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Mai 2008 als pdf herunterladen - Israelitische Kultusgemeinde Wien

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GEMEINDE<br />

DVR 0112305 € 2.-<br />

Nr. 621 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong><br />

Ijar 5768<br />

Erscheinungsort <strong>Wien</strong><br />

Verlagspostamt 1010 P.b.b<br />

eGZ 2.- 03Z034854 W<br />

Die Die<br />

OFFIZIELLES ORGAN DER ISRAELITISCHEN KULTUSGEMEINDE WIEN<br />

magazin


INHALT<br />

&<br />

AUS DEM BÜRO DES<br />

PRÄSIDENTEN<br />

Fest am Campus 3<br />

Kinder aus Sderot in WIen 4<br />

DOSSIER • ISRAEL 60 5-20<br />

ULRICH W. SAHM<br />

Einblicke 6<br />

YAIR LAPID<br />

Ist Israel wirklich<br />

so schlimm? 14<br />

Israels Frauen 16<br />

Beziehungen<br />

Israel-Österreich 18<br />

ISRAEL<br />

Facing Tomorrow 33<br />

Neuer israelischer Botschafter<br />

im Vatikan 33<br />

JÜDISCHE WELT<br />

EVELYN BÖHMER-LAUFER<br />

peaececamp <strong>2008</strong> 34<br />

Judenbühel 35<br />

Panorama 36<br />

Jüdisches Myanmar 38<br />

L. JOSEPH HEID<br />

Das jüdische Toskana 39<br />

Buchpräsentation des Böhlau Verlags<br />

Douce France? Musik-Exil in Frankreich /<br />

Musiciens en exil en France 1933 -1945'<br />

Hg. Michel Cullin, Primavera Driessen Gruber<br />

Deutsch/französisch, 508 S., 236 Abb.<br />

FREITAG 30. MAI <strong>2008</strong>, 19.30 UHR,<br />

Diplomatische Akademie <strong>Wien</strong>,<br />

Favoritenstraße 15a, 1040 <strong>Wien</strong>,<br />

Grußworte: Direktor Jiri Grusa (Diplomatische Akademie),<br />

S.E. Pierre Viaux (Botschafter der Republik Frankreich),<br />

Dr. Peter Rauch (Böhlau Verlag).<br />

Einleitung und Moderation Univ.Prof. Dr. Michel Cullin.<br />

Round Table mit Dr. Doron Rabinovici (angefragt), Mag.<br />

Winfried Schneider, Dr. Primavera Driessen Gruber.<br />

Maria Bill singt Chansons von Edith Piaf, komponiert von<br />

Norbert Glanzberg, Krzysztof Dobrek (Akkordeon) und<br />

Michael Hornek (Klavier) begleiten sie dabei.<br />

Einblick in den<br />

israelischen Geheimdienst 19<br />

MARTA S. HALPERT<br />

Yissakhar Ben-Yakov:<br />

Ein Leben für Israel 20<br />

SCHWERPUNKT 08/38<br />

L. JOSEPH HEID<br />

Mit der Reichsbahn<br />

in den Tod 21-25<br />

Gedenkveranstaltungen 26<br />

MARTA S. HALPERT<br />

Mit dreizehn ausgetanzt 27<br />

HERBERT EXENBERGER<br />

„Ausgeschult“ 29<br />

POLITIK<br />

IN- UND AUSLAND<br />

SIMONE DINAH HARTMANN<br />

Konferenz zu Irans Berohung 31<br />

GEMEINDE<br />

Medieninhaber (Verleger), Herausgeber: <strong>Israelitische</strong> <strong>Kultusgemeinde</strong><br />

<strong>Wien</strong>. Zweck: Information der Mitglieder der IKG <strong>Wien</strong> in kulturellen, politischen<br />

und or ganisatori schen Belangen. Stärkung des demokratischen<br />

Bewusst seins in der österreichischen Bevöl kerung. Sitz: 1010 <strong>Wien</strong>, Seitenstettengasse 4, Postfach 145.<br />

Tel. Redaktion/Sekretariat 53 104/271, Anzeigenannahme 53 104/272, Fax: 53104/279, E-mail redaktion@ikg-wien.at<br />

Druck: AV+Astoria Druckzentrum GmbH, A-1030 <strong>Wien</strong><br />

Alle signierten Artikel geben die persönliche Mei nung des Autors wieder, die sich nicht immer mit der<br />

Meinung der Redaktion deckt. Für die Kaschrut der in der GEMEINDE angezeigten Produkte übernehmen<br />

Herausgeber und Redaktion ausdrücklich keine Verantwortung. Nicht alle Artikel, die in der<br />

Redaktion einlangen, müs sen zur Veröffentlichung gelangen.<br />

Die<br />

KULTUR<br />

MARTA S. HALPERT<br />

Edith Kurzweil - Memoiren 42<br />

PETER WEINBERGER<br />

Überall & nirgendwo 43<br />

Traumball - Béla Guttmann 44<br />

MICHAELA LEHNER<br />

neu<br />

Im Zeichen des Lotus 45<br />

WIZO erhält Israel-Preis 45<br />

Leserbriefe 46<br />

Titelbild: Tel Aviv<br />

© Denise Feiger<br />

Verantwortungsvolle Kin -<br />

der frau mit Er fah rung für<br />

die Be treu ung eines 2½jährigen<br />

Mäd chens in erstklassigen<br />

Haushalt ge -<br />

sucht.<br />

Bewerbungen mit Le bens -<br />

lauf und Foto un ter Chiffre<br />

Mary Poppins an die<br />

Redaktion.<br />

LEBENSGESCHICHTEN GEHÖRLOSER<br />

JUDEN UND JÜDINNEN GESUCHT<br />

Die Geschichte der Gebärdensprachgemeinschaft<br />

während des na ti o n<strong>als</strong>ozialistischen Regimes ist ein<br />

wichtiger Teil der Geschichte Ös terreichs. Darü ber gibt es allerdings<br />

bis jetzt kaum Literatur und For schungs tätig keit. Das<br />

Forschungsprojekt „Gehörlose Men schen während des Natio nal -<br />

so zialismus in Österreich” (<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong> - April 2009) wird bis jetzt<br />

nicht bekannte Informationen über die von Euthanasie, Zwangssteri -<br />

lisa ti on (GzVeN) und Dis kri mi nierungen betroffene gehörlose<br />

Minderheit erarbeiten und aufbereiten. Vor allem sollen Zeu gIn -<br />

nen dieser Zeit be fragt werden und ihre Le bensgeschichten dokumentiert<br />

werden. Auch und besonders die Le benswege ge hör loser<br />

Jüdinnen und Juden sollen dokumentiert werden.<br />

Wenn Sie von einem Menschen (in Ihrer Familie) wissen, der/die<br />

gehörlos war/ist...Wenn Sie Informationen zur ehem. Israeli ti schen<br />

Taubstummenanstalt in <strong>Wien</strong> haben...Wenn Sie Infor ma tio nen zu<br />

den ehem. jüdischen/zionistischen Gehörlosen ver ei nen haben...<br />

... kontaktieren Sie bitte das Forscherinnenteam von<br />

Dr. Verena Krausneker: E-<strong>Mai</strong>l: verena.krausneker@univie.ac.at<br />

Universität <strong>Wien</strong>, Institut für Sprachwissenschaft,<br />

1090 <strong>Wien</strong>, Berggasse 11, Fon & Fax: 01/218 97 00.<br />

Das Forschungsprojekt ist gefördert durch den Zukunftsfonds der Repu -<br />

blik Österreich und den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer<br />

des Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

PLENARSITZUNGEN <strong>2008</strong><br />

Dienstag, 03. Juni<br />

Donnerstag, 03. Juli<br />

Donnerstag, 31. Juli<br />

Dienstag, 02. September<br />

Donnerstag, 25. September<br />

Dienstag, 28. Oktober<br />

Dienstag, 25. November<br />

Donnerstag, 04. Dezember<br />

Donnerstag, 18. Dezember<br />

Täglich<br />

aktualisiert!<br />

www. ikg-wien.at<br />

@<br />

news<br />

events<br />

pinwand<br />

Ausgewertet werden Meldungen von: APA, Jerusalem<br />

Post, Ha’aretz, MEMRI, Yediot Aharonot, Global intelligence<br />

centre, Walla, Y-net, israelnetz (inn), nahostfocus<br />

(NOF), ICEJ, Honestly-concerned, GMW, JTA,<br />

2 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


AUS DEM BÜRO DES PRÄSIDENTEN<br />

am IKG-Campus<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 3


AUS DER KULTUSGEMEINDE<br />

Wo Raketenalarm zum<br />

Alltag einer Stadt gehört<br />

Eine blecherne Frauenstimme kündigt für die Einwohner einer<br />

Grenz stadt täglich Unheil an. In <strong>Wien</strong> sollten sechs Kinder aus<br />

Sderot unbeschwerte Tage erleben – und um Unterstützung werben.<br />

„Tseva Adom - Alarm stufe Rot“, tönt eine blecherne Frauenstimme<br />

aus dem Lautsprecher. Kinder springen auf,<br />

alle zwischen 10 und 13 Jahren alt, und suchen Deckung<br />

unter dem Holztisch, an dem sie gerade noch saßen und<br />

sich unterhielten. Wenige Sekunden vergehen in Stille, dann<br />

ein langgezogener, bedrohlich lauter werdender Pfeifton,<br />

gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall.<br />

Die 13-jährige Michal drückt eine Taste auf ihrem Handy.<br />

Die Explo sion ist vorbei, der Ausnahmezustand ist beendet.<br />

Tom, Shlomit, Stav, Dvir und Omer klettern zurück auf<br />

ihre Sessel. Der Gefahrenherd verwandelt sich wieder in<br />

den Aufenthaltsraum der Zwi-Perez-Chajes-Schule im<br />

zwei ten <strong>Wien</strong>er Gemeindebezirk.<br />

„So müssen Sie sich den Schulalltag unserer Kinder vorstellen“,<br />

sagt Kerem Doron-Katz, die Mutter der zehnjährigen Tom.<br />

Der Alltag, von dem die 38-Jährige spricht, findet nicht in<br />

<strong>Wien</strong> statt, sondern in Israel, genauer gesagt in der Ge gend<br />

rund um die Stadt Sderot im Grenzgebiet zum Gaza -<br />

streifen. Vergangene Woche begleitete Doron-Katz auf<br />

Einladung der <strong>Israelitische</strong>n <strong>Kultusgemeinde</strong> (IKG) sechs<br />

Kinder aus ihrer Heimat nach <strong>Wien</strong>.<br />

„Unbeschwerte Tage“<br />

„Durch diese Reise können wir zumindest einigen Kindern ein<br />

paar unbeschwerte Tage bescheren“, sagt Doron-Katz, die normalerweise<br />

im Kibbuz Nahal-Oz für eine israelische Hilfs -<br />

organisation arbeitet. „Und gleichzeitig werben wir bei den<br />

österreichischen Politikern für Unterstützung.“<br />

Seit April 2001 feuert die radikal-islamische Hamas selbst<br />

gebaute „Kassam“-Raketen aus dem Gazastreifen auf is raelisches<br />

Staatsge biet. Die erste „Kassam“, die auf Pri vat -<br />

grund in Israel einschlug, tat dies in einem Blumenbeet<br />

von Kerem Doron-Katz. Sderot liegt gerade einmal fünf Kilo<br />

meter von der Grenze entfernt und ist mit seinen 24.000<br />

Einwohnern die größte Sied lung in ner halb der begrenzten<br />

Reich weite der Do-it-yourself-Raketen<br />

der Ha mas. Bis zu fünfzigmal am Tag<br />

schlägt das la ser gesteuerte Warn sys -<br />

tem THEL (Tactical High Energy<br />

Laser) Alarm. Dann bleiben neun bis<br />

15 Sekunden, um einen Bunker aufzusuchen<br />

oder zumindest ins<br />

Stiegenhaus zu kommen, zumeist der<br />

sicherste Ort in den Wohnhäusern.<br />

ist an ein Weiterschlafen nur selten zu denken.<br />

Den Glauben an eine baldige Beilegung des Gaza-Kon -<br />

flikts hat Kerem Doron-Katz schon lange verloren. „Für uns<br />

ist es jetzt wichtig, dass wir möglichst viele Verbündete haben.<br />

Kinder können dabei sehr viel bewirken“, erklärt sie. „Denn was<br />

sie sagen, kommt von Herzen.“<br />

Unter Patronanz der IKG traf die Abordnung aus Israel<br />

diese Woche unter anderem Nationalratspräsidentin<br />

Barbara Prammer und Bundespräsident Heinz Fischer, der<br />

vor allem durch seinen festen Händedruck erinnerlich blieb.<br />

Keine Bombenreste für Fischer<br />

Auf sein Gastgeschenk musste Fischer verzichten. Der<br />

zwölfjährige Omer wollte das Staatsoberhaupt an seinem<br />

Hobby teilhaben lassen, dem Sammeln von Raketen über -<br />

res ten. Die Splitter blieben allerdings am Ben-Gurion-<br />

Flughafen in Tel Aviv hängen – sie enthielten noch Spuren<br />

des Sprengstoffs TNT.<br />

Die militärische Bedrohung durch die „Kassam“-Raketen<br />

ist aufgrund ihrer einfachen Bauweise eher gering. Seit 2001<br />

fielen den Geschossen 14 Menschen zum Opfer; vergleichs<br />

weise wenig – bei mehr <strong>als</strong> 4000 abgefeuerten Ra ke -<br />

ten. Das Problem ist eher der psychologische Druck durch<br />

die ständige Gefahr. „Die psychologische Betreuung der Kin -<br />

der ist bei uns so gut wie sonst nirgends in Israel“, sagt Kerem<br />

Doron-Katz. Beim geringsten Anzeichen einer Störung<br />

erhalten die Kinder eine Therapie. Schon im Vorfeld wird<br />

versucht, ihnen möglichst viele Möglichkeiten zu geben,<br />

ihren Alltagsstress zu verarbeiten.<br />

Dennoch bohrt sich die tagtägliche Bedrohung ins Un ter -<br />

bewusstsein der Kinder von Sderot. Selbst in <strong>Wien</strong> blicken<br />

sie sich unwillkürlich um, immer auf der Suche nach möglichen<br />

Verstecken, sollte von irgendwoher „Tseva Adom“<br />

– Raketenalarm – gegeben werden.<br />

Fragt man die Kinder von Sderot nach ihrem größten<br />

Wunsch, erwidern sechs Kehlen ein Wort „Schalom“ - „Frie -<br />

den“. Kerem Doron-Katz zuckt mit den Schultern: „Sie sind<br />

halt noch Kinder. Und Kinder haben Träume.“<br />

Mit freundlicher Genehmigung:<br />

Peter Draxler„Die Presse“ Print-Ausgabe, 19.04.<strong>2008</strong>)<br />

„Am schlimmsten ist es, wenn man schlafen<br />

will“, sagt die zwölfjährige Shlo mit.<br />

Selten vergeht eine Nacht ohne „Tseva<br />

Adom“, ohne die vertraute und doch<br />

unangenehme Frauenstimme des Ra -<br />

ke ten alarms. Nach der Entwarnung –<br />

dem Knall, der zum Glück nicht aus<br />

der direkten Nachbarschaft kommt –<br />

4 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

60 Jahre<br />

ISRAEL<br />

Israel anders kennenlernen<br />

... <strong>als</strong> ein Land der Vielfalt: Akzeptanz und Schutz unterschiedlichster Lebensstile und Tra -<br />

di ti onen, religiös, ethnisch und kulturell. Eine Gesellschaft, die teils westlich, teils ost -<br />

euro päisch, teils mediterran, im Wesentlichen jedoch israelisch ist.<br />

... <strong>als</strong> ein Land der Innovationen: Biotechnologie, Biomedizin, Pharmakologie, Medizin,<br />

me di zinische Diagnostik, Elektronik, Softwareentwicklung, Kommunikationstechnik,<br />

Glas fasertechnologie, Luft- und Raumfahrttechnik, Alternative Energien, Umwelttech -<br />

no logie und Landwirtschaft stehen im Fokus von Forschung und Entwicklung.<br />

... <strong>als</strong> Land der humanitären Hilfe: Seine umfangreichen Erfahrungen in der infrastruktu<br />

rellen Entwicklung, der Landwirtschaft, Medizin und Katastrophenhilfe stellt Israel<br />

Schwel len ländern <strong>als</strong> Entwicklungshilfe zur Verfügung.<br />

DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 5


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

Einblicke<br />

von Ulrich W. Sahm<br />

Vorgeschichte<br />

Wie ein roter Fa den<br />

ziehen sich durch<br />

Dis kussi onsforen<br />

im In ter net gehässige<br />

Attacken auf<br />

Israel. Immer wieder<br />

wird gefragt,<br />

ob Israel überhaupt ein Existenzrecht<br />

habe, ob der jüdische Staat wegen seiner<br />

„Verbrechen“ nicht umgehend<br />

abgeschafft werden sollte und ob Is ra -<br />

el nicht ohnehin ein „künstlicher Staat“<br />

sei, dessen Untergang vor hersehbar<br />

sei. Der Zionismus wird da bei <strong>als</strong> verbrecherische<br />

Ideologie dargestellt, die<br />

den rassistischen Vor stellungen der<br />

Nazis in nichts nachste he.<br />

Dabei ist der Zio nismus ist nichts An -<br />

de res <strong>als</strong> die weltliche Na ti o na l be we -<br />

gung der Juden. Er entstand gegen<br />

En de des 19. Jahr hun derts <strong>als</strong> Re ak ti on<br />

auf Pogrome in Russland und Ju den-<br />

Verfolgungen in Westeuropa. Wäh -<br />

rend die Juden bis zur Auf klä rung im<br />

christlichen Euro pa <strong>als</strong> religiöse Min -<br />

derheit gesehen wurden, verwandelte<br />

der moderne Antisemitismus sie in<br />

eine „Rasse“. Die Zionisten definierten<br />

fortan die Juden <strong>als</strong> Volk und<br />

Nation, mit An spruch auf einen eigenen<br />

Staat. Dis ku tiert wurden Ugan -<br />

da, Argentinien und Madagaskar <strong>als</strong><br />

mögliche Heim stätten für die Juden.<br />

Doch am Ende überwog jüdisches<br />

Geschichtsbewusstsein, in der alten<br />

biblischen Heimat den Staat anzustreben.<br />

Mit geschickter Lobbyarbeit<br />

gelang es Chaim Weizman, die Briten<br />

1917 zur „Balfour Deklaration“ zu überreden.<br />

Die Briten versprachen den<br />

Juden eine „nationale Heim stät te“ in<br />

Palästina, noch ehe sie dieses Gebiet<br />

von den seit 400 Jahren dort herrschen<br />

den türkischen Osmanen ero -<br />

bert hatten.<br />

Ankunft ungarischer Neu-Einwanderer<br />

im Kibbutz, 1943<br />

Die Araber im britischen Man dats ge -<br />

biet Palästina versuchten unter der<br />

Füh rung des Mufti von Jerusalem,<br />

Hadsch Amin el Husseini, die Juden<br />

mit blutigen Pogromen in Jerusalem<br />

und in Hebron zu vertreiben. In Hebron,<br />

der Stadt der Erzväter, und im<br />

Silwan-Viertel in Jerusalem, ist es<br />

ihnen gelungen. Später, so gar in Ko o -<br />

pe ration mit Hitler, versuchten sie,<br />

Ein wande rungs wel len der aus Eu -<br />

ropa und Russland fliehenden Juden<br />

zu bremsen. Während dessen errichteten<br />

die Juden, teilweise heim lich,<br />

Britische Soldaten verhaften illegale<br />

Einwanderer, 1946<br />

© Israelimages/Hashomer Hatzair<br />

© Israelimages/Hashomer Hatzair<br />

alle notwendigen Institu tio n en für ei -<br />

nen funktionierenden Staat. 1947<br />

waren die Feindseligkeiten zwischen<br />

Juden und Arabern so unerträglich<br />

ge worden, dass die UNO auf Emp -<br />

feh lung der Briten mit einem Mehr -<br />

heits beschluss die Errichtung ei nes jüdischen<br />

Staates neben einem ara bi schen<br />

in Palästina beschloss. Diese Resolution<br />

181 war die völkerrechtliche Le -<br />

gitimation für die Juden, am Freitag,<br />

14. <strong>Mai</strong> 1948, noch vor Beginn des<br />

Schabbat in Tel Aviv ihren Staat aus -<br />

zurufen, nachdem mittags die Bri ten<br />

Haifa verlassen hatten, ohne die<br />

„Schlüssel“ zu übergeben. Kein arabischer<br />

Staat, entlassene Kolonien mit<br />

künstlichen, von den Briten entworfenen<br />

Linealgrenzen, hat vor seiner<br />

Grün dung so viel internationale Legi -<br />

ti mation erhalten wie ausgerechnet<br />

Israel.<br />

© Israelimages/Hashomer Hatzair<br />

Britische Soldaten verlassen<br />

das Land, Haifa 1948<br />

Die UNO mag unter dem Eindruck<br />

des Holocaust mehrheitlich für die Er -<br />

rich tung eines jüdischen Staates ge -<br />

stimmt haben. Aber ohne die Vor geschichte<br />

und ohne die Vorbereitun gen<br />

der jüdischen Gemeinschaft in Palästi<br />

na unter britischem Mandat wäre<br />

dieser Staat nicht zustande gekommen.<br />

Die Araber, die sich erst ab 1964 im<br />

Rahmen ihrer Nationalbewegung <strong>als</strong><br />

„Palästinenser“ definierten, waren ge -<br />

gen diesen jüdischen Staat, weil sie<br />

kei nen „Fremdkörper“ im Terri to rium<br />

der islamischen „Umma“, dem islami -<br />

schen Herrschaftsgebiet, dulden konnten.<br />

Die arabischen Staaten verfolgten<br />

1948 und während des Sechs-Tage-<br />

Krie ges von 1967 das Ziel, den jüdischen<br />

Staat zu zerstören und „die Ju -<br />

den ins Meer“ zu werfen. Weil sie Is ra -<br />

el ablehnten, konnten die Ara ber der<br />

Er richtung eines „palästinensischen“<br />

Staates in dem bis 1967 von Jordanien<br />

besetzten Westjordanland und dem<br />

von Ägypten verwalteten Gaza strei -<br />

fen nicht zustimmen.<br />

© Israelimages/Hashomer Hatzair<br />

6 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

Ausbruch des Irakkriegs. „Ehe es schon<br />

wieder in den Krieg geht, wollen wir noch<br />

einmal so richtig den Weltuntergang fei -<br />

ern.“ Die gesamte Bevölkerung Is ra els<br />

war dam<strong>als</strong> schon mit Gasmas ken ausgestattet<br />

worden, aus Furcht vor iraki -<br />

schen Scud-Raketen mit Giftgas.<br />

Grundausbildung im Trainingslager, 1941<br />

Ein Wandel in der arabischen Ein stel -<br />

lung entwickelte sich erst ab 1977, <strong>als</strong><br />

Ägyptens Präsident Anwar el Sa dat<br />

Israel <strong>als</strong> „Faktum“ akzeptierte und<br />

Friedensverhandlungen einfädel te.<br />

PLO-Chef Jassir Arafat verkündete<br />

1988 in Genf, sich mit dem Westjor -<br />

dan land und dem Gazastreifen zu be -<br />

gnü gen und nicht mehr die Zerstö rung<br />

Israels anzustreben. Diese Ankün di -<br />

gung brachte der PLO die lange angestrebte<br />

Anerkennung durch die USA<br />

ein und war die Voraussetzung für<br />

die Osloer Geheimgespräche zwischen<br />

Israel und der PLO.<br />

Wer <strong>als</strong>o heute noch die Existenz berechtigung<br />

Israels und die Legitimität<br />

des jüdischen Staates anzweifelt, ig -<br />

noriert sogar Entwicklungen bei der<br />

PLO und arabischer Staaten wie Ägyp -<br />

ten und Jordanien, die mit Israel ei nen<br />

völkerrechtlich anerkannten Frie densvertrag<br />

unterzeichnet haben.<br />

Der Zionismus hat mit der Errichtung<br />

des Staates Israel seine Erfüllung ge -<br />

funden und ausgedient. Was heute<br />

<strong>als</strong> „zionistisch“ kritisiert wird, ist in<br />

Wirklichkeit Regierungspolitik oder<br />

© Israelimages/Hashomer Hatzair<br />

is raelischer Nationalismus in allen<br />

sei nen Erscheinungsformen. Mit dem<br />

ursprünglichen Ziel der jüdischen Natio<br />

nalbewegung, einen Staat anzustreben,<br />

hat das nichts mehr zu tun.<br />

Von Hungersnot über Gas mas -<br />

ken zu Weltuntergangsparties<br />

Dröhnende Popmusik drang aus dem<br />

Pub in einem der ehemaligen Klos -<br />

tergebäude des russisch-orthodoxen<br />

Hos piz mitten in Jerusalem. „Wir ha -<br />

ben schon den Stellungsbefehl Nummer 8<br />

in der Tasche“, sagte einer der jungen<br />

Männer, während Mineral wasser fla -<br />

schen in den Jugendklub schleppt. Das<br />

war am 14. Januar 1991, am Abend vor<br />

Die Szene könnte nicht typischer sein<br />

für das Selbstverständnis der Israelis.<br />

Das Leben muss weitergehen, hatten<br />

die Juden sogar in den Vernich tungs -<br />

lagern der Nazis gesagt. Sie malten,<br />

dichteten, komponierten Musik, sangen<br />

und spielten Theater. Der Lebens -<br />

wille schreibt vor, selbst angesichts<br />

des Todes nicht in Stumpfsinn und<br />

Ver zweiflung zu versinken. Das gilt<br />

um so mehr für den Staat Israel, der<br />

mit unheimlicher Regelmäßigkeit alle<br />

zehn Jahre mit Krieg konfrontiert war.<br />

Gleichzeitig hielt Israel an einer de -<br />

mo kratischen Staatsform fest. Trotz<br />

Hungersnot nach der Staatsgrün dung<br />

und fast ohne Bodenschätze stieg Is -<br />

ra el zu einer potenten Wirtschaft und<br />

einer der bedeutendsten Militär mäch -<br />

te der Welt auf. Das winzige Israel mit<br />

nur 7 Millionen Ein woh nern zählt zu<br />

den zwan zig führenden Ländern beim<br />

Patentamt. Es produziert Computer -<br />

chips, ohne die weder die Banken im<br />

Li banon noch die Internet-Fans in<br />

Deutschland ihre PCs laufen lassen<br />

könn ten. Nicht nur Kriege gegen die<br />

halbe arabische Welt musste Israel<br />

1948, 1956, 1967, 1973, 1982, 1991 und<br />

2006 bestehen, sondern auch mörderische<br />

Aufstände der Palästinenser.<br />

Hin zu kam noch eine internationale<br />

Kampagne der Entlegitimierung des<br />

jüdischen Staates. Erst wollten die arabi<br />

schen Staaten die „Juden ins Meer<br />

werfen“. Die UNO folgte mit Er klä run -<br />

gen und Resolutionen, die teilweise<br />

so rassistisch motiviert waren, dass<br />

die Vereinten Nationen sogar eine ih rer<br />

bös willigsten Resolutionen annullierte.<br />

Beach Party in Tel Aviv<br />

© Israelimages/Hanan Isachar<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 7


