Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land ...

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B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3 Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land Bremen w w w. a r b e i t n e h m e r k a m m e r. d e Arbeitnehmerkammer Bremen

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

<strong>Bericht</strong> <strong>zur</strong> <strong>Lage</strong> <strong>der</strong><br />

<strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

w w w. a r b e i t n e h m e r k a m m e r. d e<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen


B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

<strong>Bericht</strong> <strong>zur</strong> <strong>Lage</strong> <strong>der</strong><br />

<strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen


2<br />

I M P R E S S U M<br />

H E R A U S G E B E R<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>kammer Bremen<br />

Bürgerstraße 1<br />

28195 Bremen<br />

Telefon 0421· 36301-0<br />

Telefax 0421·36301- 89<br />

info@arbeitnehmerkammer.de<br />

www.arbeitnehmerkammer.de<br />

R E DA K T I O N<br />

Nathalie San<strong>der</strong><br />

Elke Heyduck<br />

L E K T O R A T<br />

Martina Kedenburg<br />

G R A F I S C H E G E S T A L T U N G<br />

Designbüro Möhlenkamp, Bremen<br />

Marlis Schuldt<br />

Jörg Möhlenkamp<br />

F O T O S<br />

Kay Michalak<br />

Cindi Jacobs<br />

D R U C K<br />

Girzig & Gottschalk, Bremen<br />

Abgeschlossen <strong>im</strong> März 2013<br />

V E R FA S S E R I N N E N / V E R FA S S E R<br />

Susanne Achenbach,<br />

Referentin für Bildung <strong>und</strong> Ausbildung<br />

Carola Bury,<br />

Referentin für Ges<strong>und</strong>heitspolitik<br />

Regine Geraedts,<br />

Referentin für Arbeitsmarkt- <strong>und</strong><br />

Beschäftigungspolitik<br />

Kai-Ole Hausen,<br />

Referent für Wirtschafts- <strong>und</strong> Infrastrukturpolitik<br />

Susanne Hermeling,<br />

Referentin für Bildungspolitik<br />

Elke Heyduck,<br />

Geschäftsführerin <strong>und</strong> Leitung Politikberatung<br />

Jörg Muscheid,<br />

Referent für Wirtschaftspolitik<br />

Dr. Guido Nischwitz,<br />

Institut Arbeit <strong>und</strong> Wirtschaft (IAW)<br />

Barbara Reuhl,<br />

Referentin für Arbeits- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsschutz<br />

Peer Rosenthal,<br />

Referent <strong>der</strong> Geschäftsführung <strong>und</strong> für<br />

Arbeitsmarkt- <strong>und</strong> Beschäftigungspolitik<br />

Dr. Marion Salot,<br />

Referentin für regionale Wirtschaftspolitik<br />

Ingo Schäfer,<br />

Referent für Sozialversicherungs- <strong>und</strong><br />

Steuerpolitik<br />

Dr. Esther Schrö<strong>der</strong>,<br />

Referentin Gleichstellungs- <strong>und</strong><br />

Geschlechterpolitik<br />

Thomas Schwarzer,<br />

Referent für kommunale Sozialpolitik<br />

Bernd Strüßmann,<br />

Referent für regionale Strukturpolitik


3<br />

Inhalt<br />

1<br />

2<br />

4<br />

6<br />

7<br />

13<br />

18<br />

24<br />

29<br />

34<br />

36<br />

40<br />

46<br />

52<br />

59<br />

64<br />

68<br />

75<br />

78<br />

79<br />

87<br />

90<br />

95<br />

Vorwort<br />

Teil 1: Wirtschaft, Arbeit/Arbeitsmarktpolitik<br />

Wirtschaft<br />

Wirtschaftsentwicklung: Europa in <strong>der</strong> Rezession, Bremer <strong>Lage</strong> noch stabil<br />

Verdienste in Bremen<br />

Wirtschafts- <strong>und</strong> Beschäftigungsentwicklung in Bremerhaven<br />

Exkurs: Schiffahrt in <strong>der</strong> Krise, Exportstärke sorgt aber für Umschlagrekorde<br />

Strukturwandel <strong>und</strong> gute Arbeit <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen – welche Rolle hat die Wirtschaftspolitik?<br />

Für eine transparente <strong>und</strong> effiziente Wirtschaftsför<strong>der</strong>ung<br />

Exkurs: EU-Strukturpolitik in Bremen<br />

Arbeit/Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsschutz<br />

Arbeitsmarktpolitik: Kürzungen <strong>und</strong> neue Instrumente als doppelte Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

Qualifizieren statt Aktivieren:<br />

Bildungschancen für Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen <strong>und</strong> -Empfänger<br />

Ausbildung in Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven: Noch <strong>im</strong>mer gehen zu viele verloren<br />

Minijobs: Umfassende Reform notwendig<br />

Vom Job direkt in ›Hartz IV‹: Weniger Absicherung durch Arbeitslosenversicherung<br />

Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen auf dem (Bremer) Arbeitsmarkt<br />

Exkurs: Jetzt auf Dauer: Beratung für von Berufskrankheiten Betroffene<br />

Teil 2: Ges<strong>und</strong>heit, Rente, Bildung <strong>und</strong> Integration<br />

Ges<strong>und</strong>heit<br />

Zur Situation in <strong>der</strong> Pflege – Zwischen Fachkräftebedarf <strong>und</strong> Pflegenotstand<br />

Exkurs: Fachkräftebedarf in <strong>der</strong> Bremer Pflege: Engpassanalyse mittels Arbeitslosen<strong>und</strong><br />

Stellenstatistik <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit<br />

Rente<br />

Lebensstandardsicherung o<strong>der</strong> Armutsbekämpfung?<br />

Renten wegen vermin<strong>der</strong>ter Erwerbsfähigkeit: Ges<strong>und</strong>heitliche <strong>und</strong> soziale Risiken<br />

für Beschäftigte – Bremen <strong>im</strong> Län<strong>der</strong>vergleich<br />

100<br />

108<br />

3114<br />

118<br />

124<br />

125<br />

131<br />

140<br />

Bildung <strong>und</strong> Integration<br />

Betriebsräte <strong>und</strong> berufliche Weiterbildung von Beschäftigten<br />

Perspektivwechsel in Bremen – von Integration zu Vielfalt <strong>und</strong> Partizipation<br />

Exkurs: Anerkennung von Abschlüssen – als Weg zu qualifizierter Beschäftigung<br />

Auf gleichen Bildungswegen zu neuen Chancen<br />

Teil 3: Soziales <strong>und</strong> Stadtentwicklung<br />

Familien müssen planen:<br />

Bremen <strong>und</strong> die B<strong>und</strong>espolitik taktieren <strong>und</strong> <strong>im</strong>provisieren be<strong>im</strong> U3-Ausbau<br />

Wohnungsbaupolitik: Neubau alleine reicht nicht<br />

Bremen-Nord: Zwischenfazit für einen Stadtbezirk <strong>im</strong> politischen Fokus


4<br />

V O R W O R T<br />

Zu <strong>der</strong> Zeit, als dieser <strong>Lage</strong>bericht bei <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer geschrieben wurde,<br />

zerbrachen sich <strong>im</strong> Rathaus Haushälter <strong>und</strong> Politiker die Köpfe über das Budget für die<br />

einzelnen Bremer Politikbereiche. Die Schuldenbremse – sie wirft ihre Schatten voraus –<br />

gilt ab 2020, dann muss das <strong>Land</strong> ohne neue Schulden seine Ausgaben bewältigen können.<br />

Um die bereits aufgelaufenen sogenannten Altschulden in Höhe von aktuell 19 Milliarden<br />

Euro zu bedienen, also nur um die Zinsen zu bezahlen, gibt das <strong>Land</strong> Bremen jährlich<br />

650 Millionen Euro aus. Die Zinsen verschlingen r<strong>und</strong> ein Sechstel des Gesamthaushalts.<br />

Zum Vergleich ein an<strong>der</strong>er Posten: Die Sozialausgaben betrugen <strong>im</strong> Jahr 2012 knapp<br />

800 Millionen Euro.<br />

Es ist aus unserer Sicht schwer vermittelbar, dass man den <strong>Arbeitnehmer</strong>n <strong>und</strong> Bürgern<br />

die hier leben <strong>und</strong> arbeiten, den Gürtel <strong>im</strong>mer enger schnallt, wenn am Ende dieses<br />

Weges nicht eine deutlich verlässlichere finanzielle Gr<strong>und</strong>lage für das Gemeinwesen<br />

geschaffen ist. Eine Anstrengung, wie sie <strong>im</strong> bremischen Haushalt <strong>und</strong> damit von<br />

den Menschen zu leisten ist, muss sich lohnen. Es wird sonst früher o<strong>der</strong> später keine<br />

ausreichende Zust<strong>im</strong>mung mehr für diesen Weg geben.<br />

Wir haben <strong>im</strong>mer darauf hingewiesen, dass die Schuldenbremse dann funktionieren<br />

kann, wenn es eine politische <strong>und</strong> solidarische Lösung für die Altschulden gibt (nicht nur<br />

Bremen hat damit ein Problem!). Wir haben gleichzeitig dafür plädiert, die Einnahmesituation<br />

<strong>der</strong> öffentlichen Hand zu verbessern: unter an<strong>der</strong>em durch die Einführung einer<br />

Vermögensteuer, die Neuregelung <strong>der</strong> Erbschaftsteuer <strong>und</strong> die Abschaffung des flachen<br />

Steuersatzes für Kapitaleinkünfte. Län<strong>der</strong> <strong>und</strong> Kommunen benötigen einen ausreichenden<br />

finanziellen Handlungsspielraum, etwa um in die Integration unserer bunter werdenden<br />

Gesellschaft, in die Betreuung <strong>und</strong> Bildung unserer Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> damit in mehr<br />

Chancengerechtigkeit <strong>und</strong> in die För<strong>der</strong>ung von Arbeitsuchenden investieren zu können.


5<br />

Unser diesjähriger <strong>Lage</strong>bericht zeigt die Herausfor<strong>der</strong>ungen: In unseren Schulen werden<br />

Menschen gebildet, die einen <strong>im</strong>mer unterschiedlicheren kulturellen <strong>und</strong> auch Bildungshintergr<strong>und</strong><br />

haben. Die Arbeitslosigkeit in unseren Städten geht wesentlich <strong>zur</strong>ück<br />

auf eine viel zu große Gruppe von Menschen, die keinen Berufsabschluss hat <strong>und</strong> auch<br />

<strong>der</strong> regionale Arbeitsmarkt selbst birgt für <strong>Arbeitnehmer</strong> nicht unerhebliche Prekaritätsrisiken.<br />

Die erfolgreiche Ansiedlung neuer Industrien – etwa die Windenergiebranche –<br />

hat zudem mit schwierigen politischen Rahmenbedingungen zu kämpfen. Was <strong>der</strong><br />

<strong>Bericht</strong> aber auch zeigt: Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven sind ›dran‹ an den Themen, die die<br />

Zukunftsfähigkeit unserer Städte ausmachen. In den Städten entscheiden sich die heute<br />

wichtigen Fragen <strong>der</strong> Integration, des sozialen Zusammenhalts, neuer Arbeitsmärkte <strong>und</strong><br />

wirtschaftlicher Entwicklungen. Diese Rolle des ›Treibers‹ müssen wir <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

selbstbewusst wahrnehmen. Dafür müssen die fiskalischen Schwierigkeiten gemeistert<br />

werden, dafür muss aber auch die Politik ihren Gestaltungswillen auf den Arbeitsmärkten<br />

<strong>und</strong> bei <strong>der</strong> angemessenen Ausstattung unseres Gemeinwesens behaupten.<br />

Mit unserem <strong>Bericht</strong> <strong>zur</strong> <strong>Lage</strong> <strong>der</strong> <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong> <strong>im</strong> <strong>Land</strong><br />

Bremen wollen wir dazu einen Beitrag leisten.<br />

Peter Kruse<br />

Präsident<br />

Ingo Schierenbeck<br />

Hauptgeschäftsführer


6<br />

1<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Wirtschaft Arbeit<br />

Arbeitsmarktpolitik


7<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Wirtschaftsentwicklung<br />

Europa in <strong>der</strong> Rezession, Bremer <strong>Lage</strong> noch stabil<br />

J Ö R G M U S C H E I D<br />

Was sich bereits <strong>im</strong> Jahresverlauf 2011 in einer<br />

Reihe europäischer Staaten abzeichnete, ist<br />

Mitte 2012 bittere Realität in Europa geworden:<br />

Die Wirtschaft <strong>im</strong> Euroraum schrumpfte<br />

zwei Quartale in Folge <strong>und</strong> befindet sich damit<br />

in <strong>der</strong> Rezession. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

nach wie vor ungelösten Schuldenkrise in<br />

Europa <strong>und</strong> angesichts <strong>der</strong> massiven Sparprogramme<br />

war es allerdings keine Frage, ob die<br />

Rezession eintritt, son<strong>der</strong>n nur wann sie eintritt.<br />

Denn dass angesichts <strong>der</strong> einseitig auf<br />

Konsolidierung ausgerichteten Krisenpolitik<br />

die Nachfrage nach Gütern <strong>und</strong> Dienstleistungen<br />

in Europa nachhaltig gedrosselt werden<br />

würde, war zu erwarten. Bei <strong>der</strong> konjunkturellen<br />

Situation ist Europa gespalten: Griechenland<br />

<strong>und</strong> Portugal mussten 2012 eine weitere<br />

Verschärfung ihres wirtschaftlichen Rückgangs,<br />

<strong>der</strong> bereits <strong>im</strong> Vorjahr einsetzte, erleiden.<br />

Im Jahresverlauf kamen dann mit Italien<br />

<strong>und</strong> Spanien auch die dritt- <strong>und</strong> viertgrößten<br />

Volkswirtschaften des Euroraums in die Rezession.<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite hat sich die Wirtschaftsentwicklung<br />

in den übrigen Län<strong>der</strong>n<br />

2012 als vergleichsweise robust erwiesen, vor<br />

allem in Deutschland.<br />

Deutliche Bremsspuren in <strong>der</strong> Wirtschaft<br />

Gleichwohl zeigen die ersten Wirtschaftszahlen<br />

vom Jahresende 2012, dass <strong>der</strong> Euroraum<br />

noch tiefer in die Rezession gerutscht ist.<br />

Obwohl <strong>der</strong> Einkaufsmanagerindex, einer <strong>der</strong><br />

wichtigsten Frühindikatoren für die wirtschaftliche<br />

Entwicklung <strong>im</strong> Euroraum, <strong>im</strong><br />

Dezember leicht um 0,7 Prozentpunkte auf<br />

47,2 Prozent <strong>und</strong> auch <strong>im</strong> Januar 2013 auf 48,6<br />

Prozent stieg, verbleibt er noch <strong>im</strong>mer unter<br />

<strong>der</strong> sogenannten ›Wachstumsschwelle‹ von<br />

50 Punkten. Auch <strong>der</strong> Exportsektor schwächelt<br />

mittlerweile: Die Exportwirtschaft in Deutschland,<br />

die trotz <strong>der</strong> Krise bislang auf robust<br />

hohem Niveau war, musste <strong>im</strong> November ein<br />

Minus von insgesamt 3,4 Prozent gegenüber<br />

dem Vormonat verzeichnen, wobei <strong>der</strong> Rückgang<br />

<strong>der</strong> Nachfrage aus dem Euroraum mit<br />

5,7 Prozent deutlich stärker ausfiel <strong>und</strong> nur<br />

durch die gestiegene Nachfrage aus den übrigen<br />

Län<strong>der</strong>n teilweise kompensiert werden<br />

konnte. Im Ergebnis stieg das Bruttoinlandsprodukt<br />

in Deutschland nach einem Plus von<br />

4,2 Prozent 2010 <strong>und</strong> 3,0 Prozent 2011 <strong>im</strong><br />

abgelaufenen Jahr lediglich um 0,7 Prozent.<br />

Risiken außerordentlich hoch<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Rezession in den<br />

südeuropäischen Eurolän<strong>der</strong>n war für 2012<br />

kein höheres Wachstum in Deutschland zu<br />

erwarten, die Zahlen zeigen aber auch: Die<br />

Krise hat Europas Kern erreicht. Von <strong>der</strong> rigiden<br />

Sparpolitik <strong>der</strong> südeuropäischen Eurolän<strong>der</strong><br />

mit Lohn- <strong>und</strong> Rentenkürzungen, Entlassungen<br />

<strong>im</strong> öffentlichen Dienst, Kürzungen von<br />

Sozialleistungen – bei <strong>der</strong> die wohlhabenden<br />

Schichten allerdings weitgehend verschont<br />

blieben, ist in Deutschland (<strong>und</strong> den an<strong>der</strong>en<br />

mittel- <strong>und</strong> nordeuropäischen Eurolän<strong>der</strong>n)<br />

allerdings keine Rede <strong>und</strong> auch für dieses<br />

Jahr herrscht bei allen Prognosen <strong>der</strong> Forschungsinstitute<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esregierung ein<br />

gr<strong>und</strong>sätzlicher Opt<strong>im</strong>ismus vor. Ausgehend<br />

von <strong>der</strong> Annahme, dass es keine Eskalation <strong>der</strong><br />

europäischen Schuldenkrise gibt <strong>und</strong> dass die<br />

Weltwirtschaft weiterhin mo<strong>der</strong>at expandiert,<br />

wird allgemein von einer Fortsetzung <strong>der</strong><br />

Krisenbewältigung <strong>und</strong> des konjunkturellen<br />

Aufschwungs – wenn auch auf niedrigerem<br />

Niveau – ausgegangen. Ob diese gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

Annahme, dass es keine Eskalation <strong>der</strong><br />

europäischen Schuldenkrise gibt, auch zum<br />

Tragen kommt, lässt sich allerdings kaum<br />

seriös beantworten. Denn es setzt voraus, dass<br />

die Krisenlän<strong>der</strong> weiterhin an ihrem Konsoli-


8<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

2012<br />

2011<br />

2010<br />

2009<br />

Abb. 1:<br />

Wirtschaftswachstum <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen <strong>und</strong> dem B<strong>und</strong>esgebiet<br />

-7,9<br />

-5,1<br />

-10 -8 -6 -4 -2 0 2 4 6<br />

Bremen B<strong>und</strong><br />

Quelle: Statistische Ämter des B<strong>und</strong>es <strong>und</strong> <strong>der</strong> Län<strong>der</strong><br />

1,4<br />

1,1<br />

3,9<br />

3,0<br />

dierungskurs festhalten <strong>und</strong> dass auch die<br />

übrigen Län<strong>der</strong> konsequent ihre Defizite<br />

abbauen. Gleichzeitig brauchen die krisengeschüttelten<br />

Län<strong>der</strong> auch Wachstums<strong>im</strong>pulse,<br />

um ihre Wirtschaft wie<strong>der</strong> anzukurbeln. Angesichts<br />

<strong>der</strong> schon jetzt deutlich werdenden<br />

sozialen Verwerfungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> massiven Proteste<br />

gegen die Konsolidierungspolitik in den<br />

südeuropäischen Eurostaaten ist auch ein<br />

Scheitern <strong>der</strong> Sparpolitik, wie sie <strong>zur</strong>zeit praktiziert<br />

wird, durchaus realistisch – mit unabsehbaren<br />

Konsequenzen für die konjunkturelle<br />

Entwicklung <strong>und</strong> die gemeinsame Währung.<br />

<strong>Land</strong> Bremen:<br />

<strong>Lage</strong> stabil, Skepsis n<strong>im</strong>mt zu<br />

Diese Zweischneidigkeit <strong>der</strong> Analyse – einerseits<br />

eine zunehmende Gefährdung durch die<br />

Entwicklung <strong>der</strong> Rahmenbedingungen, an<strong>der</strong>erseits<br />

aktuell noch keine konkreten Auswirkungen<br />

– trifft auch zu be<strong>im</strong> Blick auf die B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>.<br />

Von einzelnen beson<strong>der</strong>s betroffenen Standorten<br />

in Deutschland (wie beispielsweise das<br />

Opel-Werk in Bochum) abgesehen, lassen sich<br />

we<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> regionalen noch <strong>der</strong> sektoralen<br />

Ebene größere Auswirkungen <strong>der</strong> Rezession <strong>im</strong><br />

Euroraum benennen. Gleichwohl mehren sich<br />

die skeptischen St<strong>im</strong>men hinsichtlich <strong>der</strong> weiteren<br />

Entwicklung. Diese zunehmende Unsicherheit<br />

spiegelte sich schon <strong>im</strong> Ergebnis <strong>der</strong><br />

Betriebsräte-Befragung <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen, die Anfang 2012 zum dritten Mal<br />

durchgeführt wurde. Wie <strong>im</strong> Vorjahr wurde<br />

3,7<br />

5,7<br />

auch diesmal die wirtschaftliche <strong>Lage</strong> des<br />

jeweils eigenen Betriebs von r<strong>und</strong> 76 Prozent<br />

aller Befragten als gr<strong>und</strong>sätzlich positiv eingeschätzt,<br />

zugleich nahm aber <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong><br />

skeptischen St<strong>im</strong>men hinsichtlich <strong>der</strong> wirtschaftlichen<br />

<strong>Lage</strong> insgesamt doch zu.<br />

Be<strong>im</strong> Blick auf das Wirtschaftswachstum <strong>im</strong><br />

<strong>Land</strong> Bremen erweist sich diese Skepsis als<br />

durchaus berechtigt, denn die ersten Ergebnisse<br />

für 2012 zeigen hier wie auch <strong>im</strong> B<strong>und</strong>esgebiet<br />

eine deutliche Abschwächung. Mit einem<br />

Wachstum von 1,4 Prozent (B<strong>und</strong>esgebiet: 1,1<br />

Prozent) war gegenüber den beiden Vorjahren<br />

ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen,<br />

wenngleich nach wie vor das Wachstum <strong>im</strong><br />

<strong>Land</strong> Bremen leicht über dem B<strong>und</strong>esdurchschnitt<br />

liegt.<br />

Beschäftigung konnte 2012<br />

weiter zulegen<br />

Auch 2012 verlief die Beschäftigungsentwicklung<br />

wie bereits <strong>im</strong> Vorjahr positiv. Be<strong>im</strong> Blick<br />

auf die Beschäftigungsentwicklung zeigt das<br />

<strong>Land</strong> Bremen – an<strong>der</strong>s als be<strong>im</strong> Wirtschaftswachstum<br />

– allerdings keine überdurchschnittlichen<br />

Ergebnisse: Das Wachstum <strong>der</strong> sozialversicherungspflichtigen<br />

Beschäftigung belief<br />

sich auf 1,9 Prozent – ebenso wie <strong>im</strong> B<strong>und</strong>esgebiet.<br />

Im Län<strong>der</strong>vergleich liegt Bremen damit<br />

<strong>im</strong> Mittelfeld.<br />

Einen wesentlichen Anteil an <strong>der</strong> stabilen<br />

Entwicklung <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen hatte 2012, wie<br />

auch in den Vorjahren, das verarbeitende<br />

Gewerbe. Hier konzentrieren sich in <strong>der</strong> Stadt<br />

Bremen mit dem Mercedes-Benz-Werk, Airbus,<br />

Atlas Elektronik <strong>und</strong> den Unternehmen <strong>der</strong><br />

Luft- <strong>und</strong> Raumfahrtindustrie große Unternehmen<br />

mit starker Bedeutung für die jeweiligen<br />

Zulieferbetriebe <strong>und</strong> die nachgelagerten<br />

Dienstleistungsbereiche; in Bremerhaven<br />

haben Firmen <strong>der</strong> Offshore-Windenergienutzung<br />

in den vergangenen Jahren stark an<br />

Bedeutung gewonnen <strong>und</strong> zu einer positiven<br />

Wirtschafts- <strong>und</strong> Beschäftigungsentwicklung<br />

in <strong>der</strong> Seestadt geführt.


9<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Im verarbeitenden Gewerbe gab es 2012 eine<br />

Reihe positiver Meldungen, hier sind allerdings<br />

auch Abschwächungstendenzen <strong>im</strong> vierten<br />

Quartal 2012 festzustellen. Zudem stockt<br />

<strong>der</strong> Ausbau <strong>der</strong> Offshore-Windenergienutzung,<br />

eine Entwicklung, die sich ab 2013 insbeson<strong>der</strong>e<br />

in Bremerhaven nie<strong>der</strong>schlagen wird (dazu<br />

ausführlicher <strong>im</strong> Beitrag Wirtschafts- <strong>und</strong><br />

Beschäftigungsentwicklung in Bremerhaven,<br />

S. 21 ff.):<br />

❚ Trotz eingetrübter Auftragseingänge zeigen die<br />

jüngsten Zahlen des Statistischen <strong>Land</strong>esamtes für<br />

das verarbeitende Gewerbe vor allem positive Ergebnisse:<br />

So stieg <strong>der</strong> Umsatz <strong>der</strong> bremischen Industriebetriebe<br />

2012 auf ein neues Rekordhoch von 24,3<br />

Milliarden Euro (6 Prozent). Die Auslandsumsätze<br />

konnten mit 7,3 Prozent sogar stärker zulegen.<br />

❚ Im Herbst vermeldete Airbus, mit eines <strong>der</strong> größten<br />

Unternehmen in Bremen, dass angesichts einer Auftragsflut<br />

bei Flugzeugen die Auslastung <strong>der</strong> nord-<br />

deutschen Werke für die nächsten sieben Jahre<br />

gesichert sein wird.<br />

❚ Nachdem OHB bereits 2010 be<strong>im</strong> Galileo-Satellitenprogramm,<br />

das als europäische Alternative zum<br />

amerikanischen GPS konzipiert ist, den Zuschlag für<br />

die ersten 14 Satelliten bekam, erfolgte <strong>im</strong> Frühjahr<br />

2012 <strong>der</strong> Anschlussauftrag für weitere acht Satelliten.<br />

Damit ist in absehbarer Zeit <strong>der</strong> Raumfahrtstandort<br />

Bremen ausgelastet.<br />

❚ Die Krise <strong>der</strong> Automobilindustrie, die sich vor allem<br />

in <strong>der</strong> beabsichtigten Schließung des Opel-Werks<br />

in Bochum zeigt, betrifft ausschließlich Massenhersteller<br />

wie Peugeot, Opel o<strong>der</strong> Ford, die beson<strong>der</strong>s<br />

von den Absatzeinbrüchen in Europa betroffen<br />

sind. Mercedes – wie auch die übrigen Premiumhersteller<br />

– verzeichnet dagegen weiterhin wachsende<br />

Absatzzahlen in den an<strong>der</strong>en Absatzmärkten, vor<br />

allem in den USA <strong>und</strong> China.<br />

Abb. 2: Entwicklung <strong>der</strong> sozialversicherungspflichtig<br />

Beschäftigten nach B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n (Juni 2011/Juni 2012)<br />

Berlin<br />

3,4<br />

Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

Bayern<br />

Hamburg<br />

Baden-Württemberg<br />

Deutschland<br />

Bremen<br />

Schleswig-Holstein<br />

Hessen<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

Rheinland-Pfalz<br />

Saarland<br />

Sachsen<br />

Brandenburg<br />

Thüringen<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Sachsen-Anhalt<br />

-0,2<br />

0,5<br />

1,5<br />

1,4<br />

1,3<br />

1,2<br />

1,0<br />

0,9<br />

1,9<br />

1,9<br />

1,8<br />

1,7<br />

2,3<br />

2,2<br />

2,7<br />

2,6<br />

-0,5 0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit, Beschäftigungsstatistik, Län<strong>der</strong>report, Stichtag 30. Juni 2012


10<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

❚ An<strong>der</strong>s dagegen die Situation in <strong>der</strong> Offshore-<br />

Industrie. Nachdem in den vergangenen Jahren hier<br />

ein rasanter Anstieg zu verzeichnen war, <strong>der</strong> zu<br />

einer deutlich stärkeren Beschäftigungsentwicklung<br />

in Bremerhaven (<strong>im</strong> Vergleich <strong>zur</strong> Stadt Bremen)<br />

geführt hat, zeigen die aktuellen Probleme <strong>der</strong> Netzanbindung<br />

erste Wirkungen. Aktuell wird <strong>der</strong><br />

Abbau von bis zu mehreren Tausend Arbeitsplätzen<br />

in Norddeutschland befürchtet.<br />

Tourismus ohne Zuwachs 2012 –<br />

<strong>im</strong> langfristigen Vergleich<br />

zudem unterdurchschnittlich<br />

Weitgehend unabhängig von <strong>der</strong> konjunkturellen<br />

Entwicklung hat sich in den vergangenen<br />

Jahren <strong>der</strong> Tourismussektor gezeigt. Der Städtetourismus<br />

gilt seit Jahren als ›Basistrend‹,<br />

von dem alle Städte mehr o<strong>der</strong> weniger profitiert<br />

haben. Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven hatten<br />

zudem durch die Entwicklung <strong>der</strong> ›Erlebniswelten‹<br />

voll auf diesen Trend gesetzt, um<br />

attraktive Zielorte für Tages- <strong>und</strong> Übernachtungstouristen<br />

zu werden. Durch die Ansiedlung<br />

von Ryanair konnten zudem zusätzliche<br />

Impulse für die Stadt Bremen in den vergangenen<br />

Jahren gegeben werden.<br />

Die seit Jahren andauernden Probleme bei<br />

<strong>der</strong> Botanika sowie die aktuell rückläufigen<br />

Besucherzahlen be<strong>im</strong> Universum in Bremen<br />

<strong>und</strong> dem Kl<strong>im</strong>ahaus in Bremerhaven machen<br />

aber deutlich, dass auch in <strong>der</strong> Tourismuswirtschaft<br />

Probleme bestehen. Das betrifft nicht<br />

nur die Tagesbesucher. Auch die Zahl <strong>der</strong> Übernachtungsgäste<br />

wird aller Voraussicht nach<br />

nicht an die Vorjahresergebnisse anknüpfen<br />

können. Nach deutlichen Zuwächsen 2010 <strong>und</strong><br />

2011 – sowohl in Bremen wie auch in Bremerhaven<br />

– stagniert 2012 (Stand: Oktober) bislang<br />

die Zahl <strong>der</strong> Übernachtungen (Stadt Bremen)<br />

beziehungsweise war leicht negativ (Bremerhaven)<br />

gegenüber dem jeweiligen Vorjahresergebnis.<br />

Vergleicht man die langfristige Entwicklung<br />

<strong>der</strong> großen Städte, relativieren sich<br />

zudem die alljährlichen Erfolgsmeldungen<br />

in Bremen: So hat die Stadt Bremen <strong>im</strong> Zehn-<br />

Jahres-Vergleich zwischen 2001 <strong>und</strong> 2011 mit<br />

einem Wachstum <strong>der</strong> Übernachtungen von<br />

r<strong>und</strong> 44,7 Prozent einen erheblichen Zuwachs<br />

verzeichnen können, doch deutlich weniger<br />

als zum Beispiel Hamburg (99,8 Prozent),<br />

Hannover (68,7 Prozent) o<strong>der</strong> Düsseldorf<br />

(60,9 Prozent). Im Vergleich <strong>der</strong> Großstädte<br />

war die langfristige Entwicklung in Bremen<br />

unterdurchschnittlich.<br />

Wirtschaftspolitische Weichenstellung<br />

für die Zukunft<br />

Zwei Schlüsselprojekte für die weitere Entwicklung<br />

des <strong>Land</strong>es wurden Ende des Jahres 2012<br />

in die Wege geleitet. Mit dem Projekt ›EcoMaT‹<br />

wird ein Technologiezentrum in <strong>der</strong> Nähe von<br />

Airbus, Astrium <strong>und</strong> Flughafen etabliert, in<br />

dem r<strong>und</strong> 500 Wissenschaftler <strong>und</strong> Techniker<br />

interdisziplinär zum Bereich ›Leichtbau‹<br />

zusammenarbeiten werden, um so Synergien<br />

zu bündeln. Nicht nur für die Luft- <strong>und</strong> Raumfahrtbranche,<br />

son<strong>der</strong>n in vielen an<strong>der</strong>en Branchen<br />

gewinnt <strong>der</strong> Leichtbau zunehmend an<br />

Bedeutung, so dass mit diesem Projekt auch<br />

über die ›Kernbranchen‹ hinaus Ausstrahlungseffekte<br />

angestrebt <strong>und</strong> möglich sind.<br />

Während das Projekt ›EcoMaT‹ keine weitere<br />

öffentliche Aufmerksamkeit nach sich zog,<br />

schlug das Projekt ›Offshore-Terminal Bremerhaven‹<br />

vergleichsweise hohe Wellen. Nach dem<br />

vergeblichen Versuch, einen privaten Investor<br />

zu finden, wurde beschlossen, den geplanten<br />

Offshore-Terminal mit öffentlichen Mitteln<br />

zu finanzieren. Schon dieses Vorgehen zeigt<br />

das hohe Risiko an, dass Bremen bei dieser<br />

Entscheidung auf sich n<strong>im</strong>mt. We<strong>der</strong> waren<br />

private Investoren zu finden noch sah man<br />

offensichtlich die Möglichkeit einer staatlichprivaten<br />

Kofinanzierung dieses Projektes. Auch<br />

die Details <strong>der</strong> Finanzierung überraschten,<br />

denn unter dem Reg<strong>im</strong>e <strong>der</strong> Schuldenbremse<br />

war klar, dass die Aufnahme neuer Kredite<br />

nicht infrage kommt.<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> <strong>der</strong> aktuellen Probleme<br />

in <strong>der</strong> Offshore-Windenergiebranche sind


11<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

die Irritationen ein Stück weit zu verstehen,<br />

zumal kurz nach Bekanntwerden <strong>der</strong> Entscheidung<br />

mit PowerBlades nun auch eine Bremerhavener<br />

Firma erste Entlassungen ankündigt.<br />

In <strong>der</strong> Tat geht Bremen mit <strong>der</strong> Entscheidung<br />

für die öffentliche Finanzierung dieses<br />

Projekts ein erhebliches finanzielles Risiko ein<br />

<strong>und</strong> bindet vor allem die Mittel des Wirtschaftsressorts<br />

in den nächsten Jahren in deutlichem<br />

Umfang. Bei aller Kritik aus finanzpolitischen<br />

<strong>und</strong> umweltpolitischen Gründen: Die<br />

gr<strong>und</strong>sätzliche Entscheidung für den Offshore-<br />

Terminal war angesichts <strong>der</strong> wirtschafts<strong>und</strong><br />

arbeitsmarktpolitischen Bedeutung <strong>der</strong><br />

Offshore-Branche nötig. Denn mit <strong>der</strong> Entscheidung<br />

für die Energiewende <strong>und</strong> den Ausbau<br />

<strong>der</strong> Offshore-Windenergienutzung sind<br />

seitens <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esregierung langfristige Strukturentscheidungen<br />

getroffen worden, die –<br />

unabhängig von den aktuellen Problemen <strong>der</strong><br />

Netzanbindung – in den nächsten Jahren<br />

erhebliche Beschäftigungspotenziale für Norddeutschland<br />

haben werden. Auch wenn die<br />

von Prognos in diesem Zusammenhang vorausgesagten<br />

Beschäftigungseffekte sich als zu<br />

hoch erweisen sollten, muss doch gesehen werden,<br />

dass industrielle Neuansiedlungen außerhalb<br />

dieser Branche kaum zu erwarten sind.<br />

Die Alternative des weiteren Abwartens wäre<br />

angesichts <strong>der</strong> Standortkonkurrenz an <strong>der</strong><br />

Nordseeküste ein verheerendes Signal für die<br />

vor allem in Bremerhaven ansässigen Unternehmen<br />

dieser Branche gewesen. Bei aller<br />

Kritik an den <strong>der</strong>zeitigen Arbeitsbedingungen<br />

<strong>und</strong> hier insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> hohen Leiharbeitsquote<br />

in <strong>der</strong> Windenergiebranche ist dieser<br />

Bereich nach wie vor <strong>der</strong> Hoffnungsträger für<br />

die aktuelle <strong>und</strong> zukünftige Beschäftigungsentwicklung<br />

in Bremerhaven.<br />

Gleichwohl ergibt sich aus dieser Entscheidung<br />

ein Dilemma für die bremische Wirtschaftspolitik:<br />

Die Bindung von r<strong>und</strong> 200 Millionen<br />

Euro in den nächsten fünf Jahren für<br />

ein einziges Projekt fällt zum einen zu einem<br />

Zeitpunkt <strong>der</strong> konjunkturellen Eintrübung mit<br />

nach wie vor unabsehbarem Risiko aufgr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> europäischen Staatsschuldenkrise. Zudem<br />

zeigen sich schon jetzt weiter wirtschaftspolitische<br />

›Baustellen‹, vor allem <strong>im</strong> Tourismussektor;<br />

ganz abgesehen vom Finanzbedarf in an<strong>der</strong>en<br />

Bereichen wie etwa den Krankenhäusern,<br />

die natürlich auch eine wirtschaftspolitische<br />

Bedeutung haben. Im Verlauf <strong>der</strong> weiteren<br />

konjunkturellen Entwicklung 2013/2014 <strong>und</strong><br />

bei <strong>der</strong> Vorlage des nächsten Strukturkonzepts<br />

wird von daher die Frage zu diskutieren sein,<br />

ob das <strong>Land</strong> in den nächsten Jahren noch<br />

genügend wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit<br />

hat.<br />

Während mit <strong>der</strong> Zusage für den Offshore-<br />

Terminal be<strong>im</strong> ›För<strong>der</strong>n‹ eine zügige Entscheidung<br />

seitens des <strong>Land</strong>es getroffen wurde, steht<br />

be<strong>im</strong> ›For<strong>der</strong>n‹ bislang die Umsetzung eines<br />

wichtigen Projekts aus: Das Tariftreue- <strong>und</strong><br />

Vergabegesetz des <strong>Land</strong>es sollte 2012 weiterentwickelt<br />

werden unter Einbeziehung <strong>der</strong> Kriterien<br />

›guter Arbeit‹. Kerngedanke dabei ist,<br />

dass das <strong>Land</strong> Bremen angesichts öffentlicher<br />

Millionenbeträge für die direkte <strong>und</strong> indirekte<br />

För<strong>der</strong>ung von Unternehmensansiedlungen<br />

<strong>und</strong> Infrastrukturmaßnahmen auch Einfluss<br />

nehmen will auf die Qualität <strong>der</strong> Arbeitsplätze.<br />

An<strong>der</strong>e B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong> sind hier schon<br />

vorangegangen; <strong>der</strong> für 2012 in Bremen<br />

geplante Gesetzentwurf steht allerdings bislang<br />

aus.<br />

Beschäftigungsentwicklung nach<br />

Branchen in Bremen (Stadt) positiv<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> <strong>der</strong> nach wie vor stabilen<br />

wirtschaftlichen <strong>Lage</strong> gab es in <strong>der</strong> Stadt<br />

Bremen wie schon <strong>im</strong> Vorjahr eine positive<br />

Beschäftigungsentwicklung mit einem Plus<br />

von r<strong>und</strong> 3.800 sozialversicherungspflichtigen<br />

Arbeitsplätzen (1,5 Prozent); die Zahl <strong>der</strong><br />

geringfügig entlohnten Beschäftigten nahm<br />

dagegen leicht ab (0,2 Prozent). Während es<br />

zwischen Männern <strong>und</strong> Frauen nur geringfügige<br />

Unterschiede in <strong>der</strong> Entwicklung gab,<br />

fällt hinsichtlich <strong>der</strong> Altersgruppen auf, dass<br />

2012 <strong>der</strong> Zuwachs praktisch ausschließlich


12<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Abb. 3: Entwicklung <strong>der</strong> sozialversicherungspflichtig<br />

Beschäftigten nach Wirtschaftsabschnitten<br />

(Juni 2011/Juni 2012) – Stadt Bremen<br />

verarbeitendes Gewerbe<br />

Energie- <strong>und</strong> Wasserversorgung<br />

-112<br />

-193<br />

Baugewerbe<br />

448<br />

Handel; Instandhaltung <strong>und</strong> Reparatur von Kfz<br />

Verkehr <strong>und</strong> <strong>Lage</strong>rei<br />

Gastgewerbe<br />

Information <strong>und</strong> Kommunikation<br />

Finanz- <strong>und</strong> Versicherungsdienstleistungen<br />

Gr<strong>und</strong>stücks- <strong>und</strong> Wohnungswesen<br />

freiberuf., wissenschaftl., techn. Dienstleistungen<br />

sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen<br />

öffentliche Verwaltung<br />

Erziehung <strong>und</strong> Unterricht<br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Sozialwesen<br />

Kunst, Unterhaltung <strong>und</strong> Erholung<br />

sonstige Dienstleistungen<br />

-1000 -500 0500 1000 1500 2000<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit, Beschäftigungsstatistik,<br />

Beschäftigung am Arbeitsort, Bremen, Stadt, Ende Juni 2012<br />

in <strong>der</strong> Altersgruppe ›50 bis 64 Jahre‹ stattfand<br />

(5,1 Prozent), eine Entwicklung ähnlich <strong>der</strong> <strong>im</strong><br />

B<strong>und</strong>esgebiet. Dies hat nicht mit Neueinstellungen<br />

von Menschen dieser Altersgruppe zu<br />

tun, son<strong>der</strong>n mit dem ›Auffüllen‹ dieser Kohorte<br />

durch den demografischen Wandel: Die<br />

<strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong> werden<br />

älter. Bei <strong>der</strong> Unterscheidung zwischen Deutschen<br />

<strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong>n nahm die Beschäftigung<br />

von Auslän<strong>der</strong>innen <strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong>n<br />

ebenfalls deutlich überproportional zu (5,3<br />

Prozent). Hier war die Entwicklung <strong>im</strong> B<strong>und</strong>esgebiet<br />

aber mit einem Plus von 8,4 Prozent<br />

noch ausgeprägter. In diesen letztgenannten<br />

Entwicklungen können erste Anzeichen dafür<br />

gesehen werden, dass die Umsetzung <strong>der</strong><br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>freizügigkeit in Europa zu einer<br />

Verstärkung <strong>der</strong> Arbeitsmigration <strong>und</strong> eventuell<br />

auch zu einer Entlastung bei fehlenden<br />

Fachkräften führt. Be<strong>im</strong> Blick auf die Branchen<br />

zeigen sich vor allem unternehmensnahe<br />

Dienstleistungen als Boombranche mit einem<br />

-12<br />

-59<br />

-320<br />

-496<br />

-47<br />

122<br />

388<br />

34<br />

414<br />

516<br />

765<br />

854<br />

1.468<br />

Plus von r<strong>und</strong> 1.500<br />

Arbeitsplätzen, gefolgt<br />

vom Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong><br />

Sozialwesen, dem Verkehrsbereich,<br />

Handel<br />

<strong>und</strong> Baugewerbe. Auch<br />

das Gastgewerbe <strong>und</strong><br />

die ›sonstigen wirtschaftlichen<br />

Dienstleistungen‹<br />

verzeichneten<br />

ein Plus an Arbeitsplätzen.<br />

Der Anstieg dieser<br />

›sonstigen wirtschaftlichen<br />

Dienstleistungen‹<br />

war in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

allerdings stets von<br />

<strong>der</strong> Leiharbeit getragen,<br />

die zu dieser Wirtschaftsabteilung<br />

zählt.<br />

Aktuell war hier ein Minus von r<strong>und</strong> 80<br />

Arbeitsplätzen zu verzeichnen; eine Entwicklung,<br />

die durchaus als ein frühes Zeichen für<br />

eine konjunkturelle Eintrübung zu werten ist.<br />

Die geringfügige Beschäftigung nahm dagegen<br />

in <strong>der</strong> Stadt Bremen mit einem Minus von<br />

100 Arbeitsplätzen leicht ab. Hinsichtlich <strong>der</strong><br />

verschiedenen Strukturmerkmale verlief die<br />

Entwicklung ähnlich wie <strong>im</strong> B<strong>und</strong>; auch be<strong>im</strong><br />

Anstieg <strong>der</strong> Beschäftigung von Auslän<strong>der</strong>innen<br />

<strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong>n sind Beson<strong>der</strong>heiten wie in<br />

Bremerhaven (vgl. Beitrag Wirtschafts- <strong>und</strong><br />

Beschäftigungsentwicklung in Bremerhaven,<br />

S. 18 ff.) nicht zu erkennen. Die stärksten Rückgänge<br />

bei <strong>der</strong> Beschäftigungsentwicklung<br />

<strong>der</strong> Minijobs musste dabei <strong>der</strong> Bereich ›Information<br />

<strong>und</strong> Kommunikation‹ (um 12,5 Prozent<br />

auf jetzt 2.260 Beschäftigte) verzeichnen,<br />

während <strong>im</strong> Einzelhandel, wo die meisten<br />

geringfügigen Arbeitsverhältnisse bestehen,<br />

<strong>der</strong> Rückgang um 1,5 Prozent (auf 7.149<br />

Beschäftigte) mo<strong>der</strong>at ausfiel.


13<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Verdienste in Bremen<br />

J Ö R G M U S C H E I D<br />

Nachdem 2011 die Entwicklung <strong>der</strong> Spitzeneinkommen<br />

<strong>und</strong> ihre Verteilung <strong>im</strong> <strong>Land</strong><br />

Bremen analysiert wurde, stand 2012 die<br />

Betrachtung <strong>der</strong> ›mittleren‹ <strong>Arbeitnehmer</strong>einkommen<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Niedriglohnbezieher <strong>im</strong><br />

Fokus unserer Verdienstanalyse. Zwei Quellen<br />

mit unterschiedlicher Qualität standen dafür<br />

<strong>zur</strong> Verfügung: Zum einen die Beschäftigtenstatistik<br />

<strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit, die<br />

umfassend monatlich alle <strong>Arbeitnehmer</strong>einkommen<br />

aller Betriebe erfasst. Die Möglichkeiten<br />

<strong>der</strong> Auswertung dieser Daten sind aber<br />

relativ beschränkt, vor allem können <strong>Arbeitnehmer</strong>einkommen<br />

über <strong>der</strong> Beitragsbemessungsgrenze<br />

(2012: 5.600 Euro) nicht analysiert<br />

werden. Zum an<strong>der</strong>en steht als Quelle die <strong>im</strong><br />

Vier-Jahres-Rhythmus (zuletzt 2010) stattfindende<br />

Verdienststrukturerhebung des Statistischen<br />

B<strong>und</strong>esamtes <strong>zur</strong> Verfügung. Sie erfasst<br />

auf repräsentativer Basis die <strong>Arbeitnehmer</strong>verdienste<br />

in Betrieben mit zehn <strong>und</strong> mehr<br />

Beschäftigten <strong>und</strong> ermöglicht eine Auswertung<br />

nach vielfältigen strukturellen Merkmalen.<br />

Die Auswertungsmöglichkeiten, gerade<br />

auf <strong>der</strong> kleinräumigen regionalen Ebene, sind<br />

hier durch den Umfang <strong>der</strong> Fallzahlen zum<br />

Teil eingeschränkt, die Verdienststrukturerhebung<br />

erlaubt aber einen detaillierten Blick<br />

sowohl auf den Hochlohnbereich wie auch auf<br />

den Niedriglohnbereich – wobei anzumerken<br />

ist, dass durch diese Erhebung r<strong>und</strong> 12.000<br />

Kleinstbetriebe (mit weniger als zehn Beschäftigten)<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen mit insgesamt r<strong>und</strong><br />

36.000 Beschäftigten nicht erfasst sind. Von<br />

daher ist <strong>der</strong> Niedriglohnbereich vermutlich<br />

größer als in Abbildung 4 angegeben.<br />

nach wie vor stabilen Wirtschaftsentwicklung<br />

stieg 2012 <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>entgelte<br />

am Volkseinkommen, die Lohnquote, weiter<br />

an; mit einem Plus von gut einem Prozentpunkt<br />

liegt die Lohnquote jetzt bei 68,0 Prozent.<br />

Damit setzte sich <strong>der</strong> Aufwärtstrend<br />

des Jahres 2011 fort; gleichwohl ist <strong>der</strong> Anteil<br />

<strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>einkommen noch weit vom<br />

Niveau früherer Jahre entfernt (siehe Abbildung<br />

1).<br />

Auch die <strong>Arbeitnehmer</strong>einkommen <strong>im</strong> <strong>Land</strong><br />

Bremen sind 2012 gestiegen. Im Durchschnitt<br />

verdiente ein vollzeitbeschäftigter <strong>Arbeitnehmer</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen 3.481 Euro brutto <strong>im</strong><br />

Monat (Stand: Juli 2012, ohne Son<strong>der</strong>zahlungen).<br />

Damit sieht die aktuelle Situation <strong>im</strong><br />

<strong>Land</strong> Bremen auf den ersten Blick gut aus: Im<br />

<strong>Land</strong> Bremen verdienen <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong> überdurchschnittlich. Der<br />

wesentliche Gr<strong>und</strong> für diesen überdurchschnittlichen<br />

Verdienst ist allerdings das deutliche<br />

Gefälle <strong>der</strong> Verdienste zwischen ›alten‹<br />

<strong>und</strong> ›neuen‹ B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n. Letztere liegen <strong>im</strong><br />

Abb. 1:<br />

Lohnquote 1991 bis 2012<br />

74<br />

72<br />

70<br />

68<br />

66<br />

64<br />

62<br />

70,8<br />

72,5<br />

71,1<br />

69,9<br />

71,1<br />

71,8<br />

71,0<br />

66,4<br />

63,2<br />

68,1<br />

66,9<br />

68,0<br />

Lohnquote gestiegen<br />

60<br />

58<br />

Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht war 2012 wie<br />

bereits das Vorjahr positiv für die <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>. Im Gefolge <strong>der</strong><br />

1991<br />

1992<br />

1993<br />

1994<br />

1995<br />

1996<br />

1997<br />

1998<br />

1999<br />

2000<br />

2001<br />

2002<br />

2003<br />

2004<br />

Deutschland, Anteil des <strong>Arbeitnehmer</strong>entgelts am Volkseinkommen<br />

Quelle: Statistisches B<strong>und</strong>esamt 2012<br />

2005<br />

2006<br />

2007<br />

2008<br />

2009<br />

2010<br />

2011<br />

2012


14<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Abb. 2:<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>verdienste 2012 in Euro<br />

Hamburg<br />

Hessen<br />

Baden-Württemberg<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

Bayern<br />

Bremen<br />

Deutschland<br />

Rheinland-Pfalz<br />

Saarland<br />

Berlin<br />

Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

Schleswig-Holstein<br />

Brandenburg<br />

Sachsen-Anhalt<br />

Sachsen<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Thüringen<br />

2.738<br />

2.637<br />

2.626<br />

2.594<br />

2.576<br />

2.000 2.500 3.000 3.500 4.000<br />

Quelle: Statistisches B<strong>und</strong>esamt 2012;<br />

Vollzeitbeschäftigte, Stand: 2. Quartal<br />

3.481<br />

3.385<br />

3.356<br />

3.289<br />

3.282<br />

3.222<br />

3.153<br />

3.828<br />

3.722<br />

3.662<br />

3.544<br />

3.517<br />

Län<strong>der</strong>vergleich auf den hinteren Plätzen. Bei<br />

einem Vergleich <strong>der</strong> ›alten‹ B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong><br />

liegt Bremen dagegen <strong>im</strong> Mittelfeld; deutlich<br />

unterdurchschnittlich verdienen die <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong> in den neuen<br />

B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n. Die Bremer Verdienste verzeichneten<br />

insgesamt ein Plus von 0,4 Prozent<br />

gegenüber dem Vorjahresquartal, während<br />

die durchschnittlichen Bruttomonatsverdienste<br />

<strong>im</strong> B<strong>und</strong>esgebiet um 2,1 Prozent zulegten.<br />

Betrachtet man die einzelnen Branchen <strong>im</strong><br />

<strong>Land</strong> Bremen, zeigen sich allerdings deutliche<br />

Unterschiede bei den Verdiensten <strong>der</strong> Beschäftigten:<br />

Auf <strong>der</strong> einen Seite finden sich das Gastgewerbe<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Einzelhandel. Hier verdient<br />

ein Vollzeitbeschäftigter r<strong>und</strong> 1.900 Euro (Gastgewerbe)<br />

beziehungsweise r<strong>und</strong> 2.400 Euro<br />

(Einzelhandel) brutto. Am an<strong>der</strong>en Ende <strong>der</strong><br />

Skala liegen Wirtschaftszweige wie die Finanzdienstleistungen<br />

mit r<strong>und</strong> 4.400 Euro. Auch<br />

das Durchschnittseinkommen in <strong>der</strong> Industrie<br />

ist mit r<strong>und</strong> 4.000 Euro vergleichsweise hoch.<br />

Das <strong>Land</strong> Bremen ist vor allem in <strong>der</strong> Industrie<br />

<strong>und</strong> in Teilen des Dienstleistungsbereichs<br />

(Versicherungswesen <strong>und</strong> Finanzen) stark<br />

aufgestellt, wie ein Vergleich <strong>der</strong> Branchenverdienste<br />

mit dem Durchschnitt <strong>der</strong> ›alten‹<br />

B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong> zeigt: So sind die Löhne <strong>und</strong><br />

Gehälter in <strong>der</strong> Industrie insgesamt mit seinen<br />

dominierenden Großbetrieben r<strong>und</strong> zehn<br />

Prozent höher als <strong>im</strong> früheren B<strong>und</strong>esgebiet.<br />

Ebenso hoch ist die Lohndifferenz <strong>im</strong> Verkehrsbereich,<br />

auch <strong>im</strong> Baugewerbe werden r<strong>und</strong><br />

sieben Prozent mehr verdient als <strong>im</strong> früheren<br />

B<strong>und</strong>esgebiet.<br />

Bei den Dienstleistungen insgesamt ist dagegen<br />

ein Minus von 3,8 Prozent zu verzeichnen.<br />

Be<strong>im</strong> Blick auf einzelne Branchen des Dienstleistungssektors<br />

treten die Unterschiede noch<br />

deutlicher hervor: So beträgt etwa <strong>der</strong> Verdienstrückstand<br />

<strong>im</strong> Einzelhandel r<strong>und</strong> zehn<br />

Prozent gegenüber dem früheren B<strong>und</strong>esgebiet,<br />

<strong>im</strong> Verlagswesen werden <strong>im</strong> Durchschnitt<br />

16 Prozent weniger verdient <strong>und</strong> <strong>im</strong> Bereich<br />

›Information <strong>und</strong> Kommunikation‹ sogar<br />

20 Prozent – jeweils bezogen auf Vollzeitbeschäftigte.<br />

Der Blick auf die einzelnen Branchen<br />

zeigt: In den meisten Wirtschaftszweigen<br />

gibt es Lohnrückstände gegenüber dem<br />

früheren B<strong>und</strong>esgebiet.<br />

Durchschnittliche Monatsverdienste<br />

in den Branchen


15<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Abb. 3:<br />

Bruttomonatsverdienste <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

in Euro, Vollzeitbeschäftigte, Dezember 2011<br />

Erbringung von Finanzdienstleistungen<br />

Herstellung von Kraftwagen <strong>und</strong> Kraftwagenteilen<br />

Versicherungen<br />

verarbeitendes Gewerbe<br />

Maschinenbau<br />

Gr<strong>und</strong>stücks- <strong>und</strong> Wohnungswesen<br />

freiberufliche, wissenschaftl. <strong>und</strong> techn. Dienstleistungen<br />

Verlagswesen<br />

Herstellung von Druckerzeugnissen<br />

Information <strong>und</strong> Kommunikation<br />

Herstellung von chemischen Erzeugnissen<br />

nicht marktbest<strong>im</strong>mte Dienstleistungen<br />

Telekommunikation<br />

Großhandel (ohne Handel mit Kraftfahrzeugen)<br />

Dienstleistungsbereich<br />

Herstellung von elektrischen Ausrüstungen<br />

Verkehr <strong>und</strong> <strong>Lage</strong>rei<br />

Baugewerbe<br />

marktbest<strong>im</strong>mte Dienstleistungen<br />

Herstellung von Nahrungs- <strong>und</strong> Futtermitteln<br />

Handel, Instandhaltung <strong>und</strong> Reparatur von Kraftfahrzeugen<br />

Sammlung etc. von Abfällen; Rückgewinnung<br />

Herstellung von Gummi- <strong>und</strong> Kunststoffwaren<br />

Herstellung von Glas, Keramik etc.<br />

Fleisch- <strong>und</strong> Fischverarbeitung<br />

4.386<br />

4.150<br />

4.134<br />

4.013<br />

3.939<br />

3.832<br />

3.773<br />

3.637<br />

3.633<br />

3.619<br />

3.527<br />

3.453<br />

3.332<br />

3.308<br />

3.266<br />

3.247<br />

3.221<br />

3.189<br />

3.159<br />

3.129<br />

2.977<br />

2.862<br />

2.840<br />

2.752<br />

2.605<br />

Einzelhandel (ohne Handel mit Kraftfahrzeugen)<br />

2.353<br />

Gastgewerbe<br />

1.887<br />

2.000 2.500 3.000 3.500 4.000 4.500<br />

Quelle: Statistisches <strong>Land</strong>esamt Bremen, Statistische <strong>Bericht</strong>e,<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>verdienste 4/2011


16<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

¢<br />

Was versteht man<br />

unter Niedriglohn?<br />

Unter Niedriglohn wird nach <strong>der</strong> allgemein üblichen<br />

Definition <strong>der</strong> OECD ein Bruttolohn verstanden, <strong>der</strong><br />

unterhalb von zwei Dritteln des Medianlohns liegt. Der<br />

Medianlohn teilt alle Verdienste in genau zwei Hälften:<br />

Genau eine Hälfte verdient weniger; die an<strong>der</strong>e Hälfte<br />

verdient mehr. Als Gr<strong>und</strong>lage wird üblicherweise <strong>der</strong><br />

Monatsverdienst von Vollzeitbeschäftigten herangezogen.<br />

Um auch Teilzeitbeschäftigte <strong>und</strong> Minijobberinnen <strong>und</strong><br />

Minijobber in die Analyse einzubeziehen, legt die Statistik<br />

den St<strong>und</strong>enlohn zugr<strong>und</strong>e. Der Grenzwert für Niedriglöhne<br />

beträgt danach aktuell 10,36 Euro/St<strong>und</strong>e; bei<br />

Vollzeitbeschäftigten sind es 1.907 Euro <strong>im</strong> Monat.<br />

Der Niedriglohnsektor boomt<br />

Ein Problem mit weitreichenden gesellschaftspolitischen<br />

Auswirkungen ist die Entwicklung<br />

des Niedriglohnbereichs. Niedrige Verdienste<br />

hat es seit jeher gegeben. Doch dieser Sektor<br />

gewinnt in Deutschland in den vergangenen<br />

Jahren <strong>im</strong>mer mehr an Bedeutung. Die Verdienststrukturerhebung<br />

zeigt zunächst einmal<br />

Fakten auf, die aus verschiedenen Studien<br />

bereits bekannt sind: Es sind vor allem<br />

›atypisch‹ Beschäftigte (Teilzeitbeschäftigte,<br />

befristet o<strong>der</strong> geringfügig Beschäftigte), die zu<br />

den Geringverdienern zählen. Frauen sind<br />

stärker betroffen als Männer, Jüngere eher als<br />

Ältere. Und auch die Qualifikation <strong>und</strong> die<br />

Betriebsgröße spielen eine wichtige Rolle. Aber<br />

auch die Frage, ob <strong>der</strong> Betrieb tarifgeb<strong>und</strong>en<br />

ist, hat einen wichtigen Einfluss: So sind<br />

bei ›atypisch‹ Beschäftigten in 27 Prozent aller<br />

Fälle Niedriglöhne bei tarifgeb<strong>und</strong>enen<br />

Betrieben <strong>der</strong> Fall; bei nicht tarifgeb<strong>und</strong>enen<br />

dagegen sind es mehr als doppelt so viele mit<br />

61 Prozent. Und bei ›normalen‹ Arbeitsverhältnissen<br />

ist das Ergebnis noch gravieren<strong>der</strong>:<br />

Lediglich zwei Prozent aller Beschäftigten<br />

haben in tarifgeb<strong>und</strong>enen Unternehmen einen<br />

Niedriglohn; bei nicht tarifgeb<strong>und</strong>enen ist<br />

<strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Niedriglohnbeschäftigten mit<br />

13 Prozent sechsmal höher.<br />

Schon diese Statistik zeigt, dass nicht nur in<br />

›atypischen‹ Beschäftigungsformen Niedriglöhne<br />

gezahlt werden. N<strong>im</strong>mt man die Zahlen<br />

<strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit, die zwar nicht<br />

so detailliert sind, aber auch Kleinstbetriebe<br />

umfassen, zeigt sich, dass <strong>der</strong> Trend hin zu<br />

Niedriglöhnen auch bei ›normalen‹ Vollzeitarbeitsplätzen<br />

<strong>im</strong>mer weitergeht. Im <strong>Land</strong> Bremen<br />

fiel die Zunahme des Anteils <strong>der</strong> Niedriglohnbezieher<br />

sogar noch stärker aus als <strong>im</strong><br />

B<strong>und</strong>esgebiet: Je<strong>der</strong> fünfte Vollzeitbeschäftigte<br />

arbeitet hier mittlerweile für einen Niedriglohn.<br />

Ein Ergebnis dieser Entwicklung:<br />

Für <strong>im</strong>mer mehr Menschen reicht die Erwerbsarbeit<br />

nicht mehr <strong>zur</strong> Existenzsicherung<br />

aus. Indiz dafür ist die Zahl <strong>der</strong> ›Aufstocker‹,<br />

also <strong>der</strong>jenigen Erwerbstätigen, die staatliche<br />

Leistungen in Anspruch nehmen, um ein<br />

Mindestmaß an sozialer Sicherung zu haben.<br />

Die Zahl dieser Menschen n<strong>im</strong>mt seit Jahren<br />

stetig zu: Schon 2007 zählten r<strong>und</strong> 15.700<br />

Erwerbstätige dazu; 2011 mussten r<strong>und</strong> 18.900<br />

Erwerbstätige ihr Einkommen durch Leistungen<br />

nach dem SGB II aufstocken; eine Zunahme<br />

von r<strong>und</strong> 20 Prozent. Im Jahresverlauf<br />

2012 (aktuelle Zahlen liegen bis August 2012<br />

vor) wurde die Schwelle von 19.000 schließlich<br />

überschritten. Be<strong>im</strong> Vergleich <strong>der</strong> beiden<br />

Städte fällt auf, dass die Zahl <strong>der</strong> Aufstocker in<br />

Bremerhaven seit 2007 weitgehend stagniert;<br />

<strong>der</strong> Anstieg findet fast ausschließlich in <strong>der</strong><br />

Stadt Bremen statt.


17<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Fazit<br />

zende staatliche Leistungen in Anspruch nehmen,<br />

um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.<br />

Zugleich ist das ›Auseinan<strong>der</strong>driften‹ <strong>der</strong><br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>verdienste ein weiterer Beleg für<br />

die Polarisierungstendenzen in <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />

Ein Mindestlohn, wie wir als <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

ihn seit Langem for<strong>der</strong>n, löst<br />

hier zwar längst nicht jedes Problem <strong>und</strong><br />

kann insbeson<strong>der</strong>e die Spaltung des Arbeitsmarktes<br />

nicht überwinden – jedoch würde<br />

ein Mindestlohn insgesamt für eine Stabilisierung<br />

des Lohngefüges sorgen <strong>und</strong> <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong> gerade in<br />

prekären Beschäftigungsverhältnissen vor<br />

Dumpinglöhnen schützen.<br />

Abb. 4: Anteil <strong>der</strong> Beschäftigten mit Niedriglohn<br />

nach Beschäftigungsform 2010 in Prozent<br />

Anteil an allen<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>/innen<br />

Die Studie <strong>zur</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Spitzeneinkommen<br />

<strong>im</strong> vergangenen Jahr hat die außerordentlich<br />

starke Zunahme hoher <strong>und</strong> höchster<br />

Einkommen <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen deutlich<br />

gemacht. Die aktuelle Analyse <strong>der</strong> Verdienste<br />

zeigt zudem die teils gravierenden Unterschiede<br />

bei den ›normalen‹ <strong>Arbeitnehmer</strong>einkommen<br />

auf. Dabei gibt vor allem die Entwicklung<br />

des Niedriglohnsektors <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen Anlass<br />

<strong>zur</strong> Sorge, gerade auch angesichts des hohen<br />

Anteils <strong>der</strong> ›normalen‹ Vollzeitarbeitsverhältnisse:<br />

Immer mehr Beschäftigte müssen ergän-<br />

Normalarbeitnehmer/innen<br />

atypisch<br />

Beschäftigte<br />

insgesamt<br />

16<br />

7<br />

45<br />

Frauen<br />

23<br />

13<br />

43<br />

Männer<br />

11<br />

4<br />

50<br />

Alter von … bis unter…Jahren<br />

15 bis 25<br />

49<br />

/<br />

67<br />

25 bis 35<br />

21<br />

10<br />

46<br />

35 bis 45<br />

12<br />

6<br />

35<br />

45 bis 55<br />

12<br />

6<br />

43<br />

55 bis 65<br />

15<br />

8<br />

50<br />

ohne anerkannte Berufsausbildung<br />

50<br />

16<br />

79<br />

mit Berufsausbildung<br />

13<br />

9<br />

35<br />

Hochschulabschluss<br />

2<br />

0<br />

8<br />

Arbeitgeber mit … bis… Beschäftigten<br />

10 bis 49<br />

28<br />

17<br />

63<br />

50 bis 249<br />

24<br />

11<br />

56<br />

250 bis 499<br />

13<br />

6<br />

37<br />

500 bis 999<br />

10<br />

3<br />

/<br />

1.000 <strong>und</strong> mehr<br />

4<br />

1<br />

17<br />

Arbeitgeber ist ...<br />

tarifgeb<strong>und</strong>en<br />

7<br />

2<br />

27<br />

nicht tarifgeb<strong>und</strong>en<br />

24<br />

13<br />

61<br />

Quelle: Statistisches <strong>Land</strong>esamt Bremen, 2012


18<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Wirtschafts- <strong>und</strong> Beschäftigungsentwicklung<br />

in Bremerhaven<br />

D R . M A R I O N S A L O T<br />

1 Vgl. Statistik <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur<br />

für Arbeit,<br />

Arbeitsmarkt in Zahlen,<br />

Beschäftigung nach<br />

Län<strong>der</strong>n in wirtschaftsfachlicher<br />

Glie<strong>der</strong>ung<br />

(WZ 2008).<br />

47<br />

46<br />

45<br />

44<br />

43<br />

42<br />

Der Strukturwandel in Bremerhaven schreitet<br />

voran <strong>und</strong> hat sich auch 2012 weiter positiv<br />

auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar gemacht:<br />

Die Zahl <strong>der</strong> sozialversicherungspflichtig<br />

Beschäftigten hat zwischen Juni 2011 <strong>und</strong> Juni<br />

2012 um 1.756 Stellen o<strong>der</strong> 3,7 Prozent zugenommen.<br />

In diesem Zeitraum wurde damit<br />

<strong>der</strong> größte Arbeitsplatzzuwachs seit 2005 verzeichnet.<br />

Wie in den vergangenen Jahren<br />

haben von diesem Zuwachs aber überwiegend<br />

die Männer profitiert (1.354 Arbeitsplätze),<br />

während die Zahl <strong>der</strong> weiblichen Beschäftigten<br />

nur um 402 Stellen anstieg. Im Juni 2012 lag<br />

damit <strong>der</strong> Frauenanteil unter den sozialversicherungspflichtig<br />

Beschäftigten mit 42,8 Prozent<br />

nur knapp über den bisherigen Negativrekord<br />

von 2008 mit 42,7 Prozent (siehe Abbildung<br />

1).<br />

Neue Arbeitsplätze sind vor allem in männerdominierten<br />

Branchen entstanden, dass ist<br />

<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>, warum <strong>der</strong> Frauenanteil trotz stei-<br />

Abb. 1: Entwicklung <strong>der</strong> sozialversicherungspflichtigen<br />

Beschäftigten in Bremerhaven (Juni 2001 bis Juni 2011)<br />

45,3<br />

44.968<br />

2001<br />

44,9<br />

44.047<br />

2002<br />

45,3<br />

43.090<br />

2003<br />

45,4<br />

42.062<br />

2004<br />

SvB insgesamt (in absoluten Zahlen)<br />

2005<br />

2006<br />

2007<br />

2008<br />

Frauenanteil (in Prozent)<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit, Beschäftigung am Arbeitsort, Bremerhaven,<br />

Stadt, Ende Juni 2012; eigene Berechnungen<br />

45,6<br />

41.726<br />

42.700<br />

44,3<br />

44.442<br />

43,5<br />

45.924<br />

42,7<br />

46.193<br />

43,1<br />

2009<br />

46.034<br />

44,0<br />

2010<br />

46.932<br />

43,6<br />

2011<br />

48.688<br />

42,8<br />

2012<br />

gen<strong>der</strong> Beschäftigung rückläufig ist. Ebenso<br />

wie in den vergangenen Jahren entfiel <strong>der</strong><br />

größte Beschäftigungszuwachs auf den Bereich<br />

›Verkehr <strong>und</strong> <strong>Lage</strong>rei‹, in dem auch die Beschäftigten<br />

in den Häfen erfasst werden. Hier<br />

sind während dieser zwölf Monate 434 Arbeitsplätze<br />

entstanden. Der <strong>im</strong> Jahr 2012 realisierte<br />

Umschlagrekord (siehe Exkurs: Schiffahrt in<br />

<strong>der</strong> Krise, S. 24 ff.) hat sich offensichtlich dementsprechend<br />

positiv auf die Arbeitsplatzentwicklung<br />

ausgewirkt. Auch die Leiharbeit – in<br />

<strong>der</strong> zu 75 Prozent Männer beschäftigt sind –<br />

entwickelte sich wie<strong>der</strong> zum Jobmotor. Zwischen<br />

Juni 2011 <strong>und</strong> Juni 2012 sind hier 336<br />

neue Arbeitsplätze entstanden. Damit hat die<br />

Zahl <strong>der</strong> Stellen gegenüber dem Vorjahr um<br />

20 Prozent zugenommen. Insgesamt sind in<br />

Bremerhaven <strong>im</strong> Juni 2012 2.020 <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong> in <strong>der</strong> Leiharbeit<br />

beschäftigt gewesen. Hiermit wurde fast <strong>der</strong><br />

Rekordwert von 2008 wie<strong>der</strong> erreicht. In diesem<br />

Jahr waren in dieser Branche<br />

2.097 Menschen beschäftigt.<br />

Der Anteil <strong>der</strong> Leiharbeiterinnen<br />

<strong>und</strong> Leiharbeiter an allen sozialversicherungspflichtig<br />

Beschäftigten<br />

lag <strong>im</strong> Juni 2012 bei 4,1<br />

Prozent <strong>und</strong> war damit weiterhin<br />

überdurchschnittlich hoch.<br />

Im B<strong>und</strong>esdurchschnitt lag dieser<br />

Wert bei 2,7 Prozent. 1<br />

Ähnlich stark wie in <strong>der</strong> Leiharbeit<br />

stieg auch die Beschäftigung<br />

<strong>im</strong> Bereich Metallerzeugung<br />

<strong>und</strong> -bearbeitung (21,3<br />

Prozent). Den höchsten prozentualen<br />

Zuwachs von fast 60 Prozent<br />

gab es hingegen <strong>im</strong> Bereich<br />

›Herstellung von chemischen<br />

<strong>und</strong> pharmazeutischen Erzeugnissen‹<br />

(vgl. Abbildung 2).<br />

49.000<br />

48.000<br />

47.000<br />

46.000<br />

45.000<br />

44.000<br />

43.000<br />

42.000<br />

41.000<br />

40.000<br />

39.000


19<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Abb. 2: Beschäftigungsentwicklung nach Wirtschaftsabschnitten<br />

in Bremerhaven (Juni 2011 bis Juni 2012) in absoluten Zahlen<br />

Verkehr <strong>und</strong> <strong>Lage</strong>rei<br />

434<br />

Überlassung von Arbeitskräften<br />

336<br />

Herstellung chem., pharmaz. Erzeugnisse,<br />

Gummi, Kunststoff, Glas<br />

Metallerzeugung <strong>und</strong> -bearbeitung<br />

231<br />

256<br />

Gastgewerbe<br />

Handel; Instandhaltung <strong>und</strong> Reparatur von Kfz<br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Sozialwesen<br />

143<br />

160<br />

174<br />

freiberufliche, wissenschaftliche,<br />

technische Dienstleistungen<br />

-98<br />

Maschinenbau, Fahrzeugbau<br />

-121<br />

-200 -100 0 100 200 300 400 500<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit, Beschäftigung am Arbeitsort, Bremerhaven,<br />

Stadt, Ende Juni 2012; eigene Darstellung<br />

Auch <strong>im</strong> Gastgewerbe (15,4 Prozent), <strong>im</strong> Handel<br />

(2,6 Prozent) <strong>und</strong> <strong>im</strong> Bereich ›Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> Soziales‹ (2,2 Prozent) ist die Beschäftigung<br />

angestiegen. Die umfangreichsten<br />

Arbeitsplatzverluste gab es in dem Wirtschaftsabschnitt<br />

Maschinenbau <strong>und</strong> Fahrzeugbau<br />

(121 Stellen o<strong>der</strong> 14,9 Prozent), dicht gefolgt<br />

von den freiberuflichen, wissenschaftlichen<br />

<strong>und</strong> technischen Dienstleistungen (98 Stellen<br />

o<strong>der</strong> 3,1 Prozent).<br />

Während die Leiharbeit in<br />

Bremerhaven weiter boomte,<br />

hat die Zahl <strong>der</strong> geringfügig<br />

entlohnten Beschäftigten zwischen<br />

Juni 2011 <strong>und</strong> Juni 2012<br />

kaum zugenommen. Sie ist<br />

von 11.483 auf 11.638 Stellen gestiegen.<br />

139 dieser 155 zusätzlichen<br />

Minijobs wurden mit<br />

ausländischen Beschäftigten<br />

besetzt – <strong>und</strong> zwar vor allem<br />

mit männlichen (106). Die Zahl<br />

<strong>der</strong> männlichen, ausländischen<br />

Minijobber ist damit in Bremerhaven<br />

innerhalb eines Jahres<br />

um über 26 Prozent angestiegen.<br />

Zum Vergleich: In Bremen-<br />

Stadt betrug <strong>der</strong> Zuwachs in<br />

dieser Beschäftigungsgruppe<br />

<strong>im</strong> selben Zeitraum ›nur‹ 3,7 Prozent, <strong>im</strong> B<strong>und</strong>esdurchschnitt<br />

3,6 Prozent. Unter den deutschen<br />

Beschäftigten stieg die Zahl <strong>der</strong> Minijobs<br />

zwischen 2011 <strong>und</strong> 2012 nur um 19 Stellen.<br />

Die Zahl <strong>der</strong> männlichen geringfügig Beschäftigten<br />

war hingegen leicht rückläufig.<br />

Die Minijob-Zuwächse konzentrierten sich<br />

aber nicht nur auf eine best<strong>im</strong>mte Menschen-<br />

Baugewerbe<br />

Information <strong>und</strong> Kommunikation<br />

Kunst, Unterhaltung, Erholung<br />

Gr<strong>und</strong>stücks- <strong>und</strong> Wohnungswesen<br />

Verkehr <strong>und</strong> <strong>Lage</strong>rei<br />

sonstige Dienstleistungen<br />

freiberufliche, wissenschaftliche,<br />

technische Dienstleistungen<br />

sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen<br />

Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Soziales<br />

Gastgewerbe<br />

Einzelhandel<br />

Abb. 3: Minijobber nach Wirtschaftsabschnitten<br />

am 30. Juni 2012, in absoluten Zahlen<br />

329<br />

331<br />

403<br />

425<br />

632<br />

693<br />

1.066<br />

1.069<br />

1.239<br />

1.728<br />

1.795<br />

0 500 1.000 1.500 2.000<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit, Beschäftigung am Arbeitsort,<br />

Bremerhaven, Stadt, Ende Juni 2012; eigene Darstellung


20<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Die umfangreichen Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong><br />

Bremerhavener Werftindustrie verdeutlichen abermals<br />

die schwierige Auftragslage <strong>im</strong> Schiffbau.<br />

2 Vgl. Statistisches <strong>Land</strong>esamt<br />

Bremen: Statistisches<br />

Jahrbuch 2012.<br />

gruppe, son<strong>der</strong>n auch auf eine Branche, denn<br />

zwei Drittel <strong>der</strong> zusätzlichen geringfügigen<br />

Beschäftigungsverhältnisse entstanden <strong>im</strong><br />

Gastgewerbe. Mittlerweile gibt es in dieser<br />

Branche 1.728 geringfügig Beschäftigte, aber<br />

nur 1.306 sozialversicherungspflichtige<br />

Arbeitskräfte. Die Zahl <strong>der</strong> Minijobber übersteigt<br />

die Zahl <strong>der</strong> regulär Beschäftigten damit<br />

deutlich. Setzt sich diese Entwicklung fort,<br />

ist das Gastgewerbe auf dem besten Wege,<br />

den Einzelhandel als die Branche mit <strong>der</strong><br />

größten Anzahl an Minijobs abzulösen (vgl.<br />

Abbildung 3).<br />

Investitionen in den Tourismusstandort<br />

Bremerhaven<br />

2012 wurden weitere Investitionen beschlossen,<br />

die Bremerhaven als Tourismusstandort<br />

stärken <strong>und</strong> die Museumslandschaft attraktivieren<br />

sollen. Hierzu gehören zum einen die<br />

Entscheidung für den Bau des neuen 1,5 Millionen<br />

Euro teuren Aquariums <strong>im</strong> Zoo am Meer<br />

<strong>und</strong> zum an<strong>der</strong>en das mit einem Volumen von<br />

42 Millionen Euro deutlich umfangreichere<br />

Projekt <strong>zur</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung des Deutschen<br />

Schiffahrtsmuseums (DSM). Das DSM ist als<br />

nationales deutsches Forschungsmuseum Mitglied<br />

<strong>der</strong> Leibniz-Forschungsgemeinschaft <strong>und</strong><br />

wird deshalb vom B<strong>und</strong> mitfinanziert. Dieser<br />

Status kann aber nur dann aufrechterhalten<br />

werden, wenn das Museum mo<strong>der</strong>nisiert wird<br />

<strong>und</strong> verbesserte Forschungsmöglichkeiten<br />

bekommt. Die 42 Millionen Euro, von denen<br />

die Hälfte aus B<strong>und</strong>esmitteln stammt, fließen<br />

bis 2014 zunächst in die Sanierung des denkmalgeschützten<br />

Scharoun-Baus. Außerdem soll<br />

die Dauerausstellung neu konzipiert <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Erweiterungsbau mo<strong>der</strong>nisiert werden. Auch<br />

<strong>der</strong> Bau eines neuen Magazins steht auf dem<br />

Programm. Der gesamte Masterplan umfasst<br />

ein Gesamtvolumen von 100 Millionen Euro.<br />

Ausgebaut wird in Bremerhaven auch das<br />

Angebot an Übernachtungsmöglichkeiten:<br />

Nachdem erst <strong>im</strong> November 2012 mit <strong>der</strong> Eröffnung<br />

des Im-Jaich-Hotels am Neuen Hafen die<br />

Zahl <strong>der</strong> Betten in <strong>der</strong> Seestadt um 87 zugenommen<br />

hat, werden 2013 zwei weitere Hotels<br />

mit 195 beziehungsweise 300 Betten folgen.<br />

Während 2011 in 20 Hotels knapp 2.000 Betten<br />

bereitstanden, wird die Übernachtungskapazität<br />

damit 2013 um 25 Prozent zunehmen.<br />

Angesichts <strong>der</strong> leicht rückläufigen Übernachtungszahlen<br />

(siehe Beitrag Wirtschaftsentwicklung:<br />

Europa in <strong>der</strong> Rezession, Bremer <strong>Lage</strong><br />

noch stabil, S. 7 ff.) bleibt zu hoffen, dass diese<br />

Kapazitätsausweitung auch eine entsprechende<br />

Auslastung nach sich zieht. Der Inhaber<br />

des Im-Jaich-Hotels geht von einer durchschnittlichen<br />

Belegung von 60 Prozent aus.<br />

2011 lag dieser Wert über alle Hotels hinweg<br />

bei 43 Prozent. 2<br />

Umstrukturierung <strong>der</strong> Bremerhavener<br />

Schiffbauindustrie<br />

Die schwierige Wirtschaftslage <strong>der</strong> Ree<strong>der</strong>eien<br />

(siehe Exkurs: Schiffahrt in <strong>der</strong> Krise, S. 24 ff.)<br />

ging auch an <strong>der</strong> Bremerhavener Schiffbauindustrie<br />

nicht spurlos vorbei. Weil diese ihre<br />

Wartungs- <strong>und</strong> Reparaturaufträge auf ein Min<strong>im</strong>um<br />

reduzierten, ist <strong>der</strong> Umsatz <strong>der</strong> Lloyd<br />

Werft gesunken. Das Jahr 2012 stand daher<br />

unter dem Zeichen massiver Umstrukturierungen.<br />

Bereits <strong>im</strong> Dezember 2011 gab die Geschäftsführung<br />

<strong>der</strong> Lloyd Werft bekannt, dass<br />

<strong>der</strong> Betrieb in eine Besitz- <strong>und</strong> eine Produktionsgesellschaft<br />

aufgeteilt wird. Zukünftig<br />

sollen neben dem Schiffbau weitere Geschäftsfel<strong>der</strong><br />

erschlossen werden, wie die Offshore-<br />

Branche <strong>und</strong> <strong>der</strong> Yachtbau. Während die<br />

Beschäftigten in die Produktionsgesellschaft,<br />

die Lloyd Werft AG, übergehen, fließt das Vermögen<br />

<strong>der</strong> Werft (also das Gelände, die Docks<br />

<strong>und</strong> die Hallen) in die Besitzgesellschaft ein.<br />

Weil <strong>der</strong> Weg aus <strong>der</strong> Krise nur dann möglich<br />

sein soll, wenn die Lohnkosten deutlich<br />

gesenkt werden, sollten ursprünglich 42 Mitarbeiter<br />

ihren Job verlieren. Mittlerweile konnte<br />

diese Zahl auf 25 gesenkt werden.<br />

Mit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Lloyd Werft AG ist<br />

die Umstrukturierung <strong>der</strong> Bremerhavener


21<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

¢<br />

Schiffbaubetriebe allerdings nicht abgeschlossen.<br />

Unter dem Dach <strong>der</strong> ›German Dry Docks‹<br />

sind die Schiffbauabteilungen <strong>der</strong> MWB Motorenwerke<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Rickmers Lloyd Dockbetrieb<br />

zusammengefasst worden. Hier werden insgesamt<br />

etwa 100 Beschäftigte <strong>im</strong> Schiffsreparaturgeschäft<br />

arbeiten. Im Zuge <strong>der</strong> Gründung<br />

<strong>der</strong> ›German Dry Docks‹ wurde <strong>der</strong> Schiffstechnik-Bereich<br />

von den MWB Motorenwerken<br />

abgespalten. Bei MWB sind noch 145 Mitarbeiter<br />

tätig, die sich unter an<strong>der</strong>em mit den Bereichen<br />

›Energietechnik‹ <strong>und</strong> ›Schiffsantriebe‹<br />

befassen. Nach <strong>der</strong> Umstrukturierung agieren<br />

die drei Firmen MWB Motorenwerke (ohne den<br />

Bereich Schiffstechnik), die Lloyd Werft <strong>und</strong><br />

das Unternehmen ›German Dry Docks‹ in<br />

direkter Nachbarschaft am Kaiserhafen. Diese<br />

Struktur soll helfen, Synergien zu erzielen <strong>und</strong><br />

Doppelstrukturen abzubauen. Um die Beschäftigung<br />

in diesen Unternehmen zu sichern,<br />

wurde ein Zukunftstarifvertrag abgeschlossen.<br />

Solange dieser gültig ist, dürfen keine Entlassungen<br />

vorgenommen werden.<br />

Die umfangreichen Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong><br />

Bremerhavener Werftindustrie verdeutlichen<br />

abermals die schwierige Auftragslage <strong>im</strong><br />

Schiffbau. Einer aktuellen Schiffbauumfrage<br />

zufolge, ist <strong>im</strong> Jahr 2012 das erste Mal seit 20<br />

Jahren in Deutschland kein einziger Auftrag<br />

für Containerschiffe, konventionelle Frachter,<br />

Bulker o<strong>der</strong> Tanker eingegangen. Gleichzeitig<br />

wurde eine überdurchschnittlich hohe Anzahl<br />

an Schiffen ausgeliefert, was sich negativ<br />

auf die zukünftige Auftragslage auswirken<br />

wird. Für 2013 wird gegenüber 2011 mit einem<br />

Produktionseinbruch von über 30 Prozent<br />

gerechnet. 3<br />

Perspektiven <strong>der</strong> Offshore-<br />

Windenergiebranche trüben sich ein<br />

Der Offshore-Terminal Bremerhaven (OTB)<br />

Am 4. Dezember 2012 hat <strong>der</strong> Bremer Senat beschlossen,<br />

den geplanten Offshore-Terminal, für den kein privater<br />

Investor gef<strong>und</strong>en wurde, mit öffentlichen Mitteln<br />

zu finanzieren. Insgesamt belaufen sich die Kosten hierfür<br />

auf 180 Millionen Euro. Die Finanzierung soll über<br />

fünf Jahre <strong>und</strong> ohne Kreditaufnahme erfolgen. Den<br />

Löwenanteil <strong>der</strong> Kosten übern<strong>im</strong>mt das Wirtschaftsressort<br />

mit 108 Millionen Euro. Diese Summe soll bei an<strong>der</strong>en<br />

Projekten, beispielsweise bei <strong>der</strong> Weservertiefung,<br />

gekürzt werden. 50 Millionen Euro sollen landeseigene<br />

Firmen beisteuern. So sollen unter an<strong>der</strong>em Gewinne<br />

<strong>der</strong> BLG <strong>und</strong> <strong>der</strong> Gewoba abgeschöpft werden. Die Höhe<br />

richtet sich nach den finanziellen Ausgangslagen <strong>der</strong><br />

Unternehmen. Die restlichen 22 Millionen werden aus<br />

dem Gesamthaushalt finanziert. Das Planfeststellungsverfahren<br />

für den Terminal wird Ende 2012/Anfang<br />

2013 eingeleitet, <strong>der</strong> Projektbeginn ist für 2014 geplant,<br />

die Fertigstellung für 2016. An dem neuen Terminal<br />

können bis zu 160 Offshore-Anlagen pro Jahr umgeschlagen<br />

werden. Die Entscheidung für die öffentliche<br />

Finanzierung des OTB sieht Bremen zum einen als deutliches<br />

Bekenntnis <strong>zur</strong> Offshore-Windenergiebranche<br />

<strong>und</strong> <strong>zur</strong> Energiewende. Zum an<strong>der</strong>en versteht die Politik<br />

den OTB als zentrale Investition in die Seestadt Bremerhaven<br />

<strong>und</strong> die Zukunft des <strong>Land</strong>es Bremen. Ein Ausbleiben<br />

<strong>der</strong> Investitionen würde <strong>der</strong> bestehenden Entwicklung<br />

laut Senat großen Schaden zufügen <strong>und</strong> neu entstandene<br />

Arbeitsplätze gefährden. 4 Bereits 2011 wurde<br />

vom Senator für Wirtschaft, Arbeit <strong>und</strong> Häfen die Studie<br />

›Regionalwirtschaftliche Potenzialanalyse für ein Offshore-Terminal<br />

Bremerhaven‹ bei <strong>der</strong> Prognos AG in Auftrag<br />

gegeben. Hier haben die Gutachter berechnet, dass<br />

durch den Bau des Offshore-Terminals in Bremerhaven<br />

bis zum Jahr 2040 zwischen 7.000 <strong>und</strong> 14.000 Arbeitsplätze<br />

in Bremerhaven gesichert <strong>und</strong> geschaffen werden<br />

können. Ob diese Prognosen angesichts <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeit<br />

schwierigen Rahmenbedingungen auch nur annähernd<br />

eintreten werden, ist gegenwärtig allerdings mehr als<br />

unsicher.<br />

Problematisch stellt sich aktuell auch die Entwicklung<br />

<strong>der</strong> Offshore-Windenergiebranche<br />

dar. Ende des Jahres 2012 wurden in <strong>der</strong> Boombranche<br />

<strong>der</strong> vergangenen Jahre Entlassungen<br />

aufgr<strong>und</strong> von Auftragslücken angekündigt.<br />

3 Vgl. Kühn, Manuel u.a.:<br />

Beschäftigung, Auftragslage<br />

<strong>und</strong> Perspektiven<br />

<strong>im</strong> deutschen Schiffbau,<br />

Ergebnisse <strong>der</strong> 21.<br />

Betriebsrätebefragung<br />

<strong>im</strong> September 2012.<br />

Eine Studie des Instituts<br />

Arbeit <strong>und</strong> Wirtschaft<br />

(IAW) <strong>und</strong> <strong>der</strong> Agentur für<br />

Struktur- <strong>und</strong> Personalentwicklung<br />

GmbH,<br />

IG Metall Küste, IAW-<br />

Schriftenreihe 14, S. 29.<br />

4 Vgl. Pressekonferenz<br />

des Bremer Senats <strong>zur</strong><br />

Entscheidung über<br />

den Bau des Offshore-<br />

Terminals Bremerhaven,<br />

4.12.2012.


