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1965-Transit zwischen Bodensee und Comersee - Burgenverein ...

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Untervazer <strong>Burgenverein</strong> Untervaz<br />

Texte zur Dorfgeschichte<br />

von Untervaz<br />

<strong>1965</strong><br />

<strong>Transit</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Bodensee</strong> <strong>und</strong> <strong>Comersee</strong><br />

Email: dorfgeschichte@burgenverein-untervaz.ch. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter<br />

http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter<br />

http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.


- 2 -<br />

<strong>1965</strong> <strong>Transit</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Bodensee</strong> <strong>und</strong> <strong>Comersee</strong> Rudolf Jenny<br />

in: «Schweizer Maschinenmarkt», Jahrgang 65 (<strong>1965</strong>), Nr. 40, Seite 65-83.<br />

Geographisch-geologische Voraussetzungen des Passtransits<br />

Ungeachtet ihrer geographischen Verschiedenheit, ihrer klimatischen<br />

Unterschiede, ihrer tiefgreifenden Differenzierung hin sichtlich der<br />

Bevölkerung, der wirtschaftlichen, kulturellen <strong>und</strong> künstlerischen Entwicklung<br />

<strong>und</strong> der Sprache, sind im weltgeschichtlichen Ablauf der Ereignisse kaum zwei<br />

Völker enger verb<strong>und</strong>en als jene südlich <strong>und</strong> nördlich der Alpen, obwohl<br />

Italien <strong>und</strong> Deutschland durch eine mächtige Gebirgsmauer getrennt werden.<br />

Die historische Entwicklung des Verkehrs durch die Alpen hat jene der Völker<br />

südlich <strong>und</strong> nördlich des Gebirges mitbestimmt, damit aber auch die<br />

Geschichte des ganzen Erdteils <strong>und</strong> mit jener Europas auch diejenige der<br />

überseeischen Länder, weshalb im Raume der Alpen <strong>und</strong> ihrer Bedeutung als<br />

Brücke der Kultur <strong>und</strong> der wirtschaftlichen Entfaltung Europas latente<br />

historische Kräfte durch die Jahrh<strong>und</strong>erte sich auswirken mussten <strong>und</strong><br />

ausgewirkt haben.<br />

Dies bekräftigen bereits die F<strong>und</strong>e aus früh- <strong>und</strong> urgeschichtlicher Zeit, dies<br />

manifestiert die Entfaltung des römischen Kaiserreichs bis hin an die Donau,<br />

dies offenbart die Glanzepoche der mittelalterlichen Kaiser <strong>und</strong> ihrer Heerzüge<br />

über die Alpen, dies findet in der Geschichte der christlichen Kirche <strong>und</strong> ihrer<br />

abendländischen Bistümer, Klöster <strong>und</strong> Kirchen einen sprechenden <strong>und</strong> bis in<br />

die Gegenwart hinein geistesmächtigen Ausdruck, <strong>und</strong> dies bek<strong>und</strong>et auch die<br />

neu zeitliche Entwicklung des historischen Geschehens von der Zeit der<br />

Entdeckungen bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches. Damit ist<br />

angedeutet, in welch umfassender Weise die <strong>Transit</strong>wege durch die Alpen das<br />

historische Geschehen aller Epochen, aller Völker, ja selbst der Weltteile <strong>und</strong><br />

der überseeischen Länder beeinflusst hat bis hin zur Kolonialpolitik der


- 3 -<br />

europäischen Grossmächte, wie sie etwa der bedeutende Historiker Eduard<br />

Fueter in seiner Weltgeschichte der letzten h<strong>und</strong>ert Jahre nachgewiesen <strong>und</strong><br />

aufgezeigt hat.<br />

Eine solche historische, kultur- <strong>und</strong> kunstgeschichtliche Strahlungskraft,<br />

welche die geistige Entwicklung des Abendlandes <strong>und</strong> mit ihr jene der übrigen<br />

Welt beeinflussen musste, muss ihre letzte Erklärung <strong>und</strong> Rechtfertigung<br />

jenseits des bloss Menschlichen finden <strong>und</strong> daher in der Natur des Erdteils <strong>und</strong><br />

in jener des alpinen Kettengebirges selbst verankert sein, wo bei es<br />

menschlichem Erfindergeist, menschlicher Anstrengung <strong>und</strong> Kraft vorbehalten<br />

blieb, die Kräfte der Natur zu verstehen, zu studieren <strong>und</strong> zu meistern, um sie<br />

der Entfaltung des Menschlichen, des Geistes, wie er sich in der<br />

abendländischen Entwicklung abspielt, dienstbar zu machen. Aus dieser<br />

Gegebenheit heraus, welche die Kräfte <strong>und</strong> den Einsatz aller Zeitepochen in<br />

entscheidender Weise beansprucht hat, wird die europäische Geschichte, die<br />

kulturelle, künstlerische, sprachliche <strong>und</strong> geistige Entfaltung des Erdteiles<br />

sowie die Vormachtstellung dieses Erdteils in der Weltgeschichte überhaupt<br />

erst begreiflich.<br />

Dies erweist die urgeschichtliche Forschung im Süden <strong>und</strong> Norden der Alpen,<br />

dies erweist die Herrschaft des römischen Kaiserreichs mit ihrer territorialen<br />

Vormachtstellung im Raume des Mittelmeeres, im Vordern Orient <strong>und</strong> in<br />

grossen Teilen Mitteleuropas, dies erweist ebenso die Geschichte des<br />

Mittelalters <strong>und</strong> mit ihr jene der deutschen Kaiser, Könige <strong>und</strong> Bischöfe, <strong>und</strong><br />

dies erweist daher auch die Verkehrsgeschichte des alpinen Raumes, was der<br />

<strong>Transit</strong> <strong>zwischen</strong> dem Boden- <strong>und</strong> <strong>Comersee</strong> in vielfacher Hinsicht augenfällig<br />

macht.<br />

Es muss zunächst befremden, dass der Alpenkörper in seiner Gesamtheit als<br />

verkehrsfeindlich zu bezeichnen ist. Dessen ungeachtet finden sich, im<br />

Gegensatz etwa zu den französisch italienischen Alpen oder zum zentralen<br />

Gotthard, im Raume Graubündens <strong>und</strong> der Ostalpen natürliche Leitlinien des<br />

Verkehrs, welche den Austausch <strong>zwischen</strong> Süd <strong>und</strong> Nord, <strong>zwischen</strong> dem<br />

Mittelmeer <strong>und</strong> dem übrigen Abendland seit urgeschichtlicher Zeit begünstigt<br />

haben <strong>und</strong> die rätischen Alpen seit jeher zu einem der bevorzugtesten<br />

europäischen Verkehrsdurchgangsgebiete machten. Wie bereits der bekannte<br />

Historiker der alpinen Verkehrsgeschichte, P. H. Scheffel, um die


- 4 -<br />

Jahrh<strong>und</strong>ertwende hervorgehoben hat, waren es eh <strong>und</strong> je die von der Natur<br />

geschaffenen Verkehrsbedingungen, welche den Verkehr <strong>zwischen</strong> den<br />

Völkern <strong>und</strong> mit ihm das Verkehrs leben bestimmend beeinflussten, denn in<br />

der Art, wie die Natur Land, Meere, Gebirge <strong>und</strong> Flüsse verteilt, gliedert <strong>und</strong><br />

zusammengebaut hat, fühlte sich der Mensch veranlasst <strong>und</strong> gezwungen, den<br />

Verkehr zu lenken.<br />

Zwischen dem Boden <strong>und</strong> dem <strong>Comersee</strong> liegt Graubünden, das wichtigste<br />

Bindeglied der West <strong>und</strong> Ostalpen, weshalb sich im, rätischen Raume die<br />

alpinen Elemente des Westens <strong>und</strong> des Ostens verknüpfen <strong>und</strong> mit der<br />

tektonischen auch die topographische <strong>und</strong> hydrographische Gestaltung im<br />

Sinne eines von der Natur prädestinierten Passlandes kennzeichnen.<br />

Abgesehen von der Mannigfaltigkeit der geologisch-tektonischen Gliederung<br />

<strong>und</strong> der morphologischen Gestaltung des Landes, ist es letztlich die<br />

vermittelnde Stellung der rätischen Alpen <strong>zwischen</strong> den Westalpen <strong>und</strong> den<br />

Ostalpen, welche Graubünden seine Eigentümlichkeit als Übergangszone<br />

schenkt <strong>und</strong> damit den passtaatlichen Charakter des Berglandes bestimmt, der<br />

neben den grossen Längstalfluchten durch die durchgängigen Quertäler dem<br />

Verkehr schon seit vorgeschichtlicher Zeit <strong>zwischen</strong> Süden <strong>und</strong> Norden Ziel<br />

<strong>und</strong> Richtung gegeben hat. Ohne die kausale Beziehung <strong>zwischen</strong> Natur <strong>und</strong><br />

Verkehr, <strong>zwischen</strong> der Tektonik des rätischen Berglandes <strong>und</strong> seiner<br />

Deckengebäude, die das Bergland durch die Septimer-Achsendepression der<br />

oberostalpinen Elemente mit dem grössten Quertale der Alpen vom Septimer<br />

zum <strong>Bodensee</strong> ausgerüstet hat, näher aufzuzeigen, steht fest, dass die Natur bis<br />

hinein in die Frühgeschichte des menschlichen Daseins dem Handel <strong>und</strong><br />

Wandel den Weg <strong>und</strong> die gangbare Strasse durch die Wildnis der Gebirge<br />

gewiesen hat.<br />

Frühgeschichtliche <strong>und</strong> römische Zeit<br />

Es ist daher nicht erstaunlich, wenn durch die Spatenforschung diese natürliche<br />

Leitlinie des Verkehrs im Raume Graubündens nachgewiesen werden konnte,<br />

was die urgeschichtlichen Siedlungen Graubündens bekräftigen, durch die<br />

bronzezeitliche Quellfassung von St. Moritz erwiesen ist <strong>und</strong> ebenso durch<br />

eine bestechend schöne Keramik, so etwa die w<strong>und</strong>ervolle Felsberger<br />

Tonschale aus der Hallstattepoche, durch zahlreiche andere F<strong>und</strong>e aus<br />

urgeschichtlicher Zeit längs des ganzen Strassenzuges über den Bernhardin


- 5 -<br />

<strong>und</strong> über den Julier, um nur die bedeutendsten Pässe zu erwähnen. Ausser den<br />

urgeschichtlichen <strong>und</strong> den etruskischen F<strong>und</strong>en in Graubünden, auf<br />

