Seminarunterlagen 2013 - Sonnenhalde
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Seelenschmerz — Körperschmerz<br />
Dienstag, 22. Oktober <strong>2013</strong><br />
Konferenzzentrum St. Chrischona<br />
Detailprogramm zum 25. Riehener Seminar<br />
ab 09.00<br />
Einschreibung, Znüni<br />
10.00 Begrüssung. René Leuenberger, Leiter Pflege und Qualität.<br />
10.10 1. Referat: Einführung ins Thema. Dr. Samuel Pfeifer (10 min)<br />
10.25 2. Referat: Körperschmerz als Ausdruck seelischer Konflikte / Gewalterfahrungen<br />
Prof. Dr. Ulrich T. Egle, Celenuskliniken, Kinzigtal (45 min)<br />
11.10 Kurze Pause<br />
11.25 3. Referat: Migranten empfinden Schmerzen anders – Wege zu einer kultursensitiven Therapie<br />
Dr. Brigitta Wössmer (45 min)<br />
12.30 Mittagessen in der Turnhalle<br />
WORKSHOPS ZUR AUSWAHL (90 Minuten)<br />
14.00 Workshop 1: Schmerzerfahrung und kindliche Gewalterfahrung / Deprivation – Was bedeutet das für die<br />
Psychotherapie? Dr. Gerhard Gutscher, Oberarzt, Klinik <strong>Sonnenhalde</strong>.<br />
Hauptsaal<br />
Workshop 2: Schmerzverarbeitung in der Kunsttherapie. Gabriela Jaros, Tagesklinik <strong>Sonnenhalde</strong>.<br />
Lehrsaal 1+2, 2. UG, hinter Turnhalle<br />
Workshop 3: Das Schleudertrauma – ist das eine wirkliche Krankheit? Die Diskussion um die Abschaffung<br />
chronischer Schmerzstörungen in der schweizerischen Invalidenversicherung (IV). Prof. Dr. Th. Ettlin, Reha-<br />
Klinik, Rheinfelden<br />
Lehrsaal 6+7. 1. OG<br />
Workshop 4: Türkische Schmerzpatienten in der Psychotherapie – Welchen Einfluss hat die Kultur auf<br />
Schmerzen? Frau Dr. G. Soellick, Basel.<br />
Sitzungszimmer 1+2, 1. OG<br />
Workshop 5: Basiswissen: Somatisierung – somatoformes Schmerzsyndrom – wie werden Schmerzen in der<br />
psychiatrischen Diagnostik verstanden. Welche Perspektiven ergeben sich für die Therapieplanung? Roland<br />
Stettler, Oberarzt, Klinik <strong>Sonnenhalde</strong>.<br />
Hörsaal 2, 1. OG<br />
15.30 Pause Kaffee/Tee/ Gebäck in der Turnhalle<br />
Musikalische Einlage: Dave Brander (Saxophon) und Thomas Widmer (Klavier)<br />
16.00 4. Roundtable: Seelenschmerz und spiritueller Schmerz. Erfahrungen aus der Trauma-Therapie mit Patienten<br />
in Afrika und Europa. Dr. Samuel Pfeifer im Gespräch mit Frau Dr. Gisela Roth, Nairobi / Kenia und Dipl.-<br />
Psych. Damaris Obergassner, Freiburg.<br />
17.00 Schluss des Seminars<br />
Humanitäres Projekt: Tumaini Counselling Center, Nairobi / Kenia
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
Referat 1: Einführung ins Thema<br />
Dr. Samuel Pfeifer<br />
Für Ihre Notizen<br />
Seelenschmerz<br />
Körperschmerz<br />
Spiritueller Schmerz<br />
Dr. med. Samuel Pfeifer<br />
Klinik <strong>Sonnenhalde</strong> – Psychiatrie und<br />
Psychotherapie, Riehen / Schweiz<br />
2<br />
Definition<br />
» Schmerz ist ein unangenehmes<br />
Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das<br />
mit tatsächlicher oder potenzieller<br />
Gewebeschädigung einhergeht<br />
oder von betroffenen Personen so<br />
beschrieben wird, als wäre eine<br />
solche Gewebeschädigung die<br />
Ursache.“<br />
2 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
Referat 1: Einführung ins Thema<br />
Dr. Samuel Pfeifer<br />
Seelischer Schmerz<br />
» Seelischer Schmerz<br />
hinterlässt keine äusseren<br />
Verletzungen<br />
» Dennoch macht das Erleben<br />
etwas mit der Person und<br />
auch mit dem Gehirn.<br />
» Oft entsteht eine<br />
Sensibilisierung der<br />
Schmerzverarbeitung<br />
4<br />
Beispiel «Das gebrochene Herz»<br />
» BEISPIEL IV-BEGUTACHTUNG: Schmerzsyndrom – Herzschmerz,<br />
ausstrahlend in den ganzen Körper, grosse Erschöpfung, nicht mehr<br />
arbeitsfähig; ein Häuflein Elend<br />
» Bosnische Frau, drei Kinder, immer gearbeitet als Pflegehilfe in einem<br />
Basler Altersheim; Sie war die Seele der Cafeteria, hatte immer ein gutes<br />
Wort<br />
» Eines Tages Vorwurf, sie habe Geld aus der Kasse mitgehen lassen. Alle<br />
Beteuerungen nützen nichts – sie wird entlassen.<br />
» Am gleichen Abend tritt erstmals ein massiver Herzschmerz auf,<br />
ausstrahlend in die Arme – medizinische Untersuchungen ergeben keinen<br />
Befund<br />
» In meinem gutachten habe ich geschriebne: «Diese Frau leidet im<br />
metaphorischen Sinne des Wortes an einem gebrochenen Herz»<br />
» <strong>2013</strong>: Schwacher Trost - gebrochenes Herz gibt es wirklich (****googeln)<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 3
Referat 1: Einführung ins Thema<br />
Dr. Samuel Pfeifer<br />
Für Ihre Notizen<br />
5<br />
Arbeitsunfähigkeit – Symptome – Sozialstatus<br />
6<br />
Spiritueller Schmerz<br />
Schweres Trauma führt unweigerlich zur Beschäftigung mit<br />
existenziellen und spirituellen Fragen<br />
» Erschütterung der Selbstverständlichkeit des In-der-Welt-<br />
Seins<br />
» Konfrontation mit dem Bösen und dem Leid, verstanden als<br />
dunkle Seite Gottes<br />
» Verfeinerung der Wahrnehmung, Öffnung anderer<br />
Wahrnehmungsdimensionen<br />
» Suche nach der Errettung und nach einer Erlösung.<br />
Quelle: Madert KK (2007). Trauma und Spiritualität, Kösel. S. 22<br />
4 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
Referat 2: Körperschmerz als Ausdruck seelischer Konflikte / Gewalterfahrungen<br />
Prof. Dr. Ulrich T. Egle<br />
Körperschmerz als Ausdruck seelischer Konflikte/ Gewalterfahrungen<br />
Einleitung<br />
Dass frühkindliche Traumatisierungen die Vulnerabilität für chronische Schmerzen erhöhen, wurde bereits<br />
1959 von dem amerikanischen Internisten und Psychoanalytiker G.L. Engel auf der Basis sorgfältiger klinischer<br />
Beobachtungen beschrieben. Als es ab Mitte der 70-er Jahre des letzten Jahrhunderts zunehmend<br />
mehr um die Objektivierung psychosomatischer Zusammenhänge ging und von Seiten der Psychologie behaviorale<br />
Ansätze das Verständnis und die Behandlung chronischer Schmerzzustände zu dominieren begannen,<br />
wurden solche biographischen Zusammenhänge als spekulativ abgetan. Trotz einer Mitte der 90er Jahre<br />
des letzten Jahrhunderts im JAMA erschienenen Studie, die deutlich Zusammenhänge zwischen sexuellen<br />
Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und späterer Entwicklung körperlicher Beschwerden im Rahmen<br />
einer Somatisierung erbrachte, wurde eine Überbewertung des Zusammenhangs zwischen Kindheitstraumatisierung<br />
und späterer chronischer Schmerzerkrankung aufgrund retrospektiver Befragung unterstellt<br />
(Raphael et al 2002). Dabei zeigen sorgfältige Studien und Metaanalysen der letzten Jahre genau das<br />
Gegenteil: eine methodisch sorgfältig durchgeführte retrospektive Datenerhebung führt eher zu einer Unterbewertung<br />
des Zusammenhangs zwischen Kindheitstraumatisierung und späterer Symptombildung<br />
(Hardt & Rutter 2004, Nelson et al 2010). Inzwischen gilt wissenschaftlich als gesichert, dass vor allem kindliche,<br />
aber auch spätere Traumatisierungen die Vulnerabilität für ein chronisches Schmerzsyndrom deutlich<br />
erhöhen können. Dabei spielt das mit Schmerz einhergehende Auslieferungserleben bei körperlicher MIsshandlung<br />
bei Kindern offensichtlich eine sehr viel größere Rolle als sexueller Missbrauch!<br />
Die enge Verknüpfung zwischen somatoformen Störungen und einer anhaltenden äußeren oder/und inneren<br />
Stresssituation ist seit langem bekannt. Erst jüngst wurde dies für somatoforme Störungen mit Leitsymptom<br />
Schmerz bezogen auf die Arbeitsplatzsituation nachgewiesen (Kivimäki et al 2004, Ferrie et al.<br />
2006).<br />
Allerdings ist bis heute bei vielen chronischen Schmerzpatienten ebenso wie bei vielen Ärzten immer noch<br />
die Vorstellung verbreitet, dass Schmerz nur infolge einer Gewebsschädigung entstehen kann und die Stärke<br />
des Schmerzes der Ausmaß der Gewebsschädigung entspricht. Dieses Mitte des 17. Jahrhunderts von<br />
Descartes postulierte Schmerzverständnis hat bis heute weitreichende Folgen für Diagnostik und Therapie<br />
chronischer Schmerzpatienten. Insbesondere somatoforme Schmerzstörungen werden auf dem Hintergrund<br />
des kartesianischen Schmerzverständnisses aufgrund der damit einhergehenden fehlenden Erklärbarkeit<br />
als diagnostische Restkategorie gesehen und damit implizit oder gar explizit mit Simulation<br />
gleichgesetzt. Vernachlässigt werden dabei die durch die Möglichkeiten der Bildgebung des Gehirns gewonnenen<br />
Erkenntnisse zur zentralen Schmerzverarbeitung der letzten 10 Jahre.<br />
Neurobiologische Zusammenhänge von Schmerz- und Stressverarbeitung<br />
Periphere Schmerzreize werden nach Umschaltung im Hinterhorn des Rückenmarkes vom ersten auf das<br />
zweite Neuron zum Thalamus geleitet. Von den lateralen Thalamuskernen erfolgt eine Umschaltung in Richtung<br />
des somatosensorischen Cortex, wo eine topographische Verortung der Schmerzreize stattfindet<br />
(„Homunculus“). Darüber hinaus wird die Reizstärke festgestellt, ohne dass dies jedoch – wie man sich<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 5
Referat 2: Körperschmerz als Ausdruck seelischer Konflikte / Gewalterfahrungen<br />
Prof. Dr. Ulrich T. Egle<br />
dies früher vorstellte – bereits die Schmerzstärke wäre. Diese wird vielmehr durch die Aktivierung anderer<br />
Hirnareale bedingt, die von den medialen Kernen des Thalamus ausgeht. Dabei handelt es sich um Insula,<br />
Amygdala, Hippocampus, Gyrus cinguli und (dorsolateraler) Praefrontalcortex. All diese Bereiche sind Teile<br />
des zentralen Stressverarbeitungssystems, so dass Schmerz für das Gehirn nur eine besondere Variante<br />
von Stress darstellt. Im Bereich des vorderen Gyrus cinguli erfolgt eine emotionale Bewertung des<br />