22<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

5 Vgl. Döll, Sebastian:<br />

Die Windenergiebranche<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong>e Bremen,<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>kammer,<br />

Juni 2012.<br />

Und das, obwohl <strong>der</strong> Senat nur wenige Tage<br />

vorher beschlossen hat, nach dem Scheitern<br />

<strong>der</strong> Suche nach einen privaten Investor,<br />

den Bau des Offshore-Terminals Bremerhaven<br />

selbst in die Hand zu nehmen.<br />

Bis <strong>zur</strong> Entscheidung für den Bau des Offshore-Terminals<br />

hat Bremen bereits in den vergangenen<br />

Jahren etwa 130 Millionen Euro an<br />

öffentlichem Geld investiert, um Bremerhaven<br />

als Standort für die Offshore-Windenergiebranche<br />

zu profilieren – <strong>und</strong> das mit beachtlichem<br />

Erfolg. Nach <strong>und</strong> nach siedelten sich namhafte<br />

Hersteller <strong>der</strong> Branche an, unter an<strong>der</strong>em die<br />

Areva Wind GmbH, REpower Systems <strong>und</strong><br />

WeserWind. Allein in den großen Kernunternehmen<br />

arbeiteten etwa 2.500 Beschäftigte.<br />

R<strong>und</strong> um diese Betriebe hat sich außerdem ein<br />

Netzwerk aus Dienstleistungs-, Ausbildungs<strong>und</strong><br />

Zulieferunternehmen nie<strong>der</strong>gelassen.<br />

Insgesamt umfasst die Branche demnach etwa<br />

3.000 Beschäftigte. Trotz dieser positiven<br />

Entwicklung standen die Offshore-Windener-<br />

giebetriebe häufig in <strong>der</strong> Kritik, weil einige<br />

einen unzumutbar hohen Anteil an Leiharbeitern<br />

beschäftigen. Den Angaben <strong>der</strong> <strong>im</strong> Jahr<br />

2012 von uns durchgeführten Befragung von<br />

Unternehmen aus <strong>der</strong> Windenergiebranche<br />

zufolge, liegt dieser Anteil in <strong>der</strong> Produktion<br />

bei bis zu 70 Prozent. 5 Ein Teil dieser Leiharbeiter<br />

ist nun von den angekündigten Entlassungen<br />

betroffen.<br />

Spätestens nach dem Brandbrief, den <strong>der</strong><br />

nie<strong>der</strong>ländische Netzbetreiber Tennet an<br />

die B<strong>und</strong>esregierung geschickt hat, wurde<br />

deutlich, welche großen Hürden be<strong>im</strong> Netzausbau<br />

hier noch zu nehmen sind. Vor allem mangelt<br />

es dem Unternehmen an dem entsprechenden<br />

Kapital, um die Windparks an das<br />

Stromnetz auf dem Festland anzuschließen.<br />

Durch die Verzögerungen be<strong>im</strong> Netzausbau<br />

werden <strong>im</strong>mer mehr Windparks auf Eis gelegt.<br />

Damit bleiben die Aufträge für die Anlagenhersteller<br />

ebenso aus. Dies betrifft unter an<strong>der</strong>em<br />

den Bremerhavener Rotorblatthersteller


23<br />

PowerBlades. Da RWE die Entscheidung zum<br />

Bau des Windparks ›Innogy Nordsee 1‹, für den<br />

das Unternehmen die Windrä<strong>der</strong> liefern sollte,<br />

verschoben hat, entsteht ab Mitte 2013 <strong>im</strong> Offshore-Bereich<br />

ein Auftragsloch. PowerBlades<br />

wird sich zunächst von 120 Leiharbeiterinnen<br />

<strong>und</strong> Leiharbeitern trennen. Im Sommer 2013<br />

folgen dann weitere 180. Die Stammarbeitskräfte<br />

sollen dem Unternehmen erhalten bleiben<br />

<strong>und</strong> an <strong>der</strong> Produktion für Komponenten<br />

an <strong>Land</strong> (Onshore) arbeiten. Aber nicht nur<br />

bei PowerBlades gibt es Auslastungsprobleme.<br />

Auch bei WeserWind stehen Verhandlungen<br />

darüber an, wie die Auftragslücke in diesem<br />

Jahr geschlossen werden kann. Da das Unternehmen<br />

F<strong>und</strong>amente (sogenannte Gründungsstrukturen)<br />

für Offshore-Windenergieanlagen<br />

herstellt, kann WeserWind die stockende Auftragslage<br />

nicht – wie an<strong>der</strong>e Unternehmen –<br />

mit Arbeiten für das Onshore-Geschäft überbrücken.<br />

Bereits Mitte 2012 haben Unternehmensführung,<br />

Betriebsrat <strong>und</strong> Gewerkschafter<br />

Verhandlungen darüber aufgenommen, wie<br />

die sich abzeichnende Auftragslücke überbrückt<br />

werden kann. WeserWind beschäftigt<br />

knapp 1.000 Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> Mitarbeiter,<br />

mehr als die Hälfte davon sind Leiharbeiter.<br />

Insgesamt droht in <strong>der</strong> Bremerhavener Offshore-Windenergiebranche<br />

<strong>der</strong> Verlust von bis<br />

zu 1.000 Arbeitsplätzen.<br />

Experten gehen davon aus, dass die Auftragslage<br />

2014/2015 wie<strong>der</strong> anziehen wird. Das<br />

Jahr 2013 muss aber möglichst ohne den Verlust<br />

von qualifizierten Beschäftigten überbrückt<br />

werden. Die IG Metall for<strong>der</strong>t hier die<br />

Einführung einer erweiterten Kurzarbeiterregelung<br />

für Leiharbeit. Außerdem kann die<br />

Auftragsdelle für Qualifizierungsmaßnahmen<br />

genutzt werden. Wichtig ist es, die vor allem<br />

mit öffentlichem Geld qualifizierten Beschäftigten<br />

in <strong>der</strong> Region zu halten, damit sie bei<br />

einer verbesserten Auftragslage wie<strong>der</strong> eingesetzt<br />

werden können.


24<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

¢<br />

E X K U R S<br />

Schifffahrt in <strong>der</strong> Krise<br />

Exportstärke sorgt aber für Umschlagrekorde<br />

D R . M A R I O N S A L O T<br />

Cosco<br />

Evergreen<br />

Hapag-Lloyd <strong>und</strong> Hamburg Süd<br />

CMA CGM<br />

MSC<br />

Maersk Linie<br />

Nach dem Einbruch <strong>der</strong> Wirtschafts- <strong>und</strong><br />

Finanzmärkte <strong>im</strong> Jahr 2008 befindet sich die<br />

Containerschifffahrt nach wie vor in einer<br />

schweren – zum Teil aber hausgemachten –<br />

Krise. Die enormen Wachstumsraten <strong>und</strong><br />

Gewinne, die <strong>im</strong> Containerverkehr bis dahin<br />

verbucht werden konnten, haben die Ree<strong>der</strong><br />

dazu veranlasst, <strong>im</strong>mer größere Schiffe zu<br />

or<strong>der</strong>n. Selbst als bereits massive Einbrüche<br />

<strong>im</strong> Frachtaufkommen zu verzeichnen waren,<br />

wurden ganz gezielt weitere Neubauaufträge<br />

vergeben, denn die Schiffspreise waren niedrig<br />

wie selten <strong>und</strong> die Ree<strong>der</strong> gingen von einer<br />

schnellen Erholung <strong>der</strong> wirtschaftlichen <strong>Lage</strong><br />

aus. Diese Kapazitätsausweitung hat allerdings<br />

<strong>im</strong> Zusammenspiel mit <strong>der</strong> sinkenden Nachfrage<br />

nach Frachtraum den Preisdruck in <strong>der</strong><br />

Branche erheblich erhöht. Vor allem die<br />

großen Containerree<strong>der</strong>eien versuchten bis vor<br />

Kurzem sich mit Billigangeboten ihre Marktanteile<br />

zu sichern, allen voran Maersk <strong>und</strong> MSC.<br />

Die Frachtraten, also die Transportpreise für<br />

Container, fielen dadurch dramatisch in den<br />

Keller. Die Charterraten für Containerschiffe<br />

sanken teilweise sogar um 80 Prozent.<br />

Weil diese Preise allenfalls ausreichen, um<br />

die Betriebskosten <strong>der</strong> Schiffe zu decken, sind<br />

viele Ree<strong>der</strong> nicht mehr in <strong>der</strong> <strong>Lage</strong>, ihre Kredi-<br />

Abb. 1: Die weltweit größten Containerree<strong>der</strong>eien<br />

(Dezember 2012)<br />

162<br />

182<br />

320<br />

412<br />

458<br />

100 200 300 400 500<br />

Anzahl <strong>der</strong> Schiffe<br />

Quelle: Schnei<strong>der</strong>, Mark C.: Großree<strong>der</strong> prüfen Fusion.<br />

In: Handelsblatt vom 19.12.2012, S. 16<br />

604<br />

600 700<br />

te zu bedienen. Viele Schiffsfonds kämpfen<br />

ums Überleben. Diese Entwicklung bedroht<br />

beson<strong>der</strong>s die marit<strong>im</strong>e Wirtschaft in Deutschland,<br />

denn etwa ein Drittel <strong>der</strong> weltweiten<br />

Containerschiffsflotte wurde von deutschen<br />

Fonds <strong>und</strong> Banken finanziert. 30 Prozent dieser<br />

Schiffe sind aber fast insolvent, weil sie<br />

angesichts <strong>der</strong> Überkapazitäten einen rapiden<br />

Wertverlust zu verzeichnen haben. Nicht selten<br />

liegt <strong>der</strong> Marktwert eines neuen Frachters<br />

schon während des Baus um 20 bis 30 Prozent<br />

unter den Baukosten. Angesichts dieser angespannten<br />

<strong>Lage</strong> hat die B<strong>und</strong>esanstalt für<br />

Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) nun<br />

beschlossen, die Schiffskredite <strong>der</strong> deutschen<br />

Banken prüfen zu lassen, um ihren tatsächlichen<br />

Wert zu ermitteln. Zu den fünf größten<br />

Schiffsfinanzierern weltweit gehört auch die<br />

Bremer <strong>Land</strong>esbank, die mit einem Volumen<br />

von 20 Milliarden Euro an <strong>der</strong> Finanzierung<br />

von Schiffen beteiligt ist. Weil es <strong>im</strong>mer<br />

schwieriger wird, Banken o<strong>der</strong> Fonds für die<br />

Finanzierung von neuen Schiffen zu gewinnen,<br />

sehen ausländische Investoren hier eine<br />

Chance, auf den deutschen Markt zu drängen.<br />

Chinesische Banken versuchen diese Schwäche<br />

auszunutzen, indem sie deutschen Ree<strong>der</strong>n<br />

den Bau von Containerschiffen finanzieren.<br />

Allerdings nur dann,<br />

wenn diese Aufträge<br />

auch an chinesische<br />

Werften gehen. Auf diesem<br />

Wege soll <strong>der</strong> Weltmarktanteil<br />

<strong>der</strong> eigenen<br />

Schiffbauindustrie sukzessive<br />

ausgebaut werden<br />

– zum Nachteil <strong>der</strong><br />

deutschen Werften (siehe<br />

hierzu auch Abschnitt<br />

›Wirtschafts- <strong>und</strong> Beschäftigungsentwicklung<br />

in<br />

Bremerhaven, S. 18 ff.).


25<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Abb. 2:<br />

Güterverkehr über See (<strong>Land</strong> Bremen)<br />

Da ein schnelles Ende <strong>der</strong> Krise nicht in Sicht<br />

ist, sind die Ree<strong>der</strong>eien zunehmend dazu übergegangen,<br />

ihre Position über das Eingehen von<br />

Allianzen zu sichern. Bereits seit März 2012<br />

kooperieren mit MSC <strong>und</strong> CMA CGM die zweit<strong>und</strong><br />

drittgrößte Ree<strong>der</strong>ei <strong>der</strong> Welt. Außerdem<br />

hat sich die G6-Alliance 1 gebildet, an <strong>der</strong> auch<br />

Hapag-Lloyd beteiligt ist. Sie bildet eine Art<br />

›Abwehrallianz‹ gegen Maersk <strong>und</strong> MSC <strong>und</strong><br />

wird mit mehr als 90 Schiffen über 40 Häfen<br />

in Asien, Europa <strong>und</strong> <strong>im</strong> Mittelmeer anlaufen.<br />

Mitte Dezember wurde schließlich bekannt,<br />

dass auch die beiden Hamburger Ree<strong>der</strong>eien<br />

Hapag-Lloyd <strong>und</strong> Hamburg Süd über einen Zusammenschluss<br />

nachdenken. Hierdurch würde<br />

die viertgrößte Ree<strong>der</strong>ei entstehen (siehe Abbildung<br />

1).<br />

Die Konzentrationsstrategien <strong>der</strong> Ree<strong>der</strong>eien<br />

werden nicht ohne Folgen für die<br />

Konkurrenzsituation zwischen den Häfen<br />

<strong>der</strong> Nordrange 2 bleiben, denn die wachsende<br />

Marktmacht stärkt ihre Verhandlungsposition<br />

gegenüber den Umschlagplätzen. Damit<br />

erhöht sich <strong>der</strong> Druck auf die Preise <strong>und</strong> die<br />

Löhne in den Häfen. Vor allem dann, wenn<br />

das Frachtaufkommen fällt <strong>und</strong> es auch hier<br />

Überkapazitäten gibt.<br />

Rekordumschläge an den<br />

Bremerhavener Kajen<br />

Trotz <strong>der</strong> schwierigen Gesamtsituation in<br />

<strong>der</strong> Schifffahrt, geht es den bremischen Häfen<br />

weiter gut. Im Februar dieses Jahres konnte<br />

Wirtschaftssenator Martin Günthner den<br />

bislang höchsten Seegüterumschlag mitteilen.<br />

Insgesamt wurden 84 Millionen Tonnen an<br />

Gütern umgeschlagen (siehe Abbildung 2).<br />

Gegenüber 2011 stieg <strong>der</strong> Umschlag damit um<br />

4,2 Prozent, obwohl er in vielen an<strong>der</strong>en<br />

europäischen Häfen aufgr<strong>und</strong> des schwierigen<br />

konjunkturellen Umfeldes stagnierte o<strong>der</strong><br />

sogar <strong>zur</strong>ückging. Der Containerumschlag ist<br />

von 5,9 auf 6,1 Millionen Standardcontainer<br />

(TEU) <strong>und</strong> damit um 3,4 Prozent gestiegen. Im<br />

Jahr 2012 wurden in Bremerhaven 2,2 Millio-<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

36,0<br />

1999<br />

in Mio. Tonnen<br />

44,8<br />

2000<br />

46,0<br />

2001<br />

46,5<br />

2002<br />

48,9<br />

2003<br />

Quelle: Der Senator für Wirtschaft, Arbeit <strong>und</strong> Häfen: Hafenspiegel 2011;<br />

Pressemitteilung vom 13.02.2013: Hafenbilanz 2012 fällt erstklassig aus<br />

nen Fahrzeuge umschlagen, 6,3 Prozent mehr<br />

als 2011. Auch in diesem Bereich wurde damit<br />

ein Rekor<strong>der</strong>gebnis erzielt.<br />

Getragen wurden diese Zuwächse von <strong>der</strong><br />

Exportstärke <strong>der</strong> bremischen Wirtschaft. Aktuelle<br />

Schätzungen gehen davon aus, dass die<br />

Ausfuhren gegenüber 2011 um etwa 20 Prozent<br />

gestiegen sind. Im Vergleich mit an<strong>der</strong>en<br />

B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n erzielt Bremen damit einen<br />

Spitzenwert. Vor allem <strong>der</strong> Export von Kraftfahrzeugen<br />

hat zugenommen. Er ist gegenüber<br />

dem Vorjahr um 22 Prozent gestiegen.<br />

Die insgesamt positive Umschlagentwicklung<br />

in den vergangenen beiden Jahren hat<br />

sich entsprechend auf die letzten Tarifverhandlungen<br />

ausgewirkt. Hier wurde für die 15.000<br />

Beschäftigten in den deutschen Seehäfen <strong>im</strong><br />

Mai 2012 eine 4,1-prozentige Lohnsteigerung<br />

vereinbart. Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> besseren wirtschaftlichen<br />

Entwicklung konnten die Gewerkschaf-<br />

52,3<br />

2004<br />

54,2<br />

2005<br />

64,6<br />

2006<br />

69,1<br />

2007<br />

74,5<br />

2008<br />

63,1<br />

2009<br />

68,9<br />

2010<br />

80,6<br />

2011<br />

84,0<br />

2012<br />

1 Die G6 setzt sich aus<br />

den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

bisherigen Grand<br />

Alliance <strong>und</strong> <strong>der</strong> New<br />

World Alliance zusammen.<br />

Sie besteht aus<br />

den Ree<strong>der</strong>eien APL,<br />

Hapag-Lloyd, Hy<strong>und</strong>ai<br />

Merchant Marine, Mitsui<br />

O.S.K. Lines, Nippon<br />

Yusen Kaisha (NYK)<br />

<strong>und</strong> Orient Overseas<br />

Container Line (OOCL).<br />

2 Zur Nordrange gehören<br />

die Nordseehäfen<br />

Antwerpen, Rotterdam,<br />

Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven<br />

sowie Hamburg.


26<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

3 Vgl. Mündelein, Klaus:<br />

Groß-Ree<strong>der</strong>ei legt sich<br />

mit BLG an. In: Nordsee-<br />

Zeitung vom 24.7.2012.<br />

ten für die Beschäftigten in den Containerumschlagbetrieben<br />

außerdem einen jährlichen<br />

Zuschuss von 400 Euro aushandeln.<br />

Für 2013 wird erwartet, dass die Umschlagmenge<br />

<strong>und</strong> die Beschäftigung in den Häfen<br />

stabil bleiben, <strong>der</strong> Verhandlungsspielraum hat<br />

sich allerdings aufgr<strong>und</strong> des stagnierenden<br />

Frachtaufkommens <strong>und</strong> <strong>der</strong> schwierigen<br />

finanziellen Situation <strong>der</strong> Ree<strong>der</strong> verkleinert.<br />

Der Konkurrenzkampf in <strong>der</strong> Schifffahrt geht –<br />

trotz des gegenwärtig noch wachsenden<br />

Umschlags – auch an den bremischen Häfen<br />

nicht spurlos vorbei. So hat beispielweise die<br />

Ree<strong>der</strong>ei Wallenius Wilhelmsen, über die<br />

zwei Drittel des Bremerhavener Automobilumschlags<br />

abgewickelt werden, <strong>im</strong> Sommer des<br />

vergangenen Jahres einen eigenen Terminal<br />

<strong>und</strong> eine 50.000 Quadratmeter große Fläche<br />

in Bremerhaven gefor<strong>der</strong>t, damit sie ihre Schiffe<br />

unabhängig von <strong>der</strong> BLG löschen kann. Als<br />

Druckmittel wurde angeführt, dass die Ree<strong>der</strong>ei<br />

ihre Fahrzeuge auch in Cuxhaven, Emden<br />

o<strong>der</strong> Zeebrügge abfertigt. Ein Abzug <strong>der</strong> Ree<strong>der</strong>ei<br />

würde für die Arbeitsplätze in Bremerhaven<br />

eine massive Bedrohung darstellen. 3<br />

Der JadeWeserPort:<br />

Konkurrenz o<strong>der</strong> Ergänzungshafen?<br />

Ein für die Hafenwirtschaft herausragendes<br />

Ereignis war 2012 sicherlich die Eröffnung des<br />

JadeWeserPorts in Wilhelmshaven, an dem<br />

auch das <strong>Land</strong> Bremen beteiligt ist. Seit September<br />

ist <strong>der</strong> einzige deutsche Tiefwasserhafen<br />

in Betrieb, in dem auch die größten Containerschiffe<br />

<strong>der</strong> Welt tideunabhängig anlegen<br />

können. Bei vollständiger Fertigstellung stehen<br />

hier gut 1.700 Meter Kaje <strong>und</strong> vier Liegeplätze<br />

bereit. Insgesamt können bei max<strong>im</strong>aler Auslastung<br />

2,7 Millionen Standardcontainer pro<br />

Jahr umgeschlagen werden. Zum Vergleich:<br />

2012 wurden an den Bremerhavener Kajen<br />

6,1 Millionen Container verladen. Betrieben<br />

wird <strong>der</strong> neue Hafen von Eurogate <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Maersk-Tochter APM-Terminals, die zu 30 Prozent<br />

an <strong>der</strong> Betreibergesellschaft beteiligt ist.<br />

Bereits vor seiner Eröffnung hat <strong>der</strong> JadeWeser-<br />

Port auch jenseits <strong>der</strong> löchrigen Sp<strong>und</strong>wand<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Verzögerungen be<strong>im</strong> Bau in mehrfacher<br />

Hinsicht für Diskussionen gesorgt. Weil<br />

sich mit Maersk eine <strong>der</strong> wichtigsten <strong>im</strong><br />

Bremerhavener Containerumschlag agierenden<br />

Ree<strong>der</strong>ei auch am JadeWeserPort nie<strong>der</strong>gelassen<br />

hat, war es nicht auszuschließen, dass<br />

es nach <strong>der</strong> Eröffnung des Tiefwasserhafens<br />

zu einer Verlagerung von Liniendiensten nach<br />

Wilhelmshaven kommen könnte. Zumal gerade<br />

Maersk überdurchschnittlich viele Schiffe<br />

mit einer Kapazität von über 12.000 TEU <strong>im</strong><br />

Dienst hat <strong>und</strong> gegenwärtig sogar zehn Containerschiffe<br />

mit einer Transportkapazität von<br />

18.000 TEU bei <strong>der</strong> koreanischen Werft Daewoo<br />

Shipbuildung Marine Engineering bauen lässt.<br />

Sie sollen in diesem Jahr ausgeliefert werden.<br />

Bei diesen Frachtern handelt es sich um die<br />

größten Containerschiffe, die je in Dienst<br />

gestellt wurden. Diese XXL-Schiffe könnten<br />

in Wilhelmshaven tideunabhängig anlegen.<br />

Der JadeWeserPort hätte hier also gegenüber<br />

Bremerhaven einen deutlichen Wettbewerbsvorteil.<br />

Dennoch ist die Auslastung des Hafens<br />

bislang noch relativ gering. Zwei Liniendienste<br />

laufen den JadeWeserPort wöchentlich an,<br />

darunter befindet sich ein Großschiff.<br />

Der JadeWeserPort soll sich in <strong>der</strong> Startphase<br />

über günstige Umschlagkosten auf den<br />

internationalen Routen etablieren. Zwischen<br />

den Betreibern <strong>und</strong> <strong>der</strong> JadeWeserPort-Realisierungsgesellschaft<br />

wird deshalb gegenwärtig<br />

über die Höhe <strong>der</strong> zu leistenden Hafengebühren<br />

gestritten. Der Hafen sollte bis Ende<br />

2012 mit einem Rabatt von 70 Prozent starten,<br />

bis August 2018 wird ein Preisnachlass von<br />

50 Prozent gewährt. Einschließlich <strong>der</strong> Rabatte<br />

liegen die Hafengebühren für den JadeWeser-<br />

Port in etwa auf dem Niveau von Hamburg<br />

<strong>und</strong> Bremerhaven. Nach den Vorstellungen<br />

von Eurogate <strong>und</strong> Maersk sind diese Gebühren<br />

allerdings zu hoch. Sie sollen in den ersten<br />

Jahren 50 Prozent unter den in Bremerhaven<br />

<strong>und</strong> Hamburg zu entrichtenden Gebühren<br />

liegen. Nach Ansicht von Eurogate wurden <strong>im</strong>


27<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

¢<br />

Rahmen des Betreibervertrages an<strong>der</strong>e Entgelte<br />

für das Anlaufen des Tiefwasserhafens festgeschrieben.<br />

Um diese Frage gerichtlich<br />

zu klären, hat Eurogate <strong>im</strong> Dezember 2012<br />

Klage eingereicht.<br />

Anhand <strong>der</strong> Diskussionen um die Hafengebühren<br />

wird deutlich, wie wichtig die<br />

Umschlagkosten bei <strong>der</strong> Positionierung <strong>der</strong><br />

Häfen <strong>im</strong> Wettbewerb sind. Dass in diesem<br />

Zusammenhang auch die Personalkosten <strong>zur</strong><br />

Disposition stehen, ist daher wenig überraschend.<br />

Da für die Hafenbeschäftigten <strong>der</strong> von<br />

ver.di <strong>und</strong> dem Zentralverband <strong>der</strong> deutschen<br />

Seehafenbetriebe (ZDS) ausgehandelte Tarifvertrag<br />

gilt, wird ein Ausspielen <strong>der</strong> Standorte<br />

über die Lohnkosten hierdurch zunächst<br />

eingeschränkt. Allerdings wird dennoch nach<br />

Schlupflöchern gesucht, wie die Diskussionen<br />

um die Einführung eines Gesamthafenbetriebsvereins<br />

(GHBV) in Wilhelmshaven verdeutlichen.<br />

Die Hafenbeschäftigten <strong>und</strong><br />

ver.di befürchten, dass hier stattdessen Leiharbeiter<br />

zum Einsatz kommen, die zu deutlich<br />

niedrigeren Löhnen arbeiten.<br />

Nach massiven Protesten <strong>der</strong> Hafenarbeiter<br />

hat Eurogate <strong>im</strong> Dezember 2011 zugesagt,<br />

Schritte <strong>zur</strong> Gründung eines GHBV einzuleiten.<br />

Bislang ist dies aber noch nicht erfolgt.<br />

Unter an<strong>der</strong>em deshalb, weil hierfür politischerseits<br />

die gesetzlichen Gr<strong>und</strong>lagen<br />

geschaffen werden müssen (siehe Kasten). Der<br />

Regierungswechsel in Nie<strong>der</strong>sachsen könnte<br />

allerdings die Einführung eines GHBV in<br />

Wilhelmshaven in Zukunft begünstigen. Da<br />

<strong>der</strong> JadeWeserPort gegenwärtig nur mit einer<br />

geringen Auslastung betrieben wird <strong>und</strong> die<br />

Abfertigung <strong>der</strong> Schiffe von den 250 Eurogate-<br />

Beschäftigten in Wilhelmshaven vorgenommen<br />

werden kann, wurde zwischen dem ver.di<br />

<strong>Land</strong>esbezirk Nie<strong>der</strong>sachsen-Bremen <strong>und</strong> dem<br />

Unternehmensverband Bremische Häfen als<br />

Übergangslösung vereinbart, dass bei eventuell<br />

auftretenden Auftragsspitzen GHBV-Beschäftigte<br />

aus Bremerhaven zum Einsatz kommen.<br />

Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> geringen Auslastung des<br />

JadeWeserPorts stellt sich gegenwärtig aber<br />

Was ist <strong>der</strong> GHBV?<br />

Der Gesamthafenbetriebsverein <strong>im</strong> <strong>Land</strong>e Bremen e.V.<br />

(GHBV) wurde 1950 von Hafenunternehmen <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

ÖTV als <strong>Arbeitnehmer</strong>pool gegründet, damit die hier<br />

angestellten Beschäftigten einspringen können, wenn<br />

die Umschlagfirmen selber überlastet sind <strong>und</strong> nicht<br />

über ausreichende Kapazitäten verfügen. Gibt die<br />

Auftragslage eine Beschäftigung <strong>der</strong> GHBV-Mitarbeiter<br />

nicht her, werden sie aus <strong>der</strong> Garantielohnkasse<br />

bezahlt, in die die über 50 Mitgliedsunternehmen einzahlen<br />

<strong>und</strong> die über ein Volumen von 12 bis 15 Millionen<br />

Euro verfügt. Als gemeinnütziger Verein darf <strong>der</strong><br />

GHBV keine Gewinne machen, aber Rücklagen bilden.<br />

Die GHBV-Mitarbeiter werden nach Tarifen bezahlt, die<br />

denen <strong>der</strong> aufnehmenden Betriebe entsprechen. Gr<strong>und</strong>lage<br />

für die Monopolstellung des GHBV in den Häfen<br />

ist das 1950 verabschiedete Gesetz über die Schaffung<br />

eines beson<strong>der</strong>en Arbeitgebers für Hafenarbeiter<br />

(Gesamthafenbetrieb). 4 Hierdurch wird geregelt, dass<br />

zusätzlich benötigte Arbeitskräfte ausschließlich be<strong>im</strong><br />

GHBV <strong>und</strong> nicht über an<strong>der</strong>e Verleihfirmen ausgeliehen<br />

werden dürfen.<br />

In Zeiten <strong>der</strong> Wirtschafts- <strong>und</strong> Finanzkrise mussten<br />

aufgr<strong>und</strong> des Umschlageinbruchs umfangreiche Einsparmaßnahmen<br />

vorgenommen werden. Mehr als 1.000<br />

Beschäftigte mussten entlassen werden, die Löhne wurden<br />

deutlich gesenkt <strong>und</strong> die tariflichen Leistungen eingeschränkt.<br />

Inzwischen wurde die Beschäftigung be<strong>im</strong><br />

GHBV wie<strong>der</strong> aufgestockt. Im November 2012 waren<br />

1.550 Beschäftigte in Bremen <strong>und</strong> 1.450 Beschäftigte in<br />

Bremerhaven für die Bereiche Hafen <strong>und</strong> Logistik tätig.<br />

Außer <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen wurde auch in Hamburg ein<br />

GHBV ins Leben gerufen. Hier sind 1.100 Mitarbeiterinnen<br />

<strong>und</strong> Mitarbeiter beschäftigt.<br />

4 Vgl. Gesetz über die<br />

Schaffung eines beson<strong>der</strong>en<br />

Arbeitgebers für<br />

Hafenarbeiter (Gesamthafenbetrieb)<br />

vom 3.8.1950.<br />

Bei diesem B<strong>und</strong>esgesetz<br />

ist die Genehmigung <strong>der</strong><br />

Regelungen durch die<br />

oberste Arbeitsbehörde<br />

des jeweiligen B<strong>und</strong>eslandes<br />

erfor<strong>der</strong>lich.


28<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

5 Nach Aussage <strong>der</strong><br />

Eurogate-Sprecherin<br />

Corinna Romke. In:<br />

Mündelein, Klaus: Angst<br />

vor Kollegen von <strong>der</strong><br />

Jade, Nordsee-Zeitung<br />

vom 13. Januar 2013.<br />

weniger die Frage, wie mit Umschlagspitzen<br />

am JadeWeserPort umgegangen wird, son<strong>der</strong>n<br />

eher die, wie die Eurogate-Mitarbeiter aus<br />

Wilhelmshaven beschäftigt werden können.<br />

Zwischenzeitlich wurde bei Eurogate sogar<br />

›eine Austauschvereinbarung zwischen den<br />

Standorten Wilhelmshaven <strong>und</strong> Bremerhaven<br />

bezüglich <strong>der</strong> Einsätze von Arbeitskräften‹<br />

diskutiert. 5 Sollten in Bremerhaven Arbeitskräfte<br />

aus Wilhelmshaven eingesetzt werden,<br />

würde sich dies wie<strong>der</strong>um unmittelbar auf<br />

die Auslastung des GHBV auswirken <strong>und</strong> dort<br />

Arbeitsplätze gefährden.<br />

Wie sich die Anzahl <strong>und</strong> die Qualität <strong>der</strong><br />

Arbeitsplätze <strong>im</strong> Hafen perspektivisch<br />

entwickelt, hängt damit zusammen, wann<br />

die Fracht- <strong>und</strong> Charterraten <strong>und</strong> damit die<br />

Gewinnspannen wie<strong>der</strong> ansteigen <strong>und</strong> ob<br />

die Kapazitäten <strong>der</strong> Umschlagplätze weiter<br />

zunehmen. Dass in Wilhelmshaven bereits<br />

jetzt – trotz <strong>der</strong> geringen Auslastung –<br />

laut über eine zweite Ausbaustufe nachgedacht<br />

wird, dürfte nicht zu einer Entschärfung<br />

<strong>der</strong> angespannten Wettbewerbssituation<br />

beitragen.


29<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Strukturwandel <strong>und</strong> gute Arbeit <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

Welche Rolle hat die Wirtschaftspolitik?<br />

D R . M A R I O N S A L O T<br />

Seit Ende <strong>der</strong> 1980er-Jahre hatten sowohl<br />

Bremen als auch Bremerhaven mit schwerwiegenden<br />

Strukturkrisen zu kämpfen. Während<br />

Bremen von dem Konkurs <strong>der</strong> AG Weser,<br />

dem Abbau von Arbeitsplätzen in <strong>der</strong> Kaffee<strong>und</strong><br />

Tabakverarbeitung sowie bei Nordmende<br />

betroffen war, litt Bremerhaven nach <strong>der</strong><br />

Fischerei- <strong>und</strong> Schiffbaukrise auch unter den<br />

Folgen des Abzugs <strong>der</strong> US-amerikanischen<br />

Streitkräfte. Hierdurch kam es nicht nur zu<br />

einem drastischen Anstieg <strong>der</strong> Arbeitslosenquote,<br />

die in Bremerhaven <strong>im</strong> Jahr 2005 sogar<br />

bei 25 Prozent lag, son<strong>der</strong>n das <strong>Land</strong> verlor<br />

auch den Anschluss an die westdeutsche<br />

Wirtschaftsentwicklung. 1<br />

Erst nach 2005 ist es gelungen, eine Trendwende<br />

auf dem Arbeitsmarkt einzuleiten. Seitdem<br />

sind bis 2011 etwa 21.000 neue Arbeitsplätze<br />

entstanden; zwischen 2005 <strong>und</strong> 2007<br />

alleine mehr als 9.000 Jobs. Diese Beschäftigungszuwächse<br />

konzentrierten sich allerdings<br />

weitgehend auf zwei Branchen: Die Hälfte<br />

<strong>der</strong> neuen Stellen ging auf das Konto <strong>der</strong> Leiharbeit<br />

(4.600), ein Viertel entfiel auf den Wirtschaftsabschnitt<br />

›Hilfs- <strong>und</strong> Nebentätigkeiten<br />

für den Verkehr‹ <strong>und</strong> ist damit weitgehend<br />

<strong>der</strong> boomenden Hafenwirtschaft zuzuordnen.<br />

Nach 2008 verlangsamte sich <strong>der</strong> Arbeitsplatzzuwachs,<br />

denn die Wirtschafts- <strong>und</strong><br />

Finanzkrise hat gerade die beiden Jobmotoren<br />

<strong>der</strong> Vorjahre empfindlich ausgebremst. Die<br />

Arbeitsplatzzuwächse fielen dementsprechend<br />

geringer aus, konzentrierten sich dafür aber<br />

auf mehrere Branchen, beispielsweise auf den<br />

Bereich ›Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Soziales‹ (+1.026)<br />

<strong>und</strong> den Bereich ›Erziehung <strong>und</strong> Unterricht‹<br />

(+1.002). Auch das Gastgewerbe <strong>und</strong> <strong>der</strong> Einzelhandel<br />

konnten expandieren. In beiden<br />

Branchen sind in diesem Zeitraum etwa 800<br />

neue Arbeitsplätze entstanden.<br />

1 Vgl. Prognos:<br />

Wirkungsanalyse des<br />

Investitionsson<strong>der</strong>programms<br />

(ISP)<br />

des <strong>Land</strong>es Bremen,<br />

August 2002.<br />

Abb. 1: Entwicklung <strong>der</strong> sozialversicherungspflichtig<br />

Beschäftigten (SvB) in Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven<br />

250.000<br />

48.000<br />

245.000<br />

240.000<br />

45.924<br />

46.193<br />

46.034<br />

46.932<br />

47.000<br />

46.000<br />

235.000<br />

44.659<br />

44.948<br />

44.787<br />

44.047<br />

44.442<br />

45.000<br />

230.000<br />

225.000<br />

220.000<br />

215.000<br />

44.110<br />

43.090<br />

42.062<br />

41.726<br />

42.700<br />

44.000<br />

43.000<br />

42.000<br />

41.000<br />

1998<br />

1999<br />

2000<br />

2001<br />

2002<br />

2003<br />

2004<br />

234.117<br />

2005<br />

235.497<br />

2006<br />

238.628<br />

2007<br />

241.712<br />

2008<br />

240.606<br />

237.436<br />

2009<br />

2010<br />

2011<br />

231.372<br />

227.983<br />

229.167<br />

234.340<br />

239.063<br />

236.878<br />

238.274<br />

244.130<br />

SvB Bremen<br />

SvB Bremerhaven<br />

Quelle: Statistik <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit.


30<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

2 Vgl. Statistisches<br />

<strong>Land</strong>esamt Bremen,<br />

Statistische <strong>Bericht</strong>e,<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>verdienste<br />

4/2011.<br />

Die Erholung auf dem Bremer Arbeitsmarkt<br />

war allerdings kein Selbstläufer, son<strong>der</strong>n ist<br />

auch auf entsprechende strukturpolitische<br />

Anstrengungen <strong>zur</strong>ückzuführen. So wurden<br />

beispielsweise seit 1997 etwa 900 Millionen<br />

Euro in den Bau von acht zusätzlichen Liegeplätzen<br />

für den Containerumschlag investiert.<br />

Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt ist aber<br />

seit Jahren die Tourismusbranche. Allein in die<br />

Bremerhavener Havenwelten mit dem Kl<strong>im</strong>ahaus,<br />

dem Mediterraneo, dem Hotel Sail City<br />

<strong>und</strong> dem Auswan<strong>der</strong>erhaus sind öffentliche<br />

Investitionen in Höhe von 315 Millionen Euro<br />

geflossen. Und auch in Bremen-Stadt wurden<br />

zahlreiche touristische Großprojekte umgesetzt,<br />

beispielsweise die interaktive Wissenschafts-Ausstellung<br />

Universum, das Musical<br />

Theater, die Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> Schlachte <strong>und</strong><br />

so weiter.<br />

Wachstumsbranche Tourismus<br />

Die Investitionen in die touristische Infrastruktur<br />

wirkten sich durchaus positiv auf die Zahl<br />

<strong>der</strong> Tages- <strong>und</strong> Übernachtungsgäste aus. Im<br />

<strong>Land</strong> Bremen stiegen die Ankünfte pro Jahr<br />

zwischen 1999 <strong>und</strong> 2011 um gut 380.000 Besucher<br />

o<strong>der</strong> 60 Prozent auf über eine Million,<br />

die Übernachtungen nahmen <strong>im</strong>merhin um<br />

49 Prozent (o<strong>der</strong> 580.000) auf 1,8 Millionen zu.<br />

Strukturpolitisch machen sich die Ausgaben<br />

<strong>der</strong> Tages- <strong>und</strong> Übernachtungsgäste vor allem<br />

<strong>im</strong> Einzelhandel <strong>und</strong> <strong>im</strong> Gastgewerbe bemerkbar.<br />

Dementsprechend ist es in den vergangenen<br />

Jahren in beiden Branchen zu einem kontinuierlichen<br />

Umsatzzuwachs gekommen: Im<br />

Einzelhandel ist er zwischen 2005 <strong>und</strong> 2010<br />

um 25 Prozent gestiegen, <strong>im</strong> Gastgewerbe<br />

sogar um 60 Prozent. Diese durchaus positiven<br />

Entwicklungen legen den Schluss nahe, dass<br />

Bremen mit seiner Strategie, auf den Tourismus<br />

zu setzen, goldrichtig gefahren ist. Aber:<br />

Wie hat sich die gesteigerte Attraktivität<br />

auf die Arbeitsplatzentwicklung ausgewirkt?<br />

Zwischen 2003 <strong>und</strong> 2011 sind hier <strong>im</strong> <strong>Land</strong><br />

Bremen zwar gut 1.100 sozialversicherungs-<br />

pflichtige Arbeitsplätze geschaffen worden,<br />

gleichzeitig aber etwa 3.200 Minijobs. Nach<br />

dieser Entwicklung ist das Gastgewerbe damit<br />

die einzige Branche <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen, in<br />

<strong>der</strong> die Zahl <strong>der</strong> Minijobs die <strong>der</strong> sozialversicherungspflichtigen<br />

Beschäftigungsverhältnisse<br />

übersteigt. Im B<strong>und</strong>esvergleich gehört<br />

Bremen inzwischen zu den drei B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n<br />

mit dem höchsten Minijob-Anteil <strong>im</strong><br />

Gastgewerbe.<br />

Aber nicht nur wegen seines überaus hohen<br />

Anteils an prekären Beschäftigungsverhältnissen<br />

lassen die Arbeitsbedingungen <strong>im</strong> Gastgewerbe<br />

zu wünschen übrig: Der Bruttost<strong>und</strong>enlohn<br />

eines Vollzeitbeschäftigten beträgt <strong>im</strong><br />

Durchschnitt nur 11,43 Euro, bei den Teilzeitbeschäftigten<br />

liegt er sogar nur bei 9,74 Euro.<br />

Im Vergleich zu allen an<strong>der</strong>en Branchen<br />

weist das Gastgewerbe damit das mit Abstand<br />

niedrigste Lohnniveau in Bremen auf. 2 Dies hat<br />

<strong>zur</strong> Folge, dass je<strong>der</strong> zehnte sozialversicherungspflichtig<br />

Beschäftigte auf ergänzendes<br />

Arbeitslosengeld II angewiesen ist. Dieser<br />

Anteil wird <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen nur noch von den<br />

Reinigungskräften übertroffen. Erschwerend<br />

kommt hinzu, dass 37 Prozent <strong>der</strong> Beschäftigten<br />

aus dem Gastgewerbe bei Arbeitslosigkeit<br />

direkt in das SGB-II-System übergehen –<br />

entwe<strong>der</strong>, weil ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld<br />

I wegen <strong>der</strong> geringen Löhne zu niedrig<br />

ist o<strong>der</strong> weil ihre Beschäftigungsdauer so<br />

kurz war, dass sie noch keinen Anspruch auf<br />

Arbeitslosengeld I vorweisen können. Viele<br />

pendeln deshalb zwischen einer Beschäftigung<br />

<strong>im</strong> Gastgewerbe <strong>und</strong> dem Hartz-IV-Bezug ständig<br />

hin <strong>und</strong> her.<br />

Minijob- <strong>und</strong> Teilzeitboom<br />

<strong>im</strong> Einzelhandel<br />

Die zweite Branche, die vom Tourismus profitiert,<br />

ist <strong>der</strong> Einzelhandel. Auch hier schreitet<br />

die Prekarisierung unaufhaltsam voran. Gr<strong>und</strong><br />

ist <strong>der</strong> herrschende ruinöse Wettbewerb. Vor<br />

allem <strong>der</strong> hierdurch entstehende Preisdruck<br />

führt dazu, dass viele Einzelhändler versu-


31<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Abb. 2: Beschäftigungsentwicklung<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen (2003 bis 2011)<br />

chen, die Personalkosten so gering wie möglich<br />

zu halten. Somit wird <strong>der</strong> Konkurrenzkampf<br />

in dieser Branche vorwiegend auf dem<br />

Rücken <strong>der</strong> Beschäftigten ausgetragen. Diese<br />

Tendenz lässt sich auch in Bremen beobachten.<br />

Insgesamt sind hier knapp 20.000 Beschäftigte<br />

in dieser Branche tätig; 75 Prozent sind<br />

davon Frauen. Zwischen 2007 <strong>und</strong> 2011 sind<br />

in Bremen-Stadt zwar mehr als 1.100 neue<br />

Arbeitsplätze entstanden, dieser Beschäftigungszuwachs<br />

fällt allerdings nicht nur vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong> des Tourismus-Booms verhältnismäßig<br />

klein aus: Zum einen erfolgte<br />

2007 eine erhebliche Erweiterung <strong>der</strong> Ladenöffnungszeiten<br />

<strong>und</strong> zum an<strong>der</strong>en wurde <strong>im</strong><br />

darauffolgenden Jahr auf dem ehemaligen<br />

Space-Park-Gelände die Waterfront eröffnet –<br />

ein 44.000 Quadratmeter umfassendes Shoppingcenter<br />

ganz <strong>im</strong> Norden <strong>der</strong> Stadt Bremen.<br />

Von beiden Ereignissen hätte ein deutlich<br />

größerer Beschäftigungszuwachs ausgehen<br />

sollen. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich<br />

bei den zusätzlichen Arbeitsplätzen ausschließlich<br />

um Teilzeit- <strong>und</strong> Minijobs handelt,<br />

während die Zahl <strong>der</strong> Vollzeitstellen rückläufig<br />

ist. Viele Einzelhändler begründen diese Entwicklung<br />

mit dem Argument: ›Wir brauchen<br />

Hände!‹ Sie führt vor Augen, mit welch dünner<br />

Personaldecke mittlerweile geplant wird:<br />

Weil sie bei Krankheit o<strong>der</strong> Urlaub den Ausfall<br />

einer Vollzeitkraft nicht kompensieren können,<br />

werden lieber zwei Teilzeitkräfte o<strong>der</strong><br />

Minijobber eingestellt.<br />

Das Verdrängen existenzsichern<strong>der</strong> Arbeitsplätze<br />

ist in dieser Branche deshalb beson<strong>der</strong>s<br />

problematisch, weil sie nach dem Bereich<br />

›Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Soziales‹ das mit Abstand<br />

wichtigste Beschäftigungsfeld für Frauen ist.<br />

In Bremen arbeitet jede zehnte Frau <strong>im</strong> Einzelhandel,<br />

in Bremerhaven sogar jede siebte.<br />

Allerdings kann nur jede dritte auch von<br />

ihrem Arbeitsplatz leben. Der Niedriglohnanteil<br />

ist hier doppelt so hoch wie in <strong>der</strong> Gesamtwirtschaft,<br />

das Einkommen eines Vollzeitbeschäftigten<br />

liegt bereits jetzt 20 Prozent unter<br />

dem Durchschnittslohn. Da <strong>der</strong> Wettbewerb<br />

Leiharbeit<br />

Minijobs<br />

Teilzeit<br />

Vollzeit<br />

-716<br />

7.370<br />

11.121<br />

-5.000 0 5.000 10.000 15.000<br />

Quelle: Statistik <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit<br />

14.206<br />

<strong>im</strong> Einzelhandel fast täglich zun<strong>im</strong>mt, unter<br />

an<strong>der</strong>em durch die kürzlich erfolgte Entfristung<br />

<strong>der</strong> Freigabe <strong>der</strong> Ladenöffnungszeiten<br />

<strong>und</strong> möglicherweise auch <strong>im</strong> Zuge <strong>der</strong> anvisierten<br />

Verkaufsflächenerweiterungen <strong>der</strong><br />

Waterfront <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Bremer Innenstadt, ist<br />

zu befürchten, dass sich <strong>der</strong> Prekarisierungsprozess<br />

weiter beschleunigt <strong>und</strong> <strong>der</strong> Druck<br />

auf die Löhne noch zun<strong>im</strong>mt.<br />

Die Tendenz zum Abbau existenzsichern<strong>der</strong><br />

Arbeitsplätze ist aber nicht nur <strong>im</strong> Einzelhandel<br />

<strong>und</strong> <strong>im</strong> Gastgewerbe zu beobachten. Ein<br />

Blick auf die Beschäftigungsentwicklung<br />

zwischen 2003 <strong>und</strong> 2011 zeigt, dass in den<br />

vergangenen Jahren <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen deutlich<br />

mehr prekäre als reguläre Arbeitsplätze entstanden<br />

sind. In diesem Zeitraum wurden gut<br />

14.000 Minijobs geschaffen, außerdem mehr<br />

als 11.000 Teilzeitstellen (Abbildung 2).<br />

Aber nicht nur die Zahl <strong>der</strong> Minijobs <strong>und</strong><br />

Teilzeitstellen hat seit 2003 deutlich zugenommen,<br />

auch in <strong>der</strong> Leiharbeit ist die Beschäftigung<br />

massiv angestiegen. Bis zum Einsetzen<br />

<strong>der</strong> Wirtschafts- <strong>und</strong> Finanzkrise war sie sogar<br />

die Boombranche Nummer eins in Bremen.<br />

Trotz <strong>der</strong> krisenbedingten Einbrüche sind hier<br />

zwischen 2003 <strong>und</strong> 2011 etwa 7.400 Arbeitsplätze<br />

entstanden. Mittlerweile arbeiten vier<br />

Prozent <strong>der</strong> sozialversicherungspflichtig<br />

Beschäftigten in dieser Branche. Bremen weist<br />

damit <strong>im</strong> B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>vergleich den höchsten<br />

Anteil an Leiharbeitern auf.<br />

Die Zahl <strong>der</strong> Vollzeitstellen war seit Inkrafttreten<br />

<strong>der</strong> Hartz-I- <strong>und</strong> II-Gesetze 2003 <strong>im</strong><br />

<strong>Land</strong> Bremen rückläufig. Der Anteil prekärer<br />

Beschäftigungsverhältnisse ist damit in den


32<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

vergangenen Jahren deutlich angestiegen. Weil<br />

aber <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Niedriglohnempfänger<br />

gerade unter den Leiharbeitern (70 Prozent)<br />

<strong>und</strong> den Minijobbern (80 Prozent) beson<strong>der</strong>s<br />

hoch ist, verschärft dies die Armutsgefährdung<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> ganz erheblich. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong><br />

ist es nicht überraschend, dass auch die<br />

Zahl <strong>der</strong> Erwerbstätigen, die auf ergänzenden<br />

Arbeitslosengeld-II-Bezug angewiesen sind,<br />

gewachsen ist: Zwischen 2007 <strong>und</strong> 2011 alleine<br />

um 3.100 Personen o<strong>der</strong> knapp 20 Prozent.<br />

Auch wenn die Verantwortung für die Hartz-<br />

Reformen auf B<strong>und</strong>esebene liegt, machen<br />

sich die Folgen vor allem auf regionaler Ebene<br />

bemerkbar. Zum einen, weil über die Aufstocker<br />

Niedriglöhne quasi subventioniert werden<br />

<strong>und</strong> zum an<strong>der</strong>en, weil sich hier auch die<br />

sinkende Kaufkraft am schnellsten auswirkt,<br />

vor allem natürlich auf den Einzelhandel.<br />

Kriterien guter Arbeit mit <strong>der</strong><br />

Wirtschaftsför<strong>der</strong>ung verknüpfen<br />

Die Politik sollte deshalb gerade auf regionaler<br />

Ebene jede Möglichkeit nutzen, um diesen<br />

Prozess nicht noch weiter zu beschleunigen. In<br />

Bremen wird diesbezüglich schon einiges<br />

getan. Bereits 2009 ist das bremische Tariftreue-<br />

<strong>und</strong> Vergabegesetz in Kraft getreten, mit<br />

dem Auftragnehmer von öffentlich geför<strong>der</strong>ten<br />

Aufträgen verpflichtet werden, ihren<br />

Beschäftigten mindestens 8,50 Euro pro St<strong>und</strong>e<br />

zu zahlen. Darüber hinaus wurde kürzlich<br />

das Mindestlohngesetz verabschiedet, mit dem<br />

Bremen b<strong>und</strong>esweit Vorreiter ist. Seit September<br />

2012 müssen alle öffentlich geför<strong>der</strong>ten<br />

Arbeitgeber, also auch solche, die Zuschüsse<br />

o<strong>der</strong> Bürgschaften erhalten, ihren Beschäftigten<br />

den Mindestlohn bezahlen. Mit dem neuen<br />

Gesetz werden also auch städtische Unternehmen,<br />

Vereine, Kultureinrichtungen <strong>und</strong> so<br />

weiter erfasst.


33<br />

Dieser sicherlich richtige Schritt wird langfristig<br />

allerdings nicht ausreichen. Angesichts<br />

des kontinuierlichen Rückgangs existenzsichern<strong>der</strong><br />

Arbeitsplätze ist es wichtig, dass die<br />

Wirtschaftsför<strong>der</strong>ung insgesamt eine Sensibilität<br />

für die Qualität von Arbeitsplätzen entwickelt<br />

<strong>und</strong> auch bei anstehenden Investitionen<br />

o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en politischen Entscheidungen<br />

(beispielsweise die Ausweitung <strong>der</strong> Ladenöffnungszeiten)<br />

<strong>im</strong> Vorfeld darauf achtet, welche<br />

Auswirkungen dies auf die Arbeitsbedingungen<br />

<strong>und</strong> die Beschäftigungsstruktur haben<br />

wird. Diese Erkenntnisse müssen systematisch<br />

in die Entscheidungen einfließen.<br />

❚ Unternehmen sollten davon überzeugt werden,<br />

ihrer sozialen Verantwortung gerecht zu werden.<br />

›Belohnungen‹ für gute Arbeit, Boni für überdurchschnittliche<br />

Ausbildungszahlen, ein Wirtschaftspreis<br />

für gute Arbeit bieten sich an. Wo Gesetze <strong>und</strong><br />

Richtlinien dies zulassen, muss die För<strong>der</strong>ung von<br />

Unternehmen auch an Höchstquoten für prekäre<br />

Beschäftigung <strong>und</strong> Mindestquoten für Ausbildungsplätze<br />

geknüpft werden. 3<br />

❚ Politik muss offensiv kommunizieren, dass gute<br />

Arbeit auch ein Faktor für nachhaltige Wirtschaftserfolge<br />

ist. Mitbest<strong>im</strong>mte <strong>und</strong> tarifgeb<strong>und</strong>ene<br />

Betriebe sind häufig wirtschaftlich erfolgreicher,<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong> sind hier enger mit dem Unternehmen<br />

verb<strong>und</strong>en. Ein ausreichendes Angebot an<br />

Weiterbildung hilft den Beschäftigten, ihre Qualifikation<br />

zu erhalten <strong>und</strong> zu verbessern – ein Plus<br />

für die Unternehmen.<br />

❚ Wirtschaftsför<strong>der</strong>ung <strong>im</strong> engeren Sinne darf sich<br />

nicht allein als Dienstleister für Unternehmen verstehen.<br />

Sie ist kommunaler Dienstleister <strong>und</strong> muss die<br />

Folgen für benachbarte Politikbereiche miteinbeziehen.<br />

Eine einseitig an Unternehmenszielen orientierte<br />

Wirtschaftsför<strong>der</strong>ung ist nicht mehr zeitgemäß.<br />

❚ Qualifizierungspolitik – <strong>und</strong> zwar von <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung<br />

Arbeitsloser über Weiterbildung bis <strong>zur</strong> Durchlässigkeit<br />

zwischen Ausbildungsberuf <strong>und</strong> Studium<br />

– ist ein entscheiden<strong>der</strong> Bestandteil von Wirtschaftspolitik.<br />

Die kritischen Übergänge <strong>im</strong> Bildungswesen<br />

– etwa von <strong>der</strong> Schule in Ausbildung – müssen so<br />

gestaltet werden, dass auch <strong>im</strong> System Benachteiligte<br />

mehr Chancen finden. Sie laufen Gefahr, die<br />

Aufstocker o<strong>der</strong> Langzeitarbeitslosen von morgen<br />

zu werden.<br />

3 Auch Nie<strong>der</strong>sachsen hat<br />

diesbezüglich in seinem<br />

aktuellen Koalitionsvertrag<br />

schon wichtige Weichen<br />

gestellt. Hier soll<br />

die Wirtschaftsför<strong>der</strong>ung<br />

konsequent an sozialen<br />

Kriterien ausgerichtet<br />

werden. Dies umfasst<br />

sowohl die Einhaltung<br />

von Tarifverträgen beziehungsweise<br />

gesetzlichen<br />

Mindestlöhnen als auch<br />

eine Höchstquote für<br />

Leiharbeit, Minijobs <strong>und</strong><br />

Befristungen. Vgl.<br />

Erneuerung <strong>und</strong> Zusammenhalt.<br />

Nachhaltige<br />

Politik für Nie<strong>der</strong>sachsen.<br />

Koalitionsvertrag<br />

zwischen SPD <strong>und</strong><br />

Bündnis 90/Die Grünen<br />

für die 17. Wahlperiode<br />

des Nie<strong>der</strong>sächsischen<br />

<strong>Land</strong>tages 2013 bis<br />

2018, S. 55.


34<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Für eine transparente <strong>und</strong><br />

effiziente Wirtschaftsför<strong>der</strong>ung<br />

D R . M A R I O N S A L O T<br />

1 Vgl. Alecke, Björn,<br />

Meyer, Stefan: ›Evaluierung<br />

<strong>der</strong> Darlehensvergabe<br />

<strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong><br />

Wirtschaftsför<strong>der</strong>ung<br />

des <strong>Land</strong>es Bremen,<br />

insbeson<strong>der</strong>e mit Blick<br />

auf die För<strong>der</strong>periode<br />

2014–2020 des<br />

Europäischen Fonds für<br />

regionale Entwicklung<br />

(EFRE)‹, Vorgelegt von:<br />

GEFRA – Gesellschaft<br />

für Finanz- <strong>und</strong> Regionalanalysen,<br />

Münster <strong>und</strong><br />

MR Gesellschaft für<br />

Regionalberatung mbH,<br />

Bremen, November<br />

2012, S. 126.<br />

2007 wurde <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen beschlossen,<br />

betriebliche Projekte statt über ›verlorene‹,<br />

nicht rückzahlbare Investitionszuschüsse<br />

zunehmend auch über die Vergabe von Darlehen<br />

zu för<strong>der</strong>n. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> knapper<br />

Haushaltsmittel sollen hierdurch die Transparenz<br />

<strong>und</strong> die Effizienz <strong>der</strong> Wirtschaftsför<strong>der</strong>ung<br />

erhöht werden. Diese Neuausrichtung<br />

wird seit 2008 <strong>im</strong> Rahmen des <strong>Land</strong>esinvestitionsför<strong>der</strong>programms<br />

(LIP) <strong>und</strong> seit 2009 <strong>im</strong><br />

Rahmen <strong>der</strong> Richtlinie <strong>zur</strong> betrieblichen<br />

För<strong>der</strong>ung von Forschung, Entwicklung <strong>und</strong><br />

Innovation (FEI-Richtlinie) angewendet. Über<br />

das LIP wurden seit 2008 38 Unternehmen<br />

über Zuschüsse <strong>und</strong> 22 Unternehmen über<br />

Darlehen geför<strong>der</strong>t. Außerdem erhielten 27<br />

Betriebe eine kombinierte För<strong>der</strong>ung aus<br />

Zuschüssen <strong>und</strong> Darlehen. Dabei wurden zwischen<br />

2008 <strong>und</strong> 2011 Zuschüsse in Höhe von<br />

14,8 Millionen Euro <strong>und</strong> Darlehen in Höhe<br />

von 31,25 Millionen Euro vergeben. Die<br />

Zuschussför<strong>der</strong>ung konzentrierte sich <strong>im</strong><br />

Wesentlichen auf die Branchen ›Herstellung<br />

von Metallerzeugnissen‹ <strong>und</strong> ›Maschinenbau‹.<br />

Auf diese beiden Bereiche entfielen alleine<br />

23,7 beziehungsweise 15 Prozent <strong>der</strong> insgesamt<br />

vergebenen För<strong>der</strong>mittel. Über die<br />

FEI-Richtlinie wurden 20 von insgesamt 56<br />

Unternehmen zwischen 2009 <strong>und</strong> 2011 mit<br />

Darlehen geför<strong>der</strong>t. In diesem Zeitraum<br />

wurden 2,8 Millionen Euro an Zuschüssen <strong>und</strong><br />

3,6 Millionen Euro an Darlehen gewährt.<br />

Darlehen haben dementsprechend bislang<br />

die Zuschussför<strong>der</strong>ung keineswegs ersetzt,<br />

son<strong>der</strong>n allenfalls ergänzt. Im Rahmen eines<br />

vom Senator für Wirtschaft, Arbeit <strong>und</strong> Häfen<br />

in Auftrag gegebenen Gutachtens wurde<br />

die Umstellung von Zuschuss- auf die Darlehensför<strong>der</strong>ung<br />

evaluiert. Die Gutachter kamen<br />

dabei zu dem Ergebnis, dass die Zahl <strong>der</strong><br />

geschaffenen Arbeitsplätze pro investierten<br />

Euro an För<strong>der</strong>mitteln zugenommen hat. Die<br />

Effizienz <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung durch die Vergabe<br />

von Darlehen ist dementsprechend deutlich<br />

gestiegen, Mitnahmeeffekte wurden vermieden<br />

<strong>und</strong> Haushaltsmittel eingespart. 1 Es wird<br />

aber auch festgestellt, dass kleinere Unternehmen<br />

nach <strong>der</strong> Umstellung weniger von <strong>der</strong><br />

För<strong>der</strong>ung profitieren als vorher.<br />

Die Gutachter schlagen vor, <strong>im</strong> Rahmen<br />

des LIP-Programms <strong>im</strong> Regelfall über Darlehen<br />

zu för<strong>der</strong>n. Nur noch in begründeten Fällen<br />

<strong>und</strong> für strukturpolitisch bedeutsame Investitionsvorhaben<br />

soll eine kombinierte För<strong>der</strong>ung<br />

von Darlehen <strong>und</strong> Zuschüssen als Max<strong>im</strong>alvariante<br />

möglich sein.<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Schuldenbremse<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Entscheidung für den Bau des Offshore-Terminals<br />

werden die finanziellen Handlungsspielräume<br />

in <strong>der</strong> Wirtschaftspolitik<br />

deutlich kleiner. Hierdurch gewinnt eine<br />

effiziente För<strong>der</strong>politik zunehmend an Bedeutung.<br />

Die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer schließt<br />

sich deshalb den Empfehlungen <strong>der</strong> Gutachter<br />

an. Zudem sollte vonseiten des Wirtschaftsressorts<br />

transparent gemacht werden, welche<br />

Projekte mit Darlehen geför<strong>der</strong>t werden, wann<br />

eine zusätzliche Vergabe von Zuschüssen<br />

erfolgt <strong>und</strong> auf welcher Gr<strong>und</strong>lage diese Entscheidungen<br />

getroffen werden. Sollte aus<br />

strukturpolitischen Erwägungen die Vergabe


von Zuschüssen sinnvoll sein, muss diese<br />

För<strong>der</strong>ung mit dem Einhalten <strong>der</strong> Kriterien<br />

guter Arbeit verknüpft werden. Dies beinhaltet<br />

auch die Berücksichtigung einer entsprechenden<br />

Leiharbeitsquote, wie es vonseiten des<br />

Wirtschaftssenators bereits zugesagt wurde.<br />

Angesichts <strong>der</strong> guten Erfahrungen, die mit<br />

<strong>der</strong> Darlehensför<strong>der</strong>ung gemacht wurden,<br />

sollte dieses Instrument <strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong> nächsten<br />

EFRE-För<strong>der</strong>periode zum Einsatz kommen,<br />

wie es SPD <strong>und</strong> Bündnis 90/Die Grünen bereits<br />

<strong>im</strong> Koalitionsvertrag vereinbart haben. Aus<br />

Sicht <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer sollte hierfür<br />

<strong>im</strong> Vorfeld ein Kriterienkatalog aufgestellt<br />

werden, wann eine För<strong>der</strong>ung ausschließlich<br />

über Darlehen erfolgt <strong>und</strong> wann eine kombinierte<br />

Vergabe von Zuschüssen <strong>und</strong> Darlehen<br />

ermöglicht wird.<br />

35


36<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

¢<br />

E X K U R S<br />

EU-Strukturpolitik in Bremen<br />

D R . G U I D O N I S C H W I T Z , I N S T I T U T A R B E I T U N D W I R T S C H A F T ( I A W )<br />

1 Siehe auch: Akademie<br />

für Raumforschung <strong>und</strong><br />

<strong>Land</strong>esplanung, ARL<br />

(Hrsg.) (2012): Ausgestaltung<br />

<strong>der</strong> EU-Strukturpolitik<br />

<strong>der</strong> För<strong>der</strong>periode<br />

2007–2013 in den<br />

norddeutschen B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n.<br />

Arbeitsmaterial<br />

358. Hannover.<br />

Nischwitz, Guido (2012):<br />

Das EFRE-Programm in<br />

Bremen 2007–2013.<br />

Struktur, Umsetzungsstand<br />

<strong>und</strong> Erfahrungen<br />

in <strong>der</strong> laufenden Programmplanungsperiode.<br />

IAW Arbeitspapier 2.<br />

Bremen.<br />

2 Vgl. Senatorin für Arbeit,<br />

Frauen, Ges<strong>und</strong>heit,<br />

Jugend <strong>und</strong> Soziales<br />

(2011): B<strong>und</strong>esprogramme<br />

mit arbeitsmarktpolitischem<br />

Bezug: <strong>Bericht</strong><br />

über die Einwerbung von<br />

För<strong>der</strong>mitteln <strong>im</strong> <strong>Land</strong><br />

Bremen. Vorlage für die<br />

Son<strong>der</strong>sitzung <strong>der</strong> staatlichen<br />

Deputation für<br />

Arbeit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

am 05.05.2011.<br />

3 Vgl. Senator für<br />

Wirtschaft <strong>und</strong> Häfen<br />

(2004): Einheitliches<br />

Programmplanungsdokument<br />

für die Ziel-2-<br />

För<strong>der</strong>ung 2000–2006<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen.<br />

Senator für Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Häfen (2007): Operationelles<br />

Programm.<br />

EFRE Bremen 2007–<br />

2013. Investition in<br />

Bremens Zukunft. Senatorin<br />

für Arbeit, Frauen,<br />

Ges<strong>und</strong>heit, Jugend <strong>und</strong><br />

Soziales (2007): Operationelles<br />

Programm für<br />

den Europäischen Sozialfonds<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen.<br />

Ziel: Regionale Wettbewerbsfähigkeit<br />

<strong>und</strong><br />

Beschäftigung. För<strong>der</strong>periode:<br />

2007 –2013.<br />

Die erheblichen strukturellen Umbrüche in<br />

<strong>der</strong> Bremer Wirtschaft unter an<strong>der</strong>em in den<br />

Bereichen Stahl-, Rüstungs- <strong>und</strong> Werftindustrie<br />

sind bis heute in ihren krisenhaften Folgen<br />

deutlich spürbar. Dies betrifft sowohl die<br />

Finanzkraft des <strong>Land</strong>es, den Arbeitsmarkt <strong>und</strong><br />

die Sozialstruktur als auch die städtische<br />

Entwicklung in Bremen <strong>und</strong> in Bremerhaven.<br />

Um diese Umbrüche zu bewältigen, profitiert<br />

das <strong>Land</strong> Bremen seit Ende <strong>der</strong> 1980-Jahre von<br />

den strukturpolitischen Maßnahmen <strong>und</strong><br />

Zuwendungen <strong>der</strong> Europäischen Union (EU). 1<br />

Wesentliche strukturpolitische Instrumente,<br />

die Bremen seit mehr als zwanzig Jahren<br />

nutzt, sind <strong>der</strong> Europäische Fonds für regionale<br />

Entwicklung (EFRE) <strong>und</strong> <strong>der</strong> Europäische<br />

Sozialfonds (ESF). In <strong>der</strong> aktuellen EU-Programmplanungsperiode<br />

2007–2013 stehen<br />

dem <strong>Land</strong> aus beiden Fonds zusammen r<strong>und</strong><br />

231 Millionen Euro <strong>zur</strong> Verfügung (vgl. Abb. 1).<br />

Weitere 37,3 Millionen Euro hat das <strong>Land</strong><br />

Bremen aus den ESF-Programmen des B<strong>und</strong>es<br />

erhalten. 2 Hinzu kommen noch Finanzmittel<br />

Abb. 1: Finanzielle Ausstattung <strong>der</strong> EU-<br />

Strukturfonds für das <strong>Land</strong> Bremen (2000–2020)<br />

EU-Fonds<br />

Europäische Fonds für<br />

regionale Entwicklung (EFRE)<br />

Europäische Sozialfonds (ESF)<br />

Fonds Ländlicher Raum (ELER)<br />

Europäischer Fischereifonds (EFF)<br />

För<strong>der</strong>periode Zuwendung<br />

seitens <strong>der</strong> EU in<br />

Millionen Euro<br />

2000 – 2006<br />

2007 – 2013<br />

2014 – 2020<br />

2000 – 2006<br />

2007 – 2013<br />

2014 – 2020<br />

2000 – 2006<br />

2007 – 2013<br />

2014 – 2020<br />

2000 – 2006<br />

2007 – 2013<br />

2014 – 2020<br />

117,96<br />

142,01<br />

ca. 90,00 – 100,00*<br />

139,60<br />

89,05<br />

ca. 40,00 – 50,00*<br />

15,00<br />

10,50<br />

ca. 10,00*<br />

22,90<br />

10,91<br />

n.b.<br />

Quellen: Eigene Zusammenstellung nach Senator für Wirtschaft <strong>und</strong> Häfen<br />

(2004, 2007); Senatorin für Arbeit, Frauen, Ges<strong>und</strong>heit, Jugend <strong>und</strong> Soziales<br />

(2007) 3 * Schätzung<br />

aus dem Europäischen <strong>Land</strong>wirtschaftsfonds<br />

für die Entwicklung des Ländlichen Raums<br />

(ELER) <strong>und</strong> dem Europäischen Fischereifonds<br />

(EFF).<br />

Alleine aus dem EFRE-Topf <strong>der</strong> EU konnte<br />

das zuständige Wirtschaftsressort zwischen<br />

1989 <strong>und</strong> 2013 r<strong>und</strong> 427 Millionen Euro an<br />

finanziellen Zuwendungen einwerben. Diese<br />

seit fast 25 Jahren kontinuierlich fließenden<br />

<strong>und</strong> vergleichsweise hohen Zuwendungen<br />

führen allerdings zu einer wachsenden Abhängigkeit<br />

von <strong>der</strong> Europäischen Strukturpolitik.<br />

Die regionale Wirtschafts- <strong>und</strong> Strukturpolitik<br />

des <strong>Land</strong>es Bremen erscheint ohne die För<strong>der</strong>ung<br />

seitens <strong>der</strong> EU kaum handlungsfähig.<br />

Der inhaltliche, finanzielle <strong>und</strong> personelle<br />

Gestaltungsspielraum des Wirtschaftsressorts<br />

wird dabei zunehmend begrenzt. Dies ist auch<br />

eine Folge einer stetigen Reduzierung von<br />

Investitionsmitteln, die <strong>der</strong> B<strong>und</strong> <strong>und</strong> insbeson<strong>der</strong>e<br />

das <strong>Land</strong> Bremen bereitstellen. Die<br />

Verringerung <strong>der</strong> ›frei‹ verfügbaren <strong>Land</strong>esmittel<br />

kollidiert mit <strong>der</strong> erfor<strong>der</strong>lichen<br />

Kofinanzierung von EFRE-Mitteln.<br />

Mit Blick auf die angespannte Haushaltslage,<br />

auf verän<strong>der</strong>te wirtschaftliche<br />

<strong>und</strong> för<strong>der</strong>politische Rahmenbedingungen<br />

<strong>und</strong> Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

hat das <strong>Land</strong> Bremen in den vergangenen<br />

Jahren eine Neujustierung seiner<br />

regionalen Struktur- <strong>und</strong> Wirtschaftspolitik<br />

vorgenommen. Im laufenden<br />

EFRE-Programm des <strong>Land</strong>es findet diese<br />

Neuorientierung Ausdruck in einer<br />

starken Fokussierung auf die Unterstützung<br />

eines Wissens- <strong>und</strong> Technologietransfers<br />

in <strong>der</strong> Region, einer<br />

För<strong>der</strong>ung innovativer Technologien<br />

sowie einer Stärkung <strong>der</strong> Anpassungsfähigkeit<br />

von Wirtschaftsstruktur <strong>und</strong><br />

Unternehmen. Mehr als zwei Drittel<br />

(94,8 Millionen Euro) <strong>der</strong> verfügbaren


37<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Abb. 2:<br />

EFRE-Bremen 2007–2013 Beispielprojekte nach Prioritätsachsen<br />

Prioritäten / För<strong>der</strong>bereiche/Projekte<br />

Gebiet<br />

Prioritätsachse 1 ›Wissen <strong>und</strong> Innovation voranbringen‹<br />

Initiierung <strong>und</strong> Aufbau eines<br />

Bremer Technologie-Centrums BRE-TeC<br />

Programm <strong>zur</strong> För<strong>der</strong>ung anwendungsnaher<br />

Umwelttechniken (PFAU)<br />

För<strong>der</strong>ung des Centers für Windenergie<br />

<strong>und</strong> Meerestechnik (CWMT)<br />

Institut für Raumfahrtsysteme<br />

För<strong>der</strong>ung des Fraunhofer-Instituts für<br />

Windenergie <strong>und</strong> Energiesystemtechnik IWES<br />

Überführung <strong>der</strong> MeVis Research GmbH in ein<br />

Institut <strong>der</strong> Fraunhofer-Gesellschaft<br />

Bremen<br />

<strong>Land</strong><br />

Bremerhaven<br />

Bremen<br />

Bremerhaven<br />

Bremen<br />

Projektvolumen<br />

davon EFRE<br />

insgesamt<br />

in Euro<br />

6.356.000<br />

10.008.481<br />

7.000.000<br />

19.000.000<br />

10.000.000<br />

11.000.000<br />

<strong>Land</strong>esinvestitionsför<strong>der</strong>programm (LIP)<br />

<strong>Land</strong><br />

n.b.<br />

Prioritätsachse 2 ›Städtische Wirtschafts- <strong>und</strong> Lebensräume aktivieren‹<br />

Quartiersbildungszentrum Robinsbalje<br />

Aufwertung des Stadtteilzentrums Leherheide<br />

Ansiedlungskonzept Offshore-Windenergie<br />

in Bremerhaven, 2. Bauabschnitt<br />

Bremen<br />

Bremerhaven<br />

Bremerhaven<br />

2.764.500<br />

1.935.000<br />

4.701.884<br />

Potenzialgebiet Überseestadt<br />

Erweiterung des Deutschen<br />

Bremen<br />

Bremerhaven<br />

19.546.000<br />

4.500.000<br />

Auswan<strong>der</strong>erhauses Bremerhaven<br />

Quelle: eigene Zusammenstellung nach www.efre-bremen.de/sixcms/detail.php?gsid=bremen59.c.2683.de<br />

(Zugriff am 29.10.12)<br />

3.178.000<br />

4.530.250<br />

2.750.000<br />

9.500.000<br />

4.520.000<br />

5.500.000<br />

11.600.000<br />

1.319.000<br />

967.500<br />

2.350.942<br />

9.773.000<br />

1.000.000<br />

EFRE-Mittel fließen in Maßnahmen <strong>der</strong> ersten<br />

Prioritätsachse ›Wissen <strong>und</strong> Innovation voranbringen‹.<br />

Das EFRE-Programm setzt insbeson<strong>der</strong>e<br />

bei den Innovations- <strong>und</strong> Kompetenzfel<strong>der</strong>n<br />

Umwelt- <strong>und</strong> Energiewirtschaft sowie <strong>der</strong><br />

Marit<strong>im</strong>en Wirtschaft seine Schwerpunkte. In<br />

den entsprechenden För<strong>der</strong>bereichen konnte<br />

das <strong>Land</strong> bis zum Oktober 2012 zwischen 85<br />

<strong>und</strong> 99 Prozent <strong>der</strong> vorgesehenen Finanzmittel<br />

für konkrete Projekte bewilligen. In einem<br />

hohen Maße wurden dabei größere Vorhaben<br />

<strong>der</strong> Forschungs- <strong>und</strong> Infrastruktur unterstützt<br />

(vgl. Abb. 2).<br />

Die zweite Prioritätsachse ›Städtische Wirtschafts-<br />

<strong>und</strong> Lebensräume aktivieren‹ konzentriert<br />

sich auf die Erschließung innerstädtischer<br />

Verdichtungs- <strong>und</strong> Attraktivierungspotenziale<br />

sowie auf die Verbesserung <strong>der</strong><br />

Lebensqualität in den beiden Städten Bremen<br />

<strong>und</strong> Bremerhaven. Knapp 31 Prozent <strong>der</strong> EFRE-<br />

Mittel (45,0 Millionen Euro) sind für entsprechende<br />

Projekte vorgesehen. Während das<br />

Budget für Stadtentwicklungsprojekte,<br />

insbeson<strong>der</strong>e für die Stadt Bremen, fast ausgeschöpft<br />

ist, stand <strong>im</strong> Herbst 2012 für die Entwicklung<br />

von Wirtschaftsräumen noch r<strong>und</strong><br />

ein Drittel <strong>der</strong> Finanzmittel <strong>zur</strong> Verfügung.<br />

Von den bewilligten EFRE-Mitteln, die sich<br />

eindeutig den beiden Städten Bremen <strong>und</strong><br />

Bremerhaven zuordnen lassen, entfällt bislang<br />

r<strong>und</strong> ein Drittel auf die Stadt Bremerhaven.<br />

Dabei setzt Bremerhaven seine Schwerpunkte<br />

auf die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Forschungs- <strong>und</strong> Wirtschaftsinfrastruktur<br />

(vgl. Abb. 2).


38<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

4 Vgl. Senator für<br />

Wirtschaft <strong>und</strong><br />

Häfen/Prognos AG<br />

(2010): Analyse zu den<br />

Wirkungen <strong>der</strong> EFRE-<br />

För<strong>der</strong>ung auf das regionale<br />

Innovationssystem<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen.<br />

5 Vgl. Nischwitz,<br />

Guido/Douglas,<br />

Martyn/Knutz, Thade<br />

(2012): Die EU-Kohäsions-<br />

<strong>und</strong> Strukturpolitik<br />

ab 2014. Hintergr<strong>und</strong>,<br />

Rahmensetzungen<br />

<strong>und</strong> aktuelle Diskussion.<br />

IAW Arbeitspapier 1.<br />

6 Mit <strong>der</strong> Einigung auf<br />

eine Obergrenze an<br />

Verpflichtungsermächtigungen<br />

in Höhe von<br />

959,9 Milliarden Euro<br />

liegen die Finanzmittel<br />

73 Milliarden Euro unter<br />

den Vorschlägen <strong>der</strong><br />

EU-Kommission sowie<br />

35,2 Millionen Euro<br />

unter dem letzten<br />

EU-Haushalt.<br />

Fazit EU-För<strong>der</strong>periode 2007–2013<br />

Bis Ende 2012 konnten in Bremen knapp 82<br />

Prozent <strong>der</strong> EFRE-Mittel für konkrete Projekte<br />

<strong>zur</strong> Verfügung gestellt werden. Diese vergleichsweise<br />

hohe Mittelbindung ergibt sich<br />

aus einer gewissen Kontinuität in <strong>der</strong> Innovationsför<strong>der</strong>ung,<br />

aus zahlreichen Folgeprojekten<br />

<strong>im</strong> Bereich <strong>der</strong> Forschungsinfrastruktur sowie<br />

<strong>der</strong> anhaltenden Restrukturierung von Hafen<strong>und</strong><br />

Industriegebieten. Demgegenüber fällt<br />

<strong>der</strong> geringe Umsetzungsstand (50 Prozent) in<br />

den Bereichen ab, die unter <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>führung<br />

des Arbeitsressorts liegen. Projektideen konnten<br />

nicht umgesetzt <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> Komplementärmittel<br />

seitens <strong>der</strong> Unternehmen nicht aufgebracht<br />

werden. Darüber hinaus erscheinen<br />

einige <strong>im</strong> EFRE-Programm aufgeführten Zielwerte,<br />

was die Anzahl an Projekten, Investitionen<br />

<strong>und</strong> Arbeitsplätzen betrifft, kaum bis<br />

zum Ende des Programms realisierbar.<br />

In einer Gesamtschau hat sich das aktuelle<br />

EFRE-Programm mit seiner schlanken, flexiblen<br />

<strong>und</strong> offenen Struktur bewährt. Die Fokussierung<br />

auf die zwei Prioritätsachsen hat<br />

sowohl bei den regionalen Innovationsaktivitäten<br />

als auch in <strong>der</strong> Stadtentwicklung wichtige<br />

Impuls- <strong>und</strong> Finanzierungsfunktionen<br />

übernommen. 4<br />

Ausblick EU-För<strong>der</strong>periode 2014–2020<br />

Seit Oktober 2011 liegen seitens <strong>der</strong> EU-Kommission<br />

Vorschläge <strong>zur</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> neuen<br />

Programmplanungsperiode 2014–2020 vor. 5<br />

Die reformierte EU-Kohäsions- <strong>und</strong> Strukturpolitik<br />

soll stärker <strong>zur</strong> Bewältigung <strong>der</strong> anhaltenden<br />

Wirtschafts- <strong>und</strong> Finanzkrise beitragen<br />

<strong>und</strong> die neue ›Europa 2020‹-Strategie unterstützen.<br />

Erst Anfang Februar 2013 konnten sich<br />

die 27 europäischen Regierungs- <strong>und</strong> Staatschefs<br />

über die Höhe <strong>und</strong> Eckpunkte des kommenden<br />

EU-Haushalts verständigen. 6 Allerdings<br />

bedarf es noch einer Zust<strong>im</strong>mung des<br />

Europaparlaments. Von daher liegen <strong>zur</strong>zeit<br />

keine rechtsverbindlichen Vorgaben <strong>der</strong> EU<br />

<strong>zur</strong> finanziellen Ausstattung <strong>und</strong> <strong>zur</strong> inhaltlichen<br />

Ausgestaltung des neuen EFRE vor. Dennoch<br />

lassen sich folgende Entwicklungstrends<br />

ablesen: Bremen wird in die Kategorie ›stärker<br />

entwickelte Regionen‹ eingeordnet. Das <strong>Land</strong><br />

muss mit deutlich weniger Finanzmitteln aus<br />

den Strukturfonds auskommen. Allein be<strong>im</strong><br />

EFRE werden die Zuwendungen von 142 Millionen<br />

Euro in <strong>der</strong> laufenden För<strong>der</strong>periode auf<br />

max<strong>im</strong>al 90 bis 100 Millionen Euro sinken<br />

(siehe Abb. 1). Bei einer Abfrage <strong>der</strong> beteiligten<br />

Ressorts wurde aber ein Mittelbedarf von<br />

267 Millionen Euro gemeldet. Die verfügbaren<br />

Finanzmittel werden auf elf thematische Ziele<br />

konzentriert. Zwischen 60 <strong>und</strong> 80 Prozent<br />

<strong>der</strong> EFRE-Mittel sind für die drei Zielbereiche<br />

Innovation, Wettbewerbsfähigkeit von kleinen<br />

<strong>und</strong> mittleren Unternehmen (KMU) <strong>und</strong> die<br />

Verringerung von CO2-Emissionen bereitzustellen.


39<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Das Wirtschaftsressort hat Ende 2012 ein<br />

überarbeitetes EFRE-Programmschema für<br />

2014–2020 vorgelegt. 7 Demnach würde das<br />

<strong>Land</strong> in die Verhandlungen mit <strong>der</strong> EU ab dem<br />

Frühsommer 2013 mit einer Verdopplung<br />

auf vier Prioritätsachsen gehen:<br />

❚ unternehmensorientierte Innovationssysteme<br />

(EFRE-Mittelvolumen: 40 Prozent),<br />

❚ Diversifizierung <strong>und</strong> Spezialisierung <strong>der</strong><br />

Wirtschaftsstruktur (20 Prozent),<br />

❚ CO2-effizienzte Wirtschafts- <strong>und</strong> Stadtstruktur<br />

(20 Prozent) <strong>und</strong><br />

❚ städtische Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialräume<br />

(16 Prozent).<br />

Inwieweit diese vergleichsweise breite<br />

Programmstruktur in <strong>der</strong> EU-Kommission auf<br />

Zust<strong>im</strong>mung stößt, ist mehr als fraglich.<br />

Dieses wi<strong>der</strong>spricht den Vorgaben <strong>der</strong> EU-<br />

Kommission, sowohl Finanzmittel als auch<br />

Themen auf weniger För<strong>der</strong>achsen zu konzentrieren.<br />

Es besteht zudem die Gefahr, dass<br />

die Fokussierung auf Innovation zusammen<br />

mit <strong>der</strong> Kürzung <strong>der</strong> EFRE-Mittel eine För<strong>der</strong>ung<br />

benachteiligter Stadtteile <strong>im</strong> <strong>Land</strong><br />

Bremen deutlich erschwert. Mit einem EFRE-<br />

Budget von r<strong>und</strong> zwei Millionen Euro pro<br />

Jahr sind die Impuls- <strong>und</strong> Finanzierungsfunktionen<br />

für eine nachhaltige Stadtentwicklungspolitik<br />

begrenzt.<br />

For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

an das EFRE-Programm 2014–2020<br />

Mit dem EFRE-Programm werden sowohl<br />

in programmatischer, als auch in finanzieller<br />

Hinsicht wichtige wirtschaftspolitische<br />

Weichen bis zum Jahr 2020 gestellt. Da bereits<br />

jetzt deutlich wird, dass die <strong>zur</strong> Verfügung<br />

gestellten Mittel nicht ausreichen werden, um<br />

die gemeldeten Mittelbedarfe <strong>der</strong> Ressorts<br />

abzudecken, wird eine gezielte Prioritätensetzung<br />

hinsichtlich <strong>der</strong> zu för<strong>der</strong>nden Projekte<br />

<strong>im</strong>mer wichtiger.<br />

❚ Aus Sicht <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer werden deshalb<br />

bei <strong>der</strong> Auswahl <strong>der</strong> Projekte nicht nur die Anzahl,<br />

son<strong>der</strong>n auch die Qualität <strong>der</strong> <strong>im</strong> Zuge <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung<br />

entstehenden <strong>und</strong> gesicherten Arbeitsplätze<br />

eine Rolle spielen. Dies bezieht sich nicht nur auf<br />

Höhe <strong>der</strong> Leiharbeitsquote in den Unternehmen,<br />

die von <strong>der</strong> EFRE-För<strong>der</strong>ung profitieren. Auch die<br />

Anzahl <strong>der</strong> Minijobs muss hier Berücksichtigung<br />

finden. Prioritär geför<strong>der</strong>t werden sollten Unternehmen,<br />

die nach Tarif bezahlen, über einen Betriebsrat<br />

verfügen <strong>und</strong> eine noch festzulegende Ausbildungsquote<br />

erfüllen.<br />

❚ Denkbar wäre es außerdem, positive Beispiele<br />

<strong>im</strong> Bereich ›Vereinbarkeit von Familie <strong>und</strong> Beruf‹<br />

entsprechend zu belohnen.<br />

❚ Vor dem Hintergr<strong>und</strong> knapper Haushaltsmittel<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Ergebnisse des Gutachtens <strong>zur</strong> Evaluierung<br />

<strong>der</strong> Umstellung <strong>der</strong> Wirtschaftsför<strong>der</strong>ung auf die<br />

Vergabe von Darlehen, sollte dieses Instrument auch<br />

<strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong> EFRE-För<strong>der</strong>ung <strong>zur</strong> Anwendung<br />

kommen (vgl. Beitrag ›Für eine transparente <strong>und</strong><br />

effiziente Wirtschaftsför<strong>der</strong>ung, S. 34 f.‹).<br />

❚ Wichtig ist außerdem, eine stärkere Verzahnung<br />

mit dem ESF anzustreben. Sowohl die Bekämpfung<br />

<strong>der</strong> Langzeitarbeitslosigkeit als auch die Probleme<br />

<strong>im</strong> Bereich des Fachkräftebedarfs erfor<strong>der</strong>n ein<br />

besseres <strong>und</strong> gezieltes Abst<strong>im</strong>men von Wirtschafts<strong>und</strong><br />

Arbeitsmarktpolitik; insbeson<strong>der</strong>e vor dem<br />

Hintergr<strong>und</strong> <strong>der</strong> starken Fokussierung des EFRE auf<br />

Innovationsprojekte.<br />

❚ In Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven besteht weiterhin<br />

erheblicher Nachholbedarf bei <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung<br />

benachteiligter Stadtteile. Da die auf B<strong>und</strong>esebene<br />

hierzu bereitgestellten Mittel deutlich gekürzt<br />

wurden, sollte dieser För<strong>der</strong>bereich <strong>im</strong> Rahmen<br />

des EFRE-Programms weiterhin ein wichtiger<br />

Schwerpunkt bleiben.<br />

7 Vgl. Senator für Wirtschaft,<br />

Arbeit <strong>und</strong> Häfen<br />

(2013): Vorlage für<br />

die Sitzung des Senats<br />

am 29.01.2013. Neue<br />

EU-För<strong>der</strong>periode ab<br />

2014. ›Programmierung<br />

ESF <strong>und</strong> EFRE‹.