Liechtensteiner Boden, am Montlingerberg in Vorarlberg <strong>und</strong> im Churer<br />

Rheintal, wäre hinzuweisen auf diejenigen südlich der Alpen, welche im<br />

rätischen Raume bezeugt sind durch etruskische Sturmhauben, die<br />

Schnabelkanne von Castaneda, durch Gräber <strong>und</strong> durch mancherlei F<strong>und</strong>e aus<br />

frühgeschichtlicher Zeit. So hat die Natur den Menschen längst vor den<br />

Römern den Weg gewiesen durch die Alpen <strong>zwischen</strong> dem Boden <strong>und</strong> dem<br />

<strong>Comersee</strong>, was imponierende Zeugnisse der Spatenforschung dokumentieren.<br />

Es ist selbstverständlich, dass diese Kraftlinien menschlicher Verbindung<br />

durch die Alpen auch in römischer Zeit ihre Bedeutung hatte <strong>und</strong> den<br />

Intentionen der römischen Grossmachtspolitik diente, was nach dem<br />

Verkehrshistoriker Scheffel «eine grosse Anzahl der durch Rätien führenden<br />

Alpenstrassen» bekräftigen, die von den Römern in Gebrauch genommen<br />

wurden. Sowohl in Graubünden wie im Rheintal sind Spuren dieser Strassen<br />

vorhanden, die unmittelbar nach der Unterwerfung Rätiens im Feldzuge des<br />

Drusus <strong>und</strong> Tiberius ausgebaut wurden, über den Splügen <strong>und</strong> Julier führten<br />

<strong>und</strong> im Weltreich der Cäsaren strategische Bedeutung hatten, denn die<br />

Romanisierung des Abendlandes ist das weltgeschichtliche Werk der<br />

Kaiserzeit, worauf Mommsen hinweist <strong>und</strong> was auch Stähelins Werk über «die<br />

Schweiz in römischer Zeit» erhärtet. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e enthält die<br />

Peutingersche Tafel, eine spätrömische Routenkarte aus dem 4. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

nach Christus, ausser den beiden Strassenzügen durchs Rheintal <strong>und</strong> den<br />

rätischen Passtrassen auch eine frühe kartographische Darstellung des<br />

<strong>Bodensee</strong>s, einschliesslich des Schwarzwaldes. Ohne den Verlauf dieser<br />

Strassenzüge näher zu berühren oder auf die zahlreichen römischen F<strong>und</strong>e <strong>und</strong><br />

römischen Ausgrabungen längs der Passtrassen <strong>und</strong> im Raume des <strong>Bodensee</strong>s,<br />

besonders in Bregenz, in Eschenz, in Kempten, Arbon <strong>und</strong> andererorts<br />

einzutreten, die durch stattliche Landhäuser, Villen, durch Badeanlagen,<br />

Tempelbezirke <strong>und</strong> andere Bauten glänzend bezeugt sind, dürfte die<br />

Feststellung genügen, dass der berühmte Münzf<strong>und</strong> bei St.Gallen/Bruggen<br />

vom Historiker Mommsen als sicherer Beweis für einen intensiven<br />

Handelsverkehr des Nordens mit Italien gewertet worden ist, wobei es sich<br />

überdies um den ältesten datierbaren Schatzf<strong>und</strong> der Schweiz handeln soll.


- 6 -<br />

Vergegenwärtigt man sich, dass der Strassenzug über den Julier <strong>und</strong> Splügen<br />

die Mitte Oberitaliens in direkter Linie mit Süddeutschland verbindet, so wird<br />

deutlich, dass die Zielstrebigkeit dieser <strong>Transit</strong>linie nicht nur auf der Tabula<br />

Peutingeriana (erstellt um 230 nach Chr.) <strong>und</strong> im Itinerarium Antonini (etwa<br />

364 nach Chr.) ihren Abglanz findet, sondern auch als Pulsader der römischen<br />

Weltherrschaft zu bewerten ist, wie dies die Heerzüge Stilichos aufzeigen, der<br />

den Weg über den Splügen im Jahre 395 <strong>und</strong> 401/402 gewählt hat. Wie Strabo<br />

zu berichten weiss, wurden die lange zuvor begangenen Passwege für die<br />

gesteigerten Bedürfnisse des römischen Weltreiches ausgebaut <strong>und</strong><br />

entsprechend den römischen Okkupationsmethoden gefestigt durch ein reiches<br />

Netz militärischer Stützpunkte, das zumeist an bereits vorhandene Siedlungen<br />

anknüpfte.<br />

Zur mittelalterlichen Passtradition <strong>und</strong> ihrer wirtschaftlichen<br />

Auswirkung<br />

Wenn auch weit weniger grosszügig als die Römer, hat das Mittelalter die<br />

rätische Passtradition weitergeführt, wurden die Strassen durch das Gebirge<br />

jene der Kaiser, Könige <strong>und</strong> Bischöfe, der Äbte <strong>und</strong> Missionare, wobei<br />

besonders die Bischöfe <strong>und</strong> kleine Territorialherren für den Unterhalt der<br />

Strasse besorgt waren. Dies geschah in beschränkter Weise, entsprechend den<br />

Beschränkungen der frühmittelalterlichen Naturalwirtschaft, welche anstelle<br />

des ehemaligen römischen Welthandels überhand nahm, weshalb sowohl für<br />

grosszügige<br />

E. Pingret, 1827: Viamala


- 7 -<br />

Werke des Strassenbaues wie auch für die f<strong>und</strong>ierten Bedingungen des<br />

Handels <strong>und</strong> Verkehrs die Voraussetzungen fehlten <strong>und</strong> die Völker vielfach<br />

verarmten.<br />

Obwohl bei den mittelalterlichen Kaisern, selbst bei Karl dem Grossen, eine<br />

Sorge für die Strassen kaum festgestellt werden kann, beginnt in karolingischer<br />

Zeit eine gewisse Blüte des Handels <strong>und</strong> wurden in Bregenz am <strong>Bodensee</strong> die<br />

für Italien bestimmten Handelsgüter gesammelt <strong>und</strong> über Chur südwärts<br />

befördert. In gleicher Weise benützten die mittelalterlichen Kaiser die<br />

Passwege durch Bünden, was für zahlreiche Herrscher <strong>und</strong> für viele Pässe<br />

historisch nachgewiesen ist, weshalb Gottfried von Strassburg den Septimer in<br />

der Minneliteratur besingt <strong>und</strong> dieser Pass im Frankfurter Passionsspiel als<br />

höchster Berg der Welt gefeiert wird.<br />

J. J. Meyer, Chur 1825<br />

Dementsprechend galt der Septimer als bedeutende Passtrasse des Mittelalters<br />

<strong>und</strong> war ein berühmter Flügelpass wie der Grosse St. Bernhard, so dass längs<br />

des Septimerweges zahlreiche Burgen entstanden. Dies gilt auch für den<br />

Splügen <strong>und</strong> für den Bernhardin, weshalb zwei Drittel der zahlreichen Burgen<br />

Graubündens an diesen Passtrassen liegen <strong>und</strong> damit eine Tradition bek<strong>und</strong>en,<br />

die urgeschichtlicher Herkunft ist, was die prähistorischen F<strong>und</strong>e längs dieser<br />

Strassenzüge in gleicher Weise bek<strong>und</strong>en.<br />

Obwohl die historische Kontinuität <strong>zwischen</strong> der römischen Wegbefestigung<br />

<strong>und</strong> der mittelalterlichen Burg Graubündens nicht nachweisbar ist, besteht kein<br />

Zweifel darüber, dass <strong>zwischen</strong> der Volksburg <strong>und</strong> dem mittelalterlichen<br />

Herrensitz «eine greifbare örtliche Kontinuität besteht, wobei ein Anteil der<br />

römischen Herrschaft an dieser Entwicklung erkennbar ist», wie dies Erwin<br />

Poeschel hinsichtlich der Sperre von Promontogno <strong>und</strong> des Castells von Chur


- 8 -<br />

nachgewiesen hat. Dabei ist deutlich, dass der Verkehrsweg bestimmend auf<br />

die Anlage <strong>und</strong> den Bau der Burgen in Graubünden <strong>und</strong> im Rheintal<br />

eingewirkt hat, denn diese dienten als Sperren, weil man nur zu<br />

vervollständigen brauchte, was die Natur bot, um an Engpässen den gesamten<br />

Verkehr über die Strasse zu beherrschen. Es ist daher verständlich, wenn sich<br />

längs der Strassen <strong>zwischen</strong> dem Boden <strong>und</strong> <strong>Comersee</strong> eine ununterbrochene<br />

Kette von Burgen hinzieht, welche die Strassenzüge an allen bestimmenden<br />

Stellen flankieren.<br />

Weit eindrücklicher als durch Daten kaiserlicher Passzüge <strong>und</strong> selbst die<br />

Gegebenheit der Burgen, wird die Bedeutung der uralten Verkehrswege durch<br />

Rätien von der Römerzeit zum Mittelalter erhärtet durch die sprachliche,<br />

kulturelle, rechtliche <strong>und</strong> kirchliche Kontinuität von der Antike bis zum<br />

Beginn der Neuzeit, was diesbezügliche Forschungen bestätigt haben. Von der<br />

Pulsader des römischen Verkehrs zur «Verkehrsorganisation in Rätien zur<br />

Karolinger-Zeit» führt daher eine Kontinuität im Verkehrswesen, die nach der<br />

neueren historischen Forschung «in viel höherem Masse gewahrt worden ist,<br />

als bisher angenommen wurde». Diese Tatsache, welche durch zahlreiche<br />

unmissverständliche wissenschaftliche Belege der verschiedensten<br />

Forschungsbereiche einwandfrei erhärtet ist, findet ihre letzte Verankerung in<br />

der passtaatlichen Natur Rätiens, denn Graubünden ist, wie Erwin Poeschel<br />

hervorhebt, «ein Grenzland mit Pässen, umwittert von grossen<br />

Entscheidungen. Hier zog der Legionsadler <strong>und</strong> setzte Rom seine Meilensteine,<br />

durch diese Berge jagte Stilicho <strong>und</strong> zogen Könige zur Krönung. Wenn die<br />

grossen Wirker der Diplomatie an den europäischen Höfen ihre Fäden<br />

spannen, dann war hier in diesem kleinen Bergland der festeste Knoten zu<br />

schürzen. Es war arm, aber es hatte die Pässe <strong>und</strong> damit Macht. Es war klein,<br />

aber es war stark im Bewusstsein seiner Bedeutung <strong>und</strong> seiner unverbrauchten<br />