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

Heute predigen ganz offen die palästinensische<br />

Hamas-Organisation, die li banesische<br />

Hisbollah, Osama Bin Laden<br />

und allen voran Irans Präsi dent Ahma -<br />

dinedschad die Vernich tung Is ra els,<br />

teilweise kaschiert mit ideologisch korrekten<br />

Formeln wie „Anti zio nismus“,<br />

der Forderung nach ei nem vermeintlichen<br />

„Rückkehrrecht“ für alle palästinensischen<br />

Flüchtlinge mitsamt ihren<br />

Nachkommen oder der Forderung<br />

nach einem „Staat für alle Bürger“.<br />

Gedenken an Stalin im Kibbutz Gaash, 1953<br />

© Israelimages/Hashomer Hatzair<br />

Zu den wenig beachteten Phäno me nen<br />

der kurzen Geschichte Israels zählt,<br />

dass der Staat in schneller Folge seine<br />

Verbündeten und damit auch seine<br />

Waf fenlieferanten wechselte. Gleich -<br />

zei tig weigerte sich Israel, seine Ver teidigung<br />

einem formalen Bündnis wie<br />

der NATO oder gar fremden Sol da ten<br />

zu unterwerfen. Die wichtigste Lehre<br />

aus dem Holocaust ist für die Juden,<br />

dass letztlich auf niemanden Verlass ist<br />

und dass nur sie sich selber verteidi gen<br />

können. 1948 dachten die Ameri ka ner<br />

darüber nach, den jüdischen Staat nicht<br />

zustande kommen zu lassen, während<br />

die Sow jets unter Stalin in Israel einen<br />

potentiellen bolschewistischen Partner<br />

sa hen und Waffen über die Tschechei<br />

lieferten. Die nächsten beiden Kriege<br />

bestritt Israel mit franzö sischen Mira ge<br />

und britischen Sher man-Panzern. Die<br />

Amerikaner be trach teten Israel erst ab<br />

1970 <strong>als</strong> „un sink baren Flugzeugträ ger“.<br />

Und im Hintergrund erwiesen sich<br />

ausgerechnet die Deutschen <strong>als</strong> still -<br />

schweigende, aber durchaus vertrauenswürdige<br />

Freunde, obgleich sich<br />

die Bon ner Republik erst 1965, infolge<br />

eines ägyptischen Verstoßes gegen<br />

die „Hall stein-Doktrin“ (Nicht-An er -<br />

ken nung der DDR), überwand, Israel<br />

an zu erkennen. Die DDR sah fast bis<br />

zu letzt in Israel einen Vor pos ten des<br />

faschis tischen Imperialismus. Sie un -<br />

ter stütz te kräftig die Feinde Is ra els und<br />

stellte die Logistik für Ter roran schlä -<br />

ge der PLO, etwa in München 1972.<br />

Kunstmarkt in Nahalat Binyamin Fußgängerzone in Tel Aviv<br />

Das alles konnte die Israelis nicht ab -<br />

halten, aus ihrer Metropole Tel Aviv<br />

eine „Stadt ohne Pause“ zu machen, wo<br />

es um drei Uhr nachts Verkehrs staus<br />

vor Schwulenklubs gibt, entlang der<br />

Strandpromenade und bei den The -<br />

ater- wie Konzerthallen. Auch wenn<br />

in Israel längst nicht mehr Was ser in<br />

Wein verwandelt wird, produzieren<br />

sie Weine, die in Frankreich preis ge -<br />

krönt werden. „Die Juden lieben das<br />

Leben“, anerkennen sogar Paläs ti nen -<br />

ser, während sie den schreckli chen<br />

Spruch hinzufügen: „so wie die Pa läs ti -<br />

nenser den Tod lieben.“ Auch wenn heu -<br />

© Israelimages/Hanan Isachar<br />

te vor jedem Restaurant ein Wachmann<br />

mit Metalldetektor steht, an<br />

jedem Ein gang die Taschen durchsucht<br />

werden, <strong>als</strong> wolle man ein Flugzeug<br />

be steigen, lassen sich die Israelis nicht<br />

einschüch tern, dennoch japanischen<br />

Su shi, Thai-Suppen oder arabischen<br />

Humus im Fladenbrot zu genießen.<br />

Jun ge Is ra e lis haben oft genug während<br />

ihres mehrjährigen Wehrdienstes<br />

dem ei ge nen Tod ins Auge geschaut.<br />

Für sie ist das Grund genug, nach dem<br />

Wehr dienst das Leben so richtig zu ge -<br />

nießen. Zu Tausenden zieht es sie nach<br />

Süd ame ri ka, nach Goa in Indien oder<br />

8 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

nach Ne pal. Wichtiger <strong>als</strong> ein diffuser<br />

Wunsch nach Frieden mit arabischen<br />

Diktaturen oder ideologisch verblendeten<br />

Islamisten ist wohl der Wille zu<br />

überleben und gut zu leben. Und wo<br />

sonst gibt es heute ein Volk, dessen<br />

pu re Existenz von Intellektuellen wegdis<br />

kutiert und dessen Selbst be stim -<br />

mungsrecht <strong>als</strong> künstlich abgetan<br />

wird, dessen Überleben mit Kriegs -<br />

dro hungen und sogar mit der Atom -<br />

bombe in Abrede gestellt wird.<br />

Wo der Schabbat<br />

kein Sonntag ist<br />

Das Klischee einer „israelischen The o-<br />

kratie“ ist weit verbreitet. Es er hielt<br />

neue Nahrung, <strong>als</strong> Minis ter prä sident<br />

Ehud Olmert vor dem Nahost treffen<br />

in Annapolis die Forderung einer arabischen<br />

Anerkennung Israels <strong>als</strong> „jü-<br />

di schen Staat“ aufstellte.<br />

© Roland Metzger<br />

Präsident Chaim Weizmann spricht nach seiner<br />

Vereidigung zur Knesset, 1949 . In der vorderen<br />

Reihe (r.) David Ben Gurion<br />

Das erste Missverständnis liegt am<br />

deutschen (und österreichischen*) Schub -<br />

ladendenken und dem Mangel an<br />

passenden Begriffen, „Jude“ zu definieren.<br />

Die teilweise ungeheuerlichen<br />

und aus der Tra dition des modernen<br />

Antisemitismus entstandenen For mulierungen<br />

wie „mosaischen Glau bens“,<br />

„jüdischstämmig“ oder „Halb jude“<br />

liegen an geistigen Verrenkungen, um<br />

das vermeintliche Schimpfwort „Jude“<br />

zu vermeiden. Dem deutschen Wesen<br />

ist das jüdische Selbstverständnis<br />

fremd, gleichzeitig „Volk“ zu sein,<br />

eine Kul tur oder Religion zu haben<br />

und über alle Welt verstreut zu leben.<br />

Zusätz lich gibt es religionslose Juden,<br />

die sich <strong>als</strong> Atheisten bezeichnen, kein<br />

Wort He bräisch sprechen und jüdische<br />

Ge bräuche verschmähen. Es gibt we -<br />

der eine „jüdische Rasse“ noch gibt es<br />

„Semiten“. Die vor 200 Jahren erfundene<br />

Einteilung der Menschheit in<br />

Ras sen aufgrund von Sprachfamilien<br />

hätte spätestens 1945 abgeschafft wer -<br />

den müssen. Anstelle des „Halb ju den“<br />

sollte der „Halbchrist“ in den Sprach -<br />

gebrauch aufgenommen werden, um<br />

die Absurdität dieses Be griffs hervorzuheben.<br />

Im Staat Israel läuft seit 60 Jahren die<br />

von Staatsgründer David Ben Gurion<br />

angestoßene Diskussion zur Frage<br />

„Wer ist Jude“. Wichtig ist das für die<br />

bü rokratische Umsetzung des „Rück -<br />

kehr rechts“ für Juden, <strong>als</strong>o der Be rechtigung<br />

von Einwanderern bei der An -<br />

kunft auf dem Flughafen, Pass und<br />

Staatsbürgerschaft verliehen zu be -<br />

kom men. Trotz des Gesetzes, wonach<br />

einer Jude ist, der eine jüdische Mut ter<br />

hat oder zum Judentum konvertierte,<br />

wurden stillschweigend Men schen<br />

ins Land eingelassen, die <strong>als</strong> Ju den<br />

verfolgt wurden, ohne Juden zu sein.<br />

Schweine-Salami bei einem nichtkoscheren<br />

Fleischhauer in Zentrum<br />

von Jerusalem, 2004<br />

In Israel wird Religionsfreiheit per Ge -<br />

setz garantiert. Im „jüdischen“ Staat<br />

gibt es keine Staatsreligion und nicht<br />

einmal einen gesetzlich gemäß einer<br />

„Industrienorm“ geregelten wö chent lichen<br />

Ruhetag, wie den Sonntag in<br />

Deutsch land laut DIN ISO 8601. Jude,<br />

Mos lem oder Christ kann selber be -<br />

stim men, ob er am Freitag, Schabbat<br />

oder Sonn tag seinen Laden schließt.<br />

In Haifa und Beer Scheva, Städten mit<br />

großer arabi scher Minderheit, fahren<br />

auch am Schabbat Linienbusse und in<br />

Na za reth ohnehin. Dass die Su per -<br />

markt ketten nur koschere Spei sen ver -<br />

kaufen, hat ge schäftliche Grün de. Im<br />

überwiegend jüdisch-frommen Jeru sa -<br />

lem bieten mit ten im Zentrum De li -<br />

katessen-Lä den zu überhöhten Prei sen<br />

Schwei ne ripp chen und Schrimps feil.<br />

In der Armee wird ko scher gekocht,<br />

weil das der nied rigste gemeinsame<br />

Nenner ist für Juden, Moslems, Dru -<br />

sen und Chris ten.<br />

Mangels staatlicher Standesämter kön -<br />

nen etwa 300.000 Menschen in Is ra el<br />

nicht heiraten. Als „Diktatur der Or thodoxen“<br />

werden immer wieder tra gi sche<br />

Fälle hochgespielt, wenn Soldaten oh ne<br />

Religionsangehörigkeit nicht be gra ben<br />

werden konnten. Israel hält an den al -<br />

ten Regeln der Osmanen fest, alle standesamtlichen<br />

Angele gen hei ten den anerkannten<br />

Religi ons ge mein schaf ten<br />

zu überlassen. Die be ste hen den Aus -<br />

we ge, eine Reise zum Stan des amt in<br />

Zypern, oder zwei Qua drat me ter Bo -<br />

den für ein Grab in einem weltli chen<br />

Kibbuz zu kaufen, sind teuer. Das The -<br />

ma wird öffentlich diskutiert, vor al lem<br />

innerhalb der jü di schen Ge sell schaft.<br />

Aber noch scheut sich Israel, die Be fugnisse<br />

der Reli gio nen zu be schnei den.<br />

© Brian Hendler/JTA<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 9


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

Innerhalb der jüdischen Gesellschaft<br />

Israels gibt es Gruppen und Strömun -<br />

gen mit unterschiedlicher Fröm mig -<br />

keit. Die schlossen sich zu politischen<br />

Parteien zusammen. Deren Haupt in -<br />

ter esse liegt allerdings nicht in der<br />

„großen Politik“, Beziehungen zu den<br />

Palästinensern, Siedlungen oder strate<br />

gischen Militärfragen. Die teilwei se<br />

anti-zionistisch orientierten ul tra ortho<br />

doxen Parteien schließen sich tradi<br />

tionell der Regierungskoalition an,<br />

wollen aber keine Verantwortung<br />

übernehmen. Sie verlangen den Vor sitz<br />

des Finanzausschusses in der Knesset.<br />

Die orientalisch-fromme Schasspartei<br />

stellt Minister und bemüht sich um Gel -<br />

der für fromme Schulen. Ebenso will<br />

sie die russischen Schweinefleisch-Lä -<br />

den aus Stadtzentren in die Industrie -<br />

zentren am Stadtrand verdrängen. Auf<br />

dem Höhepunkt der Popularität von<br />

Schass bildete sich <strong>als</strong> Gegengewicht<br />

die weltlich liberale Schinui-Partei mit<br />

dem Programm, den Einfluss der<br />

From men einzudämmen. Diese beiden<br />

Phänomene zeigen, dass in Israel der<br />

„Kulturkampf“ mit demokratischen<br />

Mitteln ausgefochten wird.<br />

Die Rolle des Militärs<br />

Drei Jahre für Männer und zwei Jah re<br />

für Frauen. Solange dauert der Pflichtdienst<br />

bei der israelischen Armee.<br />

Echte Wehrdienstverweigerer gibt es<br />

kaum. Drückeberger stehen zunehmend<br />

in der Kritik: ultraorthodoxe Ju -<br />

den und Araber. Debattiert wird „na -<br />

tionaler Zivildienst“ <strong>als</strong> Antwort auf<br />

ara bische Rufe nach Gleichberech ti -<br />

gung, jedoch ohne Pflichten erfüllen<br />

zu wollen.<br />

© IDF<br />

Orthodoxe Einheit beim Gebet 2007<br />

Ezer Weizman (r.) und Moshe Dayan (m.) am Suez Kanal<br />

Für Orthodoxe hat die Armee den<br />

„frommen Nachal“ errichtet, wo sie<br />

dienen und Talmud studieren können.<br />

Wehrdienst gilt in Israel <strong>als</strong> Selbst ver -<br />

ständlichkeit. Hetzreden arabischer<br />

und iranischer Politiker und Kassam -<br />

ra keten auf Sderot sorgen für eine<br />

hohe Motivation, in kämpfenden Ein -<br />

heiten die „Heimat zu verteidigen“. In<br />

Israel ist das kein hohler Spruch, so -<br />

lan ge das Existenzrecht eines „jüdischen<br />

Staates“ in Frage steht. Der Ho lo caust<br />

lehrt junge Israelis, dass Vernich tungsträume<br />

schnell Wirklichkeit werden<br />

können. Schüler erfuhren das spätes -<br />

tens, <strong>als</strong> ihre Klassenkameraden in explodierenden<br />

Bussen getötet wurden.<br />

Nicht-fromme Verweigerer sind verpönt.<br />

Aber der Popsänger Aviv Gefen<br />

schaffen es bis in die Spitzenplätze<br />

der Hitparaden, sogar bei den „Wel len<br />

Zah<strong>als</strong>“, dem populären Armee sen der,<br />

wo Soldaten das Programm machen<br />

© IDF/BP Images/JTA<br />

und jugendlich frisch moderieren.<br />

Wehrdienstverweigerer Gefen sang sogar<br />

zu Ehren von Ex-General stabschef<br />

Jitzhak Rabins bei der Friedens demon -<br />

stration am 4. November 1995, die mit<br />

drei tödlichen Schüssen des Jigal Amir<br />

endete.<br />

Katastropheneinsatz in Nairobi, 2006<br />

© HO/Maya Levin<br />

Drusen, eine muslimische Sekte, werden<br />

zwangsrekrutiert, seitdem die<br />

Dru senführer vor 1948 den Juden<br />

Treu e geschworen haben. Sie tragen in<br />

den besetzten Gebieten die Bürde des<br />

unsanften Umgangs mit Paläs ti nen -<br />

sern. 89 Prozent aller jungen Dru sen<br />

dienen, aber nur 72 Prozent der Ju den.<br />

Auch Beduinen, arabische Wüs ten no -<br />

maden, werden zwangsrekrutiert. Sie<br />

leisten den gefährlichsten aller Jobs<br />

bei der Armee. Wenn die Kom panie<br />

an gegriffen wird, trifft es die Bedui nen<br />

10 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

an der Spitze von Pa trouillen <strong>als</strong> Er ste.<br />

Doch in der Be dui nen gesellschaft ist<br />

der Heldentod kei ne Ehre. Der Name<br />

eines gefallenen Beduinensoldaten im<br />

März wurde auf Wunsch seiner Fami lie<br />

nicht veröffent licht. Er war bei Gaza<br />

von palästinensi schen Scharfschützen<br />

erschossen worden. Die Familie be -<br />

fürchte Diskri mi nierung durch andere<br />

Beduinen, hieß es.<br />

Einige israelische Araber, Moslems wie<br />

Christen, melden sich freiwillig. Die se<br />

1,2 Millionen Israelis bezeichnen sich<br />

Palästinenser und stellen 20 Prozent<br />

der Bevölkerung. Dass Araber freiwillig<br />

dienen, erfährt die Öffentlichkeit<br />

nur, wenn einer dieser Soldaten fällt<br />

und muslimische Geistliche das Be -<br />

gräb nis verweigern. Eine graue Decke<br />

bedeckte den Sarg anstelle der Na tio -<br />

nal flagge.<br />

Freiwilliger Militärdienst hat viele<br />

Grün de. Wer nicht dient, kann drei<br />

Jah re früher studieren oder arbeiten.<br />

Aber im Berufsleben verschließen sich<br />

Türen. Das Land befindet sich im<br />

Kriegs zustand. Ein „Profil 21“, Aus -<br />

schluss vom Militärdienst, erhalten<br />

auch körperlich oder geistig Behin -<br />

derte. Manche dienen aus Ehrgeiz oder<br />

nationalistischen Motiven, dennoch.<br />

Man muss nicht laufen können, um<br />

am Computer zu sitzen und keine gei -<br />

s tigen Fähigkeiten besitzen, um Kartof<br />

feln zu schälen.<br />

Seit jeher ist die israelische Armee ein<br />

Schmelztiegel. Jugendlichen der statistischen<br />

Rubrik „Andere“, 300.000<br />

nicht-jüdische Angehörige von russischen<br />

Einwanderern, liefert die Ar mee<br />

den Schlüssel für die gesellschaftliche<br />

Akzeptanz: Konvertierungskurse. Et -<br />

wa 6.000 beenden pro Jahr ihren Mili -<br />

tär dienst <strong>als</strong> beschnittene Juden.<br />

Sozial benachteiligte und kleinkriminelle<br />

Jugendliche galten <strong>als</strong> „ungeeignet“.<br />

Gener<strong>als</strong>tabschef Rafael Eitan<br />

schuf das Projekt „Raful-Jugendliche“<br />

und rettete junge Menschen vor dem<br />

Abgrund.<br />

Das Klischee, wonach Israel ein „milita<br />

ristischer“ Staat sei, hat nie ge stimmt.<br />

Die genannten Beispiele zeigen, wie die<br />

Zivilgesellschaft der Armee soziale<br />

Aufgaben aufbürdet.<br />

Viele Politiker haben keine Mili tär karriere<br />

gemacht: David Ben Gurion, Golda<br />

Meir, Menachem Begin und Ehud<br />

Olmert. Schimon Peres, Vater des<br />

Atom projekts, Verteidigungs mi nis ter,<br />

Regierungschef und heute Staats prä -<br />

si dent, war nie Soldat. Eine Offi ziers -<br />

laufbahn besagt nichts über die politische<br />

Ausrichtung. Die Gene ral stab s -<br />

chefs Jitzhak Rabin und Ehud Barak<br />

zählen zum linken, die Generale Effi<br />

Eitam und Ariel Scharon zum rechten<br />

Lager.<br />

Die israelische Armee bewegt sich<br />

außerhalb des politischen Spiels.<br />

Allein Politiker beschließen, was die<br />

Armee zu tun hat: Angriff, Feuer einzustellen<br />

oder Rückzug. Militärs entscheiden<br />

über die Ausführung. Gene -<br />

ral stabschef Dan Halutz führte den<br />

Libanonkrieg 2006 zunächst nur mit<br />

der Luftwaffe. Der gewünschte Erfolg<br />

blieb aus. Also beschloss die Regie -<br />

rung, mit Bodentruppen einzumarschieren.<br />

© Reuters/Abed Omar Qusini<br />

Israels Identität geht<br />

auch durch den Magen<br />

„Ich war verzweifelt. Wir hatten nichts,<br />

was wir den Gästen anbieten konnten.“<br />

Eine alte Israelin erinnert sich an die<br />

Belagerung Jerusalems 1948. Nur mit<br />

Panzerwagen auf der heimlich ge bau -<br />

ten Burma-Straße gelangten die jüdischen<br />

Brigaden in die eingeschlossene<br />

Stadt. Alles war knapp. Die rationierten<br />

Nahrungsmittel gab es in den ers -<br />

ten Jahren des jüdischen Staates nur<br />

mit Lebensmittelkarten.<br />

Der Mangel machte erfinderisch. Ein<br />

Jerusalemer Restaurant bot bis vor<br />

kur zem ein Nostalgie-Menü an: Eine<br />

Vorspeise aus Melanzani, die wie Le -<br />

ber pastete schmeckt und Distelsup pe.<br />

Mangels Devisen konnte Reis nicht<br />

importiert werden. Also erfand man<br />

den „Ben Gurion Reis“, benannt nach<br />

dem Staatsgründer. Reisförmige Pas ta<br />

wird in Öl und Zwiebeln angebraten<br />

und mit Wasser gekocht wie Reis. Die<br />

billige Alternative zu Reis mutierte in -<br />

zwischen zur Delikatesse. Der akuten<br />

Not in den Kriegsjahren folgte eine<br />

Über schwemmung des Landes mit<br />

Flüchtlingen des Holocaust und den<br />

Deportiertenlagern aus Europa sowie<br />

rund 800.000 vertriebenen Juden aus<br />

der arabischen Welt. Die Polen brachten<br />

ihr Arme-Leute-Essen mit: „Ge fil te<br />

Fisch“. Mit Haut und Gräten durch<br />

den Fleischwolf zerkleinerter Karpfen<br />

wird zu einem flachen Knödel ge kocht<br />

und mit einer Karottenscheibe verziert.<br />

Die Marokkaner brachten den<br />

traditionellen Cous-Cous mit. Wegen<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 11


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

des arabischen Boykotts gab es kein<br />

Coca-Cola. Am Kiosk trank man „Ga -<br />

sos“, einfaches Sodawasser. Man<br />

kochte auf einem „Primus“, einem<br />

Bunsenbrenner aus Messing. Dieselöl<br />

erzeugte unter Druck mit ohrenbetäubendem<br />

Krach große Hitze. Auf<br />

der Straße wurden weder Hamburger<br />

noch Pizza genossen. Diese Moden<br />

führten internationale Ketten erst in<br />

den 80er-Jahren ein. Eine israelische<br />

Variante nennt sich „MacDavid“. Man<br />

stillte den Hunger mit Falafel oder<br />

Humus, <strong>als</strong>o fettgebackene oder zur<br />

Paste zermampfte Kichererbsen, die<br />

Grundkost der arabischen Nachbarn<br />

und von den Palästinensern <strong>als</strong> „Na ti -<br />

o n<strong>als</strong>peise“ angepriesen.<br />

Falafel-Stand in Jerusalem, 1966<br />

© Israelimages/Kalman Givon<br />

Auch das tägliche Brot war einfach:<br />

Ein heits-Weiß- oder Graubrot und am<br />

Freitag die Challah, ein leicht gesüßtes<br />

Schabbatbrot. Brot war so übermäßig<br />

subventioniert, dass Bauern ihren Kühen<br />

lieber billiges Brot <strong>als</strong> teures Ge -<br />

treide zum Fraß vorwarfen. Ebenso<br />

beliebt war und ist die arabische Pita.<br />

Falafel Stand Tel Aviv/Jaffa, 2007<br />

© Israelimages/ Elyssa Frank<br />

Das aufgeschnittene Fladenbrot wird<br />

zur Tasche, in die man Gemüse, harte<br />

Eier, Büchsen-Sardinen oder Humus<br />

mit Tahini stopft. Heute kriegt man<br />

alles, vom Pumpernickel bis zum<br />

Din kelbrot.<br />

Obschon sich der biblische Lot mit<br />

Wein betrank, war Wein ungenießbar.<br />

Fromme Juden sprachen den Schab -<br />

bat-Segen über süßem gekochten<br />

Schab bat-Wein. Der Tischwein war<br />

noch schlechter <strong>als</strong> sein Ruf.<br />

Alles änderte sich 1977, <strong>als</strong> Premier minister<br />

Menachem Begin „Boat-Peo ple“<br />

aus Vietnam Asyl gewährte. Erste ostasiatische<br />

Restaurants öffneten den Israelis<br />

den Gaumen. Heute stehen über<br />

6.000 Asiaten hinter Su shi-The ken und<br />

Thai-Grills. Auf den Golan-Hö hen<br />

wurde guter Wein produziert, mit fran -<br />

zösischem Know-how. Die sündhaft<br />

teuren Golan-Weine mach ten dem un -<br />

trinkbaren Carmel-Wein Kon kur renz.<br />

Qualität hat ihren Preis und dank dem<br />

wirtschaftlichen Auf schwung waren<br />

die Israelis be reit, ihn zu zahlen.<br />

Heute gibt es hun der te „Bou tiken-<br />

Weine“ von Weltrang, in Frankreich<br />

mit Medaillen ausgezeichnet.<br />

Der aus Buchara stammende Chef -<br />

koch Israel Aahroni lernte Kochen in<br />

Taiwan und durchbrach das Koscher-<br />

Tabu. Das erste nicht-koschere Koch -<br />

buch in der Geschichte Israels wurde<br />

zu einem Riesenerfolg und trug er -<br />

heblich dazu bei, den kulinarischen<br />

Horizont der Israelis zu erweitern. Die<br />

Marokkaner besannen sich auf die<br />

ho he kulinarische Kunst ihrer Heimat<br />

und lockten ihre Volksgenossen aus<br />

aller Herren Ländern zum „<strong>Mai</strong> mu na“.<br />

Dieses ursprünglich rein marokkani-<br />

Humus-Platte (4 Meter Durchmesser)<br />

für das Guinness Buch der Rekorde<br />

© REUTERS/Ronen Zvulun<br />

12 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

sche Fest, bei dem es nur ums Essen<br />

ging, wurde von Jemeniten und Kur -<br />

den kopiert. In den 90er-Jahren<br />

strömte eine Million Russen ins Land.<br />

Die bereicherten Israels Küche mit<br />

Wod ka, Eingemachtem, Borsch tsch<br />

und Schwei nefleisch. Hinzu kamen<br />

Äthiopier. Sie brachten gesäuerte In -<br />

jee ra-Fladen mit und können mit märchenhaften<br />

Zutaten wie Hirse fachgerecht<br />

umgehen.<br />

Jene, die noch vor wenigen Jahren be -<br />

haupteten, dass es keine „israelische<br />

Kultur“ gebe, werden heute feststellen,<br />

dass sich die kulturelle Vielfalt<br />

rund um den Kochtopf nicht darauf<br />

be schränkt, zum „Italiener“, „Griechen“<br />

oder „Chinesen“ zu gehen,<br />

wäh rend es bei Muttern Haus manns -<br />

kost gibt. Das israelische Gemisch be -<br />

deutet, dass die Schwiegermutter An -<br />

deres kocht. Die Spitzenköche des<br />

Landes bringen ihre ganze Krea t i vi tät<br />

auf, um die Koschergesetze (kein<br />

Fleisch mit Milchprodukten, keine<br />

Mee resfrüchte) einzuhalten und dennoch<br />

Gourmet-Speisen zu schöpfen.<br />

Der Nahostkonflikt wird übrigens<br />

nicht mit dem Kochlöffel ausgetragen.<br />

Auf dem Höhepunkt der Intifa da er -<br />

schien ein hebräisches Kochbuch mit<br />

dem Titel: „Die Küche der Araber des<br />

Lan des Israel“. Gemeint sind, „politisch<br />

korrekt“, die „Palästinenser“. Alle Rezepte<br />

sind strikt „koscher“ ge hal ten<br />

und so für jeden (Juden) nachkoch bar.<br />

Deshalb fehlt das klassische „Zicklein<br />

in der Milch seiner Mutter“. ❐<br />

Einkaufen in Israel<br />

TEL AVIV<br />

* Markt: Der größte der Stadt heißt Carmel<br />

Market und befindet sich im Viertel Kerem Ha tei -<br />

manim zwischen Al lenby Street und Hayar kon.<br />

* Arts and Crafts Fair: Unweit des Car mel<br />

Markts in der Nachalat Binya min Street verwan<br />

delt sich die Straße dienstags und donnerstags<br />

in eine Kunst- und Schmuck mei le.<br />

* Architektur und Design: Bauhaus-Cen ter,<br />

Dizengoff Street 99, www.bauhauscenter.com<br />

* Shoppingcenter: Dizengoff Center in der Di -<br />

zen goff Street/Ecke King Ge or ge Street, Gan<br />

Ha'ir in der Ibn Givrol Street 71. Beide Center<br />

bis 24 Uhr geöffnet.<br />

* Einkaufsstraßen: Dizengoff und Ben Yehuda<br />

Street, die Szene kauft in der Shein kin Street,<br />

Nobelboutiquen sind in der Kikar Ha Medi na.<br />

* Diamanten: Börse in Ramat Gan<br />

JERUSALEM<br />

* Bazar: Altstadt, zwischen dem Damas kusund<br />

dem Jaffator<br />

* Schmuck: Michal Negrin, Malcha Mall 3.<br />

Stock, King Solomon Street 9 - u.v.a<br />

* Lebensmittelmarkt: In den Hallen von Makh -<br />

ne Yehuda beim Zentral-Bus bahn hof.<br />

HAIFA<br />

* Computer und Software: Sitz der Firmen<br />

Intel, Philips, Hewlett Packard<br />

* Bazar: Herzl-Straße und im Dru sen dorf Daliah<br />

* Einkaufszentren: Castra am Kongress zen -<br />

trum und Grand Canyon in Karmel Center.<br />

TIBERIAS<br />

* Diamanten/Edelsteine: Caprice, Tavor<br />

Street Achva, Tel. +972-(0)4-6700 600.<br />

* Kosmetik: Naturprodukte aus Olivenöl von<br />

Aya, Shop im The Scotts Hotel.<br />

EILAT<br />

* Shoppen bis Mitternacht: Kosmetik, Klei dung,<br />

Brillen, Sport, Schuhe und vieles mehr:<br />

Hayam am Strand.<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 13


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

Ist Israel wirklich<br />

so schlimm?<br />

Von Yair Lapid<br />

Wenn der Zustand des Bildungswe -<br />

sens hier so schlecht ist, die Hoch schulen<br />

sich in freiem Fall befinden und<br />

der Braindrain in vollem Gange ist, wie<br />

erklärt ihr die Tatsache, dass unser<br />

High-Tech-Sektor so erfolgreich ist,<br />

dass die Zahl der wissenschaftlichen<br />

Veröffentlichungen (ebenso wie die<br />

der Patente) pro Kopf die weltweit<br />

höch ste ist und wir das Disc-on-key<br />

und die Mobiltelefon-Textnachrich -<br />

ten erfunden haben?<br />

Wenn wir uns um nichts mehr kümmern<br />

und kein Interesse mehr an dem<br />

haben, was im Land passiert, wie er -<br />

klärt ihr die Tatsache, dass der Rabin-<br />

Platz sich fünfmal im Jahr mit De monstranten<br />

füllt, dass die Abendnach -<br />

richten die meistgesehenen Fernseh -<br />

sen dungen sind und die meisten<br />

Diskussionen sich hierzulande um<br />

Politik drehen?<br />

Wenn die Öffentlichkeit den Glauben<br />

an die Armee verloren hat, unsere ge -<br />

genseitige Verantwortung dahinschwin<br />

det und die Zahl der Wehr -<br />

dienst verweigerer in die Höhe schnellt,<br />

wie er klärt ihr die Tatsache, dass wir<br />

alle mit dem Schicksal unserer Ent -<br />

führten beschäftigt sind und dass die<br />

Rekrutierungsrunde der Armee gleich<br />

nach dem zweiten Libanonkrieg alle<br />

Rekorde gebrochen hat, nachdem sich<br />

70.8% der neuen Rekruten zu Kampf -<br />

einheiten gemeldet hatten?<br />

Wenn die Regierungskorruption allgegenwärtig<br />

ist und das Gesetz ein<br />

Scherz, wie er klärt ihr die Tatsache, dass<br />

der Sohn eines früheren Minis ter prä si -<br />

denten im Gefängnis sitzt, der frühere<br />

Arbeitsminister gerade we gen Be -<br />

stech lichkeit verurteilt wurde und unser<br />

Ministerpräsident ständigen Un -<br />

tersuchungen ausgesetzt ist?<br />

Wenn unsere Presse so dümmlich ge -<br />

wor den ist wie in Amerika, so sensati -<br />

onslüstern wie in England, so verant -<br />

wor tungslos wie in Italien, wie er klärt<br />

ihr die Tatsache, dass die Zeitungen<br />

letz te Woche alle Supermodels beiseite<br />

schoben für die Veröffentlichung des<br />

ersten Kapitels von David Grossmans<br />

neuem Buch?<br />

Wenn die Wirtschaft zusammenbricht,<br />

die Sorge um die Armen stetig<br />

zurückgeht und das Finanzminis te -<br />

rium von einer Bande Neokonser va ti -<br />

14 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

ver, die tun, was ihnen gefällt, übernommen<br />

worden ist, wie er klärt ihr die<br />

Tatsache, dass die Zahl der armen<br />

Israels schon das zweite Jahr in Folge<br />

zurückgeht, der Wisconsin-Plan eine<br />

Erfolgsgeschichte zu sein scheint und<br />

auch nicht eine einzige Person in der<br />

Geschichte unseres Landes an Hun -<br />

ger gestorben ist?<br />

Wenn jede ultraorthodoxe Familie zehn<br />

Kinder hat und immer mehr Leute re li -<br />

giös werden, wie er klärt ihr die Tat sa che,<br />

dass die Ultraorthodoxen weiterhin 8%<br />

der Bevölkerung darstellen, ge nau so<br />

viel wie zur Zeit der Staatsgrün dung?<br />

Wenn die russischen Neueinwan de rer<br />

sich nicht integrieren, lieber in ihren<br />

eigenen Ghettos leben, russische Zei -<br />

tungen lesen, russisches Fernsehen se -<br />

hen, in ihren eigenen Läden einkaufen,<br />

wie er klärt ihr die Tatsache, dass praktisch<br />

alle von ihnen Hebräisch gelernt<br />

haben, ihre Kinder in Massen der Ar -<br />

mee beitreten, dass etwa 80% von ih nen<br />

eine Eigentumswohnung besitzen<br />

(ein höherer Prozentsatz <strong>als</strong> bei der<br />

übrigen Bevölkerung) und sie keinerlei<br />

Absicht zeigen, nach Moskau zu rückzukehren?<br />

Wenn unsere Jugendlichen gewalttätig<br />

und gleichgültig sind, zu viel Alkohol<br />

trinken und sich nur darum kümmern,<br />

in Clubs zu gehen und sich ge -<br />

gen seitig abzustechen, wie er klärt ihr<br />

die Tatsache, dass knapp 250.000 Kin -<br />

der Mitglieder in Jugendgruppen sind<br />

und Zehntausende sich für ein soziales<br />

Jahr entscheiden oder sich sozialen<br />

Or ganisationen anschließen?<br />

Wenn unsere Einwanderungspolitik<br />

we gen der Last vor dem Kollaps steht,<br />

das Land wirt schaftsmi niste ri um Massen<br />

von Thai-Arbeitern hierher bringt,<br />

jeder alte Israeli eine philippinische<br />

Pflegerin hat und Tausende von Paläs<br />

tinensern jeden Tag zum Arbeiten<br />

hierher kommen, wie er klärt ihr die<br />

Tat sache, dass die Arbeitslosenrate im<br />

ersten Quartal auf 6.5% gesunken ist,<br />

ein Tiefststand seit 15 Jahren?<br />

Wenn unser Gesundheitssystem zu -<br />

sam menbricht, unsere Ärzte das Land<br />

verlassen und zusätzliche Kranken ver -<br />

sicherungen ein Vermögen kosten, wie<br />

er klärt ihr die Tatsache, dass unsere<br />

Staatsausgaben pro Kopf für die Ge -<br />

sundheit nur 7.8% des Brutto in lands -<br />

ein kommen betragen, etwa halb so viel<br />

wie in den USA und nur zwei Drittel<br />

des Anteils in Deutschland und Frankreich?<br />

Und wie er klärt ihr die Tatsache,<br />

dass die Lebenserwartung hier höher<br />

ist <strong>als</strong> in diesen Ländern.<br />

Wenn Präsident Bush der beste Freund<br />

ist, den Israel je hatte, Italiens Ber lus -<br />

coni erklärt, dass er pro-zionistisch<br />

ist, Frankreichs Sarkozy Holocaust-<br />

Stu di en an jeder Schule im Land einführen<br />

will, Deutschlands Angela<br />

Merkel die Unterstützung der Paläs -<br />

ti nensischen Autonomiebehörde eingestellt<br />

hat und uns in der Knesset er -<br />

zählt, wie sehr sie uns liebt, und Tony<br />

Blair sich selbst zum Friedens bot -<br />

schafter er nannt hat, wie er klärt ihr die<br />

Tatsache, dass wir das Gefühl haben,<br />

dass jeder uns hasst?<br />

Wenn unsere persönliche Sicherheit<br />

da hinschwindet, die Kriminalität an -<br />

schwillt und wir vor Angst ausgeraubt<br />

zu werden, nicht mehr das Haus verlas<br />

sen können, wie er klärt ihr die Tat sa -<br />

che, dass in einer äußerst weiten Um -<br />

frage 81% der Israelis gesagt haben,<br />

dass sie mit ihrer Nachbarschaft zu -<br />

frieden sind, und 75% gesagt gaben,<br />

dass sie sich „sicher fühlen, wenn sie<br />

nachts allein auf der Straße gehen“?<br />

Wenn die Mädchen hier einen schlech -<br />

ten Kleidergeschmack haben, jedes<br />

dritte Mädchen sich am Bauchnabel<br />

piercen lässt, die Hälfte von ihnen tä -<br />

towiert sind wie ein irischer Seemann<br />

und der Schweiß ihnen drei Minuten,<br />

nachdem sie aus dem Haus gegangen<br />

sind, ihr Make-up verwischt, wie er klärt<br />

ihr die Tatsache, dass jeder Tou rist,<br />

der hierher kommt, sofort er klärt, dass<br />

israelische Frauen die schönsten auf<br />

der ganzen Welt sind?<br />

Wenn wir zu einem Haufen unkultivierter<br />

Barbaren geworden sind, die<br />

auf der Straße schreien, fluchen, Ver -<br />

ach tung für die Akademie und die<br />

Künste zeigen und nur fernsehen, wie<br />

er klärt ihr die Tatsache, dass wir weltweit<br />

die Nummer eins sind, wenn es<br />

um Museen pro Kopf geht, Nummer<br />

zwei, wenn es um die Lektüre von Bü -<br />

chern geht, dass der Prozentsatz der<br />

Israelis, die ins Theater gehen (41%)<br />

doppelt so hoch ist wie der derjenigen,<br />

die zu Fußballspielen gehen und dass<br />

jeder vierte Israeli dieses Jahr ein<br />

klassisches Konzert besucht hat?<br />

Wenn wir so viel leiden, ein reduziertes<br />

Flugticket nur 240 Dollar kostet und<br />

Kanada uns gerne aufnimmt, wie er -<br />

klärt ihr die Tatsache, dass wir immer<br />

noch hier sind?<br />

Yedioth Ahronot<br />

ISRAEL : FAKTEN<br />

Unabhängigkeitstag:<br />

5. Ijar 5708 - 14. <strong>Mai</strong> 1948<br />

Staatsform: Parlamentarische Demokratie<br />

Hauptstadt: Jerusalem<br />

Sechs Verwaltungsbezirke<br />

Fläche: 22.145 km2<br />

Einwohner: 7.197.200<br />

Landessprachen: Hebräisch, Arabisch<br />

Geographie: Israel liegt an der Schnitt -<br />

stelle zwischen Europa, Asien und Afrika<br />

Klima: Gemäßigtes bis tropisches Klima<br />

Bevölkerung:<br />

Juden 5.469.872 (76%)<br />

Araber 1.439.440 (20%)<br />

Muslime 1.166.552 • Christen 152.688<br />

Drusen 120.200 • Andere 287.888 (4%)<br />

Flüchtlinge in Nahost: Der Staat Israel<br />

zähl te nach seiner Grün dung 1948 nur<br />

650.000 jüdische und 160.000 nicht jüdi -<br />

sche, größtenteils muslimische Ein woh -<br />

ner.<br />

Nach Angaben der UNO flohen infolge des<br />

Krieges 1948 etwa 750.000 Araber aus<br />

dem Gebiet, auf dem der Staat Israel im<br />

ehema ligen britischen Mandatsgebiet<br />

Paläs ti na entstanden ist. 54% dieser<br />

Flüchtlinge ha ben Palästina nie verlassen.<br />

Sie verschlug es ins dam<strong>als</strong> jordanisch<br />

besetzte Westjordanland und in den<br />

ägyptisch be setz ten Gaza strei fen, insgesamt<br />

470.000 Menschen – sie füllen bis<br />

heute die Flücht lings lager.<br />

75.000 Menschen, 10%, flohen nach Jor da -<br />

ni en, das bis 1921 ebenfalls Teil von Paläs -<br />

ti na war. Ins nicht-Palästinensische Exil,<br />

nach Liba non, Syrien, Irak und Ägypten<br />

flo hen die übrigen Flüchtlinge, wobei Li -<br />

ba non (100.000) und Syrien (75.000) die<br />

Hauptlast trugen. Die UNO zählt mit den<br />

Nachkommen heute 3,7 Mio. registrierte<br />

und zusätzlich 1,5 Mio. nicht registrierte<br />

palästinensische Flücht linge.<br />

Bis 1972 gelangten nach UNO-Schät zun gen<br />

etwa 585.500 Juden aus der arabischen<br />

Welt nach Israel darunter 260.000 aus<br />

Marokko und etwa 130.000 aus Irak. In vie -<br />

len arabischen Ländern, darunter Libyen,<br />

Irak, und Li banon sind die teilweise 3000<br />

Jahre alten jü dischen Gemeinden ausgelöscht<br />

worden.<br />

Holocaust-Überlebende in Israel: 63<br />

Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

leben in Israel 260.000 Holocaust-Überlebende,<br />

darunter 9.000 aus nordafrikanischen<br />

Ländern. 18% von ihnen sind 85<br />

und älter, 17% sind 69 und jünger. 93%<br />

der Holo caust-Überlebenden sind vor<br />

1953 nach Is rael eingewandert.<br />

Schätzungen zu folge wird sich die Zahl<br />

der Holocaust-Überlebenden im Jahr<br />

2025 auf 45.000 belaufen.<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 15


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

Israels<br />

Frauen<br />

ums – tausenden von Frauen auf der<br />

ganzen Welt, darunter auch Palästi -<br />

nenserinnen, Bildungsmöglichkeiten<br />

zu eröffnen, die Gründung von Klein stunternehmen<br />

sowie Frauen in Füh -<br />

rungspositionen zu fördern.<br />

In den 60 Jahren seit seiner Grün dung,<br />

konnte Israel viele positive Schritte<br />

zur Verbesserung des Status der Frauen<br />

machen. In den verschiedens ten<br />

Bereichen des israelischen Le bens<br />

konnten sich die Frauen be haup ten –<br />

Politik, Wirtschaft, Bildung, in den<br />

häuslichen Bereichen oder auch im<br />

Militärwesen.<br />

cherin der Knesset; sowie 3. Dorit Bei -<br />

nisch, die Präsidenten des Obersten<br />

Gerichtshofs.<br />

... in der Arbeitswelt<br />

... in der Politik<br />

Alle Frauen in Israel, egal welcher<br />

Her kunft oder Religion, genießen<br />

um fassende Freiheiten, Rechte und<br />

Si cherheiten. Das Gesetz schützt sie<br />

vor Diskriminierung – so garantiert Is -<br />

ra els Unabhängigkeitserklärung „al len<br />

israelischen Bürgern Gleichheit in sozialen<br />

und politischen Rechten, ungeachtet<br />

ih rer Religion, ihrer Rasse oder ihres Ge -<br />

schlechts“.<br />

Drei Jahre nach Gründung des Staa -<br />

tes Israel 1948, verabschiedete man<br />

ein Gesetz, das den Frauen das Recht<br />

garantierte, in Würde zu leben, was<br />

auch die Gleichheit in den Bereichen<br />

Arbeit, Bildung, Gesundheit und So zi -<br />

alleistungen beinhaltet.<br />

Inzwischen setzt sich Israel für Pro -<br />

gramme ein, die den Status der Frau<br />

weltweit verbessern sollen. So gelang<br />

es zum Beispiel, durch ein Programm<br />

der Organisation „Mashav“ – einem<br />

Zentrum für internationale Koo pe ra -<br />

ti on des israelischen Außenminis te ri -<br />

Seit der Ausrufung des Staates Israel<br />

1948 waren Dut zen de Frauen in der<br />

Knesset, dem isra e lischen Par la ment,<br />

vertreten und nahmen verantwortungsvolle<br />

Po si tio nen ein: Zehn Mi -<br />

nis terinnen, darunter Israels erste<br />

(und weltweit die dritte) Pre mi er mi -<br />

nisterin Golda Meir, dienten in der<br />

Knes set.<br />

Israelische Araberinnen beteiligen<br />

sich aktiv am politischen Leben.<br />

Nadia Hilou war die zweite israelische<br />

Araberin in der Knesset, <strong>als</strong> sie ihren<br />

Posten im Jahr 2006 einnahm.<br />

Derzeit sind insgesamt 17 Frauen Mitglieder<br />

der Knesset. 34% der israelischen<br />

Richter sind Frauen.<br />

Die drei aktuell führenden Politi ke -<br />

rinnen in Israel sind: 1. Tzipi Livni, stellvertretende<br />

Regierungschefin und<br />

Außen ministerin; 2. Dalia Itzik, Spre -<br />

Das israelische Justizsystem schützt<br />

die Rechte der Frauen auf Chan cen -<br />

gleichheit im Berufsleben. Seit den<br />

1950ern steht den Israelinnen ein von<br />

der Sozialversicherung bezahlter Mutterschaftsurlaub<br />

zu, während der<br />

Schwan gerschaft sind die Frauen vor<br />

Entlassung geschützt und bekommen<br />

erschwingliche Kin derbetreuungs möglichkeiten<br />

zur Verfügung gestellt.<br />

Im Jahr 1964 wurde schließlich auch<br />

die Gleichheit der Löhne von Män nern<br />

und Frauen im Gesetz verankert, auch<br />

wenn die Realität leider noch immer<br />

anders aussieht.<br />

Zahlreiche Top-Unternehmen werden<br />

von Frauen geleitet, darunter zum<br />

Beispiel Dalia Narkiss, die General di -<br />

rek torin von Manpower in Israel, oder<br />

Galia Maor von der Bank Leumi.<br />

Regierungs- oder auch regierungsunabhängige<br />

Initiativen kämpfen unermüdlich<br />

für die vollständige Gleich -<br />

stellung der Frau. Unter anderem<br />

konnten folgende Punkte inzwischen<br />

durchgesetzt werden:<br />

❚Das Gesetz zur Angleichung des<br />

Ren tenalters von Männern und Frau -<br />

en 1987 sowie das Gesetz für gleiche<br />

Ar beitsbedingungen 1988.<br />

❚Drei Monate bezahlter und gesetzlich<br />

garantierter Mutterschaftsurlaub<br />

für alle Frauen.<br />

❚Zusätze zum Gleichberechtigungs -<br />

ge setz im Jahr 2000, das den Einsatz<br />

von Frauen in allen öffentlichen Äm -<br />

tern vorsieht.<br />

In der nationalen israelischen Ge werkschaftsbewegung<br />

(Histadrut) sind<br />

16 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

Frauen in allen Bereichen präsent. Ei ne<br />

dort verabschiedete Resolution be sagt,<br />

dass mindestens 30% der Ge werkschafts<br />

führungskräfte Frauen sein<br />

müssen.<br />

Außerdem hat Israels Handels- und<br />

Industrieministerium eine Initiative<br />

gestartet, die Frauen zur Gründung<br />

von Klein- und Mittelbetrieben ermutigen<br />

soll. So konnten Beduinen frau en<br />

bereits kleine Geschäftszweige eröffnen,<br />

während das Ministerium sie mit<br />

den dazu nötigen Planungs- und Marketingwerkzeugen<br />

ausstattete. Das<br />

Ne gev Institut für Strategie und Ent -<br />

wick lung startete ebenfalls ein Pro jekt<br />

im Süden Israels, das den Bedui nen -<br />

frauen Berufsausbil dungsmöglich kei -<br />

ten sowie Unternehmens- und Mana -<br />

gementtrainings in Kombination mit<br />

finanziellem Support und Beratungs -<br />

tätigkeiten zur Verfügung stellt.<br />

... in den Schulen<br />

rek toren bei frauenrelevanten The -<br />

men unterstützt und beraten.<br />

Es gibt eine große Anzahl an Initia ti -<br />

ven, die Frauen zum Enga ge ment in<br />

jenen Bereichen ermutigen sollen, in<br />

denen diese traditionell unterrepräsentiert<br />

sind, wie zum Beispiel in der<br />

Wissenschaft. Das renommierte Weiz -<br />

mann Institut für Wissenschaft er -<br />

schuf hierzu ein nationales Pro gramm<br />

mit der Bezeichnung „Frauen in der<br />

Wissenschaft“, das junge Wissenschaf -<br />

te rinnen mit ausgezeichneten Studi enabschlüssen<br />

an verschiedenen israelischen<br />

Universitäten und akademischen<br />

Institutionen zwei Jahre hindurch mit<br />

einem Stipendium über jährlich US$<br />

20.000,- fördert.<br />

Überdies gründete das israelische Bil -<br />

dungsministerium den „Rat zur För de -<br />

rung von Frauen in Wissenschaft und<br />

Tech nologie“, der von einer Wissen -<br />

schaf terin geleitet wird.<br />

... im eigenen Heim<br />

❚Das Gesetz zur Verhinderung se xu -<br />

eller Belästigung, das hauptsächlich<br />

Übergriffe am Arbeitsplatz betrifft.<br />

❚Es gibt 13 staatliche Frauenhäuser in<br />

Israel, von denen zwei ausschließlich<br />

arabischen Frauen vorbehalten sind,<br />

und 50 Zentren für Vorbeugung von<br />

Ge walt gegen Frauen, in denen u.a.<br />

Rehabilitationsprogramme für ge walt -<br />

tätige Ehemänner abgehalten werden.<br />

❚Zusätzlich zum dreimonatigen Mut -<br />

terschaftsurlaub für alle Frauen, sieht<br />

das israelische Recht auch bezahlte<br />

Pflegeurlaube für Mütter von kranken<br />

Kindern vor.<br />

... beim Militär<br />

Das israelische Bildungssystem be -<br />

han delt Mädchen und Jungen völlig<br />

gleich. Es existieren keinerlei messbare<br />

Bildungsunterschiede zwischen den<br />

männlichen und weiblichen Schü lern<br />

in den Pflichtschulen.<br />

Im Jahr 2001 verzeichneten die weiblichen<br />

Universitätsabgängerinnen 57%<br />

aller akademischen Grade für sich; von<br />

den Doktoranden waren 46% weib lich.<br />

Das israelische Bildungsministerium<br />

verfolgt einen Grundsatz zur Ge -<br />

schlech tergleichstellung, die von<br />

Schu len fordert, Chancengleichheit<br />

für beide Geschlechter zur Verfügung<br />

zu stellen und zu fördern, Programme<br />

zur Förderdung einer Kultur der Ge -<br />

schlechtergleichstellung zu schaffen<br />

so wie ein Klima des Respekts, des<br />

Wachs tums und der Zuversicht in Geschlechterfragen<br />

aufrecht zu erhalten.<br />

Israels Universitäten und Colleges<br />

ha ben Komitees geschaffen, die den<br />

Fortschritt der Frauenfragen beobachten<br />

und dokumentieren sollen;<br />

außerdem werden die Universi täts di -<br />

©Israelimages/I. Talby<br />

Die Hauptanliegen von Frauen in<br />

Israel beinhalten leider immer noch<br />

das Problem häuslicher Gewalt, der<br />

Verhütung oder Abtreibung sowie<br />

Gesundheitsthemen.<br />

Diesbezüglich erlassene Gesetze:<br />

❚Das Komitee für den Status der<br />

Frau en setzt sich für eine faire Rechts -<br />

sprechung bei den Themen Gleichstel -<br />

lung in der Arbeitswelt, Gewalt gegen<br />

Frauen, Wohlfahrt, Gesund heits we sen<br />

und Fortpflanzung ein.<br />

❚Die Behörde für Frauenförderung<br />

über wacht und koordiniert die Akti vitäten<br />

von Regierung und regionalen<br />

Institutionen in Bezug auf den Status<br />

der Frau. Überdies unterstützt sie die<br />

Gesetzgebung und berät die Regie rung<br />

bei der Durchsetzung von Gesetzen,<br />

die sich auf die Verbesserung des<br />

Frau enstatus beziehen.<br />

❚Das Gesetz zur Verhinderung häusli<br />

cher Gewalt ermöglicht es den Op -<br />

fern, einstweilige Verfügungen gegen<br />

gewalttätige Partner ausstellen zu<br />

lassen.<br />

Der Militärdienst in Israel wird <strong>als</strong><br />

der „große Gleichmacher“ der Ge -<br />

schlech ter angesehen. Das Gesetz von<br />

1953 sieht eine Wehrpflicht für Män -<br />

ner und Frauen über 18 Jahren vor.<br />

Im Moment müssen Männer drei Jah -<br />

re und Frauen zwei Jahre absolvieren.<br />

Beim israelischen Militär hat sich in<br />

den letzten Jahren viel zum Vorteil für<br />

die Frauen verändert, zum Beispiel:<br />

❚Noch vor etwa drei Jahren standen<br />

60% aller Berufswege beim Militär auch<br />

für Frauen offen. Inzwischen sind es<br />

beinahe 80%.<br />

❚Noch vor weniger <strong>als</strong> 10 Jahren ar -<br />

beiteten ungefähr 40% aller weibli chen<br />

Soldaten <strong>als</strong> Bürokräfte; heute sind es<br />

nur noch 20%.<br />

❚1999 wurde es durch einen Be schluss<br />

des Obersten Gerichtshof für Frauen<br />

möglich, eine Karriere <strong>als</strong> Luftwaf fenpilotin<br />

oder Navigatorin anzustreben.<br />

2001 brachte die Luftwaffen aka demie<br />

dann auch ihre erste Pilotin hervor.<br />

Fast 26% der Offiziere bei den israelischen<br />

Streitkräften (IDF) sind Frauen.<br />

Quelle: theisraelproject.org/Übersetzung K. Fasching<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 17


