werden, Genehmigungen<br />

beantragt … Und wir wissen ja alle, wie<br />

stur und träge die Beamten sein können und wie<br />

leicht man mit den Behörden Ärger bekommen<br />

kann.«<br />

Loni schluckte hörbar und faltete die Hände, dann<br />

nickte sie. »Ich han <strong>der</strong> Här Kummessär hück zom<br />

eeschte Mol jesinn.«<br />

»Ich wusste, dass Sie eine kluge Frau sind.« <strong>Guy</strong><br />

nahm Lonis Hand und hauchte einen Kuss darauf.<br />

Heute kicherte sie nicht.<br />

84


ÜBER CLOCKWORK COLOGNE<br />

<strong>Clockwork</strong> <strong>Cologne</strong> vereint Steampunk und Krimi,<br />

Magie und Technik, persönliche Schicksale und Verbrechen.<br />

Geplant als Fortsetzungsreihe werden Verschwörungen<br />

aufzudecken, mysteriöse Fälle zu lösen,<br />

neblige Spuren zu verfolgen sein. Die Protagonisten<br />

kämpfen mit <strong>der</strong> Strahlenbelastung, <strong>dem</strong> ganz alltäglichen<br />

Wahnsinn und nicht selten mit ihren eigenen<br />

Dämonen.<br />

<strong>Guy</strong> <strong>Lacroix</strong>: <strong>Auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Jagd</strong> <strong>nach</strong> <strong>dem</strong> Rosenkranzmör<strong>der</strong><br />

ist <strong>der</strong> erste Teil <strong>der</strong> Reihe um Kommissär <strong>Lacroix</strong>.<br />

Cöln, Freie Reichsstadt, im Jahre des Herrn 1898<br />

Europa hat sich noch immer nicht von <strong>dem</strong> Quantenmagischen<br />

GAU erholt, <strong>der</strong> die Welt 40 Jahre zuvor<br />

erschüttert und die Britischen Inseln unbewohnbar<br />

gemacht hat.<br />

Victoria, Königin des Vereinigten Königreichs von<br />

Großbritannien und Neu-Großbritannien, Kaiserin<br />

85


von Indien, hat ihr Volk <strong>nach</strong> <strong>dem</strong> Unglück in die<br />

Übersee-Kolonien umgesiedelt. Die neue Hauptstadt<br />

des Empires ist New London.<br />

Das Empire trauert seiner verlorenen Größe <strong>nach</strong><br />

und will mit allen Mitteln seine Vormachtstellung in<br />

Europa und <strong>der</strong> Welt zurückerobern. Deshalb ist im<br />

<strong>Auf</strong>trag <strong>der</strong> Queen ein hoher britischer Adliger <strong>nach</strong><br />

Europa zurückgegangen – Linus Evelyn St. Maur,<br />

designierter Herzog von Somerset und Kalifornien,<br />

soll dafür sorgen, dass die politische und wirtschaftliche<br />

Lage <strong>der</strong> europäischen Reiche ins Wanken<br />

kommt.<br />

Die quantenmagische Strahlung verseucht den<br />

halben Kontinent. Die Dampfmagische Gesellschaft<br />

hat einen Schutzschirm über Cöln errichtet, doch dieser<br />

Schutz hat seinen Preis. Die Dampfmagier nutzen<br />

die Furcht vor <strong>der</strong> quantenmagischen Strahlung aus,<br />

um die Bürger zu kontrollieren und ihre Machtposition<br />

zu festigen.<br />

Die Quantenmagier sind in den Untergrund geflüchtet<br />

und haben unter den Gassen Cölns eine Welt<br />

geschaffen, die ihren eigenen Regeln folgt. Aber auch<br />

in <strong>der</strong> Oberstadt nehmen Korruption und Verbrechen<br />

erschreckende Ausmaße an.<br />

Cöln ist das Zentrum des europäischen Festlands.<br />

Direkt am rheinischen Binnenmeer gelegen und mit<br />

einem <strong>der</strong> größten Häfen <strong>der</strong> Welt ausgestattet, ist<br />

