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Ausgabe 011 März 2013 - Armutsnetzwerk

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Seite 3 und 14<br />

Neuer Sprecher der<br />

Nationalen Armutskonferenz<br />

<strong>Ausgabe</strong> <strong>011</strong> März <strong>2013</strong><br />

NETZEIT<br />

EINE ZEITUNG DES ARMUTSNETZWERKS


Inhaltsverzeichnis:<br />

Neuer Sprecher der Nationalen Armutskonferenz .................................................... 3<br />

Ende der Schönfärberei................................................................................................... 3<br />

Jannek der Pole ............................................................................................................. 4<br />

Tot! Mausetot könnte er sein ....................................................................................... 6<br />

Die Frau, die einfach nur lebte ................................................................................... 8<br />

Neuer Sprecher der<br />

Nationalen Armutskonferenz<br />

Neuer Sprecher der Nationalen Armutskonferenz ist seit dem 1. März <strong>2013</strong> Joachim Speicher,<br />

Geschäftsführender Vorstand des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Hamburg.<br />

Der 52-jährige Diplom-Pädagoge wurde in Berlin zum Nachfolger von Thomas Beyer gewählt. Als<br />

stellvertretende Sprecher der Armutskonferenz wurden Werena Rosenke (Bundesarbeitsgemeinschaft<br />

Wohnungslosenhilfe), Kurt Klose (Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung) und Michael<br />

Schröter (Diakonie Bundesverband) gewählt.<br />

Schwerpunktthemen seiner Amtszeit sieht Speicher im Kampf gegen die wachsende Kinder- und<br />

Altersarmut und für mehr Bildungsungerechtigkeit. Zudem müssten Schritte gegen die dramatischen<br />

Lage auf dem Wohnungsmarkt unternommen werden. Die Gesellschaft sei tief gespalten. Begründet<br />

sei das mit einer wachsenden Perspektivlosigkeit für Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen<br />

Ungarische Regierung tritt Menschenrechte mit Füßen .......................................... 10<br />

Ein menschenwürdiges Leben für alle....................................................................... 12<br />

Kulturloge in Sulingen ................................................................................................. 15<br />

.<br />

Liste der sozialen Unwörter ........................................................................................ 16<br />

Sozialrecht ................................................................................................................... 18<br />

Lesen Sie mehr auf Seite 14<br />

Pressemeldung der Nationalen Armutskonferenz (nak)<br />

Nationale Armutskonferenz (nak) fordert ein<br />

Ende der Schönfärberei und die Einsetzung einer<br />

unabhängigen Expertenkommission<br />

Armutszeugnis für die Bundesregierung: Nationale<br />

Armutskonferenz (nak) fordert ein Ende der<br />

Schönfärberei und die Einsetzung einer unabhängigen<br />

Expertenkommission<br />

Die Nationale Armutskonferenz (nak) fordert<br />

die Bundesregierung zu einem schonungslosen<br />

und unzensierten Armuts- und Reichtumsbericht<br />

auf. Die Regierung dürfe die Bevölkerung nicht<br />

länger für dumm verkaufen, sondern müsse<br />

endlich die Missstände hierzulande auch beim<br />

Namen nennen. Wenn die Regierung nach dem<br />

monatelangen Streit nur einen beschönigten<br />

Armuts- und Reichtumsbericht veröffentliche, müsse<br />

umgehend eine unabhängige Expertenkommission<br />

zur schonungslosen Bestandsaufnahme eingesetzt<br />

werden.<br />

„Die Bundesregierung verschleiert bewusst die<br />

Wahrheit: Reiche werden immer reicher und die<br />

Armen immer ärmer. Und die Politik schaut dieser<br />

Entwicklung tatenlos zu und sie versucht, diese unter<br />

den Teppich zu kehren“, sagt Joachim Speicher, neuer<br />

Der Armuts- und Reichtumsbericht sei ein<br />

Armutszeugnis für die Bundesregierung, so Speicher<br />

weiter, die sichtlich Angst vor der unbequemen<br />

Wahrheit habe. Denn sonst würden die Rufe und<br />

Forderungen nach einer Vermögensumfairteilung,<br />

wie z.B. nach einer Reform der Erbschaftssteuer,<br />

Vermögenssteuer oder der Rente, unüberhörbar<br />

werden und die Bundesregierung in Zugzwang<br />

bringen.<br />

Die Nationale Armutskonferenz hat bereits im<br />

Oktober ihren Schattenbericht als Gegenstück<br />

zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt.<br />

Der Schattenbericht benennt die Missstände ohne<br />

Umschweife und lässt vor allem diejenigen zu Wort<br />

kommen, die von Armut betroffen sind – statt nur von<br />

ihnen zu handeln. „Die im Schatten sieht man nicht“<br />

ist als Sonderausgabe der Berliner Straßenzeitung<br />

„Straßenfeger“ erschienen.<br />

Nationale Armutskonferenz<br />

2 3<br />

Sprecher der nak.


