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WENN DEr aLBTrauM WIEDErKEhrT - Zenith

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GOLDrausch<br />

Die kirgisische Bonanza<br />

gefährliche kunst<br />

Irans kreativer Untergrund<br />

Business im Irak<br />

Das Finanzwesen der Ayatollahs<br />

SEPTEMBER / OKTOBER 2012<br />

www.zenithonline.de<br />

Vorschau PDF<br />

Die neue zenith Ab<br />

12<br />

Oktober<br />

BEIRUT<br />

<strong>WENN</strong> DER ALBTRAUM WIEDERKEHRT<br />

DEUTSCHLAND EURO 8,20 | ÖSTERREICH EURO 8,90 | BENELUX EURO 8,90 | SCHWEIZ SFR 13,50 ISSN 1439 9660


ZENITH 04/2012 · EDITORIAL<br />

3<br />

Foto: Bioskop/Artemis/Argos: Igor Luther – 1981<br />

ZENITH<br />

1999 als Zeitschrift für den Orient gegründet,<br />

ist ein unabhängiges Magazin zum Nahen<br />

Osten, Afrika, Asien und der muslimischen<br />

Welt. zenith berichtet zweimonatlich<br />

über Politik, Wirtschaft und Kultur in<br />

einer Welt, die vielen in Europa fremd ist,<br />

aber immer näher rückt.<br />

Das Wort »zenith« (auch »Zenit«) ist das<br />

Ergebnis eines Orient-Imports: Es stammt<br />

von »samt«, einem in der arabischen Astronomie<br />

des Mittelalters geläufigen Begriff,<br />

der die »Richtung des Kopfes« bezeichnet.<br />

Wenn die Sonne im zenith steht, werden<br />

Schatten kürzer und es fällt Licht dorthin,<br />

wo es sonst eher dunkel ist – ein Leitmotiv<br />

für die Berichterstattung dieses Magazins.<br />

olker Schlöndorff 1981 im bürgerkriegszerstörten<br />

Beirut. Zwei bewaffnete Milizionäre<br />

hat er für das Promotion-Interview zu<br />

seinem Film »Die Fälschung« im Hintergrund<br />

drapiert. Postmoderne Medienkritik<br />

im Setting des libanesischen Bürgerkriegs<br />

– ein Film über Realität und Fälschung, eine<br />

Auseinandersetzung mit dem »wirklich<br />

Dagewesensein«. »Es ist uns gelungen, in<br />

dieses Gebiet vorzudringen, das heute eine<br />

Art Niemandsland zwischen Ost- und West-<br />

Beirut ist«, erklärt Schlöndorff. Der Regisseur<br />

drehte am »Originalschauplatz« – aber<br />

war nicht auch das schon eine Fälschung?<br />

Wirklich dabei sein, das wollten viele<br />

Europäer. Sie waren von der Lebenslust der<br />

»Schweiz des Nahen Ostens« ebenso angezogen<br />

wie vom Wahn des Bürgerkrieges. So wurde Beirut zum Klischeebegriff<br />

für Genuss und Grausamkeit: feiern und Geschäfte machen, als ob es kein Morgen<br />

gäbe – levantinisch eben. Die heute 40-Jährigen erinnern sich noch dunkel<br />

an die exotischen, französisch klingenden Namen der Kriegsherren aus den<br />

Nachrichten: Geagea (Dschadscha), Jumblatt (Dschumblat) oder Gemayel<br />

(Dschemajel) – die Sprecher der »Tagesschau« hatten zu kämpfen.<br />

Dabei sein wollte damals auch der TV-Journalist Ulrich Kienzle. Allerdings<br />

erging es ihm anders als Schlöndorffs Helden aus der »Fälschung«. Letztere suchen<br />

in Beirut Krieg und Zerstörung – und finden das Leben. Kienzle wollte im<br />

Sommer 1982 vom friedlichen Neuanfang berichten und stand plötzlich mitten<br />

im Inferno. Seite 36<br />

Beirut, das war das Tor zum Orient, weil es wohl eben nicht der Orient war.<br />

Aber was ist dran an den nostalgischen Klischees? Behindert die Verklärung der<br />

Vergangenheit die Libanesen heute?<br />

Angesichts des brutalen Krieges in Syrien wächst auch im Libanon die Angst<br />

vor einem Waffengang zwischen den Konfessionen. 30 Jahre nach dem gewaltsamen<br />

Tod des christlichen »Heilsbringers« Baschir Gemayel reiste nicht nur<br />

Papst Benedikt nach Beirut: Auch zenith-Redakteur Nils Metzger und Fotograf<br />

Philipp Breu machten sich auf den Weg zu den Maroniten. Was ihnen auffiel: Einerseits<br />

ist den politischen Führern dieser orientalischen Katholiken bewusst,<br />

dass sie den Bürgerkrieg verloren haben. Andererseits scheinen sie von der Angst<br />

vor Verlust und Vernichtung durchaus zu profitieren. Seite 22<br />

Sie sehen es selbst: zenith ist seit dieser Ausgabe noch umfangreicher und<br />

vielfältiger. Das ist nicht zuletzt das Ergebnis einer Fusion von zenith – Zeitschrift<br />

für den Orient mit der deutschen Ausgabe des Wirtschaftsmagazins zenith-BusinessReport.<br />

Wer sich für die Politik des Nahen Ostens und der muslimischen<br />

Welt interessiert, wird an der Wirtschaft nicht vorbeikommen – und natürlich<br />

umgekehrt. Arabischer Frühling oder Iran-Atomstreit beweisen das<br />

tagtäglich.<br />

Für das neue zenith-Wirtschaftsressort durchleuchtet Herausgeber Daniel<br />

Gerlach die Transaktionen der Ayatollahs im irakischen Heiligtum Najaf, wo<br />

Geld und Glauben wohl noch näher beieinander liegen als im Vatikan. Was ist die<br />

»Treuhand des verborgenen Imams«? Und wie überweist man auf das Bankkonto<br />

eines entrückten Heiligen? Seite 60<br />

CHF 8,50 I USD 8,50 I GBP 5,20 I AED 32,00 I TRY 16,00 I KZT 1.400,00 I EURO 5,80 ISSN 2193-0333


INHALT<br />

SEPTEMBER/<br />

OKTOBER<br />

2012<br />

Titelillustration: Amatir<br />

Foto links: Raymond Depardon<br />

Foto links unten: Marcel Mettelsiefen<br />

Foto rechts: Benjamin Hiller<br />

Foto rechts unten: Stefan Maurer<br />

KULTUR<br />

82 Zwischen Punk und Polizeistaat<br />

In Irans Untergrund trotzen junge Künstler den omnipräsenten Verboten<br />

92 Der flüchtige Traum von der Heimat<br />

Anthony Shadid entfaltet ein historisches Familienpanorama aus dem Libanon<br />

94 Ein Albtraum von Stereotypen<br />

Die Beziehungsgeschichte zwischen USA und Islam als Graphic Novel<br />

96 Tinariwen, Shantel und Balkan Beat Box<br />

»Toot Ard« macht den Rhythmus, bei dem der Druse mit muss<br />

Amüsieren: In Beirut genoss man das Leben – bis der Bürgerkrieg<br />

dem schönen Schein ein Ende bereitete. 1982 wurde<br />

zum Albtraumjahr, das den Libanon bis heute heimsucht.<br />

14<br />

RUBRIKEN<br />

03 Editorial<br />

06 Unser Bild vom Orient<br />

07 Am Rande des Orients<br />

12 Profile<br />

52 Netzgeflüster<br />

54 Bilanz<br />

78 Termine<br />

90 Basar<br />

93 Bücherbrief<br />

95 Musikbrief<br />

109 Der kleine Arabist<br />

110 Postkarte aus dem Sudan<br />

114 Kalender / Ausblick / Impressum<br />

Posieren: Die Kurden machen sich die Unruhe in Syrien zunutze und<br />

übernehmen die Macht im Norden des Landes. Entsteht dort die<br />

Keimzelle für einen eigenen Staat?<br />

42<br />

100 »Man will die Masse manipulieren«<br />

Hamadi Kaloutcha sieht Tunesiens Blogger in Gefahr<br />

102 Apocalypse Dubai<br />

Ein Videospiel mit Schlachtfeld in den Emiraten regt zum Reflektieren an<br />

104 Verflucht sei, wer ihn stiehlt<br />

Die Odyssee des »Aleppo-Codex«, älteste Handschrift der Hebräischen Bibel<br />

108 Ein Pleitier auf großer Fahrt<br />

Wer war eigentlich dieser Sindbad?<br />

POLITIK<br />

70<br />

Ausbeuten: Im kirgisischen Hochland lagert eines der größten<br />

Goldvorkommen der Welt. Vom Betrieb der Mine Kumtor hängt<br />

Wohl und Wehe des zentralasiatischen Landes ab.<br />

WIRTSCHAFT<br />

80<br />

Aufbegehren: Teherans Kunstszene ist jung, lebendig – und meist<br />

geheim. Denn alles, was Spaß macht, hat das Regime verboten.<br />

Die Kreativen lassen sich jedoch nicht abschrecken.<br />

DOSSIER LIBANON<br />

14 Beirut<br />

Wo nichts läuft, aber alles geht<br />

22 Im Namen des Sohnes<br />

Die Geister des Bürgerkriegs suchen die Christen des Libanon heim<br />

32 »Christen als Kanonenfutter«<br />

Theodor Hanf erklärt den libanesischen Bruderkonflikt<br />

36 Frontal 82<br />

Ulrich Kienzle erinnert sich an einen Albtraum<br />

40 Der Scheich trügt<br />

Was passiert, wenn den Golfstaaten das Ölgeld ausgeht?<br />

42 Ein bisschen autonom<br />

Wie Syriens Kurden den Aufstand gegen Assad nutzen<br />

48 Vorsicht! Staatsräson<br />

Ein undemokratischer Politikbegriff behindert Deutschlands Nahostdiplomatie<br />

56 Ein Rekord geht baden<br />

Chilenen bauen in Ägypten den größten Swimmingpool der Welt<br />

58 Eine Frau fürs Große<br />

Reem al-Hashemi soll die Expo 2020 nach Dubai holen<br />

60 Die Treuhand des verborgenen Imams<br />

Stabile Konjunktur in Najaf und Kerbela dank Wallfahrt und Bestattungswesen<br />

66 »Unsere Ärzte sind nicht ahnungslos«<br />

Die Chefs von Libyens ältester Privatklinik über Gesundheitssystem in der Krise<br />