40<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Arbeitsmarktpolitik<br />

Kürzungen <strong>und</strong> neue Instrumente als doppelte Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

R E G I N E G E R A E D T S<br />

1 Alle Daten in diesem<br />

Abschnitt sind den<br />

Materialen <strong>zur</strong> Pressemitteilung<br />

<strong>der</strong> Agentur<br />

für Arbeit Bremen-<br />

Bremerhaven vom<br />

3. Januar 2013 entnommen,<br />

wenn nicht an<strong>der</strong>s<br />

vermerkt.<br />

2 Vgl. Statistik <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur<br />

für Arbeit:<br />

Analytikreport <strong>der</strong><br />

Statistik, Analyse des<br />

Arbeitsmarkts Bremen,<br />

Dezember 2012.<br />

3 Vgl. Statistik <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur<br />

für Arbeit,<br />

Analytikreport <strong>der</strong><br />

Statistik, Arbeitslosigkeit<br />

nach Rechtskreisen<br />

in Bremen <strong>im</strong> Dezember<br />

2012.<br />

B<strong>und</strong>esweit wurde mit zwei Rekorden über die<br />

Arbeitsmarktbilanz des Jahres 2012 berichtet.<br />

›Neuer Höchststand bei Erwerbstätigen‹ <strong>und</strong><br />

›Tiefstand bei Arbeitslosigkeit‹ st<strong>im</strong>mten auch<br />

die Bremer Lokalpresse in den ersten Tagen<br />

nach dem Jahreswechsel ein. Bei genauerem<br />

Hinsehen hat sich <strong>der</strong> Arbeitsmarkt in Bremen<br />

allerdings kaum entspannt. Nur in Bremerhaven<br />

hat sich ein positiver Trend durchsetzen<br />

können. Dort gingen die Arbeitslosenzahlen<br />

<strong>zur</strong>ück.<br />

Die Kernprobleme aber sind geblieben.<br />

Die Langzeitarbeitslosigkeit hat sich weiter verfestigt<br />

<strong>und</strong> vor allem die große Gruppe <strong>der</strong><br />

Ungelernten droht dauerhaft auf <strong>der</strong> Verliererseite<br />

des Arbeitsmarkts zu stehen. Für Bremen<br />

<strong>und</strong> Bremerhaven sind die Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

enorm. Die regionale Arbeitsmarktpolitik<br />

muss neue Antworten finden.<br />

Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> Unterbeschäftigung<br />

bleiben auf hohem Niveau<br />

Von einem Rückgang <strong>der</strong> registrierten Arbeitslosen<br />

wie <strong>im</strong> B<strong>und</strong> kann <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

für das Jahr 2012 kaum die Rede sein. Jahresdurchschnittlich<br />

waren r<strong>und</strong> 36.800 Menschen<br />

arbeitslos gemeldet <strong>und</strong> damit 1,7 Prozent<br />

weniger als <strong>im</strong> Vorjahr. 1 Dabei entwickelte sich<br />

die Situation in Bremerhaven positiv. Dort<br />

sank die Arbeitslosenzahl von jahresdurchschnittlich<br />

8.950 auf 8.300 Menschen <strong>und</strong> die<br />

Arbeitslosenquote von 16,3 auf 14,9 Prozent.<br />

In Bremen-Stadt dagegen stagnierte die Arbeitslosenzahl<br />

<strong>und</strong> blieb mit 28.500 auf dem Vorjahresniveau.<br />

Dabei zeichnet die registrierte Arbeitslosigkeit<br />

nur ein unvollständiges Bild. Der Status<br />

<strong>der</strong> Arbeitslosigkeit ist nämlich gesetzlich so<br />

definiert, dass einige Gruppen statistisch nicht<br />

als arbeitslos zählen, obwohl sie es eigentlich<br />

sind. Dazu gehören Teilnehmerinnen <strong>und</strong><br />

Teilnehmer von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen,<br />

Menschen, die kurzfristig arbeitsunfähig<br />

erkrankt sind <strong>und</strong> ein Teil <strong>der</strong> älteren<br />

Arbeitslosen. Die Arbeitslosenstatistik berichtet<br />

deshalb ergänzend über die ›Unterbeschäftigung‹.<br />

Diese Daten sollen zeigen, wie viel<br />

höher die Arbeitslosigkeit <strong>im</strong> Gr<strong>und</strong>e ist. Im<br />

Monat Dezember 2012 waren <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

etwa 35.900 Menschen arbeitslos registriert,<br />

aber 48.900 Menschen waren unterbeschäftigt.<br />

2 Arbeitslos waren ähnlich viele, unterbeschäftigt<br />

etwa 1.300 Menschen weniger als<br />

<strong>im</strong> Vorjahresmonat.<br />

Betrachtet man die Arbeitslosigkeit nach<br />

Strukturmerkmalen, fällt <strong>der</strong> sehr hohe Anteil<br />

<strong>der</strong> Langzeitarbeitslosen <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen auf.<br />

Er erreichte <strong>im</strong> Dezember 2012 die 45-Prozent-<br />

Marke. In <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>sicherung/Hartz IV war<br />

sogar mehr als je<strong>der</strong> zweite Arbeitslose zwölf<br />

Monate o<strong>der</strong> länger durchgehend ohne Arbeit.<br />

Dabei erfasst auch hier die statistische Definition<br />

nicht die ganze Realität. Wird die Arbeitslosigkeit<br />

nämlich beispielsweise durch eine<br />

Weiterbildungsmaßnahme, eine Arbeitsgelegenheit<br />

o<strong>der</strong> eine kurzfristige Arbeitsaufnahme<br />

unterbrochen, gilt sie nicht mehr<br />

als durchgehend. Die Langzeitarbeitslosigkeit<br />

endet dann scheinbar <strong>und</strong> die Zählung <strong>der</strong><br />

Dauer beginnt wie<strong>der</strong> bei null.<br />

Ebenfalls sehr auffällig ist <strong>der</strong> mit 60<br />

Prozent sehr hohe Anteil <strong>der</strong> Arbeitslosen<br />

ohne Berufsabschluss. Auch dieses Merkmal<br />

ist in <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>sicherung/Hartz IV stärker<br />

ausgeprägt. Mit r<strong>und</strong> 20.000 Menschen fehlt<br />

mehr als zwei Dritteln eine abgeschlossene<br />

Ausbildung als wichtige Voraussetzung für<br />

den erfolgreichen <strong>und</strong> dauerhaften Einstieg in<br />

Beschäftigung. 3


41<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Abb. 1:<br />

Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> Unterbeschäftigung <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

80.000<br />

70.000<br />

65.680 66.772 66.703 66.535 66.396 65.543 65.366<br />

60.000<br />

50.000<br />

40.000<br />

50.229 51.272 50.847 49.960 50.120 48.947 48.913<br />

35.477 37.305 37.921 36.502 37.697 36.248 35.881<br />

30.000<br />

20.000<br />

10.000<br />

0<br />

Dez 11<br />

Jan 12<br />

Feb 12<br />

Mrz 12<br />

Apr 12<br />

Mai 12<br />

Jun 12<br />

Jul 12<br />

Aug 12<br />

Sep 12<br />

Okt 12<br />

Nov 12<br />

Dez 12<br />

Jan 13<br />

registrierte Arbeitslosigkeit<br />

Unterbeschäftigung (ohne Kurzarbeit)<br />

Beziehende von Arbeitslosengeld II (erwerbsfähige Leistungsberechtigte)<br />

Quelle: Statistik <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit<br />

Arbeitslosigkeit ist kein fest gefügter Block,<br />

sie ist beständig in Bewegung. Sie n<strong>im</strong>mt ab,<br />

wenn mehr Arbeitslose aus <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit<br />

abgehen o<strong>der</strong> wenn weniger Beschäftigte<br />

arbeitslos werden. Im Idealfall geschieht beides<br />

gleichzeitig, bei ungünstiger Entwicklung<br />

verlaufen die Ströme an<strong>der</strong>sherum. Zwar ist<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen <strong>der</strong> Zustrom in Arbeitslosigkeit<br />

etwa unverän<strong>der</strong>t geblieben. Doch <strong>im</strong><br />

Verlauf des Jahres 2012 ließ sich eine Trendverän<strong>der</strong>ung<br />

ausmachen. Im Arbeitslosenversicherungssystem,<br />

das unmittelbarer auf konjunkturelle<br />

Verän<strong>der</strong>ungen reagiert, stiegen<br />

die Arbeitslosenzahlen um insgesamt 2,6 Prozent,<br />

nachdem 2011 noch ein stabiler Rückgang<br />

zu verzeichnen gewesen war. Gleichzeitig<br />

sind die Chancen gesunken, aus <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit<br />

heraus einen neuen Arbeitsplatz zu<br />

finden. Insgesamt wurden bei <strong>der</strong> Agentur<br />

für Arbeit Bremen-Bremerhaven 10,4 Prozent<br />

weniger offene Arbeitsstellen gemeldet als<br />

noch <strong>im</strong> Vorjahr. Die Dynamik auf dem Bremer<br />

Arbeitsmarkt ist also deutlich rückläufig.<br />

Joboffensive – neue Spaltung am<br />

schwierigen Arbeitsmarkt für Arbeitslose<br />

In dieser Situation entschieden die Arbeitsverwaltung<br />

<strong>und</strong> das <strong>Land</strong> Bremen, das Konzept<br />

des Berliner Modellprojekts ›Joboffensive‹<br />

auf die Jobcenter in Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven<br />

zu übertragen. Die ›Joboffensive‹ war in Berlin<br />

<strong>im</strong> Juni 2011 in einer konjunkturell guten<br />

Arbeitsmarktphase gestartet. Der wachsende<br />

Personalbedarf von regionalen Unternehmen<br />

sollte auch aus den Potenzialen <strong>der</strong> Jobcenter<br />

gedeckt werden. In Bremen ist das Projekt<br />

dagegen seit März 2013 unter an<strong>der</strong>en Arbeitsmarktvorzeichen<br />

gestartet. Das Ziel ist ungeachtet<br />

dieser unterschiedlichen Ausgangslagen<br />

identisch: die schnelle Vermittlung von<br />

sogenannten ›marktnahen‹ Arbeitslosen.<br />

Etwa 7.700 Menschen hat das Jobcenter<br />

Bremen als ›marktnah‹ identifiziert. Sie sind<br />

eher gut qualifiziert <strong>und</strong> die Prognose, innerhalb<br />

von sechs bis max<strong>im</strong>al zwölf Monaten<br />

eine Arbeitsstelle zu finden, gilt als positiv. Im<br />

Rahmen des Projekts ›Joboffensive‹ wird diese


42<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

4 Interview mit Götz von<br />

Einem, Kurier am Sonntag,<br />

27. Januar 2013.<br />

5 Siehe beispielsweise<br />

Stellungnahme <strong>der</strong><br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

für die öffentliche<br />

Anhörung von Sachverständigen<br />

<strong>im</strong> B<strong>und</strong>estagsausschuss<br />

für<br />

Arbeit <strong>und</strong> Soziales am<br />

5. September 2011.<br />

Gruppe in speziellen Teams mit einem Personalschlüssel<br />

von 1:100 betreut. Mit einer mindestens<br />

vierzehntägigen Termindichte <strong>und</strong><br />

dem Stellenangebot des Arbeitgeberservice <strong>der</strong><br />

Agentur für Arbeit soll die schnelle Integration<br />

in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung<br />

erreicht werden.<br />

Mit etwa 32.000 Menschen gilt die weit<br />

überwiegende Mehrheit <strong>der</strong> Arbeitsuchenden<br />

<strong>im</strong> Jobcenter Bremen dagegen als ›marktfern‹.<br />

Bei ihnen gehen die Prognosen von einem<br />

höheren För<strong>der</strong>bedarf <strong>und</strong> einem mittel- o<strong>der</strong><br />

sogar langfristigen Zeithorizont bis <strong>zur</strong><br />

Arbeitsmarktintegration aus. Das Konzept <strong>der</strong><br />

›Joboffensive‹ sieht vor, dass diese Gruppe in<br />

sogenannten Basis-Teams mit einem deutlich<br />

schlechteren Personalschlüssel von 1:214<br />

betreut wird.<br />

Im Ergebnis schafft das Modellprojekt<br />

innerhalb des Gr<strong>und</strong>sicherungssystems Strukturen<br />

für Arbeitsuchende erster <strong>und</strong> zweiter<br />

Klasse, für ›produktive‹ <strong>und</strong> für ›unproduktive‹<br />

Arbeitslose. Wenn personelle Ressourcen <strong>und</strong><br />

För<strong>der</strong>mittel konsequent auf ›marktnahe‹ Menschen<br />

konzentriert werden, drohen Menschen<br />

mit mehr Unterstützungsbedarf weiter ins<br />

Abseits zu geraten. Das Konzept ›Joboffensive‹<br />

erklärt zudem die ›schnelle Vermittlung‹ zum<br />

›Kerngeschäft‹ <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>sicherung/Hartz IV<br />

<strong>und</strong> treibt damit das Pr<strong>im</strong>at <strong>der</strong> kurzfristigen<br />

Arbeitsmarktintegration auf die Spitze (siehe<br />

dazu auch den Beitrag ›Qualifizieren statt<br />

Aktivieren‹, S. 46 ff.).<br />

Anlass <strong>zur</strong> Sorge bieten auch die potenziellen<br />

Zielbranchen <strong>im</strong> Projekt ›Joboffensive‹.<br />

Manche Arbeitgeber bedienen sich bevorzugt<br />

<strong>der</strong> Vermittlungsdienstleistungen <strong>der</strong> Arbeitsagentur,<br />

wenn sie auf dem Markt nicht genügend<br />

Kräfte finden. Die Wahlmöglichkeiten<br />

von Arbeitslosen sind gesetzlich begrenzt <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Druck ist hoch, auch unattraktive Stellen<br />

anzunehmen. Mit jahresdurchschnittlich 50<br />

Prozent des Stellenangebots ist die Zeitarbeitsbranche<br />

<strong>der</strong> mit Abstand größte Nachfrager<br />

be<strong>im</strong> Arbeitgeberservice Bremen-Bremerhaven.<br />

4 Wenn die Zielbranchen <strong>der</strong> ›Joboffensive‹<br />

aber strukturell durch hohe Personalfluktuation<br />

<strong>und</strong> einen überdurchschnittlichen Anteil<br />

prekärer Beschäftigung gekennzeichnet wären,<br />

dann könnte <strong>der</strong> Preis für schnelle Vermittlungserfolge<br />

die kurzlebige Integration in<br />

prekäre Beschäftigung sein. Drehtüreffekte<br />

<strong>und</strong> Zuwächse be<strong>im</strong> ergänzenden Leistungsbezug<br />

wären die he<strong>im</strong>lichen Begleiterscheinungen.<br />

Es wird darauf ankommen, die Umsetzung<br />

des Projekts kritisch zu begleiten <strong>und</strong> die<br />

Ergebnisse differenziert zu evaluieren. Arbeitslose<br />

so schnell wie möglich in sozialversicherungspflichtige<br />

Beschäftigung zu integrieren<br />

ist ein richtiges Ziel. Allerdings muss die<br />

Entwicklung nachhaltiger Arbeitsmarktperspektiven<br />

<strong>und</strong> die Vermittlung in existenzsichernde<br />

Arbeit Vorrang haben, übrigens auch<br />

<strong>im</strong> Sinne einer weitsichtigen regionalen Fachkräftestrategie.<br />

Auf die eigentlichen Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> regionalen Arbeitsmarktpolitik<br />

– verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit<br />

<strong>und</strong> ein hoher Anteil Ungelernter – findet<br />

die ›Joboffensive‹ keine Antworten.<br />

Instrumentenreform <strong>und</strong> massive<br />

Mittelkürzungen best<strong>im</strong>men<br />

die Arbeitsmarktpolitik<br />

Das Modellprojekt ›Joboffensive‹ konzentriert<br />

die Ressourcen <strong>der</strong> Jobcenter auf die Gruppen,<br />

die mit geringen Kosten schnell in Arbeit<br />

integrierbar sind. In dieser Gr<strong>und</strong>ausrichtung<br />

st<strong>im</strong>mt das Konzept überein mit den Intentionen<br />

des Gesetzes <strong>zur</strong> Verbesserung <strong>der</strong> Einglie<strong>der</strong>ungschancen<br />

am Arbeitsmarkt, kurz<br />

Instrumentenreform, das seit dem 1. April<br />

2012 den gesetzlichen Rahmen <strong>der</strong> regionalen<br />

Arbeitsmarktpolitik bildet.<br />

Die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer hatte <strong>im</strong> Vorfeld<br />

ausführlich <strong>und</strong> kritisch Stellung dazu<br />

genommen. 5 Eine einschneidende Wende hat<br />

es bei <strong>der</strong> öffentlich geför<strong>der</strong>ten Beschäftigung<br />

gegeben, <strong>der</strong> zweiten großen Säule in <strong>der</strong><br />

Arbeitsför<strong>der</strong>ung.


43<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Zwar war <strong>der</strong> Großteil <strong>der</strong> Maßnahmen <strong>im</strong><br />

<strong>Land</strong> Bremen noch nach altem Recht bewilligt<br />

worden, so dass die ganz großen Einschnitte<br />

<strong>im</strong> Jahr 2012 ausblieben. Nach <strong>der</strong>en Auslaufen<br />

Anfang 2013 wird es nun aber deutlich<br />

schwieriger, sinnstiftende <strong>und</strong> zugleich an<br />

Stadtteilbedarfen orientierte Tätigkeitsfel<strong>der</strong><br />

zu entwickeln. Denn die Arbeitsgelegenheiten<br />

als wichtigstes Instrument wurden in Ausgestaltung<br />

<strong>und</strong> Dauer erheblich beschnitten.<br />

Die Anfor<strong>der</strong>ungen an ihre Zusätzlichkeit <strong>und</strong><br />

das öffentliche Interesse wurden erhöht <strong>und</strong><br />

darüber hinaus das Kriterium <strong>der</strong> Wettbewerbsneutralität<br />

eingeführt. Erste Erfahrungen<br />

mit den neuen Prüfpraktiken haben gezeigt,<br />

dass sie nur schwer mit lokalen Zielsetzungen<br />

<strong>und</strong> Stadtteilinteressen in Einklang zu bringen<br />

sind. Außerdem kann flankierende Unterstützung<br />

für die Teilnehmenden wie die persönliche<br />

Stabilisierung, individuelle Qualifizierung<br />

o<strong>der</strong> die Erarbeitung beruflicher Alternativen<br />

nun nicht mehr integriert angeboten<br />

werden. Erste Versuche, Arbeitsgelegenheiten<br />

mit den neu eingeführten ›Aktivierungsgutscheinen‹<br />

zu verknüpfen <strong>und</strong> den Teilnehmenden<br />

auch weiterhin Qualifizierung zu ermöglichen,<br />

zeigten vor allem, wie hoch die<br />

bürokratischen Hürden dafür sind.<br />

Arbeitsgelegenheiten in <strong>der</strong> sozialversicherungspflichtigen<br />

Entgeltvariante sind seit<br />

<strong>der</strong> Reform nicht mehr möglich <strong>und</strong> laufen<br />

aus. Das neue sozialversicherungspflichtige<br />

Instrument ›För<strong>der</strong>ung von Arbeitsverhältnissen‹<br />

wurde bisher kaum genutzt. Im Dezember<br />

2012 waren <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen erst 183 Plätze<br />

geschaffen. In Arbeitsgelegenheiten als<br />

›Ein-Euro-Jobs‹ waren dagegen 2.488 Menschen<br />

beschäftigt.<br />

Es bleibt zweifelhaft, wie es unter den neuen<br />

Bedingungen gelingen kann, einen Bremer<br />

Weg fortzusetzen, <strong>der</strong> idealtypisch Individualför<strong>der</strong>ung<br />

<strong>und</strong> sozialräumliche Strukturför<strong>der</strong>ung<br />

in öffentlich geför<strong>der</strong>ter Beschäftigung<br />

miteinan<strong>der</strong> verbindet, <strong>der</strong> die sozialintegrative<br />

D<strong>im</strong>ension <strong>der</strong> Arbeitsför<strong>der</strong>ung<br />

unterstreicht <strong>und</strong> schließlich einen För<strong>der</strong>schwerpunkt<br />

in <strong>der</strong> sozialversicherten Variante<br />

setzt.<br />

Mit <strong>der</strong> Instrumentenreform verband die<br />

B<strong>und</strong>esregierung das Ziel, die schnelle <strong>und</strong><br />

effiziente Arbeitsmarktintegration in den<br />

Fokus zu rücken, das Maßnahmerepertoire zu<br />

straffen <strong>und</strong> schließlich Kosten bei <strong>der</strong> Arbeitsför<strong>der</strong>ung<br />

einzusparen. Das ist gelungen, denn<br />

quantitativ ließ sich <strong>im</strong> Jahr 2012 über alle<br />

arbeitsmarktpolitischen Instrumente hinweg<br />

eine rückläufige Entwicklung beobachten,<br />

so auch <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen. Nur noch jahresdurchschnittlich<br />

9.976 Menschen nahmen an<br />

arbeitsmarktpolitischen För<strong>der</strong>maßnahmen<br />

teil. Das waren <strong>im</strong> Bestand 17,8 Prozent weniger<br />

als <strong>im</strong> Vorjahr. In <strong>der</strong> beruflichen Weiterbildung<br />

gingen die Teilnahmezahlen um<br />

15,4 Prozent <strong>zur</strong>ück, bei den Beschäftigung<br />

schaffenden Maßnahmen war <strong>der</strong> durchschnittliche<br />

Bestand um 10,4 Prozent niedriger<br />

als <strong>im</strong> Vorjahr. Beson<strong>der</strong>s große Rückgänge<br />

waren mit einem Minus von 38 Prozent <strong>im</strong><br />

Bereich geför<strong>der</strong>ter Selbstständigkeit zu<br />

verzeichnen. 6<br />

Die Einbrüche sind drastisch. Sie vollziehen<br />

die radikalen Kürzungen <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esmittel<br />

nach. Seit 2010 sind die Budgets für die<br />

Einglie<strong>der</strong>ung in den Jobcentern Bremen<br />

<strong>und</strong> Bremerhaven um mehr als ein Drittel<br />

(35 Prozent) reduziert worden. Im Jahr 2012<br />

standen in <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>sicherung/Hartz IV <strong>im</strong><br />

<strong>Land</strong> Bremen nur noch 60,3 Millionen Euro<br />

für die Arbeitsför<strong>der</strong>ung <strong>zur</strong> Verfügung. Dabei<br />

ist <strong>der</strong> Problemdruck unverän<strong>der</strong>t groß.<br />

6 Vgl. Statistik <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur<br />

für Arbeit,<br />

Arbeitsmarkt in Zahlen –<br />

För<strong>der</strong>statistik, Jahreszahlen<br />

zu arbeitsmarktpolitischen<br />

Instrumenten,<br />

Dezember 2012.


17,0<br />

44<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Abb. 2: Leistungen <strong>zur</strong> Einglie<strong>der</strong>ung – zugewiesene<br />

B<strong>und</strong>esmittel <strong>und</strong> geleistete Bruttoausgaben, in Millionen Euro<br />

80<br />

70<br />

60<br />

70,0<br />

70,4<br />

Millionen Euro<br />

50<br />

40<br />

30<br />

53,8<br />

50,2<br />

45,7<br />

38,7<br />

20<br />

23,4<br />

22,1<br />

10<br />

0<br />

Jobcenter<br />

Bremen<br />

Jobcenter<br />

Bremerhaven<br />

Jobcenter<br />

Bremen<br />

14,1<br />

Jobcenter<br />

Bremerhaven<br />

Jobcenter<br />

Bremen<br />

2010 2011 2012<br />

14,7<br />

11,7<br />

Jobcenter<br />

Bremerhaven<br />

zugewiesene B<strong>und</strong>esmittel<br />

verausgabte B<strong>und</strong>esmittel<br />

Quelle: Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung <strong>und</strong> Jugendberufshilfe, eigene Darstellung<br />

7 Vgl. Bremer Institut für<br />

Arbeitsmarktforschung<br />

<strong>und</strong> Jugendberufshilfe,<br />

BIAJ-Materialien vom<br />

12. Februar 2013.<br />

Geschenke aus Bremen<br />

an den B<strong>und</strong>eshaushalt<br />

Die <strong>Land</strong>esregierung hat <strong>im</strong> Jahr 2012 lei<strong>der</strong><br />

nicht die Initiative ergriffen, den B<strong>und</strong>eskürzungen<br />

mit <strong>Land</strong>esmitteln entgegenzuwirken,<br />

<strong>und</strong> sei es auch nur als Signal für eigene politische<br />

Schwerpunktsetzungen. Die finanzielle<br />

Situation in <strong>der</strong> Arbeitsför<strong>der</strong>ung hat sich<br />

unterdessen noch weiter verschärft, weil die<br />

B<strong>und</strong>esmittel nicht <strong>im</strong> vollen Umfang genutzt<br />

worden sind. Von dem ohnehin gekürzten Etat<br />

für Leistungen <strong>zur</strong> Einglie<strong>der</strong>ung haben die<br />

Jobcenter zehn Millionen Euro weniger ausgegeben<br />

als vom B<strong>und</strong> dafür zugewiesen, sieben<br />

Millionen in Bremen <strong>und</strong> drei Millionen in<br />

Bremerhaven. Nach Umschichtungen in<br />

das Verwaltungskostenbudget <strong>im</strong> Jobcenter<br />

Bremerhaven flossen am Ende r<strong>und</strong> 9,4 Millionen<br />

Euro an den B<strong>und</strong> <strong>zur</strong>ück. 7<br />

Es bleibt offen, wieso die Jobcenter in Bremen<br />

<strong>und</strong> Bremerhaven nun schon <strong>im</strong> zweiten<br />

Jahr in Folge nicht in <strong>der</strong> <strong>Lage</strong> waren, die B<strong>und</strong>esmittel<br />

besser auszuschöpfen, wieso also<br />

nicht alle Möglichkeiten <strong>zur</strong> För<strong>der</strong>ung<br />

von Arbeitsuchenden genutzt wurden. Es ist<br />

zudem nun schwieriger geworden, glaubwürdige<br />

Argumente gegen die fortgesetzte<br />

Kürzungsspirale des B<strong>und</strong>es vorzubringen, die<br />

sich auch 2013 weiterdreht. B<strong>und</strong>esweit brauchen<br />

die Jobcenter bessere Möglichkeiten, ihre<br />

Planungen über mehrere Haushaltsjahre auszugestalten,<br />

mehr Mittel längerfristig binden<br />

zu können <strong>und</strong> Restmittel ins Folgejahr<br />

übertragen zu dürfen. Vor Ort sind die Träger<br />

<strong>der</strong> Jobcenter in <strong>der</strong> Pflicht, eine Arbeitsmarktstrategie<br />

zu entwickeln, die den tatsächlichen<br />

regionalen Herausfor<strong>der</strong>ungen begegnet,<br />

Programm- <strong>und</strong> Mittelplanung zieladäquat<br />

auszugestalten <strong>und</strong> schließlich die Umsetzung<br />

<strong>und</strong> Mittelausschöpfung mit zu steuern.


45<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Neujustierung <strong>der</strong> Arbeitsmarktstrategie<br />

als Antwort auf regionale<br />

Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

Die beson<strong>der</strong>e strukturelle Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

für die Bremer Arbeitsmarktpolitik ist <strong>der</strong><br />

große Anteil von Arbeitslosen, die den gestiegenen<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Arbeitswelt mit ihrer<br />

Belastbarkeit o<strong>der</strong> ihren Qualifikationen<br />

tatsächlich o<strong>der</strong> auch nur vermeintlich nicht<br />

gewachsen sind. Dazu gehören in beson<strong>der</strong>em<br />

Maß Langzeitarbeitslose <strong>und</strong> Geringqualifizierte.<br />

Eine nachhaltige <strong>und</strong> individuelle Unterstützung<br />

würde die Integrationschancen auch<br />

dieser Gruppen verbessern, die heute kaum<br />

Chancen am Arbeitsmarkt haben. Für sie muss<br />

die För<strong>der</strong>ung langfristig angelegt sein, ihre<br />

soziale Situation muss nachhaltig stabilisiert,<br />

die Qualifikation schrittweise gestärkt werden.<br />

Ein Element einer solchen nachhaltigen<br />

Strategie ist ein sozialer Arbeitsmarkt mit<br />

klaren <strong>und</strong> verlässlichen Rahmenbedingungen<br />

<strong>und</strong> integrierter Unterstützung, die sich auch<br />

an den Bedarfen <strong>und</strong> Möglichkeiten des<br />

Einzelnen orientiert. Die aktuellen Diskussionen,<br />

ihn mithilfe <strong>der</strong> Umwandlung <strong>der</strong> passiven<br />

Leistungen zum Lebensunterhalt sozialverträglich<br />

auszugestalten, weisen in eine gute<br />

Richtung. Seit Langem plädiert die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

außerdem dafür, systematisch<br />

eine auf Abschlüsse orientierte Qualifizierung<br />

als zentrales Handlungsfeld in <strong>der</strong> Arbeitsför<strong>der</strong>ung<br />

zu entwickeln – sei es traditionell<br />

als Umschulung, als Nachqualifizierung o<strong>der</strong><br />

kleinschrittig mit aufeinan<strong>der</strong> abgest<strong>im</strong>mten<br />

Modulen.<br />

Während Arbeitsmarktpolitik klassisch darauf<br />

ausgerichtet ist, den Übergang von Arbeitslosigkeit<br />

in Beschäftigung zu ermöglichen, sollte<br />

sie mehr die Qualität von Beschäftigung in<br />

den Blick nehmen <strong>und</strong> schnelle Wie<strong>der</strong>eintritte<br />

in Arbeitslosigkeit vermeiden helfen. Eine<br />

nachhaltige Arbeitsför<strong>der</strong>ung zielt auf Beschäftigungsstabilität<br />

<strong>und</strong> auf ein Einkommensniveau,<br />

das den Lebensunterhalt sichert.<br />

Schließlich wird es künftig zunehmend<br />

darum gehen müssen, Übergänge innerhalb<br />

des Beschäftigungssystems zu erhöhen, den<br />

Aufstieg in höherwertige Beschäftigung <strong>und</strong><br />

die Mobilität von den Randbereichen des<br />

Arbeitsmarktes in seine gesicherten Zonen<br />

zu stärken. Eine solche Mobilitätsbewegung<br />

würde <strong>im</strong> gleichen Zuge Luft <strong>im</strong> Arbeitsmarkt<br />

für Geringqualifizierte schaffen <strong>und</strong> neue<br />

Beschäftigungschancen für arbeitslose Ungelernte<br />

entstehen lassen.<br />

Die Möglichkeiten für verän<strong>der</strong>te landespolitische<br />

Schwerpunktsetzungen in <strong>der</strong><br />

Arbeitsför<strong>der</strong>ung ergeben sich mit <strong>der</strong> neuen<br />

För<strong>der</strong>periode <strong>der</strong> europäischen Strukturfonds<br />

ab 2014 <strong>und</strong> dem zeitgleich zu überarbeitenden<br />

Beschäftigungspolitischen Aktionsprogramm.<br />

Das Ziel einer neu justierten regionalen<br />

Arbeitsmarktstrategie wäre in einem<br />

Dreiklang, die Beschäftigungsqualität zu steigern,<br />

das Fachkräftepotenzial zu entwickeln<br />

<strong>und</strong> die Arbeitslosigkeit zu senken. Die<br />

Zeiten kurzfristig angelegter Aktivierung <strong>und</strong><br />

schneller Vermittlung haben sich dagegen<br />

überlebt.


46<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Qualifizieren statt Aktivieren<br />

Bildungschancen für Arbeitslosengeld-II-<br />

Empfängerinnen <strong>und</strong> -Empfänger<br />

S U S A N N E H E R M E L I N G<br />

1 Vgl. B<strong>und</strong>esagentur<br />

für Arbeit, Arbeitsmarktberichterstattung<br />

Dezember 2011, S. 5 f.<br />

2 Vgl. Kettner, Anja:<br />

Fachkräftemangel –<br />

Fakt o<strong>der</strong> Fiktion?<br />

IAB-Bibliothek 337<br />

2012, S. 57.<br />

3 Vgl. Paul M. Schrö<strong>der</strong>:<br />

BIAJ-Materialien vom<br />

05.12.2012<br />

www.biaj.de/<strong>im</strong>ages/<br />

stories/2012-12-<br />

05_asmk-jobcenter-<br />

budgets-uebertragen-<br />

2012-2013.pdf<br />

Im <strong>Land</strong> Bremen sind zwei Drittel <strong>der</strong> arbeitslosen<br />

Arbeitslosengeld-II-Bezieherinnen <strong>und</strong><br />

-Bezieher ohne Berufsabschluss <strong>und</strong> fast zwei<br />

Drittel sind schon länger als zwei Jahre arbeitslos.<br />

Diese Gruppen haben beson<strong>der</strong>s geringe<br />

Erwerbschancen. Die Arbeitslosenquote für<br />

nicht formal Qualifizierte lag in Deutschland<br />

(2009) bei 22 Prozent <strong>und</strong> bei Erwerbspersonen<br />

mit beruflichem o<strong>der</strong> akademischem Abschluss<br />

nur bei sechs Prozent. 1 Das Institut für<br />

Arbeitsmarkt- <strong>und</strong> Berufsforschung (IAB) hat<br />

ermittelt, dass viele Betriebe Bewerbungen von<br />

Langzeitarbeitslosen gr<strong>und</strong>sätzlich aussortieren,<br />

weil ihre Qualifikation als entwertet gilt. 2<br />

Daher ist die För<strong>der</strong>ung beruflicher Weiterbildung<br />

(FbW) eines <strong>der</strong> wichtigsten Instrumente<br />

<strong>der</strong> Arbeitsför<strong>der</strong>ung. Die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

untersuchte 2011 <strong>und</strong> 2012 die gesamten<br />

Prozesse von <strong>der</strong> jährlichen Bildungszielplanung<br />

<strong>der</strong> Jobcenter, über die Vergabe <strong>und</strong> Einlösung<br />

von Bildungsgutscheinen bis hin <strong>zur</strong><br />

Planung <strong>und</strong> Durchführung einzelner Maßnahmen<br />

<strong>im</strong> SGB II <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen. In Interviews<br />

wurden die Perspektiven von erwerbslosen<br />

Maßnahmeteilnehmern, von Führungskräften<br />

<strong>und</strong> Vermittlungsfachkräften in<br />

Jobcentern sowie von Leitungen <strong>und</strong> Lehrkräften<br />

bei Bildungsträgern erfasst. Zusätzlich<br />

wurden För<strong>der</strong>statistiken <strong>und</strong> Studien <strong>der</strong> vergangenen<br />

Jahre ausgewertet.<br />

Wettbewerb, Mittelkürzungen <strong>und</strong> das<br />

Pr<strong>im</strong>at <strong>der</strong> schnellen Vermittlung prägen<br />

seit zehn Jahren das Feld <strong>der</strong> beruflichen<br />

Weiterbildung in <strong>der</strong> Arbeitsför<strong>der</strong>ung<br />

Bis 2002 haben die Arbeitsagenturen Maßnahmen<br />

direkt bei den Bildungsträgern mit festgelegten<br />

Platzzahlen in Auftrag gegeben. In diesem<br />

System waren Bildungsanbieter oft auf<br />

persönliche Kontakte zu Arbeitsberatern angewiesen.<br />

Außerdem kam es vor, dass Teilnehmer<br />

ohne Eignung <strong>und</strong> Motivation Umschulungen<br />

zugewiesen wurden, nur um Plätze zu belegen.<br />

Das alte System bot jedoch an<strong>der</strong>erseits eine<br />

hohe Planungssicherheit für alle Beteiligten.<br />

Die Arbeitsverwaltung konnte ihre Ausgaben<br />

für den Bereich gut steuern <strong>und</strong> Maßnahmen<br />

gezielt auswählen, denn die Weiterbildungsangebote<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong>en Qualität waren bekannt.<br />

Die Bildungsträger konnten ihr Angebot langfristig<br />

planen. Arbeitsuchende konnten sicher<br />

sein, dass ihre Maßnahme stattfindet.<br />

Mit dem Ziel, einen freien Wettbewerb in<br />

<strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung beruflicher Weiterbildung<br />

(FbW) zu schaffen, wurden 2003 Bildungsgutscheine<br />

eingeführt. Die Vermittlungsfachkräfte<br />

geben seitdem lediglich Gutscheine mit definierten<br />

Bildungszielen aus <strong>und</strong> die Empfänger<br />

suchen sich selbst eine Maßnahme. Konkrete<br />

Empfehlungen dürfen die Vermittler nicht<br />

abgeben. Die Bildungsträger müssen ihre<br />

Einrichtung <strong>und</strong> die einzelnen Maßnahmen<br />

von unabhängigen Stellen kostenpflichtig<br />

zertifizieren lassen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Wettbewerb mit<br />

an<strong>der</strong>en Einrichtungen Teilnehmer gewinnen.<br />

Auch die Aussagen von Weiterbildungsträgern<br />

in den Interviews <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

legen nahe, dass seitdem viele Maßnahmen<br />

aufgr<strong>und</strong> zu geringer Teilnehmerzahlen ausfallen.<br />

In den Jobcentern wird oft nach aktueller<br />

Haushaltslage entschieden, ob Bildungsgutscheine<br />

ausgegeben werden. Da die Kosten<br />

über das Jahr nicht kalkulierbar sind <strong>und</strong> ein<br />

Teil <strong>der</strong> ausgegebenen Gutscheine nicht eingelöst<br />

wird, schöpfen die Jobcenter gar nicht alle<br />

Mittel aus, die ihnen <strong>zur</strong> Verfügung stehen<br />

beziehungsweise die sie für die För<strong>der</strong>ung<br />

beruflicher Weiterbildung eingeplant hatten. 3<br />

Auch in den Interviews mit <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

äußerten sich Vertreter <strong>der</strong> Jobcenter<br />

zu diesen Steuerungsproblemen.<br />

Diese Steuerungsproblematik erweist sich<br />

<strong>der</strong>zeit als schwerwiegend, da Mittelkürzun-


47<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Abb. 1: Entwicklung <strong>der</strong> Eintritte in berufliche Weiterbildung<br />

mit Abschluss (2000–2011)<br />

gen in <strong>der</strong> Arbeitsför<strong>der</strong>ung das Weiterbildungssystem<br />

zusätzlich destabilisieren. Innerhalb<br />

von zehn Jahren erlebt es bereits die zweite<br />

Trockenperiode. Schon 2003 wurde gleichzeitig<br />

mit Einführung <strong>der</strong> Gutscheine <strong>der</strong><br />

Mittelfluss gedrosselt <strong>und</strong> in den Jahren <strong>der</strong><br />

Krise <strong>und</strong> Konjunkturprogramme 2008 bis<br />

2010 wie<strong>der</strong> aufgefüllt. Seit 2011 greift das<br />

Sparpaket <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esregierung. Die drastischen<br />

Einschnitte von einem Viertel des Budgets<br />

von 2010 auf 2011 <strong>und</strong> weitergehenden<br />

Kürzungen in den Folgejahren stehen in keinem<br />

Verhältnis <strong>zur</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Erwerbslosigkeit<br />

(vgl. Beitrag Arbeitsmarktpolitik:<br />

Kürzungen <strong>und</strong> neue Instrumente als doppelte<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung, S. 40 ff.). Die Zahl <strong>der</strong> erwerbsfähigen<br />

Leistungsberechtigten <strong>im</strong> SGB II<br />

ist nämlich in demselben Zeitraum in Deutschland<br />

nur um sechs Prozent, in Bremen <strong>und</strong><br />

in Bremerhaven nur um drei beziehungsweise<br />

vier Prozent (von 53.620 auf 51.928 bzw. von<br />

15.158 auf 14.527) gesunken. 4 Die Schwankungen<br />

in den för<strong>der</strong>politischen Entscheidungen<br />

sind unabhängig vom Bedarf, bezogen auf die<br />

Zahl <strong>der</strong> erwerbsfähigen Arbeitslosengeld-II-<br />

Bezieherinnen <strong>und</strong> -Bezieher. Die Kürzungen<br />

<strong>der</strong> B<strong>und</strong>esmittel passen außerdem nicht zu<br />

den Bek<strong>und</strong>ungen <strong>der</strong> Politik, dass die Qualifizierung<br />

von Fachkräften volkswirtschaftlich,<br />

sozial- <strong>und</strong> bildungspolitisch eins <strong>der</strong> wichtigsten<br />

Anliegen unserer Zeit sei. Es sei denn,<br />

die Politik identifiziert die potenziellen Fachkräfte<br />

kaum mehr unter den Erwerbslosen.<br />

Als Folge <strong>der</strong> Kürzungen hat sich von 2010<br />

auf 2011 die Zahl <strong>der</strong> Eintritte in <strong>der</strong> Stadt Bremen<br />

nicht nur bei den abschlussbezogenen<br />

Maßnahmen, son<strong>der</strong>n bei allen Weiterbildungen<br />

mehr als halbiert, insgesamt von 4.050<br />

auf 1.749 Eintritte. In Bremerhaven sind die<br />

gesamten Eintritte zwischen 2009 <strong>und</strong> 2011<br />

von 891 auf 635 <strong>zur</strong>ückgegangen. Doch die För<strong>der</strong>ung<br />

von abschlussbezogenen Maßnahmen<br />

(siehe Abbildung) ist gestiegen, da dieser<br />

Bereich in Bremerhaven aufgebaut werden<br />

soll, während die bisher dominante För<strong>der</strong>ung<br />

von Arbeitsgelegenheiten abgebaut wird.<br />

Eintritte<br />

Eintritte<br />

900<br />

800<br />

700<br />

600<br />

500<br />

400<br />

300<br />

200<br />

100<br />

0<br />

450<br />

400<br />

350<br />

300<br />

250<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50<br />

0<br />

Bemen<br />

682<br />

2000<br />

662<br />

2001<br />

Bremerhaven<br />

227<br />

2000<br />

155<br />

2001<br />

749<br />

2002<br />

233<br />

2002<br />

Obwohl in Bremen ein <strong>im</strong> B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>vergleich<br />

hoher Anteil <strong>der</strong> Mittel für berufliche<br />

Weiterbildung verwendet wird, lösen die<br />

Schwankungen regelrechte Umwälzungen in<br />

<strong>der</strong> Bildungsinfrastruktur aus. Auch einige bremische<br />

Bildungsträger äußerten in Interviews<br />

2011 Befürchtungen vor drohendem<br />

Personalabbau <strong>und</strong> Standortschließungen.<br />

Mit den Hartz-Reformen wurde das Pr<strong>im</strong>at<br />

<strong>der</strong> schnellen Vermittlung handlungsleitend<br />

für die K<strong>und</strong>enbetreuung <strong>im</strong> Jobcenter. Dies<br />

prägt das Prinzip des For<strong>der</strong>ns, indem die<br />

604<br />

2003<br />

186<br />

2003<br />

323<br />

2004<br />

94<br />

2004<br />

Quelle: Statistikservice <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit; Eintritte Jahressumme; eigene Darstellung<br />

194<br />

172<br />

2005<br />

75<br />

66<br />

2005<br />

346<br />

309<br />

2006<br />

112<br />

104<br />

2006<br />

628<br />

532<br />

2007<br />

93<br />

77<br />

2007<br />

706<br />

584<br />

2008<br />

101<br />

71<br />

2008<br />

823<br />

622<br />

2009<br />

79<br />

59<br />

2009<br />

783<br />

630<br />

2010<br />

114<br />

80<br />

2010<br />

SGB II<br />

480<br />

375<br />

2011<br />

SGB II<br />

120<br />

82<br />

2011<br />

4 Vgl. Der Senator für<br />

Wirtschaft, Arbeit <strong>und</strong><br />

Häfen: Informationen<br />

zum Arbeitsmarkt –<br />

Dezember 2011, S. 21<br />

(Entwicklung September<br />

2011 <strong>im</strong> Vergleich<br />

zum Vorjahresmonat)<br />

www.arbeit.bremen.de/<br />

sixcms/media.php/13/<br />

AM%20%20%20SGB%20<br />

II-<strong>Bericht</strong>_2011_12.pdf


48<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Mit dem Trend zu kurzen Trainings sind<br />

neue Maßnahmeformen geschaffen worden,<br />

bei denen eher das For<strong>der</strong>n als die<br />

Qualifizierung <strong>im</strong> Mittelpunkt steht.<br />

5 Vgl. Kruppe, Thomas:<br />

Bildungsgutscheine in<br />

<strong>der</strong> Aktiven Arbeitsmarktpolitik.<br />

Sozialer Fortschritt<br />

1/2009, S. 13.<br />

6 Bosch, Gerhard: Berufliche<br />

Weiterbildung in<br />

Deutschland 1969 bis<br />

2009: Entwicklung <strong>und</strong><br />

Reformoptionen. In:<br />

Arbeitsmarktpolitik in <strong>der</strong><br />

sozialen Marktwirtschaft:<br />

vom Arbeitsför<strong>der</strong>ungsgesetz<br />

zum Sozialgesetzbuch<br />

II <strong>und</strong> III.<br />

VS-Verlag, S. 99 f.<br />

7 Vgl. Kruppe, Thomas:<br />

Bildungsgutscheine in<br />

<strong>der</strong> Aktiven Arbeitsmarktpolitik.<br />

Sozialer Fortschritt<br />

1/2009, S. 10 f.<br />

8 wbmonitor Umfrage<br />

2011: Weiterbildungsanbieter<br />

<strong>im</strong> demographischen<br />

Wandel, S. 6 f.<br />

www.bibb.de/dokumente/pdf/wb_monitor_<br />

umfrage_2011_<br />

koscheck_schade.pdf<br />

Zumutbarkeitsschranken <strong>zur</strong> Aufnahme unterwertiger<br />

Beschäftigung in <strong>der</strong> Vermittlung<br />

gefallen sind. Damit wird für formal Qualifizierte<br />

<strong>der</strong> Zugang zu beruflichen Arbeitsmärkten<br />

oft abgeschnitten <strong>und</strong> für Geringqualifizierte<br />

kein Zugang ermöglicht. Die För<strong>der</strong>statistik<br />

<strong>im</strong> Gegenzug zeigt den deutlichen<br />

Trend zu kürzeren Weiterbildungen, Trainings<br />

o<strong>der</strong> Aktivierungsmaßnahmen <strong>und</strong> die Abkehr<br />

von abschlussbezogenen Qualifizierungen. 5<br />

Das ist die Folge <strong>der</strong> arbeitsmarktpolitischen<br />

Wende weg von vorausschauen<strong>der</strong> Weiterbildung<br />

hin <strong>zur</strong> Qualifizierung als schneller<br />

Vermittlungshilfe.<br />

In den 1970er-Jahren wurden sogar Anreize<br />

<strong>zur</strong> Weiterbildung gesetzt, um Aufstiege zu<br />

ermöglichen <strong>und</strong> unterwertige Beschäftigung<br />

zu vermeiden. In den 1980er- <strong>und</strong> Anfang <strong>der</strong><br />

1990er-Jahre wurde ›auf Vorrat‹ qualifiziert.<br />

Diese Ansätze <strong>zur</strong> Prävention von Langzeitarbeitslosigkeit<br />

einerseits <strong>und</strong> Fachkräfteengpässen<br />

an<strong>der</strong>erseits sind in <strong>der</strong> Arbeitsför<strong>der</strong>ung<br />

stark <strong>zur</strong>ückgedrängt worden. 6 Mit Einführung<br />

<strong>der</strong> Bildungsgutscheine wurden die<br />

Arbeitsagenturen angewiesen, nur bei einer<br />

hohen Einglie<strong>der</strong>ungswahrscheinlichkeit<br />

von 70 Prozent in den ersten Arbeitsmarkt zu<br />

för<strong>der</strong>n. 2005 wurde diese Regelung zwar<br />

gelockert, jedoch sind die Verbleibsquoten<br />

<strong>im</strong>mer noch ausschlaggebend für die För<strong>der</strong>ung.<br />

Bildungsträger müssen <strong>im</strong> Anschluss an<br />

Maßnahmen den Verbleib von Teilnehmenden<br />

dokumentieren.<br />

Inzwischen konnte durch verschiedene Studien<br />

nachgewiesen werden, dass Erwerbslose mit<br />

schlechten Vermittlungschancen, wie Geringqualifizierte,<br />

Ältere o<strong>der</strong> Langzeitarbeitslose,<br />

seltener durch Bildungsgutscheine geför<strong>der</strong>t<br />

werden. Die erste Auslese zugunsten arbeitsmarktnaher<br />

K<strong>und</strong>en passiert in <strong>der</strong> Gutscheinausgabe<br />

durch Vermittlungsfachkräfte, dies<br />

bestätigten auch Rückmeldungen von Vermittlern<br />

in Bremen. 7 Die zweite Auslese betreiben<br />

die Bildungsträger, die ebenfalls ein hohes<br />

Interesse daran haben, sichere Kandidaten in<br />

ihre Maßnahmen aufzunehmen. Weiterbildungsträger<br />

haben in Umfragen des B<strong>und</strong>esinstituts<br />

für Berufsbildung (BIBB) gleich nach<br />

Einführung des Gutscheinsystems bestätigt,<br />

dass gezielt ›gute‹ Bewerberinnen <strong>und</strong> Bewerber<br />

für Maßnahmen ausgewählt werden.<br />

Auf die Ausgrenzung von arbeitsmarktfernen<br />

Menschen hat man in den vergangenen Jahren<br />

mit dem Programm Initiative <strong>zur</strong> Flankierung<br />

des Strukturwandels (IFlaS) <strong>zur</strong> För<strong>der</strong>ung<br />

des Erwerbs von Berufsabschlüssen von arbeitslosen<br />

<strong>und</strong> von Arbeitslosigkeit bedrohten<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>n reagiert. Damit stellen sich<br />

auch die Bildungsträger wie<strong>der</strong> etwas mehr<br />

auf die Qualifizierung von Un- <strong>und</strong> Angelernten<br />

ein. 8 Von einem wesentlich verbesserten<br />

Angebot ist aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Mittelkürzungen<br />

dennoch nicht auszugehen.<br />

Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> arbeitsmarktpolitischen<br />

Vorgaben sind Barrieren in <strong>der</strong> Qualifizierungsför<strong>der</strong>ung<br />

also systematisch erhöht <strong>und</strong><br />

das Angebot verengt worden.<br />

Mit dem Trend zu kurzen Trainings sind<br />

neue Maßnahmeformen geschaffen worden,<br />

bei denen eher das For<strong>der</strong>n als die Qualifizierung<br />

<strong>im</strong> Mittelpunkt steht. Dazu gehören<br />

neben Maßnahmen <strong>zur</strong> Kenntnisvermittlung<br />

<strong>und</strong> Eignungsfeststellungen für Berufsbereiche


49<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

auch Bewerbercenter <strong>und</strong> sogenannte Kombinationsleistungen<br />

mit einer Mischung aus<br />

Profiling, Bewerbungstraining, Praktikum <strong>und</strong><br />

einer Art ›Vermittlungscoaching‹. Seit 2009<br />

werden diese Formen in dem Instrument<br />

›Maßnahmen <strong>zur</strong> Aktivierung <strong>und</strong> Wie<strong>der</strong>einglie<strong>der</strong>ung‹<br />

zusammengefasst. Die entsprechenden,<br />

hochstandardisierten Maßnahmen<br />

bei Bildungsträgern kauft die Arbeitsverwaltung<br />

vor Ort über Ausschreibungen ein. Diese<br />

Ausschreibungen werden in <strong>der</strong> Regel nicht<br />

vom Jobcenter, son<strong>der</strong>n vom Regionalen Einkaufszentrum<br />

<strong>der</strong> Regionaldirektion <strong>der</strong><br />

B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit in Hannover abgewickelt.<br />

Die angesetzten Kostensätze liegen<br />

zum Teil unter zwei Euro pro Teilnehmerst<strong>und</strong>e.<br />

Sie werden von Trägern, die sich auf diese<br />

Angebote spezialisiert haben, oft noch unterboten.<br />

Die Qualität ist bei vielen Aktivierungsmaßnahmen<br />

dementsprechend gering. Auch<br />

die Bildungsträger berichteten <strong>im</strong> Rahmen<br />

<strong>der</strong> Studie von einem Unterbietungswettbewerb<br />

in diesem Bereich, aus dem sich ›seriöse‹<br />

Anbieter zunehmend <strong>zur</strong>ückziehen. Erwerbslose<br />

äußerten in den Interviews frustrierende<br />

Erfahrungen in ihnen sinnlos erscheinenden<br />

Trainingsmaßnahmen. Die Vermittler weisen<br />

Arbeitsuchende zu <strong>und</strong> belegen die Nichtteilnahme<br />

mit einer Sanktionsdrohung. Häufig<br />

soll lediglich die Verfügbarkeit <strong>der</strong> Arbeitslosen<br />

überprüft werden. Diese Aktivierungspraxis<br />

folgt dem seit den Hartz-Reformen<br />

gängigen Bild von Arbeitslosen mit mangeln<strong>der</strong><br />

Arbeitsmoral o<strong>der</strong> Arbeitsunfähigkeit.<br />

Das Bild von trägen <strong>und</strong> inkompetenten<br />

Arbeitslosen ist bereits fest etabliert. Wissenschaftliche<br />

Studien belegen jedoch unter<br />

Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen <strong>und</strong> -Empfängern<br />

eine ausgeprägte Erwerbsorientierung<br />

sowie hohe Konzessionsbereitschaft hinsichtlich<br />

<strong>der</strong> Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. 9<br />

Auch die Interviews mit Teilnehmern von<br />

Maßnahmen in Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven<br />

bestätigten, dass die Erwerbschancen in den<br />

Motiven für eine Weiterbildung noch vor<br />

persönlichen Interessen rangieren. Die meisten<br />

Erwerbslosen haben zudem wechselvolle<br />

Erwerbs- <strong>und</strong> Lebensverläufe <strong>und</strong> ruhen sich<br />

keinesfalls in <strong>der</strong> ›sozialen Hängematte‹ aus.<br />

Resignation lässt sich nur bei einer geringen<br />

Zahl von älteren <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitlich beeinträchtigen<br />

Menschen ausmachen. Dennoch<br />

hält sich das Klischee <strong>und</strong> prägt weiterhin die<br />

Nutzung von För<strong>der</strong>instrumenten.<br />

In den Jahren 2012 <strong>und</strong> 2013 werden in<br />

Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven Pläne für eine Verbesserung<br />

<strong>der</strong> Rahmenbedingungen erstellt.<br />

Dabei sollen regionale Spielräume innerhalb<br />

des vorgegebenen Systems genutzt werden.<br />

Im Jobcenter Bremerhaven haben die Bildungsträger<br />

inzwischen die Möglichkeit, auf einer<br />

Messe Erwerbslosen <strong>und</strong> Vermittlern ihre<br />

Angebote vorzustellen. Die Arbeitsverwaltung<br />

in Bremen-Stadt plant, <strong>im</strong> ersten Halbjahr<br />

2013 bereits 65 Prozent <strong>der</strong> Eintritte in<br />

FbW-Maßnahmen zu realisieren, um nach<br />

Ende des Haushaltsjahres weniger B<strong>und</strong>esmittel<br />

›verschenken‹ zu müssen. Die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

wird in diesem Jahr einen<br />

genauen <strong>Bericht</strong> mit den Auswertungen<br />

<strong>der</strong> För<strong>der</strong>statistik <strong>und</strong> ihrer qualitativen<br />

Studie mit Interviewausschnitten vorlegen.<br />

9 Vgl. IAB-Kurzbericht<br />

15/2010: ALG-II-B<br />

ezug ist nur selten<br />

ein Ruhekissen<br />

www.doku.iab.de/<br />

kurzber/2010/kb1510.<br />

pdf; Brenke, Karl: Fünf<br />

Jahre Hartz IV – Das<br />

Problem ist nicht die<br />

Arbeitsmoral; in: DIW-<br />

Wochenbericht 6/2010,<br />

S. 10 ff.; Mayrhofer et<br />

al.: Auf <strong>der</strong> Suche nach<br />

<strong>der</strong> verlorenen Arbeit.<br />

UVK 2009, S. 172 ff.


50<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Handlungsfel<strong>der</strong> für eine regionale<br />

Arbeitsmarkt- <strong>und</strong> Qualifizierungspolitik<br />

❚ Für eine Neujustierung seiner Arbeitsmarktpolitik<br />

braucht das <strong>Land</strong> Bremen eigene Mittel. Das Arbeitsmarktprogramm<br />

des <strong>Land</strong>es, das ›Beschäftigungspolitische<br />

Aktionsprogramm‹ (BAP), wird nahezu<br />

ausschließlich aus Mitteln des B<strong>und</strong>es <strong>und</strong> <strong>der</strong> EU<br />

finanziert. Deshalb dominieren die beiden großen<br />

Mittelgeber seine Ausgestaltung mit ihren zentralistisch<br />

vorgegebenen Zielen <strong>und</strong> Instrumenten. Der<br />

regionalen Arbeitsmarktpolitik kann es in diesem<br />

engen Korsett kaum gelingen, auf die spezifischen<br />

Probleme vor Ort die passenden Antworten zu finden.<br />

Hinzu kommt, dass B<strong>und</strong> <strong>und</strong> EU ihre Mittel<br />

<strong>im</strong>mer weiter <strong>zur</strong>ückfahren. Die B<strong>und</strong>esregierung<br />

setzt ihre Kürzungspolitik in <strong>der</strong> Arbeitsför<strong>der</strong>ung<br />

fort <strong>und</strong> auch für die ab 2014 beginnende neue För<strong>der</strong>periode<br />

des ESF ist mit einem drastisch verringerten<br />

Volumen zu rechnen. Sicherlich kann das<br />

<strong>Land</strong> diese wegbrechenden För<strong>der</strong>mittel nicht kurzerhand<br />

kompensieren. <strong>Land</strong>esmittel könnten <strong>im</strong><br />

BAP aber gezielt <strong>und</strong> punktuell investiert werden,<br />

um programmatische Schwerpunkte zu setzen.<br />

❚ Auch die neue För<strong>der</strong>periode von ESF <strong>und</strong> EFRE<br />

bietet Chancen für die strategische Neujustierung<br />

<strong>der</strong> <strong>Land</strong>esarbeitsmarktpolitik. Das ESF-Programm<br />

des <strong>Land</strong>es Bremen sollte sich wie bisher auf Arbeitsför<strong>der</strong>ung<br />

konzentrieren <strong>und</strong> sich dabei stärker<br />

auf soziale Teilhabe, auf die Begleitung erwerbsbiografischer<br />

Übergänge, auf Beschäftigungsqualität<br />

<strong>und</strong> auf nachhaltige Beschäftigungssicherheit konzentrieren.<br />

❚ Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die<br />

Arbeitsmarktpolitik setzt <strong>der</strong> B<strong>und</strong>, die programmatische<br />

Ausrichtung best<strong>im</strong>mt die Region. In Bremen<br />

<strong>und</strong> Bremerhaven können die Kommunen stärker<br />

als bisher die Schwerpunktsetzungen <strong>der</strong> Arbeitsmarkt-<br />

<strong>und</strong> Integrationsprogramme <strong>der</strong> Jobcenter<br />

akzentuieren. Regionale Spielräume, wie die seit<br />

April 2012 bestehende Möglichkeit, berufliche<br />

Weiterbildungsmaßnahmen zu beauftragen, sollten<br />

genutzt werden, um einzelne Zielgruppen besser<br />

zu erreichen. Die Kooperation von Bildungsträgern<br />

<strong>und</strong> Arbeitsverwaltung sowie <strong>der</strong> Bildungsträger<br />

untereinan<strong>der</strong> muss hierfür verbessert werden.


51<br />

❚ Die Arbeitsför<strong>der</strong>mittel, die vom B<strong>und</strong> <strong>zur</strong> Verfügung<br />

gestellt werden, müssen ausgeschöpft werden,<br />

solange es <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen För<strong>der</strong>bedarfe gibt.<br />

Die Sozialministerkonferenz for<strong>der</strong>te, dass Restmittel<br />

in das nächste Haushaltsjahr übertragen werden<br />

können. Die <strong>Land</strong>esregierung sollte dieser For<strong>der</strong>ung<br />

Nachdruck verleihen. Im B<strong>und</strong> muss man sich<br />

dafür einsetzen, dass hohe Haushaltsschwankungen<br />

<strong>im</strong> Haushalt <strong>der</strong> Agentur vermieden werden, da<br />

diese Bildungsinfrastrukturen gefährden <strong>und</strong> Bedarfe<br />

von Arbeitslosen angesichts <strong>der</strong> Budgetvorgaben<br />

nachrangig werden.<br />

❚ Das Modellprojekt ›Joboffensive‹ sollte differenziert<br />

ausgewertet werden. Dabei ist nicht nur die Zusätzlichkeit<br />

<strong>und</strong> Qualität <strong>der</strong> Arbeitsmarktintegrationen<br />

zu hinterfragen, son<strong>der</strong>n auch die Wirkungen<br />

abseits vom schnellen Vermittlungsgeschäft. Zu<br />

befürchten ist, dass nachhaltige För<strong>der</strong>strategien<br />

wie berufliche Weiterbildung zugunsten <strong>der</strong><br />

schnellen Vermittlung <strong>zur</strong>ückgehen. Zu befürchten<br />

ist auch, dass die Chancen auf Teilhabe <strong>und</strong> Integration<br />

für die Gruppen sinken, die nicht als ›marktnah‹<br />

gelten.<br />

❚ Insgesamt gilt, dass Qualifizierungsangebote<br />

sozial- <strong>und</strong> arbeitsmarktpolitisch vorrangig sind.<br />

Evaluationen des Instruments ›För<strong>der</strong>ung beruflicher<br />

Weiterbildung‹ (FbW) zeigen, dass längerfristige<br />

<strong>und</strong> abschlussbezogene Maßnahmen<br />

nachhaltige Integration, verbesserte Einkommenschancen<br />

<strong>und</strong> Aufstiege ermöglichen.<br />

❚ Individuelle För<strong>der</strong>ung erfor<strong>der</strong>t eine Anpassung<br />

<strong>der</strong> Maßnahmen an die Lebensumstände <strong>und</strong> (Vor-)<br />

Qualifikationen <strong>der</strong> Teilnehmenden. Unterstützung<br />

in Form von kursbegleitenden Hilfen sollte verstärkt<br />

angeboten werden. För<strong>der</strong>ketten müssen für die<br />

›marktfernen‹ Zielgruppen über längere Zeiträume<br />

ineinan<strong>der</strong>greifen.<br />

❚ Die Zahl <strong>der</strong> K<strong>und</strong>en pro Vermittlungsfachkraft<br />

sollte reduziert werden – nicht nur <strong>im</strong> Rahmen<br />

<strong>der</strong> Joboffensive, nicht nur für ›marktnahe‹ K<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> nicht zulasten des Budgets für För<strong>der</strong>maßnahmen.<br />

Eine verbesserte Betreuungsrelation<br />

ist wichtig, da gerade bei intensiven Betreuungsbedarfen<br />

Integrationsfortschritte <strong>und</strong> die Auswahl<br />

geeigneter För<strong>der</strong>maßnahmen von <strong>der</strong> Intensität<br />

<strong>und</strong> Qualität <strong>der</strong> Beratungsgespräche abhängt.


52<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Ausbildung in Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven<br />

Noch <strong>im</strong>mer gehen zu viele verloren<br />

R E G I N E G E R A E D T S<br />

1 Vgl. Vorlage Nr. 18/274-<br />

L für die Sitzung <strong>der</strong><br />

staatlichen Deputation<br />

für Wirtschaft, Arbeit<br />

<strong>und</strong> Häfen des <strong>Land</strong>es<br />

Bremen am 28.<br />

November 2012.<br />

2 Wenn nicht an<strong>der</strong>s<br />

vermerkt, vergleiche zu<br />

allen Daten das Zahlenmaterial<br />

<strong>der</strong> ›Bremer<br />

Vereinbarung‹ für das<br />

Jahr 2012 in <strong>der</strong> Fassung<br />

vom 29.01.2013.<br />

Viele erwarten eine Wende am Ausbildungsmarkt.<br />

In <strong>der</strong> öffentlichen Diskussion werden<br />

inzwischen eher <strong>der</strong> demografische Wandel,<br />

Nachwuchsmangel <strong>und</strong> Besetzungsengpässe<br />

thematisiert als die mangelnden Ausbildungschancen<br />

von Jugendlichen. Doch die Wirklichkeit<br />

sieht an<strong>der</strong>s aus. Jedes Jahr aufs Neue<br />

suchen junge Menschen vergeblich nach<br />

einem passenden Ausbildungsplatz. Die Folge:<br />

Mehr als je<strong>der</strong> fünfte junge Erwachsene zwischen<br />

20 <strong>und</strong> 29 Jahren <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen bleibt<br />

ohne Berufsabschluss. 1 Dieser hohe Anteil<br />

hält sich konstant seit vielen Jahren, denn die<br />

betroffene Altersgruppe wird beständig von<br />

unten mit jüngeren Jahrgängen aufgefüllt.<br />

Ausbildungsnachfrage <strong>der</strong> Bremer<br />

Jugendlichen bleibt stabil<br />

Die Ausbildungsinteressierten in <strong>der</strong> Region<br />

werden nicht weniger. Im <strong>Land</strong> Bremen werden<br />

für die nächsten Jahre etwa konstante<br />

Schulabgangszahlen prognostiziert. 2 Im Jahr<br />

2012 sorgte <strong>der</strong> doppelte Abiturjahrgang sogar<br />

für einen statistischen Ausschlag nach oben,<br />

insgesamt 9.121 Schulabsolventinnen <strong>und</strong><br />

Schulabsolventen wurden gezählt. Sie sind die<br />

potenziellen Auszubildenden. Hinzu kommen<br />

die jungen Menschen, die in den Vorjahren<br />

keinen Erfolg bei <strong>der</strong> Suche nach einem Ausbildungsplatz<br />

hatten. Allein 2.473 junge Frauen<br />

<strong>und</strong> Männer waren als sogenannte ›Altbewerberinnen<br />

<strong>und</strong> Altbewerber‹ statistisch erfasst.<br />

Die tatsächliche Anzahl liegt darüber.<br />

Der Ausbildungsmarkt in Bremen ist außerdem<br />

geprägt von engen Pendlerverflechtungen<br />

mit dem Umland. Deshalb bewerben sich<br />

junge Bremerinnen <strong>und</strong> Bremer zusammen<br />

mit zahlreichen Interessierten aus Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

um die Lehrstellen vor Ort. Im Jahr 2012<br />

meldeten bremische Betriebe 2.467 neue<br />

Ausbildungsverträge mit Jugendlichen aus<br />

dem Umland, das entspricht 40 Prozent. Der<br />

Druck auf den Bremer Ausbildungsmarkt ist<br />

demnach deutlich stärker, als die oft zitierte<br />

Angebots-Nachfrage-Relation abbilden kann.<br />

Ausbildungsangebot<br />

reicht nicht für alle aus<br />

Die offizielle Statistik <strong>der</strong> Agentur für Arbeit<br />

gewährt einen ersten Blick auf den Ausbildungsmarkt<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen. 4.485 Bewerberinnen<br />

<strong>und</strong> Bewerber waren 2012 hier registriert.<br />

Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Plus<br />

von 1,1 Prozent, in Bremerhaven sogar von<br />

8,1 Prozent. Gleichzeitig waren 4.672 Ausbildungsstellen<br />

gemeldet. Das entspricht einem<br />

Minus von 6,7 Prozent. Trotz dieser gegenläufigen<br />

Entwicklung von Nachfrage <strong>und</strong> Angebot<br />

scheint das Verhältnis auf den ersten Blick günstig.<br />

Doch <strong>der</strong> Schein trügt. Denn die Statistik<br />

<strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit zeigt nur einen<br />

kleinen Ausschnitt des Geschehens. Es suchen<br />

nämlich längst nicht alle Jugendlichen dort<br />

Beratung <strong>und</strong> längst nicht alle Ausbildungsbetriebe<br />

lassen ihre Lehrstellen registrieren.<br />

Aussagekräftigere Daten bietet die Statistik<br />

über die tatsächlich abgeschlossenen Ausbildungsverträge.<br />

Im Jahr 2012 waren das 6.209<br />

<strong>und</strong> damit 1,3 Prozent weniger Verträge als <strong>im</strong><br />

Vorjahr. Die 82 verlorenen Ausbildungsplätze<br />

gingen allesamt in die Negativbilanz <strong>der</strong> Stadt<br />

Bremen ein. Mag <strong>der</strong> Ausbildungsplatzverlust<br />

in an<strong>der</strong>en B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n auch größer gewesen<br />

sein, so än<strong>der</strong>t das nichts an <strong>der</strong> negativen<br />

Entwicklung. Beson<strong>der</strong>s bedenklich ist <strong>der</strong><br />

Trend bei den mit Abstand wichtigsten Anbietern,<br />

den Mitglie<strong>der</strong>n von Handels- <strong>und</strong> Handwerkskammern.<br />

Dort stagnierten die Vertragsabschlüsse<br />

o<strong>der</strong> gingen gar <strong>zur</strong>ück. Die einzige<br />

Ausnahme war die Handwerkskammer Bremerhaven,<br />

<strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> 21 Ausbildungsverträge<br />

mehr abschlossen als <strong>im</strong> Vorjahr. Auch <strong>der</strong>


53<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

öffentliche Dienst gehört zu den dualen Ausbil<strong>der</strong>n<br />

<strong>und</strong> könnte mit seinen Lehrstellen<br />

negative Marktentwicklungen zumindest symbolisch<br />

korrigieren. Prozentual führte er aber<br />

2012 das Ranking be<strong>im</strong> Ausbildungsplatzabbau<br />

mit einem Minus von 8,2 Prozent an.<br />

Es gibt Berufsgruppen, die bis heute nicht<br />

<strong>im</strong> dualen, son<strong>der</strong>n ausschließlich <strong>im</strong> Schulberufssystem<br />

erlernt werden können. Der<br />

Schwerpunkt liegt bei den Erziehungs- <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitsberufen <strong>und</strong> damit in Bereichen<br />

mit expandieren<strong>der</strong> Fachkräftenachfrage.<br />

Doch auch <strong>im</strong> Schulberufssystem ist das Platzangebot<br />

<strong>zur</strong>ückgegangen. 1.307 schulische<br />

Erstausbildungsplätze wurden <strong>im</strong> Jahr 2012<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen besetzt, <strong>im</strong> Vorjahr waren<br />

es 1.280. 3<br />

Die Gesamtbilanz für das Jahr 2012 ist<br />

also negativ: Die potenzielle <strong>und</strong> registrierte<br />

Ausbildungsnachfrage ist gestiegen, das Angebot<br />

ist dagegen rückläufig. We<strong>der</strong> die gute<br />

Konjunktur <strong>im</strong> vergangenen Jahr noch die<br />

Diskussionen über den erwarteten Fachkräftemangel<br />

haben Impulse für eine Ausweitung<br />

des Ausbildungsangebots gesetzt.<br />

Beste Bildungsvoraussetzungen bei<br />

Bewerberinnen <strong>und</strong> Bewerbern – unbesetzte<br />

Ausbildungsstellen bei Betrieben<br />

Den Erfolg von Bewerberinnen <strong>und</strong> Bewerbern<br />

können wir für die Menschen nachvollziehen,<br />

die bei <strong>der</strong> Agentur für Arbeit gemeldet<br />

sind. Von den 4.485 dort registrierten jungen<br />

Menschen hatte lediglich gut ein Drittel am<br />

Ende einen Ausbildungsvertrag in <strong>der</strong> Tasche<br />

(1.584 Jugendliche). Zusätzlich erhielten<br />

358 junge Menschen mit Benachteiligungen,<br />

Lernschwächen o<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ungen einen<br />

öffentlich geför<strong>der</strong>ten außerbetrieblichen<br />

Ausbildungsplatz. In Bremen-Stadt war dieser<br />

Anteil geringer als in Bremerhaven (Bremen-<br />

Stadt 6,3 Prozent, Bremerhaven 11,8 Prozent).<br />

Zum Stichtag am 30.09. wurden noch insgesamt<br />

135 junge Menschen als sogenannte<br />

›unversorgte Bewerberinnen <strong>und</strong> Bewerber‹<br />

gezählt. Sie hatten also we<strong>der</strong> eine Ausbildung<br />

begonnen noch ein Alternativangebot beispielsweise<br />

<strong>im</strong> Übergangssystem gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

hatten selbst zwei Monate nach Beginn des<br />

Ausbildungsjahres die aktive Suche noch nicht<br />

aufgegeben. Auffallend war die Situation in<br />

Bremerhaven. Dort stieg die Zahl <strong>der</strong> ›Unversorgten‹<br />

<strong>im</strong> Vergleich zum Vorjahr um 75 Prozent,<br />

in Bremen-Stadt waren es 40 Prozent.<br />

Immer wie<strong>der</strong> ist zu hören, <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> für<br />

den Misserfolg am Ausbildungsmarkt seien<br />

schlechte Bildungsvoraussetzungen. Es lohnt<br />

deshalb ein Blick auf die Bildungsstruktur <strong>der</strong><br />

Bewerberinnen <strong>und</strong> Bewerber. Nach <strong>der</strong> Statistik<br />

<strong>der</strong> Agentur für Arbeit 4 brachten die<br />

meisten jungen Frauen <strong>und</strong> Männer 2012 gute<br />

bis beste Voraussetzungen für eine duale Ausbildung<br />

mit. Der Anteil <strong>der</strong> Bewerberinnen<br />

<strong>und</strong> Bewerber ohne Schulabschluss war verschwindend,<br />

Hauptschulabsolventinnen <strong>und</strong><br />

-absolventen machten ein Viertel aus. Die<br />

meisten brachten den Realschulabschluss mit.<br />

Fast ebenso viele können mit <strong>der</strong> Fachhochschul-<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Hochschulreife aufwarten. Insgesamt<br />

verfügten gut 70 Prozent über einen<br />

mittleren o<strong>der</strong> höheren Schulabschluss. Mit<br />

2.473 jungen Menschen gehörte etwas mehr<br />

als die Hälfte <strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Agentur für Arbeit<br />

beratenen Ausbildungsinteressierten <strong>zur</strong><br />

Gruppe <strong>der</strong> ›Altbewerberinnen <strong>und</strong> Altbewerber‹.<br />

Auch bei diesen schon <strong>im</strong> Vorjahr erfolglosen<br />

jungen Menschen waren die schulischen<br />

Bildungsvoraussetzungen überwiegend gut.<br />

Etwas mehr als je ein Drittel verfügte über den<br />

Hauptschulabschluss o<strong>der</strong> die mittlere Reife<br />

<strong>und</strong> ein Viertel über die (Fach-)Hochschulreife.<br />

Mangelnde schulische Bildung scheint als<br />

Hauptursache für das Scheitern be<strong>im</strong> Übergang<br />

in Ausbildung demnach auszuscheiden.<br />

3 Entsprechend des<br />

Korrekturhinweises <strong>der</strong><br />

Bremer Vereinbarung,<br />

<strong>der</strong> dort lei<strong>der</strong> nicht <strong>im</strong><br />

Zahlenmaterial berücksichtigt<br />

wurde, wird hier<br />

die Ausbildung zum<br />

Erzieher/<strong>zur</strong> Erzieherin<br />

nicht zu den Erstausbildungen<br />

gezählt (287<br />

Plätze). Als Erstausbildung<br />

wurde sie mit dem<br />

Schuljahr 2012/2013<br />

durch den zweijährigen<br />

Bildungsgang ›Sozialpädagogische<br />

Assistenz‹<br />

(121 Plätze)<br />

ersetzt <strong>und</strong> ist seitdem<br />

als berufliche Weiterbildung<br />

definiert.<br />

4 Vgl. B<strong>und</strong>esagentur<br />

für Arbeit, Arbeitsmarkt<br />

in Zahlen, Ausbildungsstellenmarkt,<br />

September<br />

2012.


54<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 2<br />

Insgesamt 234 Lehrstellen blieben offen.<br />

Dabei gingen die Entwicklungen in den beiden<br />

Kommunen deutlich auseinan<strong>der</strong>.<br />

5 Vgl. Ebbinghaus/Loter:<br />

Besetzung von Ausbildungsstellen;<br />

welche<br />

Betriebe finden die<br />

Wunschkandidaten –<br />

welche machen Abstriche<br />

bei <strong>der</strong> Bewerberqualifikation<br />

– bei<br />

welchen bleiben Ausbildungsplätze<br />

unbesetzt?<br />

Hrsg.: B<strong>und</strong>esinstitut<br />

für Berufsbildung<br />

(BIBB), 2010.<br />

6 Vgl. Bildungsberichterstattung<br />

für das <strong>Land</strong><br />

Bremen Bd. 1, Bildung<br />

– Migration – soziale<br />

<strong>Lage</strong>. Hrsg.: Die Senatorin<br />

für Bildung, Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit,<br />

2012, S. 222 f.<br />

7 Vgl. Modellprojekt<br />

Jugend stärken:<br />

Aktiv in <strong>der</strong> Region,<br />

Bestandsaufnahme in<br />

Bremen, Oldenburg,<br />

Februar 2012.<br />

Auch die Zahl <strong>der</strong> als unbesetzt gemeldeten<br />

Ausbildungsplätze nahm zu, <strong>und</strong> zwar <strong>im</strong><br />

<strong>Land</strong> Bremen um knapp ein Drittel. Insgesamt<br />

234 Lehrstellen blieben offen. Dabei gingen<br />

die Entwicklungen in den beiden Kommunen<br />

deutlich auseinan<strong>der</strong>. In Bremen-Stadt war<br />

die Steigerung mit 70 Prozent erheblich, in<br />

Bremerhaven konnten dagegen die meisten<br />

bei <strong>der</strong> Agentur für Arbeit registrierten Ausbildungsstellen<br />

besetzt werden.<br />

Die Situation erscheint paradox: Auf <strong>der</strong><br />

einen Seite bleiben Ausbildungsstellen unbesetzt,<br />

auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite suchen ausbildungsinteressierte<br />

Jugendliche vergeblich eine<br />

Lehrstelle. Tatsächlich gehört dieses Phänomen<br />

in begrenzten Größenordnungen zum Marktgeschehen<br />

<strong>und</strong> das Gr<strong>und</strong>recht auf Berufswahlfreiheit<br />

verlangt geradezu nach einem<br />

Überhang auf <strong>der</strong> Angebotsseite.<br />

Zieht man für das Ausbildungsjahr 2012 die<br />

Daten über die tatsächlich abgeschlossenen<br />

Ausbildungsverträge <strong>zur</strong>ate, fallen die beachtlichen<br />

Rückgänge <strong>im</strong> Hotel- <strong>und</strong> Gaststättengewerbe<br />

auf. Je<strong>der</strong> fünfte Ausbildungsplatz<br />

ist hier gegenüber dem Vorjahr nicht besetzt<br />

worden (-90 Plätze). Die Branche steht wegen<br />

ihrer Arbeitsbedingungen, <strong>der</strong> schlechten<br />

Bezahlung <strong>und</strong> schließlich <strong>der</strong> Ausbildungsqualität<br />

<strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> öffentlich in <strong>der</strong> Kritik.<br />

Mit einer Minijobquote von etwa 50 Prozent<br />

bietet sie jungen Menschen kaum Zukunftsperspektiven.<br />

Ein Teil <strong>der</strong> Lehrstellenvakanzen<br />

lässt sich also mit mangeln<strong>der</strong> Ausbildungsattraktivität<br />

erklären. Ein an<strong>der</strong>er relevanter<br />

Erklärungsansatz deutet darauf hin, dass<br />

erfolglose Auswahlverfahren häufig mit<br />

überzogenen Wunschvorstellungen von Betrieben<br />

an die Bewerberinnen <strong>und</strong> Bewerber<br />

einhergehen. 5 Auch <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen gibt es<br />

entsprechende Hinweise, denen nachzugehen<br />

sich lohnt.<br />

Das Übergangssystem –<br />

verwirrende Angebotsvielfalt <strong>und</strong><br />

intransparente Entwicklung<br />

Der Bildungsbericht des <strong>Land</strong>es Bremen zeigt,<br />

dass nur gut je<strong>der</strong> fünfte Jugendliche direkt<br />

aus <strong>der</strong> allgemeinbildenden Schule in die<br />

duale Berufsausbildung wechselt. Dagegen<br />

gehen 43,2 Prozent (in Bremen-Stadt 39,3<br />

Prozent <strong>und</strong> in Bremerhaven 58,2 Prozent) in<br />

das sogenannte Übergangssystem. 6 Etwa 3.300<br />

Plätze <strong>im</strong> Übergangssystem wurden 2012<br />

öffentlich finanziert. Weshalb es bremischen<br />

Schulabgängerinnen <strong>und</strong> Schulabgängern so<br />

vergleichsweise selten gelingt, direkt in Ausbildung<br />

einzumünden, <strong>und</strong> was die Ursachen<br />

misslingen<strong>der</strong> Übergänge sind, bleibt eine offene<br />

Frage. Auch wissen wir nichts darüber, wie<br />

viele Jugendliche ganz ›verloren gehen‹. Allein<br />

die Agentur für Arbeit verzeichnet in ihrer<br />

Statistik 2012 mehr als 1.000 Jugendliche, über<br />

<strong>der</strong>en Verbleib nichts bekannt ist. Nach vielen<br />

Jahren manifester ›Ausbildungskrise‹ fehlen<br />

belastbare regionale Daten, überzeugende<br />

Erklärungsansätze <strong>und</strong> Analysen über die<br />

tatsächlichen Bedarfe. So bleibt auch unklar,<br />

ob die bestehenden Übergangsangebote<br />

überhaupt passen. Selbst Expertinnen <strong>und</strong><br />

Experten fällt es schwer, sich einen Überblick<br />

zu verschaffen. 7<br />

Politisch gewollt ist <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen <strong>der</strong><br />

Vorrang von Ausbildung. Alle Akteure sind<br />

sich einig, dass das Übergangssystem zugunsten<br />

von Berufsausbildung abgebaut werden<br />

soll. Dieser Abbau ist <strong>im</strong> vollen Gange –<br />

währenddessen <strong>im</strong> Hintergr<strong>und</strong> das Ausbildungsplatzangebot<br />

ebenso <strong>zur</strong>ückgeht wie<br />

die öffentlichen Finanzierungsmittel.<br />

So sind die über B<strong>und</strong>esmittel geför<strong>der</strong>ten<br />

Maßnahmen <strong>der</strong> Agentur für Arbeit allesamt<br />

rückgängig (-3,3 Prozent). Bei <strong>der</strong> Einstiegsqualifizierung<br />

ist etwa je<strong>der</strong> zehnte Platz entfallen.<br />

Dabei hatte die ›Bremer Vereinbarung‹<br />

für dieses Instrument den Ausbau verabredet.<br />

Denn es erreicht überproportional viele


55<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Abb. 1: Struktur <strong>der</strong> Bewerberinnen <strong>und</strong><br />

Bewerber bei <strong>der</strong> Agentur für Arbeit nach<br />

Bildungsvoraussetzungen <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

2012<br />

Anteil an allen<br />

Bewerberinnen<br />

<strong>und</strong> Bewerbern<br />

in Prozent<br />

alle Bewerberinnen <strong>und</strong> Bewerber<br />

ohne Hauptschulabschluss<br />

25<br />

Hauptschulabschluss<br />

1.220<br />

Realschulabschluss<br />

1.590<br />

Fachhochschulreife<br />

826<br />

allgemeine Hochschulreife<br />

687<br />

unversorgte Bewerberinnen <strong>und</strong> Bewerber<br />

ohne Hauptschulabschluss<br />

0<br />

Hauptschulabschluss<br />

33<br />

Realschulabschluss<br />

31<br />

Fachhochschulreife<br />

38<br />

allgemeine Hochschulreife<br />

30<br />

0,6<br />

27,2<br />

35,5<br />

18,4<br />

15,3<br />

0<br />

24,4<br />

23,0<br />

28,1<br />

22,2<br />

Struktur <strong>der</strong> ›Altbewerberinnen <strong>und</strong> Altbewerber‹<br />

alle ›Altbewerberinnen <strong>und</strong> Altbewerber‹<br />

ohne Hauptschulabschluss<br />

14<br />

Hauptschulabschluss<br />

835<br />

Realschulabschluss<br />

888<br />

Fachhochschulreife<br />

368<br />

allgemeine Hochschulreife<br />

236<br />

unversorgte ›Altbewerberinnen <strong>und</strong> Altbewerber‹<br />

ohne Hauptschulabschluss<br />

0<br />

Hauptschulabschluss<br />

26<br />

Realschulabschluss<br />

20<br />

Fachhochschulreife<br />

17<br />

allgemeine Hochschulreife<br />

7<br />

Quelle: Statistik <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit,<br />

Ausbildungsstellenmarkt <strong>im</strong> September 2012<br />

0,5<br />

33,8<br />

35,9<br />

14,9<br />

9,5<br />

0<br />

35,6<br />

27,4<br />

23,3<br />

9,6<br />

Übergänge in duale Ausbildung (Übergangsquote<br />

58,9 Prozent) <strong>und</strong> in Kombination mit<br />

dem Berufsschulbesuch <strong>und</strong> <strong>der</strong> Anrechenbarkeit<br />

auf eine folgende Ausbildung ist gerade<br />

die Einstiegsqualifizierung keine Warteschleife.<br />

Anlass <strong>zur</strong> Sorge ist auch <strong>der</strong> drastische<br />

Rückgang von außerbetrieblicher Ausbildung.<br />

Das Instrument gehört zwar nicht <strong>im</strong> eigentlichen<br />

Sinn zum Übergangssystem, verdient<br />

aber deshalb Beachtung, weil es beson<strong>der</strong>s<br />

benachteiligten Jugendlichen einen Ausbildungsabschluss<br />

ermöglicht. In zwei Kürzungsr<strong>und</strong>en<br />

wurden die Plätze innerhalb von<br />

zwei Jahren mehr als halbiert.<br />

Im schulischen Übergangssystem hat das<br />

Bildungsressort seine Angebote ebenfalls<br />

abgeschmolzen. Inwieweit das Ziel erreicht<br />

wurde, etwa durch die nun obligatorische<br />

Beratung bei Anmeldung <strong>zur</strong> berufsvorbereitenden<br />

Berufsfachschule mehr Schülerinnen<br />

<strong>und</strong> Schüler direkt in duale Ausbildung zu<br />

vermitteln, ist bisher nicht veröffentlicht.<br />

Gerade für Jugendliche mit geringen<br />

Chancen macht <strong>der</strong> Rückbau des Übergangssystems<br />

die Situation schwieriger. Zu ihnen<br />

gehören die Schulabgängerinnen <strong>und</strong> Schulabgänger<br />

ohne Abschluss, die pauschal als<br />

›nicht ausbildungsgeeignet‹ definiert <strong>und</strong> von


56<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

<strong>der</strong> Arbeitsagentur in aller Regel noch nicht<br />

einmal als Bewerberinnen <strong>und</strong> Bewerber<br />

geführt werden. Auch Hauptschulabsolventinnen<br />

<strong>und</strong> -absolventen – <strong>im</strong> Jahr 2012 <strong>im</strong>merhin<br />

1.220 Jugendliche – gehören häufig zu den<br />

›Marktverlierern‹. Denn sie müssen sich <strong>der</strong><br />

ungleichen Konkurrenz mit vielen Bewerberinnen<br />

<strong>und</strong> Bewerbern mit höheren Schulabschlüssen<br />

stellen. Schließlich gibt es ganz<br />

unabhängig vom Bildungsstatus junge Menschen,<br />

die sozial unangepasst wirken o<strong>der</strong> aus<br />

schwierigen Herkunftsfamilien stammen,<br />

Sprachschwierigkeiten haben o<strong>der</strong> aus einem<br />

an<strong>der</strong>en Kulturkreis kommen.<br />

Nicht einmal <strong>der</strong> demografische Wandel<br />

wird ihre Chancen absehbar verbessern. Der<br />

Markt wirkt nicht integrativ, son<strong>der</strong>n selektiv.<br />

Die Auslesemechanismen nach schulischer<br />

Vorbildung, nach Geschlecht o<strong>der</strong> Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

sorgen hartnäckig für Ausschlüsse.<br />

Solange Unternehmen aber eher auf Nachwuchsför<strong>der</strong>ung<br />

verzichten als sich auf junge<br />

Menschen einzulassen, die Unternehmenskulturen<br />

vielfältiger machen o<strong>der</strong> mehr Begleitung<br />

brauchen, bleiben viele junge Frauen <strong>und</strong><br />

Männer auf systematische Unterstützung angewiesen.<br />

Mehr Ausbildungsplätze schaffen –<br />

Übergangssystem opt<strong>im</strong>ieren<br />

Das Übergangssystem ist in <strong>der</strong> nun schon<br />

Jahrzehnte andauernden Ausbildungskrise als<br />

Alternativangebot für Jugendliche entstanden,<br />

die <strong>im</strong> ersten Anlauf am Markt scheitern. In<br />

den vergangenen Jahren ist es massiv in die<br />

Kritik geraten: Es schaffe we<strong>der</strong> Übergänge,<br />

noch habe es System. Als dritte Säule des<br />

Berufsbildungssystems wird es aber solange<br />

gebraucht, bis genügend Ausbildungsplätze<br />

<strong>zur</strong> Verfügung stehen. Doch es muss sich verän<strong>der</strong>n.<br />

Die Instrumente müssen sich an <strong>der</strong><br />

Lebenswirklichkeit von Jugendlichen orientieren<br />

– nicht umgekehrt. Wer Berufsorientie-


57<br />

rung <strong>und</strong> Berufsvorbereitung braucht, soll sie<br />

bekommen. Doch wir wissen längst, dass diese<br />

standardisierten Übergangswege nicht für<br />

alle passen. Die vielfältigen Lebenssituationen<br />

junger Menschen machen es nötig, vielfältige<br />

Wege zu eröffnen. Der Übergang in Ausbildung<br />

muss vorrangig sein <strong>und</strong> da, wo er nicht<br />

gelingt, muss die Abschlussorientierung in<br />

den Fokus rücken, <strong>und</strong> sei es in noch so<br />

kleinen Schritten. Am Ende muss für alle, die<br />

wollen, ein Berufsabschluss stehen.<br />

In diesem Sinne ist die Berufseinstiegsbegleitung<br />

ein neues Instrument, das b<strong>und</strong>esweit<br />

modellhaft bis 2014 erprobt wird. Dieser<br />

individuelle <strong>und</strong> institutionenübergreifende<br />

Ansatz setzt neue Impulse <strong>und</strong> verspricht<br />

interessante Erkenntnisse. Seit dem 1. Oktober<br />

2012 entwickelt ein Pilotprojekt in Bremen-<br />

Nord das Konzept für einen ›Bremer Weg‹<br />

für die Einstiegsbegleitung. Über Umsetzung,<br />

Ausstattung <strong>und</strong> Qualitätsstandards wird<br />

weiter zu diskutieren sein.<br />

Die oberste Priorität bleibt aber: Endlich mehr<br />

Ausbildungsplätze schaffen! Die ›Bremer Vereinbarung‹,<br />

<strong>der</strong> auch die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

angehört, hat sich diesem zentralen Ziel<br />

verpflichtet. Dennoch lässt sich seit <strong>der</strong> Erstunterzeichnung<br />

<strong>im</strong> Jahr 2008 <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

ein Rückgang <strong>der</strong> neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge<br />

von insgesamt 5,1 Prozent feststellen.<br />

Zuletzt bildeten nur 24,1 Prozent mit<br />

leicht rückläufiger Tendenz aus. 8 Es ist also<br />

nicht gelungen, die Ausbildungsplatzlücke zu<br />

schließen.<br />

Denn am Ende bleibt es allein <strong>der</strong> Entscheidung<br />

von Unternehmen überlassen, wie viele<br />

Lehrstellen sie schaffen. Bei knapp gehaltenem<br />

Angebot <strong>und</strong> anhaltend hoher Nachfrage bleiben<br />

die Betriebe in <strong>der</strong> komfortablen <strong>Lage</strong>, aus<br />

einem großen Bewerberinnen- <strong>und</strong> Bewerber-<br />

Pool auswählen zu können. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Seite beschränkt das knappe Ausbildungsangebot<br />

die Chancen von jungen Erwachsenen, eine<br />

zu ihrem Wunschberuf passende Lehrstelle<br />

zu finden.<br />

8 Vgl. Tabellen <strong>zur</strong><br />

jährlichen Erhebung <strong>der</strong><br />

neu abgeschlossenen<br />

Ausbildungsverträge<br />

zum Stichtag 30. September<br />

des B<strong>und</strong>esinstituts<br />

für Berufsbildung<br />

(BIBB), abrufbar unter<br />

www.bibb.de/de/<br />

wlk8225.htm


58<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

9 Vgl. Bildungsberichterstattung<br />

für das <strong>Land</strong><br />

Bremen Bd. 1, Bildung –<br />

Migration – soziale<br />

<strong>Lage</strong>. Hrsg.: Die Senatorin<br />

für Bildung, Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit,<br />

2012, S. 62.<br />

10 Vgl. Statistik <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur<br />

für Arbeit,<br />

Arbeitsmarkt in Zahlen,<br />

Arbeitslose nach<br />

Rechtskreisen, Dezember<br />

2012 <strong>und</strong> Statistik<br />

<strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur<br />

für Arbeit, Analyse des<br />

Arbeits- <strong>und</strong> Ausbildungsstellenmarktes<br />

für<br />

unter 25-Jährige in<br />

Bremen, Oktober 2012.<br />

Die seit vielen Jahren andauernde Ausbildungskrise<br />

hat tiefe Spuren hinterlassen. Im <strong>Land</strong><br />

Bremen haben fast 27 Prozent <strong>der</strong> Erwachsenenbevölkerung<br />

zwischen 25 <strong>und</strong> unter 65 Jahren<br />

keinen Berufsabschluss. Das ist b<strong>und</strong>esweit<br />

<strong>der</strong> höchste Wert <strong>und</strong> liegt zehn Prozentpunkte<br />

über dem b<strong>und</strong>esdeutschen Durchschnitt. 9<br />

In <strong>der</strong> Altersgruppe <strong>der</strong> unter 35-Jährigen ist<br />

<strong>der</strong> Anteil groß <strong>und</strong> verfestigt, die Risikolagen<br />

Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> Armut sind für den gesamten<br />

Lebensverlauf programmiert. So hatten<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen 60,5 Prozent <strong>der</strong> Arbeitslosen<br />

keinen Berufsabschluss. Das sind 21.723 Menschen.<br />

Bei den unter 25-Jährigen waren es sogar<br />

75 Prozent. 10 Teile einer ganzen Generation<br />

drohen abgehängt zu werden. Sie brauchen<br />

eine zweite Chance mit Nachqualifizierungsangeboten,<br />

die einen Berufsabschluss mit<br />

guten Perspektiven zum Ziel haben.<br />

Ausbildung bleibt die gesellschaftliche Verpflichtung<br />

<strong>der</strong> Arbeitgeber. Solange Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Verwaltung nicht ausreichend in Nachwuchsför<strong>der</strong>ung<br />

investieren, verlieren Klagen<br />

über einen Fachkräftemangel ihre Glaubwürdigkeit.<br />

Handlungsbedarfe – was zu tun ist<br />

❚ Betriebliche Ausbildungsplätze sind <strong>der</strong> Kern des<br />

Berufsbildungssystems. Die Arbeitgeber tragen<br />

die beson<strong>der</strong>e gesellschaftliche Verantwortung,<br />

betriebliche Ausbildung sicherzustellen. Sie müssen<br />

deutlich mehr Ausbildungsplätze <strong>im</strong> dualen System<br />

schaffen. Solange aber nur jedes vierte Unternehmen<br />

ausbildet, Fachkräfte gebraucht werden <strong>und</strong><br />

dennoch junge Menschen ohne Ausbildungsplatz<br />

bleiben, ist diese Verantwortung nicht eingelöst.<br />

Die For<strong>der</strong>ung nach einer Ausbildungsplatzabgabe<br />

wird angesichts <strong>der</strong> fehlenden Plätze <strong>und</strong> auch<br />

<strong>der</strong> Quote ausbilden<strong>der</strong> Betriebe wie<strong>der</strong> aktuell.<br />

❚ Solange nicht alle jungen Menschen mit Ausbildungsplätzen<br />

versorgt sind, ist das Übergangssystem<br />

nicht überflüssig. Sparanstrengungen dürfen<br />

nicht vor dem Erhalt von sinnvollen Angeboten,<br />

Eigeninteressen nicht vor <strong>der</strong> passgenauen Weiterentwicklung<br />

stehen. Das Übergangssystem muss<br />

opt<strong>im</strong>iert <strong>und</strong> systematisiert werden. Übergänge<br />

›ins Nichts‹ darf es nicht geben. Da, wo das direkte<br />

Einmünden in Ausbildung nicht gelingt, muss<br />

Abschlussorientierung in den Fokus rücken, <strong>und</strong><br />

sei es in noch so kleinen Schritten. Die Erfahrungen<br />

aus dem Modellprojekt ›Berufseinstiegsbegleitung‹<br />

in Bremen-Nord müssen orientiert an diesen Zielsetzungen<br />

ausgewertet <strong>und</strong> bilanziert werden. Ob eine<br />

flächendeckende Einführung des Instruments gelingen<br />

kann, wird davon abhängen, ob <strong>der</strong> gesetzliche<br />

Kofinanzierungsvorbehalt fällt. Dafür sollte sich<br />

das <strong>Land</strong> Bremen <strong>im</strong> B<strong>und</strong> einsetzen. Bestehende<br />

Angebote wie die Einstiegsqualifizierung o<strong>der</strong> die<br />

2012 neu eingerichtete ›Dualisierte Berufsfachschule‹<br />

mit hohen Praktikumsanteilen <strong>im</strong> handwerklichen<br />

Bereich bieten Möglichkeiten <strong>zur</strong> Anrechenbarkeit<br />

auf Ausbildung. Es ist <strong>im</strong> Sinne von Jugendlichen<br />

fahrlässig, dass diese Chancen <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

kaum genutzt werden.<br />

❚ Auszubildende mit beson<strong>der</strong>em För<strong>der</strong>- <strong>und</strong> Unterstützungsbedarf<br />

sollen ebenso wenig allein bleiben<br />

wie Betriebe, die sich ihnen öffnen. Es gibt neue <strong>und</strong><br />

bewährte Instrumente <strong>zur</strong> Unterstützung wie die<br />

Berufseinstiegsbegleitung, die Einstiegsqualifizierung<br />

o<strong>der</strong> auch ausbildungsbegleitende Hilfen.<br />

Sie werden <strong>zur</strong>zeit gekürzt. Sie müssen stattdessen<br />

ausgeweitet, miteinan<strong>der</strong> verknüpft <strong>und</strong> koordiniert<br />

an den Lernorten Berufsschule <strong>und</strong> Betrieb eingesetzt<br />

werden. So können auch als schwierig angesehene<br />

Jugendliche erfolgreich zum Berufsabschluss<br />

begleitet werden.<br />

❚ Je länger <strong>der</strong> Schulabschluss <strong>zur</strong>ückliegt, desto<br />

geringer werden die Chancen auf duale Erstausbildung.<br />

Im Februar 2013 hat ein Nachqualifizierungsprojekt<br />

begonnen, das auf das Instrument<br />

›Externenprüfung‹ setzt. Es ist für eine begrenzte<br />

Gruppe Arbeitsloser geeignet, denen jenseits einer<br />

Erstausbildung <strong>und</strong> einer klassischen Umschulung<br />

ein dritter Weg zum Berufsabschluss eröffnet werden<br />

soll. Das ist ein guter erster Schritt. Er muss<br />

ausgebaut werden, um auch an<strong>der</strong>e Arbeitslose <strong>und</strong><br />

nicht zuletzt ungelernte Beschäftigte mit abschlussbezogener<br />

Nachqualifizierung erreichen zu können.


