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Heft 02/2013 - Deutsches Zentrum für Altersfragen

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Versorgungsansätze <strong>für</strong> Menschen mit<br />

Demenz<br />

Klaus Wingenfeld u. Mika Steinke widmen<br />

sich der Studie „Die Tagesbetreuung von<br />

Krankenhauspatienten mit kognitiver Beeinträchtigung“.<br />

Elmar Gräßel, Jelena Siebert,<br />

Gudrun Ulbrecht u. Renate Stemmer geben<br />

einen Überblick über vier aktuelle Projekte<br />

zum Thema „Was leisten ‚nicht-medikamentöse‘<br />

Therapien bei Demenz?“ Sabine<br />

Kirchen-Peters u. Volker Hielscher behandeln<br />

das Thema „Nationale Demenzstrategien –<br />

Vorbilder <strong>für</strong> Deutschland?“ mit Ergebnissen<br />

und Handlungsempfehlungen der Expertise,<br />

die der Gründung der ‚Allianz <strong>für</strong> Menschen<br />

mit Demenz‘ vorausgegangen war.<br />

informationsdienst<br />

altersfragen<br />

ISSN 1614-3566<br />

A 20690E<br />

<strong>Heft</strong> <strong>02</strong>, März / April <strong>2013</strong><br />

40. Jahrgang<br />

Herausgeber:<br />

<strong>Deutsches</strong> <strong>Zentrum</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>Altersfragen</strong><br />

<strong>02</strong>


2<br />

Inhalt<br />

Aus der Altersforschung<br />

3 Die Tagesbetreuung von Krankenhauspatienten<br />

mit kognitiver Beeinträchtigung<br />

Klaus Wingenfeld und Mika Steinke<br />

9 Was leisten „nicht­medikamentöse“<br />

Therapien bei Demenz? Ein Überblick<br />

über aktuelle Projekte<br />

Elmar Gräßel, Jelena Siebert,<br />

Gudrun Ulbrecht und Renate Stemmer<br />

17 Kurzinformationen aus der Altersforschung<br />

Aus Politik und Praxis der Altenhilfe<br />

18 Nationale Demenzstrategien – Vorbilder<br />

<strong>für</strong> Deutschland?<br />

Sabine Kirchen-Peters und Volker Hielscher<br />

25 Kurzinformationen aus Politik und Praxis<br />

der Altenhilfe<br />

26 Aus dem Deutschen <strong>Zentrum</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>Altersfragen</strong><br />

Impressum<br />

Herausgeber:<br />

<strong>Deutsches</strong> <strong>Zentrum</strong> <strong>für</strong> <strong>Altersfragen</strong><br />

Manfred-von-Richthofen-Straße 2<br />

12101 Berlin<br />

Telefon (030) 260 74 00, Fax (030) 785 43 50<br />

DZA im Internet:<br />

www.dza.de<br />

Presserechtlich verantwortlich:<br />

Prof. Dr. Clemens Tesch-Römer<br />

Redaktion:<br />

Cornelia Au und Dr. Doris Sowarka<br />

ida@dza.de<br />

Gestaltung und Satz:<br />

Mathias Knigge (grauwert, Hamburg)<br />

Kai Dieterich (morgen, Berlin)<br />

Druck:<br />

Fatamorgana Verlag, Berlin<br />

Der Informationsdienst erscheint zweimonatlich.<br />

Bestellungen sind nur im Jahresabonnement<br />

möglich. Jahresbezugspreis<br />

25,– EURO einschließlich Versandkosten;<br />

Kündigung mit vierteljährlicher Frist zum<br />

Ende des Kalenderjahres. Bezug durch das<br />

DZA. Der Abdruck von Artikeln, Grafiken<br />

oder Auszügen ist bei Nennung der Quelle<br />

erlaubt. Das DZA wird institutionell gefördert<br />

vom Bundesministerium <strong>für</strong> Familie,<br />

Senioren, Frauen und Jugend.<br />

ISSN 1614-3566<br />

Inhalt<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


3<br />

Die Tagesbetreuung von Krankenhauspatienten mit kognitiver<br />

Beeinträchtigung<br />

Klaus Wingenfeld und Mika Steinke<br />

Die demografische Entwicklung hat zur Folge,<br />

dass der Anteil älterer Patienten in Akutkrankenhäusern<br />

stetig zunimmt. Da eine Demenz<br />

vor allem im höheren Alter auftritt,<br />

kommt es dadurch nahezu zwangsläufig<br />

auch zu einem Anstieg der Zahl der Krankenhauspatienten<br />

mit einer Demenz. Zwar<br />

fehlen repräsentative Daten, doch dürfte der<br />

Anteil der Krankenhauspatienten mit kognitiven<br />

Beeinträchtigungen in den Bereichen<br />

der Allgemeinchirurgie und der Inneren<br />

Medizin nach allem, was man weiß, in einer<br />

Größenordnung von etwa 10 bis 15 % liegen.<br />

Nach wie vor fällt es den Akutkrankenhäusern<br />

schwer, den besonderen Problemund<br />

Bedarfslagen dieser Patienten gerecht<br />

zu werden. Die Kliniken standen und stehen<br />

nach der Einführung eines Abrechnungssystems<br />

mit Fallpauschalen („Diagnosis<br />

Related Groups“ – DRGs) unter anhaltendem<br />

Druck der Sicherstellung einer straffen<br />

Ablauforganisation. Dies wird umso besser<br />

erreicht, je mehr der Patient bereit ist, die<br />

klassische Patientenrolle zu übernehmen,<br />

Kooperationsbereitschaft zeigt und sein Verhalten<br />

an die Erfordernisse der Arbeitsabläufe<br />

im Krankenhaus anpasst (Wingenfeld<br />

2012).<br />

Ganz abgesehen von der Frage, wie diese<br />

Patientenrolle fachlich und ethisch<br />

zu beurteilen ist, muss nüchtern festgestellt<br />

werden, dass demenziell Erkrankte hierzu<br />

oftmals nicht in der Lage sind. Das moderne<br />

DRG-System setzt also einen anpassungsfähigen<br />

Patienten voraus, während demenziell<br />

Erkrankte mehr als andere Patienten<br />

umgekehrt auf eine flexible Anpassung der<br />

Versorgung an ihre individuellen Bedarfslagen<br />

und Bedürfnisse angewiesen sind.<br />

Der Krankenhausaufenthalt als folgenreicher<br />

Bruch im Alltagsleben<br />

Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen<br />

sind in ihrem Alltagsleben sehr auf überschaubare,<br />

vertraute und haltgebende Strukturen<br />

angewiesen: Auf die vertraute Wohnumgebung,<br />

auf feste Bezugspersonen und<br />

auf eine Tagesgestaltung, die einem gleichbleibenden<br />

Ablauf folgt.<br />

Im Falle einer Krankenhauseinweisung fallen<br />

die gewohnten haltgebenden Strukturen weg.<br />

Das akutstationäre Setting stellt <strong>für</strong> kognitiv<br />

beeinträchtigte Patienten eine gänzlich<br />

fremde, oftmals beängstigende Umgebung<br />

dar. Zeit und Gelegenheit <strong>für</strong> individuelle<br />

psychosoziale Unterstützung bestehen nur<br />

selten. Hinzu kommen die Folgen der akuten<br />

Erkrankung, die zur Aufnahme ins Krankenhaus<br />

geführt hat, die zum Teil belastenden<br />

Folgen der Behandlung und ein veränderter<br />

Unterstützungs- und Versorgungsbedarf.<br />

Die Situation der Krankenhauseinweisung<br />

und des Krankenhausaufenthaltes bringt<br />

<strong>für</strong> kognitiv beeinträchtigte Patienten somit<br />

eine erhebliche psychische Belastung mit<br />

sich. Anzeichen hier<strong>für</strong> sind motorische Unruhe,<br />

sozial unangemessene Verhaltensweisen<br />

oder die Abwehr pflegerischer oder<br />

medizinischer Maßnahmen (Kleina u.<br />

Wingenfeld 2007). Diese Verhaltensweisen<br />

wirken sich häufig störend auf andere<br />

Patienten und die Arbeitsorganisation aus.<br />

Darüber hinaus bietet die durch Inaktivität<br />

und Reizarmut gekennzeichnete Situation<br />

des Krankenhausaufenthaltes günstige Voraussetzungen<br />

<strong>für</strong> den fortschreitenden<br />

Verlust (noch) bestehender Fähigkeiten und<br />

Selbständigkeit (vgl. z.B. Applegate u.a.<br />

1990; Kosecoff u.a. 1990). Je länger ein<br />

Krankenhausaufenthalt andauert, umso größer<br />

wird die Gefahr eines nachhaltigen<br />

Verlustes der noch vorhandenen Fähigkeiten<br />

Aus der Altersforschung<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


4<br />

1) Berlin-Institut <strong>für</strong> Bevölkerung<br />

und Entwicklung<br />

(2011): Demenz-Report.<br />

Wie sich die Regionen in<br />

Deutschland, Österreich<br />

und der Schweiz auf die Alterung<br />

der Gesellschaft<br />

vorbereiten können. Berlin<br />

(pdf).<br />

2) Statistisches Bundesamt<br />

(2010): Demografischer<br />

Wandel in Deutschland.<br />

Auswirkungen auf<br />

Krankenhausbehandlungen<br />

und Pflegebedürftige im<br />

Bund und in den Ländern.<br />

Wiesbaden: Statistische<br />

Ämter des Bundes und der<br />

Länder (pdf).<br />

3) Weitergehende Informationen<br />

zum Modellvorhaben<br />

können einem Bericht<br />

des Projektträgers<br />

entnommen werden (vgl.<br />

GSP 2012a).<br />

und steigt damit das Risiko einer vermehrten<br />

Pflegebedürftigkeit (Pinkert u. Holle 2012).<br />

Ein Krankenhausaufenthalt stellt somit sowohl<br />

<strong>für</strong> die kognitiv beeinträchtigten Patienten<br />

und ihre Angehörigen als auch <strong>für</strong> die<br />

Mitpatienten und Pflegenden eine belastende,<br />

problemträchtige Versorgungsepisode<br />

dar, die keinesfalls als Ausnahmesituation<br />

einzustufen ist, sondern bereits heute zum<br />

Alltag im Krankenhaus gehört, und deren<br />

Stellenwert stetig zunimmt. In Deutschland<br />

leben derzeit schätzungsweise 1,3 Millionen<br />

Menschen mit einer Demenz 1 . Verschiedene<br />

Vorausberechnungen kommen zu dem Ergebnis,<br />

dass sich diese Zahl bis 2050 in etwa<br />

verdoppeln wird (vgl. ebd.; Schulz u. Doblhammer<br />

2012). Im Jahr 2008 war bereits<br />

jeder zweite Krankenhauspatient 60 Jahre<br />

und älter. Nach Berechnungen des Statistischen<br />

Bundesamtes 2 steigt dieser Anteil auf<br />

55,1 % im Jahr 2<strong>02</strong>0 sowie 62,4 % im Jahr<br />

2030. Danach wird im Jahr 2030 jeder fünfte<br />

Krankenhauspatient (20,7 %) 80 Jahre und<br />

älter sein (ebd., 15). Die Zahl der demen ziell<br />

erkrankten Patienten steigt dementsprechend<br />

rasch an.<br />

Inzwischen existieren verschiedene, zum<br />

Teil auch praktisch erprobte Ansätze zur Verbesserung<br />

der Versorgungssituation kognitiv<br />

beeinträchtigter Patienten während ihres<br />

Krankenhausaufenthaltes. Dazu gehören etwa<br />

die Optimierung des Aufnahmeverfahrens,<br />

die Anpassung der Dokumentation und des<br />

Informationsmanagements, gerontopsychiatrische<br />

Liaisondienste mit pflegerischem<br />

Schwerpunkt oder die Einrichtung spezieller<br />

Versorgungseinheiten mit besonderer räumlicher<br />

Ausstattung und speziell qualifiziertem<br />

Personal („Demenzstationen“).<br />

Studie zur Untersuchung der Tagesbetreuung<br />

von Krankenhauspatienten<br />

Ein weiterer Versorgungsansatz besteht in<br />

einem ergänzenden Angebot der Tagesbetreuung<br />

<strong>für</strong> kognitiv beeinträchtigte Krankenhauspatienten.<br />

In einigen Krankenhäusern<br />

existiert ein solches Angebot bereits seit<br />

mehreren Jahren. Im Auftrag des Ministeriums<br />

<strong>für</strong> Gesundheit, Emanzipation, Pflege<br />

und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen<br />

führte das Institut <strong>für</strong> Pflegewissenschaft<br />

an der Universität Bielefeld (IPW) von Mai<br />

2009 bis Juni 2012 eine Untersuchung<br />

durch, mit der der Nutzen dieses Angebots<br />

untersucht werden sollte. Diese Untersuchung<br />

wurde im Gemeinschaftskrankenhaus<br />

Herdecke durchgeführt und war ein<br />

Teilprojekt des Modellvorhabens „Blickwechsel<br />

Demenz. Regional“, mit dem in Trägerschaft<br />

der gemeinnützigen Gesellschaft<br />

<strong>für</strong> soziale Projekte (GSP) eine Erprobung<br />

und Weiterentwicklung verschiedener integrativer<br />

Handlungsansätze demenzkranker<br />

Menschen erfolgte 3 .<br />

Im Rahmen der Studie sollte untersucht werden,<br />

welchen Nutzen eine Tagesbetreuung<br />

<strong>für</strong> die Patienten, aber auch <strong>für</strong> die anderen<br />

