Ein Chef, der sie schlecht behandelt. Kollegen, die ihr ... - eBook.de
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Über <strong>die</strong>ses Buch:<br />
<strong>Ein</strong> <strong>Chef</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>sie</strong> <strong>schlecht</strong> <strong>behan<strong>de</strong>lt</strong>. <strong>Kollegen</strong>, <strong>die</strong> <strong>ihr</strong> <strong>die</strong> kalte<br />
Schulter zeigen. <strong>Ein</strong> Leben, das <strong>sie</strong> von Tag zu Tag mehr zu<br />
ersticken droht. Finja fühlt sich wie im freien Fall – bis <strong>sie</strong> das<br />
Online-Rollenspiel „Breath of Doom“ ent<strong>de</strong>ckt. In <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
abenteuerlichen Fantasywelt wird aus <strong><strong>de</strong>r</strong> hilflosen jungen Frau <strong>die</strong><br />
mächtige Zauberin Brianna. Hier kann <strong>sie</strong> es mit je<strong>de</strong>m Gegner<br />
aufnehmen und voller Selbstvertrauen von Sieg zu Sieg ziehen.<br />
Auch in Finjas wahrem Leben scheint sich auf einmal alles zum<br />
Guten zu wen<strong>de</strong>n, als <strong>sie</strong> <strong>de</strong>m schüchternen Ben begegnet. Doch ist<br />
er wirklich <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann, für <strong>de</strong>n <strong>sie</strong> ihn hält? Und ist auch in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Online-Welt alles an<strong><strong>de</strong>r</strong>s, als es auf <strong>de</strong>n ersten Blick scheint?<br />
<strong>Ein</strong> fesseln<strong><strong>de</strong>r</strong> Roman über <strong>die</strong> beklemmen<strong>de</strong> Frage: „Was<br />
pas<strong>sie</strong>rt, wenn ein Spiel zur gefährlichen Falle wird?“<br />
Über <strong>de</strong>n Autor:<br />
Jannis Becker ist das Pseudonym, unter <strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong> für historische<br />
Romane bekannte Autor Wolfgang Jaedtke seine Thriller und<br />
zeitgenössischen Geschichten veröffentlicht. Wolfgang Jaedtke<br />
wur<strong>de</strong> 1967 in Lüneburg geboren, stu<strong>die</strong>rte Historische<br />
Musikwissenschaft und promovierte mit einer Arbeit über<br />
Beethoven. Danach arbeitete er für ein Theater, bevor er sich als<br />
Schriftsteller selbstständig machte.<br />
***<br />
<strong>eBook</strong>-Lizenzausgabe Dezember 2013<br />
<strong>eBook</strong>.<strong>de</strong> Edition, Hamburg 2013<br />
Copyright <strong><strong>de</strong>r</strong> Originalausgabe © 2013 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit<br />
Genehmigung <strong>de</strong>s Verlages wie<strong><strong>de</strong>r</strong>gegeben wer<strong>de</strong>n.<br />
Redaktion: Ralf Reiter<br />
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter<br />
Verwendung eines Bildmotivs von katielittle/shutterstock.com.<br />
ISBN 403-8-858-10129-3
Jannis Becker<br />
MULTIPLAYER<br />
Gefährliches Spiel<br />
Roman<br />
<strong>eBook</strong>.<strong>de</strong> Edition
Für<br />
Merianna<br />
Cassaja<br />
Mantika<br />
Anamyris<br />
und<br />
Dariya
Kapitel I<br />
Die Abendsonne glänzte blutrot auf <strong>de</strong>n Hängen <strong>de</strong>s Gebirges. <strong>Ein</strong>e<br />
schattenhafte Gestalt bewegte sich vorsichtig auf <strong>de</strong>n <strong>Ein</strong>gang einer<br />
Schlucht zu. Ihr schmaler, langgliedriger Körper war in eine<br />
Rüstung aus dunklem Le<strong><strong>de</strong>r</strong> gehüllt, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n flachen Bauch und <strong>die</strong><br />
muskulösen Schenkel frei ließ. Ihre Brust hob und senkte sich<br />
rasch, während <strong>ihr</strong> längliches Gesicht mit <strong>de</strong>n dunklen Augen sich<br />
von einer Seite zur an<strong><strong>de</strong>r</strong>en wandte, auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Suche nach Gefahr.<br />
Kurz hielt <strong>sie</strong> inne und winkte Ghira an <strong>ihr</strong>e Seite, <strong>de</strong>n schwarzen<br />
Panther, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>sie</strong> begleitete. Dann schlich <strong>sie</strong> hinter einen<br />
Felsvorsprung und lugte um <strong>die</strong> Ecke.<br />
Die Schlucht lag wie ein finsterer Korridor zwischen hoch<br />
aufragen<strong>de</strong>n Hängen, gesprenkelt mit verkrüppelten Birken. Schon<br />
von weitem erkannte Brianna, dass sich dunkle Gestalten im<br />
Schatten <strong><strong>de</strong>r</strong> Felsen herumtrieben. Die massigen Körper waren<br />
doppelt so hoch wie <strong>sie</strong> selbst und min<strong>de</strong>stens viermal so breit. Sie<br />
stan<strong>de</strong>n einfach da, abwartend wie ein groteskes<br />
Begrüßungskomitee, <strong>die</strong> schweren Keulen gesenkt.<br />
Das muss jetzt nicht sein, dachte Brianna seufzend. Die halten mich<br />
nur auf.<br />
<strong>Ein</strong>e Schlägerei mit <strong>de</strong>n Trollen wür<strong>de</strong> <strong>sie</strong> wahrscheinlich<br />
überstehen, doch es konnte wertvolle Minuten kosten. Vorsichtig<br />
schlich <strong>sie</strong> näher, bis <strong>die</strong> Gestalten <strong>de</strong>utlicher wur<strong>de</strong>n und <strong>ihr</strong>e<br />
groben Gesichter aus <strong>de</strong>m Schatten auftauchten. Hässlich waren<br />
<strong>sie</strong>, wie riesige Kröten auf zwei Beinen, mit einfältig glitzern<strong>de</strong>n<br />
Schweinsäuglein und meißelartigen Zähnen. Ghira, Briannas<br />
schwarzer Panther, wollte bereits vorpreschen und sich auf <strong>de</strong>n<br />
ersten <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellen stürzen, doch <strong>sie</strong> hielt ihn zurück.<br />
Nicht heute, Ghira! Wir haben etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>es vor.
Sie hob <strong>die</strong> Arme, stellte sich auf <strong>die</strong> Zehenspitzen und beschwor<br />
eine dunkle Wolke, <strong>die</strong> sich als träge kreisen<strong>de</strong> Schwa<strong>de</strong><br />
herabsenkte und <strong>ihr</strong>en Körper umhüllte. Der Tarnzauber machte <strong>sie</strong><br />
und <strong>ihr</strong>en Begleiter unsichtbar – allerdings nur für 30 Sekun<strong>de</strong>n.<br />
Die Zeit lief. Sie musste sich beeilen.<br />
Entschlossen huschte <strong>sie</strong> vorwärts, direkt auf <strong>die</strong> Trolle zu. Ihre<br />
mächtigen Gestalten kamen näher, wuchsen zu dunklen Kolossen.<br />
Brianna hielt sich nah an <strong><strong>de</strong>r</strong> rechten Seitenwand <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlucht,<br />
umrun<strong>de</strong>te <strong>de</strong>n ersten <strong><strong>de</strong>r</strong> Trolle, schlüpfte zwischen zwei weiteren<br />
hindurch, näherte sich <strong>de</strong>m Anführer, <strong><strong>de</strong>r</strong> mit seiner Steinkeule<br />
ungeduldig auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n klopfte. Doch er starrte an <strong>ihr</strong> vorbei,<br />
<strong>die</strong> glitzern<strong>de</strong>n Augen stumpf und leer.<br />
<strong>Ein</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>mal, versprach ihm Brianna in Gedanken. Du kriegst<br />
noch, was du ver<strong>die</strong>nst. Aber im Moment habe ich keine Zeit.<br />
Sie ließ <strong>die</strong> Gruppe hinter sich und erreichte <strong>de</strong>n rückwärtigen Teil<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Schlucht. Der Tarnzauber hielt immer noch an – keine Gefahr<br />
mehr. Die Trolle waren weit genug weg, und Brianna wusste, dass<br />
<strong>sie</strong> <strong>ihr</strong>e Wachposten nicht verlassen wür<strong>de</strong>n.<br />
Bei Fuß, Ghira!<br />
Sie wartete, bis <strong><strong>de</strong>r</strong> Panther <strong>sie</strong> eingeholt hatte, und bog in ein<br />
enges Kerbtal ein, das sich zur Rechten öffnete. Dort lag <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
<strong>Ein</strong>gang zur Mine, eine finstere Stollenöffnung, gestützt von<br />
modrigen Balken. Vorsichtig schlich Brianna näher, bis <strong>sie</strong> einige<br />
Meter tief hineinsehen konnte. Der Bo<strong>de</strong>n war mit Geröll übersät,<br />
durchsetzt von gebleichten Knochen, <strong>die</strong> von vergangenen<br />
Schlachten zeugten.<br />
Er ist hier drin – ich weiß es. Ich muss nur warten, bis er wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
herauskommt.<br />
<strong>Ein</strong> wüten<strong>de</strong>s Grunzen in <strong>ihr</strong>em Rücken ließ <strong>sie</strong> erschrecken. Sie<br />
fuhr herum und sah mehrere gedrungene Gestalten auf sich
zukommen, <strong>die</strong> im Schatten eines Felsüberhangs gelauert hatten.<br />
Sie waren <strong>de</strong>utlich kleiner als <strong>die</strong> Trolle und überragten Brianna<br />
kaum um eine Kopflänge.<br />
Orks, erkannte <strong>sie</strong>. Ihr nervt, Jungs! Aber wenn’s sein muss …<br />
Die Unhol<strong>de</strong> stellten keine ernstzunehmen<strong>de</strong> Bedrohung dar, doch<br />
<strong>sie</strong> waren im Weg. Erneut stellte sich Brianna auf <strong>die</strong> Zehenspitzen<br />
und wirkte einen Verteidigungszauber, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>sie</strong> und <strong>ihr</strong>en Begleiter<br />
in eine schimmern<strong>de</strong> Blase hüllte. Dann warf <strong>sie</strong> sich <strong>de</strong>m ersten<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Angreifer entgegen. Elegant wirbelten <strong>ihr</strong>e bei<strong>de</strong>n vergifteten<br />
Klingen und <strong>de</strong>ckten <strong>de</strong>n Ork mit einem Hagel tödlicher Hiebe ein.<br />
Die grünliche Haut platzte auf, und ein Blutregen schoss hervor.<br />
Als <strong><strong>de</strong>r</strong> Ork zu Bo<strong>de</strong>n ging, warf sich Brianna ohne Zögern auf <strong>de</strong>n<br />
nächsten und hetzte <strong>ihr</strong>en Panther auf einen dritten. Ohne mehr als<br />
ein paar Kratzer einzustecken, schlug <strong>sie</strong> <strong>de</strong>n Gegner nie<strong><strong>de</strong>r</strong>, und<br />
auch Ghira brachte <strong>de</strong>n seinen zu Fall. In selbstmör<strong><strong>de</strong>r</strong>ischer<br />
Sturheit drangen <strong>die</strong> Orks vor, obwohl offensichtlich war, dass <strong>sie</strong><br />
keine Chance hatten. Kaum zwei Minuten später war <strong><strong>de</strong>r</strong> gesamte<br />
Bo<strong>de</strong>n vor <strong>de</strong>m Stolleneingang mit toten Körpern be<strong>de</strong>ckt. Brianna<br />
hielt inne und drehte sich um sich selbst, sah jedoch keinen Gegner<br />
mehr auf <strong>de</strong>n Füßen.<br />
Alles in Ordnung, Ghira?<br />
Sie bemerkte, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Panther aus einigen Wun<strong>de</strong>n blutete, und<br />
legte rasch einen Heilzauber auf ihn. Die Wun<strong>de</strong>n schlossen sich<br />
im Bruchteil einer Sekun<strong>de</strong>. <strong>Ein</strong>e Weile wartete <strong>sie</strong>, ob <strong>die</strong> Orks<br />
zurückkehren wür<strong>de</strong>n, doch als sich nichts regte, bezog <strong>sie</strong> <strong>ihr</strong>en<br />
Wachposten vor <strong>de</strong>m Stolleneingang. Der Schwarze Ritter wür<strong>de</strong><br />
kommen, früher o<strong><strong>de</strong>r</strong> später. Sie war sicher, dass er dort drinnen<br />
war. Er suchte nach <strong>de</strong>n Schätzen, <strong>die</strong> irgendwo auf <strong><strong>de</strong>r</strong> untersten<br />
Ebene <strong>de</strong>s Bergwerks von einem Drachen gehütet wur<strong>de</strong>n, und da<br />
Brianna sein Vorhaben schon beim letzten Mal vereitelt hatte, war
er sicher für einen zweiten Versuch zurückgekehrt.<br />
Es war seine Zeit: neun Uhr abends. Natürlich hätte <strong>sie</strong> selbst in<br />
<strong>de</strong>n Stollen hinabsteigen und nach ihm suchen können, doch <strong>die</strong>ser<br />
Herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung fühlte <strong>sie</strong> sich noch nicht gewachsen. Die<br />
unterirdischen Räume wimmelten von gefährlichen Monstern, nicht<br />
zu vergleichen mit <strong>de</strong>n lächerlichen Level-15-Orks am <strong>Ein</strong>gang.<br />
Brianna war stark im Angriff, doch <strong>sie</strong> trug nur eine leichte<br />
Rüstung und war auf Duelle o<strong><strong>de</strong>r</strong> kleine Gruppen von Gegnern<br />
speziali<strong>sie</strong>rt. Der Schwarze Ritter hatte es dort unten leichter: Er<br />
war von Kopf bis Fuß in einen schweren Panzer gehüllt und konnte<br />
viel Scha<strong>de</strong>n einstecken, ohne dass seine Lebenspunkte in <strong>de</strong>n<br />
roten Bereich sackten. Dafür jedoch war er weitgehend wehrlos<br />
gegen Magie – und darauf beruhte Briannas Plan.<br />
Fast eine Viertelstun<strong>de</strong> wartete <strong>sie</strong>. Dann endlich sah <strong>sie</strong> <strong>die</strong><br />
schemenhafte Gestalt am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Stollens auftauchen. Dass er es<br />
war, wusste <strong>sie</strong>, noch bevor <strong>sie</strong> sein Gesicht erkennen konnte, <strong>de</strong>nn<br />
sein Name – GORTHAUR – leuchtete in flammen<strong><strong>de</strong>r</strong> Schrift über<br />
seinem Kopf. Er war angeschlagen; Brianna sah es an <strong>de</strong>m roten<br />
Lebensbalken unter <strong>de</strong>m Namen, von <strong>de</strong>m ein run<strong>de</strong>s Drittel fehlte.<br />
Offenbar hatte er bereits einen guten Teil seiner Kraft im Kampf<br />
gegen <strong>die</strong> Monster verloren, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Mine bevölkerten. Umso<br />
besser.<br />
Auch er erkannte <strong>sie</strong>, <strong>de</strong>nn über <strong>ihr</strong>em Kopf leuchtete ebenfalls ein<br />
Namensschild, auch wenn <strong>sie</strong> selbst es nicht sehen konnte. Der<br />
Schwarze Ritter hielt inne, verharrte reglos. Das hatte er noch nie<br />
getan, und erst als das Chatfenster sich öffnete, begriff Brianna,<br />
dass er eine Nachricht tippte.<br />
[Gorthaur:]
Brianna antwortete ohne Zögern.<br />
[Brianna:] <br />
[Gorthaur:] <br />
[Brianna:] <br />
[Gorthaur:] <br />
[Brianna:] <br />
Diese Provokation wür<strong>de</strong> er sich nicht bieten lassen, das wusste <strong>sie</strong>.<br />
Der Chat verstummte. Befriedigt sah Brianna, dass <strong>die</strong> Gestalt in<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> schwarzen Rüstung einige Schritte vorwärts tat und <strong>ihr</strong>en<br />
mächtigen, zweihändigen Kampfhammer hob.<br />
Na bitte! Los geht’s …<br />
Binnen Sekun<strong>de</strong>n wirkte <strong>sie</strong> zwei Zauber – <strong>de</strong>n Schutzbann, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
<strong>ihr</strong>en Körper in eine durchsichtige Blase hüllte, und einen Bann auf<br />
<strong>ihr</strong>en Gegner, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>die</strong>sen verlangsamte. Der Schwarze Ritter<br />
bewegte sich nun wie in Zeitlupe. Brianna stürzte ihm entgegen,<br />
<strong>ihr</strong>en Panther im Gefolge. Der schwere Kampfhammer fuhr nie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
– und traf Ghira, <strong><strong>de</strong>r</strong> mit einem Jaulen zurücksprang. Brianna sah,<br />
dass sein Lebensbalken auf 30 Prozent sank.<br />
Na warte, Gorthaur …<br />
Der Bremszauber sorgte dafür, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwarze Ritter mehrere<br />
Sekun<strong>de</strong>n brauchte, um <strong>de</strong>n Hammer zu einem erneuten Hieb zu<br />
heben. Diese Zeitspanne nutzte Brianna aus, umrun<strong>de</strong>te leichtfüßig<br />
<strong>ihr</strong>en Gegner und fiel ihm in <strong>de</strong>n Rücken. Die bei<strong>de</strong>n vergifteten<br />
Dolche zuckten hervor, stachen zu, glitten einmal, zweimal,<br />
dreimal an <strong><strong>de</strong>r</strong> schweren Rüstung ab – dann endlich ein Treffer,<br />
immerhin mit 50 Punkten Scha<strong>de</strong>n.