Schmerzreizes. Gleichzeitig kann die affektive Verfassung (z.B. Depression, Angst, Katastrophisieren) Einfluss<br />
auf das Schmerzerleben nehmen. Das Wechselspiel zwischen Amygdala und vorderen Teil des Hippocampus<br />
bedingt eine biographische Bewertung des Schmerzreizes durch einen Abgleich mit vergleichbaren<br />
früheren Schmerzerfahrungen. Der Praefrontalcortex ist für die kognitive Bewertung der Gesamtsituation<br />
zuständig. Ist eine adäquate Bewertung kognitiv möglich, führt dies im Sinne einer Top-Down-<br />
Regulation zu einer Unterdrückung der emotionalen und biographischen Einflussfaktoren. Im Umkehrschluss<br />
bedeutet dies, dass die fehlende Möglichkeit zur kognitiven Bewertung den Einfluss emotionaler<br />
und biographischer Einflussfaktoren auf das Schmerzerleben besonders ausgeprägt werden lässt (vgl. Vogt<br />
2005, Neugebauer et al 2004, Neugebauer 2007). Durch diese Verknüpfungen ist es auch möglich, dass<br />
Schmerz nicht nur als Folge einer Gewebe- oder Nervenschädigung, sondern auch einer psychosozialen<br />
Belastungssituation bzw. der Reaktivierung einer solchen aus der Vergangenheit auftritt. Dabei können<br />
„alte“ Schmerzen reaktiviert werden oder aufgrund einer „Schnittstelle“ im mittleren Gyrus cinguli (ACC)<br />
das Erleben von Ausgrenzung als körperlich schmerzhaft empfunden werden („sozialer Schmerz“, Eisenberger<br />
2012). Die Ausschüttung des zentralen Stresshormons Corticotropin-Releasing Hormon (CRH) führt<br />
darüber hinaus zu einer Einflussnahme auf einem Bereich des Hirnstamms, das periaqueduktale Grau<br />
(PAG), welches Ausgangspunkt der deszendierend hemmenden Schmerzbahnen ist. Diese deszendierend<br />
hemmenden Schmerzbahnen modulieren die Umschaltung peripherer Schmerzreize vom ersten auf das<br />
zweite Neuron im Bereich des Hinterhorns auf Rückenmarksebene. Während akute Stresssituationen darüber<br />
zu einer kurzzeitigen Schmerzunterdrückung führen, bewirken anhaltende Stresssituationen eine<br />
Senkung der Schmerzschwelle auf Rückenmarksebene und damit eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit.<br />
Bei somatoformer Schmerzstörung kommt es bei der Applikation von Leistungsstress, nicht jedoch bei<br />
wiederholter Applikation peripherer Schmerzimpulse (!) zu einer signifikant stärkeren Aktivierung von<br />
Amygdala, Hippocampus und Gyrus cinguli, d.h. jenen Bereichen der zentralen Schmerzverarbeitung, welche<br />
gleichzeitig für die Stressverarbeitung zuständig sind (Stoeter et al 2007). Dies könnte mit einer eingeschränkten<br />
Top-Down-Kontrolle infolge einer geringeren Aktivität praefrontaler Bereiche zusammenhängen<br />
(Gündel et al 2008). Als Ergebnis kommt es zu einer dysfunktionalen Verarbeitung von Schmerz ebenso<br />
wie von Stress.<br />
Schmerz und Bindung<br />
Eine erhöhte Stress- und Schmerzvulnerabilität entsteht durch das frühe Einwirken ungünstiger Umweltbedingungen<br />
während der Ausreifung des genetisch determinierten Stressverarbeitungssystems in der<br />
Kindheit.<br />
In einer Reihe von Studien konnte in den letzten Jahren nachgewiesen werden, dass ein unsicheres Bindungsverhalten<br />
bei chronischen Schmerzpatienten weitreichende Auswirkungen auf eine ganze Reihe von<br />
Parametern hat:<br />
6 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
Referat 2: Körperschmerz als Ausdruck seelischer Konflikte / Gewalterfahrungen<br />
Prof. Dr. Ulrich T. Egle<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Es besteht signifikant häufiger ein emotionsbezogenes (z.B. Katastrophisieren) und seltener ein<br />
problembezogenes Coping-Verhalten (Mikulincer und Florian 1998).<br />
Schmerzbezogen ist das Ausmaß an Angst, Depression und die Neigung zum Katastrophisieren signifikant<br />
ausgeprägter (Ciechanowski et al 2003, Meredith et al 2008).<br />
Schmerz wird deutlich bedrohlicher erlebt und es kommt damit schneller zur Überforderung<br />
(Meredith et al 2005).<br />
Die Schmerzintensität wird ebenso wie die Beeinträchtigung signifikant stärker erlebt (McWilliams<br />
et al 2000, Rossi et al 2005).<br />
Insgesamt werden neben den Schmerzen signifikant mehr weitere körperliche Beschwerden berichtet<br />
(Schmidt et al 2002).<br />
Die Arbeitsgruppe von Michael Meaney konnte in den letzten Jahren tierexperimentell nachweisen, wie<br />
frühe Bindungserfahrungen auf die spätere Stressvulnerabilität Einfluss nehmen: bei Ratten führt intensive<br />
Fellpflege und viel Lecken als Ausdruck einer intensiven Bindung zwischen Muttertier und Rattenbaby<br />
zu epigenetischen Veränderungen. Durch die Entfernung von Methylgruppen wird der für die Exprimierung<br />
von Glucocorticoidrezeptoren zuständige Genabschnitt ablesbar. Die erhöhte Exprimierung dieser<br />
Rezeptoren im Bereich des Hippocampus bedingt aufgrund eines Feedback-Mechanismus, niedrige Glucocorticoid-Spiegel<br />
im Blut und damit eine erhöhte Stressresistenz im Erwachsenenalter. Im Umkehrschluss<br />
bedeutet dies, dass ein unzureichendes Bindungsverhalten seitens des Muttertieres zu einer Einschränkung<br />
der Ablesbarkeit dieses Genabschnittes und damit zu einer geringer gradigen Exprimierung<br />
von Glucocorticoidrezeptoren im Bereich des Hippocampus führt, was dann erhöhte Glucocorticoidspiegel<br />
im Blut zur Folge hat.<br />
Darüber hinaus konnte nachgewiesen werden, dass dies transgenerationell weitergegeben wird, d.h. bei<br />
unzureichendem Bindungsverhalten der Mutter die Rassenbabys nicht nur später stressempfindlicher<br />
sind, sondern ihre eigenen Kinder ebenfalls ein eingeschränktes mütterliches Bindungsverhalten aufweisen.<br />
Letzteres hat mit der Aktivierung des Oxytocin-Systems zu tun, dessen Einfluss auf Bindung und<br />
Stressresistenz schon länger bekannt sind (Weaver et al 2004, Uvnäs-Moberg 1998). Als Fazit kann also<br />
festgestellt werden, dass das Stressverarbeitungssystem des Menschen zwar genetisch determiniert ist<br />
und die Aufgabe hat, ein bedrohtes inneres Gleichgewicht durch körperliche, psychische oder soziale Belastungssituationen<br />
wiederherzustellen („Allostase“), jedoch seine Ausreifung durch frühe Umweltbedingungen<br />
bedingt wird. Während eine überschaubare (kontrollierbare) Stresssituation (Ausschüttung von<br />
CRH) vor allem im Bereich des Hypothalamus über eine Aktivierung des Sympathikus („LC-NE-Achse“) zur<br />
Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin im Nebennierenmark sowie über die Aktivierung der Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse<br />
(„HPA-Achse“) zur Ausschüttung von Glucocorticoiden in der Nebennierenrinde<br />
führt und darüber sowohl Stoffwechsel- als auch Lernvorgänge induziert, welche der Adaptation<br />
dienen, führen anhaltende und unkontrollierbare Stresssituationen über eine massive Glucocorticoidausschüttung<br />
sowohl zu bleibenden Schädigungen im Bereich von Hippokampus und Praefrontalcortex als<br />
auch zu Einschränkungen im adaptiven Lernen (Sapolsky 1996, McEwen 2003).<br />
Eine Folge ist auch eine verstärkte Aktivierung des Sympathikus und damit einhergehend der Entwicklung<br />
multipler psychovegetativer Beschwerden („Somatisierung“).<br />
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Referat 2: Körperschmerz als Ausdruck seelischer Konflikte / Gewalterfahrungen<br />
Prof. Dr. Ulrich T. Egle<br />
Frühkindliche Belastungsfaktoren und spätere Stressvulnerabilität<br />
Im Rahmen prospektiver Kohorten-Studien wurden neben der Beantwortung des Bindungsbedürfnisses<br />
eine ganze Reihe weiterer in der frühen Kindheit einwirkender Umweltfaktoren als bedeutsam für die spätere<br />
Stressvulnerabilität gesichert (vgl. Tab. 1). Diese können durch protektive Faktoren kompensiert werden<br />
(vgl. Tab. 2). Beim Vorhandensein zahlreicher protektiver Faktoren kann das Einwirken einzelner Risikofaktoren<br />
sogar als eine Art Impfung („Resilienz“) wirken: die Stressvulnerabilität ist in diesem Fall im<br />
Vergleich zum vollständigen Fehlen von Belastungsfaktoren noch geringer! Für die alltägliche klinische Arbeit<br />
bedeutet dies, dass es nicht hinreichend ist, im Sinne eines Defizit-Modells ungünstige Bedingungen in<br />
der Kindheit zu explorieren – oder gar einseitig nur auf das Einwirken sexueller Missbrauchserfahrungen<br />
abzuheben -, sondern im Sinne salutogenetischer Ressourcen auch sorgfältig das Vorhandensein protektiver<br />
Faktoren zu berücksichtigen. Neben den in den beiden Tabellen aufgelisteten Faktoren auf der<br />
„Makroebene“ spielen auch Faktoren der familiären Beziehungsgestaltung im Alltag während der Kindheit<br />
eine erhebliche Rolle und sollten ebenfalls routinemäßig exploriert werden. Besonders bedeutsam für die<br />
Langzeitfolgen und daraus resultierender Beziehungsmuster sind dabei Rollenumkehr und Parentifizierung,<br />
welche häufig das Ergebnis zu früher Verantwortungsübernahme darstellen. Dies kann auf dem Hintergrund<br />
der frühen Mitarbeit in Familienbetrieben, der frühen Verantwortungsübernahme für eine größere<br />
Zahl jüngerer Geschwister bei beruflich stark absorbierten Eltern oder auch bei Eltern mit ausgeprägten<br />
gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Fall sein. Frühe Stressfaktoren - besonders gut untersucht<br />
sind sexueller Missbrauch und körperliche Misshandlung - erhöhen die Schmerzwahrnehmung auch dann,<br />
wenn den Schmerzen eine Nerven- oder andersweitige Gewebsschädigung primär zugrunde liegt (Kendall-<br />
Tackett 2001, Linton 2002, Goodwin & Stein 2004, Davis et al 2005, van Houdenhove et al 2009)<br />