59<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Minijobs<br />

Umfassende Reform notwendig<br />

R E G I N E G E R A E D T S<br />

Im Oktober 2012 hat <strong>der</strong> Deutsche B<strong>und</strong>estag<br />

eine ›Minireform‹ für ›Minijobs‹ beschlossen.<br />

Schon <strong>im</strong> Vorfeld war dadurch die Diskussion<br />

über die sozial- <strong>und</strong> arbeitsmarktpolitische<br />

Bedeutung geringfügiger Beschäftigung neu<br />

entfacht. Darin wurden <strong>im</strong>mer mehr St<strong>im</strong>men<br />

laut, die aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln<br />

Argumente für eine umfassende Neuordnung<br />

<strong>der</strong> ›kleinen‹ Beschäftigungsverhältnisse<br />

<strong>und</strong> auch konkrete Reformmodelle einbrachten.<br />

Auch die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer hat sich<br />

mit zwei Expertisen an <strong>der</strong> Debatte beteiligt. 1<br />

Seit Beginn des Jahres 2013 gilt nun die neu<br />

beschlossene gesetzliche Gr<strong>und</strong>lage für Minijobs:<br />

Erhöhung <strong>der</strong> Einkommensgrenze<br />

von bisher 400 auf 450 Euro <strong>und</strong> verbesserte<br />

Integrationsmöglichkeiten in <strong>der</strong> Rentenversicherung.<br />

Antworten auf die problematischen<br />

Auswirkungen von Minijobs auf <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong> liefern diese Verän<strong>der</strong>ungen<br />

nicht.<br />

Ein Blick <strong>zur</strong>ück<br />

Im Rahmen <strong>der</strong> Agenda 2010 <strong>und</strong> <strong>der</strong> sogenannten<br />

›Hartz‹-Gesetze wurde 2003 die<br />

geringfügige Beschäftigung gr<strong>und</strong>legend reformiert.<br />

Die Verdienstgrenze wurde damals<br />

auf 400 Euro angehoben, die Beschäftigten<br />

wurden vollständig von Steuern <strong>und</strong> Sozialabgaben<br />

befreit, die Arbeitgeber dagegen mit<br />

Pauschalabgaben von knapp über 30 Prozent<br />

belastet. Für die <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Arbeitnehmer</strong> entstanden trotz <strong>der</strong> eingezahlten<br />

Beiträge keine nennenswerten Ansprüche<br />

auf Leistungen <strong>der</strong> Sozialversicherung. Die<br />

steuer- <strong>und</strong> abgabenfreie Nebenbeschäftigung<br />

wurde <strong>im</strong> Minijob wie<strong>der</strong> zugelassen <strong>und</strong><br />

schließlich wurde die L<strong>im</strong>itierung <strong>der</strong><br />

Wochenarbeitszeit auf max<strong>im</strong>al 15 St<strong>und</strong>en<br />

aufgehoben, die bis dahin die zeitliche Obergrenze<br />

für Geringfügigkeit markiert hatte.<br />

Bei den politischen Zielsetzungen <strong>der</strong> Reform<br />

stand <strong>im</strong> Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>, mehr Beschäftigung<br />

<strong>im</strong> Niedriglohnsektor <strong>und</strong> Flexibilität<br />

vordringlich für Unternehmen zu schaffen.<br />

Außerdem wurde den Minijobs eine Brückenfunktion<br />

für Arbeitslose zugeschrieben,<br />

indem sie den ersten Schritt auf dem Weg in<br />

sozialversicherungspflichtige Beschäftigung<br />

darstellen sollten.<br />

Die Bilanz nach zehn Jahren Reform ist bei<br />

Expertinnen <strong>und</strong> Experten selten einhellig<br />

<strong>und</strong> gleichzeitig ernüchternd: Minijobs sind<br />

kein guter Einstieg in sozialversicherte Beschäftigung,<br />

sie entwickeln eher einen beson<strong>der</strong>s<br />

festen ›Klebeeffekt‹. 2 Zum Ausbau eines<br />

flexiblen Niedriglohnsektors in Deutschland<br />

haben sie dagegen entscheidend beigetragen.<br />

Minijobs als Massenphänomen<br />

Nach <strong>der</strong> Reform stieg die Zahl <strong>der</strong> Minijobs<br />

sprunghaft von 4,2 Millionen (2002) auf 5,5<br />

Millionen nach Inkrafttreten des Gesetzes <strong>im</strong><br />

Juni 2003 bis auf <strong>der</strong>zeit knapp 7,3 Millionen<br />

(März 2012). Die größten Zuwächse waren in<br />

den ersten beiden Jahren nach <strong>der</strong> Reform zu<br />

verzeichnen. Seit 2009 hat sich das Wachstum<br />

zwar abgeschwächt, die Anzahl <strong>der</strong> geringfügigen<br />

Beschäftigungsverhältnisse liegt seitdem<br />

auf einem stabil hohen Niveau knapp über<br />

sieben Millionen. Der bisher höchste jemals<br />

gemessene Wert war <strong>im</strong> Dezember 2011 mit<br />

7,5 Millionen Minijobs zu verzeichnen.<br />

Im <strong>Land</strong> Bremen verläuft die Anstiegskurve<br />

ähnlich steil von 56.000 (2003) auf 70.866<br />

(März 2012). Hier, wie auch b<strong>und</strong>esweit, übt<br />

ungefähr ein Drittel <strong>der</strong> Minijobberinnen <strong>und</strong><br />

Minijobber die geringfügige Beschäftigung als<br />

Nebentätigkeit aus, während bei ungefähr<br />

zwei Dritteln <strong>der</strong> Minijob das einzige Arbeitseinkommen<br />

darstellt. 3<br />

1 Vgl. Rosenthal, Zehn<br />

Jahre Minijobs: Anhebung<br />

<strong>der</strong> Verdienstgrenze<br />

auf 450 Euro weist<br />

in die falsche Richtung –<br />

umfassende Reform<br />

notwendig, Hrsg.:<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen, Bremen 2012<br />

<strong>und</strong> Rosenthal/Kunkel:<br />

Zehn Jahre Minijobs,<br />

Bilanz <strong>und</strong> Weiterentwicklungsformen<br />

einer problematischen<br />

Beschäftigungsform,<br />

Hrsg.: <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen,<br />

Bremen 2012.<br />

2 Vgl. Wippermann,<br />

Carsten: Frauen <strong>im</strong><br />

Minijob, Motive <strong>und</strong><br />

(Fehl‐)Anreize für die<br />

Aufnahme geringfügiger<br />

Beschäftigung <strong>im</strong><br />

Lebenslauf, Berlin 2012.<br />

3 Wenn nicht an<strong>der</strong>s<br />

vermerkt, vergleiche zu<br />

allen Daten Rosenthal/<br />

Kunkel, Zehn Jahre<br />

Minijobs, Bilanz <strong>und</strong> Weiterentwicklungsformen<br />

einer problematischen<br />

Beschäftigungsform,<br />

Hrsg. <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen,<br />

Bremen 2012.


60<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 2<br />

4 Vgl. ebenda; Stellungnahme<br />

Deutscher Rentenversicherungsb<strong>und</strong>.<br />

5 Vgl. ebenda; Stellungnahme<br />

Claudia Weinkopf.<br />

Abb. 1:<br />

Minijobs <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

80.000<br />

70.000<br />

60.000<br />

50.000<br />

40.000<br />

30.000<br />

20.000<br />

10.000<br />

0<br />

2003<br />

2004<br />

ausschließlich<br />

2005<br />

2006<br />

Nebenjob<br />

2007<br />

2008<br />

insgesamt<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit, Beschäftigung am Arbeitsort,<br />

Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven, Ende Juni 2012<br />

2009<br />

2010<br />

2011<br />

2012<br />

Noch <strong>im</strong>mer arbeiten überwiegend Frauen<br />

in diesem Arbeitsmarktsegment. Beson<strong>der</strong>s bei<br />

den ausschließlich geringfügig Beschäftigten<br />

dominieren sie <strong>im</strong> B<strong>und</strong>esdurchschnitt mit<br />

knapp zwei Dritteln, während <strong>der</strong> Unterschied<br />

zwischen den Geschlechtern bei den Nebentätigkeiten<br />

geringer ausfällt (57,1 Prozent<br />

Frauen gegenüber 42,9 Prozent Männern). Der<br />

Trend geht aber längst in eine an<strong>der</strong>e Richtung,<br />

denn insgesamt ist <strong>der</strong> Anstieg des Männeranteils<br />

rasanter <strong>und</strong> das Männer-Frauen-<br />

Verhältnis gleicht sich kontinuierlich an.<br />

Beson<strong>der</strong>s deutlich zeigt sich diese Entwicklung<br />

in Berlin. Dort sind 44,7 Prozent aller<br />

geringfügig Beschäftigen Männer. An<strong>der</strong>e B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong><br />

rücken nach. Im <strong>Land</strong> Bremen hat<br />

<strong>der</strong> Männeranteil die 40-Prozent-Marke bereits<br />

überschritten.<br />

Minijobs werden bis heute gern als kleine<br />

Zuverdienstmöglichkeit für Hausfrauen<br />

betrachtet. Diesem Randbereich des Arbeitsmarkts<br />

sind sie aber längst entwachsen.<br />

Mittlerweile sind sie zu einem Massenphänomen<br />

geworden. Etwa jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis<br />

ist inzwischen geringfügig,<br />

b<strong>und</strong>esweit <strong>und</strong> auch in Bremen. Nach <strong>der</strong><br />

sozialversicherten Teilzeitbeschäftigung<br />

sind Minijobs die am stärksten verbreitete<br />

atypische Beschäftigungsform.<br />

Klein ist be<strong>im</strong> Minijob nur <strong>der</strong> Verdienst<br />

Die meisten Verdienste <strong>im</strong> Minijob liegen<br />

unterhalb <strong>der</strong> bisher gültigen Grenze von 400<br />

Euro. So weist die B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit<br />

für das Jahr 2009 ein durchschnittliches Entgelt<br />

über alle Branchen hinweg von 293 Euro<br />

aus. Das mittlere Einkommen variiert dabei<br />

je nach Wirtschaftsabschnitt zwischen<br />

162 Euro <strong>und</strong> 344 Euro. Aktuellere Daten<br />

unterstreichen, dass die Rede von ›400-Euro-<br />

Jobs‹ nicht <strong>der</strong> Realität entspricht. Nur<br />

etwa zehn Prozent <strong>der</strong> Minijobberinnen <strong>und</strong><br />

Minijobber erzielen ein monatliches Einkommen<br />

von annähernd 400 Euro. 4<br />

Jenseits <strong>der</strong> Monatsverdienste sind auch die<br />

St<strong>und</strong>enlöhne von Minijobberinnen <strong>und</strong> Minijobber<br />

aufschlussreich. Das Institut für Arbeit<br />

<strong>und</strong> Qualifikation (IAQ) an <strong>der</strong> Universität<br />

Duisburg-Essen ermittelte auf St<strong>und</strong>enlohnbasis<br />

für das Jahr 2010 einen Niedriglohnanteil<br />

von 86 Prozent bei geringfügig Beschäftigten.<br />

Das heißt, dass nahezu neun von zehn Minijobberinnen<br />

<strong>und</strong> Minijobber in Westdeutschland<br />

St<strong>und</strong>enlöhne unter 9,54 Euro <strong>und</strong> in Ostdeutschland<br />

unter 7,04 Euro beziehen. Knapp<br />

die Hälfe verdient dabei unter sieben Euro<br />

<strong>und</strong> ein Viertel sogar weniger als fünf Euro pro<br />

St<strong>und</strong>e. Inzwischen stellen Minijob-Beschäftigte<br />

einen Anteil von mehr als einem Drittel<br />

(35,8 Prozent) <strong>im</strong> Niedriglohnsektor. Er hat<br />

sich seit 1995 verdoppelt. Dabei macht die<br />

Qualifikation <strong>der</strong> Beschäftigten bei <strong>der</strong> Bezahlung<br />

keinen großen Unterschied. Minijobberinnen<br />

<strong>und</strong> Minijobber ohne Berufsabschluss<br />

tragen zwar das höchste Niedriglohnrisiko,<br />

aber auch von den geringfügig beschäftigten<br />

Akademikerinnen <strong>und</strong> Akademiker erhielten<br />

61,4 Prozent nur einen Niedriglohn. 5


61<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Ein Minijob bietet auch bei vollen Rentenbeiträgen<br />

am Ende <strong>im</strong>mer nur eine Minirente, <strong>der</strong> Verzicht auf<br />

eigene Beitragszahlungen lässt dagegen ein bisschen<br />

mehr vom verfügbaren monatlichen Einkommen übrig.<br />

Die Erhöhung <strong>der</strong> Verdienstgrenze auf 450<br />

Euro hat die B<strong>und</strong>esregierung vor allem damit<br />

begründet, geringfügige Beschäftigung würde<br />

nun ›erstmals an die seither erfolgte Lohnentwicklung<br />

angepasst‹ <strong>und</strong> Minijobberinnen<br />

<strong>und</strong> Minijobber könnten nun ›mehr hinzuverdienen‹.<br />

In den durchschnittlichen <strong>und</strong><br />

mittleren monatlichen Arbeitsentgelten kann<br />

diese Anpassung nicht begründet sein. Dass<br />

die neue Verdienstgrenze <strong>zur</strong> Anhebung <strong>der</strong><br />

St<strong>und</strong>enlöhne führt, wird kaum gemeint sein.<br />

Wahrscheinlicher ist, dass bei gleichbleibend<br />

niedrigen St<strong>und</strong>enverdiensten die Arbeitszeiten<br />

ausgeweitet werden, also ein höherer<br />

Monatslohn durch noch mehr schlecht bezahlte<br />

Arbeitsst<strong>und</strong>en erreicht wird. Ein ganz<br />

neues Problemfeld eröffnet sich durch die<br />

Reform für die <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>,<br />

die heute zwischen 401 <strong>und</strong> 450 Euro<br />

in sozialversicherter Teilzeit verdienen. Spätestens<br />

nach <strong>der</strong> längstens bis zum 31. Dezember<br />

2014 währenden Übergangszeit werden sie von<br />

<strong>der</strong> neuen Verdienstgrenze ›eingeholt‹ <strong>und</strong> verlieren<br />

ihren vollen Sozialversicherungsschutz.<br />

Noch weit kleiner als die Verdienste bleiben<br />

die Rentenansprüche. Zwar gilt nun gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

die Rentenversicherungspflicht für Minijobs,<br />

die eingebaute Opt-out-Regelung wird<br />

aber dazu führen, dass <strong>der</strong> größte Teil <strong>der</strong><br />

geringfügig Beschäftigten sich aus <strong>der</strong> Rentenversicherung<br />

herauswählen wird. Davon geht<br />

selbst die B<strong>und</strong>esregierung aus. Die Rechnung<br />

ist einfach: Ein Minijob bietet auch bei vollen<br />

Rentenbeiträgen am Ende <strong>im</strong>mer nur eine<br />

Minirente, <strong>der</strong> Verzicht auf eigene Beitragszahlungen<br />

lässt dagegen ein bisschen mehr vom<br />

verfügbaren monatlichen Einkommen übrig.<br />

Benachteiligungen für<br />

<strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong><br />

Die gesamte Konstruktion geringfügiger<br />

Beschäftigungsverhältnisse basiert darauf, dass<br />

soziale Sicherung <strong>und</strong> insbeson<strong>der</strong>e die<br />

Krankenversicherung durch an<strong>der</strong>e Systeme<br />

garantiert sind. Denn gegen soziale Risiken<br />

wie Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit <strong>und</strong><br />

vor allem Krankheit sind Minijobberinnen <strong>und</strong><br />

Minijobber trotz abgeführter Pauschalbeiträge<br />

nicht abgesichert. Nach dieser Sicherungslücke<br />

definieren sich automatisch die Gruppen, für<br />

die geringfügige Beschäftigung überhaupt<br />

möglich o<strong>der</strong> attraktiv ist. Bei einem groben<br />

Überblick über die ausschließlich geringfügig<br />

Beschäftigten stellen Ehefrauen bisher noch<br />

die größte Gruppe. Der Familienernährer sorgt<br />

für das Haupteinkommen, aus dem sich auch<br />

<strong>der</strong> familiäre Versicherungsschutz ableitet.<br />

Weil sich mit dieser Konstruktion für Frauen<br />

familiäre Abhängigkeitsverhältnisse <strong>im</strong> gesamten<br />

Lebensverlauf verfestigen, hat <strong>der</strong> erste<br />

Gleichstellungsbericht <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esregierung<br />

Minijobs als ›gleichstellungspolitisch desaströs‹<br />

bezeichnet. Bei Minijobberinnen <strong>und</strong> Minijobbern,<br />

die ergänzende ›Hartz-IV‹-Leistungen<br />

beziehen, trägt die steuerfinanzierte Gr<strong>und</strong>sicherung<br />

die Krankenkassenbeiträge. B<strong>und</strong>esweit<br />

sind etwa 15 Prozent <strong>der</strong> Minijobberinnen<br />

<strong>und</strong> Minijobber auf ergänzendes Arbeitslosengeld<br />

II angewiesen, <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen ist es<br />

sogar jede/r fünfte, wie die ›Aufstockerstudie‹<br />

<strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer gezeigt hat. Betrachtet<br />

man an<strong>der</strong>sherum die Gruppe <strong>der</strong> sogenannten<br />

Aufstockerinnen <strong>und</strong> Aufstocker insgesamt,<br />

ist je<strong>der</strong> zweite Mensch <strong>im</strong> Minijob. 6<br />

Geringfügig Beschäftigte sind deutlich häufiger<br />

von Armut betroffen als an<strong>der</strong>e Gruppen<br />

von Erwerbstätigen. Während die Armutsgefährdungsquote<br />

von Minijobberinnen <strong>und</strong><br />

Minijobber bei 23 Prozent liegt, trifft dies nur<br />

auf 3,2 Prozent <strong>der</strong> Normalbeschäftigten zu.<br />

Allein mit einem Minijob lässt sich schließlich<br />

schon aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> max<strong>im</strong>alen Verdienstgrenze<br />

kein existenzsicherndes Einkommen erzielen.<br />

Dabei würden zwei Drittel <strong>der</strong> geringfügig<br />

Beschäftigten ihre Arbeitszeit gerne ausweiten.<br />

Minijobberinnen <strong>und</strong> Minijobber partizipieren<br />

auch in deutlich geringerem Umfang<br />

als Normalbeschäftigte an betrieblicher Weiterbildung.<br />

Während 34 Prozent <strong>der</strong> Normalbeschäftigten<br />

an solchen Angeboten teilnehmen,<br />

trifft dies nur auf 15 Prozent <strong>der</strong> Minijobberin-<br />

6 Vgl. Rosenthal/<br />

Farke/von den Berg:<br />

Aufstocker <strong>im</strong> <strong>Land</strong><br />

Bremen. Hrsg.:<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen, Bremen 2010.


62<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

7 Vgl. Hanau, Peter:<br />

Das Rätsel Minijob.<br />

In: Neue Zeitschrift<br />

für Arbeitsrecht.<br />

Zweiwochenschrift<br />

für die betriebliche<br />

Praxis 15/2006.<br />

8 Vgl. Hohendanner/<br />

Stegmaier: Umstrittene<br />

Minijobs – geringfügige<br />

Beschäftigung in<br />

deutschen Betrieben. In:<br />

IAB-Kurzbericht Nr. 24,<br />

Dezember 2012.<br />

9 Vgl. Die Welt vom<br />

26.12.12: ›Rösler for<strong>der</strong>t<br />

einen flexibleren<br />

Arbeitsmarkt‹; vgl. dazu<br />

auch Koalitionsvertrag<br />

zwischen CDU, CSU <strong>und</strong><br />

FDP <strong>zur</strong> 17. Legislaturperiode<br />

des B<strong>und</strong>es vom<br />

26. Oktober 2009; vgl.<br />

Geringfügige Beschäftigung:<br />

Situation <strong>und</strong><br />

Gestaltungsoptionen;<br />

Bertelmann Stiftung,<br />

Guẗersloh 2012; vgl.<br />

IW-Dienst Nr. 51/52,<br />

Hrsg. Institut <strong>der</strong> deutschen<br />

Wirtschaft Köln,<br />

Dezember 2012.<br />

nen <strong>und</strong> Minijobber zu. Zudem entspricht bei<br />

<strong>der</strong> Hälfte <strong>der</strong> geringfügig Beschäftigten die<br />

ausgeführte Tätigkeit nicht dem erlernten<br />

Beruf. Diese Kombination trägt dazu bei, dass<br />

Minijobs sehr viel häufiger den Einstieg in eine<br />

qualifikatorische Abwärtsspirale <strong>und</strong> biografische<br />

Sackgasse darstellen als eine Brücke in<br />

sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.<br />

Schieflagen am Arbeitsmarkt –<br />

ganze Branchen verän<strong>der</strong>n ihr Gesicht<br />

Die niedrigen St<strong>und</strong>enverdienste deuten auf<br />

eine weitere gravierende Benachteiligung von<br />

Minijobberinnen <strong>und</strong> Minijobber hin. Die<br />

eigentlich auf <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong><br />

gerichtete Befreiung von Sozialversicherungsbeiträgen<br />

<strong>und</strong> Steuern dürfte in <strong>der</strong><br />

Praxis häufig an die Arbeitgeber als ›Bruttolohnzugeständnis‹<br />

übergehen <strong>und</strong> den St<strong>und</strong>enlohn<br />

reduzieren. Der brutto-für-netto-<br />

Vorteil erweist sich dann als Illusion. Dabei<br />

haben geringfügig Beschäftigte die gleichen<br />

tariflichen Ansprüche wie sozialversicherungspflichtige<br />

<strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>.<br />

Diese Verletzung des Diskr<strong>im</strong>inierungsverbots<br />

ist offenbar nicht nur in Bezug auf<br />

die St<strong>und</strong>enlöhne, son<strong>der</strong>n auch auf weitere<br />

Arbeitsrechte wie beispielsweise Lohnfortzahlung<br />

<strong>im</strong> Krankheitsfall, Urlaubsansprüche<br />

<strong>und</strong> Jahresson<strong>der</strong>zahlungen gängige Praxis.<br />

Dies scheint die Lösung des ›Rätsels Minijob‹ 7 ,<br />

weshalb geringfügige Beschäftigung trotz<br />

<strong>der</strong> <strong>im</strong> Vergleich hohen Pauschalabgaben für<br />

Arbeitgeber so attraktiv ist, dass sie in<br />

manchen Arbeitsmarktsegmenten inzwischen<br />

Normalität geworden ist.<br />

Branchenanalysen zeigen, dass Minijobs vor<br />

allem <strong>im</strong> Einzelhandel, <strong>im</strong> Gastgewerbe, in<br />

<strong>der</strong> Gebäu<strong>der</strong>einigung <strong>und</strong> <strong>im</strong> Ges<strong>und</strong>heits<strong>und</strong><br />

Sozialwesen entstanden sind. Absolut<br />

gesehen finden sich die meisten Minijobs <strong>im</strong><br />

Einzelhandel. In <strong>der</strong> Gebäu<strong>der</strong>einigung <strong>und</strong><br />

<strong>im</strong> Gastgewerbe sind dagegen die Anteile an<br />

<strong>der</strong> Gesamtbeschäftigung beson<strong>der</strong>s hoch. Fast<br />

je<strong>der</strong> zweite Arbeitsplatz ist hier ein Minijob.<br />

In Branchen mit beson<strong>der</strong>s hohen Konzentrationen<br />

mehren sich die Hinweise auf<br />

Verdrängung von sozialversicherungspflichtiger<br />

Beschäftigung. 8<br />

Im <strong>Land</strong> Bremen ist das Gastgewerbe die<br />

Branche, die die Entwicklung antreibt.<br />

Hier gibt es mittlerweile mehr Minijobs als<br />

sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.<br />

In manchen Branchen hat sich so ein paralleler<br />

Arbeitsmarkt entwickelt, auf dem die<br />

Löhne beson<strong>der</strong>s niedrig <strong>und</strong> die Arbeitsverhältnisse<br />

beson<strong>der</strong>s unsicher sind.<br />

Solange die Legende sich hält, Minijobs<br />

seien eine beson<strong>der</strong>e, nicht reguläre Beschäftigungsform,<br />

bleiben sie ein Einfallstor für<br />

Rechtsverletzungen <strong>und</strong> die Diskr<strong>im</strong>inierung<br />

von Beschäftigten. Allein durch ihre quantitative<br />

Ausweitung haben sie inzwischen prägende<br />

Bedeutung <strong>im</strong> gesamten Erwerbssystem.<br />

Das bietet Anlass zu <strong>der</strong> Sorge, dass soziale<br />

Schutzstandards unterhöhlt werden <strong>und</strong> sich<br />

Normen dauerhaft verschieben, die doch<br />

eigentlich als unteilbar <strong>und</strong> selbstverständlich<br />

einzuhalten gelten.<br />

Dass diese Sorge nicht unbegründet ist,<br />

zeigen die mit Jahresende 2012 schon wie<strong>der</strong><br />

neu ausgebrochenen Diskussionen um die<br />

Minijobs. Da ist in <strong>der</strong> B<strong>und</strong>espolitik die Rede<br />

davon, die Zone für geringfügige <strong>und</strong> nicht<br />

mehr sozialrechtlich geschützte Beschäftigung<br />

noch weiter auszudehnen, das Institut <strong>zur</strong><br />

Zukunft <strong>der</strong> Arbeit (IZA) spielt <strong>im</strong> Auftrag <strong>der</strong><br />

Bertelsmann Stiftung durch, wie sich die<br />

Anhebung <strong>der</strong> Verdienstgrenze auf 600 Euro<br />

auswirken würde, <strong>und</strong> das Institut <strong>der</strong> deutschen<br />

Wirtschaft Köln deutet Sozialversicherungsschutz<br />

in ›Sozialversicherungsbürokratie‹<br />

um, <strong>der</strong>en ›Maschinerie‹ nicht für jedes<br />

Beschäftigungsverhältnis anlaufen müsse. 9<br />

Dahinter scheint eine Arbeitswelt auf, in<br />

<strong>der</strong> das selbstverständliche <strong>und</strong> starke Band<br />

zwischen abhängiger Beschäftigung <strong>und</strong><br />

Sozialversicherungssystem aufgelöst ist. Um<br />

dem Einhalt zu gebieten, hat <strong>der</strong> Deutsche<br />

Gewerkschaftsb<strong>und</strong> ein Reformmodell in die<br />

Debatte eingebracht, das diese Verbindung


63<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Abb. 2:<br />

Erweitertes Gleitzonenmodell<br />

wie<strong>der</strong> stärkt. Der Bremer Öffentlichkeit ist<br />

dieser Vorschlag mit einer Veranstaltung in<br />

<strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer vorgestellt worden.<br />

Er hebt den Son<strong>der</strong>status <strong>der</strong> Steuer- <strong>und</strong> Versicherungsfreiheit<br />

geringfügiger Beschäftigung<br />

auf <strong>und</strong> führt die Sozialversicherungspflicht<br />

ab <strong>der</strong> ersten St<strong>und</strong>e ein. Die Beiträge sind<br />

in einer erweiterten Gleitzone progressiv<br />

zwischen Arbeitgeberinnen <strong>und</strong> Arbeitgebern<br />

<strong>und</strong> <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>n<br />

verteilt, um Geringverdienerinnen <strong>und</strong> Geringverdiener<br />

zu entlasten. Sie werden zudem<br />

nicht mehr pauschal, son<strong>der</strong>n personenbezogen<br />

abgeführt <strong>und</strong> sichern wie<strong>der</strong> individuelle<br />

Ansprüche auf Leistungen <strong>im</strong> Versicherungsfall.<br />

10 Tatsächlich ist nach zehn Jahren Minijobs<br />

eine umfassende Reform notwendig. Dafür<br />

liefert das Modell des DGB einen richtungweisenden<br />

<strong>und</strong> weiterzuverfolgenden Beitrag.<br />

Handlungsbedarfe – was zu tun ist<br />

Die notwendige umfassende Reform ist nur<br />

durch den B<strong>und</strong>esgesetzgeber umsetzbar.<br />

Wichtige Impulse dafür können die B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong><br />

geben. Für die Beschäftigten <strong>im</strong> <strong>Land</strong><br />

Bremen sind aber auch vor Ort Verbesserungen<br />

umsetzbar.<br />

❚ Ein gravierendes Problem sind Verstöße gegen den<br />

Gleichbehandlungsgr<strong>und</strong>satz in <strong>der</strong> betrieblichen<br />

Praxis, die ohne rechtliche Reaktionen hingenommen<br />

werden. Dies führt nicht nur zu Benachteiligung<br />

von <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>n,<br />

son<strong>der</strong>n auch von all den Unternehmen, die sich<br />

gesetzeskonform verhalten. Wirksame Kontrollen<br />

können Missstände aufdecken, Verstöße sanktionierbar<br />

machen <strong>und</strong> den Gleichbehandlungsgr<strong>und</strong>satz<br />

durchsetzen helfen. Nach dem Vorbild <strong>der</strong> Mindestlohn-Hotline<br />

in Großbritannien könnte eine Hotline<br />

für Beschäftigte das niedrigschwellige Melden von<br />

Verstößen ermöglichen.<br />

❚ Zur Eindämmung von Minijobs sind in Nordrhein-<br />

Westfalen <strong>und</strong> auch in Berlin Pilotprojekte gestartet,<br />

die geringfügige Beschäftigung gezielt in sozialversicherungspflichtige<br />

Arbeitsplätze umwandeln. Denn<br />

Minijobs belasten auch die öffentlichen Kassen, nicht<br />

zuletzt, wenn beson<strong>der</strong>s<br />

niedrig entlohnte Beschäftigung<br />

durch Sozialleistungen<br />

subventioniert wird.<br />

In Nordrhein-Westfalen<br />

sind mit Unterstützung <strong>der</strong><br />

Sozialpartner in ausgewählten<br />

Jobcentern Minijob-<br />

Teams gebildet worden. Sie<br />

an<strong>im</strong>ieren offenbar erfolgreich<br />

Arbeitgeber, geringfügige<br />

Beschäftigung zu Teilzeit-<br />

o<strong>der</strong> sogar Vollzeitbeschäftigung<br />

auszubauen. In<br />

Schwerpunktbranchen mit<br />

hoher Minijobquote werden<br />

sie dabei aktiv von Arbeitgeberverbänden<br />

unterstützt.<br />

Ein solches Vorhaben wäre<br />

auch <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

unmittelbar umsetzbar.<br />

❚ Angemessen bezahlte <strong>und</strong><br />

sozial gesicherte Arbeitsplätze<br />

sind nicht nur <strong>im</strong> Interesse<br />

von <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>n, son<strong>der</strong>n<br />

auch <strong>im</strong> öffentlichen<br />

Interesse. Das hat die Verabschiedung<br />

des Bremischen<br />

Mindestlohngesetzes noch<br />

einmal unterstrichen <strong>und</strong><br />

gleichzeitig übertragbare<br />

landespolitische Spielräume<br />

aufgezeigt. Wirtschaftsför<strong>der</strong>ung<br />

<strong>und</strong> öffentliche<br />

Mittelzuwendungen des <strong>Land</strong>es können auch einen<br />

aktiven Beitrag <strong>zur</strong> Begrenzung von Minijobs<br />

leisten. Nehmen Arbeitgeber öffentliche För<strong>der</strong>ung<br />

in Anspruch, wäre die Anzahl <strong>der</strong> Minijobs durch<br />

Quoten für den Anteil geringfügiger Beschäftigung<br />

l<strong>im</strong>itierbar.<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>einkommen in Euro<br />

800<br />

750<br />

700<br />

650<br />

600<br />

550<br />

500<br />

450<br />

400<br />

350<br />

300<br />

250<br />

200<br />

150<br />

100<br />

6<br />

0<br />

2<br />

4<br />

8<br />

0 10 20 30 40<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong><br />

12<br />

10<br />

16<br />

15<br />

14<br />

17<br />

21<br />

21<br />

20<br />

22<br />

19<br />

23<br />

18<br />

Arbeitgeber<br />

24<br />

25<br />

26<br />

27<br />

28<br />

30<br />

32<br />

34<br />

36<br />

38<br />

40<br />

Quelle: Claudia Weinkopf, Minijobs – politisch<br />

strategische Handlungsoptionen; eigene Darstellung<br />

42<br />

Beiträge <strong>zur</strong> Sozialversicherung in Prozent<br />

10 Der Reformvorschlag<br />

entspricht dem von<br />

Dr. Claudia Weinkopf<br />

entwickelten Modell;<br />

vgl. Weinkopf, Claudia,<br />

Minijobs – politisch<br />

strategische Handlungsoptionen,<br />

Expertise <strong>im</strong><br />

Auftrag des Projekts<br />

Wert.Arbeit, Berlin<br />

2011.


64<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Vom Job direkt in ›Hartz IV‹<br />

Weniger Absicherung durch Arbeitslosenversicherung<br />

P E E R R O S E N T H A L / F A L K - C O N S T A N T I N W A G N E R<br />

Immer weniger Menschen können <strong>im</strong> Fall von<br />

Arbeitslosigkeit beziehungsweise Jobverlust<br />

ihren Lebensstandard durch Arbeitslosengeld I<br />

sichern. Daran hat sich auch <strong>im</strong> Jahr 2012<br />

nichts geän<strong>der</strong>t. Eine wachsende Zahl an<br />

<strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>n hat<br />

trotz vorheriger Beschäftigung bei Arbeitslosigkeit<br />

keinen Anspruch auf die Leistungen <strong>der</strong><br />

Arbeitslosenversicherung. An<strong>der</strong>e erhalten<br />

zwar Arbeitslosengeld I, bekommen aber so<br />

wenig, dass sie parallel noch Arbeitslosengeld<br />

II (›Hartz IV‹) beziehen müssen. Absicherung<br />

bei Arbeitslosigkeit durch die Arbeitslosenversicherung<br />

ist damit vom Regel- zum Ausnahmefall<br />

geworden. Ursache hierfür sind<br />

politische Maßnahmen, mit denen die Arbeitslosenversicherung<br />

als Netz <strong>der</strong> sozialen Sicherung<br />

in den vergangenen Jahren geschwächt<br />

wurde.<br />

B<strong>und</strong>esweit erhielt <strong>im</strong> September 2012<br />

einer von vier Arbeitslosen Leistungen <strong>der</strong><br />

Arbeitslosenversicherung nach Sozialgesetzbuch<br />

(SGB) III, also das sogenannte Arbeitslosengeld<br />

I. Im <strong>Land</strong> Bremen ist es sogar nur<br />

einer von sechs. Im September 2004 hingegen<br />

waren es <strong>im</strong> B<strong>und</strong> noch einer von drei Arbeitslosen,<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen nur etwas weniger (29<br />

Prozent). Diese Entwicklung kann einerseits<br />

auf die Kürzung <strong>der</strong> Bezugsdauer des Arbeitslosengelds<br />

I auf zwölf Monate <strong>zur</strong>ückgeführt<br />

werden, die <strong>im</strong> Zuge <strong>der</strong> ›Hartz‹-Reformen vorgenommen<br />

wurde. Damit gehen Menschen,<br />

die nach einem Arbeitsplatzverlust längere<br />

Zeit arbeitslos bleiben, deutlich schneller in<br />

die Gr<strong>und</strong>sicherung des SGB II – ›Hartz IV‹ –<br />

über.<br />

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber,<br />

dass auch die Zugänge in Arbeitslosigkeit aus<br />

Arbeit am ersten Arbeitsmarkt häufig direkt<br />

in die Gr<strong>und</strong>sicherung führen. Abbildung 1<br />

zeigt, dass davon <strong>im</strong> Jahr 2012 <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

8.273 von 23.182 neu arbeitslos geworde-<br />

Abb. 1: Entwicklung <strong>der</strong> Zugänge aus einer Beschäftigung auf dem ersten<br />

Arbeitsmarkt in Arbeitslosigkeit nach Rechtskreisen <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen 2007–2012<br />

Zugänge in Arbeitslosigkeit<br />

30.000<br />

25.000<br />

20.000<br />

15.000<br />

10.000<br />

5.000<br />

0<br />

34,7<br />

33,3<br />

8.059<br />

7.788<br />

7.407<br />

28,9<br />

35,2 35,7<br />

31,6<br />

7.598<br />

8.303<br />

8.273<br />

15.137<br />

15.602<br />

18.196<br />

16.450<br />

15.319<br />

14.909<br />

2007 2008 2009 2010 2011 2012<br />

40<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

0<br />

Anteil SGB II in Prozent<br />

SGB III SGB II Anteil SGB II<br />

Quelle: Statistik <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit; eigene Berechnungen; eigene Darstellung.<br />

Anmerkung: Daten ohne Auszubildende. Arbeitslosigkeit definiert als Reduzierung <strong>der</strong> Wochenarbeitsst<strong>und</strong>en von<br />

≥15 auf


65<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Gerade für die Menschen in prekärer Beschäftigung<br />

ist es aber schwer, die Anspruchsvoraussetzungen <strong>der</strong><br />

Arbeitslosenversicherung zu erfüllen.<br />

nen Personen betroffen waren. Damit ging<br />

über ein Drittel <strong>der</strong> aus regulärer Beschäftigung<br />

heraus von Arbeitslosigkeit Betroffenen<br />

in Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven trotz geleisteter<br />

Beitragszahlungen direkt in den Bezug von<br />

Arbeitslosengeld II über. Sie beziehen aufgr<strong>und</strong><br />

kurzer Beschäftigungsdauer o<strong>der</strong> geringer<br />

Entlohnung keine o<strong>der</strong> nur geringe Leistungen<br />

<strong>der</strong> Arbeitslosenversicherung, so dass<br />

sie unmittelbar bei Eintritt in die Arbeitslosigkeit<br />

auf die Gr<strong>und</strong>sicherung angewiesen sind.<br />

Verursacht wird diese Entwicklung durch<br />

politische Maßnahmen am Arbeitsmarkt.<br />

Mit den ›Hartz‹-Reformen wurde <strong>der</strong> Zugang<br />

zum Arbeitslosengeld I erschwert, indem die<br />

Anwartschaftszeit auf zwölf <strong>und</strong> die Rahmenfrist<br />

auf 24 Monate festgelegt wurde. Das<br />

bedeutet, dass innerhalb von 24 Monaten<br />

mindestens zwölf Monate Beiträge <strong>zur</strong> Arbeitslosenversicherung<br />

geleistet werden müssen,<br />

damit ein Anspruch auf Arbeitslosengeld I<br />

besteht. Gleichzeitig wurden die atypischen<br />

Beschäftigungsverhältnisse massiv ausgeweitet.<br />

Gerade für die Menschen in prekärer Beschäftigung<br />

ist es aber schwer, die Anspruchsvoraussetzungen<br />

<strong>der</strong> Arbeitslosenversicherung zu<br />

erfüllen.<br />

So haben befristet Beschäftigte durch<br />

mangelnde sofortige Anschlussverträge oft<br />

diskontinuierliche, also <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> von<br />

Arbeitslosigkeit unterbrochene, Erwerbsverläufe.<br />

Dadurch kommen sie oft nicht auf die<br />

gefor<strong>der</strong>te Anwartschaftszeit innerhalb <strong>der</strong><br />

zweijährigen Rahmenfrist, um Arbeitslosengeld<br />

I beziehen zu können. Auch unbefristete<br />

<strong>und</strong> sozialversicherungspflichtige Beschäftigung<br />

stellt nicht <strong>im</strong>mer sicher, <strong>im</strong> Fall <strong>der</strong><br />

Arbeitslosigkeit in das System <strong>der</strong> Arbeitslosenversicherung<br />

(SGB III) übergehen zu können:<br />

Bei Teilzeitbeschäftigung ist die Höhe des<br />

monatlichen Verdienstes häufig zu gering,<br />

um Arbeitslosengeld I in existenzsichern<strong>der</strong><br />

Höhe zu erzielen. Für diesen Fall muss mit<br />

Arbeitslosengeld II auf das Niveau <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>sicherung<br />

aufgestockt werden. Brisant ist, dass<br />

diese Parallelbezieherinnen <strong>und</strong> Parallelbezieher<br />

nicht mehr <strong>im</strong> Rechtskreis SGB III, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>im</strong> SGB II verbleiben – also trotz ihrer<br />

erworbenen Ansprüche als Bezieher <strong>der</strong> Fürsorgeleistung<br />

Arbeitslosengeld II <strong>und</strong> nicht <strong>der</strong><br />

Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I<br />

behandelt werden. Damit unterliegen sie –<br />

neben <strong>der</strong> Bedürftigkeitsprüfung <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Einbeziehung <strong>der</strong> weiteren Mitglie<strong>der</strong> ihrer<br />

Bedarfsgemeinschaft – auch den ›restriktiveren,<br />

gegenüber <strong>der</strong> Qualität von Beschäftigung<br />

gleichgültigen‹ Zumutbarkeitskriterien des<br />

SGB II. Gleich doppelt betroffen sind Beschäftigte<br />

in <strong>der</strong> Leiharbeit. Sie erhalten durchschnittlich<br />

deutlich geringere Entgelte als die<br />

Stammbeschäftigten <strong>und</strong> erwerben dadurch<br />

nur geringe Versicherungsansprüche. Gleichzeitig<br />

sind sie zu 60 Prozent weniger als<br />

drei Monate lang beschäftigt, so dass es für viele<br />

in weite Ferne rückt, die Anspruchsvoraussetzungen<br />

zu erfüllen: Jede/r zweite Leiharbeitnehmer/in<br />

stürzt bei Jobverlust direkt in<br />

›Hartz IV‹. Die sogenannten ›Minijobs‹ schließlich<br />

unterliegen überhaupt keiner Pflicht<br />

<strong>zur</strong> Beitragsleistung in <strong>der</strong> Arbeitslosenversicherung<br />

<strong>und</strong> könnten durch den geringen<br />

St<strong>und</strong>enumfang <strong>und</strong> den hohen Anteil an<br />

Niedriglöhnen ohnehin kaum existenzsichernde<br />

Ansprüche erzeugen.


66<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Die Arbeitslosenversicherung ist durch die<br />

genannten Schritte – Erschwerung des Zugangs,<br />

Kürzung <strong>der</strong> Leistungsdauer <strong>und</strong> Ausweitung<br />

prekärer Beschäftigungsverhältnisse –<br />

deutlich weniger als früher in <strong>der</strong> <strong>Lage</strong>, Menschen<br />

<strong>im</strong> Fall von Arbeitslosigkeit abzusichern.<br />

Stattdessen ist die Gr<strong>und</strong>sicherung nach SGB II<br />

inzwischen <strong>der</strong> Regelfall <strong>der</strong> Unterstützung<br />

für Arbeitslose. Für das <strong>Land</strong> Bremen gilt dies<br />

in beson<strong>der</strong>em Maße: hohe Langzeitarbeitslosigkeit,<br />

aber auch beson<strong>der</strong>s viele prekäre<br />

Beschäftigungsverhältnisse tragen dazu bei,<br />

dass sowohl <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Arbeitslosen <strong>im</strong><br />

Rechtskreis SGB II als auch <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong><br />

Zugänge aus Beschäftigung in Arbeitslosigkeit<br />

aus dem ersten Arbeitsmarkt direkt in<br />

›Hartz IV‹ <strong>im</strong> B<strong>und</strong>esvergleich überdurchschnittlich<br />

hoch sind.<br />

Diese Probleme sind durch Maßnahmen auf<br />

B<strong>und</strong>esebene jedoch lösbar, indem die Arbeitslosenversicherung<br />

als soziales Sicherungsnetz<br />

wie<strong>der</strong> gestärkt wird. Konkret ist die max<strong>im</strong>ale<br />

Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I wie<strong>der</strong> auf<br />

24 Monate zu erhöhen, um die Absicherung<br />

bei Arbeitslosigkeit verlässlicher zu gestalten.<br />

Darüber hinaus ist die Rahmenfrist auf drei<br />

Jahre zu erhöhen <strong>und</strong> die Anwartschaftszeit


auf sechs Monate zu verringern. Auf diese<br />

Weise können Menschen in unsicheren<br />

Beschäftigungsverhältnissen wie<strong>der</strong> verstärkt<br />

von den Leistungen <strong>der</strong> Arbeitslosenversicherung<br />

profitieren. Nach Berechnungen <strong>der</strong><br />

B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit würden von solch<br />

einer Neuregelung 200.000 bis 250.000 Menschen<br />

pro Jahr profitieren. Gleichzeitig wird<br />

die Legit<strong>im</strong>ation <strong>der</strong> Arbeitslosenversicherung<br />

gestärkt: Wer einbezahlt, erhält häufiger auch<br />

Leistungen. Geringe <strong>und</strong> nur kurze Bezüge<br />

aus <strong>der</strong> Arbeitslosenversicherung werden sich<br />

dadurch aber nicht verhin<strong>der</strong>n lassen. Um die<br />

Funktionsfähigkeit <strong>der</strong> Arbeitslosenversicherung<br />

in dieser Hinsicht zu stärken, müssen<br />

atypische Beschäftigungsverhältnisse <strong>zur</strong>ückgedrängt<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> politische Fokus auf<br />

das Normalarbeitsverhältnis gelegt werden.<br />

67


68<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen auf dem<br />

(Bremer) Arbeitsmarkt<br />

B A R B A R A R E U H L<br />

1. Vgl. B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit.<br />

2012. Der Arbeitsmarkt in<br />

Deutschland – Der Arbeitsmarkt<br />

für schwerbehin<strong>der</strong>te Menschen.<br />

März 2012 (aktualisiert Juni<br />

2012).<br />

2. Vgl. Verordnung <strong>zur</strong> Durchführung<br />

des § 1 Abs. 1 <strong>und</strong> 3, des § 30<br />

Abs. 1 <strong>und</strong> des § 35 Abs. 1 des<br />

B<strong>und</strong>esversorgungsgesetzes<br />

(Versorgungsmedizin-Verordnung –<br />

VersMedV) vom 10.12.2008.<br />

3. Der GdB bezieht sich auf die<br />

Beeinträchtigung in allen Lebensbereichen,<br />

<strong>im</strong> Gegensatz <strong>zur</strong><br />

Min<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Erwerbsfähigkeit<br />

(MdE) <strong>im</strong> Renten- <strong>und</strong> Unfallversicherungsrecht,<br />

um die es <strong>im</strong><br />

Beitrag über das Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrenten-Geschehen<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong><br />

Bremen auf Seite 95 ff. geht.<br />

In Deutschland leben <strong>der</strong>zeit fast neun Millionen<br />

Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung, davon waren<br />

<strong>im</strong> Jahr 2011 etwa 3,2 Millionen <strong>im</strong> Erwerbsalter.<br />

Sie sind mit fast 15 Prozent mehr als doppelt<br />

so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen<br />

als die Allgemeinheit (r<strong>und</strong> 6,5 Prozent). 1<br />

›Behin<strong>der</strong>ung‹ wird oftmals gleichgesetzt<br />

mit reduzierter Leistungsfähigkeit. Jemand,<br />

<strong>der</strong> eine Gehhilfe nutzt, sehbehin<strong>der</strong>t o<strong>der</strong><br />

schwerhörig ist, vielleicht auch eine Werkstatt<br />

für behin<strong>der</strong>te Menschen wie <strong>der</strong> Martinshof<br />

in Bremen sind häufige Assoziationen. Doch<br />

viele Behin<strong>der</strong>ungen sind erst auf den zweiten<br />

Blick o<strong>der</strong> von Außenstehenden gar nicht<br />

wahrnehmbar <strong>und</strong> ob die Betroffenen in <strong>der</strong><br />

<strong>Lage</strong> sind, die <strong>im</strong> Erwerbsleben gefor<strong>der</strong>ten<br />

Leistungen zu erbringen, hängt nicht zwangsläufig<br />

mit ihrer Beeinträchtigung zusammen.<br />

¢Wer gilt als schwerbehin<strong>der</strong>t?<br />

Die amtliche Feststellung einer Schwerbehin<strong>der</strong>ung erfolgt auf<br />

Antrag bei <strong>der</strong> am Wohnort zuständigen Behörde. Diese stellt<br />

nach b<strong>und</strong>esweit einheitlichen Kriterien 2 fest, in welchem Maß<br />

sich körperliche, geistige, seelische <strong>und</strong> soziale Auswirkungen<br />

auf alle Lebensbereiche aus <strong>der</strong> Funktionsbeeinträchtigung<br />

ergeben. Der Grad <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung (GdB) wird in Zehnerschritten<br />

von 20 bis 100 festgesetzt. 3<br />

Wer einen GdB von 50 o<strong>der</strong> darüber attestiert bekommt, gilt<br />

als schwerbehin<strong>der</strong>t. Mit einem GdB von 30 bis 50 ist es möglich,<br />

schwerbehin<strong>der</strong>ten Menschen gleichgestellt zu werden<br />

(§ 2 SGB IX). Wer als schwerbehin<strong>der</strong>t anerkannt o<strong>der</strong> gleichgestellt<br />

ist, hat nach Kapitel 2 SGB IX Anspruch auf Ausgleich<br />

von Nachteilen. Dazu zählen steuerliche Erleichterungen, die<br />

vergünstigte Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs, <strong>der</strong><br />

beson<strong>der</strong>e Kündigungsschutz sowie För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Teilhabe<br />

am Arbeitsleben, wie die Finanzierung von Qualifizierungsmaßnahmen<br />

<strong>und</strong>/o<strong>der</strong> einer <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung angepassten<br />

Ausstattung des Arbeitsplatzes.<br />

Genaue Zahlen darüber, wie viele Menschen<br />

mit Behin<strong>der</strong>ung in Deutschland leben, gibt<br />

es nicht, nur über die Zahl <strong>der</strong> Menschen mit<br />

einer anerkannten Schwerbehin<strong>der</strong>ung <strong>und</strong><br />

diesen Gleichgestellten.<br />

Ende 2011 gab es in Deutschland nach<br />

Angaben des Statistischen B<strong>und</strong>esamts r<strong>und</strong><br />

7,3 Millionen schwerbehin<strong>der</strong>te Menschen<br />

(knapp 9 Prozent bzw. jede/r Zwölfte). Im <strong>Land</strong><br />

Bremen leben aktuell mehr als 58.000 schwerbehin<strong>der</strong>te<br />

Menschen (10,5 Prozent bzw.<br />

jede/r Neunte <strong>der</strong> gesamten Bevölkerung).<br />

Nur gut vier Prozent <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ungen<br />

sind angeboren, wie beispielsweise Schädigungen<br />

von Gliedmaßen durch das in den 1960er-<br />

Jahren vertriebene Schlafmittel Contergan,<br />

Kleinwuchs o<strong>der</strong> Autismus. Die meisten<br />

schwerbehin<strong>der</strong>ten Menschen <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

haben diesen Status infolge einer chronischen<br />

Erkrankung o<strong>der</strong> durch Unfälle <strong>im</strong> Lauf des<br />

Lebens erworben. Dazu zählen beispielsweise<br />

die Einschränkung <strong>der</strong> Beweglichkeit infolge<br />

eines Schlaganfalls o<strong>der</strong> durch Rheuma,<br />

innere Erkrankungen wie insulinpflichtiger<br />

Diabetes, eine Suchtkrankheit <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e<br />

psychische Erkrankungen. Zwei Drittel <strong>der</strong><br />

Behin<strong>der</strong>ungen entfallen auf körperliche Ursachen,<br />

in gut 30 Prozent <strong>der</strong> Fälle liegt eine<br />

seelische o<strong>der</strong> geistige Behin<strong>der</strong>ung vor o<strong>der</strong><br />

die Behin<strong>der</strong>ungsart ist nicht ausgewiesen.<br />

❚ Auch die Arbeitsbedingungen können chronische<br />

Erkrankungen verursachen. So können schweres<br />

Heben <strong>und</strong> Tragen, die Arbeit mit gefährlichen Stoffen<br />

o<strong>der</strong> unter Lärm, Stress <strong>und</strong> psychischen Belastungen<br />

dauerhaft den Rücken, die Haut, das Gehör<br />

o<strong>der</strong> die psychische Ges<strong>und</strong>heit beeinträchtigen.<br />

Etwa 43 Prozent <strong>der</strong> schwerbehin<strong>der</strong>ten<br />

Menschen <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen waren 2011 <strong>im</strong><br />

Erwerbsalter. Wer sich nicht ›outet‹, wird nicht<br />

in <strong>der</strong> Statistik <strong>der</strong> Agentur für Arbeit erfasst,<br />

denn viele Behin<strong>der</strong>ungen sind nicht sichtbar.


69<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Abb.1: Altersstruktur schwerbehin<strong>der</strong>ter<br />

Menschen <strong>im</strong> erwerbsfähigen Alter<br />

in Deutschland 2009, in Prozent<br />

Zahlreiche schwerbehin<strong>der</strong>te Menschen<br />

melden sich jedoch nicht arbeitslos, weil sie<br />

ihre Chancen auf Ausbildung o<strong>der</strong> Beschäftigung<br />

gering einschätzen. Sie gehen ebenfalls<br />

nicht in die Statistik ein.<br />

Die Zahl <strong>der</strong> von Behin<strong>der</strong>ung Betroffenen<br />

n<strong>im</strong>mt mit dem Lebensalter zu, wie Abbildung<br />

1 zeigt. Im Jahr 2011 entfielen auf die<br />

Gruppe <strong>der</strong> unter 25-Jährigen vier Prozent<br />

<strong>der</strong> Schwerbehin<strong>der</strong>ungen. Von den gut<br />

3,2 Millionen schwerbehin<strong>der</strong>ten Menschen <strong>im</strong><br />

Erwerbsalter waren nach Hochrechnungen<br />

<strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit nahezu zwei<br />

Drittel zwischen 55 <strong>und</strong> 65 Jahren alt.<br />

Nach Schätzungen wird die Zahl <strong>der</strong> Menschen<br />

wachsen, die in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des<br />

Erwerbslebens von Behin<strong>der</strong>ungen betroffen<br />

sind, denn die geburtenstarken Jahrgänge<br />

altern. Zudem bewirken das erhöhte Renteneintrittsalter<br />

<strong>und</strong> auslaufende Altersteilzeit-<br />

<strong>und</strong> Vorruhestandsregelungen, dass<br />

mehr ges<strong>und</strong>heitlich angeschlagene <strong>und</strong> von<br />

Behin<strong>der</strong>ung bedrohte Beschäftigte länger am<br />

Arbeitsmarkt verbleiben – allerdings tragen<br />

sie ein höheres Risiko, erwerbslos o<strong>der</strong> von<br />

Hartz IV betroffen zu sein.<br />

In <strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> Jüngeren sind Menschen<br />

mit Behin<strong>der</strong>ungen ebenfalls <strong>im</strong> Nachteil<br />

gegenüber nicht Behin<strong>der</strong>ten. Insbeson<strong>der</strong>e<br />

wer keinen Schulabschluss hat o<strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />

För<strong>der</strong>schule kommt, hat es schwer, einen Ausbildungsplatz<br />

zu finden <strong>und</strong> eine nachhaltige<br />

Qualifikation mit entsprechenden Erwerbsmöglichkeiten<br />

zu erwerben.<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

17<br />

5<br />

15 bis<br />

unter<br />

25 Jahre<br />

54<br />

33<br />

25 bis<br />

unter<br />

50 Jahre<br />

Bevölkerung <strong>im</strong> erwerbsfähigen Alter<br />

schwerbehin<strong>der</strong>te Menschen<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit 2012.<br />

Auch ein Blick auf die Geschlechterverteilung<br />

ist interessant: Etwas mehr als 51 Prozent<br />

<strong>der</strong> Menschen mit einer anerkannten Schwerbehin<strong>der</strong>ung<br />

sind männlich. Nach Daten des<br />

Mikrozensus 2005 waren in Deutschland<br />

9,7 Prozent <strong>der</strong> männlichen, aber 7,4 Prozent<br />

<strong>der</strong> weiblichen Bevölkerung <strong>im</strong> Alter zwischen<br />

18 bis 64 Jahren schwerbehin<strong>der</strong>t. Beide<br />

Geschlechter sind stärker von Erwerbslosigkeit<br />

betroffen, wenn eine Behin<strong>der</strong>ung vorliegt:<br />

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />

liegt bei 23 Prozent, bei Frauen<br />

ohne Behin<strong>der</strong>ungen bei 53 Prozent.<br />

29<br />

62<br />

50 bis<br />

unter<br />

65 Jahre<br />

Abb. 2: Besetzung von Pflichtarbeitsplätzen,<br />

Arbeitgeber nach Ausgleichsabgabe <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen, <strong>Bericht</strong>sjahr 2010<br />

private<br />

Arbeitgeber<br />

mit mehr<br />

als 20<br />

Beschäftigten<br />

gesamt<br />

mit<br />

beschäftigten<br />

schwerbehin<strong>der</strong>ten<br />

Menschen<br />

ohne<br />

beschäftigte<br />

schwerbehin<strong>der</strong>te<br />

Menschen<br />

ohne<br />

Ausgleichsabgabe<br />

davon Arbeitgeber<br />

mit 105 Euro<br />

Ausgleichsabgabe<br />

mit 180 Euro<br />

Ausgleichsabgabe<br />

mit 260 Euro<br />

Ausgleichsabgabe<br />

1.379 968<br />

411<br />

464<br />

574<br />

gesamt 915<br />

179 162<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit


70<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

4 Vgl. B<strong>und</strong>esministerium<br />

für Arbeit <strong>und</strong> Soziales<br />

(Hrsg.): Unser Weg<br />

in eine inklusive Gesellschaft.<br />

Der nationale<br />

Aktionsplan <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esregierung<br />

<strong>zur</strong> Umsetzung<br />

<strong>der</strong> UN-Behin<strong>der</strong>tenrechtskonvention,<br />

September 2011.<br />

Schwerbehin<strong>der</strong>te Männer sind zu 30 Prozent<br />

erwerbstätig, Männer ohne Behin<strong>der</strong>ungen zu<br />

71 Prozent. 4 Die ungleiche Verteilung von Frauen<br />

<strong>und</strong> Männern auf dem Arbeitsmarkt zeigt<br />

sich allerdings auch hier. Laut § 2 Behin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetz<br />

(BGG) sind die beson<strong>der</strong>en<br />

Belange von Frauen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />

deshalb bei <strong>der</strong> Gleichstellung <strong>der</strong> Geschlechter<br />

einzubeziehen.<br />

Kein Ablass: die Ausgleichsabgabe<br />

Um Nachteile auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen,<br />

sind Betriebe mit mehr als 20 Arbeitsplätzen<br />

verpflichtet, mindestens fünf Prozent<br />

davon für Schwerbehin<strong>der</strong>te vorzuhalten.<br />

An<strong>der</strong>nfalls ist eine Ausgleichsabgabe an das<br />

zuständige Integrationsamt zu entrichten –<br />

das enthebt den Arbeitgeber jedoch nicht von<br />

<strong>der</strong> Beschäftigungspflicht! Die Ausgleichsabgabe<br />

soll zugleich einen Anreiz setzen, damit die<br />

Beschäftigungspflicht erfüllt wird. Sätze für<br />

das Jahr 2013 belaufen sich jeweils monatlich<br />

auf 115 bis 290 Euro, je nachdem ob <strong>und</strong><br />

inwieweit die Beschäftigungsquote erfüllt<br />

wird. Aus <strong>der</strong> Ausgleichsabgabe finanziert das<br />

Integrationsamt technische Anpassungsmaßnahmen<br />

am Arbeitsplatz, Qualifizierungsmaßnahmen<br />

o<strong>der</strong> för<strong>der</strong>t auch die Einstellung<br />

von schwerbehin<strong>der</strong>ten Beschäftigten durch<br />

Zuschüsse.<br />

Trotz einer Vielzahl von Beratungs- <strong>und</strong><br />

För<strong>der</strong>angeboten sowie Projekten, die das<br />

Integrationsamt durchführt, erfüllt ein Großteil<br />

<strong>der</strong> Betriebe die Zielzahlen für die Beschäftigung<br />

nicht. Von 7.230 Pflichtarbeitsplätzen<br />

für Schwerbehin<strong>der</strong>te in <strong>der</strong> Privatwirtschaft<br />

waren nur 5.635 besetzt. Mit einer durchschnittlichen<br />

Quote von 3,7 Prozent lagen die<br />

privatwirtschaftlichen Betriebe <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

deutlich unter den vorgeschriebenen fünf<br />

Prozent. Demzufolge zahlten von den 1.379<br />

privaten Arbeitgebern mit mehr als 20 Arbeitsplätzen<br />

915 Betriebe eine Ausgleichsabgabe,


71<br />

wie Abbildung 2 zeigt. In 411 Betrieben war<br />

niemand mit einer Schwerbehin<strong>der</strong>ung<br />

beschäftigt, die Quote war nur in 464 Unternehmen<br />

voll erfüllt, die damit von <strong>der</strong> Ausgleichsabgabe<br />

befreit waren.<br />

Im bremischen öffentlichen Dienst fällt die<br />

Bilanz besser aus: Im Dezember 2011 waren<br />

laut <strong>Bericht</strong> <strong>der</strong> Senatorin für Finanzen 1.712<br />

Arbeitsplätze mit schwerbehin<strong>der</strong>ten o<strong>der</strong><br />

gleichgestellten Beschäftigten beziehungsweise<br />

Auszubildenden besetzt: 979 mit Frauen,<br />

733 mit Männern. Berechnet auf den Jahresdurchschnitt<br />

von 24.809 Arbeitsplätzen <strong>im</strong><br />

Jahr 2011 waren dies 6,9 Prozent <strong>der</strong> Arbeitsplätze,<br />

so <strong>der</strong> <strong>Bericht</strong> <strong>der</strong> Senatorin für Finanzen<br />

für das Jahr 2011. Der Anteil <strong>der</strong> schwerbehin<strong>der</strong>ten<br />

Beschäftigten bei den öffentlichen<br />

Arbeitgebern ist steigend, infolge von Neueinstellungen,<br />

aber auch weil bei bereits<br />

Beschäftigten eine Schwerbehin<strong>der</strong>ung attestiert<br />

wurde.<br />

Wo sind die Barrieren?<br />

Verschiedene Faktoren können die Einstellung<br />

o<strong>der</strong> Weiterbeschäftigung von Menschen mit<br />

Behin<strong>der</strong>ungen erschweren. So haben viele<br />

<strong>der</strong> Arbeitgeber, die keine Menschen mit<br />

Behin<strong>der</strong>ungen beschäftigen beziehungsweise<br />

Vorbehalte haben, bisher noch keine Erfahrung<br />

mit <strong>der</strong> Beschäftigung von Menschen mit<br />

Behin<strong>der</strong>ungen gemacht, wie in einer Studie<br />

des Instituts Arbeit <strong>und</strong> Wirtschaft (IAW) <strong>im</strong><br />

Auftrag des Bremer Versorgungsamts festgestellt<br />

wurde. 5 Doch neben den Barrieren in den<br />

Köpfen gibt es auch handfeste materielle<br />

Hemmnisse.<br />

Es geht darum, Beschäftigte in Arbeit zu<br />

halten, die <strong>im</strong> Lauf <strong>der</strong> Erwerbstätigkeit eine<br />

Schwerbehin<strong>der</strong>ung erworben haben, <strong>und</strong> es<br />

geht um die Einstellung von Bewerberinnen<br />

<strong>und</strong> Bewerbern mit Behin<strong>der</strong>ung. Erfahrene<br />

Kräfte können für die Unternehmen gewonnen<br />

werden, o<strong>der</strong> ihre Kompetenz bleibt erhalten,<br />

wenn sie <strong>im</strong> Lauf des Lebens eine Behin<strong>der</strong>ung<br />

5 Vgl. Fietz/Gebauer/<br />

Hammer: Die Beschäftigung<br />

schwerbehin<strong>der</strong>ter<br />

Menschen auf dem<br />

ersten Arbeitsmarkt.<br />

Einstellungsgründe <strong>und</strong><br />

Einstellungshemmnisse –<br />

Akzeptanz <strong>der</strong> Instrumente<br />

<strong>zur</strong> Integration.<br />

Ergebnisse einer qualitativen<br />

Untersuchung in<br />

Unternehmen des <strong>Land</strong>es<br />

Bremen, Januar 2011.


72<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

erworben haben. Je mehr Fortschritt in dieser<br />

Hinsicht erzielt wird, desto weniger Anstrengungen<br />

<strong>zur</strong> Integration sind für alle Beteiligten<br />

erfor<strong>der</strong>lich.<br />

So könnte beispielsweise ein Arbeitgeber<br />

in die Situation kommen, eine für die betrieblichen<br />

Bedarfe bestens qualifizierte junge<br />

Ingenieurin nur deshalb nicht einstellen zu<br />

können, weil sie auf einen Rollstuhl angewiesen<br />

ist, <strong>der</strong> Betrieb ihr aber keinen rollstuhlgerechten<br />

Zugang zum Gebäude <strong>und</strong> zu<br />

<strong>der</strong> Abteilung, wo sie eingesetzt werden würde,<br />

bieten kann. Der Bewerberin wird eine berufliche<br />

Chance versperrt, es sei denn, es würde<br />

extra für sie umgebaut.<br />

Umbauen <strong>und</strong> umorganisieren ist in den<br />

Betrieben gang <strong>und</strong> gäbe – die ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Belange <strong>der</strong> Beschäftigten, insbeson<strong>der</strong>e<br />

<strong>der</strong>jenigen, die durch bauliche Gegebenheiten<br />

benachteiligt sind, müssen dabei einbezogen<br />

werden. In vielen Fällen ist <strong>der</strong> Aufwand<br />

für barrierefreie Gestaltung weniger groß, als<br />

es vielleicht erscheint, wenn sie denn frühzeitig<br />

›mitgedacht‹ wird.<br />

Eine kleine, aber äußerst wirksame Gestaltungslösung<br />

beispielsweise dürfte den meisten,<br />

die am PC arbeiten <strong>und</strong> nicht behin<strong>der</strong>t sind,<br />

noch nicht aufgefallen sein: Bei den Buchstaben<br />

F <strong>und</strong> J sowie auf <strong>der</strong> Ziffer fünf auf dem<br />

Nummernblock aller Tastaturen ist jeweils<br />

eine kleine tastbare Markierung angebracht.<br />

Das reicht aus, um eine wichtige Barriere für<br />

blinde <strong>und</strong> stark sehbehin<strong>der</strong>te Menschen<br />

abzubauen: Sie können die normale Tastatur<br />

nutzen, indem sie ›blindschreiben‹.<br />

Barrieren abzubauen erfor<strong>der</strong>t ein Umdenken,<br />

es verursacht aber auch Umstände <strong>und</strong><br />

Kosten <strong>im</strong> Unternehmen. Besser ist es, aufwendige<br />

<strong>und</strong> teure Bau- <strong>und</strong> Nachrüstungsmaßnahmen<br />

von vornherein zu vermeiden: Das<br />

macht es selbstverständlicher <strong>und</strong> erleichtert<br />

es dem Arbeitgeber auch praktisch, Menschen<br />

mit Behin<strong>der</strong>ungen zu beschäftigen. Wer<br />

seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann,<br />

verfügt über eine wesentliche Voraussetzung<br />

dafür, gleichberechtigt zu sein <strong>und</strong> ein selbstbest<strong>im</strong>mtes<br />

Leben führen zu können, statt<br />

von an<strong>der</strong>en Menschen <strong>und</strong> von Sozialleistungen<br />

abhängig zu sein.<br />

Arbeitsschutz –<br />

auch ein Feld <strong>der</strong> Inklusion<br />

Barrierefreiheit ist <strong>im</strong> öffentlichen Raum <strong>und</strong><br />

in öffentlichen Gebäuden bereits weiter fortgeschritten<br />

<strong>und</strong> fast schon Normalität geworden:<br />

Geh- <strong>und</strong> Radwege sind mit Steinen in unterschiedlichen<br />

Farben o<strong>der</strong> Farbtönen kontrastreich<br />

gestaltet, Gehwegkanten abgesenkt,<br />

Türen automatisch zu öffnen, um nur einige<br />

Beispiele zu nennen. In die Arbeitswelt hält<br />

<strong>der</strong> Gedanke <strong>der</strong> Barrierefreiheit erst langsam<br />

Einzug. So erhielt die B<strong>und</strong>esregierung bei <strong>der</strong><br />

Verabschiedung des Gesetzes <strong>zur</strong> Gleichstellung<br />

behin<strong>der</strong>ter Menschen (Behin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetz/BGG)<br />

<strong>im</strong> Jahr 2002 den<br />

Auftrag, das Arbeitsstättenrecht dahingehend<br />

zu ergänzen, dass die beson<strong>der</strong>en Belange<br />

von behin<strong>der</strong>ten Menschen hinsichtlich <strong>der</strong><br />

›behin<strong>der</strong>tengerechten Gestaltung‹ von Arbeitsstätten<br />

berücksichtigt werden. Deshalb wurde<br />

bei <strong>der</strong> Novellierung <strong>der</strong> Arbeitsstättenverordnung<br />

<strong>im</strong> Jahr 2004 unter dem Punkt ›Einrichten<br />

<strong>und</strong> Betreiben von Arbeitsstätten‹ auch<br />

die barrierefreie Gestaltung einbezogen.<br />

Auch in den Betrieben überfällig:<br />

barrierefreie Gestaltung<br />

Wenn <strong>im</strong> Betrieb Beschäftigte mit Behin<strong>der</strong>ung<br />

arbeiten, ist <strong>der</strong> Arbeitgeber <strong>zur</strong> barrierefreien<br />

Gestaltung verpflichtet, damit ›bauliche<br />

<strong>und</strong> sonstige Anlagen, Transport- <strong>und</strong> Arbeitsmittel,<br />

Systeme <strong>der</strong> Informationsverarbeitung,<br />

akustische, visuelle <strong>und</strong> taktile Informationsquellen<br />

<strong>und</strong> Kommunikationseinrichtungen<br />

für Beschäftigte mit Behin<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong><br />

allgemein üblichen Weise, ohne beson<strong>der</strong>e<br />

Erschwernisse <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzlich ohne fremde<br />

Hilfe zugänglich <strong>und</strong> nutzbar sind‹, so die<br />

Begriffsbest<strong>im</strong>mung aus <strong>der</strong> Arbeitsstättenverordnung.


73<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

Sie bezieht sich auf das Verständnis des Begriffes<br />

›Behin<strong>der</strong>ung‹ aus dem BGG <strong>und</strong> meint<br />

somit alle Beschäftigten mit einer Behin<strong>der</strong>ung,<br />

nicht nur diejenigen mit einer anerkannten<br />

Schwerbehin<strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> Gleichgestellte:<br />

›Menschen sind behin<strong>der</strong>t, wenn ihre<br />

körperliche Funktion, geistige Fähigkeit o<strong>der</strong><br />

seelische Ges<strong>und</strong>heit mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

länger als sechs Monate von dem für<br />

das Lebensalter typischen Zustand abweichen<br />

<strong>und</strong> daher ihre Teilhabe am Leben in <strong>der</strong><br />

Gesellschaft beeinträchtigt ist‹, definiert das<br />

Behin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetz.<br />

Die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV)<br />

ergänzt die Vorgaben aus dem Arbeitsschutzgesetz.<br />

Sie enthält Mindestanfor<strong>der</strong>ungen an<br />

die Sicherheit <strong>und</strong> den Ges<strong>und</strong>heitsschutz <strong>der</strong><br />

Beschäftigten ›be<strong>im</strong> Einrichten <strong>und</strong> Betreiben<br />

von Arbeitsstätten‹, für die <strong>der</strong> Arbeitgeber<br />

verantwortlich ist. Das Arbeitsschutzgesetz<br />

verlangt, dass er die erfor<strong>der</strong>lichen Schutzmaßnahmen<br />

anhand <strong>der</strong> für seine Beschäftigten<br />

mit <strong>der</strong> Arbeit verb<strong>und</strong>enen Gefährdungen<br />

ermittelt. Auch müssen die beson<strong>der</strong>en<br />

Gefahren für Beschäftigtengruppen berücksichtigt<br />

werden, wie die Beschäftigten,<br />

die von einer Behin<strong>der</strong>ung betroffen sind.<br />

Die Arbeitsstättenregel<br />

›Barrierefreie Gestaltung‹<br />

Die Regel besteht aus einem allgemeinen Vorspann<br />

<strong>und</strong> einem Anhang, <strong>der</strong> die Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

aus den übrigen Fachregeln, zum Beispiel<br />

für Fluchtwege <strong>und</strong> Notausgänge o<strong>der</strong> für<br />

Sicherheits- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsschutzkennzeichnung<br />

um die Kriterien für barrierefreie Gestaltung<br />

ergänzt. Dabei orientiert sie sich am<br />

Stand <strong>der</strong> Technik <strong>der</strong> barrierefreien Gestaltung,<br />

beispielsweise an DIN-Normen.<br />

Welche Bereiche des Betriebs für eine<br />

barrierefreie Gestaltung berücksichtigt werden<br />

müssen, muss <strong>der</strong> Arbeitgeber durch die<br />

Gefährdungsbeurteilung ermitteln. Wird in<br />

den in <strong>der</strong> Regel beschriebenen Fällen in <strong>der</strong><br />

Weise verfahren wie vorgeschlagen, kann <strong>der</strong><br />

Arbeitgeber davon ausgehen, dass er die<br />

Vorgaben erfüllt. Dabei kann er sich durch<br />

seine Fachkraft für Arbeitssicherheit, den<br />

Betriebsarzt, von <strong>der</strong> Berufsgenossenschaft<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gewerbeaufsicht beraten lassen. Auch<br />

das Integrationsamt o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Integrationsfachdienst<br />

kommen für fachk<strong>und</strong>ige Beratung<br />

infrage. 6<br />

Ein Beispiel veranschaulicht die ›Denkweise‹<br />

<strong>der</strong> Regel:<br />

❚ Wesentliches Prinzip einer barrierefreien Gestaltung<br />

ist das Zwei-Sinne-Prinzip, das es ermöglicht,<br />

Informationen alternativ wahrzunehmen: Wenn<br />

einer <strong>der</strong> drei Sinne, beispielsweise das Hören<br />

ausfällt, muss die Information über einen <strong>der</strong> beiden<br />

an<strong>der</strong>en Sinne aufgenommen werden können.<br />

So kann ein blin<strong>der</strong> o<strong>der</strong> stark sehbehin<strong>der</strong>ter<br />

Beschäftigter beispielsweise den Rettungsplan ›lesen‹,<br />

wenn die Informationen auch fühlbar, zum Beispiel<br />

als Relief gestaltet, dargestellt sind. Informations<strong>und</strong><br />

Leitsysteme ermöglichen es ihm, den Fluchtweg<br />

zu finden.<br />

Neubauten o<strong>der</strong> umfangreichere Umbaumaßnahmen<br />

werden nicht wesentlich teurer,<br />

wenn die Barrierefreiheit schon ab <strong>der</strong><br />

Planung einbezogen wird. Teure Nachbesserungen<br />

können entfallen. Wenn es die individuellen<br />

Bedarfe schwerbehin<strong>der</strong>ter o<strong>der</strong> ihnen<br />

gleichgestellter Beschäftigter erfor<strong>der</strong>n, sind<br />

zusätzlich <strong>zur</strong> barrierefreien Gestaltung auch<br />

behin<strong>der</strong>tengerechte Anpassungsmaßnahmen<br />

am einzelnen Arbeitsplatz möglich. Sie können<br />

vom Integrationsamt bezuschusst werden.<br />

Eine barrierefreie Gestaltung macht nicht<br />

nur den direkt Betroffenen, son<strong>der</strong>n auch<br />

an<strong>der</strong>en das Leben leichter – breitere Türen,<br />

Rampen o<strong>der</strong> gut wahrnehmbare Sicherheitszeichen<br />

nutzen auch <strong>der</strong> Hausmeisterin, <strong>der</strong><br />

Reinigungskraft o<strong>der</strong> dem Besucher, <strong>der</strong> mit<br />

Kin<strong>der</strong>wagen in eine Dienststelle kommt.<br />

6 Zahlreiche anschauliche<br />

Beispiele bietet die<br />

online verfügbare Handlungshilfe<br />

›Barrierefreie<br />

Arbeitsstätten planen<br />

<strong>und</strong> gestalten‹ <strong>der</strong><br />

Verwaltungs-Berufsgenossenschaft<br />

(VBG):<br />

www.vbg.de/barriere/


74<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Einige <strong>der</strong> Vorgaben aus <strong>der</strong> Regel <strong>zur</strong> barrierefreien<br />

Gestaltung wirken jedoch einschränkend<br />

auf die Chancen eines barrierefreien<br />

Zugangs zu Arbeitsstätten, <strong>im</strong> wörtlichen <strong>und</strong><br />

<strong>im</strong> übertragenen Sinn:<br />

❚ Nur, wenn <strong>im</strong> Betrieb Beschäftigte mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />

arbeiten, ist <strong>der</strong> Arbeitgeber zu einer<br />

barrierefreien Gestaltung verpflichtet.<br />

❚ Es sind lediglich die Bereiche barrierefrei zu<br />

gestalten, zu denen die jeweiligen Beschäftigten mit<br />

Behin<strong>der</strong>ungen Zugang haben müssen, wie <strong>der</strong><br />

Zugang zum jeweiligen Arbeitsplatz, <strong>zur</strong> Kantine,<br />

zum Betriebsrat <strong>und</strong> das WC.<br />

❚ Und wenn in bestehenden Gebäuden ›ein unverhältnismäßiger<br />

Aufwand‹ betrieben werden müsste,<br />

um die Barrierefreiheit zu erreichen, kann auch auf<br />

einen geringeren Arbeitsschutz- beziehungsweise<br />

Gestaltungsstandard <strong>zur</strong>ückgegriffen werden.<br />

Höchste Zeit für Inklusion:<br />

Handlungsbedarfe<br />

Inklusion ist nicht ›nice to have‹, son<strong>der</strong>n ein<br />

Menschenrecht. Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />

sind Mann o<strong>der</strong> Frau, alt o<strong>der</strong> jung, gut o<strong>der</strong><br />

weniger gut qualifiziert <strong>und</strong> motiviert – kurz,<br />

sie unterscheiden sich eigentlich nicht so sehr<br />

von den Menschen, die keine Behin<strong>der</strong>ung<br />

haben. Die Teilhabechancen von Menschen mit<br />

Behin<strong>der</strong>ungen hängen häufig mehr von ihrer<br />

Bildung <strong>und</strong> Qualifikation <strong>und</strong> von ihrem<br />

sozialen Rückhalt ab, als von den ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Einschränkungen. Beste Beweise dafür<br />

geben diejenigen, die mit einer Behin<strong>der</strong>ung<br />

leben <strong>und</strong> in Schlüsselstellungen des öffentlichen<br />

Lebens erfolgreich sind, als Politikerin,<br />

als Wissenschaftler, als Künstler. Notwendig<br />

sind technische <strong>und</strong> materielle Rahmenbedingungen<br />

in <strong>der</strong> Arbeitswelt, die Menschen<br />

mit Behin<strong>der</strong>ungen nicht länger behin<strong>der</strong>n.<br />

Allerdings sitzt ein großer Teil <strong>der</strong> Hemmnisse<br />

in den Köpfen: Genauso wie <strong>im</strong> Straßenbild<br />

<strong>der</strong> Rollator inzwischen alltäglich geworden<br />

ist, muss es auch selbstverständlich werden,<br />

dass Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen erwerbstätig<br />

sind.<br />

Um Inklusion in <strong>der</strong> Erwerbsarbeit zu verwirklichen,<br />

muss <strong>und</strong> kann an verschiedenen<br />

Stellen angesetzt werden:<br />

❚ Aus Kin<strong>der</strong>n werden Leute: Es kommt darauf an,<br />

Armut <strong>und</strong> Ausgrenzung schon ab dem Kin<strong>der</strong><strong>und</strong><br />

Jugendalter vorzubeugen. Inklusion <strong>im</strong> Erziehungs-<br />

<strong>und</strong> <strong>im</strong> Bildungsbereich trägt <strong>zur</strong> Beseitigung<br />

gesellschaftlicher Ungleichheit <strong>und</strong> dazu<br />

bei, dass Jugendliche gute Bedingungen für den<br />

Start ins Erwerbsleben haben. Allerdings muss<br />

Inklusion Rahmenbedingungen vorfinden, die sie<br />

auch tatsächlich ermöglichen. Dies so konkret<br />

wie möglich zu definieren, muss Teil des gerade entstehenden<br />

Aktionsplans <strong>zur</strong> Umsetzung <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenrechtskonvention<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen werden.<br />

❚ Rückenkurse <strong>und</strong> Gutscheine fürs Fitnessstudio<br />

reichen nicht: Arbeitsschutz, die Prävention arbeitsbedingter<br />

Ges<strong>und</strong>heitsgefahren <strong>und</strong> auch das<br />

Betriebliche Einglie<strong>der</strong>ungsmanagement gehören<br />

zu den Pflichten des Arbeitgebers <strong>und</strong> machen ein<br />

systematisches betriebliches Ges<strong>und</strong>heitsmanagement<br />

aus. Hier sind auch <strong>der</strong> Betriebsrat <strong>und</strong> die<br />

Schwerbehin<strong>der</strong>tenvertretung gefragt.<br />

❚ Der Topf <strong>der</strong> Ausgleichsabgabe ist <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

gut gefüllt <strong>und</strong> er wird trotz einer schier unübersehbaren<br />

Fülle von Maßnahmen, die das Integrationsamt<br />

för<strong>der</strong>t, nicht leerer, son<strong>der</strong>n eher noch voller –<br />

weil zahlreiche Betriebe keine o<strong>der</strong> zu wenige<br />

schwerbehin<strong>der</strong>te Menschen beschäftigen. Arbeitgeber<br />

<strong>und</strong> Sozialpartner sind gefragt, Menschen mit<br />

Behin<strong>der</strong>ungen den Weg in den Betrieb zu ebnen<br />

<strong>und</strong>/o<strong>der</strong> mindestens die Mittel aus dem Ausgleichstopf<br />

für entsprechende Maßnahmen in Anspruch<br />

zu nehmen.<br />

❚ Die Arbeitsstättenverordnung <strong>und</strong> die Arbeitsstättenregel<br />

›Barrierefreie Gestaltung‹ enthalten<br />

wichtige erste Schritte. Die Vorschriften sind technisch<br />

auf <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Zeit, sie sind aber noch<br />

nicht ›stark‹ genug für die Verwirklichung von Barrierefreiheit.<br />

So gilt sie bislang nur für Betriebe,<br />

die bereits Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen beschäftigen.<br />

Betriebe, die dies nicht tun, werden aus<br />

<strong>der</strong> Verantwortung entlassen. Das <strong>Land</strong> Bremen<br />

muss sich auf B<strong>und</strong>esebene dafür einsetzen, dass<br />

Barrierefreiheit Ziel aller Betriebe ist.


75<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

¢<br />

E X K U R S<br />

Jetzt auf Dauer:<br />

Beratung für von Berufskrankheiten Betroffene<br />

B A R B A R A R E U H L<br />

Auf Beschluss des Bremer Senats wird das<br />

Beratungsangebot für von Berufskrankheiten<br />

Betroffene in <strong>der</strong> Geschäftsstelle Bremen-Nord<br />

<strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer fortgesetzt. 1<br />

Nach <strong>der</strong> Statistik <strong>der</strong> Deutschen Gesetzlichen<br />

Unfallversicherung (DGUV) werden <strong>im</strong><br />

<strong>Land</strong> Bremen seit 2007 jährlich durchschnittlich<br />

etwa 1.060 Anzeigen auf Verdacht einer<br />

Berufskrankheit (BK-Anzeigen) gestellt. Im Jahr<br />

2011 wurde in 372 Fällen eine Berufskrankheit<br />

neu anerkannt, in 184 Fällen wurde eine<br />

Berufskrankheiten-Rente (BK-Rente) erstmals<br />

festgesetzt. In Bremen wird – betrachtet man<br />

die Zahl <strong>der</strong> jährlichen Anzeigen – ein größerer<br />

Teil <strong>der</strong> angezeigten BK-Fälle anerkannt<br />

als <strong>im</strong> B<strong>und</strong>. Auch BK-Renten werden in mehr<br />

Fällen gezahlt <strong>und</strong> es kommt zu mehr Todesfällen<br />

infolge einer Berufserkrankung. Ein<br />

Gr<strong>und</strong> dafür ist, dass in Bremen nach wie vor<br />

sehr viele Berufserkrankungen <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit Arbeitsplätzen in <strong>der</strong> Werftindustrie<br />

<strong>und</strong> <strong>im</strong> Hafenumschlag auftreten. Bei den <strong>im</strong><br />

Jahr 2011 angezeigten 1.066 Berufskrankheiten<br />

in Bremen geht es in mehr als einem Drittel<br />

<strong>der</strong> Fälle um Asbestose (216 Fälle), Lungeno<strong>der</strong><br />

Kehlkopfkrebs in Verbindung mit Asbest<br />

sowie Lungen- o<strong>der</strong> Rippenfellkrebs (Mesotheliom,<br />

59 Fälle). In <strong>der</strong> gesamten B<strong>und</strong>esrepublik<br />

machen diese Erkrankungen lediglich 12 Prozent<br />

<strong>der</strong> BK-Anzeigen aus.<br />

Be<strong>im</strong> Berufskrankheiten-Verfahren (BK-<br />

Verfahren) handelt es sich um ein Verwaltungsverfahren<br />

mit festgelegtem Ablauf. Es<br />

kommt nur in Gang, wenn jemand den<br />

Verdacht hegt, bei einer Erkrankung könnte es<br />

sich um eine Berufskrankheit handeln <strong>und</strong><br />

dies bei <strong>der</strong> zuständigen Berufsgenossenschaft<br />

(BG) anzeigt. 2 Die BG ist dann verpflichtet zu<br />

ermitteln, ob bei <strong>der</strong> beruflichen Tätigkeit die<br />

in <strong>der</strong> BK-Liste beschriebene, genau definierte<br />

schädigende Einwirkung (=Exposition) vorgelegen<br />

hat.<br />

1 Das Beratungsangebot<br />

wird auf den Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> Ergebnissen aus dem<br />

2013 auslaufenden Projekt<br />

›Wissenstransfer <strong>zur</strong><br />

präventiven Unterstützung<br />

von Betrieben <strong>zur</strong> Verhin<strong>der</strong>ung<br />

von Berufskrankheiten‹<br />

aufbauen, das –<br />

geför<strong>der</strong>t mit Mitteln aus<br />

dem Europäischen Strukturfonds<br />

(EFRE) – von Mai<br />

2011 bis Juni 2013 in<br />

Trägerschaft <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen<br />

durchgeführt wurde.<br />

2 Eine Berufskrankheitenanzeige<br />

kann je<strong>der</strong> stellen:<br />

<strong>der</strong> o<strong>der</strong> die Betroffene<br />

selbst, Angehörige, <strong>der</strong><br />

Betriebsrat, die Krankenkasse<br />

o<strong>der</strong> die Rentenversicherung.<br />

Der<br />

Arbeitgeber <strong>und</strong> Ärzte<br />

müssen es tun.<br />

¢Warum brauchen die Betroffenen<br />

Unterstützung?<br />

Die Berufskrankheiten sind ein Son<strong>der</strong>fall <strong>der</strong> arbeitsbedingten<br />

Erkrankungen. Nur diejenigen Krankheiten, die<br />

in <strong>der</strong> Berufskrankheiten-Liste (BK-Liste) aufgeführt sind,<br />

können unter eng definierten Kriterien als Berufskrankheit<br />

anerkannt werden. Berufskrankheiten fallen nicht wie<br />

an<strong>der</strong>e Erkrankungen in die Zuständigkeit <strong>der</strong> Krankenversicherung.<br />

Die durch eine Berufskrankheit entstehenden<br />

Kosten werden wie be<strong>im</strong> Arbeitsunfall aus <strong>der</strong> gesetzlichen<br />

Unfallversicherung, den Berufsgenossenschaften (BG),<br />

getragen. Dieser Zweig <strong>der</strong> Sozialversicherung wird ausschließlich<br />

aus Beiträgen <strong>der</strong> Arbeitgeber finanziert, denn<br />

die gesetzliche Unfallversicherung übern<strong>im</strong>mt die Haftpflicht<br />

des Arbeitgebers, wenn Beschäftigte einen Schaden<br />

erleiden. Die BG zahlt die infolge von Unfällen o<strong>der</strong> Berufskrankheiten<br />

anfallenden Behandlungskosten, ges<strong>und</strong>heitliche<br />

<strong>und</strong> berufliche Rehabilitationsleistungen sowie Renten<br />

<strong>zur</strong> Kompensation von Erwerbsmin<strong>der</strong>ung.<br />

Das Berufskrankheiten-Modell baut auf dem Verständnis<br />

des Unfallversicherungsrechts auf: Eine (eindeutige) Ursache<br />

erzeugt eine (eindeutige) Wirkung. Der Zusammenhang<br />

zwischen einem Unfallereignis <strong>und</strong> dem Unfallschaden<br />

leuchtet ein, denn sie liegen in <strong>der</strong> Regel zeitlich nahe<br />

beisammen. Bis sich die Symptome einer Berufserkrankung<br />

bemerkbar machen, vergehen aber meist mehrere Jahre,<br />

bei Asbest- <strong>und</strong> Krebserkrankungen oft Jahrzehnte. Ein<br />

Ursache-Wirkungszusammenhang ist dann nur noch schwer<br />

abzuklären – beweisen müssen ihn die Betroffenen.