Volkskraft. Strassen, Strassen des Krieges <strong>und</strong> des Friedens. Welche<br />

Reichtümer sind durch diese kargen Berge gezogen: Seiden <strong>und</strong> kostbare<br />

Gewebe, seltene Hölzer, Pelze, Spezereien, Weine, Farben, Karawanen von<br />

Ballen von Handelsgut aller Art mühten sich über rauhe Pfade, der Norden<br />

tauschte hier mit dem Süden.»<br />

Der <strong>Transit</strong> war ein einträgliches Gewerbe, mit dem sich Adelig <strong>und</strong> Unadelig<br />

befasste, eine Quelle des Wohlstands, die nicht nur in den einsamen Höhen der


- 9 -<br />

Alpen sprudelte, viel mehr in den Städten <strong>und</strong> Klöstern, in den Dörfern des<br />

Landes <strong>und</strong> längs des ganzen Strassenzuges vom Boden zum <strong>Comersee</strong>,<br />

weshalb durch die reichlich fliessenden Mittel, durch neue Einzugsgebiete des<br />

Handels <strong>und</strong> somit intensivierte wirtschaftliche Möglichkeiten manches stolze<br />

<strong>und</strong> schöne Haus in St. Gallen, in Konstanz, rings um den <strong>Bodensee</strong>, in Chur<br />

<strong>und</strong> dem Rheintal, aber auch jenseits der Berge <strong>und</strong> im Passlande selbst gebaut<br />

werden konnte, weil Saum <strong>und</strong> Zoll, <strong>Transit</strong>, Handel, Wandel <strong>und</strong> Verkehr den<br />

Boden zu sicherem Wohl stand bildete, was in der Ostschweiz besonders für<br />

die Zeit vor der Eröffnung des Gotthardpasses zutraf. Es ist daher nicht<br />

erstaunlich, wenn der Passtransit im Raume des <strong>Bodensee</strong>s, der Ostschweiz,<br />

Graubündens <strong>und</strong> südlich der Alpen massgebenden Einfluss auf die<br />

Entwicklung der Städte <strong>und</strong> des alpinen Passtaates der Drei Bünde ausüben<br />

musste, was etwa die Privilegien Kaiser Friedrichs III. bekräftigen, die nach<br />

dem grossen Stadtbrand vom Jahre 1464 in Chur den Bau eines Kaufhauses<br />

<strong>und</strong> das Zunftwesen begründeten.<br />

Längst zuvor hatte sich durch die grossen Schenkungen der Ottonen im<br />

rätischen Bergland ein eigentlicher Kirchenstaat an den Pässen über dem<br />

Septimer <strong>und</strong> den Ofenberg entwickelt, dessen Machtbereich vom Vorarlberg<br />

bis in den Vintschgau <strong>und</strong> bis ins Bergell hineinreichte, wobei Bischof Peter<br />

von Chur im Jahre 1358 Kaiser Karl IV., dessen Kanzler er war, zum Befehle<br />

an alle Reichsstädte bewegen konnte, ausschliesslich die bischöfliche Strasse<br />

über den Septimer zu befahren. Seit Jahrh<strong>und</strong>erten war der Nutzen dieses<br />

Weges in die bischöflichen Truhen geflossen, gestützt auf ottonische Gnade<br />

<strong>und</strong> das Recht Zölle zu erheben, weshalb unter bıschöflicher Gewalt von 1387<br />

bis 1390 die Passtrasse <strong>zwischen</strong> Tinzen <strong>und</strong> Plurs durch Jakob Castelmur<br />

fahrbar gemacht wurde. Wie Aloys Schulte in seiner grossangelegten<br />

«Geschichte des mittelalterlichen Handels <strong>und</strong> Verkehrs» hervorhebt, war es<br />

die erste durchwegs fahrbare Passtrasse im gesamten Raume der Alpen.<br />

In gleicher Weise wurde nach Vollendung der Septimerstrasse diejenige durch<br />

die Viamala ausgebaut, ein Unterfangen von unerreichter Kühnheit, das durch<br />

die Transportgenossenschaften im Rheintal <strong>und</strong> in der Moesa sowıe im<br />

Jakobstal realisiert worden ist, die sich längs der Strassenzüge über die Berge<br />

organisierten, Weg <strong>und</strong> Steg unterhalten haben, den Warentransport besorgten<br />

gegen Einzug entsprechender Taxen, Brücken <strong>und</strong> Weggelder, die


- 10 -<br />

beispielsweise im Viamalabrief von 1473 durch den Dreibündestaat anerkannt<br />

worden sind. Ohne die Organisation der Porten, deren Rechtsnatur <strong>und</strong><br />

Entstehung sowie deren verkehrsgeschichtliche Bedeutung näher darzulegen,<br />

die durch den Kulturhistoriker Sprecher, durch Aloys Schulte <strong>und</strong> durch andere<br />

Gelehrte einlässlich gewürdigt worden ist, steht fest, dass die Strasse <strong>zwischen</strong><br />

dem Boden- <strong>und</strong> <strong>Comersee</strong>, also <strong>zwischen</strong> Deutschland <strong>und</strong> Italien, eine<br />

werbende Kraft besass, die der scharf kalkulierende Kaufmann deutlich<br />

erkannte <strong>und</strong> daher bestimmend auf seine Wahl der <strong>Transit</strong>wege wirken<br />

musste, weil für den Handelsverkehr <strong>zwischen</strong> Norden <strong>und</strong> Süden die Bündner<br />

Pässe, der <strong>Bodensee</strong>raum <strong>und</strong> die Lombardei alle Vorzüge der Schnelligkeit,<br />

Billigkeit <strong>und</strong> Sicherheit boten <strong>und</strong> folglich den übrigen Handelsstrassen<br />

wesentlich überlegen waren. Kein anderes Alpenland besass eine solche Zahl<br />

leicht passierbarer Alpenübergänge, die sich überdies durch eine besonders<br />

günstige Topographie als weitaus sicherste <strong>und</strong> günstigste <strong>Transit</strong>wege<br />

<strong>zwischen</strong> Deutschland <strong>und</strong> Italien erwiesen haben, was vor allem nach dem<br />

Ausbau der Viamala zutraf, weshalb der <strong>Transit</strong> durch Rätien an deutschem<br />

Getreide, an Textilien, Seide <strong>und</strong> Metallwaren, Spezereien, Früchte <strong>und</strong> Weine<br />

erheblich zugenommen hat <strong>und</strong> an den Wechselstationen die Zugtiere oft im<br />

Freien nächtigen mussten, weil nicht genügend Ställe vorhanden waren. Der<br />

Umfang dieses <strong>Transit</strong>s ist durch einwandfreie wissenschaftliche<br />

Untersuchungen, durch archivalische Quellen <strong>und</strong> statistische Angaben<br />

bekannt <strong>und</strong> erhärtet.<br />

Aus diesen Quellendokumentationen ergibt sich, dass die alte Welfenstadt<br />

Ravensburg, die ihr mittelalterliches Gepräge bis zur Gegenwart erhalten hat,<br />

die erste deutsche Handelsgesellschaft beherbergte <strong>und</strong> ihre berühmten<br />

Leinwandwebereien durchs Rheintal <strong>und</strong> Rätien nach Italien verfrachtete. Da<br />

die Leinen <strong>und</strong> Barchentweber von Ravensburg sich mit jenen von Kempten,<br />

Memmingen, Leutkirch, Isny, Wangen <strong>und</strong> Waldsee in gemeinsamer Ordnung<br />

verbanden, entstand ein mächtiges Leinenweberzentrum, wobei als<br />

Nebengewerbe der Leinenverarbeitung in Ravensburg zugleich die<br />

Papierfabrikation betrieben worden ist. Überdies organisierte die<br />

Kaufmannschaft von Ravensburg auch eine berühmte Baumwoll- <strong>und</strong><br />

Wollweberei, pflegte intensive Handelsbeziehungen mit Konstanz <strong>und</strong> Ulm<br />

<strong>und</strong> hat über die Begründer dieser Bestrebungen auch Einfluss längs der<br />

rätischen Passwege gesucht, was das rasch <strong>und</strong> exzentrisch aufblühende


- 11 -<br />

Kaufmannsgeschlecht der Mötteli bestätigt, welche die Burgen Rappensteın<br />

<strong>und</strong> Neuenburg in ihren Besitz brachten <strong>und</strong> in einem Anflug von<br />

Ritterromantik sich mit dem Nachlass einer bereits wurmstichig gewordenen<br />

Feudalität umgaben. In gleicher Weise haben auch die Besserer ihre<br />

Meilensteine feudalromantischer Gesinnung im Dreibündestaat längs den<br />

<strong>Transit</strong>strassen verankert, weil diese reiche <strong>und</strong> aufstrebende<br />

Kaufmannsfamilie von Ravensburg <strong>und</strong> Ulm am Handel mit Mailand <strong>und</strong><br />

Venedig massgebend beteiligt war <strong>und</strong> Einfluss auf die bündnerischen<br />

Bergwerksunternehmungen der Vertemati-Franchi zu gewinnen suchte. Georg<br />

Besserer von Rohr, «Aelterherr der Stadt Ulm», erwarb sich die Herrschaften<br />

Hohentrins mit Tamins pfandweise um 5000 Gulden, ebenso die Rechte im<br />

Bergüner Bergbau <strong>und</strong> versuchte auf diese Weise den rätischen <strong>Transit</strong> zu<br />

beeinflussen.<br />

Wie Ravensburg war Konstanz hinsichtlich seiner Handelsprodukte <strong>und</strong> deren<br />

Verkauf am <strong>Transit</strong> durch Rätien interessiert <strong>und</strong> bildete mit Ravensburg <strong>und</strong><br />