beteiligten Akteure haben kann. Darüber<br />

hinaus sollte erfasst werden, mit welchen<br />

Kosten ein solches Tagesbetreuungsangebot<br />

verbunden ist. Im Detail sollten die folgenden<br />

Teilaspekte untersucht werden:<br />

– Patientenaufkommen und die Betreuungsintensität<br />

in der Tagesbetreuung,<br />

– Auswirkungen der Teilnahme an der Tagesbetreuung<br />

auf die Patienten,<br />

– Beurteilung der Tagesbetreuung aus der<br />

Sicht der Angehörigen, Pflegenden und<br />

Betreuungskräfte,<br />

– Kosten <strong>für</strong> die Umsetzung vergleichbarer<br />

Angebote in Akutkrankenhäusern.<br />

Zur Durchführung der Untersuchung wurde<br />

ein methodischer Ansatz gewählt, der auf<br />

einem Mix aus quantitativen und qualitativen<br />

Methoden beruhte und eine Vielzahl an<br />

Datenquellen berücksichtigte (soziodemografische<br />

und krankheitsbezogene Daten,<br />

Dokumentation der Tagesbetreuung, Einzelund<br />

Gruppeninterviews, teilnehmende Beobachtung).<br />

Unter anderem erfolgte eine<br />

Einschätzung von Mobilität, Kognition, Verhaltensweisen<br />

und der Selbständigkeit der<br />

betreuten Patienten durch die Pflegekräfte<br />

der projektbeteiligten Stationen mit Hilfe von<br />

standardisierten Erhebungsbögen. Diese<br />

Einschätzung führten die Pflegekräfte <strong>für</strong> jeden<br />

Patienten vor seiner Aufnahme in die<br />

Tagesbetreuung und bei seiner Entlassung<br />

durch, so dass ein Vorher-Nachher-Vergleich<br />

möglich war.<br />

Aus der Altersforschung<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


5<br />

4) Wingenfeld, K.; Steinke,<br />

M. u. Ostendorf, A. (2012):<br />

Die Tagesbetreuung kognitiv<br />

beeinträchtigter Krankenhauspatientinnen<br />

und<br />

-patienten. Abschlussbericht<br />

der wissenschaftlichen<br />

Begleitung des Modellprojekts<br />

„Erprobung<br />

und Weiterentwicklung integrativer<br />

Handlungsansätze<br />

in der gesundheitlichen<br />

Versorgung demenzkranker<br />

älterer Menschen“.<br />

Bielefeld.<br />

An der Studie waren insgesamt fünf Stationen<br />

beteiligt, die ihre Patienten in die Tagesbetreuung<br />

entsandten (eine neurologische<br />

Station, zwei chirurgische Stationen, zwei<br />

Stationen der Inneren Medizin). Es handelte<br />

es sich um Stationen, von denen die Entsendung<br />

der Patienten in die Tagesbetreuung<br />

ohne größeren organisatorischen Aufwand<br />

umsetzbar war (Lage der Räumlichkeiten).<br />

Die Erhebung der Daten erfolgte von April<br />

2010 bis Ende 2011. Die vollständigen Ergebnisse<br />

der Evaluation sind dem Projektbericht<br />

zu entnehmen 4 .<br />

Das Konzept der Tagesbetreuung im<br />

Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke<br />

Das Angebot der Tagesbetreuung im Gemeinschaftskrankenhaus<br />

Herdecke folgt der<br />

Grundidee, dem Verlust an Orientierung<br />

und Fähigkeiten bei kognitiv beeinträchtigten<br />

Patienten entgegenzuwirken, indem ihnen<br />

sowohl räumlich als auch zeitlich und personell<br />

eine verlässliche Struktur angeboten<br />

wird. Durch die regelmäßige und gezielte<br />

Aktivierung der Patienten sollen motorische<br />

und kognitive Fähigkeiten erhalten und ein<br />

geregelter Tag-Nacht-Rhythmus gefördert<br />

werden. Die gezielte Ansprache und andere<br />

Formen der Unterstützung haben unter<br />

anderem die Funktion, die sozialen und kommunikativen<br />

Fähigkeiten der Patienten zu<br />

stabilisieren und das Auftreten von herausforderndem<br />

Verhalten zu vermindern. Durch<br />

die gemeinsame Einnahme von Mahlzeiten<br />

mit Unterstützung können die Patienten das<br />

Essen als soziales Ereignis wahrnehmen<br />

und so zu einer geregelten Nahrungsaufnahme<br />

motiviert werden. Gleichzeitig bilden<br />

die Mahlzeiten feste Ankerpunkte in der<br />

Tagesstruktur. Für die Angehörigen und die<br />

Pflegekräfte der Stationen bietet die Tagesbetreuung<br />

Möglichkeiten zur Entlastung und<br />

zum „Lernen am Modell“ (vgl. GSP 2012b).<br />

Die Tagesbetreuung ist stationsübergreifend<br />

ausgerichtet und findet überwiegend in<br />

einem Raum statt, der in einem etwas abgelegenen,<br />

vergleichsweise ruhigen Bereich<br />

des Krankenhauses liegt, von den beteiligten<br />

Stationen aber gut zu erreichen ist. Für bestimmte<br />

Fälle (infektiöse Erkrankung, noch<br />

nicht ausreichende Mobilität etc.) wird eine<br />

1:1-Betreuung im Zimmer des Patienten angeboten.<br />

Der Raum der Tagesbetreuung ist<br />

mit Hilfe des entsprechenden Mobiliars im<br />

Stile eines Wohnzimmers eingerichtet. Die<br />

Tagesbetreuung steht den Patienten an allen<br />

fünf Werktagen in der Zeit von 11 bis 13 Uhr<br />

und von 14 bis 18 Uhr zur Verfügung. Die<br />

Betreuungszeiten wurden so gewählt, dass<br />

vor dem Beginn der Tagesbetreuung ausreichend<br />

Zeit <strong>für</strong> Therapien und Untersuchungen<br />

bleibt (vgl. ebd.)<br />

Für die Tagesbetreuung selbst ist eine hauptamtliche<br />

Altenpflegehelferin zuständig. Für<br />

die Betreuung der Patienten am Nachmittag<br />

und frühen Abend stehen jeweils zwei von<br />

insgesamt 15 ehrenamtlichen Mitarbeitern<br />

zur Verfügung, die zur Vorbereitung auf ihre<br />

Tätigkeit eine Schulung erhalten haben.<br />

Für die vorbildliche Verzahnung des Wirkens<br />

haupt- und ehrenamtlicher Mitarbeiter hat<br />

die Tagesbetreuung im Gemeinschaftskrankenhaus<br />

Herdecke den vdek-Zukunftspreis<br />

2011 verliehen bekommen. Die wichtige<br />

Funktion der Gesamtkoordinierung wird<br />

von einer Pflegewissenschaftlerin übernommen,<br />

zu deren Aufgaben auch die Integration<br />

der ehrenamtlichen Betreuungskräfte gehört<br />

(vgl. ebd.)<br />

Die Tagesbetreuung folgt einem festen Ablauf,<br />

was die Orientierung der Teilnehmer<br />

erleichtern soll. Sie umfasst außer den schon<br />

erwähnten gemeinsamen Mahlzeiten Aktivitäten<br />

wie biografieorientierte Gespräche,<br />

gemeinsames Singen, Vorlesen, Musik hören,<br />

Basteln, Rätseln, Gesellschafts- oder Bewegungsspiele<br />

und ähnliches mehr.<br />

Nutzungshäufigkeit und Betreuungsintensität<br />

Während der 21-monatigen Erhebungsphase<br />

wurden auf den fünf beteiligten Stationen<br />

laut Krankenhausstatistik insgesamt 5.700<br />

Patienten behandelt. Hiervon nahmen 445<br />

Patienten (7,8 %) mindestens einmal an der<br />

Tagesbetreuung teil. Angesichts vereinzelter<br />

Unschärfen in der Dokumentation sowie<br />

der Tatsache, dass die Tagesbetreuung infolge<br />

äußerer Umstände im Erhebungszeitraum<br />

phasenweise nicht stattfinden konnte, ist<br />

insgesamt eher von einem Anteil in Höhe von<br />

Aus der Altersforschung<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


6<br />

etwa 10 % aller Patienten auszugehen. Gemessen<br />

an den geringen Ressourcen, die<br />

der Tagesbetreuung zur Verfügung standen,<br />

und auch gemessen am Anteil der kognitiv<br />

beeinträchtigten Patienten, der schätzungsweise<br />

bei 10 bis 15 % liegt (s.o.), ist dies als<br />

recht hoher Anteil zu bewerten.<br />

Auch dadurch, dass die Stationsroutine<br />

Vorrang vor einer Teilnahme an der Tagesbetreuung<br />

hatte, schwankten die Patientenzahlen<br />

im Erhebungszeitraum. Zwischen 3<br />

und 21 Patienten wurden pro Woche betreut;<br />

im Schnitt waren es in etwa 10 Patienten.<br />

Im Durchschnitt wurde jeder Besucher der<br />

Tagesbetreuung 4,5 Male betreut. Dieser<br />

Wert setzt sich zusammen aus einem kleinen<br />

Teil der Patienten (6,3 %), die sehr häufig und<br />

lange betreut wurden (> 9 Betreuungen) und<br />

dem Großteil der Besucher (73,3 %), der sich<br />

im Bereich von einer bis fünf Betreuungen<br />

bewegte. Ein Viertel der Patienten (27,2 %)<br />

wurde lediglich ein oder zwei Mal betreut.<br />

Mobilität, kognitive Fähigkeiten, Verhaltensweisen<br />

und Selbständigkeit<br />

Wie schon angesprochen, geht ein Krankenhausaufenthalt<br />

<strong>für</strong> kognitiv beeinträchtigte<br />

Patienten häufig mit einem Verlust an Fähigkeiten<br />

und einem Anstieg des Unterstützungsbedarfs<br />

einher. Einen Schwerpunkt der<br />

Evaluation bildete daher die Untersuchung<br />

von Mobilität, Kognition, Verhaltensweisen<br />

und der Selbständigkeit der betreuten Patienten<br />

und damit verbunden der Fragestellung,<br />

ob sich der Einfluss einer Teilnahme an<br />

der Tagesbetreuung empirisch nachweisen<br />

lässt. Die Pflegekräfte der beteiligten Stationen<br />

führten hierzu standardisierte Einschätzungen<br />

der betreuten Patienten vor der Aufnahme<br />

in die Tagesbetreuung und bei Entlassung<br />

durch. Die vollständigen Daten <strong>für</strong><br />

diesen Vorher-Nachher-Vergleich lagen <strong>für</strong><br />

insgesamt 290 Patienten vor.<br />

Die Ergebnisse zeigen, dass bei dem Großteil<br />

der Patienten (zwischen 66,6 % und<br />

77,6 %) die untersuchten Fähigkeiten mindestens<br />

aufrechterhalten werden konnten.<br />

Nur ein kleiner Teil verschlechterte sich<br />

(zwischen 3,8 % und 9,7 %), wohingegen der<br />

Anteil der Patienten, die sich verbesserten,<br />

deutlich höher ausfiel (zwischen 11,4 % und<br />

18,6 %) (vgl. Tab. 1). Im Gesamtergebnis<br />

lässt sich somit eine Stabilisierung von Mobilität,<br />

Kognition und Verhalten feststellen,<br />

mit einer leichten Tendenz hin zu einer Verbesserung<br />

dieser Fähigkeiten.<br />

Auf dem gleichen Weg schätzten die Pflegekräfte<br />

auch die Selbständigkeit der Patienten<br />

vor und nach dem Besuch der Tagesbetreuung<br />

bei sieben typischen Aktivitäten des<br />

alltäglichen Lebens ein (Körper-, Mund- und<br />

Haarpflege, Ankleiden, Nahrungsaufnahme,<br />

Ausscheiden und Mobilisieren). Der beschriebene<br />

Ergebnistrend bestätigte sich auch<br />

hier. Bei einer starken Mehrheit der Patienten<br />

(64,2 %) war eine Stabilisierung ihrer<br />

Selbständigkeit festzustellen. Ein Viertel<br />

der Patienten (24,0%) verbesserte sich,<br />

etwa jeder zehnte Besucher (11,5%) büßte<br />

an Selbständigkeit ein.<br />

Da keine Kontrollstudie durchgeführt werden<br />

konnte, lassen sich diese Ergebnisse nur<br />

im Vergleich zu Ergebnissen anderer Studien<br />

bewerten. McVey u.a. (1989), Inouye u.a.<br />

(1993 und 1999), Landefeld u.a. (1995) und<br />

Covinsky u.a. (2003) kommen beispielsweise<br />

zu dem Ergebnis, dass zwischen 20 % und<br />

30 % der älteren internistischen Patienten<br />

Tabelle 1: Veränderungen von Fähigkeiten in der Phase der Tagesbetreuung (absolut und in %)<br />

