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Sind Politiker Lügner? Wahlprogramme und politische ... - Sowi

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Heike Kellermann | Universität Duisburg-Essen | Praxisprojekt<br />

Wählerinformationssystem (WIS), SS 2003 | Prof. Dr. Schmitt-Beck, Herr Schwarz<br />

<strong>Sind</strong> <strong>Politiker</strong> Lügner?<br />

<strong>Wahlprogramme</strong><br />

<strong>und</strong><br />

<strong>politische</strong> Entscheidungen


<strong>Sind</strong> <strong>Politiker</strong> Lügner?<br />

<strong>Wahlprogramme</strong> <strong>und</strong> <strong>politische</strong> Entscheidungen<br />

„ In wie weit stimmen die Inhalte der <strong>Wahlprogramme</strong> mit <strong>politische</strong>n<br />

Handlungen überein?“<br />

I<br />

Einleitung<br />

II<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der Untersuchung<br />

Allgemein<br />

Spezifische Daten der Untersuchung/ Methodik<br />

III<br />

Untersuchungsansätze<br />

Agenda-, Mandat-, Ideologiemodell<br />

Parteien-, Kabinett-, Regierungsmodell<br />

IV<br />

Ergebnisse<br />

Das Erpressungsmodell<br />

V<br />

Fazit<br />

VI<br />

Literaturverzeichnis<br />

Heike Kellermann, Matrikelnummer: 748813<br />

Email: HeikeKellermann@aol.com<br />

Universität Duisburg-Essen<br />

Praxisprojekt Wählerinformationssystem, SS 2003<br />

Prof. Dr. Schmitt-Beck, Herr Schwarz, Herr Schütz , Herr Zimmermann


Seite 1 von 14<br />

Einleitung: <strong>Sind</strong> <strong>Politiker</strong> Lügner?!<br />

Obwohl der Begriff der „Demokratie“ allgemein geläufig ist, werden unterschiedliche<br />

Vorstellungen mit ihm verknüpft. Die moderne <strong>politische</strong> Theorie weist den <strong>Politiker</strong>n die<br />

Aufgabe zu, unter den Bedingungen des Parteienwettbewerbs <strong>und</strong> im Rahmen der sonstigen<br />

institutionellen Regelungen, die Wünsche <strong>und</strong> Forderungen der Bürger mit ihrem <strong>politische</strong>n<br />

Handeln zu verbinden. Von den Parteien wird erwartet, dass ihr Handeln, wenn sie einmal in<br />

der Regierung sind, auch dem entspricht, was sie vorher in ihren <strong>Wahlprogramme</strong>n publiziert<br />

haben.<br />

Doch Stammtisch-Floskeln wie „<strong>Politiker</strong> machen doch sowieso was sie wollen“ oder<br />

„<strong>Politiker</strong> sind alles Lügner, die sagen das eine <strong>und</strong> tun das andere“ kommen auch Ihnen<br />

bekannt vor? Dann gehören vielleicht auch sie zu den vielen Skeptikern, die die Meinung<br />

vertreten, dass <strong>Wahlprogramme</strong> unnütz sind <strong>und</strong> Parteien, wenn sie einmal in die Regierung<br />

gewählt worden sind, in ihrer Legislaturperiode frei nach dem Motto „Was kümmert mich<br />

mein Geschwätz von gestern“ handeln. Viele Kritiker erwarten vielmehr gar nicht ernsthaft,<br />

dass es eine große Übereinstimmung zwischen Partei- bzw. Regierungsprogramm <strong>und</strong><br />

Regierungshandeln gibt. Sie gehen eher davon aus, dass dank des schlechten Gedächtnisses<br />

der Bevölkerung die Regierungsparteien beinahe Narrenfreiheit besitzen. Die Vergesslichkeit<br />

der Wähler, was vorherige <strong>politische</strong> Versprechungen anbelangt, ist demnach also der Gr<strong>und</strong><br />

dafür, dass <strong>Politiker</strong> keine größeren Sanktionen seitens der Bürger befürchten müssen.<br />

Dieser erwähnten kritischen Haltung sind unter anderem zwei Politikwissenschaftler<br />

nachgegangen, auf dessen Untersuchungen im Folgenden eingegangen wird. Es handelt sich<br />

hierbei um die Autoren Hans-Dieter Klingemann <strong>und</strong> Richard I. Hofferbert, die der Frage<br />

nachgegangen sind, was an der Ansicht, „<strong>Politiker</strong> sind doch alles Lügner, die sagen das eine<br />

<strong>und</strong> tun das andere“ wirklich dran ist. Sie haben sich demnach damit beschäftigt, in wie weit<br />

die Aussagen, die <strong>Politiker</strong>/ Parteien in ihren <strong>Wahlprogramme</strong>n tätigen mit dem tatsächlichen<br />

Regierungshandeln übereinstimmen. Kann sich also ein politikinteressierter Bürger, der seine<br />

Entscheidung anhand von <strong>Wahlprogramme</strong>n treffen möchte, auch auf selbige verlassen <strong>und</strong><br />

eine informierte Wahl treffen? Besteht überhaupt eine Beziehung zwischen dem, was<br />

<strong>Politiker</strong> sagen <strong>und</strong> dem, was sie später in der Regierung tun?<br />

Um diese <strong>und</strong> weitere Fragen zu klären, haben Klingemann <strong>und</strong> Hofferbert verschiedene<br />

politikwissenschaftliche Modelle, die mögliche Beziehungen zwischen Versprechungen <strong>und</strong><br />

„Politikprodukten“ darstellen, auf ihre Relevanz in der <strong>politische</strong>n Realität hin überprüft.<br />

Einige dieser Modelle sowie ihre <strong>politische</strong> Bedeutung werden nun im Folgenden vorgestellt.<br />

Doch zunächst einmal werden - zum allgemeinen Verständnis - die Gr<strong>und</strong>lagen der<br />

Untersuchung, also die Daten <strong>und</strong> die Methodik der Autoren dargestellt. Hier geht es also<br />

darum zu betrachten, wie Klingemann <strong>und</strong> Hofferbert vorgegangen sind, auf welche Daten sie<br />

sich stützen konnten <strong>und</strong> was genau Gegenstand ihrer Untersuchung war.<br />

Im Anschluss daran werden zwei verschiedene Untersuchungsansätze mit jeweils anderen<br />

Modellen vorgestellt..<br />

Zuerst wird der Frage nachgegangen, ob es überhaupt Unterschiede zwischen den Parteien<br />

gibt, oder ob im Endeffekt alle Parteien einen gleich großen Einfluss auf das <strong>politische</strong><br />