Frühkindliche Belastungsfaktoren bei somatoformer Schmerzstörung<br />
Im Vergleich zu verschiedenen Kontrollgruppen wird deutlich, dass bei Menschen, die später eine somatoforme<br />
Schmerzstörung entwickeln, signifikant häufiger verschiedenen Formen von Gewalt in der Primärfamilie<br />
einwirkten. Dies gilt für körperliche Misshandlung, schweren sexuellen Missbrauch sowie verbale,<br />
aber auch handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen den Eltern (vgl. Egle et al 2000, Imbierowicz und<br />
Egle 2003, van Houdenhove und Egle 2004, van Houdenhove et al 2005). Auch Rollenumkehr und Parentifizierung<br />
infolge ungünstiger Bedingungen in der Primärfamilie sind signifikant häufiger zu beobachten<br />
(Hardt 2004). Diese schwierigen Umweltbedingungen beeinflussen neben der Ausreifung des Stressverarbeitungssystems<br />
auch die Prägung des Beziehungs- und Interaktionssystems der Betroffenen.<br />
Differentialdiagnose der somatoformen Störung mit Leitsymptom Schmerz (vgl. Abb. 1)<br />
Diagnostisch abzugrenzen sind zunächst andere psychische Störungen mit Leitsymptom Schmerz. Bei der<br />
posttraumatischen Belastungsstörung finden sich typischerweise Intrusionen („flashbacks“) in Form von<br />
nächtlichen Alp- oder Tagträumen (dissoziative Zustände), in denen bildhafte und bedrohlich erlebte Erinnerungen<br />
der traumatischen Situation wieder aufleben. Typisch ist auch eine deutlich eingeschränkte<br />
affektive Schwingungsfähigkeit („numbness“) sowie weitere dazugehörige Symptome (z.B. Vermeidungsverhalten,<br />
Panikattacken bei Konfrontation mit der traumatischen Situation usw.). Die Diagnose kann dabei<br />
über ein speziell strukturiertes Interview (CAPS) gesichert werden, was im Rahmen von Begutachtungen<br />
zur Diagnosesicherung unbedingt erforderlich scheint. Unterschiede zwischen der Definition nach ICD-<br />
10 und DSM-IV ergeben sich hinsichtlich des Kriteriums A, der traumatisch erlebten Auslieferungssituati-<br />
8 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
Referat 2: Körperschmerz als Ausdruck seelischer Konflikte / Gewalterfahrungen<br />
Prof. Dr. Ulrich T. Egle<br />
on. Während nach ICD-10 diesbezüglich ein ungewöhnliches Ausmaß an Traumatisierung nach Einschätzung<br />
des Untersuchers bedeutsam ist, berücksichtigt DSM-IV vor allem das subjektive Erleben des Ausgeliefertseins,<br />
das der Betroffene in der Auslösesituation erlebt hat. Dies führt immer wieder zu gutachterlichen<br />
Kontroversen. Als weitere psychische Störung mit potentiellem Leitsymptom Schmerz sind differentialdiagnostisch<br />
die Hypochondrie bzw. der hypochondrische Wahn sowie die coenästhetische (i.S. einer<br />
monosymptomatischen Körperhalluzination) abzugrenzen. Auch bei depressiven Störungen kann Schmerz<br />
Leitsymptom sein, doch müssen dann auch weitere Kriterien der Depression (nach ICD-10: 2 von 3 Hauptsymptomen<br />
sowie mindestens 1 von 7 Nebensymptomen) erfüllt sein und die Schmerzsymptomatik zeitgleich<br />
mit der depressiven Symptomatik aufgetreten sein. Die Diagnose einer „larvierten Depression“, welche<br />
früher im Grunde genommen alle psychischen Störungen mit Leitsymptom Schmerz umfasste, sollte<br />
der Vergangenheit angehören.<br />
Vergleichsweise häufig werden auch Patienten, deren Schmerzen auf eine körperliche und psychische<br />
Komorbidität zurückzuführen sind, aufgrund der vom Untersucher festgestellten Diskrepanz zwischen Gewebs-<br />
bzw. Nervenschädigung einerseits und dem Ausmaß der geschilderten Schmerzen andererseits unzutreffend<br />
als somatoforme Schmerzstörung eingestuft; dies führt dann konsequenterweise auch zu falschen<br />
Indikationsstellungen für die Behandlung. Auch funktionelle Schmerzsyndrome mit oder ohne zusätzliche<br />
Angsterkrankung (z.B. Lumbalgie, craniomandibuläre Dysfunktion, Spannungskopfschmerz) werden<br />
nicht selten als somatoforme Schmerzstörungen fehletikettiert. Unter der Diagnose eines Fibromyalgie-Syndroms<br />
können sich differentialdiagnostisch alle genannten Störungsbilder „verstecken“, weshalb<br />
gerade hier eine sorgfältige Differentialdiagnose und ggf. differenziellen Indikationsstellung erforderlich<br />
ist.<br />
Konsequenzen für die Therapie<br />
Auf dem Hintergrund eines nicht genauer differenzierenden bio-psycho-sozialen Verständnisses chronischer<br />
Schmerzen hat sich die Notwendigkeit multimodaler Therapie als Grundprinzip der Behandlung herauskristallisiert.<br />
Dabei werden unter diesem Schlagwort oft sehr unterschiedliche Kombinationen von somatischen,<br />
alternativmedizinischen und psychotherapeutischen Behandlungsansätzen subsumiert. Nicht<br />
selten ist deren Kombination überhaupt nicht aufeinander abgestimmt und in der jeweiligen Dosierung<br />
des einzelnen Behandlungsverfahrens nicht hinreichend. Dies begünstigt die Chronifizierung noch mehr.<br />
Von psychotherapeutischer Seite wird hier seitens einflussreicher Lobby-Gruppen (z.B. Deutsche Gesellschaft<br />
für Psychologische Schmerztherapie, DGPST) pauschal ein Schmerzbewältigungstraining für alle<br />
chronischen Schmerzzustände propagiert. Dieses beinhaltet neben edukativen Komponenten vor allem<br />
die Vermittlung von Ablenkungsstrategien und Aktivitätssteigerung im Umgang mit dem Schmerzproblem.<br />
Gerade bei somatoformen Schmerzstörungen, bei denen kein peripherer Schmerzinput im Sinne einer<br />
Gewebs- oder Nervenschädigung besteht, sind solche Behandlungsstrategien wenig wirksam. Sie können<br />
sogar – wie wir in einer eigenen noch unveröffentlichten Studie, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />
(DFG) zwischen 2000 und 2005 gefördert wurde, nachweisen konnten - zu einer Schmerzverstärkung<br />
bei dieser Patientengruppe beitragen.<br />
In mehreren Schritten wurde zwischen 1986 und 1999 ein störungsspezifisches Behandlungskonzept für<br />
somatoforme Schmerzstörungen im Rahmen einer fachübergreifenden Kooperation am Mainzer Universitätsklinikum<br />
unter Leitung des Verfassers entwickelt. Begonnen hatte alles mit einem klassischen<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 9
Referat 2: Körperschmerz als Ausdruck seelischer Konflikte / Gewalterfahrungen<br />
Prof. Dr. Ulrich T. Egle<br />
psychoanalytischen Gruppentherapie-Konzept, das dann aufgrund zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnisse<br />
und mehrfacher Zwischenevaluation weiterentwickelt wurde. Die dann im Rahmen des genannten<br />
DFG-Projektes evaluierte Fassung beinhaltet insgesamt 40 ambulante Therapiesitzungen von jeweils<br />
90 Min. über einen Zeitraum von 6 Monaten. Die ersten 6-7 Sitzungen beinhalten wesentliche Informationen<br />
(Neurobiologie, Entwicklungspychologie, Traumatisierung zur Ätiopatogenese des Krankheitsbildes)<br />
und enden mit der individuellen Festlegung von Therapiezielen. Nach dieser Informations- und Motivationsphase<br />
geht es in der eigentlichen Arbeitsphase um die Bearbeitung von Beziehungsmustern, welche<br />
zeitlich parallel zu diesen ungünstigen Entwicklungsbedingungen in der Primärfamilie geprägt wurden<br />
und ursprünglich als Anpassungsversuche und Schutzmechanismen an diese gedacht waren. Diese beziehen<br />
sich ganz wesentlich auf den Umgang mit den psychischen Grundbedürfnissen, wie sie von Grawe<br />
(2004) definiert wurden (vgl. Abb. 2): Orientierung und Kontrolle, Bindung, Selbstwert sowie Spaß und<br />
Freude. Bei der Umsetzung dieser Grundbedürfnisse kommt es zu einem „Annäherungs-<br />
Vermeidungskonflikt“, welcher mit einem ganz erheblichen inneren Spannungszustand („Inkonsistenz“)<br />
und damit verbunden der Aktivierung von Bereichen des Stressverarbeitungssystems (Gyrus cinguli) einhergeht.<br />
Hinzu kommt das Vorherrschen unreifer Konfliktbewältigungsstrategien (v.a. Wendung gegen das Selbst,<br />
Projektion) als Folge ungünstiger Umweltbedingungen in der Kindheit (vgl. Nickel & Egle 2006). Die Bearbeitung<br />
dieser Zusammenhänge und die Veränderung der für die aktuelle Lebenssituation häufig wenig<br />
sinnvollen Vermeidungs- und Bewältigungsstrategien bei der Umsetzung der psychischen Grundbedürfnisse<br />
führt zu einer signifikanten und katamnestisch stabilen Veränderung des Schmerzgeschehens. Nicht<br />
wenige dieser Patienten sind ein Jahr nach Therapieende weiterhin schmerzfrei. Andere entwickeln die<br />
Schmerzfreiheit erst nach Therapieende, da die Veränderung der früh geprägten Verhaltensmuster eine<br />
längere Zeit erforderte. Genaueres zu diesem manualisierten Behandlungskonzept ist bei Nickel und Egle<br />
(2001, 2002) sowie Egle et al (2007) nachzulesen. Im Rahmen einer randomisierten Studie konnte gezeigt<br />
werden, dass dieses Behandlungskonzept mit einer Effektstärke von d=1.12 einem von der zeitlichen<br />
„Dosis“ vergleichbaren kognitiv-verhaltenstherapeutischem Vorgehen, in dessen Mittelpunkt Schmerzund<br />
Stressbewältigung standen und das eine Effektstärke von d=0.65 zwischen Beginn und Ein-Jahres-<br />
Katamnese aufweist, signifikant überlegen ist. Zwischenzeitlich wurde dieses Konzept auf die Rahmenbedingungen<br />
einer stationären Rehabilitationsbehandlung übertragen. Darüber hinaus wurden für chronische<br />
Schmerzzustände andere Genese (funktionelle Schmerzsyndrome mit bzw. ohne Angsterkrankung,<br />
Schmerz als Leitsymptom einer posttraumatischen Belastungsstörung, durch psychische Komorbidität verstärkte<br />
Schmerzen infolge einer Gewebs- oder Nervenschädigung) weitere störungsspezifische Behandlungsansätze<br />
entwickelt. Die seitens des Kostenträgers (DRV-Bund) unabhängig durchgeführte Evaluation<br />
erbrachte eine signifikant über dem Bundesdurchschnitt anderer Kliniken liegende Wirksamkeit dieses<br />