1949: De-facto-Anerkennung des 1948 ge grün -<br />

deten Staates Israel durch Österreich. Überfüh<br />

rung der Gebeine Theo dor Herzls von <strong>Wien</strong><br />

nach Jeru salem.<br />

1950: Aufnahme konsularischer Bezie hun gen.<br />

1951/52: Verhandlungen über einen öster rei chi -<br />

schen Handelskredit in Höhe von ATS 100 Mio.;<br />

Österreich fordert <strong>als</strong> „Gegenleis tung“ den Verzicht<br />

Israels auf Re pa rationen. Die israelische<br />

Delegation gibt bei der Vertrags un ter zeichnung<br />

die Er klä rung ab, dass alle For de rungen an Ös -<br />

ter reich getilgt wären. In der UNO-General ver -<br />

samm lung stimmt Israel für die Be en di gung<br />

der alliier ten Okkupation Österreichs.<br />

1955: Israel erkennt die österreichische Neu tra -<br />

lität an.<br />

1956: Israel erhebt sein Generalkonsulat in <strong>Wien</strong><br />

in den Rang einer Gesandtschaft.<br />

1958: Unterzeichnung eines Handels vertra ges.<br />

1960: Herstellung vollwertiger diplomatischer<br />

Beziehungen und Austausch von Bot schaf tern.<br />

Österreich errichtet seine Bot schaft in Tel Aviv.<br />

1968 bis 1986: 270.199 Juden aus der Sow jet -<br />

union wandern über <strong>Wien</strong> aus.<br />

28. September 1973: Zwei arabische Terro ris -<br />

ten nehmen aus einem Zug mit jüdischen Aus -<br />

wanderern aus der UdSSR vier Geiseln. Bun -<br />

deskanzler Bruno Kreisky erreicht das un blu ti -<br />

ge Ende der Geiselnahme mit der Zu sa ge, das<br />

Durchgangslager Schönau in Nie derös ter reich<br />

schließen zu lassen. Israels Re gie rungs chefin<br />

Golda Meir fordert in <strong>Wien</strong> oh ne Erfolg die<br />

Rücknahme dieser Entschei dung.<br />

1974: Kreisky leitet im Auftrag der Sozialis ti -<br />

schen Internationale eine „Fact-Fin ding-Mis sion“<br />

im Nahen Osten und setzt sich für die Lösung<br />

des Palästinenser pro blems ein.<br />

1977: Nach der Wahlniederlage der israelischen<br />

Arbeiterpartei und der Regierungs über nah me<br />

der Rechten unter Minister prä sident Me na chem<br />

Begin verschärfen sich die verbalen Auseinan -<br />

der setzungen mit Kreisky. Zwischen 1977 und<br />

1982 finden keine offiziellen Besuche mehr statt.<br />

1980: Österreich erkennt <strong>als</strong> erster westli cher<br />

Staat die Palästinensische Befrei ungs orga ni sa -<br />

tion (PLO) unter Yasser Arafat an.<br />

1986: Nach der Wahl Kurt Waldheims zum Bun -<br />

despräsidenten und der internationalen De bat te<br />

über dessen Kriegsvergangenheit stuft Israel<br />

sei ne diplomatische Mission in <strong>Wien</strong> auf Ge -<br />

schäftsträgerebene herab.<br />

1992: Mit dem Ende von Waldheims Amts zeit<br />

und dem Regierungswechsel in Israel (Yitz hak<br />

Rabin von der Arbeitspartei wird Premier) tritt<br />

eine Entspannung ein. Die is raelische Regie rung<br />

entsendet wieder einen Botschafter nach <strong>Wien</strong>.<br />

1993: Bundeskanzler Franz Vranitzky legt in ei ner<br />

Rede an der Hebräischen Universi tät in Jeru sa -<br />

lem ein Bekenntnis zur österreichischen Verant -<br />

wortung für die Opfer des Na ti o nal sozialismus<br />

und deren Nachkommen ab.<br />

1994: Israel-Besuch von Bundespräsident Tho -<br />

mas Klestil.<br />

Februar 2000: Aus Protest gegen den Re gie -<br />

rungseintritt von Jörg Haiders FPÖ zieht Israel<br />

DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

Beziehungen Israel-Österreich<br />

seinen Botschafter „auf unbestimmte Zeit“<br />

aus <strong>Wien</strong> ab. Die Botschaft wird aberm<strong>als</strong> auf<br />

Geschäftsträgerebene herabgestuft. Österreich<br />

verzichtet auf Rezi pro zität und belässt<br />

seinen Botschafter in Tel Aviv.<br />

2001: Einigung bei Restitutions verhand lun gen<br />

für Opfer des NS-Regimes.<br />

<strong>Mai</strong> 2002: Kunststaatssekretär Franz Morak wird<br />

<strong>als</strong> erstes Mitglied der VP-FP-Bun des re gie rung<br />

zu einem Arbeitsbesuch nach Israel eingeladen.<br />

Juli 2003: Außenministerin Benita Ferrero-<br />

Waldner vereinbart in Jerusalem mit ihrem is -<br />

ra e lischen Amtskollegen Silvan Shalom, dass<br />

nach dreieinhalb Jahren wieder ein isra e lischer<br />

Botschafter nach <strong>Wien</strong> entsandt werden soll.<br />

21. Dezember 2003: Die israelische Regie rung<br />

bestätigt die Ernennung des bisherigen Ge -<br />

schäftsträgers Avraham Toledo zum Bot schaf ter.<br />

19. Oktober 2004: Als erster israelischer Prä -<br />

sident stattet Moshe Katzav Österreich ei nen<br />

Staatsbesuch ab.<br />

25. Juli 2006: Ein österreichischer UNO-Mi li tär -<br />

beobachter stirbt durch israelischen Ar tille rie be -<br />

schuss einer Beobachterstation im Südli ba non.<br />

Israel entschuldigt sich später für den „tragischen<br />

Unfall“, der auf einen Ko ordinationsfehler<br />

zurückzuführen gewesen sei.<br />

2. September 2007: Bundeskanzler Alfred Gu -<br />

sen bauer besucht Israel. Er spricht auch die mo -<br />

ralische Verantwortung Österreichs angesichts<br />

der an den Juden begangenen Verbrechen an:<br />

„Viele Täter des Holocaust waren Österreicher“.<br />

Quelle: APA<br />

„Österreich - ein Land jüdischen Schicks<strong>als</strong><br />

und jüdischer Schicksale“<br />

Außenministerin zu 60 Jahre Staat Israel<br />

„Wie kein anderer Staat wurde Israel von seinem Gründungstag an in Frage ge stellt<br />

und herausgefordert. Unter schwierigsten Be dingungen haben Generatio nen zwischen<br />

Galiläa und dem Negev beeindruckende Aufbauarbeit geleistet und das Land in vielen<br />

Bereichen zu Spitzenleis tun gen ge führt. Bei jedem Besuch hat mich Israel mit seinem<br />

kulturellen Reich tum, seinen Tradi tio nen und seiner Ge stal tungskraft beeindruckt",<br />

erklärte Außen ministerin Ur su la Plassnik zu dem am 8. <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong> be gangenen<br />

60. Jah restag der Gründung des Staates Israel.<br />

„Österreich war und bleibt ein Land jüdischen Schicks<strong>als</strong> und jüdischer Schick sa le. Es<br />

war der Österreicher Theodor Herzl, der die Vision einer ‘Heimstätte des jüdischen Vol -<br />

kes’ in Palästina im <strong>Wien</strong> der Jahr hun dertwende artikuliert hat. Vor 60 Jahren hat der<br />

Traum vom Staat der Ju den seine Ver wirklichung erfahren", so Plass nik wei ter. „Die<br />

Beziehungen zwischen Österreich und Israel tragen aber auch eine be sondere Last der<br />

Geschichte. Am ein zig ar tigen Ver brechen und Zivilisati ons bruch der Shoa und am Un -<br />

geist der Vertreibung des Geis ti gen haben auch viele Österreicher <strong>als</strong> Täter mitgewirkt.<br />

Un se re Beziehungen wa ren lange überschattet von den Verbrechen wäh rend der nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />

Schrec kens herr schaft, von der erst sehr spät anerkannten Verant wor -<br />

tung für Verfolgung, Ver trei bung und Er mordung österreichischer Juden in der Shoa."<br />

„In den letzten Jahren hat sich viel am Um gang mit unserer Geschichte geändert. Das<br />

aufrichtige Bekenntnis zur österreichischen Verantwortung für die Opfer des Na tio nal -<br />

so zialismus hat das österreichisch-israelische Miteinander positiv ver ändert. Damit be -<br />

gann ein neues Kapitel in unseren Bezie-hun gen. Heute verbinden uns eine ver trau ens -<br />

volle Partner schaft und eine belastba re Freund schaft“, unterstrich die Mi nis te rin.<br />

„Aus unserer Geschichte nehmen wir die Entschlossenheit zum ‘nie wieder’ mit. Heu te<br />

können wir - Israelis wie Österreicher - ge mei nsam in Freiheit an unserer Zukunft ar -<br />

bei ten. Wir wollen in Österreich, in Eu ro pa und in der Welt ein Zu sammenleben in<br />

Frie den. Von gegenseitiger Anerken nung, von Toleranz und Res pekt füreinander ge prägt.<br />

Das ist auch die zentrale Heraus for derung: Dieses neue Europa zum dauerhaften positiven<br />

Ge gen bild zur bittersten Er fah rung un se rer Ver gangenheit zu machen. Was <strong>als</strong><br />

eu ro päisches Friedensprojekt begonnen hat, muss im 21. Jahrhundert zu einem welt -<br />

wei ten Eckpfeiler des Friedens werden."<br />

"Heute leisten wir <strong>als</strong> Partner in der Eu ro pä ischen Union und in den Verein ten Na tio -<br />

nen unseren Beitrag auf dem Weg zu Frie den in Sicherheit für Israel, Pa lästina und die<br />

gesamte Region. Der Weg dorthin ist dornen voll. Er erfordert Mut, aber auch Ausdauer<br />

und Hart näckig keit. Eines ist klar: Nach haltiger Frieden ist nur auf Basis einer Zwei-<br />

Staaten-Lösung und bei vollem Respekt des Existenzrechts Israels möglich. Da von wird<br />

Österreich nicht abrücken", betonte Plass nik. "Es ist unsere Ver ant wortung <strong>als</strong> Nach bar<br />

und Freund, Isra e lis wie Palästinenser bei ihrer Friedenssuche nach Kräften hartnäc kig<br />

und solidarisch zu unterstützen. Die ser Verantwortung werden wir auch in Zu kunft<br />

nachkommen", so die Ministerin abschließend.<br />

18 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

Zum Jubiläum: Moschee in israelischen<br />

Nationalfarben<br />

Israelische Araber in Galiläa haben die Kuppel ihrer Moschee in Israels Natio -<br />

nal farben blau und weiß gestrichen. Damit wollen die Muslime ihre Solidarität<br />

an lässlich des 60-jährigen Bestehens des jüdischen Staates ausdrücken.<br />

„Wir sind Einwohner Israels“, zitierte die Zeitung ‘Ma´ariv’ den Bürgermeister<br />

der Ortschaft A-Taibeh, Hischam Suabi. „Unsere Religion fördert Liebe und Nähe<br />

unter den Nationen. Juden, Muslime - wir sind alle Cousins, stimmt's? Wir haben<br />

beschlossen, die Kuppel der Moschee, die für uns wichtigste, liebste und heiligste Stät te,<br />

in den Nationalfarben anzustreichen. Was uns betrifft, gibt es hier keinen Unterschied<br />

zwischen Juden, Muslimen und Christen.“<br />

Das arabische Dorf nordwestlich der Stadt Beit Schean hat etwa 2.000 Ein -<br />

wohner. Seine Moschee besteht seit vielen Jahrzehnten. Dem ‘Ma´ariv’-Bericht<br />

zufolge sagte Suabi, er befürchte infolge der Entscheidung keine Kritik oder<br />

Drohungen. Die Bewohner hofften vielmehr, dass sie zur Einigung von Ara -<br />

bern und Juden beitragen werde. „Das Ziel ist Reinigung und Koexistenz. Ein Jude,<br />

der die Moschee betritt, wird keine Feindschaft empfinden, sondern sich wie zu Hause<br />

fühlen.“<br />

Israelis sehen sich zuerst <strong>als</strong> Juden<br />

Die Mehrheit der jüdischen Israelis sieht sich in erster Linie <strong>als</strong> Jude<br />

und danach <strong>als</strong> Israeli. Das geht aus einer Umfrage des Israelischen<br />

Demokratischen Institutes hervor.<br />

Demnach gaben 47% der Befragten an, sich zuerst <strong>als</strong> jü disch zu<br />

sehen, 39% sehen sich vorrangig <strong>als</strong> Israelis. 94% der Befragten<br />

sehen sich zudem <strong>als</strong> Teil der weltweiten jüdischen Gemeinschaft.<br />

Vom arabischen Teil der Bevölkerung sehen sich 45% in ers ter Linie<br />

<strong>als</strong> Araber und 24% <strong>als</strong> Palästinenser. Zwölf Pro zent sehen sich vorrangig<br />

<strong>als</strong> Israelis.<br />

Die Geheimdienstabteilung der israelischen<br />

Armee hat sich zu Ehren Is ra els<br />

60-jährigen Bestehens etwas ganz be -<br />

sonderes ausgedacht und plant, der<br />

Öffentlichkeit die Türen zu öffnen<br />

und einen kleinen Einblick in die Ak -<br />

ti vi täten des militärischen Geheim -<br />

diens tes zu geben. In der Ausstellung<br />

soll durch ein Modell erklärt werden,<br />

wie die Hisbollah arbeitet und wie sie<br />

die libanesische Landschaft nutzt, um<br />

ihre Waffen zu verstecken. Es werden<br />

beispielsweise Abschussorte für Ra -<br />

ke ten gezeigt, von denen während des<br />

Zweiten Libanonkrieges Raketen auf<br />

Einblick in den Geheimdienst<br />

Israel gefeuert wurden. Zudem werden<br />

Waffen ausgestellt, die von palästinensischen<br />

und libanesischen Or ga nisa ti -<br />

o nen gegen Israel genutzt werden.<br />

Außerdem hat die Armee einen Mo -<br />

dell tunnel vorbereitet, der ähnlich de -<br />

nen ist, die von Terroristen an der<br />

israelisch-ägyptischen Grenze gebaut<br />

werden, um Waffen zu schmuggeln.<br />

Pa lästinenser können je nach Bo denverhältnissen<br />

bis zu 15 Metern am Tag<br />

graben. Die israelische Armee stand<br />

dieser Ausstellung erst skeptisch ge -<br />

genüber, rang sich aber dann durch,<br />

einen Teil auszustellen<br />

Schäferhund ist<br />

„israelischster Hund“<br />

Der „israelischste Hund“ ist laut ei -<br />

ner Umfrage unter Israelis ausgerechnet<br />

der deutsche Schäferhund.<br />

Mehr <strong>als</strong> 13% der Teilnehmer vertraten<br />

die An sicht, dass die deutsche<br />

Hunderasse den Staat Israel<br />

60 Jahre nach seiner Gründung am<br />

besten repräsentiere.<br />

Wie der Nachrichtensender ‘n-tv’<br />

auf seiner Website berichtet, belegte<br />

der Labrador mit 12,2% den 2. Platz.<br />

Ihm folgt der ebenfalls deutsche<br />

Berg pinscher (8,6%). Die nationale<br />

Hun derasse Israels, der Kanaan-<br />

Hund, erhielt hingegen nur 5,2%<br />

und teilt sich den 5. Platz mit dem<br />

Golden Re triever.<br />

Aus dem Hunderegister geht hervor,<br />

dass der Schäferhund in Israel auch<br />

der am meisten gehaltene Hund ist.<br />

„Der deutsche Schäferhund hat einen<br />

sehr stabilen Charakter, er greift nicht<br />

einfach oh ne Grund an“, sagte die<br />

Sprecherin der Hun de hal ter ver ei -<br />

ni gung, Limor Paldi. Mög licher -<br />

wei se hätten viele Men schen we gen<br />

der angespannten Si cher heits la ge<br />

Interesse an einem Wach hund.<br />

Dass die Rasse trotz der Vor liebe<br />

der Nazis für Schäferhunde in Is ra el<br />

so beliebt ist, kann Paldi nicht er klä -<br />

ren. „Wir von der zweiten und dritten<br />

Gene ra tion nach dem Holocaust sind<br />

uns der Geschichte sehr bewusst und<br />

ha ben all die Filme gesehen - aber trotz -<br />

dem gibt es hier so viele Schä fer hun de“,<br />

so Paldi. Insgesamt wurden 500 re -<br />

prä sentativ ausgesuchte Is ra e lis<br />

befragt. Anlass war neben den 60-<br />

Jahrfeiern eine in ter nationale Hun -<br />

de ausstellung.<br />

inn<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 19


DOSSIER • 60 JAHRE ISRAEL<br />

YISSAKHAR BEN-YAACOV:<br />

Ein Leben für Israel<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Rechtzeitig zum 60. Jahrestag der<br />

Staatsgründung Israels erschienen die<br />

Erinnerungen eines Diplomaten, dessen<br />

Lebensweg parallel auch die Ge schich te<br />

jenes Landes erzählt, dem er Jahr zehn te<br />

lang mit großer Begeis te rung und vollem<br />

Einsatz gedient hat. Yissak har Ben-<br />

Yaacov, der <strong>als</strong> Walter Bern hard Jacobson<br />

am 7. Dezember 1922 in eine Ham bur -<br />

ger Kauf manns fa milie hinein geboren<br />

wurde, ist eine gelungene Mischung aus<br />

einem sehr pflichtbewussten Beamten<br />

der alten Schule und einem durchaus<br />

humorvollen, neugierigen Repräsen tan -<br />

ten Israels mit Bodenhaftung und wi derspruchsfreudigen<br />

Geist.<br />

Bevor er jedoch <strong>als</strong> Diplomat für den<br />

jungen Staat Israel im Konsulat in<br />

München (1948-1953) sowie in der Is ra -<br />

el-Mission in Köln (1956-1959) tätig<br />

werden konnte, erlebte er die Ent wur ze -<br />

lung aus seiner deutschen Heimat –<br />

und den Verlust seiner geliebten Wil -<br />

helm Busch-Bände. Sein Vater war <strong>als</strong><br />

Offizier im Ersten Weltkrieg verwundet<br />

worden und hatte sich offenbar ein gu -<br />

tes Sensorium für politische Um brüche<br />

bewahrt: Nachdem er Hitlers „Mein<br />

Kampf“ gelesen hatte und er lebte, wie<br />

Reichspräsident Paul von Hindenburg<br />

den Österreicher am 30. Ja nuar 1933<br />

zum Reichskanzler er nannte, fuhr<br />

Vater Jacobson am nächsten Tag nach<br />

Berlin, um Einwan de rungszertifikate<br />

für die ganze Familie zu beantragen.<br />

Da er aber weder die nötigen 1.000 britischen<br />

Pfund Ster ling noch einen<br />

Hand werkerberuf <strong>als</strong> Bedingung der<br />

„Jewish Agency for Palestine“ vorweisen<br />

konnte, handelte Salomon Jacobson<br />

einen Kompromiss aus: Er bot an, ei nen<br />

Schnellkurs für Gebrauchsgrafik zu ab -<br />

solvieren, um so die ersehnten Zerti fi -<br />

ka ten zu er langen. „Drei Monate lang<br />

wurde in un serem Wohnzimmer jede Nacht<br />

– außer am Schabbat - eifrig gezeichnet“,<br />

er in nert sich Yissakhar Ben-Yaacov in<br />

seiner Autobiographie. Denn auch vie le<br />

Jah re später, <strong>als</strong> Konsul in Philadelphia<br />

(1964-1969) und Botschafter in Ni ge ria<br />

(1969-1973) in Österreich (1979-1983)<br />

und in Australien (1983-1987) bemühte<br />

sich der Hamburger, die religiösen Vor -<br />

schriften einzuhalten. Köstlich be -<br />

schreibt Ben-Yaacov, wie er in La gos be -<br />

müht war, ein Huhn selbst nach rituellen<br />

Vorschriften zu schächten.<br />

Als Elfjähriger hatte Yissakhar Ben-<br />

Yaacov mit zwei Geschwistern sein<br />

Kind heitsparadies verlassen, und mit<br />

26 Jahren kam er mit einer Delegation<br />

der Jewish Agency nach Deutschland<br />

zurück. In den Displaced Persons-Camps<br />

in der amerikanischen, britischen und<br />

französischen Besatzungszone sollte er<br />

auf Wunsch der Arbeiterpartei (Ma pai)<br />

den Überlebenden der Shoah hel fen<br />

nach Palästina auszuwandern.<br />

Seine Begeisterung über diesen Auf trag<br />

hielt sich zuerst in Grenzen, da er schon<br />

einer Einheit der Hagana (ge gründet <strong>als</strong><br />

Schutztruppe für die Be wohner der<br />

Kib butzim, wurden die Kämpfer später<br />

in die reguläre israelische Armee integriert)<br />

zugeteilt wor den war. Doch in<br />

München angekommen erkannte er, wie<br />

wichtig die se Aufgabe war. Mit Weh -<br />

mut be schreibt er, wie er die Aus ru fung<br />

des neuen Staates am 14. <strong>Mai</strong> 1948 da -<br />

her nur am Radio mitverfolgen konn te.<br />

Der Karrierediplomat, der seine<br />

Dien ste für den Staat Israel nie <strong>als</strong> Be ruf<br />

verstand, sondern immer <strong>als</strong> Beru fung<br />

mit dem Ziel des friedlichen Zu sam -<br />

men lebens in der Region, arbeitete fünf<br />

Jahre (1974-1979) <strong>als</strong> außenpolitischer<br />

Berater des legendären, aus <strong>Wien</strong> stammenden<br />

Bürgermeisters von Jeru sa lem,<br />

Teddy Kollek. Auf Inter ven ti on von<br />

Kollek hatte ihn das Außenamt an die<br />

Stadt „verliehen“. Die Arbeit für Jeru -<br />

sa lem im In- und Ausland bereitete<br />

Ben-Yaacov große Freude und Genug -<br />

tu ung: Er traf nicht nur zahlreiche eu -<br />

ropäische Politiker wieder, sondern<br />

konnte auch seine guten Kontakte nach<br />

Afrika nutzen und wie derbeleben.<br />

Große Verdienste hatte sich Ben-Yaa -<br />

cov <strong>als</strong> Vertrauter von Pre mierminister<br />

Golda Meir im Aufbau der israelischen<br />

Entwicklungshilfe am schwarzen Kon -<br />

tinent erworben.<br />

Bewährungsprobe:<br />

<strong>Wien</strong> in der Kreisky-Ära<br />

Eine Verstimmung zwischen Jeru sa -<br />

lem und <strong>Wien</strong> überschattete den Amts -<br />

antritt des israelischen Emissärs im<br />

Jahre 1979 in Österreich. Die „his to ri -<br />

sche Umarmung“ Bruno Kreiskys und<br />

des PLO-Chefs Yassir Arafat verärgerte<br />

nicht nur Ministerpräsident Menachem<br />

Begin in Jerusalem. Doch Yissakhar<br />

Ben-Yaacov ließ sich nicht ent mutigen<br />

und webte emsig am wich tigen Bezie -<br />

hungsgeflecht zu Kanzler Kreisky. Er<br />

fand viel Unterstützung bei Außen minis<br />

ter Willibald Pahr, In nen mi nister<br />

Erwin Lanc, Verteidigungs mi nister Otto<br />

Rösch und hohen Be amten am Ballhaus<br />

platz.<br />

„Gerechterweise muss man feststellen,<br />

dass Kreisky für sein Land und sein Volk<br />

ein Segen war“, schreibt Ben-Yaacov in<br />

der Einschätzung seiner <strong>Wien</strong>er Zeit<br />

und vergisst nicht, auf die Verdienste<br />

des Kanzlers hinzuweisen: auf die Hil fe<br />

bei der Massenaus wan derung von be -<br />

drängten Juden aus der Sowjet union<br />

und dass „Kreisky ungeachtet seiner Ha l -<br />

tung zum israelisch-arabischen Kon flikt,<br />

seiner Sympathien für die da m<strong>als</strong> terroris -<br />

tisch aktive PLO, einige Male bereit war,<br />

sich für die Befreiung israelischer Soldaten,<br />

die von der PLO gefangen gehalten wurden,<br />

einzusetzen“.<br />

Wollte sich der gestresste Bot schaf ter<br />

erholen, so schaffte er dies am bes ten in<br />

der <strong>Wien</strong>er Staatsoper, wo er mit seiner<br />

Frau Priva von einzigartigen Er leb nis sen<br />

berichtet. „Ben-Yaacov ist effi zient, nüchtern,<br />

der beste Dolmetsch, den sich sein Land<br />

an einem Platz wie <strong>Wien</strong> wünschen kann.“<br />

Mit diesen Wor ten gratulierte ‘Die<br />

Pres se’ dem is r a e li schen Diplomaten<br />

zum 60. Ge burts tag.<br />

Trotz großer Detailgenauigkeit, we nig<br />

relevanten Alltagsberichten und der<br />

Auf listung von Namen, die vielen Le -<br />

sern nicht geläufig sein können, bleibt<br />

die Lebensgeschichte dieses 85-jährigen<br />

Pioniers des jüdischen Staa tes, interessant<br />

und informativ. Auch den entbehrungsreichen<br />

Fünfzi ger jah ren in Jeru salem<br />

kann er Positives abgewinnen: „Unser<br />

Essen bestand oft aus Kar tof fel purée<br />

mit selbst eingelegten Gurken und einer<br />

Orange zum Nach tisch und wir waren zu -<br />

frieden. Wir hatten nicht das Gefühl, dass<br />

uns etwas fehlt.“<br />

*Yissakhar Ben-Yaacov<br />

„Leben für Israel, Erinnerungen<br />

eines Diplomaten“.<br />

Hoffmann und Campe Verlag, 2007<br />

20 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


Schwerpunkt 1938/<strong>2008</strong><br />

Mit der Reichsbahn<br />

in den Tod<br />

Oder: Wie die Juden in die Konzentrationslager gelangten<br />

von L. Joseph Heid<br />

An dem monströsen Verbrechen<br />

des Holocaust waren viele Tausende<br />

be teiligt und es war ein arbeitsteiliges<br />

Mord projekt. An vorderster Front die -<br />

ses Großverbrechens stand die Deut -<br />

sche Reichsbahn, und diese hatte ei -<br />

nen Namen – Spediteur war Dr. A l bert<br />

Ganzenmüller, Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium<br />

von 1942 bis<br />

1945, Technokrat des Todes. In seiner<br />

Verantwortung lagen die Todes spe di -<br />

tionen. Er war der Täter, der den SS-<br />

Schergen in den Kon zen trations la gern<br />

die Opfer zuführte. In seiner Zeit de -<br />

portierte das großdeutsche Eisenbahnsystem<br />

rund drei Mil li onen Ju den<br />

in die Vernichtungs lager.<br />

Das seit 1931 NSDAP- und SA-Mit -<br />

glied Ganzenmüller war alles andere<br />

<strong>als</strong> ein unpolitischer Logistiker. Seine<br />

Lebens- und Tätergeschichte ist ty -<br />

pisch und entsprach dem herrschenden<br />

Zeitgeist während des Natio nal -<br />

so zialismus – aber auch danach. Und<br />

die geht so:<br />

Während fast keine internen Do ku -<br />

mente der Reichsbahn aufgefunden<br />

worden sind, die ihre Rolle bei den<br />

Deportationen von Juden in die Ver -<br />

nichtungslager hinreichend deutlich<br />

ma chen, gibt es doch ein Fragment<br />

einer Korrespondenz vom Juli oder<br />

Au gust 1942 zwischen Ganzenmüller<br />

und Heinrich Himmlers Adjutanten<br />

Karl Wolff. Ganzenmüller hatte eine<br />

Meldung der Generaldirektion der Ost -<br />

bahnen an Wolff weitergeleitet, für die<br />

dieser sich im Namen Himmlers be -<br />

dankte. „Mit besonderer Freude“, so Wolff<br />

in seinem Schreiben, habe er die Bemühungen<br />

des Staatssekretärs zur Kenntnis<br />

genommen, regelmäßig Zü ge für die<br />

Deportationen des, so wörtlich, „aus -<br />

erwählten Volkes“ zur Verfügung zu<br />

stellen und zwar je einen Zug täglich<br />

für 5.000 Personen. Zielort: Treb linka.<br />

SS-Obergruppenführer Wolff mahn te<br />

den Parteigenossen Ganzenmüller, die -<br />

se „Bevölkerungsbewegung in einem<br />

beschleunigten Tempo“ durchzuführen.<br />

Die Nazis hatten es eilig, ihr Mord programm<br />

„reibungslos“ durchzuführen.<br />

Wolff schloss sein Dan kesschrei ben<br />

mit den Worten: „Ich danke Ihnen nochm<strong>als</strong><br />

für Ihre Bemühungen in dieser<br />

Angelegenheit und darf Sie gleichzeitig<br />

bitten, diesen Dingen auch weiterhin Ihre<br />

Beachtung zu schenken“. Und Gan zen -<br />

müller ließ sich nicht lange bitten – er<br />

kümmerte sich um die „Dinge“, wie<br />

die Deportationen in Technokraten kreisen<br />

euphemistisch bezeichnet wurden.<br />

Dass die Durchführung des Juden -<br />

mords nicht zuletzt von dem Engage -<br />

ment Ganzenmüllers bei der Be reit stellung<br />

von Transportmitteln ab hing,<br />

verdeutlicht auch ein Schreiben von<br />

Heinrich Himmler vom 20. Januar 1943,<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 21