70 Bonanza und Blausäure<br />

Die Goldmine Kumtor ist gleichermaßen Segen und Fluch für Kirgistan<br />

74 Auszug aus Teheran<br />

Wie deutsche und iranische Architekten eine Modellstadt bauen wollen<br />

76 Achtung, Playboy!<br />

Harter Kampf um den libanesischen Markt für Energy Drinks<br />

77 Die Macht des Wirbels<br />

Almanach der Energien


6 UNSER BILD VOM ORIENT · ZENITH 04/2012<br />

ZENITH 04/2012 · UNSER BILD VOM ORIENT<br />

7<br />

UNSER<br />

BILD<br />

VOM<br />

ORIENT<br />

1 KENIA<br />

AUFMARSCH<br />

IM SÜDEN<br />

In Somalia sind die Shabaab auf dem<br />

Rückzug – ein Anschlag auf den neu<br />

vereidigten Präsidenten Hassan<br />

Sheikh Mohamud schlug fehl. Nun<br />

schüren die Milizen den Konflikt zwischen<br />

Christen und Muslimen im<br />

Nach barland Kenia. Nachdem im August<br />

der islamistische Prediger<br />

Aboud Rogo in der Hafenstadt Mombasa<br />

erschossen wurde, riefen sie<br />

zum Kampf »gegen die Ungläubigen«<br />

auf. Nach Rogos Beerdigung<br />

plünderten dessen Anhänger mehrere<br />

Kirchen und zettelten Straßenschlachten<br />

an. Drei Polizisten und eine<br />

weitere Person starben.<br />

2 IRAN<br />

DIE ZAHL<br />

82<br />

DER SATZ<br />

ABSCHIED VON<br />

DER KLEINFAMILIE<br />

Sekunden<br />

Iran vollzieht eine Kehrtwende in der<br />

Familienpolitik. Propagierte das Regime<br />

seit dem Ende des Kriegs gegen<br />

den Irak Verhütung und eine Reduktion<br />

der Geburtenrate, so wurde<br />

jetzt das Budget für Programme zur<br />

Familienplanung als Haushaltsposten<br />

gestrichen. Revolutionsführer Ali<br />

Khamenei fordert einen Babyboom,<br />

um einen Bevölkerungsrückgang zu<br />

verhindern. Wegen der angespannten<br />

Wirtschaftslage können sich aber<br />

viele Familien mehr Kinder gar nicht<br />

leisten– sofern sie sich selbst versorgen<br />

müssen und nicht von den Revolutionsgarden<br />

alimentiert werden.<br />

4<br />

3<br />

dauerte der erste Auftritt einer Frau aus<br />

Saudi-Arabien bei den Olympischen Spielen<br />

– dann hatte Wojdan Shaherkani aus Mekka<br />

ihren Judokampf gegen Melissa Mojica<br />

aus Puerto Rico verloren. Saudi-Arabien zögerte<br />

lange, Sportlerinnen nach London zu<br />

schicken, gab letztlich aber ebenso wie Katar<br />

und Brunei dem Druck des Internationalen<br />

Olympischen Komitees nach. Damit<br />

standen sie besser da als Nauru, die Bermudas<br />

und St. Kitts and Nevis, die nur männliche<br />

Athleten zu den Spielen schickten.<br />

»Während das syrische Volk verzweifelt<br />

nach Taten verlangt, gehen die<br />

gegenseitigen Schuldzuweisungen im<br />

Sicherheitsrat weiter.«<br />

Kofi Annan begründet am 2. August, warum er das Amt des Sondergesandten<br />

der Vereinten Nation und der Arabischen Liga für Syrien aufgibt.<br />

1<br />

2<br />

Foto: dge<br />

PRIVAT<br />

Kommando: PSL<br />

Khomeinis Flugbegleiter, Fallschirmjäger in der<br />

Indochina-Einheit »Ponchardier« oder durch<br />

afghanische Schluchten reitend an der Seite des<br />

Warlords Hekmatyar – so kennt man den Publizisten<br />

Peter Scholl-Latour aus seinen eigenen<br />

Erzählungen. Zu Wasser bewegt sich der<br />

88-Jährige eher selten fort. Es sei denn, zum<br />

Vergnügen.<br />

3 ISRAEL/PALÄSTINA<br />

BITTERES ENDE<br />

»Es gibt keinen Friedensprozess und<br />

es zeichnet sich auch keiner ab« –<br />

Yossi Alpher und Ghassan Khatib<br />

sind frustriert. Elf Jahre lang gaben<br />

die beiden, die unter anderem durch<br />

einen ungewollten Auftritt im Film<br />

»Brüno« des Komikers Sasha Baron<br />

Cohen berühmt wurden, das Dialogmagazin<br />

Bitterlemons heraus – mit<br />

israelischen und palästinensischen<br />

Sichtweisen auf den Nahostkonflikt.<br />

Nun wird die Zeitschrift im Internet<br />

eingestellt. Die Bereitschaft, der anderen<br />

Seite zuzuhören, sei nicht<br />

mehr da, so die Bilanz der Macher.<br />

Während einer Irak-Reise erfrischt sich »PSL«<br />

bei einer nächtlichen Speedboat-Fahrt auf einem<br />

Euphrat-Arm bei Kufa. »Gelungene Freizeitgestaltung,<br />

wenn es nichts zu trinken gibt«,<br />

sagte er, wieder trockenen Fußes am Ufer. Nach<br />

seiner Rückkehr wählte die Deutsch-Arabische<br />

Gesellschaft Scholl-Latour, der ihr seit 2007<br />

vorsteht, im Juli abermals zum Präsidenten.<br />

4 SAUBER GEMACHT ...<br />

MOHAMMED MURSI!<br />

Der Mann räumt auf – das ist doch ein prima Image für den<br />

ersten Zivilisten im höchsten Staatsamt der Arabischen Republik<br />

Ägypten. Also nimmt Mohammed Mursi den Besen in die<br />

Hand und ruft die Kampagne »Saubere Heimat« ins Leben –<br />

alle mit anpacken! Korruption und sonstigen Schmutz in den<br />

Nil kehren – so erstrahlt das alte Land in neuem Glanz.<br />

Nur schade, dass Mursi die traditionellen Müllsammler<br />

Kairos, die Zabbalin, an seinen Großputz-Plänen nicht beteiligt<br />

hat. Egal, Hauptsache der Ruf ist sauber. Auch die Militärführung<br />

entsorgte er scheinbar elegant – dass die Armee tatsächlich<br />

Macht abgibt, glaubt derweil kaum ein Ägypter. Das<br />

ist Recycling à la Mursi: Die Probleme bleiben – aber sehen erträglicher<br />

aus.<br />

AM RANDE DES ORIENTS<br />

DAS GESCHENK GOTTES<br />

Mehr als vier Stunden Fahrt auf einer<br />

Buckelpiste und einen beschwerlichen<br />

Aufstieg muss jeder Besucher hinter<br />

sich bringen. Dann wird er auf dem<br />

Berg L'Assekrem – rund 70 Kilometer<br />

nördlich der algerischen Provinzhauptstadt<br />

Tamanrasset im Süden des Landes<br />

– von Bruder Ventula begrüßt. Mit<br />

zerrissener Trainingsjacke und den ausgetretenen<br />

Schuhen wirkt er nicht wie<br />

ein Priester, sondern wie ein Aussteiger.<br />

»Herzlich willkommen!« Der Spanier<br />

sowie ein Pole und ein Franzose<br />

gehören dem Orden der »Kleinen Brüder<br />

Jesu« an, sie leben in der Abgeschiedenheit<br />

der Sahara in Askese.<br />

Sie gehören zur Ordensfamilie<br />

um den Forscher und Priester Charles<br />

de Foucauld, der 1858 in Straßburg<br />

geboren wurde und ein Lebemann und<br />

Draufgänger war. Als er mit Frankreichs<br />

Kolonialheer in den Maghreb kam und<br />

dem Islam begegnete, hatte er ein Erweckungserlebnis.<br />

Die spartanische<br />

Lebensweise der Tuareg beeindruckte<br />

Foucauld, der sich den Trappisten anschloss<br />

und 1901 nach Algerien ging.<br />

Dort wurde er am 1. Dezember 1916 in<br />

den Wirren des Weltkriegs ermordet.<br />

In der 1910 von Fou cauld errichteten<br />

Einsiedelei auf dem Assekrem leben die<br />

»Kleinen Brüder« inmitten der Wüste.<br />

Eine Wetterstation und zwei Steinhütten<br />

stehen auf dem höchsten Berg der<br />

Gegend. In der einen Hütte wohnen und<br />

schlafen die Eremiten, die andere beherbergt<br />

Kapelle und Bibliothek mit<br />

Büchern von und über Foucauld.<br />

Mehr gibt es hier oben nicht?, frage<br />

ich. Ventula erwidert darauf: »Es ist<br />

ein Geschenk Gottes, jeden Tag den<br />

Auf- und Untergang der Sonne zu sehen.«<br />

Der Wechsel von Licht und Schatten<br />

um die schroffen Bergspitzen und<br />

das Farbenspiel der Wolken sind zweifelsfrei<br />

bemerkenswert. Die Brüder<br />

genießen es – wäre da nicht die Angst<br />

vor den islamistischen, angeblich mit<br />

Al-Qaida im Bunde stehenden Banden<br />

im Süden, die das Glück in der Einöde<br />

bald zunichte machen könnten.<br />

Seit in der Tuareg-Region um Tamanrasset<br />

wiederholt Touristen entführt<br />

wurden, wagen sich selten Abenteuerlustige<br />

hierher, und die meisten<br />

Algerier können mit den »kleinen Brüdern<br />

Jesu« eher wenig anfangen. Umso<br />

mehr freuen diese sich, einen Gast<br />

auf 2.700 Metern Höhe inmitten der<br />

Sahara zu empfangen. Özgür Uludag


8 UNSER BILD VOM ORIENT · ZENITH 04/2012<br />

UNSER BILD VOM ORIENT<br />

9<br />

HINTER DEN SCHLAGZEILEN<br />

Die Wissensgesellschaft schafft sich ab<br />

Mitten in den Semesterferien sorgte die Ankündigung<br />

von 36 Universitäten, ab sofort 77 Studiengänge<br />

für Frauen zu sperren, für Aufregung weit über<br />

Iran hinaus – zu Recht. Dabei geht es um weit mehr<br />

als um Geschlechterdiskriminierung, es ist ein Bruch<br />

mit der eigenen Tradition. Denn der Ausbau des Bildungssystems<br />

war eines der wenigen Erfolgsmodelle<br />

der Islamischen Republik. Wenngleich die Führung<br />

dem akademischen Nachwuchs gegenüber stets<br />

skeptisch blieb, ließen sich Fortschritte im Hochschulwesen<br />

gegen den Willen von Studenten und<br />

Wirtschaft kaum zurücknehmen. In einigen technischen<br />

Fächern stellten Frauen fast 60 Prozent. Noch<br />

immer sind 90 Prozent der Studiengänge für beide<br />

Geschlechter zugänglich. Aber der Trend, der in dem<br />

Zulassungsverbot einen Höhepunkt erreicht, zeigt:<br />

Teheran bekämpft sein Innovationspotenzial aus<br />

Angst vor Kontrollverlust – und verspielt die Chance,<br />

zukunfts- und wettbewerbsfähig zu bleiben.<br />

Gaza-Stadt, Palästina<br />

Aufgeheizte Stimmung – aber auch diese Flaggenverbrennung in Gaza folgt einem festen<br />

Protokoll. Mehrere tausend Menschen hatten sich am 14. September im Anschluss an<br />

das Freitagsgebet in der Innenstadt versammelt, um gegen den 14-minütigen, in den<br />

USA produzierten Film »Die Unschuld der Muslime« zu protestieren, der ihrer Meinung<br />

nach den Propheten Muhammad beleidigt. Die Kundgebung verlief ohne Blutvergießen<br />

– wen sollte man in dem von Israel abgeriegelten Gebiet auch angreifen?<br />

Anderswo verliefen die Proteste weniger harmlos: Von Tunesien bis Indonesien gingen<br />

erzürnte Muslime auf die Straßen. Das Gelände der schwer gesicherten US-Vertretung<br />

in Kairo wurde gestürmt, die deutsche Botschaft in Khartum in Brand gesteckt. In Libyen<br />

töteten Fanatiker am 11. September mehrere Sicherheitskräfte und Diplomaten, unter<br />

ihnen den amerikanischen Botschafter Christopher Stevens. Eine Woche später starben<br />

bei einem Selbstmordanschlag in Kabul mindestens zwölf Menschen.<br />

Mittlerweile geht man davon aus, dass dieser Vorfall von Al-Qaida-Terroristen geplant<br />

wurde. Das Kalkül der Dschihadisten, die antiamerikanische Stimmung für ihre Zwecke<br />

zu nutzen, könnte ebenso aufgehen wie die Rechnung der offenbar evangelikalchristlichen<br />

Macher des Films, die muslimische Welt als Hort fanatischer Massen darzustellen.<br />