differenzierten therapeutischen Vorgehens (Evaluation 2007/1).<br />
Schlussfolgerungen<br />
Die Differenzierung unterschiedlicher chronischer Schmerzsyndrome im Hinblick auf die jeweils zugrundeliegenden<br />
pathogenetischen Mechanismen erhöht die Wirksamkeit psychosomatischer und psychotherapeutischer<br />
Maßnahmen, soweit diese dann entsprechend differenziert eingesetzt werden. Bei der Subgruppe<br />
somatoformer Schmerzstörungen haben negative Bindungs- sowie Gewalterfahrungen pathogenetisch<br />
eine wesentliche Bedeutung. Beim Verständnis der Wechselwirkungen zwischen frühen Bindungs-<br />
10 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
Referat 2: Körperschmerz als Ausdruck seelischer Konflikte / Gewalterfahrungen<br />
Prof. Dr. Ulrich T. Egle<br />
und Stresserfahrungen haben in den letzten Jahren neurobiologische Forschungsergebnisse zu einem wesentlichen<br />
Erkenntnisgewinn beigetragen. Dies ermöglicht heute eine gezielte Behandlung von Patientinnen<br />
mit somatoformen Schmerzstörungen und beinhaltet die Möglichkeit, dass diese tatsächlich schmerzfrei<br />
werden können.<br />
Trotz dieser Fortschritte beim Verständnis pathogenetischer Prozesse und therapeutischer Möglichkeiten<br />
sollte jedoch weiterhin die Primärprävention in den Familien vorrangig angegangen werden, um einer erhöhten<br />
Vulnerabilität für somatoforme Schmerzzustände vorzubeugen.<br />
Tab. 1: Empirisch gesicherte Risikofaktoren mit potentiellen Langzeitfolgen für die Stressvulnerabilität<br />
(Egle et al, 1997, 2002)<br />
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Niedriger sozioökonomischer Status<br />
Schlechte Schulbildung der Eltern<br />
Arbeitslosigkeit der Eltern<br />
Große Familien und sehr wenig Wohnraum<br />
Kontakte mit Einrichtungen der „sozialen Kontrolle“ (z.B. Jugendamt)<br />
Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils<br />
Chronische Disharmonie in der Primärfamilie<br />
Unsicheres Bindungsverhalten nach 18./24. Lebensmonat<br />
Psychische Störungen der Mutter/des Vaters<br />
Schwere körperliche Erkrankungen der Mutter/des Vaters<br />
Chronisch krankes/behindertes Geschwister<br />
Alleinerziehende Mutter<br />
Autoritäres väterliches Verhalten<br />
Verlust der Mutter<br />
Längere Trennung von den Eltern in den ersten sieben Lebensjahren<br />
Anhaltende Auseinandersetzungen infolge Scheidung/Trennung der Eltern<br />
Häufig wechselnde frühe Beziehungen (z.B. Waisenhaus, au-pair-Mädchen)<br />
Sexueller und/oder aggressiver Missbrauch<br />
Schlechte Kontakte zu Gleichaltrigen in der Schule<br />
Altersabstand zum nächsten Geschwister
Referat 2: Körperschmerz als Ausdruck seelischer Konflikte / Gewalterfahrungen<br />
Prof. Dr. Ulrich T. Egle<br />
Tab. 2: Empirisch gesicherte kompensatorische Schutzfaktoren für die spätere Stressvulnerabilität (Egle<br />
et al 1997, 2002)<br />
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Dauerhafte gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson<br />
Sicheres Bindungsverhalten<br />
Großfamilie, kompensatorische Elternbeziehungen<br />
Entlastung der Mutter (v.a. wenn alleinerziehend)<br />
Gutes Ersatzmilieu nach früherem Mutterverlust<br />
Überdurchschnittliche Intelligenz<br />
Robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament<br />
Internale Kontrollüberzeugungen, „self-efficacy“<br />
Soziale Förderung (z.B. Jugendgruppen, Schule, Kirche)<br />
Verlässlich unterstützende Bezugsperson(en) im Erwachsenenalter<br />
Lebenszeitlich spätere Familiengründung (i.S. von Verantwortungsübernahme)<br />
Geringe Risiko-Gesamtbelastung<br />
Geschlecht: Mädchen weniger vulnerabel<br />
Abb. 1: Differentialdiagnose bei somatoformer Schmerzstörung<br />
12 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
Referat 2: Körperschmerz als Ausdruck seelischer Konflikte / Gewalterfahrungen<br />
Prof. Dr. Ulrich T. Egle<br />
Das Literaturverzeichnis kann bei der Klinik <strong>Sonnenhalde</strong> per Mail angefordert werden:<br />
seminare@sonnenhalde.ch<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 13
Referat 3: Migranten empfinden Schmerz anders — Wege zu einer kultursensitiven Therapie<br />
Dr. phil. Brigitta Wössmer<br />
Für Ihre Notizen<br />
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Referat 3: Migranten empfinden Schmerz anders — Wege zu einer kultursensitiven Therapie<br />
Dr. phil. Brigitta Wössmer<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 15
Referat 3: Migranten empfinden Schmerz anders — Wege zu einer kultursensitiven Therapie<br />
Dr. phil. Brigitta Wössmer<br />
Für Ihre Notizen<br />
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Referat 3: Migranten empfinden Schmerz anders — Wege zu einer kultursensitiven Therapie<br />
Dr. phil. Brigitta Wössmer<br />
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Referat 3: Migranten empfinden Schmerz anders — Wege zu einer kultursensitiven Therapie<br />
Dr. phil. Brigitta Wössmer<br />
Für Ihre Notizen<br />
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Referat 3: Migranten empfinden Schmerz anders — Wege zu einer kultursensitiven Therapie<br />
Dr. phil. Brigitta Wössmer<br />
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WS 1: Schmerzerfahrung und kindliche Gewalterfahrung / Deprivation —<br />
Was bedeutet das für die Psychotherapie<br />
Dr. Gerhard Gutscher<br />
Einleitung: „Mir tut alles weh und man findet nichts.“ Wie elend fühlt sich ein Mensch, der so etwas sagt.<br />
Es könnte ein Vorgespräch oder Abklärungsgespräch, wie wir heute sagen, in der Klinik <strong>Sonnenhalde</strong> sein.<br />
Ein Mann mittleren Alters, Migrationshintergrund, lebt schon lange in der Schweiz, ist geflüchtet vor dem<br />
Krieg in seinem Heimatland. Von seinem Vater war er überstreng erzogen worden, es gab häufig Schläge<br />
bei geringfügigen Anlässen. Als junger Erwachsener hatte er sich aufgelehnt gegen das diktatorische Regime<br />
seiner Heimat, war verhaftet und gefoltert worden. Irgendwie gelang ihm die Flucht bei Nacht und<br />
Nebel über verschiedene Grenzen bis ins „gelobte Land“ Schweiz. Dort angekommen hat er Mühe, Arbeit<br />
zu finden. Weit unter seinem Niveau arbeitet er, der Akademiker, nun mühevoll mit seinen Händen bis ein<br />
kleiner Unfall ihn aus der Bahn wirft. Er hat Schmerzen - überall, man untersucht ihn und findet nichts<br />
(organisches). Solche und ähnliche Geschichten hören wir immer wieder. Hier hat ein Mann Schläge als<br />
Kind und Gewalt im Erwachsenenleben erfahren. Er leidet unter körperlichem und seelischem Schmerz.<br />
Mein Thema ist Schmerzerfahrung und kindliche Gewalterfahrung oder/und Deprivation. Ich will zunächst<br />
die Begriffe klären, dann auf die Zusammenhänge zwischen Schmerzerfahrung und kindlicher Bindung,<br />
Gewalterfahrung und Deprivation eingehen, kurz die Diagnostik streifen und über Folgerungen für<br />
die Psychotherapie und Seelsorge sprechen.<br />
Schmerzerfahrung, was ist das? J<br />
eder kennt ihn, den Schmerz. Man schlägt einen Nagel mit dem Hammer in die Wand und trifft den Finger,<br />
der den Nagel hält – aua!! Das tut weh. Was ist passiert? Über Schmerz-rezeptoren werden Signale über<br />
das Rückenmark ans Gehirn geleitet und melden Schmerz. Langsam lässt der Schmerz nach. Bald ist er vergessen.<br />
Kurzer heftiger körperlicher Schmerz ohne Langzeitfolgen.<br />
Schmerz – dolor (lat.) – algos(gr.) ist eine komplexe subjektive Sinneswahrnehmung, die als akutes Geschehen<br />
den Charakter eines Warn- und Leitsignals aufweist und in der Intensität von unangenehm bis<br />
unerträglich reichen kann. Als chronischer Schmerz hat es den Charakter des Warnsignals verloren und<br />
wird heute als eigenständiges Krankheitsbild: Chronisches Schmerzsyndrom gesehen und behandelt<br />
(Wikipedia).<br />
Schmerzdefinition der IAPS (International Association for the Study of Pain): „Pain is an unpleasent sensory<br />
and emotional experience with actual or potential tissue damage or described in terms of such damage“<br />
Ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebeschädigung<br />
verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.<br />
(Schmerzpsychotherapie, Kröner-Herwig… Seite 4)<br />
20 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
WS 1: Schmerzerfahrung und kindliche Gewalterfahrung / Deprivation —<br />
Was bedeutet das für die Psychotherapie<br />
Dr. Gerhard Gutscher<br />
Unterscheidung: akuter Schmerz Chronischer Schmerz<br />
Dauer: nur kurz andauernd lang andauernd bzw. wiederkehrend<br />
Ursache:<br />
bekannt und ggf. therapierbar<br />
(Verletzung, Entzündung)<br />
Ursache vielschichtig und schwer therapierbar<br />
Funktion: Warnfunktion keine Warnfunktion<br />
Intervention:<br />
Schonung, Therapie der Schmerzursachen,<br />
zeitbegrenzte Analgetikabehandlung<br />
Abbau von schmerzunterstützenden Faktoren,<br />
z.B. von Bewegungsangst<br />
Behandlungsziele: Schmerzfreiheit<br />
Minderung der Schmerzen, besserer Umgang<br />
mit Schmerzen, Minderung der<br />
schmerzbedingten Beeinträchtigungen<br />
Psychologische<br />
Konsequenzen<br />
Hoffnung auf Erfolg der Behandlung,<br />
Überzeugung von Kontrollierbarkeit<br />
Resignation, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit<br />
Quelle: Schmerzpsychotherapie, S. 7<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 21
WS 1: Schmerzerfahrung und kindliche Gewalterfahrung / Deprivation —<br />
Was bedeutet das für die Psychotherapie<br />
Dr. Gerhard Gutscher<br />
Schmerz und frühe Bindungserfahrung: Die einjährige Naomi wird den ganzen Tag in einer Kinderkrippe<br />