Schwerpunkt 1938/<strong>2008</strong><br />

in dem der Reichsführer SS den „Ab -<br />

transport der Juden“ <strong>als</strong> vordringliche<br />

Aufgabe schildert und Ganzen -<br />

müller schließlich – trotz angespannter<br />

Transportlage – bat: Zitat: „Helfen Sie<br />

mit und verschaffen Sie mir mehr Züge“.<br />

Das tat der Angesprochene dann auch:<br />

Er ließ Räder rollen für den Sieg; es<br />

kam ihm bei den Deportationen auf<br />

jeden Wagen an.<br />

Als im Februar/März 1942 infolge<br />

der Witterungsunbilden der „Sonder -<br />

reisezugverkehr“ zum Stocken kam,<br />

lamentierte die Reichsbahndirektion<br />

<strong>Wien</strong> am 12. März 1942: „Durch die<br />

ausserordentlich ungünstigen Betriebs ver -<br />

hältnisse war der Sonderzugverkehr stark<br />

eingeschränkt. Die beabsichtigte Füh rung<br />

von Kinderzügen und Sonderzügen für<br />

Judenaussiedlung (sic!) wurde auf unbestimmte<br />

Zeit verschoben“. Judenaus -<br />

siedlung, welch ein verharnlosendes<br />

Synonym für die Verschleppung in<br />

den sicheren Tod.<br />

Millionen unschuldiger Menschen<br />

wurden unabhängig ihres Ge schlechts,<br />

ihres Alters, ihrer sozialen Herkunft, -<br />

Alte, Kranke, Kinder - quer durch Europa<br />

aus allen Himmelsrichtungen<br />

vom Atlantik, von Norwegen und aus<br />

Griechenland in blutroten Vieh wag -<br />

gons verfrachtet – und es gab immer<br />

nur ein Ziel: die Todeslager des Os -<br />

tens. Menschliches Treibgut. Und mitten<br />

im Krieg fuhren die Ganzen mül -<br />

lerschen Züge leer zurück. Selbst in<br />

Zei ten höchster Transportknapp heit,<br />

etwa im Winter 1942 während die<br />

Schlacht bei Stalingrad tobte, standen<br />

immer Züge für die Juden de porta tio -<br />

nen zur Verfügung, von Ganzenmüller<br />

freiwillig bereitgestellt. Das sagt viel<br />

aus über die tatsächli chen Absichten<br />

der Nazis, denen der Judenmord wich -<br />

tiger war <strong>als</strong> der „Endsieg“.<br />

In einem Rundschreiben wandte sich<br />

Ganzenmüller an die deutschen Ei senbahner<br />

und verpflichtete sie, die ge -<br />

for derten Leistungen in der gleichen<br />

Weise zu erfüllen wie die Front und<br />

packte sie an ihre Eisenbahnerehre mit<br />

den Worten: „Der Führer setzt großes<br />

Ver trauen in seine Eisenbahner. An uns<br />

liegt es, uns dieses großen Vertrauens wür -<br />

dig zu erweisen“.<br />

Irgend wann hat den Träger des gol -<br />

denen Parteiabzeichens mit der NS -<br />

DAP-Mitgliedsnummer 483 916 Al bert<br />

Ganzenmüller doch das Schick sal eingeholt.<br />

Doch vor Gericht litt er un ter<br />

ei nem phänomenalen Gedächt nis -<br />

schwund: Der frühere Staats sekre tär<br />

Ganzenmüller wollte mit ei nem Mal<br />

nichts davon gewusst haben, dass die<br />

Men schen in den Viehwag gons – „Nicht<br />

selten mit mehr <strong>als</strong> hundert Men schen<br />

beladen“, wie es in der An kla ge schrift<br />

heißt – in den sicheren Tod fuhren.<br />

© Free Software Foundation, Inc.<br />

Was die Zeitgenossen schon 1943<br />

tag täglich allenthalben hörten und<br />

wo rüber in den Kasernen makabere<br />

Witz kursierten, das soll angeblich nie<br />

zu ihm, dem Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium<br />

gedrungen sein?<br />

Millionenfacher Mord an den Juden?<br />

Nein, so etwas sei ihm gänzlich un -<br />

mög lich erschienen, behauptete Gan -<br />

zen müller vor Gericht.<br />

Ganzenmüllers Werdegang nach<br />

Kriegsende unterscheidet sich denn<br />

auch in nichts von dem anderer NS-<br />

Größen, die dank der Ignoranz der<br />

Besatzungsmächte zunächst untertauchen<br />

und später nach und nach<br />

wieder eine bürgerliche Existenz<br />

gründen konnten.<br />

Refugium in Argentinien<br />

Nach dem Krieg entkam Ganzen -<br />

müller nach Argentinien, einem unter<br />

hohen Nazis bevorzugten Refugium,<br />

wo er <strong>als</strong>bald wieder in seinem alten<br />

Me tier tätig war: <strong>als</strong> beratender Inge -<br />

nieur bei der argentinischen Staats -<br />

bahn. Doch während er es sich unter<br />

südamerikanischer Sonne gut gehen<br />

ließ, und niemand danach fragte, wie<br />

die Millionen Menschen in die Ver nichtungslager<br />

gekommen waren, dräng te<br />

es ihn, sich um seine Ruhe gelder <strong>als</strong><br />

ge wesener Staatssekretär zu kümmern.<br />

Ganzenmüller kehrte 1952 heim ins<br />

Reich. Doch er wollte kein Leben in<br />

Zurückgezogenheit verbringen, sondern<br />

die wiederaufblühende Bundes -<br />

republik zur Kasse bitten: Er klagte sei -<br />

ne Pension <strong>als</strong> Staatssekretär a.D. ein.<br />

Das westdeutsche Klima schien ihm<br />

zu gefallen. NS-Prozesse gab es da m<strong>als</strong><br />

so gut wie keine. Der exzellente Transportfachmann<br />

bewarb sich bei der<br />

Fir ma Hoesch in Dortmund. Am 1. Juli<br />

1952 trat er in die Dienste der Hoesch<br />

AG – wiederum <strong>als</strong> „Pla nungs inge nieur<br />

für Transportfragen“ – ein und<br />

betrieb <strong>als</strong>bald seine Aner ken nung<br />

<strong>als</strong> Unbelasteter.<br />

Am 1. April 1968 bei Hoesch pensio<br />

niert, zog sich Ganzenmüller dann<br />

in das beschauliche Hindelang ins<br />

All gäu zurück, wo ihn allerdings die<br />

Staatsanwälte der Zentr<strong>als</strong>tellen für die<br />

Bearbeitung von NS-Massenver bre -<br />

chen nie so recht zur Ruhe kommen<br />

ließen, bis sie ihn im Jahre 1970, da<br />

war er 65 Jahre alt, zum Prozess nach<br />

Düsseldorf zitierten. Und mit ihm<br />

stand endlich – und zum einzigen Mal<br />

- auch einmal das kalkulierende, planerische<br />

Element, der bürokratische<br />

Sockel des Juden- und Zigeuner -<br />

mords vor Gericht.<br />

Als die Staatsanwaltschaft in Düs sel -<br />

dorf im Jahre 1970 beim Landgericht<br />

beantragte, ein Verfahren gegen Gan -<br />

zenmüller zu eröffnen, unter der An -<br />

schul digung, „zu der von Hitler, Himmler<br />

und anderen NS-Staats- und Partei -<br />

funktionären im Rahmen der sogenannten<br />

‚Endlösung der Judenfrage’ vorsätzlich<br />

und aus niedrigen Beweggründen, zum<br />

Teil auch grausam begangenen Tötung<br />

mehrerer Millionen Juden [...] durch die<br />

Tat wissentlich Hilfe geleistet zu haben“,<br />

lehnte das Gericht einen Eröffnungs -<br />

be schluss ab und setzte Ganzen müller<br />

außer Verfolgung. Nein, ein Exzes s tä -<br />

ter, das war Ganzenmüller nicht. Sein<br />

Betätigungsfeld war der Schreibtisch!<br />

Die Beweismittel reichten nicht aus,<br />

um die Reichsbahn, die pausenlos bis<br />

22 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


Schwerpunkt 1938/<strong>2008</strong><br />

an die Rampen der Vernichtungslager<br />

fuhr, des Wissens vom Zweck der<br />

Trans porte zu überführen.<br />

Bei dieser geradezu grotesken Ent -<br />

scheidung wäre es vermutlich geblieben,<br />

hätten nicht drei Männer mit ei -<br />

nem feinen Gespür für Recht und Ge -<br />

rechtigkeit mit allem Nachdruck Wi -<br />

derspruch eingelegt. Es waren dies der<br />

Justizminister von Nordrhein-West -<br />

falen, Dr. Josef Neuberger, Ober staats -<br />

anwalt Alfred Spieß und Rechts an -<br />

walt Dr. Robert Kempner, dem ehemaligen<br />

Ankläger in den Nürnberger<br />

Prozessen. Sie setzten durch, dass die<br />

Hauptverhandlung gegen Ganzenmüller<br />

doch noch zugelassen wurde.<br />

Am 10. April 1973 wurde der Pro zess<br />

gegen Ganzenmüller in Düssel dorf er -<br />

öffnet. Zwölf Jahre war er mit telt, zweimal<br />

ein Verfahren abgewiesen worden,<br />

nun waren 119 Zeugen be nannt,<br />

mit deren Hilfe der Angeklag te überführt<br />

werden sollte. Die Anklage des<br />

Düsseldorfer Schwurgerichts ge-gen<br />

Dr. Albert Ganzenmüller lautete auf<br />

Beihilfe zum Mord an Menschen jüdischen<br />

Glaubens in mehr <strong>als</strong> einer<br />

Million Fällen.<br />

erfolgte überwiegend mit Güterzügen. In<br />

ihnen wurden die Juden derart zusam -<br />

mengedrängt, dass ihnen mit ihrer mitgeführten<br />

Habe jeweils nur wenige Qua drat -<br />

dezimeter zur Verfügung standen. Die<br />

Wag gons, nicht selten mit mehr <strong>als</strong> 100<br />

Menschen gefüllt, wurden regelmäßig<br />

verplombt. Ihre kleinen Fenster waren<br />

vergittert oder mit Stacheldraht versperrt.<br />

(...) Während der Fahrt erhielten sie durch -<br />

weg weder Getränke noch Nah rungs -<br />

mittel. Sie litten daher unter Hunger und<br />

Durst und waren im Sommer der Hitze<br />

und im Winter der Kälte ausgesetzt. Eine<br />

Toilette stand ihnen regelmäßig nicht zur<br />

Verfügung, so dass sie ihr Bedürfnis in<br />

den Wagen verrichten mussten. Diese Um -<br />

stände bewirkten, dass eine unbestimmte<br />

Anzahl von Juden, vor allem Kranke, Ge -<br />

brechliche und Kinder, schon auf dem<br />

Transport ums Leben kamen.“<br />

Während der Staatsanwalt die An kla -<br />

ge erschütternd eindringlich vortrug,<br />

herrschte im Düsseldorfer Gerichts saal<br />

eine geradezu gespenstische Stille.<br />

Kein Rascheln, Flüstern oder Tu scheln<br />

war zu hören. Auch das Gericht folgte<br />

den Worten des Anklägers mit ge -<br />

spann ter Aufmerksamkeit. Nur der<br />

Angeklagte selbst tat so, <strong>als</strong> ginge ihn<br />

das nichts an. Das von Mensurnarben<br />

verunzierte Gesicht zeigte keinerlei<br />

Bewegung. Der Mann im grauen An -<br />

zug machte eher den Eindruck eines<br />

gelangweilten Zuhörers.<br />

Der Vorsitzende Richter begann seine<br />

Vernehmung mit dem Satz: „Herr Dr.<br />

Ganzenmüller, was war Ihnen <strong>als</strong> Staats -<br />

sekretär über die Pläne und Absichten der<br />

Reichsregierung bekannt, die Angehö ri -<br />

gen der jüdischen Rasse(!) in Europa zu<br />

vernichten?“ Ganzenmüller darauf:<br />

„Ich hatte nie davon gehört, dass man die<br />

Juden vernichten will. Erst nach dem Krieg<br />

erfuhr ich es“.<br />

Im Mittelpunkt der Vernehmung<br />

stand Ganzenmüllers Korrespondenz<br />

mit Himmler: „5.000 Juden täglich be -<br />

deutete 35.000 pro Woche, im Monat rund<br />

150.000 <strong>als</strong>o!“, rechnete der Vor sit zen -<br />

de Richter vor. „Machten Sie sich keine<br />

Gedanken darüber, was die dort wohl<br />

sollten?“ „Ich sagte schon“, so Gan zen -<br />

müller darauf, „den Inhalt dieses<br />

Schreibens hatte ich innerlich und geistig<br />

nicht aufgenommen...“<br />

„Sie wollen <strong>als</strong>o behaupten“, so der<br />

Rich ter spitz, „dass Sie einen Geheim -<br />

brief an den Stab des Reichsführers SS,<br />

Himmler, an den zweithöchsten Mann<br />

<strong>als</strong>o im Dritten Reich, zwar unterschrieben,<br />

aber inhaltlich nicht zur Kenntnis<br />

genommen haben?“<br />

„Ja, so ist es. Der Brief ist [...] von mir<br />

lediglich [...] routinemäßig unterschrieben<br />

worden“.<br />

„Es war aber einer Ihrer Privatbogen“,<br />

stellte der Richter klar. „Wer konnte<br />

[...] wohl an Ihr Privatpapier kommen?“<br />

„Sie werden es vielleicht aus meinem Se -<br />

kretär geholt haben. [...] Also um derartige<br />

Kleinigkeiten habe ich mich wirklich nie<br />

gekümmert [...] und es war außer dem ja<br />

wirklich nicht leicht, all diese Zusam men -<br />

hänge zu durchschauen [...] ich meine,<br />

für mich <strong>als</strong> einfachen Staatsbürger“.<br />

Ein einfacher Staatsbürger<br />

In Düsseldorf stand der in der „Wolfsschanze“<br />

von Hitler persönlich zum<br />

Staatssekretär ernannte blonde, in -<br />

zwischen ergraute Prototyp der seiner -<br />

zeit ungemein gefragten nordischen<br />

Rasse mit seiner 1,86 Körper größe mit<br />

einem Mal ganz klein und wachsfigurengleich<br />

vor seinem weltlich Richter.<br />

In der Anklageschrift wurden Ein -<br />

zel heiten der Deportationen ausführt:<br />

„Im Zuge der Vernichtungs maß nah men<br />

wurden etwa drei Millionen Ju den,<br />

Männer, Frauen und Kinder, mit der Ei -<br />

sen bahn in Konzentrations- und Ver -<br />

nichtungslager gebracht und dort aus Ras -<br />

senhass überwiegend durch Verga sung<br />

getötet. (...) Die Deportation in die Lager<br />

Zug der Erinnerung, <strong>2008</strong> – Kerzen in Form von Bahngleisen zur Erinnerung an die Deportation<br />

von 11.000 jüdischen Kindern nach Auschwitz. Die Deutsche Reichsbahn schleuste drei Millionen<br />

Menschen aus ganz Europa über ihr Schienennetz in die Vernichtungslager des NS-Regimes.<br />

© EPA/Gero Breloer<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 23


Schwerpunkt 1938/<strong>2008</strong><br />

So nahm der Dialog zwischen dem<br />

Vorsitzenden Richter und dem ge -<br />

schmeidigen Angeklagten einen be -<br />

schämenden Verlauf. Für das, was sich<br />

im Düsseldorfer Schwurge richtssaal<br />

abspielte, kennt die deutsche Sprache<br />

gar keinen adäquaten Ausdruck und<br />

behilft sich mit dem Wort „Farce“.<br />

Vier Tage nach diesem Verhör hieß<br />

es dann: Ganzenmüller hat’s am Her -<br />

zen. Da erlitt der bis dahin kerngesunde<br />

Ganzenmüller einen Herzin -<br />

farkt. Das Verfahren wurde zunächst<br />

vorläufig und im März 1977 wegen<br />

„dau ernder Verhandlungsun fähig keit“<br />

endgültig eingestellt.<br />

Dank der selbstlosen Pflege Vieler<br />

konnte der Herzkranke bald die ers -<br />

ten Schritte in die Frühlingsluft des<br />

Jahres 1973 wagen. Es folgten kürzere<br />

Spaziergänge, schließlich die Heim -<br />

kehr in die Hauptstadt des Freistaats<br />

Bayern, nach München.<br />

Jahrzehntelanges Verschleppen, Ver -<br />

zögern und Verkomplizieren der<br />

Strafverfolgung rückten Mordan kla -<br />

gen, <strong>als</strong> sie nach 1960 zu guter Letzt<br />

kamen, an den Rand des Irrealen. Das<br />

Verlangen, einen friedfertigen 68-jährigen<br />

sein Wüten <strong>als</strong> 37jährigen sühnen<br />

zu lassen, ist nicht sehr intensiv.<br />

Der Angeklagte zerfällt in zwei verschiedene<br />

Personen, doch nicht nur<br />

des Alters wegen. Dauernd konstatierten<br />

die Gerichte ein psychologisches<br />

Rätsel, dass der gewissenlose<br />

Mordgehilfe sich in einen gesetzliebenden,<br />

lammfrommen Bürger verwandelt<br />

habe.<br />

Gute Geschäfte<br />

Mit den Juden-Transporten machte<br />

die Reichsbahn gute Geschäfte. In der<br />

Regel mussten die Opfer ihren Trans -<br />

port in die Vernichtungslager selbst<br />

zahlen. Veranschlagt wurden – entspre<br />

chend der dritten Wagenklasse –<br />

vier Pfennig pro Schienenkilometer.<br />

Kin der unter vier Jahren kosteten die<br />

Hälfte. Die Nazis waren gar keine<br />

Mör der – sie waren Raubmörder. Da -<br />

bei waren sie durchaus geschäfts tüchtig<br />

und konnten, wenn es um den Pro -<br />

fit ging, durchaus großzügig sein und<br />

ließ mit sich um den Fahr preis verhandeln.<br />

Sie schrieb die Reichs bahn -<br />

di rektion <strong>Wien</strong> an das Mi nis terium für<br />

Verkehr nach Bratislava (Press burg)<br />

im August 1942: „Die Ge ne raldirektion<br />

der Ostbahn (...) hat uns verständigt, dass<br />

auch sie auf ihren Strec ken eine 50%ige<br />

Fahrpreisermäßi gung für die Juden son -<br />

der züge aus der Slo wakei ge währt“.<br />

Über eine Bahnstrecke von über<br />

1.500 Kilometern wurden allein zwischen<br />

1942 und 1944 11.400 Kinder in<br />

Viehwagons von Paris nach Au schwitz<br />

deportiert. Die rund 52-stündige Rei se<br />

führte quer durch Deutschland in den<br />

Tod. An jedem dieser 11.000 Kin der<br />

verdiente die Deutsche Reichs bahn,<br />

deren Rechtsnachfolge rin nen die heutige<br />

Deutsche Bahn AG und die Ös -<br />

ter reichische Bundesbahn sind.<br />

Zug der Erinnerung<br />

Seit November 2007 fährt der „Zug<br />

der Erinnerung“ durch Deutschland,<br />

sucht nach Spuren zehntausender von<br />

den Nation<strong>als</strong>ozialisten verschleppter<br />

Kinder und ehrt die vergessenen Op -<br />

fer des NS-Systems: Kinder und Ju -<br />

gend liche, die mit der „Deutschen<br />

Reichs bahn“ in die Vernichtungslager<br />

transportiert wurden. Schätzungen<br />

spre chen von über einer Million. Es<br />

wa ren Kinder und Jugendliche aus<br />

fast sämtlichen europäischen Staaten.<br />

Nur wenige kehrten zurück.<br />

Die Deutsche Bahn AG verweigerte<br />

trotz nationaler und internationaler<br />

Pro teste lange, allzu lange, das Ge den -<br />

ken an die deportierten Kinder auf<br />

deut schen Bahnhöfen. Sie verweigerte<br />

eine Ausstellung, die auf Bahnhöfen in<br />

ganz Frankreich Tausenden von Rei -<br />

sen den zugänglich gemacht wur de.<br />

Die französische Staatsbahn stellte<br />

für die von der französischen Orga ni -<br />

sa ti on „Söhne und Töchter der jüdischen<br />

Deportierten Frankreichs“ konzipierte<br />

Ausstellung in sämtlichen<br />

Lan des teilen Stelltafeln und Flächen in<br />

den Bahn höfen bereit und im Pa ri ser<br />

Nord bahnhof hielt der Vor stands chef<br />

der französischen Bahn die Eröff -<br />

nungs re de.<br />

Ganz anders die Deutsche Bahn AG,<br />

die von ihrer Vorgängerin, der „Deut -<br />

schen Reichsbahn“, ein Mil li ar den -<br />

vermögen übernommen hat. Das bis<br />

heute bestehende Schienennetz wur -<br />

de über Jahre von Zwangs arbei tern<br />

und KZ-Häftlingen unterhalten und<br />

die Deutsche Bahn AG ist die Erbin<br />

dieser unbezahlten Arbeit sowie der<br />

Profite, die mit Transporten in die Ver -<br />

nichtungslager erzielt wurden. Die<br />

Verstrickung in den millionenfachen<br />

Judenmord beschweigt die Deut sche<br />

Bundesbahn in ihren An na len allerdings<br />

gern, dies darf man ge wiss Ge -<br />

schichtsvergessenheit nennen.<br />

Der Vorstandsvorsitzende der Deut -<br />

schen Bahn AG, Hartmut Meh dorn,<br />

mochte die Ausstellung auf deutschen<br />

Bahnhöfen nicht zeigen. Er hielt Bahn -<br />

höfe für dieses Thema für unangemessen.<br />

Dass diese Bilder die Shopping-<br />

Malls der Bahn stören, mag dabei auch<br />

24 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


Schwerpunkt 1938/<strong>2008</strong><br />

Ausstellung im Inneren des Zuges der Erinnerung: Bilder und Dokumente deportierter Kinder<br />

© REUTERS/Johannes Eisele<br />

eine Rolle gespielt haben. Und vor die -<br />

sem Hintergrund erklärte die Deut sche<br />

Bahn AG in einem Schreiben an Beate<br />

Klarsfeld, die mit ihrem Mann Serge<br />

die Ausstellung in Frankreich an geregt<br />

und durchgesetzt hat, der Bahn würden<br />

„sowohl die personellen <strong>als</strong> auch die<br />

finanziellen Res sourcen“ fehlen, „um ei ne<br />

Ausstellung wie in Frankreich in Bahn -<br />

höfen zu realisieren“. Ende 2006 lenk te<br />

die Bahn doch noch ein und tut in zwi -<br />

schen so, <strong>als</strong> hätte sie das Aus stel lungsprojekt<br />

von Anfang an un ter stützt.<br />

Unmoralisches Abkassieren<br />

Die „Deutsche Bahn AG“, historische<br />

Erbin der „Reichsbahn“, verlangt ho he<br />

Summen, damit der „Zug der Erin ne -<br />

rung“ das deutsche Schienennetz be -<br />

nutzen darf – das nennt man Trassen -<br />

gebühren.<br />

Für den Zugang zur Ausstellung<br />

über die deportierten Kinder auf den<br />

deutschen Bahnhöfen sollen weitere<br />

Gelder an die Bahn AG gezahlt werden<br />

– das nennt man Sta ti onsge büh -<br />

ren. Schließlich stellt die Deutsche<br />

Bahn AG tausende Euro für die Beleuchtung<br />

der letzten Fotos und Brie fe<br />

der Kinder in Rechnung, die im „Zug<br />

der Erinnerung“ zu sehen sind - das<br />

nennt man Anschlussgebühren.<br />

Die historischen Erben der staatli -<br />

chen Täter lehnen jede finanzielle Un -<br />

terstützung kategorisch ab. Und mit<br />

diesen maßlosen Finanzforderungen<br />

und die Verweigerung materieller<br />

Hil fe behindert die Deutsche Bahn AG<br />

das öffentliche Gedenken an die ju -<br />

gend lichen Opfer der „Reichs bahn“-<br />

Deportationen. Die Bahn-Rechnun -<br />

gen sollen nach dem Willen der Bahn<br />

AG aus den Spenden der Besucher<br />

finanziert werden. Alles in allem ein<br />

profitables Ge schäft, das sich die<br />

Bundesbahn un gern durch die Lap -<br />

pen gehen lässt. Man mag dieses Ge -<br />

baren zutiefst un mo ralisch nennen.<br />

Es ist wichtig, jüdische Kinder schicksale<br />

für ganz „normale“ Pas santen<br />

greif bar zu machen. Deshalb ist es gut,<br />

dass die Bahn-Ausstellung individuelle<br />

und lokalisierte Tafeln an den<br />

Anfang stellt. Nur so können Men -<br />

schen, die nicht ins Museum gehen,<br />

sondern zufällig an den Tafeln vorbeilaufen,<br />

für das ebenso belastende wie<br />

wichtige Thema interessiert werden.<br />

Nachdem die juristische Aufarbei -<br />

tung gescheitert ist, bleibt die öffentliche<br />

Auseinandersetzung mit der Rol le<br />

der Reichsbahn 1933 bzw. 1938 bis<br />

1945.<br />

Es würde der österreichischen Erin -<br />

nerungskultur gut zu Gesicht stehen,<br />

wenn sich in der Alpenrepublik eine<br />

Initiative entschließen könnte, dem<br />

französischen und deutschen Beispiel<br />

zu folgen und einen „Zug der Er in ne -<br />

rung“ auf die Reise schicken wür de,<br />

ohne die negativen Erfah rungen ge -<br />

genwärtigen zu müssen, die die deutschen<br />

Veranstalter gemacht haben.<br />

*<br />

Albert Ganzenmüller, spendabel<br />

und trinkfest bis zuletzt, starb im<br />

März 1996 friedlich in seinem Bett in<br />

seiner Münchener Wahlheimat, hochbetagt,<br />

91jährig. 23 Jahre hatte er nach<br />

dem eingestellten Düsseldorfer Pro -<br />

zess noch in Freiheit gelebt – 23 Jahre,<br />

die er <strong>als</strong> der Hauptorganisator der<br />

Sonderzüge in den Tod eigentlich hin -<br />

ter Gittern hätte verbringen sollen.<br />

Sein Herz, das ihm noch während des<br />

Düsseldorfer Verfahrens so schwer zu<br />

schaffen gemacht hatte, hatte sich<br />

nach dem Prozess rasch erholt. Die<br />

mehr <strong>als</strong> eine Millionen Menschen,<br />

die er durch seine Fahrpläne dem Tod<br />

überantwortete, hatten nicht die Mög -<br />

lichkeit, alt zu werden. Die Kinder un -<br />

ter diesen Opfern wurden un mit tel -<br />

bar nach der Ankunft in den Todes la -<br />

gern ins Gas gestoßen.<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 25


Schwerpunkt 1938/<strong>2008</strong><br />

Kranzniederlegung vor<br />

dem Denkmal der Opfer<br />

der Gestapo<br />

„Der März 1938 und<br />

die Folgen für die<br />

medizinische Fakultät“<br />

An die in Freiheit lebenden Ver bre -<br />

cher des NS-Regimes haben die Grü -<br />

nen bei ihrer Kranzniederlegung<br />

anlässlich des Jahrestages der Kapitulation<br />

Hitler-Deutschlands erin nert.<br />

„Es ist die letzte Chance, jetzt noch einmal<br />

Ernst zu machen und den noch le -<br />

ben den Tätern ein Gerichtsverfahren zu<br />

machen", so Justizsprecher Albert<br />

Steinhauer in seiner Rede vor dem<br />

Denkmal der Opfer der Gestapo.<br />

Drastisch beschrieb Steinhauser den<br />

Umgang mit Österreichs Nazi-Zeit<br />

nach Ende des Zweiten Weltkriegs:<br />

„Manchmal hat man das Gefühl, dass den<br />

Tätern der rote Teppich ausgerollt wurde<br />

und den Opfern Steine in den Weg gelegt<br />

wurden.“ Und weiter: „Der 8. <strong>Mai</strong> ist<br />

und muss ein Jubeltag sein." Das Da -<br />

tum sei auch Anlass, jedes Jahr Bilanz<br />

zu ziehen, was die Aufarbeitung der<br />

Nazi-Vergangenheit betrifft.<br />

Raimund Fastenbauer, Gener<strong>als</strong>e kre -<br />

tär der <strong>Israelitische</strong>n <strong>Kultusgemeinde</strong><br />

(IKG), ging in seiner Rede ebenfalls<br />

auf die „vielen unerledigten Dinge“ ein.<br />

„Österreich hat die dialektische Leistung<br />

vollbracht, sich <strong>als</strong> erstes Opfer Hitlers<br />

auszugeben und dadurch die echten Op er<br />

zu ignorieren“, brachte er es auf den<br />

Punkt.<br />

65 Prozent der <strong>Wien</strong>er Ärzte - das wa -<br />

ren 3.200 von rund 4.900 - mussten aus<br />

„rassischen“ oder politischen Grün -<br />

den ihren Beruf verlassen und wurden<br />

vertrieben bzw. später ermordet.<br />

Von den Professoren und Do zenten<br />

der Medizinischen Fakultät der Uni<br />

<strong>Wien</strong> mussten 54 Prozent ausscheiden.<br />

70 Jahre nach dem „An schluss“<br />

hat die heutige Medi zi ni sche Uni ver -<br />

sität <strong>Wien</strong> der Opfer des Na ti o nal so -<br />

zialismus gedacht und am Ge lände<br />

der MUW ein Mahnmal enthüllt.<br />

Das von Dvora Barzilai gestaltete<br />

Mahnmal erinnert in Form eines Bu -<br />

ches mit herausgerissenen Seiten an<br />

die Opfer. Das Buch symbolisiert für<br />

sie nicht nur das jüdische Volk, sondern<br />

auch die Wissenschaft, während<br />

die herausgerissenen Seiten „die Ver treibung<br />

einerseits und den Verlust von<br />

Wissen andererseits“ versinnbildlichen<br />

sollen.<br />

1938<br />

<strong>2008</strong><br />

"Die<br />

<strong>Wien</strong>er Staatsoper und<br />

der 'Anschluss' 1938:<br />

Opfer, Täter, Zuschauer."<br />

Ausstellung im Gustav-Mahler-Saal<br />

der <strong>Wien</strong>er Staatsoper.<br />

BIS 30. JUNI <strong>2008</strong><br />

26 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


Schwerpunkt 1938/<strong>2008</strong><br />

Edith Arlen-Wachtel:<br />

Mit dreizehn ausgetanzt<br />

DIE GESCHICHTE DER FAMILIE DICHTER AUS OTTAKRING<br />

von Marta S. Halpert<br />

Sie flirtet mit zwei Männern gleichzeitig:<br />

Edith Arlen-Wachtel ist klein,<br />

zart gebaut und 83 Jahre jung. Am<br />

Kaffeehaustisch hält sie die Hand ei nes<br />

feschen Dreißigjährigen und widmet<br />

gleichzeitig ihren schönsten blauen<br />

Augenaufschlag dem freundlichen<br />

Kellner im Café Engländer in <strong>Wien</strong>.<br />

„Es sind junge Österreicher, wie Hein -<br />

rich Schneider, die einem die bitteren<br />

Erinnerungen an diese Stadt verdrängen<br />

helfen“, sagt die Junggebliebene. Sie<br />

und ihr Bruder, der Musiker und<br />

Komponist Walter Arlen, verdanken<br />

einigen Historikern aus dem Burgen -<br />

land und dem umtriebigen SPÖ-Be -<br />

zirksrat und Jugendbeauftragten<br />

Schneider den Umstand, dass sie ihr<br />

Geburtshaus in der Brunnengasse 40,<br />

in <strong>Wien</strong> Ottakring noch vor dem endgültigen<br />

Abriss im Frühjahr 2007<br />

sehen konnten.<br />

Aufgefrischt wurden die Bezie hun -<br />

gen zwischen den in den USA lebenden<br />

Geschwistern und ihrer früheren<br />

Heimat durch Zufall im Jahr 2002. Bei<br />

Recherchearbeiten zum Buch „Ver -<br />

trie ben“ (Mandelbaum Verlag, 2005),<br />

Erinnerungen an burgenländische Ju -<br />

den und Jüdinnen, stießen Historiker<br />

auf die Lebensgeschichte der Familie<br />

Dichter, die in Sauerbrunn im Bur -<br />

gen land eine Villa besaß. Die Künst -<br />

lerin Eva Brunner-Szabo erfuhr während<br />

des Interviews mit Walter und Edith<br />

Arlen, dass ihnen das Warenhaus<br />

Dichter in <strong>Wien</strong> gehört hatte. Da rauf -<br />

hin wollte die Künstlerin das Ge bäu de<br />

filmisch dokumentieren. Brunner-<br />

Sza bo veranstaltete mit der Künstler -<br />

grup pe Grundstein im leer stehenden<br />

Haus temporäre Ausstellungen. Die se<br />

Initiativen brachten die Ge schwis ter<br />

wieder nach <strong>Wien</strong>.<br />

„Sie hat meine Hand nicht mehr ausgelassen“,<br />

erzählt Jungpolitiker Schnei -<br />

der, „es entstand eine innige Freund -<br />

schaft“. Die Idee für das Projekt<br />

„Begegnung von Kunst und Zeit ge -<br />

schichte im öffentlichen Raum“ mit<br />

den gebürtigen Ottakringer Zeitzeu -<br />

gen Walter Arlen und Edith Arlen-<br />

Wachtel war die alleinige Initiative<br />

Heinrich Schnei ders. Um die Benen -<br />

nung der Piazza am Yppenplatz im<br />

Gedenkjahr <strong>2008</strong> in „Edith Arlen-<br />

Wachtel und Walter Arlen Piazza“<br />

künst lerisch ge stalten und praktisch<br />

umsetzen zu kön nen, scheute er kei -<br />

ne Mühe. „Es war toll, dass nicht nur<br />

die Stadt <strong>Wien</strong> und der Nationalfonds<br />

mitgemacht ha ben. Sowohl zahlreiche<br />

Anrainer und Lokal-besitzer, <strong>als</strong> auch<br />

viele Ärzte aus dem Wilhelminenspital<br />

haben privat für unser Projekt gespendet,<br />

von 500 bis 1.500 Euro.“<br />

Das größte Warenhaus<br />

außerhalb des Gürtels<br />

Das Warenhaus Dichter wurde um<br />

1890 von Le o pold Dichter gegründet.<br />

Es war in den 1930er Jahren das größte<br />

Wa ren haus in <strong>Wien</strong> außerhalb des<br />

Gür tels. 1935 wurde es von Philipp<br />

Diamand stein, der ge meinsam mit Cle -<br />

mens Holzmeister ein Büro be trieb, im<br />

mo dernen Stil um gebaut. Bis zur<br />

Mach tergreifung der Natio nal so zi a listen<br />

wurde das Warenhaus <strong>als</strong> Kom -<br />

man dit gesell schaft und Familien be -<br />

trieb geführt. 1938 wurde es unter die<br />

kommissarische Verwaltung von Ar -<br />

thure Lohre gestellt und im No vem ber<br />

1938 vom Bankier Edmund Topo lans -<br />

ky arisiert. Er übernahm es um weniger<br />

<strong>als</strong> eines Drittels seines wahren Wer -<br />

tes: Aber selbst der Kauf preis wurde<br />

©M. Halpert<br />

nicht aus dem Eigenkapital Topolans -<br />

kys bezahlt, sondern aus den Er trä -<br />

gen des Kaufhauses. Das prosperierende<br />

Kaufhaus und das Firmenver -<br />

mö gen benutzte er bis 1949, um sein<br />

vor dem Konkurs stehendes Bank -<br />

haus zu sa nieren. Es gab ein Rückstellungs<br />

ver fahren in den Jahren<br />

1949-1951, bei dem ein anderer Ari -<br />

seur zum Zuge kam: Oskar Seiden -<br />

glanz, der selbst ein Geschäft im 20.<br />

Bezirk arisiert hat te, kaufte den jüdischen<br />

Besitz zu einem lächerlich geringen<br />

Preis. Unter dem Namen Osei,<br />

der Abkürzung des Na mens Oskar<br />

Sei denglanz, bestand das Geschäft<br />

am Brunnenmarkt bis 2004. Von 2005-<br />

2007 wurde es <strong>als</strong> Kunst raum ge -<br />

nutzt, und dort fanden vier Aus stel -<br />

lungen statt, darunter die letzte mit<br />

dem Titel „Sammlung Dichter“, die<br />

<strong>als</strong> Hommage an die Familie konzipiert<br />

war.<br />

Balletttänzerin und Buchhalterin<br />

Die Familie Dichter könnte man <strong>als</strong><br />

typisch bürgerliche jüdische Familie<br />

zu Beginn des 20. Jahrhunderts in<br />

<strong>Wien</strong> bezeichnen: Sie führten das<br />

Warenhaus <strong>als</strong> Familienbetrieb mit<br />

sechs Beteiligten, und in den oberen<br />

Stockwerken des Kaufhauses wohnten<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 27