Verschlechterung Stabilisierung Verbesserung k.A. Gesamt<br />

Mobilität 11 (3,8%) 225 (77,6%) 33 (11,4%) 21 (7,2%) 290 (100,0%)<br />

Kognition 20 (6,9%) 219 (75,5%) 41 (14,1%) 10 (3,4%) 290 (100,0%)<br />

Verhalten 28 (9,7%) 193 (66,6%) 54 (18,6%) 15 (5,2%) 290 (100,0%)<br />

Aus der Altersforschung<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


7<br />

während ihres Krankenhausaufenthaltes an<br />

Selbständigkeit einbüßen. Vor diesem Hintergrund<br />

stellt der im Rahmen der Evaluation<br />

ermittelte Anteil von 11,5 % der Patienten<br />

mit Selbständigkeitseinbußen ein recht positives<br />

Ergebnis dar, insbesondere wenn man<br />

bedenkt, dass das Durchschnittsalter der betreuten<br />

Patienten mit 80,5 Jahren höher lag<br />

als in den berücksichtigten Studien.<br />

Der Nutzen der Tagesbetreuung <strong>für</strong><br />

Pflegende und Angehörige<br />

Mit den Pflegekräften der beteiligten Stationen<br />

und ausgewählten Angehörigen wurden<br />

Interviews geführt, um u.a. zu erfahren,<br />

wie sie den Nutzen der Tagesbetreuung einschätzen.<br />

Für die befragten Pflegekräfte<br />

stellte die Tagesbetreuung vor allem eine<br />

Entlastung dar. Bei den Besuchern der Tagesbetreuung<br />

handelte es sich häufig um<br />

Patienten mit einem hohen Bedarf an Unterstützung<br />

bei der Nahrungsaufnahme, die<br />

dann nicht mehr durch die Pflegenden der<br />

Stationen, sondern im Rahmen der Tagesbetreuung<br />

gewährleistet wurde. Weitere Entlastung<br />

bot die Tagesbetreuung aus Sicht der<br />

Pflegenden im Falle von Patienten mit<br />

ausgeprägter motorischer Unruhe. Mit der<br />

Abwesenheit des Patienten entfiel das Erfordernis<br />

einer zeitlich engmaschigen Beobachtung.<br />

Berichtet wurde außerdem, dass<br />

sich die Unruhe durch die gezielte Einbindung<br />

und Aktivierung in der Tagesbetreuung<br />

häufig reduzierte. In den Bewertungen der<br />

Pflegekräfte wurde darüber hinaus der fachliche<br />

Nutzen des Betreuungsangebotes betont:<br />

Die Patienten erhielten in der Tagesbetreuung<br />

einige Stunden lang die Aufmerksamkeit<br />

und Zuwendung, die sie benötigten,<br />

die im Rahmen des normalen Stationsalltags<br />

jedoch nicht geboten werden könnte. Die<br />

Pflegenden wussten die Patienten in der Tagesbetreuung<br />

somit besser versorgt.<br />

Die befragten Angehörigen berichteten<br />

ebenfalls, dass sie die Patienten in der Tagesbetreuung<br />

gut aufgehoben wussten. Dadurch<br />

ergab sich auch <strong>für</strong> sie eine Entlastung<br />

von Betreuungsaufgaben. Gleichzeitig bestand<br />

<strong>für</strong> die Angehörigen die Möglichkeit,<br />

an der Tagesbetreuung teilzunehmen. So<br />

konnten sie die Patienten in einer anderen<br />

Umgebung erleben und bekamen Anregungen<br />

<strong>für</strong> Aktivitäten und den Umgang mit ihren<br />

kognitiv beeinträchtigten Angehörigen.<br />

Fazit<br />

Ein Krankenhausaufenthalt stellt <strong>für</strong> kognitiv<br />

beeinträchtigte Patienten eine besondere<br />

Belastungssituation dar, die häufig mit weitreichenden<br />

Folgen einhergeht. Das Angebot<br />

einer Tagesbetreuung stellt, wie in der vorliegenden<br />

Studie deutlich wurde, einen vielversprechenden<br />

und vergleichsweise kostengünstigen<br />

Ansatz dar, um den Erhalt der<br />

Selbständigkeit und Fähigkeiten kognitiv beeinträchtigter<br />

Patienten zu befördern und<br />

die Bedingungen der Hospitalisierung <strong>für</strong> sie<br />

positiver zu gestalten. Auch <strong>für</strong> Angehörige<br />

und Pflegende bietet die Tagesbetreuung<br />

einen zeitlichen und fachlichen Nutzen.<br />

Idealerweise erfolgt die Implementation einer<br />

Tagesbetreuung im Rahmen eines Gesamtkonzeptes<br />

zur Versorgung kognitiv beeinträchtigter<br />

Patienten und nicht nur als einzelne<br />

Maßnahme. Entscheidet sich ein Krankenhaus<br />

dazu, so sollten außerdem einige<br />

grundsätzliche Fragen beachtet werden.<br />

Dazu gehört unter anderem die Ausgestaltung<br />

verbindlicher Verfahrensweisen. So ist<br />

es beispielsweise empfehlenswert, vorab<br />

Kriterien und Zuständigkeiten <strong>für</strong> den Prozess<br />

der Auswahl der Patienten <strong>für</strong> die Tagesbetreuung<br />

festzulegen. Daneben ist es wichtig,<br />

den Transfer der Patienten zwischen Krankenzimmer<br />

und Tagesraum sicherzustellen.<br />

Geachtet werden sollte auch auf eine adäquate<br />

räumliche und personelle Ausstattung,<br />

die im Idealfall auch eine Betreuung auf dem<br />

Patientenzimmer ermöglicht, wenn es die<br />

individuelle Situation des Patienten erforderlich<br />

macht. Ansonsten blieben ausgerechnet<br />

die am schwersten betroffenen Patienten<br />

von der Tagesbetreuung ausgeschlossen.<br />

Schließlich haben die Projekterfahrungen ge-<br />

Aus der Altersforschung<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


8<br />

zeigt, dass es stetiger Bemühungen zur Integration<br />

in die Routineabläufe des Krankenhauses<br />

bedarf. Es ist <strong>für</strong> Angebote dieser Art<br />

schwer, sich gegenüber den durch Diagnostik,<br />

Therapie und Pflege geprägten Abläufen<br />

zu behaupten. Den Besuch der Tagesbetreuung<br />

als gleichberechtigten Bestandteil<br />

der Versorgung zu verstehen und in die individuelle<br />

Planung des Tages zu integrieren,<br />

stellt insofern eine der größten Herausforderungen<br />

bei der Einführung und Verstetigung<br />

dieses Angebots dar.<br />

Dr. Klaus Wingenfeld ist wissenschaftlicher<br />

Geschäftsführer und Mika Steinke wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter des Instituts <strong>für</strong><br />

Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld<br />

(IPW).<br />

Kontakt:<br />

klaus.wingenfeld@uni-bielefeld.de<br />

mika_jan.steinke@uni-bieldefeld.de<br />

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u. H.-W. Hoefert (Hrsg.): Das Krankenhaus im<br />

