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Januar 2011 als pdf herunterladen - Israelitische Kultusgemeinde ...

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Nr. 685 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong><br />

Schwat/Adar 5771<br />

Erscheinungsort Wien<br />

Verlagspostamt 1010 P.b.b<br />

GZ 03Z034854 W<br />

Die<br />

DVR 0112305 € 2.-<br />

GEMEINDE<br />

OFFIZIELLES ORGAN DER ISRAELITISCHEN KULTUSGEMEINDE WIEN<br />

magazin


INHALT<br />

&<br />

AUS DEM BÜRO<br />

DES PRÄSIDENTEN<br />

Veranstaltungen Präsidium 3<br />

POLITIK<br />

INLAND<br />

10 Jahre Washintoner<br />

Abkommen 4<br />

Steyregger<br />

„Bombenkriegsdenkmal“ 5<br />

ANTISEMITISMUS<br />

ULRICH W. SAHM<br />

„Spiegel“ schürt<br />

Antisemitismus 6<br />

NS-ZEIT<br />

Tiroler NS-Gräber 8<br />

Die SS-Opfer von Distomo 10<br />

L. JOSEPH HEID<br />

Von armen Griechen und<br />

guten Österreichern 11<br />

ISRAEL<br />

ULRICH W. SAHM<br />

Großer Tag für Israels<br />

Demokratie 15<br />

Israel tritt „UN Frauen“ bei 16<br />

Gastkommentar Botschafter<br />

Aviv Shir-On 17<br />

Maßnahen & Ansichten 18<br />

Kommentare von CAROLINE B.<br />

GLICK und LESLIE SUSSER<br />

ULRICH W. SAHM<br />

Das Ende der Sozialisten<br />

Israels 21<br />

WISSENSCHAFT<br />

Fortschritte 32<br />

JÜDISCHE WELT<br />

MARTA S. HALPERT<br />

Paul Gulda: „Tiefe Wurzeln,<br />

reiches Erbe“ 34<br />

ALEXIA WEISS<br />

Das Bucharische verschwindet 36<br />

Panorama 38<br />

In Memoriam 40<br />

ALEXIA WEISS<br />

Eine unsichtbare Wand 41<br />

KULTUR<br />

ALEXIA WEISS<br />

Ein bisschen ambivalent 42<br />

ANITA POLLAK<br />

„Das Jüdische Budapest“ 44<br />

JUDENTUM<br />

RABB. SCHLOMO HOFMEISTER<br />

Bräuche & Traditionen 46<br />

Titelbild:<br />

Kinder feiern Tu Bishvat (Fest der<br />

Bäume) in der Umgebung von Jerusalem<br />

(20. 01. <strong>2011</strong>) © Kobi Gideon/Flash90<br />

Wir bedauern ...<br />

Bei der Zeitungsprodukton ist aufgrund eines Tabulatorfehlers<br />

in der Budgettabelle bei einer Position der Organisationsabteilung<br />

eine Verschiebung der Kommastelle in die<br />

nächste Spalte entstanden.<br />

IKG-Budget <strong>2011</strong><br />

i.Tsd. Euro 2009 2010 2010 <strong>2011</strong><br />

ORGANISATIONSABTEILUNG<br />

F<strong>als</strong>ch:<br />

Summe Einnahmen 704, 2 723, 1 854,7 876,5<br />

Summe Aufwand -2.023,4 -2.132,3 -2.050,1 -2.185,7<br />

Bereichserfolg -1.319,2 -1.409,2 -1.195,4 -1.309,2<br />

Richtig:<br />

Summe Einnahmen 704,2 723,1 854,7 876,5<br />

Summe Aufwand -2.023,4 -2.132,3 -2.050,1 -2.185,7<br />

Bereichserfolg -1.319,2 -1.409,2 -1.195,4 -1.309,2<br />

Das Jüdische Echo<br />

Europäisches Forum<br />

für Kultur und Politik<br />

Vol. 59, 2010/<strong>2011</strong><br />

184 Seiten, Broschur<br />

ISBN 978-3-85439-451-8<br />

Euro 14,50<br />

Erhältlich im<br />

Buchhandel oder unter<br />

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JOHANNES GERLOFF<br />

Neues über Nahost -<br />

aus Wikileaks 22<br />

ULRICH W. SAHM<br />

Mossad Agent R65 25<br />

DAVID HARRIS<br />

Wie kann man sich nur<br />

für Israel einsetzen? 26<br />

WIRTSCHAFT<br />

REINHARD ENGEL<br />

Wie paasen gut nach Tel Aviv 28<br />

Tourismus 31<br />

WO SIE UNS WIEDER FINDEN!<br />

Trotz Umbau im 1. Halbjahr <strong>2011</strong> ungestörter Verkauf<br />

ab 19.1. <strong>2011</strong> vorübergehend am<br />

JUDENPLATZ 8<br />

Das Jüdische Museum Dorotheergasse wird ab 9. Jänner wegen Umbaus geschlossen.<br />

AbMontag,den19.Jänner,öffnetBookShopSingerimJüdischenMuseumimMisrachihausamJudenplatz8.<br />

Öffnungszeiten So.–Do. 10–18 und Fr. 10–14 Uhr.<br />

Alles andere bleibt wie gehabt: Telefon 512 45 10 , Mail office@singer-bookshop.com.<br />

Wir freuen uns auf Ihren Besuch, Ihren Anruf oder Ihr Mail<br />

Ausgewertet werden Meldungen von: APA, Jerusalem Post, Ha’aretz, MEMRI, Yediot Aharonot, Y-net, israelnetz<br />

(inn), nahostfocus (NOF), ICEJ, Honestly-concerned, GMW, JTA, ILI u.v.a.; © Wikimedia Commons<br />

Die Gemeinde: Medieninhaber (Verleger), Herausgeber: <strong>Israelitische</strong> <strong>Kultusgemeinde</strong> Wien. Zweck: Information der Mitglieder<br />

der IKG Wien in kulturellen, politischen und or ganisatori schen Belangen. Stärkung des demokratischen Bewusst seins in der österreichischen<br />

Bevöl kerung. Sitz: 1010 Wien, Seitenstettengasse 4, Postfach 145.<br />

Tel. Redaktion/Sekretariat 53 104/271, Anzeigenannahme 53 104/272, Fax: 53104/279, E-mail redaktion@ikg-wien.at<br />

Druck: AV+Astoria Druckzentrum GmbH, A-1030 Wien<br />

Alle signierten Artikel geben die persönliche Mei nung des Autors wieder, die sich nicht immer mit der Mei nung der<br />

Redaktion deckt. Für die Kaschrut der in der GEMEINDE angezeigten Produkte übernehmen Herausgeber und Redaktion<br />

ausdrücklich keine Verantwortung. Nicht alle Artikel, die in der Redak tion einlangen, müs sen zur Veröffentlichung gelangen.<br />

PLENARSITZUNGEN <strong>2011</strong><br />

Donnerstag, 17. Februar • Dienstag, 08. März • Dienstag, 05. April<br />

Donnerstag, 05. Mai • Montag, 06. Juni • Donnerstag, 30. Juni<br />

Dienstag, 02. August • Dienstag, 20. September • Donnerstag,06. Oktober<br />

Donnerstag, 03. November • Donnerstag, 01. Dezember<br />

2 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


AUS DEM BÜRO DES PRÄSIDENTEN<br />

VERANSTALTUNGEN DES PRÄSIDIUMS DER IKG <strong>2011</strong><br />

DAS KULTURPANEL DER ISRAELITISCHEN<br />

KULTUSGEMEINDE WIEN <strong>2011</strong><br />

BUCHPRÄSENTATION<br />

Termin: Februar (evtl. März) <strong>2011</strong><br />

Hannah Arendt und Gershom Sholem: „Der Briefwechsel“.<br />

Hrsg. von Marie Luise Knott unter Mitarbeit von David Heredia.<br />

Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2010.<br />

In Kooperation mit dem Suhrkamp Verlag und dem Wiener Wiesenthal<br />

Institut für Holocaust-Studien (VWI).<br />

Unter Mitwirkung von: Marie Luise Knott, Herausgeberin, Univ. Prof.<br />

Dr. Georg Graf, Universität Salzburg, Vorstandvorsitzender des Wiener<br />

Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien (VWI)<br />

Lesung: Kirsten Dene, Schauspielerin Burgtheater<br />

Hermann Beil, Chefdramaturg Berliner Ensemble<br />

Termin: März/April <strong>2011</strong><br />

„Der Fortschritt des Erinnerns“<br />

KULTUR<br />

Schnitzler-Zyklus anlässlich des 80. Todestages von Arthur Schnitzler,<br />

in Kooperation mit dem Theatermuseum:<br />

Termin: Ende Februar <strong>2011</strong><br />

Buchpräsentation „Schnitzler’s hidden manuscripts“ von Dr. Lorenzo Bellettini<br />

mit anschließender Diskussion.<br />

“Handeln Sie bitte unverzüglich!“ Der an den Bibliothekar der Universität<br />

Cambridge adressierte Brief, der diese dringende Aufforderung<br />

enthält, kam aus einem fernen Land, hatte einen bis dahin dem Bibliothekar<br />

unbekannten Verfasser und brachte eine eigenartige Bitte vor.<br />

Es hieß ferner: „Cambridge wird stolz sein können, ihn vor dem Vergessen<br />

gerettet zu haben.“ Das war der Anfang der abenteuerlichen Rettung<br />

eines der wichtigsten literarischen Nachlässe Europas – durch einen<br />

Studenten, eine Witwe auf der Flucht nach Amerika, einen Bibliothekar<br />

und einen Diplomaten.<br />

Die Rede ist vom Privatarchiv Arthur Schnitzlers, zu dessen intensiven<br />

und nicht immer einfachen Bekanntschaften Sigmund Freud (der ihn<br />

in einem Brief seinen „Doppelgänger“ nannte), Theodor Herzl, Hugo<br />

von Hofmannsthal, Felix Salten, Stefan Zweig oder Thomas und Heinrich<br />

Mann zählten. Dass Schnitzlers umfassender Nachlass – 40.000<br />

Seiten an Tagebüchern, Werkmanuskripten und Briefen, die einen<br />

Querschnitt bieten durch eine der faszinierendsten und dramatischsten<br />

Epochen unserer Geschichte – heute noch existiert, ist fast ein<br />

Wunder.<br />

Ihnen, die „unverzüglich“ zu handeln wussten, verdanken wir, dass<br />

uns der imposante Nachlass Arthur Schnitzlers in seinem ganzen<br />

Reichtum erhalten geblieben ist: <strong>als</strong> ein außerordentlicher Schatz, <strong>als</strong><br />

das Denkmal eines Schriftstellers, einer Epoche und der Literatur –<br />

sowie des Muts seiner Retter.<br />

Ort: Theatermuseum, Lobkowitzplatz 2, 1010 Wien<br />

Termin: Mitte März <strong>2011</strong><br />

Lesung: „Arthur Schnitzler und das Judentum“<br />

Burgtheaterschauspieler lesen aus den Tagebüchern von Arthur<br />

Schnitzler, sowie aus Briefen von und an Arthur Schnitzler.<br />

Auswahl: Dr. Lorenzo Belletini<br />

Ort: Theatermuseum, Lobkowitzplatz 2, 1010 Wien<br />

Termin: April <strong>2011</strong><br />

Filmvorführung: „Professor Bernhardi“, Literaturverfilmung nach Arthur<br />

Schnitzler, mit anschließendem Gespräch.<br />

Ort: Metrokino<br />

Termin: April/Mai <strong>2011</strong><br />

Kulturtalk anlässlich der Neuinszenierung von Arthur Schnitzlers „Professor<br />

Bernhardi“ im Burgtheater. Premiere: April <strong>2011</strong>.<br />

Mitwirkende: Diverse Anfragen. Evtl. auch in Kooperation mit dem<br />

Burgtheater.<br />

Uraufführung: 18. November 1912 in Berlin, Ort und Zeit: Wien um<br />

1900. Themen: Antisemitismus, individuelle Ethik, modernes Gesundheitswesen.Besonderheiten<br />

dieses Stücks: Bis 1920 in Österreich<br />

„wegen der tendenziösen und entstellenden Schilderung hierzuländischer<br />

öffentlicher Verhältnisse“ verboten<br />

Ort: noch festzulegen<br />

Angefragter Termin: 11. April <strong>2011</strong><br />

„Und Birken gibt es hier auch nicht“<br />

Szenisch-musikalische Collage<br />

Barbara Schnitzler, Michael Abramovich, Klavier<br />

Barbara Schnitzler, Schauspielerin des Deutschen Theaters Berlin hat in<br />

Zusammenarbeit mit dem israelischen Pianisten Michael Abramovich<br />

eine Auswahl von Texten aus dem Essayband „Im Schnellzug nach<br />

Haifa“ von Gabriele Tergit zu einer szenisch-musikalischen Collage mit<br />

dem Titel „Und Birken gibt es hier auch nicht“ zusammengestellt. Ihre<br />

mitreißende Interpretation verbunden mit einer Auswahl von selten<br />

gehörter Klaviermusik des zwanzigsten Jahrhunderts verleiht den brillant<br />

formulierten Beobachtungen der einstigen Berliner Gerichtsreporterin<br />

im Palästina der 30er Jahre eine zusätzliche Dimension.<br />

DISKUSSION<br />

Zu folgenden Themen sind Diskussionen geplant:<br />

„Treueschwur - der israelische Entwurf“, „Integration, Abschiebung“,<br />

„Religion und moderne Gesellschaft“, „Wie rechts ist Österreich“<br />

„Karikaturenstreit und Meinungsfreiheit“<br />

Termin: Februar <strong>2011</strong><br />

„Meinungsfreiheit zwischen demokratischen Grundsätzen und Tyrannei<br />

der Bedrohung“. Diskussionsrunde zum Thema „Meinungsfreiheit,<br />

Medienfreiheit, …“ – siehe Karikaturenstreit.<br />

Mitwirkende: Diverse Anfragen<br />

Ort: Gemeindezentrum der IKG Wien<br />

Zurzeit werden Terminabstimmungen koordiniert. Weitere Programme<br />

sind im Entstehen.<br />

VERANSTALTUNGSREIHE “CHALLENGES”<br />

Ziel dieser Veranstaltungsreihe ist es über jene Herausforderungen, denen<br />

sich heute die jüdische Welt und Israel stellen müssen, zu informieren und<br />

diskutieren. Im Rahmen von Vorträgen, Podiumsdiskussionen, Buchpräsentationen<br />

und Filmvorführungen sollen vor allem Themen angesprochen und<br />

Sichtweisen erörtert werden, die in der öffentlichen Diskussion meistens zu<br />

kurz zu kommen.<br />

Derzeit ist für <strong>2011</strong> folgendes geplant (viele Termine stehen noch nicht fest):<br />

<strong>Januar</strong> 2010 - Buchpräsentation mit Arye Sharuz Shalicar „Ein nasser<br />

Hund ist besser <strong>als</strong> ein trockener Jude. Die Geschichte eines Deutsch-Iraners,<br />

der Israeli wurde” (dtv, 2010)<br />

2. Februar <strong>2011</strong> - Prof. Paul Lendvai: “Die Rechte Gefahr in Ungarn”<br />

17. Februar <strong>2011</strong> - The Islamist threat. Vortrag mit Daniel Pipes<br />

(Middle East Forum)<br />

Februar <strong>2011</strong> - Widening the gap? Europe’s relationship with Israel<br />

22. März <strong>2011</strong> - „Islamophobie” <strong>als</strong> politischer Kampfbegriff. Vorträge<br />

und Diskussion mit Heribert Schiedel (DÖW), Prof. Dr. Samuel Salzborn<br />

(Institut für Politikwissenschaft der Universität Giessen, Autor von “Antisemitismus<br />

<strong>als</strong> negative Leitidee der Moderne”) und Efgani Dönmesz<br />

(Grüner Bundesrat)<br />

Anfang April <strong>2011</strong> - Podiumsdiskussion: Ein neuer Krieg im Nahen Osten?<br />

Mai <strong>2011</strong> -Filmvorführung und anschließend Diskussion: Delegitimierungskampagnen<br />

gegen Israel und der neue Antisemitismus<br />

Juni <strong>2011</strong> - Israel’s struggle in the international community<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 3


POLITIK • INLAND<br />

„Ausdruck späten Bekenntnisses<br />

einer moralischen Verantwortung“<br />

Außenminister Spindelegger zum zehnjährigen Bestehen des Washingtoner Abkommens<br />

POLITIK<br />

„Für das durch das NS-Regime gesetzte<br />

Unrecht kann es keine Wiedergutmachung<br />

geben. Mit dem Washingtoner Abkommen<br />

hat Österreich aber eine sichtbare Geste ge -<br />

genüber den überlebenden Opfern gesetzt.<br />

Das Vertragswerk und seine Umsetzung<br />

sind auch Ausdruck unseres Bekenntnisses<br />

zu einer moralischen Verantwortung<br />

für die Versäumnisse bei den vorherigen<br />

Restitutionen und Entschädigungen“, sagte<br />

Außenminister Michael Spindelegger<br />

aus Anlass des 10-jährigen Bestehens<br />

des sogenannten Washingtoner Abkommens.<br />

Am 17. Jänner 2001 wurde das Washingtoner<br />

Abkommen von Österreich,<br />

den USA und unter anderen auch von<br />

Vertretern der „Conference on Jewish<br />

Material Claims Against Germany“,<br />

einschließlich des Zentralkomitees der<br />

Juden Österreichs in Israel und des<br />

„American Council for Equal Compensation<br />

of Nazi Victims from Austria“<br />

unterzeichnet. Mit dem Übereinkommen<br />

wurde eine abschließende Klärung<br />

der diesbezüglichen Rechts- und<br />

Entschädigungsfragen erreicht.<br />

Durch das Abkommen wurde der mit<br />

210 Mio. US-Dollar dotierte Allgemeine<br />

Entschädigungsfonds eingerichtet. Aufgabe<br />

dieses Fonds ist es, die moralische<br />

Verantwortung für Vermögensverluste,<br />

die Opfer des NS-Regimes in<br />

Österreich im Zeitraum von 1938 bis<br />

1945 erlitten haben, durch freiwillige<br />

Leistungen anzuerkennen. Bis zum<br />

Ende der Antragsfrist am 28. Mai 2003<br />

sind über 20.000 Anträge beim Entschädigungsfonds<br />

eingelangt. Nach Abweisung<br />

der letzten Sammelklage in den<br />

USA und Bekanntmachung des Rechtsfriedens<br />

durch die österreichische Bundesregierung<br />

am 13. Dezember 2005<br />

hat der Entschädigungsfonds mit den<br />

ersten Vorauszahlungen begonnen. Bis<br />

Dezember 2010 wurden rund US$ 202<br />

Mio. zur Auszahlung angewiesen.<br />

Weitere US$ 150 Mio. wurden zur Entschädigung<br />

für entzogene Mietrechte,<br />

Hausrat und persönliche Wertgegenstände<br />

zur Verfügung gestellt. Neben<br />

Wechsel im Zukunftsfonds<br />

diesen, heute so gut wie abgeschlossenen<br />

finanziellen Leistungen, hat die<br />

beim Allgemeinen Entschädigungsfonds<br />

eingerichtete Schiedsinstanz bisher<br />

die Rückgabe von Liegenschaften<br />

an 81 Antragsteller im geschätzten Gesamtwert<br />

von rund US$ 40 Mio. empfohlen.<br />

Zusätzlich zu den Leistungen<br />

des Allgemeinen Entschädigungsfonds<br />

wurden von Österreich zahlreiche Sozialmaßnahmen<br />

zugunsten der NS-<br />

Opfer getroffen, wie die Möglichkeit<br />

im Ausland Pflegegeld zu beziehen<br />

und Leistungen der Pensionsversicherung<br />

begünstigt nachzukaufen.<br />

Zuletzt wurde im November des vergangenen<br />

Jahres die Einrichtung eines<br />

Fonds zur Instandsetzung jüdischer<br />

Friedhöfe in Österreich vom Nationalrat<br />

beschlossen. „Mit der Erfüllung der<br />

Bestimmung, Unterstützung für die Restaurierung<br />

und Erhaltung jüdischer Friedhöfe<br />

zu leisten, hat Österreich den letzten<br />

Schritt zur Erfüllung seiner Verpflichtungen<br />

aus dem Washingtoner Abkommen<br />

gesetzt“, unterstrich Spindelegger.<br />

Das mit dem Washingtoner Abkommen<br />

erzielte Verhandlungsergebnis brachte<br />

Österreich letztendlich die „legal closure“,<br />

den sogenannten Rechtsfrieden<br />

gegenüber anhängigen und zukünftigen<br />

Sammelklagen. „Das darf keinesfalls<br />

mit einer ‘moral closure’ verwechselt werden.<br />

Eine solche darf und wird es niem<strong>als</strong><br />

geben. Das bedeutet für mich nicht etwa, die<br />

Fortschreibung einer kollektiven Schuld,<br />

sondern vielmehr die Verpflichtung aus den<br />

Ereignissen der Vergangenheit zu lernen<br />

und in der Zukunft alles zu unternehmen,<br />

damit sich derartige Verbrechen niem<strong>als</strong><br />

wiederholen“, so der Außenminister abschließend.<br />

bmeia<br />

Nach dem Entschluss der bisherigen Vorsitzenden Frau Landeshauptmann a.D.<br />

Waltraud Klasnic, den Vorsitz zurückzulegen, wurde das Kuratoriumsmitglied<br />

Dr. Kurt Scholz am 10.01.<strong>2011</strong> zum neuen Vorsitzenden gewählt.<br />

Das Kuratorium hat auch eine Veränderung im Gener<strong>als</strong>ekretariat beschlossen:<br />

Mit 1. März <strong>2011</strong> wird der Koordinator in der steirischen Wissenschaftsabteilung<br />

Prof. Herwig Hösele die Nachfolge des langjährigen Gener<strong>als</strong>ekretärs Botschafter<br />

a.D. Dr. Richard Wotava antreten.<br />

Die Kuratoren des Zukunftsfonds, Dir. Moshe Jahoda, Claims Conference, Dr.<br />

Christoph Kainz, Wirtschaftskammer Österreich (zugleich stellvertrender Vorsitzender<br />

des Fonds), Mag. Max Kothbauer, Vorsitzender des Universitätsrats<br />

der Universität Wien und Staatssekretär a.D. Botschafter Dr. Hans Winkler, Direktor<br />

der Diplomatischen Akademie, sind - so wie der Vorsitzende - ehrenamtlich<br />

tätig.<br />

Der Zukunftsfonds der Republik Österreich wurde unter der Regierung<br />

Schüssel mit Wirksamkeit 01.01.2006 aus den verbleibenden Mitteln des Versöhnungsfonds<br />

(dieser diente der Entschädigung von ehemaligen Zwangsarbeiterinnen<br />

und Zwangsarbeitern) geschaffen. Unter dem Vorsitz von<br />

Wal traud Klasnic wurden in den letzten fünf Jahren zirka 500 zeitgeschichtliche<br />

Projekte mit knapp 10 Mio. Euro gefördert. Die Bandbreite der Forschungsvorhaben<br />

reichte von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, der<br />

Dokumen- tierung jüdischer Friedhöfe, Grundlagenforschungen zu Gedenkstätten<br />

wie Mauthausen und der Österreich-Ausstellung in Auschwitz bis zu<br />

einer Vielzahl individueller zeitgeschichtlicher Forschungsbeiträge. Der Zukunftsfonds<br />

kann dazu <strong>als</strong> gesetzlich fixierte Obergrenze jährlich 2 Mio. Euro<br />

ausschütten.<br />

Unter Beibehaltung der bisherigen Gebarung ist das Bestehen des Fonds auch<br />

in den nächsten 8 Jahren gesichert.<br />

4 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


POLITIK • INLAND<br />

Wissenschafter kritisieren Steyregger<br />

„Bombenkriegsdenkmal“<br />

Mauthausen Komitee und Antifa-Netzwerk:<br />

„Geschichtsverfälschung“ Forderung<br />

nach Zusatztafel mit historischer<br />

Erläuterung<br />

Scharfe Kritik üben namhafte Wissenschafter<br />

und antifaschistische Organisationen<br />

an einem „Friedens- und<br />

Bombenkriegsdenkmal“ im oberösterreichischen<br />

Steyregg. Das Denkmal,<br />

das an die lokalen Opfer alliierter<br />

Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg erinnert,<br />

war im November von einem<br />

„Personenkomitee“ enthüllt und der<br />

Stadtgemeinde übergeben worden.<br />

Der entscheidende Kritikpunkt ist die<br />

Tatsache, dass das Denkmal nicht den<br />

geringsten Hinweis auf die Ursache<br />

der alliierten Bombenangriffe gibt und<br />

damit den Anschein erweckt, <strong>als</strong> wären<br />

sie grundlos erfolgt.<br />

Der bekannte Politikwissenschafter<br />

Anton Pelinka stellt fest: „Selbstverständlich<br />

ist es legitim, der Opfer alliierter Bombenangriffe<br />

zu gedenken. Aber es gilt dabei<br />

immer auch festzuhalten, wer den Weltkrieg<br />

vom Zaun gebrochen und wer mit der systematischen<br />

Bombardierung der Zivilbevölkerung<br />

begonnen hat: das nation<strong>als</strong>ozialistische<br />

Deutschland.“<br />

Auch der Zeithistoriker Michael John<br />

von der Linzer Kepler-Universität betont,<br />

die geschichtlichen Zusammenhänge<br />

dürften nicht einfach totgeschwiegen<br />

werden: Hitler-Deutschland<br />

habe halb Europa überfallen und schon<br />

ab 1939 zahlreiche Städte flächendeckend<br />

bombardiert. Laut John richteten<br />

sich die späteren alliierten Luftangriffe<br />

im Linzer Raum hauptsächlich gegen<br />

die Rüstungsindustrie: „Sie trugen aus<br />

militärischer Sicht dazu bei, das verbrecherische<br />

NS-Regime zu zerschlagen.“<br />

Kürzlich erarbeiteten die beiden Wissenschafter<br />

- übrigens kostenlos -<br />

schriftliche Stellungnahmen zum Steyregger<br />

„Bombenkriegsdenkmal“. Darum<br />

ersucht hatte sie das Mauthausen<br />

Komitee Österreich (MKÖ) und das<br />

OÖ. Netzwerk gegen Rassismus und<br />

Rechtsextremismus (Antifa-Netzwerk).<br />

MKÖ-Bundesvorsitzender Willi Mernyi<br />

fordert die Stadt Steyregg jetzt auf,<br />

Konsequenzen zu ziehen: „Wir behaupten<br />

nicht, dass die Initiatoren des Denkm<strong>als</strong><br />

das NS-Regime und seinen Eroberungskrieg<br />

bewusst relativieren wollten. Aber<br />

eine große Gedankenlosigkeit steckt hinter<br />

einer solchen Vorgangsweise schon. Die<br />

Stadt, der das Denkmal übergeben wurde,<br />

sollte dort unbedingt eine Tafel mit einer<br />

fundierten Erläuterung der geschichtlichen<br />

Zusammenhänge anbringen.“<br />

Dieser Forderung schließt sich auch<br />

das OÖ. Antifa-Netzwerk an: „In seiner<br />

jetzigen Gestaltung ist das Denkmal misslungen<br />

und eine Geschichtsverfälschung<br />

durch Weglassen“, sagt Netzwerk-Sprecher<br />

Robert Eiter. „Unverständlich, dass<br />

der Steyregger SPÖ-Stadtrat Peter Grassnigg<br />

zu den Initiatoren gehört. Wir erwarten<br />

uns von der Bezirks- und der Landes-<br />

SPÖ, dass sie dazu klare Worte finden!“<br />

MKÖ<br />

Die gemeinsame Stelle der deutschen<br />

Bundesländer für den Jugendschutz (jugendschutz.net)<br />

registrierte im vergangenen<br />

Jahr 1872 deutschsprachige Websites<br />

aus der Neonaziszene - 237 mehr<br />

<strong>als</strong> 2007 und gleich 839 mehr <strong>als</strong> 2005.<br />

Diese Netzwerke verdreifachten (!) sich<br />

innerhalb eines Jahres auf mehr <strong>als</strong> 90.<br />

Auch in Österreich sind Rechtsextreme,<br />

aber auch Hassprediger und militante<br />

Islamisten u. a. im Cyberspace verstärkt<br />

auf dem Vormarsch. Auf Websites wird<br />

offen zu Gewalt und Hass aufgerufen,<br />

Terrortipps verbreitet und menschenverachtende,<br />

rassistische und fremdenfeindliche<br />

Botschaften ausgetauscht.<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 5


POLITIK • ANTISEMITISMUS<br />

„Spiegel“ schürt Antisemitismus<br />

Von Ulrich W. Sahm<br />

„Davids Rächer“ heißt es neben „Israels<br />

geheime Killer-Kommandos“ unter dem<br />

Titelbild des neuesten „Spiegel“ mit dem<br />

unscharfen Bild mutmaßlicher Agenten in<br />

einem Davidstern. Ab Seite 86 zählen „Spiegel“-Redakteur<br />

Dieter Bednarz und der israelische<br />

Terrorexperte Ronen Bergman<br />

tatsächliche, vermeintliche oder mutmaßliche<br />

Morde des israelischen Geheimdienstes<br />

Mossad auf. Die bekannten Räuberpistolen<br />

faszinieren immer, haben schon<br />

manchen Bestseller hervorgebracht.<br />

Neue Erkenntnisse hat der „Spiegel“<br />

aber auch dieses Mal nicht zu bieten.<br />

Deshalb ist zu fragen, wieso das Magazin<br />

ausgerechnet jetzt diese Mordgeschichten<br />

sogar zur Titelgeschichte<br />

macht. Selbst der Mord am Hamas-<br />

Waffenhändler Mabhuh im <strong>Januar</strong> vergangenen<br />

Jahres in Dubai kann den Israelis<br />

trotz vieler Indizien nicht wirklich<br />

und überzeugend nachgewiesen<br />

werden.<br />

Als konkreter Anlass für diese Titelgeschichte<br />

muss das Geständnis des Iraners<br />

Madschid Dschamali Fasch im<br />

iranischen Fernsehen herhalten. Inwieweit<br />

der Mann die Wahrheit sagt,<br />

schauspielert oder unter Folter gebrochen<br />

wurde, bleibt offen. Er behauptet,<br />

vom Mossad angeheuert und trainiert<br />

worden zu sein, um iranische Atomforscher<br />

zu ermorden. Diese obskure<br />

Geschichte benutzt der „Spiegel“, um<br />

das ganze Sündenregister des jüdischen<br />

Staates aufzukochen.<br />

Natürlich wäre nichts dagegen einzuwenden,<br />

wenn ein Husarenstück des<br />

Mossad dokumentiert würde. Aber<br />

den „Spiegel“-Redakteuren geht es um<br />

etwas ganz anderes. Sie stellen die goldene<br />

Regel der Notwehr <strong>als</strong> Zitat aus<br />

dem Talmud vor: „Wenn jemand kommt,<br />

um dich zu töten, stehe auf und töte ihn<br />

zuerst“, um dann „Die Rache der Mossad-Attentate<br />

des israelischen Geheimdienstes“,<br />

so der Titel, anzuprangern.<br />

Die Festnahme des Holocaustarchitekten<br />

Adolf Eichmann in Argentinien,<br />

um ihn in Israel vor Gericht zu stellen,<br />

wird <strong>als</strong> Paradebeispiel präsentiert.<br />

Die klassische alttestamentliche Formel,<br />

„Auge um Auge, Zahn um Zahn“<br />

wird bemüht, um die legendäre Rachsucht<br />

der Juden zu unterstreichen und<br />

gar eine reine Mordlust zu konstruieren.<br />

„Mord um Mord“ wird dem Bibelvers<br />

angefügt - und geflissentlich<br />

unterschlagen, dass der alte biblische<br />

Grundsatz Grundlage unseres modernen<br />

deutschen Strafrechts ist. Oder<br />

muss man den Herren „Spiegel“-Redakteuren<br />

da Unwissenheit unterstellen?<br />

Der „Spiegel“ versteigt sich zu kühnen<br />

Spekulationen. „Die Juden sind an ihrem<br />

Unglück selber schuld“, wird da suggeriert,<br />

indem etwa der schwere Anschlag<br />

auf die israelische Botschaft in Argentinien<br />

<strong>als</strong> logische Folge des Angriffs<br />

der Israelis auf den libanesischen Hisbollahchef<br />

Scheich Abbas Mussawi dargestellt<br />

wird. Dass Israel vermutlich<br />

den Palästinenserführer Abu Dschihad<br />

getötet hat, wird <strong>als</strong> „tragischer Fehler“<br />

gesehen. Denn, so träumt der „Spiegel“,<br />

Abu Dschihad wäre möglicherweise<br />

ein „charismatischerer Führer <strong>als</strong> Arafat“<br />

geworden und „deshalb in der Lage gewesen,<br />

den Konflikt zwischen Palästinensern<br />

und Israel zu beenden“.<br />

Die aufgezählten Taten des Mossad<br />

werden gar <strong>als</strong> „Verstoß gegen internationales<br />

Recht und die Souveränität anderer<br />

Nationen“ dargestellt - <strong>als</strong> ob es<br />

„gezielte Tötungen“, Morde oder Attentate<br />

durch andere Staaten und deren<br />

Geheimdienste auf fremdem Territorium<br />

überhaupt nicht gäbe.<br />

Die Barmherzigen Brüder suchen Zeitzeugen!<br />

Das Wiener Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, gegründet 1614, ist das älteste und eines der modernsten<br />

Spitäler in Wien. Seit Anfang an sind wir ein wichtiger Teil der Leopoldstadt und mit der Entwicklung<br />

dieses Bezirkes auf das Engste verbunden.<br />

Für die Erstellung unserer Festschrift im Rahmen unserer 400-Jahr-Feierlichkeiten 2014 sind wir auf der<br />

Suche nach Zeitzeugen: Kennen Sie unser Krankenhaus schon seit langem, haben Sie Anekdoten zu unserem<br />

Spital zu erzählen oder können Sie sich noch erinnern, wie die Barmherzigen Brüder immer für<br />

die Mitmenschen da waren und sich keinem Regime gebeugt haben? Dann lassen uns an Ihren Erinnerungen<br />

teilhaben. Mit Ihrer persönlichen Geschichte helfen Sie mit, ein Stückchen unserer Geschichte<br />

für die folgenden Generationen zu bewahren.<br />

Kontakt & Ansprechpartner: Mag. Johannes Reinprecht, Telefon: +43 1 211 21 1066<br />

Mailadresse: johannes.reinprecht@bbwien.at<br />

Vielen herzlichen Dank für Ihre Unterstützung und Ihre Bemühungen!<br />

6 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


POLITIK • ANTISEMITISMUS<br />

PRESSEZENSUR IN UNGARN – JA, ABER!<br />

Als ich in Budapest Arnold Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ dirigierte – die Komposition hat den Aufstand der Juden<br />

gegen die NS-Besatzer im Jahr 1943, der tausende Menschenleben forderte, zum Inhalt – wurde das Konzert durch einen Zwischenruf<br />

gestört. In Österreich ist dies undenkbar.<br />

Seit Jahren beklagt die „westliche“ Presse, dass auch in Ungarns Qualitätsmedien antisemitische Ausfälle, die in Österreich gerichtlichen<br />

Verurteilungen nach sich ziehen würden, auf der Tagesordnung stehen. Diese traurige Erscheinung in nahezu ganz Osteuropa<br />

hat ihre Wurzeln im verdeckten, aber umso aggressiveren Antisemitismus der KP- Zeit. Daher ist es nur schlüssig, dass<br />

legistische Maßnahmen gesetzt werden, um (auch) diesen Manifestationen Einhalt zu gebieten.<br />

Resteuropas unreflektierte Kollektivempörung ist unangebracht. Ungarn ist wie die anderen Staaten Osteuropas eine immer<br />

noch junge Demokratie, die andere Bewertungskriterien erfordert <strong>als</strong> die etablierten Staaten Mittel- und Westeuropas.<br />

Jedes Gesetz kann missbraucht werden.<br />

Es gilt daher, was der renommierte Ungarnexperte Paul Lendvai in seiner allerersten Stellungnahme festgestellt hat: Fluch oder<br />

Segen dieses Gesetzes hängen einzig und allein von dessen praktischer Handhabung ab. Diese zu beobachten und zu kommentieren<br />

ist die EU sich selber, der Idee der Demokratie und besonders den Einwohnern unseres östlichen Nachbarstaates gegenüber<br />

verpflichtet.<br />

Ungarn sollte sich von diesem Gesetz nicht unbedacht aus vorauseilendem EU-Gehorsam verabschieden, sondern es verantwortungsvoll<br />

im Interesse diskrminierungsgefährdeter Menschen und der Demokratie anwenden!<br />

Prof. Ernst Smole<br />

lehrt an der Konservatorium Wien Privatuniversität/KWU<br />

leitet seit 2007 die CAMERATA PRO MUSICA HUNGARICA.<br />

Mittwoch, 2. Februar <strong>2011</strong>,<br />

um 19.30 Uhr<br />

DIE RECHTE GEFAHR IN UNGARN<br />

Zu Gast: Paul Lendvai<br />

IKG-Gemeindezentrum<br />

Seitenstettengasse 2, 1010 Wien<br />

20 Jahre nach Ende der kommunistischen Diktatur schafft der Rechtspopulist Viktor Orban die Demokratie<br />

ab. Offizielle Medienkontrollinstitutionen stellen fest: „Meinungs-,Rede-, und Pressefreiheit stellen keinen<br />

Selbstzweck mehr dar, sondern dienen den Interessen der Gemeinschaft, der Integration der Gesellschaft“.<br />

Paul Lendvai, gebürtiger Ungar und <strong>als</strong> Journalist und Publizist in Wien lebend, ist wegen seines Buches<br />

„Mein verspieltes Land“ zur Hauptangriffsfläche von rechtsnationalisitschen und antisemitischen Kräften<br />

geworden, die derzeit eine ungeheuer aggressive Kampagne gegen ihn und sein Buch führen.<br />

Paul Lendvai (* 24. August 1929 in Budapest). Als politisch Unzuverlässiger wurde er 1953 für acht Monate verhaftet und interniert, anschließend<br />

erhielt er wegen Berufsverbots drei Jahre keine Anstellung. Seit 1957 lebt er in Österreich und ist seit 1959 österreichischer Staatsbürger.<br />

Seit 1973 Chefredakteur und Mitherausgeber der internationalen Vierteljahreszeitschrift „Europäische Rundschau“; politischer Kommentator der<br />

österreichischen Tageszeitung „Der Standard“. Von 1982-87 war Lendvai Leiter der Osteuropa-Redaktion des ORF und moderiert die Diskussionssendung<br />

Europastudio; von 1982-97. Intendant von Radio Österreich. Er gilt <strong>als</strong> einer der profundesten Kenner Ost- und Südosteuropas.<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 7