76<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Abb. 1:<br />

<strong>Land</strong> Bremen: angezeigte, anerkannte <strong>und</strong><br />

erstmals entschädigte Berufskrankheiten 2011<br />

Lendenwirbelsäule<br />

7<br />

3<br />

75<br />

Lärmschädigung<br />

3<br />

50<br />

120<br />

Asbestose<br />

65<br />

165<br />

216<br />

Lungen-/Kehlkopfkrebs, Asbest<br />

44<br />

44<br />

111<br />

Hautkrankheiten<br />

8<br />

2<br />

314<br />

0 100 200 300 400<br />

angezeigte Berufskrankheiten<br />

Quelle: DGUV Statistik 2013<br />

anerkannte Berufskrankheiten<br />

BK-Rente<br />

Ist das <strong>der</strong> Fall, wird <strong>der</strong> Zusammenhang<br />

zwischen Einwirkung <strong>und</strong> Krankheit durch<br />

ein medizinisches Gutachten abgeklärt.<br />

Bis eine Berufskrankheit anerkannt wird,<br />

gibt es viele Hürden, wie die Erfahrungen aus<br />

mehr als 180 Beratungsfällen <strong>im</strong> Projekt ›Wissenstransfer<br />

Berufskrankheiten‹ zeigen. In<br />

vielen Fällen stehen die Chancen auf Anerkennung<br />

einer Berufskrankheit schlecht, wenn<br />

beispielsweise die mit <strong>der</strong> beruflichen Tätigkeit<br />

verb<strong>und</strong>enen Belastungsfaktoren nicht<br />

qualifiziert beschrieben o<strong>der</strong> <strong>im</strong> Betrieb keine<br />

Unterlagen über Arbeitsstoffe mehr vorhanden<br />

sind. Viele <strong>der</strong> Ratsuchenden können ihre<br />

berufliche Biografie auch deshalb nicht vollständig<br />

belegen, weil sie als Leiharbeiter o<strong>der</strong><br />

als Beschäftigter einer Fremdfirma in verschiedenen<br />

Unternehmen eingesetzt waren, o<strong>der</strong><br />

weil Betriebe nicht mehr existieren. Das trifft<br />

Abb. 2:<br />

Beweisschritte <strong>im</strong> Berufskrankheitenverfahren<br />

versicherte<br />

Tätigkeit<br />

e<br />

Zusammenhangsbeweis<br />

schädigende<br />

Einwirkung<br />

e<br />

Erkrankung<br />

Zusammenhangsgutachten<br />

beispielsweise auf den Hafenumschlag zu. Der<br />

Bremer Überseehafen war bis in die 1970er-<br />

Jahre Deutschlands Hauptumschlagsplatz für<br />

Asbest. Um jedoch <strong>im</strong> konkreten Fall eine<br />

Asbestexposition zu beweisen, braucht es oft<br />

detektivischen Spürsinn. Ein wesentlicher Teil<br />

<strong>der</strong> Beratung besteht darin, die Ratsuchenden<br />

be<strong>im</strong> Nachweis des beruflichen Zusammenhangs<br />

zu unterstützen.<br />

Einige Berufskrankheiten werden nur<br />

dann anerkannt, ›wenn sie <strong>zur</strong> Unterlassung<br />

aller Tätigkeiten geführt haben, die für die<br />

Entstehung, die Verschl<strong>im</strong>merung o<strong>der</strong> das<br />

Wie<strong>der</strong>aufleben <strong>der</strong> Krankheit ursächlich<br />

waren o<strong>der</strong> sein können‹, so § 9 Siebtes Sozialgesetzbuch.<br />

Diese einschränkende Bedingung<br />

gilt für neun Berufskrankheiten, die mehr<br />

als die Hälfte aller BK-Anzeigen, darunter<br />

Haut-, Sehnenscheiden- <strong>und</strong> Wirbelsäulenerkrankungen<br />

ausmachen.<br />

For<strong>der</strong>ungen/Perspektiven<br />

Vor allem die Betroffenen, aber auch die Sozialversicherungssysteme<br />

<strong>und</strong> vor allem die<br />

Arbeitgeber haben Vorteile, wenn Ansprüche<br />

<strong>der</strong> Versicherten zügiger abgeklärt <strong>und</strong> vor<br />

allem die Aktivitäten <strong>zur</strong> Prävention von


77<br />

W I RT S C H A F T A R B E I T A R B E I T S M A R K T P O L I T I K<br />

¢<br />

Eine BK-Rente ist nicht mit einer Altersrente<br />

gleichzusetzen. Entschädigt wird <strong>der</strong> Grad, in<br />

dem die ›Min<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Erwerbsfähigkeit‹<br />

(MdE), die ausdrückt, inwiefern durch die<br />

Berufserkrankung <strong>der</strong> Zugang zum allgemeinen<br />

Arbeitsmarkt beeinträchtigt ist. Durch<br />

eine abstrakte Schadensberechnung auf Gr<strong>und</strong>lage<br />

des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) 3 , maßgeblich<br />

das Arbeitseinkommen <strong>im</strong> Jahr, bevor<br />

die Berufserkrankung aufgetreten ist, wird die<br />

Rente festgesetzt. Der Zahlbetrag errechnet<br />

sich als Prozentsatz, analog dem Prozentsatz<br />

<strong>der</strong> MdE. Gezahlt wird erst ab einer MdE von<br />

20 Prozent – dieser Wert wird jedoch meist<br />

infolge einer Berufserkrankung nicht erreicht<br />

– bis max<strong>im</strong>al zwei Drittel des JAV, bei einer<br />

MdE von 100 Prozent. Die BK-Rente ist ein<br />

abstrakt berechneter Zahlbetrag <strong>und</strong> wird<br />

zusätzlich zum Gehalt gezahlt, auf Alters- o<strong>der</strong><br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente aber teilweise <strong>und</strong><br />

auf Hartz-IV-Leistungen voll angerechnet.<br />

Frauen sind häufig nicht direkt, son<strong>der</strong>n als<br />

Angehörige o<strong>der</strong> Hinterbliebene von einer<br />

Berufskrankheit betroffen. Auch Witwen <strong>und</strong><br />

Witwer haben Anspruch auf Rente, die jedoch<br />

auf Erwerbseinkommen, Altersrenten <strong>und</strong><br />

Hartz-IV-Leistungen angerechnet wird.<br />

Berufskrankheiten verbessert werden. Die<br />

Arbeitsfähigkeit <strong>der</strong> Beschäftigten kann erhalten<br />

<strong>und</strong> Kosten für Behandlung <strong>und</strong> Rehabilitation<br />

können eingespart werden, Lohnnebenkosten,<br />

wie die Beiträge für die Krankenkassen<br />

<strong>und</strong> für die gesetzliche Unfallversicherung<br />

gesenkt werden. Es bleibt zu hoffen,<br />

dass alle beteiligten Stellen dazu beitragen,<br />

künftig die mit dem Projekt aufgebaute Vernetzung<br />

zu pflegen <strong>und</strong> weiterzuentwickeln.<br />

Handlungsbedarf gibt es auf<br />

verschiedenen Ebenen:<br />

❚ In den Betrieben:<br />

Arbeitgeber müssen ihrer Verantwortung gerecht<br />

werden <strong>und</strong> durch systematischen Arbeitsschutz <strong>und</strong><br />

eine bessere betriebliche Prävention Berufskrankheiten<br />

verhüten <strong>und</strong> die Ges<strong>und</strong>heitsrisiken bei <strong>der</strong><br />

Arbeit dokumentieren.<br />

❚ Bei Institutionen <strong>und</strong> Experten:<br />

Die Berufsgenossenschaften müssen ihrem gesetzlichen<br />

Auftrag, Berufskrankheiten mit allen<br />

geeigneten Mitteln zu verhüten, nachkommen –<br />

durch Beratung <strong>und</strong> Kontrolle in den Betrieben.<br />

Die Abklärung einer Berufskrankheit muss von den<br />

zuständigen Stellen zwar zügig, aber vor allem<br />

qualitätsgesichert, also sorgfältig <strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong>lage<br />

des Standes <strong>der</strong> Wissenschaft erfolgen.<br />

Ärzte sollten systematischer als dies bisher <strong>der</strong> Fall<br />

ist, bei <strong>der</strong> Diagnose <strong>und</strong> Behandlung die<br />

Möglichkeit einer Berufskrankheit berücksichtigen<br />

<strong>und</strong> <strong>im</strong> Verdachts- o<strong>der</strong> Zweifelsfall eine BK-Anzeige<br />

stellen.<br />

❚ Für die Politik:<br />

Die staatliche Gewerbeaufsicht <strong>und</strong> insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong><br />

<strong>Land</strong>esgewerbearzt haben wichtige Funktionen für<br />

die Prävention von Berufskrankheiten <strong>und</strong> als unabhängige<br />

Experten <strong>im</strong> BK-Verfahren. Deshalb muss<br />

auf <strong>Land</strong>esebene dafür gesorgt werden, dass die<br />

personelle Ausstattung auch künftig zumindest<br />

erhalten bleibt.<br />

Weil die Beweislast die Betroffenen oft in Beweisnot<br />

bringt, hat das <strong>Land</strong> Bremen eine Initiative <strong>zur</strong><br />

Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> rechtlichen Vorgaben vorbereitet, um<br />

die Beweislast umzukehren o<strong>der</strong> mindestens zu<br />

erleichtern. Sie stand zunächst in <strong>der</strong> Arbeits- <strong>und</strong><br />

Sozialministerkonferenz auf <strong>der</strong> Tagesordnung. Die<br />

Chancen auf Durchsetzung sind auch aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

verän<strong>der</strong>ten Sitzverteilung <strong>im</strong> B<strong>und</strong>esrat gestiegen<br />

<strong>und</strong> deshalb ist an <strong>der</strong> Zeit, die Initiative auch auf<br />

dieser Ebene voranzubringen. Auch sollte geprüft<br />

werden, ob das einschränkende Kriterium <strong>der</strong><br />

Tätigkeitsaufgabe bei <strong>der</strong> weiteren Verfolgung <strong>der</strong><br />

Initiative <strong>zur</strong> Erleichterung <strong>der</strong> Beweislast einbezogen<br />

werden kann.<br />

3 Der JAV ist nach oben<br />

<strong>und</strong> nach unten begrenzt<br />

auf 32.340 Euro bzw.<br />

höchst unterschiedlich<br />

62.400 bis 84.000 Euro,<br />

für Ostdeutschland gelten<br />

niedrigere Beträge.


78<br />

2<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Ges<strong>und</strong>heit, Rente,<br />

Bildung <strong>und</strong> Integration


79<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Zur Situation in <strong>der</strong> Pflege<br />

Zwischen Fachkräftebedarf <strong>und</strong> Pflegenotstand<br />

C A R O L A B U R Y<br />

Der ›demografische Wandel‹ wird häufig<br />

als Gr<strong>und</strong> für einen steigenden Bedarf an<br />

Pflegekräften angeführt. Verschiedene Prognosen<br />

gehen b<strong>und</strong>esweit von mehreren Hun<strong>der</strong>ttausend<br />

fehlenden Pflegekräften aus – umgerechnet<br />

in Vollzeitstellen <strong>und</strong> bezogen auf<br />

das Jahr 2030. 1 Zwischen Panikmache <strong>und</strong><br />

Beschwichtigung liegt <strong>der</strong>zeit – je nach Interessenlage<br />

– die Haltung in Bezug auf die Pflege<br />

<strong>und</strong> die Versorgung Pflegebedürftiger <strong>und</strong><br />

Kranker. Das Schlagwort ›Pflegenotstand‹<br />

beschrieb in den 1960er- <strong>und</strong> 1970er-Jahren<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts in Deutschland den<br />

akuten Mangel an Personal vor allem in den<br />

Krankenhäusern. Heute wird es sowohl auf<br />

die stationäre Krankenpflege wie auf die Altenpflege<br />

angewendet, um die durch Unterbesetzung<br />

<strong>und</strong> Minutenpflege angespannte Situation<br />

<strong>der</strong> Beschäftigten <strong>und</strong> die nicht ausreichende<br />

Versorgung <strong>der</strong> Pflegebedürftigen zu<br />

kritisieren. Damals wie heute wird als Lösung<br />

die Anwerbung ausländischer hoch qualifizierter<br />

Krankenschwestern sowohl aus den<br />

europäischen Staaten, aber auch aus Indien<br />

<strong>und</strong> China gefor<strong>der</strong>t. ›Pflegenotstand‹<br />

bedeutet, dass für die Versorgung nicht<br />

genügend Personal <strong>zur</strong> Verfügung steht <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Versorgungsauftrag von Kommunen<br />

<strong>und</strong> Staat nicht mehr ausreichend erfüllt<br />

werden kann.<br />

Dabei muss in Bezug auf die ›Diagnose‹ genau<br />

unterschieden werden:<br />

❚ Personalmangel kann durch schlechte Arbeitsbedingungen<br />

entstehen, wenn zum Beispiel Fachkräfte<br />

abwan<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Unternehmen Fachkräfte<br />

nicht binden können o<strong>der</strong> eine Unterbeschäftigung<br />

besteht.<br />

❚ Ein Arbeitskräftemangel würde sogar bestehen,<br />

wenn Arbeitskräfte auf allen Qualifikationsniveaus<br />

nicht <strong>zur</strong> Verfügung stehen – <strong>im</strong> Fall des Berufsfelds<br />

Pflege also beispielsweise auch Helferinnen <strong>und</strong><br />

Helfer.<br />

❚ Fachkräftemangel bedeutet, dass Arbeitskräfte mit<br />

qualifizierten Berufsabschlüssen <strong>und</strong> Kompetenzen<br />

nicht ausreichend <strong>zur</strong> Verfügung stehen, etwa weil<br />

nicht ausreichend ausgebildet beziehungsweise qualifiziert<br />

wurde <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> Fachkräfte nicht geb<strong>und</strong>en<br />

werden können.<br />

Die Agentur für Arbeit spricht bei ihren Analysen<br />

häufig von ›Engpässen‹, um deutlich zu<br />

machen, dass nicht geklärt ist, inwieweit die<br />

angebotenen Stellen so unattraktiv sind, dass<br />

sie nicht besetzt werden können, o<strong>der</strong> ob es an<br />

einem Mangel an Fachkräften liegt.<br />

In <strong>der</strong> Pflege <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen gibt es <strong>der</strong>zeit<br />

zwar keinen Arbeitskräftemangel – denn<br />

Helferinnen <strong>und</strong> Helfer werden teilweise sogar<br />

über Bedarf ausgebildet. Ein Personal- <strong>und</strong><br />

Fachkräftemangel lässt sich in <strong>der</strong> Pflege<br />

aber durchaus belegen: Schlechte Arbeitsbedingungen,<br />

niedrige Löhne <strong>und</strong> ein hoher<br />

Teilzeitanteil machen den Beruf unattraktiv<br />

<strong>und</strong> halten junge Menschen davon ab, eine<br />

Ausbildung in <strong>der</strong> Pflege anzustreben. Im<br />

Ergebnis steht also zu wenig Personal <strong>zur</strong><br />

Verfügung. Gleichzeitig gibt es nicht genügend<br />

Fachkräfte, weil zu wenig qualifiziert <strong>und</strong><br />

ausgebildet wird. Statt also qualifizierte Kräfte<br />

einzustellen, müssen Einrichtungen teilweise<br />

auf Helferinnen <strong>und</strong> Helfer <strong>zur</strong>ückgreifen.<br />

1 Entscheidende Frage<br />

bei den verschiedenen<br />

Szenarien kommt den<br />

jeweiligen Pflegearrangements<br />

zu <strong>und</strong><br />

den regional unterschiedlichen<br />

Entwicklungen<br />

in Bezug auf die<br />

Pflegefälle <strong>und</strong> den<br />

Anteil <strong>der</strong> Pflegebedürftigen<br />

an <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung.<br />

Die<br />

Modellrechnungen des<br />

IAB unterscheiden<br />

nach gleichbleibenden<br />

Raten die Versorgung<br />

durch Angehörige (46<br />

Prozent), durch die<br />

ambulante Versorgung<br />

(22 Prozent) <strong>und</strong> in<br />

stationären Einrichtungen<br />

(32 Prozent). Dabei<br />

wäre ein Personalbedarf<br />

in Höhe von 796.000<br />

Vollzeitäquivalenten<br />

b<strong>und</strong>esweit für 2030<br />

nötig, um die Versorgung<br />

sicherzustellen.<br />

Im Alternativszenario<br />

wurde angenommen,<br />

dass die Zahl <strong>der</strong> pflegenden<br />

Angehörigen<br />

stagniert. Danach würde<br />

dann ein Personalbedarf<br />

in Höhe von 888.000<br />

Vollzeitäquivalenten<br />

für ambulante <strong>und</strong><br />

stationäre Versorgung<br />

gemeinsam errechnet.<br />

Vgl. Pohl, Carsten:<br />

Arbeitsmarkt Altenpflege.<br />

Der Ruf nach<br />

Hilfe wird <strong>im</strong>mer lauter.<br />

In: IAB-Forum 1/2012,<br />

S. 92–93. Die Studie<br />

<strong>der</strong> Bertelsmann<br />

Stiftung geht von r<strong>und</strong><br />

500.000 Vollzeitäquivalenten<br />

zum Jahre 2030<br />

aus. Vgl. Rothgang/<br />

Müller/Unger: Themenreport<br />

›Pflege 2030‹,<br />

2012.


80<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

2 Zwischen 1996 <strong>und</strong><br />

2001 lagen die Gründe<br />

für den Stellenabbau<br />

vor allem in den politisch<br />

vorgegebenen pauschalen<br />

Kürzungen <strong>und</strong><br />

Deckelungen <strong>der</strong> Budgets.<br />

Ab 2001 geht <strong>der</strong><br />

Stellenabbau deutlich<br />

über das Maß <strong>der</strong> Budgetreduzierung<br />

hinaus.<br />

›Offensichtlich wurden<br />

Pflegepersonalstellen<br />

vielfach auch reduziert,<br />

um Finanzmittel für<br />

an<strong>der</strong>e Zwecke freizusetzen.<br />

Im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong><br />

standen dabei vor allem<br />

die Finanzierung dringend<br />

notwendiger Investitionen<br />

<strong>und</strong> die Bereitstellung<br />

von Mitteln<br />

für zusätzliche Stellen<br />

<strong>im</strong> ärztlichen Dienst.‹<br />

Vgl. S<strong>im</strong>on, Michael:<br />

Beschäftigte <strong>und</strong><br />

Beschäftigungsstrukturen<br />

in Pflegeberufen.<br />

Eine Analyse <strong>der</strong> Jahre<br />

1999 bis 2009.<br />

Berlin 2012, S. 35 f.<br />

3 Vgl. S<strong>im</strong>on, Michael:<br />

Beschäftigte <strong>und</strong><br />

Beschäftigungsstrukturen<br />

in Pflegeberufen.<br />

Eine Analyse <strong>der</strong><br />

Jahre 1999 bis 2009.<br />

Berlin 2012.<br />

Be<strong>im</strong> Fachkräftebedarf <strong>im</strong> Pflegesektor sind<br />

neben <strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heitspolitik <strong>und</strong> natürlich<br />

den Arbeitgebern auch die Bildungs- <strong>und</strong><br />

Arbeitsmarktpolitik gefragt, ihren Teil zu einer<br />

ausreichenden <strong>und</strong> fachgerechten Ausbildung<br />

<strong>der</strong> jeweiligen Fachkräfte beizutragen. Zudem<br />

müssen für die Branche Lohn-, Einstellungs<strong>und</strong><br />

Weiterbildungsfragen bearbeitet werden,<br />

um langfristig Fachkräfte auszubilden,<br />

an Betriebe zu binden <strong>und</strong> dadurch den Fachkräfte-<br />

<strong>und</strong> Personalmangel abzubauen.<br />

Im Unterschied zu an<strong>der</strong>en Berufsbereichen,<br />

die ebenfalls Fachkräfte suchen, wie<br />

Mediziner o<strong>der</strong> Ingenieure, hat die Pflege<br />

gleich mehrere Herausfor<strong>der</strong>ungen. Zum<br />

einen lässt die Alterung <strong>der</strong> Bevölkerung die<br />

Nachfrage nach Dienstleistungen in <strong>der</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitsbranche vermutlich steigen, zum<br />

an<strong>der</strong>en gehen <strong>im</strong>mer mehr Fachkräfte in<br />

den Ruhestand. In <strong>der</strong> Konkurrenz um motivierten<br />

Nachwuchs zwischen den Branchen<br />

werden die Ges<strong>und</strong>heitswirtschaft <strong>und</strong> Pflege<br />

nicht nur an ihrer Krisensicherheit gemessen,<br />

son<strong>der</strong>n sie müssen sich dem Wettbewerb<br />

mit an<strong>der</strong>en Beschäftigungsbranchen bei<br />

sinkenden Geburtenraten stellen. Während<br />

<strong>im</strong> Handwerk <strong>und</strong> Gewerbe <strong>der</strong> Markt Möglichkeiten<br />

hat, zum Beispiel durch Anheben<br />

<strong>der</strong> Löhne <strong>und</strong> Verbesserung von Arbeitsbedingungen<br />

zu punkten, ist dies be<strong>im</strong> Sozialsektor<br />

nur in geringem Ausmaß möglich. Die über<br />

Krankenkassenbeiträge, Pflegeversicherung<br />

o<strong>der</strong> durch private Mittel aufzubringenden<br />

Etats sind begrenzt <strong>und</strong> häufig ›gedeckelt‹.<br />

Seit Jahren wurden die Tagessätze we<strong>der</strong> <strong>im</strong><br />

Krankenhausbereich noch in <strong>der</strong> ambulanten<br />

o<strong>der</strong> He<strong>im</strong>pflege ausreichend angepasst.<br />

Als Reaktion auf die begrenzten Mittel wurde<br />

Personal abgebaut.<br />

Deutlich wird dies am Beispiel <strong>der</strong> Krankenhäuser:<br />

In den vergangenen Jahren sind viele<br />

Stellen gekürzt worden – b<strong>und</strong>esweit waren<br />

es zwischen 1999 <strong>und</strong> 2006 mehr als umgerechnet<br />

50.000 Vollzeitstellen (-15 Prozent).<br />

Die Zahl <strong>der</strong> Beschäftigten ging aber lediglich<br />

um 36.300 (-8,5 Prozent) <strong>zur</strong>ück. Dies führte<br />

zu einer überproportionalen Zunahme von<br />

Teilzeit-Arbeitsverhältnissen. So stieg die Teilzeitquote<br />

bis 2009 auf 47,3 Prozent in den<br />

Krankenhäusern an. 2 In den Bremer Kliniken<br />

wurden seit Einführung <strong>der</strong> Fallpauschalen<br />

in den Krankenhäusern mehrere Hun<strong>der</strong>t<br />

Vollzeitstellen gestrichen.<br />

Dies führte zu einer steigenden Arbeitsbelastung<br />

<strong>und</strong> teils chronischer Unterbesetzung<br />

von Stationen. Viele Pflegekräfte sind auf die<br />

ambulante Pflege ausgewichen, die zugleich<br />

ein stark wachsen<strong>der</strong> Bereich ist. 3<br />

a) Sicherstellung <strong>der</strong> Pflege<br />

<strong>und</strong> Pflegearrangements<br />

Die Sicherstellung <strong>der</strong> Pflege <strong>und</strong> Pflegearrangements<br />

ist eine Herausfor<strong>der</strong>ung für<br />

Kommunen, Kassen <strong>und</strong> Sozialpolitik <strong>und</strong> dies<br />

sowohl <strong>im</strong> Hinblick auf die Organisation <strong>und</strong><br />

Finanzierung <strong>der</strong> Versorgung als auch mit<br />

Blick auf die Legit<strong>im</strong>ation des Sozialstaats.<br />

Noch <strong>im</strong>mer ist die Familie <strong>der</strong> größte Pflegebetrieb<br />

<strong>der</strong> Nation, doch die ›aufopfernden‹<br />

Ehefrauen <strong>und</strong> Töchter werden weniger.<br />

Erwerbsarbeit <strong>und</strong> Familienstrukturen haben<br />

sich in den vergangenen Jahrzehnten gr<strong>und</strong>legend<br />

verän<strong>der</strong>t. Die vom Arbeitsmarkt<br />

gefor<strong>der</strong>te Mobilität bedeutet auch, dass Kin<strong>der</strong><br />

<strong>und</strong> pflegebedürftige Eltern oft räumlich<br />

entfernt voneinan<strong>der</strong> leben.<br />

Professionelle Unterstützung durch ambulante<br />

Pflege o<strong>der</strong> stationäre Pflege eröffneten<br />

für <strong>im</strong>mer mehr Pflegebedürftige eine bessere<br />

Versorgung <strong>und</strong> damit neue gewerbliche<br />

Entwicklungsmöglichkeiten für Dienstleister.<br />

Voraussetzung dafür war die neu begründete<br />

Pflegeversicherung (SGB XI) ab 1995. Die ambulanten<br />

Pflegeeinrichtungen haben inzwischen<br />

mit r<strong>und</strong> 3.500 Beschäftigten <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

eine wirtschaftliche <strong>und</strong> beschäftigungsrelevante<br />

Größe erreicht, auch die Beschäftigung<br />

in stationären Einrichtungen ist mittlerweile<br />

auf 5.500 Pflegekräfte angewachsen.<br />

Entsprechend wird mit Prognosen versucht,<br />

den zukünftigen Bedarf an Pflegekräften<br />

hoch<strong>zur</strong>echnen. So wurden Ende des Jahres


81<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

2012 die kleinräumigen Prognosen des Bremer<br />

Ges<strong>und</strong>heitsökonomen Prof. Heinz Rothgang<br />

<strong>und</strong> seiner Mitarbeiter vorgestellt. Auf <strong>der</strong><br />

Basis von Bevölkerungsvorausberechnungen<br />

führten die Bremer Wissenschaftler des<br />

Zentrums für Sozialpolitik <strong>im</strong> Auftrag <strong>der</strong><br />

Bertelsmann Stiftung Vorausberechnungen <strong>zur</strong><br />

Situation <strong>der</strong> Pflegebedürftigen bis zum<br />

Jahr 2030 durch. Im Vergleich zu an<strong>der</strong>en<br />

B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n stellt sich die Situation in Bremen<br />

weniger dramatisch dar. So wiesen die<br />

Modellrechnungen für den Stadtstaat Bremen<br />

<strong>im</strong> Zeitraum von 2009 bis 2030 ein Wachstum<br />

<strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Pflegebedürftigen von 28 Prozent<br />

aus. Wie unterschiedlich die Ergebnisse<br />

auch sind: Die Kommunen müssen handeln.<br />

Und auch auf B<strong>und</strong>esebene ist klar, dass<br />

endlich Versorgungs- <strong>und</strong> Finanzierungsfragen<br />

<strong>der</strong> Pflegeversicherung geklärt werden<br />

müssen.<br />

b) Die Ökonomisierung <strong>der</strong> Pflege<br />

Auf den wachsenden ökonomischen Druck <strong>im</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen ist die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

bereits <strong>im</strong> <strong>Lage</strong>bericht 2012 eingegangen.<br />

Dieser lässt sich unter an<strong>der</strong>em daran ablesen,<br />

dass Fragen <strong>der</strong> Versorgung als ›ges<strong>und</strong>heitswirtschaftliche<br />

Fragen‹ behandelt werden –<br />

<strong>und</strong> eben nicht als Fragen <strong>der</strong> angemessenen<br />

Versorgung.<br />

Die Kostenträger für Pflege unterscheiden<br />

sich nach Bereichen <strong>der</strong> stationären beziehungsweise<br />

ambulanten Krankenversorgung<br />

(SGB V) <strong>und</strong> nach dem Sozialgesetzbuch XI,<br />

das die stationäre <strong>und</strong> ambulante Versorgung<br />

Pflegebedürftiger, meist älterer Menschen,<br />

regelt. Größter Ausgabenträger <strong>im</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

b<strong>und</strong>esweit war 2011 die gesetzliche<br />

Krankenversicherung (SGB V) mit r<strong>und</strong> 169<br />

Milliarden Euro. 4 Für die Pflegeversicherung<br />

(SGB XI) wurden 2011 etwa 20,9 Milliarden<br />

Euro für Leistungen aufgewandt. 5<br />

In allen Bereichen vollzog sich die Entwicklung<br />

seit den 1990er-Jahren in einem<br />

Spannungsfeld zwischen gedeckelten Budgets<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Bedarfsdeckung. Dabei wurde für den<br />

Bereich <strong>der</strong> gesetzlichen Krankenversicherung<br />

1989 <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Beitragssatzstabilität<br />

aufgenommen. Dieser begrenzt nicht nur<br />

die Gesamtausgaben <strong>der</strong> Krankenversicherung,<br />

son<strong>der</strong>n auch die Ausgaben <strong>der</strong> Leistungserbringer.<br />

Die tatsächlichen Bedarfe spielen<br />

dabei eine untergeordnete Rolle. Die Pflegeversicherung<br />

ist vom Anfang ihrer Entstehung<br />

an nie eine Vollversicherung, son<strong>der</strong>n lediglich<br />

eine Teil-Versicherung gewesen. Auch bei <strong>der</strong><br />

Pflegeversicherung war es Vorgabe <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esregierung,<br />

die Lohnnebenkosten insgesamt<br />

nicht weiter ansteigen zu lassen. Der zunehmende<br />

Kosten- <strong>und</strong> Leistungsdruck, <strong>der</strong> <strong>im</strong><br />

Rahmen personenbezogener Dienstleistungen<br />

eben nicht einfach durch Rationalisierung<br />

beziehungsweise eine erhöhte Produktivität<br />

erzielt werden kann, hat in <strong>der</strong> Pflege<br />

verschiedene Auswirkungen:<br />

❚ Die Rahmenbedingungen verän<strong>der</strong>n sich<br />

erheblich durch neue Berechnungsgr<strong>und</strong>lagen.<br />

Es entkoppeln sich aber auch die Entgeltstrukturen<br />

von den erbrachten pflegerischen Leistungen, da<br />

die Budgets für die Dienstleistungen gedeckelt<br />

sind. Die Folge: Belastung <strong>und</strong> Arbeitsverdichtung<br />

nehmen zu.<br />

❚ Darüber hinaus wird das patientenbezogene Denken<br />

<strong>und</strong> Handeln durch eine betriebswirtschaftliche<br />

Handlungslogik verän<strong>der</strong>t. Medizinisch-pflegerische<br />

Versorgungsziele werden durch wirtschaftliche<br />

Vorgaben best<strong>im</strong>mt.<br />

Deutlich wird dies aus Sicht <strong>der</strong> Pflegekräfte<br />

zum Beispiel an <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten Dokumentation<br />

<strong>der</strong> Pflegearbeit:<br />

Der Anteil <strong>der</strong> Dokumentation hat sich <strong>im</strong><br />

Vergleich zu früher erheblich gesteigert<br />

<strong>und</strong> dient nicht mehr allein <strong>der</strong> Sicherstellung<br />

<strong>der</strong> Versorgungsqualität, son<strong>der</strong>n vor allem<br />

<strong>zur</strong> rechtlichen Absicherung <strong>und</strong> Beleg<br />

gegenüber Ansprüchen von Patienten,<br />

Angehörigen <strong>und</strong> Leistungsträgern. Zudem ist<br />

die Dokumentation Gr<strong>und</strong>lage für die Opt<strong>im</strong>ierung<br />

<strong>der</strong> Erlöse <strong>im</strong> DRG 6 -System des Krankenhauses<br />

<strong>und</strong> auch in <strong>der</strong> ambulanten Pflege.<br />

4 Vgl. GKV Spitzenverband<br />

2013, Leistungsausgaben<br />

insgesamt.<br />

5 Vgl. B<strong>und</strong>esministerium<br />

für Ges<strong>und</strong>heit, amtliche<br />

Statistik PV 45/2010.<br />

6 DRG: Diagnosis Related<br />

Groups, diagnosebezogene<br />

Fallgruppe ist ein<br />

Klassifikationssystem,<br />

das Gr<strong>und</strong>lage für<br />

die Abrechnung be<strong>im</strong><br />

Kostenträger ist. Muss<br />

bei <strong>der</strong> Behandlung<br />

eines Patienten mehr<br />

aufgewendet werden,<br />

als durch die pauschale<br />

Vergütung gedeckt ist,<br />

kommt es zu Verlusten.<br />

Ein Gewinn lässt sich<br />

nur erzielen, wenn es<br />

gelingt, wirtschaftlicher<br />

zu arbeiten, als bei<br />

<strong>der</strong> Kalkulation <strong>der</strong> DRG-<br />

Pauschale berechnet<br />

wurde. Basis ist das<br />

Krankenhausentgeltgesetz<br />

(KHEntgG) von<br />

2002.


82<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

7 Mit den Auswirkungen<br />

durch die Umstellung<br />

auf DRG-System haben<br />

sich in den vergangenen<br />

Jahren vor allem zwei<br />

Forscherteams beschäftigt<br />

<strong>und</strong> dazu veröffentlicht.<br />

Vgl. Buhr, Petra/<br />

Klinke, Sebastian:<br />

Qualitative Folgen <strong>der</strong><br />

DRG-Einführung für<br />

Arbeitsbedingungen <strong>und</strong><br />

Versorgung <strong>im</strong> Krankenhaus<br />

unter Bedingungen<br />

fortgesetzter Budgetierung,<br />

Bd. SP I 2006-<br />

311, WZB Discussion<br />

Paper. Berlin: Wissenschaftszentrum<br />

Berlin<br />

für Sozialforschung<br />

2006. Braun, Bernard<br />

u.a.: Einfluss <strong>der</strong> DRGs<br />

auf Arbeitsbedingungen<br />

<strong>und</strong> Versorgungsqualität<br />

von Pflegekräften <strong>im</strong><br />

Krankenhaus – Ergebnisse<br />

einer b<strong>und</strong>esweiten<br />

schriftlichen Befragung<br />

repräsentativer<br />

Stichproben von Pflegekräften<br />

an Akutkrankenhäusern<br />

in den Jahren<br />

2003, 2006 <strong>und</strong> 2008.<br />

artec-paper Nr. 173,<br />

Bremen Januar 2011.<br />

8 Zum Beispiel EuGH-<br />

Urteil zum Beschäftigungsdienst<br />

von Ärzten.<br />

9 Vgl. Braun u.a. (2006),<br />

S. 9–12.<br />

Was den Personalbestand angeht, so bestehen<br />

zwar in <strong>der</strong> ambulanten <strong>und</strong> stationären<br />

Pflege Vorgaben über Fachkraftquoten, nicht<br />

jedoch über Personalrichtwerte, also die<br />

Ausstattung von Bereichen mit Personal.<br />

Zudem sind die Entgelte niedrig angesetzt <strong>und</strong><br />

wurden in den <strong>zur</strong>ückliegenden Jahren nicht<br />

ausreichend angepasst. Im Krankenhaus wurde<br />

mit dem DRG-System <strong>der</strong> bis dahin bestehende<br />

Personalschlüssel bei den Pflegekräften aufgehoben.<br />

Mit dieser Entwicklung einhergehen<br />

Arbeitsverdichtung <strong>und</strong> Erhöhung <strong>der</strong> Arbeitstempi<br />

als wesentliche Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />

Arbeitssituation von Pflegekräften in einem<br />

System <strong>der</strong> Versorgung, das ökonomische<br />

Anreize vor allem in <strong>der</strong> Erhöhung von Fallzahlen,<br />

zeitlichen Reglementierungen o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Zerlegung von Dienstleistungen setzt. Diese<br />

Entwicklungen kennzeichnen inzwischen<br />

alle Bereiche <strong>der</strong> Pflege.<br />

Im Krankenhaus gingen mit <strong>der</strong> neuen<br />

Orientierung auf das DRG-Abrechnungssystem<br />

auch Statusverän<strong>der</strong>ungen <strong>und</strong> eine Umbildung<br />

<strong>der</strong> Hierarchie einher. Während <strong>der</strong><br />

Einfluss des Managements <strong>und</strong> <strong>der</strong> Controller<br />

wuchs, verloren sowohl Ärzte, vor allem aber<br />

die Pflege an Einfluss, Anerkennung <strong>und</strong><br />

Funktionen. 7 Interne Umverteilungen gingen<br />

meistens zulasten <strong>der</strong> Pflege, während die ärztlichen<br />

Dienste eher entlastet wurden. 8 Angesichts<br />

klammer kommunaler Kassen wurden<br />

die nach <strong>der</strong> dualen Krankenhausfinanzierung<br />

notwendigen Investitionen zusätzlich auf<br />

die Krankenhäuser abgewälzt, die mögliche<br />

Gewinne <strong>zur</strong> Finanzierung von Investitionen<br />

ebenfalls zulasten <strong>der</strong> Pflegedienste zu<br />

generieren suchten.<br />

Höhere Tarifabschlüsse werden seit Jahren<br />

nicht durch Erhöhungen auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong><br />

Kostenträger gegenfinanziert.<br />

Die Folge ist wie<strong>der</strong>um ein angekündigter Stellenabbau.<br />

In <strong>der</strong> Not, ›dem Mangel an Händen<br />

<strong>und</strong> Köpfen‹, wird von Pflegedienstleitungen<br />

<strong>und</strong> Politik <strong>der</strong> Einsatz niedrig Qualifizierter<br />

angedacht. Doch <strong>der</strong> Personalabbau zum<br />

Beispiel <strong>im</strong> Krankenhaus ist längst so weit fortgeschritten,<br />

dass häufig nur noch Mindestbesetzungen<br />

vorhanden sind.<br />

Aus den ›Fürsorgeanstalten‹ wurden Krankenhaus-Dienstleistungsunternehmen,<br />

die ihre<br />

Wettbewerbsfähigkeit am Markt behaupten<br />

müssen <strong>und</strong> auf ›K<strong>und</strong>enbindung‹ angewiesen<br />

sind. Der einzelne Patient ist Teil einer<br />

Gewinnschöpfungs-Kette, alle Teile sind <strong>im</strong>mer<br />

weiter zu opt<strong>im</strong>ieren.<br />

Hier wird häufig nicht differenziert, dass<br />

das Problem <strong>der</strong> Krankenhäuser nicht allein<br />

ein Fachkraftmangel ist. Der massive Stellenabbau<br />

hat zu einer Abwan<strong>der</strong>ung von Fachkräften<br />

geführt <strong>und</strong> zu einer steigenden<br />

Arbeitsbelastung <strong>und</strong> chronischen Unterbesetzung.<br />

Damit einhergeht bei den Pflegekräften<br />

eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem eigenen<br />

beruflichen Selbstverständnis <strong>und</strong> <strong>der</strong> Versorgungsqualität<br />

<strong>der</strong> Patientinnen <strong>und</strong> Patienten.<br />

Pflegekräfte erleben diese Entwicklung<br />

auf zwei Ebenen:<br />

❚ Bei den opt<strong>im</strong>ierten <strong>und</strong> stärker medizinisch<br />

ausgerichteten ›normierten‹ Behandlungen werden<br />

pflegerische Elemente <strong>zur</strong>ückgedrängt. Sie<br />

erscheinen als untergeordnete Assistenzarbeit <strong>zur</strong><br />

medizinisch-ärztlichen (abrechnungsrelevanten)<br />

Tätigkeit. Angesichts des Stellenabbaus <strong>und</strong> neuer<br />

administrativer Aufgaben entwickelte sich ein<br />

Selbstverständnis, als Pflegekraft nicht gut genug<br />

ausgebildet zu sein <strong>und</strong> keinen eigenständigen Einfluss<br />

aus pflegerischer Sicht zu haben. Kooperation<br />

<strong>und</strong> Kommunikation zwischen den ärztlichen <strong>und</strong><br />

pflegerischen Tätigkeiten werden faktisch erschwert. 9<br />

❚ Das Erleben <strong>der</strong> Sinnhaftigkeit <strong>der</strong> pflegerischen<br />

Tätigkeit in diesem traditionell geprägten Berufsbild<br />

gilt als eine <strong>der</strong> wichtigsten Positivressourcen<br />

<strong>und</strong> auch als Positivfaktor in <strong>der</strong> Konkurrenz<br />

um potenzielle Berufskandidatinnen <strong>und</strong><br />

-kandidaten. Durch die beschleunigten Abläufe wird


83<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Abb. 1: Pflege in Zahlen<br />

<strong>Land</strong> Bremen Stadt Bremen Bremerhaven<br />

Pflege 2011<br />

männlich<br />

weiblich<br />

insgesamt<br />

männlich<br />

weiblich<br />

insgesamt<br />

männlich<br />

weiblich<br />

insgesamt<br />

Personal stationäre Einrichtung<br />

15,55 %<br />

84,45 %<br />

5.478<br />

15,81 %<br />

84,19 %<br />

4.763<br />

13,85 %<br />

86,15 %<br />

715<br />

davon Vollzeitbeschäftigte<br />

26,11 %<br />

73,89 %<br />

1.348<br />

27,89 %<br />

72,11 %<br />

1.083<br />

18,87 %<br />

81,13 %<br />

265<br />

davon Teilzeitbeschäftigte<br />

11,23 %<br />

88,77 %<br />

3.909<br />

11,44 %<br />

88,56 %<br />

3.497<br />

9,47 %<br />

90,53 %<br />

412<br />

n davon Teilzeitbeschäftigte über 50%<br />

10,55 %<br />

89,45 %<br />

2.682<br />

10,48 %<br />

89,52 %<br />

2.423<br />

11,20 %<br />

88,80 %<br />

259<br />

n davon 50% <strong>und</strong> weniger, nicht geringfügig<br />

8,42 %<br />

91,58 %<br />

546<br />

9,67 %<br />

90,33 %<br />

455<br />

2,20 %<br />

97,80 %<br />

91<br />

n geringfügige Teilzeitbeschäftigung<br />

16,15 %<br />

83,85 %<br />

681<br />

16,48 %<br />

83,52 %<br />

619<br />

12,90 %<br />

87,10 %<br />

62<br />

Personal ambulante Dienste<br />

14,34 %<br />

85,66 %<br />

3.472<br />

14,86 %<br />

85,14 %<br />

2.881<br />

11,84 %<br />

88,16 %<br />

591<br />

davon Vollzeitbeschäftigte<br />

22,73 %<br />

77,27 %<br />

748<br />

22,91 %<br />

77,09 %<br />

563<br />

22,16 %<br />

77,84 %<br />

185<br />

davon Teilzeitbeschäftigte<br />

11,91 %<br />

88,09 %<br />

2.696<br />

12,71 %<br />

87,29 %<br />

2.298<br />

7,29 %<br />

92,71 %<br />

398<br />

n davon Teilzeitbeschäftigte über 50%<br />

12,12 %<br />

87,88 %<br />

1.510<br />

13,15 %<br />

86,85 %<br />

1.278<br />

6,47 %<br />

93,53 %<br />

232<br />

n davon 50% <strong>und</strong> weniger, nicht geringfügig<br />

6,45 %<br />

93,55 %<br />

372<br />

7,67 %<br />

92,33 %<br />

300<br />

1,39 %<br />

98,61 %<br />

72<br />

n geringfügige Teilzeitbeschäftigung<br />

14,00 %<br />

86,00 %<br />

814<br />

14,03 %<br />

85,97 %<br />

720<br />

13,83 %<br />

86,17 %<br />

94<br />

Empfänger/innen SGB XI,<br />

Pflege-Versicherung, insgesamt<br />

33,46 %<br />

66,54 %<br />

22.178<br />

32,96 %<br />

67,04 %<br />

17.771<br />

35,49 %<br />

64,51 %<br />

4.407<br />

n ambulante Pflege<br />

28,53 %<br />

71,47 %<br />

6.222<br />

0,00 %<br />

0,00 %<br />

0<br />

0,00 %<br />

0,00 %<br />

0<br />

n stationäre Pflege<br />

26,28 %<br />

73,72 %<br />

6.263<br />

0,00 %<br />

0,00 %<br />

0<br />

0,00 %<br />

0,00 %<br />

0<br />

n Angehörigenpflege/Pflegegeld <strong>und</strong> Kombi<br />

38,86 %<br />

61,14 %<br />

12.476<br />

0,00 %<br />

0,00 %<br />

0<br />

0,00 %<br />

0,00 %<br />

0<br />

Quelle: Statistisches <strong>Land</strong>esamt Bremen, Pflegestatistik<br />

die psychosoziale Versorgung <strong>der</strong> Patientinnen<br />

<strong>und</strong> Patienten, die in <strong>der</strong> traditionellen Pflege<br />

Leitbild war, <strong>zur</strong>ückgedrängt <strong>und</strong> findet keinen<br />

Raum mehr. Damit erleben Pflegekräfte <strong>im</strong> Ergebnis<br />

weniger Arbeitszufriedenheit.<br />

c) Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Beschäftigungsstruktur<br />

Die verän<strong>der</strong>ten gesetzlichen <strong>und</strong> ökonomischen<br />

Rahmenbedingungen schlagen durch<br />

auf die Struktur <strong>der</strong> Beschäftigung in diesem<br />

Sektor. Dies machen auch die Ergebnisse<br />

aus <strong>der</strong> Pflegestatistik 10 deutlich, die für<br />

Bremen-Stadt, Bremerhaven <strong>und</strong> das <strong>Land</strong><br />

Bremen die Verän<strong>der</strong>ung <strong>im</strong> vergangenen<br />

Jahrzehnt nachvollziehen.<br />

Während die Zahl <strong>der</strong> Beschäftigten sich für<br />

den Bereich <strong>der</strong> ambulanten <strong>und</strong> stationären<br />

(Alten-)Pflege <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen von 2001 auf<br />

2011 um 33,44 Prozent auf 8.950 erhöht hat,<br />

sind die Effekte in den einzelnen Bereichen<br />

<strong>und</strong> Regionen sehr unterschiedlich. Während<br />

in Bremen <strong>der</strong> ambulante Bereich bei den<br />

Beschäftigten mit 30 Prozent in <strong>der</strong> ambulanten<br />

Pflege <strong>und</strong> in <strong>der</strong> stationären Pflege um<br />

40 Prozent zulegen konnte, wuchs in Bremerhaven<br />

lediglich <strong>der</strong> stationäre Bereich,<br />

während die ambulante Pflege keine Erhöhung<br />

<strong>der</strong> Beschäftigung ausweist.<br />

Seit Einführung <strong>der</strong> Pflegeversicherung<br />

(SGB XI) ist die ambulante Pflege deutlich ausgebaut<br />

worden <strong>und</strong> gilt als ›Jobmotor‹. In <strong>der</strong><br />

ambulanten Pflege werden heute überwiegend<br />

nur Teilzeitbeschäftigungen angeboten. Die<br />

Pflegestatistik 2011 weist für das <strong>Land</strong> Bremen<br />

78 Prozent aus, <strong>im</strong> Jahre 2001 waren es noch<br />

65 Prozent. 11 Inwieweit damit das Argument<br />

des Jobmotors überhaupt belegbar ist, bleibt<br />

offen, denn eine Bilanz umgerechnet auf<br />

Vollzeitstellen ist nicht möglich.<br />

Zwar bietet die ambulante Pflege für<br />

Beschäftigte in <strong>der</strong> Familienphase o<strong>der</strong> be<strong>im</strong><br />

10 Alle Daten aus:<br />

Statistisches <strong>Land</strong>esamt<br />

Bremen, Pflegestatistik<br />

2001 <strong>und</strong> 2011.<br />

11 Dabei beträgt <strong>der</strong> Anteil<br />

für Teilzeitarbeitende in<br />

Bremen-Stadt sogar 80<br />

Prozent, in Bremerhaven<br />

lediglich 68 Prozent. Es<br />

ist davon auszugehen,<br />

dass die niedrigere<br />

Teilzeitrate auch dadurch<br />

zu erklären ist, dass<br />

Beschäftigte in Bremerhaven<br />

eher auf Vollzeitverträgen<br />

bestehen,<br />

um existenzsichernde<br />

Löhne zu erhalten.


84<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

¢<br />

12 Vgl. B<strong>und</strong>esagentur für<br />

Arbeit: Der Arbeitsmarkt<br />

in Deutschland 2011 –<br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong><br />

Pflegeberufe,<br />

Dezember 2011, S. 11.<br />

13 Die Studie des Wirtschafts-<br />

<strong>und</strong> Sozialwissenschaftlichen<br />

Instituts<br />

(WSI) in <strong>der</strong> Hans-<br />

Böckler-Stiftung basiert<br />

auf einer Online-Befragung<br />

des LohnSpiegels<br />

von r<strong>und</strong> 3.550<br />

Beschäftigten aus<br />

verschiedenen Berufen<br />

<strong>und</strong> Tätigkeitsbereichen<br />

in <strong>der</strong> Kranken- <strong>und</strong><br />

Altenpflege.<br />

14 Vgl. alle Angaben<br />

www.lohnspiegel.de,<br />

Stand 17.1.2013.<br />

15 Im Pflegebereich<br />

verdienen die Frauen<br />

<strong>im</strong> Durchschnitt<br />

11,7 Prozent weniger<br />

als die Männer. Frauen<br />

verdienen <strong>im</strong> Durchschnitt<br />

monatlich<br />

2.268 Euro, Männer<br />

verdienen mit<br />

2.567 Euro r<strong>und</strong><br />

300 Euro mehr.<br />

Pflege <strong>und</strong> Pflegearbeit ist weiblich<br />

Professionelle, berufliche Pflege wird überwiegend<br />

von Frauen geleistet, dies zeigt<br />

sich zum Beispiel in den Zahlen <strong>der</strong> Pflegever-sicherung.<br />

Sowohl in <strong>der</strong> ambulanten<br />

wie <strong>der</strong> stationären Pflege arbeiten mehr<br />

als 80 Prozent Frauen. Die meisten Frauen<br />

arbeiten in Teilzeit-Arbeitsverhältnissen.<br />

Auch die zu Pflegenden sind überwiegend<br />

weiblich. R<strong>und</strong> 67 Prozent <strong>der</strong> Pflegebedürftigen<br />

sind Frauen.<br />

Wunsch nach selbstbest<strong>im</strong>mter <strong>und</strong> ganzheitlicher<br />

Pflege teilweise interessante Beschäftigungsmöglichkeiten,<br />

doch überwiegend ist<br />

die hohe Teilzeitquote betriebswirtschaftlich<br />

begründet. Einfach gesagt: Teilzeitbeschäftigung<br />

ist ein Instrument <strong>zur</strong> Flexibilisierung<br />

des Personaleinsatzes <strong>und</strong> um Personalkosten<br />

zu reduzieren. Viele Fachkräfte brauchen<br />

<strong>und</strong> wollen jedoch existenzsichernde Löhne,<br />

Teilzeit kommt für sie damit nicht infrage.<br />

Auch in den Pflegehe<strong>im</strong>en werden zunehmend<br />

überwiegend Teilzeitstellen angeboten.<br />

Auch hier zählt die Zahl <strong>der</strong> Köpfe <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Hände(!). Dabei ist auch hier seit 2001 eine<br />

Ausweitung <strong>der</strong> Teilzeit von 58 auf heute<br />

75 Prozent <strong>der</strong> Beschäftigten in stationären<br />

Einrichtungen <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen festzustellen.<br />

Vor allem in <strong>der</strong> stationären Pflege wird<br />

diese Kostensenkung durch den Einsatz<br />

niedrig qualifizierter Beschäftigter in <strong>der</strong><br />

Pflege ›opt<strong>im</strong>iert‹, solange die vorgegebene<br />

Fachkraftquote erreicht ist.<br />

B<strong>und</strong>esweit wurden Teilzeitbeschäftigungen<br />

in <strong>der</strong> Krankenhaus-Pflege stark ausgeweitet –<br />

innerhalb von zehn Jahren von 35,1 Prozent<br />

(1999) auf 47,3 Prozent (2009). Die Gründe<br />

auf Arbeitgeberseite waren, dadurch Personalkosten<br />

zu reduzieren <strong>und</strong> dennoch einen Pool<br />

von Beschäftigten mit flexiblen Einsatzmöglichkeiten<br />

zu erhalten. Zugleich reagierten<br />

<strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong> auf die<br />

steigende Arbeitsbelastung mit einer ›Flucht<br />

in die Teilzeit‹.<br />

Auch in den Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Pflegeberufen<br />

ist die Zahl <strong>der</strong> geringfügigen Beschäftigungsformen<br />

deutlich angestiegen. R<strong>und</strong> 60 Prozent<br />

arbeiten als ausschließlich geringfügig<br />

Beschäftigte, 40 Prozent <strong>im</strong> Nebenerwerb.<br />

Auch wenn geringfügige Beschäftigung in den<br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Pflegeberufen noch eine<br />

untergeordnete Bedeutung hat, so sind einzelne<br />

Zuwächse erheblich <strong>und</strong> verwun<strong>der</strong>lich:<br />

Bei den Ärzten stiegen Minijobs um 92 Prozent<br />

(auf b<strong>und</strong>esweit 2.700), bei Masseurinnen/Masseuren<br />

<strong>und</strong> Krankengymnastinnen/-gymnasten<br />

um 81 Prozent (auf 21.000), bei Sozialarbeitern<br />

<strong>und</strong> Beschäftigten in <strong>der</strong> Altenpflege um<br />

73 Prozent (auf 56.800). 12<br />

d) Lohnniveaus <strong>und</strong> Lohnfindung<br />

in <strong>der</strong> Pflege<br />

Der Lohnspiegel des WSI-Tarifarchivs <strong>der</strong><br />

Hans-Böckler-Stiftung hat sich in einer Untersuchung<br />

mit den Gehältern von Beschäftigten<br />

in Pflegeberufen beschäftigt. 13 Die folgenden<br />

Bruttomonatseinkommen wurden auf Basis<br />

einer 38-St<strong>und</strong>en-Woche ohne Son<strong>der</strong>zahlungen<br />

ermittelt. Mit <strong>der</strong> Bezahlung sind die<br />

Beschäftigten nach dem Ergebnis <strong>der</strong> Studie<br />

mehrheitlich nicht zufrieden. 14<br />

❚ Denn mehr als die Hälfte <strong>der</strong> Beschäftigten arbeitet<br />

in (unfreiwilliger) Teilzeit, insbeson<strong>der</strong>e die niedrig<br />

bezahlten Helferinnen <strong>und</strong> Helfer.<br />

❚ Unterschiede bei den Einkommen um deutliche 11,7<br />

Prozent zwischen Frauen <strong>und</strong> Männern bestehen<br />

auch in diesen typischen Frauenberufen. 15 Zwischen<br />

befristeten <strong>und</strong> unbefristeten Beschäftigten beträgt<br />

<strong>der</strong> Einkommensrückstand durchschnittlich<br />

18 Prozent. Dabei war auch bei den befristet<br />

Beschäftigten <strong>der</strong> Anteil in den gering bezahlten<br />

Tätigkeiten <strong>der</strong> Helferinnen <strong>und</strong> Helfer <strong>und</strong> in<br />

<strong>der</strong> Altenpflege beson<strong>der</strong>s hoch.<br />

❚ Einkommensrelevant ist neben <strong>der</strong> Berufserfahrung<br />

vor allem die Tarifbindung <strong>der</strong> Betriebe. So verdienten<br />

Beschäftigte in Betrieben, für die ein Tarifvertrag<br />

gilt, durchschnittlich knapp 19 Prozent mehr<br />

als ihre Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen in nicht tarifgeb<strong>und</strong>enen<br />

Betrieben (2.597 Euro statt 2.118 Euro.)


85<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Mindestlohn <strong>und</strong> ortsübliche<br />

Vergütung in <strong>der</strong> Pflege<br />

Bereits seit Juli 2008 gilt, dass die Kassen nur<br />

Versorgungsverträge mit Pflegeunternehmen<br />

abschließen dürfen, die eine ›ortsübliche<br />

Vergütung‹ bezahlen. Diese werden von den<br />

<strong>Land</strong>esverbänden <strong>der</strong> Pflegekassen festgestellt<br />

<strong>und</strong> liegen in <strong>der</strong> Regel über dem Mindestlohn.<br />

Dass die B<strong>und</strong>esregierung <strong>im</strong> August 2010<br />

für die ambulante <strong>und</strong> stationäre (Alten-)Pflege<br />

einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt<br />

hat, hat dennoch Gründe. Die Branche kommt<br />

<strong>im</strong>mer mehr unter Druck <strong>und</strong> insbeson<strong>der</strong>e<br />

angelernte Helferinnen <strong>und</strong> Helfer tragen das<br />

Risiko, beson<strong>der</strong>s niedrige Löhne zu erhalten.<br />

Dies gilt längst nicht nur für die ostdeutschen<br />

Län<strong>der</strong>. Gerade die an Tarifverträge geb<strong>und</strong>enen<br />

Wohlfahrtsverbände versuchen, sich <strong>im</strong><br />

Helferbereich von Personalkosten zu entlasten.<br />

Zum Teil lagen aber auch Tariflöhne für Helfer<br />

unter dem jetzigen Pflege-Mindestlohn. Dieser<br />

beträgt für Pflegehelfer in ambulanten <strong>und</strong><br />

stationären Pflegeeinrichtungen, die überwiegend<br />

Tätigkeiten in <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>pflege verrichten<br />

(Hilfe bei Körperpflege, Ernährung, Mobilität),<br />

seit dem 1. Januar 2012 8,75 Euro/St<strong>und</strong>e<br />

(West). Dieser Mindestlohn erhöht sich ab dem<br />

1. Juli 2013 auf neun Euro je St<strong>und</strong>e.<br />

e) Die Situation von abhängig<br />

Beschäftigten in <strong>der</strong> Pflege <strong>und</strong><br />

gewerkschaftlicher Organisationsgrad<br />

Die Flächentarifverträge in Deutschland haben<br />

in den vergangenen Jahrzehnten deutlich<br />

an Bedeutung verloren. Zwar wenden die<br />

kommunalen Krankenhäuser in <strong>der</strong> Regel<br />

Tarifverträge an, doch in weiten Teilen <strong>der</strong><br />

Pflege ist <strong>der</strong> gewerkschaftliche Organisationsgrad<br />

gering <strong>und</strong> die Durchsetzung von<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>rechten <strong>und</strong> Tarifverträgen wird<br />

damit erschwert. Dies hängt zum einen mit<br />

den hohen Anteilen <strong>der</strong> kirchlichen Einrichtungen,<br />

wie <strong>der</strong> Diakonie <strong>und</strong> <strong>der</strong> Caritas<br />

zusammen, die die Vergütungshöhe <strong>und</strong> die<br />

Arbeitsbedingungen nach dem sogenannten<br />

›Dritten Weg‹ regeln.<br />

Aber auch in <strong>der</strong> ambulanten Pflege sind<br />

vergleichsweise wenige Mitarbeiterinnen<br />

<strong>und</strong> Mitarbeiter gewerkschaftlich organisiert.<br />

Dieser noch relativ junge Dienstleistungsbereich<br />

besteht häufig aus kleinen Unternehmen<br />

mit nur wenigen Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> Mitarbeitern.<br />

Selbst Interessenvertretungen sind<br />

hier nicht häufig zu finden. Dabei belasten die<br />

unterschiedlichen Gehälter <strong>und</strong> Arbeitsbedingungen<br />

die Konkurrenz unter den Arbeitgeber.<br />

Handlungserfor<strong>der</strong>nisse<br />

❚ Eine Verbesserung <strong>der</strong> Arbeitsbedingungen, angemessene<br />

Entlohnung, verlässliche berufsbiografische<br />

Perspektiven durch Fortbildung <strong>und</strong> Aufstiegsmöglichkeiten,<br />

beson<strong>der</strong>e Arbeitsplatzgestaltung<br />

auch für ältere <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitlich eingeschränkte<br />

Pflegekräfte sind Voraussetzung für das Ansehen<br />

<strong>der</strong> Pflege bei jungen Menschen.<br />

❚ Das hohe Niveau <strong>der</strong> Teilzeitarbeit in allen Qualifikationsstufen<br />

verschärft den Fachkräftemangel.<br />

So sind Modelle gefragt, die das Potenzial an Vollzeitstellen<br />

für alle daran interessierten Pflegekräfte<br />

so weit wie möglich ausschöpfen.<br />

❚ Da die ›Flucht in Teilzeit‹ mit <strong>der</strong> Belastung insbeson<strong>der</strong>e<br />

älterer Beschäftigter zu tun hat, sollten in<br />

den Einrichtungen Altersstrukturanalysen durchgeführt<br />

werden, um mehr altersgerechte Arbeitsplätze<br />

zu schaffen <strong>und</strong> entsprechende Arbeits- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsschutzkonzepte<br />

zu entwickeln.


86<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

❚ Fachkräfte fehlen – Hilfskräfte wurden über Bedarf<br />

ausgebildet. Hier müssen systematisch diejenigen<br />

gesucht, gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> geför<strong>der</strong>t werden, die für<br />

eine Anschlussqualifizierung zum dreijährigen<br />

Berufsabschluss geeignet sind. Dabei ist sowohl an<br />

<strong>im</strong> Beruf stehende Pflegekräfte wie an Arbeitsuchende<br />

zu denken. Bremen sollte sich auf B<strong>und</strong>esebene<br />

für Nachbesserungen be<strong>im</strong> SGB III <strong>und</strong> II einsetzen,<br />

die zum Beispiel die Gewährung von Unterhaltsgeld<br />

für Umschülerinnen <strong>und</strong> Umschüler ermöglichen,<br />

um Anreize für Nachqualifizierung zu geben.<br />

❚ Für die Nutzung von Aufstiegschancen durch<br />

Qualifizierung sind die Bedingungen <strong>zur</strong> Vereinbarkeit<br />

von Beruf, Familie <strong>und</strong> Qualifizierung<br />

weiterzuentwickeln, um insbeson<strong>der</strong>e auch den<br />

Frauen Aufstiege zu ermöglichen.<br />

❚ Der Ausbau <strong>der</strong> dreijährigen Altenpflegeausbildung<br />

sollte prioritär angegangen werden. In <strong>der</strong><br />

›Ausbildungs- <strong>und</strong> Qualifizierungsoffensive Altenpflege<br />

2012–2015‹ wird hier eine jährliche Steigerung<br />

von zehn Prozent angepeilt, die mindestens<br />

ausgeschöpft werden sollte.<br />

❚ In den Einrichtungen muss gezielt <strong>der</strong> Frage<br />

nachgegangen wird, ob die Anerkennung eines<br />

vorliegenden, <strong>im</strong> Ausland erworbenen einschlägigen<br />

Berufsabschlusses aus dem Bereich <strong>der</strong> Krankenpflege<br />

möglich ist o<strong>der</strong> eine zu diesem Ziel führende<br />

Qualifikationsplanung angestoßen <strong>und</strong> umgesetzt<br />

werden kann.<br />

¢Exkurs:<br />

Die Not <strong>der</strong> Beschäftigten ist groß. Nach <strong>der</strong> jährlichen<br />

Auswertung <strong>der</strong> Arbeits- <strong>und</strong> Sozialversicherungsberatung<br />

<strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer Bremen haben<br />

knapp 600 Beschäftigte aus <strong>der</strong> Pflege- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsbranche<br />

die Beratung persönlich aufgesucht. Dabei<br />

waren 83 Prozent <strong>der</strong> Ratsuchenden Frauen <strong>und</strong> mehr<br />

als die Hälfte arbeitete in Teilzeit. Im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong><br />

standen Arbeitsrechtsthemen wie Kündigung, <strong>Lage</strong> <strong>und</strong><br />

Gestaltung <strong>der</strong> Arbeitszeit sowie die daraus folgenden<br />

Fragen <strong>der</strong> Vergütung. Häufige Probleme waren Fragen<br />

<strong>zur</strong> Abdeckung von Schicht- <strong>und</strong> Einsatzzeiten,<br />

insbeson<strong>der</strong>e am Wochenende, in <strong>der</strong> Nacht o<strong>der</strong> an<br />

Feiertagen. Nach den Auswertungen <strong>der</strong> Beratungen<br />

hatten Beschäftigte häufig Fragen zu verlangter Mehrarbeit<br />

vom Arbeitgeber, trotz o<strong>der</strong> gerade wegen <strong>der</strong><br />

nur vereinbarten Teilzeit. Viele Ratsuchende berichteten<br />

von Überlastung, fehlenden familienfre<strong>und</strong>lichen<br />

Arbeitszeiten. Im Unterschied zu an<strong>der</strong>en Branchen<br />

ergab sich bei Pflegekräften ein hoher Anteil von<br />

Kündigungen seitens <strong>der</strong> <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>. Einen neuen Arbeitsplatz zu finden ist<br />

angesichts des Bedarfs auf dem Arbeitsmarkt relativ<br />

leicht <strong>und</strong> wird offensichtlich zunehmend genutzt, um<br />

sich individuell bessere Bedingungen zu verschaffen.


87<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

¢<br />

E X K U R S<br />

Fachkräftebedarf in <strong>der</strong> Bremer Pflege<br />

Engpassanalyse mittels Arbeitslosen- <strong>und</strong> Stellenstatistik<br />

<strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit<br />

D R . E S T H E R S C H R Ö D E R<br />

Wie hoch <strong>der</strong> Personal- <strong>und</strong> Fachkräftebedarf<br />

in <strong>der</strong> Bremer Pflege ist, lässt sich anhand<br />

<strong>der</strong> Arbeitsmarktstatistik verdeutlichen. Die<br />

Arbeitslosen- <strong>und</strong> Stellenstatistik <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur<br />

für Arbeit gibt Einblicke, welche<br />

einfachen <strong>und</strong> gehobenen Qualifikationen<br />

die Pflegeeinrichtungen suchen <strong>und</strong> welche<br />

Potenziale <strong>und</strong> beruflichen Orientierungen<br />

die Arbeitsuchenden haben. Auch wenn die<br />

Analyse <strong>der</strong> öffentlichen Arbeitsvermittlung<br />

nur einen Ausschnitt des Geschehens am<br />

Pflegearbeitsmarkt darstellt, liefert sie wertvolle<br />

Erkenntnisse darüber, welche Personalengpässe<br />

<strong>und</strong> Fachkräftebedarfe für diese<br />

Berufe bestehen.<br />

Um die Arbeitsmarktdaten analysieren zu<br />

können, hat die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer bei<br />

<strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit eine Son<strong>der</strong>auswertung<br />

in Auftrag gegeben. Diese Auswertung<br />

umfasst für das <strong>Land</strong> Bremen Angaben zum<br />

Bestand <strong>der</strong> Arbeitslosen nach Zielberufen <strong>und</strong><br />

zum Bestand an gemeldeten sozialversicherungspflichtigen<br />

Arbeitsstellen nach Zielberufen.<br />

Ausgewertet wurden die Daten bezogen<br />

auf den Zeitraum Juli 2011 bis Juni 2012. 1<br />

Zunächst ist festzustellen, dass die Arbeitgeber<br />

ihre Stellensuche bei den Arbeitsagenturen<br />

<strong>und</strong> Jobcentern auf wenige Pflegeberufe konzentrieren.<br />

In <strong>der</strong> Krankenpflege schalteten<br />

die Einrichtungen bei <strong>der</strong> öffentlichen Arbeitsvermittlung<br />

insbeson<strong>der</strong>e Gesuche für Ges<strong>und</strong>heits-<br />

<strong>und</strong> Krankenpflegehelferinnen/Ges<strong>und</strong>heits-<br />

<strong>und</strong> Krankenpflegehelfer sowie für<br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Krankenpflegerinnen/<br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Krankenpfleger. Für die<br />

Altenpflege waren es die Zielberufe Altenpflegehelferin/Altenpflegehelfer<br />

2 sowie Altenpflegerin/Altenpfleger.<br />

Dabei stellt sich <strong>im</strong><br />

Vergleich von Helfertätigkeiten <strong>und</strong> Fachkräftebedarfen<br />

die Situation nahezu spiegelbildlich<br />

dar. So waren Arbeitsuchende in starkem<br />

Maße auf Helferjobs in <strong>der</strong> Pflege orientiert,<br />

Abb. 1:<br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Krankenpflegehelfer<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

45<br />

6<br />

Jul 11<br />

41<br />

5<br />

Aug 11<br />

Arbeitslose<br />

40<br />

5<br />

Sep 11<br />

41<br />

5<br />

Okt 11<br />

Arbeitsstellen<br />

40<br />

5<br />

Nov 11<br />

36<br />

6<br />

Dez 11<br />

4 4 5<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit, Daten <strong>der</strong> Arbeitslosen- <strong>und</strong> Arbeitsstellenstatistik;<br />

eigene Darstellung<br />

Abb. 2:<br />

Altenpflegehelfer<br />

300<br />

250<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50<br />

0<br />

222<br />

Jul 11<br />

222<br />

Aug 11<br />

Arbeitslose<br />

198<br />

Sep 11<br />

218<br />

Okt 11<br />

Arbeitsstellen<br />

230<br />

Nov 11<br />

221<br />

Dez 11<br />

38<br />

Jan 12<br />

219<br />

Jan 12<br />

41<br />

Feb 12<br />

213<br />

Feb 12<br />

44<br />

Mrz 12<br />

208<br />

Mrz 12<br />

43<br />

8 7<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit, Daten <strong>der</strong> Arbeitslosen- <strong>und</strong> Arbeitsstellenstatistik;<br />

eigene Darstellung<br />

Apr 12<br />

230<br />

Apr 12<br />

41<br />

Mai 12<br />

221<br />

Mai 12<br />

40<br />

12<br />

Jun 12<br />

216<br />

57 59<br />

55<br />

46 50<br />

46<br />

30 34 32<br />

45<br />

28<br />

33<br />

Jun 12


88<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Abb. 3:<br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Krankenpfleger<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

46<br />

9<br />

Jul 11<br />

45<br />

15<br />

Aug 11<br />

Arbeitslose<br />

Sep 11<br />

Okt 11<br />

Arbeitsstellen<br />

Nov 11<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit, Daten <strong>der</strong> Arbeitslosen- <strong>und</strong> Arbeitsstellenstatistik;<br />

eigene Darstellung<br />

Abb. 4:<br />

Altenpfleger<br />

120<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

47<br />

10<br />

40<br />

10<br />

55<br />

14<br />

60<br />

11<br />

Dez 11<br />

98<br />

93<br />

90<br />

79 76 78 74<br />

75<br />

70<br />

71<br />

67 70<br />

44<br />

Jul 11<br />

42<br />

Aug 11<br />

Arbeitslose<br />

44<br />

Sep 11<br />

42<br />

Okt 11<br />

Arbeitsstellen<br />

31<br />

Nov 11<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit, Daten <strong>der</strong> Arbeitslosen- <strong>und</strong> Arbeitsstellenstatistik;<br />

eigene Darstellung<br />

29<br />

Dez 11<br />

54<br />

8<br />

Jan 12<br />

29<br />

Jan 12<br />

50<br />

11<br />

Feb 12<br />

33<br />

Feb 12<br />

58<br />

12<br />

Mrz 12<br />

34<br />

Mrz 12<br />

58<br />

13<br />

Apr 12<br />

31<br />

Apr 12<br />

65<br />

16<br />

Mai 12<br />

30<br />

Mai 12<br />

83<br />

18<br />

Jun 12<br />

31<br />

Jun 12<br />

die jedoch nur in geringer Zahl von Pflegeeinrichtungen<br />

gemeldet wurden. Häufiger dagegen<br />

schalteten Arbeitgeber die öffentliche<br />

Arbeitsvermittlung in die Suche nach Fachkräften<br />

ein, die sich aus dem Pool arbeitsloser<br />

Bewerberinnen <strong>und</strong> Bewerber jedoch nicht<br />

ausreichend rekrutieren ließen. Der Stellenüberhang<br />

bei Fachkräften als Indiz für einen<br />

Personalengpass in <strong>der</strong> Pflege <strong>und</strong> <strong>der</strong> Bewerberüberhang<br />

bei den Helferinnen <strong>und</strong> Helfern<br />

lässt sich sowohl für die Krankenpflege als<br />

auch für die Altenpflege konstatieren.<br />

Insgesamt waren <strong>im</strong> Juni 2012 deutschlandweit<br />

469.105 offene Stellen bei den Arbeitsagenturen<br />

<strong>und</strong> Jobcentern gemeldet, davon<br />

8.166 Stellen <strong>im</strong> Bereich <strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong><br />

Krankenpflege <strong>und</strong> 13.332 in <strong>der</strong> Altenpflege.<br />

Somit entfallen 4,6 Prozent <strong>der</strong> in Deutschland<br />

gemeldeten Stellen auf den Pflegebereich,<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen 5,3 Prozent. Hier kamen <strong>im</strong><br />

Juni 2012 von den insgesamt 4.635 gemeldeten<br />

Stellen 118 aus <strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Krankenpflege<br />

<strong>und</strong> 126 aus <strong>der</strong> Altenpflege.<br />

Von den 2,8 Millionen <strong>im</strong> Juni 2012 registrierten<br />

Arbeitslosen waren deutschlandweit<br />

1,6 Prozent auf Pflegeberufe orientiert. Im<br />

<strong>Land</strong> Bremen suchten <strong>im</strong> Juni 2012 von den<br />

insgesamt 36.500 registrierten Arbeitslosen<br />

626 (1,7 Prozent) eine Stelle in <strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heits-,<br />

Kranken- <strong>und</strong> Altenpflege.<br />

Berufe in <strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heits-, Kranken- <strong>und</strong><br />

Altenpflege sind eine Frauendomäne. Arbeitslose,<br />

die eine Beschäftigung <strong>im</strong> Pflegebereich<br />

suchen, sind zu über 80 Prozent weiblich.<br />

Insgesamt liegt <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> arbeitslosen<br />

Frauen an allen Arbeitslosen unter 50 Prozent.<br />

Und es fällt auf, dass in Bremen eine beson<strong>der</strong>s<br />

große Diskrepanz zwischen den Frauenanteilen<br />

bei Hilfs- <strong>und</strong> Fachkräften vorliegt. Mit<br />

steigen<strong>der</strong> Qualifikation sinkt <strong>der</strong> Anteil<br />

weiblicher Arbeitskräfte auch in einer von<br />

Frauen dominierten Branche.<br />

In den monatlich von <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur<br />

für Arbeit veröffentlichten Analysen <strong>der</strong><br />

gemeldeten Arbeitsstellen nach Berufen<br />

werden Vakanzzeiten als Hauptindikator für


89<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Engpässe bei Stellenbesetzungen gemessen<br />

<strong>und</strong> ausgewiesen. Die abgeschlossene Vakanzzeit<br />

wird nach Berufsgruppen erfasst <strong>und</strong><br />

misst dabei die Zeitspanne vom gewünschten<br />

Besetzungstermin bis <strong>zur</strong> Abmeldung <strong>der</strong><br />

Arbeitsstelle <strong>und</strong> damit den Zeitraum, in dem<br />

Arbeitsstellen in <strong>der</strong> jeweiligen Berufsgruppe<br />

nicht besetzt werden konnten. Je länger die<br />

Vakanzzeiten, desto schwieriger gestaltet sich<br />

die Suche nach geeignetem Personal. Identifizieren<br />

lassen sich Engpässe in den beiden<br />

Berufsgruppen ›Ges<strong>und</strong>heit, Krankenpflege,<br />

Rettungsdienst, Geburtshilfe‹ <strong>und</strong> ›Altenpflege‹.<br />

3 Die ausgewiesenen langen Vakanzzeiten<br />

für die interessierenden Berufsgruppen signalisieren<br />

beson<strong>der</strong>e Besetzungsschwierigkeiten.<br />

Dabei ist Personal in <strong>der</strong> Kranken- <strong>und</strong> Altenpflege<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen noch schwerer zu<br />

rekrutieren als b<strong>und</strong>esweit. Hier rangieren,<br />

gemessen an den längsten Vakanzzeiten, die<br />

Pflegeberufe weit oben. Im Herbst 2011 wurden<br />

in Bremen <strong>im</strong> Bereich <strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heits<strong>und</strong><br />

Krankenpflege die längsten Vakanzzeiten<br />

aller Berufsgruppen mit mehr als 130 Tagen<br />

gemessen. Gemeldete Arbeitsstellen blieben<br />

hier länger als vier Monate nach dem geplanten<br />

Besetzungstermin vakant. In <strong>der</strong> Tendenz<br />

jedoch verkürzte sich in Bremen die Vakanzzeit<br />

sowohl in <strong>der</strong> Kranken- wie in <strong>der</strong> Altenpflege,<br />

während sie sich b<strong>und</strong>esweit verlängerte.<br />

Im Jahr 2012 betrug die durchschnittliche<br />

Vakanzzeit <strong>im</strong> Bereich <strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong><br />

Krankenpflege b<strong>und</strong>esweit 106 Tage, in Bremen<br />

123 Tage. Im Bereich <strong>der</strong> Altenpflege<br />

konnten <strong>im</strong> ersten Halbjahr 2012 Stellen b<strong>und</strong>esweit<br />

etwa 97 Tage nach dem eigentlich<br />

gewünschten Besetzungstermin besetzt werden,<br />

in Bremen erst nach 107 Tagen. Auch<br />

<strong>der</strong> Stellenandrang, also das Verhältnis von<br />

Arbeitslosen zu Arbeitsstellen signalisiert<br />

in beiden Berufsgruppen eine angespannte<br />

Bedarfssituation vor allem in <strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heits<strong>und</strong><br />

Krankenpflege. Hier kommen aktuell<br />

in Bremen wie auch b<strong>und</strong>esweit nur noch<br />

75 Arbeitslose auf 100 gemeldete Arbeitsstellen.<br />

Nicht zuletzt aufgr<strong>und</strong> demografischer<br />

Entwicklungen ist den Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Pflegeberufen<br />

bildungs- <strong>und</strong> arbeitsmarktpolitisch<br />

weiterhin eine hohe Beachtung zu schenken<br />

<strong>und</strong> Priorität bei B<strong>und</strong>es- wie <strong>Land</strong>esinitiativen<br />

ein<strong>zur</strong>äumen. Der <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen geht es hierbei nicht nur um bloße<br />

Arbeitsvermittlung, um Matching <strong>und</strong> Passgenauigkeit<br />

zwischen angebotenen <strong>und</strong> nachgefragten<br />

Qualifizierungen am Arbeitsmarkt.<br />

Denn nicht je<strong>der</strong> angezeigte Fachkräftemangel<br />

ist auch einer. Viel zu oft verbirgt sich stattdessen<br />

dahinter ein Mangel an guter Arbeit.<br />

Und darum richtet sich unser Augenmerk<br />

gerade in diesem Bereich typischer Frauenarbeitsplätze<br />

auf die Beseitigung dieses Mangels.<br />

Es geht um Arbeitsbedingungen, die die<br />

schweren physischen <strong>und</strong> psychischen Belastungen<br />

ohne ges<strong>und</strong>heitliche Beeinträchtigungen<br />

des Pflegepersonals aushalten lassen,<br />

um flexible Arbeitszeiten, die Familie <strong>und</strong><br />

Berufsleben in Einklang bringen sowie um<br />

faire Entgelte, die Wertschätzung ausdrücken<br />

<strong>und</strong> Existenzen sichern. Die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen hat sich am Equal Pay Day 2013<br />

aktiv beteiligt, <strong>der</strong> diese For<strong>der</strong>ungen zum<br />

Schwerpunktthema erhoben hat <strong>und</strong> am<br />

21.03.2013 unter dem Motto ›Lohnfindung in<br />

den Ges<strong>und</strong>heitsberufen – viel Dienst, wenig<br />

Verdienst‹ stand. Damit <strong>der</strong> Pflegebereich nicht<br />

selbst zum Pflegefall wird!<br />

1 Definition Zielberuf:<br />

Auswertungen zu<br />

Arbeitslosen <strong>und</strong> Arbeitsuchenden<br />

geben<br />

Auskunft über den<br />

angestrebten Zielberuf<br />

des K<strong>und</strong>en (unabhängig<br />

von <strong>der</strong> absolvierten<br />

Ausbildung <strong>und</strong> dem<br />

tatsächlichen Beruf bei<br />

Abgang aus Arbeitslosigkeit).<br />

Bei gemeldeten<br />

Arbeitsstellen erfolgt<br />

die Kategorisierung<br />

nach dem vom Arbeitgeber<br />

gewünschten<br />

Hauptberuf.<br />

2 Die Berufsbezeichnung<br />

›Altenpflegehelferin/<br />

Altenpflegehelfer‹ meint<br />

Helfertätigkeiten mit<br />

Voraussetzung einer<br />

einjährigen Ausbildung.<br />

Davon unterscheiden<br />

sich in <strong>der</strong> Statistik<br />

›Helferin/Helfer in <strong>der</strong><br />

Altenpflege‹, die als<br />

Ungelernte über keine<br />

Qualifikation verfügen.<br />

3 Daten für Bremen liegen<br />

für die Berufsgruppe<br />

›813 Ges<strong>und</strong>heit,<br />

Krankenpflege, Rettungsdienst,<br />

Geburtshilfe‹<br />

von Oktober 2011<br />

bis Dezember 2012 vor.<br />

Für die Berufsgruppe<br />

›821 Altenpflege‹<br />

werden in den Engpassanalysen<br />

<strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur<br />

für Arbeit<br />

Vakanzzeiten für den<br />

Zeitraum Oktober 2011<br />

bis Juni 2012 ausgewiesen.<br />

Ab Juli 2012<br />

konnte aufgr<strong>und</strong> zu<br />

geringer Besetzungszahlen<br />

<strong>im</strong> Bereich<br />

<strong>der</strong> Altenpflege diese<br />

Berufsgruppe nicht<br />

mehr berücksichtigt<br />

werden. Weniger als<br />

100 Bestandsfälle<br />

führen zu Verzerrungen<br />

in <strong>der</strong> Berechnung von<br />

Vakanzzeiten.


90<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Lebensstandardsicherung<br />

o<strong>der</strong> Armutsbekämpfung?<br />

I N G O S C H Ä F E R<br />

¢Exkurs:<br />

Was ist Lebensstandardsicherung?<br />

Lebensstandardsichernd meint, dass <strong>im</strong> Falle von<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> ab einem best<strong>im</strong>mten Alter<br />

eine Rente in einer Höhe gezahlt wird, die bei langjährig<br />

Versicherten so hoch ausfällt, dass <strong>der</strong> gewohnte ›Lebensstil‹<br />

fortgeführt werden kann. Im Umkehrschluss bedeutet<br />

dies natürlich auch, dass Menschen, die nur selten<br />

o<strong>der</strong> geringe Beiträge gezahlt haben, <strong>im</strong> Gr<strong>und</strong>e auch<br />

nur eine geringe Rente bekommen würden. Um typische<br />

Risiken wie Erwerbslosigkeit, Kin<strong>der</strong>erziehung, Pflege<br />

o<strong>der</strong> niedrigen St<strong>und</strong>enlohn abzusichern, gibt es solidarische<br />

Ausgleichselemente. Diese sollen Zeiten aufwerten<br />

<strong>und</strong> Lücken schließen, um einen Verlust des Lebensstandards<br />

alleine aufgr<strong>und</strong> von Arbeitslosigkeit o<strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong>erziehung zu vermeiden.<br />

Bis zu den Rentenreformen <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esregierung<br />

zu Beginn des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts folgte die Rentenversicherung<br />

dem Ziel <strong>der</strong> Lebensstandardsicherung. Seit<br />

den Reformen steht das Ziel <strong>im</strong> Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>, die Beitragssätze<br />

nicht steigen zu lassen. An<strong>der</strong>s formuliert:<br />

Die Renten dürfen nur noch steigen, wenn <strong>und</strong> soweit<br />

das politisch gesetzte Beitragsziel eingehalten wird.<br />

Dies wird als Paradigmenwechsel bezeichnet. Der<br />

Wechsel von einem leistungsorientierten hin zu einem<br />

beitrags(satz)orientierten Rentensystem.<br />

1 Vgl. Hellemann, Angelika:<br />

Die neue Renten-<br />

Schock-Tabelle. BILD<br />

vom 2.9.2012.<br />

2 Die ›Zuschussrente‹<br />

wurde seit ihrer ersten<br />

Verkündung <strong>im</strong> Frühsommer<br />

2011 beständig<br />

kritisiert. Zuletzt hat die<br />

Regierung die ›Zuschussrente‹<br />

umbenannt in<br />

›Lebensleistungsrente‹.<br />

Allerdings besteht<br />

weiterhin keine Einigkeit<br />

in <strong>der</strong> Koalition<br />

über eine genaue<br />

Ausgestaltung <strong>der</strong><br />

›Lebensleistungsrente‹.<br />

Abb. 1:<br />

Altersrenten<br />

Jahr<br />

2000<br />

Deutschland Hamburg Bremen Saarland<br />

Zukünftig vermutlich ansteigende Altersarmut<br />

ist ein heiß diskutiertes Thema. Die Debatte<br />

um sinkende Renten <strong>und</strong> drohende Altersarmut<br />

heizte zuletzt die B<strong>und</strong>esministerin für<br />

Soziales, Ursula von <strong>der</strong> Leyen, mit ihrer sogenannten<br />

›Schock-Tabelle‹ in <strong>der</strong> BILD deutlich<br />

an. Aufgr<strong>und</strong> des sinkenden Rentenniveaus<br />

müssten Menschen, die weniger als 2.500 Euro<br />

brutto <strong>im</strong> Monat verdienen, nach 35 Jahren<br />

›mit dem Tag des Renteneintritts den Gang<br />

zum Sozialamt antreten‹, drohte sie über die<br />

BILD. 1<br />

Ursula von <strong>der</strong> Leyen verwies damit zu<br />

Recht auf eine <strong>der</strong> zentralen Ursachen für<br />

zukünftig wahrscheinlich zunehmende Altersarmut:<br />

Die Senkung des Rentenniveaus <strong>und</strong><br />

die Abkehr von <strong>der</strong> Lebensstandardsicherung.<br />

Politisch gewollt <strong>und</strong> absehbar führt ein sinkendendes<br />

Rentenniveau dazu, dass alle Renten<br />

an Wert verlieren <strong>und</strong> eine steigende Zahl<br />

unterhalb <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>sicherung liegen wird.<br />

Statt die benannten Ursachen bekämpft die<br />

B<strong>und</strong>esarbeitsministerin mit ihrem Vorschlag<br />

einer ›Zuschussrente‹ 2 das daraus resultierende<br />

Symptom <strong>der</strong> ›Armut‹. Denn die Zuschussrente<br />

ist eine bessere Fürsorgeleistung. Die in den<br />

vergangenen Jahren beschlossenen Leistungskürzungen<br />

in <strong>der</strong> Rente will sie aber gerade<br />

nicht <strong>zur</strong>ücknehmen. Auch die an<strong>der</strong>en Parteien<br />

bieten Konzepte <strong>im</strong> Kampf gegen die Altersarmut<br />

an: ›Solidarrente‹ (SPD), ›Mindestrente‹<br />

(Die Linke) o<strong>der</strong> ›Garantierente‹ (Bündnis 90/<br />

Die Grünen). Sie alle werfen ihre eigenen<br />

Probleme auf.<br />

2011 520 868 602 905 520 881 452 983 686<br />

Quelle: Deutsche Rentenversicherung B<strong>und</strong>, Rentenversicherung in Zeitreihen, Rentenzugang nach Wohnort, Zahlbeträge, Oktober 2012<br />

Berlin<br />

Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer<br />

485<br />

921<br />

557<br />

990<br />

463<br />

960<br />

347<br />

1.044<br />

664<br />

958<br />

838


91<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Abb. 2:<br />

Zahlbetrag Altersrenten<br />

1.050<br />

960<br />

970 968<br />

947<br />

927<br />

950<br />

876 874<br />

919 908 903 904 881<br />

850<br />

750<br />

650<br />

623<br />

631 639 647 643 650 658 665 677 690 692 707<br />

550<br />

463 461 451 450 445<br />

450<br />

431 438<br />

460 474<br />

487 504<br />

520<br />

350<br />

2000<br />

2001<br />

2002<br />

2003<br />

2004<br />

2005<br />

2006<br />

2007<br />

2008<br />

2009<br />

2010<br />

2011<br />

Männer<br />

Frauen<br />

Gr<strong>und</strong>sicherungsbedarf, brutto Bremen<br />

Rentenzahlbetrag bei Rentenzugang nach Wohnort.<br />

Gr<strong>und</strong>sicherung in Bremen: Bruttobedarfe,<br />

Werte für 2000, 2001, 2002, 2005 <strong>und</strong> 2006 fehlend:<br />

Fehlende Werte durch Hochrechnung aufgefüllt.<br />

Preisbereinigt anhand HVPI (harmonisierter Verbraucherpreisindex) mit 2011=100.<br />

Quelle: Deutsche Rentenversicherung B<strong>und</strong>; Statistisches B<strong>und</strong>esamt; eigene Berechnungen<br />

Aber wie ist die <strong>Lage</strong> <strong>der</strong> Rentnerinnen <strong>und</strong><br />

Rentner heute? Welche Gründe gibt es für die<br />

aktuelle Entwicklung? Welche Entwicklung<br />

ist zukünftig zu erwarten <strong>und</strong> was wären<br />

sinnvolle Antworten auf die zentralen Probleme<br />

in <strong>der</strong> Rentenpolitik?<br />

<strong>Lage</strong> <strong>der</strong> Rentnerinnen <strong>und</strong> Rentner<br />

in Bremen<br />

Zurzeit ist Altersarmut noch kein sehr verbreitetes<br />

Phänomen. In Bremen sind aktuell (Jahr<br />

2011) 12.909 Menschen auf Leistungen <strong>der</strong><br />

Gr<strong>und</strong>sicherung angewiesen. Aber die Zahlen<br />

steigen stetig. Aufgr<strong>und</strong> des sinkenden Rentenniveaus<br />

bleibt die Rente hinter <strong>der</strong> mäßigen<br />

Lohnentwicklung <strong>zur</strong>ück. Die weiteren Leistungskürzungen<br />

<strong>und</strong> die prekäre <strong>Lage</strong> auf dem<br />

Arbeitsmarkt verschärfen den Trend. Die Renten<br />

stagnieren seit Jahren. Für Bremen beispielsweise<br />

ist die durchschnittliche Altersrente<br />

für Männer von 960 Euro (<strong>im</strong> Rentenzugang 3<br />

2000) auf 881 Euro (Rentenzugang 2011)<br />

gesunken, also um acht Prozent.<br />

Wird zusätzlich noch <strong>der</strong> Kaufkraftverlust<br />

über diesen Zeitraum berücksichtigt, dann<br />

haben die durchschnittlichen Altersrenten bei<br />

Männern um 23 Prozent an Wert verloren.<br />

Bei den Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrenten für Männer<br />

wie Frauen sieht es noch schlechter aus. Zur<br />

Entwicklung <strong>und</strong> Situation <strong>der</strong> Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente<br />

vergleiche den Artikel ›Renten<br />

wegen vermin<strong>der</strong>ter Erwerbsfähigkeit‹, Seite<br />

95 ff. Einzig die Altersrenten <strong>der</strong> Frauen<br />

entwickeln sich weniger dramatisch. Einerseits<br />

sind diese ohnehin sehr niedrig. An<strong>der</strong>erseits<br />

wirkt die zunehmende Erwerbsbeteiligung<br />

<strong>der</strong> Frauen sich leicht positiv auf die durchschnittlichen<br />

Renten aus.<br />

3 Zum Rentenzugang<br />

zählen alle Renten,<br />

die in diesem Jahr<br />

erstmals gezahlt wurden.<br />

Im Unterschied<br />

zu Bestandsrenten, in<br />

die alle noch laufenden<br />

Renten eingehen.