Zwei Reportagen des Leiters der Bahnhofsmission Zoo in Berlin:<br />

Jannek, der Pole<br />

Und Jannek baute langsam ab, schleichend, kaum zu<br />

merken. Plötzlich konnte er kaum noch laufen, saß<br />

nur noch herum, auch nicht mehr vor unserer Tür, aber<br />

einige Meter entfernt am Anfang der Jebensstraße.<br />

Die Lüftungsschächte der U Bahn wurden sein<br />

Stammplatz, die warme Luft von unten wärmte.<br />

Vermutlich nicht nur seinen Körper, auch seine Seele<br />

wurde so wohl gelegentlich gestreichelt. Und sonst<br />

gab es ja auch noch die Wärme des Alkohols.<br />

Jannek vor dem Bahnhof Zoo<br />

22.00 in meiner Küche in Charlottenburg. Das war<br />

kein guter Tag, das kann kein guter Abend werden.<br />

Eine eigentümliche Mischung aus Trauer und Wut<br />

in mir. Die Wut überwiegt etwas, ich könnte gegen<br />

den Schrank treten.<br />

Als ich vor guten 3 Jahren in der Bahnhofsmission<br />

Zoo zu arbeiten anfing, war er schon da, morgens<br />

wenn ich kam und abends wenn ich ging. Jeden Tag.<br />

Immer. Meist blieb er draußen, selten kam er herein,<br />

stand immer vor der Tür, solange er konnte.<br />

Im letzten Jahr lag er mehr da. Essen erhielt er von<br />

uns, Bekleidung, suchte den Schutz vor der Tür, das<br />

Gespräch, auch Nähe. War immer freundlich, sein<br />

spitzbübisches Lächeln hatte Charme. Es sind die<br />

Augen, bei einigen strahlen sie, seine funkelten. Er<br />

hatte immer gute Laune, machte immer Späßchen.<br />

Wenn er nüchtern war, verstand ich ihn, betrunken<br />

nuschelte oder lallte er doch sehr.<br />

Betrunken war er übrigens oft. Obdachlos, mittellos<br />

– aber irgendjemand hatte immer Geld, für ein<br />

Tetrapack Glühwein, 1,29.- der Liter bei Ullrich,<br />

an besseren Tagen auch Sangria oder Wodka. Die<br />

besseren Tage waren selten, der Rausch vermutlich<br />

ähnlich. Da saßen sie, Klaus, Kathi, Tommy, Jimmy,<br />

andere – und eben Jannek.<br />

.Jannek der Pole, nicht abwertend gemeint, eher ein<br />

Pole, der geschätzt wurde, von vielen, eigentlich<br />

von allen.<br />

Klaus, Klaus der Franke, starb im letzten Jahr mit<br />

38 Jahren auf der Straße, Alkohol und Drogen und<br />

das harte Leben so, kein außergewöhnlich junger<br />

Tod. Wir brachten ein Bändchen für ihn an unserem<br />

Abschiedsbaum vor der Tür an, in den bayerischen<br />

Farben.<br />

„Was wollen die hier in Berlin, die Polen, die<br />

Osteuropäer? Warum bleiben sie nicht zuhause?“,<br />

wurde ich gestern auf einer Diskussionsveranstaltung<br />

gefragt.<br />

„In Ruhe sterben“ hätte ich heute geantwortet.<br />

Geholfen wird ihnen, auch vielen wohnungslosen<br />

Deutschen übrigens leider noch oft zu wenig. Ziemlich<br />

gutes Hilfenetz in Berlin, „das wohl beste in Europa.<br />

Notübernachtungen, Kältebusse, Streetworker,<br />

Wohnprojekte und die Bahnhofsmission gibt es<br />

woanders nicht“, sage ich doch oft selbst.<br />

Aber so ist das mit Netzen, sie haben Lücken. Die<br />

wohl größte Lücke ist der Zeitfaktor, reparieren sie<br />

mal ein Auto mit Totalschaden in einer Stunde. Und<br />

ein Sozialarbeiter, der mehr Zeit hat, ist fast ein<br />

Sechser im Lotto. Denn Zeit kostet Geld – und Geld<br />

ist kaum vorhanden!<br />

„Ihnen fehlt der professionelle Abstand“, höre ich<br />

jetzt etliche sagen. Richtig. Heute, nach diesem Tag,<br />

an diesem Abend möchte ich das aber auch bitte so.<br />

Jannek ist verfault, erfrorene, eiterige, wunde Füße,<br />

ein offener Po, Auswirkung seiner Inkontinenz, Läuse<br />

und die Krätze und andere Hautkrankheiten, er löste<br />

sich langsam auf. Sein Körper zersetzte sich einfach<br />

vor seinem Tod, verkehrte Zeitfolge, man sah es<br />

manchmal, ihm setzte das zu.<br />

Und so wurden die Schritte in seinem Bereich immer<br />

schneller, das hält doch niemand aus, da will doch<br />

niemand hin- und zusehen.<br />

Ich auch nicht.<br />

Baum der Erinnerung<br />

Deshalb die Wut. Etwas gegen die Systeme, viel<br />

aber auch gegen mich. Bin ich der Leiter der<br />

Bahnhofsmission Zoo oder nicht?! Die Welt retten<br />

können und wollen wir, ich, doch gar nicht. Das<br />

Sterben direkt vor unserer Tür zu verhindern, wäre<br />

doch aber ein hübscher Anfang.<br />

Am 22. Januar wurde er in ein Krankenhaus<br />

eingeliefert, das war nicht leicht, am 23. Januar<br />

verstarb er. Die Lunge. Nicht nur äußere Schäden.<br />

Wir werden für Jannek ein Bändchen am Baum<br />

anbringen in den polnischen Farben, unser Pfarrer<br />

wird zu einer kleinen Trauerfeier einladen, das<br />

macht er richtig gut, „Sacrifice“ von Sinead<br />

O`Connor, Leberwurstbrote, Jimmy, Kathi und<br />

andere Weggefährten. Es werden Tränen fließen. Ob<br />

sie trösten, ob Jesus das tut? Schauen wir mal. Alles<br />

sollte man ihm aber auch nicht überlassen.<br />

4 5<br />

.


Am 1. April starten wir, die Berliner Stadtmission hat<br />

das heute entschieden, weil Spender es ermöglicht<br />

haben, mit dem Projekt der Mobilen Einzelfallhelfer:<br />

Fachkollegen gehen auf die Straße, kümmern sich<br />

um die, die wir aufgegeben haben, die, die sich<br />

auflösen. Sie haben einen Luxus im Gepäck. Zeit für<br />

den Einzelnen. Wir vertrauen und wissen, das hilft!<br />

Nicht immer, nicht jedem aber sehr oft und vielen.<br />

Leider zu spät für Klaus und Jannek<br />

Tot!<br />

Mausetot könnte er sein.<br />

Das Krankenhaus half gut, aber nur 6 Tage und man<br />

entließ Hermann zur weiteren, ambulanten, ärztlichen<br />

Nachbetreuung. Hätte klappen können, mit Ausweis,<br />

Krankenversicherung und 10.- Praxisgebühr. Hatte<br />

Hermann aber nicht. Auch kein Sofa, auf dem der<br />

sich ausstrecken konnte, um die Füße zu schonen.<br />

Und die wurden wieder wund, schließlich blutig.<br />

Hermanns Entsetzen war groß, als beim Ausziehen<br />

der Socken die Haut daran klebte. Größer, als ihm<br />

weder der herbeigerufene Krankenwagen, noch<br />

später das Krankenhaus half.<br />

„Sie sind doch kein Notfall.“ Das glaubte Hermann<br />

dann schließlich auch und zog sich für 3 Tage<br />

auf eine Friedhofstoilette zurück, versuchte an<br />

der Heizung, seine nässenden, eiternden Füße zu<br />

trocknen. Als das nicht klappte, blieb der Fußweg<br />

zur Bahnhofsmission Zoo.<br />

Und dann hätten wir ihn bestattet. Kleine Feier in der<br />

Bahnhofsmission, einige Weggefährten, berührende<br />

Andacht durch unseren Wohnungslosenpfarrer,<br />

traurige Geschichten über ihn, sicher wären Tränen<br />

geflossen. War ja auch ein netter Kerl, hübsches<br />

Lächeln, immer ein netter Spruch auf den Lippen –<br />

Typ Kumpel halt. „Zu jung…“, hätten viele gesagt.<br />

Und dann wären wir vor die Tür getreten und hätten<br />

ein neues Bändchen an unserem Abschiedsbaum für<br />

verstorbene, wohnungslose Menschen angebracht.<br />

Den pflanzten wir im letzten April. Einige Bänder<br />

sind schon daran.<br />

Dann wäre es weiter gegangen.<br />

Es kam anders.<br />

„Hermann aus dem Grunewald“ ist schon eine kleine<br />

Berühmtheit in der Stadt. Zeitungen und Fernsehen<br />

berichteten über ihn: „Der glückliche Einsiedler aus<br />

dem Wald – freiheitsliebend und unabhängig.“ Fast<br />

konnte man neidisch werden.<br />

Dann kam der 6. Dezember des letzten Jahres, dann<br />

waren da morgens plötzlich die erfrorenen Füße und<br />

es kam die Erkenntnis: „Verdammt, ich hätte sterben<br />

können.“<br />

Hermann sah erbärmlich aus, abgemagert, schwach,<br />

krank. Und unser Schrecken war groß, wähnten wir<br />

ihn doch im Krankenhaus, immerhin hatten wir den<br />

Krankenwagen für ihn gerufen. Was tun? Unser<br />

Vertrauen in die ärztliche Versorgung wohnungsloser<br />

Menschen hatte Schiffbruch erlitten. Wir wussten,<br />

es gibt gute ambulante Notversorgungen – was uns<br />

fehlte, war ein Bett und fürsorgliche Betreuung für<br />

Hermann.<br />

Nun hat die Bahnhofsmission Zoo 3 kleine<br />

Hinterstübchen, die wir bahnreisenden Menschen,<br />

die in Not geraten sind, zur Verfügung stellen. Die<br />

oft, aber nicht immer ausgelastet sind… Und so zog<br />

Hermann kurzfristig bei uns ein.<br />

Der Rest ist schnell erzählt: Hermann fand in Sonja,<br />

sie ist eine unserer 85 ehrenamtlichen Helferinnen,<br />

eine echt gute Pflegerin, die ihn mehrfach täglich<br />

versorgte, sich um ihn kümmerte, Verbände<br />

wechselte, freundliche Gesprächspartnerin war,<br />

Zeit und Liebe für Hermann aufbrachte. Einige<br />

Profis gab es auch noch im Hintergrund (danke an<br />

Jenny De la Torre und die Caritas Arztambulanz für<br />

wohnungslose Menschen!!!).<br />

Kein Wunder, normale gute Fürsorge für einen<br />

Menschen, Hermann macht richtig gute Fortschritte,<br />

seine Genesung ist weit vorangeschritten, die Füße<br />

heilen, neue Hautschichten haben sich gebildet. Die<br />

„kleinen Hamsterbäckchen“ stehen ihm gut.<br />

Und weil die Tage so lang sind, konnten sie<br />

genutzt werden: der Personalausweis ist wieder<br />

vorhanden, Hermann ist erneut krankenversichert,<br />

ist beim Jobcenter gemeldet (danke – Ralf!).<br />

Selbstverständlichkeiten für viele. Aber nicht für<br />

wohnungslose Menschen.<br />

Obdachlos<br />

Hermann und ich sind einen Deal eingegangen. Bald<br />

besuchen wir ein Wohnprojekt im Betreuten Wohnen<br />

und dann heißt es Abschiednehmen. Und danach<br />

möchten wir Hermann hier nicht mehr am Bahnhof<br />

Zoo sehen. Höchstens 1 x im Jahr auf einen Kaffee.<br />

6 7<br />

Nachtrag:<br />

Dieter Puhl<br />

Wenn Hermann ausgezogen ist, soll in der<br />

Bahnhofsmission Zoo etwas umgebaut werden,<br />

wird ein kleines Krankenzimmer entstehen, für die<br />

Psychotischen, die Unverträglichen, die „Nicht-<br />

Wartezimmer-Tauglichen“, die Kranken und<br />

Geschwächten.