POLITIK • NS-ZEIT<br />

Tiroler NS-Gräber<br />

Wiener Historiker Bertrand Perz leitet Kommission<br />

Im März soll die Bergung der 220 Leichen aus dem<br />

NS-Gräberfeld in Hall im Rahmen eines für zwei Jahre<br />

angesetzten Projektes starten. Ein wesentliches Ziel<br />

ist die Identifizierung der Leichen und die Klärung der<br />

Todesursache.<br />

Nach dem Bekanntwerden eines Gräberfeldes mit mutmaßlichen Opfern des NS-Euthanasieprogrammes am Gelände des Psychiatrisch<br />

die Zahl der ermordeten Opfer noch größer sein, <strong>als</strong> bisher angenommen. Ein Zeitzeuge will Transporte in Vernichtungslager bis zum Ja<br />

Arthur Corazza, der im Herbst 1943 mit seiner Familie nach Hall gezogen war, berichtete von Beobachtungen, nach denen Patienten<br />

seien. Die Menschen seien in die Lkw hineingezwängt worden und hätten geschrien, weil sie geahnt hätten, dass die Fahrt nicht in ein E<br />

nahmen die Historiker an, dass zwischen 1940 bis 1942 insgesamt 360 Menschen von Hall in die NS-Tötungsanstalten Hartheim und<br />

Laut Verwaltungsbüchern des Psychiatrischen Krankenhauses in Hall ging am 31. August 1942 der letzte Transport von „psychisch Kr<br />

bachtungen des Zeitzeugen bestätigen lassen, dann hätte man in Hall die sogenannte „Wilde Euthanasie“ zugelassen, so der Historike<br />

programm offiziell eingestellt. Bekannt ist aber, dass in einzelnen Heil- und Pflegeanstalten bis Kriegsende 1945 dezentral weiter gemo<br />

8 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


POLITIK • NS-ZEIT<br />

Der Wiener Historiker Bertrand Perz<br />

leitet jene Kommission, die sich mit<br />

dem kürzlich bekanntgewordenen Gräberfeld<br />

mit mutmaßlichen NS-Euthanasieopfern<br />

am Gelände des Psychiatrischen<br />

Krankenhauses in Hall bei Innsbruck<br />

befassen soll. Diese Entscheidung<br />

gab LH Günther Platter (V) bekannt.<br />

Nominiert wurden insgesamt<br />

neun Personen, darunter auch Vertreter<br />

der Länder Vorarlberg und Südtirol.<br />

„Das Land Tirol steht zu seiner historischen<br />

Verantwortung. Die Vergangenheit<br />

muss lückenlos aufgearbeitet werden. Das<br />

sind wir den Opfern und Angehörigen<br />

schuldig“, erklärte Platter. Er erwarte<br />

sich „eine sensible Vorgehensweise bei der<br />

Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der<br />

Geschichte“. Er verwies auf die Tätigkeit<br />

von Perz für die Historikerkommission<br />

der Republik Österreich sowie<br />

die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte<br />

Mauthausen.<br />

Aufgabe der Kommission soll es sein,<br />

die Ereignisse und Umstände im Psychiatrischen<br />

Krankenhaus in Hall zu<br />

untersuchen und eine Darstellung der<br />

Vorgänge - insbesondere auch in Hinblick<br />

auf den historischen Kontext -<br />

aufzubereiten. Parallel dazu gibt es ein<br />

eigenes Projektteam für die Bergung<br />

und Untersuchung vor Ort.<br />

Das Forschungsprojekt werde in die<br />

Arbeiten der Kommission integriert<br />

und bilde die Grundlage für die wissenschaftliche<br />

Untersuchung und Beurteilung<br />

der Kommission.<br />

Neben Perz gehören der Kommission<br />

Wolfgang Neugebauer (Dokumentationsarchiv<br />

des österreichischen Widerstands),<br />

Brigitte Kepplinger (stv. Obfrau<br />

des Vereins Schloss Hartheim), Elisabeth<br />

Dietrich-Daum (Universität Innsbruck),<br />

Thomas Albrich (Universität<br />

Innsbruck <strong>als</strong> Vertreter des Bundeslandes<br />

Vorarlberg), Christine Roilo (Direktorin<br />

des Südtiroler Landesarchivs <strong>als</strong><br />

entsendete Vertreterin des Landes Südtirol),<br />

Hartmann Hinterhuber (Universitätsklinik<br />

für Allgemeine und Sozialpsychiatrie<br />

in Innsbruck <strong>als</strong> Vertreter<br />

des Bundeslandes Tirol), Alexander Zanesco<br />

(wissenschaftlicher Leiter des Projekts<br />

„Bergung und Untersuchung des<br />

Anstaltsfriedhofes des Psychiatrischen<br />

Krankenhauses in Hall“), sowie der<br />

Historiker Oliver Seifert an.<br />

©EPA/NINA HEIZER<br />

en Krankenhauses in Hall bei Innsbruck könnte<br />

hr 1944 beobachtet haben. Der heute 78-jährige<br />

bis 1944 in Militärlastwagen verladen worden<br />

rholungsheim gehe, schilderte Corazza. Bisher<br />

Niedernhart (beide bei Linz) gebracht wurden.<br />

anken“ nach Niedernhart. Sollten sich die Beor<br />

Oliver Seifert. 1941 wurde das NS-Euthanasierdet<br />

wurde.<br />

Schloss Hartheim<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 9


Mit einer Mahnwache vor der<br />

deutschen Botschaft in Athen haben<br />

Überlebende und Angehörige der<br />

Opfer des SS-Massakers von Distomo<br />

im Jahr 1944 Gerechtigkeit gefordert.<br />

Bei dem Massaker in der griechischen<br />

Kleinstadt Distomo waren seinerzeit<br />

218 Bewohner, vom Säugling bis zum<br />

Greis, von deutschen Besatzungssoldaten<br />

erschossen worden.<br />

Vor dem Haager Internationalen Gerichtshof<br />

(IGH) läuft ein Verfahren, mit<br />

dem die deutsche Regierung Forderungen<br />

von Angehörigen der Opfer derartiger<br />

Nazi-Verbrechen nach Einzelentschädigung<br />

durch den deutschen Staat<br />

beenden möchte. Der griechische Staat<br />

ist in dem Verfahren nicht vertreten,<br />

was die Demonstranten kritisierten.<br />

Griechische Politiker haben in der Vergangenheit<br />

mehrfach Reparationszahlungen<br />

von Deutschland gefordert.<br />

Bisher wies die deutsche Regierung<br />

diese Forderungen immer zurück, da<br />

bereits 1960 im Rahmen eines Abkommens<br />

115 Mio. Mark an Griechenland<br />

gezahlt worden waren. Diese Zahlungen<br />

waren explizit nur für politisch,<br />

religiös oder „rassisch“ verfolgte Menschen<br />

gedacht, nicht aber für die Opfer<br />

von Massakern, Geiselerschießungen,<br />

„Strafaktionen“ und anderen NS-Verbrechen.<br />

Griechische Zwangsarbeiter<br />

seien aus dem Topf der Stiftung „Erinnerung,<br />

Verantwortung und Zukunft“<br />

entschädigt worden.<br />

POLITIK • NS-ZEIT<br />

Die<br />

SS-Opfer<br />

von Distomo<br />

1997 hatte hat ein griechisches Gericht<br />

etwa 300 Nachkommen der Distomo-<br />

Opfer knapp 29 Millionen Euro zugesprochen.<br />

Der deutsche Bundesgerichtshof<br />

widersprach dem griechi schen<br />

Urteil, da es gegen den völkerrechtlichen<br />

Grundsatz der Staatenimmunität<br />

verstoße. Demnach darf ein Staat nicht<br />

über einen anderen zu Gericht sitzen.<br />

Eine Zwangsvollstreckung an deutschem<br />

Vermögen, etwa durch Pfändung<br />

des Goethe-Instituts in Athen,<br />

verhinderte die griechische Regierung<br />

in letzter Minute.<br />

Deutsche Entschädigungszahlungen<br />

für Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg<br />

sind nach wie vor ausständig, wie Ministerpräsident<br />

Giorgos Papandreou<br />

vor dem Europaparlament in Brüssel<br />

erklärt hatte. Nicht vergessen ist, dass<br />

nahezu 130.000 Zivilisten von der deutschen<br />

Besatzungsmacht getötet und<br />

70.000 griechische Juden in Vernichtungslager<br />

deportiert wurden. Über<br />

300.000 Griechen verhungerten oder<br />

erfroren im Winter 1942/43, weil die<br />

Besatzer Nahrungsmittel und Brennstoffe<br />

beschlagnahmten, nachdem sie<br />

das griechische Gold geraubt hatten.<br />

Vor griechischen Gerichten anhängig<br />

sind mehr <strong>als</strong> 60.000 Schadenersatzklagen.<br />

Der Oberste Gerichtshof (Areo-<br />

pag) beschloss, dass griechische Gerichte<br />

für derartige Klagen nicht zuständig<br />

sind, und beendete damit vor<br />

mehreren Jahren ein langes juristisches<br />

Tauziehen.<br />

In dem Bergdorf Kalavrita auf dem<br />

Nordpeloponnes verübten Wehrmachtsangehörige<br />

- großteils Österreicher<br />

- 1943 ein unbeschreibliches Massaker:<br />

Die gesamte männliche Bevölkerung,<br />

1.436 Männer und Buben, wurden<br />

<strong>als</strong> „Vergeltung“ für Partisanenüberfälle<br />

auf Besatzungssoldaten umgebracht,<br />

alle Häuser des Ortes bis auf<br />

die Grundmauern niedergebrannt.<br />

Dem Massaker in Kommeno (Komeno)<br />

in Nordwestgriechenland (Epirus) im<br />

August 1943 fielen 317 Männer, Frau -<br />

en und Kinder zum Opfer, 97 der Ermordeten<br />

waren jünger <strong>als</strong> 15 Jahre.<br />

Die Deutschen schlugen zu, nachdem<br />

einige griechische Widerstandskämpfer<br />

in dem Dorf Nahrungsmittel eingesammelt<br />

hatten.<br />

APA/dpa<br />

Ministerpräsident Giorgos Papandreou<br />

im Museum von Distomo<br />

@ EPA/GREEK PM PRESS OFFICE<br />

10 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


POLITIK • NS-ZEIT<br />

Von armen Griechen und guten Österreichern<br />

Holocaust auf griechisch oder Die vergessenen groß-deutschen Verbrechen in Griechenland 1940-1944<br />

VON L. JOSEPH HEID<br />

Dem gemeinen deutschen oder<br />

österreichischen Touristen zieht es<br />

der Sonne, der Strän-de und der Tavernen<br />

mit ihren Buzuki-Klängen,<br />

des Tzantali-Weins und des Ouzos<br />

wegen an die Küsten des Lichts. Er<br />

weiß nichts mehr von den Verbrechen<br />

der Wehrmacht und SS in Joánnina,<br />

Kalavrita oder Distimo und all<br />

den anderen Orten, wo unsägliches<br />

Leid über die griechische Be- völkerung<br />

gekommen ist, oder den Verbrechen<br />

auf den Inseln Korfu, Rhodos<br />

oder Kreta, wo jahrhundertealte ehrwürdige<br />

jüdische Gemeinden vernichtet<br />

und die jüdische Existenz<br />

vollständisch ausgelöscht wurde.<br />

Eine Heimsuchung. Anders <strong>als</strong> in<br />

Deutschland oder Österreich haben<br />

sich die furchtbaren Taten jedoch bei<br />

den Griechen unwiderruflich in das<br />

kollektive Gedächtnis eingebrannt.<br />

Das Muster der Verbrechen, die großdeutsche<br />

Uniformträger in Griechenland<br />

in den Kriegsjahren zwischen<br />

1940 und 1944 begingen, war stets<br />

gleich: Bei wirklicher oder vermeintlicher<br />

Kollaboration mit den Partisanen<br />

erschoss die Wehrmacht – in der<br />

Regel im Verhältnis zehn Griechen<br />

für einen getöteten Deutschen - zufällig<br />

ausgewählte Zivilisten, in einigen<br />

Fällen wurde die gesamte männliche<br />

Bevölkerung eines Dorfes durch<br />

ein Hinrichtungskommando erschossen,<br />

die übrige Bevölkerung auf<br />

andere grausame Art – z.B. durch<br />

Verbrennen am lebendigen Leib –<br />

ermordet. Die Dörfer wurden anschließend<br />

in Schutt und Asche gelegt.<br />

Die griechischen Juden wurden<br />

hingegen in aller Regel nicht an Ort<br />

und Stelle ermordet, sondern in „Aktionen“<br />

festgenommen, in einem<br />

Durchgangslager konzentriert und<br />

anschließend auf einer mehrtägigen<br />

Zugfahrt in das Vernichtungslager<br />

Auschwitz verschleppt. Vermögen,<br />

Wertgegenstände, Hab und Gut wurden<br />

zugunsten des Reichs fortgeschafft,<br />

zum Teil den griechischen<br />

Nachbarn überlassen. Die Beute<br />

tauschte die Wehrmacht bei der griechischen<br />

Bevölkerung gegen Versorgungsgüter,<br />

um, so Götz Alys These,<br />

ein neues Angebot auf dem Markt<br />

zu schaffen. Dieses Vorgehen stabilisierte<br />

die Währung und verbesserte<br />

die Versorgung der Besatzer. Mit dem<br />

Vermögen der Juden bezahlten die<br />

deutschen Garnisonen ein paar Monate<br />

ihre Rechnungen. Aly hat am<br />

Beispiel der Deportation der Juden<br />

von Rhodos seine These vom Massenraubmord<br />

begründet, der begangen<br />

wurde, um Hitlers Zustimmungsdiktatur<br />

zu verlängern.<br />

Die griechische Sprache hat für Großverbrechen,<br />

Verbrechen an unschuldigen<br />

Opfern, ein eigenes Wort –<br />

Holocaust, was so viel bedeutet wie:<br />

Brandopfer, Massaker, Mord, Pogrom.<br />

Erst Mitte der 1970er Jahre<br />

wurde dieses Wort zum Synonym<br />

für den Judenmord und ist in dieser<br />

Bedeutung seitdem in vielen Sprachen<br />

geläufig.<br />

Kommt man nach Kalavrita, einem<br />

beschaulichen Bergdorf, gelegen in<br />

einer bizarren Berglandschaft des<br />

Peloponnes, wird man auf Schritt<br />

und Tritt an eines der brut<strong>als</strong>ten Verbrechen<br />

der Wehrmacht erinnert,<br />

nicht nur in Griechenland, sondern<br />

in Europa insgesamt. Am 13. Dezember<br />

1943 erschoss ein Hinrichtungskommando<br />

der Wehrmacht unter<br />

dem Kommando des österreichischen<br />

Oberleutnants Willibald Akamphuber<br />

alle etwa 700 Männer des Dorfes über<br />

14 Jahren. Das war die Antwort auf<br />

die Gefangennahme deutscher Soldaten<br />

durch griechische Partisanen.<br />

Die zurückgebliebenen Frauen und<br />

Kinder wurden in das Schulgebäude<br />

getrieben, das verriegelt und angezündet<br />

wurde. Ein Wehrmachtssoldat<br />

schloss das Gebäude jedoch auf,<br />

so dass die Eingeschlossenen fliehen<br />

konnten. Der Soldat wurde daraufhin<br />

von seinen eigenen Kameraden<br />

erschossen. Das Dorf selbst und weitere<br />

25 Dörfer der Umgebung wurden<br />

zerstört, Haus für Haus gesprengt<br />

und niedergebrannt. Auch mehrere<br />

Klöster. In dem alten Schulgebäude<br />

befindet sich zur Erinnerung an dieses<br />

Verbrechen heute das „Museum<br />

des Holocaust von Kalavrita“.<br />

Kalavrita war kein Einzelfall. Die<br />

deutsche Wehrmacht hinterließ bei<br />

ihrem Feldzug gegen Griechenland<br />

eine breite Blutspur.<br />

Er sei Historiker und wolle etwas<br />

über den Krieg schreiben, so versuchte<br />

Christoph U. Schminck-Gustavus bei<br />

Zeitzeugen in Bergdörfern des nordgriechischen<br />

Epírus-Gebirges und in<br />

der Provinzhauptstadt Joánnina, Vertrauen<br />

zu gewinnen, alles über die<br />

Zeit der deutschen Besatzung zu erfahren.<br />

Gäbe es doch mehr dieser<br />

Chronisten, die sich so intensiv und<br />

engagiert die deutsch-griechisch-jüdische<br />

Geschichte angelegen sein<br />

ließen, die Licht in das Dunkel der<br />

Vergangen brächten, die über Schuld<br />

und Verantwortung, über Leugnen,<br />

Lügen und Bagatellisieren schrieben!<br />

Seit Ende der 1970er Jahre reiste der<br />

in Bremen Rechts- und Sozialgeschichte<br />

lehrende Schminck-Gustavus<br />

in das beschwerliche, abgelegene<br />

Epírus-Gebirge und brachte die<br />

Menschen zum Reden über die Vergangenheit.<br />

Geduld und Einfühlungsvermögen<br />

zeichneten den Fragesteller<br />

bei seinen Recherchen aus.<br />

Und dies war aller Mühe wert. Er<br />

brachte reichlich Ernte ein, so dass<br />

wir detaillegetreue Kenntnis über die<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 11


POLITIK • NS-ZEIT<br />

Verbrechen erhalten – Krieg, deutsche<br />

Besatzung und Shoah -, Verbrechen,<br />

die sich vor allem in der Stadt<br />

Joánnina abgespielt haben.<br />

Nach dem Überfall Italiens auf Griechenland<br />

im Oktober 1940 besetzten<br />

italienische Truppen den nördlichen<br />

Epírus, wurden aber von der griechischen<br />

Armee zurückgedrängt, so<br />

dass Hitler sich genötigt sah, seinem<br />

Bündnispartner beizustehen. Nachdem<br />

Italien im Herbst 1943 die militärische<br />

Seite gewechselt hatte und<br />

zu den Alliierten übergelaufen war,<br />

wurden diese Gebiete von deutschen<br />

Truppen besetzt. Und damit begann<br />

eine Schreckensherrschaft für die<br />

griechische Bevölkerung, vor allem<br />

für die dort lebenden Juden.<br />

Am 25. März 1944, dem griechischen<br />

Nationalfeiertrag, einem bitterkalten<br />

Tag, umstellten Wehrmachtssoldaten<br />

das jüdische Wohnviertel in<br />

Joánnina. Die jüdischen Bewohner<br />

wurden bis auf einige wenige, die<br />

sich den Partisanen in den Bergen<br />

angeschlossen hatten, zum Abtransport<br />

zusammengetrieben. Noch während<br />

sie die Juden sammelten, hatten<br />

die Deutschen an jenem Tag um<br />

drei Uhr morgens einige griechische<br />

Kollaborateure geweckt und ihnen<br />

befohlen, alle Waren zu verteilen,<br />

die in den Läden der Juden zurückgeblieben<br />

waren. Sie sagten diesen<br />

Leuten auch, sie könnten die jetzt<br />

freigewordenen jüdischen Läden<br />

und Wohnungen in Besitz nehmen.<br />

Die Juden vermuteten bei dieser Aktion<br />

nicht zu unrecht eine Beteiligung<br />

der christlichen Nachbarn. Vom offenen<br />

Lastwagen riefen sie herunter:<br />

„Was haben wir Euch getan? Warum<br />

lasst Ihr uns abtransportieren? Das ist<br />

unser Ende!“ So fuhr die Kolonne in<br />

Eiseskälte los. 1.870 Juden wurden<br />

auf etwa 80 Lastwagen gezwängt<br />

und in ein Durchgangslager nach<br />

Lárissa gebracht. Von da aus führte<br />

man sie zur Eisenbahn. In Viehwaggons<br />

ging die neuntägige Fahrt nach<br />

Auschwitz und Birkenau. Neun Tage.<br />

Doch bereits auf der ersten Passhöhe<br />

gab es die ersten Toten. Sie waren erfroren.<br />

Im Bericht des Unteroffiziers Bergmayer<br />

über die „Evakuierung der Juden<br />

aus Joánnina“ heißt es: „Die griechische<br />

Bevölkerung [...] sammelte sich in den<br />

Strassen der Stadt. Mit stiller Freude, die<br />

man ihren Gesichtern ablesen konnte,<br />

verfolgten sie den Auszug der Hebräer<br />

[...]. Nur in ganz seltenen Fällen ließ<br />

sich ein Grieche herbei, einem jüdischen<br />

Rassegenossen Lebewohl zuzuwinken.<br />

[...] Mitleid mit deren Schicksal oder gar<br />

missgünstige Beurteilung der Aktion<br />

wurden in keinem einzigen Fall bekannt“.<br />

Kaum waren die LKWs außer Sicht,<br />

wurden die Judenhäuser geplündert.<br />

Eine „Verwaltungskommission für das<br />

ehemalige(!) jüdische Vermögen“ – welch<br />

eine entlarvende Bezeichnung! - verteilte<br />

das zurückgelassene Hab und<br />

Gut der Deportierten. Die „Kommission“<br />

warf Hausrat aus den Fenstern<br />

in die wartende Menge, die sich<br />

„wie Aasgeier“ um die Sachen balgte.<br />

Dabei hatten die Juden von Joánnina<br />

sich der Hoffnung hingegeben,<br />

sie würden geschont. Sie wähnten<br />

sich in Sicherheit, weil die italienische<br />

Besatzungsmacht sich zurückgehalten<br />

und es abgelehnt hatte, die<br />

„Judenmaßnahmen“ nach deutschem<br />

Vorbild im eigenen Besatzungsgebiet<br />

durchzuführen. Nach Übernahme<br />

des Epírus durch die deutsche Gebirgstruppe<br />

und nach der Vertreibung<br />

der Italiener hatten allerdings auch<br />

Offiziere des Gener<strong>als</strong>tabs der Division<br />

„Edelweiß“ dem Vorsteher der<br />

jüdischen Gemeinde in Joánnina erklärt,<br />

die Juden würden unbehelligt<br />

bleiben, wenn sie sich den gegebenen<br />

Anordnungen fügten. Eine schicksalhafte<br />

Lüge für die Juden der Stadt.<br />

Von den knapp 2.000 deportierten<br />

Juden Joánninas kamen nur 112 aus<br />

Auschwitz zurück. Weitere 69 Gemeindeangehörige,<br />

die entweder in<br />

den Bergen gekämpft oder sich versteckt<br />

gehalten hatten, kehrten nach<br />

der Befreiung in die Stadt zurück<br />

und mussten oftm<strong>als</strong> die Gerichte<br />

anrufen und jahrelang prozessieren,<br />

um ihr Eigentum zurückzuerhalten.<br />

Die meisten jüdischen Familien in<br />

Joánnina lebten in ärmlichen Verhältnissen.<br />

Die Mehrzahl waren einfache<br />

Arbeiter, kleine Handwerker<br />

und Hausierer. Keiner von ihnen<br />

hatte Verwandte in den umliegenden<br />

Dörfern, zu denen er hätte fliehen<br />

können, um sich zu verstecken. Der<br />

Gefahr einer Massendeportation,<br />

wie sie zuvor in Thessaloniki stattgefunden<br />

hatte, waren zwar allgemein<br />

bekannt, dennoch waren sich<br />

die Juden Joánninas der Gefahr nicht<br />

bewusst. Über das Schicksal ihrer<br />

Glaubensbrüder in den von Deutschland<br />

besetzten Ländern wussten sie<br />

nichts.<br />

In den ersten Kapiteln zieht es sich<br />

ein wenig hin. Gespräche mit Zeitzeugen,<br />

die sich in ihren Erzählungen<br />

wiederholen, ermüden. Doch<br />

dann geht es auf die Suche nach den<br />

Tätern, die der Leser zur Rechenschaft<br />

gezogen haben will. Man fiebert<br />

mit dem investigativen Staatsanwalt<br />

mit, der seine Sache sehr<br />

ernst nimmt und dem Hauptverbrecher<br />

dicht auf den Fersen ist. Im<br />

Laufe seiner Ermittlungen gelingt es<br />

dem Staatsanwalt, sich immer näher<br />

an die Haupttäter heranzutasten.<br />

Doch der Leser wird sehr bald enttäuscht<br />

je mehr er zur Kenntnis neh-<br />

12 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


POLITIK • NS-ZEIT<br />

men muss, dass die Aufklärung ins<br />

Leere läuft, weil Staatsanwaltschaft<br />

und Täter in tätiger Komplizenschaft<br />

unter einer Decke stecken. So war es<br />

in den 1960er Jahren, <strong>als</strong> die Ermittlungen<br />

gegen NS-Verbrecher begannen.<br />

Manus manum lavat. Dass die<br />

eine, die andere Hand wäscht, das<br />

wussten schon die alten Römer: Der<br />

ermittelnde Staatsanwalt entpuppt<br />

sich <strong>als</strong> ehemaliger SA-Mann, der<br />

gegenüber den Haupttätern, der Befehlshaber<br />

der Athener Sicherheitspolizei,<br />

Dr. Jur. Walter Blume und<br />

seinen Gehilfen Friedrich Linnemann,<br />

die längst wieder in gutbürgerliche<br />

geachtete Stellungen standen, erstaunliche<br />

Milde walten ließ.<br />

Dieser Dr. jur. Walter Blume verdient<br />

einige Zeilen der Erwähnung:<br />

Nach steiler Karriere im Reichssicherheitshauptamt,<br />

der Mordzentrale<br />

des Dritten Reichs, hatte Blume <strong>als</strong><br />

35-jähriger im Russlandfeldzug in<br />

der Einsatzgruppe B ein Sonderkommando<br />

geführt, dessen Aufgabe es<br />

gewesen war, hinter der Front „Juden,<br />

Banditen, Zigeuner, Kommunisten,<br />

Geisteskranke und sonstige Reichsfeinde“<br />

zu liquidieren. Im Nürnberger<br />

Prozess kamen grausige Details<br />

von Blumes Taten ans Licht. Seine<br />

Todesstrafe wurde in lebenslanger<br />

Haft umgewandelt, bis er, schon 1953<br />

vollends begnadigt, aus dem Gefängnis<br />

entlassen wurde und ins Zivilleben<br />

zurückkehren konnte. Über<br />

seine Verbrechen, die unter seinem<br />

Kommando in Griechenland verübt<br />

wurden, war in der Nürnberger Anklage<br />

kein Wort gefallen.<br />

Als im Verfahren gegen Blume im<br />

Jahre 1970 vor der Großen Strafkammer<br />

des Bremer Landgerichts die<br />

Sprache auf dessen Rolle in der Einsatzgruppe<br />

B in Russland kam, führte<br />

der leitende Staatsanwalt aus: „Als<br />

Kommandoführer des Sonderkommandos<br />

7a musste er (Blume) aufgrund des den<br />

Einsatzgruppen und Einsatzkommandos<br />

generell gegebenen Judenvernichtungsbefehls<br />

Judenerschießungen vornehmen.<br />

Auf eigene Verantwortung beschränkte er<br />

hierbei die Erschießungen auf wehrfähige<br />

Männer“. Der Beschuldigte war<br />

mit einem Mal zu einem humanitären<br />

Widerständler geworden!<br />

Blume, der vor dem Abzug der Wehrmacht<br />

aus Griechenland von Himmler<br />

zum Höheren SS- und Polizeiführer,<br />

<strong>als</strong>o zum obersten Polizeichef in<br />

Griechenland befördert worden war,<br />

stellte sich bei Zeugenvernehmungen<br />

wohlgemerkt stets selbst <strong>als</strong> Opfer<br />

und Widerstandskämpfer dar,<br />

der drei griechische Zivilisten, die<br />

der Unterstützung von Partisanen<br />

beschuldigt waren, vor der Erschießung<br />

bewahrt haben wollte. Seine<br />

Exkulpierungsstrategie ging auf. Und<br />

auch die anderen an den Verbrechen<br />

Beteiligten waren allesamt „ordinary<br />

men“, wie das Christopher Browning<br />

formuliert hat: ganz „normale Männer“<br />

mit Familie und gewissen Erinnerungen<br />

an ferne Jugendjahre auf<br />

dem Balkan.<br />

So gut wie alle der vom Staatsanwalt<br />

– nicht etwa <strong>als</strong> Beschuldigte, sondern<br />

nur <strong>als</strong> Zeugen – Vernommenen<br />

wollen nichts von den Deportationen<br />

gewusst haben, konnten sich nicht<br />

erinnern, konnten keine Namen nennen.<br />

Ihr Gedächtnis war so stark mit<br />

Schutzbehauptungen wattiert, dass<br />

es nicht geknackt werden konnte. In<br />

den meisten Fällen war offenes Leugnen<br />

oder Lügen bei den Aussagen<br />

auch tatnächster Zeugen die Regel.<br />

Was in Joánnina selbst die Kinder<br />

auf der Straße über die Methoden<br />

der Feldpolizei wussten, weil sie die<br />

Schreie der Gefolterten auf der<br />

Straße hören konnten, davon war<br />

deutschen Zeugen „nichts bekannt“<br />

geworden.<br />

Immer wieder wurden Schminck-<br />

Gustavus die Geschichte vom „guten<br />

Österreicher“ erzählt und ihm<br />

kam es vor, <strong>als</strong> hätte kein Österreicher<br />

in Griechenland jem<strong>als</strong> Waffen<br />

getragen oder Flammenwerfer bedient.<br />

Das Stereotyp vom „guten<br />

Österreicher“, der sich der Zivilbevölkerung<br />

gegenüber menschlich<br />

verhalten habe, ist in den Berichten<br />

griechischer Zeugen weit verbreitet.<br />

Die Nachkriegsermittlungen der<br />

Abteilung 18 im österreichischen Innenministerium<br />

über Kriegsverbrechen<br />

österreichischer Militärange höriger<br />

auf dem Balkan sprechen allerdings<br />

eine andere Sprache. In den<br />

Akten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen<br />

in Ludwigsburg<br />

sind Zeugenaussagen von ehemaligen<br />

österreichischen Gebirgsjägern<br />

zu finden, die vom Wüten der<br />

Division „Edelweiß“ gegen die griechische<br />

Zivilbevölkerung berichten.<br />

Im August 1970 wurde Blume mit<br />

der Begrünung, ihm habe es an „Tatherrschaft<br />

und der Täterwille gefehlt“,<br />

außer Verfolgung gesetzt und die<br />

Große Strafkammer beim Landgericht<br />

Bremen stellte kurz darauf das<br />

Verfahren auf Kosten der Staatskasse<br />

ein. Das Verfahren gegen ihn und<br />

weitere Beschuldigte an den Verbrechen<br />

in Griechenland war da längst<br />

zur juristischen Farce verkommen.<br />

Für Schminck-Gustavus, der das Verfahren<br />

vor den Augen der Leser noch<br />

einmal aufrollt, enthüllten sich damit<br />

„Abgründe juristischen Denkens“.<br />

Die aus Urteilen der höchsten deutschen<br />

Gerichte entnommenen Argumente<br />

führten in jenen Jahren zur<br />

Straflosigkeit zahlreicher Kriegsverbrecher<br />

und Shoah-Täter.<br />

Im Archiv der Ludwigsburger Zentralen<br />

Stelle der Landesjustizverwaltung<br />

fand Schminck-Gustavus eine<br />

Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft<br />

beim Landgericht München<br />

I aus dem Jahre 1972 in dem<br />

sich folgende hanebüchene Begründung<br />

findet, wonach aus Sicht des<br />

damaligen Völkerrechts das Motiv<br />

einer Exekution, nämlich die Vergeltung<br />

für die widerrechtliche Tötung<br />

von Soldaten der Besatzungsmacht<br />

durch Partisanen, nach allgemein<br />

sittlicher Anschauung „nicht verachtenswert“<br />

und auch nicht „auf tiefster<br />

Stufe“ stehend, bewertet war. Und<br />

das vor allem, weil keine Anhaltspunkte<br />

dafür vorhanden waren, dass<br />

Exekutionen „etwa in heimtückischer<br />

oder grausamer Weise“ durchgeführt<br />

wurden. So lassen sich Hinrichtungen<br />

geradezu <strong>als</strong> humanitäre Akte<br />

definieren. Inwiefern bei Erschießungen<br />

unbeteiligter Zivilisten die „Humanitätsschranke“<br />

eingehalten wurde,<br />

wird ebenso Geheimnis der Münchener<br />

Staatsanwälte bleiben, wie ihre<br />

Behauptung, dass derartige Befehle<br />

„nach allgemeiner sittlicher Anschauung“<br />

nicht „verachtenswert“ seien.<br />

Diese und zahllose andere Einstellungsverfügungen<br />

von Wehrmachtsverbrechen<br />

lassen die verantwortlichen<br />

Staatsanwälte und Richter <strong>als</strong><br />

Komplizen in der Robe erscheinen.<br />

Was der einfache Wachsoldat wusste<br />

– nämlich, dass es für die Deportierten<br />

keine Rückkehr geben würde –<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 13


POLITIK • NS-ZEIT<br />

das haben die Täter stets in Abrede<br />

zu stellen versucht: Nicht nur die<br />

Herren in den sogenannten Judenreferaten<br />

der Gestapo oder im Reichssicherheitshauptamt<br />

– auch die Befehlsgeber<br />

vor Ort behaupteten später<br />

immer wieder, vom eigentlichen<br />

Ziel der „Umsiedlungen“ nichts gewusst<br />

zu haben. Alle jene Amtsleiter,<br />

Kommandeure und Offiziere wollten<br />

sich über das Schicksal der Juden<br />

keine Gedanken gemacht oder geglaubt<br />

haben, diese Menschen würden<br />

zum „Arbeitseinsatz in den Osten“<br />

gebracht. Kein einziger Soldat in<br />

deutscher Uniform ist jem<strong>als</strong> für<br />

seine Mitwirkung an der Deportation<br />

zur Verantwortung gezogen worden:<br />

kein General, kein Offizier, kein<br />

Feldgendarm, geschweige denn ein<br />

einfacher Soldat wie etwa der, der<br />

an der Straßensperre rings um die<br />

Sammelstelle „Halt! Stehen bleiben!“<br />

gerufen hatte. Auch nicht der Fahrer,<br />

der im Schneetreiben seinen Lastwagen<br />

mit den Todgeweihten auf<br />

die Passhöhe der Katárra gesteuert<br />

hatte.<br />

Andererseits wurde auch kein Grieche,<br />

der in Joánnina <strong>als</strong> Hilfspolizist,<br />

Spion oder Dolmetscher bei der Judendeportation<br />

mitgeholfen hatte,<br />

jem<strong>als</strong> zur Verantwortung gezogen.<br />

Auch keiner der in der Stadt über<br />

Nacht reich Gewordenen wurde jem<strong>als</strong><br />

zur Rechenschaft gezogen.<br />

Diejenigen, die hätten klagen können,<br />

waren aus Auschwitz nicht<br />

mehr zurückgekehrt.<br />

Warum sollte es in Griechenland anders<br />

zugegangen sein, wie überall?<br />

In der Restitutionsfrage spielte auch<br />

der griechische Staat eine unrühmliche<br />

Rolle: Zunächst hatte die griechische<br />

Regierung versucht, das gesamte<br />

jüdische Eigentum, für das<br />

keine Erben auftraten, kurzerhand<br />

<strong>als</strong> Staatsvermögen einzuziehen. Erst<br />

nach Klagen wurde ein „Hilfskommitee<br />

zur Wiedereingliederung der Juden<br />

in Griechenland“ geschaffen, auf welches<br />

sämtliche Eigentumsansprüche<br />

auf erbenloses jüdisches Vermögen<br />

übergehen sollte. Aber auch in diesem<br />

Fall hat die griechische Staatsregierung<br />

hemmungslos versucht<br />

sich zu bereichern: Sämtliche übergegangenen<br />

Vermögensrechte sollten<br />

mit einer Vermögenssteuer von<br />

50 Prozent belastet werden, die später<br />

auf 25 Prozent reduziert wurde.<br />

Individuelle Entschädigungen und<br />

moralische Wiedergutmachung ist<br />

den Opfern für all die großdeutschen<br />

Verbrechen nie geleistet worden. Wie<br />

sich die österreichische Republik zu<br />

den Verbrechen seiner Wehrmachtssoldaten<br />

im besetzten Griechenland<br />

stellte, darüber lässt sich der Autor<br />

nicht aus. Hier darf - jenseits aller finanziellen<br />

Wiedergutmachung, die<br />

nicht stattgefunden hat - freilich dahingehend<br />

vermutet werden, dass<br />

sich die Alpenrepublik nicht besonders<br />

eifrig einer juristischen Aufarbeitung<br />

gestellt und die Täter zur<br />

Verantwortung gezogen hat.<br />

Was bleibt, ist ein Gefolgschaftssystem<br />

mit millionenfacher Gehilfenschaft,<br />

ein massenhaftes Mitläufertum<br />

und Wegschauen, bei dem selbst<br />

die Täter nichts anderes getan haben<br />

wollten, <strong>als</strong> die ihnen erteilten Befehle<br />

und Weisungen auszuführen.<br />

Alles vergessen, alles verjährt – wer<br />

sollte sich da noch für einen alten<br />

Juden im Tuchladen von Joánnina<br />

interessieren?<br />

Nach Durchsicht von 4.576 Aktenseiten<br />

war Schminck-Gustavus nur<br />

noch erschöpft - nach 4.576 Seiten<br />

lang aufgestautem Zorn.<br />

Christoph U. Schminck-Gustavus<br />

Winter in Griechenland.<br />

Krieg – Besatzung – Shoah 1940-1944,<br />

Wallstein Verlag Göttingen<br />

Plastik im Museum des Holocaust von Kalavrita<br />

14 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


POLITIK • ISRAEL<br />

Großer Tag für<br />

Israels Demokratie<br />

VON ULRICH W. SAHM, JERUSALEM<br />

Sex und Crime im Präsidentenpalais.<br />

Katzav-Prozess beweist Gleichheit<br />

aller Bürger vor dem Gesetz<br />

„Es ist ein trauriger Tag für den Staat Israel,<br />

an dem ein ehemaliges Staatsoberhaupt<br />

wegen Verbrechen verurteilt wird.<br />

Aber es ist auch ein großer Tag für die Demokratie<br />

Israels, in der niemand über dem<br />

Gesetz steht, nicht einmal der Staatspräsident.<br />

Es zeigt, dass die Polizei und das<br />

Gerichtswesen Recht und Ordnung durchsetzen<br />

können“, erklärte Dorit Beinisch,<br />

die Vorsitzende des Obersten Gerichts,<br />

nach dem Urteilsspruch gegen Ex-Präsident<br />

Moshe Katzav im Dezember.<br />

Katzavs Nachfolger, Staatspräsident<br />

Shimon Peres, erklärte seinerseit: „Der<br />

Prozess beweist, dass alle Bürger Israels<br />

von dem Gesetz gleich sind.“<br />

Wilde Szenen hatten sich auf der Ministeretage<br />

im Jerusalemer Tourismusministerium<br />

und dann sogar im Präsi -<br />

dentenpalais abgespielt. „Erst versuchte<br />

er sie zu umarmen. Sie wehrte sich und<br />

stürzte im Gerangel auf den Boden.“ So<br />

beschrieb Richter George Kara im Saal<br />

606 des Gerichts in Tel Aviv, was da<br />

der vorm<strong>als</strong> Erste Bürger des Staates<br />

Israel getan hat. Seit 30. Dezember entfällt<br />

das Wort „mutmaßlich“. Denn<br />

nach drei Jahren Gerichtsverhandlungen<br />

hinter verschlossenen Türen wurde<br />

das Urteil verkündet. „Schuldig in allen<br />

Punkten der Anklage“, lautet der Beschluss<br />

der drei Richter.<br />

In zwei Fällen wurde der im Iran geborene<br />

Katzav wegen Vergewaltigung<br />

überführt und wegen „unanständigen<br />

Akten mit Gewaltanwendung“. Die Richter<br />

hatten den Untergebenen im Tourismusministerium<br />

A., H. und J. vollen<br />

Glauben geschenkt. Ein Alibi des früheren<br />

Präsidenten stellte sich <strong>als</strong> „f<strong>als</strong>ch“<br />

heraus. Einen vermeintlichen Liebesbrief<br />

von einer der Klägerinnen soll ihr<br />

Katzav in die Feder diktiert haben. Die<br />

Anwälte des Präsidenten sollen das Verfahren<br />

„heimtückisch“ geführt haben.<br />

Noch steht nicht fest, ob Katzav ins Gefängnis<br />

muss, wo er sich zu einem<br />

ehemaligen Finanzminister und einem<br />

Ex-Minister der frommen Shas-Partei<br />

gesellen könnte, die wegen Korruption<br />

hinter Gittern sitzen. Das Strafmaß<br />

muss erst noch festgesetzt werden.<br />

Bis dahin muss Katzav jedoch seinen<br />

Pass abgeben und darf das Land nicht<br />

verlassen.<br />

In den Medien wird Katzav <strong>als</strong> „serieller,<br />

brutaler und gewalttätiger Sexualverbrecher“<br />

dargestellt, der sich regelmäßig<br />

an seinen weiblichen Untergebenen<br />

vergriffen habe. Einige Klagen aus früheren<br />

Zeiten wurden wegen Verjährung<br />

nicht mehr zugelassen. Doch auch<br />

die jüngsten Attacken von Katzav auf<br />

die Frauen, während der Mittagspause<br />

im Präsidentenpalais, im Hotel oder in<br />

Privatwohnungen, gelten jetzt <strong>als</strong><br />

„nachgewiesen“.<br />

Katzav hatte den Prozess aus Dummheit<br />

selber in Gang gesetzt und musste<br />

deshalb vorzeitig den Posten des Staatspräsidenten<br />

räumen. Es begann mit<br />

einer Beschwerde des Präsidenten bei<br />

der Polizei wegen einem angeblichen<br />

Erpressungsversuch durch eine der Klägerinnen.<br />

Das war im Juli 2006. Einen<br />

Monat später jedoch wurde Katzav<br />

von der Polizei wegen mutmaßlicher<br />

Sexualvergehen verhört, darunter gewaltsamer<br />

Vergewaltigung an Untergebenen.<br />

Zunächst versuchte Katzav,<br />

sich zu rechtfertigen und griff die Medien<br />

wegen einer Vorverurteilung an.<br />

Er führte sogar rassistische Argumente<br />

an. Weil Orientale, sei er zum Opfer<br />

einer „Hexenjagd“ geworden. Im Juni<br />

2007 beging Katzav seinen wohl<br />

schwersten Fehler im Rahmen des Prozesses<br />

gegen ihn. Er verweigerte die<br />

Unterschrift unter eine außergerichtliche<br />

Übereinkunft, wie sie im britischen<br />

Recht üblich ist. Darin sollte er einer<br />

Gefängnisstrafe auf Bewährung und<br />

einer Geldstrafe zustimmen. Doch<br />

Katzav beschloss, vor Gericht weiter<br />

um seine „Unschuld“ zu kämpfen. Mit<br />

dem im Dezember verlesenen Urteil<br />

ist er auf der ganzen Linie gescheitert.<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 15