92<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

4 Eigentlich <strong>der</strong><br />

›Standardrente‹. Die<br />

Standardrente ist<br />

definiert als eine<br />

abschlagsfreie Altersrente<br />

auf Gr<strong>und</strong>lage<br />

von 45 Entgeltpunkten.<br />

Für die Zeit<br />

vom 1.7.2012 bis<br />

30.6.2013 beträgt<br />

diese <strong>im</strong> Westen<br />

1.263,15 Euro<br />

(brutto).<br />

35<br />

40<br />

45<br />

Ursachen <strong>der</strong> Entwicklung<br />

Ursächlich für die skizzierte Rentenentwicklung<br />

sind die Rentenpolitik <strong>und</strong> Arbeitsmarktentwicklung/-politik.<br />

Niedriglohn,<br />

unfreiwillige Teilzeit, Langzeiterwerbslosigkeit<br />

<strong>und</strong> versicherungsfreie Erwerbsformen (Minijobs/Solo-Selbstständige)<br />

führen zu geringeren<br />

Rentenansprüchen <strong>und</strong> wachsenden Versicherungslücken.<br />

Die wegen <strong>der</strong> Arbeitsmarktentwicklung<br />

geringeren Rentenansprüche werden<br />

durch den Paradigmenwechsel in <strong>der</strong> Rentenpolitik<br />

in den 2000er-Jahren zusätzlich entwertet.<br />

Denn bis zu den 2030er-Jahren soll das<br />

Rentenniveau um r<strong>und</strong> 20 Prozent sinken. Der<br />

Abschied vom Ziel <strong>der</strong> Lebensstandardsicherung<br />

durch die gesetzliche Rentenversicherung<br />

führt <strong>im</strong> Zusammenspiel mit <strong>der</strong> Arbeitsmark-<br />

<strong>und</strong> Lohnentwicklung zu sinkenden<br />

Renten.<br />

Bremer Arbeitsmarkt<br />

Der Arbeitsmarkt in Bremen ist stark gespalten<br />

(vgl. Artikel Arbeitsmarktpolitik S. 40 ff.). Die<br />

Arbeitslosigkeit ist überdurchschnittlich hoch.<br />

Die Teilzeitquote steigt kontinuierlich. Und die<br />

Löhne gehen weit auseinan<strong>der</strong>. So lag <strong>der</strong><br />

durchschnittliche Bruttost<strong>und</strong>enlohn von Vollzeitbeschäftigten<br />

Ende 2011 zwischen 12,82<br />

Euro (Gastgewerbe) <strong>und</strong> 29,89 Euro (verarbeitendes<br />

Gewerbe). Entsprechend ergeben sich<br />

auch unterschiedliche Rentenansprüche. Wer<br />

erwerbslos ist, nur geringfügig beschäftigt<br />

Abb. 3: Modellrechnungen:<br />

Altersrente nach Beitragsjahren <strong>und</strong> St<strong>und</strong>enlohn*<br />

Beitragsjahre<br />

Gastgewerbe<br />

(12,83 Euro)<br />

704<br />

804<br />

905<br />

Handel<br />

(20,45 Euro)<br />

1.121<br />

1.282<br />

1.442<br />

Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

Sozialwesen<br />

(24,23 Euro)<br />

1.329<br />

1.519<br />

1.708<br />

verarbeitendes<br />

Gewerbe<br />

(29,89 Euro)<br />

1.639<br />

1.873<br />

2.107<br />

* Rente nach Sozialabgaben, aber vor Steuern; 38,5 Wochenst<strong>und</strong>en; Rechengrößen RV 2012.<br />

Quelle: Statistisches <strong>Land</strong>esamt Bremen, <strong>Arbeitnehmer</strong>verdienste 4/2011; eigene Berechnungen<br />

o<strong>der</strong> (unfreiwillig) in Teilzeit arbeitet, erwirbt<br />

nochmals geringere Anwartschaften. Frauen<br />

beispeilsweise arbeiten häufiger in Teilzeit<br />

o<strong>der</strong> nur geringfügig, verdienen oft weniger<br />

als Männer <strong>und</strong> unterbrechen häufiger sowie<br />

länger ihre Erwerbstätigkeit aufgr<strong>und</strong> von Kin<strong>der</strong>erziehung<br />

o<strong>der</strong> Pflege. Daher weisen sie<br />

durchschnittlich geringere Rentenzahlbeträge<br />

auf als Männer.<br />

Die Entwicklungen am Arbeitsmarkt sind<br />

zu großen Teilen politisch gemacht. Die Hartz-<br />

Reformen haben den Druck auf Erwerbslose<br />

<strong>und</strong> Beschäftigte erhöht. Wer Arbeitslosengeld<br />

II bekommt, muss jeden auch noch so<br />

schlecht bezahlten Job annehmen. Mit Leiharbeit<br />

unterlaufen Unternehmen Tarifverträge<br />

<strong>und</strong> üben Druck auf die Stammbelegschaft<br />

aus, niedrigere Löhne zu akzeptieren. Die Verkürzung<br />

<strong>der</strong> Bezugsdauer von Arbeitslosengeld<br />

<strong>und</strong> eine fehlende Absicherung in <strong>der</strong> Rente<br />

bei Langzeiterwerbslosigkeit tragen ihren Teil<br />

<strong>zur</strong> Problematik bei. Die fehlende Vereinbarkeit<br />

von Familie <strong>und</strong> Beruf hin<strong>der</strong>t weiterhin<br />

vor allem Frauen daran, durchgängiger in Vollzeit<br />

zu arbeiten. Wird hier politisch nicht<br />

gegengesteuert, können die Betroffenen auch<br />

nur mit geringen Renten rechnen. Wenn <strong>der</strong><br />

Lohn nicht reicht, reicht auch die Rente nicht.<br />

Rentenniveau<br />

Entscheidend für ein auf Lebensstandardsicherung<br />

zielendes Rentensystem ist die Höhe<br />

des Rentenniveaus. Dieses gibt das Verhältnis<br />

zwischen Durchschnittslohn <strong>und</strong> Rente 4<br />

wie<strong>der</strong>. Denn die Versicherten zahlen ihre<br />

Beiträge, damit sie <strong>im</strong> Alter o<strong>der</strong> bei Erwerbsunfähigkeit<br />

eine Rente erhalten, mit <strong>der</strong> sie<br />

ihren bisherigen versicherten Lebensstandard<br />

fortführen können. Mit den Rentenreformen<br />

<strong>der</strong> vergangenen zehn Jahre wurde dafür<br />

gesorgt, dass das Rentenniveau langfristig<br />

deutlich sinkt.<br />

Mit <strong>der</strong> beschlossenen Senkung des Rentenniveaus<br />

sind die Renten von <strong>der</strong> Lohnentwicklung<br />

abgekoppelt worden <strong>und</strong> verlieren


93<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

zunehmend an Wert. Dies gilt für Rentenzugänge<br />

wie Bestandsrenten gleichermaßen. Um<br />

weitere r<strong>und</strong> 14 Prozent sinkt das Rentenniveau<br />

bis zum Jahr 2030 nach den aktuellen<br />

Hochrechnungen. Angenommen, dieses<br />

Rentenniveau gälte bereits heute, dann ergäbe<br />

eine 40-jährige Vollzeitbeschäftigung <strong>im</strong><br />

Gastgewerbe nicht mehr 804 Euro, son<strong>der</strong>n<br />

nur noch knapp 700 Euro Rente. Ein Mensch<br />

<strong>im</strong> verarbeitenden Gewerbe hätte dann mit<br />

1.610 Euro r<strong>und</strong> 260 Euro weniger Rente<br />

(bei 40 Jahren Vollzeiterwerbstätigkeit).<br />

Lösungen o<strong>der</strong> Losungen?<br />

Wer nun denkt, ›Zuschussrente‹ (B<strong>und</strong>esregierung)<br />

o<strong>der</strong> ›Garantierente‹ (Bündnis 90/Die<br />

Grünen) würden vor dieser Entwicklung schützen,<br />

<strong>der</strong> irrt. Jene mit einem höheren Verdienst<br />

schützt die Zuschussrente sowieso nicht<br />

vor dem sinkenden Rentenniveau <strong>und</strong> <strong>der</strong> Entwertung<br />

ihrer Ansprüche. Jenen, denen aufgr<strong>und</strong><br />

des sinkenden Rentenniveaus <strong>der</strong> ›Gang<br />

zum Sozialamt‹ droht, hilft die Zuschussrente<br />

auch nicht, da diese selbst an die Rentenentwicklung<br />

gekoppelt ist. Sie verliert <strong>im</strong> gleichen<br />

Maß an Wert wie die Rente <strong>und</strong> liegt damit am<br />

Ende genauso unterhalb <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>sicherung<br />

<strong>im</strong> Alter. Die Modelle ›Zuschuss-‹ <strong>und</strong> ›Garantierente‹<br />

versprechen für langjährig Versicherte<br />

eine Bruttorente von 850 Euro <strong>im</strong> Monat.<br />

Netto, also nach Abzug <strong>der</strong> Sozialabgaben, blieben<br />

schon heute nur 760 Euro übrig. Wird an<br />

<strong>der</strong> Senkung des Rentenniveaus festgehalten,<br />

sinkt <strong>der</strong> Wert bis zum Jahr 2030 auf etwa<br />

650 Euro ab. Dieser Wert läge jedoch deutlich<br />

unterhalb <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>sicherung von <strong>der</strong>zeit<br />

r<strong>und</strong> 700 Euro. Die Regierungskoalition aus<br />

CDU/CSU <strong>und</strong> FDP wie auch Bündnis 90/<br />

Die Grünen halten uneingeschränkt an <strong>der</strong><br />

Niveausenkung fest. Zuschuss- <strong>und</strong> Garantierente<br />

verfehlen somit ihr Ziel <strong>der</strong> Armutsbekämpfung.<br />

Sie lösen we<strong>der</strong> die Ursachen<br />

(Senkung des Rentenniveaus) noch die Symptome<br />

(zunehmende Altersarmut) <strong>der</strong> aktuellen<br />

Rentenpolitik.<br />

Auch bei den Vorschlägen von ›Solidar‹- (SPD)<br />

<strong>und</strong> ›Mindestrente‹ (Die Linke) entsteht ein<br />

Konflikt zwischen Armutsbekämpfung <strong>und</strong><br />

beitragsbezogener Rente. Denn je höher eine<br />

solche Solidar- o<strong>der</strong> Mindestrente ist, desto<br />

mehr Menschen werden trotz umfangreicher<br />

eigener Beitragsleistung nur eine Solidar-/<br />

Mindestrente bekommen. Gleiches gilt, wenn<br />

an <strong>der</strong> Senkung des Rentenniveaus festgehalten<br />

wird (wie es die SPD <strong>im</strong> Gr<strong>und</strong>e for<strong>der</strong>t).<br />

Dann liegt bei gleicher Beitragsleistung die<br />

Rente niedriger <strong>und</strong> es werden mehr Menschen<br />

in die Solidar-/Mindestrente fallen.<br />

An<strong>der</strong>erseits: Auch ein hohes Rentenniveau<br />

gerät in Konflikt mit einer Mindestrente, wenn<br />

diese hoch angesetzt wird. Eine Mindestrente,<br />

die nur erreicht, wer 45 Jahre lang nie weniger<br />

als 2.500 Euro brutto <strong>im</strong> Monat verdient,<br />

macht eine beitragsbezogene Pflichtversicherung<br />

faktisch überflüssig. Die Mindestrente<br />

wird ohne eigene Beitragsleistung gewährt.<br />

Um eine gleich hohe Rente durch Arbeit zu<br />

erwerben, muss die/<strong>der</strong> Beschäftigte über<br />

120.000 Euro Beitrag zahlen.<br />

Ausblick<br />

Der Paradigmenwechsel in <strong>der</strong> Rentenpolitik<br />

ist an einem neuen Scheidepunkt. Hinter<br />

<strong>der</strong> Diskussion um die Bekämpfung <strong>der</strong> Altersarmut<br />

steht eine Gr<strong>und</strong>satzfrage: Welche Aufgabe<br />

hat die gesetzliche Rentenversicherung?<br />

Auf <strong>der</strong> einen Seite eine solidarische <strong>und</strong><br />

lebensstandardsichernde Rente, welche auch<br />

Zeiten wie Erwerbslosigkeit, Kin<strong>der</strong>erziehung<br />

o<strong>der</strong> Erwerbsmin<strong>der</strong>ung solidarisch absichert.<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite eine geringe weitgehend<br />

einheitliche Gr<strong>und</strong>versorgung, die durch<br />

zusätzliche private Vorsorge ergänzt werden<br />

muss.


94<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Die aktuell diskutierten Entwürfe von<br />

Zuschussrente über Solidar- <strong>und</strong> Garantierente<br />

bis <strong>zur</strong> Mindestrente laufen darauf hinaus,<br />

dass ein <strong>im</strong>mer größerer Teil <strong>der</strong> Menschen<br />

weitgehend unabhängig von <strong>der</strong> eigenen<br />

Beitragsleistung eine gleich hohe Rente<br />

bekommt. Damit wird das bestehende Pflichtversicherungssystem<br />

infrage gestellt, da sich<br />

eine Beitragsleistung individuell kaum noch<br />

auszahlt. Gleichzeitig werden die <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong> durch die zusätzliche<br />

Vorsorge erheblich finanziell belastet.<br />

Ohne einen vergleichbaren Schutz zu<br />

erhalten, wie bisher alleine aus <strong>der</strong> gesetzlichen<br />

Rentenversicherung.<br />

Alternativen <strong>zur</strong> aktuellen Politik<br />

❚ Um heutige wie auch zukünftige (Alters-) Armut<br />

konsequent zu vermeiden, muss zuallererst am<br />

Arbeitsmarkt angesetzt werden. Denn <strong>im</strong> Gr<strong>und</strong>satz<br />

gilt: Niedrige Löhne führen zu niedrigen Renten.<br />

❚ Ein gesetzlicher Mindestlohn ist hierbei ein notwendiges<br />

Haltenetz. Soll <strong>der</strong> Mindestlohn so ausgestaltet<br />

sein, dass nach 45 Jahren Vollzeit eine armutsfeste<br />

Rente entsteht, müsste dieser heute 10,38 Euro<br />

brutto pro St<strong>und</strong>e betragen. Um Zeiten niedriger<br />

Entlohnung in <strong>der</strong> Vergangenheit, wo ein Mindestlohn<br />

nicht mehr helfen kann, auszugleichen, könnte<br />

die sogenannte ›Rente nach Mindestentgeltpunkten‹<br />

5 fortgeführt werden.<br />

❚ Eine vernünftige Arbeitsmarkt- <strong>und</strong> Beschäftigungspolitik<br />

setzt auf mehr <strong>und</strong> gute Beschäftigung sowie<br />

Tarifverträge, statt auf Minijobs, Leiharbeit <strong>und</strong><br />

Langzeitarbeitslosigkeit. Und nicht min<strong>der</strong> wichtig:<br />

Erst gute Arbeitsbedingungen schaffen die<br />

Gr<strong>und</strong>lage, um ges<strong>und</strong> bis <strong>zur</strong> Rente zu arbeiten.<br />

(Langzeit-) Erwerbslosigkeit darf nicht zu Lücken<br />

in <strong>der</strong> Erwerbsbiografie führen. Zeiten von Arbeitslosigkeit<br />

müssen in <strong>der</strong> Rente an <strong>der</strong> Lebensstandardsicherung<br />

orientiert abgesichert werden.<br />

❚ Dreh- <strong>und</strong> Angelpunkt einer systematischen Rentenpolitik<br />

ist das Rentenniveau, also das Verhältnis<br />

zwischen Lohn <strong>und</strong> Rente. Wird die Senkung des<br />

Rentenniveaus nicht rückgängig gemacht, laufen auf<br />

die Lebensstandardsicherung ausgerichtete Maßnahmen<br />

ins Leere. So müsste bei dem für das Jahr 2030<br />

erwarteten Rentenniveau <strong>der</strong> Mindestlohn heute<br />

schon bei über zwölf Euro brutto pro St<strong>und</strong>e liegen.<br />

Die Versicherten wollen <strong>im</strong> Alter o<strong>der</strong> bei Erwerbsunfähigkeit<br />

eine Rente bekommen, mit <strong>der</strong> sie ihren<br />

bisherigen Lebensstandard fortführen können. Das<br />

Ziel <strong>der</strong> gesetzlichen Rentenversicherung muss daher<br />

wie<strong>der</strong> die Lebensstandardsicherung sein. In<br />

Verbindung mit entsprechenden Verbesserungen <strong>im</strong><br />

Bereich des Arbeitsmarktes sowie des gezielten<br />

Ausbaus von solidarischen Elementen würde so eine<br />

strukturell armutsfeste Rente gewährleistet.<br />

5 Die Rente nach<br />

Mindestentgeltpunkten<br />

wertet niedrige<br />

Rentenansprüche<br />

um bis zu 50 Prozent<br />

auf. Damit wäre bei<br />

45 Beitragsjahren<br />

aktuell eine Nettorente<br />

(Zahlbetrag)<br />

von bis zu 850 Euro<br />

möglich.


95<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Renten wegen vermin<strong>der</strong>ter Erwerbsfähigkeit<br />

Ges<strong>und</strong>heitliche <strong>und</strong> soziale Risiken für Beschäftigte<br />

Bremen <strong>im</strong> Län<strong>der</strong>vergleich<br />

C A R O L A B U R Y / B A R B A R A R E U H L<br />

Durch eine Erkrankung o<strong>der</strong> einen Unfall<br />

teilweise o<strong>der</strong> vollständig erwerbsunfähig zu<br />

werden, kann jede <strong>Arbeitnehmer</strong>in <strong>und</strong><br />

jeden <strong>Arbeitnehmer</strong> treffen. Eine Erwerbsmin<strong>der</strong>ung<br />

(EM) kann Folge eines privaten Unfalls<br />

o<strong>der</strong> Arbeitsunfalls sein, durch ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Verschleiß o<strong>der</strong> durch eine Erkrankung<br />

mit schwerem Verlauf hervorgerufen worden<br />

sein. Sie macht es dem betroffenen Menschen<br />

unmöglich, wie bisher <strong>der</strong> gewohnten Erwerbstätigkeit<br />

nachzugehen. Dieses Risiko stellt<br />

keine Ran<strong>der</strong>scheinung dar, wie die Zahlen <strong>der</strong><br />

Rentenneuzugänge zeigen: Obwohl mehr als<br />

die Hälfte aller Anträge auf Erwerbsmin<strong>der</strong>ung<br />

in <strong>der</strong> Regel abgelehnt wird, sind noch <strong>im</strong>mer<br />

r<strong>und</strong> 16 Prozent, also fast jede sechste <strong>der</strong><br />

neu bewilligten Renten in Bremen, Renten<br />

wegen vermin<strong>der</strong>ter Erwerbsfähigkeit. Für<br />

die Betroffenen wird Erwerbsmin<strong>der</strong>ung<br />

zunehmend zum Armutsrisiko, dies gilt auch<br />

für Bremen.<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrenten –<br />

die Situation in Bremen<br />

Im Jahr 2011 gingen in Bremen 6.909 Menschen<br />

in Rente, davon 1.546 (22,4 Prozent) in<br />

Frührente aufgr<strong>und</strong> von Erwerbsmin<strong>der</strong>ung.<br />

Von diesen 1.546 anerkannten Erwerbsgemin<strong>der</strong>ten<br />

waren 783 Männer <strong>und</strong> 763 Frauen.<br />

Meist geht <strong>der</strong> Frühverrentung eine langwierige<br />

Krankheitsgeschichte voraus, die zu<br />

langfristigen Einschränkungen <strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> Leistungsfähigkeit führt <strong>und</strong> das Ende<br />

<strong>der</strong> beruflichen Laufbahn markiert. Das frühzeitige<br />

Ausscheiden aus dem Erwerbsleben<br />

durch Frühverrentung ist für die Betroffenen<br />

in mehrfacher Hinsicht ein gravierendes<br />

krankheitsbezogenes <strong>und</strong> soziales Ereignis.<br />

Beson<strong>der</strong>s dramatisch für Bremen zeigt sich<br />

auch die Höhe des durchschnittlichen Zahlbetrages<br />

für Erwerbsgemin<strong>der</strong>te. Waren es vor<br />

<strong>der</strong> Reform durch die B<strong>und</strong>esregierung (2001)<br />

noch durchschnittlich 698 Euro pro Monat,<br />

so fiel dieser Betrag <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen kontinuierlich<br />

auf durchschnittliche 521 Euro/Monat.<br />

Die Rente wegen Erwerbsmin<strong>der</strong>ung liegt um<br />

92 Euro unter dem durchschnittlichen Wert<br />

für Nie<strong>der</strong>sachsen 1 <strong>und</strong> unterhalb des Gr<strong>und</strong>sicherungsniveaus<br />

in Höhe von 707 Euro<br />

(2011).<br />

Risiken für eine Erwerbsmin<strong>der</strong>ung<br />

Auch wenn die Gefahr einer Erwerbsmin<strong>der</strong>ung<br />

für alle Erwerbstätigen besteht, sind<br />

unter ihnen Gruppen auszumachen, für die<br />

ein weitaus höheres Risiko besteht. Wissenschaftliche<br />

Untersuchungen verweisen darauf,<br />

dass diese Risiken abhängig sind vom sozialen<br />

Status, den beruflichen Qualifikationen <strong>und</strong><br />

schlechten Arbeits- <strong>und</strong> Lebensbedingungen.<br />

Generell sind Unterschiede hinsichtlich des<br />

Geschlechts, <strong>der</strong> Region <strong>und</strong> des Bildungsstands<br />

zu erkennen. Die größte Gefahr besteht<br />

beispielsweise für männliche gering qualifizierte<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong> in den neuen B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n.<br />

Am an<strong>der</strong>en Ende <strong>der</strong> Risikoskala befinden<br />

sich weibliche hoch qualifizierte <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong><br />

in den alten B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n. Sie<br />

weisen ein zehnmal geringeres Risiko für die<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ung auf. Ursache ist meist die<br />

schwerere körperliche Arbeit, die in <strong>der</strong> Regel<br />

von gering Qualifizierten verrichtet wird. Im<br />

Auftrag <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer Bremen<br />

hat deshalb das Zentrum für Sozialpolitik <strong>der</strong><br />

Universität Bremen erstmals mögliche Einflussfaktoren<br />

für das <strong>Land</strong> Bremen auf Basis<br />

von Zahlen <strong>der</strong> Deutschen Rentenversicherung<br />

ausgewertet. Die Bremer Daten wurden mit <strong>der</strong><br />

b<strong>und</strong>esweiten Erwerbsmin<strong>der</strong>ungs-Statistik,<br />

differenziert nach West- <strong>und</strong> Ostdeutschland,<br />

in Bezug gesetzt, um einen Vergleich <strong>der</strong> Risiken<br />

<strong>und</strong> mögliche Unterschiede zu erkennen.<br />

1 Dagegen lagen die<br />

durchschnittlichen<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrenten<br />

<strong>im</strong> Jahr 2000<br />

noch weitaus näher<br />

zusammen, bei 730 Euro<br />

in Nie<strong>der</strong>sachsen <strong>und</strong><br />

698 in Bremen.


96<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

2 Vgl. Müller/Hagen/H<strong>im</strong>melreicher:<br />

Risiken für<br />

eine Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente.<br />

Bremen <strong>im</strong> Län<strong>der</strong>vergleich.<br />

Eine Analyse<br />

des Rentenzugangs in<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente<br />

auf Basis von Daten <strong>der</strong><br />

Deutschen Rentenversicherung.<br />

Hrsg.: <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen,<br />

Veröffentlichung in 2013<br />

in Vorbereitung. Soziale<br />

Unterschiede be<strong>im</strong><br />

Zugang in die Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente<br />

(EM-Rente) werden in<br />

<strong>der</strong> Studie auf Basis von<br />

Daten <strong>der</strong> gesetzlichen<br />

Rentenversicherung<br />

(GRV) untersucht. Diese<br />

Daten werden vom Forschungsdatenzentrum<br />

<strong>der</strong> Rentenversicherung<br />

(FDZ-RV) <strong>zur</strong> Verfügung<br />

gestellt. Bei den Analysen<br />

wird davon ausgegangen,<br />

dass soziodemografische<br />

<strong>und</strong><br />

sozioökonomische<br />

Unterschiede eine hohe<br />

Bedeutung für das<br />

Risiko einer krankheitsbedingten<br />

Frühberentung<br />

zukommen. Ziel <strong>der</strong><br />

Untersuchung ist es, die<br />

spezifischen EM-Risiken<br />

in Bremen herauszuarbeiten.<br />

Diese werden<br />

<strong>im</strong> Vergleich zu den EM-<br />

Risiken in den alten <strong>und</strong><br />

neuen B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n<br />

dargestellt. Neben soziodemografischen<br />

<strong>und</strong><br />

-ökonomischen D<strong>im</strong>ensionen<br />

werden auch die<br />

zugr<strong>und</strong>e liegenden <strong>und</strong><br />

für die Rentenbewilligung<br />

maßgeblichen Krankheitsdiagnosen<br />

berücksichtigt.<br />

Der Fokus liegt<br />

dabei auf Herz-Kreislauf-,<br />

Muskel-Skelett- <strong>und</strong> psychischen<br />

Erkrankungen,<br />

die prozentual zu den<br />

häufigsten Diagnosegruppen<br />

<strong>der</strong> Frühberentung<br />

gehören.<br />

Zentrale Ergebnisse <strong>der</strong> Studie ›Risiken<br />

für eine Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente‹ 2<br />

Verdeutlicht wird die unterschiedliche<br />

Verteilung <strong>der</strong> Risiken, wenn die Krankheitsbil<strong>der</strong><br />

mit beruflichen Belastungsfaktoren<br />

abgeglichen werden. Demnach sind Muskel<strong>und</strong><br />

Skelett-Erkrankungen die häufigste<br />

Ursache für Erwerbsmin<strong>der</strong>ung bei gering<br />

qualifizierten Männern, während bei höher<br />

qualifizierten Menschen psychische Erkrankungen<br />

als Hauptursache dominieren.<br />

Auffällig <strong>im</strong> regionalen Vergleich ist, dass<br />

das Verrentungsrisiko wegen Erwerbsmin<strong>der</strong>ung<br />

in Bremen für Frauen nahezu gleich<br />

hoch ist wie das <strong>der</strong> Männer. Sowohl in den<br />

alten als auch in den neuen B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n<br />

haben Frauen hingegen ein geringeres<br />

EM-Risiko. Unterschiede hinsichtlich <strong>der</strong><br />

Geschlechterverhältnisse zeigen sich jedoch in<br />

allen Regionen, wenn man nach Diagnosegruppen<br />

unterscheidet: Hervorzuheben ist<br />

zum einen die starke Betroffenheit von Frauen<br />

durch psychische Erkrankungen – sie liegt<br />

in Bremen etwa 30 Prozent höher als bei<br />

Männern.<br />

Herz-Kreislauf-Erkrankungen spielen hingegen<br />

bei Männern eine größere Rolle als bei<br />

Frauen. In Bremen ist die Erwerbsmin<strong>der</strong>ungs-<br />

Quote wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen<br />

bei Männern mehr als dre<strong>im</strong>al so hoch wie bei<br />

Frauen. In den neuen <strong>und</strong> alten B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n<br />

ist diese Relation etwas geringer ausgeprägt.<br />

Das Risiko, Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente zu<br />

beziehen, ist in Bremen bei Deutschen wie bei<br />

Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit<br />

annähernd gleich hoch. In den alten<br />

B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n zeigen die Nicht-Deutschen<br />

eine leicht höhere Quote, in den neuen<br />

B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n eine niedrigere.<br />

Die Gesamtquote liegt in Ostdeutschland in<br />

je<strong>der</strong> Altersgruppe höher als in Westdeutschland.<br />

In Bremen liegen die jüngeren Jahrgänge<br />

auf dem erhöhten Niveau von Ostdeutschland,<br />

ab dem 50. Lebensjahr ungefähr auf dem<br />

niedrigeren westdeutschen Niveau.<br />

Deutliche Unterschiede gibt es in je<strong>der</strong> Region<br />

je nach Bildungsniveau. Die höchsten Quoten<br />

ergeben sich für Menschen mit geringer Bildung<br />

<strong>und</strong> die geringsten Quoten für Menschen<br />

mit hoher Bildung. Auch bei <strong>der</strong> Betrachtung<br />

des Alters <strong>und</strong> an<strong>der</strong>er Variablen bleibt dieser<br />

Effekt bestehen. Dies gilt für Bremen ebenso<br />

wie für die neuen <strong>und</strong> alten B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>.<br />

Eine geringe berufliche Qualifikation<br />

o<strong>der</strong>/<strong>und</strong> eine ausgeübte manuelle Tätigkeit<br />

haben einen vergleichbaren Effekt auf die Verrentung<br />

wegen Erwerbsmin<strong>der</strong>ung. Menschen<br />

mit geringer beruflicher Qualifikation<br />

o<strong>der</strong>/<strong>und</strong> manuellen Tätigkeiten haben die<br />

höheren Verrentungsquoten. Auch diese<br />

Unterschiede sind in allen Regionen in vergleichbarem<br />

Ausmaß zu finden.<br />

Armutsrisiko Erwerbsmin<strong>der</strong>ung<br />

Die Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente sollte die Lücken<br />

<strong>im</strong> Einkommen füllen, wenn aus ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Gründen nicht mehr in vollem Umfang<br />

o<strong>der</strong> gar nicht mehr gearbeitet werden kann<br />

<strong>und</strong> noch keine Regelaltersrente bezogen<br />

wird. Im Gegensatz <strong>zur</strong> Altersrente wird die<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente höchstens bis zum<br />

65. Lebensjahr gezahlt (beziehungsweise nach<br />

<strong>der</strong> neuen Regelung ab 2029 bis zum 67.<br />

Lebensjahr). Erst ab Erreichen <strong>der</strong> regulären<br />

Regelaltersgrenze schließt sich die gesetzliche<br />

Altersrente an. Dafür werden mittels <strong>der</strong><br />

Zurechnungszeit die infolge von Erwerbsmin<strong>der</strong>ung<br />

nicht erbrachten Rentenbeiträge<br />

rechnerisch ersetzt.<br />

Die Aussage, ›wer krank ist, darf nicht arm<br />

werden‹, war vor über 100 Jahren noch gesellschaftlicher<br />

Konsens. Die Absicherung von<br />

Beschäftigten bei gemin<strong>der</strong>ter Erwerbstätigkeit<br />

war neben <strong>der</strong> Alterssicherung <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

sozialen Absicherung <strong>der</strong> Familien von Anfang<br />

an eines <strong>der</strong> zentralen Ziele <strong>der</strong> gesetzlichen<br />

Rentenversicherung. Doch Beschäftigte, die<br />

aus ges<strong>und</strong>heitlichen Gründen aus dem<br />

Erwerbsleben ausscheiden müssen, unterliegen<br />

heute einem zunehmend höheren Armuts-


2000<br />

2001<br />

2002<br />

2003<br />

2004<br />

2005<br />

2006<br />

2007<br />

2008<br />

2009<br />

2010<br />

2011<br />

97<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Abb. 1:<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrenten in Bremen<br />

risiko. Die Ursachen für die diskutierten<br />

künftig steigenden Altersarmutsrisiken sind<br />

bekannt: Än<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> Rentenpolitik<br />

<strong>und</strong> die Entwicklungen am Arbeitsmarkt<br />

verstärken sich dabei (siehe Beitrag Lebensstandardsicherung<br />

o<strong>der</strong> Armutsbekämpfung?,<br />

S. 90 ff.).<br />

¢<br />

Zurechnungszeit:<br />

Zweck <strong>der</strong> Zurechnungszeit ist es, einen von<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ung betroffenen Menschen so<br />

zu stellen, als hätte er bis zum 60. Lebensjahr<br />

weiterverdient wie bisher. Die Zurechnungszeit<br />

ist <strong>der</strong> Zeitraum zwischen dem Tag, ab<br />

welchem Erwerbsmin<strong>der</strong>ung festgestellt wurde<br />

<strong>und</strong> dem 60. Lebensjahr. Im Rahmen einer<br />

Günstigerprüfung (Gesamtleistungsbewertung)<br />

wird ermittelt, wie hoch die Zurechnungszeit<br />

bewertet wird.<br />

In <strong>der</strong> aktuellen Debatte gibt es zwei<br />

Verbesserungsvorschläge:<br />

1. Die Anhebung des Renteneintrittsalters um zwei<br />

Jahre soll auf die Zurechnungszeit übertragen<br />

werden, so dass diese bis zum Jahr 2029 stufenweise<br />

auf 62 Jahre heraufgesetzt würde.<br />

2. Im Rahmen einer zusätzlichen Günstigerprüfung<br />

werden die letzten Jahre vor <strong>der</strong> Erwerbsmin<strong>der</strong>ung<br />

nur berücksichtigt, wenn sie nicht zu einer niedrigeren<br />

Zurechnungszeit führen.<br />

Ob diese Vorschläge noch vor <strong>der</strong> B<strong>und</strong>estagswahl<br />

umgesetzt werden, ist unsicher.<br />

Die durchschnittlichen Zahlbeträge <strong>der</strong> neu<br />

bewilligten Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrenten in den<br />

alten B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n sind bei Männern von<br />

780 Euro <strong>im</strong> Jahre 2000 auf 635 Euro <strong>im</strong> Jahre<br />

2011, bei Frauen von 666 Euro (2000) auf<br />

606 Euro (2011) gesunken. Sie liegen teilweise<br />

knapp über dem Gr<strong>und</strong>sicherungsniveau in<br />

Höhe von 660 Euro, teilweise darunter.<br />

800<br />

771<br />

750 727<br />

694<br />

700<br />

650<br />

590<br />

600<br />

550<br />

500<br />

450<br />

623<br />

631<br />

639<br />

664<br />

625<br />

645 639<br />

582 589<br />

569 579 579 567 568 552 562<br />

547<br />

528 529 527 521<br />

494<br />

647<br />

643<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente – Männer<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente – Frauen<br />

Gr<strong>und</strong>sicherungsbedarf, brutto Bremen<br />

650 658 665 677 690 692<br />

Quelle: Deutsche Rentenversicherung B<strong>und</strong>; Statistisches B<strong>und</strong>esamt; eigene Berechnungen<br />

603<br />

Rentenzahlbetrag bei Rentenzugang nach Wohnort.<br />

Gr<strong>und</strong>sicherung in Bremen: Bruttobedarfe,<br />

Werte für 2000, 2001, 2002, 2005 <strong>und</strong> 2006 fehlend:<br />

Fehlende Werte durch Hochrechnung aufgefüllt.<br />

Preisbereinigt anhand HVPI (harmonisierter Verbraucherpreisindex) mit 2011=100.<br />

Bei den Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrenten machen<br />

sich die allgemeinen Rentenkürzungen <strong>der</strong> vergangenen<br />

Jahre bemerkbar. Zudem müssen seit<br />

2001 Abschläge von bis zu 10,8 Prozent hingenommen<br />

werden, wenn die Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente<br />

vor dem 63. Lebensjahr (ab 2029:<br />

vor dem 65. Lebensjahr) in Anspruch genommen<br />

wird. Inzwischen sind bereits mehr als<br />

95 Prozent aller neu bewilligten Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrenten<br />

mit entsprechenden Abschlägen<br />

belegt.<br />

In <strong>der</strong> Zeitreihe wird deutlich, dass die<br />

Zugänge bei Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrenten seit<br />

Mitte <strong>der</strong> 1990er-Jahre kontinuierlich <strong>zur</strong>ückgehen.<br />

Dies hängt sowohl mit <strong>der</strong> Situation auf<br />

dem Arbeitsmarkt, wie mit den Auswirkungen<br />

einzelner gesetzlicher Regelungen, wie zum<br />

Beispiel dem Altersteilzeitgesetz zusammen. 3<br />

Die neue Rechtslage ab 2001 durch das Gesetz<br />

<strong>zur</strong> Reform <strong>der</strong> Renten wegen vermin<strong>der</strong>ter<br />

Erwerbsfähigkeit wirkt sich weiter negativ<br />

sowohl in Bezug auf die Anerkennung wie auf<br />

die Höhe von Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrenten aus.<br />

707<br />

3 Das Gesetz <strong>zur</strong> Altersteilzeit<br />

(AltTZG) ist am<br />

23.7.1996 in Kraft getreten.<br />

Danach bestand ein<br />

gesetzlich geregeltes<br />

Modell, bei dem ältere<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong> (55+) für<br />

die verbleibende Zeit bis<br />

<strong>zur</strong> Rente (mindestens<br />

3 Jahre) ihre Arbeitszeit<br />

halbieren konnten.


98<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

¢Exkurs:<br />

Die geltenden gesetzlichen Regelungen<br />

Bei den Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrenten geht es<br />

um die Beeinträchtigung <strong>im</strong> Erwerbsleben <strong>und</strong><br />

den möglichen Ausgleich: Wenn jemand wegen<br />

einer Krankheit o<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung keine sechs<br />

St<strong>und</strong>en täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt<br />

arbeiten kann, dann liegt damit die<br />

gesetzliche Voraussetzung für den Erhalt einer<br />

Rente wegen Erwerbsmin<strong>der</strong>ung vor. Die<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ung wird durch medizinische<br />

Gutachten festgestellt. Dabei wird auch geprüft,<br />

ob die Erwerbsmin<strong>der</strong>ung möglicherweise<br />

durch eine Rehabilitationsmaßnahme behoben<br />

werden kann. Hier gilt <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>satz ›Reha vor<br />

Rente‹.<br />

Je nachdem, wie viele St<strong>und</strong>en man täglich<br />

arbeiten kann, liegt eine volle o<strong>der</strong> eine teilweise<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ung vor. Wer weniger als<br />

drei St<strong>und</strong>en täglich arbeiten kann, bekommt<br />

die volle Rente wegen voller Erwerbsmin<strong>der</strong>ung.<br />

Die teilweise Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente kann<br />

beantragt werden, wenn die ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Einschränkungen nur noch drei bis sechs St<strong>und</strong>en<br />

Erwerbsarbeit am Tag zulassen. Die Höhe<br />

einer teilweisen Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente<br />

entspricht <strong>der</strong> Hälfte einer vollen Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente.<br />

Im Januar 2001 trat das Gesetz <strong>zur</strong> Reform<br />

<strong>der</strong> Renten wegen vermin<strong>der</strong>ter Erwerbsfähigkeit<br />

in Kraft. Aus <strong>der</strong> früheren Berufsunfähigkeitsrente<br />

wurde die Rente wegen ›teilweiser<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ung‹. Die ›Rente wegen voller<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ung‹ schloss an die frühere<br />

Erwerbsunfähigkeitsrente an. Neben den neuen<br />

Begrifflichkeiten gab es allerdings auch weitere<br />

Än<strong>der</strong>ungen, die sich nachteilig auswirken sollten.<br />

Eine von ihnen ist, dass die Bemessungsgr<strong>und</strong>lage<br />

für die Einteilung in ›teilweise‹ o<strong>der</strong><br />

›voll‹ erwerbsgemin<strong>der</strong>t nun nicht mehr das<br />

erzielbare Einkommen, son<strong>der</strong>n die mögliche<br />

tägliche Arbeitszeit ist.<br />

Auch <strong>der</strong> früher bestehende ›Berufsschutz‹<br />

besteht nur noch für Ältere, die vor dem 2. Januar<br />

1961 geboren sind, was einer schrittweisen<br />

Abschaffung dieser Regelung entspricht. Danach<br />

müssen Beschäftigte jede zumutbare <strong>zur</strong><br />

Verfügung stehende Teilzeit-Erwerbstätigkeit<br />

annehmen. Durch die Neuregelung haben<br />

außerdem Menschen, die zwar sechs o<strong>der</strong><br />

mehr St<strong>und</strong>en täglich einer Erwerbstätigkeit<br />

nachgehen können, aber nicht in <strong>der</strong> <strong>Lage</strong> sind<br />

Vollzeit zu arbeiten, keinen Anspruch mehr<br />

auf eine unterstützende Leistung in Form einer<br />

teilweisen Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente.<br />

Rentenbescheide wegen Erwerbsmin<strong>der</strong>ung<br />

werden gr<strong>und</strong>sätzlich zeitlich befristet bewilligt.<br />

Das bedeutet, dass sie nicht automatisch bis<br />

zum Eintritt <strong>der</strong> Regelaltersgrenze ausgezahlt<br />

werden. Alle drei Jahre wird neu geprüft, ob<br />

weiterhin eine Erwerbsmin<strong>der</strong>ung vorliegt. Nur<br />

in seltenen Fällen, wenn davon ausgegangen<br />

wird, dass die Min<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Erwerbsfähigkeit<br />

nicht behoben werden <strong>und</strong> <strong>der</strong> betroffene<br />

Mensch durch Rehabilitationsmaßnahmen die<br />

Erwerbsfähigkeit nicht erneut erlangen kann,<br />

wird die Rente unbefristet geleistet. Nach einer<br />

dre<strong>im</strong>aligen Befristung von je drei Jahren,<br />

insgesamt also nach neun Jahren, wird die<br />

Rente unbefristet gewährt.<br />

Wenn die Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente nicht<br />

für das Existenzmin<strong>im</strong>um reicht, besteht<br />

Anspruch auf<br />

❚ Gr<strong>und</strong>sicherung nach SGB XII (Kapitel 4), bei <strong>der</strong><br />

in <strong>der</strong> Regel kein Unterhaltsrückgriff auf Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />

Eltern erfolgt, wenn die Erwerbsfähigkeit voll <strong>und</strong><br />

dauerhaft gemin<strong>der</strong>t ist <strong>und</strong> ab <strong>der</strong> Regelaltersgrenze.<br />

❚ Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII bei einer<br />

vollen befristeten Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente, mit<br />

Unterhaltsrückgriff bei Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Eltern.<br />

❚ Gr<strong>und</strong>sicherung für Arbeitsuchende nach SGB II<br />

(Arbeitslosengeld II), mit allen Konsequenzen wie<br />

Bedarfsprüfung, Anrechnung des Vermögens,<br />

Hinzuverdienstgrenzen, Sanktionsmöglichkeiten.


99<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Abb. 2: Entwicklung des Rentenzugangs <strong>der</strong> Versicherten<br />

bei Renten wegen vermin<strong>der</strong>ter Erwerbsfähigkeit (Männer<br />

<strong>und</strong> Frauen) <strong>und</strong> durchschnittlicher Zahlbetrag in Euro<br />

Das Problem <strong>der</strong> vorweggenommenen Altersarmut<br />

wird beson<strong>der</strong>s deutlich, wenn die bremischen<br />

Zahlen nach Geschlechtern getrennt<br />

<strong>und</strong> <strong>im</strong> Vergleich zum B<strong>und</strong>esdurchschnitt<br />

<strong>und</strong> zu Nie<strong>der</strong>sachsen betrachtet werden. Hier<br />

zeigt sich, dass eine Spreizung <strong>der</strong> Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrenten<br />

zwischen Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

<strong>und</strong> Bremen stattgef<strong>und</strong>en hat, die vermutlich<br />

durch eine zunehmende Spaltung des Arbeitsmarktes<br />

in Bremen mit einer relativ hohen<br />

Anzahl von prekären Arbeitsverhältnissen,<br />

aber auch mit Teilzeit-Arbeitsverhältnissen zu<br />

erklären ist.<br />

Hier wird auch deutlich, dass gerade die<br />

Gruppe von Beschäftigten mit hohen Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrisiken<br />

schon vor einer Feststellung<br />

<strong>der</strong> bestehenden Erwerbsmin<strong>der</strong>ung<br />

infolge von Krankheit, Arbeitslosigkeit <strong>und</strong><br />

prekären Arbeitsverhältnissen niedrige Einkommen<br />

<strong>und</strong> häufig Versicherungslücken in<br />

den Erwerbsbiografien aufweist. Dies sind die<br />

Ursachen dafür, dass die Erwerbsmin<strong>der</strong>ungsrente<br />

für <strong>im</strong>mer mehr Betroffene zu einem<br />

Armutsrisiko geworden ist. Zudem schlagen<br />

sich niedrige Verdienste <strong>und</strong> Versicherungslücken<br />

über die Zurechnungszeiten überproportional<br />

bei <strong>der</strong> Rentenhöhe nie<strong>der</strong>.<br />

Abb. 3: Durchschnittlicher Rentenzahlbetrag<br />

in Euro nach B<strong>und</strong>esland <strong>und</strong> Rentenart (2011)<br />

Renten wegen<br />

Erwerbsmin<strong>der</strong>ung<br />

Renten wegen<br />

Alters<br />

Männer Frauen Männer Frauen<br />

B<strong>und</strong><br />

Bremen<br />

Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

628<br />

547<br />

655<br />

573<br />

494<br />

569<br />

940<br />

881<br />

950<br />

546<br />

520<br />

483<br />

Quelle: Deutsche Rentenversicherung, Rentenzugang 2011, 2012<br />

Jahr<br />

Deutschland<br />

insgesamt<br />

Zugänge<br />

Höhe in<br />

Euro<br />

Handlungsbedarf<br />

Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

Zugänge<br />

Höhe in<br />

Euro<br />

Bremen<br />

Zugänge<br />

1993<br />

1995<br />

1997<br />

1999<br />

2001<br />

2003<br />

2005<br />

2007<br />

2009<br />

2011<br />

271.541<br />

293.994<br />

264.203<br />

218.187<br />

200.579<br />

174.361<br />

163.960<br />

161.515<br />

173.028<br />

180.238<br />

654<br />

680<br />

691<br />

703<br />

676<br />

652<br />

627<br />

611<br />

600<br />

596<br />

25.250<br />

28.195<br />

24.300<br />

21.212<br />

20.259<br />

16.466<br />

16.116<br />

15.579<br />

16.564<br />

18.122<br />

715<br />

726<br />

725<br />

728<br />

708<br />

676<br />

648<br />

637<br />

617<br />

613<br />

2.414<br />

2.900<br />

2.362<br />

1.827<br />

1.610<br />

1.346<br />

1.287<br />

1.360<br />

1.440<br />

1.546<br />

Quelle: Deutsche Rentenversicherung in Zeitreihen, Rentenzugang<br />

<strong>und</strong> durchschnittlicher Zahlbetrag in Euro/Monat, 2012<br />

❚ Erwerbsmin<strong>der</strong>ung gilt es generell zu vermeiden.<br />

Daher muss dem Gr<strong>und</strong>satz Rehabilitation vor<br />

Rente wie<strong>der</strong> voll Rechnung getragen werden. Dazu<br />

ist es erfor<strong>der</strong>lich, die gesetzliche Begrenzung <strong>der</strong><br />

Ausgaben für Reha-Maßnahmen (›Reha-Deckel‹)<br />

aufzuheben.<br />

❚ Durch zusätzliche Maßnahmen muss das Armutsrisiko<br />

bei Erwerbsmin<strong>der</strong>ung reduziert werden. Die<br />

Abschläge müssen abgeschafft <strong>und</strong> die Zurechnungszeit<br />

verlängert werden. Die letzten vier Jahre vor<br />

Eintritt <strong>der</strong> Erwerbsmin<strong>der</strong>ung sind nur dann bei<br />

<strong>der</strong> Rentenberechnung zu berücksichtigen, wenn sie<br />

sich auf die Höhe des Rentenzahlbetrages positiv<br />

auswirken.<br />

❚ Die Verlängerung <strong>der</strong> Zurechnungszeit, eine bessere<br />

Bewertung <strong>der</strong> letzten Kalen<strong>der</strong>jahre vor Renteneintritt<br />

sowie eine Anhebung des Reha-Deckels sind<br />

<strong>der</strong> parteiübergreifende Konsens. Bremen sollte sich<br />

auf B<strong>und</strong>esebene, beispielsweise <strong>im</strong> Rahmen einer<br />

B<strong>und</strong>esratsinitiative, für entsprechende Verbesserungen<br />

bei <strong>der</strong> Rentengesetzgebung einsetzen.<br />

Höhe in<br />

Euro<br />

693<br />

702<br />

675<br />

695<br />

656<br />

626<br />

598<br />

568<br />

545<br />

521


100<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Betriebsräte <strong>und</strong> berufliche Weiterbildung<br />

von Beschäftigten<br />

S U S A N N E H E R M E L I N G<br />

1 Das weisen die letzten<br />

Zahlen <strong>der</strong> vom<br />

B<strong>und</strong>esministerium für<br />

Bildung <strong>und</strong> Forschung<br />

(BMBF) beauftragten<br />

Bevölkerungsbefragung<br />

von 18–64-jährigen<br />

Menschen aus. Vgl.<br />

BMBF (Hrsg.): Weiterbildungsverhalten<br />

in<br />

Deutschland. AES 2010<br />

Trendbericht, 2011.<br />

2 Vgl. B<strong>und</strong>esinstitut für<br />

Berufsbildung (BIBB):<br />

Datenreport zum<br />

Berufsbildungsbericht<br />

2012, S. 287 ff.<br />

Berufliche Fort- <strong>und</strong> Weiterbildung ist für alle<br />

Beschäftigten ein Thema. Oft geht es darum,<br />

<strong>im</strong> eigenen Arbeitsfeld bei Umstrukturierungen<br />

o<strong>der</strong> nach Erwerbsunterbrechungen<br />

beschäftigungsfähig zu bleiben. Erwerbstätige<br />

profitieren dabei je nach Branche <strong>und</strong> Unternehmen<br />

von betrieblich finanzierter Weiterbildung<br />

o<strong>der</strong> sie müssen selbst Zeit <strong>und</strong> Geld<br />

in individuelle Weiterbildung investieren.<br />

Betrieblich unterstützte Umqualifizierungen<br />

können Arbeitsplatzverluste für die Beschäftigten<br />

verhin<strong>der</strong>n, die aus ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Gründen in weniger belastende Bereiche wechseln<br />

müssen. In einer tendenziell alternden<br />

Gesellschaft mit längeren Lebensarbeitszeiten<br />

ist dieses Thema beson<strong>der</strong>s akut. Der demografische<br />

Wandel ist gleichzeitig Anlass für<br />

Unternehmen, Strategien <strong>zur</strong> Deckung ihres<br />

zukünftigen Fachkräftebedarfs zu entwickeln.<br />

Weiterbildung ist daher <strong>im</strong>mer mehr ein<br />

gemeinsames Interessenfeld von Unternehmen,<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>vertretern <strong>und</strong> Beschäftigten.<br />

Auch Unternehmen sollten ein wachsendes<br />

Interesse daran haben, nicht nur reaktiv<br />

für kurzfristige Bedarfe, son<strong>der</strong>n prophylaktisch<br />

zu qualifizieren. Demnach müssten<br />

neben kurzen Schulungen vermehrt auch<br />

Anpassungs-, Wie<strong>der</strong>einstiegs- <strong>und</strong> Umqualifizierungen<br />

geför<strong>der</strong>t werden. Aufstiegsfortbildungen,<br />

etwa zum Meister o<strong>der</strong> <strong>zur</strong> Betriebswirtin,<br />

gelten in <strong>der</strong> Regel als persönliche<br />

Weiterbildung. Hier müssen Unternehmen<br />

umdenken, die nach eigenen Aussagen<br />

entsprechende Fachkräfte suchen, <strong>und</strong> auch<br />

längerfristige Fortbildungen vermehrt för<strong>der</strong>n.<br />

Welche Beschäftigtengruppen<br />

profitieren?<br />

Die größte Zahl aller statistisch erfassten<br />

Weiterbildungsveranstaltungen findet <strong>im</strong><br />

betrieblichen Kontext statt. Zu bedenken ist<br />

dabei, dass fast die Hälfte <strong>der</strong> Aktivitäten<br />

nur wenige St<strong>und</strong>en bis max<strong>im</strong>al einen Tag<br />

umfassen. 1 Am meisten profitieren nach einer<br />

Befragung des B<strong>und</strong>esministeriums für Bildung<br />

<strong>und</strong> Forschung Hochschul- <strong>und</strong> Fachschulabsolventen<br />

von betrieblicher Weiterbildung.<br />

Im Vergleich dazu werden Beschäftigte<br />

ohne Berufsabschluss in Betrieben kaum<br />

geför<strong>der</strong>t. 2 Die Teilnahme an betrieblicher<br />

Weiterbildung ist außerdem abhängig vom<br />

Erwerbsstatus, darum sind die oft teilzeitbeschäftigten<br />

Frauen gegenüber den überwiegend<br />

vollzeitbeschäftigten Männern benachteiligt.<br />

Die Teilnahmequoten an betrieblicher<br />

Weiterbildung sind zudem bei den 35–49-<br />

Jährigen am höchsten <strong>und</strong> bei den Älteren am<br />

niedrigsten. Auch Beschäftigte mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

profitieren erheblich weniger<br />

von betrieblicher Weiterbildung als Deutsche<br />

ohne Migrationshintergr<strong>und</strong>. Die großen<br />

Unterschiede nach Qualifikation, Alter,<br />

Geschlecht <strong>und</strong> Migrationshintergr<strong>und</strong> weisen<br />

auf gruppenbezogene Benachteiligungen in<br />

den Betrieben hin, denn in individueller<br />

berufsbezogener Weiterbildung sind die Unterschiede<br />

in den Teilnahmequoten nicht vorhanden<br />

o<strong>der</strong> wesentlich geringer. Für die<br />

benachteiligten Gruppen, insbeson<strong>der</strong>e für<br />

Un- <strong>und</strong> Angelernte, müssen daher in verstärktem<br />

Maße Qualifizierungsprojekte <strong>und</strong><br />

För<strong>der</strong>programme entwickelt werden.


101<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Welche Betriebe investieren<br />

in Weiterbildung?<br />

Das IAB-Betriebspanel, eine Befragung von<br />

Arbeitgebern, ergibt ein an<strong>der</strong>es Bild zu Weiterbildungschancen<br />

<strong>im</strong> Betrieb. Danach profitieren<br />

Frauen in gleichem Maße wie Männer.<br />

Allerdings zeigt auch die Betriebsbefragung,<br />

dass weniger in die Weiterbildung von Älteren<br />

<strong>und</strong> sehr wenig in die Weiterbildung von<br />

An- <strong>und</strong> Ungelernten investiert wird. Auch<br />

spezielle Angebote für Ältere gibt es kaum,<br />

obwohl <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> über 50-jährigen<br />

Beschäftigten <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen auf ein Viertel<br />

gestiegen ist <strong>und</strong> viele Stellen in den nächsten<br />

Jahren altersbedingt neu besetzt werden müssen.<br />

Im verarbeitenden Gewerbe ist sogar ein<br />

Drittel <strong>der</strong> Belegschaften über 50 Jahre alt<br />

<strong>und</strong> in <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltung (inklusive<br />

Non-Profit-Organisationen) sogar mehr als ein<br />

Drittel. Trotzdem haben die bremischen Betriebe<br />

kaum vermehrt spezielle Maßnahmen für<br />

ältere Beschäftigte angeboten. 3<br />

Ob ein Betrieb in Weiterbildung investiert,<br />

ist nicht nur vom Bedarf, son<strong>der</strong>n auch von<br />

betrieblichen Ressourcen <strong>und</strong> von <strong>der</strong> Durchsetzungskraft<br />

<strong>der</strong> Beschäftigten abhängig.<br />

Wie in den Vorjahren war 2011 laut Betriebspanel<br />

je<strong>der</strong> zweite Betrieb <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

weiterbildungsaktiv. Die von den Betrieben<br />

geschätzten Teilnahmequoten von Beschäftigten<br />

stiegen jedoch auf über ein Drittel an.<br />

Die Entwicklung <strong>der</strong> vergangenen Jahre zeigt,<br />

dass auch die bremischen Betriebe Kurzarbeitsphasen<br />

in den Krisenjahren kaum für Weiterbildung<br />

genutzt haben, ab 2011 dagegen<br />

verbessert sich die <strong>Lage</strong>. 4<br />

Unter den Betrieben mit künftigem Fachkräftebedarf<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen erwarten nach<br />

IAB-Betriebspanel zwei Drittel Probleme bei<br />

Stellenbesetzungen. Hauptgründe dafür<br />

seien ein voraussehbarer Bewerbermangel für<br />

best<strong>im</strong>mte Berufe <strong>und</strong> ein Mangel an Zusatzqualifikationen.<br />

Fast alle dieser Betriebe<br />

nannten personalpolitische Maßnahmen – vor<br />

allem Weiterbildung – als wichtigste Strategie<br />

<strong>zur</strong> Sicherung ihres Fachkräftebedarfs. Doch<br />

mangelnde Ressourcen <strong>und</strong> fehlende Infrastrukturen<br />

behin<strong>der</strong>n oft eine entsprechende<br />

Umsetzung. Im Baugewerbe etwa wird <strong>der</strong><br />

zukünftige Fachkräftebedarf am deutlichsten<br />

geäußert, gleichzeitig wird in <strong>der</strong> Branche am<br />

wenigsten Weiterbildung geför<strong>der</strong>t. Das liegt<br />

unter an<strong>der</strong>em daran, dass viele kleine Betriebe<br />

das Bild dieser Branche best<strong>im</strong>men. Große<br />

Unternehmen haben dagegen mehr finanzielle<br />

Ressourcen für Weiterbildung <strong>und</strong> Spielräume<br />

für bildungsfre<strong>und</strong>liche Arbeitszeitmodelle.<br />

In einigen mittelständisch geprägten Branchen<br />

gibt es daher umlagenfinanzierte Fonds für<br />

Aus- <strong>und</strong> Weiterbildung. Ein Beispiel ist<br />

die Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes mit<br />

Mitteln, die vor allem in abschlussbezogene<br />

Nachqualifizierungen <strong>und</strong> in Fortbildungen<br />

investiert werden.<br />

Mittelständische Unternehmen sind dann<br />

weiterbildungsaktiv, wenn Ressourcen vorhanden<br />

sind <strong>und</strong> neue Produkte o<strong>der</strong> organisatorische<br />

Verän<strong>der</strong>ungen häufig vorkommen.<br />

Dies ist zum Beispiel <strong>im</strong> Kredit- <strong>und</strong> Versicherungsgewerbe<br />

<strong>der</strong> Fall. 5 Ausbildungsbetriebe,<br />

das gilt insbeson<strong>der</strong>e für kleine Betriebe bis<br />

19 Beschäftigte, investieren wesentlich häufiger<br />

in Weiterbildung als Betriebe, die nicht<br />

ausbilden. 6 Wahrscheinlich werden für die<br />

Ausbildung geschaffene Kompetenzen <strong>und</strong><br />

Strukturen <strong>im</strong> Betrieb auch für die Weiterbildung<br />

genutzt.<br />

3 Auch in <strong>der</strong> Betriebsrätebefragung<br />

2012<br />

(n=127) <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen<br />

gab nur ein einziger<br />

Betrieb an, Programme<br />

für über 50-jährige<br />

Mitarbeiter zu för<strong>der</strong>n.<br />

4 Vgl. SÖSTRA: Beschäftigungstrends.<br />

Ergebnisse<br />

<strong>der</strong> jährlichen Arbeitgeberbefragung,<br />

IAB-<br />

Betriebspanel Bremen,<br />

Befragungswelle 2011.<br />

5 Vgl. Käpplinger: Welche<br />

Betriebe in Deutschland<br />

sind weiterbildungsaktiv?<br />

BMBF 2007, S. 17.<br />

6 Vgl. B<strong>und</strong>esinstitut für<br />

Berufsbildung (BIBB):<br />

Datenreport zum<br />

Berufsbildungsbericht<br />

2012, S. 302.


102<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

7 Vgl. Stegmaier: Effects<br />

of Works Councils on<br />

Firm-Provided Further<br />

Training in Germany. In<br />

British Journal of Industrial<br />

Relations, Dec.<br />

2012. Berger: Betriebsräte<br />

<strong>und</strong> betriebliche<br />

Weiterbildung. In: WSI<br />

Mitteilungen 5/2012.<br />

8 Beispiele zeigen Gröne/Kozlowski<br />

(2007):<br />

Personalentwicklung <strong>im</strong><br />

Betrieb mitgestalten.<br />

Gröne/Kozlowski<br />

(2010): Mitarbeitergespräche.<br />

Online www.<br />

arbeitnehmerkammer.de<br />

/mitbest<strong>im</strong>mung/<br />

personalentwicklung/<br />

Mitbest<strong>im</strong>mte berufliche Weiterbildung<br />

Eine neue Auswertung <strong>der</strong> Daten des IAB-<br />

Betriebspanels gibt Hinweise darauf, dass insbeson<strong>der</strong>e<br />

kleine <strong>und</strong> mittlere Unternehmen<br />

(KMU), aber auch Großunternehmen mit<br />

Betriebsrat, häufiger Weiterbildung för<strong>der</strong>n<br />

als Unternehmen ohne Betriebsrat. 7 Tatsächlich<br />

ist Weiterbildung auch für Betriebsräte<br />

ein zunehmend wichtiges Thema. Nach dem<br />

Betriebsverfassungsgesetz können Betriebsräte<br />

Maßnahmen vorschlagen <strong>und</strong> bei <strong>der</strong> Durchführung<br />

mitbest<strong>im</strong>men <strong>und</strong> sie können die<br />

Teilnahme von einzelnen o<strong>der</strong> Gruppen von<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>n vorschlagen. 8 Betriebsräte können<br />

daran mitwirken, dass die Arbeitsplatzsicherheit<br />

durch Anpassungsqualifizierungen<br />

verbessert wird <strong>und</strong> Qualifizierungen in höherwertige<br />

o<strong>der</strong> alternsgerechte Tätigkeiten unterstützt<br />

werden. Und sie können ungleichen<br />

Weiterbildungschancen gegensteuern. Beschäftigte,<br />

die sich über individuelle Weiterbildung<br />

beruflich entwickeln wollen, brauchen außerdem<br />

oft den Beistand des Betriebsrats, etwa für<br />

beson<strong>der</strong>e Arbeitszeitregelungen. Instrumente,<br />

die Betriebsräte nutzen können, sind tarifliche,<br />

betriebliche <strong>und</strong> individuelle Vereinbarungen.


Qualifizierungstarifverträge wurden zuletzt<br />

unter an<strong>der</strong>em in <strong>der</strong> chemischen Industrie<br />

(2003), <strong>der</strong> Metall- <strong>und</strong> Elektroindustrie<br />

(2001/2006), <strong>im</strong> öffentlichen Dienst (2005/<br />

2006) <strong>und</strong> <strong>im</strong> Versicherungsgewerbe (2007)<br />

abgeschlossen. Der individuelle Qualifizierungsbedarf<br />

soll in <strong>der</strong> Regel durch ein<br />

jährliches Mitarbeitergespräch festgestellt werden.<br />

Die Kosten für betrieblich notwendige<br />

Maßnahmen sollen vom Arbeitgeber getragen<br />

werden. Allerdings werden keine rechtlichen<br />

Ansprüche auf Weiterbildung festgelegt.<br />

Solche Regelungen sind bisher die Ausnahme,<br />

wie zum Beispiel die garantierten zweieinhalb<br />

Tage Weiterbildung für Beschäftigte <strong>im</strong> kommunalen<br />

Erziehungsdienst. Der Einfluss von<br />

Tarifverträgen auf die Praxis von betrieblicher<br />

<strong>und</strong> beruflicher Weiterbildung scheint bisher<br />

schwach zu sein. Handlungsverpflichtungen<br />

für die Betriebsparteien sind beispielsweise aus<br />

dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes<br />

nicht abzuleiten. Auch <strong>der</strong> Qualifizierungsta-<br />

103<br />

rifvertrag Metall/Elektro legt keine Qualitätsnormen<br />

o<strong>der</strong> Ansprüche fest, so dass er von<br />

Betriebsräten oft als ›zahnlos‹ empf<strong>und</strong>en<br />

wird. 9 Die Tarifverträge bieten jedoch Handlungsansätze<br />

für den gesetzlich schwach<br />

geregelten Bereich <strong>der</strong> beruflichen Weiterbildung,<br />

die durch Betriebsvereinbarungen<br />

konkretisiert werden können. Die Umsetzung<br />

von Qualifizierungen hängt von finanziellen<br />

Ressourcen <strong>und</strong> Infrastrukturen in den Betrieben<br />

ab. Daher müssten mehr Tariffonds<br />

aufgelegt <strong>und</strong> öffentliche För<strong>der</strong>programme<br />

genutzt werden. Für die Umsetzung müssten<br />

angemessene Unterstützungsstrukturen<br />

geschaffen werden, damit tarifliche Regelungen<br />

tatsächlich greifen können. Ein Beispiel<br />

dafür ist die Agentur Q <strong>zur</strong> För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

beruflichen Weiterbildung in <strong>der</strong> Metall- <strong>und</strong><br />

Elektroindustrie, die in Baden-Württemberg<br />

gemeinsam von IG Metall <strong>und</strong> Arbeitgeberverband<br />

geführt wird. 10<br />

9 Vgl. Bahnmüller:<br />

Tarifverträge als Instrument<br />

<strong>der</strong> beruflichen<br />

(Weiter-)Bildung in<br />

Deutschland. Workshop-Paper,<br />

S. 14.<br />

10 Vgl. Bahnmüller/<br />

Hoppe: Tarifliche<br />

Qualifizierungsregelungen<br />

<strong>im</strong> öffentlichen<br />

Dienst:<br />

betriebliche Umsetzung<br />

<strong>und</strong> Effekte. In: WSI<br />

Mitteilungen 7/2011.


104<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

In <strong>der</strong> Regel waren Betriebsvereinbarungen<br />

das entscheidende Mitbest<strong>im</strong>mungsinstrument<br />

in Fragen <strong>der</strong> beruflichen Weiterbildung.<br />

11 Vgl. Muscheid, Jörg:<br />

Betriebsrätebefragung<br />

2012. In: <strong>Bericht</strong> <strong>zur</strong><br />

<strong>Lage</strong> <strong>der</strong> <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong><br />

<strong>und</strong><br />

<strong>Arbeitnehmer</strong> <strong>im</strong> <strong>Land</strong><br />

Bremen, S. 136–143.<br />

12 Vgl. Busse: Qualifizierung<br />

in Kurzarbeit bei<br />

ArcelorMittal Bremen.<br />

Hans-Böckler-Stiftung,<br />

2009. Online unter<br />

www.boeckler.de/pdf/<br />

mbf_netzwerke_<br />

fallstudie_arcelor.pdf<br />

Betriebsräteinterviews <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

Im Anschluss an die Betriebsrätebefragung<br />

2012 <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer Bremen 11 wurden<br />

<strong>im</strong> Zeitraum November 2012 bis Februar<br />

2013 zum Thema Aus- <strong>und</strong> Weiterbildung<br />

Experteninterviews mit Betriebsräten geführt.<br />

Die Betriebe, die sich <strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong> Betriebsrätebefragung<br />

zu einem Interview bereit<br />

erklärt hatten, kommen aus den Branchen verarbeitendes<br />

Gewerbe, öffentliche Dienstleistungen,<br />

Handel/Verkehr/Logistik sowie Finanzen<br />

<strong>und</strong> Versicherungen. Sie sind ansässig in Bremen<br />

<strong>und</strong> Bremerhaven. Bis auf eine Ausnahme<br />

sind alle Ausbildungsbetriebe. Da die Interviews<br />

nur in mitbest<strong>im</strong>mten Betrieben <strong>und</strong><br />

vor allem in mittleren <strong>und</strong> großen Betrieben<br />

geführt wurden, ist die Stichprobe nicht repräsentativ<br />

für die Gesamtheit aller bremischen<br />

Betriebe. Im Folgenden werden einige Ergebnisse<br />

aus den Branchen verarbeitendes Gewerbe<br />

<strong>und</strong> öffentliche Dienstleistungen zusammengefasst.<br />

Verarbeitendes Gewerbe<br />

Die Größe <strong>der</strong> drei Mittel- <strong>und</strong> zwei Großbetriebe<br />

variiert stark. Zwei hier nicht anonymisierte<br />

Betriebe sind neben dem öffentlichen<br />

Dienst die beiden größten Arbeitgeber in Bremen:<br />

das Mercedes-Benz-Werk/Da<strong>im</strong>ler mit<br />

r<strong>und</strong> 12.500 <strong>und</strong> ArcelorMittal mit r<strong>und</strong> 3.600<br />

Beschäftigten. Vier Betriebe haben IG-Metall-<br />

Tarifverträge <strong>und</strong> gute Organisationsgrade<br />

zwischen 60 <strong>und</strong> 80 Prozent, ein Betrieb <strong>im</strong><br />

Organisationsbereich <strong>der</strong> NGG hat keinen<br />

Tarifvertrag. In <strong>der</strong> Regel waren Betriebsvereinbarungen<br />

das entscheidende Mitbest<strong>im</strong>mungsinstrument<br />

in Fragen <strong>der</strong> beruflichen Weiterbildung.<br />

In einigen Betrieben waren jährliche Mitarbeitergespräche<br />

verbindlich gemacht worden,<br />

um individuelle Qualifizierungsprofile zu<br />

erstellen. Weiterhin wurde vereinbart, die<br />

Gespräche als Dialog zu gestalten, in dem auch<br />

die Beschäftigten eine Rückmeldung an die<br />

Führungsebene geben können. Diese Regelung<br />

scheint <strong>im</strong> Betrieb ein Kl<strong>im</strong>a zu för<strong>der</strong>n, in<br />

dem die Beschäftigten eigene Weiterbildungsbedarfe<br />

äußern. Im Stahlunternehmen Arcelor-<br />

Mittal sind solche Mitarbeiter-Vorgesetzten-<br />

Gespräche per Betriebsvereinbarung seit Jahren<br />

fest verankert. Aus den individuellen<br />

Qualifizierungsprofilen entwickelt die zentrale<br />

Personalentwicklungsabteilung des Unternehmens<br />

größtenteils innerbetriebliche <strong>und</strong> teils<br />

externe Weiterbildungen. Das Beispiel zeigt,<br />

dass die regelmäßige Erfassung von Qualifizierungsbedarfen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen für eine betriebliche<br />

Weiterbildungsinfrastruktur bietet. ArcelorMittal<br />

Bremen nutzte seine entwickelten<br />

Schulungskonzepte in <strong>der</strong> Kurzarbeitsphase<br />

2008/2009 <strong>zur</strong> Qualifizierung von Beschäftigten<br />

in allen Bereichen <strong>und</strong> war damit eins <strong>der</strong><br />

wenigen Unternehmen in Deutschland, die<br />

während <strong>der</strong> Kurzarbeit systematisch qualifizierten.<br />

In einer Betriebsvereinbarung wurden<br />

die Ziele <strong>der</strong> Arbeitsplatzsicherheit sowie<br />

<strong>der</strong> beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten<br />

für die Beschäftigten verankert. Beschäftigte<br />

<strong>und</strong> Unternehmen profitieren nachhaltig von<br />

<strong>der</strong> aufgebauten Weiterbildungsinfrastruktur,<br />

die auch in Zukunft genutzt werden kann,<br />

wenn eine Reihe von Beschäftigten in Altersteilzeit<br />

gehen <strong>und</strong> jüngere Beschäftigte <strong>im</strong><br />

Gegenzug einen Arbeitsplatz erhalten. 12<br />

Die Kurzarbeiterqualifizierungen während <strong>der</strong><br />

Krise waren ein sinnvolles Instrument <strong>der</strong><br />

Beschäftigungssicherung einerseits <strong>und</strong> dem<br />

Erhalt von wettbewerbsfähigen Unternehmen<br />

an<strong>der</strong>erseits. Allerdings kann die Verwendung<br />

öffentlicher Mittel in so großem Umfang nicht<br />

<strong>zur</strong> Regel werden, wo die Unternehmen selbst<br />

Investitionen in ihre Zukunft tätigen müssten.


105<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Betrieblich erfor<strong>der</strong>liche Schulungen sind<br />

gr<strong>und</strong>legend <strong>und</strong> werden in allen Betrieben<br />

vom Arbeitgeber finanziert. In den großen<br />

Betrieben wird das Jahresprogramm in einem<br />

Ausschuss vorgestellt, in dem auch Betriebsräte<br />

vertreten sind. Themen, die Betriebsräte oft<br />

in die Planung einbringen, sind Ges<strong>und</strong>heit,<br />

Arbeitssicherheit o<strong>der</strong> Vereinbarkeit von Beruf<br />

<strong>und</strong> Familie. In den großen Betrieben, wie<br />

Da<strong>im</strong>ler, kommen fachliche Vorschläge auch<br />

von den Bereichsbetriebsräten. Produktschulungen<br />

o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e betrieblich notwendige<br />

Maßnahmen, wie Schweißen, werden innerbetrieblich<br />

<strong>und</strong> mitunter über unternehmenseigene<br />

Weiterbildungsabteilungen o<strong>der</strong> -einrichtungen<br />

durchgeführt.<br />

Ungleiche Weiterbildungschancen wurden<br />

vor allem in Bezug auf Betriebshierarchien thematisiert.<br />

Bei zwei mittelgroßen Betrieben<br />

bestehen konstant Schieflagen. Es würden zwar<br />

ausreichend Mittel in Führungskräfteentwicklung<br />

investiert, doch betriebliche Schulungen<br />

für an<strong>der</strong>e Beschäftigtengruppen seien oft<br />

wenig nachhaltig, weil Stellen in <strong>der</strong> Produktion<br />

unterbesetzt seien. Notwendige Maßnahmen,<br />

wie die Einarbeitung in neue Anlagen,<br />

würden in produktionsintensiven Phasen auf<br />

einen zu kleinen Kreis von Beschäftigten<br />

beschränkt. Auch bei ArcelorMittal seien Basisschulungen<br />

in <strong>der</strong> Produktion aufgr<strong>und</strong> von<br />

personellen Engpässen aktuell in den Hintergr<strong>und</strong><br />

getreten. Leiharbeitnehmer nehmen an<br />

allgemeinen Kurzschulungen nur dann teil,<br />

wenn sie länger in einem Bereich arbeiten. Von<br />

Weiterbildungen sind sie in <strong>der</strong> Regel ausgeschlossen.<br />

Das Arbeitsagentur-Programm WeGebAU<br />

<strong>zur</strong> För<strong>der</strong>ung abschlussbezogener Qualifizierungen<br />

für An- <strong>und</strong> Ungelernte <strong>und</strong> Ältere, ist<br />

noch von keinem <strong>der</strong> Betriebe genutzt worden,<br />

obwohl Bedarf besteht. Da<strong>im</strong>ler <strong>und</strong> Arcelor-<br />

Mittal haben schätzungsweise fünf bis acht<br />

Prozent, meist ältere, un- <strong>und</strong> angelernte<br />

Beschäftigte in <strong>der</strong> Produktion. Viele müssten<br />

für alternsgerechte Arbeitsplätze außerhalb<br />

<strong>der</strong> taktgeb<strong>und</strong>enen Schichtarbeit am Band<br />

qualifiziert werden. Die Themen demografischer<br />

Wandel, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Beschäftigungssicherung<br />

hängen oft zusammen. In dem<br />

mittelgroßen Betrieb <strong>im</strong> NGG-Organisationsbereich<br />

beispielsweise sind alternsgerechte<br />

Arbeitsbereiche für Un- <strong>und</strong> Angelernte ausgelagert.<br />

Der Betriebsrat arbeitet daher an Konzepten<br />

<strong>zur</strong> Qualifizierung von Produktionsmitarbeitern<br />

für den kaufmännischen Bereich,<br />

damit auch ges<strong>und</strong>heitlich beeinträchtigte<br />

Beschäftigte <strong>im</strong> Betrieb gehalten werden können.<br />

Bei Da<strong>im</strong>ler existiert die Arbeitsgruppe<br />

›Demografischen Wandel gestalten‹ bereits seit<br />

2004, da Bremen das ›älteste‹ Mercedes-Werk<br />

in Deutschland ist. Aus Analysen zum zukünftigen<br />

Fachkräftebedarf entstanden Projekte<br />

wie die Erwachsenenqualifizierung für die<br />

Ausbildung zum Werkzeugmacher. Die Personalabteilung<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Betriebsrat suchen<br />

für dieses Pilotprojekt vier Bewerber zwischen<br />

40 <strong>und</strong> 50 Jahren. Diese hatten ursprünglich<br />

Werkzeugmacher o<strong>der</strong> Industriemechaniker<br />

erlernt, haben jedoch jahrelang am Band<br />

gearbeitet. Diese Gruppe bekam nun die<br />

Chance, von <strong>der</strong> körperlich belastenden Arbeit<br />

am Band in den Bereich Werkzeugmechanik<br />

zu wechseln. Auch bei ArcelorMittal wurden<br />

in den vergangenen Jahren etwa 70 Beschäftigte<br />

berufsbegleitend zum Verfahrensmechaniker<br />

ausgebildet. Solche Pilotprojekte müssen<br />

in großen Betrieben ausgeweitet <strong>und</strong> wo<br />

möglich, <strong>im</strong> Verb<strong>und</strong> mit kleineren Betrieben<br />

durchgeführt werden.


106<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Angebote für (zukünftige) Führungskräfte<br />

gab es in allen Betrieben, von Führungskräfteschulungen<br />

bis hin zu systematischen Entwicklungsprogrammen.<br />

In den Großbetrieben<br />

werden Anreize für ein (berufsbegleitendes)<br />

o<strong>der</strong> Vollzeitstudium gesetzt. Finanzielle<br />

Unterstützung ist allerdings selten <strong>und</strong> muss<br />

individuell ausgehandelt werden. Meister- <strong>und</strong><br />

Technikerfortbildungen finanzieren die<br />

Beschäftigten selbst. Nach <strong>der</strong> Aufstiegsfortbildung<br />

zum Meister gehen allerdings viele<br />

<strong>zur</strong>ück ans Band, wenn Plätze <strong>im</strong> Meisterentwicklungsprogramm<br />

von Da<strong>im</strong>ler <strong>und</strong><br />

entsprechende Stellen belegt sind. Frauen werden<br />

bei Da<strong>im</strong>ler beson<strong>der</strong>s ermutigt, sich als<br />

Meisterinnen zu qualifizieren. Das Ziel ist<br />

eine Meisterinnenquote von fünf Prozent. Bei<br />

ArcelorMittal gibt es ähnliche Unterstützungsstrukturen<br />

für Studium <strong>und</strong> Fortbildung,<br />

doch auch hier ist <strong>der</strong> Wechsel in eine adäquate<br />

Stelle nicht garantiert.<br />

Öffentliche Dienstleistungen<br />

Unter den befragten fünf Betrieben waren vier<br />

Non-Profit-Organisationen: Ein Kleinbetrieb,<br />

drei Mittelbetriebe <strong>und</strong> ein Großbetrieb (ein<br />

Krankenhaus). Alle Betriebe gehören nicht<br />

(mehr) <strong>zur</strong> öffentlichen Verwaltung, sind<br />

jedoch <strong>im</strong> Organisationsbereich von ver.di. Die<br />

tarifvertraglichen Regelungen entsprechen<br />

denen des öffentlichen Dienstes.<br />

In dem Krankenhaus <strong>und</strong> einem weiteren<br />

großen Betrieb werden regelmäßig betrieblich<br />

finanzierte fachliche Schulungen <strong>im</strong> technischen<br />

Pflege- o<strong>der</strong> Verwaltungsbereich<br />

angeboten, die auch vom Betriebsrat <strong>und</strong> den<br />

Beschäftigten mitinitiiert werden. In an<strong>der</strong>en<br />

Betrieben werden nach Einschätzung <strong>der</strong><br />

Betriebsräte nur noch die gesetzlich verordneten<br />

Schulungen durchgeführt, etwa <strong>im</strong> Bereich<br />

Erste Hilfe o<strong>der</strong> gr<strong>und</strong>legende Arbeitssicherheit.<br />

Im Zusammenhang mit Mittelkürzungen<br />

<strong>und</strong> Stellenabbau verhin<strong>der</strong>n, so die befragten<br />

Betriebsräte, Arbeitsverdichtung <strong>und</strong> Zeitmangel<br />

Möglichkeiten von Weiterbildung <strong>und</strong><br />

Organisationsentwicklung. Selbst unbezahlte<br />

Freistellungen für individuelle Fort- <strong>und</strong><br />

Weiterbildungen werden auch in den größeren<br />

Betrieben zunehmend schwieriger. Im Krankenhaus<br />

werden nach individueller Vereinbarung<br />

teilweise fachliche Aufstiegsfortbildungen<br />

kofinanziert.


107<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Aufstiegsmöglichkeiten sind allerdings auch<br />

hier unsicher, zum Teil aufgr<strong>und</strong> mangeln<strong>der</strong><br />

Personalplanung. In Betrieben, wo Aufstiegsmöglichkeiten<br />

gänzlich fehlten, beschrieben<br />

die Betriebsräte die Situation als frustrierend<br />

<strong>und</strong> demotivierend für die Beschäftigten. Auch<br />

<strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong> Betriebsrätebefragung <strong>der</strong><br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>kammer 2012 gaben die Betriebsräte<br />

an, dass die eigene berufliche Weiterentwicklung<br />

(84 Prozent) sowie bessere Aufstiegs<strong>und</strong><br />

Verdienstmöglichkeiten (56 Prozent) die<br />

stärksten Anreize für berufliche Weiterbildung<br />

sind. Vermehrt müssen also ›Sackgassenbereiche‹<br />

in Betrieben identifiziert <strong>und</strong> Perspektiven<br />

geschaffen werden, damit Beschäftigte<br />

Zeit, Geld <strong>und</strong> Energie in Bildung investieren.<br />

Für Un- <strong>und</strong> Angelernte gibt es in den befragten<br />

Betrieben wenig o<strong>der</strong> keine Qualifizierungen<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Ressourcenmangel <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Dienstleistungen wird hier beson<strong>der</strong>s<br />

deutlich.<br />

In allen Interviews wurde die alternde<br />

Belegschaft <strong>im</strong> Betrieb problematisiert. In<br />

den größeren Betrieben sind zu dem Thema<br />

Arbeitsgruppen entstanden, die allerdings<br />

noch am Anfang stehen <strong>und</strong> auf wenig personelle<br />

Ressourcen <strong>zur</strong>ückgreifen können. Im<br />

Krankenhaus gab es einzelne Umschulungen<br />

ges<strong>und</strong>heitlich beeinträchtigter Pflegekräfte,<br />

die anschließend <strong>im</strong> Verwaltungsbereich<br />

weiterbeschäftigt wurden. Einige Betriebsräte<br />

sahen allerdings kaum Möglichkeiten <strong>zur</strong><br />

Gestaltung des demografischen Wandels durch<br />

Um- o<strong>der</strong> Weiterqualifizierungen, weil keine<br />

alternsgerechten Arbeitsplätze <strong>zur</strong> Verfügung<br />

stehen. Die Belastungen würden von den<br />

Beschäftigten einfach hingenommen, weil<br />

sonst <strong>der</strong> Verlust des Arbeitplatzes drohe. Hier<br />

sind auch <strong>Land</strong> <strong>und</strong> Kommunen aufgerufen,<br />

ihre ausgelagerten Betriebe zu unterstützen<br />

<strong>und</strong> beispielhafte Konzepte für die Bewältigung<br />

des demografischen Wandels zu entwickeln.


108<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Perspektivwechsel in Bremen<br />

Von Integration zu Vielfalt <strong>und</strong> Partizipation<br />

T H O M A S S C H W A R Z E R<br />

1 In <strong>der</strong> Stadtgemeinde<br />

Bremen nennen in den<br />

öffentlichen Schulen<br />

37 Prozent <strong>der</strong><br />

Schüler/innen mit<br />

›Migrationshintergr<strong>und</strong>‹<br />

Türkisch als ihre Muttersprache,<br />

15 Prozent<br />

Russisch <strong>und</strong> 7 Prozent<br />

Arabisch, aber auch<br />

Deutsch (6 Prozent),<br />

Polnisch (5 Prozent) <strong>und</strong><br />

Kurdisch (4 Prozent). In<br />

Bremerhaven geben die<br />

Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen<br />

mit ›Migrationshintergr<strong>und</strong>‹<br />

hingegen zu<br />

26 Prozent Russisch als<br />

Muttersprache an, 25<br />

Prozent Türkisch <strong>und</strong><br />

18 Prozent Deutsch,<br />

aber auch Polnisch (6<br />

Prozent) <strong>und</strong> Portugiesisch<br />

(4 Prozent).<br />

Das Schwerpunktthema des <strong>Bericht</strong>s <strong>zur</strong><br />

sozialen <strong>Lage</strong> hat sich 2012 den Migrantinnen<br />

<strong>und</strong> Migranten <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen gewidmet.<br />

Ihre Arbeits- <strong>und</strong> Lebenssituationen sind<br />

mittlerweile so vielfältig, dass es nicht mehr<br />

sinnvoll ist, von den Deutschen hier <strong>und</strong> den<br />

Migranten dort zu sprechen. In Bremen <strong>und</strong><br />

Bremerhaven hat heute mehr als ein Viertel<br />

<strong>der</strong> Bewohnerinnen <strong>und</strong> Bewohner einen<br />

sogenannten Migrationshintergr<strong>und</strong>, bei den<br />

Gr<strong>und</strong>schülern trifft dies sogar auf fast die<br />

Hälfte zu. Alle gemeinsam leben wir in einer<br />

vielfältigen Stadtgesellschaft, die sich aus<br />

Menschen verschiedener Herkunft zusammensetzt.<br />

Die soziale <strong>Lage</strong> <strong>der</strong> Migrantinnen <strong>und</strong><br />

Migranten wurde für den <strong>Bericht</strong> 2012 auch<br />

deshalb als Thema ausgewählt, weil kaum<br />

ein gesellschaftliches Thema <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> so<br />

hitzig <strong>und</strong> kontrovers in <strong>der</strong> Politik <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit debattiert wird. Diese Debatten<br />

werden häufig mit pauschalen Zuschreibungen,<br />

Vorurteilen <strong>und</strong> Populismus geführt.<br />

Schon um die Verwendung <strong>der</strong> ›richtigen‹<br />

Begriffe wird intensiv gestritten. Zum Beispiel<br />

um das korrekte Wort für jene Menschen,<br />

<strong>der</strong>en Eltern o<strong>der</strong> die selbst aus einem an<strong>der</strong>en<br />

<strong>Land</strong> nach Deutschland <strong>und</strong> Bremen gekommen<br />

sind.<br />

¢Begriffswirrwarr<br />

❚ Gastarbeiter/innen ❚ Auslän<strong>der</strong>/innen<br />

❚ Aussiedler/innen ❚ Einwan<strong>der</strong>er ❚ Zugewan<strong>der</strong>te<br />

❚ Migranten/innen ❚ Fremde ❚ Nichtdeutsche<br />

❚ Eingebürgerte ❚ Zweihe<strong>im</strong>ische ❚ Menschen mit<br />

familiärer Migrationsgeschichte ❚ Schüler/innen<br />

mit Migrationshinweis ❚ Bewohner/innen mit<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

In Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven hatten 2010 von<br />

den 660.000 Bewohnerinnen <strong>und</strong> Bewohnern<br />

184.000 einen Migrationshintergr<strong>und</strong> (27,8<br />

Prozent). Weit über die Hälfte von ihnen sind<br />

deutsche Staatsbürger (100.000). Und von allen<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen lebenden Menschen, die<br />

als Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

gezählt werden, ist fast ein Drittel in Deutschland<br />

geboren (53.000) <strong>und</strong> hat selbst keine<br />

Migrationserfahrung. Im Vergleich mit den<br />

deutschen Großstädten liegt die Stadt Bremen<br />

mit r<strong>und</strong> 28 Prozent bei den Menschen mit<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong> <strong>im</strong> ›Mittelfeld‹. Die<br />

höchsten Anteile an Bewohnerinnen <strong>und</strong><br />

Bewohnern mit Migrationshintergr<strong>und</strong> haben<br />

Stuttgart (40 Prozent), Frankfurt am Main<br />

(39 Prozent), Nürnberg (39 Prozent) <strong>und</strong> München<br />

(36 Prozent).<br />

Sprachenvielfalt <strong>und</strong> Sprachför<strong>der</strong>ung –<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung für Kitas <strong>und</strong> Schulen<br />

Die beson<strong>der</strong>e Vielfalt durch die verschiedenen<br />

Herkunftslän<strong>der</strong> <strong>und</strong> Erfahrungen wird <strong>im</strong><br />

<strong>Land</strong> Bremen beson<strong>der</strong>s bei den Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong><br />

Jugendlichen deutlich. Im Kin<strong>der</strong>gartenalter<br />

wird bei 47 Prozent ein familiärer ›Migrationshintergr<strong>und</strong>‹<br />

gezählt, <strong>im</strong> Schulalter bei 42<br />

Prozent. Mit entsprechend vielen unterschiedlichen<br />

Muttersprachen 1 kommen die Kin<strong>der</strong><br />

<strong>und</strong> Jugendlichen in die Bremer Betreuungs<strong>und</strong><br />

Bildungseinrichtungen. Je nachdem, in<br />

welchem Ortsteil eine Schule liegt, wie hoch<br />

dort <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler<br />

mit ›Migrationshintergr<strong>und</strong>‹ ist <strong>und</strong> aus welchen<br />

Herkunftslän<strong>der</strong>n die Familien kommen,<br />

sind unterschiedlich viele Muttersprachen<br />

verbreitet. Lediglich in einer Bremer Schule ist<br />

Deutsch die einzige Muttersprache, an drei<br />

weiteren Schulen sind neben Deutsch lediglich<br />

zwei weitere Muttersprachen vorhanden.<br />

Dagegen gibt es an 56 Schulen 11 bis 15 ver-


109<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Abb. 1: Zahl <strong>der</strong> öffentlichen allgemeinbildenden Schulen nach Anzahl <strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Schule erfassten Muttersprachen <strong>der</strong> Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler, Schuljahr 2009/10<br />

Zahl <strong>der</strong> Schulen<br />

Stadt Bremen<br />

Zahl <strong>der</strong> Schulen<br />

Bremerhaven<br />

36<br />

8<br />

5<br />

1<br />

43<br />

11<br />

bis zu 5 Muttersprachen<br />

6 bis 10 Muttersprachen<br />

56<br />

11 bis 15 Muttersprachen<br />

mehr als 15 Muttersprachen<br />

17<br />

Quelle: Autorenteam Bildungsberichterstattung Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven 2012, S. 180<br />

schiedene Muttersprachen <strong>und</strong> an weiteren<br />

36 Schulen mehr als 15 Muttersprachen.<br />

Es gibt sogar eine Schule, an <strong>der</strong> die Schülerschaft<br />

26 Muttersprachen spricht.<br />

Angesichts dieser Sprachvielfalt wird in<br />

den Bremer Kin<strong>der</strong>tagesstätten <strong>und</strong> Schulen<br />

<strong>der</strong>zeit wie<strong>der</strong> intensiv über Sprachför<strong>der</strong>ung<br />

diskutiert. Neben den aktuellen bildungspolitischen<br />

›Baustellen‹ <strong>der</strong> Inklusion <strong>und</strong> des<br />

ganztägigen Lernens, muss auch die Sprachför<strong>der</strong>ung<br />

neu ausgerichtet <strong>und</strong> erheblich<br />

intensiviert werden. Nicht allein aus sozial-,<br />

bildungs- <strong>und</strong> integrationspolitischen Erfor<strong>der</strong>nissen,<br />

son<strong>der</strong>n auch aus ausbildungs- <strong>und</strong><br />

arbeitsmarktpolitischen Erwägungen.<br />

Diese Herausfor<strong>der</strong>ungen müssen benannt<br />

werden, sie sollten aber nicht den Blick verstellen<br />

auf die positiven Entwicklungen, gerade<br />

<strong>im</strong> Bildungsbereich. Denn mittlerweile<br />

schließen zwei Drittel <strong>der</strong> Schülerinnen <strong>und</strong><br />

Schüler mit Migrationshinweis <strong>im</strong> <strong>Land</strong><br />

Bremen ihre Schulzeit mit <strong>der</strong> mittleren Reife<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Hochschulreife ab. Selbstverständlich<br />

zeigen die nachfolgend abgebildeten Zahlen,<br />

dass <strong>im</strong> Schuljahr 2009/2010 <strong>im</strong>mer noch viel<br />

zu wenige Kin<strong>der</strong> mit einem Migrationshinweis<br />

Abitur machen (nicht ganz ein Viertel).<br />

Die Zahlen zeigen auch die starke soziale<br />

Spaltung <strong>der</strong> Bildungswege. Denn eine viel zu<br />

große Anzahl von Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern<br />

mit einem Migrationshinweis beendet ohne<br />

Abschluss ihre Schulzeit (10 Prozent) <strong>und</strong> weitere<br />

acht Prozent lediglich mit einer einfachen<br />

Berufsbildungsreife. Das bedeutet, dass sich<br />

fast jede/r fünfte Schüler/in mit einem Migrationshinweis<br />

mit ausgesprochen schlechten<br />

Chancen auf die Suche nach einem Ausbildungsplatz<br />

machen muss o<strong>der</strong> nach einer<br />

häufig prekären Beschäftigung. Denn viele<br />

Unternehmen übergehen Bewerber selbst mit<br />

Haupt- o<strong>der</strong> Realschulabschlüssen o<strong>der</strong> aufgr<strong>und</strong><br />

eines ausländisch klingenden Namens.<br />

Gleichzeitig stellt die große Mehrheit <strong>der</strong><br />

Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler mit einem Migrationshinweis,<br />

die einen Realschulabschluss o<strong>der</strong><br />

das Abitur erwerben, diejenigen Fachkräfte,<br />

nach denen die Unternehmen so intensiv<br />

suchen. Doch ein zu großer Anteil scheitert an<br />

Vorurteilen <strong>und</strong> nicht an seinen fehlenden<br />

Qualifikationen.