Während<strong>de</strong>ssen hatte <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwarze Ritter sich endlich umgedreht<br />
und <strong>ihr</strong> das Gesicht zugewandt, das von einer eisernen Maske<br />
be<strong>de</strong>ckt war. Grotesk verlangsamt fuhr <strong><strong>de</strong>r</strong> schwere Hammer<br />
nie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Brianna sah <strong>de</strong>n Hieb kommen, nahm sich jedoch keine Zeit<br />
zum Ausweichen; statt<strong>de</strong>ssen stach <strong>sie</strong> blindlings weiter zu. Der<br />
Hammer traf, raubte <strong>die</strong> Hälfte <strong>ihr</strong>er Lebenspunkte und schleu<strong><strong>de</strong>r</strong>te<br />
<strong>sie</strong> mehrere Schritte rückwärts. Gleichzeitig jedoch griff <strong>ihr</strong><br />
Panther wie<strong><strong>de</strong>r</strong> an, to<strong>de</strong>smutig und ungeachtet seiner Verletzung.<br />
Ja, los, Ghira! Lenk ihn ab!<br />
Der Ritter wandte sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>m Tier zu, und Brianna nutzte <strong>die</strong><br />
Gelegenheit für eine erneute Attacke. Mit verdoppelter Wut drang<br />
<strong>sie</strong> auf <strong>ihr</strong>en Gegner ein, nutzte eine kürzlich erworbene<br />
Spezialfähigkeit namens „Heimtückischer Stoß“ und trieb bei<strong>de</strong><br />
Dolche gleichzeitig in seinen gepanzerten Wanst. Die schwere<br />
Rüstung gab nach, <strong>die</strong> Eisenplatten zersprangen, und helles Blut<br />
spru<strong>de</strong>lte hervor. Der Schwarze Ritter wankte, <strong>de</strong>n Hammer zum<br />
Schlag erhoben.<br />
„Perfektes Ausweichen“, zauberte Brianna geistesgegenwärtig und<br />
tauchte zur Seite weg, als <strong><strong>de</strong>r</strong> eisenbeschlagene Kolben nie<strong><strong>de</strong>r</strong>fuhr.<br />
Dann setzte <strong>sie</strong> zum „To<strong>de</strong>sstoß“ an, einer Über-Kreuz-Bewegung<br />
bei<strong><strong>de</strong>r</strong> Dolche in Halshöhe, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n Kopf <strong>de</strong>s Gegners glatt von <strong>de</strong>n<br />
Schultern trennen konnte.<br />
Ja! Ja!, triumphierte <strong>sie</strong>, als <strong>die</strong> Attacke gelang. Der Lebensbalken<br />
<strong>de</strong>s Schwarzen Ritters schrumpfte zu einem Strich. Wie ein<br />
gefällter Baum fiel <strong><strong>de</strong>r</strong> Koloss und blieb reglos im Schutt <strong>de</strong>s<br />
Stolleneingangs liegen.<br />
Brianna reckte <strong>ihr</strong>e blutigen Waffen und stieß ein<br />
markerschüttern<strong>de</strong>s Siegesgeheul aus. Dann wandte <strong>sie</strong> sich <strong>ihr</strong>em<br />
Panther zu und legte erneut einen Heilzauber auf ihn. Ghira trottete<br />
folgsam an <strong>ihr</strong>e Seite, und Brianna streichelte seinen Kopf.
Gut gemacht, Ghira! Ohne dich hätte ich es nicht geschafft. Nun<br />
müssen wir nur noch abwarten.<br />
Sie zog sich in einen Winkel hinter <strong>de</strong>m Stolleneingang zurück und<br />
beobachtete <strong>die</strong> Leiche <strong>de</strong>s Schwarzen Ritters. Sein Name,<br />
GORTHAUR, schwebte noch immer in leuchten<strong><strong>de</strong>r</strong> Schrift über<br />
<strong>de</strong>m zerschlagenen Körper. Bisher war er je<strong>de</strong>s Mal zurückgekehrt<br />
und wie<strong><strong>de</strong>r</strong>auferstan<strong>de</strong>n. Sie wusste, dass <strong>die</strong>s etwa fünf Minuten<br />
dauerte, <strong>de</strong>nn <strong>ihr</strong> Gegner musste das Spiel im Basislager neu<br />
beginnen und dann zu Fuß hierherlaufen, um seine Ausrüstung<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in Besitz zu nehmen. Sie wür<strong>de</strong> auf ihn warten und ihn<br />
erneut töten, sobald er auftauchte. Das hatte <strong>sie</strong> schon mehrmals<br />
getan, und stets hatte es funktioniert – zuweilen drei- o<strong><strong>de</strong>r</strong> viermal<br />
nacheinan<strong><strong>de</strong>r</strong>, bis „Gorthaur“ endlich aufgab und sich ausloggte.<br />
Wahrscheinlich hoffte er je<strong>de</strong>s Mal, dass <strong>sie</strong> <strong>die</strong> Geduld verlieren<br />
und nicht mehr da sein wür<strong>de</strong>, wenn er zurückkehrte. Doch Brianna<br />
hatte Geduld. Sie konnte Stun<strong>de</strong>n warten, wenn es sein musste, um<br />
ihn wie<strong><strong>de</strong>r</strong> und wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu töten, sobald er es wagte, sein maskiertes<br />
Gesicht am <strong>Ein</strong>gang <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlucht zu zeigen.<br />
Diesmal jedoch wartete <strong>sie</strong> vergeblich. <strong>Ein</strong>e lange Zeit verging, bis<br />
schließlich ein Lichtwirbel über <strong><strong>de</strong>r</strong> Leiche erschien und sich zu<br />
einem strahlen<strong>de</strong>n Glutball verdichtete. Wie von Geisterhand<br />
wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Körper aus <strong>de</strong>m Staub gehoben, schwebte aufwärts und<br />
vereinigte sich mit <strong>de</strong>m unirdischen Licht. Dann verging <strong>die</strong><br />
Erscheinung im Nichts. Der Leichnam war spurlos verschwun<strong>de</strong>n,<br />
selbst <strong>die</strong> Blutflecken am Bo<strong>de</strong>n hatten sich aufgelöst.<br />
Brianna verstand, was das be<strong>de</strong>utete: Gorthaur, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwarze<br />
Ritter, wür<strong>de</strong> heute nicht mehr zurückkehren. Er wusste, dass <strong>sie</strong><br />
auf ihn wartete und dass er erneut unterliegen wür<strong>de</strong>, wenn er<br />
zurückkehrte. Er gab sich geschlagen.
***<br />
Zufrie<strong>de</strong>n klickte Finja auf das Systemmenü und loggte <strong>ihr</strong>en<br />
Avatar aus. Für heute war <strong>die</strong> Schlacht geschlagen. Brianna, <strong>die</strong><br />
Dunkelelfe, konnte sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zurückverwan<strong>de</strong>ln. Ihr glattes,<br />
schwarzes Haar hellte sich auf, nahm eine un<strong>de</strong>finierbare Farbe<br />
zwischen Blond und Braun an und kräuselte sich im Nacken. Das<br />
lange, schmale Gesicht <strong>de</strong>hnte sich, <strong>die</strong> hohen Wangenknochen<br />
sanken ein Stück herab, und <strong>die</strong> dunklen Augen färbten sich blau.<br />
Arme und Beine schrumpften auf <strong>ihr</strong>e natürliche Länge, Bauch und<br />
Brüste wölbten sich ein wenig vor.<br />
Scha<strong>de</strong>, dachte Finja wie je<strong>de</strong>s Mal. Als <strong>sie</strong> an sich herabsah, fiel<br />
<strong>ihr</strong> Blick auf Ghira, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich auf <strong>ihr</strong>em Schoß zusammengerollt<br />
hatte und zufrie<strong>de</strong>n schnurrte. Auch er hatte sich zurückverwan<strong>de</strong>lt<br />
und war nur noch ein rauchschwarzer Kater mit hellen Pfoten und<br />
einem weißen Fleck auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Stirn. Von <strong>de</strong>m Kampf hatte er nicht<br />
das Geringste mitbekommen. Er wusste nicht einmal, dass seine<br />
Krallen eben noch über <strong>die</strong> Rüstung eines feindlichen Ritters<br />
geschrammt waren, dass er das Leben seiner Heldin gerettet hatte<br />
und fast für <strong>sie</strong> gestorben war.<br />
Gerührt strich Finja <strong>de</strong>m schlafen<strong>de</strong>n Kater über <strong>die</strong> Stirn. Er<br />
schien <strong>die</strong> Berührung zu spüren, ohne zu erwachen, räkelte sich auf<br />
<strong>ihr</strong>en Schenkeln und kehrte <strong>de</strong>n Bauch nach oben. Vorsichtig, um<br />
ihn nicht zu wecken, kraulte <strong>sie</strong> das dichte Fell. Vielleicht träumte<br />
er etwas Schönes, wenn <strong>sie</strong> das tat.<br />
Die Entspannung zwang <strong>ihr</strong> ein Gähnen ab. Es war bereits Viertel<br />
vor zehn; <strong>sie</strong> hatte länger vor <strong>de</strong>m Bildschirm gesessen als jemals<br />
in <strong>de</strong>n vergangenen Wochen – acht Stun<strong>de</strong>n lang im Büro und noch<br />
einmal zwei Stun<strong>de</strong>n zu Hause. Nun for<strong><strong>de</strong>r</strong>te <strong><strong>de</strong>r</strong> Marathon seinen<br />
Tribut. Sie musste bald ins Bett gehen, wenn <strong>sie</strong> morgen bei <strong><strong>de</strong>r</strong>
Arbeit einigermaßen ausgeruht sein wollte. Und das wollte <strong>sie</strong>,<br />
<strong>de</strong>nn <strong>sie</strong> war gespannt darauf, welchen Gesichtsausdruck <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann<br />
zeigen wür<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m <strong>sie</strong> vor wenigen Minuten <strong>de</strong>n virtuellen Kopf<br />
von <strong>de</strong>n Schultern getrennt hatte.<br />
Rache ist etwas Wun<strong><strong>de</strong>r</strong>bares, dachte Finja. Sie hatte einmal<br />
gelesen, dass Rache nur dann süß sei, wenn das Opfer <strong>de</strong>n Rächer<br />
erkannte. Seit <strong>sie</strong> Breath of Doom spielte, teilte <strong>sie</strong> <strong>die</strong>se Ansicht<br />
nicht mehr. Es war viel schöner, sich im Stillen zu rächen,<br />
unerkannt und in frem<strong><strong>de</strong>r</strong> Gestalt. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Realität hätte man dafür<br />
eine Maske aufsetzen, sein Gesicht verschleiern o<strong><strong>de</strong>r</strong> sich sonst wie<br />
unkenntlich machen müssen. Das Computer-Rollenspiel nahm <strong>ihr</strong><br />
<strong>die</strong>se Mühe ab: Sie konnte eine beliebige I<strong>de</strong>ntität annehmen und<br />
mit stolz erhobenem Haupt <strong>ihr</strong>e Waffen recken, ohne dass jemand<br />
sagte: Oh, seht mal, das ist doch <strong>die</strong> kleine Blon<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m<br />
Callcenter!<br />
Behutsam nahm Finja <strong>de</strong>n schlafen<strong>de</strong>n Kater in <strong>die</strong> Arme und trug<br />
ihn zum Bett hinüber, wo er sich ohne Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand ablegen ließ und<br />
auf <strong>de</strong>m Deckengebirge zerfloss wie ein Tuch aus<br />
anschmiegsamem Samt. Dann wartete <strong>sie</strong> noch ein paar Minuten,<br />
bis <strong>sie</strong> hörte, dass Carla, <strong>ihr</strong>e Mitbewohnerin, das Bad freigab.<br />
Finja duschte, was <strong>sie</strong> stets vor <strong>de</strong>m Schlafengehen tat, sah in <strong>de</strong>n<br />
Spiegel und war beinahe erstaunt, dass <strong>ihr</strong> ein blasses, run<strong>de</strong>s<br />
Gesicht mit hellen Augen aus <strong>de</strong>m Dampfnebel entgegenblickte –<br />
nicht <strong>die</strong> glutäugige Elfe mit <strong>de</strong>m schwarzen Haar.<br />
Brianna steht garantiert nie vor <strong>de</strong>m Spiegel, dachte <strong>sie</strong> mit einem<br />
Anflug von Neid. Und auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Waage erst recht nicht.<br />
Die Waage … In Briannas Welt gab es einen solchen Gegenstand<br />
überhaupt nicht. Es gab vergiftete Klingen, Daumenschrauben,<br />
Streckbänke und Galgen, aber das neuzeitliche Folterinstrument<br />
mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Digitalanzeige war noch nicht erfun<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n. Die Leute
in Breath of Doom hatten an<strong><strong>de</strong>r</strong>es zu tun, als sich um <strong>ihr</strong> Gewicht<br />
zu sorgen; <strong>sie</strong> kämpften, erforschten dunkle Geheimnisse, erlebten<br />
Abenteuer und retteten ganze Kontinente vor <strong>de</strong>m Zugriff böser<br />
Mächte. Sie hatten keine Zeit für Eitelkeit, und <strong>ihr</strong> Spiegelbild<br />
sahen <strong>sie</strong> höchstens einmal durch Zufall, wenn <strong>sie</strong> sich über<br />
stehen<strong>de</strong>s Wasser beugten. Das einzig relevante Gewicht war das<br />
<strong>ihr</strong>er Ausrüstung, <strong>die</strong> <strong>ihr</strong>e Beweglichkeit beeinträchtigen konnte,<br />
wenn <strong>sie</strong> zu schwer war. Brianna hatte damit kein Problem. Sie<br />
trug nur <strong>ihr</strong>e Dolche und eine leichte Rüstung, keinen Schild, nicht<br />
einmal einen Helm. Wenn <strong>sie</strong> sich bewegte, lief <strong>sie</strong> stets – das war<br />
vom Programm so vorgesehen; es gab in <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt von Breath of<br />
Doom keine gehen<strong>de</strong> Fortbewegung. Alle liefen ständig, wenn <strong>sie</strong><br />
nicht gera<strong>de</strong> stillstan<strong>de</strong>n. Kein Wun<strong><strong>de</strong>r</strong>, dass je<strong><strong>de</strong>r</strong> von ihnen, ob<br />
Mann o<strong><strong>de</strong>r</strong> Frau, gertenschlank war.<br />
Viel Bewegung!, echoten <strong>die</strong> Worte <strong>ihr</strong>es Hausarztes in <strong>ihr</strong>em<br />
Kopf. Nicht so viel vor <strong>de</strong>m Bildschirm hocken.<br />
Aus <strong>schlecht</strong>em Gewissen trat Finja auf <strong>die</strong> Waage, obwohl <strong>sie</strong> sich<br />
eigentlich geschworen hatte, es niemals am Abend, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n immer<br />
nur vor <strong>de</strong>m Frühstück zu tun. Unbarmherzig vergalt <strong>ihr</strong> <strong>die</strong><br />
Digitalanzeige <strong>die</strong>sen Fehler: 78,5 Kilo.<br />
Selbst schuld, schalt <strong>sie</strong> sich, beschloss, es am Morgen noch einmal<br />
zu versuchen, und tröstete sich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Erwartung, dass es dann<br />
eineinhalb Kilo weniger sein wür<strong>de</strong>n. Min<strong>de</strong>stens.<br />
Ghira erwartete <strong>sie</strong>, als <strong>sie</strong> in <strong>ihr</strong> Zimmer zurückkehrte. Er lag wie<br />
ein fallen gelassener Wollschal am Fußen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Betts und<br />
schnurrte im Schlaf. Finja kroch unter <strong>die</strong> Decke und mühte sich<br />
wie üblich, <strong>ihr</strong>e Beine so zu drapieren, dass <strong>sie</strong> ihn nicht wecken<br />
musste.<br />
Schlaf gut, Ghira, dachte <strong>sie</strong>, als <strong>sie</strong> das Licht löschte. Und als <strong>sie</strong>
zur dunklen Zimmer<strong>de</strong>cke starrte, auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Reflexe <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Straßenlaterne vor <strong>de</strong>m Fenster irrlichterten, fügte <strong>sie</strong> noch hinzu:<br />
Gute Nacht, Gorthaur. Wir sehen uns wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, verlass dich drauf.