Die Frau die einfach nur lebte<br />

Darf man in einem Holzhaus wohnen, das<br />

kleiner ist als Nachbars Garage? Darf man<br />

so wenig arbeiten, wie man möchte? In einem<br />

oberschwäbischen Dorf praktiziert eine Frau<br />

ihre ganz persönliche Sozialreform.<br />

Wenn Anne Donath abends Licht braucht, greift sie<br />

in eine Schublade. Dort liegen die Streichhölzer<br />

für die Kerzen. Wenn sie im Sommer etwas kochen<br />

möchte, geht sie vor die Tür. Dort ist die Feuerstelle,<br />

drei große Steine, auf denen der Topf steht. Wenn sie<br />

in ihrem Haus vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer<br />

will und von dort in die Küche, muss sie sich bloß<br />

einmal drehen. Es gibt nur ein Zimmer. Das Haus<br />

der Anne Donath ist aus Holz und eher eine Hütte,<br />

vier Schritte lang, vier Schritte breit. Es hat zwar<br />

moderne Dachziegel, wie sie der Bebauungsplan<br />

für diese Gegend vorsieht, doch so zu wohnen ist<br />

im Lebensplan der Menschen nicht vorgesehen.<br />

Die Menschen hier leben in Massivbauhäusern<br />

und fahren Mercedes. Sie haben große Gärten und<br />

mähen samstags den Rasen, sie haben Vermögen<br />

und schauen abends im Fernsehen “Wer wird<br />

Millionär?”.<br />

Anne Donaths Leben aber ist geprägt vom<br />

Nichthaben. Kein Strom. Kein Telefon. Kein Gas.<br />

Und erst recht kein Auto. So lebt Anne Donath.<br />

Mitten in einer Einfamilienhaussiedlung. Mitten in<br />

einem oberschwäbischen Dorf. Und auf einmal auch<br />

mitten in einer gesellschaftlichen Debatte, die vor<br />

allem von einem Wort geprägt ist: Verzicht.<br />

Jahrzehntelang haben die Politiker in Deutschland den<br />

Menschen versichert, dass ihr Leben auch im Alter<br />

geordnet verlaufen werde, dass ihre Rente sicher sei.<br />

Nun erfahren diese Menschen, dass sie besser privat<br />

fürs Alter Vorsorgen. Nur wie? Mit Aktien haben<br />

viele viel Geld verloren. Die Lebensversicherungen<br />

zahlen weniger aus, als sie versprochen haben. Wie<br />

ein Bausparvertrag funktioniert, hat sowieso noch<br />

nie jemand durchschaut. Nur jeder Achte, heißt es<br />

in einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung,<br />

hat sich schon einmal Gedanken gemacht, wie viel<br />

Anne Donath hat nachgedacht. Sie hat überlegt,<br />

was sie zum Leben braucht und wie viel sie das<br />

kostet. Vor zehn Jahren nahm sie einen Kredit auf<br />

und kaufte sich dafür ein Grundstück, sie setzte ihr<br />

Blockhaus drauf und zahlte peu ä peu den Kredit<br />

zurück. Heute lebt sie von 370 Euro im Monat, dafür<br />

geht sie arbeiten. “Ich habe”, sagt die 54-Jährige,<br />

“meine Lebensumstände vereinfacht.” Vereinfachte<br />

Lebensumstände sind es zum Beispiel, wenn Anne<br />

Donath im Urlaub nach Griechenland will, aber nicht<br />

das Flugzeug, nicht die Bahn nimmt - sondern mit<br />

dem Fahrrad fährt. Vereinfachte Lebensumstände sind<br />

es auch, wenn dieses Fahrrad kein Mountainbike ist,<br />

kein Ultraleichtmodell mit 36 Gängen, mit dem man<br />

die Alpen in Richtung Süden überquert. Anne Donath<br />

ist vergangenes Jahr mit dem Fahrrad gefahren, das<br />

sie sonst auch benutzt: ein altes, kleines BMX-Rad,<br />

ohne Gangschaltung; nur einen neuen Sattel hat sie<br />

sich gegönnt. Bergauf musste sie schieben.<br />

So eine liegt uns auf der Tasche, sagen ein paar<br />

Leute im Ort.<br />

Es ist ein extremes Bild, das diese Frau den<br />

Menschen bietet, wie bei einem Zerrspiegel, in den<br />

man hineinschaut und nichts Vertrautes sieht, nur<br />

Sonderbares. Und wenn etwas sonderbar ist, schreckt<br />

es die meisten Menschen erst einmal ab. So eine liegt<br />

uns auf der Tasche, wenn das alle machen würden,<br />

wäre unsere Wirtschaft bald am Ende, sagen die<br />

einen im Ort. Es ist gut, dass sie wenigstens arbeitet,<br />

sagen die anderen, dort kann sie ab und zu duschen,<br />

und ein warmes Essen bekommt sie auch. Bad<br />

Schussenried, auf halber Strecke zwischen Biberach<br />

und Bodensee. “Barock, Bier und Betonmischer”,<br />

sagt der Bürgermeister, so lasse sich seine Stadt ganz<br />

gut beschreiben. 8500 Einwohner, ein altes Kloster<br />

mit spätbarockem Bibliothekssaal, eine Brauerei<br />

mit Biermuseum, draußen vor der Stadt baut die<br />

Firma Liebherr mit 500 Beschäftigten Betonmischer<br />

für die Welt. Im Büro des Bürgermeisters hängt<br />

das historische Stadtwappen, daneben leidet Jesus<br />

am Kreuz. Georg Beetz trägt Rollkragenpulli statt<br />

Krawatte und eine rahmenlose Brille, Modell Jürgen<br />

Schrempp.<br />

Er ist so etwas wie der Moderator im Strukturwandel,<br />

den jede Kleinstadt durchmachen muss. “Manche<br />

hier haben Angst vor den Veränderungen”, sagt<br />

er. An der Hauptstraße von Bad Schussenried<br />

entdeckt man noch immer die Informationstafeln<br />

der Vereine, der Liederkranz 1859 e. V. lädt zur<br />

Jahreshauptversammlung in den Wilden Mann. Am<br />

Stadtrand zieht Aldi einen großen Supermarkt hoch,<br />

das Hotel am anderen Ende von Bad Schussenried<br />

heißt Amerika. Am Anfang haben Anne Donath wohl<br />

alle für verrückt gehalten. Im Ortsteil Steinhausen<br />

wollte sie bauen. Der Ortschaftsrat verweigerte die<br />

Baugenehmigung. Dann gab das Kreisbauamt die<br />

Freigabe.<br />

Nur die Bank sagte nichts und gab Anne Donath<br />

Geld. Viel hat das Haus damals ja auch nicht gekostet:<br />

85000 Mark, inklusive Keller, Kamin und Bullerofen,<br />

dazu noch 50000 Mark für das Grundstück und<br />

die Erschließungskosten. So etwas finanziert jede<br />

Bank, wenn man die Grundschuld eintragen lässt,<br />

eine Lebensversicherung aufnimmt und ein solider<br />

Arbeitgeber das Gehalt garantiert. .<br />

Heute ist das kleine Blockhaus so etwas wie die<br />

Touristenattraktion von Steinhausen: Wenn im<br />

Gasthof Linde an der Hauptstraße eine Familienfeier<br />

stattfindet, nutzen die Menschen die Zeit zwischen<br />

Mittagessen und Kuchen und gehen “mal gucken,<br />

wo die Frau lebt”. Es sind nur ein paar Querstraßen<br />

zu Fuß.<br />

Anne Donath arbeitet als Krankenschwester im<br />

Zentrum für Psychiatrie von Bad Schussenried. Es<br />

ist, sagen die Leute dort, ein guter Arbeitgeber, der für<br />

seine Angestellten sorgt. Laut Vertrag arbeitet Anne<br />

Donath einen Tag pro Woche. De facto sieht das so<br />

aus: Im Sommer arbeitet sie als Urlaubsvertretung<br />

mehrere Wochen am Stück, dafür hat sie den<br />

Rest des Jahres frei. Macht einen Bruttolohn von<br />

monatlich 470 Euro - steuerfrei. Abgezogen werden<br />

ihr nur die Beiträge für die Renten-, Arbeitslosenund<br />

Krankenversicherung; das sind knapp 100 Euro.<br />

Gerade mal 33 Euro fallen jeden Monat an festen<br />

Kosten an: für die Gebäudeversicherung und die<br />

Grundsteuer, die Haftpflichtversicherung und den<br />

Kaminfeger, die Müllabfuhr und das Wasser, dazu<br />

für Holz, Schmierseife und Kerzen - und für die GEZ<br />

Anne Donath besitzt ein batteriebetriebenes Radio.<br />

Hinter dem Haus baut sie Gemüse an, Lauch,<br />

Zwiebeln, Tomaten und ein paar Kartoffeln, was der<br />

Garten eben so hergibt. Sie isst häufig Kartoffeln, am<br />

liebsten mit Zwiebeln, und weil der eigene Vorrat<br />

nicht reicht, muss sie nach einem langen Winter bei<br />

einer Freundin nachkaufen. Wenn Anne Donath das<br />

Abendessen vorbereitet, sitzt sie mit angezogenen<br />

Beinen auf dem Boden ihrer Hütte, barfuß, so wie<br />

sie meist auch herumläuft, man sieht das, ihre Füße<br />

sind rau und haben Schwielen. Das Haus ist sparsam<br />

möbliert: Neben der Tür der Bullerofen, auf dem<br />

jetzt Wasser kocht; daneben ein Korb voll Holz und<br />

altem Papier als Brennmaterial; zwei Regale mit<br />

Büchern, ein kleiner Schrank für die Lebensmittel<br />

und ihre Kleidung; eine Leine, an der sie im Winter<br />

die Wäsche trocknet; ein heller, flauschiger Teppich,<br />

auf dem sie tagsüber sitzt und liest und nachts schläft<br />

oder liest, wenn sie nicht schlafen kann.<br />

gekürzt von initiative.cc<br />

8 9


Offener Brief der FEANTSA (European Federation of National<br />

Organisations working with the Homeless)<br />

Ungarische Regierung tritt die<br />

Menschenrechte von wohnungslosen<br />

Bürgern mit Füßen<br />

An:<br />

alle Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten der EU;<br />

alle Ungarischen Botschaften in allen Mitgliedstaaten der EU;<br />

die Ungarische Vertretung bei den Vereinten Nationen (New York und Genf);<br />

den UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf angemessenes Wohnen;<br />

den UN-Sonderberichterstatter zu extremer Armut und Menschenrechten;<br />

die Mitglieder des Europäischen Parlaments;<br />

die EU-Kommissare Andor (Beschäftigung, Soziales und Integration) und Reding (Justiz);<br />

die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte;<br />

den Menschenrechtskommissar des Europarates;<br />

den Präsidenten des Europäischen Ausschusses für Soziale Rechte<br />

Brüssel, 1. März <strong>2013</strong><br />

Betreff:<br />

Erklärung gegen die anhaltende Verfolgung und Kriminalisierung wohnungsloser Menschen in<br />

Ungarn<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

Die Mitglieder von FEANTSA sind beunruhigt über die Kampagne der Ungarischen Regierung,<br />

wohnungslose Menschen ohne Unterkunft zu bestrafen und zu inhaftieren. In den vergangenen zwei<br />

Jahren hat die Ungarische Regierung systematisch schutzlose und in extremer Armut lebende Menschen<br />

angegriffen. Nun steht sie kurz davor, die Ungarische Verfassung in einer Abstimmung am 11. März<br />

dahingehend zu verändern, dass ein perverses Gesetz in Kraft treten kann, welches die rechtliche<br />