110<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Abb. 2: Schulabsolventinnen <strong>und</strong> -absolventen<br />

mit Migrationshintergr<strong>und</strong> nach Schulabschlüssen<br />

2009, <strong>Land</strong> Bremen, in Prozent<br />

allgemeine Hochschulreife (Abitur)<br />

mittlerer Schulabschluss<br />

erweiterte Berufsbildungsreife<br />

einfache Berufsbildungsreife<br />

ohne Abschluss<br />

6,4<br />

8,0<br />

21,2<br />

19,5<br />

11,8<br />

6,1<br />

10,2<br />

33,1<br />

41,1<br />

20 40<br />

ohne Migrationshintergr<strong>und</strong> mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

Quelle: Autorenteam Bildungsberichterstattung<br />

Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven 2012, S. 277<br />

42,5<br />

60<br />

Teilhabe durch Erwerbsarbeit in Bremen<br />

Ob Integration <strong>und</strong> Teilhabe tatsächlich gelingen,<br />

dafür werden vor allem <strong>im</strong> Bildungssystem<br />

entscheidende ›Weichen‹ gestellt. Entschieden<br />

wird über gelingende Integration<br />

<strong>und</strong> Teilhabe aber vor allem auf den regionalen<br />

Arbeitsmärkten. Über ein Viertel <strong>der</strong><br />

erwerbsfähigen Menschen, die in Bremen <strong>und</strong><br />

Bremerhaven leben, haben mittlerweile einen<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong>. Das sind r<strong>und</strong> 115.000<br />

Bremerinnen <strong>und</strong> Bremer. Ihre beruflichen<br />

Biografien sind ebenfalls vielfältig: Erfolgreich<br />

<strong>und</strong> hoch identifiziert mit ihrem Beruf o<strong>der</strong><br />

auch am Ha<strong>der</strong>n mit schlechten Jobs <strong>und</strong><br />

mangelnden Möglichkeiten. Genaue Zahlen zu<br />

den Erwerbstätigen mit ›Migrationshintergr<strong>und</strong>‹<br />

liegen für das <strong>Land</strong> Bremen nicht vor.<br />

Die B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit will erst <strong>im</strong><br />

nächsten Jahr dieses statistische Merkmal<br />

erstmals ausweisen. Deshalb kann lediglich für<br />

die Auslän<strong>der</strong>innen <strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong> Näheres zu<br />

ihrer Arbeitsmarktintegration gesagt werden.<br />

Sie müssen sich auch in Bremen auf einem<br />

gespaltenen Arbeitsmarkt <strong>zur</strong>echtfinden.<br />

Dabei muss außerdem berücksichtigt werden,<br />

dass ein Teil <strong>der</strong> Auslän<strong>der</strong>innen <strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong><br />

aufgr<strong>und</strong> ihres Aufenthaltsstatus keine<br />

o<strong>der</strong> lediglich eine eingeschränkte Arbeitserlaubnis<br />

erlangen kann <strong>und</strong> über begrenzte<br />

Zugänge zu den sozialen Sicherungssystemen<br />

verfügt. Die Erwerbsintegration <strong>der</strong> Auslän<strong>der</strong>innen<br />

<strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong>, anhand <strong>der</strong> vorliegenden<br />

statistischen Daten, zeigt dadurch das folgende<br />

Muster, beruhend auf vier Standbeinen:<br />

❚ Fast 20.000 Auslän<strong>der</strong>innen <strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong> <strong>im</strong> <strong>Land</strong><br />

Bremen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt,<br />

r<strong>und</strong> 12.000 Männer <strong>und</strong> nicht ganz 8.000 Frauen.<br />

Ihre Zahl ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich<br />

gestiegen <strong>und</strong> sie verfügen über eine soli<strong>der</strong>e<br />

soziale Absicherung als die an<strong>der</strong>en Gruppen.<br />

Dennoch sind sie vor allem in Wirtschaftssektoren<br />

beschäftigt, in denen Niedriglöhne <strong>und</strong> flexible<br />

Arbeitszeiten (auch Wochenendarbeit) weit verbreitet<br />

sind: <strong>im</strong> Groß- <strong>und</strong> Einzelhandel, in <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>überlassung,<br />

in <strong>der</strong> Logistik/<strong>Lage</strong>rei, Verkehr<br />

<strong>und</strong> Kurierdiensten, in <strong>der</strong> Gastronomie <strong>und</strong> <strong>im</strong><br />

Gebäudeservice.<br />

❚ R<strong>und</strong> weitere 8.500 Auslän<strong>der</strong>innen <strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong><br />

sind geringfügig beschäftigt, fast 4.000 Männer <strong>und</strong><br />

4.500 Frauen. Ihre Anzahl ist in den vergangenen<br />

Jahren ebenfalls kontinuierlich angestiegen, während<br />

die Zahl <strong>der</strong> geringfügig beschäftigten Deutschen<br />

stagniert. Diese Auslän<strong>der</strong>innen <strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong> sind<br />

ausgesprochen schlecht sozial abgesichert, zumal sie<br />

ebenfalls vor allem in Wirtschaftssektoren beschäftigt<br />

sind, in denen Niedriglöhne weit verbreitet sind:<br />

<strong>im</strong> Gebäudeservice, in <strong>der</strong> Gastronomie, <strong>im</strong> Einzelhandel<br />

<strong>und</strong> <strong>im</strong> Bereich persönlicher Dienstleistungen<br />

beziehungsweise als Hauspersonal.<br />

❚ Ein drittes Standbein sind Auslän<strong>der</strong>innen <strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong>,<br />

die sich selbstständig gemacht haben. Dieser<br />

Weg hat in den vergangenen Jahren durch die<br />

schwierige <strong>Lage</strong> auf den regionalen Arbeitsmärkten,<br />

wie in Bremen, an Bedeutung gewonnen. Eine Fallstudie<br />

zum Bremer Stadtteil Gröpelingen zeigt, dass<br />

zwei Drittel <strong>der</strong> dortigen Selbstständigen materiell<br />

relativ stabil wirtschaften, ein Drittel sich jedoch in<br />

prekären Einkommenssituationen befindet. Es wird<br />

geschätzt, dass <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen etwa 9.000 Auslän<strong>der</strong>innen<br />

<strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong> als Selbstständige tätig<br />

sind.<br />

❚ Weitere 8.000 Auslän<strong>der</strong>innen <strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong> sind<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen als arbeitslos gemeldet, r<strong>und</strong><br />

7.200 beziehen Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch<br />

(Hartz IV) <strong>und</strong> r<strong>und</strong> 800 nach dem<br />

dritten Sozialgesetzbuch (Arbeitslosengeld).


111<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Die Zahlen <strong>zur</strong> Armut <strong>und</strong> <strong>zur</strong> Arbeitslosigkeit verweisen<br />

auf massive Folgeprobleme für die Bildungschancen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

<strong>und</strong> Jugendlichen <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen.<br />

Diese insgesamt prekäre Arbeitsmarktintegration<br />

<strong>der</strong> Auslän<strong>der</strong>innen <strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong> <strong>im</strong><br />

<strong>Land</strong> Bremen zeigt sich zugespitzt in ihrer<br />

beson<strong>der</strong>en Armutsproblematik: 48 Prozent<br />

aller Auslän<strong>der</strong>innen <strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong> galten <strong>im</strong><br />

Jahr 2011 als armutsgefährdet, aber auch 40<br />

Prozent aller Menschen mit einem Migrationshintergr<strong>und</strong>.<br />

Die für einen erheblichen Teil<br />

<strong>der</strong> Auslän<strong>der</strong>innen <strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong> schwierige<br />

<strong>Lage</strong> auf dem Arbeitsmarkt wird meistens mit<br />

ihrem niedrigen Qualifikationsniveau erklärt.<br />

Tatsächlich gibt es aber weitere Ursachen:<br />

❚ Die formale Anerkennung von <strong>im</strong> Ausland<br />

erworbenen Qualifikationen ist in Deutschland<br />

mit beson<strong>der</strong>en Schwierigkeiten verb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> soll erst jetzt verbessert werden.<br />

❚ Viele Unternehmen übergehen Bewerberinnen<br />

<strong>und</strong> Bewerber mit Haupt- o<strong>der</strong> Realschulabschluss<br />

o<strong>der</strong> diskr<strong>im</strong>inieren sie aufgr<strong>und</strong> eines ausländisch<br />

klingenden Namens. Leistungen werden entwertet,<br />

nur weil sie von Migranten erbracht wurden.<br />

Die Zahlen <strong>zur</strong> Armut <strong>und</strong> <strong>zur</strong> Arbeitslosigkeit<br />

verweisen auf massive Folgeprobleme für die<br />

Bildungschancen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen. Ein vergleichsweise hoher<br />

Anteil von deutschen <strong>und</strong> migrantischen<br />

Eltern ist erwerbslos, hat einen niedrigen Bildungsstand<br />

<strong>und</strong> lebt in Armut. 42 Prozent<br />

aller Kin<strong>der</strong> wachsen in Bremen mit mindes-<br />

tens einer dieser Risiken auf, 12,1 Prozent sogar<br />

mit allen drei Risiken. Das führt zu<br />

schlechten Startchancen, die bisher in den<br />

Bremer Betreuungseinrichtungen <strong>und</strong> Schulen<br />

nicht hinreichend ausgeglichen werden. Insbeson<strong>der</strong>e<br />

in jenen Stadtquartieren, in denen<br />

ein hoher Anteil <strong>der</strong> Familien in materieller<br />

Armut lebt, können ihre Kin<strong>der</strong> nicht die Bildungs-<br />

<strong>und</strong> Lebenswege einschlagen, die für<br />

sie möglich wären: weil es die Einkommen <strong>der</strong><br />

Eltern nicht zulassen, aber auch, weil die<br />

extreme Bremer Haushaltsnotlage einer opt<strong>im</strong>alen<br />

Kin<strong>der</strong>betreuung <strong>und</strong> exzellenten Schulen<br />

<strong>im</strong> Wege steht.<br />

Eine neue Phase <strong>der</strong> Bremer<br />

Integrations- <strong>und</strong> Partizipationspolitik?<br />

Bereits kurz nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />

begann in Bremen mit dem 1991 neu gegründeten<br />

Ressort für Kultur <strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong>integration<br />

eine neue Phase <strong>der</strong> Integrationspolitik.<br />

Die neuen Regelungen zum Staatsbürgerschaftsrecht<br />

<strong>im</strong> Jahr 2000 führten zu<br />

dem Beschluss, in einer <strong>Land</strong>eskonzeption<br />

Gr<strong>und</strong>sätze, Leitlinien <strong>und</strong> Handlungsempfehlungen<br />

für die bremische Integrationspolitik<br />

zu entwickeln. Diese Konzeption bildete die<br />

Gr<strong>und</strong>lage für das erste Bremer Integrationskonzept<br />

(2003 bis 2007), dem ein zweites<br />

Integrationskonzept (2007 bis 2011) folgte.<br />

Abb. 3:<br />

Beschäftigungssituation <strong>der</strong> Auslän<strong>der</strong>innen <strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong> <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

19.589<br />

sozialversicherungspflichtige<br />

beschäftigte Auslän<strong>der</strong>/ innen<br />

12.198<br />

ca. 9.000<br />

ausländische Bevölkerung<br />

<strong>Land</strong> Bremen 2011: 84.000<br />

4.437<br />

7.391<br />

insgesamt r<strong>und</strong> 45.000<br />

ausländische Erwerbstätige<br />

selbstständige<br />

Auslän<strong>der</strong>/innen<br />

8.073<br />

Arbeitslose arbeitslose<br />

Auslän<strong>der</strong>/innen<br />

8.324<br />

geringfügig entlohnte<br />

Auslän<strong>der</strong>/innen<br />

3.887<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit, Statistik-Service Nordost, eigene Darstellung<br />

Frauen<br />

Männer


112<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Die beson<strong>der</strong>e Vielfalt durch die verschiedenen<br />

Herkunftslän<strong>der</strong> <strong>und</strong> Erfahrungen wird <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

beson<strong>der</strong>s bei den Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen deutlich.<br />

2 Es ist weiterhin für die<br />

Aufnahme <strong>und</strong> Versorgung<br />

von Asylbewerbern,<br />

Flüchtlingen, Spätaussiedlern<br />

<strong>und</strong> Kontingentflüchtlingen<br />

zuständig<br />

sowie für Leistungen<br />

nach dem Asylbewerberleistungsgesetz,<br />

für<br />

die För<strong>der</strong>ung von Migrationsberatungsstellen,<br />

für die Selbsthilfeför<strong>der</strong>ung<br />

<strong>und</strong> für die Härtefallkommission.<br />

In diesen Integrationskonzepten wurden die<br />

vielfältigen Projekte <strong>und</strong> Initiativen zusammenfassend<br />

dargestellt <strong>und</strong> in einen konzeptionellen<br />

Rahmen mit Handlungsempfehlungen<br />

gestellt. Das zweite Integrationskonzept<br />

entstand parallel zum Nationalen Integrationsplan<br />

2007, in dem die 16 B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong> in<br />

Form von Selbstverpflichtungen mit dem B<strong>und</strong><br />

gemeinsame integrationspolitische Leitlinien<br />

<strong>und</strong> ein koordiniertes Vorgehen verabredeten.<br />

Seit dem zweiten Integrationskonzept zielt<br />

die Bremer Integrationspolitik nicht allein auf<br />

die strukturelle <strong>und</strong> soziale Integration von<br />

Migrantinnen <strong>und</strong> Migranten. Orientiert an<br />

dem Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> interkulturellen Öffnung<br />

sollen sich auch die städtischen Institutionen<br />

<strong>und</strong> sozialen Dienste öffnen. Integration wird<br />

damit als Prozess wechselseitiger Öffnung<br />

betrachtet. Als ein wichtiger ›Baustein‹ für die<br />

Stärkung <strong>der</strong> Bremer Integrationspolitik hat<br />

sich <strong>der</strong> <strong>im</strong> Dezember 2004 gebildete Rat<br />

für Integration erwiesen. Trotz <strong>der</strong> üblichen<br />

Konkurrenz zwischen einzelnen Gruppen <strong>und</strong><br />

Nationalitäten <strong>im</strong> Bremer Rat konnte er seine<br />

Arbeit über die Jahre verstetigen <strong>und</strong> professionalisieren.<br />

Zum Beispiel startete er <strong>zur</strong><br />

Bürgerschaftswahl 2011 eine erfolgreiche<br />

Kampagne, um möglichst viele Bremerinnen<br />

<strong>und</strong> Bremer mit einer Migrationsgeschichte<br />

<strong>zur</strong> Teilnahme an <strong>der</strong> Wahl zu motivieren.<br />

Aktuell hat <strong>der</strong> Bremer Rat für Integration<br />

einen eigenen Büroraum <strong>im</strong> Gebäude <strong>der</strong> Bürgerschaft<br />

bezogen (<strong>im</strong> ›Europa-Punkt‹). Erstmals<br />

konnte, <strong>zur</strong> Unterstützung <strong>und</strong> Koordination<br />

<strong>der</strong> <strong>im</strong>mer umfangreicher werdenden<br />

ehrenamtlichen Arbeit, eine eigene Verwaltungskraft<br />

eingestellt werden.<br />

Insgesamt ist es in den vergangenen Jahren<br />

durch die geschil<strong>der</strong>ten Entwicklungen in Bremen,<br />

in <strong>der</strong> B<strong>und</strong>espolitik <strong>und</strong> auch durch<br />

öffentliche Debatten zu einer deutlichen Aufwertung<br />

<strong>der</strong> Integrationspolitik gekommen.<br />

Einen weiteren, starken Rückenwind hat die<br />

Bremer Integrationspolitik aber vor allem<br />

durch das neue Wahlrecht bei <strong>der</strong> Bürgerschaftswahl<br />

2011 erhalten. Dadurch bestand<br />

die Möglichkeit, mit seinen St<strong>im</strong>men nicht<br />

allein Parteilisten, son<strong>der</strong>n gezielt auch Kandidatinnen<br />

<strong>und</strong> Kandidaten – selbst von hinteren<br />

Plätzen – durch eine Konzentration <strong>der</strong> St<strong>im</strong>men<br />

zu wählen. Das führte dazu, dass erheblich<br />

mehr Kandidatinnen <strong>und</strong> Kandidaten mit<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong> als jemals zuvor <strong>und</strong><br />

auch mehr als in an<strong>der</strong>en Stadt- <strong>und</strong> <strong>Land</strong>esparlamenten<br />

in die Bremische Bürgerschaft<br />

eingezogen sind. Aktuell ist die Bremische Bürgerschaft<br />

das Parlament in Deutschland mit<br />

den meisten Abgeordneten mit einer familiären<br />

Migrationsgeschichte. Diese durch die<br />

Wählerinnen <strong>und</strong> Wähler forcierte Öffnung<br />

<strong>der</strong> politischen Parteien <strong>und</strong> des parlamentarischen<br />

Betriebs hat zu einem erheblichen<br />

Schub an politischen <strong>und</strong> parlamentarischen<br />

Initiativen <strong>und</strong> Debatten um Integration, Partizipation<br />

<strong>und</strong> Migration geführt. Diese folgenreichen<br />

Entwicklungen in Bremen, die sich<br />

auch in an<strong>der</strong>en deutschen Großstädten in<br />

ähnlicher Art <strong>und</strong> Weise beobachten lassen,<br />

haben zu einer weiteren, überfälligen Aufwertung<br />

des Politikfeldes <strong>der</strong> Integration <strong>und</strong><br />

Partizipation geführt.<br />

Das hat sich <strong>im</strong> Politikbetrieb in Bremen<br />

auch in <strong>der</strong> institutionellen Verankerung <strong>der</strong><br />

Integrationspolitik nie<strong>der</strong>geschlagen. Zum<br />

einen wurde in <strong>der</strong> Bürgerschaft ein neuer<br />

Ausschuss speziell <strong>zur</strong> Integrationspolitik eingerichtet.<br />

Zum an<strong>der</strong>en wurde das Politikfeld<br />

Partizipation <strong>und</strong> Integration endlich auch<br />

in Bremen als Querschnittsthema konzipiert.<br />

Der Bereich Integrationspolitik <strong>und</strong> die Integrationsbeauftragte<br />

werden zentral in <strong>der</strong><br />

Bremer Senatskanzlei angesiedelt, nicht mehr<br />

separat <strong>im</strong> Sozialressort. Dort verblieb lediglich<br />

das Referat Zuwan<strong>der</strong>ungsangelegenheiten<br />

2 . Ob mit dieser institutionellen ›Zweiteilung‹<br />

eine Integrationspolitik ›erster Klasse‹ (in<br />

<strong>der</strong> Senatskanzlei) <strong>und</strong> ›zweiter Klasse‹ (<strong>im</strong><br />

Sozialressort) verb<strong>und</strong>en sein könnte, muss<br />

aufmerksam beobachtet werden.


113<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Ein erstes Integrationskonzept<br />

auch für Bremerhaven<br />

Die beschriebenen Entwicklungen <strong>im</strong> B<strong>und</strong>esland<br />

Bremen <strong>und</strong> in <strong>der</strong> B<strong>und</strong>espolitik haben<br />

auch in Bremerhaven zu einer Neuorientierung<br />

in <strong>der</strong> Integrationspolitik geführt. Seit<br />

2010 stellt sich auch die Seestadt den Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

einer möglichst systematischen,<br />

kommunalen Integrationspolitik als Querschnittsaufgabe.<br />

In einem Beteiligungsprozess<br />

über zwei Jahre, mit unterschiedlichen Teilnehmern<br />

<strong>und</strong> Teilnehmerinnen aus verschiedenen<br />

Politikfel<strong>der</strong>n Bremerhavens, wurden<br />

gemeinsame Zielvorstellungen, Handlungsfel<strong>der</strong><br />

3 <strong>und</strong> Leitprojekte entwickelt. Bei diesem<br />

Prozess konnte aufgebaut werden auf das<br />

integrationspolitische Engagement <strong>im</strong> Projekt<br />

›Lernen vor Ort‹, an lokale Projekte <strong>und</strong> die<br />

langjährige Arbeit des Rats ausländischer<br />

Mitbürger (RAM) <strong>und</strong> des Bremerhavener Netzwerkes<br />

4 für Zuwan<strong>der</strong>innen <strong>und</strong> Zuwan<strong>der</strong>er.<br />

Im Frühjahr 2013, wenn das neue Integrationskonzept<br />

offiziell vom Magistrat verabschiedet<br />

ist, soll ein ›Fachbeirat Integration‹ gegründet<br />

werden. Er wird sich aus Leitungskräften<br />

<strong>der</strong> Verwaltung <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Partnerinnen<br />

<strong>und</strong> Partnern in <strong>der</strong> Stadt zusammensetzen<br />

<strong>und</strong> soll die Umsetzung <strong>der</strong> neuen Leitprojekte<br />

konstruktiv begleiten.<br />

Handlungsfel<strong>der</strong> <strong>und</strong> Handlungsbedarfe<br />

❚ Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven haben ambitionierte<br />

Integrationskonzepte ›auf dem neusten Stand‹<br />

entwickelt <strong>und</strong> die Integrationspolitik ressortübergreifend<br />

organisiert. Nun gilt es, die formulierten<br />

Aufgaben <strong>und</strong> Leitprojekte tatkräftig umzusetzen.<br />

Dafür existieren in <strong>der</strong> politischen Öffentlichkeit<br />

durchaus gute Rahmenbedingungen: vor allem,<br />

wenn das große Potenzial <strong>der</strong> <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong> mit einem sogenannten<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong> in den Mittelpunkt gestellt<br />

wird. Sie sind die motivierten Fachkräfte, die<br />

überall gefor<strong>der</strong>t werden.<br />

❚ Die Potenziale <strong>der</strong> <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong><br />

mit Migrationshintergr<strong>und</strong> nutzen bereits<br />

etliche Unternehmen, insgesamt aber <strong>im</strong>mer noch<br />

zu wenige. Die Arbeitgeber tragen eine beson<strong>der</strong>e<br />

gesellschaftliche Verantwortung dafür, Menschen<br />

mit einer an<strong>der</strong>en Herkunft eine Chance zu geben<br />

<strong>und</strong> sie auch innerbetrieblich zu för<strong>der</strong>n. Das<br />

schreibt das Betriebsverfassungsgesetz vor. Dieses<br />

Ziel müssen auch Gewerkschaften sowie Betriebs<strong>und</strong><br />

Personalräte offensiver verfolgen. Die Bremer<br />

Stadtpolitik kann <strong>und</strong> muss dieses Ziel bei <strong>der</strong><br />

Vergabe von öffentlichen För<strong>der</strong>mitteln offensiv<br />

einfor<strong>der</strong>n.<br />

❚ Die Stadtpolitik in Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven<br />

kann eine verbesserte Integration von Migrantinnen<br />

<strong>und</strong> Migranten in den Arbeitsmarkt durch begleitende<br />

<strong>und</strong> beratende kleinteilige (lokale) Netzwerke<br />

intensiver unterstützen – durch den Aufbau von<br />

›sozialem Kapital‹.<br />

❚ Der <strong>der</strong>zeitige Aufbau <strong>der</strong> frühkindlichen Tagesbetreuung<br />

bietet die einmalige Chance, frühkindliche<br />

Sprachför<strong>der</strong>ung – auf dem neusten Stand – fest zu<br />

etablieren. Die bisherige För<strong>der</strong>ung von einem Jahr<br />

vor <strong>der</strong> Einschulung ist bei Weitem nicht hinreichend.<br />

Integrierte Sprachför<strong>der</strong>ung <strong>und</strong> die Wertschätzung<br />

von Mehrsprachigkeit muss durch entsprechend<br />

qualifiziertes Personal von Anfang an gegeben<br />

sein – für deutsche <strong>und</strong> ausländische Kin<strong>der</strong>!<br />

❚ Diese integrierte, wertschätzende Sprachför<strong>der</strong>ung<br />

muss, wenn erfor<strong>der</strong>lich, bis in die Mittelstufe konsequent<br />

weitergeführt werden – sonst sind neben den<br />

erfor<strong>der</strong>lichen Sprachkompetenzen keine hinreichenden<br />

schriftsprachlichen Fähigkeiten zu erwarten.<br />

❚ Strukturelle Diskr<strong>im</strong>inierung muss offensiv angesprochen,<br />

offengelegt, dokumentiert <strong>und</strong> dann<br />

reduziert werden.<br />

❚ Die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer Bremen unterstützt<br />

nachdrücklich die aktuellen Initiativen <strong>der</strong> Bremer<br />

Stadtpolitik <strong>zur</strong> Ausweitung des Auslän<strong>der</strong>wahlrechts<br />

<strong>im</strong> B<strong>und</strong>esland Bremen. Politische Partizipation<br />

<strong>und</strong> das Recht an Wahlen teilzunehmen, för<strong>der</strong>t<br />

nachweislich die Integration, die Teilhabe <strong>und</strong> die<br />

Identifikation von Migranteninnen <strong>und</strong> Migranten.<br />

Deshalb darf das Wahlrecht nicht erst als ›Lohn‹<br />

einer gelungenen Integration am Ende dieses<br />

Prozesses stehen.<br />

3 Frühe För<strong>der</strong>ung<br />

<strong>und</strong> Elternarbeit, Schulabschlüsse,<br />

Berufsabschlüsse,<br />

Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Beschäftigung,<br />

interkulturelle Öffnung<br />

des öffentlichen Dienstes<br />

sowie Teilhabe/Partizipation<br />

<strong>und</strong> Bewusstseinsbildung.<br />

4 Es handelt sich um einen<br />

freien Zusammenschluss<br />

von ca. 40 Organisationen,<br />

die über geplante<br />

Maßnahmen <strong>zur</strong> Integrationsför<strong>der</strong>ung<br />

beraten,<br />

Stellungnahmen für<br />

Kostenträger abgeben<br />

sowie <strong>zur</strong> För<strong>der</strong>würdigkeit<br />

geplanter Projekte.<br />

Das Netzwerk wirkt<br />

planend, koordinierend,<br />

begleitend, empfehlend<br />

<strong>und</strong> bewertend bei<br />

Projekten <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Integrationsmaßnahmen.


114<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

¢<br />

E X K U R S<br />

Anerkennung von Abschlüssen<br />

Als Weg zu qualifizierter Beschäftigung<br />

S U S A N N E H E R M E L I N G<br />

1 Vgl. Fohrbeck,<br />

Dorothea: Anerkennung<br />

ausländischer<br />

Berufsqualifikation.<br />

In: B<strong>und</strong>esinstitut<br />

für Berufsforschung<br />

(BIBB), BWP 5/2012,<br />

S. 7.<br />

2 Vgl. Rüb, Herbert:<br />

Anerkennung von <strong>im</strong><br />

Ausland erworbenen<br />

Abschlüssen. In:<br />

<strong>Bericht</strong> <strong>zur</strong> <strong>Lage</strong> <strong>der</strong><br />

<strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong> <strong>im</strong><br />

<strong>Land</strong>e Bremen 2011,<br />

S. 116–124.<br />

3 Der Name ist geän<strong>der</strong>t.<br />

Die <strong>im</strong> Folgenden<br />

aufgeführten Fälle sind<br />

auf Menschen <strong>zur</strong>ückzuführen,<br />

die an<br />

Interviews <strong>im</strong> zweiten<br />

Halbjahr 2011 <strong>im</strong><br />

Rahmen einer Studie<br />

<strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen <strong>zur</strong><br />

Qualifizierung <strong>im</strong><br />

SGB II teilgenommen<br />

haben.<br />

Von mehr als drei Millionen Inhaberinnen <strong>und</strong><br />

Inhabern ausländischer Schul- o<strong>der</strong> Berufsabschlüsse<br />

hatten bis 2008 nur 20 Prozent einen<br />

Antrag auf Anerkennung ihrer Qualifikation<br />

gestellt. Nach einer Son<strong>der</strong>auswertung des<br />

Mikrozensus 2008, die ein Prozent aller deutschen<br />

Haushalte erfasst, könnten allein aus<br />

dieser Gruppe schätzungsweise weitere<br />

285.000 in Deutschland lebende Migrantinnen<br />

<strong>und</strong> Migranten eine Anerkennung ihrer Auslandsqualifikation<br />

beantragen. Die meisten –<br />

etwa 246.000 – haben einen berufsqualifizierenden<br />

Abschluss, etwa 23.000 bringen einen<br />

Meister- o<strong>der</strong> Technikerabschluss <strong>und</strong> etwa<br />

16.000 einen (Fach-)Hochschulabschluss mit. 1<br />

Durch das Anerkennungsgesetz des B<strong>und</strong>es 2 ,<br />

das am 01.04.2012 in Kraft getreten ist, sollen<br />

nun die Wege <strong>zur</strong> Anerkennung, unabhängig<br />

von Herkunftsland <strong>und</strong> Aufenthaltsstatus,<br />

einfacher <strong>und</strong> transparenter werden.<br />

An Beispielen lassen sich die unterschiedlichen<br />

Wege <strong>und</strong> Möglichkeiten <strong>der</strong> Anerkennung<br />

am besten nachvollziehen:<br />

Frau Kusmin 3 hat in <strong>der</strong> ehemaligen Sowjetunion<br />

sechs Jahre lang Pharmazie studiert<br />

<strong>und</strong> in Russland eine Apotheke geleitet. Nach<br />

sechs Jahren in Deutschland hat sie 2011 erstmalig<br />

wie<strong>der</strong> Kontakt mit ihrem Berufsfeld. In<br />

einem durch das Jobcenter finanzierten Lehrgang<br />

mit Deutschkurs, vermittelte man ihr<br />

ein unbezahltes Praktikum in einer bremischen<br />

Apotheke. Ihre Kenntnisse seien dort<br />

aber nicht abgefragt worden. In Deutschland<br />

werden Apothekerinnen gesucht, aber für<br />

die Berufsausübung in einem reglementierten<br />

Heilberuf braucht Frau Kusmin eine formale<br />

Anerkennung. Frau Kusmin kann nach dem<br />

Anerkennungsgesetz des B<strong>und</strong>es ihre Zeugnisse<br />

be<strong>im</strong> bremischen Ges<strong>und</strong>heitsressort<br />

einreichen. In <strong>der</strong> Prüfung wird auch ihre<br />

zehnjährige einschlägige Berufstätigkeit<br />

berücksichtigt. Auch wenn keine volle, son-<br />

<strong>der</strong>n nur eine teilweise Gleichwertigkeit<br />

festgestellt wird, müssen die vorhandenen<br />

Kompetenzen in einem Bescheid ausführlich<br />

dargestellt werden. Im Bescheid werden<br />

auch die zu einer Vollanerkennung fehlenden<br />

Qualifikationen beziehungsweise Inhalte<br />

aufgeführt. Bei einer Teilanerkennung von<br />

reglementierten Berufen, haben die Antragstellerinnen<br />

<strong>und</strong> Antragsteller außerdem das<br />

Recht auf eine Anpassungsmaßnahme. Das<br />

bedeutet nicht, dass eine Weiterbildung<br />

geför<strong>der</strong>t wird, son<strong>der</strong>n, dass sie <strong>im</strong> Regelfall<br />

eine zeitlich beschränkte Berufserlaubnis bei<br />

einem Arbeitgeber in Deutschland erhalten.<br />

In dieser Zeit sollen sich die Antragstellerin<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Antragsteller auf eine abschließende<br />

Eignungsprüfung vorbereiten. Durch das zum<br />

Anerkennungsgesetz gehörige Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz<br />

(BQFG) sollen sämtliche<br />

Verfahren vereinheitlicht werden. Darin<br />

besteht aber schon die Herausfor<strong>der</strong>ung für<br />

die zuständigen Stellen in den einzelnen B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n,<br />

denn wie genau zum Beispiel eine<br />

Eignungsprüfung konzipiert ist <strong>und</strong> wer sie<br />

durchführt, ist <strong>im</strong> Gesetz nicht beschrieben.<br />

Reglementiert sind in Deutschland etwa<br />

60 Berufe in <strong>der</strong> Medizin, <strong>im</strong> zulassungspflichtigen<br />

Handwerk, <strong>im</strong> Ingenieurswesen, <strong>im</strong><br />

Unterrichtswesen sowie <strong>im</strong> Sozial- <strong>und</strong> Erziehungsbereich.<br />

Ärztinnen, Architekten, Lehrer,<br />

Altenpflegehelferinnen o<strong>der</strong> Bäckermeister<br />

müssen also best<strong>im</strong>mte Qualifikationen nachweisen,<br />

um ihren Beruf ausüben zu können.<br />

Eingeschränkte Berufserlaubnisse sind zeitlich<br />

befristet <strong>und</strong> auf best<strong>im</strong>mte Bereiche beschränkt.<br />

Für EU-Bürger ist die Anerkennung<br />

für reglementierte Berufe über die EU-Berufsanerkennungsrichtlinie<br />

(2005/36/EG) unkompliziert<br />

geregelt. Die Ausbildung muss<br />

allerdings nach dem EU-Beitritt des Mitgliedslandes<br />

absolviert worden sein <strong>und</strong> damit<br />

den EU-Mindestanfor<strong>der</strong>ungen unterliegen –


115<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

das ist zum Beispiel für polnische Ausbildungen<br />

nach 2005 <strong>der</strong> Fall. Für Spätaussiedler<br />

besteht eine gesetzliche Regelung schon länger<br />

mit dem B<strong>und</strong>esvertriebenengesetz. Mit dem<br />

Anerkennungsgesetz des B<strong>und</strong>es haben nun<br />

auch Inhaberinnen <strong>und</strong> Inhaber mit Qualifikationen<br />

aus Län<strong>der</strong>n außerhalb <strong>der</strong> EU (sogenannte<br />

Drittstaaten) einen Rechtsanspruch<br />

darauf, die Gleichwertigkeit ihrer Ausbildung<br />

mit dem deutschen Berufsabschluss in einem<br />

dre<strong>im</strong>onatigen <strong>und</strong> individuellen Verfahren<br />

prüfen zu lassen. Auch aus dem Ausland können<br />

Anträge gestellt werden. Welche Stelle für<br />

die Anerkennung zuständig ist, hängt vom<br />

jeweiligen Abschluss ab. Bei Frau Nowak, die in<br />

Polen Friseurin gelernt hat, ist <strong>der</strong> Fall relativ<br />

einfach. Das BQFG des B<strong>und</strong>es regelt alle<br />

dualen Ausbildungsberufe, <strong>der</strong>en Prüfung den<br />

Kammern obliegt. Die Handwerkskammer<br />

Bremen würde in diesem Fall einen individuellen<br />

Bescheid über die volle o<strong>der</strong> teilweise<br />

Gleichwertigkeit ausstellen. Wenn Nachweise<br />

fehlen, werden Fachgespräche o<strong>der</strong> Arbeitsproben<br />

anberaumt. Das ist insbeson<strong>der</strong>e für<br />

›papierlose‹ Flüchtlinge existenziell. Auf<br />

B<strong>und</strong>esebene läuft dazu das Modellprojekt<br />

›Prototyping‹ <strong>zur</strong> Standardisierung von Qualifikationsanalysen<br />

in Kooperation von Handwerkskammern<br />

<strong>und</strong> Industrie- <strong>und</strong> Handelskammern.<br />

Um in dem reglementierten Beruf<br />

Friseurmeisterin arbeiten zu können, ist eine<br />

volle Gleichwertigkeitsbescheinigung nötig.<br />

Als Friseurin kann Frau Nowak jedoch auch<br />

mit einer Teilanerkennung arbeiten. Arbeitgeber<br />

können sich <strong>zur</strong> Einschätzung ihrer<br />

Qualifikation an dem differenzierten Bescheid<br />

orientieren. Offen ist allerdings, wie die<br />

Teilanerkennungen auf dem Arbeitsmarkt<br />

ankommen werden.<br />

Durch die Teilnahme an Weiterbildungen<br />

kann eine volle Anerkennung später erteilt<br />

werden. Doch entsprechende Konzepte für<br />

Anpassungsqualifizierungen stecken noch in<br />

den Kin<strong>der</strong>schuhen. Außerdem steht die<br />

Finanzierung solcher Maßnahmen <strong>zur</strong> Disposition.<br />

Schon für die Anerkennung müssen die<br />

Antragstellerinnen <strong>und</strong> Antragsteller mit<br />

mehreren Hun<strong>der</strong>t Euro Kosten rechnen. Eine<br />

Weiterbildung wird dann in <strong>der</strong> Regel noch<br />

erheblich teurer. Nach Auskunft <strong>der</strong> Handwerkskammer<br />

Bremen gibt es gerade für<br />

Metall- <strong>und</strong> Elektroberufe Bedarf an Anpassungsqualifizierungen.<br />

In diesem Bereich hatte auch Herr Said seine<br />

Ausbildung <strong>im</strong> Irak absolviert. Inzwischen<br />

hätte er die Möglichkeit bei <strong>der</strong> IHK FOSA in<br />

Nürnberg, <strong>der</strong> zentralen Anerkennungsstelle<br />

für alle Industrie- <strong>und</strong> Handelskammern,<br />

eine Gleichwertigkeitsprüfung für den Beruf<br />

Industriemechaniker o<strong>der</strong> Mechatroniker zu<br />

beantragen. Seine Qualifikation ist allerdings<br />

veraltet, denn während seines zehnjährigen<br />

Aufenthalts in Deutschland hat er nur in <strong>der</strong><br />

Gastronomie gearbeitet. Die För<strong>der</strong>ung einer<br />

Umschulung wurde aufgr<strong>und</strong> eines negativen<br />

Testergebnisses bei <strong>der</strong> Agentur für Arbeit<br />

nicht bewilligt. Statt einer Umschulung könnte<br />

<strong>im</strong> Rahmen eines Anerkennungsverfahrens<br />

auch eine vom Jobcenter geför<strong>der</strong>te Weiterbildung<br />

mit begleiten<strong>der</strong> Deutschför<strong>der</strong>ung<br />

ihm den Wie<strong>der</strong>einstieg in seinen Beruf<br />

ermöglichen – diese Möglichkeiten müssen<br />

deutlich verbessert <strong>und</strong> ausgebaut werden.<br />

Das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz<br />

(BQFG) des B<strong>und</strong>es regelt alle b<strong>und</strong>esgesetzlich<br />

geregelten Berufe. Für die Berufe in Län<strong>der</strong>zuständigkeit<br />

gibt es in Bremen <strong>der</strong>zeit noch<br />

kein entsprechendes Gesetz. An einem <strong>Land</strong>es-<br />

Gesetz wird <strong>der</strong>zeit gearbeitet. Es soll für<br />

soziale <strong>und</strong> Erziehungsberufe, Lehrer o<strong>der</strong><br />

Inhaber von landesgesetzlich geregelten Fortbildungsabschlüssen,<br />

wie Technikern, transparente<br />

Verfahren ermöglichen. Auch die Berufe<br />

Ingenieur <strong>und</strong> Architekt fallen in Län<strong>der</strong>zuständigkeit,<br />

<strong>im</strong> Bremischen Ingenieur- <strong>und</strong> <strong>im</strong>


116<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

4 Die GUS (Gemeinschaft<br />

unabhängiger Staaten)<br />

ist ein loser Zusammenschluss<br />

verschiedener<br />

Nachfolgestaaten <strong>der</strong><br />

ehemaligen Sowjetunion.<br />

5 Vgl. Bremische Bürgerschaft,<br />

<strong>Land</strong>tag, Drucksache<br />

18/243 vom<br />

15.02.2012: Anerkennung<br />

von <strong>im</strong> Ausland<br />

erworbenen Abschlüssen<br />

– Konzept <strong>zur</strong> Umsetzung<br />

des B<strong>und</strong>esgesetzes <strong>im</strong><br />

<strong>Land</strong> Bremen.<br />

6 Das IQ Netzwerk<br />

Bremen wird von <strong>der</strong><br />

RKW Bremen GmbH<br />

(www.rkw-bremen.de)<br />

koordiniert.<br />

Architektengesetz wird aber voraussichtlich<br />

kein Bezug zum <strong>Land</strong>es-BQFG verankert. Viele<br />

<strong>der</strong> bisher gestellten Anträge fallen in Län<strong>der</strong>zuständigkeit.<br />

Einen ersten Überblick über die bisherige<br />

Resonanz auf das Anerkennungsgesetz gibt die<br />

Auswertung <strong>der</strong> b<strong>und</strong>esweiten Anerkennungsberatung<br />

bei den IQ-Beratungsstellen (›Integration<br />

durch Qualifizierung‹). R<strong>und</strong> 2.300 Menschen<br />

wurden dort in <strong>der</strong> Zeit vom 1. Oktober<br />

bis 31. Dezember 2012 beraten. Zwei Drittel<br />

<strong>der</strong> Ratsuchenden waren Frauen. Etwa ein<br />

Drittel aller Abschlüsse wurde in den GUS-<br />

Staaten 4 , Polen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Türkei erworben. Über<br />

die Hälfte hatte mindestens einen Hochschulabschluss.<br />

Bei den Beratungsgesprächen stand<br />

<strong>der</strong> Beruf Lehrerin mit 17 Prozent an erster<br />

Stelle, gefolgt von den Berufen Ingenieurin,<br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Krankenpflegerin, Ökonomin,<br />

Ärztin <strong>und</strong> Erzieherin. Über ein Drittel<br />

<strong>der</strong> nachgefragten Berufe ist landesrechtlich<br />

reglementiert.<br />

Auch die wichtigen zuständigen Stellen<br />

in Bremen bearbeiten viele Anträge aus den<br />

osteuropäischen Län<strong>der</strong>n <strong>und</strong> den GUS-<br />

Staaten. Be<strong>im</strong> Bildungsressort sind in den<br />

vergangenen Jahren 50 bis 60 Anträge pro<br />

Jahr gestellt worden, zu zwei Dritteln von<br />

Lehrerinnen aus den genannten Staaten, die<br />

oft von sich aus den Referenzberuf Erzieherin<br />

wählen. Die Hälfte dieser Antragstellerinnen<br />

kann Berufserfahrungen in Deutschland<br />

mit Kin<strong>der</strong>n <strong>im</strong> Vorschulalter nachweisen.<br />

Die IHK FOSA hat vom 1. April 2012 bis<br />

1. Februar 2013 über 2.000 Anträge bearbeitet.<br />

Von 700 ausgestellten Bescheiden bescheinigten<br />

70 Prozent die volle Gleichwertigkeit.<br />

Aus dem Handelskammerbezirk Bremen<br />

kamen 22 Anträge. Schwerpunktberufe waren<br />

unter an<strong>der</strong>em Mechatroniker <strong>und</strong> Groß- <strong>und</strong><br />

Einzelhandelskaufleute. Die Handwerkskammer<br />

Bremen hat <strong>im</strong> Zeitraum April bis Ende<br />

September 2012 36 Antragsverfahren eröffnet,<br />

die Hälfte davon <strong>im</strong> Gewerk Friseure. Sowohl<br />

in <strong>der</strong> Handelskammer als auch in <strong>der</strong> Handwerkskammer<br />

wurden wesentlich mehr Anträge<br />

von Männern gestellt. Viele Anträge kamen<br />

von Arbeitslosen, geringfügig Beschäftigten<br />

<strong>und</strong> Leiharbeitnehmern. Gerade in diesen<br />

Gruppen wird es <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen noch viele<br />

potenzielle Antragsteller geben, die es mit<br />

dem Angebot zu erreichen gilt.<br />

Die Regierungskoalition hat <strong>im</strong> Februar<br />

2012 einen <strong>Bericht</strong> <strong>zur</strong> Umsetzung des Anerkennungsgesetzes<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen gefor<strong>der</strong>t. 5<br />

Wichtige Fragen werden dort aufgeworfen,<br />

die baldmöglichst landesweit evaluiert <strong>und</strong><br />

angegangen werden müssen. Dabei ist die enge<br />

Zusammenarbeit mit dem Netzwerk IQ (Integration<br />

durch Qualifizierung) zu suchen. Das<br />

IQ Netzwerk Bremen setzt seine Schwerpunkte<br />

darauf, den Informationstransfer zwischen<br />

den verschiedenen beratenden <strong>und</strong> anerkennenden<br />

Stellen zu gewährleisten, die Qualität<br />

<strong>der</strong> bestehenden Strukturen zu erhöhen<br />

<strong>und</strong> eine Plattform für Bedarfsermittlung <strong>und</strong><br />

Konzeptentwicklung anzubieten. 6


117<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Handlungsempfehlungen<br />

❚ Eine vom B<strong>und</strong>ministerium für Bildung <strong>und</strong><br />

Forschung beauftragte Studie 7 lieferte jüngst Bef<strong>und</strong>e<br />

über Diskr<strong>im</strong>inierungserfahrungen von Ingenieurinnen<br />

<strong>und</strong> Naturwissenschaftlerinnen in <strong>der</strong><br />

Arbeitsverwaltung. Qualifikationen wurden dort<br />

entwertet, indem Arbeitsberater in unterwertige <strong>und</strong><br />

oft frauentypische Qualifizierungen o<strong>der</strong> Beschäftigung<br />

vermittelten. Die Beratung durch interkulturell<br />

sensibilisiertes Personal ist daher ein wesentlicher<br />

Punkt nicht nur für Anerkennungsstellen,<br />

son<strong>der</strong>n auch für ›vorgelagerte‹ Institutionen wie<br />

die Agentur für Arbeit <strong>und</strong> das Jobcenter, um<br />

qualifikationsadäquate Vermittlungen zu ermöglichen.<br />

❚ Potenzielle Antragsteller sollten aktiv informiert<br />

werden. Neben Betrieben wäre auch hier die Arbeitsverwaltung<br />

die erste Adresse. Bisher als ›ohne<br />

Berufsabschluss‹ geführte Arbeitsuchende mit Auslandsqualifikationen<br />

müssten ausfindig gemacht<br />

<strong>und</strong> beraten werden.<br />

❚ (B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>übergreifende) Entwicklungen von<br />

Anpassungsqualifizierungen bieten sich insbeson<strong>der</strong>e<br />

für die Berufe Erzieherin sowie Metall- <strong>und</strong><br />

Elektroberufe an. Im <strong>Land</strong> Bremen gibt es bisher<br />

nur eine Anpassungsqualifizierung für Pflegekräfte<br />

aus dem Ausland be<strong>im</strong> Paritätischen Bildungswerk.<br />

❚ Die Finanzierung von Anerkennungsverfahren <strong>und</strong><br />

die Teilnahme an Anpassungslehrgängen muss<br />

geregelt werden. Das <strong>Land</strong> Hamburg beispielsweise<br />

hat für diesen Zweck ein eigenes Stipendienprogramm<br />

aufgelegt. Anerkennungsverfahren werden<br />

voll bezuschusst <strong>und</strong> För<strong>der</strong>ungen für Anpassungsqualifizierungen,<br />

in Anlehnung an BAföG-<br />

Richtlinien vergeben.<br />

❚ Zuständigkeiten, Verfahren <strong>und</strong> Bescheide sollen<br />

verständlich <strong>und</strong> transparent sein. Dazu gehört<br />

auch eine ausreichende Ausstattung <strong>der</strong> zuständigen<br />

Stellen mit entsprechend geschultem Personal,<br />

damit die Bearbeitung von Anträgen in <strong>der</strong><br />

Dre<strong>im</strong>onatsfrist realistisch zu leisten ist.<br />

❚ Ein weiteres wichtiges Feld wäre eine an Arbeitgeber<br />

gerichtete Aufklärungskampagne, die für die<br />

Gleichwertigkeitsbescheide als gültige Qualifizierungsnachweise<br />

wirbt.<br />

7 Vgl. B<strong>und</strong>esministerium<br />

für Bildung <strong>und</strong> Forschung<br />

(Hrsg.): Arbeitsmarktintegration<br />

hochqualifizierter<br />

Migrantinnen<br />

– Berufsverläufe<br />

in Naturwissenschaft<br />

<strong>und</strong> Technik, 2012<br />

www.bmbf.de/pub/<br />

arbeitsmarktintegration_hochqualifizierter_<br />

migrantinnen.pdf<br />

¢Gut zu wissen:<br />

Informationen für Anerkennungssuchende<br />

Wegweiser <strong>zur</strong> Anerkennungsberatung vom IQ Netzwerk Bremen<br />

❚ www.arbeit.bremen.de/sixcms/media.php/13/deutsch_internet_2011.pdf<br />

B<strong>und</strong>esweit<br />

❚ www.anerkennung-in-deutschland.de<br />

❚ www.anabin.kmk.org<br />

Informationsportal für zuständige Stellen <strong>und</strong> Unternehmen<br />

❚ www.bq-portal.de<br />

Die Netzwerke IQ www.netzwerk-iq.de entwickeln Instrumente,<br />

Handlungsempfehlungen sowie Beratungs- <strong>und</strong> Qualifizierungskonzepte,<br />

die von den regionalen Stellen in den B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n umgesetzt werden.


118<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Auf gleichen Bildungswegen zu neuen Chancen<br />

Was Mariechen lernt, wird Marie noch lange nicht!<br />

S U S A N N E A C H E N B A C H / D R . E S T H E R S C H R Ö D E R<br />

Es gibt etwas zu feiern! Jedenfalls suggerierte<br />

dies ein Flyer mit einem beschwingt geschriebenen<br />

›Happy Birthday‹, <strong>der</strong> die Politikberatung<br />

<strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer Bremen Mitte<br />

vergangenen Jahres erreichte. Eingeladen wurde<br />

zum Jubiläum ›Ein Jahr 1. Gleichstellungsbericht<br />

für Deutschland‹. Insgesamt wurde<br />

dieser <strong>Bericht</strong> aus unserer Sicht viel zu wenig<br />

diskutiert <strong>und</strong> vor allem beherzigt. Weil wir<br />

ihn politisch in beson<strong>der</strong>er Weise würdigen<br />

wollten, stellten wir <strong>im</strong> Oktober 2012 die Analysen<br />

<strong>und</strong> Empfehlungen einer breiten Öffentlichkeit<br />

vor <strong>und</strong> konfrontierten diese mit <strong>der</strong><br />

Situation vor Ort. Expertinnen <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

warfen politisch wie rechtlich<br />

Schlaglichter auf gleichstellungsrelevante<br />

Fragen <strong>und</strong> Problemlagen. In Kooperation mit<br />

<strong>der</strong> Bremischen Zentralstelle für die Verwirklichung<br />

<strong>der</strong> Gleichberechtigung <strong>der</strong> Frau (ZGF)<br />

holten wir damit den ersten Gleichstellungsbericht<br />

aus den Schubladen, um ihn Entscheidungsträgern<br />

aus Politik, Wirtschaft <strong>und</strong><br />

Gesellschaft <strong>zur</strong> Erledigung seiner Inhalte<br />

auf die Schreibtische zu legen.<br />

Hun<strong>der</strong>t Jahre nach dem ersten Frauentag<br />

veröffentlichte die B<strong>und</strong>esregierung <strong>im</strong> Juni<br />

2011 diesen <strong>Bericht</strong> mit dem Titel ›Neue Wege<br />

– Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen<br />

<strong>und</strong> Männern <strong>im</strong> Lebensverlauf‹, erarbeitet von<br />

einer interdisziplinär zusammengesetzten<br />

Sachverständigenkommission. Im Fokus stehen<br />

Rollenbil<strong>der</strong> <strong>und</strong> Recht, Bildung <strong>und</strong> Ausbildung,<br />

Frauenerwerbstätigkeit, Teilzeit <strong>und</strong><br />

Minijobs, Erwerbsunterbrechungen, Frauen in<br />

Führungspositionen, die geschlechtsspezifische<br />

Lohnlücke <strong>und</strong> Niedriglöhne, Erwerbsarbeits-<br />

<strong>und</strong> Familienzeiten, Alterssicherung<br />

sowie Pflege <strong>und</strong> Pflegebedürftigkeit. Anerkennung<br />

verdient nicht allein die wissenschaftliche<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit diesen Themen,<br />

vor allem die Vorlage einer für Deutschland<br />

ersten umfassenden Bestandsaufnahme in<br />

Sachen Geschlechter (un)gerechtigkeiten <strong>und</strong><br />

neue Ideen <strong>zur</strong> langfristigen Entwicklung<br />

einer konsistenten Gleichstellungspolitik für<br />

Frauen <strong>und</strong> Männer. Trotz erheblicher Fortschritte<br />

in <strong>der</strong> Gleichstellungspolitik fehlte es<br />

in Deutschland bisher an einem gemeinsamen<br />

Leitbild. So stehen politische <strong>und</strong> rechtliche<br />

Maßnahmen für unterschiedliche Lebensphasen<br />

viel zu oft unverb<strong>und</strong>en nebeneinan<strong>der</strong>;<br />

infolgedessen werden gleichzeitig Anreize<br />

für sehr verschiedene Lebensmodelle gesetzt,<br />

bis hin <strong>zur</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit. Unterstützung<br />

in <strong>der</strong> einen Lebensphase bricht in<br />

<strong>der</strong> nächsten weg o<strong>der</strong> weist in eine völlig<br />

an<strong>der</strong>e Richtung (zum Beispiel Ehegattensplitting/Scheidungsrecht).<br />

Die Errungenschaft<br />

des B<strong>und</strong>esgleichstellungsberichts liegt somit<br />

in <strong>der</strong> eingenommenen Lebensverlaufsperspektive,<br />

nach <strong>der</strong> langfristige Auswirkungen<br />

best<strong>im</strong>mter Entscheidungen <strong>und</strong> Arrangements<br />

betrachtet werden. Welche Rolle<br />

spielen die zu einem best<strong>im</strong>mten Zeitpunkt<br />

getroffenen Entscheidungen <strong>im</strong> weiteren<br />

Leben? Diese Sicht kennzeichnet mo<strong>der</strong>ne<br />

Gleichstellungspolitik nicht mehr nur als<br />

Querschnitts-, son<strong>der</strong>n auch als Längsschnittaufgabe<br />

– mit dem Ziel <strong>der</strong> Sicherstellung<br />

gleicher <strong>und</strong> tatsächlicher Wahlmöglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Verwirklichungschancen für Frauen <strong>und</strong><br />

Männer. Es geht also nicht um ›Gleichmacherei‹<br />

<strong>der</strong> Geschlechter, son<strong>der</strong>n <strong>im</strong>mer um<br />

eine Gleichverteilung von Ressourcen ungeachtet<br />

<strong>der</strong> Geschlechterzugehörigkeit.<br />

Sobald nicht nur Momentaufnahmen von<br />

Lebensereignissen <strong>und</strong> getroffenen Entscheidungen<br />

für Gleichstellungspolitik relevant<br />

sind, son<strong>der</strong>n vielmehr <strong>der</strong>en Ursachen <strong>und</strong><br />

langfristigen Folgewirkungen in den Blick<br />

genommen werden, zeigen sich die Knotenpunkte<br />

Bildung <strong>und</strong> Ausbildung am Beginn<br />

weiblicher <strong>und</strong> männlicher Erwerbsbiografien<br />

in ihrer Wichtigkeit beson<strong>der</strong>s deutlich:


119<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Hier werden gleichstellungspolitische Weichen<br />

gestellt, die später nur schwer o<strong>der</strong> gar nicht<br />

mehr korrigierbar sind. Nicht zuletzt geht<br />

es auch um die Nutzung aller Potenziale in<br />

unserer Gesellschaft – angesichts des demografischen<br />

Wandels <strong>und</strong> eines wachsenden<br />

Fachkräftebedarfs unverzichtbar.<br />

Geschlechtergerechtigkeit <strong>und</strong> Bildung<br />

stehen gerade bei Einnahme <strong>der</strong> Lebensverlaufsperspektive<br />

in einer engen Beziehung. So<br />

behin<strong>der</strong>n zum Beispiel Geschlechterinszenierungen<br />

<strong>und</strong> (überzeichnende) Rollenklischees<br />

sowohl junge Frauen als auch Männer auf<br />

ihrem Bildungsweg – jedoch auf höchst<br />

unterschiedliche Weise.<br />

Wir sehen zunächst: Junge Frauen verwirklichen<br />

<strong>im</strong> allgemeinbildenden Schulsystem<br />

Bildungsaspirationen <strong>und</strong> -chancen besser, sie<br />

eignen sich Bildungsinhalte leichter an – <strong>und</strong><br />

sie erzielen formal die höheren Bewertungen<br />

<strong>und</strong> Abschlüsse. Oft wird dieser in <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

sehr gut belegte <strong>und</strong> auch öffentlich<br />

bekannte Sachverhalt <strong>der</strong> Vermutung zugeschrieben,<br />

dies liege vor allem an <strong>der</strong> Angepasstheit<br />

<strong>und</strong> Bravheit von Mädchen. Diese<br />

Deutung jedoch verkennt <strong>und</strong> diskreditiert<br />

bereits am Anfang des Bildungs- <strong>und</strong> Lebensweges<br />

die Leistung <strong>und</strong> die Potenziale junger<br />

Frauen – <strong>und</strong> hat somit selbstverständlich<br />

negative Wirkungen. Daher ist es für uns eine<br />

Frage <strong>der</strong> Geschlechtergerechtigkeit, bereits<br />

hier zu intervenieren: Die Ursachen für unterschiedlich<br />

gute Schulleistungen von Mädchen<br />

<strong>und</strong> Jungen sind angemessen zu erklären –<br />

<strong>und</strong> in <strong>der</strong> Folge <strong>im</strong> Schulalltag für beide<br />

Geschlechter opt<strong>im</strong>ale Bedingungen herzustellen,<br />

wobei es sich um eine noch weitgehend<br />

ungelöste Aufgabe <strong>der</strong> Bildungspolitik <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Pädagogik handelt.<br />

Der Berliner Wissenschaftler Marcel Helbig 1<br />

liefert hierfür sachdienliche sozialpsychologische<br />

Ansätze, die sich erfrischend von<br />

mediengängigen Klischees abheben.<br />

›Boy crisis‹? – die Bildungskrise <strong>der</strong> Jungen<br />

durch ein sie benachteiligendes Schulwesen<br />

gibt es nicht, sagt er, auch wenn sie in den<br />

Medien <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> beschworen wird. Denn<br />

Marcel Helbig weist nach, dass Jungen schon<br />

seit mehr als 100 Jahren schlechtere Noten<br />

bekommen als Mädchen. Die sinnfällige Frage:<br />

›Warum bekommen Jungen schlechtere<br />

Schulnoten?‹ – <strong>und</strong> wie kommt es zu den Leistungsunterschieden<br />

zwischen Mädchen <strong>und</strong><br />

Jungen – erklärt er unter an<strong>der</strong>em mit einer<br />

nicht angemessenen schulischen Leistungsbereitschaft<br />

von Jungen. Sie resultiert zunächst<br />

aus <strong>der</strong> Zuschreibung einer gleichsam<br />

natürlichen Begabung, Kompetenz <strong>und</strong> Überlegenheit<br />

auch in Lernangelegenheiten durch<br />

das erwachsene Umfeld. Mit dieser Haltung<br />

können Lern-Kompetenzen weniger gut erworben<br />

werden beziehungsweise es prägen sich<br />

Verhaltensweisen aus, die zu schlechteren<br />

Noten führen. Männlichkeitsinszenierungen<br />

<strong>und</strong> schulischer Erfolg passen, vor allem in <strong>der</strong><br />

Pubertät, nicht zusammen. ›Peergroups‹, die<br />

persönlich wichtigen Gleichaltrigen, werten<br />

Schulerfolg <strong>und</strong> Lernanstrengungen als unmännlich,<br />

als weibisch ab. Dies verän<strong>der</strong>t sich<br />

allenfalls mit <strong>der</strong> Aufnahme eines karriereträchtigen<br />

Studiums; Zielstrebigkeit <strong>und</strong><br />

Leistungswillen werden erst hier zu anerkannten<br />

männlichen Attributen.<br />

Die Verweigerung von Schulerfolg hat<br />

Konsequenzen: Wer ohne o<strong>der</strong> mit nur<br />

geringer schulischer Qualifikation auf dem<br />

Ausbildungsmarkt konkurrieren will, hat<br />

keine Chance.<br />

Während Mädchen sich insgesamt also<br />

angemessenere Strategien aneignen, mehr<br />

Kompetenzen erwerben <strong>und</strong> höhere Leistungen<br />

erzielen, sind sie dennoch bereits in <strong>der</strong><br />

Schule mit Schwierigkeiten konfrontiert,<br />

erzielte Resultate <strong>und</strong> Wirksamkeit auch sich<br />

selbst <strong>und</strong> ihrem Erfolgshandeln zuzuschreiben.<br />

Wenn solche Selbstzweifel nur mäßig<br />

ausgeprägt sind, können sie durchaus einen<br />

weiter anspornenden Effekt auf die Einsatz<strong>und</strong><br />

Leistungsbereitschaft haben.<br />

Gängige Weiblichkeitsinszenierungen<br />

haben indessen negative Effekte <strong>und</strong> wirken<br />

dem Ausschöpfen von Potenzialen entgegen –<br />

1 Vgl. Helbig, Marcel<br />

(2012) Warum bekommen<br />

Jungen schlechtere<br />

Schulnoten als Mädchen?<br />

Ein sozialpsychologischer<br />

Erklärungsansatz.<br />

In: Zeitschrift für Bildungsforschung,<br />

2, 1,<br />

S. 41–54.


120<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Insgesamt sind mehr Männer in <strong>der</strong> dualen<br />

Berufsausbildung. Das Verhältnis war in 2011 sowohl <strong>im</strong><br />

B<strong>und</strong>esdurchschnitt als auch in Bremen etwa 3:2.<br />

2 Vgl. <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen (2013):<br />

Unsere Leistungen <strong>im</strong><br />

Überblick 2012,<br />

S. 26 f.<br />

3 Vgl. www.bibb.de/<br />

dokumente/pdf/naa<br />

309_2011_tab67_<br />

0b<strong>und</strong>.pdf<br />

zumal noch <strong>im</strong>mer Intellekt <strong>und</strong> Frausein<br />

nicht gleichzeitig ins Rollenbild beziehungsweise<br />

-klischee passt. Die feministische Provokation<br />

›Pink macht dumm‹ ist daher durchaus<br />

nicht abwegig. Vor allem durch die Medien<br />

verbreitete übersexualisierende <strong>und</strong> geradezu<br />

verblödende weibliche Rollenzuschreibungen<br />

wirken auf Selbstwertgefühl <strong>und</strong> Eigenständigkeit<br />

junger Frauen destruktiv <strong>und</strong> beeinflussen<br />

so auch die Berufswahl <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ene<br />

Lebensperspektiven. Bei einem Teil <strong>der</strong><br />

jungen Frauen, die keine o<strong>der</strong> nur eine<br />

geringe schulische Qualifikation erworben<br />

haben, beobachten wir <strong>im</strong> direkten Kontakt 2<br />

mit ihnen häufig sehr bedenkliche – passive<br />

<strong>und</strong> abhängigkeitsbejahende Haltungen.<br />

Sie sehen kaum Anlass, für sich selbst Verantwortung<br />

zu übernehmen, die über kosmetische<br />

Aktivitäten hinausgehen. Dabei scheint<br />

die Investition von Ressourcen in ein attraktives<br />

Äußeres unter ökonomischen Gesichtspunkten<br />

sogar sinnvoll – solange, wie es<br />

die Soziologin Jutta Allmendinger prägnant<br />

formuliert, <strong>der</strong> Heiratsmarkt <strong>im</strong>mer noch<br />

attraktiver ist als <strong>der</strong> Arbeitsmarkt, um die<br />

weibliche Existenz zu sichern.<br />

Ihre diesbezügliche Feststellung gilt<br />

allerdings nicht nur für junge Frauen aus<br />

(bildungs-)benachteiligten Milieus, die sich<br />

mangels realer Alternativen allenfalls in<br />

Traumwelten bewegen <strong>und</strong> in vagen Hoffnungen<br />

verlieren. Auch für einen weitaus größeren<br />

Teil <strong>der</strong> jungen Frauen wird es problematisch,<br />

wenn offenbar von ihren prinzipiell<br />

geringeren Erwartungen an ihre persönliche<br />

Bildungsrendite Entscheidungen auf dem<br />

Lebens- <strong>und</strong> Berufsweg abhängen.<br />

Sie schrauben <strong>im</strong> Zweifelsfall – vor dem<br />

Erfahrungshintergr<strong>und</strong>, dass weiblicher<br />

Berufserfolg schwerer zu erzielen ist, prophylaktisch<br />

ihre Ansprüche an eine berufliche<br />

Karriere herunter, selbst wenn sie über einen<br />

Abschluss mit hohem Tauschwert verfügen.<br />

Ein wesentlicher Einflussfaktor ist dabei:<br />

Weibliche Berufswahl bezieht die schlechte<br />

Vereinbarkeit von Familie <strong>und</strong> Karriere von<br />

vornherein mit ein. Beson<strong>der</strong>s heikel ist es,<br />

dass zu viele junge Frauen allem Anschein<br />

nach we<strong>der</strong> dazu erzogen noch darüber informiert<br />

werden, dass sie von ihrem Beruf auch<br />

ihre Existenz eigenständig bestreiten können<br />

sollten. Daher ist die Wahl junger Frauen von<br />

Berufen mit nicht existenzsichern<strong>der</strong> Entlohnung<br />

<strong>und</strong> schlechten beziehungsweise belastenden<br />

Arbeitsbedingungen <strong>im</strong>mer noch ein<br />

gravierendes Problem mit langfristigen Folgewirkungen.<br />

Folgewirkungen, die <strong>im</strong> späteren<br />

Erwerbsverlauf oft nicht mehr zu korrigieren<br />

sind. Während die Bildungsbiografien junger<br />

Männer häufiger auf das Fehlen <strong>der</strong> notwendigen<br />

formalen Qualifikationen hinauslaufen<br />

– das ›Ticket‹ <strong>zur</strong> Verwirklichung ihrer Bildungsaspirationen<br />

seltener erworben wird,<br />

nutzen junge Frauen ihre erreichten Zugangsberechtigungen<br />

<strong>und</strong> ihre vorhandenen Potenziale<br />

nicht <strong>im</strong> möglichen Maße.<br />

Geschlechtstypische Berufswahl<br />

Die Berufswahl junger Menschen, die in die<br />

Ausbildung starten, wird seit vielen Jahren<br />

als relativ statisch wahrgenommen. Das Gros<br />

verteilt sich auf <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> die gleichen<br />

Berufe, wobei die Hitliste 3 von Einzelhandelskaufleuten,<br />

Verkaufspersonal, Bürokaufleuten,<br />

Kraftfahrzeugmechatronikern, Industriekaufleuten<br />

<strong>und</strong> Kaufleuten <strong>im</strong> Groß- <strong>und</strong> Einzelhandel<br />

angeführt wird.<br />

Die Tendenz zu geschlechterrollenkonformer<br />

Berufswahl ist ungebrochen. Dazu<br />

einige Kennziffern: Insgesamt sind mehr<br />

Männer in <strong>der</strong> dualen Berufsausbildung. Das<br />

Verhältnis war in 2011 sowohl <strong>im</strong> B<strong>und</strong>esdurchschnitt<br />

als auch in Bremen etwa 3:2.<br />

An<strong>der</strong>s sieht es bei den traditionell weiblich<br />

›dominierten‹ vollzeitschulischen Bildungsgängen<br />

aus. Hier liegt <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Männer<br />

<strong>im</strong> B<strong>und</strong> <strong>und</strong> in Bremen bei etwa 20 Prozent;<br />

das gleiche Bild zeigt sich etwa für den Beruf<br />

Erzieherin/Erzieher sowie den Anteil <strong>der</strong><br />

jungen Männer in den Schulen des Ges<strong>und</strong>heitswesens.


121<br />

G E S U N D H E I T R E N T E B I L D U NG I N T E G R ATION<br />

Abb. 1: Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge<br />

nach Berufsbereichen <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen am 31.12.2011<br />

männliche Azubis<br />

Abb. 2: Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge<br />

nach Berufsbereichen <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen am 31.12.2011<br />

weibliche Azubis<br />

36% weitere<br />

Berufsbereiche<br />

Elektroberufe 11%<br />

Groß- <strong>und</strong> Einzelhandelskaufleute 8%<br />

Büroberufe, kaufm. Angestellte 7%<br />

an<strong>der</strong>e Dienstleistungskaufleute, Ein- <strong>und</strong> Verkauf 7%<br />

Fahr-, Flugzeugbau <strong>und</strong> -wartungsberufe 6%<br />

Rechnungskaufleute, Informatiker 6%<br />

<strong>Lage</strong>rverwalter, <strong>Lage</strong>r- <strong>und</strong> Transportarbeiter 5%<br />

Maschinenbau- <strong>und</strong> -wartungsberufe 4%<br />

Köche 4%<br />

Metall- <strong>und</strong> Anlagenbauberufe 3%<br />

Maler <strong>und</strong> Lackierer 3%<br />

Quelle: Statistisches <strong>Land</strong>esamt Bremen, Statistische <strong>Bericht</strong>e:<br />

Berufliche Bildung <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen am 31.12.2011,<br />

Tabelle 5, S. 23–24; eigene Berechnungen <strong>und</strong> Darstellung<br />

18% weitere<br />

Berufsbereiche<br />

Büroberufe, kaufm. Angestellte 21%<br />

übrige Ges<strong>und</strong>heitsdienstberufe 11%<br />

an<strong>der</strong>e Dienstleistungskaufleute <strong>und</strong> zugehörige Berufe 10%<br />

Groß- <strong>und</strong> Einzelhandelskaufleute 10%<br />

Verkaufspersonal 9%<br />

Hotel- <strong>und</strong> Gaststättenberufe 7%<br />

Bank-, Bausparkassen- <strong>und</strong> Versicherungsfachleute 5%<br />

Berufe in <strong>der</strong> Körperpflege 5%<br />

Berufe in <strong>der</strong> Unternehmensleitung, -beratung <strong>und</strong> -prüfung 2%<br />

Haus- <strong>und</strong> ernährungswirtschaftliche Berufe 2%<br />

Quelle: Statistisches <strong>Land</strong>esamt Bremen,<br />

Statistische <strong>Bericht</strong>e: Berufliche Bildung <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen am 31.12.2011,<br />

Tabelle 5, S. 23–24; eigene Berechnungen <strong>und</strong> Darstellung<br />

Die Abbildungen 1 <strong>und</strong> 2 zu den neu abgeschlossenen<br />

Ausbildungsverträgen nach<br />

Berufsbereichen <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen machen die<br />

geschlechtsspezifischen Unterschiede deutlich.<br />

Für die jungen Frauen zeigt sich ein bedenklich<br />

enges Berufswahlspektrum: Gut 80 Prozent<br />

<strong>der</strong> neuen weiblichen Auszubildenden<br />

verteilen sich auf die zehn häufigsten Berufsbereiche.<br />

Mehr als die Hälfte von ihnen findet<br />

sich in nur vier Bereichen wie<strong>der</strong>.<br />

Nicht einmal jede fünfte junge Frau hat<br />

die Wahl eines ›sonstigen Berufs‹ außerhalb<br />

dieses Schemas getroffen.<br />

Zwei von drei neuen männlichen Azubis<br />

finden sich in den elf beliebtesten Berufsbereichen<br />

wie<strong>der</strong>.<br />

Immerhin hat ein gutes Drittel mit einem<br />

sonstigen Beruf eine Wahl außerhalb <strong>der</strong> ›Top<br />

Ten‹ getroffen <strong>und</strong> damit doppelt so viele wie<br />

<strong>im</strong> Vergleich zu den jungen Frauen (36 Prozent<br />

gegenüber 18 Prozent).<br />

Dass die Berufswahl eine determinierende<br />

Bedeutung für die Berufs- <strong>und</strong> Lebenschancen<br />

hat, liegt auf <strong>der</strong> Hand <strong>und</strong> erklärt bei einer<br />

tiefergehenden Analyse zum Teil auch die<br />

schlechtere Position von Frauen auf dem<br />

Arbeitsmarkt sowie hinsichtlich ihrer finanziellen<br />

Situation.<br />

Abb. 3: Anzahl <strong>der</strong> Schulentlassenen ohne Abschluss,<br />

<strong>Land</strong> Bremen 2005–2011<br />

800<br />

700<br />

600<br />

500<br />

400<br />

300<br />

200<br />

100<br />

0<br />

690<br />

432<br />

258<br />

580<br />

360<br />

220<br />

593<br />

375<br />

218<br />

530<br />

311<br />

219<br />

männlich<br />

463<br />

271<br />

192<br />

weiblich<br />

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011<br />

Quelle: Senatorin für Bildung <strong>und</strong> Wissenschaft, Abteilung Statistik 2013<br />

415<br />

253<br />

162<br />

gesamt<br />

426<br />

256<br />

170


122<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Für beide Geschlechter fatal sind Bildungswege,<br />

die zu keinem verwertbaren Abschluss<br />

<strong>und</strong> somit in Sackgassen führen. Dieses<br />

Problem ist lei<strong>der</strong> nicht überw<strong>und</strong>en; 2011<br />

konnten in Bremen nach Beendigung <strong>der</strong><br />

Vollzeitschulpflicht 426 Jugendliche keinen<br />

verwertbaren Schulabschluss erwerben. Der<br />

Prozentsatz von Jugendlichen ohne Schulabschluss<br />

an <strong>der</strong> gleichaltrigen Wohnbevölkerung<br />

liegt bei 7,1 Prozent. Wie in den vergangenen<br />

Jahren zeigt sich, dass es weitaus<br />

weniger junge Frauen als Männer sind, die an<br />

<strong>der</strong> Schule scheitern, wobei ihr Anteil seit<br />

2005 in <strong>der</strong> Tendenz von 37 auf 40 Prozent<br />

gestiegen ist.<br />

Das gute <strong>und</strong> auch realistische Ziel <strong>der</strong> <strong>Land</strong>esregierung,<br />

eine Quote von fünf Prozent junger<br />

Menschen ohne Schulabschluss zu erreichen,<br />

wurde damit verfehlt.<br />

Aber: Selbst eine verringerte o<strong>der</strong> erreichte<br />

Quote entbindet nicht von <strong>der</strong> Pflicht, eine<br />

Lebens- <strong>und</strong> Berufsperspektive für alle Jugendlichen<br />

bereitzuhalten. Wenn die Optionen<br />

<strong>und</strong> Perspektiven für den Berufs- <strong>und</strong> Lebensweg<br />

mangelhaft sind, darf nicht reflexhaft<br />

auf die bildungsfernen <strong>und</strong> sozial schwachen<br />

Herkunftsfamilien verwiesen werden; die die<br />

Verantwortung für die Misere tragen sollen.<br />

Vielmehr müssen defizitäre Bedingungen <strong>und</strong><br />

Angebote des Bildungswesens, das bekanntermaßen<br />

Benachteiligung nicht auszugleichen<br />

vermag, son<strong>der</strong>n mitunter selbst hervorruft,<br />

selbst einer kritischen Bilanz unterzogen<br />

<strong>und</strong> Verbesserungen eingeleitet werden. Dazu<br />

gehört es, Gen<strong>der</strong>kompetenz in Bildungspolitik<br />

<strong>und</strong> Pädagogik zu verankern:


123<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong>, dass geschlechterbewusster<br />

<strong>und</strong> -för<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Unterricht noch eher<br />

die Ausnahme als die Regel ist, erscheint vor<br />

allem die Lehreraus- <strong>und</strong> -fortbildung stark<br />

ausbaufähig.<br />

Ähnliches gilt auch für die kompetente<br />

<strong>und</strong> kontinuierliche Anleitung <strong>und</strong> Begleitung<br />

des Berufswahlprozesses. Denn in beiden –<br />

wie wir aufgezeigt haben, eng verknüpften –<br />

Bereichen, können neue Wege <strong>der</strong> Gerechtigkeit,<br />

sowohl in <strong>der</strong> Bildung als auch zwischen<br />

den Geschlechtern geschaffen werden.<br />

Sich auf neue Wege zu mehr Chancengerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> Chancengleichheit zu begeben,<br />

heißt eben, die Kraft <strong>und</strong> den Mut aufzubringen,<br />

die alten ausgetretenen Pfade zu verlassen<br />

<strong>und</strong> gut gerüstet mit festem Schuhwerk<br />

<strong>und</strong> mit dem Leitbild des Gleichstellungsberichts<br />

als Kompass voranzugehen. Insbeson<strong>der</strong>e<br />

gilt es, in allen Politikbereichen die Alltagsbef<strong>und</strong>e<br />

von Geschlechterungerechtigkeiten<br />

bewusst <strong>und</strong> transparent zu machen. Vor<br />

allem in <strong>der</strong> Bildungspolitik Bremens reichen<br />

isolierte Betrachtungen nicht, Klagen allein<br />

schon lange nicht mehr. Politikberatend<br />

gilt es, die Hinweise <strong>der</strong> Wissenschaft aufzunehmen,<br />

das Für <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong> auch <strong>der</strong><br />

bildungspolitischen Handlungsempfehlungen<br />

des ersten B<strong>und</strong>esgleichstellungsberichts<br />

abzuwägen. Denn Bildung <strong>und</strong> Ausbildung<br />

sind die ersten Meilensteine <strong>im</strong> Erwerbsverlauf<br />

<strong>und</strong> Knotenpunkte tragen<strong>der</strong> Lebensentscheidungen.<br />

Es gibt erst dann etwas zu<br />

feiern, wenn aus Lebensverläufen tatsächlich<br />

Lebensfairläufe werden.


124<br />

3<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Soziales <strong>und</strong><br />

Stadtentwicklung


125<br />

S O Z I A L E S S TADTENTWICKLUNG<br />

Familien müssen planen<br />

Bremen <strong>und</strong> die B<strong>und</strong>espolitik taktieren<br />

<strong>und</strong> <strong>im</strong>provisieren be<strong>im</strong> U3-Ausbau<br />

T H O M A S S C H W A R Z E R<br />

Analysen des Statistischen B<strong>und</strong>esamtes vom<br />

November 2012 zeigen: Der Ausbau <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>tagesbetreuung<br />

in Deutschland verläuft viel zu<br />

schleppend. B<strong>und</strong>esweit fehlten <strong>im</strong> März 2012<br />

noch 220.000 Plätze, wenn <strong>im</strong> August 2013<br />

tatsächlich 39 Prozent aller Kin<strong>der</strong> unter drei<br />

Jahren ein Betreuungsplatz geboten werden<br />

soll. Das zumindest hat ›die Politik‹ den Eltern<br />

mit kleinen Kin<strong>der</strong>n zugesichert. Doch nicht<br />

allein das Familienministerium zeigte sich<br />

ernüchtert. Schließlich war die Lücke um<br />

60.000 Plätze größer als erwartet.<br />

Ernüchternd waren auch die Zahlen für das<br />

B<strong>und</strong>esland Bremen. Lediglich Nordrhein-Westfalen<br />

war 2012 noch weiter als Bremen von <strong>der</strong><br />

Zielzahl 39 Prozent entfernt. Selbst das Saarland<br />

<strong>und</strong> Schleswig-Holstein, wie Bremen ebenfalls<br />

in einer Haushaltsnotlage, sind mit dem<br />

sogenannten ›Krippenausbau‹ bisher besser<br />

vorangekommen.<br />

Tatsächlich ist <strong>der</strong> sogenannte Krippenausbau<br />

von <strong>der</strong> B<strong>und</strong>espolitik unterfinanziert.<br />

Es fängt schon mit <strong>der</strong> damaligen Zielzahl von<br />

35 Prozent an, die vom B<strong>und</strong> <strong>und</strong> den Län<strong>der</strong>n<br />

be<strong>im</strong> Krippengipfel 2007 festgelegt wurde.<br />

Sie beruht auf dem damaligen Erfahrungsstand<br />

<strong>und</strong> relativ unsicheren Schätzungen<br />

<strong>und</strong> Einschätzungen des zukünftigen Bedarfs.<br />

Außerdem handelt es sich um einen Durchschnittswert:<br />

hochgerechnet für den möglichen<br />

Bedarf in ländlichen, kleinstädtischen<br />

<strong>und</strong> großstädtischen Regionen. Doch seit 2007<br />

haben das Interesse <strong>und</strong> <strong>der</strong> Bedarf an frühkindlicher<br />

Betreuung erheblich zugenommen.<br />

›Der Bedarf läuft uns buchstäblich davon‹,<br />

erklärte jüngst Münchens Oberbürgermeister<br />

Christian Ude, gleichzeitig Präsident des<br />

Deutschen Städtetages.<br />

Um angesichts dieser Unsicherheiten zu soli<strong>der</strong>en<br />

Planzahlen zu gelangen, empfahlen das<br />

Familienministerium <strong>und</strong> <strong>der</strong> Deutsche Städtetag<br />

schon relativ früh Elternbefragungen. In<br />

Großstädten, die gezielt solche Elternbefragungen<br />

zu den unter dreijährigen Kin<strong>der</strong>n durchführten,<br />

kreuzten 50 bis 60 Prozent <strong>der</strong> befragten<br />

Eltern an, einen Betreuungsplatz zu<br />

benötigen. Trotz dieser Ergebnisse war das<br />

Familienministerium aber lediglich bereit, die<br />

allgemeine Zielzahl von 35 Prozent mit <strong>der</strong><br />

Methode ›Pi mal Daumen‹ auf 39 Prozent<br />

zu erhöhen. Ein Wert, an dem sich auch die<br />

Politik in Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven orientiert.<br />

Noch wichtiger für beide Städte wird jedoch<br />

<strong>der</strong> ebenfalls für 2013 geplante Rechtsanspruch.<br />

Ab August 2013 haben alle Eltern mit<br />

Kin<strong>der</strong>n zwischen einem <strong>und</strong> drei Jahren<br />

einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz.<br />

Faktisch ist es <strong>der</strong>zeit eine offene<br />

Frage, ob dann in Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven<br />

Familien für 39, 50 o<strong>der</strong> 60 Prozent ihrer<br />

Jüngsten einen Betreuungsplatz ›nachfragen‹.<br />

Denn ab August muss dem tatsächlichen<br />

Bedarf entsprochen werden. Doch wie hoch<br />

wird <strong>der</strong> in Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven sein?<br />

Einen ersten Anhaltspunkt dazu bieten<br />

ebenfalls die vom Statistischen B<strong>und</strong>esamt<br />

2012 vorgelegten Zahlen für alle B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>.<br />

Danach ist Rheinland-Pfalz, neben dem Stadtstaat<br />

Hamburg, das am weitesten fortgeschrittene<br />

westdeutsche B<strong>und</strong>esland be<strong>im</strong> Krippenausbau<br />

(Abb. 1). Gibt es dort weniger Umsetzungsprobleme?<br />

In Rheinland-Pfalz gibt es<br />

bereits einen umgesetzten Rechtsanspruch auf<br />

einen Betreuungsplatz für Kin<strong>der</strong> <strong>im</strong> Alter<br />

zwischen zwei <strong>und</strong> drei Jahren. Dadurch<br />

musste bereits 2012 dem tatsächlichen Betreuungsbedarf<br />

<strong>der</strong> Familien entsprochen werden.<br />

Das Ergebnis lautet: Im Flächenland Rheinland-Pfalz<br />

bevorzugen die Familien für zwei


126<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

1 Eine ebenfalls vergleichsweise<br />

geringere<br />

Erwerbstätigkeit <strong>der</strong><br />

Mütter vor <strong>der</strong> Geburt<br />

eines Kindes <strong>im</strong><br />

Jahr 2011 gibt es in<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

(60 Prozent), <strong>im</strong> Saarland<br />

(61 Prozent), in<br />

Berlin, Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

<strong>und</strong> in Rheinland-Pfalz<br />

(jeweils 63 Prozent).<br />

Am höchsten war<br />

die Erwerbstätigkeit<br />

<strong>der</strong> Frauen <strong>im</strong> Osten<br />

Deutschlands in<br />

Brandenburg <strong>und</strong> in<br />

Sachsen (75 Prozent),<br />

<strong>im</strong> Westen in Bayern<br />

(70 Prozent) <strong>und</strong><br />

Hamburg (68 Prozent).<br />

Abb. 1: Betreuungsquoten 1 von Kin<strong>der</strong>n<br />

unter drei Jahren 2007 <strong>und</strong> 2012 nach Län<strong>der</strong>n<br />

in Prozent<br />

von drei Kin<strong>der</strong>n in diesem Alter eine öffentliche<br />

Tagesbetreuung (68 Prozent).<br />

Einen weiteren Anhaltspunkt für den<br />

erwartbaren Bedarf liefern die b<strong>und</strong>esweiten<br />

Zahlen des Statistischen B<strong>und</strong>esamts zum<br />

sogenannten Elterngeld. Sie zeigen für Kin<strong>der</strong>,<br />

die in <strong>der</strong> zweiten Hälfte 2011 geboren wurden,<br />

dass knapp zwei Drittel <strong>der</strong> Mütter (66<br />

Prozent) vor <strong>der</strong> Geburt erwerbstätig waren<br />

sowie 89 Prozent <strong>der</strong> Väter. Die Väter <strong>im</strong> B<strong>und</strong>esland<br />

Bremen erreichen einen annähernd<br />

gleich hohen Anteil mit 86 Prozent. Bei den<br />

Frauen sind jedoch lediglich 55 Prozent vor<br />

<strong>der</strong> Geburt erwerbstätig, dem b<strong>und</strong>esweit mit<br />

Abstand geringsten Wert. 1 Das verweist auf<br />

eine vergleichsweise traditionelle Arbeitsteilung<br />

zwischen Männern <strong>und</strong> Frauen. In die<br />

gleiche Richtung deutet auch <strong>der</strong> Anteil jener<br />

Väter, die nach <strong>der</strong> Geburt eines Kindes<br />

ebenfalls Elterngeld beantragen (meistens für<br />

zwei Monate), es sind insgesamt 21 Prozent.<br />

Lediglich <strong>im</strong> Saarland (19 Prozent) <strong>und</strong> in<br />

Nordrhein-Westfalen (20,5 Prozent) nutzen<br />

noch weniger Väter das Elterngeld. Dennoch<br />

zeigt die Entwicklung <strong>der</strong> vergangenen Jahre,<br />

dass aktuell <strong>der</strong> weit überwiegende Teil <strong>der</strong><br />

Mütter, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Väter sowieso, lediglich<br />

kurzzeitig ihre Erwerbstätigkeit unterbricht.<br />

Im Anschluss ist deshalb für die meisten<br />

Familien eine verlässliche Kin<strong>der</strong>betreuung<br />

zwingend erfor<strong>der</strong>lich.<br />

Sachsen-Anhalt<br />

51,8<br />

57,5<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Brandenburg<br />

44,1<br />

43,4<br />

53,6<br />

53,4<br />

Thüringen<br />

Sachsen<br />

Berlin<br />

37,5<br />

34,6<br />

39,8<br />

42,6<br />

49,8<br />

46,4<br />

Hamburg<br />

22,0<br />

35,8<br />

Rheinland-Pfalz<br />

12,0<br />

27,0<br />

Schleswig-Holstein<br />

8,2<br />

24,2<br />

Hessen<br />

Baden-Württemberg<br />

Bayern<br />

12,4<br />

11,5<br />

10,7<br />

23,7<br />

23,1<br />

23,0<br />

Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

6,9<br />

22,1<br />

Saarland<br />

Bremen<br />

12,1<br />

10,5<br />

22,1<br />

21,2<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

6,9<br />

18,1<br />

0 10 20 30 40 50 60<br />

2007 Zuwachs 2007 bis 2012<br />

1 Anteil <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in Kin<strong>der</strong>tagesbetreuung an allen Kin<strong>der</strong>n dieser Altersgruppe<br />

Quelle: Statistisches B<strong>und</strong>esamt, Kin<strong>der</strong>tagesbetreuung in Deutschland 2012, S. 8


127<br />

S O Z I A L E S S TADTENTWICKLUNG<br />

Die Situation <strong>im</strong> B<strong>und</strong>esland Bremen –<br />

<strong>im</strong> Län<strong>der</strong>vergleich<br />

Das zentrale ›Umsetzungsproblem‹ be<strong>im</strong> vom<br />

B<strong>und</strong> unterfinanzierten Ausbau frühkindlicher<br />

Betreuungsangebote ist die angespannte<br />

Haushaltslage <strong>der</strong> Län<strong>der</strong>, Städte <strong>und</strong> Gemeinden.<br />

Beson<strong>der</strong>s für Haushaltsnotlagelän<strong>der</strong> wie<br />

Bremen ist <strong>der</strong> kosten- <strong>und</strong> personalintensive<br />

Krippenausbau eine enorme Herausfor<strong>der</strong>ung.<br />

Deshalb befinden sich die hoch verschuldeten<br />

Län<strong>der</strong> Nordrhein-Westfalen, Bremen <strong>und</strong><br />

das Saarland auch ganz am Ende be<strong>im</strong> Län<strong>der</strong>vergleich<br />

(vgl. Abb. 1). Dennoch ist allein die<br />

Finanzsituation zwar eine weitreichende,<br />

aber keine hinreichende Erklärung. Das wird<br />

deutlich an den ›wohlhabenden‹ B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n<br />

Bayern <strong>und</strong> Baden-Württemberg. Sie<br />

müssten aufgr<strong>und</strong> dieser Erklärung zumindest<br />

vor Rheinland-Pfalz <strong>und</strong> vor allem vor Schleswig-Hostein<br />

liegen. Doch Schleswig-Holstein,<br />

ebenfalls in einer extremen Haushaltsnotlage,<br />

aber auch Rheinland-Pfalz, verweisen auf<br />

einen weiteren Einflussfaktor: die politische<br />

Prioritätensetzung. Dadurch konnte Schleswig-<br />

Holstein, trotz einer geringen Betreuungsquote<br />

von lediglich acht Prozent <strong>im</strong> Jahr 2007<br />

schneller als an<strong>der</strong>e B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong> bis auf 24<br />

Prozent vorankommen. Die ebenfalls relativ<br />

gute Situation in Hamburg beruht vor allem<br />

auf einer bereits 2007 relativ hohen Quote von<br />

22 Prozent. Die Berücksichtigung des Aspektes<br />

<strong>der</strong> ›politischen Priorität‹ ist gerade für das<br />

B<strong>und</strong>esland Bremen wenig schmeichelhaft.<br />

Denn auch in B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n, die lange Jahre<br />

von <strong>der</strong> CDU regiert wurden, wie Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

<strong>und</strong> Schleswig-Holstein, wird 2012 ein<br />

höherer Anteil von Kin<strong>der</strong>n unter drei Jahren<br />

betreut. Und das, obwohl diese beiden B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong><br />

von einem niedrigeren Niveau als<br />

Bremen gestartet sind.<br />

Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven <strong>im</strong><br />

Krippenausbau-Dilemma<br />

Was kann getan werden, wenn in Bremen <strong>und</strong><br />

Bremerhaven 17 Monate vor dem Rechtsanspruch<br />

auf einen Krippenplatz lediglich Plätze<br />

für 21 Prozent <strong>der</strong> berechtigten Kin<strong>der</strong> vorhanden<br />

sind? Genauer gesagt, 3.432 Plätze insgesamt,<br />

2.737 in Tageseinrichtungen <strong>und</strong> 695<br />

in <strong>der</strong> Tagespflege. Es hilft faktisch relativ<br />

wenig, auf die <strong>zur</strong>ückliegenden vier Jahre (!)<br />

zu verweisen. Denn seit dem Kin<strong>der</strong>för<strong>der</strong>ungsgesetz<br />

(KiföG 2008) war in Bremen<br />

bekannt, dass <strong>der</strong> B<strong>und</strong> lediglich ein Drittel<br />

<strong>der</strong> Kosten für den Krippenausbau übern<strong>im</strong>mt<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Zwei-Städte-Staat Bremen die restlichen<br />

zwei Drittel. Doch viel zu lange fehlte<br />

für diesen Anteil <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen eine solide<br />

durchgerechnete Ausbau- <strong>und</strong> Finanzierungsplanung.<br />

Diese un<strong>zur</strong>eichende politische Prioritätensetzung<br />

muss erwähnt werden, auch<br />

wenn sie keinen konkreten Beitrag <strong>zur</strong> Lösung<br />

des aktuellen Ausbau-Dilemmas liefert.<br />

B<strong>und</strong>esweit werden mehrere Alternativen<br />

diskutiert. Einige Großstädte, insbeson<strong>der</strong>e<br />

in Nordrhein-Westfalen, kapitulierten vor<br />

<strong>der</strong> Zielzahl 39 Prozent bis August 2013. Sie<br />

for<strong>der</strong>n, den Rechtsanspruch weiter in die<br />

Zukunft zu verschieben. Der Deutsche Städte<strong>und</strong><br />

Gemeindeb<strong>und</strong> schlug vor, durch größere<br />

Gruppen mehr Kin<strong>der</strong> betreuen zu können.<br />

Das kritisierte wie<strong>der</strong>um das Familienministerium.<br />

Und die Städte in Baden-Württemberg<br />

setzen sich dafür ein, dass <strong>der</strong> Rechtsanspruch<br />

zunächst nur für Kin<strong>der</strong> ab zwei Jahren gelten<br />

soll. In Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven wurde mit<br />

diesem Dilemma komplett unterschiedlich<br />

verfahren – obwohl sich beide Städte in <strong>der</strong><br />

›gleichen‹ Haushaltsnotlage befinden.