Handeln ausüben. Zur Beantwortung wird das Agenda- Modell beschrieben <strong>und</strong> auf seine<br />

<strong>politische</strong> Relevanz hin untersucht. Im Folgenden werden Überlegungen angestellt, welche<br />

Parteien evtl. mehr <strong>und</strong> welche wiederum weniger Einfluss auf den <strong>politische</strong>n Prozess<br />

besitzen, von welchen Faktoren dies abhängig ist <strong>und</strong> ob es gar zusätzlich zu den<br />

<strong>Wahlprogramme</strong>n weitere Indikatoren gibt, anhand derer man verlässliche Aussagen über das


Seite 2 von 14<br />

künftige Regierungshandeln der Partei machen kann (Darstellung des Mandat- <strong>und</strong> des<br />

Ideologiemodells).<br />

Der zweite Untersuchungsansatz beschäftigt sich dann mit verschiedenen Modellen zu den<br />

Macht- bzw. Einflussverhältnissen innerhalb deutscher Koalitionsregierungen. Hier soll<br />

geklärt werden, wer in einem Zwei-Parteien-Regierungssystem - wie es meist in der BRD der<br />

Fall ist - Wahlgewinner bzw. Wahlverlierer ist. Zur Klärung dieser Fragestellung dienen das<br />

Parteien-, das Kabinett- sowie das Regierungsmodell.<br />

Abschließend zu den Untersuchungen der verschiedenen Modelle werden die wichtigsten<br />

Ergebnisse zusammengefasst <strong>und</strong> auf ihre Bedeutung in der <strong>politische</strong>n Realität hin<br />

untersucht. Als unweigerliche Folge der ermittelten Bef<strong>und</strong>e konstituieren die Autoren ein<br />

neues Modell, das so genannte „Erpressungsmodell“.<br />

Den Schlussteil bilden ein Fazit sowie ein kurzer Ausblick auf die Relevanz der ermittelten<br />

Ergebnisse in Hinblick auf die aktuelle <strong>politische</strong> Lage in der BRD.<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der Untersuchung:<br />

Allgemein<br />

Die folgenden Untersuchungen von Klingemann <strong>und</strong> Hofferbert beziehen sich auf die Daten<br />

einer internationalen Forschergruppe des European Consortium for Political Research<br />

(ECPR), die knapp 1000 <strong>Wahlprogramme</strong> von 140 Parteien in 19 Demokratien seit 1944/45<br />

bis Anfang der achtziger Jahre quantitativ aufbereitet hat. Das heißt, dass jeder Satz eines<br />

jeden Wahlprogramms nach den Regeln eines 54 Kategorien umfassenden<br />

Klassifikationsschemas verschlüsselt wurde.<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der Untersuchung:<br />

Spezifische Daten/ Methodik<br />

Relevant für die Analysen Klingemanns <strong>und</strong> Hofferberts, auf die hier eingegangen wird, sind<br />

die Jahre 1949 – 1987 in Deutschland. Dieser Zeitraum berücksichtigt 11 Wahlen, in denen<br />

immer die gleichen drei Parteien eine große Rolle spielten: die CDU/CSU, die SPD <strong>und</strong> die<br />

FDP. Untersucht wurden also nun für jede Wahl die drei <strong>Wahlprogramme</strong> der Parteien sowie<br />

die Regierungserklärung. Anders als beim European Consortium for Political Research<br />

wurden die inhaltlich aufbereiteten <strong>Wahlprogramme</strong> nun nicht mehr in 54, sondern nur noch<br />

in 11 Kategorien bzw. Politikbereiche 1 eingeteilt.<br />

1<br />

(Siehe Hofferbert <strong>und</strong> Klingemann: „The politcy impact of party prgrammes and government declarations in<br />

the Federal Republic of Germany, S.287 11 Kategorien: Politische Führung <strong>und</strong> zentrale Verwaltung;<br />

Auswärtige Angelegenheiten; Verteidigung; Öffentliche Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung, Rechtsschutz; Bildungswesen,<br />

Wissenschaft, Forschung, kulturelle Angelegenheiten; Soziale Sicherung, soziale Kriegsfolgenaufgaben,<br />

Wiedergutmachung; Ges<strong>und</strong>heit, Sport <strong>und</strong> Erholung; Wohnungswesen, Raumordnung <strong>und</strong> kommunale<br />

Gemeinschaftsdienste; Ernährung, Landwirtschaft <strong>und</strong> Forsten; Verkehrs- <strong>und</strong> Nachrichtenwesen; Allgemeine<br />

Finanzwirtschaft)


Seite 3 von 14<br />

Besondere Betrachtung gilt den 30 Jahren innerhalb des untersuchten Zeitraumes, in denen<br />

eine der großen Parteien mit der FDP eine Koalition gebildet hat, wobei es insgesamt nur 2<br />

Ausnahmen in dieser Hinsicht gab: einmal die alleinige CDU-Regierung sowie andermal die<br />

große Koalition.<br />

Wie bereits erwähnt, soll hier das Handlungsvorhaben mit dem realen <strong>politische</strong>n Handeln<br />

verglichen werden.<br />

Das Handlungsvorhaben auf der einen Seite erschließt sich aus den Inhalten der<br />

<strong>Wahlprogramme</strong>, wobei man hier die verwendete Textmenge für einen jeweiligen<br />

Politikbereich betrachtet <strong>und</strong> diese in Beziehung setzt zu der Gesamtlänge des<br />

Wahlprogramms. Es wird also der prozentuale Anteil der Aussagen für ein jedes Politikfeld<br />

ermittelt. Durch dieses Verfahren wird allerdings lediglich festgestellt, dass dieses oder jenes<br />

Thema der Partei als eher wichtig (große auf das Thema verwendete Textmenge) bzw. als<br />

eher unwichtig ist (Auslassung des Themas oder nur kleine auf das Thema verwendete<br />

Textmenge). Es ist aber anhand der beschriebene Methode nicht möglich, eine <strong>politische</strong><br />

Richtung auszudrücken, in die gehandelt werden soll (es wird z.B. durch einen großen<br />

prozentualen Textanteil im Politikfeld „Verteidigung“ ausgedrückt, dass dieses Thema der<br />

Partei wichtig ist, es wird aber nichts darüber ausgesagt, welche Ansichten die Partei<br />

diesbezüglich verfolgt – Abrüstung/Aufrüstung, links/rechts).<br />

Das reale <strong>politische</strong> Handeln auf der anderen Seite wird gemessen an dem prozentualen Anteil<br />

der Ausgaben für den jeweiligen Politikbereich bezogen auf die Gesamtstaatsausgaben der<br />

Regierung pro Jahr. Hierbei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass dem <strong>politische</strong>n<br />