zusammen mit 8 anderen Kindern von einer ihr fremden Person betreut, weil ihre alleinerziehende Mutter<br />
arbeiten muss. Das Mädchen weint und lässt sich von der Betreuerin nicht beruhigen. Irgendwann hört sie<br />
auf zu schreien und setzt sich still in eine Ecke. Sie leidet unter Trennungsschmerz. Wenn diese Situation<br />
sich Tag für Tag wiederholt, ist Naomi in ihrer seelischen Gesundheit gefährdet und entwickelt möglicherweise<br />
einen unsicher-vermeidenden Bindungsstil. Schmerz ist einerseits ein körperliches Empfinden, andererseits<br />
ein seelisches, emotionales Erleben.<br />
Als John Bowlby (1907-1990) 1969 sein Buch: „Bindung – Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung“ veröffentlichte,<br />
war er unter den Psychoanalytikern ein Aussenseiter. Heute ist seine Bindungstheorie vielfach<br />
empirisch bestätigt worden und nicht mehr wegzudenken aus dem Repertoire der Erkenntnisse über<br />
Entwicklungspsychologie. Sie hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Psychotherapie.<br />
Wenn das kindliche Bedürfnis nach Bindung angemessen befriedigt wird, entsteht Freude und Befriedigung.<br />
Das Kind erlebt Verbundenheit mit seiner Mutter, das Leben macht Sinn. Wenn unsere Grundbedürfnisse<br />
nach Bindung, nach Platz, Nahrung, Unterstützung, Schutz und nach Grenzen (vgl. Al Pesso)<br />
nicht von unseren Eltern angemessen beantwortet und befriedigt werden, erfahren wir statt Freude<br />
Schmerz. Schmerzhafte Erfahrungen werden in unserem impliziten und später auch im expliziten Gedächtnis<br />
gespeichert und prägen unsere Wahrnehmung und unser Denken. Später können Erlebnisse, die irgendwie<br />
dem ursprünglichen schmerzlichen Erleben ähnlich sind, die alte Erfahrung wieder wachrufen<br />
und wir erleben wieder den alten intensiven Schmerz wie damals. Oft ist das ursprüngliche Ereignis verdrängt<br />
oder abgespalten, steht also unserem expliziten (bewussten) Gedächtnis gar nicht zur Verfügung.<br />
Wir erleben Schmerz, wissen aber nicht warum.<br />
Kindliche Gewalterfahrung: Leider ist es bis heute so, dass viele Kinder Gewalt erfahren. Als ich 1978 promovierte<br />
zu dem Thema: „Züchtigung und Zärtlichkeit“ bei Prof. Dr. R. Lempp in Tübingen, war das Schlagen<br />
von Kindern bei manchen Eltern und Lehrern noch Teil des Erziehungsstils. Wieviel Erschreckendes<br />
musste ich in den Interviews mit den Kindern und Jugendlichen hören, da wurde berichtet von Prügeln<br />
nicht nur mit Händen, sondern auch mit Gegenständen und das nicht nur einmal sondern immer wieder.<br />
Obwohl diese Praktiken längst nicht mehr erlaubt sind in unserer westlichen Erziehung, erleiden dennoch<br />
viele Kinder Gewalt und insbesondere auch sexuelle Übergriffe und Missbrauch oft von ihren eigenen Vätern<br />
oder Stiefvätern.<br />
In einer Befragung von 4455 Personen (Häuser et al.2011) machten 56% Angaben zu Misshandlungserfahrungen<br />
in ihrer Kindheit und Jugend. 10,8% sprachen über schwere körperliche Vernachlässigung, 6,6%<br />
über schwere emotionale Vernachlässigung, 2,8 % über schweren körperlichen Missbrauch, 1,9% über<br />
schweren sexuellen Missbrauch, 1,6% über schweren emotionalen Missbrauch in ihrer Kindheit/Jugend.<br />
Deprivation: privare (lateinisch) heisst berauben. Laut Pschyrembel (Klinisches Wörterbuch) ist Deprivation<br />
eine allgemeine Bezeichnung für Entbehrung oder Mangel. Es beschreibt unzureichende oder fehlende<br />
körperliche und affektive Zuwendung. Die Deprivationstrias besteht aus Angst, Aggressivität und Kontaktschwäche.<br />
Viele Betroffene fühlen sich ihrer Kindheit beraubt.<br />
Diagnostik ist wichtig: Als Psychiater und Psychotherapeuten, vielleicht auch als Seelsorger, sind wir in der<br />
Gefahr, körperliche Ursachen zu übersehen. Ein Beispiel aus dem Klinikalltag: Die Patientin mittleren Alters<br />
kommt erneut zur stationären Behandlung, da sie wieder zunehmend depressiv wurde. Ausserdem<br />
leidet sie unter Schmerzen. Am meisten weh tut es ihr im linken Fuß.<br />
22 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
WS 1: Schmerzerfahrung und kindliche Gewalterfahrung / Deprivation —<br />
Was bedeutet das für die Psychotherapie<br />
Dr. Gerhard Gutscher<br />
Hat sie neben der affektiven Störung auch eine somatoforme Schmerz-störung? Ein CT-Befund anlässlich<br />
einer Untersuchung ergibt den Befund einer alten Mittelfußfraktur!<br />
Die Somatische Anamnese gehört genauso zu einer psychiatrischen Untersuchung wie der somatische<br />
Befund und ggf. weitere Befunde (Laborwerte, Vorbefunde CT, MRI). Uns interessiert die biografische<br />
Anamnese genauso wie die psychiatrische. Traumatische Erfahrungen werden ebenso gehört wie Deprivationserfahrungen.<br />
Der psychopathologische Befund beschreibt das aktuell wahrnehmbare und vom Patienten<br />
genannte seelische Befinden. Eine Persönlichkeitsdiagnostik beschreibt überdauernde Wesensund<br />
Charakterzüge und ggf. eine Persönlichkeitsstörung.<br />
Schmerzpsychotherapie:<br />
In unserem klinischen Alltag ergänzen sich psychodynamische Psychotherapie und kognitive Verhaltenstherapie.<br />
Kreative neuere Richtungen sind die Pessotherapie (PBSP) und die Schematherapie, die Elemente<br />
verschiedener Therapierichtungen integrieren. Systemische Therapieansätze helfen, den Überblick<br />
über die familiären und sonstigen Umwelt-zusammenhänge (z.B. Arbeitskontext) zu verstehen. In der stationären<br />
Behandlung können wir auf der Basis von Milieutherapie Gestaltungstherapien und Körpertherapien<br />
anbieten. Das Prinzip der Achtsamkeit ist Grundlage der Acceptance and Commitment Therapy.<br />
Auch in der Dialektisch behavioralen Therapie nach M. Linehan spielt sie eine grosse Rolle.<br />
„Frei sein<br />
im Schmerz“ ist der Titel eines Buches von Iris und Peter Tamme mit dem Untertitel: „Selbsthilfe durch<br />
Achtsamkeitsbasierte Schmerztherapie ABST. Das erinnert mich an das Kirchenlied „In Dir ist Freude in<br />
allem Leide“ von Cyriakus Schneegass (Lied Nr. 398,Ev.Gesangbuch). Wir haben einen reichen Schatz<br />
an Achtsamkeitsübungen in den Psalmen und in der Tradition der Kirche und des Mönchtums. In<br />
der Regel von Bose, einer 1963 gegründeten ökumenischen Kommunität in Norditalien fand ich<br />
folgenden Satz: „not to attach oneself to anything or anyone“. Nicht anhaften, nicht sich hängen<br />
an irgendjemanden oder etwas ist eine alte christliche Tugend und findet sich nicht nur in<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 23
WS 1: Schmerzerfahrung und kindliche Gewalterfahrung / Deprivation —<br />
Was bedeutet das für die Psychotherapie<br />
Dr. Gerhard Gutscher<br />
buddhistischen Quellen. Mein Oberarztkollege Christopher Nardmann macht ein Forum für Lebens- und<br />
Glaubensfragen zum Thema: Achtsamkeit und Gebet. Für Schmerzpatienten geht es darum, Wege zu finden,<br />
wie sie achtsam mit sich und ihrem Leib umgehen lernen. Dazu gehört auch, Wege zu finden,<br />
schmerzliche Erfahrungen und Entbehrungen in der Kindheit und Jugend zu überwinden und sein Schicksal<br />
annehmen lernen anstatt damit zu hadern und zu verbittern. Kein leichter Weg, doch lohnend. Wenn es<br />
gelingt, dem von Schmerzen geplagten Menschen einen Weg zu zeigen, der ihn dazu führt, seine Aufmerksamkeit<br />
auf anderes als den Schmerz zu lenken, ist viel gewonnen.<br />
Literatur:<br />
Frei sein im Schmerz Selbsthilfe durch Achtsamkeitsbasierte Schmerztherapie ABST, Peter Tamme&Iris<br />
Tamme Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt, 2010<br />
Über den Schmerz, C.S. Lewis, Kösel, Reihe Doppelpunkt, 1978<br />
Hirnforschung für Neu(ro)gierige Braintertainment 2.0, Manfred Spitzer, Wulf Bertram, Schattauer, <strong>2013</strong><br />
Psychodynamische Psychotherapie Die Arbeit an Konflikt, Struktur und Trauma, Gerd Rudolf Schattauer<br />
2010<br />
Schmerzpsychotherapie Grundlagen, Diagnostik, Krankheitsbilder, Behandlung Kröner-Herwig, Frettlöh,<br />
Klinger, Nilges, Springer 7. Auflage 2011<br />
Gehirn, Psyche und Körper Neurobiologie von Psychosomatik und Psychotherapie, Mit einem Geleitwort<br />
von Gerd Rudolf, Johann Caspar Rüegg, Schattauer, 4.Auflage 2007<br />
Körperschmerz – Seelenschmerz Die Psychosomatik des Bewegungssystems Ein Leitfaden, Hildegund<br />
Heinl, Peter Heinl, Kösel, 6.Auflage <strong>2013</strong><br />
Therapie psychischer Erkrankungen State oft he Art, Ulrich Voderholzer, Fritz Hohagen (Hrsg.) Urban&Fischer,<br />
8.Auflage <strong>2013</strong><br />
Zärtlichkeit und Züchtigung. Eine Kinderbefragung, Gerhard Gutscher, Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades<br />
der Medizin, Zusammenfassung in Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie Hans Huber<br />
1978<br />
Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters; Fegert,Eggers,Resch, Springer, 2.Auflage<br />
2012<br />
Pessotherapie: Das Wissen zur Heilung liegt in uns, Leonhard Schrenker, Klett-Cotta 2008<br />
Die Bühnen des Bewusstseins oder: Werden, wer wir wirklich sind, PBSP- ein ressourcenorientierter, neurobiologisch<br />
fundierter Ansatz der Körper-, Emotions- und Familientherapie, Albert Pesso, Lowijs Perquin<br />
CIP-Medien 2008<br />
Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, Dilling, Freyberger (Hrsg.) Huber 2012<br />
(6.Auflage)<br />
Monastery of Bose, Edizioni Qiqajon Monasterio di Bose Magnano, 2012<br />
Gebet und Achtsamkeit, Christopher Nardmann, Forum für Lebens- und Glaubensfragen 15.7.<strong>2013</strong><br />
24 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
WS 2: Schmerzverarbeitung in der Kunsttherapie<br />
Gabriela Jaros<br />