demografischen Wandel. Theoretische und praktische<br />

Grundlagen zur Zukunftssicherung (Kap. 3, S. 31 – 44).<br />

Heidelberg: medhochzwei Verlag.<br />

Aus der Altersforschung<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


9<br />

Was leisten „nicht-medikamentöse“ Therapien bei Demenz?<br />

Ein Überblick über aktuelle Projekte<br />

Elmar Gräßel, Jelena Siebert, Gudrun Ulbrecht und Renate Stemmer<br />

1) Verhältnis zwischen<br />

Personen im Rentenalter<br />

und Personen im erwerbsfähigem<br />

Alter<br />

Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes<br />

(2009) wird der Altenquotient 1<br />

der Bevölkerung in Deutschland von derzeit<br />

34% auf 63% im Jahr 2060 steigen. Unsere<br />

Gesellschaft altert weiter und der demographische<br />

Wandel bringt wichtige Implikationen<br />

mit sich. Alterserkrankungen wie die<br />

Demenz werden häufiger und stellen somit<br />

eine zunehmende Herausforderung <strong>für</strong> Gesellschaft<br />

und Gesundheitswesen dar.<br />

Schätzungen gehen davon aus, dass sich die<br />

Zahl der Menschen mit Demenz bereits in den<br />

nächsten 20 Jahren verdoppeln wird.<br />

Bisher gibt es keine Therapieansätze zur ursächlichen<br />

Behandlung von degenerativen<br />

Demenzen. Damit wird die Versorgung und<br />

Pflege von Menschen mit Demenz noch<br />

lange Zeit als komplexe Aufgabe bestehen<br />

bleiben. Ziel medikamentöser als auch<br />

nicht-medikamentöser Demenztherapien<br />

sollte daher das Aufhalten des degenerativen<br />

Krankheitsverlaufes sein, d.h. die nachweis<br />

liche Verzögerung der Krankheitsprogression<br />

durch eine optimale Förderung der<br />

Ressourcen, um die Autonomie des Betroffenen<br />

und damit seine Lebensqualität<br />

so lange wie möglich zu erhalten.<br />

Nach der S3 Leitlinie „Demenzen“ der Deutschen<br />

Gesellschaft <strong>für</strong> Psychiatrie, Psychotherapie<br />

und Nervenheilkunde (Deuschl u.<br />

Meier 2009) sind psychosoziale Interventionen<br />

zentraler und notwendiger Bestandteil<br />

der Betreuung von Menschen mit Demenz<br />

und deren Angehörigen, und zwar aufgrund<br />

der breiteren Ausrichtung der Ziele im Vergleich<br />

zu pharmakologischen Therapien. Die<br />

S3 Leitlinie resümiert „geringe Effekte“<br />

verschiedener nicht-medikamentöser Interventionen<br />

und spricht deshalb nur vorsichtige<br />

Behandlungsempfehlungen aus – „kann<br />

angeboten werden“. Ergänzend stellte das<br />

Institut <strong>für</strong> Qualität und Wirtschaftlichkeit im<br />

Gesundheitswesen (IQWiG) in seinem Abschlussbericht<br />

2009 fest, dass es <strong>für</strong> einzelne<br />

nicht-medikamentöse Behandlungsstrategien<br />

Hinweise auf einen Nutzen, aber auch auf<br />

einen „Schaden“ gibt und dass die langfristige<br />

Wirksamkeit nicht belegt ist. Bisher<br />

mangele es an qualitativ hochwertigen<br />

Studien, insbesondere mit randomisiertkontrolliertem<br />

Design, um verlässliche Aussagen<br />

zur Wirksamkeit machen zu können.<br />

Im Folgenden werden vier aktuelle Projekte<br />

zu „nicht-medikamentösen“ Aktivierungsangeboten<br />

<strong>für</strong> Menschen mit Demenz vorgestellt,<br />

um abschließend den Erkenntnisgewinn<br />

zu bilanzieren. Die Studien vereint das<br />

Ziel, vorhandene Ressourcen zu stärken und<br />

Begleitsymptome günstig zu beeinflussen,<br />

um so die Lebensqualität zu steigern.<br />

BeWiTa – Wohlfühlen in einer aktiven<br />

Gruppe auch bei Gedächtniseinbußen<br />

Bei der Bewegungsstudie „BeWiTa“ wurden<br />

zuhause lebenden Menschen mit Gedächtniseinbußen<br />

(„Betroffene“) und ihren Angehörigen<br />

wahlweise sportpädagogisch angeleitetes<br />

Bewegungstraining, Kegeln, sensomotorisches<br />

Training mit elektronischen<br />

Sportspielen (Wii) oder Tanzen angeboten.<br />

Das Projekt wurde in vier Nürnberger Senioreneinrichtungen<br />

von März bis Juli 2011<br />

durchgeführt. Ziel war insbesondere die positive<br />

Beeinflussung der Motorik, Kognition<br />

und Lebensqualität der Betroffenen. Das<br />

Projekt wurde von der Angehörigenberatung<br />

e.V. Nürnberg koordiniert und von der Psychiatrischen<br />

Universitätsklinik Erlangen (Projektleiterin:<br />

Dr. Gudrun Ulbrecht) wissenschaftlich<br />

begleitet. BeWiTa wurde mit dem<br />

Forschungsförderpreis 2010 der Deutschen<br />

Alzheimer Gesellschaft e.V. ausgezeichnet<br />

und dadurch finanziert.<br />

Aus der Altersforschung<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


10<br />

Methode<br />

An der 5-monatigen Verlaufsstudie (Prä-Post-<br />

Vergleich ohne Kontrollgruppe) nahmen 36<br />

Paare, d.h. 36 Betroffene und 36 Angehörige<br />

einmal wöchentlich <strong>für</strong> eine Stunde unter<br />

Anleitung an dem von ihnen frei wählbarem<br />

Förderprogramm (Bewegungstraining, Kegeln,<br />

Wii-Sportspiele oder Tanzen) teil (Publikation<br />

der Studienergebnisse in Vorbereitung). Teilnahmevoraussetzung<br />

<strong>für</strong> die Betroffenen<br />

war eine subjektive oder objektive kognitive<br />

Beeinträchtigung. Die/der Angehörige konnte<br />

ein Verwandter oder auch ein Bekannter<br />

sein. Vor Beginn des Förderangebots fand<br />

eine Anfangsuntersuchung und nach Ende<br />

eine Abschlussuntersuchung statt. Hier wurden<br />

jeweils Leistungstests zur Motorik und<br />

Kognition der Betroffenen durchgeführt. Ferner<br />

fanden Befragungen der Angehörigen zur<br />

Lebens- und Beziehungsqualität statt.<br />

Ergebnisvariablen waren:<br />

– motorische Fähigkeiten der Betroffenen<br />

[Senior Fitness Test (KIT)]<br />

– kognitive Fähigkeiten des Betroffenen<br />

[Trail Making Test Teil A (TMT-A)]<br />

– Lebensqualität des Angehörigen [gemessen<br />

mit dem WHO Quality of Life-BREF<br />

(WHOQOL-BREF)]<br />

– Lebensqualität des Betroffenen (DemQOLk-Proxy)<br />

– die Beziehungsqualität zwischen Betroffenen<br />

und Angehörigen [kommunikativer<br />

Umgang (BadKom), „actually received<br />

support (provider)“ Subtest der Berliner<br />

Social Support Scales (BSSS)]<br />

Ergebnisse<br />

Nach der Förderungsphase zeigte sich durchschnittlich<br />

eine Stabilisierung sowohl bei<br />

motorischen und kognitiven Fähigkeiten der<br />

Betroffenen als auch bei Lebens- und Beziehungsqualität<br />

der Betroffenen und ihrer<br />

Angehörigen.<br />

Eine Profilanalyse zeigte, dass eine Verbesserung<br />

der psychischen Lebensqualität bei<br />

den Angehörigen erreicht werden konnte,<br />

die zu Beginn der Studie eine niedrige psychische<br />

Lebensqualität aufwiesen und bei<br />

solchen, die nicht mit dem Betroffenen zusammenlebten.<br />

In Hinblick auf die kognitiven<br />

Fähigkeiten profitierten insbesondere weibliche<br />

Betroffene durch das Aktivierungsangebot.<br />

Seit dem Ende der Förderphase im Sommer<br />

2011 werden von den ehemals sechs<br />

BeWiTa-Gruppen fünf Gruppen weitergeführt:<br />

drei in Eigenregie eines pflegenden<br />

Angehörigen, eine mit Anleitung durch<br />

eine Honorarkraft und ein Bewegungsangebot<br />

unter professioneller Begleitung.<br />

Schlussfolgerungen<br />

Trotz der grundsätzlich progredienten Form<br />

degenerativer Demenzen konnte eine Stabilisierung<br />

der motorischen und kognitiven<br />

Fähigkeiten bei den Betroffenen im Zeitraum<br />

von 5 Monaten festgestellt werden. Besonders<br />

die Erkenntnisse über die eigenständige<br />

Fortführung einiger BeWiTa-Gruppen nach<br />

Beendigung des Projekts sind ein Erfolg des<br />

Projekts. Sie dokumentieren Bedarf, Akzeptanz<br />

und Wertschätzung solcher Aktivierungsprogramme.<br />

Das Förderangebot <strong>für</strong><br />

Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen<br />

im Raum Nürnberg konnte damit nachhaltig<br />

gestärkt werden.<br />

SenSo – beschäftigungstherapeutisches<br />

Gruppenangebot <strong>für</strong> Menschen mit Demenz<br />

im Pflegeheim<br />

Unter der Federführung des Bereichs Medizinische<br />

Psychologie und Medizinische<br />

Soziologie der Psychiatrischen Universitätsklinik<br />

Erlangen wurde in der bereits bestehenden<br />

„Tagesgruppe“ des Seniorenzentrums<br />

(Sen) Sophienstraße (So) in Erlangen<br />

(Bayern) ein aktivierendes, beschäftigungstherapeutisch<br />

ausgerichtetes Förderprogramm<br />

angewandt und in der Zeit von Oktober<br />

2004 bis Februar 2010 wissenschaftlich<br />

überprüft (Projektleiter: Prof. Dr. Elmar<br />

Gräßel). Finanzielle Förderung erhielt das<br />

SenSo-Projekt durch den ELAN-Fonds<br />

der Medizinischen Fakultät der Friedrich-<br />

Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg<br />

und durch die BHF-BANK-Stiftung (Frankfurt<br />

a.M.). Ziel war es, die Lebenssituation zu<br />

verbessern, insbesondere die Unterforderung<br />

von Menschen mit Demenz im Pflegeheim<br />

zu beseitigen, das Wohlbefinden zu steigern<br />

und alltagspraktische Fähigkeiten zu erhalten.<br />

Aus der Altersforschung<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


11<br />

2) Statistisches Maß <strong>für</strong><br />

die Größe bzw. Bedeutsamkeit<br />

eines Effekts.<br />

Gemäß Cohens (1992)<br />

Klassifikation ist 0,2 ein<br />

kleiner, 0,5 ein mittlerer<br />

und 0,8 ein starker Effekt.<br />

Methode<br />

Durchgeführt wurde eine einfach-verblindete<br />

Verlaufsstudie (siehe Pickel u.a. 2011) über<br />

einen Zeitraum von 6 Monaten mit einer<br />

Therapie- und einer parallelisierten Kontrollgruppe.<br />

Die „nicht-medikamentöse“ Intervention<br />

war im Sinne eines beschäftigungstherapeutischen<br />

Gruppenangebots an den<br />

Fähigkeiten und Bedürfnissen von Menschen<br />

mit Demenz orientiert und umfasste<br />

motorische (Stuhl-, Ballgymnastik), kreativgestalterische<br />

(malen, basteln) und vor allem<br />

alltagspraktische Aktivitäten (Gemüse<br />

schneiden, Tisch decken) sowie das gemeinsame<br />

Einnehmen des Mittagessens. Die<br />

Gruppe bestand aus maximal 12 Bewohnerinnen<br />

und Bewohnern mit leichter oder<br />

mittelschwerer Demenz und traf sich montags<br />

bis samstags jeweils von 10.00 bis 14.00<br />

Uhr. Angeleitet wurden sie dabei von zwei<br />

examinierten Altenpflegerinnen. Die insgesamt<br />

56 Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer<br />

wurden zu Beginn und 6 Monate<br />

später durch unabhängige Testerinnen und<br />

Tester untersucht. Zusätzlich erfolgte eine<br />

Befragung des Pflegepersonals. Die Kontrollgruppenmitglieder<br />

erhielten die übliche<br />

Standardversorgung des Pflegeheims.<br />

Ergebnisvariablen waren:<br />

– alltagspraktische Fähigkeiten [Erlanger<br />

Alltagsaktivitäten-Test (E-ADL Test)]<br />

– kognitive Funktionen [Alzheimer‘s Disease<br />

Assessment Scale - cognitive subscale<br />

(ADAS-Cog)]<br />

– geriatrische Gesamtsymptomatik [Nurses‘<br />

Observation Scale for Geriatric Patients<br />

(NOSGER)]<br />

Ergebnisse<br />

Durch den regelmäßigen Besuch der Tagesgruppe<br />

im Beobachtungszeitraum von 6 Monaten<br />

konnten die alltagspraktischen Fähigkeiten<br />

der Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />

auf dem gleichen Niveau erhalten werden,<br />

während sie in der Kontrollgruppe signifikant<br />

nachließen (Effektstärke 2 , d.h. Unterschied<br />

zwischen Therapie- und Kontrollgruppe nach<br />

Cohen d = 0,83).<br />

In Hinblick auf die geriatrische Gesamtsymptomatik<br />

zeigte sich eine Tendenz zur Verbesserung<br />

der Stimmung in der Therapiegruppe,<br />

wohingegen es zu einer Zunahme<br />

depressiver Symptome in der Kontrollgruppe<br />

kam (Cohen d = 0,77).<br />

Es konnte kein signifikanter Effekt der Therapie<br />

auf die Gedächtnis- und Denkfähigkeiten<br />

festgestellt werden. Interventions- und<br />

Kontrollgruppe verschlechterten sich gleichermaßen<br />

(Cohen d = 0,0<strong>02</strong>).<br />

Weiterhin war kein signifikanter Unterschied<br />

<strong>für</strong> soziale und herausfordernde Verhaltensweisen<br />

zwischen den Gruppen nachweisbar.<br />

Schlussfolgerungen<br />

Das beschäftigungstherapeutische Gruppenangebot<br />

<strong>für</strong> Menschen mit Demenz im<br />

Pflegeheim trainiert gezielt alltagspraktische<br />

Fähigkeiten und kann diese dadurch länger<br />

erhalten. In diesem Bereich wirkt es also<br />

dem progredienten Verlauf einer degenerativen<br />

Demenz entgegen. Durch die Stabilisierung<br />

der alltagspraktischen Kompetenz<br />

wird ein wesentlicher Aspekt der Lebensqualität,<br />

die Teilhabe am Alltagsgeschehen,<br />

erfolgreich beeinflusst.<br />

Zusätzlich bewirkt die unimodale Gruppentherapie<br />

eine tendenzielle Verbesserung der<br />

Stimmung. Es wird jedoch auch deutlich,<br />

dass kein „Überstrahlungseffekt“ auf die<br />

kognitiven Fähigkeiten stattfindet. Daher<br />

wurde in einem Nachfolgeprojekt das unimodale<br />

SenSo-Programm präzisiert und mit<br />

zwei weiteren Komponenten zu der multimodalen,<br />

„nicht-medikamentösen“ MAKS®-<br />

Therapie kombiniert.<br />

MAKS® – multimodale, „nicht-medikamentöse“<br />

Therapie <strong>für</strong> Menschen<br />

mit Demenz im Pflegeheim<br />

Zur Verbesserung der Evidenz „nicht-medikamentöser“<br />

Interventionen bei degenerativen<br />

Demenzen wurde im Bereich „Medizinische<br />

Psychologie und Medizinische<br />

Soziologie“ der Psychiatrischen Universitätsklinik<br />

Erlangen die unimodale Beschäftigungstherapie<br />

des SenSo-Projekts weiter<br />

entwickelt. Es entstand das manualisierte<br />

MAKS®-Konzept, das in einer methodisch<br />

hochwertigen Studie wissenschaftlich überprüft<br />

wurde (Projektleiter: Prof. Dr. Elmar<br />

Gräßel). Bei der MAKS-Therapie handelt es<br />

sich um ein speziell auf die Bedürfnisse<br />

demenzkranker Personen abgestimmtes<br />

Konzept zur ganzheitlichen Ressourcenförderung,<br />

