Versorgungsreport Nordrhein 2013 - Kassenärztliche Vereinigung ...
Versorgungsreport Nordrhein 2013 - Kassenärztliche Vereinigung ...
Versorgungsreport Nordrhein 2013 - Kassenärztliche Vereinigung ...
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<strong>Kassenärztliche</strong> <strong>Vereinigung</strong><br />
<strong>Nordrhein</strong><br />
<strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong>
<strong>Kassenärztliche</strong> <strong>Vereinigung</strong><br />
<strong>Nordrhein</strong><br />
<strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong>
Editorial<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
die ambulante Versorgung von mehr als acht Millionen Versicherten in der Region <strong>Nordrhein</strong><br />
ist unser gesetzlicher Auftrag. Annähernd 19.000 niedergelassene Haus- und Fachärzte sowie<br />
psychologische Psychotherapeuten erfüllen diesen Auftrag Tag für Tag, mit großem persönlichem<br />
Engagement und auf hohem fachlichem Niveau.<br />
Jahrzehntelang war diese Versorgungsleistung eine Selbstverständlichkeit. Die Perspektive<br />
fehlender Haus- oder Fachärzte erschien den meisten Menschen abwegig, dominierte doch in<br />
der öffentlichen Wahrnehmung das trügerische Bild einer „Ärzteschwemme“. Erste Warnsignale<br />
aus der brandenburgischen oder der mecklenburgischen Provinz wurden lange Zeit überhört.<br />
Nur zögerlich setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Ärztemangel keine Erfindung von Ärztefunktionären<br />
ist, sondern in vielen Regionen längst Alltagserfahrung der Patienten.<br />
Politiker und auch die Medien reagieren mittlerweile sensibel auf Hinweise, dass die ambulante<br />
ärztliche Versorgung regional gefährdet ist. Dieser Umschwung in der öffentlichen Wahrnehmung<br />
hat sich in konkreten politischen Entscheidungen niedergeschlagen. Im Jahr 2011<br />
hat der Deutsche Bundestag mit einer gelegentlich als „Landärztegesetz“ titulierten Reform<br />
die Weichen für mehr Versorgungssicherheit gestellt. Ein besonders wichtiger Baustein ist der<br />
gesetzliche Auftrag, eine flexible, kleinräumige Bedarfsplanung zu entwickeln.<br />
Dr. Frank Bergmann<br />
Vorsitzender der Vertreterversammlung<br />
der KV <strong>Nordrhein</strong>, dem<br />
Organ der Selbstverwaltung für<br />
die rund 19.000 Vertragsärzte<br />
und -psychotherapeuten. Der<br />
gebürtige Hesse ist als Facharzt<br />
für Neurologie, Psychiatrie<br />
und Psychotherapie in Aachen<br />
niedergelassen. Seit 2001 ist er<br />
Vorsitzender des Berufsverbandes<br />
Deutscher Nervenärzte.<br />
„Eine hohe Lebens- und Arbeitszufriedenheit<br />
unserer Mitglieder<br />
ist die beste Nachwuchswerbung.“<br />
Diese neue Planung gilt seit Mitte <strong>2013</strong>. Sie erleichtert künftig die Arbeit der <strong>Kassenärztliche</strong>n<br />
<strong>Vereinigung</strong>. Sie löst aber auf absehbare Zeit nicht unser zentrales Problem; denn Planung<br />
allein schafft keine neuen Ärzte. Zehn Jahre und mehr gehen ins Land, bis ein Student, eine<br />
Studentin der Medizin nach ihrer Facharztprüfung für die Niederlassung zur Verfügung stehen.<br />
Selbstverständlich werden wir so lange nicht die Hände in den Schoß legen. Es gibt viel zu<br />
tun: allen voran das konsequente Eintreten für unsere heutigen Mitglieder. Ihre Lebens- und<br />
Arbeitszufriedenheit ist die beste „Werbung“, um mögliche Nachfolger für die Niederlassung<br />
zu begeistern. Dazu zählt selbstverständlich auch eine verlässliche wirtschaftliche Perspektive<br />
als Arzt oder Psychotherapeut.<br />
Unser Sicherstellungsauftrag erschöpft sich nicht in Verwaltungsakten, sondern ist in erster<br />
Linie eine Gestaltungsaufgabe. Die Zukunft wirksam zu gestalten kann aber nicht auf der Basis<br />
spekulativer Annahmen gelingen, sondern nur anhand seriöser Daten. Deren Verfügbarkeit und<br />
das methodische und analytische Know-how im Umgang mit diesen Daten tragen wesentlich<br />
bei zur Glaubwürdigkeit der <strong>Kassenärztliche</strong>n <strong>Vereinigung</strong> als verantwortlichen und kompetenten<br />
Akteurs – heute und in der Zukunft.<br />
Wir freuen uns, dass wir nunmehr den ersten <strong>Versorgungsreport</strong> für unsere KV-Region <strong>Nordrhein</strong><br />
vorlegen können. Die vorliegende Publikation enthält spannende Analysen zur Gegenwart<br />
und aufschlussreiche Prognosen bis ins Jahr 2030. Die Erfahrung lehrt: Die Zukunft kommt<br />
zumeist schneller als gedacht.<br />
Der Report vermittelt Hintergründe zum Versorgungsgeschehen und eignet sich ebenso als<br />
Nachschlagewerk. Er wird ergänzt durch eine Fülle von Informationen, die im vorliegenden Printexemplar<br />
keinen Platz gefunden haben, und die Sie online unter www.versorgungsreport.de<br />
abrufen können.<br />
Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre.<br />
Ihr<br />
Dr. med. Frank Bergmann<br />
2 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
3
Inhalt<br />
Inhalt<br />
Editorial 3<br />
1 Versorgung HEUTE 6<br />
Einleitung 7<br />
Versorgungsangebot 10<br />
Behandlungsbedarf 16<br />
Mitversorgungsbeziehungen 22<br />
Demografie 28<br />
2 Prognosen & Trends 32<br />
Patienten & Ärzte 2030 34<br />
Neue Arbeitsformen 46<br />
3 Fazit & Ausblick 54<br />
Ideen gegen Ärztemangel 56<br />
Standpunkt 60<br />
Quellenverzeichnis & Impressum 64<br />
Die nachfolgend verwendete männliche Form bezieht selbstverständlich die weibliche Form mit ein. Auf die<br />
Verwendung beider Geschlechtsformen wird lediglich mit Blick auf die bessere Lesbarkeit des Textes verzichtet.<br />
<strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
5
1VERSORGUNG Heute<br />
Wie werden wir in 20 Jahren leben? Wie werden sich unser Alltag,<br />
unsere Routinen verändern? Wie unsere Infrastruktur, Medien und<br />
Technik? Welche Werte teilen wir als Gesellschaft im Jahr 2030?<br />
Einleitung<br />
Die Zukunft war<br />
früher auch besser!<br />
Karl Valentin (1882-1948)<br />
19.455<br />
Vertragsärztinnen und -ärzte, Psychotherapeutinnen<br />
und -therapeuten versorgen rund<br />
8.000.000<br />
Versicherte der<br />
gesetzlichen Krankenkassen<br />
und ihre Familienangehörigen<br />
in <strong>Nordrhein</strong>.<br />
Prognosen sind allgegenwärtig: in der Politik,<br />
in der Wirtschaft, in den Medien. Dabei<br />
sind Prognosen und Szenarien schwierig zu<br />
erstellen, weil sie, ähnlich wie komplexe mathematische<br />
Gleichungen, zumeist mehrere<br />
Unbekannte enthalten. Oder um es mit Mark<br />
Twain zu formulieren: Das Schwierigste an<br />
Prognosen ist, dass sie die Zukunft betreffen.<br />
Verlässliche Versorgung: Planungsverantwortung<br />
der <strong>Kassenärztliche</strong>n <strong>Vereinigung</strong><br />
Das gilt auch für die Frage, wie sich die medizinische<br />
Versorgung in zehn oder 20 Jahren<br />
gestalten wird. Völlig klar dagegen ist das<br />
Ziel: Die Menschen erwarten auch in Zukunft<br />
eine gute und verlässliche ambulante Versorgung,<br />
die möglichst überall in Deutschland<br />
schnell und leicht erreichbar ist.<br />
Unser Land hat kein staatliches Gesundheitssystem.<br />
Dennoch zählt die gesundheitliche<br />
Versorgung zur öffentlichen Daseinsfürsorge.<br />
Das bedeutet: Nicht allein Markt und Wettbewerb<br />
bestimmen über die Kapazitäten und<br />
Standorte von Krankenhäusern bzw. Arztpraxen,<br />
sondern in hohem Maße öffentliche<br />
Planung. Für die Zukunft der ambulanten<br />
Versorgung trägt daher die <strong>Kassenärztliche</strong><br />
<strong>Vereinigung</strong> eine große Verantwortung. Denn<br />
sie hat den gesetzlichen Auftrag zur Sicherstellung<br />
der Versorgung inne.<br />
Trends in Gesellschaft, Technik und<br />
medizin<br />
Wir wissen bereits heute viel über unser Leben<br />
von morgen. Immerhin sind die meisten<br />
Menschen, die 2030 medizinisch zu versorgen<br />
sind, bereits geboren. Zudem haben sich<br />
wichtige gesellschaftliche Entwicklungen in<br />
den vergangenen Jahrzehnten als erstaunlich<br />
stabil erwiesen: immer mehr und dabei<br />
immer kleinere Haushalte, der Trend hin zu<br />
„Patchwork-Familien“, Bevölkerungswanderungen<br />
von Ost nach West, vom Land in die<br />
Städte und Ballungsräume. Und schließlich<br />
ein dynamischer, bisweilen atemberaubender<br />
medizinischer Fortschritt: neue Techniken in<br />
der bildgebenden Diagnostik, bahnbrechende<br />
Erkenntnisse in der Humangenetik, minimalinvasive<br />
Operationen sowie neue pharmazeutische<br />
und biotechnische Wirkstoffe. Vieles<br />
davon erleichtert und verbessert die Therapie.<br />
Mancher Fortschritt eröffnet völlig neue Optionen;<br />
Krankheiten, die früher zum Tod führten,<br />
sind „beherrschbar“ geworden. Allerdings<br />
oftmals um den Preis eines steigenden Anteils<br />
chronisch kranker Patienten. Hinzu kommen<br />
6 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
7
Einleitung<br />
ungesunde, sozial bedingte Lebensstile wie<br />
falsche Ernährung und Bewegungsmangel.<br />
Diabetes- und Herz-Kreislauf-Patienten werden<br />
zahlreicher – und immer jünger.<br />
Neue Daten für die Planung<br />
Statistikbehörden, Bevölkerungswissenschaftler<br />
und Gesundheitsökonomen, aber auch<br />
Krankenkassen und <strong>Kassenärztliche</strong> <strong>Vereinigung</strong><br />
verfügen über eine Fülle an Daten<br />
und Erkenntnissen. Dennoch erweist sich die<br />
Hoffnung auf eine exakte Planbarkeit unserer<br />
medizinischen Versorgung als Illusion. Viel zu<br />
groß sind in der Summe die Unschärfen und<br />
Wechselbeziehungen all der genannten und<br />
vieler weiterer Trends.<br />
Deutschland vertraut seit vielen Jahren auf<br />
die Planung ambulanter Versorgungsressourcen<br />
mit Hilfe von Verhältniszahlen. Bis vor<br />
wenigen Jahren gab es kaum Anlass, dieses<br />
Verfahren in Frage zu stellen. Die Versorgung<br />
konnte nahezu flächendeckend in ganz<br />
Deutschland gesichert werden. „Planung“ beschränkte<br />
sich im Wesentlichen darauf, die<br />
Kreise und kreisfreien Städte fast überall für<br />
haus- und fachärztliche Neuzulassungen zu<br />
„sperren“, um einen stetigen Zuwachs von<br />
Arztpraxen, insbesondere in den als „attraktiv“<br />
geltenden Regionen und Großstädten,<br />
zu unterbinden, wie etwa München und<br />
sein südliches Umland. Oder hierzulande die<br />
Rheinschiene von Bonn über Köln bis Düsseldorf.<br />
Mittlerweile haben sich die Verhältnisse<br />
gründlich gewandelt. Zwar ist die Anziehungskraft<br />
des Starnberger Sees ungebrochen.<br />
In immer mehr Flächenkreisen ist die<br />
haus- und auch die fachärztliche Versorgung<br />
dagegen in Gefahr. Nicht nur im Osten, in der<br />
sprichwörtlichen Uckermark, sondern auch im<br />
Westen: in Teilen Westfalens ebenso wie am<br />
linken Niederrhein, im Oberbergischen oder in<br />
der nordwestlichen Eifel. Die Gründe hierfür<br />
sind vielfältig und sollen in diesem Bericht<br />
ausführlich zur Sprache kommen.<br />
Die geänderte Situation stellt alle an der<br />
Planung Beteiligten vor neue fachliche Herausforderungen.<br />
Der Rückgriff auf verlässliche<br />
Daten wird immer wichtiger für eine<br />
am Bedarf orientierte Verteilung der knappen<br />
„Ressource“ Arzt. Der vorliegende <strong>Versorgungsreport</strong><br />
ist eine der Antworten der<br />
<strong>Kassenärztliche</strong>n <strong>Vereinigung</strong> <strong>Nordrhein</strong> auf<br />
diese Herausforderung. Der Report beruht<br />
auf Analysen von Abrechnungs- und Strukturdaten<br />
der <strong>Kassenärztliche</strong>n <strong>Vereinigung</strong>.<br />
Er bezieht darüber hinaus eine Fülle weiterer<br />
Datenquellen ein. Dieser breite, systematische<br />
Datenbestand bildet eine zuverlässige Basis:<br />
sowohl für die Beschreibung der Ist-Situation<br />
als auch für unterschiedliche analytische<br />
Szenarien zur Zukunft der ambulanten Versorgung<br />
in <strong>Nordrhein</strong>.<br />
Das Berliner Zentralinstitut für die kassenärztliche<br />
Versorgung in Deutschland (ZI) steht<br />
mit seiner Expertise und langjährigen Erfahrung<br />
für die wissenschaftliche Güte der Analysen<br />
im vorliegenden Report. Neben bereits<br />
bewährten Auswertungen hat das ZI spezifische<br />
Modelle eigens für diese Publikation<br />
entwickelt.<br />
Jenseits aller Daten und Analysen sind es<br />
Menschen, die die medizinische Versorgung<br />
tagtäglich in ihren Praxen mit großem Engagement<br />
und hoher Verantwortung erbringen.<br />
Fünf Haus- und Fachärzte kommen stellvertretend<br />
für die rund 19.000 niedergelassenen<br />
Kolleginnen und Kollegen in <strong>Nordrhein</strong> zu<br />
Wort. In Interviews äußern sie ihre persönliche<br />
Sicht auf aktuelle Fragen und Zukunftsperspektiven<br />
der ambulanten Versorgung.<br />
Und auch Patienten sprechen in diesem Report.<br />
Sie sind nicht nur passive Empfänger<br />
oder „Kunden“ von Versorgungsleistungen.<br />
Immer mehr Patienten bringen sich durch ihre<br />
informierte und selbstbestimmte Teilhabe aktiv<br />
in das Therapiegeschehen ein.<br />
Blick in die Zukunft<br />
In drei Abschnitten beleuchtet der Report<br />
wesentliche Aspekte der gegenwärtigen und<br />
künftigen Versorgung in <strong>Nordrhein</strong>. Die Beschreibung<br />
des Status quo liefert eine kleinräumige<br />
Darstellung der Einwohnerzahlen je<br />
Haus- bzw. Facharzt. Darüber hinaus zeigen<br />
spezifische Morbiditätsindikatoren erstmals<br />
regionale Unterschiede in der Krankheitslast.<br />
Neu ist auch die Betrachtung von grenzüberschreitenden<br />
Arzt-Patient-Kontakten, die<br />
als „Mitversorgungsbeziehungen“ zwischen<br />
Kreisen und Städten interpretiert werden und<br />
beträchtliche Auswirkungen auf den örtlichen<br />
Bedarf an ambulanten Leistungen haben.<br />
Der zweite Teil beschäftigt sich mit Prognosen<br />
und Trends. Das hier eingesetzte Rechenmo-<br />
dell berücksichtigt mehr Einflussfaktoren als<br />
vergleichbare Berichte für andere Regionen:<br />
Neben der Altersstruktur von Ärzten und Bevölkerung<br />
sind dies die auf der Basis von Behandlungsdiagnosen<br />
ermittelte Morbidität,<br />
die Zahl der Arzt-Patient-Kontakte sowie die<br />
Standortentscheidungen neu zugelassener<br />
Ärzte in den vergangenen fünf Jahren. Trends<br />
der ärztlichen Versorgung sind ein weiteres<br />
Thema in diesem Berichtsteil. Dabei steht der<br />
Wandel des ärztlichen Berufsbildes im Vordergrund.<br />
Die Zunahme kooperativer Arbeitsformen,<br />
die Attraktivität von Anstellungsverhältnissen<br />
in der ambulanten Versorgung und ein<br />
stetig wachsender Anteil von Ärztinnen sind<br />
die Schlaglichter eines eigenen Kapitels.<br />
Kein Schreckensszenario<br />
Der dritte Teil zieht versorgungspolitische<br />
Schlussfolgerungen aus den dargestellten Zukunftsmodellen.<br />
Für die Politik wie für die KV<br />
<strong>Nordrhein</strong> selbst.<br />
Zahlen sind überzeugend, aber anonym. Bei der Bedarfsplanung<br />
geht es für die Betroffenen um reale Herausforderungen. Im<br />
vorliegenden Report bekommen sie Persöhnlichkeit: stellvertretend<br />
für die Menschen in <strong>Nordrhein</strong>.<br />
Der vorliegende Bericht entwirft kein Schreckensszenario.<br />
Er will die Aufgabe eines Frühwarnsystems<br />
erfüllen. Dabei wird auch deutlich:<br />
Manche Aussichten sind besser, als es<br />
das allgemeine Lamento über den demografischen<br />
Wandel nahelegt. Denn dieser Wandel<br />
trifft die Region <strong>Nordrhein</strong> nicht mit derselben<br />
Wucht wie andere Regionen der Bundesrepublik.<br />
<strong>Nordrhein</strong> hat somit mehr Zeit, um sich<br />
auf die Veränderungen einzustellen. Die KV<br />
<strong>Nordrhein</strong> wird diese Herausforderungen nicht<br />
im Alleingang schultern. Seit jeher sind <strong>Kassenärztliche</strong><br />
<strong>Vereinigung</strong>en und gesetzliche<br />
Krankenkassen in den Gremien der Bedarfsplanung<br />
und Zulassung paritätisch vertreten.<br />
Ab sofort nimmt der Gesetzgeber die Länder in<br />
die Pflicht. Auch die Kommunen werden ihre<br />
Anliegen im Kontext einer kleinräumigen Betrachtung<br />
selbstbewusst zum Ausdruck bringen.<br />
Die Bedarfsplanung wird dadurch nicht<br />
einfacher. Aber es besteht die Chance für einen<br />
fairen Interessenausgleich – für eine gute,<br />
bedarfsgerechte Versorgung in <strong>Nordrhein</strong>.<br />
Im Detail<br />
Die Online-Version mit vielen<br />
zusätzlichen Karten und<br />
Tabellen:<br />
http://goo.gl/zfUVY<br />
8 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
9
Versorgungsangebot<br />
Visite in der Region<br />
Dr. Arno Theilmeier<br />
Eine Suche in den Gelben Seiten signalisiert: Ärzte gibt es reichlich.<br />
Doch erst der genaue Blick hinter die Kulissen verrät, ob die Zahl der Haus- und<br />
Fachärzte wirklich ausreicht, damit die Menschen einer bestimmten Stadt oder<br />
einer Region gut versorgt sind.<br />
55 Jahre, verheiratet, zwei<br />
Töchter; Gastroenterologe in<br />
Mönchengladbach-Rheydt und<br />
Vorsitzender der KV-Kreisstelle<br />
Mönchengladbach.<br />
„Die Qualität der fachärztlichen<br />
Versorgung in der Region ist<br />
exzellent – vor allem aufgrund<br />
des persönlichen Engagements<br />
der Kollegen.“<br />
H<br />
eilen, lindern und vorbeugen – das sind<br />
wesentliche Aufgaben von Ärzten überall<br />
auf der Welt. Wie gut dieser Auftrag<br />
erfüllt wird, hängt von vielen Voraussetzungen<br />
ab. Zuallererst von der Qualität, das heißt<br />
von der Ausbildung der Mediziner, ihrem fachlichen<br />
Know-how und ihrer Erfahrung, aber<br />
auch von der Güte der Zusammenarbeit zwischen<br />
Hausärzten und Spezialisten und nicht<br />
zuletzt von der Kommunikation zwischen Arzt<br />
und Patient. Selbstverständlich entscheiden<br />
auch die verfügbaren finanziellen Ressourcen<br />
darüber, in welchem Umfang die Möglichkeiten<br />
einer modernen Diagnostik und Therapie<br />
eingesetzt werden können. Schließlich bedarf<br />
eine gute Versorgung ausreichender personeller<br />
Ressourcen. Denn von der Zahl der in<br />
einer Region tätigen Ärzte hängt es ab, wie<br />
viele Patienten je Arzt im Durchschnitt zu betreuen<br />
sind und wie viel Zeit ein Arzt sich für<br />
den einzelnen Patienten und seine Probleme<br />
nehmen kann.<br />
Wer einen Arzt braucht, findet in aller Regel<br />
wohnortnah die passenden Versorgungsstrukturen.<br />
Das bestätigt eine aktuelle Umfrage der<br />
BARMER GEK, in der 92 Prozent der Befragten<br />
angeben, mit der Anzahl und der Erreichbarkeit<br />
von Hausärzten in ihrer Umgebung zufrieden<br />
zu sein. Und doch müssen Patienten<br />
an einigen Orten – insbesondere im ländlichen<br />
Raum – für den Arztbesuch zuweilen längere<br />
Anfahrtswege in Kauf nehmen. Der Grund<br />
hierfür: Auch im Versorgungsgebiet der <strong>Kassenärztliche</strong>n<br />
<strong>Vereinigung</strong> <strong>Nordrhein</strong> sind die<br />
Haus- und Fachärzte nicht gleichmäßig über<br />
das gesamte Versorgungsgebiet verteilt. Dies<br />
illustriert ein Blick auf unsere Grafiken auf den<br />
folgenden Seiten. Sie zeigen die Verhältniszahlen<br />
von Einwohnern zu Haus- bzw. Fachärzten<br />
in den nordrheinischen Kommunen und veranschaulichen<br />
damit die Arztdichte in der Region.<br />
In der Landeshauptstadt Düsseldorf etwa<br />
mit rund 600.000 Menschen praktizieren 404<br />
Hausärzte. Das bedeutet: Ein niedergelassener<br />
Allgemeinmediziner versorgt im Durchschnitt<br />
1.485 Einwohner. Hier kann man nach unseren<br />
deutschen wie auch nach internationalen<br />
Maßstäben von einer hohen Arztdichte sprechen.<br />
Ähnlich ist die Versorgung in den Städten<br />
und Gemeinden entlang der Rheinschiene,<br />
im Raum Aachen oder im Bergischen Städtedreieck<br />
Wuppertal-Solingen-Remscheid.<br />
Insgesamt haben fast 80 Prozent aller Kommunen<br />
in <strong>Nordrhein</strong> eine hohe Versorgungsdichte<br />
von unter 2.000 Einwohnern pro<br />
Hausarzt. In einigen kleineren Gemeinden in<br />
der Grenzregion zu den Niederlanden beziehungsweise<br />
Belgien kommen rechnerisch auf<br />
einen Hausarzt über 4.000 Einwohner, über<br />
doppelt so viele wie in Düsseldorf. Besonders<br />
ausgeprägt ist der Mangel etwa in Kranenburg<br />
am Niederrhein sowie in Waldfeucht<br />
(Kreis Heinsberg) im westlichsten Zipfel der<br />
Republik. Ähnlich ist es in den Eifelgemeinden<br />
Dahlem und Roetgen. Hier erschwert die Topographie<br />
mit ihren längeren Verkehrswegen<br />
die Erreichbarkeit des nächstgelegenen Hausarztes<br />
zusätzlich.<br />
10 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
11
Versorgungsangebot<br />
Goch<br />
Kleve<br />
Je nach Wohnort<br />
müssen sich mehr<br />
oder weniger Patienten<br />
ihren Hausarzt miteinander<br />
teilen: Im günstigsten<br />
Fall wie in Nettersheim<br />
oder Bad Honnef sind es<br />
um 1.000, im ungünstigsten<br />
Fall wie in<br />
Waldfeucht oder<br />
Kranenburg über<br />
4.000 Einwohner<br />
je Hausarzt.<br />
Brüggen<br />
Niederkrüchten<br />
Würselen<br />
Aachen<br />
Emmerich<br />
Oberhausen<br />
Bedburg-<br />
Hau<br />
Weeze<br />
Kevelaer<br />
Kalkar<br />