Verurteilung von Menschen erlaubt, die auf der Straße leben.<br />

... Ende 2<strong>011</strong> ... verabschiedete die Ungarische<br />

Regierung ihr ursprüngliches Gesetz, welches die<br />

Inhaftierung von Menschen erlaubte, die „schuldig“<br />

befunden wurden, Zweimal innerhalb von sechs<br />

Monaten ohne Unterkunft auf der Straße übernachtet<br />

zu haben. Jetzt ist die Situation noch schlimmer.<br />

Nach anhaltendem Protest von Zivilgesellschaft und<br />

Menschenrechtsorganisationen in Ungarn und ganz<br />

Europa hat der Ungarische Verfassungsgerichtshof<br />

das ursprüngliche Gesetz für ungültig erklärt.<br />

Daraufhin hat sich die Ungarische Regierung<br />

in einer perversen Logik entschieden, die<br />

Verfassung entsprechend abzuändern. Diese<br />

angestrebte Verfassungsänderung verstößt eindeutig<br />

gegen den Geist der vielen internationalen<br />

Menschenrechtsverträge, welche Ungarn unterzeichnet<br />

hat, darunter die Europäische Sozialcharta, die<br />

Europäische Menschenrechtskonvention, die<br />

Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, der<br />

Internationale Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen<br />

und kulturellen Rechte, und natürlich die Charta der<br />

Grundrechte der Europäischen Union.<br />

Wohnungslosigkeit ist eine inakzeptable Verletzung<br />

grundlegender Menschenrechte und der Menschenwürde<br />

und widerfährt nach wie vor Menschen in<br />

allen EU-Staaten. Sie ist einer der deutlichsten<br />

Indikatoren zunehmender Armut und sozialer<br />

Ausgrenzung. Wohnungslosigkeit hat weitreichende<br />

Folgen, sowohl für die einzelnen Betroffenen als<br />

auch für die gesamte Gesellschaft.<br />

Verschiedene Wege können in die Wohnungslosigkeit<br />

führen. Äußere Faktoren können strukturell sein:<br />

schlechter Zugang zu angemessenem, bezahlbaren<br />

Wohnraum; Arbeitslosigkeit; unsichere<br />

Beschäftigungsverhältnisse; Diskriminierung und<br />

Stigmatisierung.<br />

Diese Faktoren werden verschärft durch die<br />

gegenwärtige Wirtschaftskrise und Kürzungspolitik.<br />

Äußere Faktoren können auch institutionell sein:<br />

Entlassung aus Einrichtungen wie Gefängnisse,<br />

medizinische oder Jugend-Einrichtungen; schlecht<br />

strukturierte und verwaltete Versorgungssysteme;<br />

fehlende Koordinierung der sozialen Dienste.<br />

Häufig sind Erfahrungen wie Trennungen,<br />

Krankheit, Suchterkrankungen, Räumungen oder<br />

Gewalterfahrungen in Kombination mit äußeren<br />

Faktoren Ursache von Wohnungslosigkeit.<br />

Viele EU-Mitgliedstaaten verfolgen erfolgreich<br />

vielfältige Ansätze zur Bekämpfung von<br />

Wohnungslosigkeit. Die Kriminalisierung von<br />

wohnungslosen Menschen ist kein geeigneter Ansatz.<br />

Bestrafende Maßnahmen, welche wohnungslose<br />

Menschen stigmatisieren und kriminalisieren, sind<br />

grausam, da sie gerade die Schwächsten bestrafen.<br />

Solche Maßnahmen, seien es Strafgebühren, welche<br />

mittellose Menschen nicht bezahlen können, oder<br />

Verurteilungen wegen Ordnungswidrigkeiten oder<br />

ähnlicher Vergehen, machen es noch schwerer für<br />

diese Menschen, aus Situationen extremer Armut zu<br />

entkommen. Die Menschen erfahren ein zusätzliches<br />

Stigma, hohe bürokratische Hürden und Schulden,<br />

wenn sie versuchen sich in die Gesellschaft und den<br />

Arbeitsmarkt zu reintegrieren. Kriminalisierende<br />

Maßnahmen sind zudem ineffektiv, da sie darauf<br />

abzielen, das Problem der Wohnungslosigkeit zu<br />

verdecken, anstatt es tatsächlich zu lösen<br />

Was kann Ungarn also tun? Unzählige Beispiele<br />

aus Europa und aller Welt zeigen, dass integrierte<br />

Strategien gegen Wohnungslosigkeit erfolgreich sind,<br />

welche echte Wohnmöglichkeiten für wohnungslose<br />

Menschen im sozialen Wohnungsbau, betreutem<br />

Wohnen oder durch geförderten Wohnraum auf<br />

dem privaten Wohnungsmarkt bereitstellen. Solche<br />

Strategien sind nicht teurer, als die Polizei und<br />

Justiz dazu zu benutzen, wohnungslosen Menschen<br />

Geldstrafen aufzudrücken oder sie zu verhaften<br />

und einzusperren. Konkrete Fortschritte im Kampf<br />

gegen Wohnungslosigkeit können im Rahmen von<br />

ambitionierten und integrierten Strategien gegen<br />

Wohnungslosigkeit gemacht werden.<br />

Das Europäische Parlament erklärte seine<br />

Unterstützung für diesen Ansatz durch die<br />

Verabschiedung einer Resolution mit großer<br />

Mehrheit im September 2<strong>011</strong>, und forderte die<br />

Institutionen der EU und die Mitgliedstaaten dazu<br />

auf, Wohnungslosigkeit durch aktive Maßnahmen<br />

zu bekämpfen.<br />

FEANTSA sowie ihre Mitglieder möchten<br />

Sie bitten, uns in der Verurteilung dieses<br />

neuen Vorstoßes zur Kriminalisierung von<br />

Wohnungslosigkeit zu unterstützen, welcher das Tor<br />

zu Menschenrechtsverletzungen in der Ungarischen<br />

Verfassung öffnen würde. Wir fordern Ungarn auf,<br />

integrierte Strategien gegen Wohnungslosigkeit<br />

als einen sinnvollen und wirksamen Weg zur<br />

Beendigung dieser inakzeptablen Situation zu<br />

entwickeln.<br />

Mit freundlichen Grüßen .....<br />

10 11


Unser Ziel:<br />

Ein menschenwürdiges Leben für alle<br />

Um dem gesellschaftlichen Spaltungsprozess zwischen Arm und Reich<br />

entgegenzuwirken und die untere Auffanglinie für die Existenzsicherung<br />

neu zu bestimmen, fordern wir gemeinsam:<br />

1. Das soziokulturelle Existenzminimum<br />

darf nicht weiter mittels fragwürdiger<br />

Berechnungsmethoden festgesetzt werden.<br />

Es geht um ein Grundrecht unserer Verfassung,<br />

nicht um politische Opportunität und Kassenlage.<br />

Wir fordern eine methodisch saubere, transparente<br />

Ermittlung der Regelsätze und einen Verzicht auf<br />

willkürliche, sachlich nicht begründbare Abschläge.<br />

2. Die aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe<br />