POLITIK • ISRAEL<br />

Israel tritt „UN Frauen“ bei<br />

Netanjahu: Situation der Frauen muss<br />

weltweit verbessert werden – Israel initiiert<br />

Projekte zur Gleichberechtigung im<br />

In- und Ausland<br />

Israel ist im <strong>Januar</strong> der Organisation<br />

„UN Frauen“ beigetreten. „UN Frauen“<br />

ist das Organ der Vereinten Nationen,<br />

das sich mit Gleichstellung der Geschlechter<br />

und Förderung von Frauen<br />

befasst.<br />

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu<br />

sagte, Israels Engagement in<br />

diesem UN Organ sei essentiell für die<br />

weltweite Verbesserung der Situation<br />

von Frauen. „Seit seiner Staatsgründung<br />

ist Israel dafür bekannt, Pionierleistungen<br />

zur Emanzipation von Frauen erbracht zu<br />

haben“, erklärte Netanjahu in einer<br />

Pressemitteilung. „Israels Mitarbeit in<br />

dieser bedeutungsvollen internationalen<br />

Organisation ist notwendig, da das Thema<br />

Geschlechtergleichheit einer unserer wichtigsten<br />

Grundsätze ist. Israels Beitrag zu<br />

UN Frauen kann bedeutsam für viele Länder<br />

dieser Welt sein“, fügte Netanjahu<br />

hinzu.<br />

Israels Beitritt zu UN Frauen wurde<br />

Kommentar - Die Verurteilung von Katzav<br />

von Ulrich W. Sahm,<br />

von Gila Gamliel, der stellvertretenden<br />

Ministerin für die Förderung von<br />

Frauen, Jugendlichen und Studenten,<br />

initiiert. „Israel gehört zu den Spitzenländern<br />

in der Frauenförderung. Deshalb<br />

ist es angebracht, diesen Aspekt hervorzuheben,<br />

um seinen internationalen Ruf zu<br />

verbessern“, sagte Gamliel.<br />

Ein Vertreter des Ministerpräsidentenbüros<br />

wird im Lenkungsausschuss sitzen,<br />

um die nationalen Richtlinien in<br />

der Organisation zu vertreten.<br />

Israel hat nicht nur intern Pionierleistungen<br />

auf diesem Gebiet erbracht,<br />

sondern auch international die Situation<br />

von Frauen verbessert. In den letzten<br />

zehn Jahren hat das israelische<br />

MASHAV Programm Tausenden von<br />

Frauen weltweit eine Grundausbildung<br />

ermöglicht. MASHAV wird vom<br />

Außenministerium geleitet und unterstützt<br />

Frauen bei der Gründung kleinerer<br />

Unternehmen, sowie Frauen in<br />

Führungspositionen, darunter auch Paläs<br />

tinenserinnen.<br />

UN Frauen wurde von den Vereinten<br />

Nationen im Juli 2010 gegründet, um<br />

Korruption und Sexualverbrechen von Spitzenpolitikern gibt es in vielen Ländern.<br />

„I did not have sexual relations with this woman.“ So beteuerte Präsident Bill Clinton<br />

seine Unschuld. Über den italienischen Premier Berlusconi kursieren die tollsten<br />

Gerüchte. Wie ein roter Faden ziehen sich Liebesgeschichten durch die Geschichtsbücher.<br />

Auch in der Bibel mangelt es nicht an fragwürdigen bis hin zu verbrecherischen<br />

Techtelmechteln.<br />

Gleichwohl kann man lange suchen, ehe man weitere Fälle findet, in denen ein Staatsoberhaupt<br />

wegen Vergewaltigung und Sexualverbrechen erst aus seinem Amt getrieben<br />

und dann auch noch von einem Gericht rechtskräftig verurteilt wird. Nicht<br />

die Schwäche des Fleisches ist im Falle von Mosche Katzav das Besondere, sondern<br />

der Mut und die Fähigkeit der israelischen Anwaltschaft, sogar das Staatsoberhaupt<br />

vor Gericht zu zerren.<br />

In der arabischen Welt hat das Urteil gegen Katzav ganz besonderes Erstaunen ausgelöst.<br />

Die übliche Darstellung Israels <strong>als</strong> ein rassistischer Staat, in dem Menschenrechte<br />

mit den Füßen getreten werden, müssen die arabischen Medien wohl gründ -<br />

lich revidieren. Für die arabischen Berichterstatter ist ein von israelischen Rechtsexperten<br />

und den Medien überhaupt nicht beachteter Nebenaspekt kaum nachvollziehbar:<br />

Jener Richter, der das Urteil über das ehemalige Staatsoberhaupt des<br />

jüdischen Staates ausgesprochen hat, heißt George Kara. Er ist ein christlicher Araber<br />

aus Jaffo, 1952 geboren und seit dem Jahr 2000 Bezirksrichter. „Kara ist ein sehr<br />

harter Richter, der sich im Gegensatz zu vielen anderen überhaupt nicht von den Zeitungen<br />

beeinflussen lässt. Kara gilt <strong>als</strong> völlig unbestechlich“, sagte ein Rechtsexperte<br />

der Universität Haifa, Oren Gazal-Ayal.<br />

die Ziele der UN in diesem Bereich effektiver<br />

umsetzen zu können. Um diesem<br />

Organ mehr Gewicht zu verleihen,<br />

wurden vier vorherige UN Organisationen<br />

zur Verbesserung der Lage<br />

von Frauen zusammengelegt.<br />

Die UN hat in diesem Bereich bereits<br />

Fortschritte zu verzeichnen, unter anderem<br />

wegweisende Abkommen wie<br />

die ‘Beijing Erklärung’ und das ‘Übereinkommen<br />

zur Beseitigung jeder<br />

Form von Diskriminierung der Frau’<br />

(CEDAW). Geschlechtergleichheit ist<br />

von hoher sozialer und ökonomischer<br />

Bedeutung. Die Rechte von Frauen in<br />

den Bereichen Bildung, Gesundheitsvorsorge<br />

und Gleichheit am Arbeitsplatz<br />

sind grundlegende Menschenrechte.<br />

EXPERTEN FÜR GLEICHBEHANDLUNG:<br />

Yahel Ash Kurlander Spokeswoman, Isha L’Isha<br />

(Literal translation: woman to woman; the<br />

most veteran, grassroots feminist organization<br />

in Israel & the country’s leading voice for<br />

women’s rights.) Tel: 972-(0)4-865-0977<br />

E-mail: yahelmedia@gmail.com<br />

Ilany Ayelet Spokeswoman, Economic Empowerment<br />

for Women (Reduces poverty &<br />

bridges social & economic disparities among<br />

women in Israel) Tel: 972-(0)4-852-0027<br />

E-mail: eew@womensown.org.il<br />

Rula Deeb Spokeswoman, KAYAN (Advances<br />

the status of Arab-Israeli women by catalyzing<br />

independent thought & action, changing the<br />

way women are viewed & treated in Arab & Jewish<br />

society in Israel) Tel: 972-(0)4-864-1291 or 972-<br />

(0)4-866-1890 E-mail: kayan@netvision.net.il<br />

Nahum Eido Spokesman, Israel Ministry of<br />

Social Affairs Tel: 972-(0)2-675-7424<br />

E-mail: nachumi@molsa.gov.il<br />

Rula Elatuna Director, Association of Bedouin<br />

Women to Promote Education<br />

E-mail: info@Bedouinwomen.org.il<br />

Sister for Women in Israel Organization - Improves<br />

& advances the status of working women<br />

at the bottom of the socioeconomic<br />

ladder Tel: 972-(0)3-687-0545<br />

E-mail: achoti@zahav.net.il<br />

Women Lawyers for Social Justice Organization<br />

- Fights the widening gaps in Israeli society,<br />

particularly what they refer to as the<br />

“growing violation of women’s rights” Tel:<br />

972-(0)3-516-3936 E-mail: mail@itach.org.il<br />

Helena Glazer President, Women’s International<br />

Zionist’s Organization (WIZO) Tel: 972-(0)3-<br />

692-3716 E-mail: helena@wizo.org<br />

Miriam Schler Director, Tel Aviv Sexual Assault<br />

Crisis Center Tel: 972-(0)3-516-7664 ext. 201<br />

E-mail: center_director@012.net.il<br />

16 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


POLITIK • ISRAEL<br />

Gastkommentar (Wiener Zeitung, 19.1.<strong>2011</strong>)<br />

Kreisky würde sich im Grab<br />

umdrehen<br />

VON AVIV SHIR-ON<br />

Der hasserfüllte Gastkommentar von<br />

Fritz Edlinger vom 18. <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong><br />

spricht Bände. Ein sogenannter Kenner<br />

des Nahen Ostens beschuldigt Israel,<br />

die einzige wahre Demokratie in<br />

der Region, „faschistoider und rassistischer<br />

Entwicklungen“, weil europäische<br />

Rechtsradikale das Land besucht ha -<br />

ben, um sich selbst zu profilieren.<br />

Heinz-Christian Strache und seine Delegation<br />

wurden von keiner israelischen<br />

offiziellen Stelle eingeladen,<br />

sitzen aber hier in Österreich im Parlament,<br />

erzielen Erfolge bei den Wahlen<br />

und kandidieren für das höchste<br />

Amt dieses Landes – aber wenn sie <strong>als</strong><br />

Touristen nach Israel kommen, dann<br />

soll dies ein „Beweis“ für die oben erwähnten<br />

Entwicklungen in Israel sein?<br />

Unsinn!<br />

Edlinger soll besser in den eigenen<br />

Spiegel schauen. Bruno Kreisky würde<br />

sich im Grab umdrehen angesichts<br />

der hetzerischen Art von Propaganda,<br />

die hier von seinem ehemaligen<br />

Schützling geführt wird. Edlinger widerspricht<br />

sich selbst, wenn er meint,<br />

dass kritische Wissenschafter an israelischen<br />

Universitäten nicht tätig sein<br />

können, stützt sich aber gleichzeitig<br />

mit seiner Kritik auf einen Historiker<br />

der Universität Tel Aviv, dessen umstrittene<br />

Thesen in Israel verfasst und<br />

publiziert wurden, wie es sich in einer<br />

pluralistischen Gesellschaft gehört.<br />

Kreisky meinte seinerzeit, man sollte<br />

mit Jassir Arafat reden. Nachdem die<br />

PLO ihre radikale Haltung geändert<br />

hat, haben wir das auch getan, waren<br />

am Ende aber von Arafat enttäuscht,<br />

weil auf ihn kein Verlass war. Auch<br />

Kreisky hat den Kontakt zu Arafat<br />

völlig abgebrochen, nachdem er festgestellt<br />

hatte, mit wem er es zu tun hatte.<br />

Wo ein Dialog möglich war, haben wir<br />

ihn auch geführt und konnten damit<br />

Friedensverträge mit zwei der wichtigsten<br />

arabischen Staaten, Ägypten<br />

und Jordanien, erreichen.<br />

Hamas und Hisbollah stehen aber für<br />

das, was den Konflikt vor Jahrzehnten<br />

verursacht hat, nämlich die totale Ablehnung<br />

einer jüdischen Unabhängigkeit<br />

im Heiligen Land. Sie werden von<br />

den radik<strong>als</strong>ten Regimes im Nahen<br />

Osten unterstützt, um die Feindschaft<br />

zu schüren und den Kampf gegen Israel<br />

fortzusetzen. Welche verheerenden<br />

Folgen dies für die Völker der<br />

Region hat, können wir an den jüngsten<br />

Entwicklungen im Irak, Libanon<br />

und Gewaltsamkeiten in anderen Ländern<br />

sehen.<br />

In Tunesien sind die Menschen jetzt<br />

aufgewacht, und hoffentlich werden<br />

dort bald wieder Ruhe und Ordnung<br />

einkehren. Eines ist klar: Wenn Hamas,<br />

Hisbollah und dergleichen heute ihre<br />

Waffen niederlegen, gibt es morgen<br />

Frieden. Wenn Israel heute seine Waffen<br />

niederlegt, gibt es morgen kein Israel.<br />

Ich bin der Meinung, dass Edlinger<br />

mit seinem Kommentar nicht nur<br />

völlig f<strong>als</strong>ch liegt, sondern dass er damit<br />

auch der SPÖ und Bruno Kreiskys<br />

Erbe einen Bärendienst erwiesen hat.<br />

Aviv Shir-On ist israelischer Botschafter<br />

in Österreich.<br />

S.E. AVIV SHIR-ON und Dr. Ariel Muzicant<br />

Botschafter des Staates Israel<br />

Präsident der IKG<br />

diskutieren zum Thema<br />

Hat der Frieden im Nahen<br />

Osten noch eine Chance?<br />

Mittwoch, 23. Februar <strong>2011</strong> - 19.00 Uhr<br />

Gemeindezentrum der IKG<br />

Seitenstettengasse 2, 1010 Wien<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 17


POLITIK • ISRAEL<br />

Maßnahmen & Ansichten<br />

Das Gesetz gegen regierungskritische Organisationen<br />

Das israelische Parlament hat in erster Lesung auf Initiative rechtsgerichteter Abgeordneter ein gegen regierungskritische<br />

Organisationen gerichtetes Gesetz beschlossen, das „unpatriotische Aktivitäten“ unterbinden soll. Die Gesetzesinitiative<br />

geht von Mandataren der ultranationalistischen Partei „Unser Haus Israel“ von Außenminister Avigdor Lieberman und<br />

des Likud von Premier Benjamin Netanyahu aus. Ihre Absicht ist es, Maßnahmen gegen Organisationen zu ergreifen, die<br />

angeblich Israel im Ausland anschwärzten und israelische Jugendliche zur Verweigerung des obligatorischen Wehrdienstes<br />

aufforderten. Die Abgeordneten behaupten, dass solche „unpatriotischen Aktivitäten“ von ausländischen Regierungen,<br />

gemeint seien arabische Staaten, und sogar von Terrororganisationen finanziell gefördert würden. Die<br />

Befürworter des Textes wiesen darauf hin, dass es Vertreter solcher Organi- sationen gewesen seien, die dem südafrikanischen<br />

Richter Richard Goldstone, der die Kommission des UNO-Menschenrechtsrates zur Untersuchung des Gazakrieges<br />

leitete, Belastungsmaterial gegen Israels Armee geliefert hätten.<br />

Die Gegner des Gesetzes fühlen sich hingegen an dunkle Zeiten in den USA erinnert, <strong>als</strong> Senator Joseph McCarthy in<br />

den fünfziger Jahren mit berüchtigten Untersuchungskommissionen Jagd auf vermeintliche Kommunisten machte.<br />

Führende israelische Intellektuelle haben scharf gegen eine Entscheidung des Parlaments protestiert, künftig härter gegen<br />

Armeekritiker vorzugehen. Mehr <strong>als</strong> 30 Professoren und Schriftsteller hätten einen Protestbrief an alle Abgeordneten<br />

unterzeichnet, berichteten israelische Medien. Darunter seien der Dramatiker Joshua Sobol, der Schriftsteller Joram Kaniuk<br />

und der Bildhauer Dani Karavan.<br />

Von den Prüfungen betroffen sind etwa die Menschenrechtsorganisation B’Tselem und die Organisation Breaking the<br />

Silence (Das Schweigen brechen). Die Gruppe sammelt Zeugenaussagen israelischer Soldaten über ihren Dienst in den<br />

besetzten Palästinensergebieten. Auch Machsom Watch - eine Gruppe israelischer Frauen, die israelische Kontrollpunkte<br />

beobachtet - soll untersucht werden.<br />

Ein Ausbund an Lügen.<br />

Wie NGOs und Medien<br />

missbraucht werden, um<br />

Israel zu diskreditieren.<br />

QUELLE: CAROLINE B. GLICK, JERUSALEM POST<br />

Übersetzung: Karin Fasching-Kuales<br />

Es ist an der Zeit festzustellen, wie „israelisch“<br />

jene Organisationen, die einen wichtigen<br />

Teil der internationalen antiisraelischen<br />

Kampagne formen, tatsächlich<br />

sind. Am Beispiel von mehreren Ereignissen,<br />

die sich erst kürzlich zutrugen, wollen<br />

wir zeigen, dass ein Großteil dessen,<br />

was in den Medien verbreitet wird, nichts<br />

anderes ist <strong>als</strong> ein Ausbund an Lügen.<br />

Die Schafherde und<br />

das f<strong>als</strong>che Video<br />

Am 19. Dezember 2010 veröffentlichte<br />

die selbst ernannte „israelische Menschenrechtsorganisation“<br />

B Tselem in<br />

nationalen und internationalen Medien<br />

einen schockierenden Bericht: Am Tag<br />

zuvor, einem Samstag, sei der palästinensische<br />

Schafhirte Samir Bani Fadel,<br />

der nichts anderes tat, <strong>als</strong> friedlich<br />

seine Herde zu bewachen, von einer<br />

Gruppe aggressiver israelischer Siedler<br />

in einem Wagen angegriffen worden.<br />

Sie hätten ihn zuerst verjagt und<br />

danach sowohl die Weide <strong>als</strong> auch 12<br />

trächtige Schafe bei lebendigem Leib<br />

verbrannt.<br />

Die Medien übernahmen den Bericht<br />

ohne jegliche Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit<br />

– doch der Polizei kam er<br />

nicht ganz koscher vor. Denn weder<br />

würden gläubige Juden an einem<br />

Samstag Autos lenken noch Feuer anzünden.<br />

Und tatsächlich gab Fadel nach eingehender<br />

Befragung durch die Ermittler<br />

zu, dass er den Angriff nur erfunden<br />

hatte. In Wahrheit hätte er selbst seine<br />

Herde in Brand gesteckt, <strong>als</strong> er einen<br />

Haufen Zweige entzünden wollte. Um<br />

seinen Fehler zu vertuschen, entschloss<br />

er sich dazu, den Juden die<br />

Schuld in die Schuhe zu schieben und<br />

so selbst <strong>als</strong> Held gefeiert zu werden.<br />

B Tselem stürzte sich mit Freuden auf<br />

die Lügengeschichte und verbreitete<br />

sie rasch.<br />

Am 3. <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> zeigte Israels Channel<br />