Uedem<br />
Geldern<br />
Sonsbeck<br />
Rees<br />
Issum<br />
Viersen<br />
Xanten<br />
Düsseldorf<br />
Schwalmtal<br />
Mönchen-<br />
Gladbach<br />
Wegberg<br />
Hückelhoven<br />
Linnich<br />
Eschweiler<br />
Stolberg<br />
Monschau<br />
Erkelenz<br />
Jülich<br />
Inden<br />
Titz<br />
Düren<br />
Kreuzau<br />
Alpen<br />
Heimbach<br />
Schleiden<br />
Hellenthal<br />
Dinslaken<br />
Kamp-<br />
Lintfort<br />
Willich<br />
Nideggen<br />
Dahlem<br />
Elsdorf<br />
Merzenich<br />
Kall<br />
Hamminkeln<br />
Wesel<br />
Voerde<br />
Rheinberg<br />
Meerbusch<br />
Nörvenich<br />
Vettweiß<br />
Bergheim<br />
Kerpen<br />
Zülpich<br />
Mechernich<br />
Nettersheim<br />
Blankenheim<br />
Hünxe<br />
Duisburg<br />
Frechen<br />
Erftstadt<br />
Euskirchen<br />
Schermbeck<br />
Mülheim<br />
Ratingen<br />
Hürth<br />
Brühl<br />
Bad Münstereifel<br />
Kranenburg<br />
Rheurdt<br />
Kerken<br />
Neu-<br />
kirchen- Moers<br />
Straelen<br />
Vluyn<br />
Wachtendonk<br />
Kempen<br />
Grefrath<br />
Krefeld<br />
Nettetal<br />
Tönisvorst<br />
Heiligenhaus<br />
Essen<br />
Velbert<br />
Wülfrath<br />
Mettmann<br />
Köln<br />
Roetgen<br />
Simmerath<br />
Übach-<br />
Palenberg Baesweiler<br />
Herzo-<br />
Aldenhovegenrath<br />
Alsdorf<br />
Hürtgenwald<br />
Langerwehe<br />
Niederzier<br />
Wesseling<br />
Bonn<br />
Wuppertal<br />
Einwohner pro Hausarzt<br />
unter 1.400<br />
1.400 bis unter 1.600<br />
1.600 bis unter 1.800<br />
1.800 bis unter 2.000<br />
2.000 bis unter 2.200<br />
2.200 bis unter 5.000<br />
Engelskirchen<br />
Kaarst<br />
Erkrath Radevormwald<br />
Haan<br />
Korschenbroich<br />
Neuss<br />
Hilden<br />
Remscheid<br />
Solingen<br />
Hückeswagen<br />
Langenfeld<br />
Jüchen<br />
Leichlingen<br />
Dormagen Monheim<br />
Burscheid<br />
Wermelskirchen<br />
Wipperfürth<br />
Grevenbroich<br />
Rommerskirchen<br />
Leverkusen<br />
Marienheide<br />
Odenthal Kürten<br />
Bedburg Pulheim<br />
Lindlar Gummersbach<br />
Bornheim<br />
Weilerswist<br />
Alfter<br />
Swisttal<br />
Niederkassel<br />
Rheinbach<br />
Rösrath<br />
Much Nümbrecht<br />
Lohmar<br />
Neun-<br />
kirchen-<br />
Waldbröl<br />
Seelscheid<br />
Ruppichteroth<br />
Troisdorf<br />
Siegburg<br />
Windeck<br />
Sankt<br />
Augustin<br />
Hennef Eitorf<br />
Bergisch<br />
Gladbach<br />
Overath<br />
Königswinter<br />
Bad<br />
Honnef<br />
Bergneustadt<br />
Wiehl<br />
Meckenheim<br />
Wachtberg<br />
Hausärztliche Versorgung<br />
Im Detail<br />
Daten zu Ihrer Stadt und<br />
Region finden Sie unter:<br />
http://goo.gl/Md2Mw<br />
Waldfeucht<br />
Heinsberg<br />
Selfkant<br />
Gangelt<br />
Geilenkirchen<br />
Wassenberg<br />
Reichshof<br />
Morsbach<br />
Fachärzte stärker in den Zentren<br />
konzentriert<br />
Szenen einer Arztpraxis<br />
Bei den Fachärzten zeigt sich ein etwas anderes<br />
Bild: Erwartungsgemäß ist die Versorgungsdichte<br />
im städtischen Bereich durchweg<br />
hoch: In einem Viertel aller nordrheinischen<br />
Kommunen kommen auf einen Facharzt weniger<br />
als 1.000 Einwohner. Eine hohe Facharztdichte<br />
verzeichnen dabei insbesondere<br />
die Städte entlang der Rheinschiene (s. Grafik<br />
Seite 15). So kommen in Bonn auf einen<br />
Facharzt rechnerisch 473 Einwohner; in Köln<br />
sind es 568 und in Düsseldorf 628. Auch die<br />
Ruhrstädte sind vergleichsweise dicht versorgt.<br />
Gleichzeitig gibt es nicht wenige Gemeinden in<br />
der Region, in denen überhaupt kein Facharzt<br />
praktiziert. Das sind vor allem ländliche Kommunen<br />
mit geringer Einwohnerzahl. Hier kann<br />
eine spezialisierte Facharztpraxis naturgemäß<br />
kaum wirtschaftlich betrieben werden, da zu<br />
wenige Patienten im jeweiligen Einzugsgebiet<br />
leben. Dieser Befund lässt eine Ungleichverteilung<br />
von Facharztpraxen zu Gunsten der Kreisstädte<br />
erwarten. Tatsächlich bestätigt die Grafik<br />
diese Vermutung: Nicht selten weisen die<br />
Städte in den Landkreisen eine hohe bis sehr<br />
hohe Facharztdichte auf, die direkt angrenzenden<br />
Gemeinden hingegen eine geringe Quote.<br />
Dies ist beispielsweise der Fall in der Region<br />
um Düren und um Jülich, aber auch am Niederrhein<br />
rund um die Städte Wesel und Kleve.<br />
Im gespräch mit DR. Arno Theilmeier<br />
Es ist 12 Uhr an einem regnerischen Montag. Eigentlich<br />
Mittagszeit. Doch von Mittagspause ist in der gastroenterologischen<br />
Praxis von Dr. Arno Theilmeier nichts zu<br />
erkennen. Im Wartebereich sitzen sechs Patienten, die<br />
Arzthelferinnen dirigieren die Aufgerufenen ins richtige<br />
Sprechzimmer, halten wartende Patienten bei Laune und<br />
bedienen die permanent klingelnden Telefone. Die Praxis<br />
liegt im 2. Stock des „Medizentrums“, NRWs größtem<br />
Facharztzentrum in Mönchengladbach-Rheydt. „Das<br />
Zentrum mit Ärzten aller Fachrichtungen habe ich 2006 mit<br />
initiiert und entwickelt – es entspricht einem ambulanten<br />
Erwartungsgemäß findet die spezialärztliche<br />
Versorgung der Menschen aus Kleinstädten<br />
und ländlichen Räumen in den größeren Städten<br />
einer Region statt. Umso interessanter ist<br />
aus Sicht der Versorgungsplanung, wie dieser<br />
Umstand von den davon betroffenen Patienten<br />
wahrgenommen und beurteilt wird. Die<br />
bereits erwähnte Umfrage der BARMER GEK<br />
zeigt, dass auch beträchtliche Distanzen zum<br />
Spezialisten von den Versicherten als durchaus<br />
normal und akzeptabel eingeschätzt werden.<br />
Danach beurteilen 85 Prozent der Befragten<br />
die Anzahl und die Erreichbarkeit der Fachärzte<br />
als zufriedenstellend. Besonders auffallend:<br />
Selbst 80 Prozent der Patienten mit chronischen<br />
Erkrankungen, die in ländlichen Gebieten<br />
wohnen, bewerten die Fahrtzeiten zum<br />
Spezialisten als akzeptabel.<br />
Regionaler Bedarf entscheidend<br />
Die subjektive Zufriedenheit der Patienten<br />
hängt also nicht allein von der Entfernung<br />
der Praxis zum Wohnort ab. Möglicherweise<br />
bietet eine Konzentration mehrerer Fachärzte<br />
an einem Ort auch Vorteile für Patienten.<br />
Ein Beispiel dafür ist die Praxis von Dr. Arno<br />
Theilmeier, einem von vier Spezialisten für<br />
Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts in<br />
Mönchengladbach (s. Infobox). Eine der zentralen<br />
Aufgaben der <strong>Kassenärztliche</strong>n <strong>Vereinigung</strong>en<br />
ist es, eine flächendeckende – das<br />
Krankenhaus“, erzählt Dr. Arno Theilmeier, seit 1992<br />
niedergelassener Gastroenterologe. „Ich arbeite in der<br />
Regel von morgens Viertel vor sieben bis abends um halb<br />
sieben und nehme meinen Versorgungsauftrag sehr ernst“,<br />
betont der 55-Jährige. Bis zu 1.200 Fälle behandelt er pro<br />
Quartal, eine Work-Life-Balance kennt er nicht. Zudem<br />
hat Theilmeier zahlreiche Ämter inne, unter anderem den<br />
Vorsitz der KV-Kreisstelle Mönchengladbach. Und dies, wie<br />
er klarstellt, bestimmt nicht aus purer Langeweile, sondern<br />
vielmehr aus beruflichem Engagement – gerade auch für<br />
das Wohl seiner Patienten.<br />
12 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
13
Versorgungsangebot<br />
„Die Kliniken drängen auf den ambulanten Markt“, beschreibt<br />
Theilmeier seine Situation und die seiner drei Kollegen,<br />
die Praxen mit gleicher Fachrichtung in Mönchengladbach<br />
betreiben, und ergänzt: „Im Durchschnitt beträgt<br />
die Wartezeit auf einen Termin bei mir nur eine Woche,<br />
im Wartebereich bleibt niemand lange sitzen. „Allerdings<br />
arbeite ich 50 Prozent meiner Zeit umsonst, da etliche<br />
meiner Kassenleistungen nicht adäquat vergütet werden“,<br />
bedauert der Mediziner. Das, so Theilmeier, sei auch ein<br />
Grund, warum sich immer weniger junge Kollegen für einen<br />
Praxissitz entscheiden: „Unter diesen Bedingungen wird der<br />
momentan qualitativ und quantitativ hochwertige Versorgungsstandard<br />
in Zukunft so nicht zu halten sein.“<br />
Theilmeiers Einzugsgebiet ist groß – zur Darmspiegelung,<br />
seinem Spezialgebiet, aber auch zu anderen Diagnose- und<br />
Behandlungsmethoden kommen Patienten etwa aus Pulheim<br />
bei Köln oder aus den Niederlanden. Insgesamt 350<br />
zuweisende Ärzte versorgen ihn mit Patienten.<br />
Gemeinsam stark:<br />
Kooperation auf dem<br />
Vormarsch<br />
Patienten, die von mehreren<br />
Fachärzten behandelt<br />
werden müssen, können<br />
weitere Termine gleich an<br />
Ort und Stelle im Medizentrum<br />
wahrnehmen. Die<br />
Spezialisten dort tauschen<br />
sich aus. „Der Kardiologe<br />
im Haus teilt mir beispielsweise<br />
mit, dass einer seiner Patienten hohe Leberwerte<br />
aufweist, er informiert dessen Hausarzt und schickt ihn zu<br />
mir in die Praxis“, so beschreibt Theilmeier die gute Kooperation<br />
unter den Fachärzten und fügt noch hinzu: „Für die<br />
Patienten und die Qualität der medizinischen Versorgung<br />
zahlt sich das Zentrum auf alle Fälle aus.“<br />
heißt möglichst wohnortnahe – ambulante<br />
Versorgung der Versicherten zu gewährleisten.<br />
Dreh- und Angelpunkt für eine am regionalen<br />
Bedarf orientierte Versorgung ist die sogenannte<br />
Bedarfsplanung. Der Gesetzgeber hat<br />
die Zuständigkeit für die Bedarfsplanung auf<br />
die Ärzteschaft und die Krankenkassen gemeinsam<br />
übertragen. Die Ausgestaltung der<br />
Bedarfsplanung wird durch den Gemeinsamen<br />
Bundesausschuss (G-BA) in einer Richtlinie<br />
bundesweit geregelt. Die „Bedarfsplanungs-<br />
Richtlinie“ gibt vor, wie viele Vertragsärzte<br />
einer Fachgruppe bzw. Psychotherapeuten<br />
sich pro Region niederlassen können. Sobald<br />
der vorgegebene Sollwert um zehn Prozent<br />
überschritten ist, können keine weiteren Zulassungen<br />
vergeben werden. Lediglich Übernahmen<br />
bereits bestehender Arztsitze sind<br />
dann noch zulässig, aber auch diese Möglichkeit<br />
können die „Zulassungsausschüsse“<br />
künftig einschränken. Auf Veranlassung des<br />
Gesetzgebers ist zum Jahresbeginn <strong>2013</strong> eine<br />
Neufassung der Richtlinie in Kraft getreten.<br />
Die alte Richtlinie war bereits in den 1990er<br />
Jahren verabschiedet worden, um die Zahl der<br />
niedergelassenen Ärzte insgesamt zu begrenzen.<br />
Damals war ein Mangel in den strukturschwächeren<br />
Regionen noch nicht abzusehen,<br />
man sprach von einer „Ärzteschwemme“ und<br />
befürchtete explodierende Kosten. Die Steuerung<br />
auf der Ebene der Kreise und kreisfreien<br />
Städte erschien ausreichend. Es wäre nach alter<br />
Rechtslage theoretisch möglich gewesen,<br />
dass sämtliche Hausärzte eines Kreises sich<br />
an einem Ort niederlassen und das Umland<br />
leer ausgeht. Dies hat sich nun geändert. Die<br />
neue Richtlinie legt bei den Hausärzten neue<br />
Verhältniszahlen und eine kleinräumigere Betrachtungsweise<br />
fest. Statt in 27 nordrheinischen<br />
Kreisen und kreisfreien Städten wird<br />
die hausärztliche Versorgung nunmehr in 94<br />
„Mittelbereichen“ geplant.<br />
Auf dieser Grundlage könnte die <strong>Kassenärztliche</strong><br />
<strong>Vereinigung</strong> <strong>Nordrhein</strong> künftig mehr als<br />
200 neue Hausarztsitze besetzen, die meisten<br />
davon in den Gemeinden jenseits der Großoder<br />
der Kreisstädte. Doch mit der Änderung<br />
der Richtlinie allein ist noch kein einziger<br />
Hausarzt für die <strong>Kassenärztliche</strong> <strong>Vereinigung</strong><br />
der Region <strong>Nordrhein</strong> gewonnen. Es sind weitere<br />
Anreize nötig, um die offenen „Sitze“ mit<br />
der entsprechenden Anzahl an Hausärzten zu<br />
besetzen.<br />
Goch<br />
Die Fachärzte konzentrieren<br />
sich in den<br />
Großstädten und Zentren<br />
der Landkreise. Im<br />
Umfeld dieser Zentren<br />
ist die Arztdichte am<br />
niedrigsten.<br />
Kleve<br />
Brüggen<br />
Würselen<br />
Aachen<br />
Emmerich<br />
Oberhausen<br />
Bedburg-<br />
Hau<br />
Weeze<br />
Kevelaer<br />
Straelen<br />
Kalkar<br />
Uedem<br />
Geldern<br />
Rees<br />
Issum<br />
Wegberg<br />
Wesseling<br />
Geilenkirchen<br />
Hückelhoven<br />
Linnich<br />
Eschweiler<br />
Stolberg<br />
Monschau<br />
Sonsbeck<br />
Viersen<br />
Düsseldorf<br />
Mönchen-<br />
Gladbach<br />
Erkelenz<br />
Alpen<br />
Willich<br />
Jüchen<br />
Dinslaken<br />
Kamp-<br />
Lintfort<br />
Rheurdt<br />
Kerken<br />
Neu-<br />
kirchen-<br />
Vluyn<br />
Jülich<br />
Inden<br />
Titz<br />
Xanten<br />
Düren<br />
Kreuzau<br />
Heimbach<br />
Schleiden<br />
Hellenthal<br />
Nideggen<br />
Dahlem<br />
Krefeld<br />
Kaarst<br />
Bedburg<br />
Hamminkeln<br />
Wesel<br />
Elsdorf<br />
Merzenich<br />
Kall<br />
Voerde<br />
Rheinberg<br />
Moers<br />
Nörvenich<br />
Vettweiß<br />
Neuss<br />
Grevenbroich<br />
Korschenbroich<br />
Meerbusch<br />
Rommerskirchen<br />
Bergheim<br />
Kerpen<br />
Zülpich<br />
Mechernich<br />
Nettersheim<br />
Blankenheim<br />
Hünxe<br />
Niederkrüchten<br />
Schwalmtal<br />
Duisburg<br />
Morsbach<br />
Schermbeck<br />
Mülheim<br />
Ratingen<br />
Erkrath<br />
Haan<br />
Hilden<br />
Essen<br />
Velbert<br />
Dormagen<br />
Langenfeld<br />
Monheim<br />
Leichlingen<br />
Burscheid<br />
Wülfrath<br />
Mettmann<br />
Solingen<br />
Kranenburg<br />
Wachtendonk<br />
Kempen<br />
Grefrath<br />
Nettetal<br />
Tönisvorst<br />
Heiligenhaus<br />
Pulheim<br />
Frechen<br />
Erftstadt<br />
Euskirchen<br />
Hürth<br />
Brühl<br />
Weilerswist<br />
Bad Münstereifel<br />
Köln<br />
Leverkusen<br />
Roetgen<br />
Simmerath<br />
Übach-<br />
Palenberg Baesweiler<br />
Herzo-<br />
Aldenhovegenrath<br />
Alsdorf<br />
Hürtgenwald<br />
Langerwehe<br />
Niederzier<br />
Bornheim<br />
Swisttal<br />
Niederkassel<br />
Rheinbach<br />
Alfter<br />
Neun-<br />
kirchen-<br />
Seelscheid<br />
Ruppichteroth<br />
Bonn<br />
Wuppertal<br />
Odenthal<br />
Remscheid<br />
Bergisch<br />
Gladbach<br />
Rösrath<br />
Kürten<br />
Lohmar<br />
Troisdorf<br />
Siegburg<br />
Wachtberg<br />
Sankt<br />
Augustin<br />
Fachärztliche Versorgung<br />
Overath<br />
Bad<br />
Honnef<br />
Hennef<br />
Königswinter<br />
Einwohner pro Facharzt<br />
Wipperfürth<br />
Lindlar<br />
Much<br />
Gummersbach<br />
Hückeswagen<br />
Radevormwald<br />
Wermelskirchen<br />
Meckenheim<br />
Unter 1.000<br />
1.000 bis unter 1.500<br />
1.500 bis unter 2.000<br />
2.000 bis unter 2.500<br />
2.500 bis unter 3.000<br />
3.000 bis unter 3.500<br />
Eitorf<br />
3.500 und mehr<br />
Marienheide<br />
Bergneustadt<br />
Engelskirchen<br />
Wiehl<br />
Nümbrecht<br />
Waldbröl<br />
Windeck<br />
Waldfeucht<br />
Heinsberg<br />
Selfkant<br />
Gangelt<br />
Wassenberg<br />
Reichshof<br />
Morsbach<br />
Im Detail<br />
Daten zu den einzelnen Fachgruppen<br />
finden Sie unter:<br />
http://goo.gl/Md2Mw<br />
14 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
15
Behandlungsbedarf<br />
Flächen decken, Lücken schließen<br />
Planung mit Augenmaß bedeutet zunächst: Den Bedarf erkennen. Nach der<br />
Erkenntnis folgt konkretes Handeln. Wo abzusehen ist, dass in naher Zukunft<br />
Unterversorgung droht, heißt es für die <strong>Kassenärztliche</strong> <strong>Vereinigung</strong> <strong>Nordrhein</strong> im<br />
übertragenen Sinne: intervenieren, therapieren und vielleicht sogar „operieren“.<br />
Damit die Versorgung der Patienten nirgends zu kurz kommt.<br />
Tetyana Khalakhan<br />
32 Jahre, Angestellte und Mutter<br />
der vierjährigen Anna Maria aus<br />
Düsseldorf.<br />
„Mit einem Kleinkind sucht man<br />
öfters einen Arzt auf. Symptome<br />
treten zudem häufig sehr plötzlich<br />
auf. Deshalb darf der Weg dorthin<br />
nicht allzu weit sein. Ich habe<br />
Glück: In meinem Stadtteil praktizieren<br />
sowohl ein Kinderarzt als<br />
auch ein Gynäkologe und mehrere<br />
Hausärzte – für mich ein Grund,<br />
in der Großstadt zu leben.“<br />
W<br />
er krank ist, der geht zum Arzt. Das<br />
erscheint den meisten Menschen in<br />
Deutschland als selbstverständlich<br />
– egal, ob bei Schnupfen, Übelkeit oder sonstigen<br />
Symptomen. Die ambulante ärztliche<br />
Versorgung bewegt sich auf hohem Niveau.<br />
Wie Umfragen immer wieder zeigen, sind die<br />
Deutschen mit der Versorgung durch die niedergelassenen<br />
Haus- und Fachärzte rundum<br />
zufrieden: Über 90 Prozent aller Befragten<br />
bezeichnen das Vertrauensverhältnis zu ihrem<br />
Arzt als gut oder sehr gut. Seine fachlichen<br />
Fähigkeiten beurteilen ebenfalls über 90 Prozent<br />
der Befragten positiv (KBV Versichertenbefragung).<br />
Arztbedarf =<br />
Alter + Geschlecht + Krankheitslast<br />
Verlässlich zu kalkulieren, wie viele Haus- und<br />
Fachärzte in einem Gebiet tatsächlich benötigt<br />
werden, ist eine höchst anspruchsvolle<br />
Planungsaufgabe. Bis zum Jahr 2012 wurde<br />
dieser Bedarf ausschließlich auf Basis der<br />
Einwohnerzahl des jeweiligen Planungsbereichs<br />
(damals: Kreise und kreisfreie Städte)<br />
festgelegt. Die pure Einwohnerzahl spiegelt<br />
aber den damit verbundenen tatsächlichen<br />
medizinischen Aufwand nur bedingt wider.<br />
So liegt es nahe, dass ältere Menschen einen<br />
deutlich höheren medizinischen Versorgungsbedarf<br />
haben als jüngere, vor allem durch<br />
altersbedingte Leiden wie Herz-Kreislauf-<br />
Erkrankungen oder Arthrose. Neben dem Alter<br />
spielt auch der Anteil chronisch Kranker<br />
eine entscheidende Rolle. Denn Patienten mit<br />
chronischen Erkrankungen wie etwa Diabetes<br />
oder Bluthochdruck haben eine höhere<br />
Krankheitslast (Morbidität) als der Bevölkerungsdurchschnitt<br />
– und damit verbunden<br />
auch einen erhöhten Bedarf an ambulanter<br />
medizinischer Versorgung. Wie sich der regionale<br />
Bedarf unter Einbeziehung von aktuellen<br />
Morbiditätsdaten für die gesamte Region<br />
<strong>Nordrhein</strong> darstellt, zeigt die nachfolgende<br />
Karte (s. Grafik Seite 19).<br />
Für diese Darstellung wurden alle Einwohner<br />
<strong>Nordrhein</strong>s, die gesetzlich versichert sind,<br />
16 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
17
Behandlungsbedarf<br />
zunächst nach den Kriterien Geschlecht,<br />
Alter und Morbidität auf insgesamt 32 Gruppen<br />
verteilt.<br />
• Zwei Geschlechtsgruppen: männlich oder<br />
weiblich<br />
• Vier Altersgruppen: 0–4 Jahre; 5–53 Jahre;<br />
54–73 Jahre und 74 Jahre und älter<br />
• Vier Morbiditätskategorien: sehr geringe,<br />
geringe bis mittlere, mittlere bis hohe und<br />
sehr hohe Krankheitslast des Patienten<br />
Mittels Geschlecht, Alter und Morbidität eines<br />
Patienten errechnet sich ein statistischer<br />
Wert, der sogenannte Relative Risikoscore<br />
(RRS). Dieser gibt den Versorgungsbedarf eines<br />
Patienten im Verhältnis zum Durchschnitt<br />
aller gesetzlich Versicherten (RRS = 1) wieder.<br />
Ein 64-jähriger Mann beispielsweise, der<br />
an Prostatakrebs und Leberzirrhose erkrankt<br />
ist, könnte einen RRS von 2 aufweisen, also<br />
doppelt so viel Versorgung benötigen wie der<br />
Durchschnitt aller acht Millionen gesetzlich<br />
Versicherten <strong>Nordrhein</strong>s. Eine 20-jährige gesunde<br />
Frau hingegen weist mit einem RRS<br />
von beispielsweise 0,6 einen deutlich geringeren<br />
Bedarf auf als der Durchschnitt.<br />
Der Risikoscore wurde vom Zentralinstitut<br />
für die kassenärztliche Versorgung (ZI) auf<br />
der Basis ambulanter Abrechnungsdaten auf<br />
die regionale Bevölkerung hochgerechnet. In<br />
der Darstellung werden Unterschiede zwischen<br />
den Regionen als Abweichung vom<br />
nordrheinischen Durchschnitt sichtbar.<br />
In <strong>Nordrhein</strong> sind die regionalen Unterschiede<br />
beim hausärztlichen Behandlungsbedarf<br />
der Bevölkerung im Vergleich zu anderen<br />
Bundesländern relativ gering. Der Oberbergische<br />
Kreis liegt mit seiner Krankheitslast<br />
im gesamtdeutschen Maßstab sechs Prozent<br />
unter dem Durchschnitt, Düren sieben Prozent<br />
darüber – also insgesamt eine Spannweite<br />
von 13 Prozent. Deutschlandweit beträgt<br />
diese Spannweite zwischen niedrigster<br />
und höchster Krankheitslast dagegen 35 Prozent.<br />
Zudem weisen in <strong>Nordrhein</strong> nur wenige<br />
Kreise auffallend hohe Werte mit Blick auf<br />
den ambulanten Behandlungsbedarf auf.<br />
Die gemessene Ungleichheit sagt allerdings<br />
nichts über die Höhe des gesamten Behandlungsbedarfs<br />
aus. Hier liegt <strong>Nordrhein</strong> im<br />
Bundesdurchschnitt.<br />
Trotz aller Vorsicht, die bei der Interpretation<br />
der Daten geboten ist, kann die Gegenüberstellung<br />
von Arztzahlen und RRS als eine Art<br />
Frühwarnsystem betrachtet werden: Kreise<br />
und Städte mit niedriger Arztdichte und hohem<br />
RRS könnten trotz ausreichender Arztzahl<br />
– gemessen an den formalen Vorgaben<br />
der Bedarfsplanung – schon bald Probleme<br />
bei der wohnortnahen Versorgung durch<br />
Hausärzte bekommen.<br />
Eine dieser Regionen ist der Kreis Heinsberg.<br />
Drei Prozent Morbiditätsüberhang auf der einen<br />
und sechs Prozent „Rückstand“ bei der<br />
Arztdichte auf der anderen Seite sind ein Anlass,<br />
diese Region näher zu betrachten.<br />
Der Reiz der Rheinmetropolen<br />