Kapitel II<br />
In <strong><strong>de</strong>r</strong> wirklichen Welt flammte keine sinken<strong>de</strong> Sonne auf<br />
zerklüfteten Hängen. Keine Amazone pirschte mit gezückten<br />
Dolchen durch dunkle Schluchten, und kein schwarzer Panther<br />
folgte <strong>ihr</strong> auf <strong>de</strong>m Fuß, um <strong>ihr</strong>e Fein<strong>de</strong> anzuspringen. Es war<br />
Anfang Juli, doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Himmel ließ keinen Sommer erkennen,<br />
son<strong><strong>de</strong>r</strong>n war <strong>die</strong>sig und von einer Glocke aus Smog ver<strong>de</strong>ckt.<br />
Keine noch so hohe Temperatur hätte Finja verführt, mit Hotpants<br />
und bauchfreiem Top nach draußen zu gehen wie „Brianna“. Wie<br />
üblich trug <strong>sie</strong> eine weite Stoffhose und eine <strong>de</strong>zent gemusterte<br />
Bluse, als <strong>sie</strong> <strong>die</strong> Wohnung verließ und zur U-Bahn-Haltestelle<br />
ging.<br />
Sie war bereits spät dran. Hastig drängte <strong>sie</strong> sich an <strong>de</strong>n<br />
Obdachlosen vorbei, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n Treppenaufgang umlagerten, hinab in<br />
<strong>die</strong> Dungeons <strong><strong>de</strong>r</strong> City. Stumme Gespenster stan<strong>de</strong>n wartend auf<br />
<strong>de</strong>m Bahnsteig, versteinert wie Statuen, <strong>die</strong> übernächtigten Augen<br />
auf <strong>de</strong>n Zuganzeiger gerichtet. Die U-Bahn rauschte herein wie ein<br />
Drachenmonster aus einer unterirdischen Höhle und kam<br />
kreischend zum Stehen. Die Türen schwangen auf, und <strong>die</strong><br />
stummen Gespenster drängten hinein, klammerten sich an<br />
Haltegriffe o<strong><strong>de</strong>r</strong> quetschten sich in freie Ecken – Finja mitten unter<br />
ihnen. Das Gedränge war so dicht, dass ein hohlwangiger Mann um<br />
<strong>die</strong> 50 <strong>ihr</strong> eng auf <strong>de</strong>n Leib rücken musste, wobei er ein<br />
Muskelzucken zustan<strong>de</strong> brachte, das wohl ein entschuldigen<strong>de</strong>s<br />
Lächeln darstellen sollte. Sein Ellbogen drückte in <strong>ihr</strong>e linke Seite,<br />
und <strong>sie</strong> bemühte sich, nicht hörbar nach Luft zu schnappen.<br />
<strong>Ein</strong>e halbe Stun<strong>de</strong> später betrat <strong>sie</strong> <strong>de</strong>n Bürokomplex <strong>ihr</strong>es<br />
Arbeitgebers in <strong><strong>de</strong>r</strong> Innenstadt. ThonArt Ticket-Service stand<br />
weithin lesbar über <strong>de</strong>m <strong>Ein</strong>gang. Der Pförtner grüßte. Zwei
Treppen führten über einen Korridor in ein Großraumbüro voller<br />
Bienenwaben mit gläsernen Wän<strong>de</strong>n.<br />
„Hi!“ Jost, <strong><strong>de</strong>r</strong> ehrenamtlich für <strong>de</strong>n Kaffeeservice zuständig war,<br />
grüßte freundlich wie stets. „Willst du’n Kaffee?“<br />
Finja schüttelte dankend <strong>de</strong>n Kopf und nahm <strong>ihr</strong>en Platz am<br />
Fenster ein. Um neun Uhr wur<strong>de</strong>n <strong>die</strong> Leitungen freigeschaltet, und<br />
<strong>sie</strong> musste sich beeilen, <strong>ihr</strong>en Rechner hochzufahren und <strong>die</strong><br />
Armaturen auf <strong>de</strong>m Schreibtisch zu ordnen.<br />
„Morgen!“, sagte Birgit, <strong>ihr</strong>e Platznachbarin. „Na, spät dran?“<br />
Finja lächelte stumm, ohne sich zu einer Erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>ung durchringen<br />
zu können. Sie war heiser, wie so oft am Morgen, und versuchte,<br />
<strong>ihr</strong>e Stimmbän<strong><strong>de</strong>r</strong> zu schonen, da <strong>sie</strong> <strong>sie</strong> bis zum Abend noch<br />
pausenlos gebrauchen wür<strong>de</strong>.<br />
74, informierte <strong>sie</strong> <strong>die</strong> Digitalanzeige über <strong>die</strong> Kun<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> bereits<br />
in <strong><strong>de</strong>r</strong> Warteschlange hingen.<br />
Finja tat es sich nicht an, in <strong>de</strong>n Spiegel zu blicken, <strong><strong>de</strong>r</strong> an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Rückwand <strong>ihr</strong>er Zelle hing, obwohl das von allen Angestellten<br />
erwartet wur<strong>de</strong>. Der Coach in <strong><strong>de</strong>r</strong> Schulung über Telefon-<br />
Marketing hatte <strong>die</strong>se Maßnahme dringend empfohlen: „Lächeln<br />
Sie, das wirkt sich auch auf Ihre Telefonstimme aus! Kontrollieren<br />
Sie Ihr Lächeln im Spiegel!“ Doch Finja sah nicht gern in <strong>die</strong>sen<br />
Spiegel, <strong>de</strong>nn <strong>sie</strong> empfand ihn wie ein gläsernes Kamera-Auge, das<br />
<strong>sie</strong> kontrollierte. Erst recht hatte <strong>sie</strong> keine Lust, ein künstliches<br />
Lächeln einzuüben, das am En<strong>de</strong> aussah wie <strong>die</strong> Grimassen jener<br />
Hollywood-Stars, <strong>die</strong> sich das Dauergrinsen mittels chirurgischer<br />
Wangenstraffung ins Gesicht tackern ließen. Birgit schien es<br />
ähnlich zu gehen; <strong>sie</strong> hatte <strong>ihr</strong>en Spiegel sogar <strong>de</strong>monstrativ mit<br />
einem Foto <strong>ihr</strong>es jüngsten Sohns überklebt.<br />
Clarissa dagegen, Finjas rechte Nachbarin, betrachtete <strong>ihr</strong>en<br />
Spiegel als Gottesgeschenk und sah während <strong><strong>de</strong>r</strong> ganzen
Arbeitszeit mehr dorthin als an<strong><strong>de</strong>r</strong>swo. Auch jetzt nutzte <strong>sie</strong> <strong>die</strong><br />
Gelegenheit, um in aller Seelenruhe <strong>ihr</strong>en Lippenstift<br />
nachzuziehen.<br />
Finja verdrehte <strong>die</strong> Augen. Sie mochte <strong>die</strong> junge, dunkelhaarige<br />
Frau nicht, <strong>die</strong> im ganzen Betrieb „<strong>die</strong> Schöne“ genannt wur<strong>de</strong>.<br />
Clarissa stu<strong>die</strong>rte Me<strong>die</strong>nwissenschaft, machte <strong>de</strong>n Telefonjob nur<br />
nebenbei und stolzierte durch <strong>die</strong> Flure <strong><strong>de</strong>r</strong> Firma wie ein Mo<strong>de</strong>l.<br />
Je<strong>de</strong> <strong>ihr</strong>er Bewegungen schien zu sagen: Ich bin hier eigentlich<br />
nicht angestellt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n potenziell <strong>die</strong> <strong>Chef</strong>in – o<strong><strong>de</strong>r</strong> zumin<strong>de</strong>st<br />
eines Tages <strong>die</strong> Gattin <strong>de</strong>s <strong>Chef</strong>s. Natürlich war <strong>sie</strong> makellos<br />
schlank. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass eine Frau<br />
wie Clarissa jemals vor einer Imbissbu<strong>de</strong> stand und eine<br />
Currywurst mit Pommes verlangte – wahrscheinlich hätte <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Verkäufer <strong>sie</strong> ungläubig angeblickt und gefragt, ob er das Ding als<br />
Geschenk einpacken solle.<br />
82, zeigte <strong>die</strong> Warteschlange.<br />
Finja seufzte und suchte nach <strong>ihr</strong>er Samtstimme wie ein<br />
Flötenspieler, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>die</strong> Anblas-Haltung für <strong>de</strong>n ersten Ton einnimmt.<br />
Dann setzte <strong>sie</strong> <strong>ihr</strong> Headset auf und verfolgte <strong>de</strong>n Sekun<strong>de</strong>nzeiger<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Wanduhr. 58 … 59 … Start.<br />
„Schönen guten Tag, ThonArt Ticket-Service, Sie sprechen mit<br />
Finja Go<strong>de</strong>n.“<br />
„Guten Tag, ich möchte zwei Karten für das Konzert am Sonntag<br />
in <strong><strong>de</strong>r</strong> Stadthalle.“<br />
„Gern.“ Finja sah <strong>de</strong>n Sitzplan auf <strong>ihr</strong>em Bildschirm durch.<br />
„Parkett o<strong><strong>de</strong>r</strong> Rang?“<br />
„Parkett, und bitte ganz in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte!“<br />
„Da habe ich noch <strong>die</strong> 12. Reihe, Platz 17 und 18 rechts.“<br />
„Rechts? Ich wollte doch Mitte.“<br />
„Das ist in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte <strong><strong>de</strong>r</strong> Reihe.“
„Aber wenn es rechts ist, kann es doch nicht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte sein!“<br />
Finja seufzte. „Die Plätze haben immer <strong>die</strong> Bezeichnung rechts<br />
o<strong><strong>de</strong>r</strong> links, auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte. Das ist so üblich.“<br />
„Aber ich möchte in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte sitzen!“<br />
„Tun Sie ja. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte <strong><strong>de</strong>r</strong> Reihe stoßen Platz 18 rechts und Platz<br />
18 links aufeinan<strong><strong>de</strong>r</strong>. Mittiger geht’s nicht.“<br />
„Dann geben Sie mir doch <strong>die</strong>se bei<strong>de</strong>n!“<br />
„18 links habe ich lei<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht mehr frei. Aber 17 und 18 rechts<br />
sind wirklich genauso gut. Auf eine Platznummer mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
weniger kommt es dort nicht an.“<br />
„Werte Frau, das lassen Sie mal bitte mich entschei<strong>de</strong>n, worauf es<br />
ankommt! Haben Sie nicht in einer an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Reihe <strong>die</strong> bei<strong>de</strong>n<br />
Mittelplätze frei?“<br />
„Ich hätte noch Reihe 17, Platz 14 links und 14 rechts.“<br />
„14? Wieso jetzt plötzlich 14? Ich <strong>de</strong>nke, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte ist Platz 18!“<br />
„Die 17. Reihe ist kürzer als <strong>die</strong> 12. Sie hat nur 28 Plätze<br />
insgesamt.“<br />
„Sie machen’s aber kompliziert, Fräulein!“<br />
Finja unterdrückte einen weiteren Seufzer. „Tut mir leid. Möchten<br />
Sie nun <strong>die</strong> 12. o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>die</strong> 17. Reihe?“<br />
„Ich wür<strong>de</strong> <strong>die</strong> 12. nehmen, wenn es genau in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte wäre …“<br />
„Das ist es, glauben Sie mir.“<br />
„Na schön. Habe ich einen Reklamationsanspruch, falls mir <strong>die</strong><br />
Plätze nicht gefallen?“<br />
„Lei<strong><strong>de</strong>r</strong> nein.“<br />
„Ich muss mich also auf Ihr Wort verlassen?“<br />
„Das müssen Sie wohl.“<br />
„Also gut. Legen Sie <strong>die</strong> Plätze bitte zurück.“<br />
„Gern. Auf welchen Namen?“<br />
„Baron von Steven und Gattin.“
„Steven mit v?“<br />
„Hören Sie mal, werte Dame! Ich bin Carl von Steven, Inhaber <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Steven AG. Sie kennen sich wohl in <strong><strong>de</strong>r</strong> Stadt nicht aus, o<strong><strong>de</strong>r</strong>?“<br />
„Schon, aber ich habe nicht das ganze Telefonbuch im Kopf.“<br />
„Ich bin auch nicht das ganze Telefonbuch!“, erregte sich Carl von<br />
Steven. „Ich bin Baron von Steven und nicht irgendwer!“<br />
„Selbstverständlich, Herr Baron“, lenkte Finja ein und hoffte, dass<br />
<strong>die</strong> Anre<strong>de</strong> korrekt war.<br />
„Und wie war noch mal Ihr werter Name?“<br />
„Finja Go<strong>de</strong>n.“<br />
„G-O-D-E-N?“<br />
„Ja.“<br />
„Na dann besten Dank.“<br />
„Gerne. Schönen Tag noch.“<br />
Das fängt ja gut an, dachte Finja, als <strong>sie</strong> abschaltete und sich eine<br />
Verschnaufsekun<strong>de</strong> vor <strong>de</strong>m nächsten Anruf nahm. Manche<br />
Kun<strong>de</strong>n waren schwierig, beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> zur High<br />
Society gehörten. Finja bemühte sich, <strong>die</strong> Macken <strong>die</strong>ser Leute mit<br />
Humor zu nehmen, in<strong>de</strong>m <strong>sie</strong> sich Filmtitel ausdachte, in <strong>de</strong>nen <strong>sie</strong><br />
<strong>die</strong> Hauptrollen spielten – Horrorfilm-Titel natürlich: Aufsichtsrat<br />
<strong>de</strong>s Grauens, Die Rückkehr <strong>de</strong>s <strong>Chef</strong>arztes, Revenge of the<br />
Rechtsanwalt. Auch Baron von Steven eignete sich für einen<br />
solchen Titel. Der blutige Baron vielleicht … o<strong><strong>de</strong>r</strong> Der Schrecken<br />
von Reihe 12?<br />
***<br />
Wenige Minuten später kam <strong><strong>de</strong>r</strong> Abteilungsleiter ins Büro<br />
gerauscht. Finja erkannte bereits an seinem raschen Schritt, dass<br />
etwas nicht stimmte. Ihr Magen sackte ein Stück abwärts, als er
sich direkt neben <strong>ihr</strong> aufbaute, einen Ellbogen auf <strong>die</strong> Glaswand<br />
gestützt. Sie war noch mitten in einem Gespräch und schwor sich,<br />
ihn zu ignorieren. Absichtlich <strong>de</strong>hnte <strong>sie</strong> <strong>die</strong> Unterhaltung mit <strong>de</strong>m<br />
Kun<strong>de</strong>n aus, gab sich betont charmant und zwang sich, <strong>ihr</strong>e<br />
Nervosität zu unterdrücken.<br />
Als <strong><strong>de</strong>r</strong> Kun<strong>de</strong> auflegte, beugte Stefan sich vor und drückte resolut<br />
<strong>de</strong>n „Nachbearbeitungs“-Knopf, um Finjas Leitung zu<br />
unterbrechen.<br />
Eigentlich hatte <strong>sie</strong> geplant, ihn mit einem beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s süffisanten<br />
„Guten Morgen erst mal“ zu ärgern. Doch als <strong>sie</strong> sich ihm<br />
zuwandte, sank <strong>ihr</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Mut. Er sah nicht nur angespannt aus,<br />
son<strong><strong>de</strong>r</strong>n richtig wütend. Seltsam, wie <strong>die</strong>ser Zug sein attraktives<br />
Gesicht verzerrte.<br />
„Was war das vorhin mit Baron von Steven?“, fragte er ohne<br />
<strong>Ein</strong>leitung.<br />
„Wie – was das war?“ Finja runzelte <strong>die</strong> Stirn. „Ich hab ihm Karten<br />
reserviert. Stimmt irgendwas nicht?“<br />
„Das kann man wohl sagen!“, gab Stefan zurück, so laut, dass sich<br />
mehrere Köpfe zu ihnen umdrehten. „Er hat sich bei Markus Thon<br />
persönlich beschwert.“<br />
„Beschwert? Wieso?“<br />
„Über unfreundliche Be<strong>die</strong>nung und patzige Antworten.“<br />
„Patzige Antworten? Von mir?“<br />
Stefan hob einen Zettel, auf <strong>de</strong>m er sich offenbar eine<br />
handschriftliche Notiz gemacht hatte. „Du hast gesagt: Ich kenne<br />
Sie nicht, ich habe doch nicht das ganze Telefonbuch im Kopf.“<br />
„So habe ich das nicht gesagt!“, verteidigte sich Finja. „Und<br />
<strong>de</strong>swegen ruft <strong>die</strong>ser Typ gleich beim <strong>Chef</strong> an?“<br />
„Dieser Typ ist Inhaber <strong><strong>de</strong>r</strong> Steven AG“, erklärte Stefan, „<strong>de</strong>s<br />
größten Arbeitgebers in <strong><strong>de</strong>r</strong> Stadt. Außer<strong>de</strong>m ist er ein persönlicher
Freund <strong>de</strong>s Bürgermeisters.“<br />
„Und woher soll ich das wissen? Wenn er so ein Mister Wichtig ist,<br />
kann er seine Karten doch beim Bürgermeister bestellen!“<br />
„Finja, so geht das nicht!“ Stefan trat einen Schritt näher, so dass<br />
<strong>sie</strong> gezwungen war, zu ihm aufzublicken. „So kannst du einen<br />
Kun<strong>de</strong>n nicht behan<strong>de</strong>ln – und schon gar nicht jeman<strong>de</strong>n von<br />
Stevens Format! Der <strong>Chef</strong> hat mir <strong>die</strong> Hölle heißgemacht. Er<br />
erwartet eine Versicherung, dass so etwas nicht wie<strong><strong>de</strong>r</strong> vorkommt.“<br />
Finja wandte sich ab. Sie konnte es nicht ertragen, ihm ins Gesicht<br />
zu sehen und dabei <strong>de</strong>n Kopf in <strong>de</strong>n Nacken legen zu müssen wie<br />
ein schüchternes Mädchen vor <strong>de</strong>m strengen Papa. Es hatte einmal<br />
eine Zeit gegeben, als Stefans Körpergröße anziehend auf <strong>sie</strong><br />
gewirkt hatte. Wenn er wollte, konnte er <strong>de</strong>n starken Beschützer<br />
spielen – und <strong>sie</strong>, Finja, war darauf hereingefallen. In Wahrheit,<br />
dachte <strong>sie</strong> bitter, ist er ein kleines Würstchen, das sich vor seinem<br />
<strong>Chef</strong> fürchtet. Und vor seiner frischgebackenen Ehefrau.<br />
„Jetzt mach nicht auf beleidigt“, setzte er nach. „O<strong><strong>de</strong>r</strong> soll ich dich<br />
persönlich zu Thon schicken?“<br />
Finja biss <strong>die</strong> Zähne zusammen und schluckte <strong>ihr</strong>en Ärger. Das<br />
<strong>Ein</strong>zige, was schlimmer sein konnte als Stefans Gehässigkeiten,<br />
war ein Gespräch mit Markus Thon, <strong>de</strong>m Inhaber <strong><strong>de</strong>r</strong> Firma.<br />
„Also gut, es kommt nicht wie<strong><strong>de</strong>r</strong> vor“, versprach <strong>sie</strong> mechanisch.<br />
Stefan blieb einen Augenblick stehen, wie um abzuwägen, ob er<br />
<strong>ihr</strong>en Worten trauen konnte. Dann wandte er sich um, verließ <strong>de</strong>n<br />
Raum und zog sich in sein Büro zurück.<br />
Finjas Platznachbarin Birgit warf <strong>ihr</strong> einen Blick zu und verdrehte<br />
<strong>die</strong> Augen, wie um zu sagen: Mach dir nichts draus. Finja quittierte<br />
<strong>die</strong> stumme Anteilnahme mit einem schwachen Lächeln, dann<br />
wandte <strong>sie</strong> sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>m Telefon zu. Die Warteschlange blinkte<br />
ungeduldig.