2 ein von B Tselem produziertes<br />

Video, das angeblich die jüdischen<br />

Siedler von Yitzhar in Samaria dabei<br />

zeigte, wie sie ohne irgendeinen Grund<br />

Steine auf die Bewohner des palästinensischen<br />

Nachbardorfs Bureen warfen.<br />

Channel 2 stellte die Siedler <strong>als</strong><br />

hasserfüllte, gewalttägige Fanatiker<br />

dar.<br />

Doch zum Leidweisen von B Tselem<br />

und Channel 2 haben auch die Bewohner<br />

von Yitzhar Videokameras – und<br />

interessanterweise zeigte deren Video<br />

etwas ganz anderes, <strong>als</strong> jenes von B Tselem:<br />

Eine Gruppe von Palästinensern<br />

und Israelis oder Ausländern (das war<br />

nicht auszumachen), hatten am Nachmittag<br />

die Bürger von Yitzhar mit Ziegeln<br />

und Steinen attackiert. Auch der<br />

blonde Kameramann des B Tselem-Videos<br />

war unter den Angreifern und<br />

filmte die Siedler lediglich dabei, wie<br />

sie sich schließlich selbst mit Steinen<br />

gegen den hinterhältigen Angriff verteidigten.<br />

Die Geschichte vom Tränengas oder<br />

Warum starb Jawaher Abu Rahma<br />

Jeden Freitag versammeln sich antizionistische<br />

Aktivisten Mitglieder der<br />

Palästinenserbehörde und antiisraelische<br />

Gruppierungen aus dem Ausland,<br />

um gemeinsam jene israelischen<br />

Soldaten anzugreifen, welche die Bauarbeiten<br />

am Sicherheitszaun bei Bil in<br />

18 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


POLITIK • ISRAEL<br />

bewachen. An diesem speziellen Freitag,<br />

berichtete die PA am darauffolgenden<br />

Samstag, sei die Palästinen serin<br />

Jawaher Abu Rahma durch die Inhalation<br />

israelischen Tränengases getötet<br />

worden. Dies sei ein israelisches Kriegsverbrechen.<br />

B Tselem sprang natürlich<br />

sofort auf diesen Zug auf und zahlreiche<br />

weitere Organisationen folgten ihm.<br />

Doch es gab Augenzeugen. Und diese<br />

berichteten etwas ganz anderes. In<br />

Wahrheit hatte Jawaher Abu Rahma<br />

gar nicht an dieser Demonstration gegen<br />

den Sicherheitszaun teilgenommen!<br />

Ihr 19-jähriger Cousin Ilham Abu<br />

Rahma bestätigte dem britischen „Independent“,<br />

dass Jawaher vielmehr die<br />

ganze Zeit zu Hause gewesen sei. Untersuchungen<br />

der Israelischen Streitkräfte<br />

ergaben, dass ihr Tod nicht auf<br />

die Einwirkung von Tränengas zurückzuführen<br />

sei, sondern an einem ungewöhnlichen<br />

Medikamentencocktail,<br />

der ihr kurz zuvor in einem palästinensischen<br />

Krankenhaus verabreicht worden<br />

war. Allerdings wurde den Israelis<br />

eine Autopsie Jawahers verweigert<br />

und die Frau in Rekordzeit beerdigt.<br />

Die „Mauer“<br />

Israels Sicherheitszaun, der Israels<br />

Städte vor palästinensischen Selbstmordattentätern<br />

schützen soll, und an<br />

den meisten Stellen lediglich aus Stacheldraht<br />

besteht, war B Tselem schon<br />

immer ein Dorn im Auge. Sie waren<br />

die ersten, die eine Kampagne gegen<br />

das Projekt in Gang setzten und den<br />

Begriff „Die Mauer“ prägten. Ihre umfangreichen<br />

Analysen zum Zaun aus<br />

den Jahren 2002 und 2003 wurden,<br />

laut NGO Monitor, weitgehend <strong>als</strong> Informationsquelle<br />

von anderen NGOs,<br />

der UNO, der EU und den Medien<br />

übernommen. Israel wurde daraufhin<br />

das Recht auf die Errichtung dieser Sicherheitsbarriere<br />

abgesprochen – sogar<br />

in einer Publikation des Internationalen<br />

Gerichtshofs aus dem Jahr 2004.<br />

Und wieder lieferte B Tselem die „Beweise“.<br />

Ansonsten wäre die Welt der<br />

Errichtung des israelischen Sicherheitszauns<br />

vielleicht mit derselben<br />

Gleichgültigkeit gegenübergestanden,<br />

wie ähnlichen Barrieren in Indien,<br />

Spanien und zahlreichen anderen Staaten.<br />

Und man hätte ihn <strong>als</strong> jenen Akt<br />

der Selbstverteidigung akzeptiert, den<br />

er in Wahrheit auch darstellt.<br />

Der Goldstone-Report<br />

Die zentrale Rolle, die B’Tselem und<br />

deren antizionistischen Kumpane in<br />

der Diffamierungskampagne gegen Israel<br />

spielen, wurde zum ersten Mal in<br />

Verbindung mit dem Goldstone-Report<br />

des UN-Menschenrechtsrats zu<br />

den Vorgängen im Gaza-Krieg von 2009<br />

deutlich sichtbar. B Tselem und 15 andere,<br />

staatlich finanzierte, israelische<br />

NGOs hatten dam<strong>als</strong> eine Lobby zur<br />

Einsetzung der Goldstone-Kommission<br />

gebildet – in der offensichtlichen<br />

Absicht, Israel zu kriminalisieren und<br />

die Kriegsverbrechen der Hamas ge -<br />

gen den jüdischen Staat zu verharmlosen.<br />

92% aller in dem Report erwähn -<br />

ten Anschuldigungen gegen Israel<br />

stammen aus Quellen ebendieser<br />

Gruppierungen. Die meisten davon<br />

erklärte die IDF <strong>als</strong> nicht wahrheitsgemäß,<br />

doch Goldstone verwendete sie<br />

dennoch <strong>als</strong> „Beweise“ für Israels<br />

Kriegsverbrechen.<br />

Inzwischen sind sie ebenso widerlegt,<br />

wie die Geschichten von der Schafherde,<br />

vom Tod Jawaher Abu Rahmas<br />

und von der „Mauer“. So sollen laut<br />

B’Tselem während der „Operation Gegossenes<br />

Blei“ zum Beispiel 1.387 Einwohner<br />

von Gaza durch die IDF<br />

getötet worden sein und nur 330 von<br />

ihnen seien bewaffnete Kämpfer gewesen.<br />

Laut IDF waren von den 1.166<br />

getöteten Palästinensern insgesamt<br />

709 militante Kämpfer. Der Goldstone-<br />

Report ignorierte die israelischen Zahlen<br />

allerdings vollkommen. Erst im<br />

vergangenen November gab der „Innenminister“<br />

der Hamas, Fathi Hamad,<br />

der Zeitung Al-Hayat gegenüber zu,<br />

dass die israelischen Angaben weitaus<br />

genauer seien, <strong>als</strong> jene B Tselems. Laut<br />

Hamad seien nämlich 600-700 Hamas-<br />

Kämpfer während des Gaza Kriegs<br />

2009 gestorben.<br />

Das Gesetz gegen die regierungskritischen<br />

Organisationen<br />

Einer der Gründe, weshalb solche<br />

Lügen von den Medien und der internationalen<br />

Gemeinschaft kaum angezweifelt<br />

werden ist die Tatsache, dass<br />

die Gruppierungen, die sie verbreiten,<br />

<strong>als</strong> „israelisch“ definiert werden.<br />

Also weshalb sollten die Israelis Lü gen<br />

über ihre eigene Armee verbreiten?<br />

Eine Anfang <strong>Januar</strong> von der Knesset<br />

bewilligte Untersuchungskommission<br />

soll nun feststellen, von wem diese Organisationen<br />

finanziert werden – und<br />

klären, wie „israelisch“ sie tatsächlich<br />

sind. Wieviel Geld kommt von ausländischen<br />

Regierungen? Und wie können<br />

aus dem Ausland finanzierte Gruppierungen<br />

sich dann „israelisch“ nennen?<br />

B’Tselem zum Beispiel erhält finanzielle<br />

Unterstützung aus Großbritannien, der<br />

Schweiz und Irland, von Christian Aid,<br />

der Ford Foundation, Dan Church Aid<br />

(von der dänischen Regierung finanziert),<br />

Diakonia (finanziert durch<br />

Schweden, Norwegen und die EU), Trócaire<br />

(Irland und Großbritannien) u.v.a.<br />

Yesh Din erhält Geld aus Irland, den Niederlanden,<br />

Großbritannien, Deutschland,<br />

Norwegen, der EU und dem Open<br />

Society Institut von George Soros.<br />

Physicians for Human Rights Israel, Breaking<br />

the Silence, Bimkom, Peace Now, Gush<br />

Shalom, Adalah, die Genfer Initiative, das<br />

Komitee für Frieden und Sicherheit etc.<br />

etc. erhalten ebenfalls alle umfangreiche<br />

Unterstützung aus dem Ausland.<br />

In den letzten zehn Jahren dürften<br />

hunderte Millionen von US-Dollars,<br />

Euros und Shekeln an all diese Organisationen<br />

geflossen sein (Quelle: Samaria<br />

Regional Council).<br />

Tatsache ist, dass die Behauptung dieser<br />

Gruppierungen, sie hätten „israelische<br />

Wurzeln“, ebenso wenig der Wahrheit<br />

entspricht, wie ihre Anschuldigungen<br />

gegen Israel. Vielmehr dienen sie <strong>als</strong><br />

Werkzeuge ausländischer Regierungen<br />

und zur Verbreitung von deren antiisraelischer<br />

Politik. Die Forderung der<br />

Knesset, sie zu überprüfen, entfachte<br />

sofort einen Proteststurm der Gruppierungen<br />

selbst und der mit ihnen<br />

sympathisierenden Linken im israelischen<br />

Parlament. Schlagworte wie „Mc-<br />

Carthy-Methoden“ und „antidemokratisch“<br />

waren zu vernehmen. Doch<br />

lehnen sie sich nicht gar zu sehr dagegen<br />

auf?<br />

Niemand hat je von deren Auflösung<br />

gesprochen. Dafür hat die israelische<br />

Öffentlichkeit ein Recht darauf, zu erfahren,<br />

wer diese Organisationen tatsächlich<br />

sind. Und unsere Regierung<br />

ist dazu verpflichtet, subversive Agenten<br />

aus dem Ausland zu stellen und<br />

deren Tätigkeit zu enthüllen. Wenn<br />

die internationale Reputation und der<br />

nationale Diskurs Israels von ausländischen<br />

Regierungen unterminiert<br />

werden, die sich hinter ihrem israelischen<br />

Fußvolk verstecken, dann wird<br />

der israelischen Staat und seine Demokratie<br />

damit nicht gestärkt. Nein - Israel<br />

wird auf diese Weise nachhaltig geschwächt.<br />

•<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 19


Analyse: Harsche Kritik<br />

an Gesetzesvorschlag<br />

zur Untersuchung israelischer<br />

Menschenrechtsorganisationen<br />

LESLIE SUSSER, JTA<br />

Übersetzung: Karin Fasching-Kuales<br />

Der Ruf der Knesset nach einer eingehenden<br />

Überprüfung israelischer Menschenrechtsorganisationen<br />

hat eine hitzige Debatte<br />

darüber ausgelöst, wer Israels Ansehen<br />

nun den größeren Schaden zufüge:<br />

die regierungs- und armeekritischen<br />

Menschenrechtsgruppierungen des Landes<br />

oder jene Politiker, die diesen Organisationen<br />

vorwerfen, zu weit zu gehen<br />

und nun eine großangelegte Untersuchung<br />

über deren Hintergründe anberaumen<br />

wollen.<br />

In einer Knesset-Abstimmung Anfang<br />

<strong>Januar</strong> stimmten die Abgeordneten<br />

mit 47 zu 16 Stimmen für eine Weiterverfolgung<br />

dieses Gesetzesvorschlags.<br />

Ein Parlamentsausschuss solle Finanzierung<br />

und Aktivitäten einer langen<br />

Liste von linksgerichteten Menschenrechtsgruppen<br />

überprüfen.<br />

Faina Kirshenbaum von Avigdor Liebermans<br />

Partei Yisrael Beiteinu, aus deren<br />

Feder der Gesetzesentwurf stammt,<br />

wirft den betroffenen Gruppierungen<br />

vor, unter dem schützenden Mantel<br />

der Menschenrechte lediglich einen<br />

Vorwand zu suchen, um die Präsenz<br />

von Israels Streitkräften im Westjordanland<br />

zu diskreditieren und die Soldaten<br />

zu kriminalisieren. Auf diese<br />

Weise wolle man die IDF schwächen<br />

und Israel delegitimieren. „Diese Gruppen<br />

haben der Goldstone-Kommission Material<br />

geliefert und stecken hinter den Vorwürfen<br />

gegen israelischen Offiziere und<br />

Beamte auf der ganzen Welt“, erklärte<br />

Kirshenbaum während einer Debatte<br />

in der Knesset. Der von der UNO initiierte<br />

Goldstone-Report über den<br />

Gaza-Krieg 2009 hatte Israel u. a. der<br />

Kriegsverbrechen beschuldigt.<br />

Die deutliche Mehrheit für die nun<br />

vom israelischen Parlament vorgeschlagene<br />

Untersuchung spiegelt eine<br />

in Israel weit verbreitete Besorgnis<br />

über die Aktivitäten jener sogenannten<br />

Menschenrechtsorganisationen wider.<br />

Einige davon erhalten sogar staatliche<br />

POLITIK • ISRAEL<br />

Förderungen.<br />

Die Kritik am Vorgehen der Knesset<br />

richtet sich aber wiederum gegen die<br />

gewählte Vorgangsweise – einem Parlamentsausschuss,<br />

in dem Politiker ihre<br />

politischen Gegner befragen müssten.<br />

Dies sei „undemokratisch“. Als Antwort<br />

darauf hielt Lieberman seine<br />

nächste Fraktionssitzung in Anwesenheit<br />

von Fernsehkameras ab, um zu<br />

demonstrieren, dass er seinen Vorschlag<br />

keineswegs zurückziehen würde. Jene<br />

die Israel delegitimieren wollten, setzten<br />

auf die subversive Vorgangsweise<br />

der israelischen Tageszeitung Haaretz,<br />

so Lieberman. Außerdem auf Yesh Din,<br />

das die Einhaltung der Gesetze im Westjordanland<br />

überwacht, sowie auf Yesh<br />

Gvul, eine Organisation, die Israelische<br />

Soldaten verteidigt, welche den Einsatz<br />

im Westjordanland verweigern.<br />

Alle diese Gruppierungen würden mit<br />

dem Terror kollaborieren, ist Lieberman<br />

überzeugt.<br />

Seine Kritiker – sowohl links- <strong>als</strong> auch<br />

rechtsgerichtet - beschuldigen Lieberman<br />

wiederum des McCarthyismus.<br />

Für sie ist die Einsetzung eines parlamentarischen<br />

Ausschusses zur Jagd<br />

auf politische Gegner offenkundig undemokratisch<br />

und würde fatal an die<br />

antikommunistische Hetze in den USA<br />

der frühen 1950er erinnern. Überdies<br />

beweise all die Kritik eher, wie stark die<br />

israelische Demokratie sei, <strong>als</strong> die Reputation<br />

des Landes zu beschädigen.<br />

Einen Ausschuss im Sinne McCarthys<br />

einzusetzen hätte da wesentlich ernstere<br />

Folgen.<br />

Schon jetzt fordert die israelische Rechtsprechung<br />

vollkommene Transparenz<br />

bei der Finanzierung, was ein Großteil<br />

der aufgelisteten NGOs auch erfüllt.<br />

NGO Monitor, das sich oft sehr kritisch<br />

über linksgerichtete Menschenrechtsgruppierungen<br />

äußert, veröffentlichte<br />

via JTA sogar einen Offenen Brief, in<br />

dem es den neuen Gesetzesentwurf <strong>als</strong><br />

wenig hilfreich und polarisierend bezeichnet.<br />

NGO Monitor-Präsident Gerald<br />

Steinberg meint dazu, das neue<br />

Gesetz enthalte nur „mehr Munition für<br />

Israels leidenschaftlichste Kritiker, um den<br />

‚Tod der Israelischen Demokratie‘ zu proklamieren“,<br />

und trage so zur Isolation<br />

Israels bei.<br />

Viele der zur Überprüfung aufgelisteten<br />

Menschenrechtsorganisationen berichten<br />

über die Aktivitäten der<br />

Israelischen Streitkräfte im Westjordanland.<br />

Genau dafür seien sie ja auch<br />

da, meinen die Gruppierungen: um sicherzustellen,<br />

dass die Besatzung so<br />

human wie möglich vonstatten geht.<br />

Und sollte irgendetwas an ihrem Vorgehen<br />

oder ihrer Finanzierung den<br />

geltenden Gesetzen widersprechen, so<br />

sei dies eine Sache der Polizei und obliege<br />

keinem politisch vorbelasteten<br />

Knesset-Komitee.<br />

Auch Likud-Größen wie Dan Meridor,<br />

Benny Begin, Michael Eitan und Reuven<br />

Rivlin zeigen sich erschüttert über Liebermans<br />

Vorstoß. Und Experten warnen<br />

vor der Gefahr eines daraus entstehenden<br />

Hexenkreises: Durch die internationale<br />

Kampagne zur Delegitimierung<br />

Israels bedroht, würde das Land<br />

den Fokus immer stärker auf sich selbst<br />

legen und damit Personen wie Avigdor<br />

Lieberman stärken. Mit der Attacke auf<br />

israelische Menschenrechtsorganisationen<br />

würde man der Delegitimierung<br />

Israels nur umso deutlicher Tür und<br />

Tor öffnen. Und der politische Hintergrund<br />

ist klar – der Gesetzesvorschlag<br />

fügt sich nahtlos in Liebermans Bemühungen<br />

ein, den amtierenden Premierminister<br />

Benjamin Netanjahu <strong>als</strong> Führer<br />

der israelischen Rechten zu ersetzen.<br />

Überdies kam der Vorstoß des Yisrael<br />

Beiteinu-Chefs nur eine Woche, nachdem<br />

er öffentlich Netanyahus Politik<br />

zur Aussöhnung mit der Türkei und<br />

Frieden mit den Palästinensern abgelehnt<br />

hatte. Dass Netanyahu Lieberman<br />

dafür nicht kritisierte brachte ihm<br />

sogleich den Ruf einer schwachen Führungspersönlichkeit<br />

ein.<br />

So geht der interne Knesset-Hickhack<br />

weiter – und laut Opposition wird der<br />

große Verlierer in dieser Sache vor<br />

allem Israel selbst sein.<br />

Für den Oppositionsabgeordneten Yisrael<br />

Hasson, der Yisrael Beiteinu 2009<br />

in Richtung Tzipi Livnis Kadima verließ,<br />

beschuldigt Lieberman, Israels<br />

Außenpolitik auf zynische Art und<br />

Weise zu unterminieren, nur um seine<br />

eigene politische Macht im Land zu<br />

festigen. Besonders gefährlich dabei,<br />

so Hasson, sei der Delegitimierungs-<br />

Kontext: Mit seinen fortwährenden<br />

Provokationen mache Lieberman auch<br />

jene, die dem Staat Israel gegenüber<br />

neutral eingestellt waren, nun zu dessen<br />

Gegnern.<br />

Und das wiederum stärke letztendlich<br />

nur die Kampagne zur Delegitimierung<br />

und Isolierung Israels. •<br />

20 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


POLITIK • ISRAEL<br />

Das Ende der Sozialisten Israels<br />

Die Spaltung der Arbeitspartei, der<br />

Rücktritt von drei Ministern des linken<br />

Flügels der israelischen Sozialisten,<br />

Ehud Baraks Beschluß der eigenen Partei<br />

den Rücken zu kehren und die ideologischen<br />

Nöte sollten nicht überraschen.<br />

Seit Monaten rumort es in der<br />

einstm<strong>als</strong> größten aber bei den letzten<br />

Wahlen auf nur noch 13 Sitze geschrumpfte<br />

Partei im Parlament von<br />

120 Sitzen. Manchen Mitgliedern der<br />

Arbeitspartei waren die ausgiebigen<br />

Debatten in den Medien geradezu peinlich.<br />

„Wieso interessieren Sie sich so sehr<br />

für eine der kleinsten Parteien Israels“,<br />

klagte ein sozialistischer Abgeordneter<br />

im Fernsehen, den Untergang der Arbeitspartei<br />

offen eingestehend.<br />

Dem hochdekorierten ex-Gener<strong>als</strong>tabschef<br />

und Ministerpräsidenten in der<br />

Periode zwischen Netanjahu und Ariel<br />

Scharon werden mangelnde Führungsqualitäten<br />

vorgeworfen. Obgleich die<br />

Genossen in der Partei schon lange<br />

Baraks Rücktritt forderten, oder, wie<br />

Daniel ben Simon, mit dem Austritt<br />

drohten, ist nicht Barak das Problem<br />

der Arbeitspartei.<br />

Ohne die Vorarbeit der Sozialisten<br />

wäre der Staat Israel 1948 nicht zustande<br />

gekommen, darunter David Ben<br />

Gurion, Golda Meir und Mosche Dayan.<br />

Die Sozialisten hatten die allmächtige<br />

Gewerkschaft mit integrierten Krankenkassensystem<br />

und ein Wirtschaftsimperium<br />

geschaffen.<br />

Die Wahlniederlage 1977 an den rechtskonservativen<br />

Menachem Begin hatte<br />

jedoch bewiesen, dass die aus Osteuropa<br />

stammendenen teils stalinistisch<br />

gefärbten Sozialisten den Kontakt zu<br />

der damaligen „Arbeiterklasse“ verloren<br />

hatten. Die aus Nordafrika und<br />

arabischen Ländern stammenden Ju -<br />

den verstanden eher den religiös angehauchten<br />

nationalistischen Pathos<br />

des Menachem Begin.<br />

Anfang der Neunziger Jahre erlebten<br />

die längst zu einer kapitalistischen Partei<br />

mutierten Sozialisten unter Jitzak<br />

Rabin noch einmal einen kurzen Höhepunkt.<br />

Die gegenseitige Anerkennung<br />

Israel-PLO, die Osloer Verträge und<br />

die Errichtung einer palästinensischen<br />

Selbstverwaltung (Autonomie) unter<br />

VON ULRICH W. SAHM, JERUSALEM<br />

Jassir Arafat hatten das Land in eine<br />

Friedenseuphorie versetzt. Doch mit zunehmendem<br />

palästinensischem Terror,<br />

teilweise sogar durch Polizisten im<br />

Dienste Arafats, die mit ihren von Israel<br />

zugelassenen Dienstwaffen Israelis<br />

ermordeten, zerstob die Friedenshoffnung.<br />

Rabin wurde von einem rechtsradikalen<br />

Israeli ermordet, aus Wut<br />

darüber, Israel „verraten“ und an den<br />

palästinensischen „Erzterroristen“ ausgeliefert<br />

zu haben. Der Übergangspremier<br />

Schimon Peres verlor die Wahlen<br />

an Benjamin Netanjahu, weil er jüdische<br />

Terrortote <strong>als</strong> „Opfer des Friedens“<br />

bezeichnet hatte.<br />

Letztlich hatte sich Israels Bevölkerung<br />

jedoch mit dem Osloer Prozess<br />

abgefunden, trotz Feindseligkeit gegenüber<br />

Arafat und den Palästinensern.<br />

Der von Rabin initiierte Friedensprozess<br />

wurde fortgesetzt. Der rechtsgerichtete<br />

Netanjahu übergab den Palästinsern<br />

nicht nur Hebron, die Stadt der<br />

biblischen Erzväter, sondern mehr Dörfer<br />

und Land, <strong>als</strong> Rabin es zuvor gewagt<br />

hatte. Unter dem nächsten rechtsgerichteten<br />

Ministerpräsidenten, Ariel<br />

Scharon, wurde im Sommer 2005 sogar<br />

der ganze Gazastreifen geräumt.<br />

Früher bedeutete „Links“ sozialistisch<br />

und „Rechts“ kapitalistisch. In Israel<br />

jedoch wurde Links mit Kompromissbereitschaft<br />

gegenüber den Palästinensern<br />

und Landverzicht gleichgesetzt,<br />

während die „Rechten“ mit dem Bau<br />

von Siedlungen die Errichtung eines<br />

palästinensischen Staates unmöglich<br />

machen wollten.<br />

Doch die Wirklichkeit stellte dieses<br />

Konzept auf den Kopf. Die Rechten,<br />

darunter Begin, Netanjahu und Scharon,<br />

vollzogen die vermeintlich „linke“<br />

Politik eines Territorialverzichts. Die<br />

Siedlungspolitik, ein Erbe der Sozialisten<br />

nach 1967, wurde von linken wie<br />

rechten Regierungen gleichermaßen gepflegt.<br />

Während aus der Sicht großer<br />

Teile der Bevölkerung Rabin den Terror<br />

ins Land holte und Barak wegen seiner<br />

gescheiterten Politik für den Ausbruch<br />

der blutigen zweiten Intifada ab September<br />

2000 verantwortlich gemacht<br />

wurde, waren es rechte Ministerpräsidenten,<br />

Netanjahu 1996 und Ariel<br />

Scharon ab 2001, die den Terror in den<br />

Griff bekamen.<br />

So hatte die israelische Linke schließlich<br />

der Bevölkerung keine Perspektive<br />

mehr zu bieten. Bei den Wahlen<br />

erhielt sie immer weniger Stimmen.<br />

Baraks Bereitschaft, unter der nationalen<br />

Regierung Netanjahus das vermeintlich<br />

„gemäßigte“ Feigenblatt zu<br />

spielen, schadete dem Ruf der traditionsreichen<br />

Arbeitspartei zusätzlich.<br />

Die bevorstehende Auflösung der sozialistischen<br />

Arbeitspartei ist die Folge<br />

eines langen Prozesses, eine Ausverkaufs<br />

ihrer Ideologie und eines Scheiterns<br />

ihrer Politiker. Hinzu kommt,<br />

dass die israelische Rechte längst die<br />

einst bahnbrechenden Prinzipien der<br />

Linken übernommen hat: Dialog mit<br />

den Palästinensern, Autonomie und sogar<br />

die Zweistaten-Lösung. Letztlich<br />

haben sich Israels Sozialisten selber<br />

überflüssig gemacht. „Diese Krise bietet<br />

eine große Gelegenheit zur Wiederbelebung<br />

der Partei“, sagte der Abgeordnete Avischai<br />

Braverman. Doch von der Partei ist<br />

jetzt kaum noch etwas übrig geblieben.<br />

© REUTERS/Baz Ratner<br />

Eine neue Fraktion namens<br />

Azmaut (Unabhängigkeit)<br />

„Die (neue) Partei wird in der politischen<br />

Mitte angesiedelt, zionistisch<br />

und demokratisch sein“, sagte Barak.<br />

„Wir brechen zu neuen Ufern auf.“<br />

Ehud Barak wird demnach Verteidigungsminister<br />

bleiben. Shalom Simchon,<br />

bisher Landwirtschaftsminister,<br />

soll das Handelsministerium<br />

übernehmen. Matan Vilnai, bisher<br />

Stellvertreter Baraks, wird den Angaben<br />

zufolge Minister für die Heimatfront<br />

sowie für Minderheiten. Die<br />

Abgeordnete Orit Noked übernimmt<br />

das Landwirtschaftsministerium.<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 21


POLITIK • ISRAEL<br />

Neues über Nahost - aus Wikileaks<br />

VON JOHANNES GERLOFF, JERUSALEM<br />

Am letzten Novembersonntag<br />

des Jahres 2010 begann<br />

die Internetseite Wikileaks<br />

mit der Veröffentlichung<br />

von einer Viertelmillion<br />

vertraulicher Berichte des<br />

US-Außenministeriums.<br />

Die Folge war ein beispielloser<br />

Medienwirbel<br />

weltweit, ein Hackerkrieg im Internet,<br />

<strong>als</strong> die Amerikaner versuchten, die Veröffentlichung<br />

ihrer Diplomaten-E-Mails zu<br />

verhindern, bis hin zum Vorschlag eines<br />

kanadischen Professors und ehemaligen<br />

Regierungsberaters, Präsident Obama<br />

solle eine Drohne benutzen, um Julian<br />

Assange, den Gründer der Internet-Plattform,<br />

abzuschießen. Assange ging in den<br />

Untergrund.<br />

Natürlich ging es bei Wikileaks um die<br />

Vereinigten Staaten von Amerika, ihre<br />

Politik und was US-Diplomaten hinter<br />

vorgehaltener Hand berichteten. Der<br />

Nahe Osten, der Kampf gegen den Ter -<br />

ror, die Beziehungen zum Islam und<br />

der israelisch-palästinensische Konflikt<br />

sind aber ein wichtiger Bereich amerikanischer<br />

Außenpolitik.<br />

Deshalb die Frage: Was erfahren wir<br />

durch Wiki-leaks Neues über Israel und<br />

den Na hen Osten? Ein zusammenfassender<br />

Rückblick:<br />

Die USA interessieren sich für Israels<br />

• militärische Fähigkeiten;<br />

• Taktik, Techniken und Prozeduren<br />

im Kampf gegen den Terror;<br />

• Telekommunikationsfähigkeiten;<br />

• technische Entwicklungen und Bemühungen;<br />

und<br />

• Kontakte zur Hamas;<br />

sowie die Einstellung der israelischen<br />

Bevölkerung<br />

• zum Friedensprozess,<br />

• zu den Siedlungen und<br />

• zur US-Regierung<br />

Akademiker, Journalisten, Geschäftsleute,<br />

religiöse und professionelle Organisationen,<br />

die auf der inter nationalen<br />

Bühne die Sichtweise gegenüber<br />

den USA zu beeinflussen versuchen,<br />

werden von amerikanischen Regierungsvertretern<br />

in besonderer Weise<br />

beobachtet.<br />

In der Palästinensischen Autonomie<br />

(PA) interessieren sich die USA für<br />

• Kontakte zur Hamas;<br />

• Kreditkartennummern, Vielfliegernummern,<br />

Terminkalender, und andere<br />

persönliche Informationen von<br />

Politikern;<br />

sowie die Einstellung der Bevölkerung<br />

• zum Friedensprozess,<br />

• zu den Siedlungen und<br />

• zur US-Regierung<br />

DIE LAGE IN ISRAEL<br />

beurteilen Amerikas Diplomaten <strong>als</strong><br />

„trügerisch ruhig und florierend“. Das<br />

Land bereite sich auf einen breit angelegten<br />

Krieg mit Hamas und Hisbollah<br />

vor und beurteile selbst den Frieden<br />

mit Ägypten und Jordanien <strong>als</strong> sehr<br />

zerbrechlich. Im Falle eines Regimewechsels<br />

könnte die Lage schnell kippen.<br />

Israel hat Frieden mit den Regierungen<br />

- nicht mit den Völkern. Dies<br />

sei besonders bedenkenswert bei Waffenexporten<br />

in die so genannten gemäßigten<br />

arabischen Länder.<br />

Der israelische Regierungschef<br />

Benjamin Netanjahu<br />

• will nicht über die Westbank<br />

herrschen,<br />

• hält nichts von einem weiteren einseitigen<br />

Rückzug aus besetzten Gebieten<br />

und<br />

• betrachtet Syriens Friedensouvertüren<br />

lediglich <strong>als</strong> Annäherungsversuche an<br />

die USA.<br />

Verteidigungsminister Ehud Barak<br />

• ist der Ansicht, bei Iran und Nordkorea<br />

sollten alle Optionen auf dem<br />

Tisch bleiben;<br />

• befürwortet eine strategische Partnerschaft<br />

mit China, Russland, Indien<br />

und der EU; und weiß:<br />

• Israel und die USA haben dieselben<br />

Informationen über den Iran, analysieren<br />

sie aber unterschiedlich.<br />

Zur Palästinensischen Autonomiebehörde<br />

wird berichtet:<br />

Der heutige Staatspräsident, Osloarchitekt<br />

und deshalb Friedensnobelpreisträger<br />

Schimon Peres kommt im<br />

Rückblick zu dem Schluss: Oslo war<br />

ein Fehler.<br />

Der ehemalige Mossad-Chef Meir Dagan<br />

ist der Ansicht, der Friedensprozess<br />

mit den Palästinensern bringe nichts.<br />

Nur die israelische Armee verhindere<br />

eine Machtübernahme der Ha mas in<br />

der Westbank. Sollte die Hamas auch<br />

dort die Macht ergreifen, würde Präsident<br />

Mahmud Abbas wohl zu seinem<br />

„mysteriös reichen“ Sohn nach Qatar<br />

gehen.<br />

Im Blick auf den Gazastreifen<br />

ist interessant:<br />

Die PA teilte praktisch alle ihre nachrichtendienstlichen<br />

Informationen mit<br />

Israel.<br />

Kurz vor der Machtübernahme der<br />

Ha mas im Sommer 2007<br />

• stand „eine verzweifelte, chaotische<br />

und demoralisierte Fatah“ einer „gutorganisierten<br />

und aufstrebenden Ha -<br />

mas“gegenüber.<br />

• hatten hochrangige Fatah-Vertreter<br />

Israel gebeten, die Hamas anzugreifen<br />

- problematisch für Palästinenserpräsident<br />

Mahmud Abbas, der sowieso<br />

schon bei seinen Landsleuten<br />

unter dem Verdacht steht, Kollaborateur<br />

der Zionisten zu sein.<br />

• meinte Inlandsgeheimdienstchef Juval<br />

Diskin, die Hamas sei nicht in der<br />

Lage, die Macht im Gazastreifen zu<br />

übernehmen.<br />

• verhinderte Diskin eine Aufrüstung<br />

der Fatah durch die USA mit dem<br />

Argument, die Waffen könnten eines<br />

Tages in die Hände der Hamas fallen<br />

- was dann tatsächlich wenige Tage<br />

später geschah<br />

• stand Gaza auf Platz vier der Bedrohungen<br />

für Israel - nach dem Iran,<br />

Syrien und der Hisbollah.<br />

Bis zum Beginn der Operation „Gegossenes<br />

Blei“ Ende 2008 hatte Israel die<br />

Wirtschaft des Gazastreifens bewusst<br />

am Rande des Wirtschaftskollapses ge -<br />

halten. Um Druck auf die Hamas auszuüben<br />

sollte sie auf so niedrigem<br />

Niveau wie möglich funktionieren,<br />

ohne eine humanitäre Krise zu verursa-<br />

22 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


POLITIK • ISRAEL<br />

chen - die dem Ruf Israels geschadet<br />

hätte.<br />

Der Krieg gegen die Hamas, die so genannte<br />

„Operation Gegossenes Blei“,<br />

war mit dem ägyptischen Präsidenten<br />

Mubarak und dem palästinensischen<br />

Präsidenten Abbas koordiniert.<br />

Der Goldstone-Bericht über Israels Vorgehen<br />

im Gazakrieg 2008/2009 hat<br />

nach Ansicht von US-Diplomaten einen<br />

schlechten Präzedenzfall geschaffen für<br />

Länder, die ihre Bürger vor Terroristen<br />

schützen wollen.<br />

US-Firmen beschuldigen Israel, an den<br />

Grenzübergängen nach Gaza Bestechungsgelder<br />

zu verlangen.<br />

Der Iran zahlt der Hamas monatlich<br />

25 Millionen Dollar, so Ägyptens Geheimdienstchef<br />

Suleiman.<br />

Und Frankreichs Präsident Nikolas Sarkozy<br />

ist überzeugt, der Status quo schadet<br />

mehr der Fatah und der PA <strong>als</strong> der<br />

Hamas.<br />

ÄGYPTEN<br />

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion<br />

hat Kairo ein Schwarzmarktangebot<br />

von Atomwaffen ausgeschlagen.<br />

Das ägyptische Militär trainiert, <strong>als</strong> sei<br />

„Israel sein einziger Feind“. Deshalb<br />

hegen israelische Sicherheitsexperten<br />

den Verdacht, Ägypten bereite sich auf<br />

einen militärischen Konflikt mit Israel<br />

vor. Insgesamt stellen die amerikanischen<br />

Beobachter aber fest: Die ägyptische<br />

Armee ist auf dem Abstieg.<br />

LIBANON<br />

2008 schlug der libanesische Verteidigungsminister<br />

Elias Murr den Amerikanern<br />

einen israelischen Angriff auf die<br />

Hisbollah vor und bot dafür gleich eine<br />

Liste von Angriffszielen. Auch Saudi-<br />

Arabiens Außenminister Prinz Saud al-<br />

Faisal unterbreitete einen Plan zur Vernichtung<br />

der Hisbollah.<br />

Den Diplomaten ist klar: Die schiitische<br />

Hisbollah-Miliz arbeitet heute Hand in<br />

Hand mit der libanesischen Armee.<br />

Deshalb warnten die Amerikaner Syrien<br />

davor, der Hisbollah Scud-Raketen<br />

zu geben. Doch die Hisbollah ist -<br />

wie die Hamas im Gazastreifen - eine<br />

demokratisch gewählte Organisation.<br />

Mit ihr zu verhandeln gehört einfach<br />

zu Politik im Nahen Osten - meint Syriens<br />

Präsident Bischar al-Assad.<br />

SYRIEN<br />

• glaubt, dass Israel hinter der Ermordung<br />

des syrischen Gener<strong>als</strong> Mohammed<br />

Suleiman steht. Suleiman war<br />

verantwortlich für die Kontakte zur<br />

Hisbollah und für das Nuklearprogramm<br />

seines Landes und wurde am<br />

1. August 2008 in seiner Sommerresidenz<br />

im nordsyrischen Tartus von<br />

einem Scharfschützen erschossen.<br />

• hat im Dezember 2009 ein iranisches<br />

Ersuchen abgelehnt, den Iran im Falle<br />

eines israelischen Luftangriffes zu<br />

unterstützen.<br />

• würde sich - so die Einschätzung von<br />

US-Diplomaten - für Frieden mit Israel<br />

und bessere Beziehungen mit den<br />

USA entscheiden, würde es vor die<br />

Wahl gestellt: Iran oder Israel.<br />

DIE GOLFSTAATEN<br />

Neun Tage lang wurde im <strong>Januar</strong> 2010<br />

hinter verschlossenen Türen diskutiert,<br />

bis sich die Behörden in Dubai<br />

entschlossen, die Ermordung des Ha -<br />

mas- Waffenhändlers Mahmud al-Mabhuh<br />

zu veröffentlichen. Der Grund für<br />

die Veröffentlichung: Ein Stillschweigen<br />

hätte in der Öffentlichkeit <strong>als</strong> Parteinahme<br />

für Israel interpretiert werden<br />

können.<br />

Qatar nutzt seinen weltweiten Nachrichtensender<br />

Al-Dschassiera zu diplomatischen<br />

und Propagandazwecken.<br />

Ex-Mossad-Chef Dagan befürchtet, die<br />

Fernsehstation könnte den nächsten<br />

Nahostkrieg auslösen.<br />

Saudi-Arabien ist - gemeinsam mit Kuweit,<br />

Qatar und den Vereinigten Arabischen<br />

Emiraten - der Hauptsponsor<br />

des weltweiten sunnitischen Terrors,<br />

das heißt konkret, von Gruppen wie Al-<br />

Qaida, Taliban und Laschkar e-Taiba.<br />

Der saudische König Abdallah betrachtet<br />

den irakischen Premierminister Nuri<br />

al-Maliki <strong>als</strong> „Agenten des Iran“ und<br />

sagte dem iranischen Außenminister<br />

Manouchehr Mottaki ins Gesicht: „Ihr<br />

Perser habt kein Recht, euch in arabische<br />

Angelegenheiten einzumischen!“ Der Wüstenkönig<br />

aus Riad meint: „Eine Lösung<br />

des arabisch-israelischen Konflikts wäre<br />

eine große Errungenschaft, aber der Iran<br />

würde dann andere Wege finden, Unruhe<br />

zu stiften.“<br />

DER IRAN<br />

ist das bestimmende Thema der amerikanischen<br />

Nahostpolitik. Das wird<br />

beim Blick durch Wikileaks klar.<br />

Während des 2. Libanonkriegs im Sommer<br />

2006 hat der Iran der Hisbollah<br />

geholfen, Anhänger <strong>als</strong> Mitarbeiter des<br />

Roten Halbmondes zu verkleiden, um<br />

Agenten und Raketen zu schmuggeln.<br />

Mitarbeiter des iranischen Roten Halbmonds<br />

müssen einen Anti-Spionage-<br />

Kurs absolvieren, bevor sie eingestellt<br />

werden. Der Rote Halbmond im Iran,<br />

so die Erkenntnis der US-Diplomaten,<br />

ist heute de facto eine Organisation<br />

der iranischen Revolutionsgarden.<br />

Der Iran ist eine Bedrohung für die gesamte<br />

Region, nicht nur für den jüdischen<br />

Staat. „Wir haben die Wahl zwischen<br />

einer iranischen Bombe und der<br />

Entscheidung, den Iran zu bombardieren“,<br />

hatte Nicolas Sarkozy <strong>als</strong> französischer<br />

Außenminister gewarnt. Unter US-Diplomaten<br />

trägt Präsident Ahmadinedschad<br />

den Spitznamen „Hitler“. Tatsächlich<br />

ist der „Kalte Krieg“ zwischen<br />

der arabischen Welt und dem Iran<br />

weit wichtiger für die Stabilität im<br />

Nahen Osten <strong>als</strong> der arabisch-israelische<br />

Konflikt.<br />

Kronprinz Mohammed Bin Sajed von<br />

Abu Dhabi ermahnte 2009 die USA, mit<br />

Teheran keine „Appeasement“-Politik<br />

zu betreiben [wie der britische Premier<br />

Chamberlain 1938]. Ägyptens Präsident<br />

Hosni Mubarak ist der Ansicht:<br />

„Irans Einfluss breitet sich aus wie ein<br />

Krebsgeschwür von den Golfstaaten bis<br />

nach Marokko“, und bezeichnet die Iraner<br />

<strong>als</strong> „große, fette Lügner, die ihre Lügen<br />

mit einem höheren Zweck rechtfertigen“.<br />

Wenn jordanische Diplomaten vom<br />

Iran reden, ist die meistgebrauchte Metapher<br />

die von einer „Krake, die heimtückisch<br />

ihre Arme ausstreckt, um zu manipulieren,<br />

zu schüren und die besten<br />

Pläne des Westens und der Gemäßigten in<br />

der Region zu unterminieren.“<br />

Der saudische König Abdallah hat die<br />

USA mehrfach aufgefordert, den Iran<br />

anzugreifen, seinem Nuklearprogramm<br />

ein Ende zu bereiten und so „der Schlange<br />

den Kopf abzuschneiden“. Ähnliches<br />

forderte König Hamad von Bahrain,<br />

dessen Bevölkerung überwiegend schiitisch<br />

ist.<br />

Hardliner im Iran verhinderten vor<br />

wenigen Monaten ein Abkommen, das<br />

einen Austausch von niedrig-angereichertem<br />

Uran des Iran gegen Reaktortreibstoff<br />

ermöglicht hätte. Doch der<br />

Iran „will gar keine Atomwaffen, weil ein<br />

Atomschlag gegen Israel viele palästinensische<br />

Opfer mit sich ziehen würde“, be-<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 23


POLITIK • ISRAEL<br />

hauptet der syrische Präsident Bischar<br />

al-Assad.<br />

Im Falle eines iranischen Raketenangriffs<br />

hat Israel 10 bis 12 Minuten Vorwarnzeit,<br />

glaubt Israels ehemaliger Gener<strong>als</strong>tabschef<br />

Gabi Aschkenasi. Israel<br />

und die USA haben darüber beraten,<br />

wie die Amerikaner bunkerbrechende<br />

Bomben an Israel liefern können, ohne<br />

sich den Vorwurf einzuhandeln, „die<br />

US-Regierung helfe Israel bei der Vorbereitung<br />

eines Militärschlags gegen den<br />

Iran“. Der australische Geheimdienst<br />

ONA befürchtet, dass ein israelischer<br />

Angriff des Iran zu einem Atomkrieg<br />

führen könnte. Israel und die USA<br />

könnten das Regime in Teheran verändern<br />

und sollten mehr dafür tun, meint<br />

Ex-Mossad-Chef Dagan.<br />

DIE TÜRKEI<br />

hat dem Iran bei der Entwicklung seines<br />

Atomprogramms geholfen und<br />

Waffenschmuggel für Al-Qaida im Irak<br />

zugelassen. Gleichzeitig haben die USA<br />

im Irak kurdische Widerstandskämpfer<br />

gegen die Türkei freigelassen.<br />

Nach Erkenntnissen von US-Diplomaten<br />

hat der türkische Premierminister<br />

Erdogan zwar wenig Ahnung von Politik<br />

jenseits von Ankara, dafür aber<br />

private Bankkonten in der Schweiz.<br />

Offensichtlich haben die USA ein weit<br />

besseres Verständnis dafür, wo die<br />

Türkei steht und was sie will, <strong>als</strong> das<br />

in offiziellen Statements zum Ausdruck<br />

kam, in denen die USA die Türkei <strong>als</strong><br />

„Beispiel der Demokratie und des Islam“<br />

lobten. Insgesamt scheint US-Diplomaten<br />

klar zu sein: Die Türkei ist kein<br />

verlässlicher Partner und ihre führenden<br />

Politiker sind radikale Islamisten.•<br />

WAS IST NEU? WAS BLEIBT VON WIKILEAKS?<br />

Jahrelang beklagten sich israelische Diplomaten: „Wenn wir nur öffentlich<br />

sagen könnten, was wir hinter geschlossenen Türen hören…“ - Jetzt kann jedermann<br />

auf dem Computerbildschirm nachlesen, was hinter geschlossenen<br />

Türen gesagt wurde. Zu bedenken ist dabei, dass es sich bei dem Schwall von<br />

Enthüllungen nicht etwa um harte Fakten handelt, sondern um Aussagen,<br />

die amerikanische Diplomaten gemacht, gehört oder berichtet haben.<br />

„Wikileaks enthüllt den wahren Nahostkonflikt“ jubelt Ari Shavit in einem Leitartikel<br />

der linksliberalen Tageszeitung „Ha aretz“. Aber stimmt das wirklich? –<br />

Okay, Wikileaks widerlegt die Grundvoraussetzung der Politik des amerikanischen<br />

Präsidenten Obama, dass das Palästinenserproblem der Grund für<br />

alle Unruhe im Nahen Osten und für allen anti-westlichen Terror ist.<br />

Aber, wer sehende Augen und hörende Ohren hatte, hat das schon vor Wikileaks<br />

bezweifelt, aller Obamamanie zum Trotz. Und diejenigen, die glauben,<br />

dass „die Juden“ an allem Übel dieser Welt schuld sind, sind so beratungsresistent,<br />

dass sie sich auch von 250.000 eigentlich geheimen Dokumenten<br />

auch nicht aus der Ruhe bringen lassen werden. Der Glaube derer, die der<br />

Political Correctness frönen, ist so leicht nicht zu erschüttern.<br />

Vielleicht ist neu, dass amerikanische Diplomaten denken, der französische<br />

Staatschef Nikolas Sarkozy sei „ein unverfrorener Bewunderer Israels, aber scharf<br />

darauf, dass die Palästinenser gerecht behandelt werden“. Der Öffentlichkeit war<br />

bislang auch nicht bekannt, dass die Regierung von Bundeskanzlerin Angela<br />

Merkel - eigentlich bekannt <strong>als</strong> einer der verlässlichsten Freunde Israels weltweit<br />

- Ende 2009 von den Amerikanern verlangt hat, Netanjahu zu einem<br />

Siedlungsstopp zu zwingen. Die Deutschen schlugen vor, den Israelis mit dem<br />

Verlust der amerikanischen Unterstützung im UNO-Sicherheitsrat bei der Abstimmung<br />

über den Goldstone-Bericht zu drohen. Weniger erstaunlich dagegen<br />

ist die Enthüllung, Irland habe nach dem Zweiten Libanonkrieg im<br />

Sommer 2006 amerikanische Waffenlieferungen an Israel behindert.<br />

Wikileaks bestätigt: Arabische Führer sagen privat anderes, <strong>als</strong> in der Öffentlichkeit.<br />

Dabei bleibt allerdings offen, was sie tatsächlich denken. Denkbar<br />

wäre ja auch, dass sie hinter vorgehaltener Hand lügen, um die Amerikaner<br />

bei Laune zu halten und über das öffentlich Gesagte hinweggehen zu lassen.<br />

Der Nahostexperte Daniel Pipes mag recht haben: „Öffentliche Verlautbarungen<br />

wiegen schwerer <strong>als</strong> private Gespräche.“ So bleibt nach Wikileaks ei- gentlich<br />

nur die Erkenntnis: Man kann den Nahen Osten verstehen, indem man nur öffentlich<br />

zugängliche Quellen analysiert, ganz ohne geheime Insiderinfos. Vielleicht<br />

ist das eigentlich Atemberaubende an den Enthüllungen des Julian<br />

Assange, dass wir nichts sub stantiell Neues über die Lage im Nahen Osten<br />

erfahren haben, das uns dazu zwingen würde, unser Gesamtbild vollständig<br />

neu zu überdenken.<br />

LAPTOP-<br />

BOTSCHAFTER<br />

Das israelische Außenministerium will<br />

in 20 zusätzliche Länder Botschafter entsenden.<br />

Damit es nicht zu teuer wird,<br />

sollen sie jedoch ohne Botschaftsgebäude<br />

und ohne Personal auskommen.<br />

„Laptop-Botschafter“ nennt das Ministerium<br />

diese Gesandten, die mit einem<br />

tragbaren Computer auf sich selbst gestellt<br />

arbeiten sollen. Chauffeure, Sekretärinnen,<br />

Reinigungskräfte und<br />

Sicherheitsoffiziere wird es in diesen<br />

„Botschaften“ nicht geben. Stellvertreter<br />

für die Diplomaten seien ebenfalls<br />

nicht vorgesehen, berichtet die Tageszeitung<br />

„Ma ariv“. Zudem gibt es auch<br />

keine Mietwohnungen für die „Laptop-Botschafter“.<br />

Offizielle Treffen sollen<br />

in Lokalen und Cafés stattfinden,<br />

Diplomatenpost wird in der israelischen<br />

Bot- schaft eines Nachbarstaates<br />

erledigt. Israel wird diese Vertretungen<br />

dennoch <strong>als</strong> Botschaften bezeichnen.<br />

Geplant sind sie unter anderem in Estland,<br />

Litauen, Albanien, Montenegro,<br />

Bosnien-Herzegowina, Paraguay, Kirgistan<br />

und Tadschikistan. Hinzu kommen<br />

mehrere afrikanische Staaten so -<br />

wie bedeutende Städte in Russland.<br />

Initiator des Projektes ist Pini Avivi, der<br />

Leiter der Abteilung für Europa und<br />

Asien im Außenministerium. Das Sparprogramm<br />

lasse es nicht zu, dass Israel<br />

neue Botschaften eröffne, teilte er mit.<br />

„Heute sind die Botschafter jünger und<br />

auf dem aktuellen Stand der technischen<br />

Entwicklung. Das muss man nutzen.“<br />

Meist seien bislang Botschafter aus<br />

einem Nachbarland für die genannten<br />

Staaten zuständig. „Es handelt sich um<br />

ein revolutionäres Programm, mit dessen<br />

Hilfe man die israelische Präsenz in der<br />

Welt ausweiten kann.“<br />

24 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


POLITIK • ISRAEL<br />

Saudis entlassen israelischen Spion<br />

Saudi Arabien will einen israelischen<br />

„Spion“ in die Freiheit entlassen. Das<br />

berichtete die arabische Zeitung Al Hayat.<br />

Im <strong>Januar</strong> geriet ein Aasgeier mit<br />

dem Kennzeichen R65 von der Tel Aviver<br />

Universität in saudische Gefangenschaft.<br />

Die Israelis hatten an dem Tier<br />

einen GPS Sender angebracht und ihn<br />

beringt. Allen Ernstes berichteten arabische<br />

Medien über den Aasgeier <strong>als</strong><br />

Kundschafter des Mossad.<br />

Ein Vertreter der saudischen Naturschutzgesellschaft<br />

erklärte derweil in<br />

Al Hayat, dass solche Sender „üblich“<br />

In geheimer Mission...<br />

seien, um Flugrouten von Zugvögeln<br />

zu verfolgen und ihre jeweiligen Standorte<br />

per Satellit zu bestimmen. Auch<br />

die Saudi verwenden ähnliche Sender.<br />

Jener Saudi, der den Vogel gefangen<br />

hatte, behauptete, dass solche Aasgeier<br />

in der Region „unüblich“ seien. Das<br />

hatte den Verdacht geschürt, dass der<br />

Vogel in den Diensten des israelischen<br />

Geheimdienstes <strong>als</strong> Kundschafter nach<br />

Saudi Arabien geschickt worden sei.<br />

Der Vertreter der saudischen Naturschutzgesellschaft<br />

behauptete, dass es<br />

sich in Wirklichkeit um einen „biblischen<br />

Adler“ handle, der auch in Saudi Arabien<br />

heimisch sei.<br />

Eran Singer, israelischer Radioreporter<br />

für „arabische Angelegenheiten und Raubvögel“,<br />

wie er inzwischen bezeichnet<br />

wird, konnte nicht sagen, wann der<br />

Vogel freigelassen werde.<br />

Die Geschichte des Mossad-Vogels, die<br />

in der arabischen Presse mit großem<br />

Ernst verfolgt wurde, löste in den israelischen<br />

Medien eher Gelächter und hämische<br />

Kommentare aus. Allzu oft<br />

fallen die Araber teilweise lächerlichen<br />

Verschwörungstheorien zum Opfer.<br />

Im Internet kursieren derweil Fotomontagen<br />

von allen möglichen Tieren,<br />

manche mit einer Kipa (Kopfbedeckung<br />

frommer Juden) auf dem Kopf<br />

(Foto oben), oder mit einem Gewehr in<br />

der Hand. Sie werden <strong>als</strong> tierische Geheimwaffen<br />

des Mossad vorgestellt,<br />

darunter ein menschenfressender Hai<br />

und bewaffnete Erdmännchen.<br />

Zu dem in Saudi Arabien gefangenen<br />

Aasgeier/Adler wurde sogar eine Kampagne<br />

zu seiner Befreiung gestartet.<br />

Unter dem Portraitfoto des Vogels mit<br />

blauer Kipa und Brille steht: „Befreit<br />

den Mossad-Agenten R65 jetzt“.<br />

ULRICH W. SAHM<br />

Scholars for Peace in the Middle<br />

East (SPME) gegen Boykott<br />

am Ariel University Center<br />

Der Vorstand von Scholars for Peace in<br />

the Middle East (SPME), der Boykott an<br />

Hochschulen generell ablehnt, insbesondere<br />

diejenigen, die sich gegen Akademiker<br />

und Hochschulen in Israel richten,<br />

hat <strong>als</strong> Antwort auf den kürzlich<br />

angekündigten Boykott am Ariel University<br />

Center 160 israelischer Gelehrter<br />

folgendes Statement veröffentlicht:<br />

Seit 2005 hat sich Scholars for Peace in the<br />

Middle East sowie Tausende Mitglieder der<br />

Fakultät, darunter über 40 Nobelpreisträger,<br />

gegen jegliche Form von Boykott an<br />

Hochschulen ausgesprochen darunter auch<br />

Boykott israelischer Akademiker und israelischer<br />

Hochschulen. Solche Boykotts stehen<br />

in Gegensatz zu akademischer Freiheit,<br />

akademischem Austausch und dem Zugang<br />

zu Wissen und Forschung. Der jetzt angekündigte<br />

Boykott an der Ariel University<br />

stellt dabei keine Ausnahme dar. Wir<br />

betonen hiermit erneut, dass wir uns gegen<br />

Boykott an Hochschulen einsetzen.<br />

SPME-Vorstand, 13. <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong><br />