(EVS) gewonnenen Daten<br />

müssen anhand weiterer Untersuchungen, die<br />

den tatsächlichen Bedarf ermitteln, auf ihre<br />

Plausibilität überprüft werden.<br />

Die statistischen Befunde zu den <strong>Ausgabe</strong>n der<br />

unteren Einkommensgruppen sind vielfach wenig<br />

geeignet, das soziokulturelle Existenzminimum zu<br />

ermitteln, weil die EVS-Daten eher den Mangel an<br />

Bedarfsdeckung bilden als den eigentlichen Bedarf.<br />

Außerdem wird das Minimum an zuverlässigen<br />

Daten in zu vielen Fällen zu weit unterschritten,<br />

um noch zu zuverlässigen Ergebnissen kommen zu<br />

können. Zu einer bedarfsgerechten Bestimmung<br />

der Regelsätze müssen die EVSErgebnisse mit<br />

den tatsächlichen aktuellen Lebenshaltungskosten<br />

abgeglichen werden.<br />

3. Die Defizite des gegenwärtigen Systems<br />

werden bei Kindern und Jugendlichen am<br />

offenkundigsten.<br />

Nach Verlautbarung der Bundesregierung hätten<br />

es die Daten der EVS 2008 sogar erlaubt, die<br />

Leistungssätze von Kindern und Jugendlichen<br />

ab Januar 2010 gegenüber 2009 zu senken. Das<br />

hatte mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun.<br />

Den Schritt, die Sätze Minderjähriger zu kürzen,<br />

vollzog die Bundesregierung zwar nicht, beschloss<br />

aber, die Beträge aus dem Jahr 2009 so lange<br />

beizubehalten, bis künftige Anpassungen aufgrund<br />

der Preis- und Lohnentwicklung die von ihr neu<br />

ermittelten niedrigeren Beträge über die Werte von<br />

2009 anheben.<br />

Wir fordern die sofortige Aussetzung dieser<br />

Regelung und die aktuellen Beträge entsprechend<br />

der Preisentwicklung fortzuschreiben. Um<br />

Regelsätze in einer Höhe festzulegen, die den<br />

tatsächlichen Mindestbedürfnissen von Kindern<br />

und Jugendlichen gerecht werden, fordern wir,<br />

deren Regelsätze bedarfsorientiert zu überprüfen.<br />

Zugleich ist die heutige Altersstaffelung und der<br />

Verteilungs-schlüssel von haushaltsbezogenen<br />

usgaben („Gemeinkosten“) zu hinterfragen.<br />

Das Beispiel Kinderernährung verdeutlicht, wie<br />

unzuverlässig die Ergebnisse sind, wenn sie wie<br />

heute ausschließlich aus der EVS ermittelt werden.<br />

4. Die jährliche Anpassung der Regelsätze sollte<br />

sich ausschließlich nach der Preisentwicklung der<br />

regelsatzrelevanten Güter richten.<br />

Der Bezug zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung<br />

ist durch die EVS als Basis der Regelsatzbestimmung<br />

gegeben. Eine zusätzliche Berücksichtigung der<br />

Unwägbarkeiten der Entwicklung von Löhnen und<br />

Abgaben ist nicht sachgerecht für die Ermittlung des<br />

Existenzminimums.<br />

5. Für langlebige Gebrauchsgüter, aufwändige<br />

Leistungen der Gesundheitspflege und bei hohen<br />

Mobilitätsanforderungen müssen Extraleistungen<br />

gewährt werden.<br />

Nicht alles ist pauschalierbar, gerade größere<br />

notwendige Anschaffungen sind aus dem Regelbedarf<br />

nicht zu finanzieren – auch weil sie mit den Methoden<br />

der EVS nicht so ermittelt werden können, dass sie<br />

dem konkreten Bedarfsfall gerecht werden.<br />

6. Das soziokulturelle Existenzminimum muss<br />

als Mindestanspruch allen zugestanden werden<br />

– egal, ob sie gerade über Erwerbseinkommen<br />

verfügen können oder nicht.<br />

Zu einem menschenwürdigen Leben gehört dies ebenso<br />

dazu wie faire Erzeugerpreise, existenzsichernde<br />

Erwerbseinkommen und Nachhaltigkeit als<br />

Qualitätsmaßstab für die benötigten Waren und<br />

Dienstleistungen.<br />

7. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges<br />

Existenzminimum gilt für alle hier lebenden<br />

Menschen.<br />

Das Asylbewerberleistungsgesetz ist abzuschaffen,<br />

der gleiche Zugang aller hier lebenden Menschen<br />

zu Leistungen nach dem SGB II und SGB XII ist<br />

sicherzustellen. Auf Arbeits- und Ausbildungsverbote,<br />

Residenzpflicht und Einweisung in Sammellager ist<br />

zu verzichten. Hier lebende Unionsbürger dürfen<br />

von der Existenzsicherung nicht ausgeschlossen<br />

werden.<br />

8. Die Entscheidung über das Existenzminimum<br />

muss der Gesetzgeber unter breiter gesellschaftlicher<br />

Beteiligung treffen.<br />

Bisher wird die Frage, was zum Leben mindestens<br />

erforderlich ist, faktisch weitgehend von der<br />

Ministerialbürokratie beantwortet. Wir wollen dies<br />

ändern und fordern die Einsetzung einer unabhängigen<br />

Kommission. Diese soll aus WissenschaftlerInnen,<br />

VertreterInnen von Wohlfahrts- und Sozialverbänden,<br />

den Sozialpartnern, Kommunen und nicht<br />

zuletzt Betroffenen selbst bestehen. Aufgabe der<br />

Kommission ist die Erarbeitung von Vorschlägen für<br />

den Gesetzgeber sowohl hinsichtlich der Parameter<br />

der EVS-Auswertung als auch der Überprüfung der<br />

EVS-Ergebnisse im Sinne eines „Bedarfs-TÜVs“.<br />

Eine bedarfsorientierte Überprüfung nach der<br />

Warenkorbmethode kann zudem die Ermittlung<br />

der Regelsätze von einer „technokratischen“<br />

Hinterzimmer- und Expertenentscheidung zu einer<br />

breiten gesellschaftlichen Debatte öffnen.<br />

Bündnis für ein menschenwürdiges<br />

Existenzminimum<br />

12<br />

.<br />

13


Turnusmäßiger Wechsel in der Nationalen<br />

Armutskonferenz<br />

Joachim Speicher führt Sprecherkreis an<br />

Die nächsten zwei Jahre obliegt die Geschäftsführung<br />

der Nationalen Armutskonferenz dem Paritätischen<br />

Wohlfahrtsverband Hamburg vom 1.März <strong>2013</strong> bis<br />

zum 28.Februar 2015.<br />

Dr. Thomas Beyer, scheidender 1.Sprecher der nak,<br />

begrüßte die Delegierten im Haus der IG Metall<br />

in der Alten-Jacob-Straße Berlin und eröffnete<br />

die Konferenz. Ganz oben auf der Tagesordnung<br />

stand der Geschäftsbericht. Öffentlichkeitswirksam<br />

brachte der Sprecherkreis die Arbeit der nak unter<br />