Prozess zwischen dem gedanklichen Entwurf innerhalb eines Wahlprogramms <strong>und</strong> dem<br />

realen Handeln ein Zeitraum von 2 Jahren zugestanden wird. Man geht also davon aus, dass<br />

die Inhalte eines Programms erst nach einem Zyklus von 2 Jahren Auswirkungen auf<br />

Staatsausgaben haben. Die Daten über die genauen Ausgaben der Regierung liegen dem<br />

Statistischen B<strong>und</strong>esamt zugr<strong>und</strong>e <strong>und</strong> können daher für Deutschland (im Gegensatz zu<br />

manchen anderen untersuchten Ländern) relativ einfach <strong>und</strong> unkompliziert nachvollzogen<br />

werden können.<br />

Allerdings räumen die Autoren bereits vor der eigentlichen Untersuchung ein, dass<br />

Schwierigkeiten bzw. Ungenauigkeiten auftreten können, die wiederum eine statistische<br />

Beziehung der Faktoren „Inhalt der <strong>Wahlprogramme</strong>“ <strong>und</strong> „Ausgabeverhalten“ der Regierung<br />

gefährden könnten. Zum einen sind sowohl das Handlungsvorhaben als auch die Ausgaben<br />

nur grobe Maße, von denen man eigentlich nicht erwarten kann, dass dort große statistische<br />

Beziehungen auftreten. Zum anderen gibt es natürlich erhebliche Unterschiede in dem<br />

Schwierigkeitsgrad der Umsetzung von Handlungsvorhaben. Wenn ein <strong>Politiker</strong> z.B.<br />

verspricht, ein neues Museum errichten zu lassen, wird er dies höchstwahrscheinlich auch tun<br />

(die Umsetzung ist hier relativ einfach), möchte er aber die Ost-West-Beziehungen<br />

verbessern, ist dies in der Realisierung schon erheblich anspruchsvoller.<br />

Zu guter letzt sei noch erwähnt, dass die Umsetzungschancen nicht unerheblich von<br />

institutionellen Rahmenbedingungen (Mehrheitsverhältnisse B<strong>und</strong>estag/ B<strong>und</strong>esrat) sowie<br />

aktuellen Geschehnissen (Umweltkatastrophen Hochwasser, 11.September etc.) beeinflusst<br />

werden können.


Seite 4 von 14<br />

Selbst wichtige Wahlversprechungen können, so lehrt die Erfahrung 1 , im Zeitverlauf das<br />

Opfer komplexer Umstände <strong>und</strong> Entwicklungen werden.<br />

Untersuchungsansatz 1: 1<br />

In wie weit sind die Aussagen der Parteien in ihren <strong>Wahlprogramme</strong>n gute<br />

Indikatoren für das spätere Ausgabeverhalten der Regierung?<br />

Um diese komplexe Frage beantworten zu können, muss man zunächst sein Augenmerk auf<br />

kleinere Fragestellungen richten. In den folgenden Passagen werden nun drei Modelle<br />

vorgestellt, die Aufschluss über mögliche Beziehungen der Parteien untereinander im<br />

B<strong>und</strong>estag bzw. über ihr damit verb<strong>und</strong>enes Einflusspotential auf die „policy outputs“ geben<br />

sollen.<br />

Gibt es überhaupt Unterschiede der Parteien in ihrem Regierungshandeln? Oder ist es<br />

egal, wer regiert?<br />

Dieser zunächst etwas provokant erscheinenden Frage sind Klingemann <strong>und</strong> Hofferbert als<br />

erstes nachgegangen. Eine der simpelsten Formen der Einflussnahme auf <strong>politische</strong><br />

Handlungsweisen liegt klar auf der Hand: man nimmt an, dass sowieso alle Parteien, wenn sie<br />

einmal in der Regierung sind, ähnlich handeln <strong>und</strong> es daher keine nennenswerten<br />

Unterschiede unter ihnen gibt. Im Kehrschluss hieße das, dass die Mehrheitsverhältnisse im<br />

B<strong>und</strong>estag keine Rolle spielen bei <strong>politische</strong>n Entscheidungen. Die Autoren beschäftigten sich<br />

zuerst mit dieser Ansicht, denn wenn die These „Es gibt keine nennenswerten Unterschiede<br />

zwischen den Parteien innerhalb ihres Regierungshandeln“ zuträfe, behielten die Skeptiker<br />

mit ihrer Einschätzung bzgl. der Irrelevanz von <strong>Wahlprogramme</strong>n bzw. der Austauschbarkeit<br />

von Regierungen Recht <strong>und</strong> könnten somit ihre Position stärken, dass der <strong>politische</strong> Prozess<br />

der modernen Staaten dem Idealtypus der Demokratie ferner denn je ist.<br />

Das Agenda- Modell 1<br />

Für ihre Analyse beziehen sich Klingemann <strong>und</strong> Hofferbert nun auf das Agenda- Modell,<br />

welches genau von der These „Es ist egal, wer regiert <strong>und</strong> wer in der Opposition ist“ ausgeht.<br />

Gr<strong>und</strong>gedanke dieses Modells ist es nun, dass alle Parteien den gleichen Einfluss auf das<br />

<strong>politische</strong> Geschehen haben, wobei es hierbei irrelevant ist, ob die entsprechende Partei an der<br />

Regierung beteiligt ist oder nicht. Im Klartext hieße diese Hypothese, dass es demnach<br />

vollkommen unerheblich ist, wer die Wahl „gewinnt“, welche Partei also die meisten<br />

Wählerstimmen, den meisten Zuspruch innerhalb der Bevölkerung bekommen hat, da das<br />

Wahlprogramm jeder Partei für den <strong>politische</strong>n Prozess von gleicher Bedeutung ist. Die<br />

Opposition besitzt genauso große <strong>politische</strong> Entscheidungskraft wie die Regierung.<br />

Da es sich bei diesem <strong>und</strong> den im Anschluss folgenden Modellen um Konzepte zur<br />

Einschätzung bzw. Kalkulierung der künftigen Staatsausgaben handelt, werden die Ideen<br />

ebenso in einen mathematischen Zusammenhang gebracht <strong>und</strong> im Anschluss daran deren<br />

empirischer Gehalt überprüft.<br />

1<br />

Vgl. hierzu: Hofferbert, Klingemann, Volkens: <strong>Wahlprogramme</strong>, Regierungserklärungen <strong>und</strong> Politisches<br />

Handeln, Zur Programmatik <strong>politische</strong>r Parteien S. 383 ff.<br />

2<br />

Siehe Klingemann, Hofferbert, Budge 1994: Parties, Policies and Democracy, S. 44ff (“The Agenda Model”)