In einigen Kreisen im Landesteil <strong>Nordrhein</strong><br />
ist die Arztdichte deutlich überdurchschnittlich.<br />
In anderen Kreisen – wie Heinsberg –<br />
liegt sie deutlich unter dem Durchschnitt.<br />
Die Gründe liegen auch in der Attraktivität<br />
der Standorte. Daten hierzu liefert der Niederlassungsindex<br />
des ZI (s. Tabelle Seite 20).<br />
Umfragen unter jungen Medizinern identifizierten<br />
vier Faktoren, die bei der individuellen<br />
Niederlassungsentscheidung vorrangig<br />
sind: die Lebensbedingungen für die Familie,<br />
Möglichkeiten des fachlichen Austauschs mit<br />
Kollegen, die finanziellen Möglichkeiten sowie<br />
schließlich die Lebensqualität des Ortes.<br />
Forscher vom ZI prüften anhand von Infrastrukturdaten,<br />
wie viele und in welchem Ausmaß<br />
diese Faktoren in der jeweiligen Region<br />
tatsächlich gegeben sind und inwieweit sich<br />
hierüber die Arztdichte erklären lässt. Abgebildet<br />
wird im Niederlassungsindex also die<br />
tatsächliche Infrastruktur der Städte und<br />
Kreise, nicht jedoch persönliche Einschätzungen<br />
etwa auf der Basis von Befragungen.<br />
Bei den Lebensbedingungen für die Familie<br />
sind dies der Anteil weiblicher Beschäftigter<br />
und männlicher Teilzeitbeschäftigter sowie<br />
der Anteil von Schülern an Gymnasien. Beim<br />
Faktor Austausch mit Kollegen sind dies die<br />
Krankenhausdichte und die Erreichbarkeit<br />
von Mittelzentren. Den Faktor finanzielle<br />
Möglichkeiten bildet das Bruttoinlandsprodukt<br />
pro Einwohner ab und die Lebensqualität<br />
ist durch Kennzahlen zu Erholungsflächen<br />
und Stadtlage repräsentiert.<br />
Ein Fazit ist dabei wenig überraschend:<br />
Metropolen, in denen angehende Ärzte ihr<br />
Die Karte zieht Vergleiche<br />
zwischen den Städten und<br />
Kreisen. Die unterdurchschnittliche<br />
Hausarztdichte<br />
im Ruhrgebiet ist auch den<br />
rechtlichen Vorgaben der bisherigen<br />
Planung geschuldet.<br />
Beim Behandlungsbedarf<br />
sind die Unterschiede<br />
(noch) nicht so groß.<br />
(Stand: 2010)<br />
-6 %<br />
-7 % -4 %<br />
3 %<br />
Heinsberg<br />
5 %<br />
Kleve<br />
-5 % 1 %<br />
1 %<br />
Städteregion<br />
Aachen<br />
Viersen<br />
12 %<br />
-16 % 0 %<br />
Duisburg<br />
-12 % 0 %<br />
1 %<br />
2 %<br />
14 %<br />
Düren<br />
Wesel<br />
-1 %<br />
Krefeld<br />
7 %<br />
-6 %<br />
Oberhausen<br />
-16 % 0 %<br />
-8 %<br />
10 %<br />
3 %<br />
Rhein-Kreis<br />
Neuss<br />
-6 % -1 %<br />
1 % -1 %<br />
Euskirchen<br />
Hausärzte: Arztdichte und behandlungsbedarf, 2010<br />
Rhein-Erft-<br />
Kreis<br />
Mülheim<br />
5 %<br />
4 %<br />
Düsseldorf<br />
Abweichung vom nordrheinischen Durchschnitt in %<br />
Hausärzte pro Einwohner<br />
relativer Risikoscore (RRS)<br />
13 %<br />
-4 % 2 %<br />
-3 %<br />
Essen<br />
3 % -1 %<br />
-4 %<br />
4 %<br />
Mettmann<br />
Solingen<br />
12 %<br />
Köln<br />
-1 %<br />
Leverkusen<br />
14 %<br />
Bonn<br />
2 % -1 %<br />
13 %<br />
-4 %<br />
-4 %<br />
Remscheid<br />
-5 % -2 %<br />
Wuppertal<br />
Rheinisch-<br />
Bergischer Kreis<br />
-5 % -6 %<br />
Oberbergischer<br />
Kreis<br />
-4 % -3 %<br />
Mönchengladbach<br />
Rhein-Sieg-<br />
Kreis<br />
Im Detail<br />
Alles zum Relativen Risikoscore<br />
finden Sie unter:<br />
http://goo.gl/rmNLq<br />
18 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
19
Behandlungsbedarf<br />
Bonn oder Heinsberg?<br />
Die Niederlassungswahrscheinlichkeit<br />
belegt: Der Kampf<br />
der Kommunen um<br />
Mediziner ist bereits<br />
vorprogrammiert.<br />
Für die Kommunalpolitik<br />
wichtig: Es<br />
gilt die Attraktivität<br />
der „unbeliebten“<br />
Gemeinden zu<br />
verbessern.<br />
Medizinstudium absolvieren, üben offensichtlich<br />
eine hohe Anziehungskraft auf junge<br />
Ärzte aus, wenn sie eine Praxis gründen<br />
wollen. Sicherlich spielt dabei die Tatsache<br />
eine Rolle, dass viele Absolventen nach ihrem<br />
Studium in ihrer Universitätsstadt bleiben<br />
möchten, weil sie sich dort heimisch<br />
fühlen und bereits sozial verwurzelt sind.<br />
Bonn rangiert auf Platz eins der attraktiven<br />
Wunschstandorte für eine Niederlassung, gefolgt<br />
von Aachen, Düsseldorf und Köln. Allgemein<br />
– auch dies wenig überraschend – üben<br />
die größeren Städte deutlich mehr Reiz auf<br />
angehende Praxisgründer aus als ländliche<br />
Regionen. Laut Niederlassungsindex meiden<br />
Ärzte vor allem den Rheinisch-Bergischen<br />
Wohin strebt der nachwuchs?<br />
INDEX Niederlassungswahrscheinlichkeit<br />
Rang Kreis<br />
1 Bonn<br />
2 Aachen, Stadt<br />
3 Düsseldorf<br />
4 Köln<br />
5 Essen<br />
6 Krefeld<br />
7 Duisburg<br />
8 Wuppertal<br />
9 Leverkusen<br />
10 Mönchengladbach<br />
11 Oberhausen<br />
12 Mülheim an der Ruhr<br />
13 Solingen<br />
14 Remscheid<br />
15 Rhein-Kreis Neuss<br />
16 Mettmann<br />
17 Düren<br />
18 Rhein-Erft-Kreis<br />
19 Aachen, Land<br />
20 Oberbergischer Kreis<br />
21 Wesel<br />
22 Rhein-Sieg-Kreis<br />
23 Viersen<br />
24 Euskirchen<br />
25 Kleve<br />
26 Rheinisch-Bergischer Kreis<br />
27 Heinsberg<br />
Kreis sowie den Kreis Heinsberg. Diese beiden<br />
Standorte bilden die Schlusslichter der<br />
Attraktivitätsskala im Versorgungsgebiet der<br />
<strong>Kassenärztliche</strong>n <strong>Vereinigung</strong> <strong>Nordrhein</strong>. Allerdings<br />
liegen selbst diese beiden Kreise im<br />
bundesdeutschen Vergleich noch immer im<br />
Mittelfeld.<br />
Eine statistische Überprüfung des ZI-Modells<br />
ergab, dass 87 Prozent der tatsächlichen<br />
Unterschiede in der Arztdichte durch das<br />
Vorhandensein oder Fehlen der gemessenen<br />
Standortfaktoren erklärbar sind. Da aber kein<br />
statistisches Modell eine hundertprozentige<br />
„Trefferquote“ erreicht, weichen auch<br />
beim Niederlassungsindex einige Kreise vom<br />
errechneten Niveau ab. So ist zum Beispiel<br />
der Rheinisch-Bergische Kreis tatsächlich<br />
attraktiver als vorhergesagt, denn es haben<br />
sich dort mehr Ärzte niedergelassen, als die<br />
Infrastruktur auf den ersten Blick erwarten<br />
lässt. Umgekehrt sind Duisburg, Oberhausen<br />
und der Kreis Kleve entgegen ihrer statistischen<br />
Standortprofile weniger attraktiv als<br />
Standort für eine Arztpraxis.<br />
Wie gelingt der Ausgleich?<br />
Vor dem Hintergrund der vorgestellten Daten<br />
stellt sich die Frage, wie sich die Attraktivität<br />
der weniger beliebten Standorte verbessern<br />
ließe, um dort mehr Ärzte für eine Niederlassung<br />
zu gewinnen. Zur Anziehungskraft der<br />
als „attraktiv“ identifizierten Standorte tragen<br />
sowohl eine gute soziale und wirtschaftliche<br />
Infrastruktur sowie das Kultur- und Freizeitangebot<br />
der Kommunen bei.<br />
Negativ ins Gewicht fallen in den meisten<br />
ländlichen Regionen nicht nur die im Niederlassungsindex<br />
abgebildeten Kriterien.<br />
Hinzu kommen weitere „Defizite“: etwa die<br />
vielen dort zu erwartenden Notdienste, lange<br />
Anfahrtswege bei Hausbesuchen sowie<br />
fehlende Einkaufs- oder Freizeitmöglichkeiten.<br />
Insbesondere für niederlassungswillige<br />
Familienväter und -mütter ist nicht so sehr<br />
das kulturelle Angebot, sondern die Qualität<br />
und Verfügbarkeit der Kinderbetreuung und<br />
Schulen vor Ort wichtig für die Wahl des<br />
Praxis standortes.<br />
Es liegt auf der Hand, dass in den meisten<br />
dieser Kategorien die „unattraktiven“ Kreise<br />
und Kommunen ihren Standortnachteil nur<br />
schwer oder überhaupt nicht aus gleichen<br />
können.<br />
Im Gespräch mit Tetyana Khalakhan<br />
Großstadtfieber<br />
Doch es gibt auch Lichtblicke: Einer im nordrhein-westfälischen<br />
Maßstab kleineren Stadt<br />
wie Dormagen gelang es, sich in den letzten<br />
Jahren in gleich mehrfacher Hinsicht vorbildlich<br />
aufzustellen und zu entwickeln: Neben<br />
einem hervorragenden Kita-Angebot hat die<br />
Stadt in den vergangenen Jahren zahlreiche<br />
Tagesmütter ausgebildet, die Babys und<br />
Kleinkinder unter drei Jahren betreuen. Dieses<br />
Beispiel zeigt: Neben den Initiativen der<br />
KV <strong>Nordrhein</strong> für eine zukunftsorientierte,<br />
Nicht nur bei Ärzten, auch bei Familien stehen Metropolen<br />
hoch im Kurs. Eine Mutter verrät, warum sie gerne und gut<br />
in Düsseldorf lebt.<br />
Sie haben eine vierjährige Tochter. Warum ziehen Sie<br />
nicht aufs Land?<br />
In meinem Stadtteil finde ich alle Annehmlichkeiten –<br />
Supermarkt, Apotheke, Kindergarten, Haus- und Kinderarzt<br />
– nur wenige Fußminuten entfernt. Diesen Komfort möchte<br />
ich nicht missen. Freunde, die ländlicher leben, müssen<br />
für jeden Einkauf und jeden Arztbesuch ins Auto steigen.<br />
Wie wichtig ist Ihnen die Nähe zum Kinderarzt?<br />
Die gute Infrastruktur für Familien spielte bei unserer<br />
Wohnortwahl eine entscheidende Rolle. Als berufstätige<br />
Mutter brauche ich kurze Wege zur Kita und zum Arzt, den<br />
man mit Kindern eben öfters aufsuchen muss, ansonsten<br />
ist der Alltag schwerer zu organisieren. In kleineren Orten<br />
praktiziert meist gar kein Kinderarzt. Auch aus diesem<br />
Grund kam das Landleben für uns nicht in Frage.<br />
Was macht eine gute medizinische Versorgung aus?<br />
Wichtig für mich als Mutter sind kurze Wartezeiten. Wenn<br />
meine Tochter plötzlich Fieber bekommt, kann ich spontan<br />
in die Sprechstunde gehen – und bin dann auch immer<br />
schnell an der Reihe.<br />
nachhaltige Bedarfsplanung, etwa durch die<br />
Unterstützung angehender Landärzte, können<br />
die Kommunen und Kreise selbst einiges für<br />
ihr Image und ihre Beliebtheit unter Ärzten<br />
und Psychotherapeuten beitragen, die einen<br />
freien Arztsitz suchen oder eine Praxis neu<br />
gründen oder einer kooperativen Praxisform<br />
beitreten möchten.<br />
20 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
21
Mitversorgungsbeziehungen<br />
Jederzeit erreichbar –<br />
auch über Grenzen hinweg<br />
Ein zentrales Gütekriterium für ein Gesundheitssystem ist dessen Zugänglichkeit.<br />
Finanzielle, rechtliche und auch räumliche Barrieren können den Arztbesuch<br />
erschweren oder sogar verhindern. Deutschland zeichnet sich durch einen<br />
besonders leichten Zugang zur ambulanten medizinischen Versorgung aus.<br />
Wenn kein Arzt vor Ort tätig ist, übernehmen die Kollegen in anderen Gemeinden<br />
die Mitversorgung. Nicht immer gehen die Patienten dabei den kürzesten Weg.<br />
Peter-Olaf hoffmann<br />
Bürgermeister in Dormagen.<br />
Der seit 2009 amtierende<br />
Bürgermeister von Dormagen<br />
im Rhein-Kreis Neuss, Regierungsbezirk<br />
Düsseldorf, ist für<br />
über 60.000 Menschen politisch<br />
verantwortlich.<br />
„Ich halte unsere Stadt für so<br />
attraktiv, dass wir unsere gute<br />
Infrastruktur auch in Zukunft<br />
erhalten können.“<br />
Die Zugänglichkeit von medizinischer<br />
Versorgung hängt von mehreren Faktoren<br />
ab. Die Arztdichte ist sicherlich<br />
die wichtigste Kennzahl, denn sie zeigt an,<br />
wie viele Ärzte überhaupt in einer Region zur<br />
Verfügung stehen. In Deutschland werden gegenwärtig<br />
100.000 Einwohner von rund 370<br />
Ärzten versorgt – etwa so viele wie in Schweden<br />
oder der Schweiz.<br />
Verglichen mit den anderen Industrieländern<br />
der OECD rangiert Deutschland bei der Arztdichte<br />
im oberen Viertel. Damit medizinische<br />
Leistungen tatsächlich ohne größere Hürden<br />
in Anspruch genommen werden können,<br />
müssen aber noch weitere Bedingungen erfüllt<br />
sein.<br />
Auch zeitliche Beschränkungen beeinträchtigen<br />
den Zugang zu medizinischen Leistungen<br />
kaum: Die Basisversorgung ist rund um die<br />
Uhr gewährleistet. Im ärztlichen Notdienst<br />
werden Patienten mit akuten Beschwerden<br />
auch abends und am Wochenende behandelt.<br />
Das Gleiche gilt für Hausbesuche.<br />
Finanzielle und rechtliche Barrieren spielen in<br />
Deutschland glücklicherweise so gut wie keine<br />
Rolle für die Bürger, denn unser Gesundheitswesen<br />
garantiert einen umfassenden<br />
Leistungskatalog für alle Versicherten sowie<br />
die freie Arztwahl. Mit dem Wegfall der Praxisgebühr<br />
haben sich die im internationalen<br />
Vergleich ohnehin niedrigen Zuzahlungen<br />
weiter verringert.<br />
Misst man die Erreichbarkeit allerdings anhand<br />
der Entfernung zu Haus- und Facharztpraxen,<br />
liegt es auf der Hand, dass Patienten<br />
in strukturschwachen Gebieten weitere Wege<br />
zurücklegen müssen als Einwohner von Großstädten.<br />
In der Wissenschaft gibt es jedoch<br />
keine Richtwerte oder Übereinkünfte darüber,<br />
ab welchem Aufwand von einem gravierenden<br />
Mangel in der Versorgung auszugehen ist.<br />
90 Prozent der Westdeutschen erreichen<br />
ihren Hausarzt innerhalb von 15 Minuten<br />
Die Barmer GEK und die Bertelsmann Stiftung<br />
fragten die Bürger im Gesundheitsmonitor<br />
2012 nach subjektiv empfundenen<br />
Barrieren für die Erreichbarkeit von Fachärzten.<br />
Eine Frage war, ob die Befragten wegen<br />
eingeschränkter Möglichkeiten, die Praxis zu<br />
erreichen, schon einmal bewusst auf einen<br />
Facharzttermin verzichtet hatten. Dies kam in<br />
durchschnittlich 16,2 Prozent der Fälle schon<br />
einmal vor.<br />
Jedoch unterschieden sich die Antworten<br />
nicht nach den Regionstypen Stadt und Land.<br />
Es zeigt sich immer wieder, dass für die Wege-<br />
22 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
23
Mitversorgungsbeziehungen<br />
Methodik<br />
Gute Beziehungen ...<br />
zeit zu Haus- und Fachärzten nicht allein die<br />
Entfernung vom Wohnort entscheidend ist,<br />
sondern auch die Topographie – der Rhein bildet<br />
hier oft eine natürliche Grenze – und vor<br />
allem die Qualität der Verkehrs-Infrastruktur.<br />
Laut <strong>Kassenärztliche</strong>r Bundesvereinigung erreichen<br />
89,7 Prozent der Westdeutschen ihren<br />
Hausarzt innerhalb von 15 Minuten. Überraschend:<br />
In der Befragung stellte sich heraus,<br />
dass die Erreichbarkeit der Hausarztpraxen<br />
in Kleinstädten bis 20.000 Einwohnern erkennbar<br />
besser war als in Großstädten. Dafür<br />
waren Patienten aus Städten mit über 20.000<br />
Einwohnern schneller beim Facharzt.<br />
Der größte Strom im Rheinland ist der<br />
Pendlerstrom<br />
Die Verkehrswege sind in <strong>Nordrhein</strong> so dicht<br />
ausgebaut wie in kaum einer anderen Region<br />
Europas. Für die Stadt- und Raumplaner<br />
ist unser Versorgungsgebiet eine einzige, eng<br />
verflochtene Großstadtregion ohne größeres<br />
Hinterland. Die einzigen Ausnahmen bilden<br />
in diesem Zusammenhang Kleve und der<br />
Oberbergische Kreis. Dies ermöglicht es den<br />
Bürgern, in relativ kurzer Zeit zum Arbeiten,<br />
Einkaufen oder auch zum Arztbesuch in einer<br />
anderen Stadt zu sein.<br />
In Düsseldorf halten sich allein durch Berufspendler<br />
tagsüber rund 200.000 Menschen<br />
mehr auf, als dort Einwohner registriert sind<br />
– und in den Herkunftsgemeinden der Pendler<br />
entsprechend weniger. Kleine Kommunen<br />
wie Vettweiß im Kreis Düren „verlieren“ laut<br />
NRW-Pendlerstatistik in den Arbeitsstunden<br />
Für die Berechnung von Mitversorgungsbeziehungen legt<br />
das ZI die geokodierten Abrechnungsdaten des Jahres<br />
2010 zugrunde. Geokodiert heißt: Bei jedem abgerechneten<br />
Arzt-Patient-Kontakt in <strong>Nordrhein</strong> wurde sowohl der<br />
Patientenwohnort als auch der Standort der Arztpraxis<br />
erhoben. Die Anzahl grenzüberschreitender Facharztkontakte<br />
ist am Beispiel Köln nebenstehend dargestellt.<br />
ein Drittel ihrer Bevölkerung. Bewegungen<br />
über Gemeindegrenzen hinweg gehören also<br />
für die Bürger zum Alltag. Darum stellt sich<br />
die Frage, wie diese Bewegungen in die Planung<br />
von medizinischer Infrastruktur einbezogen<br />
werden müssen.<br />
Natürlich verhalten Patienten sich nicht genauso<br />
wie Berufspendler. Gerade den Hausarzt<br />
möchte man in der Nähe des Wohnortes<br />
wissen, allein schon um in dringenden Fällen<br />
einen Hausbesuch in Anspruch nehmen zu<br />
können.<br />
Anders sieht es bei den meisten Fachärzten<br />
aus: Die Analyse von deren Abrechnungsdaten<br />
zeigt, dass nicht jeder Patient den zum<br />
Wohnort nächstgelegenen Facharzt wählt.<br />
Die freie Arztwahl macht es möglich, der<br />
Empfehlung von Bekannten zu folgen, die<br />
beispielsweise mit einem Arzt in der nächsten<br />
Stadt gute Erfahrungen gemacht haben.<br />
Pendler, die weite Wege zur Arbeit zurücklegen,<br />
suchen sich oft einen Facharzt in der<br />
Nähe des Arbeitsortes.<br />
Das erklärt, warum Patientenströme vielerorts<br />
Pendlerströmen folgen. Diese Patientenströme<br />
sind Ausdruck unserer mobilen Gesellschaft<br />
und nehmen zum Teil eine erstaunliche<br />
Größenordnung an.<br />
Starke Zentren versorgen das Umland mit<br />
Deutlich wird dies mit Blick auf die fachärztliche<br />
Mitversorgung in Köln, wo nominell<br />
nur 568 Einwohner auf einen Spezialisten<br />
kommen. Von den fast 9,5 Millionen Facharztkontakten<br />
im Jahr 2010 fanden aber 34<br />
Darüber hinaus geben die Daten auch Auskunft darüber,<br />
wie viel Prozent der innerhalb eines Kreises erbrachten ambulanten<br />
Leistungen von den dort ansässigen Patienten in<br />
Anspruch genommen wurden oder wie viel Prozent der Bevölkerung<br />
eines Kreises auch tatsächlich im eigenen Kreis<br />
zum Facharzt gehen. Diese Zahlen finden Sie im Onlineatlas<br />
unter der Rubrik „Beziehungen zwischen Regionen“.<br />
Heinzberg<br />
Städteregion<br />
Aachen<br />
Kleve<br />
Eifelkreis<br />
Bitburg-<br />
Prüm<br />
Viersen<br />
Mönchen-<br />
Gladbach<br />
Düren<br />
Krefeld<br />
Euskirchen<br />
Wesel<br />
Rhein-Kreis<br />
Neuss<br />
Rhein-<br />
Erft-<br />
Kreis<br />
Oberhausen<br />
Duisburg<br />
Vulkaneifel<br />
Düsseldorf<br />
Bottrop<br />
Mülheim<br />
Köln<br />
Quelle: geokodierte Abrechnungsdaten 2010 der KV <strong>Nordrhein</strong>,<br />
eigene Berechnungen, Kreise 2010 von EasyMap<br />
Fachärztliche Mitversorgung durch die stadt Köln<br />
Essen<br />
Mettmann<br />
Gelsenkirchen<br />
Solingen<br />
Leverkusen<br />
Ahrweiler<br />
Bonn<br />
Herne<br />
Bochum<br />
Wuppertal<br />
Remscheid<br />
Rheinisch-<br />
Bergischer<br />
Kreis<br />
g<br />
Ennepe-<br />
Ruhr-<br />
Kreis<br />
Rhein-Sieg-Kreis<br />
Mayen-<br />
Koblenz<br />
Hagen<br />
Anzahl der Arzt-Patienten-Kontakte<br />
durch einströmende Patienten*<br />
5.000 bis unter 10.000<br />
10.000 bis unter 25.000<br />
50.000 bis unter 100.000<br />
Über 100.000<br />
Oberbergischer Kreis<br />
Neuwied<br />
Märkischer Kreis<br />
Alpenkirchen<br />
Olpe<br />
Siegen-<br />
Wittgenstein<br />
* Für die Darstellung<br />
wurden nur Kreise der<br />
Umgebung berücksichtigt,<br />
in denen mindestens 5.000<br />
Arzt-Patienten- Kontakte<br />
in Köln stattfanden.<br />
Insgesamt gab es in Köln<br />
9.435.364 Facharztkontakte,<br />
34,1 Prozent davon<br />
mit Patienten aus anderen<br />
Kreisen.<br />
Im Detail<br />
Alle Kennzahlen zur<br />
Mitversorgung:<br />
http://goo.gl/aNEDt<br />
24 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
25
Mitversorgungsbeziehungen<br />
Prozent mit Patienten aus anderen Kreisen<br />
statt. Jeweils mehr als 100.000 Kontakte<br />
kamen aus der Städteregion Aachen, dem<br />
Rhein-Kreis Neuss, dem Oberbergischen Kreis,<br />
dem Rhein-Erft-Kreis, dem Rhein-Sieg-Kreis<br />
und der Stadt Bonn. Das Einzugsgebiet der<br />
Domstadt erstreckt sich auf ganz <strong>Nordrhein</strong><br />
und darüber hinaus (s. Grafik Seite 25).<br />
Als einzige Millionenmetropole hat Köln sicherlich<br />
eine Sonderstellung unter den nordrheinischen<br />
Städten, doch als „Exporteur“ von<br />
medizinischen Leistungen ist die Domstadt<br />
nicht allein. Auch Düsseldorf, Bonn und Mönchengladbach<br />
versorgen viele Patienten von<br />
außerhalb. In geringerem Maße trifft dies<br />
ebenso auf Krefeld, Essen und Wuppertal zu.<br />
Auf der anderen Seite stehen Kreise, die mehr<br />
ambulante fachärztliche Leistungen importieren<br />
als exportieren, etwa der Rhein-Erft-<br />
Kreis, Euskirchen und der Rhein-Sieg-Kreis.<br />
Letzterer ist ein sogenannter „Donut-Kreis“<br />
mit Bonn in der Mitte. Für diese Art von Siedlungsstruktur<br />
gilt überall in Deutschland: Die<br />
Großstadt im Zentrum stellt Infrastruktur für<br />
das Umland bereit – hierzu zählt auch die<br />
spezialisierte medizinische Versorgung.<br />
Die Bedarfsplanung für Haus- und Fachärzte<br />
ist ein dynamischer Prozess<br />
Die Planung der ambulanten Versorgung<br />
muss die „natürlichen“ Mitversorgungsbeziehungen<br />
berücksichtigen, anstatt starr auf die<br />
Einwohnerzahl einer Kommune oder eines<br />
Kreises Bezug zu nehmen. Dabei sollten die<br />
Entfernungen für Patienten trotzdem akzeptabel<br />
bleiben.<br />
In der Bedarfsplanung der <strong>Kassenärztliche</strong>n<br />
<strong>Vereinigung</strong> und der Krankenkassen werden<br />
deshalb die Hausärzte kleinräumig verteilt,<br />
ohne Pendlerbeziehungen zu den Großstädten<br />
in Betracht zu ziehen. Hausarztsitze werden<br />