der Regie der Arbeiterwohlfahrt ein beträchtliches<br />

Stück nach vorne. Ein Highlight war die Herausgabe<br />

des Schattenberichtes als Pendant zum Armuts- und<br />

Reichtumsbericht der Bundesregierung. Mit einer<br />

Auflage von 20 000 Exemplaren in Zusammenarbeit<br />

des Berliner Straßenjournals „Straßenfeger“ wurden<br />

allein durch die Straßenzeitungsverkäufer 10 000<br />

Exemplare vertrieben.<br />

Ein weiterer Höhepunkt war die Einladung in das<br />

Bundespresseamtes, um zum Schattenbericht der<br />

nak Stellung zu beziehen. Nachdem Geschäftsbericht<br />

abgearbeitet war, kamen die Arbeitsgemeinschaften<br />

zu Wort. Insbesondere standen im Fokus die politische<br />

Strategie der nak. Hier könnte die Mainzer Erklärung<br />

als Modell dienen. In ihr werden die Politiker durch<br />

ihre Unterschrift in die Verantwortung genommen,<br />

um die Armut wirksam zu bekämpfen. Die AG trifft<br />

sich ein weiteres Mal um die Ansätze, die erarbeitet<br />

wurden weiterzuentwickeln.<br />

Armut bei Selbstständigen gewinnt immer<br />

mehr an Bedeutung auf Grund von Insolvenzen.<br />

Gesundheit und Grundeinkommen müssen ebenso<br />

weiterverfolgt werden um allen Menschen die auf<br />

Transferleistungen angewi,esen sind, ein Leben in<br />

Würde zu gewährleisten.<br />

Jürgen Schneider, Mitglied des <strong>Armutsnetzwerk</strong>es,<br />

erhielt eine der acht Plätze der deutschen EAPN<br />

Teilnehmer.<br />

Am zweiten Tag richtete Brigitte Döcker vom<br />

Bundesvorstand der Arbeiterwohlfahrt ein Grußwort<br />

an die Delegierten. Nach ihren Ausführungen<br />

standen Neuwahlen des Sprecherkreises an. So<br />

kandidierte Joachim Speicher vom “Paritätischen”<br />

als erster Sprecher. Er wurde einstimmig gewählt.<br />

Es bewarben sich für die 3 Stellvertreter jedoch 4<br />

Kandidaten. Michaela Hofmann und Dr. Gerhard<br />

Tabert standen nicht mehr zur Verfügung. An<br />

ihrer Stelle bewarben sich Kurt Klose (BAG<br />

Schuldnerberatung), Verena Rosenke (BAG<br />

Wohnungslosenhilfe), Michael Schröter (Diakonie)<br />

und Udo Engelhardt von den Tafeln. Im Wahlgang<br />

setzen sich Kurt Klose, Verena Rosenke und Michael<br />

Schröter durch. Joachim Speicher bedankte sich in<br />

seiner Dankesrede für das Vertrauen. Weiter führte er<br />

aus, dass in der Amtsperiode von Dr. Thomas Beyer<br />

die Messlatte sehr hoch lag. Der neue Sprecherkreis<br />

mit seinem Presse-und Öffentlichkeitsarbeiter<br />

Christian Böhme und Geschäftsführerin Sylke<br />

Känner setzt die Arbeit nahtlos fort.<br />

r.Werner Franke<br />

„Kulturloge“ neu in Sulingen<br />

Zwei Mädchen machen sich hübsch. Bluse, Rock, Make-up, Frisur, die Pumps – alles soll passen,<br />

schließlich gehen sie ins Theater. Gegeben wird „Romeo & Julia“, die beiden freuen sich über einen<br />

gelungenen Theaterabend.<br />

Für beide eine Ausnahme, die Theaterkarten hätten sie sich nicht leisten können. Dass sie aber<br />

dennoch im Parkett Platz nehmen konnten, verdanken sie der „Kulturloge Sulingen“.<br />

Die Idee der „Kulturloge“ wurde im Jahr 2010<br />

in Marburg entwickelt, von Astrid Wetzel, die<br />

kulturelle Eintrittskarten an Menschen mit geringem<br />

Einkommen vermitteln wollte. Den Verein<br />

„Kulturloge“, der daraus entstand, führt heute Hilde<br />

Rektorschek, die 2012 zu Gast war in Sulingen, als<br />

das hiesige <strong>Armutsnetzwerk</strong> gegründet wurde.<br />

Ilse Plate, beruflich bereits sensibilisiert für sozial<br />

Benachteiligte der Gesellschaft, trug diese Idee in<br />

den Kreis von Freundinnen – die für die „Kulturloge<br />

Sulingen“ umgehend den roten Teppich ausrollten:<br />

„Da machen wir mit.“<br />

So professionell das Marburger Original heute<br />

arbeitet, davon ist die Sulinger Dependance<br />

noch entfernt. Aber nicht weniger engagiert: 17<br />

Kulturgäste stehen bereits in der Datei, weitere<br />

können sich jederzeit gerne melden. Sofort<br />

begeistert von der Idee war Ariane Hanselmann,<br />

Geschäftsführerin des Kulturvereins Sulingen. Eine<br />

Anzahl nicht verkaufter Karten abzugeben, für einen<br />

guten Zweck, gefiel ihr. Dann sitzen Menschen im<br />

Publikum, die die Vorführung genießen, die Akteure<br />

schauen auf gefüllte Reihen – perfekt.<br />

Weitere Veranstalter wurden von der „Kulturloge<br />

Sulingen“ bereits angefragt. Neben dem Kulturverein<br />

hat das „Spieleparadies Ballorig“ zugesagt, das<br />

Jugendzentrum Sulingen für die dortigen Konzerte,<br />

die Theatergruppe Eschbachtal und die „Schmalver<br />

Plattschnackers“. Kulturgäste gibt es in allen<br />

Altersklassen, insbesondere Senioren, deren Rente<br />

für einen Besuch einer kulturellen Veranstaltung<br />

nicht reicht, sollten sich nicht schämen, sich<br />

anzumelden.<br />

Neben Ilse Plate arbeiten Heike Ahlborn, Bärbel<br />

Henke und Iris Korte ehrenamtlich für die „Kulturloge<br />

Sulingen“. Sponsoren, die die Arbeit finanziell<br />

unterstützen möchten, wenden sich bei weiteren<br />

Fragen gerne an Plate und Ahlborn, die unter Tel.<br />

0 42 73 / 97 93 65 ab 18 Uhr zu erreichen sind.<br />

Interessierte, die als Kulturgäste aufgenommen<br />

werden möchten, die füllen die Anmeldung aus, die<br />

bei verschiedenen sozialen Institutionen in Sulingen<br />

ausliegt<br />

. Die Kulturgäste müssen nicht fürchten, bloßgestellt<br />

zu werden, die Abwicklung wird stets sehr diskret<br />

vorgenommen.<br />

„Die Kulturloge möchte behutsam, würdevoll und<br />

nachhaltig arbeiten. Kinder, Jugendliche, Familien<br />

mit Kindern, alleinerziehende Elternteile sollen in<br />

die Kulturlandschaft eingebunden werden“, heißt es<br />

aus Marburg. Und jetzt auch in Sulingen.<br />

Von Sylvia Wend, Kreiszeitung Sulingen<br />

14 15


Liste der sozialen Unwörter<br />

„Sozial Schwache“: nak-Mitglieder sammelten irreführende und abwertende Begriffe – nak-Sprecher<br />