Seite 5 von 14<br />

Mathematisch formuliert bedeutet dies für das vorgestellte simple Agenda- Modell, dass es<br />

das erwartete Ausgabeverhalten für einen Politikbereich mit der verwendeten Textmenge aller<br />

<strong>Wahlprogramme</strong> gleichsetzt. D.h. also, die Ausgaben richten sich danach, wie viel Text von<br />

allen Parteien zusammen darauf verwendet wurde.<br />

(Bsp.: Ausgaben Bildung = Textmenge Bildung SPD + Textmenge Bildung CDU + Textmenge Bildung<br />

Grüne + Textmenge Bildung FDP...)<br />

Zur Verdeutlichung soll hier eine Grafik dienen, die das Modell am Beispiel der heutigen<br />

Situation im B<strong>und</strong>estag darstellt (der Einfachheit halber werden nur SPD/Grüne, CDU <strong>und</strong> die<br />

FDP in der Grafik mit eingeb<strong>und</strong>en):<br />

Pfeile symbolisieren den<br />

Einfluss der jew. Partei<br />

auf das polit. Handeln<br />

(hier: überall gleich)<br />

Die<br />

Grünen<br />

SPD<br />

Politisches<br />

Handeln<br />

CDU<br />

FDP<br />

Die Ergebnisse der Klingemann/Hofferbert Studien bestätigen dieses Modell (zum Glück)<br />

allerdings nicht. Vielmehr zeigte sich anhand mehrerer Beispiele ein deutlicher Umschwung<br />

innerhalb der <strong>politische</strong>n Handlungsweisen bei Regierungswechseln. Sehr deutlich ist dies<br />

z.B. im Bereich Ges<strong>und</strong>heitspolitik zu sehen: Während die Ausgaben für diesen Bereich seit<br />

Gründung der BRD unter einer CDU/FDP Koalitionsregierung bzw. unter der<br />

Mehrheitsregierung der CDU sehr gering waren (bleibt unter einem Wert von 500.000), so<br />

wandelt sich das Bild beinahe schlagartig unter der SPD/FDP –Regierung <strong>und</strong> nimmt<br />

teilweise doppelt so hohe Werte an.<br />

Wenn das Agenda- Modell allerdings zuträfe, dann wären solche Umschwünge zumindest<br />

doch sehr unwahrscheinlich, da urplötzlich alle Parteien in ihren <strong>Wahlprogramme</strong>n in dem<br />

Bereich Ges<strong>und</strong>heitspolitik neue Schwerpunkte hätten legen müssen.<br />

Das bedeutet, dass es demnach nicht egal ist, welche Partei(en) in der Regierung <strong>und</strong> welche<br />

Partei(en) in der Opposition ist (sind).


Seite 6 von 14<br />

Da nun das recht ungenaue Agenda- Modell in der Realität, so wie die<br />

Untersuchungsergebnisse zeigen, nicht zutreffend ist, bleibt die Frage:<br />

Welche Parteien üben großen bzw. nur einen kleinen Einfluss auf den <strong>politische</strong>n<br />

Prozess aus? Wovon ist das abhängig<br />

Das Mandat – Modell 1<br />

Aufklärung hierüber soll uns das Mandat- Modell geben. Gr<strong>und</strong>gedanke des Mandat –<br />

Modells ist es, dass Verliererprogramme wenig Einfluss auf das <strong>politische</strong> Handeln haben <strong>und</strong><br />

im Gegenzug die Programme der „Gewinner“, die die Regierung bilden, einen großen<br />

Einfluss besitzen.<br />

Mathematisch gesehen wird hiermit die Idee des Agenda – Modells weiterentwickelt, indem<br />

nun Abstufungen innerhalb Regierung/Opposition vorgenommen werden. Im Klartext<br />

bedeutet dies, dass die Inhalte der <strong>Wahlprogramme</strong> der Regierungsparteien doppelt gewertet<br />

werden <strong>und</strong> die der Opposition nur einfach.<br />

(Bsp. aus heutiger Sicht: Ausgaben Bildung = Textmenge Bildung SPD *2 + Textmenge Grüne<br />

Bildung *2 + Textmenge Bildung CDU + Textmenge Bildung FDP...)<br />

Zur Verdeutlichung soll hier noch einmal eine Grafik dienen, die das Mandat- Modell am<br />

Beispiel der heutigen Situation im B<strong>und</strong>estag darstellt (wieder werden der Einfachheit halber<br />

nur SPD/Grüne, CDU <strong>und</strong> die FDP in der Grafik mit eingeb<strong>und</strong>en):<br />

Pfeile symbolisieren den<br />

Einfluss der jew. Partei<br />

auf das polit. Handeln<br />

(hier: rot/grün stark)<br />

Die<br />

Grünen<br />

SPD<br />

Politisches<br />

Handeln<br />

CDU<br />

FDP<br />

1<br />

Siehe Klingemann, Hofferbert, Budge 1994: Parties, Policies and Democracy, S.48ff. (“The Mandate Model”)


Seite 7 von 14<br />

Das Mandat – Modell hat sich in den Untersuchungen im Vergleich zum Agenda- Modell als<br />

das präzisere Konzept herausgestellt. Es erscheint also sinnvoll zu berücksichtigen, welche<br />

Partei an der Regierung <strong>und</strong> welche Partei in der Opposition steht, um einschätzen zu können<br />

in wie weit das Wahlprogramm der jeweiligen Partei Einfluss auf die <strong>politische</strong>n Handlungen<br />

hat.<br />

Dennoch sind auch hier trotz höherer Genauigkeit noch Abweichungen der Erwartungswerte<br />

festzustellen:<br />

Am schlechtesten schneidet bei diesem Verfahren die SPD ab, die in ihrer Legislaturperiode<br />

teilweise genau das Gegenteil von dem macht, als sie eigentlich in ihrem Wahlprogramm<br />

vorgesehen hatte. Weiterhin zeigten die Untersuchungen, dass die SPD, wenn sie in der<br />

Regierung war, Passagen des CDU – Programm kopiert <strong>und</strong> diese in die Tat umsetzte.<br />

Eine höhere Übereinstimmung von Vorhaben <strong>und</strong> tatsächlichen Handlungen weist die CDU<br />

auf. Allerdings lassen sich Abweichungen – so die Autoren - meist aus historischen<br />

Umständen erklären (Investition in den Sozialstaat in der Nachkriegszeit etc.).<br />

Interessanterweise nimmt die CDU – genauso wie die SPD dies tut - in einigen Bereichen<br />

ebenfalls das SPD-Programm auf, <strong>und</strong> setzt in ihrer Legislaturperiode das um, was die<br />