welches aus vier Komponenten<br />

besteht: Motorische, Alltagspraktische und<br />

Aus der Altersforschung<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


12<br />

3) Siehe Anmerkung 2<br />

Kognitive Aktivierung mit einer Spirituellen<br />

Einstimmung. Die vom Bundesministerium<br />

<strong>für</strong> Gesundheit im Rahmen der Initiative<br />

„Leuchtturmprojekt Demenz“ geförderte<br />

Studie wurde von Dezember 2008 bis Januar<br />

2010 durchgeführt und richtete sich an<br />

Menschen mit Demenz im Pflegeheim. Im<br />

Jahr 2011 wurden SenSo- und MAKS-Projekt<br />

mit dem Erlanger Preis <strong>für</strong> Medizin und Technik<br />

in der Kategorie „Gesundheit und Prävention“<br />

ausgezeichnet (www.maks-aktiv.de).<br />

Methode<br />

Es wurde eine multizentrische, einfach-verblindete,<br />

randomisiert-kontrollierte Verlaufsstudie<br />

durchgeführt, an der 98 Bewohnerinnen<br />

und Bewohner mit primär degenerativer<br />

Demenz aus 5 Pflegeheimen in Mittel franken<br />

(Bayern) über einen Zeitraum von 12 Monaten<br />

teilnahmen (Graessel u.a. 2011; Luttenberger<br />

u.a. 2012a; Luttenberger u.a. 2012b).<br />

Die Interventionsgruppen erhielten die<br />

Gruppentherapie MAKS, die aus den Komponenten<br />

(Psycho-)Motorik, Alltagspraxis und<br />

Kognition sowie einer kurzen „spirituellen“<br />

Einleitung bestand. Durchgeführt wurde die<br />

manualisierte und dadurch standardisiert<br />

durchführbare Intervention von zwei geschulten<br />

Therapeuten und einer Hilfskraft in<br />

Gruppen aus 10 Personen zwei Stunden<br />

täglich an 6 Tagen pro Woche <strong>für</strong> insgesamt<br />

12 Monate. Die Therapeutinnen waren<br />

examinierte Altenpflegerinnen oder gerontopsychiatrische<br />

Fachkräfte. Die Kontrollgruppen<br />

erhielten die übliche Versorgung im<br />

Pflegeheim. In jedem Pflegeheim gab es<br />

eine Therapie- und eine Kontrollgruppe. Studienteilnehmer<br />

wurden bei Studienbeginn,<br />

nach 12 Monaten zum Zeitpunkt der Beendigung<br />

der systematischen Therapie und<br />

erneut 10 Monate später untersucht. Die<br />

Auswertung erfolgte anhand quantitativer<br />

Analysemethoden.<br />

Ergebnisvariablen waren:<br />

– kognitive Funktionen (ADAS-Cog)<br />

– alltagspraktische Fähigkeiten (E-ADL Test)<br />

– geriatrische Gesamtsymptomatik (NOSGER)<br />

Ergebnisse<br />

Im Laufe der 12-monatigen Therapiephase<br />

konnten die Personen der MAKS-Gruppen<br />

ihre kognitiven und alltagspraktischen Fähigkeiten<br />

im Durchschnitt erhalten, wohingegen<br />

sie in den Kontrollgruppen nachließen<br />

(ADAS-Cog: Cohen d = 0,45; E-ADL Test:<br />

Cohen d = 0,50).<br />

Während die mit dem NOSGER gemessene<br />

Gesamtsymptomatik in den Kontrollgruppen<br />

unverändert blieb, verbesserte sie sich unter<br />

dem Einfluss der MAKS-Therapie (Cohen<br />

d = 0,66). Dies war insbesondere auf eine<br />

Abnahme depressiver Symptome, eine Abnahme<br />

herausfordernder Verhaltensweisen<br />

(z.B. Aggressivität) und eine Verbesserung<br />

des Sozialverhaltens zurückzuführen.<br />

Nach Beendigung der systematischen Therapie<br />

verschlechterten sich Kontroll- und Interventionsgruppen<br />

signifikant sowohl in den<br />

alltagspraktischen als auch in den kognitiven<br />

Fähigkeiten. Jedoch zeigte sich, dass die<br />

Kompetenz zur Ausübung alltagspraktischer<br />

Tätigkeiten 10 Monate nach Ende der systematischen<br />

Therapie in der MAKS-Gruppe<br />

noch signifikant höher war als in der Kontrollgruppe.<br />

Cohen d <strong>für</strong> den Gruppenunterschied<br />

3 in den alltagspraktischen Fähigkeiten<br />

beträgt d = 0,40, <strong>für</strong> die kognitiven Fähigkeiten<br />

d = 0,22. Für die Gedächtnis- und<br />

Denkfähigkeit war zu diesem Zeitpunkt allerdings<br />

kein signifikanter Gruppenunterschied<br />

mehr feststellbar.<br />

Insgesamt zeigte sich, dass Patienten mit<br />

schwerer Demenz (MMSE 0 – 9) kaum von<br />

der MAKS-Therapie profitierten. Sie sollte<br />

demnach eher bei leichter bis mittelschwerer<br />

Demenz angewandt werden.<br />

Zusammenfassend zeigten sich folgende<br />

Effekte:<br />

Die MAKS-Therapie<br />

– ist wirksam vor allem hinsichtlich alltagspraktischer<br />

Fähigkeiten, aber auch hinsichtlich<br />

Gedächtnis- und Denkfähigkeit (keine<br />

weitere Verschlechterung im systematischen<br />

Therapiezeitraum von 12 Monaten)<br />

– verschafft den Teilnehmenden eine positiv<br />

erlebte Zeit in Gemeinschaft<br />

– verbessert die Stimmung durch Verminderung<br />

der Depressivität<br />

Aus der Altersforschung<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


13<br />

– verbessert das Verhalten, indem es das<br />

soziale Miteinander fördert und herausfordernde<br />

(„störende“) Verhaltensweisen<br />

vermindert<br />

– wirkt genauso intensiv auf die Kognition<br />

wie die zur Zeit effektivsten Medikamente<br />

gegen die Alzheimer Demenz (etwa gleiche<br />

Effektstärke)<br />

– wirkt intensiver auf die alltagspraktischen<br />

Fähigkeiten als die zur Zeit effektivsten<br />

Medikamente gegen Alzheimer Demenz<br />

(größere Effektstärke)<br />

– wirkt mindestens zwölf Monate lang und<br />

damit wahrscheinlich länger als die zur Zeit<br />

effektivsten Medikamente gegen Alzheimer-Demenz<br />

(die Wirksamkeit hier ist <strong>für</strong><br />

sechs Monate untersucht worden)<br />

– wirkt ohne Nebenwirkungen<br />

– 10 Monate nach Ende der systematischen<br />

MAKS-Therapie ist immer noch ein relevanter<br />

Therapieeffekt festzustellen, obwohl<br />

die Fähigkeiten durchschnittlich wieder<br />

nachlassen<br />

Schlussfolgerungen<br />

Die multimodale, „nicht-medikamentöse“<br />

MAKS-Therapie <strong>für</strong> Menschen mit degenerativer<br />

Demenz bewirkt eine Stabilisierung der<br />

alltagspraktischen und kognitiven Fähigkeiten<br />

und erhält somit die Selbstständigkeit im<br />

Alltag ganz ohne unerwünschte Wirkungen.<br />

Nach dem Wegfall der systematischen<br />

„nicht-medikamentösen“ Intervention besteht<br />

<strong>für</strong> alltagspraktische Fähigkeiten eher<br />

eine Tendenz zum „Selbsterhalt“ als <strong>für</strong><br />

kognitive Fähigkeiten. Wohlmöglich werden<br />

alltagspraktische Tätigkeiten auch in der<br />

Folge eigenständig durchgeführt und auf<br />

diese Weise automatisch weiter trainiert.<br />

Multimodale Therapien sollten also so früh<br />

wie möglich begonnen werden, um die<br />

Ressourcen von Menschen mit Demenz zu<br />

erhalten. Dabei ist es wichtig, diese Maßnahme<br />

kontinuierlich einzusetzen, um so<br />

nicht nur die alltagspraktischen, sondern<br />

auch die kognitiven Fähigkeiten so lange wie<br />

möglich zu erhalten.<br />

ANAA+KO – Aktivierung von Menschen<br />

mit Demenz im häuslichen Bereich<br />

Im Rahmen des SILQUA-Programms, gefördert<br />

vom Bundesministerium <strong>für</strong> Bildung und<br />

Forschung, wurde eine ganzheitliche Aktivierungsmaßnahme<br />

<strong>für</strong> Menschen mit leichter<br />

bis mittelschwerer Demenz in 29 ambulanten<br />

Pflegediensten in Rheinland-Pfalz, Hessen<br />

und dem Saarland durchgeführt und wissenschaftlich<br />

durch die Katholische Hochschule<br />

Mainz begleitet (Projektleiterin: Prof. Dr.<br />

Renate Stemmer). Dabei wurde erstmalig<br />

die Wirksamkeit einer Kombination von<br />

alltagspraktischer und kognitiver Aktivierung<br />

im häuslichen Umfeld untersucht (www.<br />

anaa-und-ko.de).<br />

Methode<br />

Durchgeführt wurde eine multizentrische,<br />

randomisiert-kontrollierte Verlaufsstudie mit<br />

einer Stichprobe von 66 Teilnehmerinnen<br />

und Teilnehmern mit einem irreversiblen<br />

Demenzsyndrom (Publikation der Studienergebnisse<br />

in Vorbereitung). In einem Zeitraum<br />

von sechs Monaten erhielt die Interventionsgruppe<br />

eine individuell angepasste, manualisierte,<br />

alltagspraktische Aktivierung, die<br />

die Angehörigen eigenständig nach Instruktion<br />

durch Projektmitarbeiterinnen an sechs Tagen<br />

pro Woche <strong>für</strong> je 60 Minuten durchführten.<br />

Außerdem erfolgte einmal wöchentlich eine<br />

30-minütige kognitive Aktivierung durch geschulte<br />

Projektmitarbeiterinnen zu Hause<br />

als „Einzeltherapie“. Zusätzlich wurden die<br />

Angehörigen durch Gesundheits- und<br />

Krankenpflegerinnen bzw. Altenpflegerinnen<br />

beraten. Die Kontrollgruppe erhielt eine<br />

Standardversorgung. Die Auswertung erfolgte<br />

nach dem Intention-to-treat-Prinzip,<br />

also mit allen Studienteilnehmerinnen und<br />

-teilnehmern, die die Maßnahme begonnen<br />

hatten, als Prä-Post-Analyse mit multivariaten<br />

statistischen Verfahren.<br />

Ergebnisvariablen waren:<br />

– alltagspraktische Fähigkeiten (E-ADL Test)<br />

– kognitive Funktionen (ADAS-Cog)<br />

– Ausmaß der Pflegebedürftigkeit der an<br />

Demenz erkrankten Person [Pflegeabhängig-keitsskala<br />

(PAS)]<br />

– geriatrische Gesamtsymptomatik einschließlich<br />

instrumenteller Fähigkeiten<br />

(NOSGER einschließlich IADL-Subskala)<br />

Aus der Altersforschung<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


14<br />

– Lebensqualität des pflegenden Angehörigen<br />

(WHOQOL-BREF)<br />

– subjektive Belastung des pflegenden Angehörigen<br />

[Häusliche-Pflege-Skala (HPS)]<br />

Ergebnisse<br />

Ein Vergleich des alltagspraktischen Fähigkeitsniveaus<br />

der Ausgangsuntersuchung mit<br />

den Werten der 6-Monats-Untersuchung<br />

(Prä-Post-Analyse) zeigte in der Aktivierungsgruppe<br />

keine signifikante Veränderung, das<br />

entspricht einer Stabilisierung alltagspraktischer<br />

Fähigkeiten, während sich der Wert in<br />

der Kontrollgruppe signifikant verschlechterte.<br />

In Hinblick auf die kognitiven Fähigkeiten ergaben<br />

Mittelwertvergleiche weder bei der<br />

Aktivierungs- noch bei der Kontrollgruppe<br />

eine signifikante Veränderung. Hier bestanden<br />

keine Unterschiede zwischen beiden<br />

Gruppen.<br />

Vergleicht man die Werte <strong>für</strong> das Ausmaß an<br />

Selbstständigkeit sowie Offenheit <strong>für</strong> Angebote<br />

und Kontakte (Pflegeabhängigkeitsskala)<br />

vor und nach der Intervention, so ergab<br />

sich nur in der Aktivierungsgruppe eine<br />

signifikante Verbesserung. Der Wert in der<br />

Kontrollgruppe veränderte sich dagegen<br />

nicht signifikant.<br />

Die Analyse der instrumentellen Fähigkeiten<br />

(NOSGER) zeigte in der Aktivierungsgruppe<br />

signifikant mehr stabilisierte bzw. verbesserte<br />

Fälle als in der Kontrollgruppe. Dahingegen<br />

sind die leichte Verbesserung in der Aktivierungsgruppe<br />

und die diskrete Verschlechterung<br />

in der Kontrollgruppe bezogen auf<br />

das soziale Verhalten (NOSGER) jeweils nicht<br />

signifikant.<br />

Bei den Angehörigen zeigten sich weder <strong>für</strong><br />

die Lebensqualität (WHOQOL-BREF) noch<br />

<strong>für</strong> die Belastung durch Pflege (HPS) signifikante<br />

Unterschiede zwischen Aktivierungsund<br />

Kontrollgruppe.<br />

Schlussfolgerungen<br />

Die Ergebnisse des ganzheitlichen Aktivierungsprogramms<br />

<strong>für</strong> Menschen mit Demenz<br />

im häuslichen Umfeld zeigen, dass mit Hilfe<br />

einer intensiven alltäglichen Aktivierung<br />

durch Angehörige eine Stabilisierung alltagspraktischer<br />

Fähigkeiten gelingt und die<br />

Selbstständigkeit im Alltag erhalten bzw. ausgebaut<br />

werden kann. Dagegen konnte kein<br />

Einfluss der wöchentlichen kognitiven Stimulierung<br />

auf die kognitiven Fähigkeiten der<br />

Interventionsgruppe nachgewiesen werden.<br />

Dieses Ergebnis könnte auf die eher geringe<br />

Intensität der kognitiven Aktivierung zurückzuführen<br />

sein. Eine Metaanalyse von Woods<br />

und Kollegen belegt positive Effekte der<br />

kognitiven Stimulierung bei Menschen mit<br />

einer leichten oder mittelschweren Demenz,<br />

betont jedoch auch den weiteren Forschungsbedarf<br />

hinsichtlich der optimalen Dauer<br />

und Frequenz einer erfolgreichen kognitiven<br />

Aktivierung.<br />

Die alltagspraktische Intervention erfolgte<br />

konzeptionell gesteuert (durch Projektmitarbeiterinnen),<br />

aber individuell angepasst,<br />

um deren Integration in den alltäglichen<br />

Ablauf verbunden mit der Ausbildung neuer<br />

Alltagsroutinen zu unterstützen. Die<br />

kon krete Umsetzung der alltagspraktischen<br />

Aktivierung erfolgte durch die Angehörigen<br />

selbst. Die Studie zeigt, dass die pflegenden<br />

Angehörigen dies nicht als Mehrbelastung<br />

empfanden oder die Lebensqualität dadurch<br />

negativ beeinflusst wurde und bestätigt<br />

damit die Ergebnisse von Onder und Kollegen<br />

(2005). Die Aktivierung im häus lichen Umfeld<br />

ermöglicht ein sehr individuelles und angepasstes<br />

Aktivierungsangebot verbunden<br />

mit einer hohen Kontinuität. Die Angehörigen,<br />

deren familiäre Pflegesituation oft sehr<br />

komplex ist, hatten großen Beratungsbedarf,<br />

oftmals über die Studienspezi fika hinaus.<br />

Trotzdem war es oft schwierig, die Angehörigen<br />

zur Studienteilnahme zu bewegen.<br />

Erkenntnisse über die Einbeziehung<br />

pflegender Angehöriger<br />

Da zwei Drittel der Menschen mit Demenz<br />

zu Hause leben, ist die Optimierung dieser<br />

Versorgungsform von großer Bedeutung.<br />

Über die konzeptuell gesteuerten, individualisierten<br />

Aktivierungsangebote (vgl.<br />

Aus der Altersforschung<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


15<br />

ANAA+KO) gelingt es, die persönlichen Interessen<br />

von Menschen mit Demenz im häuslichen<br />

Setting anzusprechen. Der Ansatz,<br />

alltagspraktische Aktivierung Angehörigen<br />

zu übertragen – wenn diese begleitend<br />

be ratende Unterstützung erfahren – hat sich<br />