Thomas Beyer fordert auf, die Verbreitung von Klischees über arme Menschen zu vermeiden<br />

Wenn es so etwas wie ein Unwort unter den Unwörtern innerhalb des sozialpolitischen Diskurses<br />

gibt, dann ist dies „sozial Schwache“. Die Nationale Armutskonferenz (nak) hat unter ihren<br />

Mitgliedsorganisationen eine Umfrage durchgeführt, welche Begriffe in den Medien, in der Politik<br />

und in der breiten Öffentlichkeit benutzt werden, mit denen Menschen in ihrer Lebenssituation falsch<br />

beschrieben, schlimmstenfalls sogar diskriminiert werden. Als ein solches negatives Beispiel wurde<br />

uns am häufigsten „sozial Schwache“ genannt.<br />

Mit diesem Begriff werden gemeinhin Menschen bezeichnet, die über (zu) wenig materielle<br />

Mittel verfügen und die deshalb weitgehend von der gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe<br />

ausgeschlossen sind. Das hat aber gar nichts damit zu tun, ob ein Mensch sozial veranlagt ist<br />

oder nicht. Arme Menschen verfügen genauso wie alle anderen über die Fähigkeit mit anderen<br />

Beziehungen einzugehen, sich um diese zu kümmern und sich in diese einzufühlen – kurzum sozial<br />

zu sein.<br />

„Sprache ist nicht neutral, Sprache bewertet. Vor diesem Hintergrund sollten wir alle Sprache so<br />

nutzen, dass sie keine Klischees (re)produziert“, sagt Thomas Beyer, Sprecher der nak. Dies gelte<br />

insbesondere im Umgang mit Menschen, die von Armut betroffen oder bedroht sind.<br />

Welche sozialen Unwörter uns nicht zuletzt Mitglieder unserer Betroffeneninitiativen eingereicht<br />

haben, lesen Sie weiter unten. Bei den meisten haben die Einsender erklärt, was sie an ihnen stört.<br />

Bei einigen ist es indes überflüssig, zu erläutern, warum sie irreführend, diskriminierend oder<br />

schlichtweg semantischer Unsinn sind.<br />

Alleinerziehend (=Sagt nichts über mangelnde soziale Einbettung oder gar Erziehungsqualität<br />

aus. Beides wird jedoch häufig mit „alleinerziehend“ assoziiert)<br />

Arbeitslos/Langzeitarbeitslos (=Es sollte erwerbslos heißen, weil es viele Arbeitsformen<br />

gibt, die kein Einkommen sichern<br />

Arbeitslose sind eine engagementferne Gruppe (=Damit wird nahegelegt,<br />

dass Erwerbslose sich nicht ehrenamtlich engagieren. Dagegen spricht schon die Vielzahl an<br />

Selbsthilfegruppen etc., in denen Erwerbslose aktiv sind)<br />

Behindertentransport (=Objekte werden transportiert, Menschen aber werden befördert)<br />

Bildungsferne Schichten (= Gemeint ist – und das sollte man auch sagen – „Fern vom<br />

Bildungswesen“ oder „vom Bildungswesen nicht Erreichte“)<br />

BuT’ler („butler“) (=Gemeint sind Nutzer des Bildungs- und Teilhabepakets der Bundesregierung.<br />

Der Ausdruck ist ähnlich reduzierend und deshalb diskriminierend wie „Der/Die ist Hartz IV“.<br />

Abschätzig ist er auch, wenn er englisch ausgesprochen wird: Butler=Diener)<br />

„Der/Die ist Hartz IV“ (=Wer Grundsicherung – im Volksmund Hartz IV – erhält, wird<br />

darauf reduziert. Außerdem wird häufig mit dem Begriff assoziiert, Empfänger von Sozialleistungen<br />

Ehrenamtspauschale (=Richtig müsste es Ehrenamtseinkommensteuerpauschale heißen, denn<br />

besagte Pauschale kann nur entgegennehmen, wer eine Steuererklärung abgibt. Gerade arme Menschen<br />

können dies aber nicht, weshalb sie auch diese Entschädigung nicht erhalten)<br />

Eingliederungsverfahren (=Menschen außerhalb von pathologischen oder<br />

resozialisierenden Prozessen müssen sich nicht erst eingliedern)<br />

Flüchtlingsfrauen (=Überflüssig, weil das Wort Flüchtlinge beide Geschlechter umfasst.<br />

Ansonsten: ähnlich diskriminierend wie Arztgattin)<br />

Herdprämie (=diskriminierend, weil der Begriff unabhängig von der Positionierung gegenüber<br />

dem gemeinten Betreuungsgeld Frauen verunglimpft)<br />

Illegale (=Diesem Begriff ist tatsächlich nur die Losung entgegenzuhalten: „Kein Mensch ist<br />

illegal“)<br />

Massenverwaltbarkeit (=Wurde vom BMAS genutzt, wenn Individualisierungswünsche bei<br />

der Anwendung von SGB II abgewehrt werden sollten)<br />

Missbrauch (=Ist im Zusammenhang mit Sozialrecht und Sozialstaat - beispielsweise Missbrauch<br />

von Hartz IV – eine ungute Vokabel, weil damit ein schwerwiegender sexueller Straftatbestand<br />

assoziiert wird)<br />

Notleidender Kredit (=Wenn der Darlehensnehmer die Raten nicht mehr zahlen kann und das<br />

Darlehen infolgedessen gekündigt wird, gilt der Kredit als notleidend. Letzteres dürfte allerdings eher<br />

auf den Menschen in Zahlungsschwierigkeiten zutreffen)<br />

Person mit Migrationshintergrund (=Häufig wird damit „einkommensschwach“,<br />

„schlecht ausgebildet“ und „kriminell“ in Zusammenhang gebracht. Während mit diesem Begriff<br />

Klischees reproduziert werden, wird er der sehr unterschiedlichen Herkunft der so Bezeichneten nicht<br />

gerecht)<br />

Person mit Migrationshintergrund ohne eigene Migrationserfahrung<br />

=(Siehe vor)<br />

Sozial Schwache (=Wer kein/wenig Geld hat, ist ökonomisch schwach, aber nicht sozial<br />

schwach)<br />

Sozialschmarotzer<br />

Trittbrettfahrer (=Wird auch für Menschen benutzt, die ein schwerwiegendes Delikt<br />