Ulm ein Zentrum der Barchentindustrie, wobei die ältesten erhaltenen<br />

Konstanzer Steuerlisten Aufschluss darüber erteilen, dass der aus dem <strong>Transit</strong><br />

erworbene Reichtum der Muntprat von 1418 bis 1499 Vermögenswerte<br />

erreichte, die ins Märchenhafte gingen. Dieser Reichtum ist gleichsam wie<br />

jener im Märchen vom «Sterntaler» aus dem Himmel gefallen, was ein altes<br />

Spielmannslied, das um das Jahr 950 am <strong>Bodensee</strong> entstanden ist, bekräftigt, in<br />

lateinischer Fassung überliefert wird <strong>und</strong> sich «Lied vom Schneekind» nennt.<br />

Wie Otto Feger in seiner dreibändigen «Geschichte des <strong>Bodensee</strong>raumes»<br />

hervorhebt, gibt dieses «Lied vom Schneekind» reichen kulturgeschichtlichen<br />

Aufschluss über die weltwirtschaftliche Verflochtenheit des <strong>Bodensee</strong>gebietes<br />

zu jener Zeit, insbesondere über den inter nationalen Fernhandel der Kaufleute<br />

von Konstanz mit dem Orient <strong>und</strong> dem Mittelmeergebiet, woraus sich ergibt,<br />

dass Graubündens Pässe die Pulsader der Stadt gebildet haben <strong>und</strong> zugleich für<br />

den <strong>Bodensee</strong>raum <strong>und</strong> seine Handelszentren primäre wirtschaftliche<br />

Bedeutung hatten.<br />

Es ist daher nicht erstaunlich, wenn das benachbarte Ravensburg in seinen<br />

Steuerlisten von 1473, 1482 <strong>und</strong> 1497 ähnliche Vermögenswerte seiner<br />

Handelsleute ausweist wie Konstanz, wobei sich ergibt, dass die reichsten<br />

Bürger Berns oder Basels nur einen bescheidenen Teil dessen versteuerten,


- 12 -<br />

was beispielsweise in Konstanz durch die Familie Muntprat an Vermögen<br />

zusammengerafft <strong>und</strong> aufgestapelt wurde, denn diese verdoppelte von 1418 bis<br />

1433 ihren Besitz, der nach der Geschichte des mittelalterlichen Handels <strong>und</strong><br />

Verkehrs von Aloys Schulte «ein Mehrfaches der reichsten Berner <strong>und</strong><br />

Baslerfamilien ausmachte». Nichts bekräftigt die Verkehrsgunst von Konstanz<br />

<strong>und</strong> Ravensburg <strong>und</strong> die Handelsbeziehungen dieser Städte mit Italien über<br />

Graubünden besser als diese Steuerlisten aus dem 15. Jahrh<strong>und</strong>ert, welche in<br />

ähnlicher Weise für andere Städte des <strong>Bodensee</strong>raumes beigebracht werden<br />

können, so etwa für St.Gallen, Augsburg, Kempten, Memmingen <strong>und</strong> Ulm.<br />

Der St. Galler Markt war um 1450 so allgemein bekannt, dass selbst Konstanz<br />

sich beugte <strong>und</strong> ersuchte, St. Galler Schauzeichen als Marke verwenden zu<br />

dürfen, weil die Leinwand St. Gallens in alle Bereiche der Welt wanderte. So<br />

ist die Feststellung Vadians begreiflich, dass in St. Gallen sämtliche Sprachen<br />

verstanden <strong>und</strong> gesprochen wurden. Wie Ulm galt auch St. Gallen als<br />

«deutsches Mailand», pflegte Handelsbeziehungen mit Venedig <strong>und</strong><br />

Gesamtitalien <strong>und</strong> gehörte zum Kreise der <strong>Bodensee</strong>städte, die einen<br />

Schwerpunkt im mittelalterlichen Handel <strong>und</strong> Verkehr nördlich der Alpen<br />

bildeten, weil die Rheinlinie vom Boden zum <strong>Comersee</strong> nach Norden eine<br />

gewaltige wirtschaftliche Strahlungskraft ausübte bis hin nach Regensburg,<br />

Leipzig <strong>und</strong> Antwerpen. Dies ist auch nach gewiesen durch die Geschichte der<br />

Fugger, welche als Bankiers von Habsburg-Österreich mit der Weltmacht<br />

Maximilians eine eigene begründeten, die Geldgeschäfte der Monarchie, der<br />

Kirche <strong>und</strong> vieler Kardinäle <strong>und</strong> Prälaten besorgten, in die Papstwahlen<br />

hineinregierten <strong>und</strong> ihr Geld auch bei der Wahl Kaiser Karls V. mitspielen<br />

liessen.<br />

J. J. Meyer, 1825: Weg durch den Cardinell


- 13 -<br />

Über Habsburg-Österreich besassen sie bestimmenden Einfluss auf den<br />

bündnerischen Bergbau <strong>und</strong> den <strong>Transit</strong> durch Graubünden, weil die Fugger<br />

nicht nur die Silber <strong>und</strong> Kupferbergwerke zu Schwaz <strong>und</strong> Rattenberg<br />

beherrschten, sondern auch die Öffnungen durch den Alpenwall für den regen<br />

Durchfluss ihrer Goldbächlein zu nutzen wussten.<br />

Wie Augsburg, Regensburg, Konstanz <strong>und</strong> St. Gallen war auch Nürnberg <strong>und</strong><br />

dessen Bevölkerung am <strong>Transit</strong> durch die rätischen Alpen interessiert, denn<br />

durch die weit ausgedehnten Fahrten seiner Kaufleute wurde die Stadt «als das<br />

Centrum Europas angesehen», wobei umwälzende Erfindungen, besonders<br />

aber die Konstruktion von Papiermühlen rege Beziehungen mit Italien<br />

schafften, was auch für die Gewerbegeschichte von Basel zutrifft, weil hier<br />

Heinrich Halbisen eine Papiermühle eröffnete, darin italienische Fremdarbeiter<br />

beschäftigte <strong>und</strong> ständigen Kontakt mit Italien pflegte, was sein Reise bericht<br />

über die Viamala, den er hinterlassen haben soll, bekräftigen dürfte. Damit<br />

würde zugleich feststehen, dass der Verkehrsraum des <strong>Bodensee</strong>s bis Basel<br />

<strong>und</strong> Strassburg reichte <strong>und</strong> somit auch die Handelsstädte der atlantischen Küste<br />

von Antwerpen bis Regensburg in das Einzugsgebiet der rätischen Pässe<br />

miteingeschlossen hat, wobei südlich der Alpen die Lombardei, sowohl nach<br />

Venedig <strong>und</strong> nach Genua, ein weites Tor zum mittelländischen Meere <strong>und</strong><br />

dessen Verkehrsverbindungen erschloss.<br />

Ohne die Bedeutung der Dogenstadt Venedig <strong>und</strong> jene von Genua näher zu<br />

berühren, dürfte hinsichtlich des mittelalterlichen <strong>und</strong> spätmittelalterlichen<br />

Verkehrs <strong>zwischen</strong> dem Boden <strong>und</strong> dem <strong>Comersee</strong> feststehen, dass die<br />

venezianische Handelspolitik <strong>und</strong> die aufstrebende Markusrepublik, ähnlich<br />

wie Genua, einen massgebend›n Einfluss auf den Verkehr auch nördlich der<br />

Alpen ausgeübt hat, was durch entsprechende wissenschaftliche Abhandlungen<br />

nachgewiesen <strong>und</strong> von Aloys Schulte umfassend aufgezeigt worden ist. So<br />

stand mit Genua <strong>und</strong> Venedig der gesamte Welthandel des westlichen<br />

Mittelmeers <strong>und</strong> der Adria über die rätischen Pässe in Verbindung mit jenen in<br />

Süddeutschland, das den Austausch der italienischen Handelsprodukte mit<br />

jenen des Nordens von Regensburg bis Antwerpen über die bündnerischen<br />

Pässe <strong>zwischen</strong> dem Boden <strong>und</strong> dem <strong>Comersee</strong> durch Jahrh<strong>und</strong>erte hindurch<br />

besorgte. Es ist daher verständlich, dass der rege <strong>Transit</strong>, den schon die<br />

mittelalterlichen Könige, Kaiser <strong>und</strong> Bischöfe durch Rätien pflegten, seinen


- 14 -<br />

wirtschaftlichen Nachglanz im Spätmittelalter <strong>und</strong> in der Neuzeit finden<br />

musste, was kunst- <strong>und</strong> kulturgeschichtlich in grandioser Weise seinen<br />

Niederschlag gef<strong>und</strong>en hat im <strong>Bodensee</strong>raum, in Rätien <strong>und</strong> im Bereich des<br />

<strong>Comersee</strong>s.<br />

Kultur-, kunst- <strong>und</strong> baugeschichtliche Auswirkungen des ehemaligen<br />

Passtransits<br />

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die grossen Passtrassen durch die<br />

rätischen Alpen <strong>zwischen</strong> dem Boden <strong>und</strong> <strong>Comersee</strong> in urgeschichtlicher <strong>und</strong><br />

in römischer Zeit neben der militärischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen eine kultur- <strong>und</strong><br />

baugeschichtliche Tradition untermauerten, die durch entsprechende F<strong>und</strong>e aus<br />

frühgeschichtlicher <strong>und</strong> römischer Zeit, durch Ausgrabungen von<br />

welthistorischer Bedeutung, aber auch durch einen ungewöhnlichen Reichtum<br />

an künstlerischer Überlieferung erhärtet ist, welche in spätantiker Zeit zunächst<br />

durch die Begründung der Bistümer südlich <strong>und</strong> nördlich der Alpen, als dann<br />

durch jene der Klöster Gestalt erhält, die sich <strong>und</strong> ihre Kultur längs der<br />

Passtrassen festigten, was durch Reichenau am <strong>Bodensee</strong>, St. Gallen, Pfäfers,<br />

Disentis <strong>und</strong> durch das Kloster Münster, um nur die wichtigsten zu erwähnen,<br />

nachdrücklich veranschaulicht wird. Kirchen <strong>und</strong> Klöster, die christliche<br />

Mission <strong>und</strong> die Errichtung der Bistümer sind keine Erscheinungen, welche<br />

dem unbestimmbaren Geschick des Flugsamens überlassen blieben, vielmehr<br />

war die Begründung der Bistümer <strong>und</strong> Klöster <strong>und</strong> deren Entstehung geb<strong>und</strong>en<br />

an Weg <strong>und</strong> Steg, wie es den Gesetzen der Mission entspricht. Dies<br />

bekräftigen die Kirchenpatrozinien längs der Passtrassen <strong>und</strong> der<br />

Verkehrswege durch die Alpen, was Farner in seiner gr<strong>und</strong>legenden<br />

Untersuchung über die «Kirchenpatrozinien des Kantons Graubünden»<br />

nachgewiesen <strong>und</strong> Nüscheler in seiner Abhandlung: «Die Gotteshäuser der<br />

Schweiz» bereits 1864 im Raume des Bistums Chur erkannt hat. Farner hat<br />

daher hervorgehoben, dass die rätischen Passwege nicht nur dem antiken Rom<br />

<strong>und</strong> den Karolingern, sondern auch der mittelalterlichen Kirche dienten, was<br />

die Kirchenpatrozinien längs der Strassenzüge bek<strong>und</strong>en, wobei diese uralten<br />

Kirchen, Hospize <strong>und</strong> Wegkapellen gleichsam im Schatten der Antike stehen<br />

<strong>und</strong> die Passtradition Roms weiterführten, wie es ferner durch die Geschichte<br />

der Klöster <strong>zwischen</strong> dem Boden <strong>und</strong> <strong>Comersee</strong> sowie dem Ofenberg erwiesen<br />

sein dürfte.