bewährt. Die Schaffung von Rahmenbedingungen,<br />

die eine bedarfsgerechte Beratung<br />

von Angehörigen über einen längeren<br />

Zeitraum ermöglicht, ist ein unerlässlicher,<br />

aber bislang nicht eingelöster Auftrag an die<br />

Gesundheitspolitik.<br />

Außerdem gelingt es, Angehörige in gemeinsame<br />

Bewegungsangebote außer Haus einzubeziehen<br />

(vgl. BeWiTa). Sie erfahren dabei,<br />

dass gemeinsam erlebte Bewegungsaktivitäten<br />

<strong>für</strong> beide Seiten, den Menschen mit<br />

kognitiven Einbußen und den pflegenden Angehörigen,<br />

eine Bereicherung darstellen. Mit<br />

organisatorischer Unterstützung funktioniert<br />

sogar die „Selbsthilfe“, so dass es möglich<br />

wird, nachhaltige Angebote zu etablieren.<br />

Allerdings muss bei der Realisierung berücksichtigt<br />

werden, dass pflegende Angehörige<br />

nur unter erheblichen Anstrengungen <strong>für</strong> die<br />

Teilnahme an Aktivierungsprogrammen zu<br />

gewinnen sind.<br />

Was leisten also „nicht-medikamentöse“<br />

Therapien bei Demenz?<br />

Aus den Ergebnissen der vier geschilderten<br />

Projekte lassen sich vier grundlegende Erkenntnisse<br />

ableiten:<br />

1) Alltagspraktische Fähigkeiten lassen sich<br />

sowohl mittels unimodaler Intervention als<br />

auch als Komponente einer multimodalen<br />

Therapie trotz zugrunde liegender Progression<br />

der degenerativen Demenz mindestens<br />

6 bis 12 Monate stabilisieren – und<br />

zwar sowohl durchgeführt von professionellen<br />

Pflegekräften als auch von pflegenden<br />

Angehörigen, wenn diese systematisch<br />

dazu angeleitet werden. Voraussetzung<br />

ist jedoch die Regelmäßigkeit<br />

der Maßnahmendurchführung. Bei alltagspraktischen<br />

Fähigkeiten, weniger bei<br />

kognitiven Fähigkeiten, besteht die Tendenz<br />

zur Nachhaltigkeit des Therapieeffektes.<br />

2) Der Erhalt kognitiver Fähigkeiten bedarf<br />

einer spezifischen kognitiven Stimulation,<br />

und zwar in regelmäßiger Form – einmal<br />

wöchentlich reicht nicht aus; bei nahezu<br />

täglicher „Anwendung“ ist der Erfolg<br />

jedenfalls erzielbar. Wo der genaue Übergang<br />

zur Wirksamkeit liegt, muss noch<br />

näher erforscht werden.<br />

3) Eine multimodale Intervention ist definitiv<br />

einer unimodalen überlegen. Das zeigt<br />

sich auch darin, dass die Verhaltenskomponenten<br />

der Menschen mit Demenz erst bei<br />

multimodaler Therapie deutlich verbessert<br />

werden. Erst hier ist ein „Überstrahlungseffekt“<br />

der Intervention auf nicht durch die<br />

Maßnahme direkt „angesteuerte“ Bereiche<br />

(hier das Verhalten) zu beobachten.<br />

4) Die Intervention sollte frühzeitig und regelmäßig<br />

angewandt werden, um die Wirkungen<br />

zu erzielen – bevor die Demenz in ein<br />

fortgeschrittenes Stadium eingetreten ist.<br />

Es geht um den Erhalt noch vorhandener<br />

Fähigkeiten!<br />

Wenn angesichts eines progredient verlaufenen<br />

Krankheitsbildes, Fähigkeiten erhalten<br />

werden können – zumindest <strong>für</strong> einen Zeitraum<br />

von mindestens einem Jahr (vgl. MAKS-<br />

Studie) – ist dies ein deutlicher und klinisch<br />

relevanter Therapieerfolg und man kann folglich<br />

von „Ressourcen erhaltender Therapie“<br />

sprechen. Dieser Begriff hat wesentliche<br />

Vorteile gegenüber den Bezeichnungen<br />

„nicht-medikamentös“, „nicht-pharmakologisch“.<br />

Erstens hilft die Vermeidung der<br />

Vorsilbe „nicht“ das Missverständnis aufzulösen,<br />

die Anwendung „Ressourcen erhaltender<br />

Therapien“ richte sich gegen die<br />

Verwendung von Arzneimitteln. Richtig ist,<br />

dass jene Therapien nichts mit einer Pharmakotherapie<br />

zu tun haben. Sie können mit<br />

einer Arzneimittelbehandlung kombiniert<br />

werden oder auch allein angewandt werden.<br />

Zweitens wird mit der Bezeichnung „Ressourcen<br />

erhaltende Therapie“ gleich die Zielrichtung<br />

und das therapeutische Potential<br />

dieser Behandlungsform genannt, nämlich<br />

der Effekt, Fähigkeiten zu erhalten.<br />

Falls die Wirksamkeit nachgewiesen werden<br />

konnte (vgl. MAKS-Studie), kann mit Recht<br />

von evidenzbasierter Therapie gesprochen<br />

werden. Mit „Ressourcen erhaltender Therapie“<br />

gelingt die sekundäre Prävention der<br />

degenerativen Demenz, die Verzögerung der<br />

Aus der Altersforschung<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


16<br />

weiteren Verschlechterung, also das Hinauszögern<br />

des Übertritts von leichter zu mittelschwerer<br />

und von mittelschwerer zu schwerer<br />

Demenz. Und etwas Besseres haben wir<br />

zurzeit nicht zur Verfügung!<br />

Prof. Dr. Elmar Gräßel ist Leiter des <strong>Zentrum</strong>s<br />

<strong>für</strong> Medizinische Versorgungsforschung,<br />

Psychiatrische Universitätsklinik Erlangen<br />

Kontakt: elmar.graessel@uk-erlangen.de<br />

Dr. Gudrun Ulbrecht ist wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin des Bereichs Medizinische<br />

Psychologie und Medizinische Soziologie<br />

(MPMS), Psychiatrische Universitätsklinik<br />

Erlangen<br />

Kontakt: gudrun.ulbrecht@uk-erlangen.de<br />

Jelena Siebert ist Projektmitarbeiterin des<br />

Bereichs MPMS, Psychiatrische Universitätsklinik<br />

Erlangen<br />

Kontakt: jelena.siebert@uk-erlangen.de<br />

Prof. Dr. Renate Stemmer ist Dekanin des<br />

Fachbereichs Gesundheit und Pflege der Katholischen<br />

Hochschule Mainz<br />

Kontakt: renate.stemmer@kh-mz.de<br />

Literaturverzeichnis<br />

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112, S. 155 – 159.<br />

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kerung/BevoelkerungDeutschland2060Pres-<br />

se5124204099004.pdf?__blob=publicationFile<br />

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Cognitive stimulation to improve cognitive functioning<br />

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Systematic Reviews 2012, 2, CD005562.<br />

Aus der Altersforschung<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


18<br />

Nationale Demenzstrategien – Vorbilder <strong>für</strong> Deutschland?<br />

Sabine Kirchen-Peters und Volker Hielscher<br />

Demenz ist eine der großen sozial- und gesundheitspolitischen<br />

Herausforderungen<br />

der Zukunft. Nach Angaben der Deutschen<br />

Alzheimer Gesellschaft leben gegenwärtig<br />

mehr als 1,2 Millionen Demenzkranke in<br />

Deutschland. Aufgrund der demographischen<br />

Entwicklung – in Deutschland lebt die älteste<br />

Gesellschaft Europas – nimmt die Zahl der<br />

Demenzkranken kontinuierlich zu. Expertinnen<br />

und Experten gehen von einer Verdoppelung<br />

bis Verdreifachung der Krankenzahl bis zum<br />

Jahr 2050 aus, sofern kein Durchbruch in<br />

Prävention und Therapie gelingt (Bickel 2010;<br />

Ärzteblatt vom 7.2.<strong>2013</strong>). Europaweit sieht<br />

die Situation ähnlich aus: Hier ist innerhalb<br />

der nächsten 20 Jahre ein Anstieg von gegenwärtig<br />

rund 10 Millionen Erkrankten auf<br />

ca. 14 Mio. Demenzkranke zu erwarten.<br />

Schätzungen zufolge steigen die Kosten der<br />

Demenz in Europa von ca. 177 Milliarden<br />

Euro im Jahr 2008 bis zum Jahr 2030 auf<br />

rund 250 Milliarden Euro (Alzheimer Europe<br />

2009).<br />

Das Thema Demenz ist mittlerweile in der<br />

Politik angekommen: Bereits im Januar 2011<br />

hat das Europäische Parlament die Mitgliedsstaaten<br />

aufgefordert, Demenz zu einer gesundheitspolitischen<br />

Priorität der EU zu erklären<br />

und „spezifische nationale Pläne und<br />

Strategien <strong>für</strong> die Alzheimer-Krankheit aufzustellen,<br />

um den Folgen von Demenzerkrankungen<br />

<strong>für</strong> die Gesellschaft und das Gesundheitswesen<br />

Rechnung zu tragen und<br />

Dienstleistungen und Unterstützung <strong>für</strong><br />

Menschen mit Demenzerkrankungen und<br />

ihre Familien bereitzustellen“ (INI/2010/<br />

2084). In Deutschland haben das Familienund<br />

das Gesundheitsministerium im Herbst<br />

2012 die „Allianz <strong>für</strong> Menschen mit Demenz“<br />

als interministerielle Arbeitsgruppe<br />

gegründet, welche unter Beteiligung von<br />

Organisationen und Verbänden in verschiedenen<br />

Handlungsfeldern eine Demenzstrategie<br />

<strong>für</strong> Deutschland entwickeln soll.<br />

Der Gründung der Allianz war eine Expertise<br />

vorausgegangen, die das Saarbrücker iso-<br />

Institut im Auftrag des Bundesministeriums<br />

<strong>für</strong> Familie, Senioren, Frauen und Jugend<br />

erstellt hatte (Kirchen-Peters u. Hielscher<br />

2012). Darin sollten die bisherigen Erfahrungen<br />

der Nationalen Demenzstrategien im<br />

internationalen Vergleich verfügbar gemacht<br />

und auf einer gesicherten empirischen Basis<br />

die Anforderungen an eine Nationale Demenzstrategie<br />

<strong>für</strong> Deutschland präzisiert<br />

werden. Im Folgenden werden die Ergebnisse<br />

dieser Expertise und ihre Handlungsempfehlungen<br />

<strong>für</strong> eine Demenzstrategie in<br />

Deutschland vorgestellt.<br />

Methodik<br />

Die Expertise umfasste drei wesentliche<br />

Schritte. Im ersten Analyseschritt wurden<br />

die vorliegenden Erfahrungen zur Entwicklung<br />

und zur Umsetzung von nationalen<br />

Demenzstrategien verfügbar gemacht. Dazu<br />

ist im Rahmen einer Dokumentenanalyse der<br />

zum Zeitpunkt der Studie vorliegende Stand<br />

der Ausarbeitung Nationaler Demenzpläne<br />

in Europa sowie in Australien rekonstruiert<br />

worden. Insgesamt gingen zehn Demenzpläne<br />

in die Auswertung ein (vgl. Tab. 1).<br />

Die Recherche zum Stand der Erarbeitung<br />

und Umsetzung Nationaler Demenzpläne<br />

wurde um eine Expertenbefragung in<br />

Deutschland ergänzt. Diese Befragung diente<br />

dazu, zum einen die Einschätzungen wichtiger<br />

institutioneller Akteure zu den Problemschwerpunkten<br />

und Handlungsbedarfen in<br />

der Demenzthematik zu gewinnen und zum<br />

anderen die Unterstützungs- und Kooperationsmöglichkeiten<br />

dieser Akteure auszuloten.<br />

Im Rahmen der Befragung wurden insgesamt<br />

14 Repräsentantinnen und Repräsentanten<br />

von Kranken- und Angehörigenorganisationen,<br />

Fachgesellschaften, Verbän-<br />

Aus Politik und Praxis der Altenhilfe<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


19<br />

den und Netzwerkorganisationen interviewt.<br />

Auf einem Expertenworkshop wurden die<br />

Ergebnisse der Studie und erste Konzeptüberlegungen<br />

zum Aktionsplan zur Diskussion<br />

gestellt und reflektiert. Die Diskussionsergebnisse<br />

ihrerseits wurden als Input <strong>für</strong><br />

die weitere Ausarbeitung der Handlungsempfehlungen<br />

<strong>für</strong> eine Nationale Demenzstrategie<br />

in Deutschland genutzt.<br />

Demenzpläne im internationalen Vergleich<br />

Es überrascht nicht, dass jede Demenzstrategie<br />

an die jeweiligen regionalen bzw.<br />

nationalen Rahmenbedingungen, Bedarfe<br />

und Besonderheiten anknüpft. In neun der<br />

zehn ausgewerteten Demenzpläne schließen<br />

die Maßnahmen explizit an bereits bestehende<br />

Programme der Länder zur pflegerischen<br />

und medizinischen Versorgung älterer<br />

Menschen oder an bereits vorangegangene<br />

Programme zur Betreuung und Pflege<br />

Demenzkranker an. Aus diesem Grund weist<br />

die inhaltliche Ausrichtung der Schwerpunkte<br />

und der Maßnahmen in den analysierten<br />

Programmen eine große Varianz auf. Bei aller<br />

Unterschiedlichkeit gibt es dennoch Schnittmengen,<br />

denn viele Demenzpläne rücken<br />

übereinstimmend bestimmte Handlungsfelder<br />

in den Vordergrund:<br />

– Eine durchgehend wichtige Rolle wird der<br />

Sensibilisierung der Öffentlichkeit <strong>für</strong> die<br />

Demenzproblematik zugeschrieben, insbesondere<br />

um die Krankheit zu enttabuisieren<br />

und eine verständnisvolle und unterstützende<br />

Haltung gegenüber Demenzkranken<br />

in der Gesellschaft zu fördern.<br />

– Der Qualität der (frühen) Diagnosestellung<br />

wird in einer Reihe von Ländern besonderes<br />

Gewicht zugemessen, um frühzeitige<br />

Behandlung und Hilfestellungen sicherzustellen.<br />

Zum Teil (etwa in Schottland) ist<br />

damit der Anspruch verknüpft, zusammen<br />

mit der Diagnosestellung den Erkrankten<br />

und ihren Familien frühzeitig eine kompetente<br />

und umfassende Beratung anzubieten.<br />

– Im Bereich der Versorgung steht <strong>für</strong> viele<br />

Länder vor allem der Ausbau ambulanter<br />

Angebote im Vordergrund, um einen möglichst<br />

langen Verbleib der Demenzkranken<br />

in der gewohnten Häuslichkeit sicherzustellen.<br />

– In einigen Ländern wird in diesem Zusammenhang<br />

der Verbesserung der Situation<br />

Demenzkranker bei Krankenhausaufenthalten<br />

eine große Bedeutung beigemessen.<br />

Tabelle 1: Liste der in die Auswertung einbezogenen Nationalen Demenzpläne<br />

Land<br />

Titel des Planes Umfang Jahr<br />

Australien National Framework for Action on Dementia 26 S. 2006<br />

England Living Well with Dementia. A National Strategy 1<strong>02</strong> S. 2009<br />

Frankreich Plan national contre la maladie Alzheimer 84 S. 2008<br />

Niederlande Caring for people with dementia 11 S. 2008<br />

Nordirland Improving Dementia Services in Northern Ireland 121 S. 2011<br />

Norwegen<br />

Dementia Plan 2015 - Making the most of the good<br />

days 27 S. 2007<br />

Schottland Scotland‘s National Dementia Strategy 66 S. 2010<br />

Schweiz Kanton Waadt: Alzheimer-Programm 24 S. 2010<br />

Kanton Wallis: Menschen mit Demenz. Eine Standortbestimmung<br />

im Wallis. Empfehlungen 98 S. 2011<br />

Wales National Dementia Vision for Wales 12 S. 2011<br />

Aus Politik und Praxis der Altenhilfe<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