Foto: Andy Spyra<br />

Was wird aus Salehs Truppen?<br />

Ein wütender Mob griff im September die US-Botschaft<br />

in Sanaa an und ließ den Jemen im Ausland<br />

wieder einmal in schlechtem Licht erscheinen. Präsident<br />

Abd Rabbo Mansur Hadi wagte indes im August<br />

einen überfälligen Schritt und ordnete die Neuordnung<br />

der Republikanischen Garden an. Deren<br />

Führer Ali Ahmad, Sohn von Ex-Präsident Ali Abdullah<br />

Saleh, gab wenige Tage später eine deutliche<br />

Antwort darauf, was er von Entmachtung hält: Teile<br />

seiner Einheiten umstellten und beschossen das Verteidigungsministerium.<br />

Es war eine Warnung, die<br />

volle Stärke der Kampfverbände spielte Ali Ahmad<br />

nicht aus. Die Garden hatten 2011 das Saleh-Regime<br />

am Leben gehalten – und dienen ihm bislang als<br />

einziges starkes Instrument, um Einfluss auf die Politik<br />

zu nehmen. Die so genannte jemenitische Lösung,<br />

schon als Vorbild für Syrien herangezogen, ist<br />

noch keine, solange dieser Konflikt weitergeht.<br />

San Suu Kyi will die Junta nicht brüskieren<br />

Nicht Syrien oder Palästina: Was muslimische Verbände<br />

weltweit zu größten Protesten anregte, war<br />

das Schicksal der muslimischen Minderheit der<br />

Rohingya in Myanmar. Da der Ramadan 2012 in den<br />

August fiel, erhielten die ungeahnte Aufmerksamkeit,<br />

allerdings kamen auch gefälschte Fotos über<br />

Massen-E-Mails und soziale Netzwerke in Umlauf. Da<br />

der Ramadan 2012 in den August fiel, erhielten diese<br />

ungeahnte Aufmerksamkeit. Der türkische Außenminister<br />

Ahmet Davutoglu, der sich als Sachwalter<br />

der islamischen Welt sieht, reiste nach Rangun.<br />

Westliche Kritik gab es kaum – auch Myanmars Friedensnobelpreisträgerin<br />

Aung San Suu Kyi hielt sich<br />

vornehm zurück.<br />

Beirut plant für die Zeit nach Assad<br />

Am 9. August wurde der frühere libanesische Minister<br />

Michel Samaha in Beirut festgenommen: Sprengstoffschmuggel<br />

und Planung von Anschlägen im Auftrag<br />

syrischer Geheimdienste, so die Vorwürfe. Zwei<br />

>


10 UNSER BILD VOM ORIENT · ZENITH 04/2012 ZENITH 04/2012 · UNSER BILD VOM ORIENT<br />

11<br />

Rastan, Syrien<br />

In einem improvisierten Luftschutzraum in der syrischen<br />

Stadt Rastan nördlich der Rebellenhochburg<br />

Hama entstand dieses Bild einer jungen Mutter mit<br />

ihrem Säugling.<br />

Im Monat Juli stand Rastan wochenlang unter schwerem<br />

Beschuss durch Helikopter und Artillerie der syrischen<br />

Armee. Aus dieser Stadt im nördlichen Zentralsyrien<br />

stammen zahlreiche sunnitische Offiziere,<br />

unter ihnen der Clan des inzwischen zu den Rebellen<br />

übergelaufenen Generals Manaf Tlass und seines<br />

Verwandten Abderazzaq Tlass. Letzterer zählt zu<br />

den Kommandeuren der sogenannten Freien Syrischen<br />

Armee.<br />

»Rastan war eine Militärstadt, sozusagen das Potsdam<br />

Syriens«, sagt zenith-Bildchef Marcel Mettelsiefen,<br />

der die Angriffe auf die Stadt im Sommer erlebte.<br />

Als Strafaktion für die Fahnenflucht zahlreicher<br />

Offiziere sei Rastan von den Regime-Truppen<br />

besonders heftig bombardiert worden.<br />

Foto: Marcel Mettelsiefen<br />

Foto: dge<br />

»Die Iraner haben schon ihren Kandidaten«<br />

Der schiitische Geistliche<br />

und irakische Parteiführer<br />

Muqtada al-Sadr, 39,<br />

im zenith-Gespräch<br />

zenith: Sayyid Muqtada, in den letzten Sommerwochen<br />

hatten Sie mit den Stimmen Ihrer Partei im irakischen Parlament<br />

das politische Schicksal von Premier Al-Maliki immer<br />

wieder in der Hand. Werden Sie ihn stützen? Al-Sadr:<br />

Wenn er sich nicht wie ein Diktator benimmt, sondern<br />

als demokratischer Führer regiert und sich für das Wohl<br />

des irakischen Volkes einsetzt: Ja. Wenn nicht, nein.<br />

Tut er denn das Letztere? Er könnte mehr tun.<br />

Die Zahl der Attentate auf Schiiten im Irak nimmt zu. Raten<br />

Sie Ihren Anhängern zu kämpfen oder, wie etwa die hohen<br />

schiitischen Geistlichen in Najaf, friedlich zu bleiben und<br />

notfalls Leid zu erdulden? Es gibt die Geistlichkeit des<br />

Schweigens und der taqiyya, der »Verstellung« gegenüber<br />

der herrschenden Macht – um sich zu schützen. Wohin das<br />

führt, haben wir unter Saddam gesehen. Und es gibt die<br />

Geistlichkeit, die ihre Stimme erhebt und handelt, wenn die<br />

Lage es erfordert. Ich gehöre zur zweiten Gruppe.<br />

Der Krieg in Syrien hat Züge eines schiitisch-sunnitischen<br />

Konflikts. Stimmt es, dass Anhänger Ihrer Milizen dort auf<br />

Seiten Assads und der Hizbullah kämpfen? Nein.<br />

Sie halten sich oft und lange im<br />

iranischen Qom auf. Was tun Sie<br />

dort? Ich studiere.<br />

Sind Sie, wie oft gesagt wird, der<br />

Wunschkandidat Teherans für die<br />

Herrschaft im Irak? Der jetzige<br />

Premier wird, wie man hört, von<br />

Iranern und Amerikanern gleichzeitig<br />

unterstützt. Die Iraner haben<br />

also ihren Kandidaten, und Sie fragen<br />

mich wirklich, ob ich das bin?<br />

Gestatten Sie ein Foto? Die Kamera<br />

liegt noch bei Ihren Sicherheitsleuten<br />

am Eingang. Nur zu.<br />

Ich habe es ja nicht mit Terroristen<br />

zu tun! (Lacht) Man merkt den<br />

deutschen Orientalisten an, dass<br />

sie ihre Arbeit ernst nehmen und<br />

nicht für die CIA spionieren.<br />

Interview: Daniel Gerlach<br />

HINTER DEN SCHLAGZEILEN<br />

Tage später folgte eine unscheinbare Presseerklärung<br />

des zuständigen Militärgerichts. Zwei syrische<br />

Militärs werden ebenfalls angeklagt: Einer von ihnen<br />

ist Ali Mamlouk – Chef des Sicherheitsbüros und persönlicher<br />

Berater Baschar al-Assads. Der Unmut in<br />

den Reihen der antisyrischen Opposition im Libanon<br />

wächst beständig, schließlich wirft der syrische Bürgerkrieg<br />

dunkle Schatten auf den Zedernstaat.<br />

Gleichzeitig ist die Angst vor der Macht der Syrer<br />

groß – deren Geheimdienste beherrschten schließlich<br />

von 1990 bis 2005 den Libanon. Syriens Verbündete<br />

im Polit-Establishment nahmen die Anklagen<br />

überraschend geräuschlos hin – und gaben so ihr<br />

Einverständnis. Mamlouk wird der Vorladung wohl<br />

nicht folgen, dennoch geht von ihr eine bedeutsame<br />

Botschaft aus: Beirut plant für die Zeit nach Assad.<br />

Ausgerechnet in Sidi Bouzid?<br />

Der Schlachtruf »Das Volk will den Sturz des Regimes!«<br />

hallt durch die Straßen, ein Generalstreik<br />

wird in Sidi Bouzid ausgerufen, das Datum scheint<br />

indes nicht zu stimmen: 14. August 2012. Und doch<br />

erinnert so vieles an den Dezember 2010. Über Wochen<br />

fehlte die Wasserversorgung, wurde gegen Lebensmittelpreise<br />

und Arbeitslosigkeit mit tagelangen<br />

Sit-ins demonstriert, bis im heißen August das<br />

brodelnde Fass Sidi Bouzid überschwappte. Die Polizei<br />

ging teils gewaltsam gegen Demonstranten vor.<br />

Diese richten sich nun gegen die Regierung der islamistischen<br />

Ennahda-Partei, die sich daran erst gewöhnen<br />

muss. Sie stand lange auf der Seite der Entrechteten,<br />

nun ist sie plötzlich »das Regime«.<br />

Demokratie-Experiment vorbei?<br />

Wählen, auflösen, wiederwählen – ein eingespielter<br />

Rhythmus in Kuwait. Nach vier Wahlen seit 2006 hatten<br />

die Parlamentarier genug und boykottierten die<br />

Regierungsbildung. Auch dem Emir langte es: Mitte<br />

August rief Sabah al-Sabah das Verfassungsgericht<br />

an, um das Wahlgesetz zu ändern und sich die Volksvertretung<br />

wunschgerecht zurechtzuzimmern. Statt<br />

sich von renitenten Abgeordneten in Korruptionsausschüssen<br />

»grillen« zu lassen, darf sich die Herrscherfamilie<br />

wieder am Kabinettstisch sonnen. Eine<br />

Niederlage im doppelten Sinne: Denn Kuwait fällt seit<br />

Jahren immer weiter hinter die Nachbarn Katar und<br />

VAE zurück, Korruption und Regierungskrise lähmen<br />

die Wirtschaft. Noch ist Kuwait stolz auf die in der<br />

Region einzigartige Verfassung und sein streitlustiges<br />

Parlament. Das Experiment scheint nun aber vor<br />

dem Aus zu stehen.<br />

Jetzt sollen Afrikas Diktatoren schwitzen<br />

40.000 Tote und ein Land, reich an Folterknästen:<br />

Das hinterließ die Herrschaft des Hissène Habré im<br />

Tschad. Der »Pinochet Afrikas«, einst für einen nutzlosen<br />

Sieg im Wüstenkrieg gegen Gaddafi gefeiert,<br />

entzog sich im Senegal fast zwei Jahrzehnte lang der<br />

Strafverfolgung. Dessen Präsident Macky Sall lässt<br />

den 69-Jährigen nun vor Gericht stellen. Völkerrechtlich<br />

ein Novum, denn die Richter beruft die Afrikani-


18 POLITIK · LIBANON · BÜRGERKRIEG<br />

BÜRGERKRIEG · LIBANON · POLITIK<br />

19<br />

1965 drehte die Constantin den Thriller »In Beirut sind die Nächte<br />

lang« mit Lex Barker und Hans Clarin. Aber diese Aufnahme, die der<br />

preisgekrönte Depardon für sein Portfolio »Beyrouth Centre-Ville«<br />

(Magnum) schoss, zeigt keine Filmkulisse. Jeder Levantiner war<br />

schließlich ein Movie-Star.


24 POLITIK · LIBANON · BÜRGERKRIEG<br />

BÜRGERKRIEG · LIBANON · POLITIK<br />

25<br />

Messias, Teenie-Schwarm, Warlord und ganz sicherlich »more popular<br />

than Jesus«. Am 14. September 1982 starb Baschir Gemayel<br />

bei einem Bombenanschlag auf das Hauptquartier seiner Partei<br />

im Herzen Beiruts. Damit verlor die christlich-konservative Kata'ib<br />

nicht nur ihren ersten gewählten Staatspräsidenten drei<br />

Wochen nach dessen Amtsantritt, sie büßten auch eine charismatische<br />

Führerfigur ein, wie sie die libanesischen Christen kein<br />

zweites Mal finden sollten. »Seine Präsidentschaft stellte den<br />

größten Triumph für die Christen des Nahen Ostens dar, nach<br />

seiner Ermordung war nichts mehr wie vorher«, beschreibt es Sejaan<br />

Azzi, früherer libanesischer Vize-Präsident und heute stellvertretender<br />

Kata'ib-Parteichef. Mit dem Gewehr in der Hand<br />

hatte Gemayel in den Jahren zuvor die untereinander zerstrittenen<br />

maronitischen Milizen des Landes vereint und war als Lichtgestalt<br />

der christlichen Bevölkerung an die Spitze des Staates<br />

getreten. Unmittelbare Folge des Anschlags<br />

war das bekannte Massaker von<br />

Sabra und Schatila, bei dem bis zu 3.000<br />

Flüchtlinge von christlichen Milizen ermordet<br />

wurden. Darüber hinaus verloren<br />

in Folge seines Todes jedoch vor allem die<br />

Christen selbst an Einfluss.<br />

30 Jahre später scheint in der Kleinstadt<br />

Bekfaya auf den ersten Blick noch<br />

alles in Ordnung zu sein. Die Glocken der<br />

Paroisse Mar Abda schallen an diesem<br />

Sonntagmorgen hell über die Dächer und<br />

die Menschen kommen. Die Ortschaft im<br />

Libanongebirge ist eine der Hochburgen<br />

christlichen Lebens im Zedernstaat und<br />

auch aus dem 40 Autominuten entfernten<br />

Beirut strömen sonntags Gläubige zum<br />

Gottesdienst in die im französischen Kolonialstil<br />

erbaute Kirche. Viele der einflussreichen maronitischen<br />

Familienclans des Landes haben in dieser Gegend ihre<br />

Wurzeln und so verwundert es kaum, dass Bekfaya über die<br />

Jahrzehnte zu einem in Kalkstein gehaltenen Villenort herangewachsen<br />

ist. Die Menschen hier sind stolz auf ihre Kultur und<br />

ihren Glauben, tragen selbstbewusst das Kreuz um den Hals und<br />

schmücken ihre Geschäfte mit den Konterfeis der christlichen<br />

Politiker des Landes. Omnipräsent ist der mal die aufmarschierenden<br />

Truppen grüßende, mal Schwiegersohn gleich lächelnde<br />

Baschir Gemayel. Die Idylle einer friedlichen Kleinstadt.<br />

Versteckt in einer Seitenstraße liegt das frisch bezogene und<br />

von Wachleuten umstellte Anwesen Samy Gemayels, Neffe des<br />

ermordeten Präsidenten, christlicher Shootingstar und Hoffnungsträger<br />

für die Parlamentswahlen im kommenden Jahr.<br />

»Schlimmer als jetzt kann es nicht mehr werden«, stößt er auf<br />

Enthusiasmus hoffende Besucher vor den Kopf. Die große politische<br />

Hoffnung der Kata'ib sitzt eingesunken in seinen weiß gestreiften<br />

Hemdkragen im schwarzen Ledersessel und spielt verloren<br />

mit dem Rosenkranzarmband in den für Politiker ungewöh<br />

n l ic h k no c h igen H ä nden . I n den Augen v ieler<br />

Parteifunktionäre steht er für eine neue Generation libanesi-<br />

Eigentlich sollte sein<br />

Bruder Pierre die<br />

wichtigsten Parteiämter<br />

übernehmen.<br />

Nach dessen Ermordung<br />

baute die Partei<br />

der Kata‘ib (auch Phalanges<br />

genannt) Samy<br />

Gemayel zum neuen<br />

Spitzenpolitiker auf.<br />

Das Fehlen eines<br />

charismatischen<br />

Führers lastet auf<br />

dem Selbstwertgefühl<br />

libanesischer<br />

Christen<br />

scher Politiker und für die Hoffnung, der<br />

altehrwürdigen Partei wieder Leben einzuhauchen<br />

– nachvollziehbar wirkt das<br />

nicht, wirkt er doch wie eine exakte Kopie<br />

seines blassen Vaters Amin Gemayel, der<br />

im September 1982 den Präsidentschaftsposten<br />

übernahm und heute Parteichef der Kata'ib ist.<br />

»Wir waren die Verlierer des Krieges. Alle einstigen Verbündeten<br />

haben uns zurückgelassen, niemand ergreift mehr Partei<br />

für die Christen des Libanon und wir finden uns in einer Reihe<br />

mit den irakischen und nigerianischen Christen«, beklagt der<br />

32-Jährige. Obwohl die beiden rechtsgerichteten christlichen<br />

Parteien des Landes, Kata'ib und Lebanese Forces, gemeinsam<br />

mit dem Bündnis »14. März« die Parlamentswahlen formell für<br />

sich entschieden, konnten sie über Monate kein überlebensfähiges<br />

Kabinett zusammenstellen, eine Regierung der nationalen<br />

Einheit unter Hizbullah-Beteiligung scheiterte Anfang 2011. Und<br />

so sehr die beiden Parteiführungen auch tobten – mit zusammen<br />

nur 13 von 128 Abgeordneten war ihr politisches Gewicht zu gering,<br />

wohingegen die ebenso christliche, aber mit Hizbullah verbündete<br />

Freie Patriotische Bewegung allein mit nur geringen Verlusten<br />

auf 19 Sitze kam. »Jeden Tag fühlen wir uns als Christen in<br />

unserer Existenz bedroht«, beschreibt er das vorherrschende Gefühl<br />

seiner Wählerschaft. Warum es ihm angesichts von Hizbullah-Übermacht<br />

und schwindendem christlichem Bevölkerungsanteil<br />

nicht gelänge, mehr Anhänger zu mobilisieren? Schulterzucken<br />

und Ratlosigkeit: »Das soll alles die Partei ausmachen.«<br />

Lebendiger Glaube und verstaubende Parteibüros: Obwohl wie an jedem Sonntagmorgen knapp 100 Menschen der Predigt<br />

von Pelie Mazloum in Bekfaya lauschen, ziehen die Bürgerzentren der rechten christlichen Parteien nur noch wenige Menschen an.