Schmerz als bewusstes Erleiden, dringt nach wie vor schicksalshaft steht’s „ von woanders“ auf das Lebewesen<br />
ein, sei dieses „Andere“ auch der eigene, nichtbewusste Lebenstrieb selbst. Schopenhauer<br />
Schmerzkommunikation ist bildhaft<br />
Viele Patienten stehen chronischen Schmerzen hilflos gegenüber. Sie sind nicht im Besitz von adäquaten<br />
Coping-Strategien. Der chronische Schmerz wird zum Stressfaktor. Hauptziel der Schmerzverarbeitung in<br />
der Kunsttherapie ist es, diese wahrgenommene Hilflosigkeit, durch prozesshaftes Erarbeiten von<br />
Schmerzbewältigungsstrategien anhand der eigenen Seelenbilder zu reduzieren.<br />
Eine Schmerzdefiniton ist: Schmerz ist das, was ich als Betroffene beschreibe. Schmerz ist als solcher niemals<br />
sichtbar, sondern nur erlebbar.<br />
Der Schmerz kann zum Beispiel nach einem Zahnarztbesuch weiterhin intensiv gefühlt werden. Die<br />
Schmerzbeschreibung ist jedoch schwierig und könnte in Abhängigkeit vom schmerzerlebenden Menschen<br />
unterschiedlicher nicht sein.<br />
„Es pocht spitzig, stumpf, wie wenn ein Specht gleichmässig auf mein Zahnfleisch hämmern würde. Stromstösse<br />
durchdringen, in unregelmässigen Blitzen, meine linke Backe und gleichzeitig zieht eine krallende<br />
Zange meinen linken Gebissteil auseinander.“<br />
Bilder entstehen, werden benannt und beschrieben. Sie ermöglichen letztlich Unaussprechliches mitteilen<br />
zu können. Sie sind dialogische Brücken der Kommunikation und der Schmerzverarbeitung.<br />
Die Kommunikation über Schmerzen geschieht auf mindestens vier Ebenen: der nonverbalen Körpersprache<br />
(Körperhaltung, Gestik, etc.), der parasprachlich vokalen Ebene (Schluchzen, Winseln, etc.) der verbal<br />
kundgebenden Ebene (willkürliche Schreie, Schmerzinterjektionen etc.) und letztlich der verbal schweigenden<br />
Ebene (kommunikativer und sozialer Rückzug)(1).<br />
Das verzweifelte Sagen-wollen, aber Nicht-können, macht einen Spalt in der Ordnung des Wissens sichtbar,<br />
der immer da ist. Was fehlt, ist die Macht, die den Spalt schliesst; dass er existiert, eröffnet den Raum<br />
menschlicher Existenz und Kreativität (2).<br />
Die Kunsttherapie schafft einen therapeutischen Zugang in eben diesen beschriebenen Raum. Sie öffnet<br />
die Türe zur eigenen Kreativität und Selbstwirksamkeit. Die Kunst der Kunsttherapie führt hin zum Erleben<br />
des Ausdruckes. Es entstehen Bilder oder Objekte, mit welchem das Ich in Resonanz treten kann. Die Möglichkeit<br />
aktiv am Geschehen mitzugestalten, ist erschaffen und somit ist ein Zugang zur eigenen Handlungsfähigkeit<br />
geöffnet.<br />
Weiter haben wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt, dass nur zehn Prozent dessen, was im Hirn abläuft,<br />
verbale Prozesse sind, der Rest sind vor allem Bilder. Das Gehirn ist ein Bild erzeugendes Organ (3).<br />
Gelingt es kodierte Bilder im Gehirn zu verändern, verändern sich dort auch die Prozesse (Regelkreise und<br />
synaptische Schnittstellen) der Schmerzwahrnehmung und –verarbeitung und letztlich der Copingstrategien.<br />
Wohltuende Bilder haben Kraft<br />
Der Befehl, Schmerz zu empfinden, wird vom Gehirn gegeben. Aus einer Studie: „Schöne Bilder gegen<br />
Schmerz“(4) wird ersichtlich, dass das Betrachten von wohltuenden Bildern den Schmerz deutlich lindert.<br />
Eine weitere Studie belegt die positive Wirkung durch das Meditieren von religiösen Bildern (5). Somit<br />
kann in Bezug auf die Schmerzthematik ein entscheidendes Kriterium sein, welche Bilder die Wände psychiatrischer<br />
und somatischer Kliniken schmücken.<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 25
WS 2: Schmerzverarbeitung in der Kunsttherapie<br />
Gabriela Jaros<br />
Ressourcen Findung ist ein heilender Weg<br />
Das freie künstlerische Tun setzt Ressourcen frei. Es ist ein zentrales Schmerzmittel in der aktiven<br />
Kunsttherapie.<br />
Der Patient kann durch das Freisetzen der ureigenen Kreativität mittels Farben, Formen und Gestaltung<br />
jeglichen Materials Quellen ungeahnter Freude entdecken, zur Ruhe kommen, oder Sinnfindung trotz seines<br />
Leidens bzw. gerade durch dessen Bearbeitung erfahren.<br />
Niki de Saint Phalle`s künstlerischer Erfolg beginnt mit ihren Schiessbildern. Mit<br />
einem Luftgewehr schoss sie gezielt auf ihre Bilder, auf welchen sie zuvor Farbbeutel<br />
anbrachte. Sie konnte ihr innere Aggression und Wut, welche in der Beziehung<br />
zu ihrem Vater wurzelte, stellvertretend auf ihre Bilder externalisieren. Ihre<br />
Bilder sind Beispiel dafür, wie befreiend kanalisierte Gestaltungskraft ist.<br />
Schießbild, 1961<br />
Frida Kahlo, Inbegriff einer Schmerzensikone, steht in ihrem künstlerischen<br />
Schaffen exemplarisch für „Mal-Therapie“. Jedes ihrer Bilder, ob mehr seelischer<br />
oder körperlicher Schmerz ausdrückend, ist eine eindrückliche Bewältigung ihres<br />
schmerzerfüllten Daseins.<br />
The Broken Column, 1944<br />
Louise Bourgeois zeigt mit ihren riesenhaften Spiders des Skulpturenzyklus<br />
„Maman“ einen für sie gehbaren Weg autobiografische Erlebnisse zu verarbeiten.<br />
Somit kann sie sich selbst als Handelnde erleben und die Oberhand über ihren<br />
Schmerz erfahren. In ihren Spiders bekommt das Gestalt, was im Trauma oft fragmentiert<br />
auseinander bricht. Es wird ein Ganzes und ist nun steuerbar. Es entstehen<br />
ein Gestern und ein Heute. Die Vergangenheit ist bewältigt und vorbei.<br />
Maman , 9,27 × 8,92 × 10,24 m, 8165 kg<br />
Joseph Beuys bringt mit seinem in Filz eingenähten, stummen Konzertflügel den<br />
Innen Ton, den Klang des Leidens, welches sich selbst nicht zu artikulieren versteht,<br />
zum künstlerischen Ausdruck. Das auf der Filzhülle genähte Kreuz ist der<br />
Versuch die Hoffnung auf eine Sinnfindung im tonlosen Schmerz nicht zu verlieren.<br />
„Den Schmerz zu denken, bleibt gebunden an die Empathie und die eigene<br />
Erfahrung des Schmerzes, ohne die das Leben nicht sein kann. Ohne Schmerz gibt<br />
es kein Bewusstsein“(Joseph Beuys). Das aufgenähte Kreuz ist in diesem Beispiel<br />
die kunsttherapeutische Intervention, die für den Gestaltenden eine mögliche<br />
Wende des unaufhaltbaren Schmerzes einleiten kann.<br />
Infiltration homogen für Konzertflügel, 1966<br />
Konzertflügel, Filz, Leder, 100 x 152 x 240 cm<br />
Courtesy of Georges Pompidou Center, Paris<br />
26 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
WS 2: Schmerzverarbeitung in der Kunsttherapie<br />
Gabriela Jaros<br />
Rezeptive Kunsttherapie<br />
Rezeptive Kunsttherapie beschreibt hier eine aufnehmende und empfangende Strategie. Sie beinhaltet die<br />
Arbeit mit vorhandenem künstlerischem Material (z.B. wie die erwähnten Künstlerporträts). Die Identifikation<br />
mit Bild, wie in den obigen Beispielen dargelegt, kann bereits der erste Schritt einer gelingenden<br />
Schmerzvisualisierung und eine Möglichkeit zur Verbalisierung des Schmerzes sein.<br />
LOM (Lösungsorientiertes Malen)<br />
LOM ist eine kunsttherapeutische Methode, die mit und durch Bilder arbeitet und sich in der verbalen Beschreibung<br />
nur teilweise wiedergeben lässt. In dieser Methode wird deutlich, wie unsere inneren Bilder<br />
unsere Emotionen steuern. Wie bereits erwähnt, unser Hirn denkt in Bildern. Ein Drittel aller gespeicherten<br />
Bilder werden in unserem Hirn memoriert. Gerade traumatische Erfahrungen prägen massgeblich unsere<br />
innere Bilderwelt. Gelingt es, eben diesen Bildern Ausdruck zu geben, kann Licht in die innere Dunkelheit<br />
kommen und wird Linderung der Schmerzen erfahrbar.<br />
Workshop Fokus<br />
„Das Bild ist stärker als ich, trachte immer danach, das zu tun, was es will“ (Pablo Picasso).<br />
Als Kunstherapeutin wage ich zu erweitern: einerseits was DAS BILD WILL und andererseits was DAS BILD<br />
BRAUCHT.<br />
In meinem Workshop werde ich durch diese kunsttherapeutischen Aspekte führen, konkrete kunsttherapeutische<br />
Fallbeispiele vorstellen und mit wenigen Impulsen Selbsterfahrungsmöglichkeiten anbieten.<br />
Quellenverzeichnis:<br />
1. Stemmer-Holtz Noa, ZHdK MA Design Kommunikation: Schmerz-Dolmetscher, Zürich,<strong>2013</strong>,S.12<br />
2. Schmerz, Kunst und Wissenschaft 2007, S.41<br />
3. Hüther, 2004 S.22<br />
4. “New Scientist Magazine“(http://www.newsientist.com/home.ns)<br />
5. Wiech et al.: An fMRI study measuring analgesia enhanced by religion as a beliefsystem Pain (2008)<br />
139: 467-476<br />
Literatur:<br />
Ereignis Kunsttherapie, Bettina Egger, Zytglogge2003<br />
Lösungsorientierte Maltherapie, Bettina Egger, Jörg Merz, Huber <strong>2013</strong><br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 27
WS 3: Das Schleudertrauma — ist das eine wirkliche Krankheit? Die Diskussion um die Abschaffung chronischer<br />
Schmerzstörzungen in der schweizerischen Invalidenversicherung (IV)<br />
Prof. Dr. Thierry Ettlin<br />
Für Ihre Notizen<br />
28 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
WS 3: Das Schleudertrauma — ist das eine wirkliche Krankheit? Die Diskussion um die Abschaffung chronischer<br />
Schmerzstörzungen in der schweizerischen Invalidenversicherung (IV)<br />
Prof. Dr. Thierry Ettlin<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 29
WS 3: Das Schleudertrauma — ist das eine wirkliche Krankheit? Die Diskussion um die Abschaffung chronischer<br />
Schmerzstörzungen in der schweizerischen Invalidenversicherung (IV)<br />
Prof. Dr. Thierry Ettlin<br />
Für Ihre Notizen<br />
30 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
WS 3: Das Schleudertrauma — ist das eine wirkliche Krankheit? Die Diskussion um die Abschaffung chronischer<br />