Längst hatte <strong>sie</strong> <strong>die</strong> Fähigkeit erlernt, <strong>ihr</strong>e Anrufer wie ein Roboter<br />
zu be<strong>die</strong>nen und nebenbei an etwas ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>es zu <strong>de</strong>nken. Das<br />
freundliche Flöten <strong>ihr</strong>er Be<strong>die</strong>nungsstimme driftete weg, <strong>ihr</strong>e<br />
Finger bewegten sich wie von selbst auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Tastatur. Ihre<br />
Gedanken waren weit fort.<br />
Vielleicht hätte ich ihm gestern Abend nicht <strong>die</strong> Laune ver<strong><strong>de</strong>r</strong>ben<br />
sollen, dachte <strong>sie</strong>. War ja klar, dass er es an mir auslässt.<br />
Dennoch war <strong>sie</strong> fest entschlossen, es wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu tun, heute Abend,<br />
morgen Abend – sooft er es wagte, sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt von Breath of<br />
Doom blicken zu lassen. Sie freute sich sogar darauf. Die<br />
abendliche Session, in <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>sie</strong> <strong>ihr</strong>em Abteilungsleiter <strong>die</strong> täglichen<br />
Demütigungen heimzahlte, war längst <strong><strong>de</strong>r</strong> Höhepunkt <strong>ihr</strong>es Tages<br />
gewor<strong>de</strong>n. Ob er <strong>sie</strong> wegen schwacher Leistungen mahnte, <strong>ihr</strong><br />
Fehler vorhielt, <strong>ihr</strong>en Umgang mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Kundschaft kriti<strong>sie</strong>rte, <strong>ihr</strong>e<br />
häufigen Fehltage monierte o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>sie</strong> einfach nur links liegenließ,<br />
stets kostete es ihn am Abend <strong>de</strong>n Kopf, ein ums an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Mal.<br />
Als Finja sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mittagspause für zehn Minuten auf <strong>die</strong><br />
Toilette zurückzog – was <strong>sie</strong> regelmäßig tat, um ein wenig allein zu<br />
sein –, hörte <strong>sie</strong> Stimmen aus Stefans Büro. Es lag gleich nebenan,<br />
und <strong>sie</strong> hatte wie üblich <strong>die</strong> Zelle an <strong><strong>de</strong>r</strong> hintersten Wand besetzt<br />
und das Kippfenster geöffnet. Wenn <strong>sie</strong> sich hinauslehnte und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Verkehrslärm auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Straße nicht zu laut war, konnte <strong>sie</strong><br />
gelegentlich hören, was im Büro <strong>de</strong>s Abteilungsleiters gesprochen<br />
wur<strong>de</strong>. Stefan wusste nichts davon; schließlich war <strong>die</strong><br />
Damentoilette <strong><strong>de</strong>r</strong> einzige Ort in <strong><strong>de</strong>r</strong> Firma, <strong>de</strong>n er nie aufsuchte.<br />
„… müssen wir mal sehen“, sagte er gera<strong>de</strong>. „Ich kann ja mal <strong>die</strong><br />
Dienstpläne durchgehen.“<br />
Seine Stimme klang warm und vertrauenerweckend. Auch so<br />
konnte er sprechen, wenn er nur wollte. Finja erinnerte sich mit
gemischten Gefühlen, dass er <strong>die</strong>se Samtstimme früher auch <strong>ihr</strong><br />
gegenüber gebraucht hatte. Mit wem er wohl sprach? Sie lehnte<br />
sich weiter aus <strong>de</strong>m Fenster und spitzte <strong>die</strong> Ohren.<br />
„Freitags hab ich ein wichtiges Seminar. Wär toll, wenn ich da erst<br />
nachmittags kommen müsste, so gegen drei.“<br />
Clarissas Stimme – ein<strong>de</strong>utig. Finja erkannte <strong>sie</strong> leicht; schließlich<br />
plapperte <strong>die</strong>ses Organ sechs bis acht Stun<strong>de</strong>n am Tag direkt neben<br />
<strong>ihr</strong>, nur durch eine Glaswand gedämpft.<br />
„Natürlich nehme ich Rücksicht auf <strong>de</strong>in Studium“, versprach<br />
Stefan, <strong><strong>de</strong>r</strong> aus Prinzip alle Angestellten duzte. „Vielleicht kann ich<br />
eine <strong><strong>de</strong>r</strong> Teilzeitkräfte auf Freitagmorgen verlegen. Mach dir keine<br />
Sorgen, das geht schon klar.“<br />
„Hey, das ist echt nett von dir, Stefan!“<br />
„Kein Problem.“<br />
<strong>Ein</strong> saures Brennen <strong><strong>de</strong>r</strong> Eifersucht zog Finja <strong>de</strong>n Magen zusammen.<br />
So wie <strong>die</strong> bei<strong>de</strong>n sprachen, konnte man meinen, <strong>sie</strong> wären <strong>die</strong><br />
besten Freun<strong>de</strong>. Nicht, dass Finja es darauf angelegt hätte, Stefans<br />
Freund o<strong><strong>de</strong>r</strong> gar Clarissas Freundin zu sein. Eigentlich konnten <strong>ihr</strong><br />
bei<strong>de</strong> gestohlen bleiben, doch es war typisch, wie <strong>sie</strong> sich<br />
gegenseitig umgarnten. Stefan war – natürlich – <strong><strong>de</strong>r</strong> allgemeine<br />
Schwarm <strong><strong>de</strong>r</strong> Abteilung. Er sah gera<strong>de</strong>zu verboten gut aus mit<br />
seiner schlanken, kräftigen Statur und <strong>de</strong>m markigen Gesicht, das<br />
immer ein wenig wirkte, als sei es für irgen<strong>de</strong>ine Parfumwerbung<br />
am Computer zusammengepixelt wor<strong>de</strong>n. Er wirkte jünger als 30,<br />
aber zugleich umgab ihn <strong>die</strong>ses Flair von Souveränität und<br />
selbstbewusster Männlichkeit, das auf <strong>de</strong>n ersten Blick<br />
unwi<strong><strong>de</strong>r</strong>stehlich anziehend wirkte. Alle Frauen im Callcenter,<br />
selbst <strong>die</strong> älteren, fan<strong>de</strong>n ihn hinreißend, auch wenn <strong>sie</strong> sich aus<br />
taktischen Grün<strong>de</strong>n mühten, es zu verbergen. Dass er seit kurzem<br />
verheiratet war, weil seine Freundin ein Kind erwartete, tat <strong><strong>de</strong>r</strong>
allgemeinen Stefan-Verehrung kaum Abbruch. Clarissa freilich<br />
konnte auf Augenhöhe mit <strong>ihr</strong>em Abteilungsleiter re<strong>de</strong>n: Sie<br />
brauchte ihn we<strong><strong>de</strong>r</strong> zu belieb<strong>die</strong>nern noch anzuflirten, <strong>de</strong>nn „<strong>die</strong><br />
Schöne“ war selbst ein Star. Eigentlich, dachte Finja, passten <strong>sie</strong><br />
hervorragend zusammen, Clarissa und Stefan, das Traumpaar je<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Daily Soap.<br />
„Ich könnte Tamara auf Freitag umlegen“, sagte Stefan gera<strong>de</strong>,<br />
offenbar über <strong>de</strong>m Dienstplan brütend. „Allerdings macht <strong>sie</strong><br />
immer ganze Tage. Wenn du nachmittags dazukommst, hättest du<br />
nicht <strong>de</strong>inen üblichen Platz, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n müsstest vorne zwischen<br />
Bettie und Jost sitzen.“<br />
„Das ist mir ganz recht“, meinte Clarissa offenherzig. „Ich bin<br />
sowieso nicht glücklich mit meinem Platz.“<br />
„Nanu – warum <strong>de</strong>nn?“<br />
„Ach, nichts Wichtiges. Es ist nur … <strong>die</strong>se Hektik von links <strong>die</strong><br />
ganze Zeit …“<br />
Stefan schien nicht zu begreifen, wovon <strong>sie</strong> sprach – und auch<br />
Finja begriff es nicht gleich, bis <strong>ihr</strong> Abteilungsleiter in ein<br />
verständnisvolles Lachen ausbrach.<br />
„Ja, Finja ist manchmal ein wenig …“<br />
„Ich weiß auch nicht, aber irgendwie macht <strong>sie</strong> mich nervös“,<br />
klagte Clarissa. „Sie ist immer so verkrampft. Kommt schon<br />
morgens mit einem Gesicht wie saure Sahne an, sagt keinen Ton,<br />
rutscht beim Telefonieren dauernd auf <strong>ihr</strong>em Stuhl hin und her und<br />
zupft an <strong>ihr</strong>en Haaren rum.“<br />
<strong>Ein</strong>e jähe Hitze schoss Finja ins Gesicht. Stimmte das etwa? Sicher,<br />
wenn <strong>sie</strong> einen schwierigen Kun<strong>de</strong>n hatte und das Gespräch sich in<br />
<strong>die</strong> Länge zog, zwirbelte <strong>sie</strong> manchmal eine <strong>ihr</strong>er Locken zwischen<br />
<strong>de</strong>n Fingern. Doch was ging das Clarissa an? Beobachtete <strong>sie</strong> <strong>ihr</strong>e<br />
Nachbarin etwa <strong>die</strong> ganze Zeit? Und was das „morgens keinen Ton
sagen“ betraf, ging „<strong>die</strong> Schöne“ nicht gera<strong>de</strong> mit gutem Beispiel<br />
voran.<br />
„Und manchmal kaut <strong>sie</strong> sogar auf <strong>ihr</strong>en Nägeln. Nicht so lecker“,<br />
setzte Clarissa noch hinzu. „Ich dachte immer, dass … na ja …<br />
gewichtige Menschen eher gemütlich als nervös wären.“<br />
Erneut lachte Stefan. Finja hätte <strong>die</strong>ses Lachen gerne ergriffen, es<br />
wie einen Putzlappen zusammengerollt und ihm in <strong>de</strong>n Hals<br />
gestopft. Sie zitterte vor Wut.<br />
„Entschuldigung – eigentlich ist das nicht zum Lachen“, setzte er<br />
mit seiner Abteilungsleiterstimme nach. „Ich habe selbst <strong>de</strong>n<br />
<strong>Ein</strong>druck, dass <strong>die</strong>se Tätigkeit Frau Go<strong>de</strong>n gelegentlich ein wenig<br />
überfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Ich meine, <strong>sie</strong> ist seit eineinhalb Jahren bei uns und<br />
macht <strong>ihr</strong>e Sache nicht <strong>schlecht</strong>. Aber <strong>die</strong> häufigen Fehltage <strong>de</strong>uten<br />
natürlich schon auf gesundheitliche Probleme hin.“<br />
„Bei <strong>de</strong>m Gewicht hätte ich auch gesundheitliche Probleme“,<br />
stimmte Clarissa mit geheucheltem Mitleid zu.<br />
„Na, wie <strong>de</strong>m auch sei …“ Stefan schien das Thema plötzlich<br />
unangenehm zu wer<strong>de</strong>n. „Je<strong>de</strong>nfalls ist <strong>die</strong> Sache mit <strong>de</strong>m<br />
Freitagmorgen kein Problem. Ich re<strong>de</strong> mit Tamara und sag dir<br />
morgen Bescheid.“<br />
„Danke, echt lieb, Stefan!“ Clarissas hohe Absätze klackten in<br />
Richtung Tür. „Schöne Pause noch.“<br />
„Dir auch.“<br />
Finja kochte. Sie hatte genug gehört, schloss sogar das Fenster und<br />
kauerte sich auf <strong>de</strong>m geschlossenen Toiletten<strong>de</strong>ckel zusammen, um<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu sich zu kommen. In knapp zehn Minuten wür<strong>de</strong> <strong>sie</strong><br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong> am Telefon sitzen und freundlich Anrufe beantworten<br />
müssen, keine eineinhalb Meter von Clarissa entfernt. Sie musste<br />
sich jetzt zusammenreißen.<br />
Wenn <strong>die</strong>se Tusse jetzt hier reinkommt, um sich schnell noch vor
<strong>de</strong>m Spiegel <strong>die</strong> Lippen nachzumalen, bringe ich <strong>sie</strong> um. Sie sah<br />
sich selbst bereits aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Zelle stürmen wie einen durchgedrehten<br />
Psychokiller im Film, um Clarissa von hinten mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Klobürste zu<br />
erwürgen.<br />
Noch größer aber war <strong>ihr</strong> Zorn auf Stefan. „Frau Go<strong>de</strong>n“ hatte er<br />
<strong>sie</strong> genannt, als müsse er <strong>de</strong>utlich <strong>de</strong>n Abstand zu <strong>ihr</strong> betonen. „Sie<br />
macht <strong>ihr</strong>e Sache nicht <strong>schlecht</strong>“, hatte er gesagt, ganz <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Chef</strong>,<br />
gera<strong>de</strong>zu gönnerhaft. Finja erinnerte sich an ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Worte:<br />
„Das machst du gut“, hatte er einst mit Samtstimme geraunt, als <strong>sie</strong><br />
sein bestes Stück im Mund gehabt hatte. Die Erinnerung stülpte <strong>ihr</strong><br />
<strong>de</strong>n Magen um, und fast wäre <strong>sie</strong> aufgesprungen, um <strong>de</strong>n<br />
Toiletten<strong>de</strong>ckel hochzuklappen und sich zu erbrechen.<br />
Doch gleich darauf ertrank <strong>ihr</strong>e Wut in Scham, und statt <strong>de</strong>s<br />
Käsebrots vom Frühstück drängten <strong>die</strong> Tränen ins Freie. Das also<br />
war <strong>sie</strong> in <strong>de</strong>n Augen <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en: ein dickes Mädchen, das nervös<br />
auf seinem Stuhl herumrutschte und an <strong>de</strong>n Nägeln kaute. Ob alle<br />
so dachten? Auch Birgit? Re<strong>de</strong>ten alle hinter <strong>ihr</strong>em Rücken über<br />
<strong>die</strong> hektische, <strong>die</strong> übergewichtige, <strong>die</strong> merkwürdige Finja? Hatte<br />
auch Stefan so gedacht, als er auf <strong>ihr</strong> gelegen hatte, das Gesicht<br />
zwischen <strong>ihr</strong>en Brüsten vergraben? Was war <strong>sie</strong> für ihn gewesen –<br />
ein Stück rohes Fleisch, vor <strong>de</strong>m man sich ekelte, wenn man nicht<br />
gera<strong>de</strong> am Verhungern war?<br />
Der Zeiger <strong><strong>de</strong>r</strong> Uhr rückte unbarmherzig vor, und um Viertel nach<br />
zwei zwang sich Finja, <strong>die</strong> Toilette zu verlassen und an <strong>ihr</strong>en<br />
Arbeitsplatz zurückzugehen. Clarissa war bereits dort, und – <strong>sie</strong>he<br />
da! – <strong>sie</strong> schenkte Finja ein Lächeln. Was das wohl be<strong>de</strong>uten<br />
mochte? Herablassung? Mitleid? O<strong><strong>de</strong>r</strong> empfand <strong>sie</strong> womöglich<br />
Schuldgefühle, weil <strong>sie</strong> über <strong>sie</strong> gelästert hatte?<br />
Finja war es gleichgültig. Sie ignorierte <strong>die</strong> Kollegin, schaltete <strong>ihr</strong><br />
Telefon ein und nahm das nächste Kun<strong>de</strong>ngespräch an. Aus <strong>de</strong>m
Augenwinkel beobachtete <strong>sie</strong>, wie Clarissa sich zurücklehnte und<br />
<strong>die</strong> schlanken Beine übereinan<strong><strong>de</strong>r</strong>schlug. Sie trug einen kurzen<br />
Rock, wahrscheinlich Größe 34.<br />
Bestimmt lan<strong>de</strong>t <strong>sie</strong> irgendwann mit Stefan im Bett, dachte Finja.<br />
Ob <strong>sie</strong> ihm auch einen blasen muss – und am Morgen danach das<br />
Frühstück auslässt, um <strong>die</strong> Kalorien wie<strong><strong>de</strong>r</strong> einzusparen?<br />
Sie schalt sich wegen <strong>ihr</strong>er Gehässigkeit und versuchte, sich auf<br />
<strong>de</strong>n Anrufer zu konzentrieren.<br />
***<br />
Der Tag verging schleichend wie gewöhnlich. Von <strong>de</strong>n 60 o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
70 Anrufen, <strong>die</strong> <strong>sie</strong> entgegengenommen hatte, als das Callcenter<br />
endlich schloss, blieb <strong>ihr</strong> kein einziger im Gedächtnis. Sie<br />
verabschie<strong>de</strong>te sich von nieman<strong>de</strong>m, nicht einmal von Birgit,<br />
son<strong><strong>de</strong>r</strong>n räumte zeitig <strong>ihr</strong>en Platz und brachte es gera<strong>de</strong> noch fertig,<br />
„Schönen Feierabend“ in <strong>die</strong> Run<strong>de</strong> zu murmeln.<br />
Auf <strong>de</strong>m Heimweg betäubte <strong>sie</strong> <strong>ihr</strong>e Gedanken, in<strong>de</strong>m <strong>sie</strong> <strong>de</strong>n<br />
Drogeriemarkt aufsuchte und sich auf <strong>ihr</strong>e <strong>Ein</strong>kaufsliste<br />
konzentrierte. Gegen halb acht war <strong>sie</strong> zu Hause, stieg <strong>die</strong> Treppen<br />
zum fünften Stock <strong><strong>de</strong>r</strong> Mietskaserne hoch und schloss <strong>die</strong><br />
Wohnungstür auf. Ghira wartete wie üblich auf seinem Schlafplatz<br />
im Flur und kam <strong>ihr</strong> schnurrend entgegen. Finja nahm ihn auf <strong>de</strong>n<br />
Arm und drückte eine Wange in sein weiches Fell. Die Berührung<br />
war tröstlich. Allerdings hielt <strong><strong>de</strong>r</strong> Kater es nicht lange aus, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />
verdrehte sich in <strong>ihr</strong>en Armen, sprang zu Bo<strong>de</strong>n und stolzierte mit<br />
erwartungsvoll gerecktem Schwanz in Richtung Küche.<br />
Er hat Hunger, verstand Finja. Genau wie ich.<br />
Zum tausendsten Mal dachte <strong>sie</strong> daran, wie ungesund es war, in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Mittagspause immer nur einen Snack zu essen und sich am Abend
<strong>de</strong>n Bauch vollzuschlagen. Doch es ging nicht an<strong><strong>de</strong>r</strong>s, <strong>de</strong>nn im<br />
Betrieb brachte <strong>sie</strong> es einfach nicht fertig, mehr zu essen als <strong>de</strong>n<br />
üblichen Joghurt und vielleicht noch einen Müsliriegel.<br />
Sie folgte <strong>de</strong>m Kater in <strong>die</strong> Küche, um seinen Napf zu füllen und<br />
sich selbst <strong>die</strong> Spaghetti von gestern aufzuwärmen. Durch <strong>die</strong><br />
geöffnete Balkontür drangen feine Schwa<strong>de</strong>n von Zigarettenrauch<br />
herein: Carla, <strong>ihr</strong>e Mitbewohnerin, stand draußen und rauchte. Sie<br />
winkte durchs Fenster, als <strong>sie</strong> Finja bemerkte, in <strong>ihr</strong>er üblichen<br />
laxen Art.<br />
Finja mochte Carla. Mittlerweile war es zwei Jahre her, dass <strong>sie</strong><br />
sich durch eine Wohnungsanzeige gefun<strong>de</strong>n hatten. Sie hatten sich<br />
auf Anhieb verstan<strong>de</strong>n, auch wenn <strong>sie</strong> so verschie<strong>de</strong>n waren, wie es<br />
zwei Frauen Mitte 20 nur sein konnten. Carla stu<strong>die</strong>rte<br />
Betriebswirtschaft, war aufgeschlossen und kontaktfreudig, groß,<br />
schwarzhaarig und – natürlich – schlank. Finja versuchte ständig,<br />