Sozialdemokraten in ihrem Wahlprogramm postuliert hatten.<br />

Am besten schlägt sich nach diesem Modell allerdings die FDP, die es schafft, ihr<br />

Politikprogramm am genauesten umzusetzen. Eine äußerst hohe Übereinstimmung zwischen<br />

Versprechung <strong>und</strong> Handlung besteht vor allem im Bereich des Außenministers, dessen Posten<br />

die FDP fast über den gesamten untersuchten Zeitraum inne hatte.<br />

Letzter Ansatz für diese ersten Untersuchungen ist der Blick über den Tellerrand hinaus, hier<br />

stellt sich nun die Frage, ob, <strong>und</strong> wenn welche andere Einflussfaktoren den <strong>politische</strong>n<br />

Prozess neben den Aussagen innerhalb der <strong>Wahlprogramme</strong> ebenso steuern.<br />

<strong>Sind</strong> <strong>Wahlprogramme</strong> die einzigen Indikatoren für <strong>politische</strong>s Handeln? Bzw. von<br />

welchen anderen Faktoren ist der <strong>politische</strong> Prozess ebenfalls gesteuert?<br />

Das Ideologie – Modell 1<br />

Das wohl genaueste dieser drei Modelle ist das so genannte Ideologie- Modell. Gr<strong>und</strong>gedanke<br />

hierbei ist, dass das Wahlprogramm nicht der einzige Faktor ist, nach denen Parteien ihre<br />

<strong>politische</strong>n Prioritäten in der Regierung bzw. auch in der Opposition richten. Zum einen spielt<br />

dabei – wie oben angedeutet - der historischer Hintergr<strong>und</strong> für das Ausgabeverhalten eine<br />

große Rolle (Bsp.: in der Nachkriegszeit mussten elementare Dinge wie Hausbau,<br />

Landwirtschaft <strong>und</strong> Infrastruktur als erstes wieder hergestellt werden, während also<br />

dementsprechend die Ausgaben für diese Bereich sehr hoch waren, wurden andere, in dem<br />

Zusammenhang sek<strong>und</strong>äre Bereiche wie Erziehung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesen vernachlässigt.).<br />

Weiterhin, wie der Name Ideologie- Modell bereits vermuten lässt, wird in diesem Konzept<br />

der Ursprung der Partei als äußerst wichtig erachtet. Die gr<strong>und</strong>sätzliche Haltung bzw. die<br />

Identität einer Partei seit ihrer Gründung hat demnach maßgeblichen Einfluss auf die<br />

<strong>politische</strong>n Verhaltens- <strong>und</strong> Entscheidungsweisen.<br />

1<br />

Siehe Klingemann, Hofferbert, Budge 1994: Parties, Policies and Democracy, S.52 (“The Ideology Model”)


Seite 8 von 14<br />

Berücksichtigt werden muss allerdings, dass vergangene <strong>und</strong> aktuelle Versprechungen der<br />

Parteien einigermaßen zusammenpassen ( Stichwort Salienztheorie 1 ), damit sie für die<br />

Bevölkerung glaubhaft bleiben. Parteien können also nicht nach Belieben ihre Ansichten<br />

ändern. Anders formuliert bedeutet dies, dass z.B. Republikaner nicht einfach zu Demokraten<br />

werden können <strong>und</strong> Kommunisten nicht zu Liberalen.<br />

Hierbei geht es jedoch überwiegend um extreme <strong>und</strong> vor allem schnelle Änderungen einer<br />

Partei in Bezug ihrer Einordnung im links-rechts- Spektrum innerhalb des <strong>politische</strong>n<br />

Kontinuums 1 . D.h. z.B., wenn eine Partei in der einen Wahl teilweise (radikale)<br />

Linkspositionen einnimmt, kann sie nicht vier Jahre später f<strong>und</strong>amentales Gedankengut<br />

aufgeben <strong>und</strong> zu einer rechten Partei mutieren <strong>und</strong> gleichzeitig erwarten, dass sie für den<br />

Wähler als eine glaubhafte Partei eingestuft wird. Das bedeutet allerdings nicht, dass gänzlich<br />

jede Veränderungen in <strong>politische</strong>n Ansichten „verboten“ sind, jeder weiß, dass die heutige<br />

SPD nicht mehr die gleiche <strong>politische</strong> Auffassung hat wie vor r<strong>und</strong> 50 Jahren, <strong>und</strong> „trotzdem“<br />

ist sie nunmehr in ihrer zweiten Legislaturperiode <strong>und</strong> stellt mit Gerhard Schröder den<br />

B<strong>und</strong>eskanzler. Demnach werden langsame Veränderungen auch vom Wähler dem<br />

„natürlichen“ Anpassungs- <strong>und</strong> Entwicklungsprozess zugeschrieben, ohne dass eine Partei<br />

ihre Glaubhaftigkeit verliert.<br />

Mathematisch formuliert stellt dieses Modell natürlich auch die komplexeste Formel dar, die<br />

erwarteten Staatsausgaben für ein Politikfeld werden daher so berechnet, dass zum einen die<br />

Abstufung zwischen Regierungs- <strong>und</strong> Oppositionspartei gemacht wird (siehe Mandat-<br />

Modell) <strong>und</strong> zum anderen ein links- rechts- Koeffizient verwendet wird, der Auskunft über<br />

die ideologische Haltung (I) zu einem bestimmten Bereich gibt.<br />

(Bsp. aus heutiger Sicht: Ausgaben Bildung = Textmenge Bildung SPD *2*I SPD + Textmenge<br />

Grüne Bildung *2*I Grüne + Textmenge Bildung CDU*I CDU + Textmenge Bildung FDP*I FDP ...)<br />

Zur Verdeutlichung befindet sich auf der nächsten Seite eine dritte Grafik, die das Ideologie-<br />

Modell am Beispiel der heutigen Situation im B<strong>und</strong>estag darstellt (wieder werden der<br />

Einfachheit halber nur SPD/Grüne, CDU <strong>und</strong> die FDP in der Grafik mit eingeb<strong>und</strong>en):<br />

1 Vgl. Klingemann, Hofferbert, Budge 1994: Parties, Policies and Democracy, S.38ff (“The Left-Right<br />

Scale”, “Policy Priority Indicators”)


Seite 9 von 14<br />

Pfeile symbolisieren den<br />

Einfluss der jew. Partei<br />

auf das polit. Handeln<br />

(hier: rot/grün stark +<br />

zusätzlicher Faktor<br />

Ideologie)<br />

Die<br />

Grünen<br />

Ökologische Partei<br />

Ideologie Grüne<br />

SPD<br />

Politisches<br />

Handeln<br />

CDU<br />

Klass. Arbeiterpartei<br />

Ideologie SPD<br />

FDP<br />

Wie bereits angedeutet, hat sich dieses Modell in empirischen Studien als das genaueste<br />