nach einer einheitlichen Verhältniszahl den<br />
sogenannten „Mittelbereichen“ zugewiesen.<br />
Davon gibt es in <strong>Nordrhein</strong> 94. Mittelbereiche<br />
sind eine Kategorie der Raumplanung und<br />
umfassen in der Regel mehrere benachbarte<br />
Kommunen, die zu einem „Mittelzentrum“ hin<br />
orientiert sind.<br />
Anders sieht es bei den zehn Gruppen der<br />
allgemeinen fachärztlichen Versorgung 1 aus.<br />
Die Verhältniszahl von Ärzten pro Einwohner<br />
variiert, je nachdem, ob ein Kreis bzw. eine<br />
Stadt das Umland mitversorgt oder durch<br />
das Umland mitversorgt wird. Ein Zentrum<br />
wie Köln bekommt daher mehr Fachärzte pro<br />
Einwohner zugesprochen als der benachbarte<br />
Rhein-Erft-Kreis.<br />
Die Mitversorgungsbeziehungen sind nicht<br />
auf alle Zeit festgeschrieben, auch hier wird<br />
der demografische Wandel zu Veränderungen<br />
führen. Wenn ehemalige Industriestädte<br />
schrumpfen oder in wachsenden Großstädten<br />
die Mieten weiter steigen, wird vielleicht das<br />
Umland attraktiver, und die Patienten ändern<br />
ihre Präferenzen auch bei der Wahl ihres<br />
Arztes.<br />
Sollte ein immer höherer Anteil der Bevölkerung<br />
in seiner Mobilität eingeschränkt sein,<br />
würde sich das negativ auf die Erreichbarkeit<br />
von Praxen auswirken. Dann bedarf es<br />
verstärkter Anstrengungen der Allgemeinheit,<br />
um auch räumlich entferntere Arztkontakte<br />
zu ermöglichen. Die <strong>Kassenärztliche</strong><br />
<strong>Vereinigung</strong> wird die Patientenströme weiterhin<br />
genau beobachten, um rechtzeitig auf geänderte<br />
Bedingungen reagieren zu können.<br />
Im Gespräch mit dem Dormagener Bürgermeister Peter-Olaf Hoffmann<br />
„Arztansiedlung ist Wirtschaftsförderung“<br />
Zeichnet sich in Dormagen ein Mangel in der ambulanten<br />
Versorgung ab?<br />
Aktuell haben wir keine Sorgen, doch da die meisten Ärzte<br />
zwischen 45 und 55 Jahre alt sind, könnte es in 15 bis 20<br />
Jahren schwierig werden, sofern der Nachwuchs ausbleibt.<br />
In Dormagen kommt auf 1.700 Einwohner ein Hausarzt.<br />
Welches Verhältnis ist für Sie wünschenswert?<br />
Ich halte die aktuelle Situation für wünschenswert – mehr<br />
Patienten sollte ein Arzt nicht versorgen müssen. Wichtig<br />
ist, dass Ärzte wirtschaftlich arbeiten und ihre Patienten<br />
zugleich auch in Form von Haus- und Heimbesuchen<br />
versorgen können.<br />
Wie lange darf die Anfahrt zum Arzt dauern?<br />
Ich möchte in 15 Minuten beim Hausarzt sein. Bei Fachärzten<br />
muss man längere Wege und Fahrtzeiten akzeptieren,<br />
aber zumeist werden diese Besuche längerfristig vorab<br />
organisiert.<br />
Was kann eine Stadt tun im Wettbewerb um Niedergelassene?<br />
Sie muss selber attraktiv sein, um Menschen anzulocken.<br />
Gerade junge Mediziner, unter ihnen immer mehr Frauen,<br />
interessieren sich für ein gutes Bildungsangebot und<br />
Kinderbetreuung. Akademiker wünschen auch ein ansprechendes<br />
Kulturangebot.<br />
Ärzte könnten sich also wie andere Unternehmer an die<br />
Stadt wenden?<br />
Ja, die Ansiedlung von Ärzten ist eine Art der Wirtschaftsförderung,<br />
weil sie die Infrastruktur vor Ort verbessert –<br />
und weil Ärzte Arbeitsplätze schaffen.<br />
Manche Politiker schildern der <strong>Kassenärztliche</strong>n <strong>Vereinigung</strong><br />
die Probleme ihrer Kommunen. Haben Sie schon<br />
mal Kontakt gehabt zur KV <strong>Nordrhein</strong>?<br />
Wir haben im vergangenen Jahr mit den örtlichen Ärzten<br />
und der KV <strong>Nordrhein</strong> über die Zukunft der ambulanten<br />
ärztlichen Versorgung in Dormagen gesprochen. Wir<br />
haben den Boden geschaffen, um diese Informationen in<br />
Politik und Gesellschaft zu tragen.<br />
Sie haben eine Stabsstelle für Demografie, beschäftigen<br />
sich intensiv mit der „alternden Bevölkerung“ – warum?<br />
Fakt ist: 2010 hatten wir 9.000 junge Menschen bis 16<br />
Jahre in Dormagen. 2035 werden es 6.000 sein. 2010 waren<br />
13.000 Menschen über 65 – 2035 werden es 19.000 sein.<br />
Wenn wir die Größe der Stadt und ihre Infrastruktur erhalten<br />
wollen, müssen wir gegensteuern.<br />
Wird Dormagen eine gute ambulante ärztliche Versorgung<br />
behalten?<br />
Ich halte unsere Stadt für so attraktiv, dass wir die Infrastruktur<br />
erhalten können. Köln und Düsseldorf können<br />
nicht allen, die dort leben wollen, bezahlbaren Wohnraum<br />
bieten. Zudem werden wir in Dormagen zusätzliche<br />
Arbeitsplätze und damit mehr Einpendler haben. Ich bin<br />
zuversichtlich – sofern wir den Mangel an ärztlichem<br />
Nachwuchs in den Griff bekommen.<br />
1<br />
Augenärzte, Chirurgen, Frauenärzte, Hautärzte,<br />
Hals-Nasen-Ohrenärzte, Kinderärzte, Nervenärzte,<br />
Orthopäden, Psychotherapeuten, Urologen.<br />
Peter-Olaf Hoffmann steht wie viele Amtskollegen<br />
vor dem Problem einer Überalterung der Wohnbevölkerung.<br />
Er sieht in einer guten medizinischen<br />
Versorgung einen wichtigen Anreiz, damit auch in<br />
Zukunft junge Familien in Dormagen wohnen möchten.<br />
26 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
27
Demografie<br />
Warten, bis der Arzt kommt?<br />
Von der noch vor wenigen Jahren befürchteten Ärzteschwemme ist bis heute<br />
nichts zu sehen. Ganz im Gegenteil: In einigen Gemeinden und Kreisen warten<br />
Patienten tatsächlich auf den Arzt. Freie Arztsitze werden mancherorts weder<br />
neu- noch wiederbesetzt, während der Behandlungsbedarf weiter steigt. Eine zukunftsorientierte<br />
Bedarfsplanung der KV <strong>Nordrhein</strong> will die Trendwende schaffen.<br />
Dr. Franz Josef Zumbé<br />
69 Jahre, verheiratet, zwei Söhne.<br />
Hausarzt in Tondorf/Nettersheim<br />
in der Eifel.<br />
Er ist seit 1977 als Allgemeinmediziner<br />
„auf dem Land“ selbständig.<br />
Seitdem passionierter Jäger –<br />
das Hobby gehört zum kulturellen<br />
Umfeld.<br />
„In Regionen und Orten, in denen<br />
heute kein Hausarzt praktizieren<br />
möchte, werden sich auch<br />
nicht mehrere Ärzte unter einem<br />
Dach ansiedeln. Entweder ist ein<br />
Standort attraktiv oder er ist es<br />
eben nicht.“<br />
Mit 69 Jahren möchte ich mich eigentlich<br />
langsam auf den Ruhestand<br />
vorbereiten. Aber es zeichnet sich<br />
ab, dass ich nicht so schnell in Rente gehen<br />
kann“, beschreibt Dr. Franz Josef Zumbé seine<br />
derzeitige Situation. In seiner Region rund<br />
um das kleine Eifel-Örtchen Tondorf in der<br />
Gemeinde Nettersheim fehlt es an niederlassungswilligen<br />
Allgemeinmedizinern. Einen<br />
Nachfolger für seine Praxis zu finden ist nicht<br />
einfach, obwohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen<br />
gut sind. Auch die jetzige Praxis<br />
von Zumbé hatte damals zwei Jahre leer gestanden,<br />
bevor er sich entschloss, in die Eifel<br />
zu ziehen. Eine Entscheidung, die er und seine<br />
Frau nie bereut haben. „Ich möchte meine Patienten,<br />
die ich zumeist seit Jahrzehnten persönlich<br />
kenne und häufig seit ihrer Geburt begleite,<br />
nicht einfach im Stich lassen“, erklärt<br />
der Mediziner. Ein Problem, das er derzeit mit<br />
manchen seiner Kollegen teilt.<br />
Würden niedergelassene Ärzte ausnahmslos<br />
mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen, gäbe<br />
es in <strong>Nordrhein</strong> heute schon eine empfindliche<br />
Lücke in der Versorgung. Ohne den Beitrag<br />
älterer Ärzte wie Dr. Zumbé wären über<br />
400 Hausarztsitze verwaist, das entspricht<br />
einem Anteil von 6,4 Prozent. Bei den Fachärzten<br />
wären es 5,2 Prozent.<br />
Betrachtet man die Altersverteilung der<br />
Haus- und Fachärzte in <strong>Nordrhein</strong>, wird<br />
schnell offensichtlich, dass die Sorgen um<br />
den Nachwuchs nur allzu berechtigt sind.<br />
Das Durchschnittsalter der Ärzte steigt an<br />
Im Durchschnitt sind die Hausärzte im gesamten<br />
Versorgungsgebiet mit 52,7 Jahren<br />
etwas älter als die Fachärzte mit 52 Jahren.<br />
Die nordrheinischen Hausärzte sind damit<br />
rund ein halbes Jahr jünger als der bundesweite<br />
Altersdurchschnitt, bei den Fachärzten<br />
gibt es keinen Unterschied zum Bund. Bemerkenswert<br />
ist die Dynamik der demografischen<br />
Alterung in den letzten Jahren: Von 1993 bis<br />
2010 ist nach Angaben der <strong>Kassenärztliche</strong>n<br />
Bundesvereinigung das Durchschnittsalter<br />
der Vertragsärzte in Deutschland um fünf<br />
Jahre angestiegen.<br />
Dieser Umstand ist die späte Folge der Entscheidung<br />
des Gesetzgebers im Jahr 1993,<br />
Neuzulassungen von Ärzten auf Jahre hinaus<br />
rigoros zu unterbinden, um der damals<br />
erwarteten „Ärzteschwemme“ zu begegnen.<br />
Der Effekt wurde zusätzlich verstärkt durch<br />
eine Niederlassungswelle all derjenigen, die<br />
sich noch vor Inkrafttreten des Gesetzes eine<br />
Zulassung sichern konnten. Bis heute bewegt<br />
sich der damalige Boom als „Seehofer-Bauch“<br />
durch die Tabellen und Grafiken der Statistiker.<br />
In der Abbildung auf der nachfolgenden<br />
Seite ist das nach dem damaligen Bundesgesundheitsminister<br />
benannte Phänomen<br />
deutlich als Wölbung der Kurve in den Altersklassen<br />
der heute 55- bis 65-Jährigen zu<br />
erkennen.<br />
28 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
29
Demografie<br />
Altersstruktur bei Haus- und Fachärzten<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
Bis 34<br />
Jahre<br />
MW: 52,0 MW: 52,7<br />
35–39 40–44 45–49 50–54 55–59 60–64 65–69 70 und<br />
älter<br />
Auch in <strong>Nordrhein</strong> hat es einen Anstieg des<br />
ärztlichen Durchschnittsalters gegeben. Allerdings:<br />
Wie bei allen anderen Merkmalen<br />
gibt es auch hier regionale Unterschiede.<br />
Eine weitere Erkenntnis: Das Stadt-Land-<br />
Gefälle ist weniger ausgeprägt als gemeinhin<br />
vermutet wird.<br />
Ungleiche Verteilung in Stadt und Land<br />
Der Anteil über 60-jähriger Ärzte ist ein geeigneter<br />
Indikator für den Nachbesetzungsbedarf<br />
in den nächsten Jahren. Auf der Ebene<br />
der Kreise und Städte sind noch keine größeren<br />
Ungleichheiten zu erkennen. Bei den<br />
Hausärzten liegt dieser Anteil zwischen 15<br />
und 22 Prozent. Allein Remscheid (27 %) und<br />
Bonn (24 %) liegen etwas darüber. Ähnlich<br />
sieht es bei den insgesamt jüngeren Fachärzten<br />
aus: Hier liegt die Spanne zwischen neun<br />
und 17 Prozent. Etwas höher ist der Anteil<br />
über 60-Jähriger im Rhein-Erft-Kreis (19 %)<br />
und wiederum in Bonn (20 %). Je kleinräumiger<br />
die Betrachtung, desto größer werden<br />
die Unterschiede zwischen den Regionen. Auf<br />
Gemeindeebene schwankt der Anteil der über<br />
60-jährigen Hausärzte zwischen null und 100<br />
Prozent. Diese Extreme betreffen kleine Gemeinden<br />
und sagen wenig über die Gesamtverteilung<br />
aus. Die Städte haben meist einen<br />
mittelgroßen Anteil an über 60-Jährigen,<br />
während bei den ländlichen Gemeinden Abweichungen<br />
nach unten wie auch nach oben<br />
zu beobachten sind. Insgesamt kann man also<br />
nicht von einem Stadt-Land-Gefälle sprechen.<br />
In einigen Gebieten gibt es allerdings<br />
auffällige Häufungen von Gemeinden mit einem<br />
hohen Anteil über 60-jähriger Hausärzte,<br />
nämlich im Rhein-Sieg-Kreis, im Oberbergischen<br />
Kreis und am Niederrhein.<br />
Am besten lassen sich die Analysen zur Altersstruktur<br />
der Ärzteschaft auf den interaktiven<br />
Karten in unserem Onlineatlas nachvollziehen.<br />
Sämtliche hier erwähnten Indikatoren<br />
sind dort für ganz <strong>Nordrhein</strong> abgebildet. Es<br />
ist abzusehen, dass in den kommenden 20<br />
Anteil der Altersklasse<br />
(in % aller Hausärzte)<br />
Anteil der Altersklasse<br />
(in % aller Fachärzte)<br />
Über die Hälfte der<br />
heute praktizierenden<br />
Haus- und Fachärzte<br />
ist über 50 Jahre<br />
alt und wird in den<br />
nächsten 20 Jahren<br />
in Rente gehen. Nicht<br />
selten: Arbeit darüber<br />
hinaus, wenn Nachfolger<br />
fehlen.<br />
Im Detail<br />
Daten zur Altersstruktur der<br />
Ärzteschaft:<br />
http://goo.gl/QW1oG<br />
Jahren überdurchschnittlich „starke“ Altersjahrgänge<br />
in den Ruhestand treten werden.<br />
Schon heute ist klar, dass nicht alle ausscheidenden<br />
Ärzte durch junge Kolleginnen<br />
und Kollegen ersetzt werden können. Dieses<br />
Problem wird hinsichtlich der Fachgruppen<br />
zeitversetzt auftreten: So weisen Hausärzte,<br />
Chirurgen und Psychotherapeuten ein hohes<br />
Durchschnittsalter auf. Jünger als der Durchschnitt<br />
aller Ärzte sind dagegen Orthopäden,<br />
Radiologen sowie Haut- und HNO-Ärzte.<br />
Auch kleine Erfolge helfen<br />
In einzelnen Gemeinden wird sich die Situation<br />
schon kurz- bzw. mittelfristig zuspitzen.<br />
Wenn beispielsweise von fünf Hausärzten vor<br />
Ort drei schon das Rentenalter erreicht haben,<br />
sind neben der <strong>Kassenärztliche</strong>n <strong>Vereinigung</strong><br />
zumeist auch Bürger und Kommunalpolitiker<br />
alarmiert. Die gute Nachricht lautet:<br />
Mit nur einem gewonnenen Arzt kann die<br />
Situation in ländlichen Gemeinden oftmals<br />
bereits deutlich entschärft werden. Franz<br />
Josef Zumbé möchte allerdings vor falschen<br />
Erwartungen warnen. Es sollten bei den jungen<br />
Kollegen keine zu großen Hoffnungen<br />
geweckt werden. Er ist davon überzeugt, dass<br />
die Einzelpraxis unter den heutigen Rahmenbedingungen<br />
in vielen ländlichen Gemeinden<br />
keine Zukunft mehr hat. Speziell die Einzelpraxis<br />
trägt sich finanziell nicht. Große medizinische<br />
Versorgungszentren hält Zumbé in<br />
ländlichen Gegenden allerdings auch nicht<br />
für eine ernsthafte Alternative: „In Regionen<br />
und Orten, in denen heute kein Hausarzt<br />
praktizieren möchte, werden künftig auch<br />
keine Einzelpraxen entstehen und sich schon<br />
gar nicht mehrere Ärzte unter einem Dach<br />
ansiedeln. Entweder ist ein Standort attraktiv<br />
oder er ist es eben nicht.“<br />
Ein Dorfarzt ist mehr als „nur“ Mediziner<br />
Als Hausarzt ist er nach eigenem Empfinden<br />
in gewisser Weise auch als Psychologe im<br />
Einsatz. Jeder auf dem Dorf kennt jeden, und<br />
natürlich muss man das soziale Umfeld seiner<br />
Patienten einbeziehen. „Das sehe ich als<br />
positive berufliche Herausforderung. Und wir<br />
haben hier unsere Kinder in einer intakten sozialen<br />
Umgebung und sauberen Umwelt aufwachsen<br />
lassen können. Es gibt gute Gründe,<br />
auf dem Land tätig zu sein. Das müssen wir<br />
Landärzte und die Politik nur stärker klarstellen“,<br />
fordert Zumbé. Der Trend der Alterung<br />
bei den Medizinern spiegelt sich in der Altersstruktur<br />
der Bevölkerung wider: Auch sie wird<br />
in den kommenden Jahren älter. Dabei zeigen<br />
sich regional erhebliche Unterschiede: Bedingt<br />
durch Wanderungsbewegungen werden<br />
2030 in Köln und im Rhein-Sieg-Kreis prozentual<br />
so viele Kinder und Jugendliche leben<br />
wie nirgendwo sonst in <strong>Nordrhein</strong>. Dem<br />
gegenüber stehen Wesel, Viersen, Euskirchen<br />
und Mettmann, in denen 2030 der Anteil der<br />
über 65-Jährigen höher sein wird als in allen<br />
anderen Kreisen und kreisfreien Städten der<br />
KV-Region.<br />
Eine gute Versorgungsplanung wird auf die<br />
beschriebenen demografischen Entwicklungen<br />
reagieren müssen: Je nach Region und<br />
medizinischer Fachrichtung werden aufgrund<br />
der sich verändernden Altersstruktur<br />
der Bevölkerung und der Ärzteschaft mehr<br />
oder weniger Ärzte benötigt. Neben der reinen<br />
Bevölkerungszahl und der Alters- und<br />
Geschlechterverteilung beeinflusst auch die<br />
Krankheitslast der Einwohner eines Planungsgebietes<br />
den Behandlungsbedarf. Schließlich<br />
müssen die Mobilität der Patienten und die<br />
damit zusammenhängenden Mitversorgungsbeziehungen<br />
zwischen großen und kleinen<br />
Gemeinden berücksichtigt werden. Eine einfache<br />
Pauschallösung zum Umgang mit der<br />
demografischen Entwicklung in der ambulanten<br />
Versorgung kann es daher nicht geben.<br />
Dr. Zumbé im<br />
Doppel. Sein Sohn<br />
Benedikt wollte<br />
nicht nur Mediziner<br />
werden, sondern<br />
teilt auch die Heimatverbundenheit<br />
mit seinem Vater<br />
und ist in dessen<br />
Praxis eingestiegen.<br />
Doppeltes Glück:<br />
glücklicher Hausarzt<br />
und Glück für die<br />
Patienten.<br />
30 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
31
Prognosen & Trends<br />
2Prognosen & Trends<br />
Wir werden immer älter und wollen auch im Alter unser Leben<br />
genießen. Die Begleiterscheinung mit zumehmenden Alter der<br />
Bevölkerung: Die Anfälligkeit wie auch Wahrscheinlichkeit für<br />
Erkrankungen steigt an.<br />
Rund<br />
5.000<br />
Hausärztinnen und -ärzte müssten bis zum Jahr<br />
2030<br />
ersetzt werden, um den<br />
Stand von heute zu halten.<br />
83 Prozent der im Jahr 2010<br />
tätigen Hausärzteschaft<br />
werden dann über 65 Jahre<br />
alt sein.<br />
Patienten von morgen −<br />
Prognosen und Trends<br />
Wer heute 50 Jahre alt ist, macht sich<br />
noch wenig Gedanken über Prostatakrebs,<br />
Arterienverkalkung oder Demenz. Doch<br />
nur 20 Jahre später braucht ein dann rund 70<br />
Jahre alter Mann möglicherweise eine engmaschige<br />
medizinische Betreuung durch den<br />
Hausarzt, den Urologen, den Kardiologen oder<br />
einen Psychiater. Älter werden bedeutet in<br />
der Regel auch kränker werden, oftmals sogar<br />
chronisch.<br />
Es kommt was auf uns zu<br />
Was in den kommenden 15 bis 20 Jahren geschieht,<br />
kann niemand mit Gewissheit vorher<br />
sagen. Jedoch verfolgen Experten in den verschiedensten<br />
Lebens- und Gesellschaftsbereichen<br />
Trends, auf deren Basis künftige Entwicklungen<br />
prognostiziert werden können. Oftmals<br />
mit erstaunlich großer Genauigkeit und Verlässlichkeit.<br />
So auch im Gesundheitssektor.<br />
Speziell für den <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>Nordrhein</strong><br />
hat das Zentralinstitut für die kassenärztliche<br />
Versorgung in Deutschland (ZI) Prognosen<br />
für den zukünftigen Behandlungsbedarf und<br />
Modelle für die (Nach-)Besetzung von Arztsitzen<br />
erstellt. Grundlage aller Vorhersagen ist<br />
dabei die Entwicklung der Bevölkerung. Hier<br />
ist ein dominierender Trend schon lange erkennbar<br />
und unverändert stabil: Bessere Lebensbedingungen<br />
und ein hoch dynamischer<br />
medizinisch-technischer Fortschritt führen<br />
dazu, dass die Menschen immer älter werden.<br />
Seit 1900 steigt die mittlere Lebenserwartung<br />
in den entwickelten Industrie staaten pro Jahr<br />
nahezu konstant um mehr als einen Monat.<br />
32 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
33
Patienten & Ärzte 2030<br />
Startklar für die Zukunft<br />
In 15 bis 20 Jahren soll die ambulante ärztliche Versorgung genau den gleichen<br />
hohen Standard aufweisen wie heute. Auf dieses Ziel fokussieren schon heute<br />
Programme und Initiativen der KV <strong>Nordrhein</strong>.<br />
Dr. Harald Clade - Patient<br />
Dr. Harald Clade, 72, aus Frechen.<br />
Der Journalist ist Teilnehmer am<br />
Disease-Management-Programm<br />
(DMP) für Diabetiker.<br />
„Als Diabetiker muss ich alle drei<br />
Monate zur ärztlichen Kontrolle.<br />
Meinen Hausarzt erreiche ich in<br />
zehn Minuten im benachbarten<br />
Hürth. Zur Augenärztin muss ich<br />
weiter fahren. Wenn ich Augentropfen<br />
bekomme, bin ich auf<br />
einen Fahrer angewiesen, denn<br />
es gibt keine gute öffentliche<br />
Verbindung dorthin.“<br />
Immer mehr ältere Menschen bedeutet fast<br />
automatisch mehr Krankheitslast. Dies gilt<br />
sowohl in Bezug auf die Anzahl erkrankter<br />
Personen als auch in Bezug auf die gesundheitlichen<br />
Beeinträchtigungen, die jeder<br />
betroffene Mensch individuell zu tragen hat.<br />
Gründe für diesen altersabhängigen Anstieg<br />
von Erkrankungen sind unter anderem die<br />
Funktionseinschränkungen von Organen im<br />
Zeitverlauf, die abnehmende Reaktionsfähigkeit<br />
des Immunsystems und das Merkmal vieler<br />
Krankheiten, regelmäßig erst im höheren<br />
Alter aufzutreten.<br />
Krankenhäuser sowie Haus- und Fachärzte<br />
in <strong>Nordrhein</strong> werden daher künftig anteilig<br />
mehr ältere Patienten versorgen als heute:<br />
Während der Anteil der Menschen über 65<br />
Jahre in der Region <strong>Nordrhein</strong> im Jahr 2010<br />
rund ein Fünftel betrug, wird dieser Anteil bis<br />
2020 auf 22,3 und bis 2030 auf 26,4 Prozent<br />
steigen. Dabei ist auch mit einer überproportionalen<br />
Zunahme der Hochaltrigen zu rechnen,<br />
also der Menschen im Alter von über 85<br />
Jahren.<br />
Alterstypische Krankheiten<br />
Ältere Menschen gehen häufiger zum Arzt als<br />
junge, sie suchen häufiger mehrere (Fach-)<br />
Ärzte parallel auf. Im Krankheitsspektrum von<br />
älteren Menschen dominieren insbesondere<br />
Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems<br />
wie Angina Pectoris (Brustenge) und Herzinsuffizienz<br />
sowie akuter Herzinfarkt. Auch<br />
Schlaganfälle sowie Durchblutungsstörungen<br />