- 15 -<br />

So blieb es nicht dem Zufall überlassen, dass die klösterliche <strong>und</strong> kirchliche<br />

Kultur im <strong>Bodensee</strong>raum, im Bereiche der rätischen Pässe <strong>und</strong> in der<br />

Lombardei zu gewaltiger Blüte aufstrebte, wofür das Kloster Reichenau am<br />

<strong>Bodensee</strong> <strong>und</strong> die Klöster St. Gallen, Pfäfers, Disentis <strong>und</strong> Münster<br />

eindrückliche Beispiele bilden.<br />

J. J . Meyer, 1825: Hinterrhein <strong>und</strong> Rheinwaldgletscher<br />

Mit zäher Beharrlichkeit wusste St. Gallen im Laufe der Jahrh<strong>und</strong>erte durch<br />

eine entsprechende klösterliche Wirtschaft, Umsicht <strong>und</strong> Klugheit nicht nur<br />

seinen Einfluss, sondern auch seinen Gr<strong>und</strong>besitz gewaltig auszuweiten, der<br />

rings um den <strong>Bodensee</strong> reichte, im Mittellande bis Zürich <strong>und</strong> über die Reuss<br />

hinaus strahlte, weite Gebiete im Schwarzwald <strong>und</strong> an der Donau erfasste, mit<br />

ganzen Dorfschaften, zahlreichen Einzelhöfen <strong>und</strong> erheblichem Streubesitz<br />

sowie entsprechenden Privilegien. Damit waren die Voraussetzungen<br />

geschaffen, wie sie im St. Galler Klosterplan bereits in karolingischer Zeit ihr<br />

baugeschichtliches Denkmal gef<strong>und</strong>en haben, wobei ausser der grossen<br />

Klosterkirche mit zwei R<strong>und</strong>türmen sowie den eigentlichen Klostergebäuden<br />

mit Wohnräumen der Mönche <strong>und</strong> einem imponierenden Kreuzgang, zum<br />

Klosterareal die entsprechenden Schulen gehörten, ferner grosse Stallungen<br />

mit Reitpferden, ein eigener Bau mit Küche, Bäckerei <strong>und</strong> Brauerei, ein<br />

prächtiger Speisesaal, Krankenhäuser, Wirtschaftsgebäude, Obstkulturen <strong>und</strong><br />

ein Krautgarten mit seltenen Gewürz <strong>und</strong> Heilpflanzen, endlich turmartige<br />

Gehege für Hühner <strong>und</strong> Enten, Werkstätten für Goldschmiede, Walker <strong>und</strong><br />

Eisenschmiede, Mühlen <strong>und</strong> sämtliche Anlagen einer grosszügigen<br />

wirtschaftlichen Organisation.<br />

Das St. Galler Stiftsarchiv weist daher noch heute H<strong>und</strong>erte von Urk<strong>und</strong>en aus<br />

dem 8. <strong>und</strong> 9. Jahrh<strong>und</strong>ert auf, welche in grosser Zahl von den Kaisern <strong>und</strong>


- 16 -<br />

Königen der Karolinger ausgestellt wurden <strong>und</strong> wohl die reichste Sammlung<br />

der Welt bilden, um die ältere Geschichte des <strong>Bodensee</strong>raumes <strong>und</strong> dessen<br />

weit strahlende Bedeutung als Wirtschaftsgebiet verständlich zu machen.<br />

Tatsächlich hatten die fürstlichen Herrschaften allen Gr<strong>und</strong>, das Kloster St.<br />

Gallen königlich zu fördern, was die überlieferten klösterlichen Tischgebete<br />

von St. Gallen bestätigen, denn sie vermitteln einen Einblick in den<br />

Speisezettel, wie ihn die Klöster an den grossen Durchgangsstrassen für<br />

weltliche <strong>und</strong> geistliche Würdenträger bereithielten. In der klösterlichen<br />

Bäckerei konnten mehr als tausend Brote auf einmal gebacken werden, <strong>und</strong> die<br />

Klosterküche von St. Gallen galt nördlich der Alpen als eine eigentliche<br />

Hochschule der Kochkunst. Man kannte, wie Theodor von Liebenau festhält,<br />

schon um 830 die verschiedensten Brotarten, <strong>und</strong> Ekkehard weiss deren zwölf<br />

namhaft zu machen: Brotkuchen, Torten, mondförmiges Brot, gesottenes <strong>und</strong><br />

geröstetes Brot, Salzbrot, Ei <strong>und</strong> Hefebrot, Spelt-, Weizen-, Roggen-, Gersten<strong>und</strong><br />

Haferbrot, wobei einzelne dieser Brotarten zugleich als Teller dienten, um<br />

Speisesaft <strong>und</strong> Brühe aufzufangen. Nach Tisch wurden diese Brote<br />

eingesammelt <strong>und</strong> den Armen geschenkt. Dieser Vielfalt des Backofens<br />

entsprach in St. Gallen jene der Küche, die alles zu vermitteln wusste, was die<br />

Gastronomie des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts unter der Einwirkung der Konjunktur erst im<br />

Begriffe ist wieder zu erlernen: Fische, Vögel, Wild, Hühner, Vieh <strong>und</strong> als<br />

Nachgerichte Milch, Käse, Honig <strong>und</strong> ein wahrer Reichtum verschiedener<br />

Beeren <strong>und</strong> Obstsorten, wobei das Obst oft aus der Ferne geliefert werden<br />

musste.<br />

Theodor von Liebenau eröffnet in diese differenzierte Schule der Kochkunst<br />

demjenigen, der dafür Interesse hat, einen lebendigen Einblick in seinem<br />

immer noch lesenswerten <strong>und</strong> kulturgeschichtlich reich betrachteten Werk über<br />

die Gaststätten der Schweiz, das zugleich aufzeigt, wie sehr der Reisende<br />

früherer Jahrh<strong>und</strong>erte Bescheid wusste um die gute Unterkunft in den<br />

Hospizen auf den Bergeshöhen längs der Passtrasse, aber auch in den vielen<br />

Tavernen an der Julier <strong>und</strong> Septimerroute, die dem Churer Bischof gehörten.<br />

Angesichts dieser Kochkultur, welche in der Überlieferung imponierend<br />

dokumentiert ist, erscheint es keineswegs erstaunlich, dass in St. Gallen <strong>und</strong> in<br />

den übrigen Klöstern des <strong>Bodensee</strong>raumes auch jene des Geistes <strong>und</strong> der<br />

Wissenschaft in f<strong>und</strong>amentaler Weise gepflegt worden ist, was bereits die


- 17 -<br />

Anfänge der St. Galler Buchmalerei <strong>und</strong> Schreibkunst bekräftigen, denn schon<br />

kurz nach 800 ist das erste bedeutende Werk entstanden, ein Psalterium, das<br />

heute in Zürich liegt, <strong>und</strong> neben einer Reihe von farbigen Ornamenten mit Tier<br />

<strong>und</strong> Pflanzenformen sowie vielen Initialen auch eine Zeichnung aufweist von<br />

David <strong>und</strong> Abimelech. Die Malerei dieses Psalteriums ist gekennzeichnet<br />

durch altertümliche Stilelemente, welche für die spätere Entwicklung der<br />

Schreib <strong>und</strong> Malkunst im <strong>Bodensee</strong>gebiet von Bedeutung waren <strong>und</strong> diese<br />

gewaltig beeinflussten, was sich neben Konstanz vor allem in Reichenau<br />

feststellen lässt, wo die Mönche zahlreiche Anregungen aus dem Galluskloster<br />

zu St. Gallen empfangen haben.<br />

Es ist unmöglich, auf den gewaltigen Reichtum <strong>und</strong> die im Abendland<br />

einzigartige Bedeutung der St. Galler Buchkunst, welche auch durch irische<br />

Mönche weiterentwickelt wurde, näher einzutreten, weshalb der Hinweis<br />

genügen mag, dass in der St. Galler Bibliothek sich jene irischen Handschriften<br />

vorfinden, deren Miniaturen heute noch den Besucher entzücken. Bereits der<br />

älteste Katalog der St. Galler Klosterbibliothek, welcher <strong>zwischen</strong> 850 <strong>und</strong> 860<br />

angelegt worden ist, enthält eine Liste von dreissig irischen Werken, die als<br />

«scottice scripti» (schottische Schriften) bezeichnet werden, welche fast<br />

durchwegs Teile der Bibel <strong>und</strong> andere kirchliche Schriften thematisch<br />

behandeln. Obwohl diese irisch-schottischen Handschriften inhaltlich keine<br />

Beziehung zum Gallus-Kloster haben <strong>und</strong> als Arbeiten irischer Mönche<br />

bewertet werden müssen, bekräftigen sie durch ihr Vorhandensein im<br />

Bibliothekskatalog des Klosters jedenfalls die weltweiten Beziehungen des<br />

Klosters <strong>und</strong> damit zugleich die Gangbarkeit der Verkehrswege zur Zeit der<br />