32 POLITIK · LIBANON · BÜRGERKRIEG<br />

BÜRGERKRIEG · LIBANON · POLITIK<br />

33<br />

»<br />

CHRISTEN<br />

ALS<br />

KANONEN<br />

FUTTER<br />

«<br />

Der libanesische<br />

Bürgerkrieg gilt<br />

als einer der verworrensten<br />

Konflikte<br />

der Nahost-Geschichte.<br />

Zu Unrecht, sagt<br />

Theodor Hanf,<br />

der ihn damals<br />

erlebte und bis<br />

heute erforscht<br />

INTERVIEW: ROBERT CHATTERJEE<br />

ßigjährigen Krieg ging es eher um Dominanz.<br />

Am Ende waren die meisten Gruppen<br />

zu schwach, um die anderen zu dominieren,<br />

und die Bevölkerung zu erschöpft.<br />

In das Jahr 1982 fällt eine Reihe von Ereignissen:<br />

die israelische Invasion im<br />

Juni, der Abzug der PLO aus Beirut, die<br />

Vereidigung und die Ermordung von<br />

Baschir Gemayel, schließlich das Massaker<br />

von Sabra und Schatila im September.<br />

Was war so charakteristisch<br />

für jene Wochen im Spätsommer 1982?<br />

Der Sommer 1982 stand ganz eindeutig im<br />

Zeichen der israelischen Invasion, die Ariel<br />

Scharon damals – nach Israels Rückzug<br />

aus dem Sinai – vorantreiben konnte. Nicht<br />

zuletzt auch, um die offene Präsidentschaftsfrage<br />

im Libanon im israelischen<br />

Sinne zu beeinflussen.<br />

Foto: Angela HErrmann<br />

Sie waren zu der Zeit zu einem Forschungsaufenthalt<br />

in Beirut. Wie hazenith:<br />

Herr Hanf, selbst für Nahostkenner<br />

ist der Libanesische Bürgerkrieg<br />

von 1975 bis 1990 mit seinen Unterkonflikten<br />

noch immer ein Buch mit<br />

sieben Siegeln: War das Geschehen so<br />

undurchschaubar? Theodor Hanf: Das<br />

finde ich nicht. Es gab unterschiedliche<br />

Phasen mit unterschiedlichen Konstellationen<br />

von Widersachern, die sich gegenüberstanden.<br />

Natürlich muss man sich in<br />

die Details einarbeiten, aber der Libanesische<br />

Bürgerkrieg ist nicht schlechter oder<br />

besser verständlich als jeder andere bewaffnete<br />

Konflikt. Was ihn deutlich unterscheidet,<br />

ist, dass es kein Vernichtungskrieg<br />

war. Es gab keine ernsthaften Versuche<br />

zur Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen.<br />

Der Balkankrieg Anfang der<br />

1990er Jahre etwa war viel schlimmer: In<br />

den ersten drei Monaten kamen in Ex-Jugoslawien<br />

mehr Menschen ums Leben als<br />

während des gesamten Libanesischen Bürgerkriegs.<br />

Ähnlich wie vielleicht im Dreiben<br />

Sie diese Wochen persönlich erlebt?<br />

Das Land war gespalten – insbesondere,<br />

was die Person des Präsidenten in spe,<br />

Baschir Gemayel, anbetrifft. Auf der einen<br />

Seite, bei den Muslimen, herrschte Angst<br />

vor dem Einzug eines skrupellosen Milizionärs<br />

in den Präsidentenpalast, auf der anderen<br />

Seite, vor allem bei den Christen,<br />

Hoffnung auf einen neuen Typ von Politiker<br />

mit einer Vision für den gesamten Libanon.<br />

Die Stimmung kippte in den Tagen um<br />

die Wahl am 23. August – und zwar zugunsten<br />

von Baschir Gemayel. Seine Reden hielt<br />

er im libanesisch-arabischen Dialekt und<br />

gab sich bei seinen Auftritten sehr volksnah.<br />

Damit hob er sich deutlich von der politischen<br />

Elite des Landes ab – und gewann<br />

auch unter den Muslimen eine ungewöhnlich<br />

hohe Akzeptanz.<br />

Wie fällt Ihre Bewertung der Person<br />

Baschir Gemayels aus? Baschir Gemayel<br />

war ein durchsetzungsfähiger und brutaler<br />

Theodor Hanf hat Libanons Bürgerkrieg<br />

wissenschaftlich und persönlich begleitet.<br />

Im Interview erklärt er, was den Konflikt<br />

charakterisierte, warum er die christlichen<br />

Führer Baschir Gemayel und Samir Geagea<br />

so unterschiedlich bewertet – und weshalb<br />

der Libanon keinen Sedan-Tag braucht.<br />

Milizenführer. Aber in seiner kurzen Zeit<br />

als Präsident kam er der Figur eines Staatsmanns<br />

sehr nahe. Insbesondere die Israelis<br />

haben das völlig unterschätzt. Ariel<br />

Scharon hatte diese Vorstellung, dass Gemayel<br />

im Libanon ein christliches Pendant<br />

zu Israel aufbauen wollte – ein großes Missverständnis.<br />

Für Gemayel war etwa die Palästinenserfrage<br />

ein israelisches Problem.<br />

Außerdem hat er sich kategorisch geweigert,<br />

das mehrheitlich muslimische Westbeirut<br />

anzugreifen. Im Übrigen ist die<br />

Grundlage für meine Bewertung Gemayels<br />

die persönliche Begegnung mit ihm.<br />

Und wie erlebten Sie Gemayel persönlich?<br />

Sie haben ihn ja mehrmals getrof-<br />

fen. Er war kein Schwätzer, er sprach die<br />

Dinge immer geradeheraus und ohne Umschweife<br />

aus – und das auch nicht grob, sondern<br />

durchaus mit sehr einnehmendem<br />

Charme.<br />

Von diesem übergreifenden Appeal<br />

scheint heute nicht mehr viel übrig zu<br />

sein. Die Erinnerung an Baschir Gemayel<br />

könnte unterschiedlicher nicht<br />

sein. Woran liegt das? Gemayel wird natürlich<br />

vom harten Kern der Lebanese<br />

Forces extrem stilisiert – fast im Sinne eines<br />

maronitischen Barbarossa. Auf der anderen<br />

Seite schwärzen die Folgen seines<br />

Todes am 14. September 1982 entscheidend<br />

die Erinnerung.