128<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Abb. 2: Betreuungsplätze 2012 <strong>und</strong> Planung<br />

2013 für Kin<strong>der</strong> unter drei Jahren – Stadt Bremen<br />

Tagesbetreuung<br />

Tagespflege<br />

März 2012 insgesamt<br />

geplanter U3-Ausbau 2013<br />

für 2½ bis 3-Jährige<br />

Tagespflege<br />

zusätzlich bis August 2013<br />

neue Plätze insgesamt<br />

2013 insgesamt<br />

2.330<br />

658<br />

2.988<br />

1.671<br />

109<br />

353<br />

2.133<br />

5.121<br />

22,4<br />

36,9<br />

Quellen: Statistische Ämter des B<strong>und</strong>es <strong>und</strong> <strong>der</strong> Län<strong>der</strong>, Kin<strong>der</strong>tagesbetreuung<br />

regional 2012, S. 24; Die Senatorin für Soziales,<br />

Kin<strong>der</strong>, Jugend <strong>und</strong> Frauen, Vorlage für die Sitzung des Jugendhilfeausschusses<br />

am 19.10.2012, Lfd. Nr.: 88/12 einschließlich<br />

Anhang vom 02.10.2012<br />

❚ In Bremen wird das knappe Geld nicht in erster<br />

Linie in Gebäude, son<strong>der</strong>n in Plätze investiert.<br />

Dazu wurden die in <strong>der</strong> Stadt schon vorhandenen<br />

Kin<strong>der</strong>gartengruppen <strong>der</strong> Drei- bis Sechsjährigen<br />

für jüngere Kin<strong>der</strong> quasi nach ›unten‹ geöffnet.<br />

Ab August 2012 können bereits zweijährige Kin<strong>der</strong>,<br />

die zwischen August <strong>und</strong> Dezember drei Jahre<br />

alt werden, schon vor ihrem dritten Geburtstag eine<br />

Einrichtung besuchen.<br />

❚ In Bremerhaven wird, zugespitzt gesagt, in den<br />

Bau von Kin<strong>der</strong>krippen ›<strong>im</strong> Akkord‹ investiert.<br />

Bremen<br />

Plätze<br />

insgesamt<br />

Versorgungsquote<br />

in Prozent<br />

Erfreulich an <strong>der</strong> Entwicklung in Bremen<br />

ist die politische Kraftanstrengung, an <strong>der</strong> Zielzahl<br />

39 Prozent festzuhalten. Versucht wird,<br />

durch eine ›Schlussoffensive‹ doch noch bis<br />

zum August 2013 für r<strong>und</strong> 40 Prozent <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> unter drei Jahren eine Betreuung anbieten<br />

zu können. Dazu hat die Sozialsenatorin<br />

<strong>im</strong> November 2012 eine entsprechende Ausbauplanung<br />

vorgelegt. Die ambitionierten<br />

Planzahlen verdeutlichen die folgende Vorgehensweise.<br />

Laut Statistischem B<strong>und</strong>esamt<br />

wurden <strong>im</strong> März 2012 in <strong>der</strong> Stadt Bremen insgesamt<br />

2.988 Kin<strong>der</strong> betreut (22,4 Prozent):<br />

2.330 in <strong>der</strong> Tagesbetreuung <strong>und</strong> 658 Kin<strong>der</strong> in<br />

<strong>der</strong> Tagespflege (vgl. Abb. 2). Bei diesen Zahlen<br />

werden nach einem b<strong>und</strong>esweit einheitlichen<br />

Standard, Krabbelgruppen sowie Spielkreise,<br />

die keine durchgehende Betreuung anbieten,<br />

nicht mitgezählt. Bis zum August 2013 sollen<br />

in Bremen für weitere 1.671 Kin<strong>der</strong> zwischen<br />

zwei <strong>und</strong> drei Jahren Plätze in den nach ›unten<br />

geöffneten‹ Kin<strong>der</strong>gartengruppen entstehen –<br />

faktisch also keine Krippenplätze. Neue Plätze<br />

in Krippen <strong>und</strong> Kleinkindgruppen sollen bis<br />

August 2013 <strong>im</strong> Umfang von 353 entstehen<br />

<strong>und</strong> weitere 50 Plätze bis zum Frühjahr 2014.<br />

Außerdem soll die Zahl in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>tagespflege<br />

von 658 um 109 auf 767 Plätze steigen.<br />

Auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage dieser verbindlichen Planungen<br />

könnten <strong>im</strong> August 2013 in <strong>der</strong> Stadt<br />

Bremen r<strong>und</strong> 5.200 Kin<strong>der</strong> betreut werden.<br />

Bei insgesamt 13.900 Kin<strong>der</strong>n unter drei<br />

Jahren wären das Plätze für 37 Prozent.<br />

Die Planungen <strong>der</strong> Sozialsenatorin <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Sozialverwaltung beruhen insgesamt sogar auf<br />

5.856 Plätzen (42 Prozent). Im Gegensatz <strong>zur</strong><br />

B<strong>und</strong>esstatistik zählen sie sehr wohl auch<br />

die Kleingruppen <strong>und</strong> Spielkreise ohne durchgehende<br />

Betreuung mit. Bei diesen unterschiedlichen<br />

Zählweisen handelt es sich aber<br />

keineswegs um geringfügige Unterschiede. Im<br />

Hinblick auf den bevorstehenden Rechtsanspruch<br />

ab August 2013 ist diese Frage von<br />

erheblicher Bedeutung. Denn <strong>im</strong> Bremischen<br />

Gesetz <strong>zur</strong> För<strong>der</strong>ung von Kin<strong>der</strong>n in Tageseinrichtungen<br />

<strong>und</strong> Tagespflege (BremKTG) ist<br />

in § 2 festgelegt, dass die För<strong>der</strong>ung bereits<br />

bei einer Betreuungsdauer von mindestens<br />

zehn St<strong>und</strong>en erfüllt ist. Und zehn St<strong>und</strong>en,<br />

verteilt auf zwei o<strong>der</strong> drei Tage die Woche,<br />

bieten durchaus auch Krabbelgruppen<br />

<strong>und</strong> Spielkreise.<br />

Genau diese Problematik führt wie<strong>der</strong><br />

<strong>zur</strong>ück <strong>zur</strong> Ausgangsfrage, welchen Betreuungsbedarf<br />

die Familien in Bremen tatsächlich<br />

haben. Genauer gesagt, benötigen sie wöchentliche<br />

Betreuungszeiten von zehn St<strong>und</strong>en, verteilt<br />

auf zwei o<strong>der</strong> drei Tage, von 20 o<strong>der</strong> 30<br />

St<strong>und</strong>en bis in den frühen Nachmittag o<strong>der</strong><br />

vor allem Ganztagsplätze? Diese Fragen sind in<br />

Bremen aufgr<strong>und</strong> des praktizierten Angebots-


129<br />

S O Z I A L E S S TADTENTWICKLUNG<br />

Abb. 3: Betreuungsplätze 2012<br />

<strong>und</strong> Planung 2013 für Kin<strong>der</strong> unter<br />

drei Jahren – Stadt Bremerhaven<br />

Tagesbetreuung<br />

Tagespflege<br />

März 2012 insgesamt<br />

geplanter U3-Ausbau 2012<br />

Tagesbetreuung<br />

Tagespflege<br />

geplanter U3-Ausbau 2013<br />

Tagesbetreuung<br />

Tagespflege<br />

neue Plätze insgesamt<br />

2013 insgesamt<br />

Plätze<br />

insgesamt<br />

407<br />

37<br />

444<br />

192<br />

71<br />

192<br />

71<br />

526<br />

970<br />

Erfreulich an <strong>der</strong> Entwicklung in Bremerhaven<br />

ist ebenfalls <strong>der</strong> politische Wille, zumindest<br />

die ursprüngliche Zielzahl von 35 Prozent<br />

erreichen zu wollen. Das ist eine nicht unerhebliche<br />

Korrektur <strong>der</strong> bisher verfolgten Politik.<br />

Denn in <strong>der</strong> Vergangenheit begründeten<br />

Stadtpolitik <strong>und</strong> Sozialverwaltung das geringe<br />

Angebot für die Jüngsten in <strong>der</strong> Stadt mit<br />

einem vergleichsweise geringeren Bedarf <strong>der</strong><br />

Familien als in an<strong>der</strong>en Großstädten. So gab es<br />

in Bremerhaven <strong>im</strong> Jahr des Kin<strong>der</strong>för<strong>der</strong>ungsgesetzes<br />

(KiföG 2008) für 2.865 Kin<strong>der</strong> unter<br />

drei Jahren lediglich 200 Krippenplätze (7 Prozent).<br />

Nach vier Jahren verweisen die Zahlen<br />

des Statistischen B<strong>und</strong>esamtes für März 2012<br />

auf insgesamt 444 Plätze (16 Prozent), davon<br />

407 Plätze in Kin<strong>der</strong>tageseinrichtungen <strong>und</strong><br />

37 Plätze in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>tagespflege. Um auf den<br />

auch in Bremerhaven steigenden Betreuungsbedarf<br />

für die Jüngsten zu reagieren, brachte<br />

<strong>der</strong> Magistrat <strong>im</strong> Juni 2011 ein Neubauprogramm<br />

für sechs Kin<strong>der</strong>krippen auf den Weg.<br />

Sie werden <strong>der</strong>zeit gebaut, für eine fehlt noch<br />

das passende Gr<strong>und</strong>stück, aber zwei sind<br />

nahezu fertig. Im Herbst 2011 hat <strong>der</strong> Magistrat<br />

Bremerhaven außerdem beschlossen, sich<br />

an den ›Elternbefragungen zum Betreuungsbedarf<br />

U3‹ 2 zu beteiligen. Durch diese solide <strong>und</strong><br />

repräsentative Befragung <strong>der</strong> Eltern ergab sich<br />

unter an<strong>der</strong>em ein differenzierter Blick auf<br />

den Betreuungsbedarf <strong>der</strong> Familien in Bremerhaven.<br />

In <strong>der</strong> Studie wurden die Eltern nach<br />

ihrem Betreuungswunsch gefragt, er lag 2012<br />

bei 50 Prozent. Da aber nicht alle Eltern ihre<br />

›Wünsche‹ auch tatsächlich in einen Betreuungsbedarf<br />

umsetzen, beträgt dieser in Bremerhaven<br />

insgesamt 40 Prozent. Aus diesem<br />

Betreuungsbedarf ergibt sich auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage<br />

<strong>der</strong> gesetzlichen Anspruchskriterien 3 ,<br />

für den ab August geltenden Rechtsanspruch,<br />

ein tatsächlicher Bedarf von 36 Prozent.<br />

Seitdem die Ergebnisse <strong>der</strong> Elternbefragung<br />

vorliegen, orientiert sich die Stadtpolitik in<br />

Bremerhaven nun auch öffentlich an <strong>der</strong> Ziel-<br />

Versorgungsquote<br />

in<br />

Prozent<br />

15,9<br />

34,6<br />

Quellen: Statistische Ämter des B<strong>und</strong>es <strong>und</strong> <strong>der</strong> Län<strong>der</strong>,<br />

Kin<strong>der</strong>tagesbetreuung regional 2012, S. 24; Seestadt Bremerhaven,<br />

<strong>der</strong> Magistrat,Dezernat III, Amt für Jugend, Familie <strong>und</strong> Frauen,<br />

Vorlage Nr. AfJFF 3/2012<br />

verfahrens jedoch nicht annähernd zu klären.<br />

Denn die Zahl <strong>der</strong> Betreuungsplätze <strong>und</strong> ihr<br />

zeitlicher Umfang ist an die politisch durchsetzbaren<br />

finanziellen Mittel <strong>im</strong> Haushaltsnotlageland<br />

Bremen geb<strong>und</strong>en – <strong>und</strong> nicht an<br />

dem tatsächlichen Betreuungsbedarf, den die<br />

Eltern in den Einrichtungen ›nachfragen‹. Dort<br />

werden die Eltern vielmehr <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong><br />

auf die Realitäten hingewiesen: dass kein Platz<br />

verfügbar ist <strong>und</strong> Wartelisten existieren, auf<br />

denen alleinerziehende <strong>und</strong> erwerbstätige<br />

Eltern Vorrang haben; dass Plätze verfügbar<br />

sind, aber in weiter entfernten Einrichtungen;<br />

dass es zwar einen Platz gibt, aber nicht den<br />

passenden Zeitumfang <strong>zur</strong> erfor<strong>der</strong>lichen<br />

Erwerbstätigkeit <strong>und</strong> so weiter <strong>und</strong> so weiter.<br />

Kurz gesagt, in vielen Einrichtungen versuchen<br />

zwar die Erzieherinnen alles Menschenmögliche<br />

<strong>und</strong> praktizieren flexible Lösungen.<br />

Die Möglichkeiten <strong>der</strong> Einrichtungen <strong>und</strong><br />

ihrer Mitarbeiterinnen ›vor Ort‹, stoßen jedoch<br />

rasch an die unterfinanzierten Rahmenbedingungen.<br />

Dadurch wird <strong>der</strong> tatsächliche Bedarf<br />

<strong>der</strong> Eltern ›runtergehandelt‹.<br />

Bremerhaven<br />

2 Dabei handelt es sich<br />

um ein wissenschaftlich<br />

solides, repräsentatives,<br />

differenziertes <strong>und</strong> relativ<br />

preiswertes Instrument<br />

für die Befragung<br />

des Betreuungsbedarfs<br />

von Eltern, durchgeführt<br />

vom Forschungsverb<strong>und</strong><br />

des Deutschen Jugendinstituts<br />

(DJI) <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Technischen Universität<br />

Dortm<strong>und</strong>. Diese Art<br />

<strong>der</strong> Elternbefragung hat<br />

eindeutige Vorteile<br />

gegenüber (teureren)<br />

Angeboten von kommerziellen<br />

Meinungsforschungsinstituten,<br />

wie<br />

zum Beispiel ›Forsa‹.<br />

Ihre <strong>im</strong> August 2012<br />

für die Stadt Bremen<br />

vorgelegten Ergebnisse<br />

hatten keine repräsentative<br />

Basis <strong>und</strong> waren<br />

faktisch wertlos.<br />

3 Ab August 2013 gilt für<br />

die Altersgruppe <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> unter einem Jahr<br />

ein Rechtsanspruch<br />

lediglich unter spezifischen<br />

Bedingungen (vgl.<br />

§ 24 SGB VIII). Ab <strong>der</strong><br />

Vollendung des ersten<br />

Jahres gilt ein absoluter<br />

Rechtsanspruch auf<br />

eine Betreuung in einer<br />

Kin<strong>der</strong>tageseinrichtung<br />

o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>tagespflege.


130<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 2<br />

zahl 36 Prozent für das Jahr 2013. Es ist jedoch<br />

unwahrscheinlich, das die vielen noch neu zu<br />

schaffenden Plätze bis August tatsächlich vorhanden<br />

sein werden. Intern wird damit gerechnet,<br />

dass <strong>im</strong> Sommer 2013 mindestens noch<br />

200 Plätze fehlen werden. Gerade erst werden<br />

die ersten Neubauten fertig <strong>und</strong> die Einstellung<br />

von Personal sowie <strong>der</strong> Aufbau neuer<br />

Gruppen benötigt zusätzliche Zeit. Für das<br />

Jahr 2013 sind insgesamt 970 Plätze geplant<br />

(r<strong>und</strong> 35 Prozent), 791 Plätze in Tageseinrichtungen<br />

<strong>und</strong> 179 Plätze in <strong>der</strong> Tagespflege.<br />

Schwer zu kalkulieren sind in Bremen <strong>und</strong><br />

Bremerhaven die Wirkungen des aktuell von<br />

<strong>der</strong> B<strong>und</strong>esregierung gesetzlich eingeführten<br />

Betreuungsgeldes. Familien, die ihre Kin<strong>der</strong><br />

nicht in eine Betreuungseinrichtung geben,<br />

erhalten monatlich 100 Euro. Ein völlig kontraproduktives<br />

politisches Signal, wenn das Familienministerium<br />

gleichzeitig die Städte <strong>und</strong><br />

Gemeinden öffentlich <strong>und</strong> finanziell unterstützt,<br />

um auf jeden Fall für 39 Prozent <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> unter drei Jahren Betreuungsplätze<br />

anzubieten. Für Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven ist<br />

zu befürchten, dass aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> vergleichsweise<br />

traditionellen Arbeitsteilung zwischen<br />

Männern <strong>und</strong> Frauen <strong>und</strong> <strong>der</strong> überdurchschnittlichen<br />

Armut das Betreuungsgeld<br />

tatsächlich zahlreiche Eltern von einer öffentlichen<br />

Betreuung abhalten wird. Deshalb legt<br />

dieses Gesetz einen bildungs- <strong>und</strong> betreuungspolitischen<br />

Rückwärtsgang ein, den am Ende<br />

angeblich niemand wirklich wollte – für den<br />

aber dennoch eine Mehrheit in <strong>der</strong> Regierungskoalition<br />

von CDU, CSU <strong>und</strong> FDP <strong>im</strong> B<strong>und</strong>estag<br />

gest<strong>im</strong>mt hat. 4 Auch Angela Merkel <strong>und</strong><br />

Ursula von <strong>der</strong> Leyen, die in <strong>der</strong> CDU überhaupt<br />

erst eine mo<strong>der</strong>nisierte Frauen- <strong>und</strong><br />

Familienpolitik mühsam durchgesetzt haben.<br />

For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

❚ Schnellstmögliche Abschaffung des sogenannten<br />

›Betreuungsgeldes‹.<br />

❚ Die Stadt Bremen muss endlich dem Beispiel<br />

Bremerhavens folgen <strong>und</strong> sich an den repräsentativen<br />

<strong>und</strong> preisgünstigen Elternbefragungen des<br />

Forschungsverb<strong>und</strong>es <strong>der</strong> TU Dortm<strong>und</strong> <strong>und</strong> dem<br />

Deutschen Jugendinstitut beteiligen.<br />

❚ Be<strong>im</strong> Ausbau von Angeboten für Kin<strong>der</strong> unter<br />

drei Jahren in den Stadt- <strong>und</strong> Ortsteilen, muss <strong>der</strong><br />

Betreuungs- <strong>und</strong> För<strong>der</strong>bedarf <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> das<br />

wichtigste Kriterium sein <strong>und</strong> nicht wie <strong>der</strong>zeit, die<br />

nachfrage- <strong>und</strong> durchsetzungsstärkste Elternschaft.<br />

❚ In vielen Einrichtungen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>tagesbetreuung<br />

fehlen speziell für die Altersgruppe <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

unter drei Jahren ausgebildete Fachkräfte. Das<br />

gilt in beson<strong>der</strong>em Maße für die frühkindliche<br />

Sprachför<strong>der</strong>ung. Deshalb sind in den Einrichtungen<br />

in viel größerem Umfang als bisher, berufsbegleitende<br />

Fort- <strong>und</strong> Weiterbildungen erfor<strong>der</strong>lich.<br />

Sie sollten in Bremen durch den Aufbau eines<br />

trägerübergreifenden Fortbildungsinstituts für<br />

frühkindliche Lernför<strong>der</strong>ung forciert werden. Ohne<br />

eine solche frühe Sprach-, Lern- <strong>und</strong> Bewegungsför<strong>der</strong>ung<br />

kann die in Bremen ausgeprägte<br />

Bildungsarmut nicht wirksam reduziert werden.<br />

4 Vgl. Müller, Peter/<br />

Pfister, René:<br />

Die Zeitmaschine.<br />

In: Der Spiegel<br />

46/2012, S. 28–34.


131<br />

S O Z I A L E S S TADTENTWICKLUNG<br />

Wohnungsbaupolitik:<br />

Neubau alleine reicht nicht<br />

K A I - O L E H A U S E N<br />

Gegenwärtig beherrscht das Thema Wohnraumversorgung<br />

– nach Jahren des allgemeinen<br />

Desinteresses – in beson<strong>der</strong>er Weise die<br />

politische Agenda. Kontroverse Debatten <strong>im</strong><br />

Zusammenhang mit steigenden Miet- <strong>und</strong><br />

Nebenkosten o<strong>der</strong> dem Verkauf kommunaler<br />

Wohnungsbestände sind die Folge. Dabei ist<br />

tatsächlich festzustellen, dass sich gerade in<br />

Großstädten wie Bremen die Mietpreise in den<br />

vergangenen Jahren von <strong>der</strong> allgemeinen Preis<strong>und</strong><br />

Lohnentwicklung abgekoppelt haben. So<br />

stiegen nach einer aktuellen Studie des Deutschen<br />

Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)<br />

die Mieten in <strong>der</strong> Stadt Bremen von Januar<br />

2007 bis September 2012 um insgesamt 13,5<br />

Prozent (Jahresdurchschnitt 2,2 Prozent). 1<br />

Gleichzeitig verschlechterten sich aber in den<br />

vergangenen Jahren die finanziellen Spielräume<br />

<strong>zur</strong> Befriedigung von Wohnwünschen<br />

für viele <strong>Arbeitnehmer</strong>haushalte mit niedrigen<br />

<strong>und</strong> mittleren Einkommen erheblich.<br />

Die durchschnittlichen Bruttoeinkommen<br />

pro Beschäftigten haben sich in Deutschland<br />

zwischen 2000 <strong>und</strong> 2010 unter Berücksichtigung<br />

<strong>der</strong> allgemeinen Preissteigerungen negativ<br />

entwickelt 2 <strong>und</strong> bei einem Fünftel <strong>der</strong> Vollzeitbeschäftigten<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen liegt das<br />

Bruttomonatsentgelt bei unter 2.000 Euro.<br />

Steigende Wohn- <strong>und</strong> Energiekosten<br />

machen sich aber gerade bei Haushalten mit<br />

niedrigeren Einkommen deutlicher als bei<br />

Haushalten mit höherem Einkommen bemerkbar,<br />

da ein <strong>im</strong>mer größer werden<strong>der</strong> Anteil<br />

des durchschnittlich <strong>zur</strong> Verfügung stehenden<br />

Haushaltseinkommens für das Wohnen aufgewendet<br />

werden muss. Vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> zunehmenden Deregulierung <strong>der</strong> Wohnungsmärkte<br />

<strong>und</strong> des Bedeutungsverlustes <strong>der</strong><br />

klassischen Instrumente des sozialen Wohnungsbaus<br />

in den vergangenen 20 Jahren, hat<br />

die gegenwärtige Situation eine beson<strong>der</strong>e<br />

Brisanz erreicht. Gab es 1990 <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

noch 78.900 Wohnungen für Menschen, die<br />

wegen ihres Einkommens Schwierigkeiten hatten,<br />

sich am freien Wohnungsmarkt mit angemessenem<br />

Wohnraum zu versorgen, so verringerte<br />

sich <strong>der</strong>en Anzahl <strong>im</strong> Jahr 2011 auf nur<br />

noch 9.700 – mit weiter abnehmen<strong>der</strong> Tendenz<br />

in den kommenden Jahren. So werden <strong>im</strong> Jahr<br />

2015 noch r<strong>und</strong> 7.900 Sozialwohnungen <strong>zur</strong><br />

Verfügung stehen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Jahr 2020 sogar nur<br />

noch 5.500. 3 Aber gerade für die Versorgung<br />

von Haushalten mit kleinen <strong>und</strong> mittleren<br />

Einkommen ist die Entwicklung des Sozialwohnungsbestandes<br />

von beson<strong>der</strong>er Relevanz.<br />

Denn es gilt zu berücksichtigen, dass weniger<br />

regulierte Wohnungsmärkte dazu führen, dass<br />

wirtschaftlich schwache Haushalte von einkommensstärkeren<br />

Haushalten aus Wohnlagen<br />

mit höherem Nutzungswert vermehrt verdrängt<br />

werden, in denen das Mietniveau höher<br />

liegt. Aber gerade eine solche Entwicklung<br />

steht den Zielsetzungen <strong>der</strong> Wohnungsbaupolitik<br />

des Senats diametral entgegen, die zum<br />

Ziel hat, ›Bremen <strong>und</strong> Bremerhaven als lebenswerte<br />

<strong>und</strong> attraktive Städte zu erhalten <strong>und</strong><br />

den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Dazu<br />

ist es unter an<strong>der</strong>em erfor<strong>der</strong>lich, ausreichenden<br />

<strong>und</strong> bedarfsgerechten Wohnraum zu<br />

schaffen <strong>und</strong> <strong>der</strong> drohenden Spaltung in arme<br />

<strong>und</strong> reiche Stadtteile entgegenzuwirken‹ 4 .<br />

Aus diesem Gr<strong>und</strong> hat <strong>der</strong> Bremer Senat ein<br />

Wohnraumför<strong>der</strong>ungsprogramm 2012/2013<br />

beschlossen, das auf den bestehenden Mangel<br />

an preisgünstigem Wohnraum <strong>und</strong> belegbaren<br />

Sozialwohnungen <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen reagieren<br />

soll. Dies ist umso dringen<strong>der</strong>, da sich aufgr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Erkenntnisse aus <strong>der</strong> aktuellen<br />

Wohnungsbaukonzeption <strong>der</strong> Stadt Bremen,<br />

die auf Daten des Beratungsinstituts GEWOS<br />

basiert, ohne eine Ausweitung des Wohnungsbestandes<br />

eine Versorgungslücke bis zum Jahr<br />

2020 von 14.000 Wohnungen prognostiziert. 5<br />

1 Vgl. DIW Wochenbericht<br />

Nr. 45.2012, S. 9.<br />

2 Vgl. Böckler Impuls<br />

(2011).<br />

3 Vgl. Senator für<br />

Umwelt, Bau <strong>und</strong><br />

Verkehr: Senatsvorlage<br />

›Stadtentwicklung<br />

durch soziales<br />

Wohnen stärken‹ vom<br />

28.08.2012.<br />

4 Vgl. SUBV ›Stadtentwicklung<br />

durch soziales<br />

Wohnen stärken‹, S. 1.<br />

5 Vgl. GEWOS (2009);<br />

S. 15.


132<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

6 Vgl. Statistisches<br />

<strong>Land</strong>esamt.<br />

Ohne eine Zunahme <strong>der</strong> jährlich fertiggestellten<br />

Wohnungen würde sich <strong>der</strong> bereits<br />

bestehende Nachfrageüberhang am Wohnungsmarkt<br />

jedoch noch einmal deutlich vergrößern.<br />

Die Zahl <strong>der</strong> neu erbauten Wohnungen<br />

hat allerdings in den vergangenen Jahren<br />

nicht einmal die Hälfte des prognostizierten<br />

Bedarfs erreicht. So wurden 2010 lediglich 677<br />

neue Wohnungen errichtet <strong>und</strong> 2011 waren es<br />

sogar nur noch 580. 6 Daneben lag <strong>der</strong> Schwerpunkt<br />

des Wohnungsbaus in Bremen in <strong>der</strong><br />

Vergangenheit hauptsächlich <strong>im</strong> mittleren bis<br />

höherpreisigen Marktsegment. Eine wichtige<br />

Ursache des Rückgangs <strong>der</strong> Investitionen in<br />

den Geschosswohnungsbau ist die begrenzte<br />

Zahl <strong>der</strong> Haushalte, die kostendeckende Kaltmieten<br />

von häufig mehr als 8,50 Euro pro<br />

Quadratmeter überhaupt zahlen können,<br />

die <strong>zur</strong> Amortisation <strong>der</strong> Investitionen realisiert<br />

werden müssen. In den vergangenen<br />

Jahren floss privates Kapital vor allem in<br />

höherpreisige Segmente, da die zu erwartenden<br />

Renditen höher sind. Entstanden sind<br />

dadurch vorwiegend Wohnungen (2010 = 525)<br />

mit vier <strong>und</strong> mehr Z<strong>im</strong>mern.<br />

Neubaubedarf besteht aber vor allem bei<br />

kleineren <strong>und</strong> mittelgroßen Miet- <strong>und</strong> Eigentumswohnungen<br />

in zentrumsnahen <strong>Lage</strong>n, da<br />

sich seit Jahren <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Haushalte mit<br />

drei o<strong>der</strong> mehr Personen verringerte, während<br />

die Ein- <strong>und</strong> Zweipersonenhaushalte an Bedeutung<br />

gewannen. Dieser Trend dürfte sich in<br />

den nächsten Jahren sogar noch verstärken,<br />

da zwar die Bevölkerung in <strong>der</strong> Stadt Bremen<br />

voraussichtlich bis zum Jahr 2025 um 11.750<br />

Menschen abnehmen wird, die Anzahl <strong>der</strong>


133<br />

Privathaushalte aber dennoch weiter um<br />

r<strong>und</strong> 3.500 Menschen zunehmen könnte. 7<br />

Gleichzeitig gibt es einen steigenden Anteil<br />

von Haushalten mit älteren Menschen, die für<br />

eine wachsende Nachfrage nach kleinen,<br />

seniorengerechten Wohnungen sorgt. Diese<br />

müssen barrierefrei <strong>und</strong> den beson<strong>der</strong>en<br />

Bedürf-nissen älterer Bewohner gerecht werden.<br />

Auch das Wohnumfeld muss dabei durch<br />

eine entsprechende Versorgungsinfrastruktur<br />

gekennzeichnet sein (Einzelhandel, ÖPNV,<br />

ärztliche Versorgung, häusliche Pflege).<br />

Bremer Wohnungsbauoffensive<br />

Wohnungsbauprojekte 30 + (2012–2015)<br />

Folgende Ziele hat die Wohnungsbauoffensive<br />

<strong>der</strong> Bremer <strong>Land</strong>esregierung formuliert:<br />

❚ Bau von 14.000 neuen Wohnungen<br />

bis zum Jahr 2020,<br />

❚ ein differenziertes bedarfsgerechtes<br />

Wohnungsangebot,<br />

❚ Schaffung von bezahlbarem Wohnraum<br />

für Haushalte mit kleinerem <strong>und</strong> mittlerem<br />

Einkommen,<br />

❚ den Anteil des geför<strong>der</strong>ten Wohnungsbaus erhöhen,<br />

❚ <strong>der</strong> sozialen Entmischung <strong>der</strong> Stadt<br />

entgegenwirken,<br />

❚ eine regionale Ausgewogenheit des<br />

Wohnungsangebotes sicherstellen,<br />

❚ Vorrang <strong>der</strong> Innenentwicklung <strong>und</strong> Stärkung<br />

urbaner Milieus,<br />

❚ Einwohnergewinne ermöglichen.<br />

7 Vgl. vdw/GEWOS<br />

(2011); S. 23/25.


134<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Hierzu wurde unter an<strong>der</strong>em Ende September<br />

2012 <strong>der</strong> Öffentlichkeit eine Liste von Bauflächen<br />

<strong>zur</strong> Umsetzung des Wohnungsbauprogramms<br />

vorgestellt. Es handelt sich größtenteils<br />

um attraktive Bauflächen <strong>und</strong> es wurde<br />

versucht, den sozialen Wohnungsbau auch<br />

in nicht-segregierten Stadtteilen zu platzieren<br />

<strong>und</strong> attraktive Neubaugebiete auszuweisen.<br />

Insgesamt sollen somit bis 2015 Flächen für<br />

insgesamt 5.700 Wohnungen <strong>zur</strong> Verfügung<br />

gestellt werden – davon sollen 50 Prozent von<br />

privaten Bauherren <strong>im</strong> Innenbereich errichtet<br />

werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass<br />

diese Anzahl lediglich auf Annahmen basiert<br />

<strong>und</strong> die Umsetzung keinesfalls als verbindlich<br />

angenommen werden kann. Unabhängig<br />

davon befinden sich die prioritären Projektgebiete<br />

(30+ -Liste), mit <strong>im</strong>merhin 1.850 Wohnungen,<br />

in sehr unterschiedlichen Planungsstadien<br />

hinsichtlich Baurecht <strong>und</strong> Erschließung.<br />

Die Erfahrung zeigt, dass von <strong>der</strong> Aufstellung<br />

eines Bebauungsplans bis <strong>zur</strong> Fertigstellung<br />

<strong>der</strong> Baumaßnahme bis zu vier Jahre benötigt<br />

werden. Damit sind keinesfalls kurzfristige<br />

Entlastungseffekte auf dem Wohnungsmarkt<br />

zu erzielen.<br />

Darüber hinaus hat <strong>der</strong> Senat beschlossen,<br />

dass <strong>im</strong>mer dann, wenn kommunale Wohnbauflächen<br />

verkauft werden o<strong>der</strong> wenn neues<br />

Baurecht geschaffen wird, auch sozialer Wohnungsbau<br />

entstehen soll. Demnach werden auf<br />

Wohnbauflächen, auf denen mehr als zwölf<br />

Wohneinheiten neu geschaffen werden, mindestens<br />

25 Prozent <strong>der</strong> Wohnungen mit entsprechenden<br />

Belegungsbindungen versehen<br />

werden. Mit diesem neuen Wohnraumför<strong>der</strong>ungsprogramm<br />

soll eine gezielte Erweiterung<br />

des Wohnraumangebots in den entsprechenden<br />

Marktsegmenten verstärkt werden. Als Ziel<br />

wurde dabei formuliert, in diesem <strong>und</strong> <strong>im</strong><br />

nächsten Jahr 700 Wohnungen <strong>und</strong> Bestandsmaßnahmen<br />

für Haushalte in Bremen <strong>und</strong><br />

Bremerhaven zu för<strong>der</strong>n, die Zugangsschwierigkeiten<br />

am allgemeinen Wohnungsmarkt<br />

haben (zum Beispiel SGB-II-Bedarfsgemeinschaften,<br />

Haushalte älterer <strong>und</strong> behin<strong>der</strong>ter<br />

Menschen, Familien mit Kin<strong>der</strong>n, junge<br />

Haushalte).<br />

Nach den Plänen des Senats entfallen dabei<br />

140 Wohnungen auf Bremerhaven <strong>und</strong> 140<br />

weitere Wohnungen werden in Bremen-Nord<br />

geför<strong>der</strong>t, obgleich dort in den kommenden<br />

Jahren durch GEWOS nur eine sehr schwache<br />

Nachfrage prognostiziert wurde. Dort, wo <strong>der</strong><br />

eigentliche Bedarf besteht, nämlich <strong>im</strong> Stadtgebiet<br />

Bremens, werden demnach nur 420 zu<br />

för<strong>der</strong>nde Wohnungen errichtet. Zudem soll<br />

ein Fünftel dieser Wohnungen (84 Wohnungen)<br />

für von Wohnungslosigkeit bedrohte<br />

(zum Beispiel Obdachlose, Asylbewerber <strong>und</strong><br />

zugewan<strong>der</strong>te Großfamilien) vorgesehen<br />

werden. Ob die dann noch verbleibenden 336<br />

Wohnungen zu messbaren Entlastungseffekten<br />

führen, ist fraglich. Daneben wird aber nicht<br />

nur <strong>der</strong> Wohnungsneubau geför<strong>der</strong>t werden,<br />

son<strong>der</strong>n auch energetische Mo<strong>der</strong>nisierungen<br />

von Bestands<strong>im</strong>mobilien. Damit werden zwar<br />

keine neuen Wohnungen geschaffen, aber eine<br />

zielgerichtete För<strong>der</strong>ung kann dafür sorgen,<br />

dass Mieter mit geringem Einkommen nicht<br />

durch außergewöhnlich hohe Mietsteigerungen<br />

zusätzlich belastet werden.<br />

Die max<strong>im</strong>ale Miete <strong>im</strong> Neubaubereich darf<br />

dabei eine Höhe von 6,10 Euro je Quadratmeter<br />

nicht überschreiten, bei mo<strong>der</strong>nisierten Objekten<br />

5,60 Euro je Quadratmeter. Eine Mieterhöhung<br />

darf erstmalig nach drei Jahren nach<br />

den gesetzlichen Regelungen des BGB erfolgen,<br />

wobei die gesetzliche Kappungsgrenze auf<br />

zehn Prozent reduziert ist. Das bedeutet also<br />

eine Erhöhung von 6,10 Euro auf max<strong>im</strong>al 6,71<br />

Euro (Neubau) beziehungsweise von 5,60 Euro<br />

auf 6,16 Euro (Mo<strong>der</strong>nisierung). Als berechtigte<br />

Haushalte gelten dabei Haushalte, <strong>der</strong>en Einkommen<br />

max<strong>im</strong>al 60 Prozent über dem Einkommen<br />

liegt, das für eine Wohnberechtigung<br />

nach dem Wohnraumför<strong>der</strong>ungsgesetz maßgeblich<br />

ist. Das bedeutet, dass bei einem alleinstehenden<br />

Rentner ein Bruttoeinkommen von<br />

max<strong>im</strong>al 21.400 Euro (monatlich r<strong>und</strong> 1.800<br />

Euro), bei einem <strong>Arbeitnehmer</strong> von 28.000<br />

Euro (monatlich 2.300 Euro) nicht überschrit-


135<br />

S O Z I A L E S S TADTENTWICKLUNG<br />

ten werden darf. Bei einem <strong>Arbeitnehmer</strong>haushalt<br />

mit zwei Personen beträgt <strong>der</strong> Höchstbetrag<br />

42.000 Euro, mit drei Personen 52.700<br />

Euro. Durch diese erhöhten Einkommensgrenzen<br />

wird <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong> Berechtigten erheblich<br />

erweitert; dies ist durchaus zu begrüßen, da<br />

damit auch <strong>Arbeitnehmer</strong> mit niedrigen <strong>und</strong><br />

mittleren Einkommen in den Genuss einer<br />

entsprechenden För<strong>der</strong>ung kommen könnten.<br />

Das Programm ist aus Sicht <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

insgesamt als eine erste Initiative<br />

zu bewerten, um preisgünstigen Wohnungsneubau<br />

für die oben genannten Zielgruppen<br />

zu initiieren. Inwiefern es aber ausreichende<br />

Anreize für Investoren bietet, bleibt vorerst<br />

abzuwarten, denn <strong>der</strong> hohe Anstieg <strong>der</strong> Neubaukosten<br />

von bis zu 2.000 Euro pro Quadratmeter<br />

in Verbindung mit hohen Gr<strong>und</strong>stückskosten<br />

<strong>und</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungskosten von bis<br />

zu 1.200 Euro pro Quadratmeter lassen nicht<br />

erkennen, ob die gegebenen För<strong>der</strong>möglichkeiten<br />

eine ausreichende Refinanzierung <strong>der</strong><br />

Immobilien sicherstellen. Die Bauherren erhalten<br />

be<strong>im</strong> Neubau von Wohnungen Darlehen<br />

von bis zu 60.000 Euro pro Wohnung, bei<br />

Mo<strong>der</strong>nisierungen von bis zu 40.000 Euro.<br />

Dabei wird <strong>der</strong> marktübliche Zins zehn Jahre<br />

lang um vier Prozent <strong>und</strong> weitere zehn Jahre<br />

um zwei Prozent herabgesetzt. Die Dauer<br />

<strong>der</strong> Belegungsbindung beträgt zwanzig Jahre.<br />

Hinsichtlich <strong>der</strong> befristeten Laufzeit des Programms<br />

<strong>und</strong> den zu vermutenden langen Vorlaufzeiten<br />

<strong>zur</strong> Entwicklung <strong>der</strong> neuen Wohnbaugebiete,<br />

muss geprüft werden, inwieweit<br />

das Konzept über 2013 hinaus weiterentwickelt<br />

werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen,<br />

dass Wohnungsbauför<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong><br />

Fö<strong>der</strong>alismusreform I den Län<strong>der</strong>n obliegt. Vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Verpflichtung des <strong>Land</strong>es<br />

Bremen <strong>zur</strong> Verringerung <strong>der</strong> Neuverschuldung<br />

(›Schuldenbremse‹), sollte das <strong>Land</strong> eine<br />

deutlich verstärkte finanzielle Beteiligung des<br />

B<strong>und</strong>es auch für die Zukunft einfor<strong>der</strong>n.<br />

Weitergehende Maßnahmen<br />

Aus Sicht <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer kann eine<br />

Strategie, die sich vorwiegend auf den Neubau<br />

konzentriert, nicht die gewünschten Entlastungseffekte<br />

auf dem Wohnungsmarkt erzielen.<br />

Das größte Problem auf dem Wohnungsmarkt<br />

ist nicht <strong>der</strong> Mangel an Wohnungen<br />

insgesamt, son<strong>der</strong>n eher die andauernde Verteuerung<br />

von bisher preiswerten Wohnungen.<br />

Dies spiegelt sich <strong>im</strong> Beson<strong>der</strong>en bei den stark<br />

steigenden Mieten <strong>im</strong> Bereich <strong>der</strong> Neuvermietungen<br />

wi<strong>der</strong>. Für eine durchschnittliche Mietwohnung<br />

in Bremen in mittlerer <strong>Lage</strong> <strong>und</strong><br />

normaler Ausstattung mit drei Z<strong>im</strong>mern <strong>und</strong><br />

r<strong>und</strong> 70 Quadratmetern, zahlt man heute<br />

r<strong>und</strong> 6,50 Nettokaltmiete pro Quadratmeter<br />

Wohnfläche – dies entspricht einem Plus von<br />

vier Prozent gegenüber dem Vorjahr (Quelle:<br />

Immobilienverband Deutschland/IVD). Die<br />

Neubauför<strong>der</strong>ung wird dabei von <strong>der</strong> Hoffnung<br />

getrieben, dass, nachdem erst einmal viele<br />

neue Wohnungen gebaut sind, durch sogenannte<br />

›Sickereffekte‹ <strong>der</strong> Nachfragedruck auf<br />

dem Wohnungsmarkt sinkt <strong>und</strong> die Bestandsmieten<br />

wie<strong>der</strong> sinken. Ein entspannter Wohnungsmarkt<br />

ist aber nach dieser Methode erst<br />

nach einem gewissen Umfang an Neubautätigkeit<br />

zu erwarten <strong>und</strong> ob die jetzt genannten<br />

1.400 Wohnungen <strong>im</strong> Jahr erreicht werden, ist<br />

bislang mehr als fraglich – gegenwärtig wird<br />

lediglich knapp die Hälfte dieser Anzahl<br />

erstellt <strong>und</strong> es ist nicht erkennbar, ob die Neubautätigkeit<br />

<strong>im</strong> Geschosswohnungsbau durch<br />

die oben genannte Initiative kurzfristig signifikant<br />

erhöht werden kann.


136<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

8 GEWOS (2009); S. 25.<br />

Hinzu kommt, dass Wohnungsneubau teuer<br />

ist. Mit den jetzt <strong>zur</strong> Verfügung gestellten<br />

40 Millionen Euro versucht Bremen, die Mieten<br />

für 700 Wohnungen auf ein sozial verträgliches<br />

Maß zu reduzieren. Dabei wird damit<br />

noch nicht einmal <strong>der</strong> Anteil an Sozialwohnungen<br />

kompensiert, <strong>der</strong>en För<strong>der</strong>ung aus<br />

früheren För<strong>der</strong>perioden bis 2015 ausläuft. Das<br />

heißt, es wird viel Geld ausgegeben, um das<br />

Niveau <strong>der</strong> Versorgung mit belegbaren Sozialwohnungen<br />

annähernd auf dem gegenwärtigen<br />

Niveau zu halten. Zudem ist erkennbar,<br />

dass gerade in den Wohnungsbeständen, die<br />

keine Anschlussför<strong>der</strong>ung früherer För<strong>der</strong>perioden<br />

erhielten, weil ein künftiger Mangel an<br />

preiswerten Wohnungen als unwahrscheinlich<br />

erachtet wurde, die Mieten teilweise stark<br />

steigen. Das zeigt sich vor allem bei Fehlentwicklungen<br />

<strong>im</strong> Wohnungsbestand ehemaliger<br />

kommunaler Wohnungsbauunternehmen, bei<br />

denen es <strong>der</strong> Kommune nicht gelang, wirksame<br />

Strategien gegen die umfangreichen profitorientierten<br />

Privatisierungen von Teilbeständen<br />

zu entwickeln. Insofern sollten Strategien<br />

entwickelt werden, die das Vermieten von<br />

Sozialwohnungen nach Ablauf <strong>der</strong> För<strong>der</strong>phase<br />

zu Marktpreisen sozialverträglich gestaltet.<br />

Aber gerade <strong>im</strong> unteren Preissegment des<br />

Wohnungsmarktes in Bremen scheint sich ein<br />

beson<strong>der</strong>er Bedarf entwickelt zu haben.<br />

Bislang ist es für Bremen versäumt worden,<br />

einen objektiven <strong>und</strong> qualitativen Bedarf<br />

anhand verlässlicher Daten für Bestandswohnungen<br />

zu ermitteln. Es liegen bei allen in<br />

Auftrag gegebenen Studien keine Erkenntnisse<br />

darüber vor, in welchem Umfang Wohnungen<br />

für kleinere Haushalte, für Senioren o<strong>der</strong><br />

Haushalte mit geringem Einkommen benötigt<br />

werden. Das GEWOS-Gutachten definierte<br />

lediglich sechs verschiedene ›Wohnstiltypen‹.<br />

Auf Basis von Haushaltsbefragungen wurden<br />

dabei Nachfragegruppen definiert, die nach<br />

Auffassung des Instituts für den Erwerb o<strong>der</strong><br />

die Anmietung einer Neubauwohnung infrage<br />

kämen, <strong>und</strong> zwar in Abhängigkeit von ihren<br />

Wohnwünschen, ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit<br />

<strong>zur</strong> Befriedigung ihrer Wohnwünsche<br />

<strong>und</strong> ihrer Bereitschaft zum Umzug. Dabei<br />

wurden die beiden ›Wohnstiltypen‹ <strong>der</strong> ›Alternativen‹<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> ›preissensiblen Mieter‹ –<br />

<strong>der</strong>en finanziellen Möglichkeiten als gering,<br />

beziehungsweise unterdurchschnittlich kategorisiert<br />

wurden – nur un<strong>zur</strong>eichend berücksichtigt.<br />

Denn diese Gruppen ›äußern zwar<br />

Umzugsabsichten, sind allerdings keine<br />

Zielgruppe für das Neubau-Segment. Die Alternativen<br />

interessieren sich vorwiegend für<br />

Wohnformen <strong>im</strong> Bestand, auch die preissensiblen<br />

Mieter können aufgr<strong>und</strong> ihres geringen<br />

finanziellen Spielraums keinen Neubau finanzieren<br />

<strong>und</strong> decken ihre Bedarfe überwiegend<br />

<strong>im</strong> Bestand‹ 8 . Die dahinter stehende Philosophie<br />

folgt dem Gedanken, dass die Bezieher<br />

niedriger Einkommen we<strong>der</strong> als Käufer für<br />

Eigentumswohnungen noch als Mieter von<br />

freifinanzierten Neubauwohnungen infrage<br />

kommen. Die Wohnungsnachfrage dieser<br />

Gruppen wurde daher in <strong>der</strong> weiteren Wohnungsbaukonzeption<br />

nicht mehr berücksichtigt.<br />

Dem Prinzip nach werden die Haushalte<br />

bei dieser Zuordnung vor allem nach <strong>der</strong><br />

Einkommensposition <strong>und</strong> den finanziellen<br />

Möglichkeiten <strong>zur</strong> Befriedigung <strong>der</strong> Wohnwünsche<br />

sortiert. Es zeigt sich das Problem, dass<br />

sich in diesem Verständnis <strong>der</strong> Wohnungsbau<br />

zwangsläufig auf die Bedürfnisse finanziell<br />

beson<strong>der</strong>s leistungsfähiger Zielgruppen konzentriert.<br />

Bis 2025 wird sich voraussichtlich <strong>der</strong> Nachfrageüberhang<br />

<strong>im</strong> Immobilienmarkt in Bremen<br />

weiter verstärken <strong>und</strong> sich die Situation<br />

für viele Haushalte weiter verschärfen. So sollte<br />

eine sozial verantwortliche <strong>und</strong> zukunftsorientierte<br />

Wohnpolitik für gleichwertige<br />

Lebensverhältnisse in den Stadtteilen <strong>und</strong><br />

Wohnquartieren sorgen, um einer weiteren<br />

sozialen Polarisierung <strong>der</strong> Stadt entgegenzu-


137<br />

S O Z I A L E S S TADTENTWICKLUNG<br />

Das größte Problem auf dem Wohnungsmarkt ist nicht<br />

<strong>der</strong> Mangel an Wohnungen insgesamt, son<strong>der</strong>n eher die<br />

andauernde Verteuerung von bisher preiswerten Wohnungen.<br />

wirken. Im aktuellen Koalitionsvertrag erklären<br />

die bremischen Regierungsfraktionen<br />

daher auch, dass <strong>zur</strong> Verringerung einer sozialen<br />

Entmischung zukünftig auch in teureren<br />

Stadtteilen Wohnungen für Menschen mit<br />

geringem Einkommen zugänglich sein sollen –<br />

<strong>und</strong> umgekehrt. Dabei muss <strong>der</strong> Trend zu<br />

mehr Einpersonenhaushalten, die steigende<br />

Anzahl <strong>der</strong> Senioren, wie auch <strong>der</strong> wachsende<br />

Anteil von Geringverdienern berücksichtigt<br />

werden. Dazu stellt die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Folgendes fest:<br />

❚ Das wesentliche wohnungsbaupolitische Steuerungselement<br />

bei <strong>der</strong> Veräußerung ist die Preisgestaltung<br />

<strong>der</strong> Bodenpreise. Gegenwärtig sorgt die desolate<br />

Haushaltslage aber für einen Zielkonflikt mit einem<br />

negativen Steuerungseffekt: Alle für Wohnbebauung<br />

geeigneten Flächen <strong>im</strong> Eigentum <strong>der</strong> Stadt werden<br />

zu den am Markt max<strong>im</strong>al erzielbaren Preisen per<br />

Bieterverfahren veräußert. Dieses Verfahren sollte<br />

zugunsten von Konzeptausschreibungen aufgegeben<br />

werden, in denen die Preisfindung <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>stücke<br />

hinsichtlich <strong>der</strong> sozialen Anteile einer Investition<br />

passgenau unter Berücksichtigung ihrer individuellen<br />

Rahmenbedingungen, zum Beispiel unterschiedlicher<br />

<strong>Lage</strong>n, erfolgt. Nur so kann in attraktiven<br />

<strong>Lage</strong>n die angestrebte soziale Durchmischung <strong>und</strong><br />

die Zielsetzung, den sozialen Wohnungsbau in<br />

nicht-segregierten Stadtteilen zu realisieren, erreicht<br />

werden.<br />

❚ Hilfreich wäre die Etablierung eines kommunalen<br />

Bodenmanagements, mit dem die bodenpolitischen<br />

Einzelinstrumente (kommunaler Zwischenerwerb,<br />

städtebauliche Verträge, etc.) in einem umfassenden<br />

strategischen Vorgehen in <strong>der</strong> Baulandbereitstellung<br />

zusammengeführt werden. Daneben könnte die<br />

Kommune eine aktive Flächenpolitik betreiben <strong>und</strong><br />

möglichst frühzeitig Flächen aus privater Hand<br />

aufkaufen, die wegen ihrer aktuellen Nutzung<br />

preisgünstig sind (z. B. Grünland), die aber für den<br />

Wohnungsbau geeignet sind. Der abzuschöpfende<br />

Gewinn, also die Differenz zwischen dem bisherigen<br />

<strong>und</strong> dem Wie<strong>der</strong>verkaufspreis als Wohnland, kann<br />

<strong>zur</strong> Finanzierung sozialer Infrastruktur <strong>und</strong> <strong>zur</strong><br />

Deckung von Kosten des sozialen Wohnungsbaus<br />

eingesetzt werden.<br />

❚ Eine starre Quotierung von 25 Prozent öffentlich<br />

geför<strong>der</strong>tem Wohnungsbau bei neu zu erschließenden<br />

Wohnbaugebieten ist fraglich. Gegebenenfalls<br />

sollte die Möglichkeit <strong>der</strong> Übertragung <strong>und</strong> entsprechen<strong>der</strong><br />

Quoten von Gebieten mit Angebotsüberhängen<br />

auf stark nachgefragte Baugebiete geprüft<br />

werden, ohne die Gesamtzahl <strong>der</strong> geför<strong>der</strong>ten<br />

Wohnungen zu reduzieren. Gerade in bevorzugten<br />

Stadteilen mit hohen Gr<strong>und</strong>stückspreisen müssen<br />

die entsprechenden Quoten zwingend erfüllt werden.<br />

❚ In dem vorliegenden Programm wird nicht von<br />

<strong>der</strong> Möglichkeit Gebrauch gemacht, die hohen Baulandpreise<br />

durch die Zurverfügungstellung von<br />

Erbbaurechten zu reduzieren. Durch gezielte Vergabe<br />

von Erbpachtgr<strong>und</strong>stücken mit ermäßigtem<br />

Erbpachtzins kann eine Reduzierung <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>stückskosten<br />

erreicht werden.<br />

❚ Es ist zu überprüfen, inwiefern <strong>der</strong> hohe Anstieg<br />

<strong>der</strong> Neubaukosten von bis zu 2.000 Euro pro Quadratmeter<br />

<strong>und</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungskosten von bis zu<br />

1.200 Euro pro Quadratmeter durch entsprechende<br />

Anfor<strong>der</strong>ungsreduktion gesenkt werden kann.<br />

Eine stärkere Standardisierung des Baus <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Verzicht nicht notwendiger Anfor<strong>der</strong>ungen be<strong>im</strong><br />

Neubau, können diese Entwicklung eindämmen.<br />

<strong>Land</strong>esrechtliche Vorgaben, die weitergehende energetische<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen an die Errichtung neuer<br />

Gebäude stellt als die EnEV 2009, sind abzulehnen.<br />

Vielmehr sollten Modellprojekte, <strong>der</strong>en Zielsetzung<br />

kostensenkende Bauweisen sind, in beson<strong>der</strong>er<br />

Weise geför<strong>der</strong>t werden.


138<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

❚ Eine maßvolle Verdichtung <strong>und</strong> volle Ausnutzung<br />

<strong>der</strong> vorhandenen Gr<strong>und</strong>stücksflächen <strong>und</strong> eine<br />

konsequente Zielgruppenorientierung sind notwendig.<br />

Hierzu gehören insbeson<strong>der</strong>e auch die Berücksichtigung<br />

<strong>der</strong> Haushalts- <strong>und</strong> Wohnungsstrukturen<br />

des Umfeldes, eine gute soziale Durchmischung,<br />

familiengerechte Wohnungen – auch in höherer<br />

Verdichtung – sowie altersgerechter, barrierearmer<br />

Wohnungsneubau.<br />

❚ Überprüfung <strong>der</strong> Standards hinsichtlich <strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

an die Gr<strong>und</strong>stückserschließung (Straßenquerschnitt<br />

etc.) <strong>und</strong> an<strong>der</strong>er durch die Kommune<br />

zu best<strong>im</strong>menden Einflußfaktoren. Ein Beispiel kann<br />

hier die Novellierung <strong>der</strong> Stellplatzverordnung<br />

sein, um die gewünschten Abmin<strong>der</strong>ungseffekte zu<br />

erzielen. So kann es gegebenenfalls durch integrierte<br />

Mobilitätskonzepte gelingen, die Anzahl <strong>der</strong> herzustellenden<br />

o<strong>der</strong> nachzuweisenden Stellplätze zu<br />

reduzieren, um auf die Errichtung von (teuren)<br />

Tiefgaragen zu verzichten.<br />

❚ Konsequente weitere Umsetzung des Baulückenprogramms<br />

<strong>und</strong> des Flächenrecyclings (Konversion).<br />

Um kurzfristige Entlastungseffekte auf dem<br />

Wohnungsmarkt zu erzielen, sollten vor allem<br />

auch Maßnahmen ergriffen werden, die <strong>im</strong><br />

Bestand wirken, hierzu zählen:<br />

❚ Verlängerung von bestehenden Belegungsbindungen<br />

<strong>im</strong> Bestand, denn eine soziale Stadtentwicklung<br />

basiert auf preiswerten Altbaumieten, den Häusern<br />

<strong>im</strong> kommunalen Besitz <strong>und</strong> den in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

geför<strong>der</strong>ten Wohnungen.<br />

❚ Nutzung von mittelbaren Belegungsbindungen nach<br />

dem Wohnraumför<strong>der</strong>ungsgesetz. Demnach erfolgt<br />

die För<strong>der</strong>ung eines Wohnungsneubaus in einem<br />

sozial benachteiligten Stadtteil ohne unmittelbare<br />

Belegungsbindung, stattdessen garantiert die Wohnungsbaugesellschaft<br />

<strong>der</strong> Stadt ein Besetzungsrecht,<br />

das in einem nicht sozial benachteiligten Gebiet<br />

liegt <strong>und</strong> Mindestanfor<strong>der</strong>ungen erfüllt, wobei eine<br />

höchstzulässige Miete nicht überschritten werden<br />

darf.<br />

❚ Verzicht von Anreizen für Mo<strong>der</strong>nisierungsmaßnahmen,<br />

die nicht <strong>zur</strong> entsprechenden<br />

Reduzierung von Energiekosten führen.<br />

❚ Beeinflussung <strong>der</strong> Mietpreispolitik öffentlicher<br />

Wohnungsunternehmen <strong>im</strong> Hinblick auf Sozialverträglichkeit<br />

<strong>und</strong> des öffentlichen Interesses.


139<br />

S O Z I A L E S S TADTENTWICKLUNG<br />

¢Was ist zu tun?<br />

Energetische Sanierung –<br />

in Bremen (zu?) hohe Standards?<br />

Das jetzt aufgelegte Wohnraumför<strong>der</strong>ungsprogramm<br />

verfolgt zugleich energiepolitische<br />

Zielsetzungen, denn die neu zu bauenden<br />

Wohngebäude sollen über dem gesetzlichen<br />

Standard <strong>der</strong> Energieeinspar-Verordnung<br />

(EnEV) von 2009 liegen <strong>und</strong> dem sogenannten<br />

KfW Standard 70 entsprechen. Demnach muss<br />

<strong>der</strong> durchschnittliche Pr<strong>im</strong>ärenergiebedarf<br />

des Gebäudes 30 Prozent unter den aktuellen<br />

gesetzlichen Anfor<strong>der</strong>ungen liegen. Hierbei<br />

besteht die Gefahr, dass die Investitionsbereitschaft<br />

erheblich gehemmt wird, denn die<br />

dadurch entstehenden Mehrkosten müssen<br />

für den Investor re- <strong>und</strong> durch die För<strong>der</strong>ung<br />

entsprechend mitfinanziert werden. Es gilt<br />

dabei zu berücksichtigen, dass die Baupreise<br />

für Mehrfamilien-Wohngebäude zwischen<br />

2005 bis 2011 schon um r<strong>und</strong> 20,4 Prozent<br />

gestiegen sind, was offensichtlich auch auf die<br />

<strong>im</strong>mer höheren Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> EnEV<br />

<strong>zur</strong>ückzuführen ist <strong>und</strong> sich unter an<strong>der</strong>em<br />

in den niedrigen Baufertigstellungszahlen<br />

dieser Jahre wi<strong>der</strong>spiegelt. Hinzu kommt, das<br />

bereits heute über die Novellierung <strong>der</strong> Energieeinspar-Verordnung<br />

(EnEV 2013) diskutiert<br />

wird <strong>und</strong> in einem zweistufigen Verfahren<br />

eingeführt werden soll, so dass weitere Energieeinsparungen<br />

von 25 Prozent erbracht<br />

werden müssten. Aus Gründen des vorbeugenden<br />

Kl<strong>im</strong>aschutzes <strong>und</strong> hinsichtlich <strong>der</strong> weiteren<br />

Entwicklung <strong>der</strong> Energiekosten in <strong>der</strong><br />

Zukunft, mögen diese erhöhten Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

durchaus sinnvoll erscheinen, doch<br />

rechtfertigt <strong>der</strong> tatsächliche Min<strong>der</strong>verbrauch<br />

an Energie nicht den dadurch entstehenden<br />

bautechnischen Mehraufwand <strong>und</strong> die dafür<br />

notwendigen finanziellen Aufwendungen.<br />

Im Gegenteil: Um den Bau möglichst preisgünstiger<br />

Wohnungen zu för<strong>der</strong>n, müsste<br />

beson<strong>der</strong>er Wert auf eine kostensenkende <strong>und</strong><br />

serielle Bauweise gelegt werden.<br />

Aber auch energetische Mo<strong>der</strong>nisierungsmaßnahmen<br />

bei Bestands<strong>im</strong>mobilien sind<br />

hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Wohnkosten<br />

kritisch zu hinterfragen. Es ist ein<br />

weitverbreiteter Irrglaube, dass durch energetische<br />

Mo<strong>der</strong>nisierungen steigende Mieten<br />

durch entsprechend niedrigere Energiekosten<br />

kompensiert werden können. Wie<br />

Modellrechnungen zeigen, fällt die Energieeinsparung<br />

in energetisch sanierten Wohngebäuden<br />

deutlich geringer aus, als die Mietsteigerungen<br />

durch die umgelegten Sanierungsaufwendungen.<br />

So ergeben sich in<br />

einem Fallbeispiel für eine 60 Quadratmeter<br />

große Wohnung Mo<strong>der</strong>nisierungskosten<br />

von 30.000 Euro. Das Mietrecht erlaubt,<br />

bezogen auf die Mo<strong>der</strong>nisierungsinvestition<br />

<strong>zur</strong> Refinanzierung, eine Umlage von elf<br />

Prozent jährlich – macht 3.300 Euro pro<br />

Jahr beziehungsweise 4,58 Euro pro Monat<br />

<strong>und</strong> Quadratmeter. Dem steht aber nur eine<br />

Energiekostenreduzierung von 50 bis 60<br />

Cent pro Quadratmeter gegenüber. 9 Eine<br />

Erhöhung <strong>der</strong> Miete <strong>im</strong> vollen Umfang<br />

würde die Mieter schnell an die Grenze ihrer<br />

finanziellen Möglichkeiten bringen <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Vermieter kann o<strong>der</strong> will vielfach den<br />

gesetzlichen Spielraum für Mieterhöhungen<br />

nicht voll ausnutzen. Im Allgemeinen rechnen<br />

sich Sanierungen <strong>im</strong> Wohnungsbestand<br />

häufig nicht <strong>und</strong> tendenziell können die<br />

Mieter die entsprechenden Kostensteigerungen<br />

nicht ohne weitere Verschärfung <strong>der</strong><br />

eigenen <strong>Lage</strong> tragen. Ohne deutliche staatliche<br />

Investitionsanreize <strong>der</strong> energetischen<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung dürften die finanziellen<br />

Nachteile weitere Investitionen eher bremsen.<br />

Gleichzeitig sollten gesetzliche Regelungen<br />

gef<strong>und</strong>en werden, die Mieter vor einer<br />

finanziellen Überfor<strong>der</strong>ung aus Kl<strong>im</strong>aschutzgründen<br />

bewahren.<br />

9 Dankowski, Ra<strong>im</strong><strong>und</strong> (2011):<br />

S. 3 www.deutscherverband.org/cms/<br />

fileadmin/medias/<br />

Veroeffentlichungen/<br />

Veranstaltungen/<br />

wohnraumfoer<strong>der</strong>ung


140<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Bremen-Nord:<br />

Zwischenfazit für einen Stadtbezirk <strong>im</strong> politischen Fokus<br />

B E R N D S T R Ü S S M A N N U N D E L K E H E Y D U C K<br />

Gr<strong>und</strong>legende wirtschaftsstrukturelle Probleme,<br />

die in den vergangenen Jahrzehnten vor<br />

allem durch Arbeitsplatzverluste in <strong>der</strong> Industrie<br />

als Folge von Betriebsschließungen <strong>und</strong><br />

Rationalisierungsprozessen entstanden waren,<br />

bilden den Ausgangspunkt für die beson<strong>der</strong>e<br />

Aufmerksamkeit, mit <strong>der</strong> die Entwicklung<br />

<strong>im</strong> nördlichsten Bremer Stadtbezirk politisch<br />

begleitet wird. Bereits <strong>im</strong> Jahr 2006 formulierte<br />

<strong>der</strong> Senat mit dem ›Zukunftsprogramm<br />

Bremen-Nord‹ strukturpolitische Zielsetzungen<br />

<strong>und</strong> Handlungsempfehlungen <strong>zur</strong> Entwicklung<br />

<strong>der</strong> Stadtregion. Das Programm wurde<br />

2011 überarbeitet. Seit November 2011 setzt<br />

sich ein direkt be<strong>im</strong> Bürgermeister Jens Böhrnsen<br />

eingerichteter Arbeitskreis mit den Entwicklungsperspektiven<br />

Bremen-Nords auseinan<strong>der</strong>,<br />

an dem sich Vertreter nordbremischer<br />

Institutionen, Verbände, Kammern <strong>und</strong><br />

verschiedene Senatsressorts beteiligen. In verschiedenen<br />

Arbeitsgruppen – Wirtschaft, Wohnen,<br />

Soziales – werden neben <strong>der</strong> Ist-Analyse<br />

Instrumente <strong>und</strong> Maßnahmen diskutiert, die<br />

eine positive Entwicklung anschieben sollen.<br />

Zur Ankurbelung eines regionalen Entwicklungsprozesses<br />

stehen keine kurzfristig wirkenden<br />

Patentrezepte <strong>zur</strong> Verfügung. Es müssen<br />

›dicke Bretter gebohrt‹ werden.<br />

Denn die Probleme, mit denen sich eine<br />

Politik <strong>zur</strong> Entwicklung Bremen-Nords auseinan<strong>der</strong>setzen<br />

muss, sind vielschichtig: Die<br />

Stadtregion hat ein Arbeitsplatzdefizit, was<br />

umfassende Anstrengungen <strong>zur</strong> Ansiedlung<br />

von Unternehmen <strong>und</strong> Schaffung von Arbeitsplätzen<br />

erfor<strong>der</strong>lich macht. Zugleich verliert<br />

Bremen-Nord Einwohner. Das lange Zeit bestehende<br />

gute Image eines attraktiven Wohn<strong>und</strong><br />

Arbeitsorts in reizvoller landschaftlicher<br />

Umgebung wird seit einigen Jahren durch<br />

›schlechte Nachrichten‹ infrage gestellt. An<strong>der</strong>s<br />

als <strong>im</strong> übrigen Stadtgebiet – so zeigte es eine<br />

Untersuchung für die Wohnungsbaukonzep-<br />

tion <strong>der</strong> Stadtgemeinde Bremen – hat sich die<br />

Nachfrage nach Mietwohnungen o<strong>der</strong> Immobilieneigentum<br />

bei einer abnehmenden Zahl<br />

<strong>der</strong> Privathaushalte deutlich abgeschwächt.<br />

Hinzu kommt <strong>und</strong> ist zum Teil ursächlich für<br />

die Entwicklung, dass sich die ökonomischen<br />

<strong>und</strong> sozialen Probleme für viele Haushalte<br />

in den vergangenen Jahren verstärkt haben.<br />

So ist auch innerhalb des Stadtbezirks eine<br />

zunehmende soziale Spaltung festzustellen,<br />

indem sich diese Probleme in einzelnen Wohnquartieren<br />

deutlich konzentrieren. Die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

begrüßt daher ausdrücklich,<br />

dass <strong>der</strong> Ortsteil Blumenthal als neues WiN-<br />

Gebiet (Wohnen in Nachbarschaften) in die<br />

För<strong>der</strong>ung aufgenommen werden soll.<br />

Zentrales Thema ist jedoch die Stärkung<br />

<strong>der</strong> Wirtschaftskraft sowie <strong>der</strong> Erhalt <strong>und</strong> die<br />

Schaffung von Arbeitsplätzen. Seit dem<br />

Konkurs des Vulkan-Verb<strong>und</strong>es hat <strong>der</strong> Senat<br />

erhebliche Anstrengungen unternommen, den<br />

negativen Trend auf dem Arbeitsmarkt in<br />

Bremen-Nord umzukehren. Zwar hat sich die<br />

Beschäftigung mittlerweile stabilisiert <strong>und</strong><br />

auch vom Aufschwung am Arbeitsmarkt hat<br />

Bremen-Nord anteilig profitiert. Zwischen dem<br />

30.06.2010 <strong>und</strong> dem 30.06.2011 sind r<strong>und</strong> 900<br />

zusätzliche Arbeitsplätze entstanden. Dennoch<br />

arbeiten bei r<strong>und</strong> 90.000 Einwohnern nur gut<br />

18.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte<br />

in Bremen-Nord. Die Pendlerdaten verdeutlichen<br />

zudem, dass Bremen-Nord in Bezug auf<br />

die Gesamtstadt nur noch eine relativ geringe<br />

Arbeitsmarktzentralität besitzt. Knapp drei<br />

Viertel <strong>der</strong> fast 30.000 in Bremen-Nord<br />

wohnenden sozialversicherungspflichtig<br />

Beschäftigten pendeln in an<strong>der</strong>e Stadtbezirke<br />

o<strong>der</strong> in die umliegenden Gemeinden. Doch die<br />

Analysen ergeben auch, dass <strong>der</strong> Wirtschaftsstandort<br />

Bremen-Nord über ein hohes Potenzial<br />

verfügt, den negativen Trend umzukehren.<br />

Das ›Zukunftsprogramm Bremen-Nord‹ um-


141<br />

S O Z I A L E S S TADTENTWICKLUNG<br />

fasste <strong>und</strong> umfasst hierzu ein Bündel von Maßnahmen<br />

<strong>und</strong> Schlüsselprojekten in den Bereichen<br />

Verkehr, Einzelhandel, Tourismus <strong>und</strong><br />

Gewerbeflächenentwicklung, die zum Teil<br />

auch bereits umgesetzt wurden – mit unterschiedlichem<br />

Erfolg <strong>und</strong> den entsprechenden<br />

Schlüssen, die daraus zu ziehen sind.<br />

Ein deutlicher Schwerpunkt des Zukunftsprogramms<br />

bestand in <strong>der</strong> Vergangenheit in<br />

den Bereichen Einzelhandel, Tourismus <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Gastronomie. Nach dem Wegfall einer<br />

erheblichen Zahl von Industriearbeitsplätzen<br />

versuchte man den Strukturwandel zu beför<strong>der</strong>n<br />

<strong>und</strong> setzte auf Dienstleistungen. So<br />

wurde in Verbindung mit <strong>der</strong> Errichtung des<br />

Einkaufszentrums ›Haven Höövt‹ <strong>der</strong> gesamte<br />

Bereich am Vegesacker Hafen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Uferpromenade<br />

bis zum Gewerbegebiet Bremer<br />

Vulkan durch städtebauliche Maßnahmen für<br />

den Tourismus <strong>und</strong> die Gastronomie aufgewertet<br />

(›Marit<strong>im</strong>e Meile‹).<br />

Einzelhandel<br />

Mittlerweile zeigt sich allerdings, dass in dieser<br />

Hinsicht die Entwicklungsmöglichkeiten<br />

des Standorts gut, aber begrenzt sind <strong>und</strong><br />

Erwartungen nicht zu hoch geschraubt werden<br />

dürfen. So hatte die Inbetriebnahme des<br />

Einkaufszentrums Haven Höövt (18.000 qm<br />

Verkaufsfläche) <strong>im</strong> Jahr 2003 schon frühzeitig<br />

auch negative <strong>und</strong> <strong>im</strong> Gr<strong>und</strong>e absehbare Auswirkungen<br />

auf die traditionellen Einzelhandelsgeschäfte<br />

in <strong>der</strong> Einkaufspassage. Mit <strong>der</strong><br />

Schwerpunktverlagerung des Einzelhandels<br />

zum Haven Höövt gerieten <strong>der</strong> früher zentrale<br />

Sedanplatz <strong>und</strong> ein Teil <strong>der</strong> Gerhard-Rohlfs-<br />

Straße in eine Randlage. Um Geschäftsleerstände<br />

<strong>und</strong> eine verringerte Attraktivität<br />

traditioneller Einkaufslagen zu kompensieren,<br />

wurden aufwendige investive Maßnahmen<br />

durchgeführt – nicht <strong>im</strong>mer mit dem erhofften<br />

Erfolg (Beispiele: ›Blaue Welle‹, Markthalle).<br />

Im Frühjahr 2012 meldete <strong>der</strong> Betreiber des<br />

Einkaufszentrums Haven Höövt Insolvenz an.<br />

Laut <strong>Bericht</strong>erstattung <strong>der</strong> Medien liefen die<br />

Geschäfte seit sechs Jahren <strong>im</strong>mer schlechter.<br />

Zehn Prozent <strong>der</strong> Verkaufsfläche seien unvermietet.<br />

Wegen <strong>der</strong> schwierigen <strong>Lage</strong> <strong>im</strong> Nordbremer<br />

Einzelhandel müssten Zugeständnisse<br />

bei den Mieten gemacht werden (Radio Bremen,<br />

29.5.2012). Hinzu kommt, dass Einkaufszentren<br />

aufgr<strong>und</strong> ihrer baulichen Qualität<br />

<strong>und</strong> Substanz eine relativ geringe ›Halbwertszeit‹<br />

haben: Nach zehn bis 15 Jahren stehen sie<br />

<strong>zur</strong> kostspieligen Run<strong>der</strong>neuerung an. Auch<br />

wenn neue Einkaufszentren zunächst einen<br />

Imagegewinn bedeuten können: Wenn Kaufkraft<br />

<strong>und</strong> Besucherzahlen überinterpretiert<br />

werden, verkehrt sich dieser Effekt schnell ins<br />

Gegenteil.<br />

Tourismus<br />

Zweifellos bietet Bremen-Nord ein touristisches<br />

Potenzial für Bremen-Besucher. In den vergangenen<br />

Jahren stieg auch die Zahl <strong>der</strong> Übernachtungsgäste.<br />

Doch sollte man auch hier die<br />

Bedeutung nicht überschätzen. R<strong>und</strong> 67.000<br />

Gästeübernachtungen jährlich stellen nur<br />

r<strong>und</strong> vier Prozent aller Gästeübernachtungen<br />

in <strong>der</strong> Stadt Bremen dar. Seit 2007 nahm die<br />

Zahl <strong>der</strong> sozialversicherungspflichtig Beschäftigten<br />

in <strong>der</strong> Gastronomie <strong>und</strong> <strong>im</strong> Hotelgewerbe<br />

<strong>im</strong>merhin von r<strong>und</strong> 400 auf 450 zu.<br />

Dennoch scheinen die Erwartungen an den<br />

Tages- <strong>und</strong> Städtetourismus bisher eher zu<br />

hoch gewesen zu sein. Bereits Anfang Dezember<br />

2011 musste die Bremer Bootsbau Vegesack<br />

gGmbH Insolvenz anmelden, die als Beschäftigungsträger<br />

das ›Schaufenster Bootsbau‹ an<br />

<strong>der</strong> sogenannten Marit<strong>im</strong>en Meile betrieb.<br />

Damit endete ein Exper<strong>im</strong>ent, das unter an<strong>der</strong>em<br />

aus einem Bootsbauplatz, -hallen <strong>und</strong><br />

-lehrpfad sowie einer ›Kin<strong>der</strong>werft‹ bestand.<br />

Im März 2011 eröffnete in einem alten Speicher<br />

das Schiffbaumuseum Spicarium. Im Juni<br />

2012 stellte sich auch seine <strong>Lage</strong> als kritisch<br />

heraus. Das Museum war mit einer Zahl von<br />

jährlich 30.000 Besuchern geplant, die <strong>im</strong><br />

ersten Betriebsjahr aber nicht erreicht wurde.


142<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

Realistisch müsse nun von einem Drittel dieser<br />

Zielgröße ausgegangen werden.<br />

Wirtschaftssenator Martin Günthner verwies<br />

zu Recht in einem Pressegespräch darauf<br />

hin, dass Bremen-Nord trotz aller Vorzüge <strong>und</strong><br />

Sehenswürdigkeiten für den Städtetourismus<br />

ein ›Nischenprodukt‹ ist.<br />

Es wäre gerade deswegen allerdings sinnvoll,<br />

in <strong>der</strong> Bremen-Werbung – stadtintern <strong>und</strong><br />

nach außen – kulturelle Events <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Angebote stärker als in <strong>der</strong> Vergangenheit in<br />

den Mittelpunkt zu rücken. Zumal die Tourismus-<br />

<strong>und</strong> Kulturför<strong>der</strong>ung zum Beispiel in<br />

Bezug auf die Überseestadt konkurrierende<br />

Strukturen aufgebaut hat <strong>und</strong> marit<strong>im</strong>e<br />

Erlebniswelten eher Bremerhaven zugeordnet<br />

werden.<br />

Einen wichtigen Baustein für das Tourismus-Konzept<br />

stellt die Öffnung des Bunkers<br />

Valentin für die Öffentlichkeit <strong>und</strong> Schaffung<br />

einer Dauerausstellung dar. Richtig erscheinen<br />

auch Überlegungen, den Fahrradtourismus zu<br />

för<strong>der</strong>n – <strong>der</strong> Weserradweg verläuft bisher auf<br />

<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>sächsischen Seite <strong>der</strong> Weser, könnte<br />

aber auch über das Blockland, an <strong>der</strong> Wümme<br />

<strong>und</strong> Lesum bis nach Vegesack geführt werden.<br />

Gewerbegebiet ›Bremer Vulkan‹<br />

Das Gewerbegebiet ›Bremer Vulkan‹ wurde <strong>im</strong><br />

vergangenen Jahrzehnt erfolgreich umstrukturiert,<br />

wobei sich auch neue Betriebe ansiedelten.<br />

Problematisch erscheint, dass mit <strong>der</strong><br />

Ansiedlung eines Unternehmens <strong>der</strong> Automobillogistik<br />

große Bereiche als Stellflächen<br />

dienen, die für hochwertige Nutzungen nicht<br />

mehr <strong>zur</strong> Verfügung stehen. Hier sollte nach<br />

Möglichkeiten gesucht werden, den Flächenverbrauch<br />

zu reduzieren (zum Beispiel durch<br />

den Bau von Parkhäusern).<br />

BWK-Gelände<br />

Seit die benachbarte Bremer Woll-Kämmerei<br />

(BWK) nach über hun<strong>der</strong>tjährigem Bestand<br />

<strong>im</strong> Jahr 2009 den Betrieb einstellen musste,<br />

müssen konkrete Vorstellungen <strong>zur</strong> zukünftigen<br />

Nutzung des 25 Hektar großen Geländes<br />

entwickelt werden. Ein zunächst von <strong>der</strong><br />

Umwelt- <strong>und</strong> Baubehörde vorgelegter städtebaulicher<br />

Entwurf orientierte sich vornehmlich<br />

an gestalterischen Überlegungen. Die<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>kammer Bremen hat in ihren<br />

früheren Stellungnahmen angemahnt, ein<br />

konkretes Nutzungskonzept voranzustellen,<br />

was auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Bauleitplanung geschehen<br />

muss. Mittlerweile ist die Erschließung<br />

des Geländes zu einem Drittel erfolgt, <strong>der</strong> Rest<br />

ist in Planung. Die öffentliche Hand finanziert<br />

diese Erschließung sowie die Ertüchtigung<br />

vorhandener Infrastruktur <strong>und</strong> Gebäude mit<br />

insgesamt 15 Millionen Euro. Be<strong>im</strong> Nutzungskonzept<br />

geht es allerdings um eine gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

Entscheidung: Das Gelände bietet für<br />

die Ansiedlung von Gewerbe- <strong>und</strong> Industriebetrieben<br />

große Potenziale. Durch die Nähe zum<br />

Gewerbegebiet Bremer Vulkan, das über keine<br />

Erweiterungskapazitäten mehr verfügt, <strong>und</strong><br />

mit seiner <strong>Lage</strong> am Seeschifffahrtsweg Weser<br />

ergeben sich hier hervorragende Entwicklungsmöglichkeiten<br />

sowohl für gewerbliche Nutzungen<br />

als auch Dienstleistungen. Das Gebiet<br />

sollte daher nach den verschiedenen Nutzungsarten<br />

(Industrie, Gewerbebetriebe aller Art,<br />

Geschäfts- <strong>und</strong> Bürogebäude) geglie<strong>der</strong>t entwickelt<br />

werden. Um den Vorteil <strong>der</strong> <strong>Lage</strong> am<br />

Schifffahrtsweg Weser zu nutzen, sollten<br />

die Infrastruktur mo<strong>der</strong>nisiert <strong>und</strong> Umschlaganlagen<br />

geschaffen werden.


143<br />

S O Z I A L E S S TADTENTWICKLUNG<br />

Das Gewerbeentwicklungsprogramm 2020<br />

stuft das BWK-Gelände als prioritäres Projekt<br />

mit dem Standortprofil ›produzierendes, insbeson<strong>der</strong>e<br />

verarbeitendes Gewerbe sowie Dienstleistungen‹<br />

ein, das beson<strong>der</strong>e Perspektiven<br />

für Ansiedlungen <strong>im</strong> Bereich <strong>der</strong> Windenergiebranche,<br />

des Maschinen- <strong>und</strong> Anlagenbaus,<br />

Logistik sowie für Dienstleistungen bietet. Im<br />

Rahmen <strong>der</strong> ›Integrierten <strong>Land</strong>esstrategie <strong>zur</strong><br />

Entwicklung <strong>der</strong> Innovationscluster Luft- <strong>und</strong><br />

Raumfahrt, Windenergie <strong>und</strong> Marit<strong>im</strong>e Wirtschaft/Logistik‹<br />

soll geprüft werden, ob das<br />

Gebiet – auch wegen seiner unmittelbaren<br />

<strong>Lage</strong> an <strong>der</strong> Weser – für die Ansiedlung von<br />

Unternehmen <strong>und</strong> Zulieferern <strong>der</strong> Onshore<strong>und</strong><br />

Offshore-Windenergiebranche geeignet<br />

ist. Aus Sicht <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer ist<br />

eine bauliche <strong>und</strong> ansiedlungspolitische Profilierung<br />

des Gebietes zentral. Eine hauptsächlich<br />

auf emissionsintensive industrielle Nutzungen<br />

zielende Entwicklung erscheint wegen<br />

einzuhalten<strong>der</strong> Grenzwerte – es schließen<br />

Wohngebiete unmittelbar an das Gelände an –<br />

schwierig. Zudem stehen hierfür <strong>im</strong> Bremer<br />

Industriepark nicht weit vom BWK-Gelände<br />

entfernt ebenfalls Flächen <strong>zur</strong> Verfügung.<br />

Bremer Industriepark<br />

Die Flächen des an Bremen-Nord angrenzenden<br />

Bremer Industrieparks ließen sich in den<br />

Anfangsjahren nur sehr langsam vermarkten.<br />

Gr<strong>und</strong> dafür war auch das Überangebot an vermarktbaren<br />

Gewerbeflächen in zum Teil logistisch<br />

attraktiverer <strong>Lage</strong>, das durch eine extensive<br />

Gewerbeflächenpolitik bis 2007 entstanden<br />

war. Erst in den vergangenen Jahren konnten<br />

verstärkt Ansiedlungserfolge verbucht werden.<br />

Untersuchungen gehen davon aus, dass sich<br />

die Vermarktung <strong>der</strong> Gewerbeflächen mit <strong>der</strong><br />

Herstellung des Wesertunnels <strong>der</strong> A 281, <strong>der</strong><br />

für den Lückenschluss <strong>der</strong> Autobahnquerverbindung<br />

zwischen <strong>der</strong> A1 <strong>und</strong> A 27 sorgen<br />

wird, entscheidend verbessern wird.<br />

Farge West <strong>und</strong> Steindamm<br />

Problematisch bleibt die Situation <strong>im</strong> Gewerbegebiet<br />

Farge-West, das erheblich durch Mängel<br />

<strong>der</strong> Baustruktur <strong>und</strong> Leerstände geprägt ist.<br />

Zu Recht erwartet die örtliche Politik eine<br />

Konzeption <strong>zur</strong> städtebaulichen Aufwertung<br />

<strong>und</strong> Maßnahmen <strong>zur</strong> besseren Vermarktung<br />

<strong>der</strong> Flächen.<br />

Richtig war die Entscheidung, auf die bislang<br />

geplante Erweiterung des Gewerbegebiets<br />

Steindamm zu verzichten, das in den vergangenen<br />

Jahren nur wenig adäquate Nutzungen an<br />

sich zog. Das Gewerbegebiet liegt <strong>im</strong> Übrigen<br />

nur wenige Kilometer vom Bremer Industriepark<br />

entfernt, auf dem noch beträchtliche<br />

Flächen für Ansiedlungen <strong>zur</strong> Verfügung<br />

stehen. Zudem lag die Erweiterungsfläche <strong>im</strong><br />

Hochwasserschutzgebiet.<br />

Lesum Park<br />

Mit dem ›Lesum Park‹ (früher ›Ges<strong>und</strong>heitspark<br />

Friedehorst‹) sollen auf einem an das<br />

Gelände <strong>der</strong> Stiftung Friedehorst angrenzenden,<br />

r<strong>und</strong> sieben Hektar großen Gebiet Nutzungen<br />

aus den Bereichen Ges<strong>und</strong>heitswirtschaft<br />

<strong>und</strong> Bildung <strong>im</strong> Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> stehen.<br />

R<strong>und</strong> ein Drittel <strong>der</strong> Fläche wird für Wohnen<br />

allgemein <strong>und</strong> betreutes Wohnen vorgehalten.<br />

Nach seiner Fertigstellung sollen r<strong>und</strong> 400<br />

Beschäftigte <strong>im</strong> ›Ges<strong>und</strong>heitspark‹ arbeiten.<br />

Mit dem Bau soll 2013 begonnen werden.<br />

Obwohl gerade die Ges<strong>und</strong>heitsbranche langfristig<br />

betrachtet Wachstumsmöglichkeiten<br />

bietet, muss auch auf kritische Entwicklungen<br />

hingewiesen werden. So geriet die Stiftung<br />

Friedehorst <strong>im</strong> Herbst 2012 durch die problematische<br />

Situation des Berufsför<strong>der</strong>ungswerks<br />

in eine kritische wirtschaftliche <strong>Lage</strong>. Und<br />

die Pflegebranche klagt über eine schlechte<br />

Ertragssituation <strong>und</strong> Unterauslastung <strong>der</strong> stationären<br />

Einrichtungen. Dennoch erscheint<br />

ein Dienstleistungsschwerpunkt ›Ges<strong>und</strong>heits-


144<br />

B E R I C H T Z U R L A G E 2 0 1 3<br />

wirtschaft‹ in Bremen-Nord – womöglich unter<br />

Einbeziehung des Klinikums Bremen-Nord<br />

<strong>und</strong> den entsprechenden Studiengängen an<br />

<strong>der</strong> Universität Bremen – sinnvoll.<br />

Innovations- <strong>und</strong> Technologieför<strong>der</strong>ung<br />

Mit dem ›Science Park‹ soll ein Technologie<strong>und</strong><br />

Grün<strong>der</strong>zentrum in Nachbarschaft <strong>der</strong><br />

Jacobs University geschaffen werden, das mit<br />

den Forschungseinrichtungen <strong>der</strong> Universität<br />

kooperiert. Geför<strong>der</strong>t werden soll die Gründung<br />

von ›Spin-off-Unternehmen‹ durch Wissenschaftler<br />

<strong>der</strong> Universität, die Ergebnisse<br />

ihrer Forschungen kommerziell verwerten<br />

wollen.<br />

Im ausgebauten Zustand soll <strong>der</strong> Science<br />

Park 600 Beschäftigte haben. Doch die Umsetzung<br />

<strong>der</strong> bereits vor einem Jahrzehnt aufgenommenen<br />

Planung lässt auf sich warten. Die<br />

Zernike Group, ein nie<strong>der</strong>ländisches Unternehmen,<br />

hatte die Fertigstellung ursprünglich<br />

schon für das Jahr 2009 angekündigt. Befürchtungen,<br />

dass sich die Umsetzung des Projekts<br />

Science Park noch weiter verzögert, werden<br />

gegenwärtig dadurch verstärkt, dass die Jacobs<br />

University in eine finanzielle Schieflage geraten<br />

ist, die von <strong>der</strong> Bremer <strong>Land</strong>esregierung<br />

vorläufig abgefe<strong>der</strong>t wurde.<br />

Undeutlich blieb bis zum Jahreswechsel<br />

auch <strong>im</strong>mer noch, welches aussagefähige<br />

inhaltliche Konzept dem Science Park zugr<strong>und</strong>e<br />

liegen soll. So ist unklar, welche technologischen<br />

<strong>und</strong> Branchenschwerpunkte den Technologiepark<br />

<strong>im</strong> Bremer Norden prägen sollen<br />

beziehungsweise aus welchen Forschungsbereichen<br />

<strong>der</strong> Universität Unternehmensgründungen<br />

(›Spin-offs‹) beabsichtigt sind.<br />

For<strong>der</strong>ungen, die nach dem Abspringen des<br />

privaten Investors die öffentliche Hand in die<br />

Pflicht nehmen wollen, sind aus Sicht <strong>der</strong><br />

Kammer mit Zurückhaltung zu behandeln. Ein<br />

Abstellen des Science Parks auf den Erfolg <strong>und</strong><br />

die aktuellen Forschungsschwerpunkte <strong>der</strong><br />

Jacobs University ist zum jetzigen Zeitpunkt<br />

gewagt. Zur För<strong>der</strong>ung von Innovationen <strong>und</strong><br />

von Forschungs-Transfer in Bremen-Nord sollten<br />

auch die Universität Bremen <strong>und</strong> die Hochschule<br />

in die Aktivitäten einbezogen werden.<br />

Dabei muss es vorrangig darum gehen, örtlich<br />

schon vorhandene Netzwerke von Hochschule<br />

<strong>und</strong> Betrieb stärker zu för<strong>der</strong>n <strong>und</strong> auszubauen,<br />

die für die Entwicklung des Wirtschaftsstandorts<br />

relevant sind. So besteht in <strong>der</strong> Fachrichtung<br />

Schiffbau <strong>und</strong> Meerestechnik <strong>der</strong><br />

Hochschule Bremen seit Langem ein Praxisverb<strong>und</strong>,<br />

in den auch die Unternehmen aus<br />

Bremen-Nord eingeb<strong>und</strong>en sind <strong>und</strong> eine wichtige<br />

Rolle spielen. Darauf aufbauend könnte<br />

die Hochschule bei geeigneter För<strong>der</strong>ung<br />

den Transfer von Forschungsergebnissen <strong>und</strong><br />

Praxisentwicklungen übernehmen. In den<br />

Bereichen Schiffbau <strong>und</strong> Nautik gehört die<br />

Hochschule Bremen zu den wichtigsten<br />

Bildungseinrichtungen an <strong>der</strong> Nordsee. Auch<br />

<strong>im</strong> Bereich <strong>der</strong> marit<strong>im</strong>en Fertigungstechnologien<br />

besteht eine Vielzahl von Arbeitszusammenhängen<br />

mit Unternehmen. Diese erstrecken<br />

sich auf die Koordination <strong>und</strong> Begleitung<br />

studentischer Praktika, die Durchführung<br />

anwendungsorientierter Forschungsprojekte,<br />

den Transfer von Forschungsergebnissen<br />

in Betriebe sowie umgekehrt auf die<br />

Vermittlung aktueller Entwicklungen <strong>der</strong> Technologieanwendung<br />

<strong>im</strong> Studium.


Eine Kammer für <strong><strong>Arbeitnehmer</strong>innen</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong> <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen<br />

❚ Die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer Bremen vertritt als Körperschaft<br />

des öffentlichen Rechts die Interessen <strong>der</strong> Beschäftigten.<br />

❚ Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer sind – so best<strong>im</strong>mt es<br />

das ›Gesetz über die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer <strong>im</strong> <strong>Land</strong>e Bremen‹<br />

– alle <strong>im</strong> B<strong>und</strong>esland Bremen abhängig Beschäftigten (mit<br />

Ausnahme <strong>der</strong> Beamten). Zurzeit sind dies r<strong>und</strong> 291.000<br />

sozialversicherungspflichtig Beschäftigte <strong>und</strong> knapp 70.500<br />

Minijobber. Auch Arbeitslose, die zuletzt ihren Arbeitsplatz<br />

<strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen hatten, sind Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer.<br />

❚ Neben einer umfassenden Rechtsberatung bietet die <strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

ihren Mitglie<strong>der</strong>n zahlreiche Informationen<br />

zu den Themen Wirtschaft, Arbeit, Bildung <strong>und</strong> Kultur.<br />

❚ Darüber hinaus berät sie Betriebs- <strong>und</strong> Personalräte sowie<br />

die Politik <strong>und</strong> öffentliche Verwaltung <strong>im</strong> <strong>Land</strong> Bremen.<br />

❚ Die berufliche Weiterbildung übern<strong>im</strong>mt die Wirtschafts<strong>und</strong><br />

Sozialakademie (wisoak).<br />

❚ Zusätzlichen Service <strong>und</strong> Vergünstigungen gibt es mit <strong>der</strong><br />

KammerCard, die jedes Mitglied auf Wunsch kostenlos erhält.<br />

w w w. a r b e i t n e h m e r k a m m e r. d e<br />

<strong>Arbeitnehmer</strong>kammer<br />

Bremen

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