Karolinger.<br />

In Übereinstimmung mit dem Kloster St. Gallen <strong>und</strong> seiner reichen Bibliothek,<br />

die in einmaliger Weise eine Dokumentation der abendländischen Kultur<br />

darstellt <strong>und</strong> heute in der St. Galler Stiftsbibliothek erhalten <strong>und</strong> überliefert ist,<br />

wo sich die kostbarsten Werke abendländischer Buchkultur vorfinden mit den<br />

schönsten Miniaturen, Elfenbeinschnitzereien <strong>und</strong> Buchbeschlägen, die<br />

menschlicher Geist ausdenken kann, zeigt auch diejenige des Klosters Pfäfers<br />

überaus seltene Handschriften, Buchmalereien <strong>und</strong> Miniaturen, welche heute<br />

im Stiftsarchiv zu St. Gallen sind <strong>und</strong> verzeichnet wurden durch Erwin<br />

Rothenhäusler im ersten Bande der Kunstdenkmäler des Kantons St. Gallen,


- 18 -<br />

wo hingewiesen wird auf diese alten Pergamentbände, auf den Liber Aureus<br />

(goldenes Buch), auf das Lektionar aus dem 12. Jahrh<strong>und</strong>ert, auf verschiedene<br />

prächtige Missale, das Psalterium Romanum, eine Vita Sanctorum mit roten<br />

Initialen <strong>und</strong> Rankenwerk sowie auf die Legenda aurea, um nur einige dieser<br />

kunstvollen alten Bücher zu er wähnen, die in Übereinstimmung mit jenen des<br />

Klosters St. Gallen bekräftigen, dass die klösterliche Kultur nicht nur im<br />

<strong>Bodensee</strong>raume, sondern auch im Taminatale <strong>und</strong> in Pfäfers mit gehöriger<br />

Übung <strong>und</strong> Hinwendung gepflegt worden ist.<br />

Es ist selbstverständlich, dass ebenso die Reichenauer Schule nicht hinter jener<br />

von St. Gallen <strong>und</strong> Pfäfers, mit denen sie letztlich eine geistige Einheit bildete,<br />

zurückgestanden ist. Ausser der St. Galler Buchkultur, wie sie etwa in<br />

grandioser Weise im Elfenbeindiptychon Tutilos bezeugt wird ein Evangeliar,<br />

das um 900 entstanden ist <strong>und</strong> die Bärenlegende des Heiligen Gallus,<br />

geschnitzt in Elfenbein auf dem Buchdeckel nachbildet -, bek<strong>und</strong>en Dichter<br />

<strong>und</strong> Musiker den schöpferischen Geist, der damals in den Klöstern wirkte <strong>und</strong><br />

seinen Niederschlag gef<strong>und</strong>en hat in der kirchlichen Liturgie, bezeugt durch<br />

den weltweiten Ruf Notkers, dessen Dichtungen <strong>und</strong> schöpferisches Wirken<br />

das F<strong>und</strong>ament geblieben ist für alle Grossen im Reiche der Kunst <strong>und</strong> des<br />

Geistes. Aus dieser Schau heraus bleibt es verständlich, wenn das dichterische<br />

Werk Notkers als Schrittstein <strong>zwischen</strong> der Poesie der Psalmen <strong>und</strong> des<br />

Evangeliums einerseits <strong>und</strong> Dantes Göttlicher Komödie andererseits<br />

verstanden worden ist, wobei etwa das Kleine Gedicht «Media Vita» Ausdruck<br />

bleibt für die Tiefe <strong>und</strong> Reinheit der künstlerischen Empfindung, wie sie in der<br />

Dichtung <strong>und</strong> im Denken des Mittelalters in St. Gallen geschaffen <strong>und</strong> der<br />

Nachwelt überliefert wurde.<br />

So bilden Dichtkunst, Musik <strong>und</strong> Malerei der Klöster St. Gallen <strong>und</strong> Reichenau<br />

sowie der Stifte längs der rätischen Passtrasse ein erstrangiges Zeugnis des<br />

mittelalterlichen Geisteslebens <strong>und</strong> mittelalterlicher Kultur, wie sie sich,<br />

befruchtet von Süden <strong>und</strong> Norden, entwickeln musste, wofür auch die<br />

Reichenauer Bibliothek Zeugnis ablegt, in welcher sich die erste Fassung einer<br />

«Göttlichen Komödie» findet, die jener Dantes um Jahrh<strong>und</strong>erte vorauseilt,<br />

mitten hinein in die Hölle führt, auf Marmorgebirge, umgeben von feurigen<br />

Strömen durch raucherfülltes Buschwerk <strong>und</strong> über sturmgepeitschte Gipfel,<br />

wobei der Reichenauer Abt Waldo auf einem dieser Gipfel die Seligkeit


- 19 -<br />

erwartet, während ein Bischof <strong>und</strong> ein Priester für ihr Unrecht büssen, <strong>und</strong><br />

Kaiser Karl der Grosse sein Gericht über sich ergehen lassen muss im<br />

Angesicht des Wohnsitzes der Seligen, die strahlende Kronen tragen <strong>und</strong><br />

geschützt sind durch eine Mauer mit herrlichen Bogen. Walahfrieds «Göttliche<br />

Komödie» umfasst tausend Verse in lateinischer Sprache, ist eine Dichtung<br />

von gewaltigem Ausmass, wie später diejenige Dantes <strong>und</strong> zugleich eine<br />

Dokumentation dafür, wie entschieden der <strong>Bodensee</strong>raum <strong>und</strong> seine Kultur<br />

auch von Süden beeinflusst worden ist, von den grossen Epen des<br />

Mittelmeerraumes, die in der griechischen <strong>und</strong> römischen Literatur bis ins 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert hinein Weltrang erhalten haben <strong>und</strong> weiterhin behalten.<br />

J. J. Meyer, 1825: Lawinengalerien im Val S. Giacomo<br />

Die Passtrassen durch Rätien bildeten eine Brücke der Kultur für den<br />

Menschen des Orients <strong>und</strong> für jenen des Abendlandes, weshalb der<br />

befruchtende Geist der Mediterranis in Beziehung zur Umwelt des Nordens<br />

treten musste <strong>und</strong> ein reger geistiger Austausch, ähnlich wie jener der Güter<br />

<strong>und</strong> der Kultur, über die Alpen <strong>und</strong> durch das rätische Bergland hin durch<br />

erfolgte, welche das gesamte künstlerische Schaffen vom <strong>Bodensee</strong> bis zum<br />

<strong>Comersee</strong> gravierend kennzeichnet <strong>und</strong> sich daher ebenso in der kirchlichen<br />

Malerei <strong>und</strong> Kunst längs der Passtrassen abspiegeln musste.<br />

Dies bekräftigen nicht nur die grossen Kirchen, wie etwa die Kathedrale zu<br />

Chur mit ihren uralten karolingischen Chorschranken aus Marmor oder der<br />

ausdrucksvollen Formensprache der Domkapitelle, deren Skulpturen, wie<br />

Erwin Poeschel hervorhebt, «ohne Zweifel im Umgang mit lombardischer<br />

Plastik herangewachsen» sind, sondern auch die kleineren Kirchen der<br />

Talgemeinden, was in eindrücklicher Weise die romanische Bilddecke von St.<br />

Martin zu Zillis oder die Biblia pauperum des Waltensburger Meisters zu St.<br />

Georg bei Rhäzüns bestätigen.


- 20 -<br />

Es dürfte den Passfahrer nicht überraschen, dass die Wandmalereien von<br />

Rhäzüns mit der Aufmerksamkeit der ganzen Kunstwelt auch jene der<br />

Theologen <strong>und</strong> der Religionsgeschichte gef<strong>und</strong>en haben, weil die Wände des<br />

Kirchenschiffes mit einem zusammenhängenden Freskenzyklus bemalt sind,<br />

der ausgewählte Kapitel aus dem Alten <strong>und</strong> dem Neuen Testament erzählt <strong>und</strong><br />

überdies eine Darstellung der Georgslegende sowie den Drachenkampf des<br />

Heiligen zeigt. Ungeachtet der Jahrh<strong>und</strong>erte sind die Bilder von unglaublicher<br />

Frische <strong>und</strong> Schönheit <strong>und</strong> konnte vor wenigen Jahren im Chor der Kirche eine<br />

«Verkündigung» von bemerkenswerter künstlerischer Kraft freigelegt werden,<br />

ebenso eine Apostelreihe <strong>und</strong> andere Darstellungen, die ikonographisch<br />

bedeutsam sind <strong>und</strong> dem Meister von Waltensburg zugeschrieben werden, der<br />

neben einer «Krönung Mariens» auch der Schöpfer der Georgslegende <strong>und</strong> des<br />

mächtigen Drachenkampfes ist, ein Gemälde, das mit überraschendem Sinn<br />

den Forderungen des Wandstils gerecht wird. Der erstaunte Besucher der<br />

Kirche ist nicht nur von der künstlerischen Kraft dieser Darstellung des<br />

Drachentöters Georg beeindruckt, der entsprechend den strengen Regeln des<br />

Turniers beritten auf das Ungeheuer losschiesst, sondern auch von der Biblia<br />

pauperum, die weit vollkommener ist, als der Kodex Vindobonensis der<br />

Österreichischen Nationalbibliothek, welcher die «Wiener Biblia Pauperum»<br />

enthält <strong>und</strong> das Leben Jesu weniger lebhaft erzählt als die Wandbilder von St.<br />

Georg zu Rhäzüns.<br />

In gleichem Sinne offenbart die südliche Farbenpracht der Kirchendecke von<br />

Zillis in ihrer strengen Bildordnung mit südlichem Geiste <strong>und</strong> südlicher<br />

Farbenglut zugleich die Welt des Nordens, abgestützt auf die Kunst der<br />

mittelalterlichen Miniaturmalerei, wie sie in unglaublicher Vollendung in St.<br />

Gallen <strong>und</strong> im Kloster Reichenau gepflegt worden ist. Ähnlich wie die<br />

Farbenwelt des Bergellers Augusto Giacometti von Norden <strong>und</strong> Süden<br />

beeinflusst ist, strahlt auch jene des Meisters von Zillis mit der Verhaltenheit<br />

nördlicher Kultur den Glanz südlicher Freudigkeit <strong>und</strong> Festlichkeit aus.<br />

Entsprechend der passtaatlichen Natur Graubündens <strong>und</strong> der Beeinflussung des<br />

Landes, seiner Kunst <strong>und</strong> Kultur von Süden <strong>und</strong> Norden, vermittelt die<br />

romanische Decke nach den Gesetzen lateinischer Kunst <strong>und</strong> in südlicher<br />