20<br />

Ziel ist dabei, Komplikationen zu verhindern<br />

und nach einem Klinikaufenthalt eine Rückkehr<br />

in die Häuslichkeit zu ermöglichen.<br />

– Die Unterstützung pflegender Angehöriger<br />

spielt in den meisten Plänen eine wichtige<br />

Rolle. Hier geht es vielfach um Beratung<br />

und psychosoziale Unterstützung sowie<br />

um den Ausbau von Entlastungsstrukturen<br />

(z.B. geeignete Tages- und Kurzzeitpflegeangebote).<br />

In der Auswertung der Nationalen Aktionspläne<br />

zeigen sich jedoch auch deutliche<br />

Divergenzen und unterschiedliche Schwerpunktsetzungen.<br />

– In vier der zehn Demenzpläne (Schottland,<br />

Norwegen, Nordirland, Australien) wird<br />

die ethische, gesellschaftliche und sozialpolitische<br />

„Haltung“ gegenüber den<br />

Demenzkranken explizit thematisiert. In<br />

den Demenzplänen, in denen solche<br />

ethischen Grundprinzipien zum Beispiel als<br />

Präambel formuliert wurden, kommt ihnen<br />

<strong>für</strong> die Ausrichtung der Handlungsfelder<br />

und Maßnahmen ein hoher Stellenwert zu.<br />

In anderen Demenzplänen, die stark operativ<br />

auf Maßnahmenformulierung und Umsetzungsplanung<br />

ausgerichtet sind (z.B.<br />

Frankreich, Schweizer Kantone), spielen<br />

solche Überlegungen hingegen keine Rolle.<br />

– Die Forschung zu Demenz ist ein wichtiges<br />

und nicht unumstrittenes Thema. Was die<br />

inhaltliche Ausrichtung der Forschungsförderung<br />

anbelangt, wird in einigen Ländern<br />

eine gleichrangige Förderung von medizinischer<br />

Forschung und Pflege- bzw. Versorgungsforschung<br />

angestrebt. In anderen<br />

Ländern (z.B. England und Frankreich)<br />

steht die medizinische Grundlagenforschung<br />

im Fokus, während in einer dritten Gruppe<br />

(z.B. Norwegen und Australien) der Fokus<br />

auf die Erforschung der Pflege- und Versorgungsoptimierung<br />

sowie der sozialen<br />

Probleme der Demenz gerichtet wird.<br />

– Differenzen zeigen sich auch in der Art und<br />

Weise, wie soziale Probleme und Umsetzungsbarrieren<br />

reflektiert werden, die einer<br />

Verbesserung der Situation bisher entgegenstehen.<br />

In einigen der Aktionspläne werden<br />

die gesellschaftliche Tabuisierung der<br />

Demenz, die sozialen Ungleichheiten im<br />

Zugang zu Hilfeangeboten, die Schwierigkeit<br />

der Übertragung von Modellprojekten<br />

und die Grenzen der Finanzierbarkeit zum<br />

Teil ausführlich behandelt und zum Gegenstand<br />

von Maßnahmen gemacht (z.B.<br />

Australien, Niederlande, Schottland, Wales),<br />

in anderen hingegen tauchen solche<br />

Überlegungen gar nicht auf (z.B. Frankreich,<br />

Schweizer Kantone).<br />

– Schließlich differieren die ausgewerteten<br />

Demenzpläne erheblich hinsichtlich der<br />

Konkretisierung der Maßnahmen, der Vorgaben<br />

von Zeitlimits und Verantwortlichkeiten<br />

in der Umsetzung sowie der Aussagen<br />

zur Finanzierung. Auch unterscheidet sich<br />

häufig, welche Bedeutung der Steuerung,<br />

dem Monitoring und der Evaluation der<br />

Prozesse zugemessen wird. Ebenso vielfältig<br />

sind der Umfang und Informationsgehalt,<br />

die mediale Gestaltung und die Zielgruppen<br />

der Pläne. Während sich in einigen<br />

Fällen (z.B. Wales) der Plan in farblich bunter<br />

Aufmachung und einfach gehaltener<br />

Sprache an die breite Bevölkerung wendet,<br />

sind andere Papiere (z.B. Frankreich,<br />

Schweizer Kantone, Nordirland) schlicht<br />

gehaltene und meist umfängliche Arbeitspapiere,<br />

die sich eher an die politischen<br />

Akteure und an die Fachöffentlichkeit wenden.<br />

Ein wichtiger Aspekt betrifft die Frage, wie<br />

die Nationalen Demenzstrategien entstanden<br />

sind und inwieweit Experten, Öffentlichkeit<br />

und vor allem die Betroffenen bei der Formulierung<br />

der entsprechenden Programme<br />

einbezogen waren. Dazu liegen in nur wenigen<br />

der analysierten Demenzpläne explizite<br />

Informationen vor. Es zeigen sich aber, was<br />

die Beteiligung der Öffentlichkeit anbelangt,<br />

auch hier zwei Pole: Während zum Beispiel<br />

in Frankreich der Nationale Demenzplan<br />

durch eine Expertengruppe innerhalb weniger<br />

Wochen erarbeitet und anschließend<br />

durch den Staatspräsidenten verkündet<br />

wurde, ist in England ein mehrmonatiger Beteiligungsprozess<br />

mit mehreren tausend<br />

Teilnehmer/innen durchgeführt worden. In<br />

vielen Fällen wurden zumindest Expertinnen<br />

und Experten und die Selbsthilfeorganisationen<br />

<strong>für</strong> die Entwicklung der Demenzstrategie<br />

konsultiert.<br />

Im Resümee zeigt die Auswertung der<br />

Demenzstrategien aus den verschiedenen<br />

Ländern vor allem eines: Es gibt keinen<br />

„Musterplan“, der im Sinne eines einfach<br />

übertragbaren „Rezeptes“ in Deutschland<br />

Aus Politik und Praxis der Altenhilfe<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


21<br />

übernommen werden kann. Die Ergebnisse<br />

zeigen dennoch ein Spektrum an Varianten<br />

zu den inhaltlichen Schwerpunktsetzungen<br />

und zu den Vorgehensweisen. Daraus können<br />

Impulse gewonnen und insbesondere Fragen<br />

an die Inhalte und den Prozess der Entwicklung<br />

einer Nationalen Demenzstrategie<br />

formuliert werden. Auf welche Handlungsfelder<br />

zum Beispiel soll sich eine deutsche<br />

Demenzstrategie fokussieren? Auf welche<br />

Maßnahmen oder „Schlüsselprojekte“ verständigt<br />

man sich? Welche Akteure sollen<br />

in welcher Breite bei der Erarbeitung der Strategie<br />

einbezogen werden?<br />

Experten sehen Handlungsbedarf in<br />

Deutschland<br />

Die Befragung von Expertinnen und Experten<br />

in Deutschland hatte zum Ziel, den Erfahrungshintergrund<br />

zu verbreitern und das<br />

Spektrum der Anforderungen an eine deutsche<br />

Demenzstrategie abzuschätzen. Von<br />

allen Befragten wurde die Initiative des Bundesfamilienministeriums<br />

zur Entwicklung<br />

einer Nationalen Demenzstrategie nachdrücklich<br />

be<strong>für</strong>wortet. Die Expertinnen und<br />

Experten präzisierten die Handlungsbedarfe<br />

<strong>für</strong> Deutschland und formulierten Vorschläge<br />

<strong>für</strong> Themen und Handlungsfelder, welche<br />

im Rahmen eines Demenzplans bearbeitet<br />

werden sollten. Wenn man die Anzahl an Einzelnennungen<br />

und den Konkretisierungsgrad<br />

der Inhalte zum Maßstab nimmt, bildeten<br />

Vorschläge zur Versorgungsoptimierung<br />

einen Schwerpunkt.<br />

Dabei entfielen die meisten Nennungen auf<br />

folgende Themen:<br />

– Verbesserung der Versorgung von Menschen<br />

mit der Nebendiagnose Demenz im<br />

Akutkrankenhaus: Die meisten Sachverständigen<br />

sahen hier einen großen Handlungsbedarf.<br />

Nicht nur der interne Kompetenzaufbau<br />

in Richtung demenzsensibler<br />

Krankenhäuser müsse erfolgen, sondern<br />

auch die Vernetzung mit den vor- bzw.<br />

nachstationären Instanzen. Als wünschenswert<br />

bezeichneten die Befragten z.B. ein<br />

Screeningverfahren bei der Aufnahme sowie<br />

die Einrichtung gerontopsychiatrischer<br />

Konsiliar- und Liaisondienste.<br />

– Kompetente Beratung und Unterstützung<br />

der Familien: Es wurde kritisiert, dass viele<br />

Angehörige und Demenzkranke zu wenig<br />

über die vorhandenen Hilfemöglichkeiten<br />

informiert sind. In der Angebotsstruktur<br />

sollten Zugangsbarrieren berücksichtigt<br />

und mit geeigneten Maßnahmen, wie z.B.<br />

niedrigschwelligen und zugehenden Beratungsformen,<br />

gesenkt werden.<br />

– Ausbau ambulanter Versorgungsstrukturen:<br />

Eine ganze Reihe der Befragten plädierte<br />

da<strong>für</strong>, im Rahmen der Nationalen Demenzstrategie<br />

die Schaffung häuslicher Unterstützungssysteme<br />

voranzutreiben. Diese<br />

sollten so ausgerichtet sein, dass sie<br />

bezahlbar sind und auch alleinlebende<br />

Demenzkranke mit hoher Versorgungssicherheit<br />

weiter zu Hause wohnen können.<br />

– Qualifizierung der Profis: Um eine Erhöhung<br />

der Versorgungsqualität zu erreichen,<br />

müssten ein Wissensaufbau und eine<br />

Wissenserweiterung bei Vertreterinnen und<br />

Vertretern medizinischer und pflegerischer<br />

Professionen eingeleitet werden. Dabei<br />

wurden vorrangig Pflegekräfte sowie Hausärztinnen<br />

und Hausärzte als Zielgruppen<br />

genannt. Auch die Haltung gegenüber Demenzkranken<br />

wünscht man sich darüber<br />

beeinflussen zu können. Mehr Wissen über<br />

alternative Handlungsoptionen sei erforderlich,<br />

um bestimmte Missstände zu<br />

bearbeiten, etwa ein unreflektierter<br />

Umgang mit Fixierungen oder die Nichtachtung<br />

von Patientenrechten. Ziel<br />

sollten einheitliche Qualitätsstandards <strong>für</strong><br />

alle Gruppen von „Versorgern“ sein.<br />

– Verbesserung von Diagnostik und Behandlung:<br />

Die Identifizierung Demenzkranker<br />

soll sich durch eine qualifizierte Diagnostik<br />

verbessern. Kranke sollen bereits in einem<br />

frühen Stadium erreicht werden, damit<br />

Maßnahmen der Frühbehandlung eingesetzt<br />

werden können. Zudem soll umgesetzt<br />

werden, dass sich die Behandlung<br />

an den Leitlinien der Fachgesellschaften<br />

ausrichtet, denn immer noch würden in unangemessener<br />

Weise Psychopharmaka<br />

eingesetzt. Dies betrifft sowohl die nervenärztliche<br />

Versorgung von im Heim lebenden<br />

Demenzkranken als auch die Behandlung<br />

in niedergelassenen Haus- oder Facharztpraxen.<br />

– Koordination der Hilfen: Eine Reihe von<br />

Vorschlägen betrafen Konzepte der Vernetzung<br />

von Angeboten. Dieser Handlungsbedarf<br />

wurde aus der Beobachtung abge-<br />

Aus Politik und Praxis der Altenhilfe<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