treten bei älteren Menschen deutlich häufiger<br />
auf als bei Menschen im jungen bzw. mittleren<br />
Lebensalter. Als zweite Gruppe alterstypischer<br />
Erkrankungen sind Störungen des<br />
Bewegungsapparats zu nennen, die beispielsweise<br />
durch Osteoporose (Knochenschwund)<br />
oder aber durch Stürze bzw. den altersbedingten<br />
Gelenkverschleiß an Hüfte und Knie<br />
verursacht werden. Auch Krebserkrankungen<br />
treten gehäuft im höheren Alter auf: Auf die<br />
über 65-jährigen Männer und Frauen entfallen<br />
61 Prozent bzw. 64 Prozent aller erstmalig<br />
festgestellten Krebsdiagnosen. Ein weiterer<br />
Beleg für die Altersabhängigkeit von Krebs ist<br />
der Umstand, dass das mittlere Erkrankungsalter<br />
für alle Krebsarten aktuell bei ca. 70<br />
Jahren liegt. Noch deutlicher ist der Zusammenhang<br />
von Alter und Krankheit im Fall von<br />
demenziellen Erkrankungen: Von den 65- bis<br />
69-Jährigen sind ca. 1,5 Prozent von einer<br />
Demenz betroffen, von den über 90-Jährigen<br />
dagegen mehr als jeder Dritte.<br />
Neben diesen alterstypischen Krankheitsbildern<br />
zeigt die Realität in den Praxen und<br />
Krankenhäusern auch, dass ältere Menschen<br />
oftmals mehrfach erkrankt sind (Multimorbidität).<br />
Zudem verlaufen Krankheiten, die im Alter<br />
auftreten, häufig chronisch, das heißt: Die<br />
Menschen leiden unter Symptomen, die dau-<br />
34 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
35
Patienten & Ärzte 2030<br />
erhaft der medizinischen Behandlung bedürfen<br />
und meist nicht mehr vollständig heilbar<br />
sind. Nicht in der Gesundung der Patienten,<br />
sondern in deren Begleitung – mit dem Ziel<br />
einer möglichst hohen Lebensqualität – liegt<br />
bei diesen Patienten die Herausforderung für<br />
Im Gespräch mit Dr. Harald Clade<br />
Patienten in der Pflicht<br />
Dr. rer. pol. Harald Clade (72), ehemaliger Redakteur des<br />
Deutschen Ärzteblatts und heute freier Journalist, bezeichnet<br />
sich selbst als „kritischen Patienten“, der längere<br />
Wartezeiten oder ungerechtfertigte Zuzahlungen stets<br />
hinterfragt und wenn nötig auch zur Sprache bringt.<br />
Dr. Clade, wie schätzen Sie Ihren eigenen Gesundheitszustand<br />
ein?<br />
Seit 20 Jahren bin ich Altersdiabetiker. Als ich um die 50<br />
Jahre alt war, hat mein Hausarzt die chronische Krankheit<br />
erkannt.<br />
Wie werden Sie medizinisch betreut?<br />
Da ich an Diabetes Typ 2 und zudem an Retinopathie<br />
leide, also einer durch den Diabetes verursachten Netzhauterkrankung,<br />
muss ich sowohl meinen Hausarzt als<br />
auch meinen Augenarzt mehrmals im Jahr aufsuchen.<br />
Zum Hausarzt habe ich zwar einen kurzen Weg, etwa zehn<br />
Autominuten, muss aber öfters – trotz lange im Voraus<br />
vereinbartem Termin – lange Wartezeiten in Kauf nehmen.<br />
Das finde ich nicht in Ordnung. Ich bin eingeschrieben im<br />
Disease-Management-Programm (DMP) für Diabetes-Typ-<br />
2-Patienten. Alle drei Monate muss ich deshalb zur Kontrolle<br />
und Blutanalyse zu meinem Hausarzt im Einkaufszentrum<br />
in Hürth, eine Praxis mit Schwerpunkt Diabetologie.<br />
Dort fühle ich mich sehr gut betreut. Zum Augenarzt in<br />
Pulheim muss ich weiter fahren, etwa 20 Minuten mit dem<br />
Auto. Diese Termine plane ich daher im Voraus.<br />
Worin bestehen für Sie die Vorteile des DMP?<br />
Ist man in einem solchen Programm eingeschrieben,<br />
verläuft die medizinische Betreuung sehr strukturiert und<br />
folgt einem konsequenten Plan. Das hilft sowohl dem<br />
Patienten als auch dem Arzt. Das A und O sind jedoch<br />
die behandelnden Ärzte. Grundsätzlich sind der<br />
regelmäßig längere Krankheitsverlauf und die<br />
verzögerte Genesung wesentliche Merkmale<br />
von Erkrankungen im Alter.<br />
Im Detail<br />
Den ausführlichen DMP-Qualitätsbericht<br />
finden Sie unter:<br />
http://goo.gl/l0PSc<br />
Compliance und Selbstdisziplin. Das heißt, ich als Patient<br />
muss mitziehen, etwa den Ernährungsempfehlungen auch<br />
Folge leisten. Für den Arzt bedeutet das, den Patienten<br />
zunächst einmal aufzuklären und hinsichtlich seines Lebensstils<br />
zu beraten. Ich habe einen Hausarzt gewählt, der<br />
meine Krankheit und meine Ernährung ausführlich mit mir<br />
bespricht.<br />
Diagnosen der Zukunft<br />
Einen Hinweis darauf, wie sich das Krankheitsspektrum<br />
in der ambulanten Versorgung<br />
in <strong>Nordrhein</strong> entwickeln wird, liefern die Tabellen<br />
„Prognose der Krankheiten“ (s. Seite<br />
37 und 38). Sie zeigen den Entwicklungstrend<br />
für ausgewählte Diagnosen. Um eine Prognose<br />
für die Häufigkeit bestimmter Erkrankungen<br />
im Jahr 2025 zu treffen, wurde zunächst<br />
unterstellt, dass die Wahrscheinlichkeit, von<br />
der jeweiligen Krankheit betroffen zu sein, in<br />
2025 genauso hoch ist wie heute. Dann wurde<br />
die aus den Abrechnungsdaten bekannte<br />
Altersverteilung der Diagnosen auf die Bevölkerungsprognose<br />
des Jahres 2025 übertragen.<br />
Es wurde also der rein demografisch bedingte<br />
Anstieg von Krankheitshäufigkeiten vorausberechnet.<br />
Diese einfache Kalkulation offenbart<br />
eindrückliche Steigerungsraten für einzelne<br />
Diagnosen.<br />
Was können Sie anderen Diabetes-Patienten empfehlen?<br />
Die höchsten Steigerungsraten von rund 30<br />
Prozent weisen neurologische bzw. neurodegenerative<br />
Erkrankungen wie Demenz und<br />
Aufgrund meines Übergewichts muss ich jeden Tag auf die<br />
Waage. Das geht vielen Diabetes-Patienten ähnlich. Durch<br />
Morbus Parkinson auf. In <strong>Nordrhein</strong> müssen<br />
richtige Ernährung und Bewegung in der Gruppe habe ich<br />
im Jahr 2025 nach der vorliegenden Progno-<br />
in den vergangenen zwei Jahren neun Kilo abgenommen<br />
und fühle mich fit. Das DMP beinhaltet beispielsweise<br />
Koch- und Sportkurse, bei denen man erstens lernt, richtig<br />
zu essen, zweitens sich bewegt, was das Übergewicht bekämpft.<br />
Drittens trifft man im Programm auch Mitstreiter,<br />
die mit der gleichen chronischen Krankheit leben. Krankheit Patienten 2008<br />
se ca. 40.000 Demenzfälle mehr behandelt<br />
werden als im Jahr 2008. Noch deutlicher<br />
fällt der Zuwachs bei den Herz-Kreislauf-<br />
Erkrankungen aus: So sind allein bei der ischämischen<br />
Herzkrankheit im Jahr 2025 in<br />
<strong>Nordrhein</strong> 93.000 Patienten mehr zu erwarten<br />
– eine Steigerungsrate von 21 Prozent.<br />
Ähnliche oder sogar noch höhere Quoten gelten<br />
für Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern und<br />
Schlaganfall. Auch Osteoporose weist mit einem<br />
Plus von fast 20 Prozent und einem absoluten<br />
Zuwachs von über 42.000 Fällen eine<br />
deutliche Steigerung in den Fallzahlen auf.<br />
Die typischen Patienten von morgen werden<br />
die alltäglichen Herausforderungen in den<br />
Arztpraxen verändern. Diese Veränderungen<br />
werden verstärkt und überlagert von anderen<br />
Trends - wie der weiteren Liegezeitverkürzung<br />
in den Krankenhäusern oder auch dem gesundheitspolitisch<br />
gewünschten Vorrang der ambulanten<br />
vor der stationären Versorgung. Die<br />
damit einhergehenden Verlagerungseffekte<br />
werden das Arbeitspensum niedergelassener<br />
Ärzte erheblich erhöhen. In den vorliegenden<br />
demografischen Modellrechnungen sind diese<br />
Effekte jedoch noch nicht berücksichtigt.<br />
Prognose der Krankheiten – Nach Zunahme der absoluten PATientenzahlen<br />
Zunahme<br />
Absolute<br />
2008–2025 in % Zunahme<br />
1 Hypertonie 1.451.872 13,78 % 200.099<br />
2 Ischämische Herzkrankheit 446.189 21,05% 93.926<br />
3 Diabetes mellitus 541.385 15,30 % 82.841<br />
4 Osteoarthrose der großen Gelenke 423.148 16,39 % 69.365<br />
5 Herzinsuffizienz 194.161 26,86 % 52.146<br />
6 Osteoporose und Folgeerkrankungen 218.678 19,47 % 42.568<br />
7 Demenz 124.162 33,94 % 42.136<br />
8 Atherosklerose, periphere Gefäßerkrankung 196.527 20,23 % 39.762<br />
9 Emphysem/Chronische obstruktive Bronchitis 253.395 14,85 % 37.633<br />
10 Depression 483.601 6,75 % 32.626<br />
Die Steigerungsrate<br />
einiger Krankheitsbilder<br />
verstärkt<br />
den Ärztemangel<br />
zusätzlich. Den<br />
steigenden Patientenzahlen<br />
müssen<br />
ausreichend<br />
Ärztinnen und Ärzte<br />
gegenüberstehen.<br />
Modellrechnung auf der<br />
Basis der nordrheinischen<br />
Abrechnungsdiagnosen<br />
von 2008.<br />
36 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
37
Patienten & Ärzte 2030<br />
Die alternde Bevölkerung<br />
geht einher<br />
mit einem steigenden<br />
und intensiven<br />
Behandlungsbedarf,<br />
mehr Erkrankungen<br />
und längeren Behandlungszeiten.<br />
Modellrechnung auf der<br />
Basis der nordrheinischen<br />
Abrechnungsdiagnosen<br />
von 2008.<br />
Prognose der Krankheiten – Nach prozentualer Zunahme<br />
Krankheit Patienten 2008<br />
DMP: Chroniker im Fokus<br />
Um Diabetiker wie Dr. Clade nach dem aktuellen<br />
Stand der Medizin behandeln zu<br />
können, wurden in den letzten Jahren die<br />
Strukturen und die Prozesse der Versorgung<br />
in den sogenannten „Disease-Management<br />
-Programmen“ (s. Interview Seite 36) an<br />
die Bedürfnisse chronisch kranker Patienten<br />
angepasst. Ambulanter und stationärer<br />
Sektor arbeiten hierbei Hand in Hand:<br />
Zur DMP-Versorgungskette gehören neben<br />
den von den Patienten frei gewählten koordinierenden<br />
Hausärzten die diabetologischen<br />
Schwerpunktpraxen, Fußambulanzen zur Behandlung<br />
des diabetischen Fußes und Krankenhäuser<br />
mit diabetologischen Abteilungen.<br />
Für diese spezialisierten Angebote müssen<br />
Patienten aus ländlichen Gebieten längere<br />
Wege auf sich nehmen. Drei Viertel aller<br />
nordrheinischen Patienten finden die nächste<br />
diabetologische Schwerpunkteinrichtung im<br />
Umkreis von acht Kilometern. Einwohner des<br />
Oberbergischen Kreises müssen aber schon<br />
durchschnittlich 14 Kilometer bis zur Schwerpunktpraxis<br />
zurücklegen, in Euskirchen sind<br />
es rund 18 und in Kleve 19 Kilometer.<br />
Dennoch schlägt sich der Faktor Entfernung<br />
nicht negativ in der Behandlungsqualität<br />
nieder, wie eine Studie des Zentralinstituts<br />
für die kassenärztliche Versorgung (ZI) auf<br />
der Basis umfangreicher DMP-Dokumentationsdaten<br />
belegt (Hagen u.a. 2012). Wichtige<br />
Qualitätsziele, wie die möglichst hohe Teilnahmequote<br />
von Patienten an Schulungen<br />
oder die frühzeitige Überweisung der Diabetiker<br />
durch den Hausarzt an den Spezialisten,<br />
wurden unabhängig von der Entfernung zu<br />
den Betreuungsangeboten erreicht.<br />
Stadt in Sicht:<br />
Urbanes Leben auf dem Vormarsch<br />
Die Zahl der Single-Haushalte nimmt bereits<br />
seit 20 Jahren stetig zu; Tendenz weiter steigend.<br />
Insbesondere junge Männer und ältere<br />
Frauen leben zunehmend in Ein-Personen-<br />
Haushalten. Singles, aber auch ältere Ehepaare,<br />
zieht es aus ländlichen Gegenden in<br />
die Großstädte, die immer weiter wachsen.<br />
In der Millionenstadt Köln beispielsweise<br />
lebten 2010 rund 183.000 Menschen, die 65<br />
Jahre und älter waren. 2030 wird es 223.000<br />
Kölner in dieser Altersgruppe geben – ein<br />
Zunahme<br />
Absolute<br />
2008–2025 in % Zunahme<br />
1 Demenz 124.162 33,94 % 42.136<br />
2 Herzinsuffizienz 194.161 26,86 % 52.146<br />
3 Morbus Parkinson/Basalganglienerkrankungen 35.995 26,75 % 9.630<br />
4 Niereninsuffizienz 128.305 22,78 % 29.228<br />
5 Delir und Enzephalopathie 14.550 22,60 % 3.288<br />
6 Bösartige Neubildungen der männl. Genitalorgane 61.395 22,58 % 13.861<br />
7 Hautulkus, exkl. Dekubitalulzera 19.026 22,37 % 4.255<br />
8 Vorhofarrhythmie 136.178 22,22 % 30.261<br />
9 Schlaganfall und Komplikationen 131.220 21,42 % 28.107<br />
10 Ischämische Herzkrankheit 446.189 21,05 % 93.926<br />
ärzte ohne nachwuchs<br />
Zuwachs von mehr als 21 Prozent, laut der<br />
Bevölkerungsprognose des Bundesinstituts<br />
für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR).<br />
Das bedeutet: Im gesamten Stadtgebiet werden<br />
nicht nur mehr altersgerechte Wohnungen<br />
und Pflegedienste benötigt, sondern auch<br />
mehr Ärzte und Psychotherapeuten.<br />
Was in einigen großen Städten noch gelingen<br />
mag, wird auf dem Land künftig schwieriger:<br />
Infolge von Verstädterung und Landflucht<br />
schwindet in kleinen Orten nicht nur die jüngere<br />
Bevölkerung, sondern mit ihr auch die<br />
Infrastruktur: Geschäfte, Frisöre, Bankfilialen<br />
und Krankenhäuser schließen vielerorts und<br />
konzentrieren sich auf die Ballungsräume.<br />
Weniger Einwohner, höheres Alter: Szenarien<br />
des künftigen Behandlungsbedarfs<br />
Während eine sinkende Bevölkerungszahl<br />
auch weniger medizinischen Behandlungsbedarf<br />
für eine Gemeinde bedeutet, wirkt<br />
der Trend der demografischen Alterung entgegengesetzt.<br />
Was bedeutet es, wenn beispielsweise<br />
im Kreis Wesel die Zahl der über<br />
65-Jährigen von 2010 bis 2030 zwar um 35<br />
Prozent wächst, die Bevölkerung insgesamt<br />
aber um mehr als fünf Prozent schrumpft?<br />
Die <strong>Kassenärztliche</strong> <strong>Vereinigung</strong> <strong>Nordrhein</strong><br />
steht vor der Herausforderung, ihre Bedarfsplanung<br />
auf die zunehmende Dynamik des<br />
demografischen Wandels abzustimmen.<br />
Die folgenden, speziell für diesen Report<br />
in Auftrag gegebenen Szenarien versuchen<br />
abzuschätzen, wie sich die beschriebenen<br />
Trends auf den künftigen Behandlungsbedarf<br />
in der Region <strong>Nordrhein</strong> auswirken werden.<br />
Fünftausend Hausärzte bis 2030 nötig<br />
Um das gegenwärtige Versorgungsniveau zu halten,<br />
müssten bis zum Jahr 2030 über 5.000 Hausärzte ersetzt<br />
werden. Dazu reichen die aktuellen Zugänge nicht aus.<br />
Momentan gehen jährlich rund 200 Hausärzte in den<br />
Ruhestand, aber nur 100 absolvieren eine Facharztprüfung<br />
für die hausärztliche Tätigkeit. Wenn die jährliche Wiederbesetzungsquote<br />
in den nächsten 20 Jahren konstant<br />
Gleichzeitig präsentieren wir eine Modellrechnung<br />
zur Wiederbesetzung der in den<br />
nächsten Jahren frei werdenden Arztsitze.<br />
Prognose: In ländlichen Kreisen steigt der<br />
Behandlungsbedarf zweistellig<br />
Wie die Grafik auf der folgenden Seite zeigt,<br />
steigt der mit dem Relativen Risikoscore (RRS)<br />
berechnete hausärztliche Behandlungsbedarf<br />
demografisch bedingt von 2010 bis 2030 in<br />
<strong>Nordrhein</strong> um sieben Prozent. Das wären nur<br />
0,35 Prozent im Jahr - mit einer „Explosion“ des<br />
Behandlungsbedarfs ist also nicht zu rechnen.<br />
An den roten Balken in der Grafik ist zu erkennen,<br />
wie stark der regionale Behandlungsbedarf<br />
vom nordrheinischen Durchschnitt<br />
des Jahres 2010 abweicht (s. Grafik Seite 19).<br />
Diese Kennzahl beinhaltet sowohl die für die<br />
Zukunft vorausgesagten regionalen Ungleichheiten<br />
als auch die Entwicklung des Behandlungsbedarfs<br />
über 20 Jahre.<br />
Wie schon 2010 sind regionale Unterschiede<br />
zu beobachten; sie haben sich insgesamt vergrößert.<br />
Hauptursache für die zunehmende<br />
Ungleichheit ist, dass in den meisten ländlichen<br />
Kreisen der Behandlungsbedarf im Prognosezeitraum<br />
zweistellig zunimmt, von Kleve<br />
über Viersen, Heinsberg, Düren, Euskirchen<br />
und dem Rhein-Erft-Kreis bis zum Rhein-<br />
Sieg-Kreis. Andernorts heben sich die Effekte<br />
von Abwanderung und Alterung gegenseitig<br />
auf, so dass der hausärztliche Behandlungsbedarf<br />
im Vergleich zu 2010 sinkt oder stagniert.<br />
Das ist in den Ruhrgebietsstädten sowie<br />
in Wuppertal und Remscheid der Fall.<br />
bleibt, entsteht eine Lücke von 1.714 Ärzten – das ist mehr<br />
als ein Viertel der dann benötigten Hausärzte.<br />
Selbst in attraktiven Städten wie Köln und Düsseldorf, die<br />
derzeit deutlich mehr Hausärzte aufweisen als nach den<br />
Planungsvorgaben erforderlich, würde die rechnerische<br />
Überversorgung durch die demografische Entwicklung bis<br />
2030 vollständig abgeschmolzen sein.<br />
38 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
39
Patienten & Ärzte 2030<br />
Im Vergleich zu 2010 haben<br />
sich die regionalen Ungleichheiten<br />
bei der Hausarztdichte<br />
verstärkt. Hier muss rechtzeitig<br />
gegengesteuert werden.<br />
Der Behandlungsbedarf wächst<br />
nicht überall. Mancherorts<br />
sinkt die Nachfrage nach<br />
Hausärzten trotz demografischer<br />
Alterung.<br />
-39 %<br />
-43 % 12 % Kleve<br />
Wesel<br />
20 %<br />
Heinsberg<br />
Hausärzte: Arztdichte und Behandlungsbedarf; Modellrechnung 2030<br />
Viersen<br />
-37 % 13 %<br />
18 %<br />
-34 % 6 %<br />
Duisburg Oberhausen<br />
-39 % -3 % -42 % 1 %<br />
4 %<br />
Vergleich der Werte von 2030 mit dem Durchschnitt von 2010 in %<br />
Hausärzte pro Einwohner 2030:<br />
Abweichung vom Durchschnitt<br />
rrS 2030: Abweichung vom Durchschnitt<br />
-27 % 2 %<br />
Krefeld<br />
-35 %<br />
-25 % 12 %<br />
Rhein-Kreis<br />
Neuss<br />
-31 % 14 %<br />
Mülheim<br />
5 %<br />
-16 % 13 %<br />
Düsseldorf<br />
-17 % 0 %<br />
Essen<br />
9 % 9 %<br />
Mettmann<br />
-28 % 6 %<br />
Mönchengladbach<br />
-8 % 4 %<br />
Rheinisch-<br />
Rhein-Erft-<br />
Kreis<br />
Köln<br />
Bergischer Kreis<br />
19 %<br />
17 %<br />
-30 %<br />
-31 %<br />
-32 % 10 %<br />
Düren<br />
Rhein-Sieg-<br />
13 %<br />
Kreis<br />
2 %<br />
Städteregion<br />
Aachen<br />
Bonn<br />
-7 % 13 %<br />
Euskirchen<br />
-6 %<br />
Solingen<br />
2 %<br />
-27 % 3 %<br />
Leverkusen<br />
-9 % -3 %<br />
Wuppertal<br />
Remscheid<br />
-15 % -8 %<br />
-17 %<br />
2 %<br />
Oberbergischer<br />
Kreis<br />
Im Detail<br />
Alles zum Relativen Risikoscore<br />
finden Sie unter:<br />
http://goo.gl/rmNLq<br />
Fachgruppe<br />
Die orangefarbenen Balken in der Grafik<br />
zeigen, wie stark die für 2030 vorausgesagte<br />
Hausarztdichte im jeweiligen Kreis vom<br />
nordrheinischen Durchschnitt des Jahres<br />
2010 (1.606 Einwohner pro Hausarzt) abweicht.<br />
Das Szenario dieser Darstellung geht<br />
von zwei Bedingungen aus: Die vorhandenen<br />
Hausärzte gehen mit 65 Jahren in den<br />
Ruhestand, und die Wiederbesetzungszahlen<br />
in den einzelnen Kreisen verbleiben auf dem<br />
Niveau der letzten fünf Jahre. Das heißt: Im<br />
Modell werden sowohl die regionale Altersstruktur<br />
der Hausärzte als auch die jeweilige<br />
„Attraktivität“ der Regionen für eine<br />
Niederlassung berücksichtigt.<br />
Brisante Verkettung: Weniger Hausärzte,<br />
steigender Behandlungsbedarf<br />
Szenario: Ärztliche Versorgung 2030<br />
Entsprechend der Modell-Annahmen würden<br />
in den kommenden 20 Jahren deutlich mehr<br />
Hausärzte ausscheiden als nachrücken. Auf<br />
jeden der verbleibenden Ärzte entfielen im<br />
Jahr 2030 im Durchschnitt 2.028 Einwohner,<br />
422 mehr als heute. Besonders auffällig<br />
stellt sich die Situation in Heinsberg und Kleve<br />
dar: Beide Kreise würden per saldo über<br />
ein Drittel ihrer Hausärzte verlieren. Dadurch<br />
würde sich die Einwohnerzahl je Arzt um 941<br />
(Heinsberg) bzw. sogar um 1.086 (Kleve) erhöhen.<br />
Gleichzeitig steigt gerade in diesen<br />
Kreisen der Behandlungsbedarf demografiebedingt<br />
stärker an als in anderen Regionen<br />
– es würden also trotz sinkender Einwohnerzahl<br />
nicht weniger, sondern mehr Hausärzte<br />
gebraucht; eine brisante Verkettung der beiden<br />
dargestellten Trends. Die Berechnungen<br />
zeigen, dass künftig nicht nur ländliche Gebiete<br />
vom Hausärztemangel betroffen sind.<br />
Auch Oberhausen, Duisburg und Mülheim an<br />
der Ruhr verlieren nach dem Modell über ein<br />
Drittel ihrer Hausärzte. Essen scheint dagegen<br />
als Niederlassungsort beliebter zu sein,<br />
die Stadt muss 2030 mit „nur“ 19 Prozent<br />
weniger Hausärzten auskommen. Die Voraussagen<br />
über das Ruhrgebiet sind allerdings<br />
mit Vorbehalt zu betrachten, da sich dort die<br />
Rahmenbedingungen für die Planung von<br />
Hausarztsitzen aller Voraussicht nach innerhalb<br />
der nächsten fünf Jahre ändern werden.<br />
Insgesamt wäre die Hausarztdichte im Jahr<br />
2030 nur in Bonn, Mönchengladbach und<br />
im Kreis Mettmann höher als im Jahr 2010.<br />
Nur an diesen Orten könnte auch die in der<br />
Planung vorgesehene Verhältniszahl erreicht<br />
Szenario 2030: Notwendige<br />
Differenz*<br />
Versorgungsvorhandene<br />
Ärzte* Ärzte 2030** quote 2030<br />
Hausärzte 4.635 6.349 1.714 73 %<br />
Augenärzte 521 705 184 74 %<br />
Frauenärzte 1.358 1.172 -187 116 %<br />
HNO-Ärzte 479 524 46 91 %<br />
Hautärzte 461 411 -50 112 %<br />
Fachinternisten 881 860 -21 102 %<br />
Kinderärzte 657 672 15 98 %<br />
Nervenärzte 613 623 10 98 %<br />
Orthopäden 751 653 -98 115 %<br />
Radiologen 495 320 -175 155 %<br />
Urologen 312 387 75 81 %<br />
Summe 11.161 12.676 1.515 88 %<br />
Im Detail<br />
Die ausführliche Modellrechnung<br />
finden Sie unter:<br />
http://goo.gl/50aJ3<br />
* Vollzeit-Äquivalente<br />
** Hochrechnung des<br />
Behandlungsbedarfs<br />
auf Basis der Abrechnungsdaten<br />
2010,<br />