Israel wird Gründungsmitglied von<br />

Internationaler Antikorruptionsakademie<br />

Israels Botschafter in Wien, Aviv Shir-<br />

On, hat im Dezember ein Rahmenabkommen<br />

der Internationalen Anti-Kor -<br />

ruptionsakademie (IACA) unterzeichnet.<br />

Israel ist damit einer der Gründerstaaten<br />

dieser internationalen Einrichtung.<br />

Die IACA ist eine neue internationale<br />

Organisation, die in Kooperation mit<br />

der österreichischen Regierung und<br />

dem Büro der Vereinten Nationen für<br />

Drogen- und Verbrechensbekämpfung<br />

im vergangenen Oktober geschaffen<br />

wurde. Die in Laxenburg gelegene<br />

Akademie wird Staaten und internationale<br />

Organisationen mittels Erziehungs-<br />

und Forschungsprogrammen<br />

beim Kampf gegen die Korruption unterstützen.<br />

Der Echtbetrieb soll in der ersten Jahreshälfte<br />

<strong>2011</strong> aufgenommen werden.<br />

Der akademische Betrieb wird im Oktober<br />

<strong>2011</strong> anlaufen, mit einem ersten<br />

berufsbegleitenden Master-Studiengang.<br />

Die internationale Ausschreibung<br />

dafür ist für Fruhjahr <strong>2011</strong> geplant.<br />

Seinen akademischen Vollbetrieb mit<br />

vollständigem Lehrkörper soll die<br />

IACA bis spätestens Jahresmitte 2012<br />

aufnehmen. Insgesamt sollen pro Jahr<br />

etwa 600 Experten aus der ganzen Welt<br />

in Laxenburg ausgebildet werden.<br />

Israels Mitgliedschaft wird das Land<br />

in die Lage versetzen, den Aufgabenbereich<br />

und den Zuschnitt der Organisation<br />

mitzubestimmen. Sie wurde<br />

möglich gemacht durch eine Kooperation<br />

zwischen dem Außenministerium,<br />

dem Justiz mi nisterium und dem<br />

Ministerium für öffentliche Sicherheit.<br />

Einen Einblick in die Organisation bietet der<br />

Artikel unter folgendem Link: http://www.bmi.<br />

gv.at/cms/BMI_OeffentlicheSicherheit/2010/11_12/<br />

files/KORRUPTIONSBEKAEMPFUNG.<strong>pdf</strong><br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 25


POLITIK • ISRAEL<br />

VON DAVID HARRIS<br />

Übersetzung: Karin Fasching-Kuales<br />

Ich saß im Hörsaal einer britischen<br />

Universität und lauschte gelangweilt<br />

dem Vortragenden, während ich meinen<br />

Blick durch den Raum schweifen<br />

ließ. Da entdeckte ich jemanden, den<br />

ich vor langer Zeit gekannt hatte – und<br />

obwohl es schon Jahrzehnte her war,<br />

erkannte auch er mich wieder. Nach<br />

der Vorlesung, <strong>als</strong> ich zu ihm gegangen<br />

war und mich vorgestellt hatte,<br />

plauderten wir eine Weile miteinander.<br />

Ich sagte ihm, die Jahre hätten es<br />

gut mit ihm gemeint und er antwortete:<br />

„Aber du hast dich ganz schön verändert.“<br />

„Inwiefern?“ gab ich ein wenig<br />

beklommen zurück, war mir doch –<br />

trotz aller Selbsttäuschung – klar, dass<br />

60 nur allzu weit von 30 entfernt ist.<br />

Mein Gegenüber blickte mir daraufhin<br />

offen in die Augen und meinte, gut hörbar<br />

für die Umstehenden: „Ich habe gelesen,<br />

was du über Israel geschrieben hast<br />

und es gefällt mir gar nicht. Wie kannst<br />

du dich nur für diesen Staat einsetzen?<br />

Was ist mit dem netten, liberalen Jungen<br />

passiert, den ich vor 30 Jahren gekannt<br />

habe?“ Ich antwortete: „Dieser nette, liberale<br />

Junge hat seine Meinung nicht geändert.<br />

Im Falle Israels geht es um Liberalität<br />

und ich bin stolz, mich dafür einsetzen<br />

zu können.“<br />

Und genauso ist es: Ich bin stolz darauf,<br />

meine Stimme für Israel zu erheben.<br />

Eine erst kürzlich unternommene<br />

Reise hat mich wieder daran erinnert,<br />

weshalb. Manchmal sind es gerade die<br />

kleinen Dinge, die mich in meiner<br />

Sicht bestätigen – Dinge, die man üblicherweise<br />

gar nicht registriert oder<br />

für selbstverständlich nimmt. Zum Beispiel<br />

Fahrstunden in Jerusalem, wo<br />

die Schülerin eine gläubige Moslemin<br />

mit Kopftuch und der Lehrer ein Israeli<br />

mit Kippah auf dem Kopf ist.<br />

Wenn man sich nach dem richtet, was<br />

tagtäglich über die Konflikte zwischen<br />

diesen beiden Bevölkerungsgruppen<br />

in den Nachrichten zu hören ist, müsste<br />

so eine Szene doch eigentlich unmöglich<br />

sein. Doch niemand außer mir<br />

schien das ungewöhnlich zu finden.<br />

Muss ich wirklich erwähnen, dass dieselbe<br />

Frau in Saudi Arabien keine Chance<br />

auf den Luxus einer Fahrstunde gehabt<br />

hätte, schon gar nicht mit einem<br />

gläubigen Juden <strong>als</strong> Lehrer.<br />

Wie kann man<br />

sich nur für<br />

Israel einsetz<br />

Oder die beiden Homosexuellen, die<br />

Hand in Hand am Strand von Tel Aviv<br />

spazieren gingen. Niemand hat sie beachtet,<br />

niemand stellte ihr Recht, ihre<br />

Zuneigung öffentlich zu zeigen, infrage.<br />

Können Sie sich eine ähnliche Szene in<br />

einem der Nachbarstaaten Israels vorstellen?<br />

Freitag in einer Moschee in Jaffa. Hochbetrieb.<br />

Moslems können jederzeit eintreten,<br />

beten, ihren Glauben leben.<br />

Überall in Israel kann man dies beobachten.<br />

Gleichzeitig werden im Iran<br />

Christen angegriffen und ermordet;<br />

die Kopten sind in Ägypten täglicher<br />

Unterdrückung ausgesetzt; Saudi Arabien<br />

unterbindet jegliche öffentliche<br />

Auslebung der christlichen Religion;<br />

und mehr und mehr Juden werden aus<br />

dem arabischen Mittleren Osten vertrieben.<br />

Oder Tel Avivs größter Busbahnhof.<br />

Tausende Afrikaner verschiedener Konfessionen,<br />

die legal (oder auch illegal)<br />

nach Israel kamen, können dort kostenlose<br />

medizinische Betreuung erhalten.<br />

Und zweifellos ist ihnen etwas bewusst,<br />

was Israels Kritiker geflissentlich<br />

ignorieren: Ihnen ist bewusst, dass sie,<br />

mit viel Glück, die Möglichkeit haben,<br />

sich in Israel ein neues Leben aufzubauen.<br />

Deshalb meiden sie auf der<br />

Flucht aus ihren Heimatstaaten all die<br />

arabischen Länder, denn dort würden<br />

sie nur Verfolgung und Gefängnis erwarten.<br />

Und während das winzige Israel<br />

sich fragt, wie viele solcher Flüchtlinge<br />

es noch aufnehmen kann, versorgen<br />

israelische Mediziner diese ehrenamtlich<br />

mit dem Allernötigsten.<br />

Auch von der israelischen Organisation<br />

„Save a Child s Heart“ („Rette ein<br />

Kinderherz“) hört man in den internationalen<br />

Medien nicht allzu viel, obwohl<br />

ihr eigentlich eine Nominierung<br />

für den Friedensnobelpreis zustehen<br />

würde. Kinder aus arabischen Staaten<br />

mit gravierenden kardiologischen Problemen<br />

– aus dem Irak, dem Westjordanland,<br />

aus Gaza uvm. – erhalten mit<br />

Hilfe dieser Organisation erstklassige<br />

medizinische Betreuung. Auch hier arbeiten<br />

die israelischen Ärzte, Krankenschwestern<br />

und -pfleger ehrenamtlich<br />

und bekräftigen so jeden Tag ihr Bekenntnis<br />

zu einer friedlichen Koexistenz<br />

zwischen Israelis und Arabern.<br />

Dennoch bleibt ihr Einsatz in vielen<br />

Fällen geheim oder ohne öffentliche<br />

Anerkennung, denn die arabischen<br />

Familien haben oft Angst zuzugeben,<br />

dass sie Hilfe in Israel gesucht haben.<br />

In Israel wird über alles und jeden debattiert<br />

und diskutiert, vor allem natürlich<br />

über den schier endlosen Konflikt<br />

zwischen Israelis und Palästinensern.<br />

Dazu gibt es eine Anekdote, die<br />

von einem Gespräch zwischen dem<br />

ehemaligen US-Präsidenten Harry<br />

Truman und Israels Präsident Chaim<br />

26 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


POLITIK • ISRAEL<br />

en?<br />

Weizmann, kurz nach Israels Staatsgründung<br />

1948, berichtet. Dam<strong>als</strong> hätten<br />

sie darüber diskutiert, wer von<br />

ihnen den härteren Job hätte und Truman<br />

meinte: „Bei allem Respekt, aber ich<br />

bin schließlich der Präsident von 140 Mio.<br />

Menschen.“ Da gab Weizmann ungerührt<br />

zurück: „Das mag wohl wahr sein,<br />

aber ich bin der Präsident von einer Mio.<br />

Präsidenten.“<br />

Egal ob es sich um politische Parteien,<br />

die Knesset, die Medien, die Zivilgesellschaft<br />

oder die Straße handelt, Israelis<br />

sind stets ausgesprochen durchsetzungsfähig,<br />

selbstkritisch, nachdenklich<br />

und vertreten eine breite Palette<br />

an Meinungen.<br />

Nun wird in Israel der durch eine Feuerkatastrophe<br />

zerstörte Wald von Carmel,<br />

bei der 44 Menschen starben,<br />

wieder aufgeforstet. Dort hatten die<br />

Menschen in Israel vor vielen Jahren<br />

aus einem Flecken unfruchtbaren, kargen<br />

Landes eine blühende Oase gemacht,<br />

hatten liebevoll einen Baum<br />

nach dem anderen eingepflanzt und<br />

das Unmögliche möglich gemacht.<br />

Heute ist Israel einer der ganz wenigen<br />

Staaten, die größere Waldflächen<br />

aufweisen <strong>als</strong> noch vor hundert Jahren<br />

– und das ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit.<br />

Mit Entschlossenheit und Mut verteidigt<br />

das israelische Volk seinen schmalen<br />

Streifen Heimat gegen jede erdenkliche<br />

Bedrohung – das wachsende<br />

Hamas-Arsenal in Gaza, die Raketen<br />

der Hisbollah im Libanon, die Vernichtungsdrohungen<br />

des nach Nuklearkraft<br />

strebenden Iran, Syriens Nähe zu den<br />

Hamas-Führern und die Waffenlieferungen<br />

an die Hisbollah; Feinde, die<br />

ohne mit der Wimper zu zucken Zivilisten<br />

<strong>als</strong> menschliche Schutzschilder<br />

missbrauchen.<br />

Oder auch die weltweite Kampagne,<br />

die Israel das Existenzrecht und ein<br />

Recht auf Selbstverteidigung absprechen<br />

will; die bizarre antizionistische<br />

Koalition zwischen der radikalen Linken<br />

und den islamistischen Extremisten;<br />

die Billigung und Befürwortung<br />

der haarsträubendsten Anschuldigungen<br />

gegen Israel durch eine zumindest<br />

numerische UNO-Mehrheit. Und den<br />

Unwillen oder die Unfähigkeit so vieler<br />

die immensen strategischen Herausforderungen<br />

zu verstehen, denen<br />

Israel sich stellen muss.<br />

Es sind ebenjene Israelis, die, nachdem<br />

sie 21 von Terroristen in einer Tel Aviver<br />

Diskotek ermordete Jugendliche<br />

begraben haben, ohne zu zögern ihre<br />

Armeeuniform anziehen um ihr Land<br />

zu verteidigen und noch im selben<br />

Atemzug laut herausschreien: „Sie<br />

werden uns trotzdem nicht vom Tanzen<br />

abhalten!“<br />

Deshalb bin ich stolz, mich für dieses<br />

Land einzusetzen. Nein, ich würde<br />

niem<strong>als</strong> behaupten wollen, dass Israel<br />

perfekt ist. Natürlich hat es seine Fehler<br />

und Schwächen – aber die hat jedes<br />

demokratische, liberale und um Frieden<br />

ringende Land, das ich kenne.<br />

Auch wenn andere sich nicht an jedem<br />

einzelnen Tag seit ihrer Gründung mit<br />

absolut existenzbedrohenden Gefahren<br />

auseinandersetzen mussten. Wie<br />

heißt es so schön? „Der Perfekte ist der<br />

Feind des Guten.“<br />

Israel ist ein gutes Land. Und wenn<br />

man es aus der Nähe betrachtet, nicht<br />

nur durch den Filter der Nachrichten<br />

von BBC oder The Guardian, vergesse<br />

ich auch niem<strong>als</strong>, warum.<br />

(David Harris ist Exekutiv-Direktor des American<br />

Jewish Congress und Senior-Mitarbeiter<br />

des St. Antony s College an der Universität<br />

von Oxford.)<br />

Mehrheit der Ostjerusalemer Araber würde Israel Palästina vorziehen<br />

Wenn Ostjerusalem international <strong>als</strong> Teil Israels anerkannt werden würde, und die arabischen<br />

Bewohner die Wahl hätten, in Israel oder einem neu gegründeten Palästinenserstaat<br />

zu leben, dann würde die Mehrheit von ihnen lieber im jüdischen Staat bleiben.<br />

Das ergab eine im <strong>Januar</strong> veröffentlichte Umfrage des US-amerikanischen Meinungsforschungsinstituts<br />

„Pechter Middle East Polls“ (PMEP).<br />

Befragt wurden über 1.000 Araber aus dem Ostteil Jerusalems. Nur rund ein Viertel der<br />

Teilnehmer würde in einen Palästinenserstaat umziehen, falls Ostjerusalem im Rahmen<br />

eines Friedensabkommens Teil Israels bleiben würde. 54% gaben an, sie würden dann<br />

weiterhin in Israel leben wollen. Falls ihr Stadtviertel Teil eines palästinensischen Staates<br />

werden würde, würden 40% versuchen, nach Israel zu ziehen, etwa 37% würden in Palästina<br />

bleiben. Als Begründung nannten die meisten Umfrageteilnehmer eine bessere<br />

Gesundheitsversorgung und bessere Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten in Israel.<br />

Im Ostteil Jerusalems leben rund 270.000 Araber, welche die israelische Staatsbürgerschaft<br />

haben. Sollte Ostjerusalem palästinensisch werden, gaben mehr <strong>als</strong> 70% an, sie<br />

würden in erster Linie den Verlust des Zugangs zur Al-Aksa-Moschee, zu ihrer Arbeitsstätte<br />

in Jerusalem und eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit in Israel fürchten. Der<br />

Wechsel vom israelischen zum palästinensischen Gesundheitssystem würde rund 68%<br />

der Befragten Sorge bereiten. Sollte der Stadtteil in den Händen Israels bleiben, würden<br />

sich mehr <strong>als</strong> 70% in erster Linie vor Diskriminierung fürchten. Über 66% würden sich<br />

darum sorgen, keinen Zugang mehr zu Land oder Freunden im Westjordanland zu haben.<br />

Mehr <strong>als</strong> 63% der Befragten hielten zudem eine weitere „Intifada“ für möglich, wenn kein<br />

Friedensabkommen zwischen Israelis und Palästinensern zustande kommen sollte.<br />

Die israelischen Araber wurden außerdem darüber befragt, wie zufrieden sie mit einzelnen<br />

Aspekten ihres Lebens in Ostjerusalem sind. Mit dem Zugang zur nächsten Möglichkeit<br />

zum Gottesdienst waren 69% zufrieden oder sehr zufrieden. Über 16% waren weder zufrieden<br />

noch unzufrieden und knapp 14% waren unzufrieden. Auch mit den Lehrern ihrer<br />

Kinder, der Strom- und Wasserversorgung, der Abfallwirtschaft, dem Zugang zu ihrem<br />

Arbeitsplatz und dem Gesundheitswesen war die Mehrheit zufrieden oder sehr zufrieden.<br />

Unzufrieden war die Mehrheit unter anderem mit der Höhe der Einkommenssteuer und<br />

den Schwierigkeiten beim Erlangen einer Baugenehmigung.<br />

inn<br />

Die vollständige Umfrage findet sich auf der Internetseite des Meinungsforschungsinstitutes PMEP.<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 27


WIRTSCHAFT • ISRAEL<br />

Georg Emprechtinger, Besitzer und Geschäftsführer<br />

des österreichischen Möbelherstellers<br />

Team 7 im Gespräch über<br />

die Eröffnung seines Shops „Phenomena“<br />

in Israel.<br />

Die Gemeinde: Herr Emprechtinger, Sie<br />

haben im Dezember in Israel ein Team 7-<br />

Geschäft eröffnet. Gehört das Ihrem Unternehmen,<br />

oder betreibt es ein israelischer<br />

Partner auf Franchise-Basis?<br />

Emprechtinger: Das macht ein israelischer<br />

Geschäftsmann, Memi Genosar.<br />

Er ist gemeinsam mit seiner Frau Mira<br />

auf einer Möbelmesse in Mailand auf<br />

uns gestoßen. Wir waren dann regelmäßig<br />

in Kontakt, er hat uns auch im<br />

Werk besucht und hat sich die Firma<br />

näher angeschaut, das Produkt kennen<br />

gelernt. Das hat den beiden so gefallen,<br />

dass sie gesagt haben, ok, aus<br />

dem könnte man in Israel etwas machen.<br />

WIRTSCHAFT<br />

Er importiert<br />

auch andere<br />

Möbel, oder ist er<br />

branchenfremd?<br />

Er ist eigentlich<br />

branchenfremd<br />

und kommt von der Software, hat in<br />

dem Bereich ein Unternehmen. Seine<br />

Frau ist näher an der Innenarchitektur,<br />

sie hat sich schon früher damit beschäftigt,<br />

aber nicht selbständig. Es<br />

wird ein Team 7-Geschäft, daneben<br />

gibt es noch einige ergänzende Produkte<br />

wie Deko-Materialien, Teppiche,<br />

Vasen oder Leuchten. Aber<br />

Küchen und Wohnmöbel kommen<br />

ausschließlich von Team 7, die Philosophie<br />

und das Grundkonzept der<br />

Marke werden wirklich lupenrein und<br />

sauber herüberkommen.<br />

Was sind ihre Erwartungen? Sie werden<br />

sicher Marktstudien gemacht haben und<br />

sich überlegt haben, wie Ihre Produkte<br />

dorthin passen, welche Konsumenten, welche<br />

Zielgruppen Sie dort erreichen können.<br />

Unsere Erwartungen sind hoch. In Tel<br />

Aviv ist etwas los, dort gibt es gutes<br />

Design, die Stadt pulsiert, erinnert<br />

mich an New York, da passen wir sehr<br />

gut hin. Nach unserer Einschätzung<br />

sind auch in Israel viele Kunden zu<br />

finden, die verstehen, was wir machen,<br />

natürlich auch wegen der kulturellen<br />

Verbindung nach Europa, die<br />

„Wir passen gut nach<br />

stark spürbar ist. Es sind die Themen<br />

Natur, Nachhaltigkeit, echtes Naturholz,<br />

und das verbunden mit zeitgemäßem<br />

Design und mit innovativer<br />

Technik. Und dann bieten wir noch<br />

Maßfertigung an, das heißt, Sie können<br />

in Israel exakt für Ihre jeweilige<br />

Wohnung planen und bestellen.<br />

Die Möbel werden aber in Österreich gebaut?<br />

Die Produktion ist in Österreich, in Tel<br />

Aviv wird es ausgebildete Monteure<br />

geben, die wir auch hier einschulen.<br />

Das heißt, der Kunde kauft nicht von der<br />

Stange?<br />

Bei uns gibt es gar nichts von der Stan -<br />

ge. Das ganze Unternehmen – mit rund<br />

600 Mitarbeitern – ist so aufgebaut,<br />

dass wir ausschließlich Auftrags-bezogen<br />

arbeiten, wie bei einem Tischler.<br />

Wenn Sie etwa einen Tisch bei uns bestellen,<br />

beginnen wir den vom Schnittholz<br />

weg für Sie zu produzieren, nicht<br />

auf Verdacht, sondern ganz gezielt.<br />

Da durch bieten wir ein sehr hohes<br />

Maß an Individualität an, das in der<br />

Branche eigentlich unüblich ist. Und<br />

wir benutzen nur Naturholz.<br />

Sie haben aber eine Plattenfabrik in Ungarn.<br />

Wir sitzen dort mitten im Erlen-Gebiet.<br />

Aber das sind keine Spanplatten, es<br />

handelt sich immer um Vollholz aus<br />

nachhaltiger Forstwirtschaft. Neben<br />

Erle gibt es andere Edelhölzer, etwa<br />

Nuss, Kirsche, Eiche, Buche oder<br />

Ahorn. Wir exportieren eigentlich eine<br />

sehr alte handwerkliche Kunst, verpacken<br />

diese aber in modernes Design<br />

und innovative Technik. Wir halten<br />

zahlreiche Patente und gewinnen im -<br />

mer wieder Designpreise.<br />

Israel war der jüngste Schritt Ihrer Internationalisierung.<br />

Sie sind ja auch in anderen<br />

Teilen der Welt vertreten?<br />

28 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


WIRTSCHAFT • ISRAEL<br />

Tel Aviv“<br />

❚<br />

Möbel mediterran<br />

Team 7 ist zwar der erste österreichische<br />

Möbelanbieter, der sich in Israel direkt an<br />

die Konsumenten wendet, aber schon steht<br />

ein weiterer in den Startlöchern: „Kika wird,<br />

so wurde uns erst kürzlich vom israelischen<br />

Franchisenehmer berichtet, im Sommer <strong>2011</strong><br />

das erste Möbelhaus in Israel eröffnen,“ erzählt Christian Lassnig, der<br />

österreichische Handelsdelegierte in Tel Aviv. Die größte und bisher einzige<br />

ausländische Möbelhandelskette in Israel ist Ikea mit zwei Möbelhäusern<br />

in Netanya und Rishon Lezion. Daneben gibt es einheimische<br />

Möbelhandelsketten, die auch eine breite Auswahl an ausländischer<br />

Markenware anbieten, besonders stark sind dabei die Italiener. „Generell<br />

sind traditionelle israelische Möbelhäuser aber weit kleiner <strong>als</strong> die in Österreich<br />

bekannten Kika/Leiner, Lutz oder andere“, weiß Lassnig.<br />

Er hofft, dass das Angebot von Kika in Israel auch österreichische Möbelmarken<br />

umfassen wird, „und dass sich die österreichischen Exporte in diesem<br />

Bereich markant erhöhen werden.“ Derzeit beträgt der Export von<br />

Möbeln, Möbelteilen und Lampen rund fünf bis sechs Mio. Euro pro Jahr.<br />

Da Israel auch eine eigene Möbelindustrie besitzt, gibt es darüber hinaus<br />

auch Zulieferungen. So liefern österreichische Firmen jährlich Möbelbeschläge<br />

im Wert von neun bis zehn Mio. Euro.<br />

Lassnig hat den Möbelmarkt in Israel beobachtet: „Generell kann gesagt<br />

werden, dass mit steigendem Lebensstandard auch mehr Geld für Möbel<br />

ausgegeben wird, vor allem zu den traditionellen Festen Pessach und Sukkot<br />

– da haben viele frei und daher kann die ganze Familie ins Möbelhaus pilgern.<br />

Der Geschmack der Israelis kann mit dem europäischen verglichen<br />

werden, möglicherweise einen Hauch mediterraner und moderner <strong>als</strong> jener<br />

in Österreich, vielleicht mehr italienisch. Die traditionelle österreichische<br />

Bauernstube wird hier wohl wenig Anklang finden.“ Team 7 und Kika räumt<br />

Lassnig auf dem israelischen Markt gute Chancen ein.<br />

Es gibt etwa Team 7-Geschäfte in Mia -<br />

mi, in Taipeh, in Budapest, auch jeweils<br />

mit einem lokalen Partner. In Deutschland<br />

und Österreich betreiben wir selbst<br />

Geschäfte, in Hamburg und München,<br />

in Wien haben wir erst im Jänner auf<br />

der Ringstraße einen Flagship-Store<br />

eröffnet.<br />

Und der überwiegende Teil ihrer Produktion<br />

geht in den Export?<br />

Aktuell liegt die Exportquote über 80<br />

Prozent.<br />

Sie haben die internationale Wirtschaftskrise<br />

erstaunlich gut gemeistert, Sie sind<br />

im Vorjahr um sieben Prozent gewachsen,<br />

während andere Unternehmen aus Branchen<br />

des gehobenen Konsums schwere<br />

Einbussen hinnehmen mussten. Worauf<br />

führen Sie das zurück?<br />

Ich glaube wesentlich ist, dass sich gerade<br />

in der Krise Menschen wieder auf<br />

wirkliche Werte besinnen, sich stärker<br />

die Frage stellen: Was hat wirklich Bestand,<br />

was ist etwas wert, wo macht es<br />

Sinn zu investieren? Das gerade nach<br />

den Enttäuschungen der Finanzwirtschaft.<br />

Auf solche Fragen haben wir<br />

gute Antworten: Wir bieten hochwertiges<br />

Material, hochwertige Handwerksarbeit,<br />

hochwertiges Design.<br />

Dann kommt noch die Maßanfertigung<br />

dazu, das ist einfach Wohnen vom<br />

Feinsten. Wenn Sie zu einem Tischler<br />

gehen, bekommen Sie oft einen Prototyp<br />

mit mittelmäßigem Design. Bei internationalen<br />

Herstellern mit<br />

schickem Design haben Sie das<br />

Problem, dass der überhaupt<br />

nicht auf Ihre Wünsche eingeht.<br />

Und vielfach bestehen<br />

die Möbel aus billigem Material,<br />

aus Spanplatten.<br />

Aber noch einmal zurück zu den wirtschaftlichen<br />

harten Fakten: Sie bewegen sich<br />

schon in einem gehobenes Preissegment,<br />

Sie brauchen <strong>als</strong>o kaufkräftige Kunden, die<br />

sich Ihre Produkte leisten können und nicht<br />

gerade in der Krise ihren Job verloren haben.<br />

Wir sind nicht extrem teuer, aber wir<br />

sind im gehobenen Nutzen-Niveau unterwegs.<br />

Im Gegensatz zu anderen Design-orientierten<br />

Anbietern verwenden<br />

wir eben auch hochwertige<br />

Materiali -<br />

en, das teure Holz<br />

alleine treibt schon<br />

den Preis. Aber wir<br />

haben<br />

eine sehr faire<br />

Kalkulation. Unser Preis-Leistungs-Verhältnis<br />

ist sehr gut.<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 29


WIRTSCHAFT • ISRAEL<br />

Das scheint von den Kunden auch in den<br />

letzten Jahren angenommen worden zu<br />

sein. Was sind ihre weiteren Ziele? Kräftiges<br />

Wachstum?<br />

Wir wollen weiter wachsen, wie schon<br />

vor der Krise geplant. Im Vorjahr lagen<br />

wir bei 69 Mio. Euro Umsatz, im Jahr<br />

2014 wollen wir die 100 Millionen-<br />

Schwelle erreichen.<br />

TEAM 7 ist im privaten Wohnbereich<br />

Pionier und internationaler Marktführer<br />

für Öko-Design-Möbel. Diese starke<br />

Position <strong>als</strong> Nischenweltmeister wollen<br />

wir konsequent weiter ausbauen.<br />

Wachstumschancen liegen sowohl im<br />

Ausbau der bestehenden Sortimentsbereiche<br />

<strong>als</strong> auch beim Gewinnen<br />

neuer Märkte. Unsere Kunden schätzen<br />

immer mehr die geballte Innenarchitekturkompetenz:<br />

für Küche, Essen<br />

und Wohnen einschließlich Home-Office,<br />

aber auch für Diele, Schlafen und<br />

Kinder- oder Jugendzimmer. Diese<br />

Entwicklung gilt auch für Tel Aviv.<br />

Sie haben sich auch bei Ihrem Einstand in<br />

Israel <strong>als</strong> Teil der Zivilgesellschaft vorgestellt,<br />

mit einer Spendenzusage für Opfer<br />

der Waldbrände im Norden des Landes.<br />

Es hat uns sehr betroffen, das war gerade<br />

kurz vorher passiert. Wir haben<br />

deshalb spontan ein Prozent des ersten<br />

Jahresumsatzes vom Unternehmen aus<br />

Österreich her <strong>als</strong> Spenden zugesagt,<br />

und ich glaube unser Partner dort legt<br />

noch einmal etwas dazu.<br />

Das Gespräch führte REINHARD ENGEL<br />

❚<br />

Der industrielle Tischler<br />

Das Unternehmen Team 7 feierte vor zwei Jahren<br />

sein 50jähriges Bestehen. Im Jahr 1959 kaufte der<br />

junge Tischlermeister Erwin Berghammer im oberösterreichischen<br />

Ried im Innkreis eine Tischlerei<br />

und machte sich selbständig. Anfang der 60er<br />

Jahre entwickelte er ein System von Schleiflack-Möbeln<br />

und Regalen. 1965 gab sich das Unternehmen den heutigen Namen: Team<br />

7 bezog sich auf die damaligen Führungskräfte. In den 60er Jahren wurde das<br />

Unternehmen mehrm<strong>als</strong> erweitert, neue Produktionshallen wurden errichtet.<br />

In den 80er Jahren schlitterte Team 7 in wirtschaftliche Probleme und musste<br />

sich neu orientieren, man setzte nun verstärkt auf Vollholz-Bio-Möbel, es ging<br />

wieder bergauf. 1985 zerstörte ein Großbrand einen Großteil des Betriebs. Anfang<br />

der 90er Jahre wurde wieder expandiert, mit dem Bau zweier Vollholz-Plattenwerke<br />

in Oberösterreich und in Ungarn. 1994 musste Team 7 seinen in Konkurs<br />

geratenen Küchenproduzenten Assmann auffangen, um weiterhin ein eigenes<br />

Küchenprogramm anbieten zu können. 1999 übernahm der heutige Besitzer<br />

Georg Emprechtiger vom Firmengründer Berghammer die Geschäftsführung und<br />

kaufte sukzessive die Firmenanteile auf, seit 2006 ist er Alleineigentümer.<br />

Team 7 erzielte im Jahr 2010 mit rund 600 Mitarbeitern einen Umsatz von 69<br />

Mio. Euro und zählt damit in Österreich zu den größten Möbelproduzenten.<br />

Memi Genosar<br />

(Store Tel Aviv),<br />

Georg Emprechtinger<br />

(geschäftsführender Eigentümer<br />

TEAM 7),<br />

Michael Rendi<br />

(österreichischer<br />

Botschafter in Israel),<br />

Mira Genosar<br />

(Store Tel Aviv),<br />

30 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


WIRTSCHAFT • ISRAEL<br />

TOURISMUS<br />

Israels größter Flughafen verzeichnet einen Rekord bei den Passagierzahlen.<br />