<strong>sie</strong> nicht zu benei<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m <strong>sie</strong> sich sagte, dass 50 Kilo leicht zu<br />
halten waren, wenn man rauchte wie ein Schlot. Sie selbst hätte<br />
<strong>die</strong>sen Preis unter keinen Umstän<strong>de</strong>n gezahlt, <strong>de</strong>nn <strong>sie</strong> hasste<br />
Zigarettenrauch, und am Anfang hatte es über <strong>die</strong>ses Thema<br />
manche Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung gegeben. Doch mit Carla konnte man<br />
re<strong>de</strong>n; <strong>sie</strong> war rücksichtsvoll und beschränkte das Rauchen auf <strong>ihr</strong><br />
Zimmer und <strong>de</strong>n Balkon.<br />
„Ich mach <strong>die</strong> Spaghetti warm!“, rief Finja nach draußen.<br />
„Möchtest du auch?“<br />
„Nee danke“, gab Carla zurück, löschte <strong>ihr</strong>e Zigarette und kam<br />
herein.<br />
Toll <strong>sie</strong>ht <strong>sie</strong> wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aus, dachte Finja mit einem dumpfen<br />
Grummeln in <strong><strong>de</strong>r</strong> Magengegend, das nichts mit <strong><strong>de</strong>r</strong> bevorstehen<strong>de</strong>n<br />
Mahlzeit zu tun hatte. Diese knallenge Jeans … Wenn ich so was<br />
tragen müsste, wür<strong>de</strong> ich ersticken. Sie konzentrierte sich auf <strong>die</strong>
Tomatensauce, <strong>die</strong> langsam zu köcheln begann.<br />
„Und – wie war’s im Büro, Schatz?“, fragte Carla grinsend. Mit<br />
<strong>die</strong>ser Frage paro<strong>die</strong>rte <strong>sie</strong> gern <strong>de</strong>n gemeinsamen Alltag, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
tatsächlich gewisse Ähnlichkeit mit einem Eheleben hatte: Sie<br />
selbst war viel zu Hause und besorgte daher ungefragt <strong>de</strong>n<br />
Haushalt, während Finja von morgens bis abends im Büro<br />
schuftete.<br />
„Ach, na ja“, gab Finja unbestimmt zurück, „das Übliche halt.“<br />
Sie war dankbar, dass Ghira sich soeben schnurrend um <strong>ihr</strong>e<br />
Knöchel wickelte. Abwesend beugte <strong>sie</strong> sich hinab und streichelte<br />
<strong>de</strong>n pelzigen Kopf <strong>de</strong>s Katers, während <strong>sie</strong> gleichzeitig versuchte,<br />
mit <strong>de</strong>m Kochlöffel in <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Hand <strong>die</strong> Sauce zu rühren.<br />
Carla warf <strong>ihr</strong> einen forschen<strong>de</strong>n Seitenblick zu. „Sieht aber nicht<br />
so aus“, bemerkte <strong>sie</strong> schlicht. „Wie<strong><strong>de</strong>r</strong> Ärger mit <strong>de</strong>inem <strong>Chef</strong>?“<br />
„Er ist nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Chef</strong> – bloß Abteilungsleiter.“<br />
„Und das nutzt er scheinbar or<strong>de</strong>ntlich aus“, stellte Carla fest. „Was<br />
war es <strong>de</strong>nn <strong>die</strong>smal? Hast du <strong>de</strong>ine Quote nicht geschafft o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
irgendwelche Blaublüter mit <strong>de</strong>m falschen Titel angere<strong>de</strong>t?“<br />
Wi<strong><strong>de</strong>r</strong> Willen musste Finja lachen. „Wir haben keine Quoten. Ich<br />
hab dir doch erklärt: Es ist ein Inbound Center.“<br />
Sie wusste, dass <strong>ihr</strong>e Mitbewohnerin keine Erfahrung mit solchen<br />
Dingen besaß. Carla war Stu<strong>de</strong>ntin, und <strong>ihr</strong>e Jobs beschränkten<br />
sich zumeist auf <strong>die</strong> Be<strong>die</strong>nung in Szenekneipen.<br />
„Okay, du willst nicht drüber re<strong>de</strong>n, o<strong><strong>de</strong>r</strong>?“<br />
Finja schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Lieber früh ins Bett.“<br />
„Früh ins Bett?“ Carla grinste. „Das wär ja mal ganz was Neues!<br />
Gestern hab ich dich um halb elf noch rumoren gehört.“<br />
„Ach … ich konnte nicht schlafen“, schwin<strong>de</strong>lte Finja. Aus<br />
irgen<strong>de</strong>inem Grund war es <strong>ihr</strong> peinlich zuzugeben, dass <strong>sie</strong> in<br />
letzter Zeit fast je<strong>de</strong>n Abend vor <strong>de</strong>m Computerbildschirm
verbrachte.<br />
„Mirjam hat übrigens angerufen“, sagte Carla, während <strong>sie</strong> <strong>de</strong>n<br />
Kühlschrank öffnete und einen Tetrapak mit Orangensaft<br />
herausnahm.<br />
„Ah – danke.“<br />
„Ruf mal lieber gleich zurück! Sie hat draufgesprochen, dass <strong>sie</strong><br />
um acht wegmuss.“ Sie verdrückte sich in Richtung <strong>ihr</strong>er<br />
Zimmertür. „Ich hab auch noch was vor. Bis dann, Schatzi!“<br />
Finja nickte, griff nach <strong>de</strong>m Telefon und rief Mirjam an, während<br />
<strong>sie</strong> am Herd stand. Mirjam war so etwas wie <strong>ihr</strong>e beste Freundin –<br />
falls davon überhaupt <strong>die</strong> Re<strong>de</strong> sein konnte. Lei<strong><strong>de</strong>r</strong> sahen <strong>sie</strong> sich<br />
nur selten, <strong>de</strong>nn Mirjam hatte wenig Zeit. Sie arbeitete in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Vertriebsabteilung eines Kosmetik-Konzerns und hatte einen<br />
zweijährigen Sohn aus einer geplatzten Beziehung. Gewöhnlich<br />
verabre<strong>de</strong>ten <strong>sie</strong> sich ein- bis zweimal <strong>die</strong> Woche in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Mittagspause zum Essen, wenn <strong><strong>de</strong>r</strong> Kleine bei Mirjams Mutter war.<br />
So auch <strong>die</strong>smal. Finja freute sich, <strong>de</strong>nn an<strong><strong>de</strong>r</strong>nfalls wäre <strong>sie</strong> am<br />
nächsten Tag sicher wie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Versuchung erlegen, <strong>die</strong><br />
Mittagspause auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Toilette zu verbringen und zu lauschen, was<br />
in Stefans Büro vor sich ging. Außer<strong>de</strong>m be<strong>de</strong>utete das Treffen mit<br />
Mirjam eine warme Mahlzeit am Mittag – und geringeren Appetit<br />
am Abend.<br />
Sie been<strong>de</strong>te das Gespräch und zwang sich, nicht allzu viel von <strong>de</strong>n<br />
aufgewärmten Spaghetti zu essen. Dann machte <strong>sie</strong> rasch <strong>de</strong>n<br />
Abwasch und ging auf <strong>ihr</strong> Zimmer.<br />
Erst mal duschen?, fragte <strong>sie</strong> sich, als <strong>sie</strong> <strong>ihr</strong> Bürokostüm gegen<br />
T-Shirt und Leggings tauschte. Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Computerbildschirm<br />
lockte. Ghira lag bereits auf <strong>de</strong>m Drehstuhl vor <strong>de</strong>m Schreibtisch<br />
und wartete auf <strong>die</strong> allabendliche Session.<br />
Nachher, entschied Finja, nahm <strong>de</strong>n Kater auf <strong>de</strong>n Arm, um <strong>de</strong>n
Platz freizubekommen, setzte sich und startete <strong>de</strong>n Computer.<br />
Ghira schien zu wissen, was nun kam, <strong>de</strong>nn er rollte sich auf <strong>ihr</strong>em<br />
Schoß zusammen und verfolgte aufmerksam <strong>de</strong>n Mauszeiger auf<br />
<strong>de</strong>m Bildschirm.<br />
Breath of Doom – <strong>die</strong> erregen<strong>de</strong> Fanfarenmusik, <strong>die</strong> stets beim<br />
Start <strong>de</strong>s Spiels erklang, ließ Ghiras Ohren zucken. Finja bemerkte<br />
es, stellte <strong>de</strong>n Ton ein wenig leiser und klickte sich durch das<br />
Startmenü. „Brianna“ erschien, an <strong>ihr</strong>er Seite <strong><strong>de</strong>r</strong> schwarze Panther,<br />
<strong>de</strong>n <strong>sie</strong> auf <strong>de</strong>n Namen seines zahmen Artgenossen getauft hatte.<br />
„So, Stefan …“<br />
Die Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> täglichen Rache war gekommen. Eilig lenkte Finja<br />
<strong>ihr</strong>en Avatar zum Tor <strong>de</strong>s Basislagers und hinaus in <strong>die</strong> Wildnis.<br />
Wo mochte er <strong>die</strong>smal sein? War er überhaupt schon im Spiel?<br />
Natürlich. Er wohnt in Grevenstedt und fährt mit <strong>de</strong>m Wagen – seit<br />
halb acht müsste er zu Hause sein. Seine Frau hat eine eigene<br />
Wohnung; er fährt nur am Wochenen<strong>de</strong> dorthin. Zehn<br />
Pflichtminuten Telefon, „hallo, Schatz“, <strong>sie</strong> holt das Baby an <strong>de</strong>n<br />
Hörer, plapper, turtel, „ich lieb dich auch“, tschüss. Spätestens um<br />
halb neun sitzt er am Rechner.<br />
Es gab technisch keine Möglichkeit, seine Anwesenheit<br />
festzustellen. Das ging nur bei einem Spieler, mit <strong>de</strong>m man zur<br />
selben Gruppe gehörte o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n man seiner Freun<strong>de</strong>sliste im Chat<br />
hinzufügte. In Gorthaurs Fall kam das natürlich nicht in Frage.<br />
Auch starteten <strong>sie</strong> nicht im selben Basislager, <strong>de</strong>nn <strong>ihr</strong>e Avatare<br />
gehörten zu verschie<strong>de</strong>nen Völkern: Brianna zu <strong>de</strong>n Elfen, <strong>die</strong> sich<br />
<strong>ihr</strong>e Heimatstadt mit Menschen und Zwergen teilten, Gorthaur zu<br />
<strong>de</strong>n „Streitern <strong>de</strong>s Zorns“, einem Volk, das auf einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />
Kontinent <strong><strong>de</strong>r</strong> Spielwelt beheimatet war.<br />
Doch Finja kannte alle Orte, an <strong>de</strong>nen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwarze Ritter sich<br />
gewöhnlich aufhielt. Er war Level 30, und <strong>sie</strong> hatte extra in einem
Forum nachgelesen, welche Aufgaben ein Streiter <strong>de</strong>s Zorns auf<br />
<strong>die</strong>ser Stufe bekam und in welche Gegen<strong>de</strong>n <strong>sie</strong> ihn führten. Wie<br />
üblich schaltete <strong>sie</strong> <strong>ihr</strong>e Tarnung ein und patrouillierte <strong>die</strong><br />
Schattenberge hinab, zu <strong>de</strong>n <strong>Ein</strong>gängen <strong><strong>de</strong>r</strong> Minen, durch <strong>die</strong><br />
Wäl<strong><strong>de</strong>r</strong> von Lotharn und zur Brücke <strong><strong>de</strong>r</strong> Verdammnis.<br />
Da bist du ja.<br />
Gorthaurs ferne Gestalt tauchte zwischen <strong>de</strong>n Hügeln jenseits <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Brücke auf. Schon von weitem erkannte Finja <strong>de</strong>n Namenszug, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
über seinem Kopf schimmerte. Diesmal verzichtete <strong>sie</strong> darauf, ihm<br />
offen entgegenzutreten, <strong>de</strong>nn er war nicht allein.<br />
Du Feigling … hast dir also Verstärkung geholt.<br />
<strong>Ein</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Spieler begleitete <strong>de</strong>n Schwarzen Ritter, offensichtlich<br />
ein Magier, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> weite schwarze Mantel erkennen ließ. Das war<br />
erstaunlich. Bisher hatte Finja <strong>ihr</strong>en Erzfeind immer nur allein in<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Spielwelt umherstreifen sehen. Er gehörte keiner Gil<strong>de</strong> an, wie<br />
man Spielergruppen nannte, <strong>die</strong> sich auf Dauer zusammengetan<br />
hatten; an<strong><strong>de</strong>r</strong>nfalls wäre neben seinem Namen ein entsprechen<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Vermerk erschienen. Wahrscheinlich war <strong><strong>de</strong>r</strong> Magier nur eine<br />
Zufallsbekanntschaft, irgendjemand, <strong>de</strong>m Gorthaur sich auf <strong>die</strong><br />
Schnelle angeschlossen hatte.<br />
Er hat Angst vor mir, dachte Finja befriedigt. Er weiß, dass ich<br />
nach ihm suche.<br />
Allerdings erschwerte es <strong>ihr</strong>e Aufgabe erheblich, mit zwei Gegnern<br />
zu tun zu haben. Die Fähigkeiten <strong>de</strong>s Magiers konnte <strong>sie</strong> nicht<br />
abschätzen, obwohl anzunehmen war, dass er sich ungefähr auf<br />
<strong>de</strong>mselben Level wie Gorthaur befand. Gegen offensive Magie war<br />
Finja recht gut geschützt, aber es bestand <strong>die</strong> Gefahr, dass <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Magier Heilzauber einsetzte, um Gorthaurs Lebenspunkte zu<br />
regenerieren, wenn er verwun<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>.<br />
Im Tarnmodus schlich Brianna über <strong>die</strong> Brücke und pirschte sich
unhörbar an <strong>die</strong> bei<strong>de</strong>n heran. <strong>Ein</strong>e Weile folgte <strong>sie</strong> ihnen, und da<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Magier hinter Gorthaur ging, hatte Finja Gelegenheit, ihn<br />
genauer zu betrachten.<br />
Nicht ihn … <strong>sie</strong>! Es ist eine Frau.<br />
<strong>Ein</strong><strong>de</strong>utig, <strong>die</strong> Gestalt im wallen<strong>de</strong>n schwarzen Mantel war<br />
weiblich.<br />
Seine Frau?, fragte sich Finja. Nein, unmöglich. Stefans Ehefrau<br />
sah zwar aus wie ein Topmo<strong>de</strong>l, war jedoch im Grun<strong>de</strong> ein<br />
Hausmütterchen; das wusste Finja sowohl aus eigener Anschauung<br />
als auch durch <strong>de</strong>n Klatsch im Callcenter. Keine Frau, <strong>die</strong> ein zwei<br />
Monate altes Baby hatte, spielte ein Computer-Rollenspiel; allein<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Zeitaufwand wäre mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Fürsorge für einen Säugling<br />
unvereinbar gewesen. Außer<strong>de</strong>m konnte Finja sich kaum<br />
vorstellen, dass eine Frau wie Iris mit <strong>ihr</strong>en zentimeterlangen<br />
künstlichen Fingernägeln in <strong><strong>de</strong>r</strong> Lage war, auf einer Tastatur zu<br />
tippen.<br />
Tut mir leid, wer auch immer du bist, aber du hast dir <strong>die</strong> falsche<br />
Gesellschaft ausgesucht.<br />
Die Magierin musste sterben. Finja pirschte sich näher heran,<br />
aktivierte <strong>ihr</strong>en Angriffsmodus und stellte sich vor, <strong>die</strong> Frem<strong>de</strong><br />
wäre Clarissa.<br />
Tun wir einfach so, als wärst du’s.<br />
„Los, Ghira!“<br />
Der Kater auf Finjas Schoß spitzte <strong>die</strong> Ohren – doch <strong>sie</strong> hatte nicht<br />
ihn gemeint, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n sein Pendant auf <strong>de</strong>m Bildschirm. Wie ein<br />
Blitz schoss <strong><strong>de</strong>r</strong> schwarze Panther aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Tarnwolke hervor und<br />
stürzte sich auf <strong>die</strong> Magierin. Das Ablenkungsmanöver gelang, und<br />
zwar genau so, wie Finja es geplant hatte: Die überraschte Spielerin<br />
ließ <strong>ihr</strong>en Avatar herumschnellen und schleu<strong><strong>de</strong>r</strong>te <strong>de</strong>m Tier einen<br />
Defensivzauber entgegen: „Giftwolke – Angriffskraft reduziert!“,
flammte über <strong>de</strong>m Kopf <strong>de</strong>s Panthers auf.<br />
Gut so, dachte Finja. Je<strong><strong>de</strong>r</strong> Zauber, <strong>de</strong>n man im Spiel verwen<strong>de</strong>te,<br />
konnte erst nach einer bestimmten Zeitspanne, <strong>de</strong>m „Cooldown“,<br />
erneut angewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Nach <strong>ihr</strong>er Erfahrung betrug <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Cooldown für <strong>die</strong> meisten Zauber rund eine Minute. Ghira war nun<br />
geschwächt, doch er hatte dafür gesorgt, dass es nicht Brianna war,<br />
<strong>die</strong> sich <strong>die</strong> Giftwolke einfing.<br />
Stirb, Schlampe.<br />
Brianna sprang vor und ließ <strong>ihr</strong>e Dolche wirbeln. Die überraschte<br />
Magierin hatte kaum eine Chance zu ernsthafter Gegenwehr. Dies<br />
schien auch <strong>die</strong> Spielerin zu begreifen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Gestalt lenkte, und<br />
versuchte zu fliehen.<br />
Tut mir leid … keine Gna<strong>de</strong> heute!<br />
Brianna holte <strong>sie</strong> mit Leichtigkeit ein, ließ bei<strong>de</strong> Dolche<br />
gleichzeitig hervorzucken und stach <strong>sie</strong> nie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Der dunkle Mantel<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Magierin sank zu Bo<strong>de</strong>n: Ihr Körper hatte sich in Rauch<br />
aufgelöst, und aus <strong>de</strong>m Äther drang ein gequältes Seufzen wie von<br />
einer davonschweben<strong>de</strong>n Seele.<br />
Wo ist Gorthaur?<br />
Die Maus in Finjas Hand wan<strong><strong>de</strong>r</strong>te eilig hin und her – <strong>sie</strong><br />
schwenkte das Blickfeld <strong>ihr</strong>es Avatars, nach rechts, nach links,<br />
nach hinten. Endlich ent<strong>de</strong>ckte <strong>sie</strong> <strong>die</strong> schattenhafte Gestalt <strong>de</strong>s<br />
Schwarzen Ritters, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich bereits in einiger Entfernung befand<br />
und zur Brücke flüchtete.<br />
Sieh mal an! Im Betrieb <strong>de</strong>n <strong>Chef</strong> markieren, aber abhauen, statt<br />
sich einem Duell zu stellen.<br />
Rasch ließ <strong>sie</strong> Brianna einen Geschwindigkeitstrank schlucken, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
das Lauftempo erhöhte, dann nahm <strong>sie</strong> <strong>die</strong> Verfolgung auf.<br />
Gorthaur hatte <strong>die</strong> Brücke bereits zur Hälfte überquert, als <strong>sie</strong> sich<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Uferböschung näherte.