Schwerpunkt 1938/<strong>2008</strong><br />

gleichzeitig auch einige Fa mi li en -<br />

mitglieder. Man war sehr an Kunst<br />

und Kultur interessiert, ging zu den<br />

hohen Feiertagen in die Synagoge,<br />

war aber ansonsten nicht besonders<br />

religiös. Den Kindern ließ man eine<br />

gute Erziehung angedeihen und är -<br />

mere auch entfernte Verwandte un -<br />

ter stützte man – so u.a. Ernest Dichter,<br />

den österreichischen Psychologen und<br />

Pionier der Marktpsychologie, der<br />

später in den USA <strong>als</strong> „Vater der Mo -<br />

tivforschung“ zu Weltruhm ge langt.<br />

„Unsere Großeltern und Eltern haben<br />

schon über dem Kaufhaus gelebt. Unsere<br />

Wohnung war im dritten Stock“. Zum<br />

ersten Mal schleicht sich leise Weh -<br />

mut in das zerfurchte aber schöne,<br />

und ausdrucksstarke Gesicht. Edith<br />

Arlen-Wachtel scheint die unbeschwerte<br />

Kaffeehausatmosphäre verlassen<br />

zu haben, sie ist gedanklich in<br />

die Vergangenheit abgedriftet. „Vier<br />

Mal in der Woche fuhr ich mit der<br />

Straßen bahn von Ottakring in die Bal lettschule<br />

der <strong>Wien</strong>er Staatsoper. Mit sieben<br />

Jahren wurde ich da schon <strong>als</strong> Elevin aufgenommen“.<br />

Der Stolz über diesen<br />

Erfolg ist trügerisch, die stahlblauen<br />

Augen verraten ihre tiefe Verletztheit.<br />

Mit nur dreizehn Jahren gehört sie<br />

schon zu den vertriebenen Ballett ele -<br />

vinnen der Oper.<br />

Da hilft weder die Ausbildung bei der<br />

Ballettlegende Grete Wiesenthal, noch<br />

die Empfehlung der Opernballerina<br />

Hedi Pfundmayr. 1935 trat Edith <strong>als</strong><br />

Zehn jährige noch bei der Welturaf -<br />

füh rung der Operette „Giuditta“ von<br />

Franz Léhar auf, bei der Richard Tau -<br />

ber und Jarmila Novotná mitwirkten.<br />

In einem Alter, wo die Tanzkarriere<br />

bei anderen erst anfängt, war sie bei<br />

Edith schon vorbei. 1925 kam sie <strong>als</strong><br />

Edith Aptowitzer, <strong>als</strong> Tochter von<br />

Mina, geborene Dichter und Michael<br />

Aptowitzer, in <strong>Wien</strong> zur Welt. Nach<br />

dem Einmarsch Hitlers 1938 und später<br />

in der Emigration hatte sie nie<br />

mehr die Gelegenheit, ihre Tanz kar -<br />

riere wieder aufzunehmen. Doch vorher<br />

musste sie noch durch die Hölle:<br />

Sie erlebte die Verhaftung ihres Vaters<br />

durch die SA und die Plün derung der<br />

elterlichen Wohnung. Ihrem Bruder<br />

gelang die Emigration Mitte März<br />

1939 nach Amerika, aber Edith muss te<br />

mit ihrer gesundheitlich angeschlagenen<br />

Mutter und der Groß mutter<br />

väterlicherseits in <strong>Wien</strong> zurückbleiben.<br />

Die Großmutter wur de 1942 in<br />

Theresienstadt ermordet. Ihr Vater<br />

Michael wurde zwar Mitte April 1938<br />

aus dem Gefängnis in der Karajan -<br />

gas se entlassen, aber kurze Zeit später<br />

auf der Straße bei einer Razzia wieder<br />

verhaftet und ins KZ Dachau und spä -<br />

ter nach Buchenwald verschleppt.<br />

„Mein Bruder hat fast täglich im<br />

Gestapo-Gebäude im „Hotel Metropol“<br />

vorge sprochen, um seine Entlassung zu<br />

errei chen“, erinnert sich Edith Arlen-<br />

Wachtel. Wegen einer Typhus-Qua rantäne<br />

wurde ihr Vater mit Verzö gerung<br />

aus Buchenwald entlassen, und sie<br />

konnten erst knapp vor Ab lauf der<br />

Ein reisebewilligung im <strong>Mai</strong> 1939 nach<br />

England entkommen. Kurze Zeit später<br />

wurde der Vater – so wie alle<br />

männlichen Flüchtlinge – <strong>als</strong> enemy<br />

alien auf der „Isle of Man“ interniert.<br />

Die jetzt 14jährige Edith blieb mit<br />

ihrer kranken Mutter wieder allein.<br />

©R.Engel<br />

Über Briefmarken zur Soziologie<br />

„Im ‘Austrian Club’ im Londonder<br />

Stadt teil Swiss Cottage begann ich <strong>als</strong><br />

Ste notypistin Geld zu verdienen, zu vor<br />

habe ich für ein Trinkgeld von einem Pfund<br />

in einem jüdischen Verein gearbeitet. Ich<br />

musste für uns sorgen, meine Mutter<br />

konnte nicht, und ich durfte ab 16 Jahren<br />

nicht mehr arbeiten.“ Aber Edith fand<br />

bald einen anderen Job: Sie begann<br />

<strong>als</strong> Buchhalterin für den ‘Daily Te le -<br />

graph’ tätig zu werden, wo sie in der<br />

Folge auch Übersetzungen aus dem<br />

Deutschen machte. Ihrem Vater, der<br />

nach fünf Monaten In ter nierung entlassen<br />

wurde, half sie gleichzeitig<br />

beim Aufbau seiner neu en Existenz.<br />

„Er wurde selbständiger Brief markenhän d-<br />

ler mit der Spezialisie rung auf Neuaus ga -<br />

ben und Ersttagskuverts. Ich habe da mitgeholfen,<br />

nebenbei machte ich in Abend -<br />

kursen die Matura. Als Beloh nung mietete<br />

mir mein Vater ein Klavier, und ich<br />

konnte wenigstens darauf Bal lettmusik<br />

üben.“ Während des Luft krieges<br />

wurde ihre Wohnung dreimal durch<br />

Bomben beschädigt. Erst 1946 erhielten<br />

sie Visa und Schiffskarten für<br />

Amerika, um mit der restlichen Fa -<br />

milie in Chicago wieder beisammen<br />

sein zu können.<br />

Obwohl Edith ihren B.A. in Chemie<br />

und Physik gemacht hatte, begann sie<br />

1950 nach Abschluss des Studiums<br />

der Sozialpsychologie an der Univer -<br />

si ty of Chicago <strong>als</strong> Sozialpsychologin<br />

zu arbeiten, sie konzentrierte sich auf<br />

die Erziehungswissenschaften. Sie<br />

lehrte an Privatuniversitäten und<br />

forsch te <strong>als</strong> freie Beraterin für die So -<br />

ci al Research Inc. Sie verfasste zahlrei -<br />

che Studien, darunter die erste über<br />

die Auswirkung des Fernsehens auf<br />

Kinder (Impact of Television in the lives<br />

of our children). 1970 heiratet Edith<br />

Arlen den Geschäftsmann Hans<br />

Wach tel, einen ebenfalls aus <strong>Wien</strong> ge -<br />

flüchteten Österreicher, der seit 1938<br />

in Lima lebte. Als die politische Si -<br />

tuation sich in Peru verschlechterte,<br />

übersiedelte das Paar 1976 nach Los<br />

Angeles, wo Hans Wachtel im Jahr<br />

1997 starb. Im gedämpft eleganten<br />

Teesalon hält Staatsoperndirektor Io an<br />

Ho lender gerade eine Presse kon fe renz<br />

zum Thema „Vertreibung aus der<br />

Oper 1938“ ab. Ergreifend und doch<br />

abstrakt bleiben die dramatisch-traurigen<br />

Lebensgeschichten der Künst ler,<br />

die verjagt wurden. Bis eine kleine,<br />

drahtige Frau aufsteht und sagt: „Mein<br />

Land hat mich rausgeworfen, ich war hier<br />

Balletttänzerin.“ Jetzt hat die<br />

Ausstellung ein Antlitz, einen Men -<br />

schen zu Angreifen.<br />

Temporäre Umbennung der Piazza<br />

am Yppenplatz (Kunstpro jekt „Säu -<br />

len der Erinnerung“) in „edith arlen<br />

wachtel und walter arlen piazza“<br />

28 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


Schwerpunkt 1938/<strong>2008</strong><br />

16. <strong>Mai</strong> 1938 –<br />

„Ausschulung“<br />

jüdischer Kinder<br />

aus <strong>Wien</strong>er<br />

Pflichtschulen<br />

von Herbert Exenberger<br />

Der 16. <strong>Mai</strong> 1938 ist ein einschneidendes<br />

Datum für die jüdische Be -<br />

völkerung <strong>Wien</strong>s, die nach dem so -<br />

genannten „Anschluss“ im März 1938<br />

pogromartigen Ausschreitungen des<br />

Nazimobs ausgesetzt war und deren<br />

Lebensraum systematisch ein ge engt<br />

wurde. An diesem Tag muss ten die<br />

jüdischen Mädchen und Knaben, die<br />

in <strong>Wien</strong>er Pflichtschulen dem Unter -<br />

richt folgten, ihre vertraute Schul at -<br />

mos phäre verlassen – sie wurden<br />

„ausgeschult“.<br />

Das „Amtsblatt der Stadt <strong>Wien</strong>“ gibt<br />

uns dazu folgende Auskunft: „Der<br />

Bür germeister der Stadt <strong>Wien</strong>, Dr. Ing.<br />

Neu bacher, hat angeordnet, dass die jüdischen<br />

Schüler an den <strong>Wien</strong>er Volks- und<br />

Hauptschulen sofort von den arischen<br />

Schü lern abzusondern und in eigenen<br />

Schu len zusammenzufassen sind. Eine<br />

gleichartige Weisung erging für die Fort -<br />

bildungsschulen <strong>Wien</strong>s.“ 1<br />

In <strong>Wien</strong> installierten die Nazis insgesamt<br />

14 jüdische Sammelschulen für<br />

Volks- und Hauptschüler mit 148<br />

Klas sen, in denen 5.992 jüdische Kin -<br />

der trotz Drangsalierungen, Verspot -<br />

tun gen und Angst dem Unterricht<br />

folgen sollten, im Durchschnitt mehr<br />

<strong>als</strong> 40 Kinder pro Klasse. 2<br />

Als Beispiel wähle ich eine Haupt -<br />

schule für Knaben und Mädchen aus<br />

der Brigittenau, Greiseneckergasse 29,<br />

aus der 52 Knaben und 61 Mädchen<br />

am 16. <strong>Mai</strong> 1938 „ausgeschult“ wurden.<br />

In der Schulchronik, der seit 4. Juli<br />

1937 unter einer gemeinsamen Lei tung<br />

stehenden Knaben- und Mäd chen-<br />

Hauptschule Greise necker gasse 29 3<br />

findet sich in der Eintragung vom 16.<br />

<strong>Mai</strong> 1938 über die betroffenen jü di -<br />

schen Kinder folgende Statistik und<br />

ein Kommentar: „Auszug der jüdischen<br />

Schüler und Schü lerinnen aus unserer<br />

Schule. Es mussten wandern:<br />

1. Klasse Knaben 12<br />

1. Klasse Mädchen 9<br />

2. Klasse Knaben 9<br />

2. Klasse Mädchen 8<br />

3. Klasse Knaben 14<br />

3. Klasse Mädchen 22<br />

4. Klasse Knaben 17<br />

4. Klasse Mädchen 22<br />

52<br />

und 61 = 113<br />

Ihre neue Schule ist im 9. Bezirk, Wäh ringerstraße<br />

43… Diese lang ersehnte Tren -<br />

nung ermöglicht es, dass unsere arischen<br />

Schüler eine Erziehung im neuen Geiste er -<br />

halten können. Un se re Schule zählt nun:<br />

134 Knaben und 126 Mädchen.“ 4<br />

Im Klartext sieht es so aus, dass<br />

30,3% der vor dem 16. <strong>Mai</strong> 1938 in die<br />

Hauptschule Greiseneckergasse 29 ge -<br />

henden Mädchen und Knaben „aus geschult“<br />

wurden. Die Mäd chen-Volks -<br />

schule Greiseneckergasse 29 mel dete<br />

am 16. <strong>Mai</strong> 1938 55 „nichtarische Schülerinnen“<br />

ab, die in die jüdische Sam -<br />

mel schule im 20. Bezirk, Ger har dus -<br />

gasse 7, gemeinsam mit anderen „aus -<br />

geschulten“ Knaben und Mäd chen<br />

der Volksschulen in der Bri git tenau<br />

und in Floridsdorf gehen mussten. 5<br />

Die Kinder der Hauptschule Grei -<br />

sen eckergasse 29 hatten in der Folge<br />

einen weiten Schulweg zur jüdischen<br />

Sammelschule im 9. Bezirk, Wäh rin -<br />

ger straße 43 zurückzulegen. In dieser<br />

Schule wurden jüdische Mädchen<br />

und Knaben aus den Bezirken 9, 18,<br />

19, und 20 zusammengepfercht. 6 Als<br />

Direktor der Schule wurde der frühere<br />

Bezirksschulinspektor Dr. Her mann<br />

Wiessner eingesetzt. 7<br />

Bereits nach der Wiederaufnahme<br />

des Unterrichts am 22. März 1938 nach<br />

dem sogenannten „Anschluss“ waren<br />

die jüdischen Schülerinnen und Schüler<br />

angsterfüllt. In der Schul chronik<br />

notierte der Direktor an diesem Tag:<br />

„Die jüdischen Schülerinnen zeigten am<br />

1. Schultage ein bedrücktes Wesen. Die ses<br />

schwand, <strong>als</strong> ihnen erklärt wurde, dass<br />

sie keinerlei Verfolgungen er dulden müss -<br />

ten. Wir wollen nur eine reinliche Schei -<br />

dung zwischen deutscher und jüdischer<br />

Nation. Die jüdischen Schüler waren wie<br />

immer sorglos und lustig.“ 8 Fast den glei -<br />

chen Wortlauf findet man am 22. März<br />

1938 in der Schulchronik der Knaben<br />

Volksschule Greisen ecker gas se 29:<br />

„Der normale Unterricht be ginnt wieder.<br />

Den jüdischen Schülern wurde erklärt,<br />

dass sie keine Verfolgung erdulden müssen,<br />

dass nur eine reinliche Scheidung zwischen<br />

arischen und jüdischen Kindern<br />

erfolgt. Die jüdischen Schü ler waren wie<br />

früher sorglos und lus tig.“ 9 Kurt Ro sen -<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 29


Schwerpunkt 1938/<strong>2008</strong><br />

kranz, der am 14. Se tem ber 1933 in<br />

die Volksschule Grei seneckergasse 29<br />

eintrat und am 6. Juli 1935 in die Volksschule<br />

im 20. Be zirk, Wasnergasse 35<br />

übersiedelte, musste ebenfalls <strong>als</strong><br />

„Aus geschulter“ von der Wohnung<br />

sei ner Eltern in der Rauscherstraße<br />

Nr. 6 die jüdische Sam melschule in<br />

der Währinger straße 43 besuchen. Er<br />

erinnert sich an seinen Schulbesuch:<br />

„Da musste ich jeden Tag zu Fuß in die<br />

Schule laufen. Es gab dam<strong>als</strong> Pferde wa -<br />

gen, die transportierten Bierfässer und<br />

hießen Fasslwagen, und wenn der Kut -<br />

scher nicht hinschaute, spran gen wir auf<br />

den Wagen auf. Aber unser Lehrkörper in<br />

der Judenschule wa ren SA- und SS-Leute<br />

in Zivil, da gab´s schon Schläge von den<br />

Lehrern.“ 10 Lilly Capek aus dem Al -<br />

sergrund, die ebenfalls in die Schule<br />

in der Währ i n gerstraße 43 gehen<br />

musste, gibt noch an, dass Mitarbeiter<br />

des Nazi-Hetz blattes „Der Stürmer“<br />

diese Schule aufsuchten und von<br />

Schü lerInnen Pro filaufnahmen für ihr<br />

antisemitisches Sudelblatt machten. 11<br />

Von den „ausgeschulten“ Schü lerinnen<br />

und Schülern der Haupt schu le<br />

Grei seneckergasse wurden Opfer der<br />

Schoa:<br />

Marianne Brunner, geb. 16.7. 1926 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

31.7.1942 von Pithiviers (Frankreich) nach Au schwitz;<br />

Harry Fortgang-Neuwerth, geb. 16.8.1924 <strong>Wien</strong>,<br />

deportiert am 9.4.1942 von <strong>Wien</strong> nach Izbica;<br />

Hildegard Friedmann, geb. 4. 3. 1927 <strong>Wien</strong>, deportiert<br />

am 15.5.1942 von <strong>Wien</strong> nach Izbica;<br />

Lieselotte Fuchs, geb. 29.11.1924 <strong>Wien</strong>, depor tiert am<br />

19.2.1941 von <strong>Wien</strong> nach Kielce;<br />

Henny Ruth Furcht, geb. 19.11.1925 <strong>Wien</strong>, deportiert<br />

am 12.5.1942 von <strong>Wien</strong> nach Izbica;<br />

Emma Goldenberg, geb. 5.3.1926 <strong>Wien</strong>, deportiert<br />

am 26.2.1941 von <strong>Wien</strong> nach Opole;<br />

Edith Gratz, geb. 6.4.1924 <strong>Wien</strong>, deportiert am 5.6.<br />

1942 von <strong>Wien</strong> nach Izbica;<br />

Ernst Gratz, geb. 18.2.1926 <strong>Wien</strong>, deportiert am 5.6.1942<br />

von <strong>Wien</strong> nach Majdanek ge storben am 28.7.1942<br />

Erich Hacker, geb. 28.11.1925 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

1.10.1942 von <strong>Wien</strong> nach Theresienstadt, von dort am<br />

18.5.1944 nach Auschwitz;<br />

Emilie Holländer, geb. 2.11.1923 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

26.2.1941 von <strong>Wien</strong> nach Opole;<br />

Harry Kanczukier, geb. 16.7.1926 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

4.8.1942 von Malines (Belgien) nach Auschwitz;<br />

Norbert Katz, geb. 30.1.1926 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

26.2.1941 von <strong>Wien</strong> nach Opole;<br />

Anna Kaufmann, geb. 8.8.1924 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

4.8.1942 von Malines (Belgien) nach Auschwitz;<br />

Helene Kerbel, geb. 22.6.1925 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

9.6.1942 von <strong>Wien</strong> nach Maly Trostinec, dort am 15.<br />

6.1942 ermordet;<br />

Charlotte Lackner, geb. 19.1.1926 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

12.5.1942 von <strong>Wien</strong> nach Izbica;<br />

Gertrude Lackner, geb. 1.5.1927 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

12.5.1942 von <strong>Wien</strong> nach Izbica.<br />

Rosa Landau, geb. 22.12.1924 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

17.7.1942 von <strong>Wien</strong> nach Auschwitz;<br />

Felix Lipper, geb. 8.1.1927 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

17.7.1942 von <strong>Wien</strong> nach Auschwitz;<br />

Martha Petschaft, geb. 15.2.1925 <strong>Wien</strong>, deportiert<br />

am 26.2.1941 von <strong>Wien</strong> nach Opole;<br />

Eugenie Reiter, geb. 25.7.1926 <strong>Wien</strong>, deportiert am 14.9.<br />

1942 von <strong>Wien</strong> nach Maly Trostinec, dort am 18.9.1942<br />

ermordet;<br />

Fritzi Rybak, geb.30.3.1925 St.Pölten, deportiert am<br />

4.8.1942 von Malines (Belgien) nach Auschwitz;<br />

Mendel Schaffer, geb. 24.5.1924 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

15.2.1941 von <strong>Wien</strong> nach Opole;<br />

Kurt Scholder, geb. 27.7.1924 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

22.11.1942 von <strong>Wien</strong> nach Auschwitz, dort am<br />

21.2.1943 gestorben;<br />

Kurt Schorr, geb. 16.9.1927 <strong>Wien</strong>, deportiert am 27.1.<br />

1943 von Ungarisch Brod nach Theresien stadt, von dort<br />

am 29.1.1943 nach Auschwitz;<br />

Herta Tornberg, geb. 1.9.1925 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

17.8.1942 von <strong>Wien</strong> nach Maly Trostinec;<br />

Simon Vas, geb. 8.11.1924 <strong>Wien</strong>, deportiert am 24.6.<br />

1943 von <strong>Wien</strong> nach Theresienstadt, von dort am<br />

29.9.1944 nach Auschwitz, gestorben am 23.4.1945<br />

im KZ Dachau;<br />

Walter Wierschowski, geb. 8.11 1925 <strong>Wien</strong>, deportiert am<br />

17.7.1942 von <strong>Wien</strong> nach Auschwitz. 12<br />

Noch einige wenige Informationen zu<br />

den jüdischen Bewohnern der Grei -<br />

sen eckergasse. Nach dem Novem ber -<br />

pogrom 1938 wurden sechs Juden aus<br />

der Greiseneckergasse, einer nicht<br />

allzu langen Gasse in der Brigittenau,<br />

verhaftet und <strong>als</strong> „Schutzhäftlinge<br />

(Sch-J)“ am 15. und 16. November 1938<br />

im KZ Dachau mit den Häftlings nummern<br />

26187, 26219, 26372, 26373,<br />

26525 und 29177 erfasst. 13 Die verbliebenen<br />

jüdischen Bewohner der Grei -<br />

sen eckergasse mussten noch am 15.<br />

Sep tember 1939 für ein Zentralka tas ter<br />

von der <strong>Israelitische</strong>n Kultusge meinde<br />

erfasst werden. In den Häusern<br />

Num mer 6 bis 18 lebten dam<strong>als</strong> noch<br />

19 Personen. 14 Von ihrer letzten Ad resse,<br />

die oft nicht mit ihren Wohnungen<br />

im Sep tember 1939 identisch waren,<br />

sondern im 2., 9. und 20. Bezirk lagen,<br />

wur den fast alle deportiert und er -<br />

mordet. Ihre letzten Stationen waren<br />

Au schwitz, Buchenwald, Izbica, Ma ly<br />

Trostinec, Nisko, Sobibor, Theresien -<br />

stadt und Treblinka. Alleine aus der<br />

Greisen ecker gasse, meist in Sammel -<br />

woh nungen ge presst, mussten 27 jü -<br />

dische Männer, Frauen und Kinder<br />

ihren letzten Weg in Konzen tra ti ons -<br />

la ger, Ghettos und Ver nichtungslager<br />

antreten. Johanna Spitzer aus der Grei -<br />

sen eckerstraße 8, Tür 13, die älteste<br />

von ihnen, war 77 Jahre alt, <strong>als</strong> sie am<br />

22. Juni 1942 in das Ghetto There sien -<br />

stadt bei Prag deportiert wurde und<br />

von dort am 19. Sep tem ber 1942 in das<br />

Vernichtungslager Treblinka überstellt<br />

und ermordet wur de. Die kleine Gitta<br />

Ickowicz aus der Greiseneckerstraße 7-<br />

9, Tür 16, war ge rade erst einmal 3 ½<br />

Jahre alt, <strong>als</strong> sie mit ihrer Mutter und<br />

ihrem älteren Bruder am 20. <strong>Mai</strong> 1942<br />

nach Maly Trostinec bei Minsk deportiert<br />

und sofort nach einer sechstägigen<br />

Ei sen bahn fahrt in dieser Hin rich -<br />

tungsstätte ermordet wurde. 15<br />

An diesem Beispiel der „ausgeschulten“<br />

jüdischen Schülerinnen und<br />

Schüler der Hauptschule Greisen ek -<br />

ker gasse ist deutlich sichtbar, welchen<br />

Stellenwert in der Erinnerungs kul tur<br />

der 16. <strong>Mai</strong> 1938 hat.<br />

1<br />

Eigene Schulen für die jüdischen Volks- und Haupt schüler<br />

<strong>Wien</strong>s. Amtsblatt der Stadt <strong>Wien</strong>, Nr. 21, 20.5.1938. 46. Jg. S. 5.<br />

2<br />

Eigene jüdische Schulen. In: Amtsblatt der Stadt <strong>Wien</strong>, Nr.<br />

27, 1.7.1938. 46. Jg. S. 2.<br />

3<br />

<strong>Wien</strong>er Stadt- und Landesarchiv (WStA), B 51 1. Schu len 20/2.<br />

Chronik ab 1. September 1929. Haupt schule <strong>Wien</strong> XX,<br />

Greiseneckergasse 29. Ein tra gung vom 4.7.1937.<br />

4<br />

WStA, B 51 1. Schulen 20/2. Chronik ab 1. Sep tem ber 1929.<br />

Hauptschule <strong>Wien</strong> XX, Greisen eckergasse 29. Eintragung vom<br />

16. 5. 1938; Koopera tive Mit telschule mit neusprachlichem<br />

Schwer punkt, Ar chiv. Geschäftsprotokoll der Hauptschule für<br />

Knaben und Mädchen. Post Nr. 261, 16.5.1938. Siehe dazu<br />

auch: Millian, Hedwig: Jüdische Kinder an den <strong>Wien</strong>er Pflicht -<br />

schu len 1938-1942. In: Zeitschrift des <strong>Wien</strong>er Schul Museums,<br />

Heft 2/3, August 2007. S. 4 ff.<br />

5<br />

WStA, B 51 4. Schulen 20/2. Schul-Chronik. Mäd chen Volks schu -<br />

le <strong>Wien</strong> XX, Greiseneckergasse 29. Eintragung vom 16.5.1938.<br />

6<br />

Volks- und Hauptschulen für jüdische Schüler. In: Zi onis ti sche<br />

Rundschau. <strong>Wien</strong>, Nr. 18, 16. 9. 1938. S. 4.<br />

7<br />

WStA, B 51 1. Schulen 20/2. Chronik ab 1. Sep tem ber 1929.<br />

Hauptschule <strong>Wien</strong> XX, Greisen eckergasse 29. Eintragung vom<br />

16.5.1938.<br />

8<br />

WStA, B 51 1. Schulen 20/2. Chronik ab 1. Sep tem ber 1929.<br />

Hauptschule <strong>Wien</strong> XX, Greisen eckergasse 29. Eintragung vom<br />

22. 3. 1938.<br />

9<br />

WStA, B 51 3. Schulen 20/2. Schul-Chronik 1937/38. Knaben<br />

Volksschule <strong>Wien</strong> XX, Greiseneckergasse 29. Eintragung vom<br />

22.3.1938.<br />

10<br />

Eckstein, Tanja: Familienname: Rosenkranz. Cen tro pa. Jüdi -<br />

sche Familienfotos, Dokumente und Lebensgeschichten in<br />

Mittel- und Osteuropa. S. 14 f. Zu danken habe ich Prof. Kurt<br />

Rosenkranz für seine bereitwillige Hilfe.<br />

11<br />

Johler, Birgit, Maria Fritsche (Hrsg.): 1938 Adresse: Serviten -<br />

gas se. <strong>Wien</strong> 2007. S. 109.<br />

12<br />

Dokumentationsarchiv des österreichischen Wi derstandes<br />

(DÖW), Erfassung der österreichischen Holocaustopfer.<br />

13<br />

DÖW. Zu danken habe ich meinen Kollegen Dr. Ger hard Ungar.<br />

14<br />

<strong>Israelitische</strong> <strong>Kultusgemeinde</strong> <strong>Wien</strong> (IKG), An laufstelle, A/W<br />

398,30, Archiv Nr. 1886, Karton 136. Zu danken habe ich Frau<br />

Susanne Uslu-Pauer.<br />

15<br />

DÖW, Erfassung der österreichischen Holo caust opfer.<br />

Ebenfalls am 16. <strong>Mai</strong>, vor 60 Jahren, ist Chaim<br />

Weizmann zum ersten Prä si denten des<br />

Staates Israel gewählt wor den. Er gehörte zu<br />

den wesentli chen Weg be reitern der israelischen<br />

Unab hän gig keit. Er war es, der US-Prä sident<br />

Truman im März 1948 von der Notwen dig -<br />

keit der jüdischen Staatsgründung überzeugte.<br />

Er starb am 9. November 1952.<br />

Gewinnbringende Bewirtschaftung seit 1959<br />

Hausverwalter<br />

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30 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