22<br />

leitet, dass in den letzten Jahren bereits<br />

unterschiedliche, teilweise auch spezifisch<br />

auf Demenzkranke ausgerichtete Hilfen<br />

aufgebaut wurden, diese aber häufig unverbunden<br />

nebeneinander stehen. So<br />

arbeiten z.B. Pflegeeinrichtungen oder<br />

Krankenhäuser in aller Regel nicht ausreichend<br />

mit den regionalen Pflegestützpunkten<br />

zusammen. Eine besondere<br />

Herausforderung bestehe in der Frage, wer<br />

die Kranken durch die jeweiligen Systeme<br />

führt und wer letztlich die Fallsteuerung<br />

und -verantwortung übernimmt. Da die<br />

Krankheit Demenz sich weder an Systemnoch<br />

an Berufsgrenzen halte, seien<br />

Konzepte <strong>für</strong> die berufs- und sektorübergreifende<br />

Zusammenarbeit unerlässlich,<br />

z.B. zwischen ambulanten Diensten und<br />

Hausarztpraxen.<br />

Eine hohe Übereinstimmung wurde <strong>für</strong> die<br />

gesellschaftliche Adressierung der Demenz<br />

deutlich. Die Expertinnen und Experten<br />

verbinden mit der Demenzstrategie die Erwartung,<br />

dass ein Bewusstseinswandel<br />

in der Gesellschaft eingeleitet und der Krankheit<br />

Demenz der Schrecken genommen<br />

wird. Unterschiedlich intensiv thematisierten<br />

die Sachverständigen Handlungsbedarfe<br />

auf der Ebene politischer Steuerung, darunter<br />

z.B. eine demenzsensiblere Ausgestaltung<br />

von Gesetzen, den Abbau von Sektorisierung<br />

oder die Stärkung der kommunalen Verantwortung.<br />

Was tun? Handlungsempfehlungen der<br />

Expertise<br />

Nach Auswertung der internationalen Demenzpläne<br />

und der Experteninterviews<br />

wurden die Ergebnisse auf einem Workshop<br />

reflektiert, an dem die befragten Expertinnen<br />

und Experten sowie Vertreter/innen aus dem<br />

Bundesgesundheits- und Familienministerium<br />

teilnahmen. Zentraler Diskussionspunkt<br />

des Workshops war die Frage, welche Handlungsfelder<br />

im Mittelpunkt einer Demenzstrategie<br />

<strong>für</strong> Deutschland stehen sollen. Zudem<br />

sollten Vorschläge <strong>für</strong> einen geeigneten<br />

Prozessablauf zur Entwicklung der Nationalen<br />

Demenzstrategie gesammelt werden.<br />

Die Resultate der Expertendiskussion können<br />

zusammen mit den Ergebnissen der Expertise<br />

zu folgenden Handlungsempfehlungen<br />

verdichtet werden, an denen sich eine Demenzstrategie<br />

<strong>für</strong> Deutschland orientieren<br />

sollte:<br />

Ethische Orientierung<br />

Zur ethischen Grundorientierung einer Nationalen<br />

Demenzstrategie sollte eine Präambel<br />

entwickelt werden, in der die Menschenwürde<br />

der Demenzkranken und ihrer Angehörigen<br />

im <strong>Zentrum</strong> steht. Ein wesentlicher<br />

Aspekt liegt darin, zwischen dem Recht auf<br />

Freiheit und dem Recht auf Schutz auszuloten.<br />

Eine solche Präambel könnte auch<br />

Aussagen über die Würde der professionell<br />

mit Demenzkranken befassten Berufsgruppen<br />

enthalten.<br />

Fokussierte Handlungsfelder<br />

Die Fülle der zu bearbeitenden Themen, die<br />

zu einer Verbesserung der Situation Demenzkranker<br />

führen sollen, sollten in vier zentralen<br />

Handlungsfeldern gebündelt werden:<br />

Die Nationale Demenzstrategie widmet sich<br />

einer gesellschaftspolitischen Herausforderung.<br />

Im Mittelpunkt steht dabei die Aufgabe,<br />

die gesellschaftliche Verantwortung<br />

<strong>für</strong> Demenzkranke zu stärken. Es geht vor<br />

allem um Fragen der individuellen Haltung zu<br />

Demenzkranken, um Sensibilisierung <strong>für</strong><br />

die Erscheinungsformen und Bedürfnisse der<br />

Kranken und um eine Veränderung der Wahrnehmung<br />

von der reinen Defizitorientierung<br />

hin zu einem ressourcenorientierten Blick.<br />

Diese Prozesse sollen über intensive Information<br />

und Aufklärung in Gang gesetzt werden.<br />

Über Öffentlichkeitsarbeit und Basisschulungen<br />

<strong>für</strong> Dienstleister (z.B. Polizei, Handel<br />

etc.) soll das demenzbezogene Wissen in der<br />

Bevölkerung gestärkt und Berührungsängste<br />

abgebaut werden. Dabei empfiehlt es sich,<br />

den Zugang zur Thematik auch über das Aufzeigen<br />

präventiver Maßnahmen zu schaffen<br />

(Bsp. England: „What is good for your heart,<br />

is good for your head!“). Der Abbau von<br />

Vorurteilen soll zudem über regional zu<br />

schaffende Möglichkeiten niedrigschwelliger<br />

Begegnung unterstützt werden. Zur Förderung<br />

der gesellschaftlichen Verantwortung<br />

sind die Kommunen in besonderer Weise gefordert,<br />

das Thema aufzugreifen, bürgerschaftliches<br />

Engagement zu fördern und lokale<br />

Allianzen zu bilden, mit denen der Aufbau<br />

demenzfreundlicher Strukturen vorangetrie-<br />

Aus Politik und Praxis der Altenhilfe<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


23<br />

ben werden kann. Die Ermöglichung sozialer<br />

Teilhabe Demenzkranker umfasst zudem die<br />

berufliche Integration jüngerer Demenzkranker.<br />

Des Weiteren soll das Handlungsfeld Unterstützung<br />

von Betroffenen und ihren Familien<br />

in der Nationalen Demenzstrategie eine<br />

herausgehobene Rolle spielen. Zentrales<br />

Erfordernis ist die Schaffung einer flächendeckenden<br />

und verlässlichen Struktur von<br />

Beratungsangeboten. Diese müssen die bekannten<br />

Zugangsbarrieren der Angehörigen<br />

berücksichtigen und entsprechend niedrigschwellig,<br />

interdisziplinär und zugehend<br />

organisiert werden. Im Hinblick auf die Entlastung<br />

der Pflegenden müssen flexible<br />

und kreative Arrangements gefördert werden,<br />

die gleichzeitig bezahlbar bleiben. Zudem<br />

ist es erforderlich, die Betriebe <strong>für</strong> die Vereinbarkeitsprobleme<br />

pflegender Angehöriger<br />

zu sensibilisieren und die Entwicklung entsprechender<br />

Modelle zu unterstützen.<br />

Ein drittes Handlungsfeld betrifft die Qualität<br />

der Versorgung mit einer Vielzahl an Vorschlägen<br />

zur Versorgungsoptimierung. Im<br />

Hinblick auf medizinische Institutionen sollte<br />

die Nationale Demenzstrategie Wege aufzeigen,<br />

die Versorgung Demenzkranker im<br />

Akutkrankenhaus sowie die Diagnostik und<br />

Behandlung in niedergelassenen Arztpraxen<br />

zu verbessern. Zur Steigerung der Qualität<br />

der Pflege soll vor allem der Ausbau ambulanter<br />

Hilfestrukturen mit dem Prinzip „zu<br />

Hause wohnen bis zum Lebensende“ umgesetzt<br />

werden. Dazu ist ein abgestuftes Hilfesystem<br />

von z.B. frühen Einkaufshilfen über<br />

technische Assistenzsysteme bis hin zur ambulanten<br />

Palliativversorgung aufzubauen.<br />

Diese Hilfen müssen so gestaltet werden,<br />

dass sie auch <strong>für</strong> die zunehmende Gruppe<br />

alleinlebender Demenzkranker die Freiheit<br />

der Wahl zwischen ambulanter und stationärer<br />

Versorgung gewährleisten. Pflegeheime<br />

müssen noch konsequenter auf die Bedürfnisse<br />

Demenzkranker ausgerichtet werden<br />

und z.B. psychosoziale Interventionen<br />

einsetzen. Zudem sollen neue Wohnformen<br />

gefördert werden. Eine wichtige Aufgabe<br />

ist die Qualifizierung „der Professionellen“,<br />

womit in erster Linie Pflegekräfte sowie<br />

Medizinerinnen und Mediziner, aber auch<br />

therapeutische Berufsgruppen angesprochen<br />

sind.<br />

Das Handlungsfeld Grundlagen und Forschung<br />

umfasst schließlich die Erweiterung der<br />

Wissensgrundlage in unterschiedlichen Forschungsfeldern.<br />

Dies bezieht sich auf die<br />

Schaffung statistischer Grundlagen zur<br />

Epidemiologie, auf die Gesundheitsforschung<br />

zu Ursachen, Diagnostik und Therapie<br />

der Demenz wie auch auf auf Versorgungsforschung<br />

zur Konkretisierung von Good<br />

Practice oder zur Entwicklung von Indikatoren.<br />

Zudem ist es sinnvoll, dem noch wenig<br />

entwickelten Feld der sozialwissenschaftlichen<br />

Forschung zu den sozialen Dimensionen<br />

der Demenz (z.B. Fragen der sozialen<br />

Ungleichheit des Zugangs zu Hilfeangeboten<br />

oder Fragen der Bewältigungsstrategien)<br />

eine größere Bedeutung beizumessen.<br />

Partizipation ist Teil der Umsetzung<br />

Zur Entwicklung einer Nationalen Demenzstrategie<br />

soll ein beteiligungsorientiertes<br />

Vorgehen, also der breite Einbezug von Betroffenen,<br />

Experten und Akteuren der<br />

Versorgung realisiert werden. Beteiligung ist<br />

dabei kein Selbstzweck oder eine lediglich<br />

„demokratische Übung“, sondern sie erfüllt<br />

<strong>für</strong> die Erstellung und Umsetzung einer<br />

Nationalen Demenzstrategie eine doppelte<br />

Funktion: Zum einen erschließt sie ein<br />

Potential <strong>für</strong> Lösungsmöglichkeiten, welches<br />

im Erfahrungs- und Expertenwissen einer<br />

Vielzahl von Akteuren liegt. Zum anderen<br />

kann der Beteiligungsprozess als solcher bereits<br />

als ein erster Schritt zur gesellschaftlichen<br />

Mobilisierung und Sensibilisierung<br />

betrachtet werden, welche <strong>für</strong> das Thema<br />

Demenz dringend geboten sind.<br />

Langer Atem und stringente Umsetzung<br />

Damit der Demenzplan ein erfolgreiches<br />

Unterfangen werden kann, sind zudem verschiedene<br />

Anforderungen an den Prozess<br />

zu stellen:<br />

– Ziele und Maßnahmen einer Nationalen<br />

Demenzstrategie sollten möglichst konkret<br />

beschrieben werden, damit sie überprüfbar<br />

sind. Um eine Verbindlichkeit herzustellen,<br />

ist es erforderlich, <strong>für</strong> jedes Handlungsfeld<br />

die Arbeitsschritte und die zu beteiligenden<br />

Akteure zu definieren und einen Zeit- und<br />

Kostenplan zu entwickeln. Ggf. sollten<br />

<strong>für</strong> die Maßnahmen Indikatoren gebildet<br />

werden, welche eine Überprüfung der Umsetzung<br />

der Strategie ermöglichen.<br />

Aus Politik und Praxis der Altenhilfe<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


24<br />

– Denkbar ist zudem, <strong>für</strong> jedes Handlungsfeld<br />

eine oder zwei Schlüsselmaßnahmen<br />

zu definieren, die mit besonderer Priorität<br />

umgesetzt werden. Solche Maßnahmen<br />

könnten zur Mobilisierung <strong>für</strong> die Gesamtstrategie<br />

beitragen und den Fortschritt<br />

in der Bewältigung der „Herausforderung<br />

Demenz“ sichtbar machen.<br />

– Die Demenzstrategie muss eine Langzeitperspektive<br />

verfolgen, weil viele der zu<br />

erreichenden Ziele Zeit erfordern. Zur Prozesskontrolle<br />

bedarf es eines Monitoringsystems,<br />

mit dessen Hilfe Zwischenergebnisse<br />

(z.B. alle drei Jahre) abgerufen<br />

werden können.<br />

– Um Ineffizienzen und Doppelstrukturen zu<br />

vermeiden, sollte die Nationale Demenzstrategie<br />

konsequent auf den vorhandenen<br />

Erfahrungen und bereits vorliegenden Ergebnissen<br />

zu den unterschiedlichen Handlungsfeldern<br />

aufbauen.<br />

Fazit<br />

und viele Modellprojekte sind erfolgreich<br />

durchgeführt worden. Es bedarf aber der<br />

energischen Bündelung der Ressourcen und<br />

Kompetenzen, <strong>für</strong> die die verschiedenen<br />

Akteure an einem Strang ziehen müssen. Die<br />

auf politischer Ebene gebildete „Allianz <strong>für</strong><br />

Menschen mit Demenz“ ist ein erster, wichtiger<br />

Schritt. Im Sinne der Menschen mit<br />

Demenz und ihrer Familien ist dieser Initiative<br />

ein durchgreifender Erfolg zu wünschen.<br />

Sabine Kirchen-Peters, Dipl. Soz., ist wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin am Institut <strong>für</strong><br />

Sozialforschung und Sozialwirtschaft (iso)<br />

Saarbrücken.<br />

Kontakt: Kirchen-Peters@iso-institut.de<br />

Dr. Volker Hielscher ist wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am Institut <strong>für</strong> Sozialforschung<br />

und Sozialwirtschaft (iso) Saarbrücken.<br />

Kontakt: Hielscher@iso-institut.de<br />

Die Ausführungen haben gezeigt, dass die<br />

Entwicklung einer Nationalen Demenzstrategie<br />

einerseits inhaltlich hochkomplex<br />

ist und sich andererseits hinsichtlich der<br />

Prozessgestaltung anspruchsvoll darstellt,<br />

schon allein wenn der Partizipationsgedanke<br />

<strong>für</strong> die Strategie ernst genommen wird.<br />

Bereits <strong>für</strong> die Formulierung der Strategie sind<br />

politischer Wille und entsprechende Ressourcen<br />

notwendig. Zugleich haben die Akteure<br />

die bislang bestehenden Barrieren <strong>für</strong><br />

eine Verbesserung der Situation Demenzkranker<br />

zu berücksichtigen. Hemmende<br />

Faktoren <strong>für</strong> innovative Versorgungskonzepte<br />

liegen in Deutschland in verschiedenen<br />

Bereichen: In dem mangelnden Bewusstsein<br />

der Akteure, in Steuerungsproblemen, darunter<br />

z.B. der Sektorisierung des Hilfesystems<br />

in ambulante und stationäre Versorgung, in<br />

der Kluft zwischen den zu beteiligenden Berufsgruppen<br />

des Pflege- und Gesundheitswesens<br />

sowie in den aufgeteilten Verantwortlichkeiten<br />

in verschiedenen Sozialgesetzbüchern<br />

und politischen Zuständigkeiten.<br />

Angesichts dessen steht die eigentliche<br />

Arbeit noch bevor: nämlich wenn es darum<br />

geht, die Strategie in reale Verbesserungen<br />

<strong>für</strong> die Kranken umzusetzen. In Deutschland<br />

ist ein hoher Stand der Versorgung erreicht<br />

Literatur<br />

Alzheimer Europe (2009): Cost of illness and burden of<br />

dementia in Europe - Prognosis to 2030. www.<br />

alzheimer-europe.org/EN/Research/European-Collabo-<br />

ration-on-Dementia/Cost-of-dementia/Prognosis-to-<br />

2030/%28language%29/eng-GB (Aufruf am<br />

03.08.2011).<br />

Bickel, H. (2010): Das Wichtigste 1. Die Epidemiologie<br />

der Demenz. Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V.<br />

(Hg.). Berlin. Internetpublikation: www.deutsche-alzheimer.de/fileadmin/alz/pdf/factsheets/<br />

FactSheet01_10.pdf (Aufruf vom 26.06.2012).<br />

<strong>Deutsches</strong> Ärzteblatt (<strong>2013</strong>): Prognose: Dramatischer<br />

Anstieg der Alzheimer-Erkrankungen. www.aerzte-<br />

blatt.de/nachrichten/53357/Prognose-Dramatischer-<br />

Anstieg-der-Alzheimer-Erkrankungen (Zugriff vom<br />

25.03.<strong>2013</strong>):<br />

Kirchen-Peters, S.; Hielscher, V. (2012): Expertise<br />

„Nationale Demenzstrategien“. Vergleichende<br />

Analyse zur Entwicklung von Handlungsempfehlungen<br />

<strong>für</strong> Deutschland. Saarbrücken, iso-institut. Download<br />

unter: www.iso-institut.de<br />

Aus Politik und Praxis der Altenhilfe<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>


28<br />

DZA, Manfred-von-Richthofen-Str. 2, 12101 Berlin<br />

Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> im Internet: www.dza.de Informationsdienst <strong>Altersfragen</strong> 40 (2), <strong>2013</strong>

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