Schmerzstörzungen in der schweizerischen Invalidenversicherung (IV)<br />
Prof. Dr. Thierry Ettlin<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 31
WS 3: Das Schleudertrauma — ist das eine wirkliche Krankheit? Die Diskussion um die Abschaffung chronischer<br />
Schmerzstörzungen in der schweizerischen Invalidenversicherung (IV)<br />
Prof. Dr. Thierry Ettlin<br />
Für Ihre Notizen<br />
32 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
WS 3: Das Schleudertrauma — ist das eine wirkliche Krankheit? Die Diskussion um die Abschaffung chronischer<br />
Schmerzstörzungen in der schweizerischen Invalidenversicherung (IV)<br />
Prof. Dr. Thierry Ettlin<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 33
WS 3: Das Schleudertrauma — ist das eine wirkliche Krankheit? Die Diskussion um die Abschaffung chronischer<br />
Schmerzstörzungen in der schweizerischen Invalidenversicherung (IV)<br />
Prof. Dr. Thierry Ettlin<br />
Für Ihre Notizen<br />
34 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
WS 3: Das Schleudertrauma — ist das eine wirkliche Krankheit? Die Diskussion um die Abschaffung chronischer<br />
Schmerzstörzungen in der schweizerischen Invalidenversicherung (IV)<br />
Prof. Dr. Thierry Ettlin<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 35
WS 3: Das Schleudertrauma — ist das eine wirkliche Krankheit? Die Diskussion um die Abschaffung chronischer<br />
Schmerzstörzungen in der schweizerischen Invalidenversicherung (IV)<br />
Prof. Dr. Thierry Ettlin<br />
Für Ihre Notizen<br />
36 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
WS 4: Türkische Schmerzpatienten in der Psychotherapie — Welchen Einfluss hat die Kultur auf Schmerzen?<br />
Dr. Gülbeyaz Söllick<br />
Türkische Schmerzpatienten in der<br />
Psychotherapie –<br />
Welchen Einfluss hat die Kultur?<br />
Dr. med. Gülbeyaz Söllick<br />
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie<br />
General-Guisan Str. 46, 4054 Basel<br />
Überblick<br />
Was ist zu beachten bei der Arbeit mit türkischen Patienten:<br />
• Was bedeutet der Schmerz für die Patienten im Alltag?<br />
• Was bedeutet und beinhaltet der Migrationsprozess?<br />
• Welche Rolle spielt der Bildungsstand bei der Integration?<br />
• Kulturspezifische familiäre Interaktionen und Umgang mit psychiatrischen<br />
Erkrankungen in der Familie anhand von einem Fallbeispiel<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 37
WS 4: Türkische Schmerzpatienten in der Psychotherapie — Welchen Einfluss hat die Kultur auf Schmerzen?<br />
Dr. Gülbeyaz Söllick<br />
Für Ihre Notizen<br />
Was ist der Schmerz?<br />
Ein Puzzle bestehend aus vielen Einzelteilen<br />
• Akuter Schmerz = Warnsignal, Notfallbehandlung<br />
nötig<br />
• Chronischer Schmerz = belastender Störfaktor?<br />
• Schmerz = mehrdimensional, d.h. nicht nur<br />
organisch:<br />
• Sensorisch diskriminative Komponente<br />
• Autonom vegetativer Prozess<br />
• Emotional-kognitive Aspekte<br />
(Gate Control Theorie von R. Melzack und P. Wall, 1965)<br />
George Cruikshank –The<br />
Head Ache<br />
Schema: Interaktionen und Folgewirkungen<br />
von chronischen Schmerzen<br />
Peter Keel: „Psychosomatische Evaluation und therapeutische Prozedere“ [in: Anke Eckardt<br />
(Hrsg.): Praxis LWS-Erkrankungen – Diagnose und Therapie (2011)]<br />
38 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
WS 4: Türkische Schmerzpatienten in der Psychotherapie — Welchen Einfluss hat die Kultur auf Schmerzen?<br />
Dr. Gülbeyaz Söllick<br />
Was bedeutet und<br />
beinhaltet die Migration?<br />
• Verlust der Heimat, Familie und Freunde<br />
(Entwurzelung)<br />
• Ungewisse Zukunft in einem fremden Land meist in<br />
Kombination mit Unkenntnis der Sprache und Kultur<br />
• Enormer Druck, finanzielle Absicherung zu erreichen<br />
(eventuell auch Familie in der Heimat versorgen zu<br />
müssen)<br />
• Wegen fehlender/geringer Ausbildung meist nur<br />
schwere körperliche Arbeiten möglich<br />
• Fokussierung auf die eigene kulturelle Gruppe<br />
(„Parallelgesellschaft“)<br />
Emotionslogik des Migrationsprozesses<br />
• Integration erfordert eine<br />
„Leistung der kulturellen<br />
Adoleszenz“, die nach der<br />
Migration erbracht werden<br />
muss.<br />
• Diese Phase geht einher mit<br />
einer erhöhten Stressbelastung<br />
und Vulnerabilität für<br />
psychische Erkrankungen.<br />
Wielant Machleidt: „Kränkung und psychische Krankheit“ [in: Solmaz Golsabahi & Thomas Heise<br />
(Hrsg.): Von Gemeinsamkeiten und Unterschieden (Das transkulturelle Psychoforum, Bd. 15, 2008)]<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 39
WS 4: Türkische Schmerzpatienten in der Psychotherapie — Welchen Einfluss hat die Kultur auf Schmerzen?<br />
Dr. Gülbeyaz Söllick<br />
Für Ihre Notizen<br />
Erfahrungen aus dem klinischen Alltag I<br />
Therapieerfahrungen mit den meisten türkischen Patienten mit somatoformen<br />
Schmerzstörungen zeigen folgende Besonderheiten:<br />
• Unverständnis darüber, zum Psychiater geschickt zu werden: „Ich bin doch nicht<br />
verrückt, sondern habe Rückenschmerzen!“ , da das Krankheitsverständnis rein<br />
somatisch ist.<br />
• Psychiatrie / Psychotherapie ist mit hohem Stigma behaftet (das Gesicht verlieren).<br />
• Ärztin/Arzt wird als omnipotente Autoritätsperson gesehen, die, wenn sie will,<br />
heilen kann.<br />
• Der Patient/die Patientin hat eine passive Erwartungshaltung (lieber Massage als<br />
aktive Physiotherapie).<br />
Erfahrungen aus dem klinischen Alltag II<br />
• Subjektives Schmerzempfinden muss anerkannt werden (NICHT „sie haben aber<br />
nichts!“), d.h. auf den Schmerz eingehen und erst danach die psychosomatischen<br />
Zusammenhänge erklären.<br />
• Dabei den Bildungsstand des Patienten beachten und Erklärungen, wenn möglich,<br />
mit einfachen und klaren Bildern/Beispielen ergänzen.<br />
• Die psychischen Zusammenhänge und mögliche Ursachen nur sehr vorsichtig den<br />
Patienten näher bringen.<br />
40 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
WS 4: Türkische Schmerzpatienten in der Psychotherapie — Welchen Einfluss hat die Kultur auf Schmerzen?<br />
Dr. Gülbeyaz Söllick<br />
Inhalt der psychotherapeutischen Arbeit in den<br />
folgenden Therapiestunden<br />
• Aufdeckung der frühen Traumata (Armut, Deprivation) oder mögliche<br />
Gewalterfahrung (Schläge und Prügel in der Adoleszenz) oder Folter.<br />
• Beachtung der Persönlichkeitsstruktur, die eine Chronifizierung der Schmerzen<br />
begünstigen kann.<br />
• Mit der Bearbeitung der zugrundeliegenden Traumata in der Psychotherapie<br />
geraten die Schmerzsymptome in den Hintergrund.<br />
Beeinflussende Faktoren<br />
• Leidensdruck und Introspektionsfähigkeit bestimmen u.a. neben den oben<br />
genannten Faktoren, ob der/die Patient/in bereit ist, eine Psychotherapie zu<br />
beginnen und mit einer guten Compliance weiterzuführen.<br />
• Auch Faktoren wie primärer und sekundärer Krankheitsgewinn (v.a. Interaktionen<br />
zwischen den Familienmitgliedern) sowie ein laufendes I.V. Verfahren (eventuell<br />
Rentenbegehren?) spielen oft eine wichtige Rolle.<br />
• Natürlich entscheiden darüberhinaus auch Faktoren wie Übertragung /<br />
Gegenübertragung und Widerstand im Laufe der PT über deren Entwicklung und<br />
Erfolg.<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 41
WS 4: Türkische Schmerzpatienten in der Psychotherapie — Welchen Einfluss hat die Kultur auf Schmerzen?<br />
Dr. Gülbeyaz Söllick<br />
Für Ihre Notizen<br />
Integrative Psychotherapie<br />
• Durch eine gute interdisziplinäre Vernetzung hat der Patient die Sicherheit, mit all<br />
seinen Beschwerden ernst genommen und ganzheitlich mit allen nötigen<br />
Therapien behandelt zu werden (Rheumatologie, Rehabilitation, Schmerzmedizin,<br />
WS Chirurgie, Komplementärmedizin, Physiotherapie und konstante<br />
Psychotherapie).<br />
• Durch die konstante und zuverlässige psychotherapeutische Behandlung kann die<br />
Aufarbeitung der eigentlichen Ursachen und deren Triggerfaktoren für die<br />
Chronifizierung der Schmerzen erfolgen.<br />
Take home messages<br />
• „Körperliche Schmerzen“ als direkter Ausdruck von „seelischen Schmerzen“.<br />
• Es fehlen sowohl die Bewusstheit um die psychischen Hintergründe als auch die<br />
sprachliche Fähigkeit, diese zu benennen.<br />
• Migration und missglückte Integration sind prädisponierende Faktoren für psychische<br />
Erkrankungen.<br />
• Hohe Erwartungen an den Arzt/Ärztin als omnipotente Autoritätsperson und grosse<br />
Enttäuschung bei Nichterfüllen der schnellen Genesungswünsche bei passiver<br />
Erwartungshaltung der Patienten.<br />
• Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist wichtig, um die nötigen Therapien im richtigen<br />
Ausmass in die Wege zu leiten.<br />
42 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
WS 5: Basiswissen: Somatisierung — somatoformes Schmerzsyndrom — wie werden Schmerzen in der<br />
psychiatrischen Diagnostik verstanden. Welche Perspektiven ergeben sich für die Therapieplanung?<br />
Roland Stettler<br />
Basiswissen Somatisierung und<br />
somatoformes Schmerzsyndrom –<br />
Diagnostik und therapeutische<br />
Perspektiven<br />
Roland Stettler, Oberarzt<br />
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie<br />
MAS Angewandte Ethik<br />
Klinik <strong>Sonnenhalde</strong><br />
Ambulante Dienste<br />
Habsburgerstrasse 15<br />
CH-4055 Basel<br />
Workshop 5<br />
24. Riehener Seminar<br />
22. Oktober <strong>2013</strong><br />
Somatoforme Schmerzstörung<br />
Intrapsychische Aspekte<br />
Unbewusst:<br />
•Bedürftigkeit<br />
•Trauer<br />
•Ärger<br />
•Fehlende Hilfesuche<br />
•Aggressive Wehrlosigkeit<br />