wiederholen oder davon profitieren)<br />

Vollkasko-Mentalität<br />

Wirtschaftsasylanten<br />

Wirtschaftsflüchtlinge<br />

Nationale Armutskonferenz<br />

16 17


Sozialrecht<br />

Unregelmäßige Einkünfte werden bei<br />

Hartz IV auf ein Jahr verteilt<br />

Verfügen Hartz-IV-Aufstocker arbeitsbedingt nur<br />

wenige Male pro Jahr über erzielte Einkünfte, können<br />

diese zur Berechnung des Arbeitslosengeldes II auf<br />

zwölf Monate verteilt werden. Der sonst übliche<br />

sechsmonatige Zeitraum ist dann ausnahmsweise nicht<br />

heranzuziehen, entschied das Landessozialgericht<br />

(LSG) Rheinland-Pfalz in einem am Dienstag, 5.<br />

Februar <strong>2013</strong>, veröffentlichten Urteil (Az.: L 6 AS<br />

611/11)<br />

Im konkreten Fall hatte die Firma der Klägerin<br />

hochhitzefeste Produkte für Industriebetriebe das<br />

ganze Jahr über zum Verkauf angeboten. Aufträge<br />

und damit verbundene Einkünfte erhielt sie jedoch<br />

nur unregelmäßig an drei bis vier Monaten im<br />

Jahr. Um ihr Existenzminimum sichern zu können,<br />

beantragte die Frau bei ihrem Jobcenter Hartz-IV-<br />

Leistungen.<br />

Die Behörde bewilligte zwar die Hilfe, diese<br />

fiel jedoch niedriger aus, als von der Klägerin<br />

gedacht. Denn das Jobcenter hatte zur Berechnung<br />

des Arbeitslosengeldes II einen sechsmonatigen<br />

Zeitraum herangezogen, indem die Frau gerade<br />

mehrere Einkünfte erhalten hatte.<br />

Das LSG entschied nun, dass die Behörde die<br />

Einkünfte innerhalb eines Jahres zur Berechnung<br />

des Arbeitslosengeldes II heranziehen muss. Diese<br />

müssten zu einem Zwölftel auf die monatlichen<br />

Hartz-IV-Leistungen angerechnet werden.<br />

Der Gesetzgeber habe zwar ab 2008 grundsätzlich<br />

vorgeschrieben, dass zur Berechnung des<br />

Arbeitslosengeldes II ein sechsmonatiger Zeitraum<br />

zur Berechnung der Hartz-IV-Höhe herangezogen<br />

werden muss. Bei Saisonbetrieben - wie beispielsweise<br />

landwirtschaftliche Betriebe - gebe es jedoch eine<br />

Ausnahme. Hier berechne sich das Arbeitslosengeld<br />

II über einen Zeitraum von zwölf Monaten. Diese<br />

Vorschrift gelte aber auch für Betriebe, die nach Art<br />

und Struktur nur unregelmäßig und wenige Male pro<br />

Jahr Einkünfte erzielen, so das LSG in seinem Urteil<br />

vom 19. Dezember 2012.<br />

Experten-Branchenbuch.de<br />

Mietkaution als Zuschuss gegen Abtretung<br />

des Rückerstattungsanspruchs<br />

Das Sozialgericht Berlin (SG) hat jüngst entschieden, dass die Tilgung eines Kautionsdarlehns aus den<br />

Regelleistungen unzulässig sei. Für Kautionstilgung sei in der Regelleistung kein Spielraum. Das SG<br />

Berlin hat die Kautionsgewährung auf Zuschussbasis angeordnet, dem Jobcenter allerdings die Möglichkeit<br />

eingeräumt, sich vom Hilfeempfänger eine Abtretungserklärung geben zu lassen, damit nach Rückzahlung<br />

der Kaution diese direkt an das Jobcenter gezahlt wird.<br />

Diese Entscheidung ist richtungsweisend und es sollte in der Beratungspraxis darauf Bezug genommen<br />

werden, unter dem Motto: Keine Tilgung von Kautionsforderungen im laufenden Leistungsbezug.<br />

Mit dieser Begründung kann gegen einen die Kautionsdarlehensaufrechnung bestimmenden Bescheid<br />

Widerspruch oder Überprüfungsantrag eingelegt werden, bzw. wenn eine Aufrechnung durch Vertrag /<br />

Erklärung des Betroffenen durchgeführt wird, diese jederzeit mit Bezugnahme auf § 46 Abs. 1, 2. Teilsatz<br />

SGB I zurückgenommen werden. Es sollte auf Basis dieses Urteils bundesweit gegen Kautionstilgungen<br />

aus der Regelleistung vorgegangen werden. Hier nun das Urteil: http://www.harald-thome.de/media/files/<br />

SG-Berlin---S-37-AS-25006-12.pdf<br />

Harald Thomé<br />

Zielvereinbarungen / zum Teil Aufruf zum<br />

Rechtsbruch<br />

Die Jobcenter in gemeinsamer Einrichtung oder auch die kommunalen Jobcenter sind verpflichtet mit der<br />

Bundesagentur für Arbeit bzw. mit den Landesbehörden jedes Jahr Zielvereinbarungen abzuschließen (§<br />

48b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 + 4 SGB II). In diesen ist zu regeln welche Ziele für das laufende Jahr umgesetzt<br />

werden sollen. Die Zielvereinbarung stellt quasi die Handlungsperspektive des jeweiligen Jobcenters da.<br />

Ich erlaube mir, Teile der Zielvereinbarung 2012 des Jobcenter Leipzig zu veröffentlichen. Darin werden<br />

unter anderen die Reduktion und Begrenzung der Unterkunftskosten und der kommunalen Leistungen<br />

(Wohnungsbeschaffungs- Umzugskosten und Kaution, Erstausstattung und Bedarfe bei Schwangerschaft<br />

und Geburt) als Ziele für das Jahr 2012 festgelegt.<br />

Die genannten Leistungen sind allerdings als Rechtsanspruchsleistungen ausgestaltet. Hier kommt die Frage<br />

auf, wie Rechtsanspruchsleistungen reduziert werden können. Es bestehen somit erhebliche Zweifel an<br />

der Zulässigkeit solchen Verwaltungshandelns. Besonders da diese Bereiche laut ministerialen Vorgaben<br />

gar nicht von Reduktion umfasst sein sollen, siehe hier: http://www.agarbeit.de/Downloads/system-derzielsteuerung-im-sgb-2-final.pdf<br />

(Seite 64).<br />

Jedes Jobcenter muss nach § 48b SGB II eine solche Zielvereinbarung abschließen, es sollte daher<br />

von Interesse sein, sich diese genauer anzuschauen. Ein Anspruch auf Herausgabe besteht durch<br />

Kommunalvertreteranfragen, aber durch Anträge nach dem Landes- bzw. Bundesinformationsfreiheitsgesetz<br />

bzw. bei kommunalen Jobcentern in Ländern ohne Landesinformationsfreiheitsgesetz und wenn vorhanden,<br />

nach kommunalen Informationsfreiheitssatzungen. Die Zielvereinbarungen für das Jahr <strong>2013</strong> sind schon<br />

alle abgeschlossen und könnten angefordert werden. Spannend wäre auch die aktuelle Zielvereinbarung<br />

mit denen der Vorjahre zu vergleichen, um so einen Eindruck zu bekommen und örtliche Entwicklungen<br />

besser nachvollziehen zu können.<br />

Zielvereinbarungen sind zum Teil Vereinbarungen, die zum Rechtsbruch auffordern, Daher muss hier ein<br />

Auge drauf geworfen werden. Link zur Leipziger Zielvereinbarung: http://www.harald-thome.de/media/<br />

files/Zelvereinbarung-JC-Leipzig-2012.pdf<br />

Zum Verschaffen eines Überblicks, Hinweise des Deutschen Landkreistages zu Zielvereinbarungen: http://<br />

www.harald-thome.de/media/files/DLT---Hinweise-Zielvereinbarungen---01.11.2010.pdf<br />

Harald Thomé<br />

18 19


Impressum<br />

Die “NetZeit” erscheint als monatliches Journal in ergänzender Zusammenfassung der Webseiten<br />

des <strong>Armutsnetzwerk</strong> e.V. Wir bemühen uns in den Beiträgen die ganze Bandbreite unserer<br />

Tätigkeit darzustellen. Für jede Anregung unserer Leser sind wir dankbar. Leserzuschriften<br />

werden veröffentlicht, die Redaktion behält sich Kürzungen der Texte vor. Anonyme Zuschriften<br />

finden keine Berücksichtigung.<br />

Schicken Sie Ihre Beiträge per Mail oder per Fax an die Redaktion.<br />

Herausgeber: <strong>Armutsnetzwerk</strong> e.V.<br />

presserechtlich verantwortlich: Dietmar Hamann<br />

Am Deepenpool 2<br />

27232 Sulingen<br />

Tel. 04271 919464<br />

Fax 04271 919465<br />

mobil 01525 3190841<br />

E-Mail netzeit@armutsnetzwerk.de<br />

www.armutsnetzwerk.de<br />

Bildquellen:<br />

Umschlag: r.Werner Franke, Seite 4: Dieter Puhl: Seite 5: r.Werner Franke, Seite 17, 8: Archiv, Seite<br />

15:Sulinger Kreiszeitung<br />

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