Bleib stehen, Stefan! Hast du plötzlich keine Eier mehr in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Hose?<br />
Er wür<strong>de</strong> <strong>ihr</strong> nicht entkommen. Immer aufs Neue wür<strong>de</strong> <strong>sie</strong> ihn<br />
vernichten, immer aufs Neue je<strong>de</strong> Demütigung vergelten, <strong>die</strong> er <strong>ihr</strong><br />
antat. Rasch markierte <strong>sie</strong> seinen Avatar mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Maus und klickte<br />
auf „Verwirrung“. Der Zauber wirkte: Gorthaur hielt inne und<br />
drehte sich benommen auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Stelle. Finja hatte seinen Sichtradius<br />
eingeschränkt, so dass alles, was weiter als fünf Schritte entfernt<br />
war, vor seinen Augen zu dichtem Nebel verschwamm.<br />
, tippte <strong>sie</strong> in <strong>de</strong>n Chat, während <strong>sie</strong> <strong>ihr</strong> Tempo<br />
drosselte und vorsichtig näher schlich, um <strong>die</strong> Wand aus Nebel<br />
nicht zu durchbrechen.<br />
, kam <strong>die</strong> Antwort. <br />
Tja, <strong>de</strong>nk mal scharf nach! Vielleicht kommst du drauf.<br />
Brianna hob <strong>ihr</strong>e Dolche und sprang vorwärts.
Kapitel III<br />
Am folgen<strong>de</strong>n Tag im Callcenter ließ Stefan sich nicht blicken. Er<br />
blieb in seinem Büro und verließ es nur einmal kurz, um sich<br />
Kaffee zu holen. Finja beobachtete ihn aus <strong>de</strong>m Augenwinkel,<br />
während <strong>sie</strong> telefonierte, und stellte befriedigt fest, dass er<br />
<strong>schlecht</strong>gelaunt aussah. Als er wie<strong><strong>de</strong>r</strong> verschwand, lächelte <strong>sie</strong> in<br />
sich hinein. <strong>Ein</strong> <strong>schlecht</strong>es Gewissen hatte <strong>sie</strong> nicht im Geringsten.<br />
Eigentlich tue ich ihm einen Gefallen. Je kürzer er abends am<br />
Bildschirm hockt, <strong>de</strong>sto länger kann er sich um seine junge Familie<br />
kümmern. Hauptsache, er lässt seine Laune nicht an mir aus.<br />
Es war eine Erleichterung, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mittagspause mit Mirjam essen<br />
zu gehen. Wie üblich trafen <strong>sie</strong> sich in <strong>de</strong>m kleinen Bistro in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Fußgängerzone, das keine 200 Meter von Finjas Arbeitsplatz<br />
entfernt lag. Die Zeit war stets knapp, reichte aber für eine Mini-<br />
Pizza o<strong><strong>de</strong>r</strong> ein Knoblauchbrot, <strong>de</strong>nn <strong><strong>de</strong>r</strong> kleine Imbiss war auf<br />
Berufstätige speziali<strong>sie</strong>rt und servierte innerhalb weniger Minuten.<br />
„Hey! Siehst gar nicht gut aus“, bemerkte Mirjam, als <strong>sie</strong> an einem<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Fenstertische Platz nahmen.<br />
Finja schwieg betreten. Sie hasste es, zu <strong>de</strong>n Menschen zu gehören,<br />
<strong>de</strong>nen man <strong>ihr</strong>e Stimmung ohne weiteres ansah.<br />
„Sag schon! Was ist los?“, drängte Mirjam, <strong>die</strong> <strong>ihr</strong>erseits trotz<br />
Beruf und Kleinkind immer wie aus <strong>de</strong>m Ei gepellt wirkte: rosiger<br />
Teint, glatte Wangen, perfekt geschminkt und fri<strong>sie</strong>rt. Nicht einmal<br />
Schwangerschaft und Geburt hatten sichtbare Spuren bei <strong>ihr</strong><br />
hinterlassen. Oft fragte sich Finja, welche Eigenschaft es sein<br />
mochte, <strong>die</strong> manche Menschen <strong><strong>de</strong>r</strong>art immun gegen je<strong>de</strong> Form von<br />
Stress machte – und warum <strong>ihr</strong> <strong>die</strong>se Gabe versagt wor<strong>de</strong>n war.<br />
„Och, nur das Übliche“, sagte <strong>sie</strong>, wie schon am Vortag zu Carla.<br />
Der Ober brachte <strong>die</strong> Knoblauchbrote, ein Mineralwasser für Finja
und <strong>de</strong>n üblichen Rotwein für Mirjam.<br />
„Du solltest dich nach einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Job umsehen“, meinte<br />
Mirjam, <strong>die</strong> angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> knappen Zeit augenblicklich zu essen<br />
begann. Das war stets <strong>ihr</strong>e Art und tat <strong><strong>de</strong>r</strong> Unterhaltung keinen<br />
Abbruch, <strong>de</strong>nn <strong>sie</strong> verfügte über <strong>die</strong> erstaunliche Fähigkeit,<br />
gleichzeitig re<strong>de</strong>n und essen zu können. „Ich meine …“, <strong>sie</strong><br />
unterbrach sich für einen Schluck Rotwein, „… ist ja wirklich nicht<br />
so toll, wenn du ihn je<strong>de</strong>n Tag vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Nase hast.“<br />
Finja nickte. Schon tausendmal hatte <strong>sie</strong> daran gedacht, bei<br />
ThonArt zu kündigen – doch woher sollte <strong>sie</strong> auf <strong>die</strong> Schnelle<br />
einen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Job bekommen? Arbeit zu suchen kostete Zeit, und<br />
eben<strong>die</strong>se Zeit ließ einem <strong>die</strong> Arbeit nicht. Es war ein perfekter<br />
Teufelskreis.<br />
„An<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits solltest du aber auch langsam drüber weg sein, o<strong><strong>de</strong>r</strong>?<br />
Wie lange ist das Ganze jetzt her?“<br />
„Fast ein Jahr“, murmelte Finja, während <strong>sie</strong> lustlos an <strong>ihr</strong>em<br />
Knoblauchbrot knabberte.<br />
„<strong>Ein</strong> Jahr!“ Ungläubig schüttelte Mirjam <strong>de</strong>n Kopf. „Also, wenn<br />
ich nach je<strong>de</strong>m One-Night-Stand ein Jahr trauern müsste, wär ich<br />
längst alt und vertrocknet. Ist nicht gut für <strong>de</strong>n Hormonspiegel,<br />
wenn <strong>die</strong> einzigen Drüsen, <strong>die</strong> noch Feuchtigkeit produzieren, <strong>die</strong><br />
Tränendrüsen sind. Ehrlich, Finja! Meinst du nicht, dass es langsam<br />
reicht?“<br />
Finja kaute schweigend. Das gummiartige Brot wi<strong><strong>de</strong>r</strong>setzte sich<br />
<strong>de</strong>n Zähnen fast ebenso wie <strong>de</strong>m viel zu stumpfen Messer.<br />
„War es <strong>de</strong>nn wirklich so toll?“, fragte Mirjam.<br />
Eigentlich nicht, dachte Finja. Es fiel <strong>ihr</strong> schwer, <strong>ihr</strong>e Gefühle<br />
auszudrücken. Sie trauerte nicht um Stefan; <strong>sie</strong> hasste ihn. Er<br />
steckte <strong>ihr</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kehle wie <strong>die</strong>ses verflixte fettige Brot, und <strong>sie</strong><br />
konnte ihn nicht schlucken. Doch <strong>die</strong> Grün<strong>de</strong> waren schwer zu
erklären. Sie hatte Mirjam <strong>die</strong> Geschichte schon einmal erzählt,<br />
aber es war <strong>ihr</strong> nicht gelungen, das furchtbare Gefühl <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Demütigung zu vermitteln, das <strong>sie</strong> davongetragen hatte.<br />
„Schau mal, es war ein Betriebsausflug“, sagte Mirjam. „Da<br />
pas<strong>sie</strong>rt so was schon mal. Man ist weit weg von zu Hause, man<br />
will Spaß haben und baggert ein bisschen rum.“<br />
„Es war mehr als das“, beharrte Finja.<br />
„Für dich vielleicht. Aber offenbar nicht für ihn.“<br />
Finja nickte düster. Wahrscheinlich war es für <strong>ihr</strong>e Freundin reine<br />
Routine, sich auf Betriebsausflügen <strong>die</strong>sen o<strong><strong>de</strong>r</strong> jenen <strong>Kollegen</strong> ins<br />
Bett zu holen, ohne dass <strong>sie</strong> lange darüber nachdachte. Mirjam<br />
hatte viele Affären, aber <strong>sie</strong> nahm Männer nicht beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s ernst –<br />
und hatte es auch nicht nötig, <strong>de</strong>nn <strong>sie</strong> war attraktiv und<br />
selbstbewusst. Den Erzeuger <strong>ihr</strong>es Kin<strong>de</strong>s hatte <strong>sie</strong> eigenhändig vor<br />
<strong>die</strong> Tür gesetzt, weil er, in <strong>ihr</strong>en Worten, „als Liebhaber<br />
mittelmäßig und als Vater nicht zu gebrauchen“ war.<br />
Finja dagegen hatte <strong>ihr</strong> Glück kaum fassen können, als Stefan <strong>sie</strong><br />
am letzten Abend jenes Betriebsausflugs vor nahezu einem Jahr auf<br />
einen Sekt in <strong>die</strong> Hotelbar eingela<strong>de</strong>n hatte. Sie war damals erst<br />
drei Monate bei ThonArt gewesen, und natürlich hatte <strong>sie</strong> – wie<br />
alle Kolleginnen – für ihn geschwärmt. Er hatte <strong>die</strong> <strong>Ein</strong>ladung<br />
damit begrün<strong>de</strong>t, <strong>sie</strong> besser kennenlernen zu wollen, allerdings<br />
wohlweislich abgewartet, bis alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>en sich auf <strong>ihr</strong>e Zimmer<br />
zurückgezogen hatten. Er war charmant gewesen, sehr charmant.<br />
Finja war dahingeschmolzen, und als er schließlich vorgeschlagen<br />
hatte, das Gespräch auf seinem Zimmer fortzusetzen, war <strong>sie</strong> mit<br />
heftigem Herzklopfen darauf eingegangen.<br />
„Mach dir mal seine Situation klar!“, riet Mirjam. „Seine Freundin<br />
war damals schon schwanger. In solchen Lebenslagen kriegen<br />
Männer oft Panik. Wenn <strong>sie</strong> plötzlich vor Augen haben, dass <strong>sie</strong>
eine Familie grün<strong>de</strong>n und Verantwortung tragen müssen, <strong>de</strong>nken<br />
<strong>sie</strong>, <strong>ihr</strong> Leben wäre vorbei, und ticken erst mal aus. Glaub mir, ich<br />
weiß, wovon ich re<strong>de</strong>! Als Reiner damals erfahren hat, dass er<br />
Vater wird, hat er sich sinnlos besoffen und ist mit seinen Kumpels<br />
auf <strong>die</strong> Rote Meile in <strong><strong>de</strong>r</strong> Altstadt gegangen … Torschlusspanik.“<br />
„Aber ich ahnte doch nichts davon!“, fuhr Finja auf. „Keiner im<br />
Callcenter wusste überhaupt, dass er eine Freundin hat.“<br />
Mirjam zuckte mit <strong>de</strong>n Achseln. „Dann ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Kerl offenbar ein<br />
guter Taktiker. Erstaunlich. Normalerweise weiß je<strong>de</strong><br />
Firmenbelegschaft über das Privatleben <strong>ihr</strong>es <strong>Chef</strong>s Bescheid.<br />
Entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> funktioniert eure Klatsch-Hotline nicht so gut wie euer<br />
Kun<strong>de</strong>nservice, o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>ihr</strong> seid alle ein wenig blind, wenn es um<br />
<strong>die</strong>sen Schönling geht. Gib’s zu, du warst selber ein bisschen blind,<br />
o<strong><strong>de</strong>r</strong>?“<br />
Finja seufzte. Mirjam hatte gewiss recht, doch das machte <strong>die</strong><br />
Erfahrung noch bitterer. „Also, du meinst … er hat nur eine kurze<br />
Abwechslung gesucht, bevor für ihn <strong><strong>de</strong>r</strong> Ernst <strong>de</strong>s Lebens begann?“<br />
„Sieht ganz danach aus. Tut mir leid, wenn das jetzt weh tut, aber<br />
irgendjemand muss es dir mal sagen: Wahrscheinlich wäre <strong>die</strong>sem<br />
Kerl je<strong>de</strong> Muschi recht gewesen.“<br />
„Aber es muss doch einen Grund geben, warum er sich<br />
ausgerechnet mich ausgesucht hat!“<br />
Über <strong>die</strong>sen Punkt kam Finja nicht hinweg. Hatte Stefan <strong>sie</strong><br />
schlicht für ein leichtes Opfer gehalten, weil <strong>sie</strong> jung und<br />
unerfahren war? O<strong><strong>de</strong>r</strong> war seine Lei<strong>de</strong>nschaft nicht doch –<br />
zumin<strong>de</strong>st ein wenig – echt gewesen?<br />
„Mach dir jetzt bloß keine Illusionen!“, warnte Mirjam. „Der Typ<br />
ist ein Arschloch, <strong>sie</strong>h es ein. Du warst im richtigen Moment da,<br />
um eine Lücke zu füllen, und du hast ihn wohl auch nicht gebremst.<br />
O<strong><strong>de</strong>r</strong> hast du?“
„Nein“, gab <strong>sie</strong> beschämt zu. Gebremst hatte <strong>sie</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat nicht,<br />
eher im Gegenteil. Vor lauter Fassungslosigkeit über <strong>ihr</strong> Glück war<br />
<strong>sie</strong> bereit gewesen, Dinge zu tun, <strong>die</strong> <strong>sie</strong> noch nie zuvor getan hatte.<br />
Sie hatte ihn buchstäblich in je<strong>de</strong> Öffnung <strong>ihr</strong>es Körpers eindringen<br />
lassen, berauscht von <strong>de</strong>m Hochgefühl, dass <strong>die</strong>ser attraktive und<br />
von allen umschwärmte Mann ausgerechnet <strong>sie</strong> begehrte. <strong>Ein</strong>en<br />
Orgasmus hatte <strong>sie</strong> nicht gehabt, aber <strong>sie</strong> erinnerte sich daran, dass<br />
<strong>ihr</strong> das auch gar nicht wichtig gewesen war. Die ganze Zeit über<br />
hatte nur ein einziger Gedanke <strong>ihr</strong>en Kopf erfüllt: ihm <strong>de</strong>n Himmel<br />
auf Er<strong>de</strong>n zu bereiten und ihm so viel Befriedigung zu schenken,<br />
dass er nicht mehr von <strong>ihr</strong> ablassen konnte. Halt <strong>die</strong>sen Mann fest<br />
und lass ihn nicht mehr los!, hatte <strong>sie</strong> gedacht – und <strong>sie</strong> hatte ihn<br />
festgehalten, ihn mit Armen und Beinen umschlungen und seinen<br />
Kopf zwischen <strong>ihr</strong>e Brüste gedrückt, bis ein krampfhaftes Stöhnen<br />
seinen Körper erschüttert hatte. In jenem Moment hatte <strong>sie</strong><br />
geglaubt, er wür<strong>de</strong> für immer <strong>ihr</strong> gehören, und nur mit Mühe hatte<br />
<strong>sie</strong> eine Träne <strong><strong>de</strong>r</strong> Dankbarkeit für <strong>die</strong>ses Geschenk <strong>de</strong>s Schicksals<br />
unterdrückt.<br />
Das buchstäblich böse Erwachen war am nächsten Morgen gefolgt.<br />
Stefan hatte <strong>sie</strong> auf <strong>ihr</strong> Zimmer zurückgeschickt, damit es keinen<br />
Klatsch unter <strong>de</strong>n <strong>Kollegen</strong> gab, und natürlich hatte Finja<br />
eingewilligt. Es wür<strong>de</strong> eine Weile dauern – so hatte <strong>sie</strong> sich<br />
vorgemacht –, bis er sich offen zu seiner heimlichen Liebe<br />
bekannte. Sie war bereit gewesen, auf ihn zu warten und ihm so<br />
viel Zeit zu geben, wie er zu brauchen glaubte. Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
<strong>sie</strong> beim Gruppenfrühstück im Hotelrestaurant begrüßt hatte, war<br />
plötzlich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>ihr</strong> <strong>Chef</strong> gewesen: freundlich, aber kühl,<br />
unbekümmert und gutgelaunt, doch distanziert wie stets.<br />
„Hast du eigentlich mal versucht, mit ihm über <strong>die</strong> Sache zu<br />
re<strong>de</strong>n?“, fragte Mirjam.