Modell herausgestellt. Berücksichtigt man also dementsprechend zum einen, ob die jeweilige<br />

Partei an der Regierung beteiligt ist oder in der Opposition steht sowie die Ideologie<br />

gemessen an ihrem links- rechts – Koeffizienten, erhält man durchgängig für jede der drei<br />

Parteien relativ gute Übereinstimmungen zwischen Handlungsvorhaben <strong>und</strong> Durchführung.<br />

Abschließend zu diesen ersten Untersuchungen, noch einmal die wichtigsten Ergebnisse in<br />

Kürze:<br />

• Es gibt einen Unterschied im Regierungshandeln bzw. Ausgabeverhalten der Parteien,<br />

es sind somit nicht alle Parteien gleich<br />

• Die Beteiligung an der Regierung spielt eine große Rolle für Einfluss der jeweiligen<br />

Partei<br />

• Die beste Vorhersage für das Ausgabeverhalten trifft man, wenn man zusätzlich die<br />

generelle Ideologie/Standpunkt der Partei berücksichtigt


Seite 10 von 14<br />

Untersuchungsansatz 2: 1<br />

Welche Partei hat wie viel zu sagen in deutschen Koalitionsregierungen?<br />

Wenn man sich die <strong>politische</strong> Situation in Deutschland in dem besagten untersuchten<br />

Zeitraum (1949 – 1987) ansieht, ist es unschwer zu erkennen, dass die <strong>politische</strong> Welt in der<br />

BRD von insgesamt drei Parteien geprägt war: zum einen von den beiden großen Parteien<br />

CDU/CSU sowie der SPD <strong>und</strong> zum anderen von der kleinen FDP, die zumeist zur<br />

Regierungsbildung als Koalitionspartner von einer der beiden großen Parteien hinzugezogen<br />

wurde.<br />

Aus den Ergebnissen des ersten Untersuchungsansatzes geht hervor, dass man den Einfluss<br />

der <strong>Wahlprogramme</strong> der Parteien, die die Regierung bilden, stärker berücksichtigen muss als<br />

die Programme der Oppositionsparteien (Mandat- Modell). Weiterhin erschien es wichtig,<br />

neben dem Wahlprogramm noch die gr<strong>und</strong>sätzliche Haltung, die Ideologie einer Partei zu<br />

berücksichtigen, um ein recht gutes Bild davon zu erhalten, wie sie sich in ihrer<br />

Legislaturperiode verhalten wird (Ideologie- Modell).<br />

Die Untersuchungen, die im Folgenden vorgestellt werden, gehen noch einen Schritt weiter.<br />

Die nächsten drei Modelle beziehen sich bereits auf die Regierungsparteien <strong>und</strong> stellen<br />

mögliche Machtverhältnisse innerhalb der Koalitionsregierung dar. Zur Erinnerung: Es<br />

wurden für diese Untersuchungen generell drei <strong>politische</strong> Dokumente ausgewertet <strong>und</strong><br />

anschließend mit ihrer Umsetzung in praktische Politik verglichen. Die drei Programme, um<br />

die es sich hier handelt, waren 1. das Programm der Kanzlerpartei, 2. das Programm der FDP<br />

<strong>und</strong> 3. die Regierungserklärung.<br />

1. Das Parteien- Modell 2<br />

Das Parteien- Modell geht davon aus, dass die Mehrheitspartei maßgeblichen Einfluss auf das<br />

<strong>politische</strong> Handeln ausübt. Das heißt also, dass im Endeffekt die große Partei, die „Gewinner-<br />

Partei“ entsprechend ihrer Mehrheit im B<strong>und</strong>estag auch innerhalb der Koalition das meiste<br />

Sagen hat. Bei dieser Variante der möglichen Machtverhältnisse in der Regierung haben<br />

Regierungserklärungen mehr symbolischen als substantiellen Charakter, stattdessen bestimmt<br />

die Kanzlerpartei bzw. deren Wahlprogramm die <strong>politische</strong>n Handlungen direkt.<br />

SPD<br />

bestimmt<br />

Politisches<br />

Handeln<br />

Die Grünen<br />

Wenig<br />

Einfluss<br />

1<br />

Siehe Hofferbert, Klingemann 1990: „The policy impact of party programmes and government declarations<br />

in the Federal Republic of Germany“, untersuchen den PartyGovernmentPolicy Process<br />

2<br />

gleiche Quelle wie 1 : S. 285 (“The Party model”)


Seite 11 von 14<br />

2. Das Kabinett- Modell 1<br />

Ähnlich wie das Parteien- Modell geht das Kabinett- Modell ebenfalls davon aus, dass der<br />

Partei, die den Kanzler stellt, die größte <strong>politische</strong> Entscheidungsmacht zugesprochen wird.<br />

Dieses geschieht allerdings nicht mehr direkt, sondern indirekt. Man kann den Einfluss der<br />

großen Partei daher indirekt nennen, weil nun die Instanz der Regierungserklärung eine<br />

entscheidende Rolle spielt. Nach dem Kabinett- Modell übt nun die Regierungserklärung als<br />

das Dokument, welches von beiden Parteien abgesegnet wurde, den maßgeblichen Einfluss<br />

auf die gemachte Politik aus. Allerdings, <strong>und</strong> nun kehren wir zur indirekten Macht der<br />

Kanzlerpartei zurück, während die Regierungserklärung im wesentlichen die <strong>politische</strong>n<br />

Prioritäten festlegt, so ist diese wiederum hauptsächlich bestimmt von der „Gewinner“- Partei.<br />

SPD<br />

bestimmt<br />

Regierungserklärung<br />

bestimmt<br />

Politisches<br />

Handeln<br />

Die Grünen<br />

Wenig<br />

Einfluss<br />

3. Das Regierungsmodell 2<br />

Das letzte relevante Modell, anhand dessen Klingemann <strong>und</strong> Hofferbert ihre Analysen<br />

aufzogen, ist das so genannte Regierungsmodell. Hier geht es nun darum, dass ebenso wie im<br />

Kabinett- Modell die Regierungserklärung die <strong>politische</strong> Tagesordnung bestimmt. Der<br />

Unterschied hier besteht allerdings darin, dass die Regierungserklärung unabhängig von den<br />

beiden Parteiwahlprogrammen erfolgt. Überspitzt formuliert könnte dies bedeuten, dass sich<br />

in unserer heutigen Rot-/Grün-Koalition die <strong>Politiker</strong> zusammensetzen mit ihren Rot-/Grünen<br />