Sinnenhaftigkeit gleichwohl den stillen, fast sakralen Ernst nördlicher Prägung,<br />

wie ihn die Gesichter <strong>und</strong> Gestalten der Bildtafeln aufweisen, <strong>und</strong> wie er in<br />

den traumhaften Waldungen der Donau <strong>und</strong> des Rheins seinen landschaftlichen


- 21 -<br />

Ausdruck findet. Der Reichtum an Fabeltieren, welchen die Randfelder der<br />

Kirchendecke von Zillis zeigen, entspringt ebenfalls südlicher Phantasie <strong>und</strong><br />

nördlicher Bildkraft, wobei selbst Tiere der rätischen Alpenwelt neben<br />

fischgeschwänzten Löwen, musischen Meertöchtern <strong>und</strong> Nereiden erscheinen,<br />

so dass der Beschauer Elefanten <strong>und</strong> Kamele, aber auch Eber, Wolf <strong>und</strong> Bär,<br />

Widder <strong>und</strong> Ziegenbock, das Pferd <strong>und</strong> das Einhorn findet. Dieser lebhafte<br />

Bildstreifen, der in Übereinstimmung mit ägyptischen Schalen das Urmeer<br />

darstellt, bildet den Rahmen zum inneren Bildzyklus, welcher der christlichen<br />

Heilsgeschichte gewidmet ist <strong>und</strong> an die Farbenpracht eines byzantinischen<br />

Teppichs erinnert. Der Schluss der Bilderfolge von Zillis ist dem Leben des<br />

Kirchenpatrons St. Martin gewidmet <strong>und</strong> stammt von einer anderen Hand.<br />

Wie in der Kunst-, Kultur <strong>und</strong> Geistesgeschichte offenbart sich auch<br />

baugeschichtlich dieselbe Übereinstimmung, wobei die grossen Bauwellen der<br />

Gotik, der Renaissance <strong>und</strong> des Barock vom <strong>Bodensee</strong> bis zum <strong>Comersee</strong><br />

jeweils eine Abspiegelung des aufblühenden <strong>Transit</strong>s auf den Passtrassen <strong>und</strong><br />

durch den rätischen Freistaat sind. Die spätgotische Bauwelle, welche das<br />

Bergland bis in die letzten Talverzweigungen durchflutete, wäre ohne den<br />

Ausbau der Strasse durch die Viamala, über den Splügen <strong>und</strong> Bernhardin<br />

sowie jener über den Septimer, - der bereits kurz erwähnt wurde, - <strong>und</strong>enkbar.<br />

J. J. Meyer, 1825: Passwirtshaus am Splügen<br />

In Verbindung mit dem in Deutschland <strong>und</strong> in Italien nach den Kreuzzügen<br />

mächtig aufblühenden Handel, entstanden die Porten, welche den Strassenbau<br />

überwachten, aber auch gewaltige Stallungen, Kauf <strong>und</strong> Lagerhäuser, weshalb<br />

sich ein blühender Wohlstand entfaltete, der in Rätien <strong>und</strong> im <strong>Bodensee</strong>raum<br />

den Gewerbefleiss kühn belohnt hat.


- 22 -<br />

In Chur, in St. Gallen, Konstanz <strong>und</strong> Ravensburg <strong>und</strong> in vielen anderen Städten<br />

am <strong>Bodensee</strong> wurden alte schöne Bürgerhäuser <strong>und</strong> ganze Strassenzeilen des<br />

gotischen Bautypus errichtet, ebenso gotische Chorbauten, Kirchen <strong>und</strong><br />

ungezählte prachtvolle Altarwerke. Der schönste spätgotische Altar der ganzen<br />

Schweiz, geschaffen von Jakob Russ aus Ravensburg im Jahre 1492, bildet mit<br />

seinem Figurenschatz <strong>und</strong> den kunstvollen Gespreng, mit Fialen <strong>und</strong><br />

Tabernakeln noch heute den eindrucksvollen Chorabschluss der Kathedrale in<br />

Chur. Mit dem aufstrebenden Handel <strong>und</strong> Wandel <strong>und</strong> der Befruchtung des<br />

Gewerbes entwickelten sich damals die Zünfte <strong>und</strong> ihre Zunfthäuser, die ein<br />

Schmuckstück aller Städte des <strong>Bodensee</strong>gebietes bilden, ebenso den baulichen<br />

Akzent der Churer Altstadt, was die wohldisponierten Fenstergruppen <strong>und</strong><br />

schönen Erker des alten Churer Zunfthauses aufzeigen. Verglichen mit den<br />

deutschen Städten, mit Schaffhausen, mit Stein am Rhein, mit Ravensburg <strong>und</strong><br />

anderen städtischen Gemeinwesen des <strong>Bodensee</strong>raumes erscheint das gotische<br />

Bürgerhaus Churs bescheiden, zeigt nichts von der Fülle an Schnitzwerk, an<br />

zierlicher Steinhauerarbeit <strong>und</strong> Malerei, keine reich ornamentierten<br />

Fensterbrüstungen <strong>und</strong> Gewände, keine Fratzen <strong>und</strong> Figuren oder elegant<br />

bearbeitete Konsolen, wie sie der Wohlstand der <strong>Bodensee</strong>städte so<br />

eindrücklich zur Schau trug, weil der Schmuck des Lebens, Luxus <strong>und</strong><br />

Bequemlichkeiten in Bünden wenig galten -, bestimmt durch die Einfachheit in<br />

allen Dingen des persönlichen Daseins. Die bescheidene Schönheit des alten<br />

Chur <strong>und</strong> seiner gotischen Häuserzeilen lag daher im Reiz der Einheit, in einer<br />

Harmonie von grauen Tönungen, welche alle Bauten zu einer homogenen<br />

Erscheinung zusammenfasste, im Stahlgrau der Schindeln, das zum helleren<br />

Grau des Rauhputzes weich kontrastierte <strong>und</strong> belebt wurde durch die<br />

dunkleren Steingurten der Fenstereinfassungen. Durch die Einheit des<br />

Materials verbürgte sich jene des Eindrucks, die überdies bündnerischem<br />

Empfinden entsprach <strong>und</strong> verborgener Weltklugheit.<br />

Der <strong>Bodensee</strong>raum erwies sich in jener historischen Epoche der Gotik von<br />

weltgeschichtlicher Bedeutung, weil die Kaiser des hohen Mittelalters eine<br />

geordnete Welt hinterliessen, die Reichsgewalt sowohl in Deutschland wie in<br />

Italien <strong>und</strong> Burg<strong>und</strong> auf den beiden mächtigen Säulen des weltlichen<br />

Lehensstaates <strong>und</strong> der Reichskirche ruhte <strong>und</strong> eine lange Reihe kluger,<br />

tatkräftiger Herrscher in sorgfältiger Arbeit ein grossartiges Gebäude der<br />

Reichsautorität geschaffen hatte, so dass geistig <strong>und</strong> materiell durch die Einheit


- 23 -<br />

von Italien <strong>und</strong> Deutschland, von Norden <strong>und</strong> Süden, sowie durch die<br />

verkehrstechnische <strong>und</strong> geistige Beherrschung dieses gewaltigen Territoriums<br />

die Voraussetzungen geschaffen waren für die grossartigen gotischen Dome,<br />

welche von Mailand bis Basel <strong>und</strong> weitherum im Reiche das Städtebild<br />

kennzeichnen. Städte <strong>und</strong> Klöster entfalteten damals eine hohe Kultur, wie sie<br />

Ausdruck findet in den Miniaturen der Stuttgarter Handschrift der<br />

Welfenchronik, in den Städtebildern von Bischofszell, von Arbon, von<br />

Schaffhausen <strong>und</strong> Ravensburg, das seine gotische Eigenart in der Waldburger<br />

Mappa Rauchs rein präsentiert.<br />

In diese Welt gehört, ihrem Namen entsprechend, die Weltchronik des Rudolf<br />

von Ems <strong>und</strong> ebenso die Manesse Liederhandschrift, welche nach der<br />

historischen Kritik in der Landschaft des <strong>Bodensee</strong>raumes entstanden sein soll,<br />

ungeachtet der Tatsache, dass die nähere Beziehung dieses w<strong>und</strong>ervollen<br />

Miniaturwerkes nach Zürich hinweist. Die Kraft der gotischen Bauwelle im<br />

<strong>Bodensee</strong>raum war jene des Durchgangsverkehrs, weil der <strong>Bodensee</strong> in der<br />

damaligen Welt der deutschen Kaiser <strong>zwischen</strong> ihren, Kernländern Europas<br />

lag, weshalb während der Stauferzeit die verkehrspolitische Bedeutung der<br />

<strong>Bodensee</strong>landschaft <strong>und</strong> die Passwege durch Graubünden als beste Verbindung<br />

mit Italien das F<strong>und</strong>ament der Städtebildungen waren <strong>und</strong> demzufolge in<br />

breitem Umkreis um das Schwäbische Meer, Städtegemeinwesen von<br />

ungemein seltener Schönheit <strong>und</strong> lebendigster wirtschaftlicher Betriebsamkeit<br />

entstehen mussten. Erst mit der Eröffnung der Gotthardstrasse im frühen 13.<br />

Jahr h<strong>und</strong>ert, nachdem die Schöllenenschlucht um 1240 passierbar gemacht<br />

wurde, verloren die Bündner Pässe ihre jahrtausendealte Monopolstellung <strong>und</strong><br />

gewannen die Landschaften südlich <strong>und</strong> nördlich des Gotthards rasch an<br />

Bedeutung. Bildete Graubünden bisher für die Weltpolitik <strong>und</strong> den Welthandel<br />

das eigentliche alpine Durchflussgebiet, so trat nunmehr die Konkurrenz des<br />

Gotthards in Erscheinung, weshalb bündnerische Transportgenossenschaften<br />

gegründet werden mussten, Porten <strong>und</strong> Rodverbände, welche für den Unterhalt<br />

<strong>und</strong> für die Verbesserung der Strassen sorgten, <strong>und</strong> überdies den Engpass<br />

durch die Viamala dem Verkehrsstrom angepasst worden ist, denn Friedrich II.<br />

<strong>und</strong> seiner Gotthardpolitik traten nunmehr die Länderorte um den<br />