54 WIRTSCHAFT · BILANZ<br />

BILANZ · WIRTSCHAFT<br />

55<br />

IN RUHIGEM<br />

FAHRWASSER<br />

DER<br />

SULTAN<br />

HAT<br />

DURST<br />

Eines der größten Rock-Festivals der Türkei<br />

ohne Bier – das muss man erst einmal schaffen.<br />

In letzter Minute bekamen die Veranstalter<br />

des Istanbuler »Efes Pilsen One Love Festivals«<br />

im Juli 2012 mitgeteilt, dass die Besucher<br />

mit Wasser und Limonade Vorlieb<br />

nehmen müssten. Auch die als Hauptsponsor<br />

auf tretende Biermarke verschwand plötzlich<br />

aus dem Namen. Eine Kampagne des konservativen<br />

Anti-Drogen-Vereins »Yesilay – Grüner<br />

Halbmond« hatte Wirkung gezeigt und<br />

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan<br />

persönlich zum Eingreifen veranlasst. Die<br />

vorhersehbare Aufregung über eine angeblich<br />

drohende Islamisierung, ja sogar Talibanisierung<br />

der Türkei ließ nicht lange auf sich<br />

warten.<br />

Dabei ist doch alles bloß ein großes Missverständnis:<br />

In Wahrheit ging es Erdogan, so<br />

wird behauptet, keineswegs um das bisschen<br />

lässlichen Alkoholkonsum, sondern um die<br />

grassierende Unsitte des Namenssponsorings.<br />

Immerhin musste sich auch schon einer<br />

der erfolgreichsten türkischen Basketballvereine,<br />

»Efes Pilsen«, in »Anadolu Efes«<br />

umbenennen. Und mal ehrlich, wen hätte es<br />

nicht schon lange genervt, dass die ehrwürdige<br />

Arena Auf Schalke jetzt »Veltins-Arena«<br />

heißt? Höchste Zeit, dass endlich ein weiser<br />

Landesvater durchgreift.<br />

Die Istanbuler Fans haben ihr Bier dann<br />

übrigens einfach vor dem Festivalgelände getrunken.<br />

Wir haben verstanden, Herr Ministerpräsident.<br />

cel<br />

Ägypten rechnet dieses Jahr mit stabilen<br />

Einkünften aus dem Betrieb des Suezkanals.<br />

Man werde wohl nicht hinter die 5,2<br />

Milliarden US-Dollar von 2011 zurückfallen,<br />

sagte Mitte September der Chef der Kanalbehörde,<br />

Mohab Memish. Die Wasserstraße<br />

ist eine der Haupteinnahmequellen<br />

ABU DHABI<br />

DOCKT AN<br />

ACHTUNG!<br />

VIREN<br />

GEGEN ÖL<br />

REVANCHE<br />

FÜR<br />

BONNARD<br />

SCHIFFSPASSAGEN<br />

NETTO-TONNAGE (MIO. T.)<br />

SUEZKANAL-BEHÖRDE<br />

Mit landesuntypischem Understatement<br />

hat Abu Dhabi am 1. September den neuen<br />

Frachthafen Khalifa Port in Betrieb genommen<br />

und damit seine Umschlagkapazität<br />

auf einen Schlag verdreifacht. Der Hafen<br />

der Abu Dhabi Ports Company beherbergt<br />

das erste halbautoma tisierte Containerterminal<br />

des Nahen Ostens und soll<br />

bis Anfang 2013 den gesamten Containerverkehr<br />

vom 40 Jahre alten Mina Zayed<br />

übernehmen.<br />

Mit 16 Metern Tiefe im Hafenbecken<br />

und einer vier Kilometer langen Kaimauer<br />

ist die Anlage für die größten Containerschiffe<br />

ausgelegt, die derzeit auf den Weltmeeren<br />

unterwegs sind.<br />

2007 2008 2009 2010 2011<br />

20.384<br />

848,2<br />

21.415<br />

910,1<br />

17.228<br />

734,5<br />

17.993<br />

846,4<br />

17.799<br />

928,9<br />

Nicht viele französische Geschäftsleute haben<br />

sich über die Nachricht vom Sturz des<br />

Ben-Ali-Regimes gefreut. Pierre Bonnard<br />

dagegen sah die Stunde der Revanche gekommen.<br />

Seitdem bereitet er eine Schadenersatzklage<br />

gegen das staatliche Erdölimport-<br />

und Handelsunternehmen Société<br />

Tunisienne des Industries et Raffinages<br />

(STIR) vor, die ab diesem Herbst in Tunis<br />

vor Gericht verhandelt wird. Bonnard hatte<br />

2008 nach eigenen Angaben gemeinsam<br />

Foto: dge<br />

Vor zwei Jahren wurde Iran Opfer digitaler<br />

Angriffe. Virus »Stuxnet« traf gezielt<br />

Steuerungsanlagen von Teherans Atomprogramm.<br />

Nun hat es die Rohstoffindustrie<br />

der arabischen Golfstaaten getroffen.<br />

Mitte August erklärte der Ölkonzern Saudi<br />

Aramco, Schadsoftware habe die Daten<br />

auf 30.000 seiner Computer gelöscht.<br />

Kaum zwei Wochen später meldete der katarische<br />

Gaskonzern RasGas einen ähnlifür<br />

das Land. Seit der Revolution ringen<br />

die neuen Machthaber darum, die Wirtschaft<br />

zu stabilisieren.<br />

Jüngst bot die EU dem Land insgesamt<br />

700 Millionen Euro an Hilfen an –<br />

zusätzlich zu bereits versprochenen 449<br />

Millionen Euro für die Berufsausbildung<br />

Foto: Abu Dhabi Ports Company<br />

chen Angriff. Unklar ist, ob beide Fälle zusammenhängen<br />

und wer für sie verantwortlich<br />

ist. Offenkundig scheint aber eine<br />

politische Motivation der Sabotage bei Saudi<br />

Aramco: Der Virus ersetzte den Bildschirmhintergrund<br />

mit einer brennenden<br />

US-Flagge; ein laut Experten authentisches<br />

Bekennerschreiben beklagte die »durch<br />

saudisches Öl ermöglichten amerikanischen<br />

Verbrechen in Syrien, Bahrain und<br />

mit einer französischen Firma für Rohstofflogistik<br />

einen Öl-Transportauftrag erhalten<br />

– was einen mächtigen Konkurrenten<br />

auf den Plan rief: Moncef Trabelsi, Inhaber<br />

der Transportgesellschaft Transmed und<br />

ein Bruder der Präsidentengattin Leila Ben<br />

Ali-Trabelsi.<br />

Bonnards Deal ist geplatzt. »Ich habe<br />

schrift liche Beweise dafür, dass Präsident<br />

Ben Ali persönlich die STIR angewiesen<br />

hat, uns aus dem Geschäft herauszuwerfen<br />

junger Ägypter. Mit dem Internationalen<br />

Währungsfonds hofft die Regierung in<br />

Kairo, bis Jahresende eine Einigung über<br />

einen 4,8-Milliarden-Dollar-Kredit zu<br />

erzielen. In EU-Kreisen wird der Finanzbedarf<br />

Ägyptens aber auf mehr als 10 Milliarden<br />

US-Dollar geschätzt. dry<br />

Die anfängliche Kapazität von jährlich 2,5<br />

Millionen Standardcontainern (TEU) und<br />

zwölf Millionen Tonnen Stückgut nimmt<br />

sich zwar noch bescheiden aus im Vergleich<br />

mit Dubais Mega-Hafen Jebel Ali, der vergangenes<br />

Jahr 27,5 Millionen TEUs umschlug.<br />

Doch die Ambitionen Abu Dhabis mit<br />

dem neuen Umschlagplatz sind gewaltig.<br />

Bis zum Jahr 2030 kann die Kapazität auf<br />

15 Millionen Standardcontainer und 35<br />

Millionen Tonnen Stückgut gesteigert werden.<br />

Vor allem aber ist der neue Hafen aufs<br />

Engste mit dem Industriegebiet Khalifa Industrial<br />

Zone Abu Dhabi verknüpft. Auf zunächst<br />

51 und später bis zu 417 Quadratkilometern<br />

– 60 Prozent der Größe Singapurs<br />

– sollen dort produzierende Unternehmen<br />

angesiedelt werden, um die Diversifizierung<br />

der Wirtschaft voranzutreiben. Bis 2030<br />

sollen so 150.000 Arbeitsplätze und 15 Prozent<br />

der Wirtschaftsleistung Abu Dhabis<br />

außerhalb des Ölsektors entstehen. dry<br />

Libanon«. Untersuchungen des IT-Sicherheitsunternehmens<br />

Symantec deuten auf<br />

die Beteiligung eines Insiders im Konzern<br />

hin. In diese Richtung ermitteln laut Reuters<br />

auch die saudischen Behörden selbst.<br />

Die Komplexität der eingesetzten Malware<br />

lässt sich schwer einschätzen. Für die Golfstaaten<br />

sind die Vorfälle jedoch ein peinlicher<br />

Beleg ihrer unterentwickelten Fähigkeiten<br />

in der digitalen Kriegführung. metz<br />

STEIGFLUG ÜBER<br />

DEM ÄQUATOR<br />

Harte Landung für Air Nigeria: Anfang<br />

September hat die nationale Fluggesellschaft<br />

des bevölkerungsreichsten afrikanischen<br />

Landes den Betrieb eingestellt. Zuvor<br />

entließ das Management mehr als 500<br />

Mitarbeiter »wegen Illoyalität«. Sie hatten<br />

am Flughafen Lagos für die Auszahlung<br />

ausstehender Gehälter demonstriert.<br />

Anderswo weht Gründergeist in der<br />

Luftfahrtbranche Afrikas: Der Franzose<br />

Jean-Marc Pajot will mit seiner neuen Fly-<br />

Congo beweisen, dass die Demokratische<br />

Republik Kongo Chancen für findige Flugunternehmer<br />

bietet. Dazu übernahm er die<br />

Reste von Hewa Bora Airways, die 2011<br />

nach einem Absturz die Lizenz verlor. Im<br />

April nahm der neue Anbieter Korongo den<br />

Betrieb auf, ein Joint Venture der Lufthansa-Tochter<br />

Brussels Airlines und der Bergbaufirma<br />

Forrest Group. In der benachbarten<br />

Republik Kongo begann letzten Herbst<br />

die Equatorial Congo Airlines zunächst mit<br />

Inlandsflügen; jetzt hat sie eine Verbindung<br />

nach Paris im Programm. Und der junge<br />

Südsudan sucht Investoren für die Gründung<br />

einer nationalen Fluggesellschaft.<br />

Kein Wunder also, dass Tony Tyler,<br />

Chef des Luftfahrt-Weltverbands IATA, auf<br />

dem »Aviation Day Africa« Anfang September<br />

auf die Wachstumschancen der Branche<br />

hinwies. Afrikanische Airlines bildeten<br />

die Grundlage für 6,7 Millionen Arbeitsplätze<br />

und eine Wirtschaftsleistung von<br />

67,8 Milliarden US- Dollar. Ihr größtes Problem<br />

blieben allerdings die Sicherheitsstandards,<br />

mahnte Tyler. Zwar habe es 2011<br />

nur noch einen Unfall pro 305.000 Flüge<br />

gegeben, nicht mehr einen pro 100.000 Flüge<br />

wie noch 2009. Damit beträgt die Unfallquote<br />

Afrikas aber immer noch das Neunfache<br />

des globalen Durchschnitts. dry<br />

und Trabelsi den Zuschlag zu geben«, sagte<br />

Bonnard im Gespräch mit zenith. Trabelsi<br />

befindet sich derzeit in tunesischer Haft.<br />

Die genaue Summe der Schadenersatzforderung<br />

steht laut Bonnard noch nicht fest.<br />

Sie dürfte sich aber auf mehr als 20 Millionen<br />

Euro belaufen. »Mein Schaden damals<br />

belief sich auf rund sieben Millionen<br />

Euro, aber gegenüber meinen Partnern<br />

war mein Ruf dadurch ruiniert«, sagt<br />

Bonnard.<br />

dge


64 WIRTSCHAFT · IRAK · INVESTITIONEN<br />

INVESTITIONEN · IRAK · WIRTSCHAFT<br />

65<br />

nach Najaf kommen, mussten wir ein System entwickeln, das ihre<br />

Lebensqualität verbessert«, erklärt Scheich Baschir. Viele Gläubige,<br />

die in sehnsüchtiger Heilserwartung über die 100 Kilometer<br />

lange Straße von Najaf zum Heiligtum von Kerbela marschieren,<br />

verlieren ihre Angehörigen und Freunde im Gedränge aus den<br />

Augen. Also ließ Baschir, der Praktiker unter den Gelehrten, entlang<br />

der Strecke Pfosten einrammen und sie neben Laternen und<br />

Telefonmasten mit fortlaufenden Nummern markieren. Heute<br />

können sich die jährlich 18 Millionen Pilger in Najaf und Kerbela<br />

– Regierungsstellen nennen diese Zahl eine »konservative Schätzung«<br />

– telefonisch mit ihren Verwandten »bei Sonnenaufgang<br />

am Pfosten Nummer 682« zum Picknick verabreden und wissen<br />

stets, wie weit der Weg noch ist.<br />

Manchmal findet man keine deutschen<br />

Firmen für Projekte, selbst wenn das Geld<br />

schon »auf dem Tisch liegt«<br />

Die rote Fahne über dem Heiligtum des Imams Hussein erinnert<br />

daran, dass der Tag der Rache für seinen Tod und das jahrhundertelange<br />

Leiden der »Partei« Alis – auf Arabisch: »Schiat Ali« –<br />

noch kommen wird. In jüngster Vergangenheit ging dieses Leid<br />

vor allem vom irakischen Diktator Saddam Hussein aus. Die<br />

Schneisen, die seine Panzer nach einem gescheiterten Aufstand<br />

durch die Friedhofsstadt von Najaf walzten, sind heute asphaltierte<br />

Straßen. Die Granateinschläge in der goldenen Kuppel über<br />

dem Hussein-Schrein von Kerbela sind längst ausgebessert.<br />

Heute gleicht das Heiligtum des Imams Hussein einer Großbaustelle.<br />

An allen Ecken und Enden werden Betonträger gegossen,<br />

Glasscheiben geschnitten, Drainagen verlegt und gigantische<br />

Ventilationsanlagen installiert – die den prachtvollen Gebäuden<br />

nicht immer zum ästhetischen Vorteil gereichen.<br />

»Bauarbeiten von diesem Ausmaß hat man hier wohl zuletzt<br />

vor 500 Jahren gesehen«, sagt ein iranischer Pilger, der aus Teheran<br />

zum Schrein Husseins gekommen ist. Damals waren es die<br />

persischen Safawiden, die als Eroberer des Zweistromlands und<br />

selbsternannte Schutzpatrone der Schiiten den unverwechselbaren<br />

Baustil dieser Heiligtümer prägten.<br />

Zur selben Zeit erlebte auch der schiitische Pilgertourismus<br />

eine Phase, die man heute zu Recht als Boom bezeichnen würde.<br />

An diese Zeiten wollen die Provinzen Najaf und Kerbela nun anknüpfen.<br />

Saddam Hussein fürchtete die Macht der Schia, die in seinem<br />

Reich die Bevölkerungsmehrheit stellten. Er unterband die Pilgerströme<br />

– vor allem aus dem Nachbarland Iran, gegen das er ein<br />

Jahrzehnt lang einen blutigen Krieg führte. Bis heute stehen Saddams<br />

Gefolgsleute im Verdacht, gemeinsam mit fanatischen Sunniten<br />

alles dafür zu tun, die wirtschaftliche Renaissance der<br />

Schia zu verhindern: Erst Anfang Juli ging in der Nähe von Kerbela<br />

wieder eine Autobombe in die Luft und riss mehrere Menschen<br />

in den Tod.<br />

Gläubige Pilger schreckt diese Gefahr nicht ab – Sterben auf<br />

dem Weg zu den Imamen gilt als segensreicher Tod. Aber europäische<br />

Geschäftsleute und die Verbindungsmänner der schiitischen<br />

Geistlichkeit, die über die Sicherheit der Gäste wachen, sehen<br />

sich vor: 5.000 bis 6.000 Dollar am Tag berechnen die Polizeibehörden<br />

für den bewaffneten Schutz von Ausländern bei einer<br />

AUSGEWÄHLTE WIRTSCHAFTSDATEN FÜR DEN IRAK<br />

Quellen: IWF (World Economic Outlook April 2012), Weltbank<br />

* Schätzungen<br />

DEUTSCHE AUSFUHR IN DEN IRAK 2011<br />

Anteil einzelner Güter am Gesamtexport<br />

KFZ-TEILE 10 %<br />

MASCHINEN 22,5 %<br />

2008 2009 2010 2011 2012 2013<br />

MIO. EINWOHNER *30,4 *31,2 *32,0 *32,9 *33,6 *34,4<br />

BIP<br />

in Mrd. US-$<br />

86,5 64,2 81,1 *115,4 *144,2 *164,6<br />

LEISTUNGSBILANZ<br />

in % des BIP<br />

19,2 –13,8 –1,8 *7,9 *9,1 *10,8<br />

INFLATION<br />

Änderung im Vergleich<br />

zum Vorjahr in Prozent<br />

AUSLÄNDISCHE<br />

DIREKTINVESTITIONEN<br />

in % des BIP<br />

6,8 –4,4 3,3 *6,0 *7,0 *6,0<br />

2,1 2,3 1,8 K.A. K.A. K.A.<br />

ELEKTROTECHNIK 6,4 %<br />

ARZNEIMITTEL 3,6 %<br />

MESS- UND<br />