POLITIK • INLAND<br />

KONFERENZBERICHT:<br />

Die iranische<br />

Bedrohung.<br />

Die Islamische Republik,<br />

Israels Existenzkampf und<br />

die europäischen Reaktionen<br />

von STOP THE BOMB - Bündnis gegen<br />

das iranische Vernichtungsprogramm<br />

Am 3. und 4. <strong>Mai</strong> fand an der Univer -<br />

si tät <strong>Wien</strong> die internationale Kon fe -<br />

renz „Die iranische Bedrohung“ statt.<br />

Der Eröffnung und dem Round table<br />

am Samstag wohnten rund 250 Be su -<br />

cherInnen bei, während sich zu den<br />

Panels am zweiten Konferenztag rund<br />

150 ZuhörerInnen einfanden. Eröff net<br />

wurde die Tagung durch einleitende<br />

Worte der VeranstalterInnen Ruth<br />

Con treras (Scholars for Peace in the<br />

Middle East), Joanna Nittenberg (Illus -<br />

trierte Neue Welt) und Simone Dinah<br />

Hartmann (Sprecherin der Ini ti ative<br />

STOP THE BOMB). Die gegenständliche<br />

Konferenz wollte Hart mann <strong>als</strong><br />

Einspruch gegen die Indifferenz verstanden<br />

wissen, mit der große Tei le der<br />

Öffentlichkeit dem iranischen Atom -<br />

programm und den Vernich tungs drohungen<br />

gegen Israel begegnen. Sie<br />

wies darauf hin, dass die im Laufe der<br />

Konferenz präsentierten Bei träge nicht<br />

die Position der Kam pa gne STOP THE<br />

BOMB wiedergäben, sondern die An -<br />

sich ten der jeweiligen Re ferentInnen,<br />

die – so kann im Nach hinein resümiert<br />

werden – ein breites Spektrum an Ein -<br />

schätzungen repräsentierten. In seiner<br />

Grußbotschaft zeig te sich der Holo -<br />

caust überlebende und Friedens no bel -<br />

preisträger Elie Wiesel empört über die<br />

iranischen Ver nichtungsdro hun gen<br />

ge gen Israel und forderte die Welt auf,<br />

diese Dro hungen ernst zu nehmen und<br />

entspre chend zu reagieren. Charles A.<br />

Small (Direktor der ‘Yale Initiative for<br />

the In-terdisciplinary Study of Anti-Se -<br />

mi tism’) warnte vor den Gefahren, die<br />

von der weiten Verbreitung des Anti -<br />

se mitis mus in der islamischen Welt<br />

ausgehen und zitierte den Philoso phen<br />

Ed mund Burke, dessen Feststellung:<br />

“All that is necessary for the triumph of evil<br />

is for good men to do nothing” <strong>als</strong> Mot to<br />

der Kon fe renz gelten könnte. Danach<br />

wurde die Grußbotschaft des Natio na l-<br />

rats ab ge ordneten der Grünen, Albert<br />

Stein hau ser, verlesen, der den Anwe senden<br />

seine Solidarität im Kampf ge gen<br />

die iranische Atombombe versicherte.<br />

❚Der anschließende Round table „Die<br />

iranische Bedrohung: Islamis mus, An -<br />

tisemitismus, Atomprogramm“ brach te<br />

auf zum Teil pointierte Weise die Ge -<br />

fährlichkeit der aktuellen Si tua tion zum<br />

Ausdruck. Patrick Claw son (Wa shing ton<br />

Institute for Near East Poli cy) be ton te,<br />

dass die feurige Pro pa gan da der iranischen<br />

Machthaber für westliche Beo -<br />

bachter zwar schlicht verrückt klin gen<br />

möge – so etwa, wenn Präsident Ah -<br />

ma dinejad dem ehe maligen UN-Ge ne -<br />

r<strong>als</strong>ekretär er klär te, der Iran werde den<br />

nächsten Weltkrieg ge win nen –, nichts -<br />

destotrotz aber todernst zu nehmen<br />

sei. Yossi Melman (Journa list der israelischen<br />

Tageszei tung ‘Haa retz’) zufolge<br />

verfolge der Iran, seit die in ter natio na -<br />

le Öffentlichkeit über das Atom waf fen -<br />

programm in for miert wur de, die Stra -<br />

te gie, zu nächst alle Vorwürfe zu rück -<br />

zu weisen, dann auf Zeit zu spie len und<br />

schließlich nur das zuzugeben, was<br />

schlechterdings nicht mehr be streit bar<br />

wäre. Der einzige Weg zur Verhinde -<br />

rung der iranischen Bombe sei die Er -<br />

höhung des in ternationalen Drucks auf<br />

den Iran so wie die Ver hän gung effekti<br />

ver Sankti o nen. Benny Morris (Ben<br />

Gu ri on Uni ver sität Beer Sheva, Israel)<br />

äußerte Zweifel an der Wahrschein -<br />

lich keit wirt schaftli cher Sanktionen<br />

und der Wirksamkeit ei ner Politik der<br />

Ab schrec kung ge gen über dem Iran.<br />

Auf Basis dieser Skep sis bleibt für<br />

Morris nur ein Weg offen: Der Iran<br />

müs se im Notfall militärisch am Bau<br />

der Bombe gehindert werden. Sollten<br />

sich die USA, allein oder mit Ver bün -<br />

deten, nicht zu so einem Schritt durchringen<br />

können, müsste Israel diese Auf -<br />

gabe übernehmen. Da Israel mög li cher -<br />

wei se aber gar nicht in der Lage wäre,<br />

das iranische Atom waf fen pro gramm<br />

mit konventionellen Waf fen zu stoppen,<br />

müs se selbst der Ein satz nichtkon<br />

ven tioneller Waffen (tak ti scher<br />

Nuklear waf fen) <strong>als</strong> fürchter li che Möglich<br />

keit in Betracht gezogen werden.<br />

Laut Pa olo Casaca (sozialdemokra ti -<br />

scher Ab ge ord neter im Europa par la -<br />

ment) be le gen immer neue wirtschaft li -<br />

che Kon takte, dass bisherige Stra te gi en<br />

zur Eindämmung des Iran <strong>als</strong> ge schei -<br />

tert zu betrachten sind. Es sei nun un -<br />

bedingt erforderlich, iranische Oppo -<br />

sitionelle zu unterstützen, wirtschaftliche<br />

sowie politische Sank ti o nen zu<br />

verhängen und andere Kri sen herde<br />

im Nahen Osten zu entschärfen.<br />

❚Nachdem auf diesem Round table<br />

die vielfältigen Probleme und Ge fahren<br />

thematisiert wurden, mit denen<br />

wir in der augenblicklichen Situation<br />

konfrontiert sind, ging es beim ersten<br />

Pa nel am Sonntagmorgen, „Der politische<br />

Islam im Iran und der globale<br />

Dji ha dismus“, hauptsächlich darum,<br />

den Charakter der islamischen Re pu -<br />

b lik Iran genauer zu fassen. Menashe<br />

Amir (Direktor der persischsprachigen<br />

Ab tei lung von ‘Kol Israel’/Stimme Isra els<br />

so wie Chefredakteur der persischen<br />

Web seite des israelischen Außenmi nis -<br />

te riums) warnte, der Westen solle nicht<br />

so tun, <strong>als</strong> sei nur Israel durch die iranische<br />

Bombe bedroht. Die angestrebte<br />

Vernichtung Israels sei nur der erste<br />

Schritt in einem langen Kampf, in dem<br />

das Christentum be siegt werden müs -<br />

se. Deshalb dürfe der Westen die Ver -<br />

ant wortung für die Verhinderung der<br />

POLITIK<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 31


POLITIK • INLAND<br />

iranischen Bombe nicht auf Israel ab -<br />

wälzen. Niloofar Beyzaie (im Exil le -<br />

bende Theaterre gis seu rin und -autorin,<br />

Aktivistin für Frauenrechte) führte aus,<br />

dass die Ent rechtung der iranischen<br />

Bevöl ke rung nach der Re vo lu ti on 1979<br />

mit der Entrechtung und Erniedri gung<br />

der Frauen begann und sich danach<br />

auf religiöse Min der hei ten, Intellektu -<br />

el le, Dissidenten, ethnische Min der -<br />

heiten, Homosexu el le und schließ lich<br />

auf all jene ausbreitete, die den neuen<br />

Machthabern ein Dorn im Auge wa -<br />

ren. Beyzaie wandte sich ex pli zit ge gen<br />

Militärschläge gegen den Iran, forderte<br />

aber eine breite Un ter stüt zung der<br />

inneriranischen Protest be we gun gen,<br />

allen voran der Frauen.<br />

Florian Markl (Historiker beim ‘All ge -<br />

meinen Entschädigungsfonds für Op -<br />

fer des Na tio n<strong>als</strong>ozialismus’ in <strong>Wien</strong>)<br />

führte aus, dass der Iran seit 1979 in<br />

etlichen Staaten der Welt, vom Nahen<br />

Osten über Europa bis nach Amerika,<br />

zahllose Mordanschläge auf tatsächliche<br />

oder vermeintliche Regime kri ti ker<br />

und Oppositionelle durchgeführt ha be<br />

und gleichzeitig um einen Export der<br />

islamischen Revolution im Nahen Osten<br />

bemüht gewesen sei. Mit der His -<br />

bollah verfüge er über eine Stell ver tre -<br />

te rin, die nicht nur den Krieg ge gen Is -<br />

rael betreibt, sondern derer er sich zur<br />

Durchführung internationaler Ter ror -<br />

an schläge bediene.<br />

❚Das Panel zum Thema „Kritik des<br />

Appeasement: Der Iran und der islami -<br />

sche Antisemitismus <strong>als</strong> Heraus for de -<br />

rung für Israel und Europa“ wurde von<br />

Matt hias Küntzel (Publizist und Po li tik -<br />

wissenschafter aus Hamburg) eröff net,<br />

der auf die enorme Bedeu tung europä -<br />

ischer Staaten, allen voran Deutsch -<br />

lands, für die iranische Wirt schaft hin -<br />

wies. Obwohl innerhalb der europäischen<br />

Union vereinzelt Stim men für<br />

ef fektive Wirtschafts sank tio nen laut<br />

werden, sind es bislang Deutsch land,<br />

Österreich, Italien und Spanien, die ein<br />

entschlossenes Vor ge hen der EU hin -<br />

ter treiben. Sollte der Iran nicht am Bau<br />

der Bombe gehindert werden können,<br />

sei laut Yossi Melman eine Militär ak tion<br />

Israels am wahrscheinlichsten, da es<br />

da zu im stan de sei und ein solcher<br />

Schlag auch diplomatisch nicht so<br />

große Ent rüs tung im arabischen Raum<br />

nach sich zöge, wie im Westen oft an -<br />

ge nom men werde. Bruno Schirra (Au -<br />

tor und Journalist) warnte, das iranische<br />

Regime könnte bereits vor 2009<br />

über die Atombombe verfügen, da insbesondere<br />

die CIA bisher noch kaum<br />

ein Atomwaffenprogramm korrekt<br />

ein geschätzt habe. „Wir befinden uns<br />

be reits im Krieg, aber keiner geht hin“,<br />

die se abgewandelte Parole der Frie -<br />

dens bewegung beschreibe die Situa ti -<br />

on. In den kriegerischen Auseinan der -<br />

setzun gen im Nahen Osten (Irak, Li banon,<br />

Gaza) sei die Handschrift des ira -<br />

ni schen Regimes deutlich zu er ken nen.<br />

❚Das Nachmittags-Panel hatte die<br />

„ös ter reichisch-iranischen Bezie hun gen<br />

und die nation<strong>als</strong>ozialistische Ver gan -<br />

gen heit“ zum Thema. Robert Schindel<br />

(Schrif t steller aus <strong>Wien</strong>) betonte, dass<br />

insbesondere der nach dem Holo caust<br />

aus der Öffentlichkeit verdrängte, des -<br />

halb allerdings keineswegs verschwundene<br />

österreichische Antise mi tismus in<br />

Betracht gezogen werden müsse, wo l le<br />

man die Igno ranz der Österrei cher In -<br />

nen ge gen über dem iranischen Atom -<br />

waf fen pro gramm ana lysieren.<br />

Hi wa Bahrami (Demo kra ti sche Partei<br />

Kur dis tan Iran in Österreich) führte<br />

aus, dass der Fall der <strong>Wien</strong>er Kurden -<br />

mor de exemplarisch für Österreichs<br />

Um gang mit dem Iran sei. Durch die<br />

Koope ra tion mit den iranischen Macht -<br />

habern habe Österreich maßgeblich<br />

da zu beigetragen, die Lebens zeit ei nes<br />

Regimes zu verlängern, oh ne dessen<br />

Exis tenz die Welt ein friedlicherer Ort<br />

wäre. Ste phan Grigat (Lehrbe auf trag ter<br />

am <strong>Wien</strong>er Institut für Politikwisse n -<br />

schaft) erklärte, dass die österreichischiranischen<br />

Be zie hun gen durch den<br />

Um fang des Iran-Geschäfts der ÖMV<br />

auf eine völlig neu e Stufe gehoben<br />

wor den seien. Erstaunlich sei, dass in<br />

Ös terreich kei ne nennenswerte Disku s -<br />

sion über die se Außenhan dels politik<br />

stattfinde, weil kein nennenswerter Akteur<br />

sie jem<strong>als</strong> in Frage ge stellt ha be.<br />

Wäh rend das of fizielle Österreich (im<br />

Ver gleich zu früher) mitt lerweile deut -<br />

liche Worte über den Mord an den eu -<br />

ropäischen Juden und Jü din nen fin de,<br />

unterstütze es außenpolitisch genau<br />

jene Kräfte, die den Holo caust leugnen<br />

und zur Auslö schung Israels aufriefen.<br />

❚Beim abschließenden Podium wur de<br />

die Forderung nach einem „neuen An -<br />

ti faschismus“ zur Diskus sion ge stellt.<br />

Jeffrey Herf (Professor für Ge schichte<br />

an der University of Mary land/USA)<br />

zeigte sich besorgt, weil die Welt nach<br />

dem Nation<strong>als</strong>o zia lis mus gerade zum<br />

zweiten Mal Zeuge davon werde, dass<br />

mit dem radikalen Islam ein ebenso<br />

radikaler Antise mi tismus sich <strong>als</strong> Faktor<br />

der Weltpolitik etabliere. Sollte die<br />

iranische Bombe nicht doch noch verhindert<br />

werden können, müsse ge gen<br />

den Iran notfalls auch auf ausgedehnte<br />

militärische Ab schreckung ge setzt und<br />

ihm klar ge macht werden, dass ein<br />

nuklearer Angriff auf Is rael <strong>als</strong> Angriff<br />

auf den Westen betrachtet werde und<br />

einen nuklearen Vergel tungs schlag verursachen<br />

wür de. Kayvan Kaboli (Spre-<br />

cher der Grünen Par tei des Iran/USA)<br />

strich hervor, dass das islamistische<br />

Re gime im Iran nicht nur eine Katas trophe<br />

für die irani sche Bevölkerung sei,<br />

sondern auch ein Pro gramm territorialer<br />

Ex pansion ver fol ge. Die einzig adä -<br />

quate Antwort sei die Gründung ei ner<br />

in ter nationa len, antifaschistischen<br />

Front, die dem iranischen Regime entge<br />

gen tritt und Druck auf die europäischen<br />

Staaten aus übt, um sie von ih rer<br />

Ap pease ment politik abzubringen. Thomas<br />

von der Osten-Sa cken (Mit grün der<br />

der vor allem im Nord irak tätigen NGO<br />

‘Wadi e.V.’) for derte ein Mi ni mal pro -<br />

gramm für einen auf die Zu kunft ge -<br />

rich teten Antifaschismus: ei ne konsequente<br />

Demokratisierung der Re gi on,<br />

die Durchsetzung der Rule of law, eine<br />

Säkularisierung und damit das En de<br />

jedweder Form religiös begründe ter<br />

Ge setzgebung, grund legende Ver än derun<br />

gen der ökonomi schen Struk tu ren<br />

(vor allem die Ab schaffung des Öl ren -<br />

tentums), eine Föderalisierung der Re -<br />

gi on sowie die Emanzipation von Frau -<br />

en und Ho mo sexuellen. Simone Dinah<br />

Hart mann (Sprecherin von STOP THE<br />

BOMB) schloss an Herf an, insofern sie<br />

be tonte, dass mit der Mischung aus apokalyptischem<br />

Wahn, eliminatorischem<br />

Antisemitismus sowie nuklearen Am -<br />

bi tionen, die das gegenwärtige Re gi me<br />

im Iran charakterisiert, zum ers ten Mal<br />

seit der Niederlage des Na ti o n<strong>als</strong>o zi a -<br />

lis mus die Massen ver nich tung von Ju -<br />

den und Jüdinnen wieder eine reale<br />

Ge fahr darstelle und Euro pa sich wie<br />

vor 75 Jahren entschei den müs se. •<br />

32 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


POLITIK • ISRAEL<br />

„Facing<br />

Tomorrow“<br />

Mega-Konferenz in Jerusalem<br />

US-Präsident George Bush allein<br />

reicht aus, um das tägliche Leben in<br />

Jerusalem unerträglich zu machen.<br />

Fünf Riesentransportmaschinen vom<br />

Typ C-17 sind mit Helikoptern, ge -<br />

panzerten Limousinen und anderen<br />

Sicherheitsgeräten an Bord gelandet.<br />

Damit sollte der amerikanische Präsi -<br />

dent in den nächsten Tagen in der<br />

Heiligen Stadt geschützt werden.<br />

Doch Staatspräsident Shimon Peres<br />

begnügte sich nicht mit Bush <strong>als</strong> Eh -<br />

rengast zu der von ihm einberufenen<br />

Mega-Konferenz aus Anlass des 60-<br />

jäh rigen Bestehens Israels: 30 Staatsund<br />

Regierungschefs und noch weitere<br />

3.500 Gäste haben drei Tage lang<br />

alle Suiten und Hotelzimmer in Jeru -<br />

sa lem in Beschlag genommen und<br />

für eine Schließung von Rupin, Kö nig<br />

David, <strong>Mai</strong>monides, Ben Zvi und<br />

Hanassie georgt.<br />

Zu den hochrangigen Gästen zählen<br />

die Präsidenten von Georgien, Kroa -<br />

tien, Albanien, Polen, sowie die Staats -<br />

oberhäupter der Mongolei, von Bur ki -<br />

na Faso, Togo, der Slowakei und Un -<br />

garn. Noch berühmter sind Politiker<br />

aus der Vergangenheit, darunter Josch -<br />

ka Fischer, Henry Kissinger, Michail<br />

Gorbatschow und sogar der frühere Prä -<br />

sident des größten islamischen Lan des,<br />

Wahid Abdurraham aus Indonesien.<br />

Jenseits der Weltpolitik zählen so manche<br />

illustre Namen zu den persönli -<br />

chen Freunden von Pe res, einem der<br />

dienstältesten Politiker der Welt. Der<br />

Medienmogul Rupert Mur doch wird<br />

ebenso seine Aufwartung machen wie<br />

der Gründer von Google und der<br />

Präsident von Yahoo. Für ein kleines<br />

Se minar im Präsiden ten pa lais am<br />

Vorabend der Mega-Konferenz flogen<br />

sieben Nobelpreisträger ein, um sich<br />

mit Peres über die Zu kunft des jüdischen<br />

Volkes zu unterhalten. Dazu<br />

stießen jüdische Intellektuelle wie Bernard-Henri<br />

Le vy, Alan Dershowitz und<br />

Todd Gitlin.<br />

Vatikan: Neuer Botschafter Israels<br />

Beim Antrittsbesuch des neuen israelischen Vatikanbotschafters Morde chay<br />

Lewy äußerte Papst Benedikt XVI. Sorge über den Rückgang der christlichen<br />

Bevölkerung im Nahen Osten. Er betonte die Hoffnung des Vatikans<br />

auf eine Friedenslösung mit zwei sou veränen Staaten im Heiligen Land.<br />

Seinen herzlichen Glückwunsch zum 60-Jahr-Jubiläum des Staates Israel<br />

hat Papst Benedikt XVI. am 12. <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>, beim Antrittsbesuch des neuen<br />

israelischen Vatikan botschaf-ters Mordechay Lewy formuliert. Der Heilige<br />

Stuhl vereinige sich mit den Israelis im Dank an Gott, dass die Hoffnungen<br />

des jüdischen Volkes „auf eine Heimstatt im Land der Väter“ erfüllt worden<br />

seien, sagte der Papst. Zugleich setze der Heilige Stuhl darauf, dass bald<br />

eine „Zeit noch größerer Freude“ kommen werde, wenn ein ge rechter Friede<br />

endlich den Konflikt mit den Palästinensern löst.<br />

21 Mio. Schekel, <strong>als</strong>o über 4 Mio. Euro,<br />

hat der Staat bereitgestellt, um in den<br />

„Hallen der Nation“, dem Kongress -<br />

zentrum von Jerusalem, 50 Spre cher<br />

und 400 Arbeitszimmer für an reisen de<br />

Journalisten bereitzustellen. Die Po lizei<br />

rief Sicherheitsstufe 3 aus, die höchste<br />

vor dem akuten Not stand. Und<br />

weil Präsident Bush, ein bekennender<br />

Christ, den Wunsch geäußert hatte,<br />

die vor 2000 Jahren verfassten Qum -<br />

ran-Rollen persönlich in Augen schein<br />

zu nehmen, gab es ein aufwendiges<br />

Transportverfahren. Mit Pan zer wagen<br />

und 20 bewaffneten Si cher heits leuten<br />

wurden einige der kost baren Perga -<br />

ment rollen vom Isra el-Museum in die<br />

Kongresshalle ge bracht. Ame ri kani -<br />

sche Sicherheits leute hatten ein Veto<br />

gegen einen Besuch des US-Prä si den -<br />

ten im Israel-Museum eingelegt, wo<br />

die empfindlichen Textrollen in dumpfem<br />

Licht und klimatisiert un ter höchsten<br />

Sicherheitsvor keh run gen ge hütet<br />

werden. Diese vor etwa 60 Jah ren von<br />

einem arabischen Ziegen hir ten zufällig<br />

gefundenen Bibeltexte gehören zu<br />

den kostbarsten historischen Denk mälern<br />

des Judentums und des Staates<br />

Israel.<br />

Der Mega-Event wurde freilich<br />

durch eine Peinlichkeit überschattet,<br />

die von den Planern der Riesen kon fe -<br />

renz nicht vorhergesehen werden<br />

konnte: die neuesten Verdäch ti gun gen<br />

gegen Ministerpräsident Ehud Ol mert<br />

wegen möglicher Bestechung und<br />

Ko rruption. „Die Persönlichkeit von<br />

Shimon Peres wird vielleicht ein klein we -<br />

nig die verlorene nationale Ehre retten“,<br />

schreibt die Zeitung Haaretz, während<br />

die Polizei und die Staatsan walt schaft<br />

darauf verzichten wollten, Ol mert in<br />

den kommenden Tagen zu ver hören,<br />

um ihn nicht vom Empfang für die<br />

zahlreichen Staatsgäste abzulenken.<br />

Die Plenarsitzungen und Dis kus si -<br />

ons runden mit Titeln wie „Auf in die<br />

Zu-kunft“, „Angesichts der Zukunft“,<br />

„Die Zukunft aus Sicht von Nobel preis -<br />

trä gern“ oder „Globale Perspektiven der<br />

Zu kunft“ dauerten von 13. - 15. <strong>Mai</strong>.<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 33


JÜDISCHE WELT • INLAND<br />

JÜDISCHE WELT<br />

VEREIN ZUR FÖRDERUNG DER<br />

POLITISCHEN MÜNDIGKEIT<br />

„peacecamp <strong>2008</strong> :<br />

making peacemakers“<br />

Jüdisch-israelische und arabischisraelische<br />

Jugendliche sowie<br />

Jugendliche aus Ungarn und Österreich<br />

suchen Wege der Verständigung<br />

und der Konfliktbewältigung<br />

3. - 13. Juli <strong>2008</strong><br />

in Reibers (Waldviertel) und in <strong>Wien</strong><br />

Ein neues, sechstes peacecamp ist im<br />

Entstehen –„peacecamp <strong>2008</strong>:making<br />

pea cemakers“, Folgeprojekt von peace -<br />

camp 2004, 2005, 2006 und 2007, die in<br />

Rechberg (Kärnten), Franzen (Wald -<br />

viertel), Reibers (Waldviertel) und <strong>Wien</strong><br />

sowie in Israel stattgefunden ha ben.<br />

Dass es sinnvoll ist, Jugendlichen Ge -<br />

legenheit zu geben, sich mit Gleich al t -<br />

rigen aus anderen Ländern und Nati -<br />

o nen zu treffen und sich den schwieri<br />

gen Fragen der eigenen wie der<br />

fremden Identität sowie Fragen des<br />

Mit- oder Gegeneinanders von Re ligi o -<br />

nen, Völkern und Nationen zu stellen,<br />

hat die von Prof. Kropiunigg (Me -<br />

dizinische Universität <strong>Wien</strong>) durch -<br />

geführte Studie belegt. Er kommt zu<br />

dem Schluss: „peacecamps sind ein<br />

wertvolles Instrument der Erziehung<br />

zum Frieden“ (Ulrich Kropiunigg und<br />

Birgit Pabst: Selbstwertsteigerung und<br />

Vorurteilsreduktion bei Ju gend lichen<br />

eines multiethnischen Peace Camps;<br />

Psychotherapie Forum 2007:15:63-72).<br />

Es sollen <strong>als</strong>o auch heuer wieder je 10<br />

jüdisch-israelische, arabisch-israelische,<br />

ungarische und österreichische<br />

Jugendliche 11 gemeinsame Tage in<br />

Ös terreich verbringen. Im Vorfeld<br />

werden sie etwas Zeitgeschichte studiert<br />

haben, um sich am peacecamp in<br />

einem gemeinsamen Workshop mit<br />

zwei großen Kapiteln der eigenen<br />

Zeitgeschichte zu befassen - der Ge -<br />

schichte des Nahost-Konflikts („Zwei<br />

Staaten für zwei Völker“) und der Ge -<br />

schichte Europas („Von der Mo nar -<br />

chie zur Europäischen Union“). Diese<br />

werden die teilnehmenden Schüler In -<br />

nen einander präsentieren, und zwar<br />

aus den jeweiligen Blickwinkeln und<br />

in den entsprechenden Narrativen<br />

ihrer jeweiligen Zugehörigkeit und<br />

Gruppe. Sie werden lernen, dass es<br />

keine „Geschichte“, sondern „Ge -<br />

schichten“, dass es unterschiedliche<br />

Gesichtspunkte und Betrachtungs -<br />

wei sen gibt und dass Geschichtsbücher<br />

mit unterschiedlichen Brillen<br />

gelesen und je nach der eigenen subjektiven<br />

Position sehr unterschiedlich<br />

interpretiert werden können.<br />

In psychoanalytischen Großgruppen<br />

werden sich die Jugendlichen ihren<br />

Gefühlen und Gedanken stellen und<br />

vielleicht erkennen müssen, dass es<br />

nicht einmal in ihnen selbst einen einzigen,<br />

kohärenten, eindeutigen Stand -<br />

punkt, sondern vielleicht eher ein<br />

Gefühlschaos mit den widersprüchlichsten<br />

und nicht immer willkommenen<br />

Einstellungen, Gedanken und<br />

Gefühlen gibt. Sie werden erleben,<br />

dass die hier gewonnenen eigenen<br />

Erfahrungen und Wahrnehmung sich<br />

nicht unbedingt mit den mitgebrachten<br />

Fantasien und Vorstellungen von<br />

den fremden, den vertrauten, ge -<br />

moch ten, geschätzten, unbekannten,<br />

ge hassten, gefürchteten „Ande ren„<br />

decken, ja, dass sich nicht einmal die<br />

im Hier und Jetzt gewonnenen Er -<br />

kennt nisse immer reibungslos in das<br />

so sehnlich herbeigewünschte rationale<br />

Bild von sich selbst oder dem „Anderen“<br />

einfügt, dass es da Wi der sprüch -<br />

lichkeiten und Unge reimt heiten gibt<br />

sowie Impulse und Affekte, die aus<br />

uns herausbrechen und uns wie An de -<br />

re erstaunen, ja schockieren können.<br />

In den anschließenden Kunst- und<br />

Outdoor-Workshops aber werden die<br />

Teilnehmer des peacecamps einen Um -<br />

gang miteinander finden und sich ge -<br />

meinsam kreativen oder spannenden<br />

Aufgaben stellen. Sie werden er leben,<br />

dass es nützlich sein kann, die Res -<br />

sourcen der Gruppe zugunsten eines<br />

gemeinsamen Ziels zu nutzen und<br />

sich auch mit jenen zu arrangieren,<br />

die man vielleicht weniger schätzt<br />

oder mag, oder dass gemeinsames Er -<br />

leben bestehende Gefühls ein stel lun -<br />

gen auch verändern, mäßigen oder<br />

verstärken kann.<br />

Am letzten Tag wird die Gruppe an<br />

einem öffentlich zugänglichen Ort<br />

einem <strong>Wien</strong>er Publikum das Ergebnis<br />

ihrer Zusammenarbeit präsentieren:<br />

Ei ne Multimediashow oder eine Aus -<br />

stellung soll geladenen Gästen wie<br />

Passanten Gelegenheit geben, zu sehen,<br />

dass hier in nur zehn Tagen<br />

Neues entstanden ist, dass über die<br />

unterschiedlichen Zugehörigkeiten<br />

und nationalen, kulturellen, religiösen<br />

oder anderen Barrieren eine gemeinsame<br />

neue Sprache gefunden werden<br />

konnte sowie ein Gefühl des Zu sam -<br />

mengehörens zu einer neuen Gruppe<br />

und einer neuen ideellen Identität.<br />

Über das peacecamp-Projekt wurde<br />

auf internationalen Tagungen und<br />

Symposien berichtet; zwei peacecamp-<br />

Filme wurden auf internationalen<br />

Film festiv<strong>als</strong> und von mehreren TV-<br />

Stationen gezeigt. Das Projekt wurde<br />

mehrfach ausgezeichnet und hat be -<br />

reits einige Preise gewonnen. In <strong>Wien</strong><br />

wurde die Initiatorin von peacecamp<br />

von der Zeitschrift „Woman“ zu einer<br />

der „333 Top-Frauen des Jahres 2007“<br />

gewählt. Evelyn Böhmer-Laufer<br />

http://peacecamp<strong>2008</strong>.blogger.de<br />

Spenden an: Verein 4peace, BA-CA (BLZ<br />

12000), Nr. 51455 011 078<br />

Die Jüdische Gemeinde zu Baden bei <strong>Wien</strong><br />

gibt geziemend und tief betrübt Nachricht vom Ableben<br />

Ihres langjährigen Mitgliedes<br />

Ehrenpräsident<br />

ל״ז Emmerich (Imre) MEZEI<br />

21.2.1914 – 28.3.<strong>2008</strong><br />

ד״סב<br />

ʽזעמ בד ןב קיזייא קחצי ׳ר ׳חה<br />

ח״סשת ׳ב רדא א״כ םיב רטפנ<br />

Die Beisetzung erfolgte am 31. März <strong>2008</strong> auf dem jüdischen Friedhof<br />

Baden bei <strong>Wien</strong>.<br />

Wir verlieren mit dem Verstorbenen einen liebenswürdigen Menschen,<br />

wertvollen Freund und Förderer jüdischer Anliegen<br />

Für den Vorstand:<br />

KV MMag. Thomas E. Schärf<br />

(Präsident)<br />

34 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


JÜDISCHE WELT • INLAND<br />

Die Steinstellung<br />

für unsere geliebte<br />

Mutter und Großmutter<br />

Frau Dr. Kristine Kanner s.A.<br />

findet s.G.w. am<br />

Sonntag, den 8. Juni <strong>2008</strong>,<br />

um 12 Uhr am Zentralfriedhof,<br />

Tor 4 statt.<br />

Familien Braunsberg und Kanner<br />

Wiederentdeckung des alten<br />

jüdischen Friedhofs bei Innsbruck<br />

Der Judenbühel (Judenbichl) im heutigen<br />

Ortsteil Mühlau der Stadt ge -<br />

mein de Innsbruck birgt ein frühes<br />

Zeug nis jüdischen Lebens in Tirol,<br />

den alten Friedhof der jüdischen Fa -<br />

milien von Innsbruck, der dem Hügel<br />

auch seinen Namen gab. Dieser Fried -<br />

hof liegt auf einer kleinen abschüssigen<br />

Terrasse unterhalb der Hügel -<br />

kuppe. Zu sehen ist von ihm nichts<br />

mehr, da weder Grabsteinreste noch<br />

Mau ern aus der Erde herausragen.<br />

Der Ort präsentiert sich heute <strong>als</strong> von<br />

Bäumen umstandene Wiese. Wer von<br />

Westen kommend die kleine Holz -<br />

brücke zum Judenbühel überquert,<br />

kann sie zur rechten Hand betreten.<br />

Die erste Erwähnung des ‘Judenfreit -<br />

hofs’ datiert ins Jahr 1503. Bald darauf<br />

wurde der Friedhof erweitert.<br />

Anlässlich wiederholtem Vandalis -<br />

mus’ suchten die israelitischen Einwohner<br />

von Innsbruck 1864 bei der<br />

Stadt um einen neuen, zentraler gelegenen<br />

Bestattungsplatz beim dam<strong>als</strong><br />

neu errichteten städtischen Friedhof<br />

an, da der Weg zum alten Friedhof,<br />

der sich dam<strong>als</strong> außerhalb der Stadt -<br />

grenzen von Innsbruck befand, be -<br />

schwerlich und abschüssig war. Eini ge<br />

Bestattete wurden daraufhin auf sehr<br />

pragmatische Weise mitsamt den<br />

Grab steinen in den neuen Friedhof<br />

um gebettet. 1904 wurde die Fried -<br />

hofs parzelle von der ‘israelitischen<br />

Re li gi onsgenossenschaft’ unentgeltlich<br />

mit mehreren Auflagen an den Inns -<br />

bruc ker Verschönerungsverein überge<br />

ben.<br />

Schließlich gelangte das Grundstück<br />

in städtischen Besitz und fiel dem<br />

Vergessen anheim.<br />

Im Sommer 2007 konnte durch eine<br />

von der <strong>Israelitische</strong>n Kultus ge mein de<br />

für Tirol und Vorarlberg unterstützte<br />

und von der Stadt Innsbruck finanzierte<br />

archäologische Grabung die<br />

Friedhofsmauer geortet und untersucht<br />

werden. Wir wissen nun, dass<br />

zuletzt eine etwa 50 cm breite, verputz -<br />

te Steinmauer ein annähernd quadratisches<br />

Gräberfeld von ca. 350 m² umschloss.<br />

Der Friedhof konnte über<br />

einen ca. 1 m breiten Eingang im Süden<br />

betreten werden. Über eine Stein -<br />

schwelle gelangte man auf einen von<br />

Steinen gesäumten schmalen Weg.<br />

Die Innenfläche des Friedhofs wurde<br />

in Absprache mit der Kultusgemein -<br />

de nicht ergraben.<br />

Durch die Grabung wird nun eine<br />

neue Umfriedung des Are<strong>als</strong> möglich.<br />

Konkrete Pläne des Architekturbüros<br />

Rinderer liegen bereits vor. Außerdem<br />

wird in Kooperation mit dem<br />

Innsbrucker Verschönerungsverein<br />

eine Informationstafel errichtet. Der<br />

jüdische Friedhof am Judenbühel bei<br />

Innsbruck, der älteste bekannte seiner<br />

Art in Westösterreich, wird noch heu -<br />

er wieder <strong>als</strong> Friedhof wahrnehmbar<br />

sein. Nur so ist es den Spazier gän -<br />

gern möglich, dem Ort mit Würde zu<br />

begegnen.<br />

Mag. Michael Guggenberger,<br />

Archäologe<br />

Sekretariat <strong>Israelitische</strong> <strong>Kultusgemeinde</strong><br />

für Tirol und Vorarlberg<br />

Weg der Erinnerung<br />

Am 18. <strong>Mai</strong> wurde offiziell der bereits<br />

dritte Teil des „Weg der Erinnerung“ in<br />

der Leopoldstadt mit Kul turstadtrat<br />

Dr. Andreas <strong>Mai</strong>lath-Pokorny und Be -<br />

zirksvorsteher Gerhard Kubik eröffnet.<br />

A letter to the stars 38/08<br />

Wenige Tage nach der Gedenk ver an -<br />

stal tung „A letter to the stars“ am Wie -<br />

ner Heldenplatz überreichte Erika<br />

Free mann, eine der „letzten Zeu gin -<br />

nen“, ein Dankschreiben an Vize kanzler<br />

und Finanzminister Wilhelm Mol -<br />

terer. Nach dem Motto „Es gibt nichts<br />

Gutes außer man tut es“ bedankten sich<br />

zahlreiche Überlebende des Ho lo caust<br />

mit kurzen, sehr persönli chen State -<br />

ments bei der österreichischen Bun -<br />

des regierung für die Er mög li chung<br />

des Projektes.<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 35


JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />

Panorama<br />

Kurznachrichten aus der jüdischen Welt<br />

Quelle: JTA/Guysen u.a.; Übersetzung: Karin Fasching/Foto:©JTA u.a.<br />

Erster offizieller Rabbiner für<br />

ugandische Abayudaya-Juden<br />

Gershom Sizomu ist der erste offiziell<br />

ernannte Rabbiner von Ugandas Aba -<br />

yu daya-Gemeinde. Bereits sein Vater<br />

und Großvater hatten die isolierte afrikanische<br />

Religionsgemeinschaft spirituell<br />

geleitet. Etwa 1.000 Abayudaya<br />

leben in fünf ugandischen Dörfern<br />

und sind seit dem Entstehen der Ge -<br />

mein de im Jahr 1919 von der restli chen<br />

jüdischen Welt isoliert. Ihre Tradition<br />

gründete sich auf der wörtlichen Auslegung<br />

des alten Testaments, bis Mit te<br />

der 1990er Jahre zum ersten Mal west -<br />

liche Rabbiner die Gemeinschaft be -<br />

suchten. Die meisten Abayudaya konvertierten<br />

2004 und hunderte ihrer<br />

Kinder besuchen nun die Hadassah<br />

Schule, um dort mit Hebräisch, den<br />

jüdischen Traditionen sowie dem allge<br />

mein gültigen Lehrplan vertraut<br />

gemacht zu werden.<br />

Israelische Milliardäre<br />

unter den Reichsten<br />

Auf der jährlichen „Rich List“, einer<br />

Auflistung der reichsten Menschen in<br />

Großbritannien und Irland, herausgegeben<br />

von der Londoner ‘Sunday<br />

Times’, finden sich in diesem Jahr auch<br />

fünf israelische Milliardäre. Berück -<br />

sich tigt werden nicht nur britische<br />

Bürger, sondern auch Personen mit en -<br />

gen Verbindungen zum Land oder mit<br />

dort befindlichen Vermö genswer ten.<br />

So belegen Transportgigant Sammy<br />

Ofer und sein Sohn Eyal, der in Lon don<br />

lebt, Platz 15 mit einem Vermögen<br />

von US$ 6,59 Mrd.; der Im mo bi li en -<br />

magnat und Philantrop Lev Leviev, Vorsitzender<br />

von Africa-Israel und erst<br />

kürzlich nach London gezogen, darf<br />

mit US$ 4,93 Mrd. Platz 21 sein Eigen<br />

nennen. Auch der Unternehmer Poju<br />

Zabludowicz, mit US$ 3,95 Mrd. an 31.<br />

Stelle, und Diamantenkönig Benny<br />

Steinmetz (US$ 3,55 Mrd., Platz 39), der<br />

zwar in Israel lebt, aber einen briti -<br />

schen Wohnsitz hat, sind auf der Liste<br />

vertreten.<br />

Wie bereits im Vorjahr ist auch in diesem<br />

Jahr Roman Abramovich auf Platz 2<br />

zu finden. Der russisch-jüdische Besit<br />

zer des renommierten britischen<br />

Fuß ballclubs Chelsea hält ein Vermö -<br />

gen von insgesamt US$ 23 Mrd. Seine<br />

Exfrau Irina belegt nach der Schei -<br />

dung mit US$ 305,8 Mio. immerhin<br />

Platz 516.<br />

Joab Ben Zeruiah Synagogue, Aleppo<br />

© Larry Luxner/JTA<br />

Israelischer Rabbiner besucht Syrien<br />

Der orthodoxe Rabbiner Yisrael Meir<br />

Gabbai besuchte die jüdische Ge mein de<br />

von Syrien. Er sei freundlich willkommen<br />

geheißen worden und hätte sich<br />

auch, trotz seiner eindeutigen Klei -<br />

dung, in Damaskus frei bewegen können,<br />

schilderte Gabbai, der so wohl<br />

einen israelischen <strong>als</strong> auch einen französischen<br />

Pass besitzt, später der religiösen<br />

Zeitschrift ‘Hamodia’. Überhaupt<br />

hätte der Rabbiner einen sehr<br />

po sitiven Eindruck von dem <strong>als</strong> Isra -<br />

els Erzfeind bekannten Staat gewonnen.<br />

Und auch die jüdische Gemein de<br />

hätte ihm die gute Behandlung durch<br />

Präsident Bashar Assad bestätigt.<br />

Allerdings weisen Assads Kritiker darauf<br />

hin, dass kaum eine Minderheit<br />

im Polizeistaat Syrien offen Kritik am<br />

Regime üben würde ...<br />

Yad Vashem Fotoarchiv online<br />

Anlässlich des diesjährigen Holo -<br />

caust ge denktags stellt die israelische<br />

Ho lo caust-Gedenkstätte Yad Vashem<br />

130.000 Fotos aus ihrem Archiv online<br />

(http://www.yadvashem.org/). Die Bil der<br />

zeigen sowohl Szenen aus den Ghet -<br />

tos während den Deportationen, <strong>als</strong><br />

auch die Zwangsarbeit, die Konzen -<br />

tra tionslager sowie die Befreiung.<br />

Auch eine Suchabfrage nach Thema,<br />

Name oder Ort ist möglich. Jedem<br />

Foto ist eine Beschreibung seines In -<br />

halts angefügt. Beim Klick auf das Bild<br />

wird eine Google-Landkarte geöffnet,<br />

die den abgebildeten Ort im größeren<br />

Zusammenhang zeigt.<br />

Die Yad Vashem-Fotos sollen nicht nur<br />

die Aufmerksamkeit der Menschen<br />

für die Wichtigkeit dieses Archivs<br />

schärfen, sondern auch Personen, die<br />

ähnliche Bilder besitzen, dazu anregen,<br />

diese der Gedenkstätte zur Ver fü gung<br />

zu stellen, um sie einer breiteren<br />

Öffentlich zugänglich zu machen und<br />

vor dem Vergessen zu bewahren, so<br />

Av ner Shalev, der Direktor von Yad<br />

Vashem.<br />

Außerdem sind auf einem eigenen<br />

YouTube-Channel englische und arabi<br />

sche Beiträge von Yad Vashem zum<br />

Thema Holocaust zu sehen (http://<br />

www.youtube.com/user/YadVashem).<br />

Äthiopischer Rabbiner<br />

wird Knesset-Abgeordneter<br />

Rabbi Mazor Bayana von der Shas Par tei<br />

ist das erste streng orthodoxe Knes -<br />

set-Mitglied äthiopischer Herkunft.<br />

Er folgt Rabbi Shlomo Benizri nach,<br />

der aufgrund von Korruptions vorwür<br />

fen zurücktreten musste. Ba ya na<br />

ist damit der dritte äthiopische Jude<br />

im israelischen Parlament. Die anderen<br />

beiden waren säkulare Mitglieder<br />

von Arbeiterpartei und Kadima.<br />

JDate nun auch in England<br />

Die amerikanische Online-Com mu ni ty<br />

für jüdische Singles, JDate, bietet nun<br />

auch einen Ableger für das Vereinigte<br />

Königreich an. Auch lokale Partys und<br />

Veranstaltungen werden darauf zu<br />

finden sein: http://www.jdate.co.uk/<br />

Mit ihren 300.000 Juden haben die<br />

britischen Inseln die fünftgrößte jüdische<br />

Bevölkerung der Welt.<br />

Israelische Orte <strong>als</strong><br />

Naturwunder nominiert<br />

Drei israelische Naturschauplätze ge -<br />

hen ins Rennen um die neuen Sieben<br />

Naturwunder, die es auf der Webiste<br />

www.new7wonders.com zu wählen gilt:<br />

Das Tote Meer, die Oase Ein Gedi und<br />

36 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />

die Felsformation Rosh Hanikra. Mit -<br />

gestimmt werden kann noch bis zum<br />

31.12.<strong>2008</strong>, dann werden die Top 21<br />

genannt und der nächste Wahl vor gang<br />

eingeleitet. Im Sommer 2010 sollen<br />

schließlich die Gewinner feststehen.<br />

Die Wahl soll auch der Völker ver -<br />

stän digung und dem friedlichen Zu -<br />

sammenleben dienen, so Stephanie<br />

Mc Namara, die Sprecherin der Non -<br />

profitorganisation New7wonders, die<br />

für die Wahl verantwortlich zeichnet.<br />

Die Lage des Toten Meers wird mit Is -<br />

ra el/Jordanien/Besetzte Pa läs tinen si -<br />

sche Gebiete angeführt, der offiziellen<br />

Ortsbezeichnung der Vereinten Na tionen,<br />

gegen die es bisher auch keine<br />

Be schwerden gab, so McNamara.<br />

Erster koscherer Wein aus Zypern<br />

Die winzige jüdische Gemeinde von<br />

Zypern kann sich nun über die ersten<br />

12.000 Flaschen ihres eigenen koscheren<br />

Weines „Yayin Kafrisin“ freuen.<br />

Das 300 Jahre alte Weingut Lambouri<br />

in Kato Platres produziert die Caber net<br />

Sauvignon-Grenach Noir Mischung, die,<br />

laut Rabbi Zeev Raskin, dem Co-Di -<br />

rek tor des zypriotischen Chabad, nach<br />

dem zypriotischen Wein benannt ist,<br />

der im Talmud <strong>als</strong> wichtige Zutat zur<br />

Räucherung im Jerusalemer Tempel<br />

erwähnt wird.<br />

Raskin hatte selbst die Idee, koscheren<br />

Wein zu produzieren und überwacht<br />

nun jeden Produktionsschritt. Zur Zeit<br />

ist der Wein ausschließlich am Wein -<br />

gut oder im Chabad Haus auf Zypern<br />

erhältlich, kann aber auch ins Aus land<br />

geliefert werden. Exporte nach Israel<br />

und in die USA sind aber bereits in<br />

Planung.<br />

Beckham-Sohn in jüdischer Vorschule<br />

Fußball-Star David Beckham und sei ne<br />

Frau, das ehemalige Spice Girl Vic to ria,<br />

haben ihren Sohn Cruz, 3, an einer exklusiven<br />

jüdischen Vorschule in der<br />

Um gebung von Los Angeles angemel -<br />

det, berichtet die Londoner ‘Sun’.<br />

Laut dem Boulevardblatt soll Beck -<br />

hams Mutter Jüdin sein, ihren Glau -<br />

ben aber nicht praktizieren.<br />

Froschschenkel nun auch in Israel<br />

Einer der führenden israelischen Im -<br />

por teure, Tiv Tam, bringt nun erstm<strong>als</strong><br />

kleine Mengen an nichtkoscheren fran -<br />

zösischen Delikatessen nach Isra el. Die -<br />

se werden in einigen wenigen Gour -<br />

met restaurants erhältlich sein, so zum<br />

Beispiel im „Chloelys“ in Ramat Gan.<br />

Hitler-Puppe in der Ukraine erhältlich<br />

In einigen Supermärkten in der Ukrai -<br />

ne werden Hitler-Puppen angeboten.<br />

Die etwa 30 cm große, US$ 200,- teure<br />

Figur hat bewegliche Arme, um den<br />

einschlägigen Gruß ausführen zu können<br />

sowie einen Ersatzkopf mit freund -<br />

lichem Gesichtsausdruck (!). Auch<br />

ver schiedene Outfits und Zubehör sind<br />

dabei, darunter „der frühe Adolf“<br />

(ein braunes Hemd samt Reithose) und<br />

„Adolf im Krieg“ mit einer grauen,<br />

zweireihigen Tunika, schwarzen Ho sen<br />

und einem einfachen Eisernen Kreuz.<br />

In der Ukraine sind positive Nazi dar -<br />

stellungen verboten. Die jüdische Ge -<br />

meinde des Landes hat bereits ihre<br />

Besorgnis über die Puppe ausgedrückt.<br />

Letzte Umfragen zeigen eine Zu nah me<br />

von Fremdenfeindlichkeit und Rassis -<br />

mus in der Ukraine.<br />

Woody Allen <strong>als</strong> Rabbi<br />

Schauspieler und Regisseur Woody<br />

Allen verklagt das Textil un ter neh men<br />

American Apparel Inc. aufgrund von<br />

ohne seine Zustimmung affichierten<br />

Werbeplakaten, die ihn im Gewand<br />

eines Rabbiners zeigen. Die Szene ist<br />

einem seiner Filme entnommen.<br />

Israelische Araberin gewinnt<br />

Haggadah Kunstwettbewerb<br />

Malek Sharkiyeh, eine israelisch-arabische<br />

moslemische Teenagerin aus Acco,<br />

ging <strong>als</strong> Gewinnerin des mit US$ 300,-<br />

dotierten Preises für ihre Illustration<br />

der Pessach-Haggadah hervor. Der<br />

Wettbewerb wurde vom israelischen<br />

ORT Schulsystem durchgeführt.<br />

Laut Mohammed Hajuj, dem Direk tor<br />

von Sharkiyehs Schule, kommt die Geschichte<br />

vom Exodus, in etwas abgeänderter<br />

Form, auch im Koran vor.<br />

„Es geht darum, was dem Pharao in Ägypten<br />

passiert ist“, erklärt Hajuj, „Es ist<br />

kein Sieg über die Araber, <strong>als</strong>o konnten<br />

die Schüler auch nichts darin finden, was<br />

gegen sie gerichtet wäre.“<br />

Bronzetafeln vontschechischem<br />

Friedhof gestohlen<br />

Siebenhundert Bronzetafeln sind von<br />

Gräbern auf dem Gelände des ehemaligen<br />

Konzentrationslagers The re si-enstadt<br />

nördlich von Prag gestohlen<br />

worden. Kurz zuvor hatte man bereits<br />

327 weitere Tafeln entwendet. Der<br />

Friedhof soll nun besser gesichert<br />

wer den, doch die dafür nötige Finan -<br />

zierung ist noch offen.<br />

Die neuen Tafeln sollen nun aus Kunstharz<br />

gefertigt werden, um erneute<br />

Diebstähle zu verhindern.<br />

Jules Dassin 97jährig gestorben<br />

Der in den USA geborene, aus einer<br />

Fa milie russisch-jüdischer Immigran ten<br />

stammende Regisseur Jules Dassin starb<br />

am 31.3. in Athen. Er verließ Hol ly -<br />

wood in der McCarthy-Ära der 1950 er,<br />

<strong>als</strong> man ihn aufgrund seines Be kennt -<br />

nisses zum Kommunis mus mit einem<br />

Berufsverbot belegte und ließ sich in<br />

Griechenland nieder. Dort heira tete er<br />

die Schauspielerin Melina Mer cou ri,<br />

die auch in vielen seiner Fil me aus den<br />

1960er Jahren zu sehen war. Von Das sin<br />

stammen so bekannte Fil me wie „Ri -<br />

fifi“, „Sonntags...nie!“ oder „Top kapi“<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 37


JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />

Jüdisches Myanmar<br />

Auch die kleine jüdische Gemeinde<br />

blieb vom Zyklon nicht verschont<br />

Vom Zyklon zerstörtes Synagogen-Fenster<br />

Viel ist nicht übrig geblieben von der<br />

einst florierenden Gemeinde des heutigen<br />

Myanmar. 4.000 Mitglieder,<br />

haupt sächlich iranischen, irakischen<br />

und indischen Ursprungs, hatte man<br />

im Burma der 1940er gezählt – im<br />

Jahr 2007 waren es nur noch 20.<br />

© Thomas Feiger<br />

Eingang zur Synagoge<br />

Die jüdische Gemeinde hatte ab<br />

1870 genügend Mitglieder, um auch<br />

<strong>als</strong> solche zu gelten. 1854 wurde aber<br />

bereits die erste Synagoge aus Holz<br />

gebaut. Zwischen 1893-1896 entstand<br />

dann die jetzige Musmeah Yeshua<br />

Synagoge, ein Massivbau.<br />

Mit der An kunft der Japa ner wurde<br />

die Ge mein schaft wieder zerstört, da<br />

man sie <strong>als</strong> potentielle Sym pa thi -<br />

santen der britischen Regierung er -<br />

ach tete. Dam<strong>als</strong> flüchteten ca. 1.200<br />

Juden nach Kal kutta, von welchen<br />

nach dem Krieg nur ca. 500 zurückkehrten.<br />

Mit dem Militär putsch von<br />

General Ne Win 1962 verschlechterte<br />

sich die Lage für die ethischen und re -<br />

li giösen Minder hei ten in Bur ma drastisch,<br />

so dass die meisten Juden das<br />

Land verließen. Bis zum heutigen Tag<br />

leben noch eine handvoll Juden in<br />

Yangon, allerdings wurde der letzte<br />

reguläre Schabbat 1965 durchgeführt.<br />

Die Synagoge ist an al len Festtagen<br />

ge öffnet, aber ein minjan, an dem<br />

eine Mindestanzahl von 10 Männern<br />

anwesend sein müssen, damit ein<br />

Gottesdienst durchgeführt werden<br />

kann, kann nur durch die Hil fe und<br />

Anwesenheit von Is ra elis, Ame ri ka -<br />

nern, kanadischen Di plo ma ten oder<br />

Touristen durchgeführt werden.<br />

Die heute verbliebenen 20 Juden Myan<br />

mars leben in der Hauptstadt Yan -<br />

gon und der zweitgröß ten Stadt des<br />

Landes, Mandalay. . „Unsere Gemeinde<br />

lebt in ständiger Angst. Niemand weiß,<br />

was morgen geschieht.“, schildert Sami<br />

Samuels, einer der letz ten Juden von<br />

Yangon, seine Si tu a tion. „Voriges Jahr<br />

waren die traurigsten Hohen Fei er tage<br />

seit sehr langer Zeit... Wir mussten unsere<br />

Gottes diens te den vom Mi litär verhängten<br />

Aus gangs sper ren an passen, die<br />

Straßen waren voller Soldaten und die<br />

gesamte Situation hier ist sehr instabil.<br />

Wie viele andere müssen auch die Juden<br />

um ihr Leben fürchten.“<br />

Die Spannungen zwischen Militär -<br />

jun ta und buddhistischen Mönchen<br />

haben die jüdische Gemeinde veranlasst,<br />

ihre Sicherheitsvorkehrungen zu<br />

verstärken. So wurde erst kürzlich ei ne<br />

private Sicherheitsfirma engagiert, um<br />

die einzige Syna go ge in Yangon zu be -<br />

wachen. „Die Unruhen ma chen es auch<br />

schwierig, eine Mindest zahl an Be tenden<br />

aufzustellen,“ so Sa mu els, „Ge wöhn lich<br />

sind Tou risten im Land, doch jetzt findet<br />

man kaum welche. Wohin man auch<br />

blickt, man entdeckt nur Men schen, die so<br />

schnell wie möglich nach Hause wollen.“<br />

Sami Samuels Vater ist der Gabai,<br />

al so der Verwalter der Synagoge von<br />

Yangon. Dieser sieht die Situation ein<br />

wenig op timistischer <strong>als</strong> sein Sohn:<br />

„Die Mi litärjunta hier hegt keinerlei<br />

Groll gegen uns Juden. Wir halten uns<br />

aus der Politik heraus, <strong>als</strong>o betreffen uns<br />

die momentanen Vorgänge auch nicht<br />

wirk lich“, meint er. „Sicher hatten wir<br />

in diesem Jahr Schwie rigkeiten, genügend<br />

Betende zu finden. Aber unsere Freunde<br />

aus der israelischen Botschaft helfen uns<br />

da schon aus.“<br />

Israelische Freiwillige in Myanmar<br />

© Thomas Feiger<br />

Die Musmeah Yeshua Synagoge<br />

Der israelische Freiwilligen-Dach ver band IsraAID (The Interna tio nal Fo rum<br />

for International Hu ma nitarian Aid) hat sich sofort nach Bekannt werden<br />

der Zyklon-Katastrophe in Myanmar zu Hilfsmaß nah men entschlossen und<br />

ein kleines Expertenteam von Ärzten, Kranken schwes tern und Wasser spe -<br />

zia listen in die Krisen region geschickt.<br />

Das Team setzt sich aus Frei wil li gen der Nichtregierungsor ga nisa tionen Fast<br />

Israeli Rescue & Search Team (F.I.R.S.T) und Israeli Flying Aid zusammen und<br />

wird von Dr. Ephraim Laor, Israels Top-Spezia lis ten für Katastrophenhilfe,<br />

geleitet.<br />

Entgegen Medienberichten, wo nach das Militärregime in Burma ausländische<br />

Helfer an der Ein rei se hindern, sind dem israelischen Team bisher keine Pro -<br />

ble me bereitet worden. Experten schätzen, dass etwa 100.000 Men schen von<br />

dem Zy klon getötet wurden und weitere 1.5 Millionen direkt be trof fen sind.<br />

38 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />

Pitigliano<br />

La Piccola Gerusalemme<br />

Ein Streifzug durch die jüdische Toskana<br />

Pitigliano ist eine alte Etruskerstadt<br />

am südöstlichen Zipfel der Tos ka na<br />

gelegen, ein antikes Gesamt kunst -<br />

werk von atemberaubender Schönheit<br />

auf der Abbruchkante ei nes massiven<br />

Tuffsteinfelsens thronend, auf dem<br />

Natur und Architektur, Fels und Häu -<br />

ser miteinander verwachsen sind, ein<br />

irreal anmutender Blick. 4.075 Ein -<br />

Von L. Joseph Heid<br />

wohner zählte dieses Städtchen am 31.<br />

Dezember 2004, alle römisch-ka tho -<br />

lischen Glaubens – und eine Jüdin,<br />

Elena Servi.<br />

Die im 16. Jahrhundert erbaute, 200<br />

Jahre später erneuerte und 1995 renovierten<br />

Synagoge ist heute ein An zie -<br />

hungspunkt für Touristen vor al lem<br />

aus Deutschland, Österreich (und Tel<br />

Aviv), bei dem es an jüdischem Kul -<br />

turkitsch nicht gerade mangelt. Es gibt<br />

einen historischen Weinkeller, in dem<br />

der koschere Wein, der heute wieder<br />

zu kaufen ist, gelagert wurde, eine<br />

Mikwe, das rituelle Tauchbad, eine<br />

koschere Metzgerei und eine Bäcke -<br />

rei, Forno delle Azzime, in der 1939<br />

letztm<strong>als</strong> Mazze und der Pes sach ku -<br />

chen für die Gemeinde gebacken<br />

wurde, bevor die italienischen Ras se -<br />

gesetze das jüdische Leben außer<br />

Kraft setzten. Heute ist die jüdische<br />

Keks maschine für die Touristen wieder<br />

in Betrieb genommen. Es gibt ein<br />

Video, das Elena Servi zeigt, wie sie<br />

ihre Kekse backt. Die koschere Keks -<br />

ma schine en miniatur kann zum Sel -<br />

berbasteln käuflich erwerben, und<br />

ein Kochbuch noch dazu. Die leibhaftigen<br />

Juden von Pitigliano sind in den<br />

Todeslagern der Nazis oder in der<br />

Emi gration verschwunden, Kommerz<br />

und Kitsch haben die ermordeten<br />

Juden ersetzt.<br />

Es wirkt merkwürdig anachronis -<br />

tisch, dass in Pitigliano alles koscher<br />

ist – und alles ohne Juden. Jüdisches<br />

ist offensichtlich schick und „in“ und<br />

den nichtjüdischen Besucher mag das<br />

Gefühl beschleichen, politisch korrekt<br />

zu handeln, wenn man die jüdischen<br />

Stätten besucht. Ohne lebende Juden<br />

kann man seinen philosemitischen<br />

Ge fühlen freien Lauf lassen. Das In -<br />

ter esse am verschwundenen Juden -<br />

tum ist enorm und ist nicht nur hier<br />

ein Phänomen. Der seit 1996 bestehende<br />

Verein „Klein-Jerusalem“ richtet<br />

regelmäßig im Sommer ein Kul tur -<br />

festival aus. Das Judentum hat sich<br />

reduziert auf Klischees und Folklore<br />

vor einer in Tuffstein-Felsen gehauenen<br />

bizarren Kulisse. Hier wird eine<br />

gemeindelose Synagoge zur Schau<br />

ge stellt in der Art von Karl-May-<br />

Festspielen, wobei Juden die Rolle<br />

der Indianer geben.<br />

Das „Kleine Jerusalem“ wurde Pi -<br />

tigliano einstm<strong>als</strong> genannt, aber klingt<br />

es auf italienisch nicht schöner: „La<br />

Pic cola Gerusalemme di Piti gli a no“?<br />

Juden machten in diesem toskanischen<br />

Jerusalem die Hälfte der Be völkerung<br />

aus. Dieser magische Ort des toskanischen<br />

Judentums hat mit der Wirk lich -<br />

keit des heutigen italienischen Ju den -<br />

tums nicht mehr viel ge mein.<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 39


JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />

Gabriele Bedarida, Sekretär der jü -<br />

dischen Gemeinde in Livorno, spricht<br />

von einem insgesamt zwar moderaten<br />

Antisemitismus in Italien, bei den<br />

Neofaschisten sowieso, aber verstärkt<br />

vor allem bei der Linken, die ihn in<br />

Sympathie für die Paläs ti nen ser mit<br />

einem Antizionismus verknüpfen.<br />

Pitigliano<br />

Die „moderne“ Florentiner Syna go -<br />

ge wurde 1882 eingeweiht, ein kuppelgekrönter<br />

Zentralbau, inspiriert<br />

von der Hagia Sophia, mit eklektischen<br />

Stilrichtungen, wobei maurische<br />

Elemente überwiegen. Die deutschen<br />

Besatzer haben dieses Gottes -<br />

haus während des Krieges <strong>als</strong> Garage<br />

für Militärfahrzeuge entweiht, und<br />

was die Nazi-Vandalen bei ihrem Ab -<br />

zug aus der Stadt in ihrer Zerstö rungswut<br />

nicht zu vernichten ver moch ten,<br />

wurde, <strong>als</strong> der Arno 1966 über die<br />

Ufer trat und drei Meter hoch in der<br />

Synagoge stand, von den Flu ten des<br />

Flusses mitgenommen. 90 der 100 hei -<br />

ligen Thorarollen und 15.000 Bü cher<br />

der Bibliothek wurden unwie der -<br />

bringl ich vernichtet.<br />

Dreizehn von 234 Juden kehrten<br />

aus den Vernichtungslagern der Nazis<br />

nach Florenz zurück. Heute ist<br />

Florenz mit etwas über 600 Mit glie -<br />

dern die größte Jüdische Gemeinde in<br />

der Toskana gefolgt von Livorno, Pisa<br />

und Sienna. Das florentiner-jüdische<br />

Angebot an Serviceleistungen ist be -<br />

achtlich: Neben der großen Synagoge<br />

unterhält die Gemeinde ein viel be -<br />

suchtes Museum, einen monumentalen<br />

Friedhof, ein Kulturzentrum und<br />

einen koscheren Markt mit einem<br />

Ver kaufsautomaten mit koscheren<br />

Snacks und Sandwiches für Touris ten.<br />

Privat geführte koschere Restaurants<br />

komplettieren das Angebot.<br />

Livorno ist eine bedeutende Hafen -<br />

stadt und wichtiger Handelsort, Anund<br />

Auslaufhafen zahlreicher Kreuz -<br />

fahrschiffe, so dass sich ab und zu<br />

Pas sagiere beim Landgang in die na he<br />

gelegene Synagoge verirren. Bis zum<br />

Krieg hatte die Gemeinde über 1.000<br />

Mitglieder, es gab eine jüdische Schu le,<br />

ein Waisenhaus, ein Hospital. Die alte<br />

Synagoge wurde durch alliierte Bomben<br />

zerstört.<br />

600 Juden zählt die Jüdische Ge -<br />

meinde von Livorno heute, die meis -<br />

ten von ihnen haben ihre Wurzeln im<br />

sephardischen Judentum des 16. Jahr -<br />

hunderts, was sich im Ritus des Got -<br />

tesdienstes noch niederschlägt. Im<br />

Gemeindearchiv werden die eindrucksvollen<br />

Faszikeln der spanischportugiesischen<br />

Juden bewahrt. Li vorno<br />

ist die einzige Medici-Stadt, die<br />

nie ein Ghetto eingerichtet hat. Eine<br />

Be son derheit der Livornoer Juden ist<br />

eine eigene Sprache, die auch heute<br />

noch gepflegt wird – das Bagitto, ein<br />

Sprach mix aus spanisch, italienisch<br />

und he bräisch. Dieses Idiom unterscheidet<br />

sich stark von der Sprache,<br />

die die italienischen Juden im All ge -<br />

meinen sprechen. Bagitto wurde zur<br />

Lingua Franca und die damit verbundene<br />

Kü che – Couscous z.B. - wurde<br />

Teil der geläufigen Küche Livornos.<br />

Ju den in Livorno waren die ersten, die<br />

in Italien mit Tomaten kochten, die<br />

ihren Weg von Mittelamerika mit den<br />

jüdischen Flüchtlingen der iberischen<br />

Halbinsel ins Medici-Italien nahmen.<br />

Eine eher spärliche Zuwanderung<br />

in den letzten Jahren aus den maghrebinischen<br />

Staaten hat nicht zu einem<br />

nennenswerten Aufschwung der Ge -<br />

meinde in Livorno geführt. Dabei hat<br />

die Gemeinde alles, was für ein lebendiges<br />

Judentum notwendig ist: eine<br />

re präsentative Synagoge mit postmoderner<br />

Architektur aus den 1960er<br />

Jahren, die sich von den Renaissance-<br />

Bauten der Umgebung deutlich ab hebt<br />

und sich <strong>als</strong> Ausdruck eines neu en italienischen<br />

Judentums der Post-Schoah-<br />

Ära interpretieren lässt, eine Innen -<br />

aus stattung, die dem Stiftszelt der<br />

Wüs tenwanderung nachempfunden<br />

ist, die durch zwei rote Deckenfenster<br />

blutrotes Licht einfallen lässt, was die<br />

jüdische Leidensgeschichte symbolisieren<br />

soll, einen jungen Rabbiner aus<br />

Israel, koschere Küche und einen ko -<br />

scheren Metzger für jüdisches Fast<br />

food, koscherer Wein aus der Tos ka na,<br />

Mikwe. Neben der Eingangstür wur -<br />

de zur 200-Jahrfeier von Sir Moses<br />

Montefiore 1985 eine Skulptur errichtet.<br />

Rundum Bewachung durch die<br />

Polizei für jüdische Einrichtungen<br />

auch in der Toskana, das ist inzwischen<br />

globaler Standard. An Unter -<br />

stüt zung mangelt es der Gemeinde<br />

nicht. Gemeindesekretär Gabriele<br />

Bedarida kann nicht klagen: „Es gibt<br />

hinreichend finanzielle Unterstützung<br />

durch Staat und Kommune für alle mögli -<br />

chen Projekte, die wir durchführen wollen“.<br />

Doch die Mitglieder bleiben dem<br />

Ge meindeleben fern. Zwischen 2002<br />

und 2006 gab es jeweils eine Hochzeit<br />

pro Jahr, 2004 waren es drei. In Li vor -<br />

no findet am Schabbat nur noch samstags<br />

Got tesdienst statt. Zu den vergangen<br />

Fei ertagen brachte man mit<br />

Ach und Krach einen Minjan zusammen.<br />

Im he rannahenden Win ter wird<br />

Livorno<br />

40 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />

man den Got tes dienst, um Heiz kos -<br />

ten zu sparen, in ei ner Art Not sy na -<br />

goge, ei nem jiddischen Schtibl nicht<br />

un ähn lich, im Kel ler geschoss durchführen.<br />

Nie mand der Gemeinde ver -<br />

treter glaubt langfristig an eine Wei -<br />

ter ent wicklung der jüdischen Ge -<br />

mein den in der Tos kana. Das Pro blem<br />

des tos ka nischen Juden tums, das von<br />

vielen Offiziellen der Ge meinden hinter<br />

vorgehaltener Hand allenthalben<br />

ge nannt wird, ist weniger die innere<br />

Aus zehrung <strong>als</strong> ein Trend, der in der<br />

Gesamtdiaspora fest zu stel len ist - die<br />

sogenannten Misch ehen, die zur Ent -<br />

frem dung vom Ju dentum führen und<br />

die Existenz der Ge mein den ge fähr -<br />

den. Viele Ge mein de funk tionäre räumen<br />

den Ge mein den we nig Zu kunfts -<br />

chan cen ein, aber niemand will sich<br />

zi tieren lassen. Eine pessimis tische<br />

Stimme aus Li vor no ora kelt, dass es<br />

in 20 bis 30 Jah ren kei ne Jü di sche Ge -<br />

mein de mehr in Li vor no ge ben könnte.<br />

Das Gesagte trifft mit Ab stri chen<br />

auf die heute noch in tak ten, wenn<br />

auch klei nen Ge mein den in Massa,<br />

Luc ca, Pistoia, Prato, Pisa (200 Mit -<br />

glieder), Empoli und Sienna (we ni ger<br />

<strong>als</strong> 100 Mit glie der) zu.<br />

Die Juden haben, <strong>als</strong> Napoleon im<br />

Jahre 1799 die Toskana seinem Reich<br />

einverleibte, den französischen Im pe -<br />

rator <strong>als</strong> ihren Befreier von den Fes -<br />

seln ihrer Ghettoexistenz begrüßt.<br />

Die ro ten Hüte, die jüdische Männer<br />

auf dem Kopf und die roten Zeichen,<br />

die Frau en auf dem Ärmel <strong>als</strong> Stigma<br />

zu Zei ten der Medici hatten tragen<br />

müs sen, sollten von nun an der Ver -<br />

gan genheit angehören. Doch die Na -<br />

po le on-Be gei s terung sollte ihnen nach<br />

des Fremd herr schers Abzug schlecht<br />

be kommen, sie pro vo zierte Gewalt re -<br />

ak tio nen sei tens der toska nischen Be -<br />

völ kerung.<br />

Die berüch tig ten „Ave-Ma ria-Ban den“,<br />

mi li tante Re li gi ons fa nat ti ker, kühlten<br />

ihr na tio na lis tisch-an tise mi tisches<br />

Müt chen an den Ju den, es war dies<br />

eine Zeit der Heim su chung für die toskanisch-jüdische<br />

Bevöl ke rung. Ju den<br />

waren wieder in das alte Paria-Dasein<br />

zu rück gesetzt. An dem Tag, an dem<br />

al lein in Sienna 19 Juden Op fer der<br />

Po gromisten wurden, wur de auch in<br />

Pitigliano ein Po grom veranstaltet,<br />

bei dem es allerdings kei ne To ten gab.<br />

Doch kam es kurz drauf zu einem be -<br />

son deren Ereignis, das einzig ar tig in<br />

der italienischjüdischen<br />

Be -<br />

zie hungs ge -<br />

schich te steht:<br />

Die Bevöl ke -<br />

rung wehr te<br />

sich gegen weitere<br />

Dis kri mi nierungs<br />

maß nah -<br />

men, stell te sich<br />

in ei nem Volks -<br />

auf stand schüt -<br />

zend vor ihre Ju -<br />

den. Es war das En -<br />

de der Se gre ga tion,<br />

die in Pitiglia no nicht<br />

die gleiche war wie<br />

in anderen Tei len der Tos ka na.<br />

Dreißig Juden kehr ten nach dem<br />

Ho locaust nach Pitigliano zurück. Das<br />

reich te nicht einmal zu einem Min jan.<br />

Die Synagoge wurde nur einmal im<br />

Jahr am Jom Kippur geöffnet, der letzt<br />

m<strong>als</strong><br />

im Oktober 1959 ge -<br />

fei ert wurde. Dann wurde die Sy na goge<br />

ge schlossen, weil das Dach einzustür<br />

zen drohte. Der Satz aus Psalm<br />

137, der das In ne re der re novierten<br />

Syna go ge in Pi tigli a no ziert „S’io ti<br />

di mentico, Gerusalem me,...“ („Ver-<br />

gesse ich dein Je ru sa lem,...“) wirkt im<br />

Jahre 2007 wie purer Ana chronismus.<br />

Faszikel der Jüdischen Gemeinde Livorno aus sephardischer Zeit<br />

Prinz Charles eröffnet in Krakau jüdisches Zentrum<br />

Prinz Charles und seine Frau Camilla haben Ende April in Krakau ein jüdisches<br />

Zentrum eröffnet. Die Ein rich tung entstand im ehemaligen jüdischen<br />

Stadtviertel Kazimierz, einem Siedlungsort der Juden seit dem 15. Jahr -<br />

hundert. Wie die polnische Nach richtenagentur PAP berichtete, befestigte<br />

der britische Thronfolger an der Eingangstür zum Gebäude eine Me zu zah<br />

(eine Kap sel, die einen Per ga ment streifen mit einer Inschrift aus der Thora<br />

enthält). An der Veran stal tung be teiligten sich Holocaust-Überlebende<br />

sowie der Oberrabbiner von Polen, Michael Shudrich.<br />

Den Bau des Zen trums hatte die in Großbritannien an sässige Organisa tion<br />

World Jewish Relief organisiert. Nach einem Besuch in Krakau 2002 übernahm<br />

Charles die Schirm herrschaft über das Projekt und half, die Gelder<br />

zu sammeln. Kazimierz war jahrhundertelang ein blühendes Zentrum des<br />

jüdischen Le bens gewesen – heute, nach dem Holcaust, le ben nur noch<br />

mehrere Hundert Juden dort.<br />

© EPA/JACEK BEDNARCZYK<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 41


KULTUR • INLAND<br />

KULTUR<br />

EDITH KURZWEIL:<br />

Ein erfülltes Leben<br />

zwischen <strong>Wien</strong> und<br />

New York<br />

In ihren Memoiren<br />

„Full Circle“ nimmt uns<br />

die Soziologin auf eine<br />

spannende Reise<br />

Am 9. Februar 1939 wurde die 14-jährige<br />

Edith Weisz, wohlbehütete Toch -<br />

ter des Besitzers eines florierenden<br />

Stein- und Marmor-Unter neh mens<br />

mit einem Kindertransport von <strong>Wien</strong><br />

nach Belgien geschickt: In ihrer alleini<br />

gen Obhut der 11-jährige Bru der,<br />

Hansl. Vater Ernst Weisz wurde auf<br />

Betreiben eines Konkurrenten gleich<br />

nach dem Anschluss verhaftet und ge -<br />

zwungen seinen Betrieb zu verkaufen.<br />

Der Mutter gelang es, im April 1940<br />

nach Genua zu fliehen und anschliessend<br />

in die USA zu gelangen.<br />

In ihren vorliegenden Memoiren<br />

„Full Circle“ *schildert die promovierte<br />

Soziologin Edith Kurzweil mit er -<br />

schrec kender und ergreifender Akribie<br />

ihre Odyssee durch mindestens<br />

elf Städte und Dörfer in Belgien,<br />

Frankreich, Spanien und Portugal: Sie<br />

hungert für den kleinen Hansl und<br />

mit ihm und bringt ihn durch alle Hö -<br />

hen und Tiefen einer dramatischen<br />

Flucht durch halb Europa. Statt in der<br />

elterlichen Wohnung in der Wiedner<br />

Hauptstrasse ihr sorglos gutes Leben<br />

<strong>als</strong> Jugendliche zu genießen, muss<br />

sich das Mädchen unter wiederholter<br />

Lebensgefahr bewähren und vor un -<br />

ter schiedlichsten Bosheiten schützen.<br />

Geistig durch ihr Lieblingsbuch „Trotz -<br />

kopf“ gestärkt, übersteht sie di verse<br />

Flüchtlingspensionate ohne ih ren sarkastischen<br />

Humor zu verlieren. Den<br />

zahlreichen behördlichen Hürden und<br />

Tücken in fremden Städten be geg net<br />

sie „mit einem ständigen Lä cheln“,<br />

ironisiert Kurzweil sich selbst.<br />

Doch das ist nur das erste frühe, dramatische<br />

Kapitel im Leben einer vierfa<br />

chen Mutter, Universitätspro fes so -<br />

rin, Autorin und Wissen schaft le rin, die<br />

nach persönlichen Tiefschlägen im mer<br />

wieder Kraft und Lebensmut ge fun -<br />

den hat, auch auf der akademischen<br />

Karriereleiter hochzusteigen. Nach ih -<br />

rem PhD an der New School for So cial<br />

Research im Jahre 1973 begann sie das<br />

Aushängeschild der US-Intellek tuel len,<br />

Partisan Review, zu lesen, nicht ah nend<br />

wie sehr diese Publikation ihr Leben<br />

verändern sollte. Während der Lehr -<br />

tätigkeit an der Rutgers University und<br />

später an der Adelphi University be gann<br />

sie für das Magazin zu arbeiten, nachdem<br />

sie den Herausgeber, Wil liam<br />

Phil lips, kennen gelernt hatte. 1994<br />

heiratete sie den Gründer und übernahm<br />

die Chefredaktion des Partisan<br />

Review.<br />

Von nun an zählte sie, ebenso wie<br />

die weltberühmten Autoren, zum ex -<br />

klu siven Kreis der New Yorker Intelli -<br />

gentsia. Aber sie vergaß <strong>Wien</strong> weder<br />

emotionell, noch ihre europäischen<br />

Wurzeln literarisch. Kurz nach dem<br />

Zer fall des kommunistischen Blocks<br />

veranstaltete sie hochkarätig besetzte<br />

Symposien: Dabei brachte sie Nobel -<br />

preis-Laureaten wie Saul Bellow, Jo sef<br />

Brodsky, Doris Lessing und Literaten<br />

vom Format eines Czeslaw Milosz<br />

oder Norman Manea mit den bis da -<br />

hin isolierten Kollegen aus Osteu ro pa,<br />

wie György Konrád, Tatjana Tolstoi<br />

und Slavenka Drakulic erstm<strong>als</strong> in<br />

persönlichen Kontakt.<br />

Edith Kurzweils Lebensgeschichte<br />

zeigt auf beeindruckende Weise, wie<br />

viel man dieser jungen Frau durch<br />

die NS-Vertreibung genommen hat,<br />

welch schwere seelische Bürde ihr<br />

aufgelastet wurde. Dennoch ist es ein<br />

erfülltes Leben: Eine starke, positive<br />

Frau hat - sobald sie eine Chance<br />

dazu hatte – doch viel mehr gegeben<br />

<strong>als</strong> genommen. MARTA S.HALPERT<br />

*EDITH KURZWEIL<br />

Full Circle<br />

A Memoir, With an introduction<br />

by Walter Laqueur<br />

2007 by Transaction Publishers,<br />

New Brunswick, New Jersey.<br />

Deutsche Bücher:<br />

Edith Kurzweil: „Briefe aus <strong>Wien</strong>“ –<br />

Jüdisches Leben vor der Deportation.<br />

Verlag Turia-Kant, <strong>Wien</strong> 1998.<br />

Edith Kurzweil: „Die Freudianer“.<br />

Deutsche Fassung bei Klett-Cotta<br />

Stuttgart 1993<br />

Hohe Auszeichnung<br />

für Samy Molcho<br />

Der für seine "Kör per sprache" weltweit<br />

be kann te Tän zer und Pan to mi me<br />

Samy Molcho er hielt das Goldene Eh -<br />

renzeichen für Ver dien ste um das<br />

Land <strong>Wien</strong>.<br />

Zahlreiche Ehrengäste ka men, um<br />

dem Ausge zeich neten ihre Referenz<br />

zu erweisen, an der Spit ze Bundes -<br />

kanz ler Dr. Alf red Gusen bauer, der<br />

persönlich die Lau da tio für Samy<br />

Molcho hielt.<br />

42 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


KULTUR • KOLUMNE<br />

US-Neurowissenschafter<br />

Robert Schwarcz<br />

zum Unirat bestellt<br />

Robert Schwarcz wurde 1947 in <strong>Wien</strong><br />

geboren und begann Ende der 1970er<br />

Jahre seine wissenschaftliche Kar ri e re<br />

im Ausland. Seit 1986 ist Schwarcz<br />

Professor für Psychiatrie an der Uni ver -<br />

sity of Maryland in den USA. Robert<br />

Schwarcz blieb auch während der<br />

Jah re seiner internationalen Tätigkeit<br />

eng mit der Medizinischen Fakul -<br />

tät/Medizinischen Universität <strong>Wien</strong><br />

verbunden: So war er unter anderem<br />

von 1995 bis 2000 Mitglied des Advi -<br />

so ry Board des Instituts für Hirn for -<br />

schung (heute Zentrum für Hirn for -<br />

schung der MedUni <strong>Wien</strong>) und Mit -<br />

glied mehrerer Berufungs kom mis si o -<br />

nen an der <strong>Wien</strong>er MedUni ist der Uni -<br />

versitätsrat der MedUni, der im März<br />

dieses Jahres seine neue Amts pe riode<br />

begonnen hat, nun komplettiert.<br />

Kurzbiographie – Robert Schwarcz,<br />

Jahr gang 1947, wurde in <strong>Wien</strong> geboren<br />

und studierte an der Universität <strong>Wien</strong><br />

Biochemie. Nach Aufenthalten an der<br />

Johns Hopkins University in Baltimore<br />

(MD) und am Karolinska Institutet in<br />

Stockholm wurde er 1979 an der Uni -<br />

versity of Maryland in Baltimore (MD)<br />

Assistant Professor of Psychia try.<br />

1986 wurde er auf eine Professur für<br />

Psychiatrie am Maryland Psychiatric<br />

Research Center berufen und erhielt<br />

gleichzeitig eine Professur für Phar ma -<br />

ko logie an der University of Mary land.<br />

Professor Schwarcz ist Träger zahlreicher<br />

internationaler Auszeichnungen<br />

und Mitglied im Herausge ber ko mi tee<br />

zahlreicher renommierter in ter na tio -<br />

na ler Zeitschriften.<br />

Die David Ben Gurion<br />

Stiftung in Hamburg<br />

wurde am 14. <strong>Mai</strong>, genau 60 Jahre<br />

nachdem Israel erster Minis ter prä si -<br />

dent den Staat Israel ausrief, ge grün -<br />

det. Ihre Ziele: wirtschaftliche und wis -<br />

senschaftliche Zusammenar beit und<br />

Jugendaustausch zwischen Deutsch -<br />

land und Israel fördern und die Er in -<br />

ne rung an Israels Staats gründer wach<br />

halten. Initiatorin und Präsidentin der<br />

Stiftung ist Waltraud Rubien, langjährige<br />

Vorsitzende der DIG Ham burg.<br />

Die Schirmherrschaft übernahm Isra -<br />

els früherer Botschafter Shimon Stein.<br />

Überall & nirgendwo<br />

Das heutige jüdische Prag scheint, sieht man von der grenzenlosen<br />

Ver mark tung des Namens von Franz Kafka ab, im<br />

wesentlichen aus dem berühmten Friedhof, der Altneu -<br />

schul und dem Rathaus mit den beiden Uhren zu bestehen.<br />

Dort beim Friedhof stauen sich die Touristen, zum Teil im<br />

Glauben, die Anwesenheit des Golem in der Nähe des Grabs<br />

von Rabbi Löw verspüren zu können. Einige von ihnen stellen<br />

sich auch geduldig bei der Pinkas Synagoge an, vielleicht<br />

sogar um Namen von in Konzentrationslagern ermordeten<br />

Ver wand ten oder Familienfreunden von den Wänden<br />

ablesen zu können. Das jüdische Prag präsentiert sich nunmehr <strong>als</strong> eine Art<br />

Historyland, in dem das Mittelalter nahtlos in die Zeit Rudolf II. übergeht. Das<br />

Prag der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das so wesentlich die europäische<br />

Kultur dieses Zeit be stimmt hat (von Karel Čapek, über Franz Kafka bis zu Jo -<br />

han nes Urzidil) ist of fen sichtlich entweder vollkommen verschwunden oder<br />

nur mehr in der Form von Kaffeehausnamen wie etwa Cafe Milena erhalten.<br />

Nicht ganz. Lenka Reinerová 1 ist die letzte noch lebende Vertreterin der deutsch -<br />

sprachigen Literatur in Prag, die so sehr in Wechselbeziehung zwischen den<br />

Sprachen deutsch und tschechisch, zwischen Tradition und Anpassung stand.<br />

Sie geht durch das heutige Prag, hält fiktive Zwiesprache mit den Freunden<br />

und Gönnern ihrer Jugend wie zum Beispiel mit Egonek, sprich Egon Erwin<br />

Kisch, der sie seinerzeit nicht nur unter seine journalistischen Fittiche nahm,<br />

son dern mit dem sie auch das mexikanische Exil teilte. Im Traumcafe einer Pra -<br />

gerin hält sie Kontakt mit jenem himmlischen Cafe, in dem sich Franz Kafka<br />

immer noch zögernd über seine gegenwärtige Popularität äußert, Max Brod<br />

immer noch von Leos Janaček schwärmt, und sich später Dazugekommene<br />

wie Jaroslav Seifert oder František Langer mit den bereits Anwesenden angefreundet<br />

haben. Selbst Eduard Goldstücker hat dort Platz genommen. Le dig lich<br />

Jaroslav Hašek scheint unzufrieden zu sein: im himmlischen Cafe wird kein<br />

Bier serviert.<br />

So amüsant sich diese Geschichte liest, Der Ausflug zum Schwanensee, ein offizieller<br />

Besuch in Ravensbrück, bedrückt durch die Dichtheit der Eindrücke,<br />

die in literarisch großartiger Art und Weise vermittelt werden. Die Ich-Ebene<br />

wird durchbrochen durch Verwenden der direkten Rede ihrer Begleiter, mühelos<br />

werden selbst erlebte Geschichten verflochten mit den Gedanken, die sie<br />

bestürmen angesichts der Photographien vieler ihr bekannten und, wie die<br />

ihrer kleinen Schwester, geliebten Personen. Der Ausflug zum Schwanensee wird<br />

so – im schönsten Prager Deutsch – zu einer Erzählung einer „Zeitzeugin“.<br />

Nicht Nostalgie befällt sie bei ihrer Zweiten Landung in Mexiko, sondern ein freu -<br />

di ges Gefühl, dort zurück zu sein, wo sie nicht nur <strong>als</strong> Emigrantin geduldet,<br />

sondern sehr willkommen war. Selbst Kisch, bis am späten Vormittag im Py jama<br />

an seinem Schreibtisch sitzend und unzählige Zigaretten rauchend, fand nur<br />

freundliche Worte über jenes Land (Entdeckungen in Mexiko), in dem sie sich<br />

plötzlich <strong>als</strong> überlebende Vertreterin des enormen kulturellen Ein flus ses be fand,<br />

der das Land nachhaltig veränderte.<br />

Das jüdische Prag, das Prag feinfühliger Literatur, das der Lenka Reinerová, gibt<br />

es - trotz des Touristenrummels rund um den Rabbi Löw - offensichtlich im -<br />

mer noch. Es wartet auf eine Wiederentdeckung. PETER WEINBERGER<br />

1<br />

In einer deutschsprachigen jüdischen Familie aufgewachsen, arbeitete sie <strong>als</strong> Journalistin bis<br />

zum Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Prag. 1939 ins Exil nach Paris. Sechs Monate in<br />

Einzelhaft im Pariser Frauengefängnis, danach ein Frauenlager in Südfrankreich, bis sie schließlich<br />

über Casablanca nach Mexiko entkommen konnte. 1945 kehrte sie nach Europa zurück. Zu -<br />

nächst nach Belgrad, 1948 nach Prag. Sie wurde während der stalinistischen Säuberungen rund<br />

um den Slánský-Prozess inhaftiert, jedoch 1964 rehabilitiert. Sie war Chefredakteurin der Zeit schrift<br />

Im Herzen Europas. 1968 wurde sie aus der KP ausgeschlossen und für mehrere Jahre mit Pu bli -<br />

ka tions ver bot belegt. Bis 1989 vor allem <strong>als</strong> Simultandolmetscherin tätig, seitdem sind zahlreiche<br />

Erinnerungsbücher und Erzählungen erschienen (Wikipedia)<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 43