Vollzeit-Äquivalente.<br />
Veränderungen des<br />
Krankheitsspektrums<br />
aufgrund demografischer<br />
Alterung werden<br />
berücksichtigt.<br />
Einige Fachgruppen<br />
fehlen aufgrund niedriger<br />
Fallzahlen oder<br />
Inkonsistenzen in der<br />
Modellbildung.<br />
40 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
41
Patienten & Ärzte 2030<br />
werden. Ansonsten dürften Versorgungsgrade<br />
von mehr als 100 Prozent, wie sie<br />
in der gegenwärtigen Hausarztversorgung in<br />
der Region <strong>Nordrhein</strong> noch die Regel sind, im<br />
Jahr 2030 der Vergangenheit angehören.<br />
Nicht alle Fachgruppen haben<br />
Nachwuchssorgen<br />
Auch in Zukunft ist der Ärztemangel in<br />
<strong>Nordrhein</strong> weder ein generelles noch ein flächendeckendes<br />
Phänomen. Und doch gibt es<br />
künftig auch unter den Fachärzten Gruppen,<br />
die ähnlich wie Hausärzte mit gravierenden<br />
Nachwuchssorgen konfrontiert sind. Andere<br />
Fachgruppen hingegen verfügen über mehr<br />
Ärzte als für die ambulante Versorgung erforderlich<br />
sind (s. Tabelle Seite 41).<br />
Fünf von zwölf Fachgruppen haben offenbar<br />
keine Probleme, die aus Altersgründen ausscheidenden<br />
Kolleginnen und Kollegen zu<br />
ersetzen. Auch bei den Fachgruppen mit Versorgungsgraden<br />
von geringfügig unter 100<br />
Prozent ist die Situation nicht alarmierend.<br />
Zu dem sehr hohen Wert bei den Radiologen<br />
ist anzumerken, dass bei kleinen Gruppen<br />
wegen der niedrigen Fallzahlen die Schätzfehler<br />
größer sind als bei den großen. Der in<br />
der Tabelle ausgewiesene Überhang von 175<br />
Radiologen ist nur ein theoretischer Wert,<br />
weil die Vorgaben und Instrumente der Bedarfsplanung<br />
Zulassungen in dieser Größenordnung<br />
ohnehin ausschließen.<br />
Anlass zu erhöhter Aufmerksamkeit geben die<br />
Voraussagen für Augenärzte und Urologen. Da<br />
Szenario: So viele Ärzte fehlen 2030 in den Kreisen und Städten<br />
kreis/kreisfreie Stadt Hausärzte Augenärzte Frauenärzte HNO-Ärzte Hautärzte Internisten Kinderärzte Nervenärzte Orthopäden Radiologen Urologen<br />
Aachen (Städteregion) 161 6 8 4 14 25 1<br />
Bonn 13 6 31 7<br />
Duisburg 90 5<br />
Düren 72 12 3 12 1 2 2<br />
Düsseldorf 112 16 14 4 21 2<br />
Essen 56 6 6<br />
Euskirchen 25 12 1 6 6 9 1<br />
Heinsberg 74 6 3 4 10<br />
Kleve 95 8 11 9 9 4<br />
Köln 169 53 18 32<br />
Krefeld 70 10 12 2 8 6 8 16 11<br />
Leverkusen 45 5 9 2 9 3<br />
Mettmann 1 10 10 3 9<br />
Mönchengladbach 7 7 11 11 20 12 8 6 6<br />
Mülheim 31 5 2 8 4 5 1<br />
Oberbergischer Kreis 40 9 3 1 2 10 6 1<br />
Oberhausen 40 6 5 1 3 2 6 3<br />
Remscheid 23 3 5<br />
Rhein-Erft-Kreis 105 1 9 1 9<br />
Rheinisch-Bergischer Kreis 56 5 3 2<br />
Rhein-Kreis Neuss 79 10 16 7 11<br />
Rhein-Sieg-Kreis 149 2 14<br />
Solingen 17 2 2 5 4<br />
Viersen 82 18 5 9 7 3 11 1 3<br />
Wesel 77 18 3 1 3 2<br />
Wuppertal 35 18 10<br />
Felder in Orange = ausreichend Ärzte vorhanden.<br />
es sich bei den genannten Versorgungsquoten<br />
um Durchschnittswerte handelt, könnte<br />
in manchen Regionen Unterversorgung eintreten.<br />
So müssen im Kreis Euskirchen und<br />
im Oberbergischen Kreis bis 2030 sämtliche<br />
Augenarzt-Praxen neu besetzt werden.<br />
Die Übersicht nach Kreisen und kreisfreien<br />
Städten (s. Tabelle Seite 42) zeigt, wie viele<br />
Ärzte im Jahr 2030 benötigt würden, wenn<br />
die Nachwuchszahlen auf dem Niveau der<br />
letzten fünf Jahre verblieben.<br />
Psychische Krankheiten:<br />
Schwierig zu prognostizieren<br />
Die Bedarfsplanung der Psychotherapeuten<br />
weist gegenüber den anderen Fachgruppen<br />
mehrere Besonderheiten auf. Anders als bei<br />
Ärzten bemisst sich der quantitative Versorgungsbeitrag<br />
eines Psychotherapeuten ausschließlich<br />
nach der Zeitdauer, die er seinen<br />
Patienten im therapeutischen Gespräch zur<br />
Verfügung steht. Seine Arbeit enthält keine<br />
Prozeduren und Verrichtungen, die – je nach<br />
Routine – in größerer oder geringerer Zahl erbracht<br />
werden.<br />
Psychotherapeuten<br />
So liegt die Vermutung nahe, die psychotherapeutischen<br />
Behandlungsressourcen – also<br />
die „Angebotsseite“ – seien besonders leicht<br />
planbar. Dem stehen jedoch methodische Probleme<br />
entgegen, wenn es um die Bemessung<br />
und um die Prognose des Behandlungsbedarfs<br />
geht, also der „Nachfrageseite“. So beeinflussen<br />
das Geschlecht und der Sozial- und Bildungsstatus<br />
der Versicherten die Inanspruchnahme<br />
von Leistungen in der Psychotherapie<br />
mehr als in der somatischen, also der körperbzw.<br />
organbezogenen Medizin. Seit Aufnahme<br />
der Psychotherapie als Regelleistung der<br />
gesetzlichen Krankenversicherung sind unter<br />
den Patienten sowohl Frauen als auch Menschen<br />
mit höherem Bildungsstatus deutlich<br />
überrepräsentiert. Erfreulicherweise ist der<br />
gesellschaftliche Umgang mit psychischen Erkrankungen<br />
in den vergangenen Jahren durch<br />
einen Diskurs der Entstigmatisierung geprägt,<br />
der künftig weiter fortschreiten dürfte. Das<br />
zeigt: Die Akzeptanz der Psychotherapie beruht<br />
auf gesellschaftlich und kulturell geprägten<br />
Vorstellungen von Krankheit und Leid, die<br />
in hohem Maße veränderlich sind.<br />
Dieser Befund stellt die künftige Versorgungsplanung<br />
vor beträchtliche methodische<br />
Herausforderungen. Eine besondere Betrachtung<br />
kommt dabei dem Lebensalter der Patienten<br />
zu. Derzeit suchen jüngere Menschen<br />
eher einen Psychotherapeuten auf als ältere.<br />
Diese Verteilung repräsentiert aber kaum<br />
das Altersprofil psychischer Erkrankungen.<br />
So treten etwa depressive Episoden im Alter<br />
viel häufiger auf als in jüngeren Jahren. Die<br />
Im Jahr 1999 hat der Deutsche Bundestag das Psychotherapeutengesetz verabschiedet.<br />
Seither nehmen auch Psychologische Psychotherapeuten sowie<br />
Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten als akademische, nichtärztliche<br />
Heilberufe an der ambulanten Versorgung von gesetzlich Versicherten teil.<br />
Circa 2.100 von ihnen sind Mitglieder der <strong>Kassenärztliche</strong>n <strong>Vereinigung</strong><br />
<strong>Nordrhein</strong>. Sie stellen fünf der 50 Mandate in der Vertreterversammlung.<br />
In der Bedarfsplanung bilden sie mit den ärztlichen Psychotherapeuten eine<br />
gemeinsame Arztgruppe.<br />
dennoch geringere Inanspruchnahme der Älteren<br />
kann durch die erwähnte Historie der<br />
Stigmatisierung psychischer Leiden erklärt<br />
werden. Sie stellt für diese Gruppe noch immer<br />
eine sehr hohe Barriere dar, sich einem<br />
Psychotherapeuten anzuvertrauen. Für nachfolgende<br />
Generationen verliert diese Barriere<br />
jedoch an Bedeutung. Der psychotherapeutische<br />
Versorgungsbedarf der Menschen, die<br />
in 20 Jahren 70 Jahre alt sind, kann nicht<br />
42 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
43
Patienten & Ärzte 2030<br />
Nicht überall muss<br />
dringend eine<br />
Praxisnachfolge<br />
gesucht werden.<br />
Die oberen Ränge<br />
verdienen erhöhte<br />
Aufmerksamkeit,<br />
wenn es um die<br />
Zukunft bedarfsgerechter<br />
Versorgung<br />
geht.<br />
einfach hochgerechnet werden auf der Basis<br />
der heute 70-Jährigen. Das für diesen Report<br />
verwendete Prognosemodell des „Relativen<br />
Risikoscores“ (RRS) würde den künftigen Versorgungsbedarf<br />
systematisch unterschätzen<br />
und wurde daher in der Analyse für diesen<br />
Report nicht angewandt.<br />
Facharzt-Dichte: Auf Viersen und Krefeld<br />
kommen die größten Probleme zu<br />
Die regional unterschiedliche Dring lichkeit<br />
für die Nachbesetzung von Facharztsitzen<br />
lässt sich auch auf andere Weise messen:<br />
nämlich als Rangfolge der Kreise und Städte<br />
mit besonders akutem Nachbesetzungsbedarf<br />
Dringlichkeit der<br />
Facharzt Nachbesetzung<br />
Rangfolge Kreis/kreisfreie Stadt<br />
1 Viersen<br />
2 Krefeld<br />
3 Mönchengladbach<br />
4 Düren<br />
5 Heinsberg<br />
6 Oberbergischer Kreis<br />
7 Kleve<br />
8 Oberhausen<br />
9 Duisburg<br />
10 Mülheim<br />
11 Mettmann<br />
12 Leverkusen<br />
13 Städteregion Aachen<br />
14 Euskirchen<br />
15 Wesel<br />
16 Rhein-Kreis Neuss<br />
17 Rhein-Erft-Kreis<br />
18 Düsseldorf<br />
19 Solingen<br />
20 Remscheid<br />
21 Rhein-Sieg-Kreis<br />
22 Essen<br />
23 Wuppertal<br />
24 Köln<br />
25 Rheinisch-Bergischer Kreis<br />
26 Bonn<br />
gemessen am Behandlungsbedarf je Arzt und<br />
an der gegenwärtigen Altersstruktur.<br />
Das ZI hat die Dringlichkeit der Wiederbesetzung<br />
bis zum Jahr 2030 anhand dieser Indikatoren<br />
berechnet (s. Tabelle links). Ein Beispiel:<br />
In einem Kreis mit nur wenigen Urologen,<br />
bezogen auf die Einwohnerzahl, behandelt<br />
jeder einzelne dieser Ärzte in der Regel mehr<br />
Patienten als ein urologischer Kollege in der<br />
Großstadt. Der Wegfall eines einzigen Urologen<br />
würde hier eine größere Lücke in der Versorgung<br />
reißen als in einer Region mit hoher<br />
Arztdichte. Auch eine wachsende Morbidität<br />
der Bevölkerung würde den Behandlungsbedarf<br />
je Arzt und damit die Dringlichkeit der<br />
Nachbesetzung von Arztsitzen erhöhen.<br />
Ebenso verhält es sich mit den Auswirkungen<br />
der aktuellen Altersstruktur auf die künftige<br />
Versorgung: Je höher der Anteil älterer<br />
Fachärzte in einem Kreis, desto eher werden<br />
Praxen nachzubesetzen sein. Die Dringlichkeit<br />
ergibt sich also aus dem Zeitdruck, schon in<br />
naher Zukunft Nachfolger finden zu müssen.<br />
Das Rechenmodell liefert dabei lediglich<br />
Anhaltspunkte für eine zukunftsorientierte<br />
Bedarfsplanung, nicht jedoch „harte Daten“.<br />
Insbesondere die in der fachärztlichen Versorgung<br />
wichtigen Mitversorgungsbeziehungen<br />
sind hier nicht berücksichtigt. Dennoch<br />
kann die aus dem Modell abgeleitete Rangfolge<br />
die verantwortlichen Entscheidungsträger<br />
dafür sensibilisieren, welche Regionen<br />
erhöhte Aufmerksamkeit verdienen. In der<br />
Gesamtbetrachtung aller Facharztgruppen<br />
nehmen Viersen und Krefeld die obersten<br />
Ränge ein, wenn es um die Dringlichkeit der<br />
Nachbesetzung von Arztsitzen geht. Es folgen<br />
Mönchengladbach, danach die Kreise Düren<br />
und Heinsberg. Die mutmaßlich geringsten<br />
Probleme mit dem fachärztlichen Nachwuchs<br />
haben Bonn, der Rheinisch-Bergische Kreis,<br />
Köln, Wuppertal und Essen.<br />
Im Detail<br />
Den Indikator für einzelne<br />
Fachgruppen finden Sie unter:<br />
http://goo.gl/R7TuL<br />
Nachwuchssorge: Allgemeinmedizin<br />
Die größte Herausforderung ist und bleibt<br />
indes die Sicherstellung der hausärztlichen<br />
Versorgung. Um die Verhältniszahl von 2010<br />
zu halten, müssen bis zum Jahr 2030 in <strong>Nordrhein</strong><br />
ca. 5.000 Vollzeit-Arztsitze besetzt werden.<br />
Bei einem steigenden Anteil von Ärzten,<br />
die in Teilzeit tätig sind (s. nächstes Kapitel),<br />
benötigt <strong>Nordrhein</strong> tatsächlich erheblich<br />
mehr junge Ärzte, die sich dieser wichtigen<br />
Aufgabe stellen möchten.<br />
Die gute Nachricht in diesem Zusammenhang:<br />
Das Medizinstudium ist nach wie vor ein attraktives<br />
Ziel für viele Abiturienten. Auf einen<br />
Studienplatz kommen aktuell 4,8 Bewerber.<br />
Im Unterschied zu vielen anderen Studiengängen<br />
– so zeigt die Studentenbefragung<br />
der KBV – würden sich fast alle Studierenden<br />
nochmals für das Medizinstudium entscheiden<br />
(91 %). Ferner gibt die Mehrheit der Studierenden<br />
an, nach Abschluss ihrer Aus- und<br />
Weiterbildung in der ärztlichen Versorgung,<br />
also in einer ambulanten Praxis oder im<br />
Krankenhaus, arbeiten zu wollen. Gleichzeitig<br />
zeigt die Studie allerdings auch, dass die<br />
individuelle Neigung, sich als Hausarzt niederzulassen,<br />
mit dem Fortschreiten des Studiums<br />
abnimmt: Während in der vorklinischen<br />
Phase des Studiums sich noch 41 Prozent<br />
der Studierenden eine Tätigkeit als Hausarzt<br />
vorstellen können, beträgt der Anteil bei den<br />
Studenten im Praktischen Jahr, also am Ende<br />
des Medizinstudiums, nur noch 35 Prozent.<br />
Eine Tätigkeit als Krankenhausarzt erscheint<br />
hingegen rund drei Viertel der Studierenden<br />
als eine lockende Berufsperspektive, und das<br />
nahezu stabil über alle Phasen des Studiums<br />
hinweg.<br />
Ein schwindendes Interesse für die Allgemeinmedizin<br />
und gleichzeitig eine deutlich<br />
steigende Nachfrage nach Hausärzten: Diese<br />
Diskrepanz beunruhigt nicht nur die Verantwortlichen<br />
in den <strong>Kassenärztliche</strong>n <strong>Vereinigung</strong>en,<br />
sondern auch Gesundheitspolitiker,<br />
Landräte und Bürgermeister, aber vor allem<br />
Versicherte und Patienten, die sich um die<br />
Sicherstellung ihrer künftigen hausärztlichen<br />
Betreuung sorgen. Es sind daher wirksame<br />
Strategien gefragt, um Medizinstudenten und<br />
neu approbierten Ärzten das Interesse und<br />
die Freude an der hausärztlichen Tätigkeit<br />
überzeugend und authentisch zu vermitteln.<br />
Das wird nur im Zusammenspiel aller Akteure<br />
funktionieren – neben den <strong>Kassenärztliche</strong>n<br />
<strong>Vereinigung</strong>en sind hier auch medizinische<br />
Fakultäten, Ärztekammern, Gesundheitspolitik<br />
und Krankenkassen gefordert (s. folgendes<br />
Kapitel).<br />
MFA weiterhin hoch im Kurs<br />
Weniger Sorgen bereitet glücklicherweise die<br />
Entwicklung bei den Medizinischen Fachangestellten:<br />
In der Konkurrenz um die attraktivsten<br />
Karrieren bei den nichtakademischen<br />
Berufen liegt der Beruf immer noch weit<br />
vorn. Seit Jahren zählt die „Arzthelferin“, so<br />
die traditionelle Bezeichnung, zu den drei<br />
beliebtesten Ausbildungsberufen für junge<br />
Frauen. Gravierende Nachwuchsprobleme<br />
sind in diesem für die ambulante Versorgung<br />
unverzichtbaren Beruf daher zumindest auf<br />
mittlere Sicht kaum zu erwarten – zumal die<br />
Absolventinnen in der Praxis meist Familie<br />
und Beruf gut vereinbaren können.<br />
44 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
45
Neue Arbeitsformen<br />
Auf Teamwork bauen<br />
Hausarzt Reiner Cremer<br />
EVA Sabrina Ostrowski<br />
Eine steigende Erwerbsquote von Frauen, eine allgemeine Präferenz für das Arbeiten<br />
im Team und das Streben nach einer ausgewogenen Balance zwischen Arbeit,<br />
Familie und Freizeit. Diese Trends der Lebens- und Arbeitswelt zeigen sich auch in<br />
der ambulanten Versorgung.<br />
Facharzt für Allgemeinmedizin.<br />
Seit 1994 führt er eine eigene<br />
Praxis in Troisdorf bei Köln.<br />
„Entlastung für den Hausarzt<br />
heißt nicht mehr Freizeit für<br />
diesen, sondern mehr freie Zeit<br />
für die Patienten.“<br />
Ist seit 2004 Arzthelferin bei Reiner<br />
Cremer. Die Ausbildung dauerte<br />
drei Jahre. Es folgte die Ausbildung<br />
zur EVA, über einen Zeitraum von<br />
1,5 Jahren.<br />
„Ich arbeite jetzt mehr mit den<br />
Patienten, bin häufig auf Hausbesuchen<br />
und entlaste den Mediziner,<br />
so gut es geht. Er muss zwar<br />
stets die Vorgehensweise festlegen,<br />
aber nicht jede einfache Tätigkeit<br />
selbst erledigen.“<br />
D<br />
ie Altersstruktur der gegenwärtig tätigen<br />
Hausärzte ist naturgemäß eine<br />
nicht zu ändernde Tatsache. In den<br />
kommenden 20 Jahren werden weniger Hausärzte<br />
zur Verfügung stehen als heute, selbst<br />
wenn es gelingt, künftig mehr Nachwuchsmediziner<br />
für die hausärztliche Tätigkeit zu<br />
gewinnen. Damit dies für die Patienten keine<br />
Verschlechterung der Versorgung mit sich<br />
bringt, bedarf es innovativer Versorgungskonzepte<br />
und einer intelligenten Arbeitsteilung<br />
in den Teams der Hausarztpraxen. Mit der<br />
fachlichen Fortbildung zur EVA (Entlastende<br />
Versorgungssassistentin) haben die beiden<br />
<strong>Kassenärztliche</strong>n <strong>Vereinigung</strong>en in <strong>Nordrhein</strong>-Westfalen<br />
schon frühzeitig die Weichen<br />
gestellt, damit Hausärzte von Routinetätigkeiten<br />
entlastet werden. Die gewonnene<br />
Zeit kommt den ärztlichen Kernaufgaben<br />
und damit allen Patienten zugute. Eine der<br />
neuen Versorgungsassistentinnen ist Sabrina<br />
Ostrowski, die in der Praxis von Reiner Cremer<br />
in Troisdorf im Rhein-Sieg-Kreis als Medizinische<br />
Fachangestellte arbeitet: „Meine Arbeit<br />
besteht jetzt auch aus Hausbesuchen, Blutabnahmen,<br />
allgemeinen Kontrollen, Spritzen<br />
geben. Der Arzt muss die Indikation gestellt<br />
haben und er trägt letztendlich auch die<br />
Verantwortung für die Behandlung.“<br />
Leistungen, die vorher der Arzt selbst erbringen<br />
musste, werden nun an die EVA delegiert.<br />
Damit sich sowohl der delegierende Arzt als<br />
auch die Patienten auf die Qualität der Leistung<br />
verlassen können, muss jede Assistentin<br />
ein anspruchsvolles Curriculum absolvieren.<br />
Dieses innovative Modell könnte seine Wirkung<br />
noch wirksamer entfalten, wenn es angemessene<br />
materielle Anreize für den Einsatz der<br />
EVA gäbe. Die Leistungen können aktuell nur<br />
in unterversorgten Gebieten abgerechnet werden.<br />
Reiner Cremer musste es sich daher gut<br />
überlegen, ob er seiner Angestellten die Ausbildung<br />
finanzieren kann: „Zurzeit ist das eine<br />
betriebswirtschaftliche Mischkalkulation.“<br />
46 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
47
Neue Arbeitsformen<br />
Eva Curriculum<br />
Das EVA-Curriculum umfasst je nach vorhandener Berufserfahrung zwischen<br />
170 und 220 Unterrichtsstunden sowie 20 bis 50 Stunden Hausbesuche. Es<br />
beinhaltet folgende Themenkomplexe:<br />
• Case-Management<br />
• Geriatrisches Basis-Assessment und häufige Krankheitsbilder<br />
• Besuchsmanagement<br />
• Wundmanagement<br />
• Häufige Krankheiten in der hausärztlichen Praxis<br />
• Untersuchungs- und Behandlungsverfahren<br />
• Präventionsmanagement<br />
• Sozialrecht und Demografie<br />
• Telemedizin und elektronische Kommunikation<br />
• Palliativmedizin und Schmerztherapie<br />
• Ernährung<br />
• Psychosomatik<br />
• Notfallmanagement<br />
chenden Veränderungen im ärztlichen Berufsalltag<br />
geprägt. Die Existenzgründeranalyse von<br />
ZI und Apobank zeigt: 60 Prozent der jungen<br />
Ärzte in Westdeutschland entschieden sich für<br />
eine kooperative Arbeitsform – wie beispielsweise<br />
die Neugründung oder den Beitritt in<br />
eine Berufsausübungsgemeinschaft (BAG),<br />
so die neue Bezeichnung der altbekannten<br />
Gemeinschaftspraxis. Mehr Flexibilität, mehr<br />
Zeit für Erziehung, Familie oder Fortbildung<br />
sind gängige Motive für Kooperationen. Auch<br />
die Möglichkeit zum unmittelbaren kollegialen<br />
Austausch und damit zur Erweiterung des<br />
eigenen fachlichen Horizonts wird genannt.<br />
Das gilt auch für das Jobsharing. Bei diesem<br />
Modell teilen sich ein niedergelassener Arzt<br />
und ein Partner einen vertragsärztlichen Sitz<br />
und den damit verbundenen Versorgungsauftrag.<br />
Diese Arbeitsform eröffnet gerade für<br />
junge Ärztinnen und Ärzte die Chance des Einstiegs<br />
in die vertragsärztliche Tätigkeit – trotz<br />
Michaela Donk,<br />
Niederlassungsberaterin der KV <strong>Nordrhein</strong> in Köln.<br />
Medizin ist auch weiblich<br />
Immer mehr Frauen entscheiden sich für einen<br />
Berufsweg als Ärztin. Die Statistiken<br />
der Bundesärztekammer sprechen eine klare<br />
Sprache: Mittlerweile sind zwei Drittel aller<br />
Studienanfänger im Fach Humanmedizin<br />
weiblich. Der Anteil berufstätiger Ärztinnen<br />
ist bundesweit von 33,6 Prozent im Jahr 1991<br />
auf 43 Prozent im Jahr 2009 gestiegen. Aber<br />
auch 20 Jahre nach der deutschen <strong>Vereinigung</strong><br />
weist der Frauenanteil ein deutliches<br />
Ost-West-Gefälle auf: 51 Prozent in den neuen<br />
Ländern stehen 41 Prozent in der alten Bundesrepublik<br />
gegenüber. Ähnlich ausgeprägt<br />
ist der Unterschied zwischen den ärztlichen<br />
„Arbeitsmärkten“: Als Beschäftigte in Körperschaften,<br />
Behörden und in der Industrie erreichen<br />
Ärztinnen schon heute eine Quote von<br />
deutlich über 50 Prozent. Anders dagegen die<br />
Situation in der medizinischen Versorgung: In<br />
den Krankenhäusern der alten Bundesländer<br />
betrug der Anteil der Ärztinnen 2009 43 Prozent.<br />
In der ambulanten Versorgung betrug<br />
der Frauenanteil zur gleichen Zeit 34 Prozent,<br />
allerdings mit steigender Tendenz. Hält die<br />
Entwicklung an, werden im Jahr 2030 auch in<br />
den alten Bundesländern Frauen und Männer<br />
je zur Hälfte die Versorgung schultern (s. Grafik<br />
Seite 47). Fast identisch sind die Verhältnisse<br />
in der KV-Region <strong>Nordrhein</strong>. Dort sind<br />
aktuell 36 Prozent der Mitglieder weiblich.<br />
Besonders aufschlussreich für die künftige<br />
Entwicklung ist der Blick auf diejenigen, die<br />
sich heute für eine ambulante ärztliche Tätigkeit<br />
entscheiden. Aktuell sind 45 Prozent<br />
aller ärztlichen Existenzgründer im Westen<br />
weiblich, im Osten sogar 61 Prozent. Diese<br />