Frühe Biographie:<br />
Fehlende Unterstützung<br />
Depressiver Grundkonflikt<br />
Abwehr der Bedürftigkeit<br />
und Modus der Verarbeitung:<br />
•Durchhalten<br />
•Forciertes Angebot<br />
•Emotionale Dauerspannung<br />
•Fehlende emotionale Entlastung<br />
•Fehlende kommunikative Entlastung<br />
•Fehlende regressive Entlastung<br />
•Chron. Selbstverleugnung<br />
•Chron. Selbstüberforderung<br />
•Daueranspannung<br />
•Vermehrte Selbstaufmerksamkeit<br />
•Ängstliche Bewertung<br />
•Körpersymptom<br />
•Schmerz<br />
•Erschöpfung<br />
•Burn-out<br />
•Verzweiflung<br />
•Schonverhalten<br />
•Soziale Vermeidung<br />
•Symptomchronifizierung<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 43
WS 5: Basiswissen: Somatisierung — somatoformes Schmerzsyndrom — wie werden Schmerzen in der<br />
psychiatrischen Diagnostik verstanden. Welche Perspektiven ergeben sich für die Therapieplanung?<br />
Roland Stettler<br />
Für Ihre Notizen<br />
Somatoforme Schmerzstörung<br />
Interaktionelle Aspekte<br />
Frühe Biographie:<br />
fehlende<br />
Unterstützung<br />
Depressiver<br />
Grundkonflikt<br />
Verarbeitung<br />
Symptomchronifizierung<br />
Intrapsychisches<br />
Erleben<br />
Interpersonelles<br />
Angebot<br />
Erlebte<br />
Objektresonanz<br />
Bedürftigkeit Appell Fehlende Resonanz<br />
Enttäuschung,<br />
Schmerz<br />
Überkompensiertes<br />
Bemühen<br />
Körpersymptombildung<br />
Selbstüberforderung,<br />
Erschöpfung<br />
Appell<br />
Forciertes Angebot<br />
Symptomklage<br />
Verbot des<br />
Appellierens<br />
Fehlende Resonanz<br />
Unverständnis,<br />
Durchhalteappelle<br />
Enttäuschung Aggravation Ablehnnung<br />
Somatoforme Schmerzstörung<br />
Physiologische Aspekte<br />
Frühe Biographie:<br />
•Fehlende Unterstützung<br />
Depressiver Grundkonflikt<br />
Noradrenerges System<br />
•Fehlende Entlastung<br />
•Emotionale Dauerspannung<br />
•Fehlende Hilfesuche<br />
Prolaktin<br />
Kortisol<br />
Sympathikotone Erregung<br />
Fehlende Reparationsfunktion<br />
für<br />
Muskelschäden<br />
Immunsuppression<br />
Entzündungsbereitschaft<br />
Körpersymptom Schmerz<br />
•Muskeltonus<br />
•Minderdurchblutung<br />
•Nozizeptoren<br />
•Neurophysiologische<br />
•Sensibilisierung<br />
Erschöpfung der<br />
Kortisolspeicher<br />
Symptomchronifizierung<br />
Verlust der Signalfunktion<br />
44 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
WS 5: Basiswissen: Somatisierung — somatoformes Schmerzsyndrom — wie werden Schmerzen in der<br />
psychiatrischen Diagnostik verstanden. Welche Perspektiven ergeben sich für die Therapieplanung?<br />
Roland Stettler<br />
Behandlung somatoformer Störungen<br />
DOs and DON‘Ts<br />
• DOs<br />
– Nehmen Sie den Patienten durch aktives Nachfragen ernst und<br />
vergewissern Sie sich durch ein Zusammenfassenlassen, dass das<br />
Besprochene verstanden wurde<br />
– Sprechen sie psychosoziale Themen zunächst eher beiläufig an<br />
– Bieten Sie eine positive Beschreibung der Beschwerden (z.B.<br />
„körperlicher Stress“) an<br />
– Beruhigen Sie und versichern Sie die Glaubwürdigkeit der Beschwerden<br />
– Vereinbaren Sie feste ärztliche Termine<br />
– Führen Sie bei jedem Besuch kurze körperliche Untersuchungen mit<br />
dem Schwerpunkt auf dem Gebiet des Unbehagens durch<br />
Gottschalk JM und Rief W, 2012<br />
Behandlung somatoformer Störungen<br />
DOs and DON‘Ts<br />
• DON‘Ts<br />
– Vermeiden Sie Begriffe und Terminologien, die die Beschwerden<br />
verharmlosen (z.B. „Sie haben nichts“), unbewiesene<br />
Ätiologieannahmen suggerieren („vegetative Dystonie“) oder den<br />
Betroffenen stigmatisieren („Simulant“)<br />
– Vermeiden Sie, den Patienten in die „Psycho-Kiste“ zu schieben, indem<br />
ausschliesslich psychosoziale Faktoren zur Erklärung der Symptome<br />
herangezogen werden<br />
– Sprechen Sie psychosoziale Themen nicht konfrontativ und frontal an<br />
– Vermeiden Sie eine Beschwerdengesteuerte Terminplanung<br />
– Vermeiden Sie unnötige diagnostische Verfahren, invasive<br />
Behandlungen und Krankenhauseinweisungen<br />
Gottschalk JM und Rief W, 2012<br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 45
WS 5: Basiswissen: Somatisierung — somatoformes Schmerzsyndrom — wie werden Schmerzen in der<br />
psychiatrischen Diagnostik verstanden. Welche Perspektiven ergeben sich für die Therapieplanung?<br />
Roland Stettler<br />
Für Ihre Notizen<br />
Motivationsarbeit<br />
• Die Motivation zur Psychotherapie ist bei Patienten<br />
mit somatoformen Störungen keine „Bringschuld“,<br />
sondern ein wichtiges Therapieziel, dessen Erreichen<br />
Zeit braucht!<br />
– Motivation kann erst entstehen, wenn der Patient auf dem<br />
Boden einer tragfähigen Arbeitsbeziehung seine<br />
Ursachenüberzeugung von einer rein organischen zu einer<br />
psychosomatischen Sichtweise erweitert hat<br />
– Dabei helfen:<br />
• Konsequente Orientierung an Bewältigung statt an Heilung der<br />
Beschwerden / gemeinsames Durchsprechen von Einflussfaktoren<br />
Rudolf G und Henningsen P, <strong>2013</strong><br />
Behandlung somatoformer Störungen<br />
Psychodynamische Themenkomplexe im Therapieverlauf<br />
• 1. Fokus: Körpersymptom<br />
– Der aussichtslose Kampf gegen das Symptom als negatives inneres Objekt.<br />
Wichtigste Aufgabe: den Patienten anteilnehmend begleiten.<br />
• 2. Fokus: enttäuschende Helfer<br />
– Hoffnung und Enttäuschung bezüglich medizinischer Hilfe; negative Objekte in<br />
der äusseren Realität<br />
• 3. Fokus: enttäuschende Angehörige<br />
– Hoffnung und Enttäuschung bezüglich wichtiger Bezugspersonen; negative<br />
Objekte in der Nähe<br />
• 4. Fokus: enttäuschender Therapeut<br />
– Hoffnung und Enttäuschung in der Beziehung zum Therapeuten; Übertragung<br />
der negativen Objektvorstellungen auf den Therapeuten<br />
• 5. Fokus: hilfloses Selbst<br />
– Sehnsucht nach ideal guten Objekten<br />
Rudolf G und Henningsen P, <strong>2013</strong><br />
46 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
WS 5: Basiswissen: Somatisierung — somatoformes Schmerzsyndrom — wie werden Schmerzen in der<br />
psychiatrischen Diagnostik verstanden. Welche Perspektiven ergeben sich für die Therapieplanung?<br />
Roland Stettler<br />
Schmerz als multidimensionales<br />
Geschehen<br />
Timmer B und Heuser J, <strong>2013</strong><br />
Psychosomatische Schmerzen<br />
Therapieziele<br />
• Erweiterung der Ursachenüberzeugung<br />
– auch nicht somatische, ich-nahe Ursachen und deren Veränderlichkeit werden<br />
durch therapeutisches Handeln zugelassen<br />
• Überwindung der Bewegungsangst und der Angst vor Schmerzen<br />
• Neues Lernen, dass körperliche Aktivität nicht schadet, sondern hilft und<br />
dass die Patienten selbst Einfluss nehmen können<br />
• Kleine Erfolge akzeptieren können<br />
• Verhaltenserfolge und Verbesserung der Stimmung anzuerkennen, auch<br />
wenn der Schmerz sich (noch) nicht wesentlich ändert<br />
• Zunehmende Unabhängigkeit von medizinischen Angeboten<br />
• Motivation am multimodalen Konzept festzuhalten, auch wenn<br />
Schwierigkeiten auftreten<br />
Rudolf G und Henningsen P, <strong>2013</strong><br />
24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz 47
WS 5: Basiswissen: Somatisierung — somatoformes Schmerzsyndrom — wie werden Schmerzen in der<br />
psychiatrischen Diagnostik verstanden. Welche Perspektiven ergeben sich für die Therapieplanung?<br />
Roland Stettler<br />
Somatic Symptom Disorder (DSM-5)<br />
• Wesentliche Veränderungen<br />
– Das bislang zentrale Kriterium der organischen Unerklärbarkeit der<br />
Beschwerden entfällt<br />
– Stattdessen werden psychobehaviorale Merkmale der Patienten zu<br />
verbindlichen diagnostischen Positivkriterien aufgenommen<br />
• Anhaltende Überzeugung von der medizinischen Ernsthaftigkeit<br />
• Starke Beschäftigung mit den Beschwerden<br />
• Hohe Gesundheitsangst wegen den Beschwerden<br />
– Die Kategorie soll alle bisherigen Unterformen soamtoformer Störungen<br />
ersetzen und anhand der Zahl der Körperbeschwerden in Schweregrade<br />
unterteilt werden<br />
Dimsdale J et al., <strong>2013</strong><br />
Literatur<br />
• Dimsdale J et al. (<strong>2013</strong>): Somatic symptom disorder. An important change in DSM. Journal of<br />
Psychosomatic Research, S. 223-228.<br />
• Gottschalk JM, Rief W (2012): Psychotherapeutische Ansätze für Patienten mit somatoformen<br />
Störungen. Nervenarzt, S. 115-1127.<br />
• Hausteiner-Wiehle C, Henningsen P (2012): Diskussion um Konzepte und Diagnostik<br />
somatoformer Störungen. Nervenarzt, S. 1097-1105.<br />
• Hausteiner-Wiehle C et al. (<strong>2013</strong>): Neue Leitlinien zu funktionellen und somatoformen<br />
Störungen. Psychother Psych Med, S. 26-31.<br />
• Henningsen P, Martin A (2008): Somatoforme Störungen. In: Herpertz SC, Caspar F, Mundt Ch<br />
(Hrsg.): Störungsorientierte Psychotherapie. München: Elsevier, S. 541-559.<br />
• Rudolf G, Henningsen P (<strong>2013</strong>): Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik. Ein<br />
einführendes Lehrbuch auf psychodynamischer Grundlage. 7. Aufl., Stuttgart: Thieme,<br />
speziell S. 159-171 und 202-230.<br />
• Timmer B, Heuser J(<strong>2013</strong>): Therapie chronischer Schmerzen. Psychup2date, S. 121-<br />
135.<br />
48 24. Riehener Seminar am 22. Oktober <strong>2013</strong>: Seelenschmerz — Körperschmerz
VORANZEIGE 2014<br />
REFERATE:<br />
<br />
<br />
<br />
Prof. Dr. Stefan Büchi<br />
Pfr. Wilfried Veeser<br />
Dr. Christian Schäfer<br />
<br />
Pfr. Monika Riwar<br />
und weitere profilierte Referentinnen und Referenten<br />
Weitere Infos: www.sonnenhalde.ch