<strong>politische</strong>n Vorstellungen, was allerdings letztlich dabei heraus kommt, kann davon<br />

vollkommen unabhängig, also z.B. hellblau (siehe Beispielgrafik) sein.<br />

SPD<br />

Regierungserklärung<br />

Bestimmt<br />

Politisches<br />

Handeln<br />

Die Grünen<br />

1<br />

Siehe Hofferbert, Klingemann 1990: „The policy impact of party programmes and government declarations<br />

in the Federal Republic of Germany“, S. 283 (“The cabinet model”)<br />

2<br />

Siehe Hofferbert, Klingemann 1990: „The policy impact of party programmes and government declarations<br />

in the Federal Republic of Germany“, S. 285 (“The Party model”)


Seite 12 von 14<br />

Nach diesen Modellen ergeben sich für Klingemann <strong>und</strong> Hofferbert folgende Hypothesen:<br />

1) Das wichtigste <strong>und</strong> daher bindende Programm sollte die Regierungserklärung sein, da diese<br />

einen Kompromiss beider regierender Parteien darstellt (ist das von der Koalition gemeinsam<br />

formulierte Dokument)<br />

2) Das zweitwichtigste Programm ist das der Kanzlerpartei <strong>und</strong><br />

3) Den wenigsten Einfluss besitzt das Programm der FDP<br />

Ergebnisse:<br />

Generell zeigten die Untersuchungen, dass die Stammtischparolen wie „<strong>Politiker</strong> sagen das<br />

eine <strong>und</strong> tun das andere“ nicht aufrecht erhalten werden können, da es einen eindeutigen<br />

Zusammenhang gibt zwischen dem, was <strong>Politiker</strong> sagen <strong>und</strong> was sie später in der Regierung<br />

tun. Auffällig ist vor allem, dass die Umsetzung von Programmatik in praktische Politik dort<br />

am größten ist, wo die Partei auch den jeweiligen Ministerposten inne hatte <strong>und</strong> somit auch<br />

über die organisatorischen Mittel verfügte.<br />

Die Thesen, die Klingemann <strong>und</strong> Hofferbert stellen, werden allerdings nicht bestätigt. Nach<br />

den erwähnten Thesen sollte die Regierungserklärung als das von der Koalition gemeinsam<br />

formulierte Dokument den größten Einfluss auf das Ausgabeverhalten haben. Die ermittelten<br />

Bef<strong>und</strong>e sprechen jedoch gegen die gestellte Vermutung. Die Regierungserklärung besaß nur<br />

in 2 von den 11 untersuchten Politikfeldern einen größeren statistischen Erklärungswert als<br />

das Programm der Kanzlerpartei bzw. der FDP. Nach diesem Ergebnis wird also weder das<br />

Kabinett- noch das Regierungsmodell bestätigt.<br />

Nach Meinung der Autoren sollte an zweitwichtigster Stelle nun das Programm der<br />

Kanzlerpartei stehen. Bestätigt wird hierbei die Vermutung, dass das Wahlprogramm der<br />

CDU bzw. der SPD jeweils einen großen Einfluss auf die Regierungserklärung ausübt, womit<br />

zugleich ebenso ein Aspekt des Kabinett- Modells bestärkt wird. Was allerdings wieder gegen<br />

die gestellte Hypothese spricht, ist die Tatsache, dass das Programm der großen Partei nur in 4<br />

von 11 Feldern aussagekräftiger war, als die beiden anderen Dokumente, somit wird auch die<br />

Allgemeingültigkeit des Parteien- Modells verworfen.<br />

Überraschende Ergebnisse liefern die Daten der Analyse bezüglich des FDP-Programms. Das<br />

Wahlprogramm der „kleinen“ Partei wies generell starke Beziehungen zwischen<br />

Programmatik <strong>und</strong> Ausgabeverhalten auf . Eigentlich sollte es der Vermutung nach an letzter<br />

Stelle in Hinblick auf die Voraussagefähigkeit der <strong>politische</strong>n Prioritäten stehen, doch<br />

letztlich zeigt sich in den Ergebnissen, dass das Wahlprogramm der FDP in 5 Feldern ein<br />

besserer Indikator als Regierungserklärung oder Kanzlerpartei war. Weiterhin war es sogar in<br />

30% der Staatsausgaben das einzige Programm, aufgr<strong>und</strong> dessen man verlässliche<br />

Voraussagen treffen konnte. In 70% war das „einflusslose Programm“ ein mindestens<br />

genauso guter Indikator für das Ausgabeverhalten wie das Wahlprogramm der größeren Partei<br />

bzw. die Regierungserklärung. Schließlich, wie erwähnt, zeigten sich besonders hohe<br />

Übereinstimmungen zwischen Programmatik <strong>und</strong> Handlung im Bereich des<br />

Außenministeriums. Der FDP muss also besonders viel Macht dort zugeschriebenen werden,


Seite 13 von 14<br />

wo sie auch über die Kontrolle über bestimmte Ressorts besitzt, also dort, wo sie die Minister<br />

stellt. Interessanterweise scheint sich sogar die liberale Politik im Bereich des<br />

Außenministeriums auch in den Jahren durchzusetzen, in denen die FDP gar nicht an der<br />

Regierung beteiligt war (Große Koalition, CDU-Regierung).<br />

Da die erhobenen Daten alle drei vorgestellten Modelle in Bezug auf die Macht- <strong>und</strong><br />

Entscheidungsverhältnisse in den Koalitionsregierungen der BRD widerlegen, kommen<br />

Klingemann <strong>und</strong> Hofferbert zu einem weiteren Modell, dass den großen Einfluss der kleinen<br />

FDP erklären soll:<br />

Das Erpressungsmodell: 1<br />

Das Erpressungsmodell (engl.: blackmail model) sieht die Partei der FDP als „Kingmaker“.<br />

Aufgr<strong>und</strong> ihrer mittigen Ausrichtung im links – rechts – Spektrum bietet sie sich als idealer<br />

Koalitionspartner für beide größere Parteien an. Obwohl diese Einordnung der FDP mittig im<br />

Parteienspektrum zumindest nicht immer zutreffend ist (Programme sind teilweise<br />

linker/rechter als SPD/CDU), bevorzugen sowohl CDU als auch die SPD zumeist die<br />

Koalition mit der kleinen Partei als die große Koalition, welche größtenteils aufgr<strong>und</strong><br />

ideologischer Unterschiede abgelehnt wurde. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist, dass<br />

die kleine FDP der wahre Gewinner der Wahlen ist, trotz ihrer geringen Stimmanteile von<br />

durchschnittlich 9,1% war sie in 30 Jahren des untersuchten Zeitraums an der Regierung<br />

beteiligt, das ist deutlich mehr, als die Regierungszeit der beiden großen Parteien CDU <strong>und</strong><br />