REGELTECHNIK 4 %<br />

CHEMISCHE<br />

ERZEUGNISSE 6,5 %<br />

SONSTIGE 47 %<br />

5TAUSEND DOLLAR AM TAG UND MEHR<br />

BERECHNET DIE POLIZEI FÜR DEN<br />

PERSONENSCHUTZ VON AUSLÄNDERN<br />

BEI EINER ÜBERLANDFAHRT<br />

Überlandfahrt. Wer diese Kosten sparen will, sollte versuchen<br />

»nicht aufzufallen«.<br />

Maik Herrmann fällt auf, wenn er durch Kerbela spaziert.<br />

Der 44-Jährige ist zwei Meter groß, von massiver Statur und trägt<br />

auch bei Hitze gerne Fliege. Seit 2009 lebt er als Mitarbeiter des<br />

Consultingfirma German House in Kerbela und betreut dort deutsche<br />

Unternehmen. German House steht unter dem Schutz eines<br />

Scheichs mit Namen Al-Kratiyi – kein Geistlicher, aber ein Clanchef<br />

mit Kontakt zu Gottesmännern.<br />

»Unser größtes Problem sind wir selbst«, sagt Herrmann,<br />

»vor allem die Tatsache, dass das Auswärtige Amt deutsche Geschäftsleute<br />

noch immer ausdrücklich vor Reisen in den Irak<br />

warnt.« So manche Aktiengesellschaft scheue sich deshalb, einen<br />

Vorstand nach Najaf zu schicken, um Aufträge an Land zu ziehen.<br />

Manchmal finde man keine deutschen Firmen für Projekte, selbst<br />

wenn das Geld für die Finanzierung schon »auf dem Tisch liegt«.<br />

Die Ayatollahs verwalten das Vermögen<br />

des verschwundenen Imams<br />

Allein in der Pilgerstadt Kerbela, so sagt Herrmann, entstehen<br />

nun fast 600 Hotels, 2.400 würden laut Marktstudien benötigt.<br />

Die Universität Kerbela habe seit einigen Jahren einen Studiengang<br />

für Hotelfachmanagement. Herrmann hofft, dass dort bald<br />

»deutsche Standards« unterrichtet werden.<br />

Das nächste Leuchtturmprojekt, das sein Unternehmen vermittelt<br />

habe, seien Rinderfarmen in der Umgebung von Najaf. Das<br />

Importland deckt seinen Bedarf an Milch und Joghurt durch Einfuhren<br />

aus den Nachbarländern, die jedoch kaum Überschuss erwirtschaften<br />

und ihre Erzeugnisse nur für entsprechend hohe<br />

Preise abgeben. Das Land im Süden des Iraks sei aber fruchtbar<br />

und das Grundwasser leicht anzubohren. Eine Ingenieurfirma<br />

aus Westfalen könne Technik für die Rinderfarmen liefern, vor<br />

allem die Melkanlagen für Kühe. Die schiitische Geistlichkeit unterstütze<br />

das Vorhaben, die Brachen um die Heiligen Stätten in<br />

Acker- und Weideland zu verwandeln, sagt Herrmann.<br />

Noch stellt sich allerdings eine theologische Frage, vor allem<br />

was den Genuss der erhofften Filetsteaks aus Najaf angeht.<br />

Schließlich kennen die Ayatollahs den Spruch des Imams Ali, der<br />

einmal sagte: »Ich wurde nicht dafür geschaffen, mich mit vornehmen<br />

Speisen abzugeben, die man aus eingesperrtem Viehzeug


70 WIRTSCHAFT · KIRGISTAN · ROHSTOFFE<br />

ROHSTOFFE · KIRGISTAN · WIRTSCHAFT<br />

71<br />

Bonanza<br />

und<br />

Blausäure<br />

Die Mine Kumtor birgt eines der größten<br />

Goldvorkommen der Welt. Seit dem Ende der<br />

Sowjet-Subventionen ist sie der Tropf,<br />

an dem die kirgisische Volkswirtschaft hängt –<br />

und ein ständiger politischer Zankapfel<br />

VON BJÖRN ZIMPRICH<br />

Immer höher windet sich die Straße die Berge hinauf. Ein<br />

Wegstein am Rand der Fahrbahn gibt die Meereshöhe mit<br />

2.900 Metern an – fast so hoch wie die Zugspitze. Die Luft<br />

wird merklich dünner, auf den restlichen 1.100 Höhenmetern<br />

bis zum Ziel lässt selbst die Zugkraft des Automotors allmählich<br />

nach. Oben angekommen, verursacht jede Bewegung ein<br />

Schwindelgefühl. Drei Besucher nehmen an diesem Tag bereits<br />

die Dienste der Medizinstation samt Sauerstoffzelt in Anspruch.<br />

Willkommen in der kirgisischen Goldmine Kumtor, einem Ort<br />

der Extreme und Superlative.<br />

Mit 606,5 Tonnen gilt Kumtor nicht nur als eines der größten<br />

Vorkommen des begehrten Metalls, es ist auch eine der höchstgelegenen<br />

Goldminen der Welt. Entsprechend unwirtlich ist die<br />

Umgebung. Die Durchschnittstemperatur auf dieser Höhe beträgt<br />

minus 7,6 Grad Celsius. Beißend kalt pfeift der Wind über<br />

die Hochebene. Nur noch Hartgräser und kleinstes Gebüsch<br />

wachsen hier oben, die Baumgrenze hat man längst hinter sich<br />

gelassen. Den Horizont bilden Gletscher und Gipfel des<br />

Tian-Shan-Gebirges. Die chinesische Grenze ist nur 60 Kilometer<br />

entfernt.<br />

Foto: Mike Karavonov / lizensiert gemäß creative commons attribution 3.0 unported


72 WIRTSCHAFT · KIRGISTAN · ROHSTOFFE ROHSTOFFE · KIRGISTAN · WIRTSCHAFT<br />

10<br />

VORRÄTE UND FÖRDERUNG DER CENTERRA GOLD (IN KILOGRAMM)<br />

DIE ZEHN WELTGRÖSSTEN GOLDMINEN (2011)<br />

Quellen: CNBC, Thomson Reuters, Metals Economics Group<br />

UNGEFÖRDERT KUMULATIVE FÖRDERUNG<br />

2004 125.000 28.400<br />

BODDINGTON, AUSTRALIEN<br />

21.044 KG<br />

KALGOORLIE SUPER PIT, AUSTRALIEN 21.300 KG<br />

2005 205.000 56.800<br />

LAGUNAS NORTE, PERU<br />

21.868 KG<br />

MILLIARDEN DOLLAR AKTUELLEN<br />

2006 199.000 73.800<br />

MARKTWERT HABEN DIE NOCH UNGEFÖR-<br />

WEST WITS, SÜDAFRIKA<br />

22.493 KG<br />

DERTEN GOLDVORRÄTE IN KUMTOR<br />

2007 199.000 99.400<br />

VAAL RIVER, SÜDAFRIKA<br />

23.600 KG<br />

73<br />

2008 165.000 127.800<br />

VELADERO, ARGENTINIEN<br />

27.179 KG<br />

LONDONER GOLD-FIXING<br />

in Euro pro Unze am letzten Handelstag im Monat<br />

1.204,73<br />

1.231,50<br />

1.296,67<br />

1.184,16<br />

1.328,16<br />

1.319,81<br />

1.246,63<br />

1.248,11<br />

1.258,28<br />

1.260,45<br />

1.321,06<br />

1.311,56<br />

2009 210.000 153.400<br />

2010 236.000 181.800<br />

2011 230.000 198.800<br />

GOLDSTRIKE, NEVADA, USA<br />

YANACOCHA, PERU<br />

CORTEZ, NEVADA, USA<br />

GRASBERG, WEST-PAPUA, INDONESIEN<br />

30.899 KG<br />

36.721 KG<br />

40.356 KG<br />

41.010 KG<br />

09/2011<br />

10/2011<br />

11/2011<br />

12/2011<br />

01/2012<br />

02/2012<br />

03/2012<br />

04/2012<br />

05/2012<br />

06/2012<br />

07/2012<br />

08/2012<br />

75 MRD. $<br />

WERDEN T ÄGLICH AM<br />

LONDONER GOLDMARKT<br />

U MGESETZT.<br />

51.000 t<br />

2OLYMPISCHE<br />

SCHWIMMBECKEN NUR<br />

WÜRDE ALLES JEMALS<br />

GEFÖRDERTE GOLD<br />

FÜLLEN.<br />

GOLD LIEGEN WELTWEIT NOCH<br />

UNGEFÖRDERT IM ERDBODEN, SCHÄTZT<br />

DER GEOLOGISCHE DIENST DER USA.<br />

EXPLORATIONSKOSTEN DER CENTERRA GOLD<br />

(in Millionen US-Dollar) Quelle: Centerra Gold Jahresbericht 2011<br />

2009<br />

25<br />

2010<br />

31<br />

2011<br />

40<br />

2012<br />

45<br />

Barren für Barren: Mit der Suche nach faustdicken Nuggets<br />

hat die großindustrielle Goldproduktion nihcts mehr zu tun.<br />

Foto: Marcel Mettelsiefen<br />

Die hochgiftigen Rückstände werden in<br />

Deponien im Permafrostboden abgelagert<br />

nengelände. Aus dem so erzeugten Schlamm wird in weiteren<br />

Verarbeitungsschritten Rohgold gewonnen, das schließlich zu<br />

Feingold raffiniert wird. Dieser Prozess findet unter Ausschluss<br />

der Öffentlichkeit statt; Besucher bekommen in Kumtor keinen<br />

einzigen Goldbarren zu sehen.<br />

Die hochgiftigen Rückstände der Goldgewinnung werden in<br />

Deponien im Permafrostboden abgelagert. Aufgrund des Klimawandels<br />

birgt dies unabsehbare Gefahren, denn Kumtor befindet<br />

sich im Einzugsgebiet des Naryn-Flusses. Der wiederum mündet<br />

in den Syr Darya, der große Baumwoll-Anbaugebiete in Zentralasien<br />

bewässert. »Sollten die gewaltigen Deponien hochgiftiger<br />

Schlämme undicht werden, dann wären davon aufgrund der<br />

Flusssysteme Millionen Menschen in Kirgistan, Usbekistan und<br />

Kasachstan betroffen«, warnt der Kulturgeograf Matthias<br />

Schmidt von der Leibniz-Universität Hannover.<br />

Seit 1997 die kommerzielle Ausbeutung des Vorkommens in<br />

Kumtor begann, hat Centerra Gold hier mehr als 260 Tonnen gefördert<br />

– nicht zuletzt zur Freude der kirgisischen Regierung, die<br />

mit 33 Prozent an dem Unternehmen beteiligt ist. 2011 betrug die<br />

Produktion 18,1 Tonnen. Die kanadische Betreibergesellschaft<br />

geht davon aus, dass in Kumtor bei einem Goldpreis von 1.200<br />

Dollar je Feinunze weitere 196 Tonnen wirtschaftlich gewonnen<br />

werden können. Beim derzeitigen Preis von rund 1.600 Dollar je<br />

Feinunze entspricht dies einem Marktwert von zehn Milliarden<br />

Dollar. Mindestens weitere 149,3 Tonnen sind demnach gegen-<br />

Von dem Schatz im unwirtlichen Boden Kumtors ist auf den ersten<br />

Blick nichts zu sehen: Er liegt versteckt im Fels. Die Schichten,<br />

die als Goldvorrat gezählt werden, haben hier einen durchschnittlichen<br />

Anteil von 3,3 Gramm Gold pro Tonne. Um eine<br />

einzige Feinunze Gold – also 31,1 Gramm – zu gewinnen,<br />

braucht man zehn Tonnen Gestein. Mit der romantischen Vorstellung<br />

von der Suche nach faustdicken Nuggets hat das nichts<br />

mehr zu tun. 2011 wurden hier nach Angaben der Betreibergesellschaft<br />

Centerra Gold 150 Millionen Tonnen Gestein verarbeitet,<br />

also 413.000 Tonnen pro Tag. Zur Gesteinsmühle werden<br />

diese Massen mit fast 1.800 PS starken Speziallastwagen, den<br />

sogenannten Muldenkippern, transportiert. Jeder dazu nötige<br />

Tropfen Treibstoff muss selbst erst auf 4.000 Höhenmeter<br />

transportiert werden.<br />

Gefährlicher für die Umwelt sind jedoch die weiteren Arbeitsprozesse.<br />

Um den Gesteinsmassen das Edelmetall abzuringen,<br />

wird das Erz fein zermahlen und in Natriumzyanidlösung<br />

aufgeschwemmt. Diese Laugung mit dem giftigen Salz der Blausäure<br />

findet unter freiem Himmel statt, da sich das Gold nur in<br />

Reaktion mit Sauerstoff löst. Dazu stehen Becken von der Größe<br />

jeweils eines Fußballfeldes mit hellblauer Brühe auf dem Miwärtig<br />

noch nicht gewinnbringend abbaubar, was sich mit effizienterer<br />

Technik oder weiter steigendem Goldpreis jedoch schnell<br />

ändern könnte.<br />

Vergangenes Jahr trug Kumtor fast zwölf<br />

Prozent zur Wirtschaftsleistung Kirgistans bei<br />

Dennoch dürfte die Stimmung bei Centerra, das neben Kumtor<br />

nur eine weit weniger ergiebige Mine in der Mongolei betreibt, in<br />

den vergangenen Monaten eher verhalten gewesen sein. Ein<br />

zehntägiger Arbeiterstreik im Februar lieferte nur einen schwachen<br />

Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte: Nachdem<br />

ein Untersuchungsbericht Umwelt- und Gesundheitsschäden<br />

durch die Mine anprangerte, wies das kirgisische Parlament die<br />

Regierung an, die Verträge mit der Betreibergesellschaft neu zu<br />

verhandeln; einige Abgeordnete hatten sogar eine Verstaatlichung<br />

der Mine gefordert.<br />

Ende August schließlich musste der erste Versuch abgebrochen<br />

werden, gemäß einem neuen Bergbaugesetz die Schürfrechte<br />

für einige kleinere Minen öffentlich zu versteigern. Demonstranten<br />

stürmten das Fernsehstudio, aus dem die Auktion live<br />

übertragen werden sollte. Sie verlangten, bevor die Regierung<br />

weitere Bodenschätze verkaufe, müsse sie zunächst die Überprüfung<br />

der Kumtor-Verträge abschließen.<br />

Den Gewinnausblick für das laufende Jahr musste Centerra Gold<br />

inzwischen kräftig nach unten korrigieren. Statt ursprünglich bis<br />

zu 19,4 Tonnen Produktion rechnet das Unternehmen jetzt nur<br />

noch mit höchstens 12,75 Tonnen – deutlich weniger als in allen<br />

Jahren seit 2007. Centerra machte für den Rückgang vor allem<br />

verstärkte Gletscherbewegungen verantwortlich, die den Zugang<br />

zu besonders ergiebigen Gesteinsschichten versperrt hätten. Der<br />

Streik vom Februar habe diesen Effekt noch verstärkt.<br />

Das wird auch die kirgisische Volkswirtschaft zu spüren bekommen,<br />

denn die hängt am Tropf des Goldes. Vergangenes Jahr<br />

trug die Mine Kumtor fast zwölf Prozent zur gesamten Wirtschaftsleistung<br />

des Landes bei, ihr Anteil an der nationalen Industrieproduktion<br />

betrug gut ein Viertel. In den ersten sieben<br />

Monaten dieses Jahres nun schrumpfte Kirgistans Wirtschaft –<br />

auch infolge der Beeinträchtigungen in Kumtor – um fünf Prozent,<br />

was im Sommer mit zum Zerbrechen der Koalitionsregierung<br />

von Ministerpräsident Omurbek Babanow führte.<br />

Doch ganz gleich wer in Bischkek regiert, zumindest kurzfristig<br />

hat er wirtschaftlich kaum Alternativen zu der Goldmine.<br />

Zu Zeiten der Sowjetunion wurde das heutige Kirgistan noch von<br />

den industriellen Zentren im heutigen Russland subventioniert.<br />

Diese Unterstützung brach 1990 zusammen mit dem sowjetischen<br />

Wirtschaftssystem schlagartig weg. Der Goldabbau ist der<br />

wirtschaftliche Strohhalm, an den sich die kirgisischen Regie-


82 KULTUR · KUNSTSZENE · IR AN<br />

IRAN · KUNSTSZENE · KULTUR<br />

83<br />

ZWISCHEN<br />

PUNK<br />

U<br />

N<br />

D<br />

POLIZEI<br />

STAAT<br />

Einem Fotografen gelangen Einblicke in die kulturelle Untergrundszene<br />

Teherans, in der junge Künstler mit Geschick und Provokation versuchen, den<br />

überall lauernden Verboten zu trotzen<br />

Kunststudenten organisieren selbständig<br />

Workshops zu Themen, die in der Universität<br />

nicht behandelt werden oder verboten sind –<br />

zum Beispiel zur Geschichte der Grafik in Europa<br />

zwischen den 1960er und 1980er Jahren. Die<br />

Darstellung und Verbreitung von westlichem<br />

Gedankengut ist verboten. Wenn die Regierung<br />

erfährt, dass sie sich mit Themen wie westlicher<br />

Mode, Sexualität oder ähnlichen Inhalten<br />

beschäftigen, droht ihnen, verhaftet, verhört,<br />

gefoltert, vergewaltigt zu werden. Folter und<br />

Vergewaltigung gehören in den Polizeistationen<br />

in Iran zur Tagesordnung.<br />

FOTOS: STEFAN MAURER


Graffiti, Schablonen und Bilder im Atelier des jungen<br />

Künstlers und Rappers CK 1. Rapmusik und alle damit<br />

zusammenhängenden Bewegungen wie Breakdance,<br />

Breakbeat und so weiter sind in Iran verboten.<br />

Auf deren Verwendung beziehungsweise Ausübung<br />

drohen Folter und Todesstrafe.