KULTUR • THEATER<br />

Der Beitrag der Region Basel<br />

zur Euro 08 ÖSTERREICH - SCHWEIZ<br />

URAUFFÜHRUNG<br />

TraumBall 4-2-4 -<br />

Eine Musikrevue in zwei Halbzeiten<br />

über den vergessenen ungarischen<br />

Trainer Béla Guttmann<br />

ODEON Theater:<br />

Tickets: Theaterverein Odeon,<br />

1020 <strong>Wien</strong>, Taborstrasse 10<br />

T. +431 216 51 27 Fax +431 216 51 22-27<br />

odeon(at)odeon-theater.at http://odeontheater.lan24.net/<br />

in Koproduktion mit Kaserne Basel, Theater Transit<br />

<strong>Wien</strong> und „<strong>2008</strong>-Österreich am Ball“<br />

Béla Guttmann ist in der Fußball ge schich te<br />

des 20. Jahr hun derts eine der faszinierends -<br />

ten und schillerndsten Fi gu ren. 1899 in eine<br />

jüdische Groß bür gerfamilie in Bu da pest ge -<br />

bo ren üb te er zunächst den Be ruf des Tanz -<br />

lehrers aus (wie sein Vater) und findet <strong>als</strong> Fuß -<br />

baller den sozialen Auf stieg in der un gari schen<br />

Gesellschaft. Er wird in den 20er Jahren Star<br />

des jüdischen <strong>Wien</strong>er Fußball clubs HAKOAH,<br />

mit dem er dreimal die Ös ter reichische Meister<br />

schaft gewinnt. In denselben 20er Jah ren<br />

gehen die 11 jüdischen Spie ler die ses Clubs<br />

auf Amerika tour nee, wo sie mit ihrer Ball ar -<br />

tistik Fu ro re ma chen und sogar in Va ri e tés<br />

auftreten. Béla Gutt mann bleibt in New York<br />

und wird Mit be sit zer der größ ten Bar dieser<br />

Stadt. Mit dem Börsen crash 1929 verliert er<br />

sein gan zes Ver mö gen und kehrt nach Euro pa<br />

zurück, wo er weiterhin <strong>als</strong> Spie ler, später<br />

<strong>als</strong> Trai ner wirkt. Im zweiten Weltkrieg kommt<br />

sein Bruder, selbst ein bekannter Fuß ball -<br />

spie ler, in Au schwitz um, wäh rend er selber<br />

über die se Zeit nie eine Aus sa ge machte.<br />

Man vermutet, dass er die Kriegsjahre in Brasi<br />

li en verbracht hat, weil er erstaunlicherweise<br />

1945 die portugiesische Sprache be herrsch te.<br />

Von da an beginnt seine Weltkarriere <strong>als</strong> Trai -<br />

ner. Zu den von ihm trainierten Mann schaf ten<br />

ge hören u.a Sao Pa o lo (Brasilien), der AC<br />

Mi lan, und vor al lem BENFICA Lissabon, die<br />

er in ei nem le gendären Spiel in Ams ter dam<br />

(1962) gegen REAL Madrid zum Ge winn des<br />

Eu ro pa pok<strong>als</strong> der Landes meis ter führt. Béla<br />

Gutt mann starb 1981 in <strong>Wien</strong>, wo er auf dem<br />

Jüdi schen Fried hof be graben ist.<br />

Guttmann war eine Legende, eine Au tori tät<br />

auf dem Platze, der den da m<strong>als</strong> erst sich im<br />

Aufwind befindenden Fuß ball revolutionierte<br />

und nichts vom quälenden Kampf und ho hen<br />

Bällen halten mochte. Der Titel 4 2 4 weist<br />

auf ein Spielsystem hin, das zu nächst in Bra -<br />

silien den ungarischen Fuß ball zu seinem<br />

Welterfolg führte, ein reiner An griffs fußball,<br />

der durch ungarische Spie ler und Trai ner in<br />

alle Welt exportiert wurde und vor al lem den<br />

südame rikanischen Fuß ball präg te.<br />

Gedanken zum Stück und<br />

seinem Hintergrund<br />

Zur Fußball WM 2006 erschien das Buch<br />

„Béla Guttmann - Weltgeschichte des Fuß -<br />

balls in einer Person“ von Detlev Claus sen.<br />

Mir wurde bei der Lektüre bewusst, dass ich<br />

in meiner Wie ner Kindheit eine Trai ner per -<br />

sön lichkeit ge kannt hatte, die scheinbar be -<br />

deutender war <strong>als</strong> ich dam<strong>als</strong> verstehen<br />

konnte. Der elegante Herr mit dem wir, mein<br />

Vater, mein Bruder und ich, im ‘Espresso<br />

Eu ro pe’ am Graben saßen, hatte ein be weg -<br />

tes, spannendes Leben gelebt und war maßgebend<br />

an der Geschichte und Entwicklung<br />

des internationalen Fuß balls beteiligt. So kam<br />

es zum Stück.<br />

Die Stimmung seines Lebens war nur in ei -<br />

ner Musikrevue ein zufangen, das war mir<br />

von Anfang an klar. Es galt Mo ti ve zu finden<br />

und Bilder zu schaffen - die Fabel, den er -<br />

zäh lerischen Faden. Die Struktur des Trau mes<br />

schien mir am naheliegendsten: Ein Kind,<br />

das eine Einladung zum Trai ning mit seiner<br />

Lieblingsmannschaft Ben fica Lis sa bon verpasst<br />

hat, reist traumartig in einem Sta tio nen-<br />

Drama mit seinem On kel Béla durch das<br />

vergangene Jahrhun dert. Durch Länder, zu<br />

Fußballclubs, im mer an der Seite Onkel Bélas<br />

und dessen Be gleite rin, einer Frau.<br />

Die Bilder und Mo tive der Szenen ergaben<br />

sich einerseits aus den Län dern in denen Béla<br />

Guttmann trainier te, andererseits aus seinen<br />

wichtigsten biographischen Bau stei nen. Dazu<br />

komponierte Bruno Leusch ner eine kongeniale<br />

Musik, die diese vielfältigen Sta tio nen<br />

virtuos musikalisch umsetzt. Die meisten Si -<br />

tua tionen in diesem Stück beruhen auf Tat -<br />

sachen; in ei nem Traum dürfen aber Tat sa -<br />

chen auch wie Spielkarten durcheinan der ge -<br />

mischt werden. Es müssen die Situatio nen<br />

auf der Bühne in ihrer Kürze drastischer <strong>als</strong><br />

im Leben gezeigt und Motive verdichtet werden,<br />

damit Bilder entstehen können.<br />

TraumBall 4-2-4 ist eine Hommage an eine<br />

schillernde Per sönlichkeit, die manche Älteren<br />

von uns noch aus dem „Espresso Eu ro pe“<br />

am Graben kannten sowie ein Stück jüdische<br />

Fußballgeschichte im Gewand einer Musik -<br />

re vue,<br />

44 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


KULTUR • LITERATUR<br />

aufgeblättert...<br />

von Michaela Lehner<br />

mit freundlicher Unterstützung von IKG-Linz<br />

Im weiten Feld der jüdischen Träume<br />

Der Referenzrahmen für die modernhebräische<br />

und israelische Literatur<br />

war und ist ein historisch wie literarisch<br />

breiter, erstreckt sich von der<br />

Bibel über das religiöse Schrifttum bis<br />

hin zur multilingualen, transnationalen<br />

Diasporaliteratur, ebenso wie ihre<br />

kulturelle und linguistische Funktion<br />

seit ihrem Entstehen am Ende des 19.<br />

Jahrhunderts eine vielfältige, bisweilen<br />

widersprüchliche und politisch<br />

konnotierte war, <strong>als</strong> ihr nicht nur die<br />

kreative Aufgabe der Reanimation<br />

und Adaption der alten hebräischen<br />

Sprache für das zionistische Projekt<br />

zufiel, sondern am Beginn auch der<br />

Formulierung nationaler Narrative<br />

für den zu schaffenden und den jungen<br />

Staat. In diesem weiten Feld der<br />

biblischen Erzählungen, Präsenz der<br />

Vergangenheit, des säkularen Zio nis -<br />

mus und der kritischen Reflexion seiner<br />

Realisierung im Staat Israel be -<br />

wegte sich biographisch und fiktional<br />

der vor drei Jahren verstorbene Autor<br />

Dan Tsalka, denn geboren 1936 in War -<br />

schau immigrierte Tsalka, der seine<br />

frü hen, in die Zeit des Na tio nal so zi a -<br />

lismus und der Shoah fallenden Kin -<br />

derjahre in Kasachstan und Sibirien<br />

verbracht und überlebt hatte, nach<br />

einem Studium der Philosophie und<br />

Literatur in Polen 1957 nach Israel,<br />

um zehn Jahre später mit einem ers -<br />

ten Roman an die literarische Öffentlichkeit<br />

Israels zu treten, zu deren<br />

versiertesten, trotzdem nur spärlich<br />

ins Deutsche übersetzten Vertretern er<br />

fortan gehören sollte. Während sein<br />

Mo numentalepos Tausend Herzen be -<br />

reits exemplarisch seine stilistische<br />

Meis terschaft der narrativen Durch -<br />

drin gung und wechselseitigen Refle -<br />

xion nationaler in familiärer Ge schich -<br />

te zeigte, schließt sein letzter Roman<br />

Im Zeichen des Lotus an diesen literarisch<br />

herausragenden Gründungs my -<br />

thos des Staates Israel so kritisch, me -<br />

lan cholisch wie ironisch an. Dessen so<br />

intelligenter wie lebensunfähiger Pro -<br />

tagonist Jotam Ninio schleppt sich,<br />

von Ehefrau und Lebensmut verlassen,<br />

der Faszination des status constructus<br />

nicht mehr, dem Charme der<br />

kleinen Sar’it jedoch umso mehr erlegenen,<br />

durch ein unter dem Signum<br />

des Verfalls stehenden Jaffa, bis der<br />

absurde, klandestine Plan einer extremistischen,<br />

nationalistischen Unter -<br />

grund organisation zur Errettung des<br />

Staates aus kultureller, ideologischer<br />

und politischer Heterogenität eine<br />

moderne Monarchie in Israel zu in stal -<br />

lieren auch ihn aus der berufli chen<br />

und privaten Krise zu retten scheint.<br />

Zwar wird nicht er zum Aspiranten<br />

in der Königsfolge aus dem Hause<br />

Davids erklärt, dafür aber vom israelischen<br />

Geheimdienst aus seiner Dro -<br />

gen- und Alkoholabhängigkeit herausgeführt<br />

und zum Under co veragen<br />

ten in den monarchistischen<br />

Kreisen Israels erwählt, einen neue<br />

Lebensaufgabe, die Jotam allerdings<br />

erneut in eine existentielle Krise<br />

führt, denn nicht nur fasst sein weniger<br />

an der religiösen, pseudowissenschaftlichen<br />

Fundierung seines Pri -<br />

vilegs <strong>als</strong> an maskuliner Potenz interessiertes<br />

alter ego schnell Vertrauen<br />

zu ihm, auch Jotam entgleitet neuerlich<br />

sukzessive der Sinn für Realität<br />

und Loyalität. „Von der Wiege bis<br />

zum Grab“ ist für Dan Tsalka in seinem<br />

surrealen, zugleich realistisch<br />

nar rativierten Roman nicht nur das<br />

Individuum, sondern auch der Staat<br />

Israel den Anfech tun gen altneuer Träume,<br />

Narrischkeiten und Kon flik te ausgesetzt,<br />

ebenso wie dem kritischen,<br />

wachen Blick des Autors dessen zitaten<br />

reicher und hu manistischer Hu -<br />

mor subtil analysiert, warnt, aber niem<strong>als</strong><br />

verdammt.<br />

DAN TSALKA:<br />

Im Zeichen des Lotus<br />

Übers. v. Barbara Linner<br />

DVA 2007<br />

WIZO erhält<br />

Israel-Preis<br />

Der Staat Israel hat acht soziale Orga -<br />

ni sationen für die diesjährige Ver lei -<br />

hung des Israel-Preises ausgewählt.<br />

Mit dieser höchsten staatlichen Aus -<br />

zeichnung werden seit 1953 jedes<br />

Jahr am israelischen Unab hängig -<br />

keits tag Menschen und Gruppen<br />

geehrt, die ei nen herausragenden<br />

Beitrag für Israel geleistet haben.<br />

In dem Bereich „lebenslanger Beitrag<br />

für Staat und Gesellschaft“ wurde<br />

auch die WIZO ausgezeichnet. Die<br />

Fraue n or ganisation hat einen entscheidenden<br />

Beitrag geleistet, Israel<br />

weltweit in eine führende Position<br />

hinsichtlich der Gleichstellung der<br />

Frau zu brigen, erklärte das Preis ko -<br />

mitee .<br />

Helena Glaser, Präsidentin von Welt WIZO hält dem israel Preis mit dem die WIZO am Yom Haatz -<br />

mauth durch dem Staatspräsidenten Shimon Peres ausgezeichnet wurde. Mit ihnen abgebildet sind<br />

Premier Minister Ehud Olmert und Dalya Itzik, Präsidentin der Knesseth.<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 45


LESERBRIEFE<br />

Betrifft : Ausgabe 619<br />

„Gedenkgegröhle“<br />

von Peter Weinberger<br />

Sehr geehrte Damen und Herren!<br />

Zu allererst muß ich mein Befremden darüber<br />

ausdrücken, daß in diesem Artikel<br />

nebst dem Ausdruck „Gegröhle“ weitere<br />

Ausdrücke in der Einleitung fallen, die man<br />

sonst nur in einschlägigen Druckwerken<br />

vorfindet, wie „staats rechtliches Gefasel“;<br />

aber auch über die tendenziöse Beschrei -<br />

bung der Mienen der Teilneh mer an der<br />

besagten Feier im Parlament vom 10. März<br />

<strong>2008</strong>, die in diesem Artikel <strong>als</strong> „genetisch<br />

bedingtes Grinsen, das bereits seinerzeit Pas -<br />

santen im Anblick von strassenwaschenden<br />

Juden begleitete“ bezeichnet wird. Diese For -<br />

mu lie rung, wenngleich in andere Richtung<br />

ge münzt aber nicht minder verhetzend,<br />

hätte einem Julius Streicher alle Ehre<br />

gemacht. Ich halte dem Verfasser zugute,<br />

dass er offensichtlich bei dieser Veranstal -<br />

tung nicht anwesend war, da diese nur für<br />

geladene Gäste stattfand. Ich war dort, und<br />

habe die Äußerungen des Dr. Otto Habs -<br />

burg zum Opferstatus Österreichs sofort <strong>als</strong><br />

mehr <strong>als</strong> überflüssig und ein Zeichen der<br />

Realitätsverweigerung bezeichnet. Aber<br />

der ÖVP ernstlich zu unterstellen, sie habe<br />

ihn vor sätzlich dafür eingeladen, damit er<br />

dies vor tra gen könne, dafür muß man schon<br />

eine dicke rote Brille tragen. Denn wenn<br />

der Ver fas ser dann auf die „gewiss sehr aufrichtige<br />

Ver an stal tung“ im <strong>Wien</strong>er Rathaus<br />

zu sprechen kommt, in deren Ein la dung<br />

das „Gedenken an die „Opfer des faschistischen<br />

Terrors“ – den wahrheitsgemäßen Ausdruck<br />

„Nation<strong>als</strong>ozialismus“ nimmt man dort<br />

nicht gerne in den Mund, denn er enthält<br />

den Wortbestandteil „Sozialismus“ – im<br />

Mittelpunkt stand, darf ich ihn auf eine<br />

andere <strong>als</strong> die im Artikel gelobte mir vorliegen<br />

de Stellungnahme dazu des Herrn<br />

Land tags präsidenten Johann Hatzl verweisen,<br />

in der er sich dazu versteigt zu behaupten,<br />

daß „die NS in seinen Augen deshalb<br />

soviel Unterstützung er hal ten habe, weil bis<br />

dahin vier Jahre der Austr o fa schismus an der<br />

Macht war, an dem sich auch Ju den beteiligt<br />

haben“. Ob das wohl der Grund dafür war,<br />

daß in der schriftlichen Einladung kein<br />

Referent der jüdischen Opfer vorgesehen<br />

war, entzieht sich meiner Kenntnis. Soviel<br />

zur „aufrichtigen Veranstaltung“. Beach -<br />

tens wert auch das authentische Zitat des<br />

Herrn Landtags prä si denten aus dem Jahre<br />

2003 : „Ich kann mich nicht zur Stunde bei<br />

einem israelischen Ball wohl fühlen, wenn gleich -<br />

zeitig eine israelische Schandre gie rung alle<br />

Grundsätze einer zivilisierten Gesell schaft über<br />

Bord wirft und einen gnadenlosen Kampf gegen<br />

ein anderes Volk führt. Wer in dieser Form den<br />

Terrorismus bekämpft, macht sich – und das gilt<br />

insbesondere für ihren Minister präsidenten<br />

(Ariel) Sharon – zum Staatsterroristen.“ (Zitat<br />

aus einer Buchkritik Karl Pfeifers zu „Israel,<br />

Eu ropa und der neue Antisemitismus“ von<br />

H. Rauscher)<br />

Und wenn der Verfasser zum krönenden<br />

Ab schluß dieses Pamphlets mit dem Erguß<br />

kommt: “Oder die Rolle die ein Kurt Schusch -<br />

nigg gespielt haben soll, weil er sich anstandshalber<br />

mit Gott schütze Österreich verabschiedet<br />

hatte“ fällt mir dazu nur mehr der legendäre<br />

Satz des Dr. Kreisky ein, <strong>als</strong> er einem Jour na -<br />

listen nämlich antwortete: „Lernen Sie Zeitge<br />

schichte, Herr Redakteur“, und noch viel<br />

anderes mehr.<br />

Ich anerkenne ausdrücklich, dass dieser o.a.<br />

Artikel die persönliche Meinung des Ver -<br />

fassers wiedergibt, die sich nicht immer mit<br />

der Meinung der Redaktion deckt.<br />

Werner Winterstein<br />

Betrifft : „Gedenkgegröhle<br />

Sehr geehrte Redaktion!<br />

Beim Lesen der jüngsten Ausgabe der „Ge-<br />

mein de“ (April <strong>2008</strong>/Nissan 5768) überkam<br />

wohl auch viele Freunde und Anwälte<br />

einer Ver ständigung zwischen Nichtjuden<br />

und Ju den in Österreich Trauer, wenn sie<br />

zur Kenntnis nehmen mussten, dass man<br />

zwar gern die „historischen Reden“ von<br />

Franz Vranitzky aus 1991 und Thomas<br />

Klestil aus 1994 zitiert, aber dass auch manche<br />

jüdische Autoren sie nicht ernst nehmen.<br />

Mit „Österreich <strong>als</strong> Staat war Opfer“, die<br />

Ös ter reicher <strong>als</strong> Menschen aber waren<br />

„Täter und Opfer“ (und Mitläufer!) war<br />

endlich eine For mu lierung gefunden, die<br />

der historischen Wahr heit Rechnung trug<br />

und den unseligen Täter/ Opfer-Streit mit<br />

einer knappen Formel in die richtige Per -<br />

spektive rückte. Nun muss man un wi der -<br />

sprochen lesen, dass Peter Weinber ger das<br />

„staatsrechtliche Gefasel von Österreich <strong>als</strong><br />

erstem Opfer“ für f<strong>als</strong>ch hält und auch ei nen<br />

„sehr ehren- und verdienstvollen Vertreter<br />

der Opferverbände“ dafür kritisiert, dass er<br />

die ziemlich einhelllige Position der internationalen<br />

Rechts wissenschaft teilt, der<br />

Staat Österreich sei Opfer der NS-Verbre -<br />

chen gewesen. „Der Staat Österreich <strong>als</strong><br />

abstrakte Idee?“ und „Der Staat <strong>als</strong> juristisches<br />

Konstrukt?“ wird da spöttisch auch<br />

Heinz Fischer, Heinrich Neisser und Nor -<br />

bert Leser <strong>als</strong> Irrmeinung entgegengehalten.<br />

Mit Recht wird Otto Habsburg für seine un -<br />

schar fe sprachliche Gleichsetzung von<br />

Österreich und den Österreichern beim<br />

März-Ge den ken der ÖVP im Parlament kritisiert,<br />

aber diese Kritik mit einem Bild zu<br />

illustrieren, das Schüssel und Molterer hinter<br />

dem Redner Habsburg kichernd zeigt<br />

und dann darauf hin zuweisen, man habe<br />

bei dieser Gelegenheit „ver mutlich eine Art<br />

genetisch bedingtes Grin sen“ zu sehen<br />

bekommen, „das bereits seinerzeit Pas san -<br />

ten im Anblick von Straßen wa schen den<br />

Juden begleitete,“ war ein böser Unter griff.<br />

Ich bin kein berufener Verteidiger der beiden,<br />

aber bei der betreffenden Stelle der<br />

Habsburg-Rede haben sie wahrhaftig nicht<br />

gegrinst, und beim Lesen solcher Weinber -<br />

ger-Passagen war einem wirklich auch nicht<br />

danach zumute.<br />

Mit trotzdem guten Wünschen für das<br />

wichtige <strong>Kultusgemeinde</strong>-Magazin<br />

Hubert Feichtlbauer, <strong>Wien</strong><br />

Betrifft: Die eingefangenen Augenblicke<br />

der Margot Dobronyi<br />

Ich möchte auch auf diesem Weg Frau<br />

Dobronyi zu ihrem 95. Geburtstag - bis 120!<br />

– gratulieren. Die auch in der letzten<br />

Nummer von „Die Gemeinde“ besprochene<br />

Ausstellung zu ihren Ehren hat ihr sicher<br />

verdiente Freude bereitet.<br />

Aber so wie das jüdische <strong>Wien</strong> bis 1938, das<br />

ich kannte und das nicht „die Mazzesinsel“<br />

war (ich muss es wissen, denn ich komme<br />

vom 2. Bezirk der damaligen Zeit), so ist<br />

das jüdische <strong>Wien</strong> von „danach“ wie es<br />

Margit Dobronyi eingefangen hat, nicht nur<br />

jenes, dessen sich die lustige Ausstellung<br />

im jüdischen Museum annimmt.<br />

Ich besitze zwölf (ich betone, zwölf!) Foto -<br />

al ben mit Fotos, die Frau Dobronyi im Lauf<br />

der Jahre aufgenommen hat, wo ich drauf<br />

bin und ich garantiere, keines der Bilder<br />

zeigt mich auf Hochzeiten oder auf anderen<br />

Belustigungen. Man möge das nicht <strong>als</strong> Ge -<br />

ring schätzung der Ereignisse auffassen, mit<br />

denen sich besagte Ausstellung beschäftigt<br />

– mögen sich Juden immer nur auf „Sim-<br />

ches“ treffen und sich freuen!<br />

Der Sinn dieser Zeilen ist es, darauf hinzuweisen,<br />

dass Frau Dobronyi in sehr zurükkhaltender<br />

und bescheidener Weise im<br />

Lauf der Jahre bei großen politischen und<br />

kulturellen Veranstaltungen, die in der<br />

jüdischen Gesellschaft in <strong>Wien</strong> stattgefunden<br />

haben, rund um große internationale<br />

und österreichische oder israelische Persön -<br />

lichkeiten in dankenswerter Weise ihrem<br />

Metier nachgegangen ist. Ich freue mich,<br />

diese zahlreichen Erinnerungen zu besitzen<br />

und vielleicht gibt es ja wiedermal eine<br />

Dobrony-Schau: denn das jüdische Leben<br />

in <strong>Wien</strong> bestand aus einer Präsenz in der<br />

Öf fentlichkeit, die sehr weitreichend war<br />

und aus der man den Beitrag ablesen kann,<br />

den wir für dieses Land, für <strong>Wien</strong>, für Israel<br />

und für unser Selbstwertgefühl geleistet<br />

haben.<br />

Prof. Dr. Rita Koch<br />

46 <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768


KULTUR • KONZERT<br />

<strong>Mai</strong> <strong>2008</strong>/Ijar 5768 47


Als regelmäßiger Leser Ihres geschätzten In for -<br />

mationsmediums halte ich diesen Beitrag für<br />

weit unter dem gewohnten Niveau. Er beruht<br />

auf f<strong>als</strong>chen und längst widerlegten Annah men<br />

auf der Sachebene, ist überflüssig tendenziös<br />

und im Ton unnötig bissig, auch anti-christlichen<br />

Untertöne sind kaum zu überhören.<br />

Um die richtige Einordnung meiner Person zu<br />

ermöglichen, erlaube ich mir den Hinweis, dass<br />

mein Onkel an den Folgen der Gestapohaft be -<br />

reits 1942 gestorben ist; mein Großonkel wur de<br />

im ersten Transport nach Dachau gebracht; mein<br />

Vater beruflich nach Deutschland zwangs ver -<br />

setzt; einer meiner Freunde wurde 1945 enthauptet.<br />

Ich selbst bin <strong>als</strong> Theologe wissenschaftlich<br />

im Fach Altes Testament tätig. Eine<br />

ausgesprochen philosemitische Haltung ist<br />

daher für mich selbstverständlich.<br />

Niemand bestreitet ernsthaft das zutiefst enttäuschende<br />

Verhalten vieler Österreicher seit<br />

1933, vor allem aber deren aktive Unterstüt zung<br />

des Verbrecheregimes der Nation<strong>als</strong>ozialisten<br />

nach 1938. Es ist auch sehr bedauerlich, dass<br />

nach der Befreiung 1945 weder entsprechende<br />

Klärungen und Reinigungen im erforderlichen<br />

Ausmaß durchgeführt wurden, geschweige<br />

denn, dass man sich um die Rückwanderung<br />

der Vertriebenen gekümmert hätte, im Rück -<br />

blick völlig unverständlich.<br />

Die ethische Neubewertung des Buches Jere -<br />

mi as, Kap. 31, war ein entscheidender Fort schritt<br />

und eine epochale Errungenschaft: „Jeder stirbt<br />

nur für seine eigene Schuld!“ Die Söhne haften<br />

nicht mehr für die Schuld der Väter. Dieser<br />

Grundsatz ist wohl analog auch auf das Ver hältnis<br />

des Staates Österreich <strong>als</strong> Völkerrechts sub -<br />

jekt zu den – widerlich vielen, aber bei weitem<br />

nicht den meisten – einzelnen Österreichern <strong>als</strong><br />

eigenverantwortliche Personen anzuwenden.<br />

Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass<br />

bei weitem nicht einmal die Mehrheit der Wie -<br />

ner den gewaltsam (die Ereignisse in Oberös ter -<br />

reich sollten keineswegs übersehen werden!)<br />

einmarschierenden Truppen der Nazis zugejubelt<br />

haben.<br />

Wie alle menschlichen Gemeinschaften handeln<br />

auch Staaten ausschließlich durch bestellte Or -<br />

ga ne <strong>als</strong> Vertreter. Österreich war eine Repu blik<br />

und handelte daher durch gemäß der geltenden<br />

Rechtsordnung bestellte Vertretungsor ga ne,<br />

keinesfalls aber durch beliebige Personen; am<br />

allerwenigsten durch damalige Mitglieder der<br />

ganz offiziell verbotenen Nazi-Organisatio nen.<br />

Alle staatlichen Organe wurden mit dem Ein -<br />

marsch der Nazi-Horden sofort entmachtet, und<br />

physisch daran gehindert, weiterhin auch nur<br />

irgendwie zu handeln. Die meisten Ver ant wor -<br />

tungsgträger wurden sofort in KZ-Haft ge nommen.<br />

Österreich <strong>als</strong> Staat war daher gar nicht<br />

in der Lage zu handeln, hatte sich aber nicht<br />

freiwillig in diese Lage gebracht, sondern wur de<br />

mit physischer Gewalt dazu gezwungen. Wie<br />

kann es dann Täter in irgendeinem sinnvollen<br />

Verständnis sein? Welches Interesse kann ein<br />

heute lebender Österreicher an solchen un sach -<br />

lich generalisierenden Aussagen haben, die ihn<br />

ja letztlich selbst inkludieren? Der Ausgang der<br />

bekannten Volksabstimmung war sogar den<br />

Nation<strong>als</strong>ozialisten höchst unangenehm, weil<br />

alle Welt wusste, dass Wahlen mit 99,73% Zu -<br />

stimmung manipuliert und daher ohne Aussa ge<br />

und wertlos sein müssen. Die christlich-soziale<br />

Partei war ausgesprochen judenfreundlich – die<br />

Zeit von Bürgermeister Lueger war ja längst<br />

Geschichte -, und entschiedner Gegner des Na -<br />

tio n<strong>als</strong>ozialismus. Der bekannte Heimwehr führer<br />

Starhemberg war glücklich mit einer Jüdin<br />

verheiratet, was allgemein bekannt war. Schuschnigg<br />

war glaubender Christ, es gibt kei nerlei<br />

Hinweise dafür, dass er seine religiöse Überzeugung<br />

bloß „gespielt hätte“, wie Weinberger<br />

unterstellt, ohne Beweise vorzulegen.<br />

Anders allerdings die damaligen Sozialisten,<br />

deren Repräsentanten schon wegen der Idee<br />

der Internationale seit langem „großdeutsch“<br />

eingestellt waren – die Namen sind wohl bes -<br />

tens bekannt. Es ist wohl kein Zufall, dass<br />

lediglich das Adjektiv „national“ die Parteibe -<br />

zeichnungen unterschied.<br />

Auch nach der Befreiung fanden die ehemaligen<br />

Nation<strong>als</strong>ozialisten sowohl der Zahl nach,<br />

<strong>als</strong> auch hinsichtlich der Bedeutung der innegehabten<br />

Positionen, vor allem in der Sozia -<br />

listischen Partei Österreichs Aufnahme, was<br />

nicht wundert, wenn man die materialistische<br />

und atheistische Grundauffassung beider<br />

Parteien beachtet. Es ist daher völlig unverständlich,<br />

warum der Autor Weinberger un verholen<br />

völlig unkritische Sympathien für die<br />

Sozialdemokratie zum Ausdruck bringt, gerade<br />

die Nachfolger der Christlich-Sozialen aber<br />

mit Spott und unsachlicher Häme überschüttet.<br />

Weinberger vertritt selbstverständlich in keiner<br />

Weise irgendwie repräsentativ Meinungen<br />

innerhalb der jüdischen Gemeinde, die ohne<br />

Zweifel nicht aus dieser Einzelmeinung zu<br />

erheben ist. Der Grundsatz der demokratischen<br />

Repräsentativität gilt selbstverständlich<br />

auch in dieser Hinsicht. Keinesfalls darf man<br />

die Gemeinde <strong>als</strong> gesellschaftliches Subjekt für<br />

extreme Handlungen ihrer Mitglieder verantwortlich<br />

machen – so wie auch „Österreich“<br />

nicht einfach die Summe der beschränkten<br />

Zahl der am lautesten schreienden Egoisten<br />

war oder ist.<br />

So bleibt die Frage, was der Autor Weinberger<br />

mit seinem Artikel beabsichtigt. Eine historische<br />

Klarstellung ist offensichtlich nicht<br />

bezweckt, dies schließt der zynische Ton und<br />

die massive Verzerrung der Fakten aus. Hofft<br />

er tatsächlich, die Leser des Artikels motivieren<br />

zu können, sich seiner geradezu absurd<br />

anmutenden Sicht anzuschließen? Erwartet er,<br />

in irgendeiner Weise zur vielzitierten und<br />

dringend wünschenswerten Versöhnung un ter<br />

den Menschen beitragen zu können? Ich für<br />

meine Person (<strong>als</strong> fast schon Nach geborener)<br />

bin sicherlich in keiner Weise bereit, Verant -<br />

wortung für die Verbrechen von Menschen in<br />

der Vergangenheit wie in der Gegenwart zu<br />

übernehmen, deren Handeln weder ich selbst,<br />

noch die befugten Organe der Gesellschaft<br />

beeinflussen können oder konnten. Die<br />

Vorstellung aller Formen von Kollektivschuld<br />

widerspricht allen ethischen Grundsätzen<br />

zutiefst – wie ja schon der Prophet Jeremia<br />

feststellte. Ich erwarte einen offenen Dialog<br />

unter Gleichberechtigten, auf sachlicher Basis,<br />

selbstverständlich unter Berücksichtigung<br />

auch der emotionalen Sphäre. Hasstiraden<br />

gehören nach meiner Vorstellung aber sicher<br />

nicht dazu. Das Unrecht der Vergangenheit<br />

würde nicht das Unrecht der Gegenwart rechtfertigen<br />

– was keinesfalls bedeutet, dass solches<br />

schon gesetzt wäre.<br />

Mit freundlichen Grüßen<br />

MMag.DDr. Josef Zemanek


FORUM<br />

GEGEN ANTI-<br />

SEMITISMUS<br />

OHEL RAHEL<br />

HADASSAH<br />

MISRACHI<br />

LAUDER<br />

CHABAD<br />

CAMPUS<br />

MOADON<br />

JÜDISCHES<br />

KULTUR-<br />

ZENTRUM<br />

GRAZ<br />

FUNDRAISING<br />

EIN HISTORISCHES DOKUMENT: Ein Brief von<br />

(Elias) Eliyahu Sasson, einem leitenden israelischen<br />

Diplomaten, an Azzam Pasha, dem<br />

Gener<strong>als</strong>ekretär der Ara bi schen Liga, vom<br />

5.12.1947<br />

Lieber Azzam Pasha,<br />

Buchtipp Buchtipp<br />

Quelle: State of Israel and World Zionist Organization, politische<br />

und diplomatische Dokumente, Dezember 1947 – <strong>Mai</strong> 1948<br />

3. Dezember 1947<br />

Ich habe Ihnen bereits in der Vergangenheit seit einiger<br />

Zeit schreiben wollen, aber ich habe damit gezögert, weil<br />

ich erst die Entscheidung der Verein ten Nationen zu<br />

Palästina abwarten wollte. Jetzt, nachdem der Schritt<br />

vollzogen worden ist und ein neues Kapitel beginnt, will<br />

ich dies nicht länger auf die lange Bank schieben, vor<br />

allem im Licht von dem, was in der Presse in den ver -<br />

gangenen wenigen Tagen geschrieben worden ist, und<br />

was sich auf Ihre kürz lichen Äuße rungen über Palästina<br />

und die Entscheidung der Ver samm lung der Verein ten<br />

Nationen bezieht.<br />

Wir sind nicht vom Siegeswillen vergiftet, lieber Azzam<br />

Pasha, trotz der Tat sa che, dass wir nach dem anstrengendsten<br />

politischen Kampf, den wir je m<strong>als</strong> er tragen mussten,<br />

nach der ausführlichsten Untersuchung unseres<br />

Proble mes, der wir uns gegenüber gestellt sahen, die<br />

Mehrheit der zivilisierten Mensch heit die Recht mäßigkeit<br />

unserer Sache anerkannt hat. Wir wissen, dass vor uns<br />

noch eine aussergewöhnliche Aufgabe liegt. Diese besteht<br />

in dem Be mü hen, eine Nation zu formen, wofür es in der<br />

Geschichte der Menschheit kein Bei spiel gibt.<br />

Wir müssen Hindernisse überwinden, denen sich kein<br />

anderes Volk auf der Welt gegenüber gestellt sah. Aber<br />

wenn wir schon nicht triumphierend sind, so sind wir<br />

BNEI<br />

AKIVA<br />

OHEL RAHEL<br />

WIZO<br />

BBL<br />

Vor einiger Zeit wurde ein Aufruf in der Frankfurter Rundschau aus Anlass der 60-Jahre-Israel veröff<br />

Anderem Professor Brumlik, Dany Cohn-Bendit und andere unterzeichnet haben – ein Aufruf mit viel pro<br />

Jetzt hat sich eine Gruppe von Pas to ren, Theologen und Professoren zusammengetan und einen neuen Te<br />

60 JAHRE STAAT ISRAEL - EIN AUFRUF ZUR SOLID<br />

HUJ<br />

JÜD. GEMEIN-<br />

DE<br />

BADEN<br />

UNITED KIDS<br />

CLUB<br />

NEFESH<br />

YEHUDI<br />

MZ<br />

FUNDRAISING<br />

IDENTITY<br />

JUGEND-<br />

KOMMISSION<br />

Im <strong>Mai</strong> <strong>2008</strong> feiert der Staat Israel seinen 60.<br />

Geburtstag. Die Idee zur Er rich tung eines jüdischen<br />

Staates entstand im 19. Jahrhun dert. Die<br />

Einsicht, dass Juden nicht nur eine verstreute<br />

Religionsgemein schaft sind, sondern ein Volk und<br />

eine Nation mit Selbstbe stim mungs recht, das es<br />

in seiner historischen Heimat verwirklicht, wird<br />

heute noch von vielen Menschen bestritten. Wie<br />

einst in Europa das Lebensrecht der Juden, wird<br />

heute – mit fast den glei chen Argumenten – die<br />

physische Existenz des Staates Israel in Frage ge -<br />

stellt. Mit viel Willenskraft und tiefer Überzeugung,<br />

mit Entschlossenheit und Intelli genz haben<br />

viele Juden durch ihrer Hände Arbeit vor über<br />

hundert Jah ren damit be gon nen, den Aufbau dieses<br />

Staates einzuleiten. Mit vielen Risiken und<br />

enormen Entbehrungen schafften es die Israelis,<br />

ab dem 15. <strong>Mai</strong> 1948 eine Hei mat für mehr <strong>als</strong> die<br />

Hälfte des jüdischen Volkes aufzubauen und so<br />

auch den weiter hin in der Welt verstreuten Juden<br />

die Gewissheit eines sicheren Zu fluchts or tes zu<br />

bie ten. Sie setzten damit einen Beschluss der<br />

Vereinten Nationen vom 29. No vem ber 1947 um.<br />

Heute blicken wir auf eine reiche und blühende<br />

israelische Kultur und Literatur sowie auf eine in<br />

den modernen Technologien in ternational wettbewerbsfähige<br />

israelische Wirtschaft. Israel heute<br />

ist ein ganz normaler Staat westlich-demokratischer<br />

Prägung. Das verdient unsere An er kennung<br />

und unseren Respekt. Gleichwohl schiebt sich vor<br />

diese Wahr neh mung eines blühenden und kreativen<br />

Staates 60 Jahre nach seiner Entste hung im -<br />

mer wieder die seines langen Kampfes um<br />

Sicherheit, seiner Vertei di gung gegen fortdauernde<br />

Angriffe. Wenn der Staat Israel den 60.<br />

Jahrestag seiner Grün dung begeht, so kann er<br />

das auch dank seiner militärischen Stärke. Diese<br />

muss um des Überlebens willen sein und bleiben.<br />

Die Siche rung seiner Bürger – bis hin zu<br />

Wachpersonal vor jedem Supermarkt, vor<br />

Restaurants und in Stadtbussen, um Attentate zu<br />

verhindern – gehört zum alltäglichen Auf wand.<br />

In Europa schwindet, so scheint es, das<br />

Verständnis für diese Notwen dig keit, obgleich<br />

sogar in Deutschland und andernorts in Europa<br />

jüdische Einrich tun gen wie Festungen gesichert<br />

und rund um die Uhr bewacht werden müssen –<br />

und dies keineswegs nur aus Furcht vor<br />

Rechtsradikalen! Die Wahrnehmung des Staates<br />

Israel wird zunehmend durch eine klischeehaft<br />

Einschätzung des nahöstlichen Konfliktfeldes<br />

getrübt. Ursache und Wirkungen werden verwech<br />

selt. Doppelte Standards werden angelegt.<br />

Im Nahen Osten ist der Antise mi tismus zu einer

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