SPD. Hinzu kommt, dass sich die Koalitionsregierung gerade nicht, wie vermutet, in ihren<br />

Handlungen dann hauptsächlich danach richtet, welche Partei die meisten Stimmen<br />

bekommen hat, sondern die vermeintlich unscheinbare FDP das meiste Sagen hat. Hieraus<br />

wird ersichtlich, dass die großen Parteien einen hohen Preis dafür zahlen müssen, um die<br />

Regierung mit Hilfe einer kleineren Partei bilden zu können.<br />

Nach Meinung der Autoren nutzt die FDP anscheinend geschickt ihre „Nutznießer- Stellung“<br />

dazu, ihre Interessen durchzusetzen <strong>und</strong> die großen Parteien „zu erpressen“.<br />

Fazit: <strong>Sind</strong> <strong>Politiker</strong> Lügner?<br />

Generell lässt sich aus den Untersuchungen ableiten, dass es einen Zusammenhang zwischen<br />

Parteiprogrammatik <strong>und</strong> Regierungshandeln gibt <strong>und</strong> im großen <strong>und</strong> ganzen <strong>Politiker</strong> nicht<br />

frei nach dem Motto „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“ handeln, auch wenn<br />

die Umsetzung von <strong>Wahlprogramme</strong>n in die <strong>politische</strong> Realität weit von einem 1:1 aus den<br />

unterschiedlichsten Gründen (institutionelle Rahmenbedingungen, aktuelle unvorhersehbare<br />

Ereignisse) entfernt ist.<br />

Die Aussagekraft eines Programms ist unter anderem davon abhängig, ob sich die Partei in<br />

der Regierung oder in der Opposition befindet. Aufschluss über mögliches Ausgabeverhalten<br />

liefern weiterhin Attribute wie die ideologische Gr<strong>und</strong>haltung einer Partei.<br />

In Koalitionsregierungen erhalten kleine Parteien oftmals einen viel größeren Einfluss <strong>und</strong><br />

eine viel größere Macht, als ihnen nach den Wählerstimmen bzw. der Anzahl ihrer Sitze im<br />

B<strong>und</strong>estag zugetraut wird.<br />

1<br />

Weitere Informationen zum Erpressungsmodell finden sich in Hofferbert, Klingemann 1990: „The policy<br />

impact of party programmes and government declarations in the Federal Republic of Germany“, S.295f (“The<br />

blackmail model”)


Seite 14 von 14<br />

Folgende Zahlen belegen dieses Fazit zusätzlich: In Deutschland bekam die FDP<br />

durchschnittlich 9,1% der Stimmen <strong>und</strong> 9,4% der Sitze im B<strong>und</strong>estag <strong>und</strong> stellte den<br />

Ergebnissen der Untersuchung zufolge das mitunter wichtigste Wahlprogramm. Die größeren<br />

Parteien benötigten, wenn sie an der Regierung beteiligt waren 17,8 Sitze für ein Ministerium<br />

(CDU) bzw. 18,8 Sitze (SPD). Die FDP hingegen brauchte nur 12,1 Sitze für ein Ministerium,<br />

da sie sich als idealer Koalitionspartner anbot <strong>und</strong> um eine große Koalition zu verhindern,<br />

wurden seitens der großen Parteien Zugeständnisse gemacht. CDU/SPD mussten demnach<br />

einen hohen Preis dafür zahlen, die Regierung mit Hilfe der kleinen FDP zu bilden.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der überraschenden Bef<strong>und</strong>e innerhalb der zweiten Untersuchungsreihe kann man<br />

abschließend sagen, dass das nützlichste Dokument, dass ein Wähler in der BRD zu Rate<br />

ziehen sollte, das Programm der FDP ist (zumindest bezogen auf den untersuchten Zeitraum).<br />

Allerdings sieht die heutige <strong>politische</strong> Situation anders aus: Die FDP ist nicht mehr der<br />

einzige „Kingmaker“, die Grünen stellen harte Konkurrenz für die FDP dar, da vor allem die<br />

SPD nun einen potentiellen anderen Koalitionspartner hat. Wie sich z.B. unter der jetzigen<br />

Rot-/Grün- Regierung zeigt, ist die SPD nun nicht mehr auf die Koalitionsbereitschaft der<br />

FDP angewiesen. Die Forderungen, die die FDP nun an die große Partei stellen kann, haben<br />

sich durch den Zuwachs neuer Koalitionsmöglichkeiten natürlich erheblich vermindert, da es<br />

nun, vor allem für die SPD mit den Grünen einen anderen Koalitionspartner gibt.<br />

Das so genannte Erpressungspotential seitens der FDP scheint beinahe erloschen zu sein,<br />

stattdessen – zumindest momentan – steht die SPD nun als die Partei da, die sich ihren<br />

Koalitionspartner aussuchen kann, sie ist somit derzeit in der glücklichen Lage, sich zwischen<br />

unterschiedlichen Koalitionsangeboten entscheiden zu können. Falls die Grünen nicht spuren,<br />

besitzt die SPD immer noch die Möglichkeit, mit der FDP zu koalieren ( siehe<br />

Koalitionsdiskussionen in NRW).<br />

Aufgr<strong>und</strong> dieser veränderten <strong>politische</strong>n Konstellationen kann man annehmen, dass das<br />

Programm der FDP heute wahrscheinlich um einiges weniger aussagekräftig ist als in dem<br />

Untersuchungszeitraum, auf dessen Ergebnisse sich die Aussagen Klingemanns <strong>und</strong><br />

Hofferberts beziehen.


Seite 15 von 14


Literaturverzeichnis<br />

Hofferbert, Richard I./Klingemann, Hans-Dieter 1990:<br />

The Policy Impact of Party Programmes and Government Declarations in the Federal<br />

Republic of Germany, in: European Journal of Political Research 18<br />

Hofferbert, Richard I./Klingemann, Hans-Dieter/Volkens, Andrea 1992:<br />

<strong>Wahlprogramme</strong>, Regierungserklärungen <strong>und</strong> <strong>politische</strong>s Handeln. Zur „Programmatik<br />

<strong>politische</strong>r Parteien“, in: Andreß, Hans-Jürgen/Huinink, Johannes, et al.: Theorie, Daten,<br />

Methoden. Neue Modelle <strong>und</strong> Verfahrensweisen in den Sozialwissenschaften, München<br />

Hofferbert, Richard I./Klingemann, Hans-Dieter/Budge, Ian (Hrsg.), 1994:<br />

Parties, Policies and Democracy, Boulder: Westview

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