„Natürlich. Bei je<strong><strong>de</strong>r</strong> Gelegenheit. Aber ich hab’s schnell<br />
aufgegeben.“<br />
„Wieso?“<br />
„Er tat, als wäre nichts gewesen.“<br />
„Kein Wort? Nicht mal irgen<strong>de</strong>ine Standard-Plattitü<strong>de</strong>, so in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Art: ‚Es war ein Ausrutscher‘ o<strong><strong>de</strong>r</strong> ‚Lass uns nicht mehr daran<br />
<strong>de</strong>nken‘?“<br />
Finja schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Nichts. Er hat immer dafür gesorgt,<br />
dass er nicht mit mir allein war … und als ich dann einfach in sein<br />
Büro geplatzt bin, meinte er nur: ‚Wir haben nichts zu besprechen‘,<br />
und hat mich rausgeworfen.“<br />
Mirjam nickte wissend. „Und seit<strong>de</strong>m mobbt er dich, nicht wahr?“<br />
„Na ja, was heißt mobben …“<br />
„Meckert bei je<strong><strong>de</strong>r</strong> Gelegenheit an dir rum. Über <strong>de</strong>ine Fehlzeiten,<br />
über Unordnung an <strong>de</strong>inem Arbeitsplatz, über <strong>de</strong>inen Umgang mit<br />
irgen<strong>de</strong>inem Kun<strong>de</strong>n und was ihm sonst noch so einfällt.“<br />
„Ja, und hinter meinem Rücken lässt er wi<strong><strong>de</strong>r</strong>liche Bemerkungen<br />
über mein Gewicht fallen, o<strong><strong>de</strong>r</strong> wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spricht zumin<strong>de</strong>st nicht, wenn<br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>e es tun.“<br />
„Ist doch klar!“, meinte Mirjam. „Auf <strong>die</strong>se Weise will er je<strong>de</strong>m<br />
Verdacht vorbeugen, dass er sich jemals für dich interes<strong>sie</strong>rt hat.“<br />
„Du meinst also … er verbirgt doch echte Gefühle?“<br />
Mirjam seufzte. „Ich sag’s dir noch mal, Finja: Mach dir nichts<br />
vor! Du warst ihm gut genug für eine Nacht, aber …“<br />
„… aber für <strong>de</strong>n aufstreben<strong>de</strong>n Service Manager keine präsentable<br />
Frau“, ergänzte Finja bitter. „Keine, <strong>die</strong> sich <strong>die</strong> Nägel zu Krallen<br />
züchtet und Abendklei<strong><strong>de</strong>r</strong> in Größe 34 spazieren trägt.“<br />
„Tut seine Freundin das?“<br />
„Seine Frau. Er hat <strong>sie</strong> geheiratet, kurz nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Geburt <strong>de</strong>s<br />
Kin<strong>de</strong>s.“
„Ach … und du glaubst immer noch, er will irgen<strong>de</strong>twas von dir?“<br />
„Damals wollte er eine ganze Menge von mir! Du glaubst gar nicht,<br />
was alles.“<br />
„Kann’s mir vorstellen.“ Mirjam grinste schief, während <strong>sie</strong> <strong>ihr</strong>en<br />
Rotwein leerte. „So sind <strong>sie</strong> nun mal, <strong>die</strong> Männer. Aber <strong>ihr</strong>e<br />
Bereitschaft, uns auszunutzen, lebt auch von unserer Bereitschaft,<br />
<strong>die</strong> Augen zu verschließen. Du bist das beste Beispiel: Der Kerl<br />
<strong>behan<strong>de</strong>lt</strong> dich wie <strong>de</strong>n letzten Dreck – und du glaubst immer noch,<br />
er wür<strong>de</strong> irgen<strong>de</strong>twas für dich empfin<strong>de</strong>n.“<br />
Finja schwieg resigniert.<br />
„Sehen wir’s mal aus seiner Perspektive“, schlug Mirjam vor. „Er<br />
hat seine Freundin betrogen, als <strong>sie</strong> bereits schwanger war. Wenn<br />
das rauskommen wür<strong>de</strong>, hätte er einigen Ärger zu Hause.“<br />
„Todsicher“, stimmte Finja zu. „Es heißt, seine Iris ist rasend<br />
eifersüchtig.“<br />
„Na, <strong>sie</strong>hst du! Wahrscheinlich muss er täglich drei Ei<strong>de</strong> schwören,<br />
dass er <strong>ihr</strong> auch wirklich treu ist. Hast du irgendjeman<strong>de</strong>m erzählt,<br />
was damals zwischen euch pas<strong>sie</strong>rt ist?“<br />
„Nur dir … und Carla, meiner Mitbewohnerin.“<br />
„Aber nieman<strong>de</strong>m im Callcenter?“<br />
„Nein.“<br />
„Warum nicht?“<br />
„Ich weiß nicht. Ich hab da mit nieman<strong>de</strong>m so engen Kontakt“,<br />
erklärte Finja. „Außer<strong>de</strong>m wür<strong>de</strong> mir wahrscheinlich keiner<br />
glauben. Die wür<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nken, ich will nur angeben … Schließlich<br />
fin<strong>de</strong>n alle Stefan toll, und niemand wür<strong>de</strong> ihm zutrauen, dass er<br />
ausgerechnet mit mir etwas hatte.“<br />
„Und er sorgt dafür, dass es dabei bleibt, in<strong>de</strong>m er dich vor <strong>de</strong>n<br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>en runtermacht.“ Mirjam nickte. „Das ist Strategie, Finja!<br />
Wahrscheinlich legt er es darauf an, dass du irgendwann aufgibst
und freiwillig kündigst. Sieh es endlich ein: Der Typ verbirgt keine<br />
Gefühle, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n will dich einschüchtern – und wenn möglich,<br />
rausgraulen, damit du nichts mehr ausplau<strong><strong>de</strong>r</strong>n kannst.“<br />
„Vielleicht sollte ich seiner Frau mal einen netten Brief schreiben“,<br />
überlegte Finja laut, ohne es wirklich ernst zu meinen.<br />
„Das solltest du nicht tun!“, sagte Mirjam. „Was gewinnst du,<br />
wenn du <strong>die</strong> Sache bekannt machst? Stefans Frau wird ihm <strong>die</strong><br />
Hölle heißmachen, und er wird es an dir auslassen und dich noch<br />
mieser behan<strong>de</strong>ln.“<br />
„Aber wenn er mich wirklich loswer<strong>de</strong>n will, warum schmeißt er<br />
mich dann nicht raus? Okay, er hat so etwas nicht zu entschei<strong>de</strong>n –<br />
aber er könnte mich bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschäftsführung anschwärzen. Das<br />
hat er schon mal getan, da kennt er keine Skrupel. Meinen früheren<br />
Platznachbarn, Ben, hat er rausgeekelt. Ich weiß noch, wie sauer<br />
ich war, <strong>de</strong>nn das war wirklich mal ein netter Kollege … Aber<br />
irgendwie hat Stefan es hingekriegt, dass Bens Probezeit nicht<br />
verlängert wur<strong>de</strong>.“<br />
„Ich schätze, es ist ihm lieber, wenn du selbst kündigst. Sicher will<br />
er <strong>die</strong> Aufmerksamkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschäftsführung nicht auf euer<br />
Verhältnis lenken. Solange er im Glashaus sitzt, wird er nicht mit<br />
Steinen schmeißen.“<br />
„Und statt<strong>de</strong>ssen würgt er mir je<strong>de</strong>n Tag irgen<strong>de</strong>ine Gemeinheit<br />
rein …“<br />
„Vielleicht wäre es tatsächlich besser, wenn du dir einen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />
Job suchst.“<br />
„Dann hätte er ja gewonnen“, murmelte Finja, während <strong>sie</strong> <strong>de</strong>n<br />
Teller mit <strong>de</strong>m nahezu unversehrten Knoblauchbrot von sich schob.<br />
Der Gedanke, Stefan triumphieren zu sehen, wenn <strong>sie</strong> <strong>ihr</strong>e Sachen<br />
packte, hatte <strong>ihr</strong> endgültig <strong>de</strong>n Appetit verdorben.<br />
„Was willst du sonst tun?“, fragte Mirjam. „Dir <strong>die</strong> Schin<strong><strong>de</strong>r</strong>ei bis
in alle Ewigkeit bieten lassen?“<br />
Finja schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. Nein, das wür<strong>de</strong> <strong>sie</strong> gewiss nicht. Sie<br />
hatte ein Schlachtfeld gefun<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>m <strong>sie</strong> Stefan be<strong>sie</strong>gen<br />
konnte: Breath of Doom. Brianna, <strong>die</strong> Kriegerin, wür<strong>de</strong> niemals<br />
aufgeben. Sie wür<strong>de</strong> kämpfen – und <strong>sie</strong>gen. Beinahe täglich warf<br />
<strong>sie</strong> Stefan in <strong>de</strong>n Staub, zahlte ihm je<strong>de</strong> Demütigung heim, je<strong>de</strong><br />
Verletzung, je<strong>de</strong> Gemeinheit. Sie schlug ihn nie<strong><strong>de</strong>r</strong>, durchstach sein<br />
Herz, trennte ihm mit einem einzigen Streich <strong>de</strong>n Kopf von <strong>de</strong>n<br />
Schultern. Seit <strong>die</strong>ser Racheengel in <strong>ihr</strong> Leben getreten war, fühlte<br />
Finja sich nicht mehr wehrlos. Brianna begleitete <strong>sie</strong> wie ein<br />
unsichtbarer Schatten – <strong>die</strong> starke, gna<strong>de</strong>nlose, schöne, schlanke<br />
Brianna.<br />
„Woran <strong>de</strong>nkst du?“, fragte Mirjam stirnrunzelnd. „Du lächelst so<br />
komisch.“<br />
„Ach … nichts.“ Finja bemühte sich, <strong>ihr</strong>e entgleisten Gesichtszüge<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong> unter Kontrolle zu bekommen, und spickte auf <strong>die</strong> Uhr <strong>ihr</strong>es<br />
Handys. „Ich hab meine Mittagspause schon überzogen. Ist wohl<br />
besser, wenn ich mich auf <strong>de</strong>n Weg mache.“<br />
„Hey, du hast ja kaum was gegessen!“<br />
Finja blickte auf das Knoblauchbrot und verzog angewi<strong><strong>de</strong>r</strong>t <strong>de</strong>n<br />
Mund. „Ich bin auf Diät.“<br />
***<br />
An <strong>die</strong>sem Tag ließ Stefan <strong>sie</strong> in Ruhe, als <strong>sie</strong> an <strong>ihr</strong>en Arbeitsplatz<br />
zurückgekehrt war. Sie sah ihn nicht einmal. Offenbar verbrachte<br />
er <strong>de</strong>n ganzen Nachmittag in seinem Büro und brütete über <strong>de</strong>n<br />
kürzlich eingetroffenen Spielplänen <strong><strong>de</strong>r</strong> städtischen Konzerthäuser<br />
für <strong>die</strong> nächste Saison. Finja nahm an, dass <strong>die</strong> Planungsarbeit ihn<br />
noch einige Tage an seinen Platz bannen wür<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn er musste <strong>die</strong>
Belegung <strong>de</strong>s Callcenters bis einschließlich September festlegen,<br />
um Aushilfen für <strong>de</strong>n Vorverkauf einzuplanen.<br />
Clarissa saß nicht mehr neben <strong>ihr</strong>, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in <strong><strong>de</strong>r</strong> vor<strong><strong>de</strong>r</strong>sten Reihe<br />
neben Jost; <strong>ihr</strong> früherer Platz blieb vorläufig frei. Stefan hatte sein<br />
Versprechen also wahr gemacht. Beinahe war Finja ihm dankbar,<br />
<strong>de</strong>nn so hatte <strong>sie</strong> nicht ständig das arrogante Gesicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>ntin<br />
im Augenwinkel.<br />
Erleichtert packte <strong>sie</strong> am Abend <strong>ihr</strong>e Sachen und flüchtete so<br />
schnell wie möglich nach draußen. Als <strong>sie</strong> an Stefans<br />
milchverglaster Bürotür vorbeikam, sah <strong>sie</strong> seine schattenhafte<br />
Gestalt tief über <strong>de</strong>n Schreibtisch gebeugt. Der dunkle Umriss war<br />
gespenstisch und erinnerte mehr als seine wirkliche Erscheinung an<br />
Gorthaur, <strong>de</strong>n Schwarzen Ritter.<br />
Dieser freilich ließ sich nicht blicken, als Finja zwei Stun<strong>de</strong>n später<br />
daheim das Spiel einschaltete. Sie machte <strong>ihr</strong>e übliche Run<strong>de</strong>, fand<br />
jedoch keine Spur von ihm. Wahrscheinlich war er immer noch in<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Firma und schob Überstun<strong>de</strong>n.<br />
Sie blieb trotz<strong>de</strong>m im Spiel, wan<strong><strong>de</strong>r</strong>te ein wenig umher und genoss<br />
es, <strong>die</strong> wil<strong>de</strong>n Landschaften zu betrachten. Breath of Doom war<br />
zwar ein Gratis-Spiel, das nur einen Download aus <strong>de</strong>m Internet<br />
erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>te, dafür jedoch waren <strong>die</strong> Grafiken erstaunlich<br />
professionell. Es gab verwunschene Wäl<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Baumkronen im<br />
Wind rauschten und <strong><strong>de</strong>r</strong>en Äste und Blätter bis ins Detail<br />
naturgetreu animiert waren. Es gab wil<strong>de</strong> Gebirgslandschaften mit<br />
steilen Hängen und zackigen Felsspitzen, Meeresküsten mit<br />
erstaunlich realistischer Brandung, Steppen voller wogen<strong><strong>de</strong>r</strong> Gräser<br />
und malerische Eislandschaften in schillern<strong>de</strong>m Türkisblau.<br />
Überall streiften phantastische Wesen umher, <strong>die</strong> man bekämpfen<br />
konnte, um Punkte zu gewinnen: Riesen und Drachen, Oger und<br />
Trolle, Orks und Kobol<strong>de</strong>. An <strong>die</strong>sem Tag jedoch verzichtete Finja
auf je<strong>de</strong>n Kampf. Breath of Doom war längst zu einem festen<br />
Bestandteil <strong>ihr</strong>es Lebens gewor<strong>de</strong>n, und oft schaltete <strong>sie</strong> das Spiel<br />
auch dann ein, wenn abzusehen war, dass Stefan nicht anwesend<br />
sein wür<strong>de</strong>.<br />
Ursprünglich hatte <strong>sie</strong> nur seinetwegen mit <strong>de</strong>m Spiel begonnen.<br />
Online-Spiele waren nie <strong>ihr</strong> Fall gewesen, erst recht nicht<br />
Rollenspiele vom „Hack and Slay“-Typus, bei <strong>de</strong>nen es fast<br />
ausschließlich ums Kämpfen und Töten ging. Dass Stefan das Spiel<br />
spielte, wusste <strong>sie</strong> seit jener schicksalhaften Nacht auf <strong>de</strong>m<br />
Betriebsausflug. Als <strong>sie</strong> nämlich mit auf sein Zimmer gegangen<br />
war, hatte er als Erstes seinen Laptop eingeschaltet und erklärt, er<br />
müsse noch kurz „eine Verabredung absagen“.<br />
„Verabredung?“, hatte <strong>sie</strong> erstaunt gefragt.<br />
„Da kannst du mal sehen!“, hatte er charmant geantwortet. „Für<br />
dich sage ich sogar eine Dungeon Party ab.“<br />
„<strong>Ein</strong>e was?“<br />
Finja hatte ihm über <strong>die</strong> Schulter geblickt, als er sich in Breath of<br />
Doom eingeloggt hatte, um per Chat einer Gruppe von Mitspielern<br />
mitzuteilen, dass er heute im „RealLife“ etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>es vorhabe. Da<br />
Finjas Unverständnis offenkundig war, hatte er in kurzen Worten<br />
erklärt, worum es ging: <strong>Ein</strong>e „Dungeon Party“ war ein<br />
Zusammenschluss mehrerer Spieler zur Erkundung eines<br />
Dungeons, einer unterirdischen Anlage, in <strong><strong>de</strong>r</strong> es Schätze von<br />
großem Wert, aber auch beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s gefährliche Monster gab. Allein<br />
konnte man in einem so gefährlichen Areal <strong><strong>de</strong>r</strong> Spielwelt nicht<br />
lange überleben, <strong>de</strong>shalb war es üblich, dass mehrere Spieler sich<br />
zusammentaten und eine bestimmte Zeit verabre<strong>de</strong>ten, um <strong>die</strong><br />
Aufgabe gemeinsam zu bewältigen.<br />
Bei <strong>die</strong>ser Gelegenheit hatte <strong>sie</strong> auch Stefans Avatar gesehen, <strong>de</strong>n<br />
Schwarzen Ritter „Gorthaur“. Viel später erst, lange nach <strong><strong>de</strong>r</strong>
verhängnisvollen Liebesnacht und <strong>de</strong>n anschließen<strong>de</strong>n<br />
Verwicklungen, war <strong>ihr</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gedanke gekommen, wie <strong>sie</strong> Stefan<br />
seine Gemeinheit heimzahlen konnte. Sie hatte selbst einen<br />
Account erstellt und sich in das Spiel eingeloggt.<br />
Es war <strong>ihr</strong> erstes Multiplayer-Rollenspiel gewesen, und am Anfang<br />
hatte <strong><strong>de</strong>r</strong> Komplexitätsgrad <strong>sie</strong> entmutigt. Schon bei <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Charakterauswahl hatte <strong>sie</strong> sich endlos von einem Menü zum<br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>en geklickt, da diverse Rassen und Völker zur Auswahl<br />