86 KULTUR · KUNSTSZENE · IR AN<br />

IRAN · KUNSTSZENE · KULTUR<br />

87<br />

Etwa zwei Drittel der Iraner sind jünger als 25 Jahre. Sie<br />

blicken auf die Vergangenheit ihrer Eltern unter den<br />

letzten Pahlavi-Königen zurück, als sich auch Kunst<br />

und Kultur freier ausleben konnten und westliche Einflüsse<br />

eine zentrale Rolle einnahmen. Sie kennen die<br />

Geschichten, warum ihre Väter und Mütter den despotischen<br />

Schah stürzten, doch sehen auch, dass es für<br />

sie nicht besser geworden ist.<br />

Gemäß offizieller Rhetorik befindet sich die Islamische Republik<br />

noch immer in der Phase der 1979 begonnenen Revolution, und dementsprechend<br />

soll ihre Jugend »revolutionäre Kunst« hervorbringen.<br />

Dass die meisten jungen Iraner daran wenig Interesse haben, ist augenfällig.<br />

Und so leben sie in einer aufzehrenden Lebenswirklichkeit<br />

zwischen der Vergangenheit, ihren eigenen Wünschen und den oft<br />

weltfremden Ansprüchen der Islamischen Republik.<br />

Sie spielen ein Versteckspiel mit den Behörden, arbeiten mit improvisierter<br />

Infrastruktur und treffen sich in versteckten Galerien und<br />

Proberäumen. Bei der Vorbereitung der nächsten Ausstellung ermahnt<br />

eine Galeristin alle Anwesenden: »Bitte stellt die Telefone ab, sie können<br />

von der Regierung abgehört werden.« Zugleich kämpfen sie um<br />

Aufmerksamkeit und gegen die ständigen Verbote, die drohenden Bestrafungen.<br />

Dafür höhlen sie die Gesetze aus oder umgehen sie ganz:<br />

Singende Frauenstimmen sind verboten. Also sitzen oft Männer im Hintergrund<br />

eines Theaterstücks und singen leise bei den Passagen der<br />

Frauen mit. Das geht nicht immer gut und zeigt vor allem die Absurditäten<br />

der Gesetze. Andere müssen vollkommen anonym bleiben.<br />

Bei moderner Musik – Rap oder Rock – sind die Revolutionswächter<br />

besonders radikal. Ein junger Heavy-Metal-Musiker, der bei einem<br />

illegalen Konzert von der Polizei festgenommen wurde, erzählt von seinem<br />

Verhör: »Sie fragten mich, ob ich Blut trinke und Fliegen esse.«<br />

Iranische Rapper existieren meist nur auf illegalen Tapes, die unter der<br />

Hand weitergereicht werden.<br />

Teheran als pulsierende Hauptstadt-Metropole mit mehr als 15 Millionen<br />

Einwohnern stellt die Speerspitze der Jugendbewegungen im<br />

Land dar. Mit ständig neuen Ideen überrascht die totgeschwiegene iranische<br />

Jugend hier immer wieder Behörden und Außenstehende. Sie<br />

lebt in einer kulturellen Untergrundszene voller Kreativität und Provokation.<br />

Junge Teheraner sagen: »Es gibt hier nichts, was du dir nicht<br />

vorstellen kannst! Du musst es nur finden.«<br />

Die Fotoarbeit »Die Stadt der Verbote« des Schweizer Fotografen<br />

Stefan Maurer bietet einen Einblick in diese Lebenswelt, die sonst der<br />

Öffentlichkeit verborgen bleibt, und zeigt Menschen, die jung und mit<br />

der Welt vernetzt ihre Ideen und Projekte vorantreiben. Maurer sagt<br />

über Teheran, am meisten habe ihn beeindruckt, »wie junge Menschen<br />

unter diesen schwierigen Umständen den Glauben an das Gute, den<br />

Willen und den Humor nicht verlieren«.<br />

Friedrich Schulze<br />

Trekking in den Bergen nördlich von Teheran. Ein Student badet<br />

im Bergsee, im Hintergrund ist der imposante Berg Damawand<br />

zu sehen. Teheraner lieben die Berge. An den Wochenenden<br />

treffen sich dort Familien, Pärchen und Freunde zum Wandern,<br />

Picknicken, Flirten, Alkoholtrinken und Kiffen.<br />

Die jungen Besitzer der<br />

modernen und geschmackvoll<br />

eingerichteten Kaffeebar<br />

»Talkh« zeigen Stil. Sie spielen<br />

mit Vorliebe Pink Floyd,<br />

servieren hervorragenden<br />

Espresso und organisieren<br />

wöchentliche Live-Konzerte.<br />

·<br />

Die Modekollektion hat die<br />

Künstlerin Negar (Name<br />

geändert) entworfen. Sie<br />

will wegen der regimekritischen<br />

Inhalte ihrer Werke<br />

anonym bleiben. Das Futter<br />

der Mäntel zeigt Symbole, die<br />

indirekt oder direkt auf die<br />

Missstände im Land<br />

hinweisen.<br />

Stefan Maurer wurde 1976 in Bern geboren, wo er Neue Medien mit<br />

Schwerpunkt klassische Reportagefotografie studierte. Seit 2003 ist er<br />

weltweit mit eigenen Projekten tätig, für die er sich oft über einen längeren<br />

Zeitraum mit sozialen, kulturellen und religiösen Themen beschäftigt.<br />

Seit 2007 arbeitet Maurer auch als Ausstellungskurator und vermehrt<br />

mit Neuen Medien sowie im Bereich Kurzdokumentar- und Animationsfilm.<br />

Für sein Fotoprojekt in Teheran erhielt er 2010 den Werkbeitrag<br />

des Kantons Bern.


96 KULTUR · MUSIK · ISR AEL/SYRIEN<br />

Tinariwen,<br />

Shantel<br />

und<br />

Balkan Beat<br />

Die Band Toot Ard vom Golan macht mitreißende<br />

Musik – mit Texten, die den heimischen<br />

Drusenscheichs Kopfschmerzen bereiten<br />

TEXT: MAI-BRITT WULF · FOTOS: ULLA DEVENTER<br />

liebsten würden sie kein Eintrittsgeld für<br />

ihre Konzerte nehmen, erzählt Hasan Nakleh,<br />

der charismatische Bandleader von<br />

Toot Ard. Regelmäßig werden sie bei Ver-<br />

Box<br />

A<br />

m<br />

handlungen über den Tisch gezogen, weil<br />

ihnen das Feilschen um ihre Gage unangenehm<br />

ist und sie einfach nur spielen wollen.<br />

Die Jungs brauchen nicht viel zum Leben,<br />

ihre Klamotten kaufen sie secondhand und<br />

schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch.<br />

Hasan sinniert mit sanfter Stimme über<br />

das »Gypsy-Leben«, das ihm vorschwebt: Auf dem ägyptischen Sinai leben,<br />

den er oft bereist hat, den ganzen Tag Musik machen und keine Verpflichtungen<br />

haben. Auf dem feingliedrigen Unterarm des 25-Jährigen prangt ein lateinischer<br />

Schriftzug, der in etwa bedeutet: Was dich betäuben kann, kann<br />

dich auch umbringen.<br />

Freche Früchtchen auf Konfrontationskurs:<br />

Die Musiker von Toot Ard aus dem Golan<br />

behaupten, ihre Musik solle nur Spaß<br />

machen. Die provokanten Texte der Band<br />

und ihr wachsender Erfolg stellen jedoch<br />

eine Bedrohung für die starren Strukturen<br />

in der drusischen Gemeinschaft dar.


100 KULTUR · MEDIEN · TUNESIEN<br />

TUNESIEN · MEDIEN · KULTUR<br />

101<br />

»Man will die Masse manipulieren«<br />

Aktivist Hamadi Kaloutcha über<br />

den Niedergang der Bloggerszene<br />

Tunesiens und Einflussnahmen der<br />

Islamisten<br />

INTERVIEW: JOHANNE KÜBLER<br />

zenith: Wie hat sich der Internetaktivismus in Tunesien<br />

seit dem Sturz Ben Alis entwickelt? Hamadi Kaloutcha: Unter<br />

Ben Ali waren Internetaktivisten praktisch die Einzigen, die<br />

Themen ansprachen, die ansonsten totgeschwiegen wurden. Zunächst<br />

war das schwierig: Obwohl Videos über Unruhen in Tunesiens<br />

Süden online kursierten, trauten sich die meisten nicht, sie<br />

weiterzuverbreiten. Im Kopf eines jeden Tunesiers lauerte ein<br />

Polizist – an dieser Haltung musste sich etwas ändern. Es gab einen<br />

harten Kern von Netzaktivisten, die die roten Linien weit<br />

überschritten. Allmählich wurden diese so gedehnt, dass es ab<br />

2010 immer normaler wurde, bestimmte Dinge online zu teilen.<br />

Der tunesische Internetaktivist<br />

Hamadi Kaloutcha<br />

sieht nach dem Erfolg der<br />

Revolution neue Gefahren<br />

aufziehen. Tunesiens Web<br />

2.0 schwebt zwischen Chaos,<br />

Organisierungsversuchen und<br />

islamistischer Diffamierung.<br />

Am 6. Januar 2011, zur<br />

Hochzeit der tunesischen<br />

Revolution, wurde Hamadi<br />

Kaloutcha verhaftet und drei<br />

Tage festgehalten.<br />

Foto: Johanne Kübler<br />

»Lokal können<br />

Aktivisten eine<br />

große Wirkung<br />

entfalten«<br />

Die Menschen fingen an, sich Freiheiten zu nehmen, die es an sich<br />

gar nicht gab. Für das Regime, das der Presse erfolgreich einen<br />

Maulkorb verpasst hatte, war das bisschen Krach, das wir Aktivisten<br />

machten, ein Heidenlärm. Aber nach dem 14. Januar 2011 ...<br />

... als Präsident Zine el-Abidine Ben Ali aus dem Land flüchtete<br />

... nach diesem Tag war die Angst der Menschen wie weggeblasen.<br />

Alle fingen an, online über Politik zu diskutieren. Das Ergebnis<br />

ist ein großes Stimmengewirr, alle reden wild durcheinander.<br />

Für den Einzelnen ist es heute schwer, sich Gehör zu<br />

verschaffen. Noch dazu hatten die Aktivisten der ersten Stunde<br />

gelernt, online verfügbaren Informationen zu misstrauen, weil<br />

regimetreue Nutzer sich einschleusen wollten – mir wurde zum<br />

Beispiel einmal eine falsche Information zugesteckt, damit ich<br />

durch die Veröffentlichung meine Glaubwürdigkeit verliere. Deshalb<br />

haben wir gelernt, Informationen vor der Veröffentlichung<br />

zu überprüfen. Die neuen User sind leider nicht so versiert.<br />

Wie kann man dieser Entwicklung entgegentreten? Wir<br />

brauchen eine Massenkampagne, um den Leuten Reflexe beizubringen<br />

– und sei es, dass sie ein Foto durch eine einfache Webrecherche<br />

überprüfen, bevor sie es weiterverbreiten. Es ist schon<br />

vorgekommen, dass ein Bild einer Frau mit entstelltem Gesicht<br />

online auftauchte, mit der Aussage, dass sie angeblich von Salafisten<br />

zusammengeschlagen worden sei. Aber dann fand man dasselbe<br />

Foto im Internet wieder, und es stellte sich heraus, dass es<br />

sich um eine Spanierin handelte, die 2005 von ihrem Ehemann<br />

geschlagen worden war. Solche Falschinformationen verderben<br />

die Informationsströme.<br />

Kommt Bloggern wie Ihnen dabei nicht eine besondere Verantwortung<br />

zu? Ein paar Organisationen versuchen, eine Arbeitsethik<br />

für Blogger zu etablieren, und es gibt auch die Idee,<br />

Blogs nach der Vertrauenswürdigkeit ihrer Inhalte zu zertifizieren.<br />

Die »Vereinigung tunesischer Blogger« etwa will ein Gütesiegel<br />

für Blogs schaffen, die gewisse Standards befolgen. Aber noch<br />

streitet der Verein über die Details. Wenn man aus einer eher anarchischen<br />

Ecke kommt wie wir, ist es gar nicht so einfach, sich in<br />

die Strukturen eines eingetragenen Vereins einzufügen. Es gibt<br />

noch viel zu tun.<br />

Abgesehen davon, sind Netzaktivisten heute genauso umtriebig<br />

wie vor der Revolution? Leider beobachten wir zurzeit,<br />

dass Machenschaften ähnlich denen von Ben Ali zurückkehren.<br />

Einige Parteien, allen voran die islamistische Ennahda, haben<br />

eine Art Cybermiliz geschaffen, die sich mit allen Mitteln auf Oppositionelle<br />