Vierwaldstättersee, ebenso das Livinental <strong>und</strong> der obere Tessin die Erbschaft<br />

der ost- <strong>und</strong> westalpinen Durchgangsstrassen durch die Alpen ab. In diesem<br />

Zusammenhang ist zu beachten, dass ehedem kein mittelalterlicher Kaiser über


- 24 -<br />

den Gotthard zog <strong>und</strong> dieser Berg mit seinen tief eingerissenen Quellflüssen,<br />

seinem jähen beidseitigen Anstieg in ein ödes Passgebiet, mit seinen<br />

Schluchten der Reuss <strong>und</strong> des Tessin, der Schöllenen <strong>und</strong> Tremola, auch den<br />

grossen Strassenbaumeistern der Alpen, den Römern, als unbezwingbar<br />

erschien - eine Auffassung, die sich bis ins späte Mittelalter <strong>und</strong> teilweise bis<br />

in die Neuzeit hinein erhalten hat.<br />

So ist es nicht verw<strong>und</strong>erlich, wenn sich in Graubünden <strong>und</strong> im <strong>Bodensee</strong>raum<br />

nach der gotischen auch eine Bauwelle der Renaissance <strong>und</strong> des Barock<br />

feststellen lässt, die sowohl im <strong>Bodensee</strong>gebiet wie in Graubünden <strong>und</strong> südlich<br />

der Alpen von ungewöhnlicher Kraft <strong>und</strong> Schönheit war, weshalb die Bündner<br />

Baumeister <strong>und</strong> Stukkatoren berufen waren, diese Welle des Barocks mit<br />

künstlerischer Gestaltungskraft hinein in die süddeutschen Länder <strong>und</strong> nach<br />

Österreich zu tragen, was die vielen herrlichen Schlösser, die eindrucksvollen<br />

Stadt- <strong>und</strong> Stiftskirchen, imponierende Theaterbauten <strong>und</strong> stattliche<br />

Prunkhäuser in Dillingen, Laupheim, Neu-St. Johann (Thurtal), in Eichstätt, St.<br />

Lambrecht, Kempten <strong>und</strong> Maria Zell, in Traunstein, Isny, Salzburg <strong>und</strong><br />

München, in Schleissheim, Fürstenfeld <strong>und</strong> Ettal bek<strong>und</strong>en. Diese barocken<br />

Bauten von teils gewaltigen Ausmassen, von festlicher Schönheit <strong>und</strong><br />

imponierender Gestaltungskraft bilden ein Schmuckstück Süddeutschlands <strong>und</strong><br />

Österreichs <strong>und</strong> bekräftigen mit den Klöstern St. Gallen, Pfäfers <strong>und</strong> Disentis,<br />

dass die wirtschaftliche Bedeutung des internationalen <strong>Transit</strong>s <strong>zwischen</strong> dem<br />

<strong>Bodensee</strong> <strong>und</strong> <strong>Comersee</strong> durch die rätischen Alpen im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

keineswegs erloschen war, ein Sachverhalt, der daher auch für die<br />

Renaissancebauten des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts zutrifft, die in Soglio, in Chur, im<br />

Bündner Oberland, am <strong>Bodensee</strong> <strong>und</strong> seinen Umländern mächtige Kubaturen<br />

erreichten, was für Graubünden durch das dreibändige Werk Erwin Poeschels<br />

über das bündnerische Bürgerhaus nachhaltig bezeugt ist.<br />

Erst mit der Eröffnung der Gotthardbahn verlor der durch mehr als zwei<br />

Jahrtausende hindurch belebte Verkehrsraum <strong>zwischen</strong> dem Boden <strong>und</strong><br />

<strong>Comersee</strong> seine weltgeschichtliche Bedeutung als internationale <strong>Transit</strong>strasse,<br />

weshalb am <strong>Bodensee</strong>, im Rheintal, in Graubünden <strong>und</strong> am <strong>Comersee</strong><br />

notwendig eine rückläufige Entwicklung einsetzte, was die Steuerlisten dieser<br />

Landschaften. Die Bevölkerungsentwicklung <strong>und</strong> ähnliche, unmissverständliche<br />

Zeichen zur Bewertung des Volkswohlstandes grell aufzeigen.


- 25 -<br />

Zusammenfassung <strong>und</strong> Ausblick<br />

Erwies sich der Verkehrsraum <strong>zwischen</strong> dem Boden <strong>und</strong> <strong>Comersee</strong> mit seinen<br />

Pässen durch die rätischen Alpen seit urgeschichtlicher Zeit als Weltstrasse des<br />

europäischen Handels <strong>und</strong> Verkehrs, mit entsprechender Entfaltung der<br />

Wirtschaft, der Kultur, der Kunst <strong>und</strong> des Volkswohlstandes <strong>und</strong> einer<br />

Strahlungskraft, die nahezu ganz Nordeuropa bis an die atlantische Küste<br />

erfasste <strong>und</strong> daher auch den Raum vom <strong>Bodensee</strong> bis zur Reuss<br />

miteinbeziehen musste, was der Streubesitz des Klosters St. Gallen bestätigt,<br />

ebenso die Gründung des innerschweizerischen Klosters Einsiedeln, welche<br />

unter dem Einfluss des Klosters Reichenau am <strong>Bodensee</strong> erfolgte, weil der<br />

Reichenauer Mönch Meinrad aus einem vornehmen Geschlecht des<br />

Sülchgaues am Neckar Urheber dieser Klostergründung ist, die in der<br />

Meinradslegende von Einsiedeln in w<strong>und</strong>ervoller Geschlossenheit überliefert<br />

ist, so änderten sich diese Verhältnisse vorerst mit der Eröffnung des<br />

Gotthardpasses <strong>und</strong> der Geschichte der aufstrebenden Eidgenossenschaft seit<br />

1291, wobei der Schatten dieser Konkurrenz das Wirtschafts- <strong>und</strong> Kulturleben<br />

der Ostschweiz <strong>und</strong> des <strong>Bodensee</strong>raumes allerdings noch keineswegs<br />

wirtschaftlich zu beeinträchtigen vermochte. Dies geschah erst durch den Bau<br />

der Gotthardbahn <strong>und</strong> ihrer gravierenden Überlegenheit hinsichtlich des<br />

Verkehrs, die sich mit Bezug auf Billigkeit, Schnelligkeit <strong>und</strong> Sicherheit des<br />

<strong>Transit</strong>s gr<strong>und</strong>legend aus wirken musste <strong>und</strong> daher in der Ostschweiz zu einer<br />

Abwanderung der Arbeitskräfte, der Industrie <strong>und</strong> der Bevölkerung führte, was<br />

andererseits notwendig eine rückläufige Entwicklung des Volkseinkommens<br />

ergab, welche sowohl die natürlichen wie die wirtschaftlichen Personen<br />

erfasste <strong>und</strong> weit unter dem schweizerischen Mittel blieb. Durch den Ausbau<br />

bescheidener interner Verkehrsmittel im Kanton St. Gallen, in Appenzell <strong>und</strong><br />

Graubünden konnte die von der Natur gebotene Nord-Südverbindung, welche<br />

heute der Ostschweiz fehlt, nach ihrer europäischen wirtschaftlichen<br />

Strahlungskraft <strong>und</strong> Bedeutung für die Gesamtentwicklung dieser<br />

Landschaften nicht wettgemacht <strong>und</strong> aufgeholt werden, weshalb die ganze<br />

Ostschweiz eine rückläufige wirtschaftliche Entwicklung durchmacht. Es<br />

erscheint daher gegeben <strong>und</strong> naheliegend, in der Ostschweiz, in<br />

Süddeutschland <strong>und</strong> in der Lombardei die von der Natur geschaffene <strong>und</strong><br />

dargebotene Verkehrsader erneut zu nutzen, so wie dies in historischen Zeiten<br />

geschehen ist <strong>und</strong> daher ihre eindrückliche Abspiegelung finden musste in der


- 26 -<br />

Wirtschaft <strong>und</strong> Kultur, in der Kunst <strong>und</strong> in der Geistesgeschichte des gesamten<br />

<strong>Bodensee</strong>raumes, Rätiens <strong>und</strong> der Lombardei, was die stattlichen Klöster <strong>und</strong><br />

Kirchen, die herrlichen Bürgerhäuser, die aufblühenden Städte dieser<br />

Landschaften <strong>und</strong> die Schätze der Buchkultur in der Stiftsbibliothek zu St.<br />

Gallen oder jene der gotischen <strong>und</strong> barocken Baukunst dieser<br />

Durchgangsgebiete bestätigen. Aus allen diesen Gründen wird die Ostschweiz<br />

<strong>und</strong> mit ihr Süddeutschland <strong>und</strong> die Lombardei daran interessiert sein, diese<br />

grandiosen Gegebenheiten der Natur, wie sie sich im Raume <strong>zwischen</strong> dem<br />

Boden <strong>und</strong> <strong>Comersee</strong> offenbaren, erneut zu nutzen <strong>und</strong> eine Kommunikation<br />

der Eisenbahn, der Schiffahrtswege <strong>und</strong> der Strassen anzustreben, ausgerichtet<br />

auf den grossen internationalen <strong>Transit</strong> Europas <strong>zwischen</strong> der Ostsee <strong>und</strong> dem<br />

mittelländischen Meer. In diesem Sinne sind die uralten Verkehrswege <strong>und</strong><br />

ihre Geschichte zu verstehen, eine Geschichte, welche die Natur <strong>und</strong> der<br />

Mensch gemeinsam geschrieben haben mit einer Eindruckskraft, die kein<br />

anderes Geschehen im ganzen Bereiche vom <strong>Bodensee</strong> zum <strong>Comersee</strong><br />

bek<strong>und</strong>et. Diese gewaltige Sprache der Natur <strong>und</strong> der Weltgeschichte erfordert<br />

keine besondere Bekräftigung durch die Ingenieure der Eidgenössischen<br />

Technischen Hochschule <strong>und</strong> durch die Verkehrswissenschaft des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, weil sie schon dem frühgeschichtlichen Menschen, den Cäsaren<br />

Roms <strong>und</strong> den Kaisern, Königen <strong>und</strong> Bischöfen des Mittelalters geläufig war<br />

<strong>und</strong> daher heute in Bern <strong>und</strong> in der Ostschweiz eigentlich auch verständlich<br />

sein sollte.<br />

Internet-Bearbeitung: K. J. Version 12/2013<br />

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