Entwicklung wurde auch von den verbesserten<br />
Möglichkeiten zur Vereinbarung von<br />
Familie und Beruf im ambulanten Sektor<br />
beeinflusst, sagt Michaela Donk, Niederlassungsberaterin<br />
der KV <strong>Nordrhein</strong>. „Die Möglichkeit,<br />
sich während der Elternzeit vertreten<br />
zu lassen, hat sich schnell herumgesprochen.<br />
Inzwischen gibt es immer wieder Fälle, in denen<br />
Ärztinnen nach einem Jahr Elternzeit zunächst<br />
einmal in Teilzeit wieder in die Praxis<br />
einsteigen“, berichtet die Beraterin aus Köln.<br />
Kooperation im Aufwind<br />
Team statt Einzelkämpfer - auch was die Arbeitsformen<br />
anbelangt, sind die vergangenen<br />
Jahre von äußerst dynamischen und weitrei-<br />
Frauenanteil in der Ärzteschaft (in Prozent, alte Bundesländer)<br />
60<br />
55<br />
50<br />
45<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
1990<br />
1995<br />
2000<br />
2005<br />
2010<br />
2015<br />
2020<br />
2025<br />
2030<br />
Krankenhaus<br />
Ambulant<br />
Trend Krankenhaus<br />
Trend ambulant<br />
Parallel zu den<br />
hohen Zulassungszahlen<br />
von Frauen<br />
für das Studium<br />
der Humanmedizin<br />
mit einem über<br />
60-Prozent-Anteil<br />
wird auch deren<br />
Beschäftigungsgrad<br />
stark zunehmen.<br />
48 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
49
Neue Arbeitsformen<br />
einer vor Ort bestehenden „Überversorgung“.<br />
Auch Praxisinhaber profitieren vom Jobsharing<br />
und der damit verbundenen Entlastung.<br />
Gerade in Anbetracht der von der <strong>Kassenärztliche</strong>n<br />
Bundesvereinigung jüngst ermittelten<br />
durchschnittlichen Wochenarbeitszeit<br />
niedergelassener Ärzte von 55 Stunden ist das<br />
Jobsharing eine gern genutzte Möglichkeit, in<br />
den letzten Jahren vor dem Ruhestand „etwas<br />
kürzer zu treten“.<br />
Der Trend zu kooperativen Arbeitsformen zieht<br />
auch eine räumliche Konzentration von Arztpraxen<br />
nach sich. Für kleinere Gemeinden, in<br />
denen sich Gemeinschaftspraxen wegen zu<br />
niedriger Patientenzahlen wirtschaftlich nicht<br />
tragen, ist das keine gute Nachricht. Für sie<br />
mag die Erkenntnis beruhigend sein, dass die<br />
Einzelpraxis keineswegs ein Auslaufmodell ist.<br />
Viele Existenzgründer wählen ganz bewusst<br />
diese Variante, an der sie die individuellen<br />
Gestaltungsmöglichkeiten ihres Arbeitsplatzes<br />
schätzen. „Die Optionen und Arbeitsformen<br />
in der ambulanten Versorgung sind zahlreich<br />
– für jede Lebenssituation findet sich<br />
inzwischen ein passendes Modell“, erklärt<br />
Michaela Donk. Insbesondere die jüngsten<br />
Flexibilisierungen im Vertragsarztrecht haben<br />
Dynamik in der Versorgungsstruktur erzeugt.<br />
So hat sich in den letzten fünf Jahren die Anzahl<br />
der angestellten Ärzte in <strong>Nordrhein</strong> mehr<br />
als verdoppelt (s. Grafik Seite 53). „Dabei<br />
ist die Anstellung eine attraktive Option für<br />
junge Ärzte, die finanzielle Investitionen am<br />
Beginn einer Selbständigkeit scheuen – weil<br />
sie Familie haben oder schon Eigentum finanzieren<br />
müssen“, fasst Donk die Eindrücke aus<br />
ihrer Beratungspraxis zusammen. Insgesamt<br />
bleiben jedoch Angestellte mit 12,6 Prozent<br />
immer noch deutlich in der Minderheit. Die<br />
meisten Ärzte sind dabei in Einzelpraxen angestellt,<br />
knapp 40 Prozent arbeiten in den Medizinischen<br />
Versorgungzentren (MVZ).<br />
Teilzeit gewinnt<br />
Auch ein anderer Trend der Arbeitswelt geht<br />
nicht an der ambulant tätigen Ärzteschaft vorbei:<br />
die Teilzeitbeschäftigung. Noch vor fünf<br />
Jahren war diese Form der Berufsausübung<br />
schwer zu realisieren: Nur drei Prozent aller<br />
Ärzte arbeiteten weniger als 40 Stunden pro<br />
Woche. Inzwischen sind in <strong>Nordrhein</strong> zwölf<br />
Prozent der Ärzte in Teilzeit tätig: 17 Prozent<br />
der Frauen und acht Prozent der Männer. Eine<br />
Teilzeitbeschäftigung ist insbesondere in der<br />
Familienphase attraktiv, und das längst nicht<br />
nur für Frauen. Auch immer mehr Männer nutzen<br />
diese Option, um an der Entwicklung ihrer<br />
Kinder nicht nur an Wochenenden teilzuhaben.<br />
Michaela Donk: „Wenn es Probleme gibt, einen<br />
Angestelltensitz nachzubesetzen, raten wir<br />
häufig, in der Ausschreibung auf die Option<br />
zur Teilzeit hinzuweisen – dann löst sich das<br />
Problem meist von selbst.“<br />
Diesen Satz könnte sicherlich auch jeder Personalchef<br />
eines mittelständischen Unternehmens<br />
unterschreiben.<br />
Im Gespräch mit Hausarzt Reiner Cremer und seiner Eva – Sabrina Ostrowski<br />
Gemeinsam stark<br />
„Es gibt Dinge, die ein Arzt notgedrungen machen muss,<br />
wofür er aber schlicht überqualifiziert ist oder aufgrund<br />
des Ärztemangels gar keine Zeit mehr hat“, berichtet Reiner<br />
Cremer, Facharzt für Allgemeinmedizin. Mehr Patienten<br />
und weniger Ärzte zwingen zu Entlastung, damit das Berufsbild<br />
Hausarzt nicht abschreckend auf den Nachwuchs<br />
wirkt.<br />
Eine Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, ist der Einsatz<br />
von Medizinischen Fachangestellten, die eine Fortbildung<br />
zur sog. „Entlastenden Versorgungsassistentin“ (EVA) absolviert<br />
haben. Eine EVA macht klassisch das, was medizinische<br />
Assistenzberufe kennzeichnet: auf Anordnung eines<br />
Arztes gewisse Leistungen erbringen. Typische Beispiele<br />
sind die Wundversorgung und die Verabreichung von<br />
Spritzen. Bevor die EVA in Aktion treten kann, muss daher<br />
ein Mediziner den Patienten persönlich untersucht und die<br />
Details der Anwendung bestimmt haben.<br />
Die Erfahrung zeigt, dass die neue Form der Zusammenarbeit<br />
keine rein funktionale Arbeitsteilung ist: „Die Patienten<br />
haben zu uns einen anderen, privateren Zugang. Wenn<br />
sie etwas nicht verstehen, trauen sich viele nicht, den Arzt<br />
anzusprechen, sondern kommen zu uns. Wir sind ja auch<br />
häufiger vor Ort und sehen, wenn die häusliche Situation<br />
abrutscht, wie beispielsweise eine Verwahrlosung bei beginnender<br />
Demenz. Es gibt keiner gerne zu, wenn er etwas<br />
nicht versteht oder nicht mehr machen kann“, ist Sabrina<br />
Ostrowski (27 Jahre, Realschulabschluss) überzeugt. Als<br />
klassisches Beispiel nennt sie die Situation, dass ältere<br />
Patienten sich in der Apotheke auf eigene Kosten Medikamente<br />
besorgen, obwohl sie nur wenig Geld haben. „Sie<br />
wissen nicht, dass dies unter Umständen die Kassen tragen<br />
müssen. Wenn ich vor Ort bin und das sehe, kann ich es<br />
ansprechen und wir können helfen.“<br />
Zusätzliche Informationen zur Lebenslage und zu psychosozialen<br />
Besonderheiten des Patienten – das ist der qualitative<br />
Bonus, den der Einsatz der Versorgungsassistentin<br />
für den Arzt verspricht.<br />
Eine Investition in Qualität<br />
„EVA-Einsätze werden in meinem Fall leider nicht über die<br />
KV vergütet, noch nicht einmal die Fahrtkosten werden<br />
über den ‚Helferinnenbesuch’ im EBM kostendeckend<br />
Zu Besuch bei Patienten vor Ort. Dank EVA<br />
bleibt Reiner Cremer mehr Zeit für seine Praxis,<br />
Patienten, Weiterbildung und Familie.<br />
50 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
51
Neue Arbeitsformen<br />
erstattet. Ich als Arzt profitiere aber davon, weil ich entlastet<br />
werde und mehr Patienten in der Praxis mit der<br />
notwendigen Zuwendung und qualifizierter Diagnostik<br />
betreuen kann“, so Cremer.<br />
Die Ausbildung der EVA muss über eine Praxis erfolgen,<br />
die Mitarbeiterin hierfür freigestellt werden. Und nach der<br />
Ausbildung steigt sie im doppelten Sinne im Wert. Sie wird<br />
mehr verdienen, was angesichts des erweiterten Aufgabenund<br />
Verantwortungsbereichs gerecht ist, und übernimmt<br />
höher qualifizierte Aufgaben. Auch die Ausbildungskurse<br />
sind für den Arzt als Arbeitgeber kostenpflichtig. Die Angestellte<br />
muss im Gegenzug eine Menge Freizeit opfern.<br />
„Es ist schön, wenn man sich weiterbilden kann und Menschen<br />
noch mehr unterstützen und helfen kann“, so Sabrina<br />
Ostrowski. Für ihre Zusatzqualifikation musste sie nach<br />
Düsseldorf fahren. „Das Leistungsniveau ist anspruchsvoll,<br />
aber zu schaffen. Die Ausbildung ist zeitintensiv: mittwochs,<br />
freitags, samstags oder sonntags ist der Unterricht.<br />
Das ist eine Einschränkung“. Die Kurse waren dennoch<br />
immer gut besucht. „Meine Arbeit hat sich dadurch verändert.<br />
Ich bin motivierter, habe mehr Spaß, werde ernster<br />
genommen. Die Ausbildung gab mir eine Perspektive, bot<br />
eine Weiterentwicklung“, begründet sie ihren Einsatz.<br />
Grenzen der Delegation<br />
„Wir stoßen schnell auch an Grenzen der Übertragbarkeit<br />
von Aufgaben. Wenn die EVA eine intramuskuläre Spritze<br />
verabreicht, sollte der Patient noch eine Weile beobachtet<br />
werden, falls es zu Komplikationen kommt. Die Komplikationen<br />
wären dann klar wieder vom Arzt zu behandeln“,<br />
meint Reiner Cremer. Genau hier sieht er auch das Problem<br />
bei delegierbaren Leistungen. So würden beispielsweise<br />
Hersteller von speziellen Medikamenten anbieten, den Arzt<br />
zu entlasten und direkt bei den Patienten Medikamente zu<br />
spritzen. Was aber, wenn es zu absehbaren Komplikationen<br />
kommt? Und wenn er gerade nicht abkömmlich ist?<br />
„Diesen Weg möchte ich im Interesse der Patienten nicht<br />
mitgehen. Wenn meine EVA zu Patienten fährt, bin ich im<br />
Notfall schnell zur Stelle. Wir koordinieren die Termine<br />
miteinander. Selbst einen Gipswechsel würde ich nicht delegieren,<br />
denn auch der muss fachmännisch sitzen und darf<br />
nicht drücken. Die Grenze ist also durch die Haftungsgrenze<br />
gesetzt. Die EVA muss Komplikationen bei einer Wunde<br />
erkennen, aber nicht behandeln können“, so Cremer.<br />
Sabrina Ostrowski pflichtet ihrem Chef bei: „Diese Verantwortung<br />
will ich auch nicht tragen. Wenn ich erkenne, etwas<br />
stimmt mit den Medikamenten nicht, sie wirken nicht<br />
richtig oder falsch, dann melde ich das. Aber ich könnte ja<br />
nicht sagen, warum das so ist. Ich kenne die Wechselwirkungen<br />
der Medikamente nicht.“<br />
„Mehr EVAs wären sicherlich zweckdienlich, um die Ärzte<br />
weiter zu entlasten. Es müssten allerdings die Kosten für<br />
deren Ausbildung getragen und deren Einsatz entlohnt<br />
werden, damit sich mehr Hausärzte eine EVA leisten<br />
können“, fordert Cremer. Zudem empfiehlt er den jungen<br />
Kollegen, mehr Arbeit im Verwaltungsbereich zu delegieren:<br />
„Wir haben eine papierlose Praxis. Die gesparte Zeit für<br />
Papierablage, und das ist enorm viel Zeit, haben wir dann<br />
nicht in Stellenabbau umgesetzt, sondern in zusätzliche<br />
Qualifizierung der Mitarbeiter. Eine Fachkraft ist mir zu<br />
wertvoll, um Akten zu verwalten.“<br />
Entwicklung der absoluten Zahlen<br />
(2008 = 1)<br />
4<br />
3,5<br />
3<br />
2,5<br />
2<br />
1,5<br />
1<br />
Trends der Arbeitsformen 2008–<strong>2013</strong><br />
2008 2009 2010 2011 2012 <strong>2013</strong><br />
3,85<br />
2,60<br />
2,06<br />
1,14<br />
1,05<br />
Ärzte (m/w) in Teilzeit<br />
(< 40 Stunden)<br />
Männl. Angestellte<br />
Weibl. Angestellte<br />
Ärztinnen insgesamt<br />
Alle Ärzte (m/w)<br />
Trends der Arbeitsformen: Die Gruppe<br />
der Ärztinnen und Ärzte in Teilzeit hat<br />
sich in den letzten fünf Jahren fast<br />
vervierfacht.<br />
Die Zahl der weiblichen Angestellten<br />
hat sich mehr als verdoppelt (2,06).<br />
Noch größer war der Anstieg bei den<br />
männlichen Angestellten, nämlich auf<br />
das 2,6-fache.<br />
Dazu wurde dem Ausgangswert des<br />
Jahres 2008 – die Anzahl der Personen<br />
in der jeweiligen Gruppe – der Indexwert<br />
eins zugeordnet. Der Wert 1,05<br />
im Jahr <strong>2013</strong> bei der Gesamtgruppe<br />
bedeutet, dass diese um fünf Prozent<br />
angewachsen ist.<br />
Quelle: Arztregister KV <strong>Nordrhein</strong>, Stand: 01.04.<strong>2013</strong><br />
Reiner Cremer in seiner Praxis in Troisdorf bei Bonn.<br />
Dank seiner EVA muss er nicht mehr so oft auf Hausbesuch<br />
und kann mehr Zeit in seiner Praxis verbringen.<br />
52 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
53
Fazit & Ausblick<br />
3FAZIT & AUSBLICK<br />
Die KV-Landschaft ist innovativ. Den Nachwuchs motivieren,<br />
wirksame Anreize für Niederlassungen finden, neue Formen der<br />
Berufsausübung fördern – für all das gibt es bereits Konzepte und<br />
Erfahrungen. Es kommt auf den Einzelfall an, wann und wo<br />
Interventionen sinnvoll sind.<br />
Heute denken,<br />
morgen lenken<br />
36 %<br />
der ambulant tätigen Ärzteschaft sind weiblich.<br />
62 %<br />
der Studienanfänger im Fach<br />
Humanmedizin sind Frauen.<br />
Die Analysen in diesem Report zeigen die<br />
Komplexität, die hinter der Planung ambulanter<br />
Versorgung steht. Die Zahlen der<br />
Einwohner und der niedergelassenen Ärzte<br />
sind nur ein Aspekt bei der Gestaltung eines<br />
bedarfsgerechten Angebotes. Weitere Daten<br />
zur Morbidität, zu grenzüberschreitenden<br />
Patientenströmen und zur Altersstruktur von<br />
Bevölkerung und Ärzteschaft sind erforderlich,<br />
um möglichst früh zu erkennen, wie<br />
sich der Versorgungsbedarf vor Ort verändern<br />
wird.<br />
Seit <strong>2013</strong> gilt eine reformierte ambulante<br />
Bedarfsplanung. Mit den neuen Instrumenten<br />
ist es künftig möglich, auch kleinräumige<br />
Versorgungsbedarfe zu identifizieren und in<br />
der Planung von Arztsitzen zu berücksichtigen.<br />
Allerdings schafft eine regionale Planung<br />
nicht die Ärzte, die bereit sind, sich insbesondere<br />
an „Mangelstandorten“ niederzulassen.<br />
Es bedarf daher einer Vielzahl konkreter<br />
Maßnahmen und Anreize, um auch in Zukunft<br />
weiße Flecken auf der ambulanten Versorgungslandkarte<br />
in <strong>Nordrhein</strong> zu verhindern.<br />
Zunächst geht es darum, angehende und<br />
approbierte Ärzte grundsätzlich für die ambulante<br />
Medizin zu gewinnen. Die <strong>Kassenärztliche</strong><br />
<strong>Vereinigung</strong> hat keinerlei Einfluss<br />
auf die Fächer- und Schwerpunktwahl junger<br />
Mediziner. Die meisten von ihnen kommen<br />
erstmals nach ihrer Facharztprüfung mit der<br />
KV in Berührung. Daher wirbt die KV <strong>Nordrhein</strong><br />
bereits unter Studierenden der Medizin<br />
für das Berufsziel des niedergelassenen<br />
Haus- oder Facharztes. Zudem fördert die KV<br />
<strong>Nordrhein</strong> insbesondere den hausärztlichen<br />
Nachwuchs (s. Interview Seite 61).<br />
Nach ihrer Weiterbildung zum Facharzt steht<br />
Ärzten heute eine Fülle beruflicher Optionen<br />
offen. Umso mehr gilt es, Wege in die ambulante<br />
Versorgung aufzuzeigen, die mit den<br />
individuellen Lebensplänen junger Ärztinnen<br />
und Ärzte vereinbar sind. Glücklicherweise<br />
hat sich in den zurückliegenden Jahren sehr<br />
viel getan: Nach einer mehr als hundertjährigen<br />
Dominanz der Einzelpraxis steht heute<br />
ein ganzes Spektrum an Formen und Konstellationen<br />
zur Auswahl, um als Arzt ambulant<br />
zu arbeiten. Das bedeutet aber nicht, dass<br />
sich die Einzelpraxis überlebt hat. An vielen<br />
Orten werden die Einzelpraxen auch künftig<br />
das Rückgrat der Versorgung bilden.<br />
Die in diesem Report aufgezeigten neuen<br />
Möglichkeiten der Berufsausübung können<br />
jungen Ärzten den Weg in die ambulante<br />
Versorgung ebnen und erleichtern. Und für<br />
die <strong>Kassenärztliche</strong> <strong>Vereinigung</strong> bedeuten sie<br />
neue, passgenaue Instrumente für die Sicherstellung<br />
der Versorgung.<br />
54 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
55
Ideen gegen Ärztemangel<br />
Ideen gegen den Ärztemangel<br />
Im Kreis Viersen werden bald zahlreiche Kinder- und Jugendärzte das Ruhestandsalter<br />
erreicht haben. Kooperationsmodelle wie das von Christiane Thiele (42) und<br />
Dr. Alexandra Sell (43) könnten Schule machen und vor allem junge Ärztinnen<br />
dazu bewegen, eine Praxis zu gründen. Die beiden Kinder- und Jugendärztinnen<br />
und Mütter teilen sich einen Praxissitz.<br />
Christiane Thiele<br />
Die Fachärztin für Kinder- und<br />
Jugendmedizin empfindet die<br />
Teilung eines Arztsitzes als ideale<br />
Lösung – auch für die Patienten.<br />
„Wir nehmen uns Zeit für<br />
intensive Gespräche mit den<br />
Eltern, etwas älteren Kindern und<br />
Jugendlichen. Uns ist es wichtig,<br />
die Entwicklung der Kinder zu<br />
begleiten – und dadurch Krankheitsbilder<br />
besser zu verstehen.“<br />
Dr. Alexandra Sell<br />
Die Arbeitsteilung in der Gemeinschaftspraxis<br />
lässt der Fachärztin<br />
für Kinder- und Jugendmedizin<br />
Zeit für ihre eigenen Kinder.<br />
„Ein Modell, wie wir es praktizieren,<br />
sollte künftig besser gefördert<br />
werden. In ländlichen Gegenden<br />
könnte die Versorung in einigen<br />
fachärztlichen Bereichen wie der<br />
Pädiatrie sonst knapp werden.“<br />
Sie praktizieren ein Zukunftsmodell: eine<br />
Gemeinschaftspraxis auf dem Land. Warum<br />
haben Sie sich hierfür entschieden?<br />
Dr. Sell: Ich habe selbst zwei Kinder; mit einem<br />
Arztsitz alleine wäre mir die berufliche<br />
Belastung mit zwei schulpflichtigen Kindern<br />
zu groß gewesen. Daher kam für mich im<br />
Grunde nur eine Teilzeitstelle in Frage. Ich<br />
komme aus der Gegend, hatte in der Praxis<br />
unseres Vorgängers bereits als Vertretung gearbeitet<br />
und wusste, dass er in Rente geht.<br />
Als ich Christiane Thiele zufällig während der<br />
Praxissuche kennen lernte, entstand die Idee,<br />
den Sitz zu teilen.<br />
Thiele: Ich habe, bevor ich mich für einen<br />
Praxissitz entschied, im SPZ und in der<br />
Neugeborenen-Intensivstation einer Klinik<br />
gearbeitet und hatte den Wunsch, enger und<br />
partnerschaftlich mit den Familien zusammenzuarbeiten.<br />
Zudem habe ich nach einer<br />
Lösung gesucht, die mit meiner eigenen Familie<br />
vereinbar war. In der Klinik fallen regelmäßig<br />
Nacht- und Bereitschaftsdienste an –<br />
mit Kindern fast unmöglich zu leisten. Daher<br />
wollte ich eine eigene Praxis gründen. Fakt<br />
ist: Von einem halben Kassensitz kann man<br />
keine Familie ernähren. Da ich jedoch gerne<br />
das unternehmerische Risiko teilen wollte<br />
und noch eine andere medizinische Tätigkeit<br />
ausübe, erschien mir eine Teilung des Arztsitzes<br />
als ideale Lösung. Zumal ich keinen Chef<br />
mehr habe; die Therapiefreiheit liegt bei mir<br />
– trotzdem habe ich aufgrund unserer Kooperation<br />
nicht das Gefühl, alleine zu sein.<br />
Wie profitiert die eine von der anderen?<br />
Welche Vorteile genießen die Patienten?<br />
Thiele: Montags sind wir gemeinsam in der<br />
Praxis und können dann alle wichtigen Dinge<br />
rund um die Praxis und die Patienten besprechen.<br />
Wenn eine von uns einen Rat sucht,<br />
weiß die andere oft eine Antwort. Zudem vertreten<br />
wir uns gegenseitig: Werde ich krank,<br />
springt meine Kollegin ein, und umgekehrt, so<br />
dass die Familien nicht in eine andere Praxis<br />
ausweichen müssen. Unser Modell wird von<br />
den Familien gut angenommen. Gemeinsam<br />
können wir ihnen viele Spezialisierungen anbieten:<br />
zum Beispiel ADS-Betreuung, Neuropädiatrie<br />
oder Sozialmedizin.<br />
56 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
57
Ideen gegen Ärztemangel<br />
Wie kann der medizinische Standard auf dem<br />
Land gehalten werden?<br />
Dr. Sell: In ländlichen Gegenden könnte die<br />
Versorgung in einigen fachärztlichen Bereichen,<br />
auch in der Pädiatrie, knapp werden, da<br />
immer mehr Ärzte das unternehmerische Risiko<br />
einer Arztpraxis in strukturschwächeren<br />
Gemeinden scheuen. Daher müssen Modelle<br />
initiiert werden, die mehr Kollegen und Kolleginnen<br />
eine Praxisgründung ermöglichen.<br />
Insbesondere Fachärztinnen, die auch Mütter<br />
sind, ist eine Praxis alleine zu viel. Ein Modell,<br />
wie wir es praktizieren, sollte populärer<br />
und künftig besser gefördert werden. Obwohl<br />
wir uns einen Arztsitz teilen, mussten wir für<br />
alles doppelt zahlen – Bewerbungsgebühr,<br />
Teilungsgebühr, Zusammenlegungsgebühr.<br />
Kollegen und Kolleginnen, die dieses Modell<br />
anstreben, sollten weniger Steine in den Weg<br />
gelegt bekommen und mehr Unterstützung<br />
erhalten.<br />
Wie sichern Sie die Qualität Ihrer Versorgung,<br />
auch in Zukunft?<br />
Thiele: Wir setzen auf Teamwork, nicht nur in<br />
der Praxis, sondern auch in der Zusammenarbeit<br />
mit Kliniken, Stillberaterinnen und anderen<br />
Spezialisten. Wir beschäftigen beispielsweise<br />
eine eigene Stillberaterin, die sich um<br />
die jungen Mütter kümmert. Bei Diabetes-Patienten<br />
ist es wichtig, schnell Infos aus einer<br />
Spezialklinik zu bekommen oder Blutwerte<br />
einfach elektronisch dorthin übertragen zu<br />
können, damit eine Familie dafür nicht von<br />
Viersen nach Düsseldorf reisen muss. Durch<br />
dieses Netzwerk können wir unsere kleinen<br />
Patienten ganzheitlich betreuen.<br />
Wie könnte man junge Kollegen und Kolleginnen<br />