stürzt und vehement auf Kritik an ihrer Partei reagiert.<br />

Sie überschwemmt die sozialen Netzwerke wie zum Beispiel<br />

Facebook mit falschen Profilen. Auf speziellen Seiten listet<br />

diese Cybermiliz dann alle Blogbeiträge, Tweets und so weiter<br />

namentlich auf, die sie mit einer Suche nach Stichworten wie<br />

»Ennahda« findet. Wenn man dann einen Eintrag schreibt, in<br />

dem das Stichwort vorkommt, bekommt man plötzlich 20 Kommentare,<br />

die das gerade Geschriebene verurteilen und den Autor<br />

verunglimpfen. Der Durchschnittsnutzer sieht das auf meinem<br />

Profil und denkt sich: »Ah, Hamadi Kaloutcha kritisiert Ennah-<br />

da, aber er ist in der Minderheit.« Diese Strategie verfehlt ihre<br />

Wirkung nicht. Man will die Masse manipulieren – ähnlich wie in<br />

China. Kritik wird aufgespürt und unter einem Meer von Kommentaren<br />

begraben.<br />

Gelingt es den Aktivisten, sich außerhalb des Internets, auf<br />

der politischen Bühne, Gehör zu verschaffen? Ja, einige haben<br />

sich sogar bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung<br />

aufstellen lassen. In die Politik zu gehen, gestaltet sich<br />

aber eher schwierig. Astrubal, ein Gründer des Bloggerkollektivs<br />

Nawaat.org, hat sich in seiner Heimatstadt nominieren lassen.<br />

Aber während er in unserer Bewegung sehr wichtig ist, ist er dem<br />

Mann auf der Straße unbekannt. Er ist nicht gewählt worden. Ein<br />

weiteres Problem ist, dass die Presse revolutionäre Mythen<br />

schafft. Da wird der Einfluss Einzelner aufgeblasen, oder es werden<br />

vollkommen fiktive Aktivistenkarrieren erfunden. Da erklären<br />

manche sich plötzlich zu Internetaktivisten und werden zu<br />

Fernsehsendungen in Frankreich eingeladen, wo sie dann über<br />

ein Thema reden, das sie gar nicht kennen! Neulich brachte Le<br />

Monde ein seitenlanges Porträt über eine junge Aktivistin, die<br />

kein Mensch kennt. Andererseits hat sich letztens ein junger Tunesier,<br />

der sehr aktiv im Netz war, anscheinend aus Frustration<br />

über die Entwicklungen seit der Revolution erhängt. Und schließlich<br />

halten sich die Gerüchte, wir wären alle CIA-Agenten.<br />

»Alle reden durcheinander, es ist schwer,<br />

sich Gehör zu verschaffen«<br />

Solche Schmutzkampagnen beschränken sich ja nicht auf<br />

Internetaktivisten ... Das ist richtig. Die Toten der Revolution<br />

werden als Plünderer dargestellt, die auf frischer Tat ertappt worden<br />

sind; ihre Familien als Leute, die den Tod eines Angehörigen<br />

zu Geld machen wollen. Niemand will mehr etwas mit der Revolution<br />

zu tun gehabt haben. Manchmal bekommt man den Eindruck,<br />

sie wäre ganz von allein passiert.<br />

Die Internetaktivisten spielen also nicht mehr die gleiche<br />

Rolle wie zuvor? Die Verhältnisse haben sich geändert. Heutzutage<br />

spielen sie vor allem in der Provinz eine wichtige Rolle. Ein<br />

Beispiel hierfür sind die Bürgerjournalismus- Clubs, die Nawaat.<br />

org gegründet hat – etwa in Makthar, einer Kleinstadt im Westen,<br />

wo der Club rund 30 junge Menschen versammelt. Beim letzten<br />

Regen wurde in der Stadt der Marktplatz überschwemmt, so wie<br />

schon die Jahre zuvor. Die Bürgerjournalisten haben darüber eine<br />

kleine Reportage gemacht, die sie im Netz veröffentlicht haben.<br />

Über den Wirbel, den dieses Video verursachte, war der Bürgermeister<br />

alles andere als glücklich. Auch weil er meinte, die jungen<br />

Leute hätten eher ihn fragen sollen, als das Video gleich online zu<br />

stellen. Daraufhin organisierten die Bürgerjournalisten ein Treffen<br />

zwischen den Marktleuten und dem Bürgermeister, das live<br />

im Internet übertragen wurde. Anscheinend war das Treffen, in<br />

dem der Bürgermeister ein Budget für die Sanierung des Marktplatzes<br />

zusagte, ein echter Straßenfeger. Seither haben die Institutionen<br />

der Stadt großen Respekt vor der Gruppe. Lokal können


114 KULTUR · KALENDER<br />

Verfluchtes Land<br />

Ein Dossier zum Nahostkonflikt<br />

AUSBLICK<br />

Verruchtes Istanbul<br />

Prostitution in der Türkei<br />

Samba Aleikum<br />

Brasiliens Geschäfte in Nahost und Afrika<br />

UNSERE TERMINVORSCHLÄGE<br />

IMPRESSUM<br />

VORTRÄGE/KONGRESSSE/SEMINARE<br />

Fluchtburg Europa?<br />

Zuwanderung und Asyl in der Europäischen Union<br />

12. bis 14.10.2012, Kochel am See<br />

Nur 13 Kilometer beträgt die Entfernung zwischen<br />

dem ärmsten und dem reichsten Kontinent. Immer<br />

mehr Flüchtlinge versuchen, unter Todesgefahr nach<br />

Europa zu gelangen. Obwohl die Zahl grenzüberschreitender<br />

Migranten nur 2,5 Prozent der Weltbevölkerung<br />

beträgt, entwickelt sich die Situation an<br />

den Einfallstoren Europas immer dramatischer. Auf<br />

den Menschenschmuggel reagiert die EU mit einem<br />

umstrittenen Grenzsicherungssystem. Migration ist<br />

ein gesellschaftspolitisches Zukunfts- und Querschnittsthema,<br />

das die Mitgliedsstaaten in unterschiedlicher<br />

Weise betrifft.<br />

Georg-von-Vollmar-Akademie<br />

www.vollmar-akademie.de<br />

Auseinandersetzung mit religiösem Fundamentalismus<br />

– kein Phänomen nur des Islams<br />

5. bis 7.11.2012, Würzburg<br />

Die Anschläge in Norwegen 2011 schoben die Auseinandersetzung<br />

mit einem fundamentalistischen<br />

Christentum in Europa an. Ein Gedanke, der bisher<br />

weitläufig ausgeblieben war. Das Seminar behandelt<br />

derartige Bewegungen in den großen Religionen.<br />

Akademie Frankenwarte<br />

www.frankenwarte.de<br />

AUSSTELLUNGEN<br />

Das Koloniale Auge<br />

Frühe Porträtfotografie in Indien<br />

bis 21.10.2012, Berlin<br />

Erstmals wird einer der weltweit bedeutendsten Bestände<br />

historischer Porträtfotografie Indiens präsentiert.<br />

Rund 300 Fotografien bieten einen umfassenden<br />

Überblick aus dem Subkontinent der zweiten<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts. Unter anderem sind<br />

Bilder namhafter Fotografen und Studios wie Samuel<br />

Bourne, Shepherd & Robertson, A.T.W. Penn und<br />

John Burke zu sehen. Ein verbindender Aspekt der<br />

ungeahnt facettenreiche ethnografischen Porträts<br />

ist meistens der spezifisch europäische Blick. Beobachten<br />

und Inventarisieren sollten im Dienste von<br />

Wissenschaft und Kolonialismus Land und Bewohner<br />

durchdringen.<br />

Staatliche Museen zu Berlin<br />

Museum für Fotografie<br />

www.smb.museum/smb/home/index.php<br />

Götterwelten<br />

bis 02.12.2012, Zürich<br />

Die Ausstellung Götterwelten führt anhand von in-<br />

dischen Malereien aus der Museumssammlung in<br />

verschiedene Aspekte der hinduistischen Götterwelt<br />

ein. Sie zeigt Darstellungen von Göttern und Göttinnen<br />

aus den unterschiedlichsten Richtungen des<br />

Hinduismus sowie von Schreinen und Pilgerorten.<br />

Museum Rietberg<br />

www.rietberg.ch<br />

Musibet<br />

Aestheticization of Context and Anti-Context in Design<br />

along the Axis of the Grand Transformation<br />

13.10. bis 12.12.2012, Istanbul<br />

Istanbul Modern zeigt eine der zwei Ausstellungen<br />

der 1. Istanbul Design Bienniale. »Musibet« problematisiert<br />

Prozesse urbaner Transformation in türkischen<br />

Städten. Aktuelle Phänomene wie wachsende<br />

soziale Ungleichheit, zeitgenössische Architektur<br />

und Stadtplanung zeigen paradoxe Entwicklungen:<br />

Ästhetisierung des Kontexts versus Akontextualität<br />

und Innovation.<br />

www.istanbulmodern.org<br />

www.istanbultasarimbienali.iksv.org<br />

KONZERTE<br />

Ensemble FisFüz & Gianluigi Trovesi<br />

ab 15.10.2012, Köln und andere<br />

Wenn sich Musik des Orients und volkstümliche Melodien<br />

Italiens verbinden und dann beides mit jazzigem<br />

Drive untermalt wird, entsteht ein faszinierender<br />

Sound. Und Klarinettenvirtuose Gianluigi Trovesi<br />

reißt gemeinsam mit dem Ensemble FisFüz das Publikum<br />

stets mit. Mit den Musikern treffen zwei<br />

Generationen zusammen, die mit der Authentizität<br />

ihres kulturellen Hintergrundes zusammenführen.<br />

www.fisfuez.de<br />

STUDIENREISEN<br />

Israel und Palästina<br />

11. bis 21.11.2012<br />

Heiliges Land, heiliger Krieg. Der Nahe Osten ist<br />

Schauplatz eines offenbar unlösbaren Konfliktes, der<br />

den Weltfrieden laufend gefährdet. Im Streit zwischen<br />

Israelis und Palästinenser haben auch mächtige<br />

internationale Interventionen noch keine Lösung<br />

gebracht. Gleichzeitig ist das Land außerordentlich<br />

reich an Geschichte und Kultur, ist Kristallisationspunkt<br />

dreier Weltreligionen. Die Studienreise führt<br />

durch das gesamte Land: von Tel Aviv über Ramallah,<br />

Jenin, Jerusalem bis nach Bethlehem.<br />

Staatspolitische Gesellschaft e.V.<br />

www.sghamburg.de<br />

Schreiben Sie uns! termine@zenithonline.de<br />

Deutscher Levante Verlag GmbH<br />

Chausseestraße 11, 10115 Berlin<br />

Telefon: +49 30 3983 5188 0<br />

Fax: +49 30 3983 5188 5<br />

info@levante-verlag.de<br />

Herausgeber: Moritz Behrendt, Yasemin Ergin,<br />

Daniel Gerlach, Christian Meier, Veit Raßhofer,<br />

Jörg Schäffer, Reiner Sprenger<br />

Verantwortlich für dieses Heft: Daniel Gerlach<br />

(V.i.S.d.P.), Christoph Dreyer (Leitung Wirtschaft),<br />

Christian Meier (Leitung Politik und Kultur), Marcus<br />

Mohr (Chef vom Dienst)<br />

Redaktion: Florian Bigge, Marian Brehmer,<br />

Sümeyye Celikkaya, Robert Chatterjee,<br />

Bettina David, Wiebke Eden-Fleig, Sören Faika,<br />

Laura Ginzel, Sven Hirschler, Elisabeth Knoblauch,<br />

Nils Metzger, Matthias Naue, Dominik Peters,<br />

Özgür Uludag, Sara Winter Sayilir; Beirut: Björn<br />

Zimprich, Jerusalem: Christoph Dinkelaker;<br />

Kairo: Philipp Spalek<br />

Autoren: Christopher Davidson, Stefan Dölling,<br />

Matti Friedman, Dr. Gerhard Fulda, Achmed A.W.<br />

Khammas, Ulrich Kienzle, Stefan Kreutzer,<br />

Johanne Kübler, Dr. Wim Raven, Friedrich Schulze,<br />

Dr. Johannes Vesper, Wladimir van Wilgenburg,<br />

May-Britt Wulf<br />

Fotografen: Philipp Breu, Benjamin Hiller,<br />

Stefan Maurer, Andy Spyra<br />

Illustrationen: Amatir<br />

Bildchef: Marcel Mettelsiefen<br />

Artdirektion:<br />

Grafik: Lesprenger<br />

Druck: GCC GmbH & Co. KG, Calbe<br />

Dankeschön: Alaa al-Bahadli, Margot Klingsporn,<br />

Raha Namwar<br />

Anzeigenkontakt: anzeigen@zenithonline.de<br />

Periodizität: zweimonatlich<br />

Copyright: Deutscher Levante Verlag GmbH<br />

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nicht aber unbedingt die der Redaktion.<br />

Gegründet 1999<br />

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und im Z eitschriftenhandel.<br />

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