stan<strong>de</strong>n und man Äußerlichkeiten wie Haar- und Augenfarbe,<br />
Frisur und Gesichtsform selbst bestimmen konnte. Lange hatte <strong>sie</strong><br />
über <strong><strong>de</strong>r</strong> Auswahl gebrütet und schließlich <strong>die</strong> Kategorie „Dark Elf<br />
Assassin“ gewählt. Assassinen waren Meister <strong>de</strong>s Tötens, so viel<br />
zumin<strong>de</strong>st hatte Finja aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Beschreibung <strong><strong>de</strong>r</strong> Charakterklasse<br />
entnommen – und außer<strong>de</strong>m durften Assassinen von einem Tier<br />
begleitet wer<strong>de</strong>n, bevorzugt einem Panther, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>sie</strong> im Kampf<br />
unterstützte. Der Name „Brianna“ war <strong>ihr</strong> spontan in <strong>de</strong>n Sinn<br />
gekommen, weil er so geheimnisvoll klang. Schlank musste <strong>sie</strong><br />
natürlich sein, mit edlem, hochwangigem Gesicht und spitzem,<br />
selbstbewusst gerecktem Kinn: ein dunkler Engel, verführerisch<br />
und gefährlich zugleich. Tiefbraune Augen verstan<strong>de</strong>n sich von<br />
selbst, ebenso das glatte, schwarze Haar. Diese Wahl hatte Finja<br />
beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e Genugtuung bereitet. Ihre eigenen Haare pflegte <strong>sie</strong><br />
zwar mit Hingabe, doch ha<strong><strong>de</strong>r</strong>te <strong>sie</strong> mit <strong>de</strong>n dunkelblon<strong>de</strong>n<br />
Naturlocken. Alle Frauen, <strong>die</strong> respektiert und bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>t wur<strong>de</strong>n,<br />
hatten glatte Haare.<br />
Am En<strong>de</strong> war <strong>sie</strong> sehr zufrie<strong>de</strong>n gewesen. Ursprünglich war es <strong>ihr</strong><br />
nur darum gegangen, auf keinen Fall erkannt zu wer<strong>de</strong>n – doch es<br />
war auch aufregend, einen Avatar zu gestalten, als malte man ein<br />
Wunschbild seiner selbst. „Brianna“ war das vollkommene<br />
Gegenteil <strong>ihr</strong>er Spielerin: groß, schmal und dunkel. Finja hatte
keine Vorstellung, wie effektiv <strong><strong>de</strong>r</strong> Charakter im Spiel war, stattete<br />
ihn jedoch instinktiv mit einer leichten Le<strong><strong>de</strong>r</strong>rüstung und zwei<br />
Dolchen aus, einen in je<strong><strong>de</strong>r</strong> Hand. Wenn <strong>sie</strong> auf eine bestimmte<br />
Schaltfläche klickte, lachte Brianna überlegen, stieß eine Faust in<br />
<strong>die</strong> Luft und kehrte <strong>de</strong>n Daumen nach unten. Diese Geste gefiel<br />
Finja beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s: Komm nur her, besagte <strong>sie</strong>, ich mach dich fertig!<br />
Und <strong>die</strong>se Drohung hatte <strong>sie</strong> wahr gemacht, nach<strong>de</strong>m es <strong>ihr</strong><br />
gelungen war, <strong>de</strong>n 30. Level zu erreichen und Gorthaur als<br />
ebenbürtige Gegnerin entgegenzutreten. Wie oft <strong>sie</strong> ihn inzwischen<br />
schon getötet hatte, konnte <strong>sie</strong> nicht mehr zählen: vielleicht 50-mal,<br />
vielleicht öfter. Anfangs hatte <strong>sie</strong> das eine o<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Duell<br />
verloren, aber stets weitertrainiert, meistens an <strong>de</strong>n vom Spiel<br />
gesteuerten Monstern, <strong>die</strong> leichter zu bekämpfen waren. Sie hatte<br />
mit verschie<strong>de</strong>nen Waffen und Rüstungen experimentiert,<br />
Spezialfähigkeiten gelernt und sich magische Gegenstän<strong>de</strong><br />
beschafft, <strong>die</strong> <strong>ihr</strong>e Stärke und Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>standskraft erhöhten. Das alles<br />
hatte Monate gedauert und <strong>ihr</strong> abverlangt, sich intensiv mit <strong>de</strong>n<br />
Regeln <strong>de</strong>s Spiels auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>zusetzen, <strong>die</strong> so komplex und<br />
vielschichtig waren, dass <strong>sie</strong> ganze Fan-Foren füllten.<br />
Inzwischen war Brianna Gorthaur überlegen und gewann je<strong>de</strong>s<br />
Duell mit ihm, oft zwei- bis dreimal innerhalb einer Woche.<br />
Manchmal fragte sich Finja, was Stefan wohl über <strong>sie</strong> <strong>de</strong>nken<br />
mochte. Ganz gewiss ahnte er nicht, wer hinter seiner virtuellen<br />
Erzfeindin steckte. Hielt er <strong>sie</strong> einfach für eine beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />
ehrgeizige Spielerin, <strong>die</strong> ihn aus unerfindlichen Grün<strong>de</strong>n zu <strong>ihr</strong>em<br />
bevorzugten Opfer auserkoren hatte? Immerhin gab es Punkte für<br />
je<strong>de</strong>n gewonnenen Zweikampf und <strong>de</strong>mgemäß eine ganze Reihe<br />
gewohnheitsmäßiger Duellanten, <strong>die</strong> tagtäglich an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Spieler<br />
angriffen.<br />
Wenn du wüsstest, Stefan, dachte <strong>sie</strong> je<strong>de</strong>s Mal, wenn <strong>sie</strong> Gorthaur
egegnete und mit zunehmen<strong><strong>de</strong>r</strong> Leichtigkeit be<strong>sie</strong>gte. Wenn du<br />
wüsstest …<br />
Der reale Stefan wusste von nichts, so viel stand fest. Finja hätte es<br />
augenblicklich zu spüren bekommen, wenn ihm jemals eine<br />
Verbindung zwischen <strong><strong>de</strong>r</strong> mör<strong><strong>de</strong>r</strong>ischen Kriegerin in Breath of<br />
Doom und <strong><strong>de</strong>r</strong> stillen, pummeligen Angestellten in seinem<br />
Callcenter aufgegangen wäre. In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Tagen ließ er sich<br />
nicht blicken, obwohl Finja das Spiel je<strong>de</strong>n Abend einige Stun<strong>de</strong>n<br />
laufen ließ, um nach ihm Ausschau zu halten. Auch im Betrieb<br />
wur<strong>de</strong> <strong>sie</strong> von seiner Anwesenheit verschont, <strong>de</strong>nn er verbrachte<br />
<strong>de</strong>n größten Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeitszeit in seinem Büro, und wenn er es<br />
einmal verließ, hatte er es eilig. Finja beobachtete ihn aus <strong>de</strong>m<br />
Augenwinkel, wenn er <strong>die</strong> Treppe in <strong>de</strong>n dritten Stock<br />
hochspurtete, um irgen<strong>de</strong>twas mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschäftsführung zu<br />
besprechen, o<strong><strong>de</strong>r</strong> sich rasch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Teeküche einen Kaffee holte.<br />
Für <strong>sie</strong> waren <strong>die</strong>se Tage gera<strong>de</strong>zu eine Erholung. Erst am<br />
Freitagabend, kurz nach Dienstschluss, kam Stefan aus seinem<br />
Büro und hielt gera<strong>de</strong>wegs auf <strong>sie</strong> zu. Finja, <strong>die</strong> bereits <strong>ihr</strong>e Sachen<br />
packte, empfand das übliche Gefühl bei seinem Anblick: als wenn<br />
<strong>ihr</strong> Magen plötzlich ein Stück tiefer sackte. Seltsam, dass <strong>sie</strong> <strong>ihr</strong>e<br />
Angst vor ihm nie verlor, ganz gleichgültig, wie oft <strong>sie</strong> ihm in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
virtuellen Welt <strong>de</strong>n Kopf von <strong>de</strong>n Schultern trennte.<br />
„Finja? Du hast schon wie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>ine Karten nicht abgeholt.“<br />
Sie musste einen Augenblick nach<strong>de</strong>nken, bis <strong>sie</strong> begriff, wovon er<br />
sprach. Erst als <strong>sie</strong> <strong>die</strong> <strong>Ein</strong>trittskarten in seiner Hand sah, fiel <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Groschen. Die Geschäftsführung stiftete allen Angestellten<br />
regelmäßig Freikarten, damit <strong>sie</strong> sich <strong>die</strong> Konzerte, Ballette o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Musicals ansehen konnten, für <strong><strong>de</strong>r</strong>en Kartenverkauf <strong>sie</strong> zuständig<br />
waren. Finja hatte bisher meistens darauf verzichtet, <strong>die</strong>sen<br />
unverlangten Service in Anspruch zu nehmen. Es gab nieman<strong>de</strong>n,
<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>sie</strong> begleitet hätte, und für klassische Musik interes<strong>sie</strong>rte <strong>sie</strong><br />
sich kaum. Zu Beginn <strong>ihr</strong>er Tätigkeit bei ThonArt hatte <strong>sie</strong> einmal<br />
– aus reinem Pflichtgefühl – <strong>ihr</strong>e Karten eingelöst und sich mit<br />
Jost, <strong>de</strong>m Schwulen aus <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Reihe, zusammengetan.<br />
Gemeinsam hatten <strong>sie</strong> eine furchtbar langweilige Musical-<br />
Aufführung über sich ergehen lassen, eine banale Liebesgeschichte<br />
mit schmachten<strong>de</strong>n Tenören, gellen<strong>de</strong>m Belcanto und Kulissen wie<br />
aus <strong>de</strong>m vorletzten Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Am schlimmsten hatte <strong>sie</strong> <strong>die</strong> viel<br />
zu schmalen Klappsitze in Erinnerung, <strong>die</strong> <strong>ihr</strong> das entwürdigen<strong>de</strong><br />
Gefühl vermittelt hatten, als wäre <strong>ihr</strong> Hintern noch breiter als<br />
gewöhnlich.<br />
Diesmal konnte es nur noch schlimmer wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn <strong>sie</strong> wusste,<br />
dass <strong>die</strong> Freikarten für ein ohnehin <strong>schlecht</strong> besuchtes Konzert in<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Stadthalle ausgegeben wur<strong>de</strong>n – wahrscheinlich, um zumin<strong>de</strong>st<br />
optisch <strong>die</strong> Reihen zu füllen. Auf <strong>de</strong>m Programm stan<strong>de</strong>n ein<br />
klassisches Konzertstück und danach das Machwerk irgen<strong>de</strong>ines<br />
zeitgenössischen Komponisten, <strong>de</strong>ssen Namen <strong>sie</strong> nicht behalten<br />
konnte. Von mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ner E-Musik verstand <strong>sie</strong> so gut wie nichts,<br />
hatte aber von Jost gehört, dass es sich zumeist um<br />
unverständliches Gejaule und Gekratze han<strong>de</strong>lte, das mit<br />
hochtraben<strong>de</strong>n Titeln zu pseudointellektueller Be<strong>de</strong>utung<br />
aufgeblasen wur<strong>de</strong>.<br />
„Nein danke“, sagte <strong>sie</strong>, als Stefan <strong>ihr</strong> <strong>die</strong> Karten hinhielt. „Ich hab<br />
schon was an<strong><strong>de</strong>r</strong>es vor.“<br />
Sein Gesicht fror augenblicklich ein, und er straffte sich, wie er es<br />
stets tat, wenn er vom kollegialen Ton zum Habitus <strong>de</strong>s<br />
Vorgesetzten wechselte. Finja mied seinen Blick, <strong>de</strong>nn wenn er<br />
sich zu seiner ganzen Größe aufrichtete, musste <strong>sie</strong> stets zu ihm<br />
aufschauen und hasste das Gefühl <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwäche, das <strong>sie</strong> dabei<br />
empfand.
„Finja, <strong>die</strong>s ist ein Ticket-Service“, sagte er mit mahnend<br />
erhobener Stimme. „Wir verkaufen ein Produkt, nicht an<strong><strong>de</strong>r</strong>s als in<br />
je<strong><strong>de</strong>r</strong> Vertriebsabteilung, ob es nun um Waschmaschinen,<br />
Kühlschränke o<strong><strong>de</strong>r</strong> Kulturveranstaltungen geht. Um ein Produkt gut<br />
zu verkaufen, muss man es kennen. Du hast schon <strong>die</strong> letzten<br />
bei<strong>de</strong>n Male <strong>de</strong>ine Karten nicht eingelöst. Das geht so nicht auf<br />
Dauer.“<br />
„Ich sagte doch“, verteidigte sich Finja, „ich habe morgen Abend<br />
etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>es vor.“<br />
„Überleg dir das gut!“, empfahl Stefan kühl. „Du hast feste<br />
Arbeitszeiten, aber ein gewisses Engagement für <strong>de</strong>n Job muss ich<br />
von je<strong>de</strong>m verlangen. Herr Thon legt großen Wert darauf, und ich<br />
auch.“<br />
Er und Thon, dachte Finja. Wie das klingt! Als ob <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Chef</strong> sein<br />
Busenfreund wäre.<br />
„In <strong>de</strong>iner Bewerbung hast du dich als ‚engagiert und vielseitig<br />
interes<strong>sie</strong>rt‘ bezeichnet“, setzte er hinzu. „Ich hoffe, ich muss jetzt<br />
nicht feststellen, dass du da zu dick aufgetragen hast.“<br />
Finja war sprachlos. <strong>Ein</strong>en Moment stand <strong>sie</strong> da und schnappte<br />
nach Luft wie ein Fisch auf <strong>de</strong>m Trockenen. Es war wie immer: Im<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Moment fielen <strong>ihr</strong> nicht <strong>die</strong> richtigen Worte ein.<br />
Sie hasste Stefan dafür, dass es ihm immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> gelang, <strong>sie</strong><br />
<strong><strong>de</strong>r</strong>art in Verlegenheit zu bringen – und <strong>sie</strong> hasste sich selbst für<br />
<strong>ihr</strong>e Schwäche, <strong>ihr</strong>e Stummheit, <strong>ihr</strong>e mangeln<strong>de</strong> Schlagfertigkeit.<br />
Die einzige wirklich angemessene Erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>ung war<br />
unaussprechlich: „Leck mich am Arsch, Stefan.“<br />
Er hat doch tatsächlich meine Bewerbung wie<strong><strong>de</strong>r</strong> hervorgekramt,<br />
dachte <strong>sie</strong> fassungslos. Nach 18 Monaten – nur um mir<br />
vorzuhalten, was ich damals geschrieben habe! Er hat das Ganze<br />
also geplant. Hat er nichts Besseres zu tun? Herrgott, wie kann
man so unglaublich gemein sein?<br />
„Alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>en haben <strong>ihr</strong>e Karten längst abgeholt“, bemerkte er mit<br />
einem Blick in <strong>die</strong> Run<strong>de</strong>. Die <strong>Kollegen</strong>, <strong>die</strong> <strong>ihr</strong>e Sachen<br />
zusammenpackten und selbstverständlich samt und son<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />
zuhörten, blieben ebenso stumm wie Finja.<br />
Natürlich haben <strong>sie</strong> <strong>sie</strong> abgeholt – um <strong>sie</strong> nachher in <strong>de</strong>n Müll zu<br />
werfen! Erzähl mir nicht, dass Birgit o<strong><strong>de</strong>r</strong> Clarissa o<strong><strong>de</strong>r</strong> sonst wer<br />
in <strong>die</strong>ses Konzert geht!<br />
„Denk noch mal drüber nach“, schloss Stefan und legte <strong>die</strong> Karten<br />
vor <strong>ihr</strong> auf <strong>de</strong>n Tisch. „Schönes Wochenen<strong>de</strong>.“<br />
Damit wandte er sich ab und verschwand wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in seinem Büro.<br />
„Mach dir nichts draus“, sagte Birgit. „Der hat wohl echt Stress im<br />
Moment und ist einfach mies drauf.“<br />
„Schon klar.“ Finja nickte düster. „Gehst du etwa zu <strong>die</strong>sem<br />
Konzert?“<br />
Birgit, <strong>die</strong> eben <strong>ihr</strong>e Jacke überzog, lächelte schief. „Na ja, <strong>die</strong><br />
Karten hab ich natürlich genommen – aber ob ich wirklich hingehe,<br />
kann sowieso keiner nachprüfen, schon gar nicht Stefan. Ich les<br />
immer am Wochenen<strong>de</strong> <strong>die</strong> Kritiken in <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeitung; dann kann ich<br />
mitre<strong>de</strong>n, falls er fragt, wie es war.“<br />
Aha – so machte man das also, wenn man sich seinen Ruf als<br />
engagierte Angestellte erhalten wollte.