dazu motivieren, eine Praxis zu gründen?<br />
Dr. Sell: Ein Teil der Facharztausbildung sollte<br />
in der Praxis stattfinden – dann würden die<br />
jungen Ärzte merken, dass diese Arbeit sehr,<br />
sehr viel Spaß macht.<br />
Dr. Alexandra Sell und Christiane Thiele<br />
setzen auf Teamwork, auch in der<br />
Zusammenarbeit mit Kliniken, Stillberaterinnen<br />
und anderen Spezialisten.<br />
Warum kommen die Patienten – und ihre<br />
Eltern – gerne zu Ihnen?<br />
Thiele: Pädiatrie ist eine sprechende Medizin<br />
– und besteht aus meiner Sicht nicht nur aus<br />
Abhören und Abtasten. Wir führen sehr viele<br />
und intensive Gespräche mit den Eltern, und<br />
auch mit den etwas älteren Kindern und den<br />
Jugendlichen, die bei uns in Behandlung sind.<br />
Dafür nehmen wir uns Zeit – obwohl wir diese<br />
Gespräche nicht honoriert bekommen. Uns ist<br />
es aber wichtig, die Entwicklung der Kinder<br />
zu begleiten – und dadurch Krankheitsbilder<br />
besser zu verstehen und einzuordnen. Dazu<br />
gehören beispielsweise auch Erziehungsprobleme<br />
oder Schwierigkeiten in der Schule, die<br />
wir mit Lehrern besprechen.<br />
Dr. Sell: Wir verstehen uns nicht als Leistungserbringer,<br />
sondern wollen Menschen<br />
betreuen – diesen Ansatz lassen wir die Familien<br />
spüren.<br />
Zentrale Forderungen der „Gesundheits-<br />
Weisen“ sind umgesetzt<br />
Um das Gesundheitswesen zukunftsfähig zu<br />
machen, reicht es nicht aus, genügend Personal<br />
zu gewinnen. Weil der Bedarf sich auch<br />
qualitativ verändert, sind Innovationen der<br />
Versorgungsstrukturen ebenso wichtig. Mancher<br />
wünscht sich dabei ein schnelleres Tempo.<br />
Die vergangene Dekade war jedoch keineswegs<br />
von Stillstand geprägt.<br />
Erinnern wir uns: Vor zwölf Jahren monierte<br />
der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen<br />
in einem viel beachteten Gutachten ein<br />
erhebliches Maß an Über-, Unter- und Fehlversorgung.<br />
Als „Therapie“ forderten die „Gesundheits-Weisen“<br />
unter anderem die Einführung<br />
von strukturierten Behandlungsprogrammen<br />
für chronisch Kranke sowie den Ausbau von<br />
Hospizen und ambulanten Palliativangeboten<br />
für sterbende und schwerstkranke Patienten.<br />
Diese zentralen Forderungen von damals sind<br />
mittlerweile umgesetzt.<br />
Mehr Qualität für Chroniker<br />
Das gilt besonders für die Region <strong>Nordrhein</strong>,<br />
in der große Fortschritte bei der strukturierten<br />
Behandlung von Chronikern erzielt wurden:<br />
Gegenwärtig nehmen in <strong>Nordrhein</strong> rund<br />
800.000 Patienten an den Disease-Management-Programmen<br />
teil (s. Interview Seite 36).<br />
Es gibt Programme für Diabetes mellitus Typ<br />
1 und 2, für koronare Herzkrankheit, Asthma<br />
bronchiale und chronisch obstruktive Atemwegserkrankungen<br />
sowie für Brustkrebs. Die<br />
KV <strong>Nordrhein</strong> und die Krankenkassen begleiten<br />
die Programme mit einer in Deutschland einzigartigen<br />
Qualitätssicherung. So erhalten die<br />
Ärzte in <strong>Nordrhein</strong> regelmäßig eine detaillierte<br />
Rückmeldung darüber, inwieweit sie die in den<br />
Programmen festgelegten Versorgungs- und<br />
Qualitätsziele erreichen. Fällt ein Patient in der<br />
Dokumentation durch kritische klinische Werte<br />
auf, bekommt sein Arzt einen Hinweis. So<br />
wird eine optimale Versorgung und eine gute<br />
Lebensqualität für chronisch kranke Patienten<br />
erreicht.<br />
Ambulante Palliativversorgung:<br />
Begleitung am Lebensende<br />
Gleichzeitig ist <strong>Nordrhein</strong> führend im Auf- und<br />
Ausbau einer vernetzten, multiprofessionellen<br />
und sektorenübergreifenden Palliativversorgung.<br />
Auf Initiative des Landes NRW haben die<br />
KV <strong>Nordrhein</strong> und die Krankenkassen 2006 die<br />
„allgemeine ambulante Palliativversorgung“<br />
(AAPV) auf den Weg gebracht. Sie ermöglicht<br />
dem Hausarzt, seine sterbenden Patienten mit<br />
Unterstützung besonders qualifizierter Ärzte<br />
und Pflegekräfte zu betreuen und zu begleiten.<br />
In nur wenigen Jahren wurden Versorgungsstrukturen<br />
geschaffen, die bundesweit<br />
Beachtung finden. Für den Aufbau der heute<br />
34 nordrheinischen Palliativnetze war eine<br />
intensive Koordination und Unterstützung<br />
seitens der KV <strong>Nordrhein</strong> gefragt. Unverzichtbarer<br />
Bestandteil der AAPV sind qualifizierte<br />
Haus- und Fachärzte sowie eine persönlich<br />
engagierte und fachlich qualifizierte Pflege.<br />
Die Versorgungsnetze, die die palliative Basisversorgung<br />
gewährleisten, arbeiten daher<br />
sektoren- und professionsübergreifend. Dieser<br />
Versorgungsansatz war anfangs Neuland für<br />
die KV <strong>Nordrhein</strong>. Das Engagement der KV hat<br />
sich doppelt gelohnt: Zum einen verfügt <strong>Nordrhein</strong><br />
inzwischen über eine flächendeckende<br />
allgemeine ambulante Palliativversorgung, die<br />
im Jahr 2012 rund 13.000 schwerstkranke Patienten<br />
betreut hat. Zum anderen gewann die<br />
KV <strong>Nordrhein</strong> mit diesem Projekt wertvolle Erfahrungen<br />
und spezifisches Know-how für die<br />
Umsetzung weiterer Versorgungsinnovationen.<br />
Flächendeckende Innovationen:<br />
Nur mit der KV<br />
Die Erfahrungen der Disease-Management<br />
-Programme und der ambulanten Palliativversorgung<br />
zeigen: Nachhaltige Innovationen<br />
in der ambulanten Versorgung, die allen Patienten<br />
zugänglich sind, gelingen insbesondere<br />
mit Akteuren, die in der Lage sind, um flächendeckend<br />
zu agieren – so wie die <strong>Kassenärztliche</strong>n<br />
<strong>Vereinigung</strong>en. Hingegen hat der vom<br />
Bundesgesetzgeber in den vergangenen Jahren<br />
etablierte Wettbewerbsrahmen für neue<br />
Versorgungsformen nicht die erhofften Innovationen<br />
gebracht. Stattdessen sind vielerorts<br />
kleinteilige und wenig nachhaltige Strukturen<br />
entstanden: Nicht selten wurden neue Modelle<br />
und Verträge nach nur kurzer Laufzeit sangund<br />
klanglos beendet. Zwar haben einzelne<br />
„Leuchttürme“ auch nach einigen Jahren noch<br />
Bestand; sie sind aber meist zu teuer, zu aufwändig<br />
oder zu komplex, um als Blaupause für<br />
die Flächenversorgung zu dienen.<br />
58 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong> <strong>Versorgungsreport</strong> <strong>2013</strong><br />
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Standpunkt<br />
Herausforderungen<br />
gemeinsam meistern<br />
Die Versicherten in <strong>Nordrhein</strong> haben einen Anspruch auf hochwertige ärztliche<br />
Versorgung. Der Vorsitzende des Vorstandes der KV <strong>Nordrhein</strong> erläutert im Interview,<br />
wie dieser Anspruch trotz des drohenden Ärztemangels erfüllt werden kann.<br />
Dr. Peter Potthoff über die Aufwertung der Allgemeinmedizin, funktionierende<br />
Kooperation und seine Forderungen an die Politik.<br />
Dr. med. Peter Potthoff<br />
Vorsitzender des Vorstandes der<br />
KV <strong>Nordrhein</strong>. Bankkaufmann mit<br />
erstem juristischen Staatsexamen<br />
und Frauenarzt. Er ist als Gynäkologe<br />
in Bad Honnef tätig.<br />
„Wir würden gerne eine aktivere<br />
Rolle spielen. Dazu müssen wir<br />
wieder an allen maßgeblichen<br />
Versorgungsformen mitwirken<br />
können. Auch an Selektivverträgen.“<br />
In der Diskussion um den künftigen Ärztemangel<br />
ist fast ausschließlich von Hausärzten<br />
die Rede. Brauchen wir bei den Fachärzten<br />
keine Engpässe zu befürchten?<br />
Auch der fachärztliche Nachwuchs in der<br />
ambulanten Versorgung rekrutiert sich nicht<br />
von selbst. Fachärzte haben, anders als die<br />
Hausärzte, immer die Alternative, auch im<br />
Krankenhaus zu arbeiten. Sie werden dort<br />
heftig umworben, denn schon heute können<br />
viele Kliniken ihre Stellen nicht mehr besetzen.<br />
Es liegt auf der Hand, dass wir hier mit<br />
dem stationären Sektor im Wettbewerb stehen.<br />
Junge Ärztinnen und Ärzte werden ihre<br />
beruflichen Optionen sorgfältig prüfen und<br />
dann entscheiden. Dabei geht es um Berufszufriedenheit<br />
im weitesten Sinne: Arbeitsklima,<br />
Arbeitszeiten und natürlich auch die<br />
Verdienstmöglichkeiten …<br />
… also ist der Mangel bei Haus- und Fachärzten<br />
gleichermaßen drängend?<br />
Bei den Hausärzten ist die Situation besonders<br />
akut. Seit Jahren entfällt nur ein Zehntel<br />
aller Facharztanerkennungen in Deutschland<br />
auf die Allgemeinmedizin; nötig wären doppelt<br />
so viele. Wir brauchen Hausärzte, aber<br />
von den Hochschulen und Kliniken kommen<br />
Neurochirurgen und Humangenetiker. Hinzu<br />
kommt: In der hausärztlichen Versorgung<br />
wird der Mangel von der Bevölkerung früher<br />
und unmittelbarer wahrgenommen. Die<br />
meisten Menschen sind bereit, für den Facharzt<br />
eine längere Anfahrt in Kauf zu nehmen.<br />
Dagegen soll der Hausarzt „vor Ort“ und<br />
möglichst kurzfristig erreichbar sein. Das ist<br />
ja auch ein wesentliches Merkmal der hausärztlichen<br />
Versorgung. Und genau deshalb<br />
planen wir künftig Hausärzte kleinräumiger<br />
als alle anderen Fachgruppen. Aber Planung<br />
allein macht keine Ärzte; natürlich können<br />
wir nur die Hausärzte einsetzen, die wir<br />
haben.<br />
Ist es tatsächlich so unattraktiv, Hausarzt<br />
zu sein?<br />
Nahezu alle Hausärzte versichern uns das Gegenteil.<br />
Allerdings ist die hausärztliche Tätigkeit<br />
zum Teil mit unzutreffenden Vorurteilen<br />
und Klischees behaftet. Etwa die Unterstellung<br />
einer finanziellen Benachteiligung nach<br />
dem Motto: armer Hausarzt versus reicher<br />
Facharzt. Das mag vor über 20 Jahren so gewesen<br />
sein. Seither haben sich die Einkommen<br />
von Haus- und Fachärzten – im Durchschnitt<br />
– vollständig angeglichen.<br />
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Standpunkt<br />
Was hält junge Mediziner sonst davon ab,<br />
Hausärztin oder Hausarzt zu werden?<br />
Es ist kein Geheimnis, dass die Allgemeinmedizin<br />
in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung<br />
nicht den Stellenwert hat, der ihr nach<br />
ihrem Gewicht in der Versorgung zusteht.<br />
An den medizinischen Fakultäten dominieren<br />
die Fächer, in denen klinische Forschung<br />
und technische Verfahren eine große Rolle<br />
spielen. Dagegen fristet die Allgemeinmedizin<br />
eher ein Schattendasein. Man muss nur<br />
einmal über den Campus einer beliebigen<br />
Universitätsklinik spazieren und versuchen,<br />
ein Institut für Allgemeinmedizin oder etwas<br />
Vergleichbares dort zu finden …<br />
Was können Sie gegen diese Fehlentwicklungen<br />
tun?<br />
Für die dringend nötige Aufwertung der Allgemeinmedizin<br />
brauchen wir Mitstreiter: In<br />
erster Linie die Verantwortlichen für die Forschungs-<br />
und Hochschulpolitik – im Bund wie<br />
in den Ländern. Aber auch die medizinischen<br />
Fakultäten. Dort müssen die Ressourcen mehr<br />
in Richtung der künftigen Versorgungsbedarfe<br />
gelenkt werden.<br />
Im Übrigen fördern wir die Allgemeinmedizin<br />
nicht erst seit heute: In den letzten 15 Jahren<br />
haben die KV <strong>Nordrhein</strong> und die Krankenkassen<br />
gemeinsam viel Geld investiert, damit<br />
qualifizierte Ärzte einen Assistenten zur Weiterbildung<br />
im Fach Allgemeinmedizin beschäftigen<br />
und vernünftig bezahlen können.<br />
Allein im laufenden Jahr sind es fünf Millionen<br />
Euro. Und seit Februar 2012 gewähren<br />
wir eine begrenzte Zahl von Stipendien für<br />
Medizinstudierende im Praktischen Jahr, die<br />
sich im Wahlbereich für die Allgemeinmedizin<br />
entscheiden.<br />
Wenden wir uns den Ärzten zu, die heute in<br />
der Versorgung tätig sind. Seit Jahren fordern<br />
Experten mehr Vernetzung und Kooperation.<br />
Sind Ärztenetze eine Option für die KV<br />
<strong>Nordrhein</strong>?<br />
Über die Perspektiven von Netzen wird seit<br />
Jahren intensiv auf verschiedenen Ebenen<br />
diskutiert. Seit kurzem gibt es Kriterien der<br />
<strong>Kassenärztliche</strong>n Bundesvereinigung, um<br />
besonders entwickelte und leistungsfähige<br />
Netze anzuerkennen und gegebenenfalls zu<br />
fördern – auch wenn wir dafür leider keine Finanzierung<br />
von den Kassen erhalten. Richtig<br />
ist aber auch, dass Netze praktisch nirgendwo<br />
in Deutschland eine echte Sicherstellungs-<br />
Verantwortung übernehmen. Es gibt einzelne<br />
„Leuchttürme“, etwa in Baden-Württemberg,<br />
die aber bisher keine Nachahmer gefunden<br />
haben.<br />
Was sind die Gründe dafür?<br />
Viele unterschätzen den organisatorischen<br />
Aufwand und die nötigen Vorleistungen an<br />
Geld und an Zeit, um ein geschäftsfähiges,<br />
und das heißt vor allem: ein vertragsfähiges<br />
Netz zu etablieren. Und nicht zuletzt braucht<br />
es Stehvermögen und Konfliktfähigkeit, etwa<br />
wenn es um Verträge mit Krankenkassen geht<br />
oder um die interne Verteilung von Einnahmen.<br />
Vieles davon steht ja im Widerspruch zu<br />
den Bedürfnissen und Wünschen, die heute<br />
oftmals den jungen, nachrückenden Ärzten<br />
zugeschrieben werden.<br />
Die viel zitierte Generation Ypsilon?<br />
Ja. Diese Einteilungen und Zuschreibungen<br />
sind sicher überzeichnet. Trotzdem steckt ein<br />
Körnchen Wahrheit darin. Viele junge Ärzte<br />
– Frauen wie Männer – sagen uns klipp<br />
und klar: Die traditionellen Arbeitszeiten<br />
unserer Vorgänger sind für uns indiskutabel.<br />
Viele sagen uns auch: Die Übernahme einer<br />
Praxis mit der ganzen unternehmerischen<br />
Verantwortung, auch für das Praxispersonal,<br />
das kommt für mich nicht Betracht. Ich sehe<br />
bei dieser Gruppe daher auch wenig Neigung,<br />
Praxisnetze zu gründen oder sich in Netzen<br />
zu engagieren.<br />
Bedeutet dieser Mentalitätswandel das<br />
Aus für neue Kooperationsformen?<br />
Nein, ganz im Gegenteil. Kooperation ermöglicht<br />
Arbeitsteilung. Deshalb liegt Kooperation<br />
im Trend. Wir erleben einen regelrechten<br />
Boom kooperativer Modelle. Die Berufsausübungsgemeinschaft<br />
(BAG), also die gute alte<br />
Gemeinschaftspraxis, ist so attraktiv wie nie.<br />
Hinzu kommen die Medizinischen Versorgungszentren,<br />
Teil-BAGs, Zweigpraxen und<br />
vieles mehr. Nur noch die Hälfte unserer Mitglieder<br />
arbeitet in einer traditionellen Einzelpraxis.<br />
Und auch für die Einzelpraxis werden<br />
wir Kooperations- und Vernetzungsangebote<br />
schaffen.<br />
Was ist darunter zu verstehen?<br />
Vielen unserer Mitglieder ist kaum bewusst,<br />
dass sie bereits in einem Netz tätig sind,<br />
nämlich als Mitglied ihrer KV. Wir testen<br />
derzeit in der Modellregion Düren mit Erfolg<br />
den elektronischen Arztbrief. Mit Hilfe der<br />
dort eingesetzten Instrumente etablieren wir<br />
ein papierloses Einweisungs- und Entlassmanagement.<br />
Dabei geht es nur in zweiter Linie<br />
um Technik. Im Vordergrund steht das Ziel,<br />
dass die Zusammenarbeit und der Austausch<br />
von Informationen endlich zu einer Selbstverständlichkeit<br />
im Versorgungsalltag werden:<br />
Zwischen Ärzten untereinander, zwischen<br />
ärztlichen Fachgruppen, zwischen Niedergelassenen<br />
und Krankenhäusern und auch zwischen<br />
Ärzten und anderen Heil- und Gesundheitsberufen.<br />
Auf den Punkt gebracht: Wir<br />
brauchen vernetzte Strukturen. Sei es durch<br />
organisierte Netze oder durch Ärzte, die in<br />
der Patientenversorgung vernetzt denken und<br />
handeln. Diesen Ärzten wollen wir helfen.<br />
Also ein unbegrenztes Tätigkeitsfeld<br />
für die KV?<br />
Leider nein. Wir würden gerne auf mehr Innovationsfeldern<br />
eine deutlich aktivere Rolle<br />
spielen. Allerdings hat der Gesetzgeber<br />
in Berlin unsere Möglichkeiten weitgehend<br />
beschnitten. Am Ende müssen Innovationen<br />
stets in konkreten Verträgen mit Krankenkassen<br />
umgesetzt werden. Dafür steht uns aber<br />
de facto nur der „Kollektivvertrag“ zur Verfügung,<br />
also das Instrumentarium, mit dem wir<br />
in <strong>Nordrhein</strong> die Regelversorgung für rund<br />
acht Millionen Versicherte organisieren. Für<br />
die Krankenkassen ist es aber viel attraktiver,<br />
neue Versorgungsformen zunächst selektiv zu<br />
erproben. Zum Beispiel in einer ausgewählten<br />
Region, mit ausgewählten Ärzten, für ausgewählte<br />
Krankheiten oder Patienten.<br />
Die Teilnahme an solchen selektiven Verträgen<br />
oder auch nur deren Abwicklung für<br />
unsere Mitglieder verwehrt uns die Politik<br />
konsequent. Dafür gibt es keine auch nur im<br />
Ansatz nachvollziehbare Begründung. Zumal<br />
die Politik selbst den KVen gerne vorhält, zu<br />
wenig innovativ zu sein.<br />
Was fordern Sie konkret von der Politik?<br />
Ich fordere die Instrumente, die wir als KV<br />
brauchen – und die wir früher auch hatten –,<br />
um unseren gesetzlichen Sicherstellungsauftrag<br />
zu erfüllen. Erstens: die Möglichkeit, an<br />
allen maßgeblichen Versorgungsformen mitzuwirken.<br />
Zweitens: Transparenz über die ambulante<br />
Versorgung in Gänze. Unter den jetzigen<br />
Bedingungen erfahren wir von direkten<br />
Versorgungsverträgen zwischen Ärzten und<br />
Krankenkassen bestenfalls per Zufall. Auf dieser<br />
Basis können wir aber keine vernünftige<br />
Bedarfs- und Versorgungsplanung betreiben.<br />
Apropos Bedarfsplanung: Seit <strong>2013</strong> können<br />
sich daran das Land, die Kommunen und<br />
die Patienten beteiligen. Fürchten Sie ein<br />
Planungschaos?<br />
Nein. Aber es ist klar, dass die neuen<br />
Möglichkeiten Disziplin von allen erfordern.<br />
Mitsprache ist kein Wunschkonzert, sondern<br />
bedeutet auch Mitverantwortung. Aber wir<br />
starten diesen Dialog glücklicherweise nicht<br />
bei null, sondern arbeiten mit den neuen<br />
Partnern in anderen Kontexten bereits seit<br />
Jahren gut zusammen. Mit anderen Worten:<br />
Die Versorgungsplanung wird schwieriger,<br />
aber zugleich spannend und herausfordernd.<br />
Darauf freuen wir uns.<br />
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Quellenverzeichnis<br />
Bertelsmann Stiftung/Barmer GEK (2012): Aktuell nachgefragt: Werden regionale Unterschiede<br />
in der fachärztlichen Versorgung wahrgenommen? In: gesundheitsmonitor. Newsletter der Bertelsmann<br />
Stiftung und der Barmer GEK, 4/2012, 12–13.<br />
Bock, Christian/Osterkamp, Nicole/Schulte, Claudia (2012): Fachärztliche Versorgung auf dem Land<br />
– Mangel oder fehlender Komfort? In: gesundheitsmonitor. Newsletter der Bertelsmann Stiftung<br />
und der Barmer GEK, 4/2012, 1–12.<br />
Bundesärztekammer (<strong>2013</strong>): Ärztestatistik, www.baek.de.<br />
Gemeinsamer Bundesausschuss (2012): Richtlinie über die Bedarfsplanung sowie die Maßstäbe<br />
zur Feststellung von Überversorgung und Unterversorgung in der vertragsärztlichen Versorgung<br />
(Bedarfsplanungsrichtlinie) vom 20. Dezember 2012, www.g-ba.de.<br />
Hagen, Bernd/Köhler, Jan/Kretschmann, Jens/Groos, Sabine/Weber, Arne/Altenhofen, Lutz (2012):<br />
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<strong>Kassenärztliche</strong> Bundesvereinigung: Grunddaten ambulante medizinische Versorgung, www.kbv.de.<br />
<strong>Kassenärztliche</strong> Bundesvereinigung: Versichertenbefragung Mai/Juni 2010, www.kbv.de.<br />
<strong>Kassenärztliche</strong> Bundesvereinigung: KBV Berufsmonitoring Medizinstudenten 2010, www.kbv.de.<br />
Kopetsch, Thomas (2010): Dem Gesundheitswesen gehen die Ärzte aus! – Studie im Auftrag von<br />
Bundesärztekammer und <strong>Kassenärztliche</strong>r Bundesvereinigung, Berlin.<br />
<strong>Nordrhein</strong>ische Gemeinsame Einrichtung DMP (Hg.) (2012): Qualitätssicherungsbericht 2011.<br />
Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2001): Bedarfsgerechtigkeit<br />
und Wirtschaftlichkeit. Band III: Über-, Unter- und Fehlversorgung. Gutachten 2000/2001,<br />
ausführliche Zusammenfassung.<br />
Statistisches Bundesamt/Deutsches Zentrum für Altersfragen/Robert Koch Institut (2009):<br />
Gesundheit und Krankheit im Alter – Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes,<br />
Berlin.<br />
Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (ZI)/Apobank (2011): Existenzgründungsanalyse<br />
für Ärzte 2011, www.apobank.de.<br />
Impressum<br />
Herausgeber: <strong>Kassenärztliche</strong> <strong>Vereinigung</strong> <strong>Nordrhein</strong><br />
Redaktion: Johannes Reimann, Simone Grimmeisen, Miguel Tamayo<br />
Datenanalysen: Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik<br />
Deutschland, Berlin<br />
<strong>Kassenärztliche</strong> <strong>Vereinigung</strong> <strong>Nordrhein</strong>, Düsseldorf<br />
Gestaltung: Content Company, Köln<br />
Druck: E&B engelhardt & bauer, Karlsruhe<br />
Alle Rechte vorbehalten.<br />
September <strong>2013</strong><br />
gedruckt mit Biofarben,<br />
mineralölfrei<br />
64 <strong>Kassenärztliche</strong> Versorgung <strong>Nordrhein</strong>
<strong>Kassenärztliche</strong> <strong>Vereinigung</strong><br />
<strong>Nordrhein</strong><br />
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