Mehr <strong>als</strong> 11 Mio. Menschen sind 2010 gezählt worden.<br />

Der Zuwachs am Ben-Gurion-Flughafen resultiert insbesondere aus<br />

dem boomenden Tourismus.<br />

Der Flughafendirektor Kobi Mor erwartet laut „Ha´aretz“ bis Ende<br />

2010 eine Zahl von 11,5 Millionen Passagieren. Parallel dazu rechnet<br />

die Tourismuswirtschaft dieses Jahr mit über 3,2 Millionen Urlaubern,<br />

was einem Zuwachs von 700.000 gegenüber 2009 entspräche. Der<br />

wachsende Tourismusstrom speist sich insbesondere aus den USA<br />

und Russland, aber auch aus Indien, Südkorea und Brasilien kommen<br />

immer mehr Reisende nach Israel.<br />

Israel plant für die Zukunft mit weiter wachsenden Touristenzahlen.<br />

Bis 2015 soll die Zahl der Hotelzimmer um 9.000 erweitert werden.<br />

@EPA/OLIVER WEIKEN<br />

Aus für die deutschsprachige Zeitung Israels ?<br />

Ende <strong>Januar</strong> soll die traditionsreiche<br />

deutschsprachige Wochenzeitung „Israel-Nachrichten“<br />

in Tel Aviv aus Kostengründen<br />

eingestellt werden. Das<br />

sehen überraschende Planungen des<br />

herausgebenden Verlages vor, von<br />

denen die Internationale Medienhilfe<br />

(IMH), die Arbeitsgemeinschaft der<br />

deutschsprachigen Medien weltweit,<br />

jetzt erfahren hat.<br />

Die „Israel-Nachrichten“ sind die bedeutendste<br />

mediale Brücke zwischen<br />

Israel und Deutschland. Ein Verschwinden<br />

wäre ein tragischer Verlust. Die<br />

Zeitung ist eine einzigartige Informationsquelle<br />

für Deutschsprachige im<br />

„Heiligen Land“ und für Israel-Interessierte<br />

in der Bundesrepublik.<br />

Bis ins Jahr 1935 reicht die Geschichte<br />

des Wochenblatts. Die Auflage übertraf<br />

zeitweise die der meisten anderen<br />

Zeitungen Israels. Zu den Kolumnisten<br />

gehörten so berühmte Schriftsteller wie<br />

Max Brod und Arnold Zweig. Auch in<br />

jüngerer Zeit gab es bekannte Autoren<br />

wie beispielsweise den Journalisten<br />

Henryk Broder. Von 1975 bis 2007 war<br />

die renommierte Alice Schwarz-Gardos<br />

Chefredakteurin der „Israel-Nachrichten“.<br />

Für ihre fast übermenschliche<br />

Arbeit <strong>als</strong> Zeitungsmacherin bekam sie<br />

das deutsche Bundesverdienstkreuz.<br />

Gegründet wurde die Zeitung für aus<br />

Deutschland nach Israel einwandernde<br />

Juden. Die Ausrichtung auf diese Zielgruppe<br />

hat sich bis heute kaum geändert.<br />

Da diese Bevölkerungsgruppe<br />

aber stark schrumpft, ist auch die Auflage<br />

gesunken. Nun ist eine Marke erreicht,<br />

die den Verlag zum Handeln<br />

zwingt.<br />

„Dass unsere Mitgliedszeitung aber gleich<br />

dichtgemacht werden soll, ist sehr verwunderlich,<br />

da sie noch ein großes Potenzial<br />

hat“, erklärt Björn Akstinat, leitender<br />

Koordinator der IMH und Deutschland-Vertreter<br />

des Wochenblatts. „Es<br />

wurde noch kaum versucht, die vielen tausend<br />

deutschsprachigen Touristen, Geschäftsleute<br />

und Sprachschüler in Israel<br />

<strong>als</strong> Leser zu gewinnen. Nach einer Neu-<br />

Ausrichtung könnte die Zeitung wieder<br />

rentabel laufen. Ich kann nicht prognostizieren,<br />

ob unter diesem Zeitdruck eine Rettungsaktion<br />

noch möglich ist, aber wir werden<br />

es zumindest probieren“, führt Akstinat<br />

weiter aus.<br />

Weitere Informationen:<br />

Arbeitsgemeinschaft<br />

Internationale Medienhilfe (IMH)<br />

Deutschland-Vertretung der<br />

„Israel-Nachrichten“ - Büro Berlin<br />

Postfach 35 05 51, D-10214 Berlin<br />

Tel.: 030-5673-1559<br />

berlin@medienhilfe.org<br />

www.medienhilfe.org<br />

www.deutschsprachig.de<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 31


WISSENSCHAFT • ISRAEL<br />

WISSENSCHAFT<br />

Hoffnung für Alzheimer-Patienten -<br />

Das von der Jerusalemer Tagesklinik<br />

Melabev entwickelte Computerprogramm<br />

SAVION hilft Menschen im<br />

Anfangs- und fortgeschrittenen Stadium<br />

von Alzheimer. In der Studie der<br />

Ben-Gurion-Universität (Negev) wurde<br />

nachgewiesen, dass die wöchentliche<br />

Anwendung der Software für zweimal<br />

30 Minuten schon nach 4 Wochen bei<br />

Alzheimer Patienten eine deutliche<br />

Verbesserung des Gedächtnisses, der<br />

Sprachfähigkeit und der Wahrnehmung<br />

der Umgebung bewirkt. Die Software<br />

kann in hebräischer, englischer und<br />

griechischer Sprache gekauft werden.<br />

Hornissen<br />

erzeugen Strom<br />

Die orientalische<br />

Hornisse (Vespa<br />

orientalis) gräbt sich<br />

gerne je nach Stand<br />

der Sonne in Erdhöhlen<br />

ein. Dass sie<br />

dabei Strom erzeugt, war bisher unbekannt.<br />

Marian Plotkin von der Universität<br />

Tel Aviv und seine Kollegen der<br />

Bar-Ilan University haben nun durch<br />

Untersuchung der Panzerstruktur der<br />

Hornissen nach- gewiesen, dass das<br />

Pigment Xanthopterin wieeine Solarzelle<br />

funktioniert und eine Spannung<br />

von ~0,5 Volt bei einem geringem<br />

Stromfluss erzeugt.<br />

Dem Internet verfallen - Nach Kanada<br />

stehen die Israelis an zweiter Stelle<br />

weltweit in der Benutzung des Internets<br />

mit 2.300 Minuten im Monat, insgesamt<br />

<strong>als</strong>o fast 42 Stunden. Bei den<br />

Kanadiern sind es gar 2.500 Minuten.<br />

Schlafapnoe und Gefäßstarre - Watch<br />

Pat diagnostiziert nächtliche Atemaussetzer,<br />

Schlafapnoe, und wird am<br />

Hand gelenk getragen. Endopat misst<br />

die Fähigkeit der Blutgefäße am Finger,<br />

sich bei einer Erhöhung des Blutflusses<br />

zu erweitern. Je geschmeidiger<br />

und gesünder ein Gefäß ist, desto eher<br />

passt es sich dem Blutfluss an. Mit zunehmender<br />

Starrheit verlieren die Gefäße<br />

diese Anpassungsfähigkeit, ein<br />

Vorzeichen für Arteriosklerose. Endopat<br />

wurde <strong>als</strong> eine der neun größten medizinischen<br />

Durchbrüche des Jahres<br />

2009 ausgezeichnet.<br />

Osteoporose-Medikament - Das Medikament<br />

ViaDerm-hPTH(1-34) zur Behandlung<br />

von Osteoporose (Knochenschwund)<br />

wurde in der Phase 1 und<br />

2a der klinischen Tests <strong>als</strong> erfolgreich<br />

eingestuft. Die Firma TransPharma Medical<br />

Ltd. bietet hierzu auch das Gerät<br />

ViaDerm zur Selbstverabreichung von<br />

Medikamenten über die Haut (ohne<br />

Spritze).<br />

Wissenschaftlicher „Ritterschlag“ -<br />

Präsident Obama verleiht dem israelischen<br />

Physiker Prof. Yakir Aharonov die<br />

Nationale Medaille für Wissenschaft<br />

der USA. Damit werden sein Beitrag<br />

zur Quantenphysik und seine Lebensleistung<br />

gewürdigt. Der gebürtige Hai -<br />

faer ist für den Aharonov-Bohm Effekt<br />

bekannt, ein Meilenstein der modernen<br />

Physik.<br />

Blavatnik Awards<br />

Unter den zwölf Preisträgern des prestigeträchtigen<br />

Blavatnik Preises sind<br />

Yaron Lipmann (33) aus Tel Aviv, derzeit<br />

Postdoktorat-Wissenschaftler in der<br />

Abteilung Angewandte und Computer-Mathematik<br />

an der Princeton University,<br />

Daniela Schiller (37), auch Tel<br />

Aviv, Postdoktorat-Forscherin an der<br />

New York University und Michal Lipson<br />

(40) aus Haifa, außerordentliche Professorin<br />

an der Cornell-University. Sie<br />

wurden mit dem hochdotierten Preis<br />

der für ihre interdisziplinären Leistungen<br />

gewürdigt.<br />

Math4Mobile - Mit wird Mathe für<br />

Schüler verständlicher. Sie erbringen<br />

überdurchschnittliche Leistungen. Das<br />

Programm revo- lutionierte den<br />

Mathe-Unterricht der Klassen 7-12.<br />

Dafür wurde Prof. Michal Yerushalmy,<br />

Direktorin des Forschungs- instituts<br />

für alternative Unterrichtsmethoden<br />

der Universität Haifa, mit dem hochdotierten<br />

Eddie-Preis gewürdigt. Die<br />

Unterrichtsmethode erweist sich in<br />

Südafrika und Südamerika <strong>als</strong> Hit. Ein<br />

Pilotprojekt wird derzeit auch an israelisch-arabischen<br />

Schulen geprobt.<br />

Spielen mit Kincet - Login per Gesicht,<br />

Hand- und Armbewegung zur<br />

Kommunikation mit dem PC anstelle<br />

von Maus und Tastatur - all das setzt<br />

Microsoft in neuen Spielen des Kinect-<br />

Systems ein. Funktionieren tut dies<br />

dank des Primesensors der israelischen<br />

Firma Primesense. Der Sensor<br />

arbeitet mit einer Infrarotquelle, analysiert<br />

die Lichtreflektionen und ordnet<br />

jeder Bewegung einen räumlichen<br />

Tiefenwert im dreidimensionalen<br />

Raum zu. http:// www.primesense.com/<br />

51 Batteriewechselstationen für Israel<br />

Als Vorbild für zukünftige Systeme in<br />

anderen Ländern werden Baran Group<br />

und Better Place (USA) im Jahr <strong>2011</strong><br />

insgesamt 51 schlüsselfertige Batteriewechselstationen<br />

für Elektroautos in<br />

Israel installieren. Moshe Kaplinski,<br />

CEO von Better Place in Israel sagte:<br />

„Durch Batterietausch die Reichweite eines<br />

Elektroautos zur erhöhen, gehört zu den<br />

fortschrittlichsten Technologien weltweit.“<br />

Painkiller Soja - Sojaprotein kann<br />

chronische Schmerzen lindern und sie<br />

sogar vermeiden. Zu dieser Erkenntnis<br />

kam Dr. Yoram Shir, seit 2002 Leiter der<br />

Schmerzklinik der McGill University<br />

in Kanada. Er testet die Hypothese, ob<br />

Sojaprotein vor der OP eine schmerzlindernde<br />

Wirkung bei Frau en mit<br />

Brustkrebs haben kann.<br />

Thrombose-Prophylaxe - Eine israelische<br />

Firma entwickelte ein Gerät, das<br />

mit Hilfe einer Art Pumpe für die Beschleunigung<br />

des Blutflusses in den<br />

Venen sorgt. Dies ist insbesondere nach<br />

OPs angesichts der Gefahr von Blutgerinnsel<br />

(Thrombosen) lebenswichtig.<br />

Die bei der Fachzeitschrift veröffentlichten<br />

Ergebnisse der klinischen Studie<br />

belegen die effiziente Wirkung des Gerätes.<br />

Somit könnte man in Zukunft<br />

auf den riskanten Einsatz der Blutverdünnungsmedikamente<br />

nach einer OP<br />

verzichten.<br />

Vav1 - ein böses Gen - Bereits vor einigen<br />

Jahren entdeckte Dr. Shulamit<br />

Katzav-Shapira das Krebs verursachende<br />

Gen Vav1 (Hebr. sechs). In einer aktuellen<br />

Studie konnten sie und ihre Kollegen<br />

von der in Jerusalem nachweisen,<br />

dass das mutierte Gen an vielen Formen<br />

von Krebserkrankungen beteiligt ist,<br />

darunter Pankreas- und Lungenkrebs<br />

sowie Neuroblastom. Aufgrund dieser<br />

neuen Erkenntnisse, die im Journal of<br />

Biological Chemistry veröffentlicht wurden,<br />

kann mit einer gezielten Therapieforschung<br />

begonnen werden.<br />

Pflaster gegen Akne - Das spezielle<br />

Polymer der israelischen Firma könnte<br />

die ultimative Antwort auf Akne sein.<br />

Die Substanz erzeugt ein Energiefeld,<br />

das Bakterien, Viren und Pilze zerstört,<br />

für Menschen hingegen völlig harmlos<br />

ist. Ein Pflaster mit der Substanz wird<br />

über Nacht auf die betroffene Stelle<br />

aufgetragen. Kein Rezept wird benötigt<br />

und in den meisten Fällen reichen<br />

schon 24 Stunden für die vollständige<br />

Behandlung. Ab <strong>2011</strong> Jahr in Israels<br />

Apotheken zu erhalten. Etwa ein Jahr<br />

später auch in den USA und Europa.<br />

32 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


WISSENSCHAFT • ISRAEL<br />

180 000 Palästinenser werden jährlich<br />

in israelischen Krankenhäusern behandelt.<br />

Die medizinische Behandlung<br />

der palästinensischen Bevölke rung gilt<br />

in Israel <strong>als</strong> selbstverständlich und „ist<br />

für jeden von uns eine moralische und<br />

professionelle Verpflichtung“, wie der<br />

kommandierende Offizier der medizinischen<br />

Dienste des IDF, Oberstleutnant<br />

Michael Kassirer, bei einer Fach -<br />

tagung in Jerusalem sagte.<br />

Energisch. Unabhängig. - In Energiefragen<br />

früher noch auf das Ausland<br />

angewiesen, heute Exporteur: Die Erdgasproduktion<br />

von US$ 1 Mrd. in 2010<br />

ver sechsfacht sich bis 2016 auf 6 Mrd.<br />

- das werden 2,4% des Bruttoinlandsprodukts<br />

sein. Die Energieversorgung<br />

in Israel ist damit für die nächsten 40<br />

Jahre sichergestellt.<br />

Dezimierte Photos - Ein Bild kann<br />

1.000 Worte wert sein, im Internet wiegt<br />

es Tausende Kilobytes. 20 Prozent des<br />

Internet-Verkehrs wird durch Bilddateien<br />

belastet. Meir Kollman kann mit<br />

seiner Hipix An wendung Bilder auf<br />

ein Mindestmaß stutzen, ohne ihre<br />

Qualität zu mindern. Mit dem H.264<br />

Video Codec und einem patentierten<br />

Algorithmus lassen sich mit Hipix die<br />

herkömmlichen digitalen Bilder im<br />

JPEG-Format um 80 Prozent verkleinern.<br />

Kollmans Technik stößt in Japan<br />

und in Korea auf großes Interesse.<br />

Gegen Malaria - Eine neue Methode<br />

zur Bekämpfung der Malariaübertragenden<br />

Moskitos, die an der in Jerusalem<br />

entwickelt wurde, erwies sich<br />

bei einem Versuch im afrikanischen<br />

Mali <strong>als</strong> erfolgreich. Durch Anwendung<br />

eines toxischen zuckerhaltigen<br />

Köders konnten die Forscher, die in<br />

Kooperation mit US-Kollegen arbeiten,<br />

eine signifikante Reduktion der<br />

Moskito-Population nachweisen.<br />

Die Solarenergie in Israel soll ausgebaut<br />

werden. Die Regierung plant in<br />

der Negev-Wüste mehrere neue Sonnenkraftwerke<br />

mit einer Kapazität von<br />

50 Megawatt. Bis zum Jahr 2020 sollen<br />

zehn Prozent des Gesamtbedarfs durch<br />

erneuerbare Energien gedeckt werden.<br />

Innovative Hautkrebsdiagnostik -<br />

Die Technologie der israelischen Firma<br />

Skin Cancer Scanning (SCS) ermöglicht<br />

die Entdeckung von bösartigen<br />

Leberflecken früher und präziser <strong>als</strong><br />

bisherige Methoden. In klinischen Versuchen<br />

konnte der Prototyp aus Glasfaser-Kabel<br />

im Rabin Medical Center<br />

in Petah Tikva mit bis zu 92 prozentiger<br />

Treffsicherheit einen Hautkrebstyp<br />

im frühen Stadium feststellen.<br />

Haare geben wichtige Informationen<br />

Der israelisch-kanadische Forscher Dr.<br />

Gideon Koren hat in einer Langzeitstudie<br />

das Steroid-Hormon Cortisol <strong>als</strong> neuen<br />

Biomarker für Herzanfälle identifiziert.<br />

In der Studie wies er nach, dass der<br />

Cortisolspiegel im Haar proportional<br />

zum Haarwuchs zunimmt und dieser<br />

<strong>als</strong> zuverlässiger Maßstab zur Bestimmung<br />

von individuellen Streßsituationen<br />

herangezogen werden kann. Im<br />

Vergleich zu den konventionellen Blutund<br />

Urintests kann mit dieser Methode<br />

ein längerer Zeitraum ausgewertet<br />

werden.<br />

Effiziente Krebsdiagnostik - Forscher<br />

des Technion in Haifa entwickelten<br />

einen einfachen Bluttest, mit dem man<br />

eine Vielzahl von Erkrankungen - darunter<br />

auch Krebs - diagnostizieren<br />

kann. Anders <strong>als</strong> bisherige Verfahren<br />

kann der neue Test zwischen gesunden<br />

und erkrankten Zellen unterscheiden<br />

und zusätzlich zwischen verschiedenen<br />

Arten von Krebserkrankungen dif -<br />

ferenzieren. Die Entwicklung wurde<br />

in PNAS (Proceedings of the National<br />

Academy of Sciences) veröffentlicht.<br />

Hilfe bei Makuladegeneration - Op-<br />

Regen bietet Hoffnung für Millionen<br />

von Menschen, die an altersbedingter<br />

Makuladegeneration - der Hauptursache<br />

für Erblindung bei Erwachsenen<br />

über 50 - erkrankt sind. Das Stammzellen-Produkt<br />

entwickelten Prof. Benjamin<br />

Reubinoff, Leiter des Human Embryonic<br />

Stem Cell Research Center<br />

und Prof. Eyal Banin, Direktor des Center<br />

for Retinal and Macular Degeneration<br />

am Hadassah Medical Center in<br />

Jerusalem. Vor einigen Wochen wurden<br />

Lizenzverträge mit Teva unterschrieben,<br />

zwecks Weiterentwicklung und<br />

Vermarktung von OpRegen.<br />

Standfest mit Brille - Der Virtual Walker<br />

der israelischen Firma Medigait sieht<br />

nur aus wie eine Sci-Fi-Brille. Seine<br />

Funktion erlaubt Menschen mit Gleichgewichtsproblemen<br />

sicheres Ge hen.<br />

Eine Kontrolleinheit, die am Gürtel getragen<br />

wird, unterstützt die Patienten<br />

bei der Stabilisierung des Gleichgewichts<br />

durch ein audiovisuelles Trainingsprogramm.<br />

Hoffnung für Kinder mit Leukämie-<br />

Forscher der Tel Aviver Universität<br />

konnten einen engen Zusammenhang<br />

zwischen einer Mutation des JAK2-<br />

Proteins und der Leukämie im Kindesalter<br />

nachweisen. Diese Mutation führt<br />

bei Erwachsenen zur „Polyzythämie“.<br />

Diese gefährliche Erkrankung des<br />

Knochenmarks kann ohne Chemotherapie<br />

(!) mit dem JAK2-Inhibitator behandelt<br />

werden.<br />

Herz-Frühwarnsystem - Nur 15 Minuten<br />

braucht das EndoPAT, um eventuelle<br />

Herzerkrankungen festzustel -<br />

len. Das innovative Gerät der israelischen<br />

Firma Itamar Medical misst an<br />

beiden Zeigefingern die Elastizität der<br />

Arterien und zeichnet die Daten auf.<br />

Anders <strong>als</strong> die herkömmliche Diagnose<br />

per Ultraschall erstellt EndoPAT<br />

eine verblüffend genaue Prognose über<br />

die weitere Entwicklung der Arterien.<br />

Ein Blick in die Arterien - Forscher<br />

der Tel Aviver Universität entwickelten<br />

eine neuartige Technik, um Prozesse<br />

in den Arterien vor, während und<br />

nach der Nahrungsaufnahme zu visualisieren.<br />

Mit dieser Technik konnten<br />

sie einen engen Zusammenhang zwischen<br />

kohlenhydrathaltiger Nahrung<br />

und Herzkrankheiten nachweisen:<br />

Nahrungsmittel mit einem hohen glykämischen<br />

Index verursachen eine<br />

Ausdehnung der Arterien für einige<br />

Stunden.<br />

Steinzeit-Tuberkulose - Erstm<strong>als</strong> gelang<br />

es einem Team israelischer und<br />

britischer Forscher, genetisch festzustellen,<br />

woran Menschen vor ca. 9000<br />

Jahren gestorben waren. Überreste der<br />

Toten wurden in einer versunkenen<br />

Grabstätte vor der Küste Israels gefunden.<br />

Die Todesursache war Tuberkulose<br />

–der Beweis, dass die Krankheit<br />

in der Jungsteinzeit nicht vom Tier auf<br />

den Menschen übersprang, sondern<br />

sich über einen langen Zeitraum hinweg<br />

parallel entwickelte. www.wissenschaft.de/wissenschaft/news<br />

Lasertechnik ohne Narben - Forschern<br />

der Tel Aviver Universität unter Leitung<br />

von Prof. Abraham Katzir entwickelten<br />

die CO2 – Lasertechnik entscheidend<br />

weiter. Wunden können jetzt<br />

ohne Narben verschlossen werden. Anders<br />

<strong>als</strong> bisher können nun die exakten<br />

Temperaturen eingestellt werden, die<br />

für eine optimale Wundheilung erforderlich<br />

sind – sowohl auf der Haut<br />

und an Geweben <strong>als</strong> auch an den inneren<br />

Organen.<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 33


JÜDISCHE WELT • INLAND<br />

Paul Gulda:<br />

„Tiefe Wurzeln,<br />

reiches Erbe“<br />

Gulda, Loew, Torberg:<br />

Gegensätze und Einklang<br />

JÜDISCHE WELT<br />

© R.Engel<br />

Paul Gulda, Jahrgang 1961, ist der zweitälteste<br />

Sohn von Friedrich Gulda und<br />

Paola Loew. Er feiert seit 1982 große Erfolge<br />

<strong>als</strong> Pianist, sowohl mit Soloauftritten<br />

<strong>als</strong> auch mit namhaften Orchestern<br />

unter berühmten Dirigenten. Paul Gulda<br />

komponiert und dirigiert seit 1995 und<br />

beschäftigt sich darüber hinaus mit sehr<br />

unterschiedlichen musikalischen Projekten:<br />

Eines davon ist „Haydn alla Zingarese“<br />

(Ein Zusammenspiel von<br />

klassischen Musikern mit einer Roma-<br />

Banda); ein anderes sind Konzerte mit<br />

Oberkantor Shmuel Barzilai.<br />

GEMEINDE: Sie führen derzeit viele Interviews<br />

mit berühmten Kollegen, Weggefährten<br />

Ihres Vaters, Friedrich Gulda. Jetzt<br />

werden Sie <strong>als</strong> eigenständiger Künstler<br />

und Komponist von uns interviewt, wie<br />

fühlt man sich da?<br />

Gulda: Ich fühle mich sehr im Einklang,<br />

musikalisch geantwortet. Anders<br />

gesagt, ohne meinen Vater gäbe<br />

es mich nicht, und nicht so, wie ich<br />

bin. Ja, es handelt sich um ein Buchprojekt,<br />

bei dem ich mich nicht unter<br />

Zeitdruck setze. Andererseits soll es<br />

doch keine endlose Arbeit werden.<br />

Denn das ist nur ein Teil von mir,<br />

wenn auch ein sehr wesentlicher.<br />

An der Legende Friedrich Gulda erhitzen<br />

sich auch heute noch die Gemüter. Der<br />

Verlag für den Sie die Biographie verfassen,<br />

schreibt über ihn: „Genie und Exzentriker,<br />

das Leben und Denken eines<br />

kompromisslosen Künstlers“. Wie würden<br />

Sie Ihren Vater beschreiben? Fangen wir<br />

mit der künstlerischen Seite an.<br />

Mein Vater war ein Mensch, der den<br />

großen Meistern gegenüber sehr respektvoll<br />

war, gleichzeitig von einem<br />

unbändigen Willen zur Selbstentdeckung<br />

beseelt. Das ist nur scheinbar<br />

ein Widerspruch. Er war jemand, der<br />

sich den Werten und Worten der Großen<br />

unterordnen konnte und sich<br />

trotzdem die Freiheit genommen hat,<br />

eigene Gedanken im heute und jetzt<br />

zu formulieren.<br />

Wie schwierig war es für ein begabtes Kind,<br />

das schon mit acht Jahren Klavier spielte,<br />

bei so einem Übervater zu bestehen?<br />

Dam<strong>als</strong> hat mein Vater nicht bei uns<br />

zuhause gelebt und daher habe ich<br />

den möglicherweise dämpfenden Einfluss<br />

des Übervaters wenig erlebt. Von<br />

meiner Mutter, sowie meiner Erzieherin<br />

habe ich sehr viel Ermutigung erfahren.<br />

Ein gütiges Schicksal hat mich<br />

davor bewahrt, zu früh und zu viel<br />

davon zu sehen und zu verstehen, was<br />

mein Vater schon alles gemacht hatte,<br />

vielleicht hätte ich sonst den Mut verloren.<br />

Aber durch seine Abwesenheit<br />

war ich diesem Einfluss nicht ständig<br />

ausgesetzt.<br />

Ihre Mutter, Paola Loew, die berühmte<br />

Burgschauspielerin, hatte jüdische Wurzeln.<br />

Sie beschäftigen sich schon längere<br />

Zeit mit Ihrer Familiengeschichte. Was<br />

haben Sie alles entdeckt?<br />

Es ist typisch für einen Mitteleuropäer,<br />

dass seine Wurzeln in viele Richtungen<br />

reichen. Auf väterlicher Seite reichen<br />

diese teilweise nach Mähren,<br />

aber auch nach Eisenstadt. Ob es da irgendwo<br />

in der Familiengeschichte der<br />

Guldas jüdische Verbindungen gab,<br />

wissen wir nicht. Es gab ja das Missverständnis,<br />

insbesondere <strong>als</strong> mein<br />

Vater angefangen hat, das Kapperl zu<br />

tragen, er sei ebenfalls Jude gewesen.<br />

Es ist nicht nachweisbar, kann aber auch<br />

einige Generationen zurückliegen.<br />

Mein Großvater mütterlicherseits war<br />

ein in Zagreb geborener K.u.K-Jude,<br />

sein Vater wiederum war aus Wien gebürtig<br />

und seine Mutter stammte aus<br />

34 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


JÜDISCHE WELT • INLAND<br />

einer ungarisch-jüdischen Familie, in<br />

der es sogar einen Synagogen-Kantor<br />

gegeben hat. Das hat mich dann besonders<br />

berührt, <strong>als</strong> ich vor wenigen<br />

Jahren angefangen habe, mit Shmuel<br />

Barzilai ab und zu aufzutreten.<br />

Wann haben Sie von den jüdischen Vorfahren<br />

mütterlicherseits erfahren?<br />

So etwa mit acht oder neun Jahren. Religion<br />

war zwar kein Thema in diesem<br />

Künstler-Haushalt, aber ich bin katholisch<br />

getauft und durch meine Erzieherin<br />

bin ich auch dabei geblieben. Aber<br />

Religion wäre ein eigenes The ma, das<br />

ist heute nur eine Fußnote.<br />

Dass es jüdische Wurzeln gibt, wurde<br />

mir bewusst, <strong>als</strong> meine Mutter unter<br />

dem Einfluss ihres Lebenspartners<br />

Friedrich Torberg, in den späten sechziger<br />

Jahren begonnen hat, sich mit<br />

dem Thema zu beschäftigen. Sie hat<br />

sogar kurz eine Auswanderung nach<br />

Israel erwogen und begonnen, Hebräisch<br />

zu lernen. Plötzlich haben sich die<br />

Bücher zum Judentum in der Wohnung<br />

vermehrt. Und ich sehe mich noch,<br />

wie ich mit 10 <strong>als</strong> erstes Buch zu diesem<br />

Thema Eli Wiesels Die Nacht zu begraben,<br />

Elischa gelesen habe. Das Bewusstsein<br />

dieser Wurzeln hat mich seither nie<br />

wieder verlassen. Seit meiner Beschäftigung<br />

mit dem Thema Rechnitz* ist es<br />

stärker unterstrichen, und ich stehe<br />

klar dazu.<br />

*Fußnote: Paul Gulda ist Vorstand des Vereins,<br />

der sich um die Aufklärung des Massakers von<br />

Rechnitz bemüht. Am 24./25. März 1945 wurden<br />

um die 200 jüdisch-ungarische Zwangarbeiter<br />

in Rechnitz/Burgenland ermordet.<br />

Paola Loew musste mit ihrer Familie 1938<br />

flüchten?<br />

Ja, die Großeltern mit meiner Mutter<br />

und meinem Onkel sind 1938 von Italien<br />

nach Südamerika emigriert. Mein<br />

Großvater ist gestorben, <strong>als</strong> ich 18 war,<br />

und so hat er mir noch einiges erzählen<br />

können. Er hatte eine Katholikin<br />

aus Bologna geheiratet, trotzdem war<br />

Religion kein Thema. Die Großeltern<br />

und ihre besten Freunde waren Juden<br />

aus Rom, die emigriert waren und zurückgekommen<br />

sind, man hat sich in<br />

diesen Kreisen bewegt und das ganz<br />

natürlich.<br />

Was war Friedrich Torberg für Sie?<br />

Das persönliche Verhältnis zu ihm<br />

könnte man mit dem Wort Wahlonkel<br />

relativ treffend beschreiben. So habe<br />

ich ihn empfunden. Sehen Sie, ich war<br />

dam<strong>als</strong> vielleicht ein altkluges Kind<br />

aber kein denkend frühreifer Teenager.<br />

Die Präsenz solcher Schwergewichte<br />

wie Friedrich Gulda oder<br />

Friedrich Torberg wurde einfach akzeptiert<br />

- mit dem was sie an geistigem<br />

Gepäck mitgebracht haben. Ich<br />

war dam<strong>als</strong> keineswegs in der Lage,<br />

mich zu fragen, was deren Präsenz für<br />

mein Leben bedeutet. Das ist erst viel<br />

später gekommen.<br />

Alle Geschichten, die Torberg erzählt<br />

hat und alle Dinge, die er gesagt, sind<br />

aus einem jüdischen Blickwinkel gekommen,<br />

daher war es auch nicht notwendig<br />

extra nachzufragen. Es war<br />

einfach selbstverständlich.<br />

Diese Begegnung hat Sie aber auch sehr<br />

geprägt, oder?<br />

Ja, besonders im Sprechen und Schreiben.<br />

Nachzufragen, was es für mein<br />

Leben bedeutet, darauf bin ich erst viel<br />

später gekommen. Vielleicht steckt da<br />

eine gewisse Logik dahinter: Erst<br />

nachdem die physische Existenz dieser<br />

Menschen erloschen war, denn solange<br />

sie da waren, haben sie durch ihr<br />

Dasein die Fragen selbst beantwortet.<br />

Was gab bei Ihnen persönlich den Ausschlag<br />

sich mit zeitgeschichtlichen Themen zu befassen?<br />

Der politische Auslöser waren die Waldheim-Jahre:<br />

1984 habe ich mein Studium<br />

bei Rudolf Serkin in USA begonnen.<br />

Von dort aus habe ich die Waldheim-Debatte<br />

verfolgt; ich kam dann<br />

aus Amerika zurück, ohne dort besonders<br />

politisiert worden zu sein, aber<br />

die zwei Jahre im Ausland müssen<br />

den Blick verändert haben. Denn ich<br />

registrierte sehr deutlich, dass die<br />

Art, wie sich die österreichische, insbesondere<br />

die offizielle Öffentlichkeit<br />

mit diesem Gedenken befasst, zu oberflächlich<br />

ist. In der Folge, habe ich<br />

dann einen politisch sehr links engagierten<br />

Menschen kennen gelernt. Er<br />

war Burgenländer und hat mir dann<br />

von den Ereignissen in Rechnitz erzählt<br />

und wie vieles dort noch unter<br />

der Oberfläche vergraben ist. Das war<br />

im Jahr 1990/91, da hat er schon mit<br />

anderen Freunden daran gearbeitet,<br />

dieses Schweigen zu brechen. Das war<br />

die Zeit <strong>als</strong> Gauleiter Portschy dort<br />

noch <strong>als</strong> angesehener Mann gelebt hat<br />

und bei FPÖ-Parteitagen seine unsäglichen<br />

Reden gehalten hat, bis er dann<br />

„hinausgetreten“ wurde.<br />

Das war dam<strong>als</strong> mein großes Aha-Erlebnis,<br />

dass so etwas in Österreich<br />

möglich ist: Ich kannte ja dieses Lebensgefühl<br />

am Land durch meine Erzieherin<br />

und ich wusste, dass das alles<br />

nicht nur in einer anonymen Großstadt<br />

wie in Wien z.B. mit rund 200.000<br />

Juden geschehen ist, sondern in einem<br />

kleinen Dorf, in dem jeder jeden<br />

kennt. Da habe ich beschlossen, mich<br />

dort einzubringen. Und nicht deshalb,<br />

weil mein Ururgroßvater ein jüdischer<br />

Kantor aus Siebenbürgen oder meine<br />

Urgroßmutter aus Ungarn waren.<br />

Sie engagieren sich für zahlreiche zivilgesellschaftliche<br />

Projekte. Erst kürzlich mit<br />

Otto Tausig für Kinder in Indien; Sie sind<br />

unlängst im Rahmen des 50-Jahr-Jubiläums<br />

der B’nai Brith im Theater der Josefstadt<br />

aufgetreten; Sie sind mit Oberkantor<br />

Shmuel Barzilai mehrfach auf Konzerttourneen<br />

gefahren. Haben Sie eine besondere<br />

Affinität bzw. Zuneigung zum Jüdischen?<br />

Oder sind Sie einfach ein politischer<br />

Mensch?<br />

Viele Musiker,<br />

die hauptsächlich<br />

Klassik<br />

spielen, sagen<br />

zwar, dass sie<br />

diese Musik<br />

für heutige Zuhörer<br />

ausführen.<br />

Aber, um für die heutigen Ohren<br />

das Überleben dieser Musik zu garantieren,<br />

muss man sich was überlegen.<br />

Friedrich Gulda hatte da die Antwort<br />

für sich gefunden: Er spielte zwar auch<br />

alte Musik, verband sie jedoch mit<br />

Jazz und freier Musik. Der Jazz, „Black<br />

Music“, wurde dam<strong>als</strong> hier zumindest<br />

<strong>als</strong> geringer eingeschätzt, und so hat er<br />

damit auch eine politische Botschaft<br />

verbunden. Ich habe das vielleicht weiter<br />

getragen, denn ich sehe mit Verwunderung,<br />

dass sich klassische Musiker<br />

weniger stark mit den Themen der<br />

Jetztzeit identifizieren. Die gedankliche<br />

Verbindung zwischen einer humanistischen<br />

Botschaft von Mozart, Bach oder<br />

Beethoven mit den Issues von heute<br />

sehe ich selten realisiert. Diesen Schritt<br />

bin ich für mich gegangen. Und zum<br />

Projekt Rechnitz kann man konkret sagen:<br />

Ein sehr erfolgreiches Projekt wie<br />

z.B. Haydn alla Zingarese wäre ohne<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 35


JÜDISCHE WELT • INLAND<br />

Rechnitz nicht entstanden. Und wenn<br />

Haydn gemeint hat Roma-Musik sei<br />

wertvoll, wie können dann die Menschen<br />

150 Jahre später sagen, wir wollen<br />

nichts mit Roma zu tun haben.<br />

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Oberkantor<br />

Shmuel Barzilai?<br />

Shmuel Barzilai war so freundlich und<br />

hat in den letzten Jahren bei unseren<br />

Gedenkfeiern in Rechnitz das El Male<br />

Rachamim gebetet. Er hat mich dann<br />

eingeladen ihn auf Tourneen musikalisch<br />

zu begleiten. Am 21. März <strong>2011</strong><br />

haben wir ein Konzert in Rom, darauf<br />

freue ich mich sehr.<br />

Sie sind seit 1982 international <strong>als</strong> Solist,<br />

Kammermusiker, Dirigent und Komponist<br />

tätig und kamen in den Genuss mit weltberühmten<br />

Musikern zu spielen, unter anderem<br />

mit Martha Argerich; Leonid Brumberg<br />

und Rudolf Serkin zählten zu Ihren<br />

Lehrern. Seit 1995 komponieren Sie auch<br />

und 1997 hatten Sie Ihr Debüt <strong>als</strong> Dirigent.<br />

Sie haben bis jetzt 20 CDs eingespielt. Wo<br />

liegt Ihre künstlerische Präferenz, beim<br />

Klavierspiel oder beim Komponieren?<br />

Es ist so wie bei meinem Vater. Ich habe<br />

große Liebe und Respekt für die Musik<br />

der klassischen Meister. Und in<br />

diesem Gewand der Alten fühle ich<br />

mich sehr wohl, wenn ich sie wiedergeben<br />

kann. Wenn ich aber ähnliche<br />

Inhalte mit meinen eigenen Worten,<br />

Tönen ausdrücken kann, fühle ich<br />

mich genau so wohl, vorausgesetzt es<br />

ist kongruent und nicht etwas Angemaßtes.<br />

Wenn man gar keine eigenen<br />

Gedanken hat, kann man auch nichts<br />

Fremdes adäquat wiedergeben. Das ist<br />

eine Wechselwirkung, deshalb kann<br />

ich weder dem einen oder anderen den<br />

Vorzug geben. Aber es ist natürlich<br />

eine tiefe persönliche Befriedigung,<br />

etwas selbst zu erschaffen, eigene<br />

wahre Sätze zu finden.<br />

Sie unterrichten auch gerne und viel, Sie<br />

sind Juror beim Mozartwettbewerb <strong>2011</strong><br />

in Salzburg, demnächst fahren Sie auf<br />

Japan-Tournee. Was sind Ihre Pläne für<br />

<strong>2011</strong> und die nächsten Jahre?<br />

Heuer sind wir im 200.Geburtsjahr<br />

von Franz Liszt, einem Komponisten,<br />

der einer Familientradition folgend<br />

nicht sehr ernst genommen wurde.<br />

Aber inzwischen nehme ich ihn sehr<br />

ernst. Er war ein ganz phantastischer,<br />

tiefgründiger, kosmopolitischer und<br />

weitblickender Mann, der mit seiner<br />

Klaviertechnik auch die Spielweise zu<br />

seiner Zeit revolutioniert hat. Dazu wird<br />

es ein Projekt geben mit Liszt-Musik<br />

und Roma-Musiker. Wir beginnen im<br />

Mai in Bratislava, dem Sitz der Kapelle,<br />

dann geht es zum Beethovenfest in<br />

Bonn und nach Weimar, wo Liszt auch<br />

lange gelebt hat. Und wenn man so ein<br />

Projekt macht, Liszt-Musik mit Roma-<br />

Kapelle in Weimar, wo Buchenwald<br />

gleich daneben ist, dann sind wir wieder<br />

an unserem ersten Gesprächspunkt<br />

angelangt. Denn Liszt hat diese<br />

Menschen gekannt, er hat sie nicht<br />

ausgebeutet, sondern sie ernst genommen<br />

und sogar gefördert.<br />

Man kann nicht einerseits Bach, Mozart<br />

oder Liszt etc. bewundern, und<br />

das was sie an Humanismus transportieren,<br />

missachten. Zufälligerweise wird<br />

das bei der Roma-Musik sehr augenfällig,<br />

da kann man es anhand einer<br />

Gruppe nachweisen. Das gilt aber auch<br />

für Musik, die nicht so offenkundig<br />

mit Minderheiten sympathisiert. Denn<br />

der Inhalt jeder wahren, und deswegen<br />

großen Musik, klassisch oder nicht, ist<br />

immer wieder ein Aufruf für eine bessere<br />

und gerechtere Welt, ohne Rassismus.<br />

Und wer das nicht versteht, hat<br />

in einem Konzert gar nichts verloren!<br />

Das Gespräch führte MARTA S. HALPERT<br />

Das<br />

Bucharische<br />

verschwindet<br />

in Wien<br />

Die Österreichische Akademie der Wissenschaften<br />

führte in den dritten und vierten<br />

Klassen an 234 von den insgesamt<br />

260 Volksschulen in Wien eine Sprachenerhebung<br />

durch. Auch die Zwi Perez Chajes-Schule<br />

und die Lauder Chabad-Schule<br />

nahmen an dieser Untersuchung teil.<br />

„Die Gemeinde“ sprach mit der Studienleiterin,<br />

der Linguistin Katharina Brizic,<br />

und ihrer Kollegin Claudia Lo Hufnagl<br />

über die Ergebnisse.<br />

VON ALEXIA WEISS<br />

19.453 Schüler legten durch angeleitetes<br />

Ausfüllen eines Fragebogens offen,<br />

welche Sprachen sie wo, mit wem und<br />

wie gerne sprechen. Eines der doch<br />

überraschenden Ergebnisse: Deutsch<br />

<strong>als</strong> einzige Sprache gibt es für Wiener<br />

Volksschüler kaum mehr. Nur 2,5 Prozent<br />

der Kinder gaben an, sowohl in<br />

der Familie <strong>als</strong> auch mit Freunden und<br />

in der Schule nur Deutsch zu sprechen,<br />

diese Sprache am liebsten zu<br />

haben und am besten zu beherrschen.<br />

Andererseits ist der Stellenwert von<br />

Deutsch hoch. Obwohl 60 Prozent der<br />

befragten Schüler Migrationshinter-<br />

36 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


JÜDISCHE WELT • INLAND<br />

grund haben, spricht diese Gruppe zu<br />

93 Prozent in der Familie in irgendeiner<br />

Form Deutsch.<br />

145 Herkunftsländer zählten die Wissenschafter<br />

und 110 von den Kindern<br />

verwendete Sprachen. 26 davon werden<br />

von mehr <strong>als</strong> 70 Sprechern genutzt.<br />

Ein großes Thema ist <strong>als</strong>o die Mehrsowie<br />

die Vielsprachigkeit. Eine Sprache<br />

plus Deutsch werden von 41 Prozent<br />

der Volksschüler gesprochen, zwei<br />

Sprachen plus Deutsch von 14 Prozent,<br />

drei Sprachen plus Deutsch von 2,5<br />

Prozent, vier Sprachen plus Deutsch<br />

von 0,5 Prozent.<br />

Es waren zwei Gruppen, die mit ihrer<br />

Vielsprachigkeit auch den Fragebogen<br />

sprengten, berichten Brizic und Hufnagl:<br />

Roma-Kinder, deren Familien<br />

aus dem Kosovo oder Mazedonien<br />

kommen – und Schülern, die eine jüdische<br />

Schule besuchen. Für sie mussten<br />

von jenen angehenden Pädagogen,<br />

welche die Befragung in den Klassen<br />

durchführten, zusätzliche Kästchen auf<br />

die Fragebögen gezeichnet werden.<br />

An der Zwi Perez Chajes-Schule sowie<br />

der Lauder Chabad-Schule nahmen insgesamt<br />

76 Schüler der dritten und vierten<br />

Klassen Volksschule teil. Als Familiensprachen<br />

wurden von ihnen angegeben:<br />

Hebräisch, Russisch, Englisch,<br />

Bucharisch, Georgisch, Jiddisch. Eine<br />

Handvoll weiterer Sprachen wurden<br />

von jeweils nur einem Kind genannt.<br />

Als starke Sprachen kristallisierten<br />

sich dabei neben Deutsch Hebräisch<br />

und Russisch heraus. Die Linguisten<br />

wollten von den Kindern nicht nur<br />

wissen, welche Sprachen sie beherrschen<br />

oder verwenden, sondern auch,<br />

in welchen Situationen. Das spiegelte<br />

sich in Fragen wie „Welche von diesen<br />

Sprachen kannst du verstehen?“, „Welche<br />

Sprachen kannst du sprechen?“;<br />

„Welche Sprache sprichst du zu Hause<br />

meistens mit deiner Mutter?“, „Welche<br />

Sprache sprichst du am liebsten?“<br />

oder „Welche Sprachen lernst du in<br />

der Schule?“ wider.<br />

Daraus konnten Brizic und Hufnagl<br />

zwei interessante Details herauslesen.<br />

Erstens: Hebräisch wird oft verstanden,<br />

mit Freunden benutzt, in der Schule gelernt,<br />

gut beherrscht und ist auch die<br />

liebste Sprache. Aber: mit Mutter und<br />

Vater wird sie von vielen nicht gesprochen.<br />

„Das ist ein klarer Hinweis darauf,<br />

dass es sich um eine Religionssprache<br />

und/oder eine Schulsprache handelt“, so<br />

Brizic.<br />

Zweitens: das Bucharische befindet<br />

sich auf dem Rückzug. Geht die Entwicklung<br />

so weiter, wie nun durch die<br />

Sprachenerhebung dokumentiert, wird<br />

diese Sprache in Wien bald ausgestorben<br />

sein. Denn: Kinder geben zwar an,<br />

dass sie diese Sprache verstehen, sie<br />

wird aber weder mit Freunden noch<br />

mit Geschwistern gesprochen, vielfach<br />

auch nicht mehr mit den Eltern,<br />

sondern nur mit den Großeltern sowie<br />

von den Eltern untereinander. Andere<br />

Sprachen, die in Wien zunehmend<br />

nicht mehr auf die nächste Generation<br />

übergehen sind Kurdisch, Romanes<br />

und Vlachisch. Oft geht übrigens das<br />

Verschwinden einer Sprache in der<br />

neuen Heimat mit dem niedrigen<br />

Prestige dieser Sprache in der alten<br />

Heimat einher, sagt Brizic.<br />

Wie aber umgehen mit dieser Vielsprachigkeit?<br />

Die Linguistin empfiehlt,<br />

sie <strong>als</strong> Schatz zu betrachten. Denn:<br />

„Zu starkem Deutsch kommt man nicht<br />

nur durch Deutsch.“ Eltern empfiehlt<br />

sie, mit den Kindern nicht unbedingt<br />

Deutsch, sondern ihre persönlich stärkste<br />

Sprache zu sprechen. So können<br />

dem Sohn, der Tochter nicht nur am<br />

besten Emotionen weitergegeben werden,<br />

so erlernt das Kind auch am besten<br />

die Grammatik einer Sprache,<br />

einen breiten Wortschatz. Wird viel<br />

vorgelesen, werden Geschichten erzählt,<br />

bekommt das Kind auch Schriftsprache<br />

vermittelt (ohne noch selbst<br />

schreiben zu können). Auf Schriftsprachebene<br />

ähneln Sprachen einander<br />

und es gibt große Wechselwirkungen.<br />

Das Kind profitiert davon dann auch<br />

beim Erlernen einer neuen Sprache.<br />

Umgekehrt heißt das aber auch: die<br />

Schule müsse den Muttersprachenunterricht<br />

ernst nehmen. Denn je mehr<br />

Sprachen das Kind auf Schriftsprachenniveau<br />

beherrscht, desto mehr positive<br />

Rückkoppelungen gibt es dann zwischen<br />

den Sprachen – und damit am<br />

Ende mehr Kompetenz in allen Sprachen,<br />

auch in Deutsch. Brizic schlägt<br />

hier vor, ganz neue Wege zu gehen.<br />

Muttersprachenunterricht sollte nicht<br />

nur in einer Sprache erfolgen, sondern<br />

auch in zwei oder drei – wenn das<br />

Kind eben mehr <strong>als</strong> eine Muttersprache<br />

habe, weil in der Familie mehrere<br />

Sprachen gesprochen werden.<br />

Wie aber soll das praktisch ablaufen?<br />

„Man könnte Muttersprachenunterricht<br />

gleichzeitig in Türkisch und Kurdisch abhalten“,<br />

so Brizic. Das geht natürlich<br />

nur im Teamteaching von Lehrern, die<br />

diese Sprachen unterrichten. An den<br />

jüdischen Schulen könnte es zum Beispiel<br />

die Kombination von russischem<br />

mit bucharischem Muttersprachenunterricht<br />

geben.<br />

Dazu müsste allerdings bereits bei der<br />

Schuleinschreibung dieser Frage großes<br />

Gewicht beigemessen werden. Viel<br />

stärker <strong>als</strong> bisher muss nach jenen Sprachen<br />

gefragt werden, die ein Kind beherrscht,<br />

versteht oder die in der<br />

Familie des angehenden Schülers verwendet<br />

werden. Und: der Muttersprachenunterricht<br />

darf nicht auf ein, zwei<br />

Stunden in der Woche beschränkt<br />

werden. Ihm muss ebenso viel Platz<br />

eingeräumt werden wie dem Deutschunterricht.<br />

Eltern, die Angst haben, dass ihr Kind<br />

bei so vielen gleichzeitig eingesetzten<br />

Sprachen das Deutsche nicht gut erlernt,<br />

sagt Brizic: „Kinder können Sprachen<br />

parallel lernen.“ Allerdings sollte<br />

man mehrsprachigen Kindern im Schulsystem<br />

mehr Zeit geben, bis es zur<br />

Entscheidung zwischen Haupt- und<br />

Mittelschule kommt. „Das ist bei solchen<br />

Kindern ganz entscheidend für den<br />

Bildungserfolg“, betont Brizic.<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 37


JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />

Panorama<br />

Kurznachrichten aus der jüdischen Welt<br />

Quelle: JTA/inn u.a.; Übersetzung: Karin Fasching-Kuales/Foto:©JTA u.a.<br />

Ben Gurion Airport blockiert<br />

politische Websites<br />

Für User des W-LAN am israelischen<br />

Ben Gurion International Airport ist es<br />

unmöglich bestimmte politische Websites<br />

aufzurufen, denn diese sind dort<br />

blockiert. Gemeint sind Seiten wie „Breaking<br />

the Silence“ oder „Peace Now“. Aber<br />

auch pornografische Websites oder<br />

Glücksspiel-Seiten sind nicht verfügbar.<br />

Brigitte Bardot protestiert gegen<br />

koschere Schlachtungen<br />

Die französische Schauspielerin und<br />

Tierschützerin Brigitte Bardot, 77, engagiert<br />

sich für eine Kampagne, in der<br />

gegen koschere und Halal-Schlachtungen<br />

protestiert wird. Seit 4. <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong><br />

sind die dazugehörigen Plakate in ganz<br />

Frankreich affichiert, um die Menschen<br />

über die „mittelalterlichen“ Methoden<br />

zu „informieren“, bei denen<br />

die „Kehlen der Tiere ohne Betäubung aufgeschlitzt“<br />

würde, um „Gott zu gefallen“.<br />

Das Recht auf die Veröffentlichung dieser<br />

Plakate hatten Bardot und ihre Mitstreiter<br />

erst nach langen Debatten mit<br />

den Behörden erhalten. Diese verboten<br />

ihnen, die Begriffe „koscher“ oder<br />

„halal“ zu verwenden.<br />

Teuerstes Wohnhaus Israels verkauft<br />

Der Milliardär Teddy Sagi kaufte nun<br />

Israels teuerste Villa um sagenhafte US$<br />

38 Mio. Der Anteilseigner des Software-<br />

Entwicklers Playtech übernahm das<br />

Haus von Medien-Tycoon Zaki Raab,<br />

der das Anwesen erst vor fünf Jahren<br />

um die dam<strong>als</strong> ebenso sensationelle<br />

Summe von US$ 24 Mio. erstanden<br />

hatte. Zu bieten hat das „Schnäppchen“<br />

u. a. 2.000 m 2 Wohnfläche in Israels teuerster<br />

Wohngegend, Fitness-Raum,<br />

Weinkeller, Swimmingpool sowie ei nen<br />

eigenen Fahrstuhl hinab zum Meer.<br />

Israels Abgeordnete entdecken<br />

Facebook für sich<br />

Nun hat auch für israelische Abgeordnete<br />

das Zeitalter des Social Media begonnen.<br />

Nach einem eigens für sie organisierten<br />

Trainings-Workshop können<br />

auch sie sich nun ohne Berührungsängste<br />

auf Facebook, Twitter & Co.<br />

tummeln, denn es sei für sie „essentiell<br />

zu wissen, wie man mittels moderner Technologien<br />

regelmäßigen Kontakt mit den<br />

Wählern pflegt“.<br />

Erste afroamerikanische Rabbinerin<br />

verlässt ihre Gemeinde<br />

Wie die Zeitschrift „Forward“ berichtet,<br />

wurde der Vertrag von Rabbi Alysa<br />

Stanton, der ersten afroamerikanischen<br />

Rabbinerin der USA, in der Gemeinde<br />

von Bayt Shalom in Greenville, N.C.,<br />

nicht verlängert. Stanton hätte viel<br />

Gutes für die Gemeinde getan, so deren<br />

Präsidentin Samantha Pilot, doch sie<br />

sei nicht die richtige Wahl für die Richtung<br />

gewesen, in welche ihre Gemeinde<br />

gehen wolle.<br />

Tiersegnung in kalifornischer<br />

Synagoge<br />

Zum dritten Mal wurde in der Synagoge<br />

der Gemeinde von Dor Hadash<br />

in San Diego anlässlich des Tu B’Shvat-<br />

Festes eine Tiersegnung abgehalten.<br />

Rabbi Yael Ridburg sprach den Segen<br />

sowohl für gefiederte, haarige, <strong>als</strong> auch<br />

für schwimmende Zeitgenossen.<br />

Tu B Shvat, das „Neujahr der Bäume“<br />

ist eines von vier „Neujahrsfesten“ im<br />

jüdischen Jahreskreis. In einigen Kongregationen<br />

wird das Fest auf sämtliche<br />

Lebewesen der Erde ausgedehnt – auf<br />

Menschen, Pflanzen und Tiere.<br />

Zeit der Veränderung im Zentrum<br />

des jiddischen Buches<br />

Das Nationale Zentrum des jiddischen<br />

Buches im amerikanischen Amherst,<br />

Mass., trennte sich von vier seiner Angestellten<br />

und schloss die zum Zentrum<br />

gehörige Buchhandlung. Dem ging<br />

eine Reihe strategischer Änderungen<br />

voraus, die den Fokus von der Erhaltung<br />

und Restaurierung alter jiddischer<br />

Werke hin zur Wissensvermittlung<br />

über selbige führen sollten. Die<br />

Sammlung des Zentrums umfasst mehr<br />

<strong>als</strong> eine Million jiddischer Exemplare,<br />

die seit dessen Eröffnung im Jahr 1980<br />

zusammengetragen wurden.<br />

Natalie Portman kommt<br />

unter die Haube<br />

Die <strong>als</strong> Natalie Hershlag geborene amerikanisch-israelische<br />