Cöln <strong>der</strong> Umschlagplatz von legalen und illegalen Gütern<br />

aus <strong>der</strong> ganzen Welt.<br />

Zu den illegalen Gütern gehört Ambrosia, auch Engelsblau<br />

genannt: eine tückische, auf quantenmagischem<br />

Weg hergestellte Droge, die Blausüchtige so<br />

todsicher umbringt wie eine Pistolenkugel. Vor dieser<br />

Droge verblassen Opium und Kokain, Heroin und<br />

86


Alkohol zu Kin<strong>der</strong>belustigungen. Gleichzeitig ist<br />

Ambrosia aber auch das einzige Lin<strong>der</strong>ungsmittel für<br />

die Folgen <strong>der</strong> Strahlenkrankheit.<br />

<strong>Guy</strong> <strong>Lacroix</strong>, Kommissär im Dienste des Kaiserlichen<br />

Kriminalamtes.<br />

<strong>Auf</strong>gewachsen in einem <strong>der</strong> übelsten Viertel Cölns,<br />

lernt er schon früh seine Fäuste zu gebrauchen. Nur<br />

die Starken überleben, wo man sich den Schlafplatz<br />

mit Ratten teilt, wo eine warme Mahlzeit Luxus,<br />

Freundschaft unbezahlbar ist. Er wäre einer <strong>der</strong> hoffnungslosen<br />

Fälle gewesen, ein Junge, dessen Weg<br />

vorbestimmt und unabwendbar ist – ein Weg, <strong>der</strong> ihn<br />

vom kleinen Gauner, zum Verbrecher geführt hätte,<br />

vielleicht sogar zum Mör<strong>der</strong>, und <strong>der</strong> auf <strong>dem</strong> Schafott<br />

geendet hätte o<strong>der</strong> in einer <strong>nach</strong> Unrat stinkenden,<br />

dunklen Gasse, mit einem Messer im Rücken.<br />

Aber <strong>Guy</strong> wird aufgegriffen, bevor er seine Seele<br />

an den blauen Teufel verkauft, bevor <strong>der</strong> letzte Hoffnungsfunken<br />

erloschen, das Gute in ihm verdorrt ist.<br />

Er wird in ein Erziehungscamp <strong>der</strong> Dampfmagischen<br />

Gesellschaft gesteckt. Und auch dort wäre ihm kein<br />

besserer Weg vergönnt gewesen, wenn nicht ein <strong>Auf</strong>seher,<br />

unter all <strong>der</strong> Wut, <strong>dem</strong> Hass und <strong>der</strong> Gewalt, in<br />

die sich <strong>der</strong> Junge geflüchtet hat, den wahren <strong>Guy</strong><br />

erkannt hätte: Einen klugen Jungen, den die Umstände<br />

zu <strong>dem</strong> gemacht haben, was er ist, <strong>der</strong> mit allen<br />

Mitteln ums blanke Überleben kämpft. Einen Jungen,<br />

<strong>der</strong> trotz aller Brutalität einen tiefverankerten Gerechtigkeitssinn<br />

hat. Der <strong>Auf</strong>seher lehrt <strong>Guy</strong> seine Wut zu<br />

bändigen, Probleme nicht mit den Fäusten zu lösen,<br />

er lehrt ihn lesen und schreiben und was es bedeutet,<br />

Teil <strong>der</strong> Gesellschaft zu sein.<br />

87


Und <strong>Guy</strong> lernt schnell, denn eines will er auf keinen<br />

Fall: Zurück in das stinkende Elend, in <strong>dem</strong> er<br />

aufgewachsen ist. Er macht seinen Schulabschluss<br />

und bewirbt sich bei <strong>der</strong> Polizei, besteht die <strong>Auf</strong>nahmeprüfung<br />

und stellt all seine Kraft in den Dienst des<br />

Gesetzes.<br />

Er klettert er schnell auf <strong>der</strong> Karriereleiter <strong>nach</strong><br />

oben und heiratet Hedwig Meise, seine große Liebe.<br />

Lei<strong>der</strong> bleibt die Ehe kin<strong>der</strong>los.<br />

Mehr Informationen zu den Protagonisten, <strong>der</strong> Welt<br />

und den Hintergründen finden Sie auf <strong>der</strong> Website<br />

zur Serie: www.clockworkcologne.de<br />

Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-<br />

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