Schauspielerin<br />

Natalie Portman, 29, hat angekündigt,<br />

den Tänzer und Choreographen Benjamin<br />

Millepied, 33, heiraten zu wollen.<br />

Portman erwartet von ihm, den Hollywood-Insider<br />

<strong>als</strong> nicht jüdisch bezeichneten,<br />

ihr erstes Kind. Das Paar hatte<br />

sich im vergangenen Jahr zu den Dreharbeiten<br />

des Ballet-Dramas „Der<br />

schwarze Schwan“ kennengelernt.<br />

Die jüdischen Golden Globes<br />

Gewinner - und Verlierer<br />

Bei der diesjährigen Verleihung der<br />

Golden Globes im kalifornischen Beverly<br />

Hills durfte sich eine ganz besonders<br />

freuen: Natalie Portman, die für<br />

ihren Film „Black Swan“ (Der schwarze<br />

Schwan) <strong>als</strong> beste Schauspielerin in<br />

einem Drama ausgezeichnet wurde.<br />

Auch „The Social Network“ über Facebook-Gründer<br />

Mark Zuckerberg gehörte<br />

zu den Siegern des Abends (Auszeichnung<br />

<strong>als</strong> bester Film und für das<br />

beste Drehbuch), auch wenn Hauptdarsteller<br />

Jesse Eisenberg leider ohne<br />

Golden Globe nach Hause gehen musste.<br />

Statt ihm erhielt der Brite Colin<br />

Firth den Globe <strong>als</strong> bester Schauspieler<br />

für seine Rolle in „The King´s Speech“.<br />

Auch dessen Drehbuchautor David<br />

Seidler, dessen Großeltern Opfer des<br />

Holocaust waren, war nominiert, wurde<br />

aber von Aaron Sorkin ("The Social<br />

Network") ausgestochen. In der Kategorie<br />

Komödie & Musical erhielt Paul<br />

Giamatti, der jüdische Wurzeln hat, den<br />

Preis <strong>als</strong> bester Schauspieler im Film<br />

"Barney´s Version", der auf dem gleichnamigen<br />

Buch des jüdischen Autors<br />

Mordecai Richler basiert.<br />

In diesem Jahr gab es zum ersten Mal<br />

seit Ende des Zweiten Weltkriegs keine<br />

einzige Golden Globe oder Oscar Film-<br />

Nominierung, die sich mit dem Thema<br />

Holocaust auseinandergesetzt hätte.<br />

Das TV-Musical „Glee“ wurde mit<br />

dem Preis für die beste TV-Comedy<br />

ausgezeichnet, und durfte sich mit Sue<br />

Sylvester und Chris Cofer auch noch über<br />

Auszeichnungen für die besten Nebendarsteller<br />

freuen. Brad Falchuk, der Sohn<br />

von Hadassah-USA Präsidentin Nancy<br />

Falchuk, ist Regisseur, Autor, Produzent<br />

und Miterfinder der Show.<br />

Schalom, Mickey<br />

Mickey, Donald, Goofy & Co. bekommen<br />

eine neue Heimat: Haifa wird 2013<br />

seinen ersten Disney-Park eröffnen. Auf<br />

mehr <strong>als</strong> 8 Hektar entsteht ein Freizeit-<br />

Paradies für Groß und Klein, inklusive<br />

Vergnügungspark, vier Theatern und<br />

einem Multiplex-Kino mit 25 Sälen.<br />

38 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 57714


JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />

Israelischer „Lippenstift“ in Berlin<br />

Der israelische Film „Lipstikka“ (hebr.<br />

Titel: Odem) wird im Februar <strong>2011</strong> am<br />

internationalen Filmfestival von Berlin,<br />

dem „Goldenen Bär“, teilnehmen.<br />

Wetter<br />

Laut israelischem Wetterdienst war<br />

das vergangene Jahr 2010 das heißeste<br />

Jahr in Israel seit Beginn der Wetteraufzeichnungen<br />

vor 60 Jahren. Die<br />

Durchschnittstemperatur betrug in Israel<br />

22,1 Grad. 1998 waren es 18,7 Grad.<br />

Araber für Holocaust sensibilisieren<br />

Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem<br />

in Jerusalem bietet arabischen<br />

Lehrern eine Weiterbildung an. 150<br />

nahmen am ersten Kurs im November<br />

unter Ausschluss der Medien teil. In<br />

20 Unterrichtsstunden hörten sie Erinnerungen<br />

von Überlebenden und wie<br />

das Unheil in Deutschland seinen Lauf<br />

nahm. Viele Palästinenser streiten ab,<br />

dass der Holocaust stattgefunden hat,<br />

oder sie halten die Zahl von sechs Millionen<br />

Getöteten für übertrieben. Eine<br />

Umfrage unter 700 israelischen Arabern<br />

im Jahr 2009 ergab, dass jeder<br />

Dritte nicht glaubte, dass der Holocaust<br />

passiert war. Andererseits gilt<br />

bei Palästinensern der Holocaust <strong>als</strong><br />

Ursache für die eigene Misere und <strong>als</strong><br />

Legitimierung Israels. Yad Vashem lancierte<br />

2008 eine arabische Website, die<br />

aber offenbar nur wenig besucht wird.<br />

Andrea Bocelli kommt nach Israel<br />

Im Rahmen der diesjährigen Opernfestspiele<br />

wird der Star-Tenor Andrea<br />

Bocelli im Juni <strong>2011</strong> ein Konzert bei Massada<br />

geben. Er wird dabei von dem<br />

Orchester Rischon Lezion mit Opernchor<br />

begleitet. Der Erlös der Opernfestspiele<br />

kommt den Einwohnern des Negev<br />

und Galiläas zugute.<br />

Haifa in 8 Minuten unterfahren<br />

In der nordisraelischen Hafenstadt<br />

Haifa wurde nach 13 Jähriger Bauzeit<br />

ein 6 Kilometer langer Tunnel - von 550<br />

Chinesen in 200 Metern Tiefe unter<br />

dem Carmelberg gebaut - eingeweiht.<br />

Haifa kann jetzt innerhalb von 8 Minuten<br />

ohne lästige Staus durchquert<br />

werden, allerdings zum Preis von etwa<br />

2,50 Euro Mautgebühr.<br />

Squash-Gewinner<br />

Vergangene Woche gewann der 15-jährige<br />

Daniel Poleshtchuk aus Israel die<br />

Squash Junior Open in Belgien in seiner<br />

Altersgruppe. An dem Turnier nahmen<br />

300 junge Sportler aus 27 europäischen<br />

Ländern teil.<br />

Haifa gut für Investoren<br />

Das angesehene Magazin Monocle<br />

stellte die Stadt Haifa an die Weltspitze<br />

der modernen Städte mit besten Chancen<br />

für Investitionen, noch vor Berlin,<br />

Istanbul und Chile. Nach einem mehrjährigen<br />

Niedergang habe die Stadt jetzt<br />

einen enormen Aufschwung erlebt.<br />

„Captain Israel“<br />

Ausgerüstet mit der Stärke Samsons<br />

und der Weisheit Salomos nimmt die<br />

neue Comicfigur den Kampf gegen Israels<br />

Feinde auf. Im ersten Heft der<br />

Serie erklärt der<br />

neue Superheld die<br />

historische Verbindung<br />

zwischen<br />

dem jüdischen Volk<br />

und dem Land Israel<br />

und die Geburt<br />

des modernen Staates<br />

Israel.<br />

Vermarktung für Dokumentarfilme<br />

Ziel von CoPro ist, die Kooperation zwischen<br />

israelischen und ausländischen<br />

Filmemachern, Produzenten und Sendern<br />

weltweit zu fördern. Ein internationaler<br />

Filmmarkt soll in Tel Aviv vom<br />

23. bis 30. Mai <strong>2011</strong> stattfinden. Mehr<br />

<strong>als</strong> 50 internationale Sender, darunter<br />

BBC, CBC und ARTE werden teilnehmen.<br />

Ebenso SWR, NDR und Prix Jeunesse<br />

aus München. Von Copro gesetzte<br />

Filme wurden 2010 bei der Berlinale<br />

vorgeführt, darunter „The Unfinished<br />

Film“ von Yael Hersonsky und „Die<br />

Wohnung“ von Aron Goldfinger<br />

Ultraorthodoxer Militärdienst<br />

Traditionell vom Militärdienst befreite<br />

ultraorthodoxe Juden könnten im Einvernehmen<br />

mit den frommen Parteien<br />

künftig vermehrt zum Pflichtdienst<br />

beim Militär, Polizei, Feuerwehr und<br />

anderen öffentlichen Diensten eingezogen<br />

werden. Die Zahl dienender frommer<br />

Talmudschüler stieg von 340 im<br />

Jahr 2007 auf 2.400 heute und soll sich<br />

bis 2015 auf 4.800 verdoppeln.<br />

Begin-Münzen<br />

Eine neue Münzserie wurde von der<br />

Bank of Israel präsentiert. Die 1-, 2- und<br />

10-Shekel (NIS) Münzen zeigen die Büste<br />

des verstorbenen israelischen Premierministers<br />

Menachem Begin auf der<br />

Vorderseite. Die Rückseite ist der Unterzeichnung<br />

des Friedensvertrags mit<br />

Ägypten 1979 gewidmet.<br />

Top-Mix<br />

Beim Marie Brizard Cocktail-Wettbewerb<br />

in Bordeaux gewann ein israelischer<br />

Barkeeper den ersten Platz. Der 34-jährige<br />

Amit Gilad setzte sich gegen 42<br />

Konkurrenten aus aller Welt durch.<br />

Sein Geheimrezept: Ein nahöstlicher<br />

Mix aus Anis, Jasmin-Likör, Passionsfrucht,<br />

Grapefruitsaft sowie Minze.<br />

Debattier-Wettbewerb<br />

Zwei Studenten der Uni Haifa, Michael<br />

Shapiro und Meir Yarom, gewannen den<br />

ersten Platz beim Internationalen Debattier-Wettbewerb<br />

der Universitäten in<br />

der Kategorie Englisch <strong>als</strong> Zweitsprache.<br />

Über 300 Teams aus 150 Universitäten<br />

nahmen am größten Wettbewerb<br />

dieser Art teil, der diesmal an der University<br />

of Botswana in Gabarone stattfand.<br />

Es ist bereits das zweite Jahr in<br />

Folge, dass sich Israelis die begehrte<br />

Trophäe sicherten.<br />

Wettbewerb „Jerusalem 2111“<br />

Zwei israelische Studenten von der<br />

Filmhochschule in Los Angeles haben<br />

mit ihrem Video den Wettbewerb „Jerusalem<br />

2111“ gewonnen. David Gidali<br />

und sein Kameramann Itay Gross erhalten<br />

US$ 10.000. An dem Wettbewerb<br />

hatten Filmemacher aus aller Welt teilgenommen.<br />

Bei dem Wettbewerb ging<br />

es darum, Ideen für das Erscheinungsbild<br />

der Hauptstadt in 100 Jahren zu entwickeln.<br />

Der Siegerfilm, „Secular Quarter<br />

3“, zeigt Jerusalem <strong>als</strong> Stadt, in der verschiedene<br />

Bevölkerungsgruppen durch<br />

Stahlwände voneinander getrennt sind.<br />

Stählerne Kuppeln schützen die Bewohner<br />

vor Angriffen. Nachts beseitigen<br />

Fluggeräte die Wände und ermöglichen<br />

einen Kontakt der getrennten<br />

Bewohner.<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 39


JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />

Um wen die jüdische<br />

Gemeinschaft 2010<br />

trauern musste<br />

(Quelle: JTA; Übersetzung: Karin Fasching-Kuales)<br />

Im Jahr 2010 hatte die jüdische Gemeinschaft<br />

viele Verluste zu betrauern. Hochgeachtete<br />

und viel zitierte Personen aus<br />

Politik, Wirtschaft, Kunst und Kultur schieden,<br />

oftm<strong>als</strong> bereits in hohem Alter, aus<br />

dem Leben. Wir wollen uns an dieser Stelle<br />

an sie erinnern und ihnen und ihrem Beitrag<br />

zum gesellschaftlichen und jüdischen<br />

Leben ein Denkmal setzen.<br />

POLITIK<br />

Theodore „Ted“ Sorensen, 82, wurde <strong>als</strong><br />

Verfasser der Reden von John F. Kennedy bekannt,<br />

jenes US-Präsidenten, der 1963 auf so<br />

tragische Weise ums Leben kam. Gleichzeitig<br />

war Sorensen Kennedys Berater und Ghostwriter<br />

von „Profiles in Courage“.<br />

Daniel Bensaid (auch „Danny the Red“ genannt),<br />

63, französischer Philosoph und<br />

einst radikaler Studentenführer bei der Pariser<br />

Revolte von 1968.<br />

Ruth Proskauer Smith, 102, war eine Pionierin<br />

im Kampf für das Recht der Frauen auf<br />

Abtreibung.<br />

Harry Schwarz, 85, südafrikanischer Anti-<br />

Apartheids-Aktivist und ehem<strong>als</strong> Südafrikas<br />

Botschafter in den USA. Die Sicherheit und<br />

Zukunft der Juden seines Landes waren<br />

ihm stets ein Anliegen.<br />

David Kimche, 86, war Mitbegründer von Israels<br />

Geheimdienst Mossad und arbeitete <strong>als</strong><br />

Spion in Afrika und vor dem Krieg 1982 mit<br />

den christlichen Phalangisten im Libanon.<br />

SCHAUSPIELER & REGISSEURE<br />

Tony Curtis, 85, Schauspieler und Künstler,<br />

wurde in der New Yorker Bronx <strong>als</strong> Bernard<br />

Schwartz geboren. Das männliche Sexsymbol<br />

der 1950er (und noch lange danach) mit<br />

ungarischen Wurzeln half beim Wiederaufbau<br />

der Großen Synagoge in Budapest. Er<br />

verstarb nach langer Krankheit am 29. September<br />

in Nevada.<br />

Tom Bosley, 83, war den Zuschauern wohl<br />

am besten bekannt <strong>als</strong> Richie Cunninghams<br />

Vater Howard in der Sitcom „Happy Days“.<br />

Er starb am 19. Oktober in Palms Springs.<br />

Zelda Rubinstein, 76, wurde mit dem Science<br />

Fiction Film Award für ihre Rolle in dem<br />

Horrorfilm „Poltergeist“ von 1982 ausgezeichnet.<br />

Die 1,29 m kleine Schauspielerin<br />

setzte sich stets für die Rechte kleiner Menschen<br />

und Homosexueller ein. Sie starb am<br />

27. <strong>Januar</strong> in Los Angeles.<br />

Harold Gould, 86, bekannt für seine Rolle<br />

<strong>als</strong> Vater von Rhoda Morgenstern in der TV-<br />

Sitcom „Rhoda“ oder <strong>als</strong> Miles in „Golden<br />

Girls“, starb am 11. September in Kalifornien.<br />

Maury Chaykin, 61, spielte u. a. in Filmen wie<br />

„Der mit dem Wolf tanzt“ oder „War Games“.<br />

Er starb am 27. Juli in Toronto.<br />

Steve Landesberg, 74, Schauspieler, Comedian<br />

und Stimmenakrobat, erlag am 17. Dezember<br />

2010 einem langen Krebsleiden.<br />

Bud Greenspan, 84, der gefeierte Filmemacher,<br />

war bekannt für seine beeindruckenden<br />

Dokumentationen von den Olympischen<br />

Spielen. Er starb am 25. Dezember in NY.<br />

Die bekannteste Arbeit des Regisseurs Irvin<br />

Kershner, 87, war sicherlich „Das Imperium<br />

schlägt zurück“ von 1980, der chronologisch<br />

5. Teil der Star Wars-Reihe. Kershner verstarb<br />

am 27. November in Los Angeles.<br />

Ingrid Pitt, 73, spielte in den 1960ern und<br />

1970ern in zahlreichen Horrorfilmen mit. Die<br />

Holocaustüberlebende wurde im polnischen<br />

Treblinka <strong>als</strong> Natascha Petrovna geboren<br />

und verstarb am 23. November in London.<br />

MUSIK<br />

Eddie Fisher, 82, Gesangsidol der 1950er<br />

Jahre, war mit der Schauspielerin Debbie Reynolds<br />

verheiratet. Als er sie für Elizabeth Taylor<br />

verließ provozierte er damit einen Riesenskandal,<br />

der auch seiner Karriere schadete.<br />

Er starb am 22. September in Kalifornien.<br />

Schallplattenproduzent und Moderator<br />

Mitch Miller, 99, wurde mit seiner TV-<br />

Show „Sing Along with Mitch“ berühmt.<br />

Miller verstarb am 31. Juli in New York City.<br />

Malcolm McLaren, 64, managte in den<br />

1970er Jahren die britische Punk-Band „Sex<br />

Pistols“. Der Künstler, Modemacher, Musikmanager<br />

und Musiker verstarb am 8. April<br />

in der Schweiz.<br />

Doug Fieger, 57, Mitbegründer der Band „The<br />

Knack“ und Verfasser des Hit „My Sharona“<br />

(1979) starb am 14. Februar in Kalifornien.<br />

David Soyer, 87, war Cellist und Mitbegründer<br />

des Guarnieri Streichquartetts, eines der<br />

gefeiertsten Kammermusik-Ensembles der<br />

Moderne. Er verstarb am 25. Februar.<br />

Auch der kandisch-israelische Folk-Musiker<br />

David Deckelbaum, 71, Mitglied der Band<br />

„The Taverners“, ver- starb 2010. Er war bekannt<br />

für seine einzigartigen Banjo-Einlagen.<br />

LITERATUR & MEDIEN<br />

Der preisgekrönte Journalist Daniel Schorr,<br />

93, machte es zu seinen Lebzeiten nicht nur<br />

den Regierungen, über die er berichtete, sondern<br />

auch seinen Arbeitgebern schwer, vertrat<br />

er doch rigorose Ansichten über journalistische<br />

Ethik und den Schutz von Informanten.<br />

Der ehemalige Kommentator für<br />

National Public Radio starb am 23. Juli.<br />

Den Cartoonisten Harvey Pekar, 69, kannten<br />

die meisten wegen seiner autobiographischen<br />

Comic-Serie „American Splendor“<br />

und der Verfilmung seines Lebens unter dem<br />

gleichen Titel. Er starb am 12. Juli in Ohio.<br />

J.D. Salinger, 91, war einer der gefeiertsten<br />

amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts.<br />

Sein „Fänger im Roggen“ von 1951 geht<br />

auch heute noch 250.000 Mal im Jahr über<br />

den Ladentisch. Salinger starb am 27. <strong>Januar</strong>.<br />

Erich Segal, 72, aus dessen Feder das Buch<br />

zum Film „Love Story“ stammt, war nicht<br />

nur Autor sondern auch Universitätsprofessor<br />

für Literatur. Der Sohn eines Rabbiners<br />

starb am 17. <strong>Januar</strong> in London.<br />

Abraham Sutzkever, 96, war einer der großen<br />

jiddischen Dichter unserer Zeit. Im russischen<br />

Zarenreich geboren, war er während des<br />

Zweiten Weltkriegs Mitglied der Partisanen.<br />

50 Jahre seines Lebens verbrachte er in Israel<br />

und verfasste zahlreiche Gedicht- und Prosabände.<br />

Er starb am 19. <strong>Januar</strong> in Tel Aviv.<br />

Shmuel Katz, 83, bekannter israelischer Karikaturist<br />

und Kinderbuch-Illustrator, starb am<br />

26. März. Der Holocaust-Überlebende und<br />

gebürtige Österreicher war 1948 nach Israel<br />

emigriert.<br />

David Slivka, 95, bekannt für seine Skulpturen<br />

und abstrakten Gemälde, starb ebenfalls<br />

im Jahr 2010. Die New York Times<br />

bezeichnete ihn einst <strong>als</strong> „einen der letzten<br />

lebenden Mitglieder der New Yorker Schule<br />

des Abstrakten Expressionismus“.<br />

WISSENSCHAFT<br />

Martin Ginsburg, 78, war ein international<br />

anerkannter Steuerrechtsexperte und Juristikprofessor.<br />

Der Ehemann von Ruth Bader<br />

Ginsburg, Richterin am Obersten Gerichtshof<br />

der USA, starb am 27. Juni.<br />

Der radikale Historiker und Autor Howard<br />

Zinn, 87, verstarb am 27. <strong>Januar</strong>.<br />

Adam Max Cohen, 38, Shakespeare-Experte<br />

und Professor an der Universität von Massachusetts,<br />

verstarb ebenfalls im Jahr 2010.<br />

VERBRECHEN<br />

Martin Grossman, 45, wurde 26 Jahre nach<br />

seiner Verurteilung wegen Mordes an einer<br />

Wildhüterin am 16. Februar hingerichtet.<br />

SONSTIGE<br />

Die Schweizerin Rosa Rein war wahrscheinlich<br />

die älteste Jüdin der Welt. Sie starb im<br />

Februar, wenige Wochen vor ihrem 113. Geburtstag.<br />

Mark Madoff, 46, war Geschäftsmann und<br />

der Sohn des inhaftierten Börsenbetrügers<br />

Bernard Madoff. Auch er verstarb 2010.<br />

Ehrenhalber erwähnen wollen wir auch<br />

Miep Gies, 100, jene Nichtjüdin, die Anne<br />

Frank und ihrer Familie half, sich während<br />

des Zweiten Weltkriegs zu verstecken und<br />

später ihr Tagebuch entdeckte und es aufbewahrte.<br />

Sie verstarb am 11. <strong>Januar</strong> 2010<br />

in den Niederlanden.<br />

40 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />

Wie<br />

gegen eine<br />

unsichtbare Wand<br />

Paul Niedermann, geboren 1927 in Karlsruhe,<br />

hat den Holocaust überlebt. Nach<br />

der Internierung in Lagern der Nazis gelang<br />

ihm 1942 mit seinem Bruder die<br />

Flucht. Bis er sich 1943 in der Schweiz in<br />

Sicherheit bringen konnte, versteckte er<br />

sich an verschiedenen Orten in Frankreich.<br />

Einer davon war das illegale Kinderheim<br />

von Izieu. Anlässlich der Eröffnung der<br />

Wanderausstellung „Die Kinder von Maison<br />

d’Izieu“ an der Landesberufsschule<br />

Korneuburg erzählte Niedermann Lehrlingen<br />

von seiner Geschichte.<br />

VON ALEXIA WEISS<br />

Paul Niedermann ist ein geübter Vortragender.<br />

Während er aus seiner Kindheit,<br />

seiner Jugend berichtet, geht ihm<br />

das Erzählen routiniert von der Hand.<br />

Das sei heute seine Aufgabe, wird er<br />

denn auch nicht müde, mehrm<strong>als</strong> zu<br />

betonen: an Schulen zu gehen und über<br />

das zu sprechen, was ihm in der NS-<br />

Zeit widerfahren ist. An deutschen<br />

Schulen ist er seit Jahren wiederholt<br />

eingeladener Gast, auch in Frankreich<br />

spricht er immer wieder über seine<br />

persönlichen Erfahrungen, vor allem<br />

direkt in Izieu, das nur zwei Bahnstunden<br />

von Paris entfernt ist, wo er seit<br />

der Nachkriegszeit lebt.<br />

Stumm und gebannt folgen die Schüler<br />

Niedermanns Erzählungen. Er berichtet<br />

wie das war, <strong>als</strong> die Nazis die Macht<br />

übernahmen, <strong>als</strong> sich für ihn persönlich<br />

noch nicht viel veränderte, die Zeichen<br />

der Zeit aber erkennbar waren.<br />

“Wir mussten zusehen, wie man einen sehr<br />

bekannten Mann verhaftete und in einem<br />

Schauzug durch die Stadt führte. Weil er<br />

Jude, Anwalt und Reichstagsabgeordneter<br />

der SPD war.“<br />

Doch mit dem Beschluss der Nürnberger<br />

Rassegesetze wurde er der Schule<br />

verwiesen. Jüdische Kinder wurden zusammengefasst<br />

und in einer eigenen<br />

Schule unterrichtet. „Wir durften nicht<br />

mehr ins Kino, ins Theater, wir durften im<br />

Park nicht mehr auf der Bank sitzen, nicht<br />

in den Zoo, nicht ins Schwimmbad. Wir<br />

waren Untermenschen – das kann man<br />

sich heute nicht mehr vorstellen.“<br />

Die Reichspogromnacht brachte nicht<br />

nur Zerstörung – auch sein Vater wurde<br />

von der Gestapo verhaftet und mehrere<br />

Monate im Konzentrationslager<br />

Dachau interniert. „Dam<strong>als</strong> war es noch<br />

kein Vernichtungslager. Aber natürlich<br />

wurde er geschlagen, misshandelt.“<br />

„Sicher kommt von euch nachher die Frage:<br />

warum seid ihr nicht abgehauen?“, sagt<br />

Niedermann zu den Schülern. Er nimmt<br />

die Frage <strong>als</strong>o vorweg. Erklärt, dass<br />

sein Vater im Ersten Weltkrieg gedient<br />

hatte – „für sein Vaterland“ - und sich<br />

daher niem<strong>als</strong> vorstellen hatte können,<br />

von diesem Vaterland, von den Regierenden<br />

einmal verfolgt werden zu<br />

können. „Als er aus Dachau zurückkam,<br />

wusste er – sie können.“ Doch inzwischen<br />

waren die Pässe weg, viele mögliche<br />

Zielländer, wie etwa die USA, hatten<br />

Einwanderungsquoten festgelegt.<br />

1940 wurde Niedermann mit seinen<br />

Eltern, seinem Großvater und seinem<br />

um vier Jahre jüngeren Bruder von<br />

Karlsruhe in das im Süden Frankreichs<br />

gelegene Lager Gurs deportiert. Einige<br />

Monate später wurde er in das Lager<br />

Rivesaltes verlegt. 1942 konnte er von<br />

dort mit seinem Bruder entkommen.<br />

Organisiert hatte die Flucht die jüdische<br />

Untergrundorganisation Oeuvre<br />

de secours aux enfants (OSE).<br />

Die beiden Brüder waren am Ende<br />

auch die einzigen, die den NS-Terror<br />

überlebten. Paul Niedermann gelangte<br />

nach einer abenteuerlichen Wanderung<br />

von Versteck zu Versteck in Frankreich<br />

1943 in die sichere Schweiz, sein Bruder<br />

Arnold zur Schwester der Mutter<br />

in die USA. Der Großvater war bereits<br />

in Gurs zu Tode gekommen, die Mutter<br />

später in Ausschwitz, der Vater in<br />

Majdanek ermordet worden.<br />

Über all das redete Niedermann nach<br />

Ende des Krieges nicht. Mit niemandem.<br />

Auch nicht mit seiner Frau. 1987<br />

dann der große Einschnitt: Klaus Barbie<br />

stand in Lyon wegen Kriegsverbrechen<br />

vor Gericht. Niedermann wurde<br />

<strong>als</strong> Zeuge geladen – und vom Staatsanwalt<br />

befragt. Doch dieser fragte ihn<br />

nicht nur über Barbie, er fragte ihn auch<br />

zu seiner eigenen Geschichte. Und so<br />

redete Niedermann zum ersten Mal<br />

über das Unvorstellbare. Gezwungenermaßen.<br />

Viele Jahre später habe er dem Staatsanwalt<br />

dafür gedankt, erzählt Niedermann<br />

den Schülern. „Das war eine Gewaltkur.“<br />

Zuvor sei er <strong>als</strong> Gespenst<br />

durch das Leben gegangen. „Nun kam<br />

alles heraus.“ Erst dieser Mann habe<br />

ihn dazu gebracht, zu sprechen. „Der<br />

Staatsanwalt war mein Therapeut.“<br />

Kurze Zeit nach dem Barbie-Prozess<br />

wurde er von der Stadtverwaltung<br />

Karlsruhe eingeladen, um über seine<br />

Erlebnisse zu berichten. Seitdem plagen<br />

ihn auch keine Alpträume mehr,<br />

die ihn bis dahin jede Nacht begleitet<br />

hatten. „Zum ersten Mal seit Kriegsende<br />

habe ich eine Nacht durchgeschlafen – ohne<br />

Alptraum.“ Und seitdem sehe er es <strong>als</strong><br />

seine Aufgabe an, jungen Menschen<br />

über diese Zeit, über seine Erlebnisse<br />

in dieser Zeit zu berichten. „Wir, die<br />

wir etwas überliefern können, haben die<br />

moralische Verpflichtung, es zu tun.“<br />

Als Niedermann seine Erzählungen<br />

beendet und die Schüler um ihre Fragen<br />

bittet, bleibt es zunächst still im<br />

Raum. Wovon die Alpträume gehandelt<br />

hatten, will „Die Gemeinde“<br />

schließlich von ihm wissen. „Die Alpträume<br />

betrafen immer meine Eltern“,<br />

antwortet er. Mehr will er dazu nicht<br />

sagen. Und welche innere Blockade ihm<br />

verboten habe, vor dem Barbie-Prozess<br />

– <strong>als</strong>o vier Jahrzente lang – über seine<br />

Erlebnisse in der NS-Zeit zu sprechen?<br />

Obwohl Niedermann seit Jahren durch<br />

Schulen tourt, unermüdlich <strong>als</strong> Zeitzeuge<br />

Rede und Antwort steht, bleibt<br />

er diese Antwort an diesem <strong>Januar</strong>-Tag<br />

in Korneuburg schuldig. Die Fragesteller,<br />

zu denen sich inzwischen auch<br />

die Jugendlichen gesellt haben, rennen<br />

wie gegen eine unsichtbare Wand.<br />

Niedermann erzählt, welche positive<br />

Lebenseinstellung seine Eltern ihm<br />

mitgegeben haben, sodass er in jeder Situation,<br />

und so sie noch so misslich gewesen,<br />

einen positiven Aspekt bemerkt<br />

habe, einen Haken, an dem er sich<br />

wieder herausziehen habe können.<br />

Es scheint, <strong>als</strong> habe der Staatsanwalt<br />

Ende der achtziger Jahre das Schweigen<br />

Niedermanns gebrochen. Wie viele<br />

andere Zeitzeugen auch, hat Niedermann<br />

aber weiter seine persönlichen<br />

Grenzen. Er steckt sie ganz subtil. Fragen<br />

werden nicht zurückgewiesen,<br />

sondern beantwortet. Aber eben nicht<br />

so, wie es sich der Fragesteller vielleicht<br />

erhofft.<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 41


KULTUR • INLAND<br />

Zeitgeschichte-<br />

Netzwerk geplant,<br />

aber noch vage<br />

Wissenschaftsministerin Beatrix Karl<br />

(ÖVP) will die außeruniversitäre Forschung<br />

auf neue Beine stellen und dabei ein Netzwerk<br />

der Zeitgeschichte schaffen. Befragt<br />

zu konkreten Details gibt man sich im<br />

Büro der Ministerin allerdings wortkarg.<br />

VON ALEXIA WEISS<br />

Es soll ein „Dokumentationsnetzwerk der<br />

politischen Ideengeschichte nach 1918“<br />

werden, teilte die Ministerin im November<br />

mit. „Wir wollen hier zunächst<br />

mit einem virtuellen Netzwerk beginnen,<br />

das dann kontinuierlich wachsen soll“, so<br />

Karl. Und: wichtig sei dabei, dass ein<br />

inhaltlicher Diskurs ermöglicht werde,<br />

der interdisziplinär und transdisziplinär<br />

gestaltet sei und durch die Vernetzung<br />

auch die internationale Sichtbarkeit<br />

gefördert werde.<br />

„Die Gemeinde“ wollte Konkreteres<br />

erfahren: welche Institutionen sollen<br />

hier eingebunden werden? Welche<br />

Aufgaben soll das Netzwerk übernehmen,<br />

welchen Nutzen haben die einzelnen<br />

Einrichtungen, die sich hier beteiligen?<br />

Wie sieht die konkrete Budgetierung<br />

für dieses Projekt aus, wie der<br />

genaue Zeitplan? Dazu Karl-Sprecherin<br />

Elisabeth Grabenweger: „Es handelt<br />

sich um eine Plattform beziehungsweise<br />

ein virtuelles Netzwerk der zeithistorischen<br />

politischen Archive. Es geht dabei um die<br />

Sicherung, Bewahrung und Zugänglichmachung<br />

der Forschungsinfrastruktur im<br />

Bereich der politischen Zeitgeschichte des<br />

gesamten 20. Jahrhunderts.“ Gespräche<br />

über die Umsetzung seien zur Zeit im<br />

Gange. Bei den Einrichtungen handle<br />

es sich zum Beispiel um das Bruno<br />

Kreisky Archiv, den Verein der Geschichte<br />

der Arbeiterbewegung oder<br />

das Karl von Vogelsang Institut.<br />

Vage bleibt Grabenweger auch beim<br />

Punkt Budgetierung. Generell stünden<br />

für den Bereich außeruniversitäre Forschung<br />

<strong>2011</strong> vier Millionen Euro zur<br />

Verfügung, dazu kämen je nach Bedarf<br />

Mittel aus den 80 Millionen Euro an<br />

Offensivmitteln. „Die genaue Verteilung<br />

ist nun Gegenstand der Gespräche.“<br />

„Ein bisschen ambivalent“<br />

Der US-amerikanische Historiker Mitchell<br />

Ash hat einen Großteil seiner bisherigen<br />

wissenschaftlichen Karriere im<br />

deutschsprachigen Raum bestritten. Seit<br />

1997 ist er Professor für Geschichte der<br />

Neuzeit an der Universität Wien. Eines<br />

seiner Steckenpferde: die Vertreibung<br />

und Emigration von Forschern im Nation<strong>als</strong>ozialismus.<br />

Seinem Jüdisch-Sein<br />

steht er im Kontext seiner wissenschaftlichen<br />

Laufbahn und Themensetzung<br />

etwas ambivalent gegenüber, verriet er<br />

nun im Gespräch mit der „Gemeinde“.<br />

VON ALEXIA WEISS<br />

Am Anfang seiner Forschungskarriere<br />

stand die Geschichte der Psychologie.<br />

In Harvard schrieb er seine Dissertation<br />

über die Entstehung der Gestaltpsychologie.<br />

Da war es nicht weit zu<br />

den vertriebenen Psychologen. Und<br />

zur Geschichte der experimentellen<br />

Psychologie in Deutschland. Das führte<br />

weiter zur politischen Wissenschaftsgeschichte<br />

– und zum Verhältnis zwischen<br />

Wissenschaft und Politik. Fragestellungen,<br />

die sich ergeben, wenn man<br />

Jude ist? „Meinen jüdischen Hintergrund<br />

sehe ich hier ein bisschen ambivalent“,<br />

sagt Ash. „Ich bin auf die Fragestellungen<br />

gekommen, weil sie dalagen.“ Und:<br />

„Man muss nicht Jude sein, um sich für<br />

diese Themen zu interessieren.“<br />

Aber es sei natürlich eine Tatsache, „dass<br />

ich, weil ich Jude bin, eine andere Sicht<br />

habe“. Hier ergebe sich aber schon die<br />

nächste Ambivalenz: „Ich bin kein Shoa-<br />

Überlebender und auch kein Kind von<br />

Shoa-Überlebenden. Ich kann <strong>als</strong>o nicht<br />

behaupten, dass ich aus der eigenen Betroffenheit<br />

heraus forsche.“ Grundsätzlich<br />

trage er im Universitätsleben sein Jude-<br />

Sein nicht immer offen zur Schau. Und:<br />

Amerikanische Juden hätten „ihre sehr<br />

eigene Geschichte“.<br />

Ein Teil davon ist in Ash‘ Beitrag für das<br />

„Jüdische Echo 2008“ nachzulesen.<br />

Hier beschreibt er, dass Juden in den<br />

dreißiger Jahren in den USA an Unis<br />

auch nicht mit offenen Armen empfangen<br />

wurden. In den sechziger Jahren,<br />

<strong>als</strong> er selbst studierte, sah die Situation<br />

völlig anders aus: mehr <strong>als</strong> 25 Prozent<br />

des Jahrgangs an vielen Elite-Unis kamen<br />

aus jüdischen Familien. Der Anteil<br />

der Juden an der Gesamtbevölkerung<br />

war jedoch konstant bei um die fünf<br />

bis sechs Prozent geblieben.<br />

„Fahre ich wie jedes Jahr zu meinen Verwandten<br />

nach New York, so kommen sie<br />

noch nicht aus dem Staunen heraus, dass<br />

ich im Land der Täter lebe, arbeite, es mir<br />

42 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


KULTUR • INLAND<br />

sogar sehr gut gehen lasse.“ Ash‘ Familie<br />

war lange vor dem Holocaust nach<br />

Amerika gekommen. Mütterlicherseits<br />

gab es auch Vorfahren in Deutschland.<br />

Paradox mag da auch erscheinen, dass<br />

Ash in den Studienjahren in Deutschland<br />

zu seinem Judentum gefunden<br />

hat. „Ich wollte das Gefühl spüren, näher<br />

zu Gott zu sein.“ Als ausgebildeter<br />

Opernsänger begann er in der Synagoge<br />

in Berlin im Chor zu singen. Im<br />

Gottesdienst singt er heute auch in<br />

Wien – <strong>als</strong> Kantor in der liberalen Gemeinde<br />

Or Chadasch. Diese ist ihm, der<br />

assimiliert aufgewachsen ist und erst<br />

im Alter von 39 Jahren („drei Mal dreizehn!“)<br />

die Bar Mitzwa nachholte, religiöse<br />

Heimat geworden. Wobei er betont,<br />

dass er mit dem Reformjudentum<br />

in den USA so seine Probleme habe.<br />

Wie aber macht sich nun diese spezielle<br />

jüdische Sicht im wissenschaftlichen<br />

Kontext bemerkbar? „Ein Beispiel: Ich<br />

kann den Schock sehr wohl nachvollziehen,<br />

den deutsche Wissenschafter empfunden<br />

haben, <strong>als</strong> sie in der Nazizeit erleben mussten,<br />

dass sie keine Deutschen sind, sondern<br />

Juden. Sie haben eine Identität verpasst bekommen,<br />

die nicht die ihre war. Das ist natürlich<br />

auch in Österreich passiert. Das<br />

Gros dieser Leute war assimiliert. Das waren<br />

konfessionsmäßig vielfach keine Juden<br />

mehr. Das war die assimilierteste Ethnie im<br />

deutschsprachigen Raum, und dann wurde<br />

sie ausgestoßen. Dieser Schock sitzt tief.“<br />

Ash hat sich aber nicht nur den Brain<br />

Drain der Zeit um 1933/38 angesehen.<br />

Im 20. Jahrhundert gab es im deutschsprachigen<br />

Raum vier Bruchstellen:<br />

1918, 1933/38, 1945 und 1990. Den<br />

größten Abgang an den Universitäten<br />

und anderen Forschungsinstituten<br />

würde hier wohl jeder in der NS-Zeit<br />

erwarten. Stimmt aber nicht. Die größten<br />

Einschnitte brachte die Wiedervereinigung<br />

von West- und Ostdeutschland<br />

Ende des 20. Jahrhunderts mit<br />

sich. „Die DDR-Akademie wurde aufgelöst<br />

und die Strukturen des ostdeutschen<br />

Universitätssystems wurden abgeschafft,<br />

die Hochschulen verwestdeutscht.“<br />

Die nächste Überraschung: nur zehn<br />

Prozent der Uni-Lehrenden wurde dam<strong>als</strong><br />

aus politischen Gründen abgesetzt.<br />

Dennoch wurden tausende Wissenschafter<br />

durch den forcierten Strukturwandel<br />

arbeitslos. Ersetzt wurden<br />

diese ostdeutschen Forscher aber nicht<br />

zwangsweise durch westdeutsche: es<br />

kamen in mehreren Fächern andere,<br />

junge Ostdeutsche zum Zug.<br />

Warum aber wird der Abgang von<br />

Wissenschaftern in den dreißiger Jahren<br />

<strong>als</strong> viel dramatischer empfunden?<br />

Weil es ein internationaler Abgang war,<br />

Forscher emigrierten und bauten sich<br />

in einem anderen Land, meist den USA,<br />

eine neue Karriere auf. Die ostdeutschen<br />

Forscher, die im Zug der Wiedervereinigung<br />

ihre Wirkungsstätte ver-<br />

1945 war nicht die „Stunde Null“<br />

Vor 1938, die NS-Zeit, der Neustart 1945: lange Zeit wurden hier in der Geschichtsschreibung Brüche diagnostiziert und entlang<br />

diesen die Geschehnisse beschrieben. Heute wissen die Forscher: die Geschichte ist anders verlaufen. Vieles von dem,<br />

was 1938 passierte, war von Teilen der Gesellschaft bereits vorbereitet gewesen. Vieles von dem, was nach 1945 <strong>als</strong> Bruch dargestellt<br />

wurde, war nur Uminterpretation, um dem Opfermythos gerecht zu werden.<br />

Mitchell Ash hat dieses Jahr gemeinsam mit Wolfram Nieß und Ramon Pils einen Band mit Forschungsbeiträgen zu den<br />

Geisteswissenschaften an der Universität Wien in der Zeit des Nation<strong>als</strong>ozialismus herausgegeben. Eines der Ergebnisse: die<br />

Nachkriegswissenschaft ist mit der NS-Zeit verschränkt, und zwar nicht nur personell, auch die Wissensbestände wurden<br />

weitergegeben, aber umgedeutet.<br />

Ein Beispiel, nachgezeichnet vom Zeithistoriker Dirk Rupnow: der Dekan der Geisteswissenschaften während der NS-Zeit, Viktor<br />

Christian, war bereits illegaler Nation<strong>als</strong>ozialist gewesen. Der Assyrologe und Keilschriftexperte bemühte sich ab 1940 um eine<br />

„außerordentliche Professur für Kunde des Judentums“ an dem von ihm geführten Orientalischen Institut. Finanzielle Engpässe<br />

waren Schuld, dass dieser Lehrstuhl nicht eingerichtet wurde.<br />

Eine Professur für Judaistik in Wien – natürlich mit völlig anderer Zielsetzung – wurde erst 1966 geschaffen. Zwischen 1945 und<br />

1966 liegen zwei Jahrzehnte. Und dennoch gibt es auch hier ein Element der Kontinuität: Zum Professor berufen wurde der<br />

2007 verstorbene Kurt Schubert. Er war ein Student Christians gewesen und hatte bei diesem knapp vor Ende des Zweiten<br />

Weltkriegs über ein assyrologisches Thema promoviert. Und es war Schubert, der seinen Lehrer, der nach der NS-Zeit <strong>als</strong> belastet<br />

eingestuft und ohne Bezüge vom Dienst enthoben wurde, gegenüber offiziellen Stellen verteidigte.<br />

Christian hatte private jüdische Bibliotheken in den Institutsbestand eingegliedert. In einem Schreiben an das Unterrichtsministerium<br />

formulierte Schubert das 1948 dann so: „Herr Prof. Christian schützte mehrere tausend Bände wertvollster hebräischer<br />

und judaistischer Bücher vor der sicheren Vernichtung. Die genannten Bücher wurden in den Räumen des Orientalischen Instituts<br />

aufbewahrt.“ An anderer Stelle schrieb Schubert, dass Christian, der selbst Skelettuntersuchungen jüdischer Leichen vom<br />

jüdischen Friedhof in Auftrag gegeben hatte, die „Leichenschändung“ des jüdischen Friedhofs in Mattersburg verhindert<br />

haben soll. Christian wurde 1945 enthoben, erhielt jedoch 1950 eine Pension – und die Jahre von 1938 bis 1945 rechnete man<br />

ihm mit dem Hinweis an, dass er während der NS-Zeit „Menschlichkeit“ gezeigt habe.<br />

Fazit Rupnows: „Die Grundlagen für den Aufbau einer aufklärerischen, philosemitischen Judaistik nach dem Holocaust waren in<br />

Wien mit der Ausbildung von Studenten unter anderen Vorzeichen bereits vor 1945 gelegt worden.“ Und daher sei 1945 alles andere<br />

<strong>als</strong> eine „Stunde Null“ gewesen.<br />

Mitchell Ash, Wolfram Nieß, Ramon Pils (Hg.)<br />

„Geisteswissenschaften im Nation<strong>als</strong>ozialismus.<br />

Das Beispiel der Universität Wien“<br />

Verlag Vienna University Press • ISBN 978-3899715682<br />

KULTUR<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 43


KULTUR • INLAND<br />

loren, gingen nur in minimalem Ausmaß<br />

ins Ausland. „Die internationale<br />

Auswirkung war <strong>als</strong>o sehr gering.“<br />

„Ich komme aus ganz Europa“, das sei in<br />

der amerikanischen Uni-Welt ein Code<br />

dafür, dass man jüdisch ist. Ash ist heute<br />

zwischen Österreich und den USA zu<br />

Hause. Jedes Jahr stattet er aber auch<br />

Israel einen Besuch ab. Umso mehr stört<br />

es ihn, dass man für Kritik an der israelischen<br />

Politik, die in Israel selbst<br />

ganz normal sei, wenn man sie außerhalb<br />

Israels äußert, von vielen in der<br />

jüdischen Gemeinde „gleich <strong>als</strong> Feind Is -<br />

raels abgestempelt wird“.<br />

„Ich stehe zu Israel, zur Besetzungspolitik<br />

habe ich aber eine kritische Meinung“, hält<br />

Ash beispielsweise fest. Und: „Was seit<br />

1967 geschieht, droht den Zionismus auszuhöhlen<br />

– das ist meine Meinung.“ Er<br />

wisse, dass er sich damit in Wien nicht<br />

auf einer Linie mit allen anderen Juden<br />

befinde. Aber das Gefühl, zwischen den<br />

Stühlen zu sitzen, ist Ash ja nicht neu.<br />

ZUR PERSON<br />

Mitchell Ash, geboren und aufgewachsen<br />

in den USA, promovierte 1982 an der<br />

Harvard University im Fach Geschichte.<br />

Er lehrte an den Universitäten Mainz und<br />

Göttingen, der Freien Universität Berlin,<br />

der University of Iowa und der Hebrew<br />

University of Jerusalem und war Fellow<br />

am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Seit<br />

1997 ist Ash Professor für Geschichte der<br />

Neuzeit an der Universität Wien.<br />

Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschafts-<br />

und Universitätsgeschichte,<br />

dabei insbesondere die Vertreibung und<br />

Emigration deutschsprachiger Wissenschafter<br />

nach 1933 beziehungsweise 1938,<br />

sowie die Vernetzungen von Wissenschaft,<br />

Politik, Gesellschaft und Kultur seit 1750.<br />

In Wien befasste er sich auch mit der<br />

Historie des Tiergartens Schönbrunn.<br />

Ash führt zudem das eben erst gegründete<br />

Doktoratskolleg „The Sciences in Historical,<br />

Philosophical and Cultural Contexts“.<br />

In diesem werden verschiedene Aspekte<br />

der Wissenschaftsgeschichte und -theorie<br />

beleuchtet und dabei Geistes- und Naturwissenschaften<br />

verbunden.<br />

Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen<br />

zählen „Psychoanalyse in totalitären und<br />

autoritären Regimen“ (2010), „Mythos<br />

Humboldt – Vergangenheit und Zukunft<br />

der deutschen Universitäten“ (1999), „Forced<br />

Migration and Scientific Change: Emigre,<br />

German-Speaking Scientists after 1933“<br />

(1996), „Gestalt Psychology in German Culture<br />

1890-1967: Holism and the Quest for<br />

Objectivity“ (1995).<br />

EIN BELASTETES VERHÄLTNIS<br />

„Das Jüdische Budapest“<br />

dokumentiert eine<br />

spannungsreiche<br />

Geschichte<br />

VON ANITA POLLAK<br />

Dob utca, Király utca, Kazincy utca …<br />

Straßennamen, vertraut aus Gesprächen<br />

meiner Eltern. Straßennamen<br />

ohne Bilder dazu. Die Augen meiner<br />

Mutter leuchteten, wenn sie sich an<br />

das Leben dort, dazum<strong>als</strong>, erinnerte.<br />

Beim ersten Lokalaugenschein, den<br />

ersten Reisen von Wien in ein tief<br />

kommunistisches Budapest, da war die<br />

Enttäuschung groß. Schäbige, graue<br />

Straßenzüge waren das und sogar die<br />

Namen gab es oft nicht mehr.<br />

Wie’s einmal war, das Vorkriegs-<br />

Budapest, davon gibt jetzt ein neuer<br />

Bildband eine Ahnung. Alte Fotos zu<br />

den Straßennamen meiner Kindheit<br />

hab ich da entdeckt, Geschäftsstraßen<br />

zeigen sie mit deutsch-ungarischen<br />

Aufschriften, jüdische Namen, die Fleischerei<br />

eines Herrn Fleischer zum Beispiel.<br />

Die Rákóczi-Straße an einem<br />

Samstag Vormittag 1937, alle Rollläden<br />

heruntergezogen, Gräber, Friedhöfe.<br />

Und dann das jüdische Budapest<br />

von heute, ein Restaurant, „Glatt Kosher“,<br />

in der wieder belebten Kazinczy<br />

utca, die revitalisierte Dohány-Synagoge,<br />

das Rabbinerseminar. Die Fotokünstlerin<br />

Monika Lirk hat in stimmungsvollen<br />

Schwarz-Weiß-Bildern<br />

Szenen aus dem gegenwärtigen jüdischen<br />

Leben, eine Hochzeit, Männer<br />

beim Schächten etwa, den letzten baulichen<br />

Zeugen der Vergangenheit gegenübergestellt.<br />

Wie es einmal war in einer Budapester<br />

Nachkriegs-Kindheit, zwischen zwei<br />

Straßen, zwei Wohnungen, dem noch<br />

jüdisch-traditionellen Haushalt der<br />

Großeltern mit seiner ritualisierten<br />

Sonntagssuppe zum Glockenschlag um<br />

12 und dem modernen Elternhaus, von<br />

zwei parallelen jüdischen Welten <strong>als</strong>o,<br />

davon erzählt der ungarische Autor<br />

Péter Nádas in seiner sehr persönlichen<br />

Familiengeschichte. „An einem<br />

Mittwoch“ so ihr Titel, kommt Nádas<br />

in Budapest zur Welt, mit Hilfe des berühmten<br />

Frauenarztes Imre Hirschler.<br />

Und da taucht sie wieder auf, die eigene<br />

Kindheit. Hat doch derselbe Arzt<br />

später auch meinen Bruder und mich<br />

zur Welt gebracht hat, „der Hirschler“,<br />

von dem meine Mutter immer geschwärmt<br />

hat. Wir hatten allerdings<br />

die Gnade der späten Geburt. Denn an<br />

demselben Mittwoch, an dem Nádas<br />

geboren wird, es ist der 14. Oktober<br />

1942 (das Datum wird im Buch unerklärlicherweise<br />

verschwiegen), werden<br />

unweit von Budapest 1.259 Juden<br />

von einem deutschen Einsatzkommando<br />

„liquidiert“.<br />

Antisemitismus ist keine ausgestorbene<br />

Krankheit, spannt Anton Thuswaldner<br />

in seinem Essay über „Jüdisches Leben<br />

in Budapest“ den historischen Bogen<br />

bis ins Jahr 2010. Ausgehend von dem<br />

in jeder Hinsicht magyarisierten jüdischen<br />

Geiger Márk Mordechai Rosenthal<br />

aus dem frühen 19. Jahrhundert<br />

über die Revolution 1848 bis zum Holocaust<br />

und George Tabori erkennt der<br />

Salzburger Autor aus örtlicher und<br />

zeitlicher Distanz klar die Konstanten<br />

in der Beziehungsgeschichte von Ungarn<br />

und seinen Juden: Ein belastetes<br />

Verhältnis mit ein paar hellen Momenten.<br />

„Deutsch, English, Magyar“, dreisprachig<br />

wendet sich der Band an ein kosmopolitisches<br />

Publikum. Er ist der<br />

erste einer geplanten Reihe, die sich<br />

mit der Geschichte der Juden in Europa<br />

auseinandersetzen soll.<br />

Péter Nádas/Anton Thuswaldner<br />

„Das jüdische Budapest“<br />

Jung- und –Jung-Verlag<br />

Rákóczi-Straße an einem<br />

Samstag Vormittag 1937<br />

44 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


Es ist paradox: Wir leben in einer Zeit, in der einerseits praktisch alles gesagt werden kann - und andererseits wird in vielen<br />

kontroversen gesellschaftlichen Debatten die Meinungsfreiheit ins Spiel gebracht. Beispiel Eins: Die Mohammed-Karrikaturen.<br />

Impliziert KULTUR das Recht auf Meinungsfreiheit, • KOLUMNE<br />

andere auch beleidigen zu dürfen? Aber reicht es aus, sich beleidigt zu fühlen, um<br />

die Meinungsfreiheit anderer zu beschneiden? Beispiel Zwei: Wann immer jemand behauptet, er verkünde eine tabuisierte<br />

Wahrheit, wird schnell hinzugefügt: Das wird man doch noch sagen dürfen! Wie etwa in der Sarrazin-Debatte. Aber steht hier<br />

wirklich die Meinungsfreiheit am Spiel? Ist es vielleicht sogar sinnvoll, wenn manches tabuisiert würde? Oder ist es sogar so, dass<br />

„das wird man ja noch sagen dürfen“ zu einem Totschlagargument geworden ist, um sich Kritik zu verbieten? Zuletzt stand das<br />

Thema Meinungsfreiheit doppelt im Brennpunkt: Bei der Wikileaks-Affäre stellte sich die Frage, ob alles veröffentlicht werden<br />

darf, oder ob es Grenzen gibt. Und in unserem Nachbarstaat Ungarn wurde erstm<strong>als</strong> in EU-Europa ein Mediengesetz eingeführt,<br />

das die Meinungsfreiheit massiv bedroht.<br />

diskutieren<br />

Dr. Anneliese Rohrer, „Die Presse“-Kommentatorin<br />

Christian Ortner, Kolumnist und Autor<br />

Mag. Christian Ultsch, Journalist „Die Presse“<br />

Moderation: Robert Misik, Journalist und Sachbuchautor<br />

Begrüßung: Dr. Ariel Muzicant, Präsident <strong>Israelitische</strong> <strong>Kultusgemeinde</strong><br />

Meinung<br />

Bedrohungs<br />

zwischen<br />

demokratischen Grundsätzen und<br />

freiheit<br />

Tyrannei der<br />

14. Februar <strong>2011</strong> 19 Uhr<br />

Gemeindezentrum der <strong>Israelitische</strong>n <strong>Kultusgemeinde</strong><br />

1010 Wien, Seitenstettengasse 4<br />

Anmeldung T +43 1 53104-180, s.koller@ikg-wien.at<br />

Aus Sicherheitsgründen wird gebeten, einen Ausweis mitzubringen und<br />

eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung zu erscheinen.<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 45<br />

Das Kulturpanel der <strong>Israelitische</strong>n <strong>Kultusgemeinde</strong> Wien www.ikgkulturpanel.at


JUDENTUM<br />

Bräuche und Traditionen im jüdischen Lebenszyklus<br />

von Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister<br />

Pidijon ha-Ben - „die Auslösung des (erstgeborenen) Sohnes“<br />

Bei der letzten der Zehn Plagen, die<br />

endlich zur Befreiung der Kinder Jisraels<br />

aus der ägyptischen Sklaverei<br />

führte, kamen in der Nacht des 15. Nissan<br />

des Jahres 2448, dem Jahr 1312 vor<br />

der allgemeinen Zeitrechnung, alle erstgeborenen<br />

Söhne der Ägypter ums<br />

Leben. (Schemos 12:29) Im Gegenzug<br />

dazu wurden von nun an alle erstgeborenen<br />

Söhne der Kinder Jisraels<br />

damit beauftragt <strong>als</strong> Priester für ihre<br />

Familienangehörigen zu agieren, indem<br />

sie und ihr Leben, einhergehend mit<br />

ihrem Status <strong>als</strong> Erstgeborene, G’tt geweiht<br />

wurde. Bereits wenige Monate<br />

später, genauer gesagt nach dem allgemein<br />

bekannten Vorfall mit dem Goldenen<br />

Kalb, änderte sich dies jedoch insofern,<br />

<strong>als</strong> von nun an statt ihrer alle<br />

männlichen Nachkommen des Stammes<br />

Levi, per Stammesrecht, <strong>als</strong> Priester<br />

des jüdischen Volkes installiert wurden,<br />

denn der Stamm Levi hatte sich <strong>als</strong><br />

einziger, geschlossen, nicht an dem<br />

Goldenen Kalb beteiligt. (Bamidbar 8:14-<br />

18) [Von den anderen Israeliten hatte sich<br />

übrigends auch nur eine kleine Minderheit<br />

überhaupt daran beteiligt, jedoch von<br />

jedem Stamm zumindest ein paar Vertreter,<br />

während vom Stamm Levi kein Einziger<br />

mitmachte.] Die Angehörigen des<br />

Stammes Levi gruppieren sich seither<br />

in zwei verschiedene Arten von Priestern,<br />

denen jeweils unterschiedliche,<br />

spezifische Aufgaben und Verpflichtungen<br />

obliegen: Aharon, der ältere Bruder<br />

von Mosche Rabbenu, und alle seine direkten<br />

männlichen Nachkommen bis<br />

heute sind die Kohanim, alle anderen<br />

männlichen Nachfahren des Stammvaters<br />

Levi sind die Levi’im. Nach wie<br />

vor sind jedoch alle Erstgeborenen Söhne<br />

der anderen Stämme von Geburt an<br />

G’tt geheiligt und müssen von diesem<br />

besonderen Status entbunden werden,<br />

um ein „normales“, profanes Leben<br />

führen zu dürfen, und zwar durch die<br />

sogenannte „Auslösung“, den Pidijon<br />

ha-Ben.<br />

Die erstgeborenen Söhne durch den Akt<br />

des Pidijon ha-Ben auszulösen, ist eine<br />

Mitzwa deOraijta, d. h. nicht nur ein<br />

Brauch oder eine rabbinische Verordnung,<br />

sondern eine biblische Vorschrift,<br />

die zu erfüllen jeder jüdische Vater verpflichtet<br />

ist, sobald sein Sohn 30 Tage<br />

alt ist, <strong>als</strong>o am 31. Tag nach der Geburt.<br />

(Sefer HaChinuch 392) Wenn der biologische<br />

Vater, aus welchen Gründen<br />

auch immer, seinen Sohn nicht auslösen<br />

kann, z. B. weil er nicht anwesend<br />

ist, nicht jüdisch ist, oder – G’tt behüte<br />

– verstorben ist, ist es allgemein üblich,<br />

obwohl eine eigentliche Verpflichtung<br />

bis zur Bar Mitzwa des Buben nur seinem<br />

(jüdischen) Vater obliegt, dass<br />

entweder die Mutter, der Großvater<br />

oder der Rabbiner in Vertretung der<br />

jüdischen Gemeinde, dies tut. Erreicht<br />

ein Bub, der nie ausgelöst wurde, das<br />

13. Lebensjahr, fällt auf ihn die Verpflichtung<br />

sich selbst auszulösen.<br />

Entsprechend dem Grund für die Auslösung<br />

der Erstgeborenen, nämlich<br />

um sie von ihrem eigentlichen Status<br />

<strong>als</strong> „Priester“ zu entbinden, deren Aufgaben<br />

auszuführen sie seit dem Vorfall<br />

mit dem Goldenen Kalb jedoch disqualifiziert<br />

sind, gibt es in den Familien der<br />

heutigen Priester, d. h. bei den Söhnen<br />

von Kohanim und Levi’im keinen Pidijon<br />

ha-Ben, denn sie können sich ihres<br />

priesterlichen Status und dem damit<br />

verbundenen Auftrag, auch nicht optional<br />

entziehen. Auch bei Erstgeborenen,<br />

deren Großvater mütterlicherseits ein<br />

Kohen oder ein Levi ist, wird kein Pidijon<br />

ha-Ben gemacht, obwohl der Vater<br />

ein Jisrael ist. (Jore De’o 305:18) Wenn<br />

jedoch der Vater des Buben ein Chalal<br />

ist (der Sohn eines disqualifizierten<br />

Kohen, der seinen Status und seine<br />

Funktion <strong>als</strong> Kohen verloren hat, weil<br />

er beispielsweise eine geschiedene Frau<br />

oder eine Frau, die einmal eine intime<br />

Beziehung mit einem nicht-jüdischen<br />

Mann hatte, geheiratet hat – siehe Schulchan<br />

Aruch EH”E 7:12) oder die Mutter<br />

des Buben eine Chalala ist (z. B. die<br />

Tochter eines disqualifizierten Kohen),<br />

ist der Vater sehr wohl zum Pidijon ha-<br />

Ben verpflichtet, beziehungsweise der<br />

volljährige Sohn selbst.<br />

Als Erstgeborener gilt jeder Sohn, der<br />

das erste Kind seiner Mutter ist, und<br />

durch eine natürliche Entbindung, <strong>als</strong>o<br />

nicht durch einen Kaiserschnitt, geboren<br />

wurde – unabhängig davon, wie<br />

viele Kinder sein Vater eventuell bereits<br />

hat. Ein geschiedener oder vorm<strong>als</strong><br />

verwitweter Mann kann <strong>als</strong>o theoretisch<br />

mehrere Erstgeborene haben, die<br />

alle eines Pidijon ha-Ben bedürfen. Hatte<br />

die Mutter vor der Geburt ihres Erstgeborenen<br />

jem<strong>als</strong> bereits eine frühere,<br />

unausgetragene Schwangerschaft,<br />

kommt es darauf an, in welchem Stadium<br />

es zur Fehlgeburt kam, ob ein<br />

Pidijon ha-Ben noch gemacht werden<br />

kann oder nicht. Wenn es zu einem Abgang<br />

innerhalb der ersten 40 Tage der<br />

Schwangerschaft gekommen war, muss<br />

der jetzt Erstgeborene ausgelöst werden.<br />

Kam es zu einer Fehlgeburt nach<br />

über 40 Tagen, der Abgang war jedoch<br />

noch nicht <strong>als</strong> Fötus zu erkennen, muss<br />

für den jetzt Erstgeborenen vorsichtshalber<br />

ein Pidijon ha-Ben stattfinden,<br />

jedoch ohne dabei die Brachah (Segensspruch)<br />

zu sagen.<br />

Um den Pidijon ha-Ben durchzuführen,<br />

benötigt man einen Kohen, fünf Silbermünzen,<br />

die zusammen nicht weniger<br />

<strong>als</strong> 100 Gramm (manche sagen 117<br />

Gramm) reines Silber beinhalten (oder<br />

ein beliebiges Objekt, das mindestens<br />

einen entsprechenden Eigenwert hat),<br />

sowie einen Becher Wein.<br />

Der Pidijon ha-Ben beginnt mit einer<br />

Se’udat Mitzwa (Festmahl) um die Mittagszeit,<br />

zu der alle Anwesenden eingeladen<br />

sind, die zu diesem, aufgrund<br />

der vielen daran geknüpften Bedingungen,<br />

eher selten stattfindenden Ereignis<br />

gekommen sind. Obwohl es nicht<br />

unbedingt nötig ist, versucht man traditionellerweise<br />

doch mindestens ein<br />

Minjan (Quorum 10 jüdischer Männer)<br />

dabei zu haben. Der Kohen sitzt am<br />

Kopf des Tisches und sagt (wie am<br />

Schabbat der Familienvater) in Vertretung<br />

aller Anwesenden den Segen „Hamotzi“<br />

über das Brot und teilt davon<br />

46 <strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771


JUDENTUM<br />

©Nati Shohat/Flash90<br />

an alle Anwesenden ein Stück aus. Daraufhin<br />

beginnt die eigentliche Auslöse-Zeremonie.<br />

Der Vater bringt seinen Sohn vor den<br />

Kohen und erklärt ihm, dass dies der<br />

Erstgeborene seiner Frau ist. [Gemäß<br />

der chassidischen Tradition, präsentiert<br />

man das Baby auf einer silbernen<br />

Platte oder beschmückt sein Kissen mit<br />

Schmuck, Perlen- und Goldkettchen,<br />

welche die anwesenden Damen dazu<br />

ausleihen. In der aschkenasischen und<br />

der sephardischen Tradition wird dieser<br />

Brauch jedoch nicht befolgt]. Daraufhin<br />

frägt der Kohen den Vater, ob er<br />

möchte, dass sein Sohn bei ihm (dem<br />

Kohen) bleiben soll oder ob er ihn auslösen<br />

möchte, woraufhin der Vater bestätigt,<br />

dass er seinen Sohn auslösen<br />

möchte. Nun nimmt der Vater die Silbermünzen<br />

(oder das equivalente Wertobjekt)<br />

in die Hand, spricht die Brachot<br />

(Segenssprüche) „al Pidijon ha-Ben“<br />

sowie „Sche’he’che’jonu“ und übergibt<br />

die Münzen dem Kohen <strong>als</strong> Geschenk,<br />

der sie über das Baby hält und<br />

erklärt, dass hiermit dieser Erstgeborene<br />

ausgelöst wird. Daraufhin legt er<br />

die Münzen beiseite, hält beide Hände<br />

über den Buben und segnet ihn, bevor<br />

er ihn seinem Vater zurückgibt. Im Anschluss<br />

daran nimmt der Kohen den Becher<br />

Wein und macht die Bracha „boreh<br />

Peri HaGofen“, trinkt selbst und gibt<br />

auch dem Vater des Kindes davon zu<br />

trinken und alle Anwesenden setzen<br />

das Festmahl fort. (Die genauen, festgelegten<br />

Formulierungen finden sich<br />

in jedem Siddur.)<br />

Fällt der 31. Tag nach der Geburt eines<br />

Erstgeborenen auf einen Schabbat oder<br />

Jomtov (biblischer Feiertag), findet der<br />

Pidijon ha-Ben gemäss manchen Traditionen<br />

noch am selben Abend, <strong>als</strong>o nach<br />

Schabbat/Jomtov Ausgang statt, gemäß<br />

der aschkenasischen Tradition jedoch<br />

aus verschiedenen, teilweise kabbalistischen<br />

Gründen, keinesfalls bei Nacht,<br />

sondern erst am darauffolgenden Tag<br />

gegen Mittag. Fällt der 31. Tag auf Chol<br />

HaMoed (in die Woche von Pesach oder<br />

Sukkot), warten manche mit dem Pidijon<br />

ha-Ben bis zum Ende des Wallfahrtsfestes,<br />

gemäß dem Prinzip nicht verschiedene<br />

freudige Anlässe miteinander<br />

zu vermischen. Andere wiederum<br />

machen ihn am Chol HaMoed, jedoch<br />

ohne Festmahl.<br />

Wenn sich ein Erwachsener selbst auslöst,<br />

weil er <strong>als</strong> Kind nie ausgelöst<br />

worden war, kann die Pidijon-Zeremonie<br />

ebenfalls mit einer Festmahlzeit, <strong>als</strong><br />

ein feierliches Ereignis mit vielen Gästen<br />

begangen werden. Ist ihm diese Tatsache<br />

jedoch unangenehm, ist es vollkommen<br />

ausreichend, wenn er sich privat<br />

an einen Kohen wendet, um ihn<br />

auszulösen.<br />

Von Rabbi Elijohu ben Schlomo Salman<br />

(1720-1797), bekannt <strong>als</strong> der Gaon von<br />

Vilna, der selbst ein Erstgeborener war,<br />

ist bekannt, dass er sich noch <strong>als</strong> Erwachsener<br />

viele Male von verschiedenen<br />

Kohanim immer wieder aufs Neue<br />

hat auslösen lassen – mit Sicherheit<br />

ohne dabei eine Bracha zu sagen. Dies<br />

tat er aus dem folgenden Grund: ein<br />

Erstgeborener, der eines Pidijon ha-Ben<br />

bedarf, jedoch niem<strong>als</strong> ordentlich ausgelösst<br />

wurde, befindet sich gemäß<br />

dem jüdischen Verständnis in einer Sakkana<br />

(lebensbedrohlichen Situation).<br />

Da ein Pidijon ha-Ben vollkommen wirkungs-<br />

und bedeutungslos wäre, wenn<br />

der Kohen, der ihn ausführt gar kein<br />

Kohen, beziehungsweise ein disqualifizierter<br />

Kohen, oder ein Chalal (Nachkomme<br />

eines disqualifizierten Kohen)<br />

ist, wollte der Gaon von Vilna dadurch<br />

sichergehen, tatsächlich ausgelöst zu<br />

sein. Als eines Tages ein Mitglied der<br />

berühmten Rappaport-Familie nach<br />

Vilna kam, die einen uralten, illustren<br />

Stammbaum vorzuweisen hatte, liess<br />

Rabbi Elijohu sich von diesem jedoch<br />

zum letzten Mal auslösen, da er Gründe<br />

hatte anzunehmen und darauf vertrauen<br />

zu können, dass es sich bei diesen<br />

Rappaports um echte, koschere<br />

Kohanim handelte. Seither werden in<br />

bestimmten Kreisen die Nachkommen<br />

eben dieser Familie Rappaport, die mittlerweile<br />

auf allen sechs Kontinenten<br />

beheimatet sind, bevorzugt um die<br />

Auslösung der Erstgeborenen gebeten.<br />

Dies bedeutet aber keineswegs, dass<br />

wir den Status anderer Kohanim anzweifeln<br />

dürften. Solange nichts Gegenteiliges<br />

über ihre Vorfahren bekannt ist, beziehungsweise<br />

ihre eigenen Lebensumstände<br />

nichts anderes vermuten lassen,<br />

vertrauen wir auf die Mesorah (Traditionskette)<br />

all derer, die von sich sa -<br />

gen, sie seien Kohanim.<br />

<strong>Januar</strong> <strong>2011</strong> - Schwat/Adar 5771 47

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